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German Pages 805 [796] Year 2011
Killy Literaturlexikon
Band 10
Killy Literaturlexikon Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes 2., vollständig überarbeitete Auflage Herausgegeben von Wilhelm Kühlmann in Verbindung mit Achim Aurnhammer, Jürgen Egyptien, Karina Kellermann, Steffen Martus, Reimund B. Sdzuj Band 10 Ros – Se
De Gruyter
Die erste Auflage erschien unter dem Titel Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache im Bertelsmann Lexikon Verlag, Gütersloh/München, herausgegeben von Walther Killy unter Mitarbeit von Hans Fromm, Franz Josef Görtz, Gerhard Köpf, Wilhelm Kühlmann, Gisela Lindemann, Volker Meid, Nicolette Mout, Roger Paulin, Christoph Perels, Ferdinand Schmatz, Wilhelm Totok und Peter Utz. Die in diesem Lexikon gewählten Schreibweisen folgen dem Werk „WAHRIG – Die deutsche Rechtschreibung“ sowie den Empfehlungen der WAHRIG-Redaktion. Weitere Informationen unter www.wahrig.de Redaktion: Christine Henschel (Leitung) und Bruno Jahn Redaktionsschluss: 30. Juni 2011
ISBN 978-3-11-022042-1 e-ISBN 978-3-11-022043-8 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. für die 1. Auflage by Bertelsmann Lexikon Verlag GmbH, Gütersloh/München 1988 – 1993 Alle Rechte vorbehalten für die 2. Auflage 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Laufen Satz: Process Media Consult, GmbH Druck: Hubert & Co., Göttingen 1 Gedruckt auf säurefreiem Papier * Printed in Germany www.degruyter.com
Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge dieses Bandes Gregor Ackermann Irmgard Ackermann Robert J. Alexander Stefan Alker Alfred Anger Ilse Auer Achim Aurnhammer Hans-Jürgen Bachorski Michael Baldzuhn András F. Balogh Arno Bammé J. Alexander Bareis Christiane Baumann Günter Baumann Jörg Baur Sabina Becker Michael Behnen Gustav Adolf Benrath Roland Berbig Rüdiger Bernhardt Toni Bernhart Christa Bertelsmeier-Kierst Ad den Besten Wolfgang Beyrodt Corinna Biesterfeldt Dietrich Blaufuß Helmut Blazek Herbert Blume Heiner Boehncke Holger Böning Philipp Böttcher Gerhard Bolaender Manfred Bosch Michael Braun Wolfgang Braungart Peter Michael Braunwarth Susanna Brogi Dörthe Buchhester Rolf Bulang Hans Peter Buohler Christina Burck Karl Heinz Burmeister Rémy Charbon
Silvana Cimenti Victor Conzemius Sibylle Cramer Ralf Georg Czapla Gesa Dane Franz-Josef Deiters Heinrich Detering Jürgen Diesner Hartmut Dietz Steffen Dietzsch Enrica Yvonne Dilk Ingeborg Dorchenas Jörg Drews Constanze Drumm Reinhard Düchting Klaus Düwel Joachim Dyck Wolfgang Uwe Eckart Hans-Peter Ecker Beverley Driver Eddy Jürgen Egyptien Andrea Ehlert Günter Eichberger Kristin Eichhorn Manfred Eikelmann Norbert Eke Susann El Kholi Markus Enders Petra Ernst Michael Farin Jörg-Ulrich Fechner Konrad Feilchenfeldt Rahel E. Feilchenfeldt Edith Feistner Bernhard Fetz Sascha Feuchert Jens Finckh Cornelia Fischer Thorsten Fitzon Anne Fleig Jürgen Fohrmann Tuomo Fonsén Dirk Frank
Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge dieses Bandes Svenja Frank Konrad Franke Jutta Freund Hans-Edwin Friedrich Cornelia Fritsch Hartmut Fröschle Waldemar Fromm Rüdiger Frommholz Wolfgang Frühwald Frank Fürbeth Markus Gansel Klaus Garber Iris Gareis Nina Gawe Hartmut Geerken Michael Geiger Nicola Gess Gabriele Gockel Uta Goerlitz Silke Göttsch-Elten Dirk Göttsche Walter Grab Erich Gräßer Jürgen Grambow Hans Graßl Christian Grawe Stefan Greif Meinrad M. Grewenig Wolfgang Griep Christoph Groffy Thomas Grosser Andreas Grünes Harald Gschwandtner Christa Gürtler Detlef Haberland Julei M. Habisreutinger Wilhelm Haefs Günter Häntzschel Lutz Hagestedt Peter Haida Michael Hansel Christiane Hansen Volkmar Hansen Michael Hanstein Matthias Harder Wolfgang Harms Winfried Hartkopf Heiko Hartmann Jan-Christoph Hauschild Richard Heckner Boris Heczko Manfred Heiderich Ingrid Heinrich-Jost Ernst Hellgardt
Mechthild Hellmig Wiebke Hemmerling Wolfhart Henckmann Hubert Herkommer Stefan Hermes Leonhard Herrmann Walter Hettche Walter Hinderer Winfried Hönes Jochen Hörisch Torsten Hoffmann Heinz Holeczek Anne Holzmüller Franz-Josef Holznagel Johann Holzner Christoph Huber Martin Huber Agnes Hüfner Hans-Otto Hügel Reinhold Hülsewiesche Adrian Hummel Dietrich Huschenbett Stefan Iglhaut Wilfried Ihrig Julia Ilgner Ferdinand van Ingen Andrea Jäger Bruno Jahn Harald Jakobs Johannes Janota Herbert Jaumann Ulrich Joost Renate Jürgensen Matthias Jung Wolf Käfer Pamela Kalning Elke Kasper Rudolf W. Keck Alan F. Keele Karina Kellermann Dirk Kemper Friedrich Kienecker Christian Kiening Andreas Kilcher Elisabeth Klecker Jacob Klingner Kathrin Klohs Philipp Kluwe Arnulf Knafl Manfred Knedlik Reinhard Knodt Hans-Albrecht Koch Peter König Barbara Könneker
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VII Sabine Koloch Henk J. Koning Michaela Kopp-Marx Gisela Kornrumpf Alexander Kosˇenina Fritz Krafft Horst Krause Hannes Krauss Helmut K. Krausse Rudolf Kreutner Wynfrid Kriegleder Friederike Krippner Florian Krobb Heinrich Kröger Hans-Martin Kruckis Peter Krumme Primus-Heinz Kucher Ulla Britta Kuechen Wilhelm Kühlmann August Kühn Wolfgang Künne Hartmut Kugler Walther Kummerow Gerhard Kurz Peter Langemeyer Ingo Langenbach Corinna Laude Elisabeth Lebensaft Felix Leibrock Gerald Leitner Hans Leuschner Ulrike Leuschner Robert Lewetzky Sandra Linden Joachim Linder Irmgard Lindner Charles Linsmayer Dieter Lohmeier Günther Lottes Johanna Ludwig Matthias Luserke Anastasia Manola Jörg Marquardt Hanspeter Marti Wolfgang Martynkewicz Monika Maruska Arno Matschiner Gert Mattenklott Michael Matzigkeit Michael Mecklenburg Volker Meid Albert Meier Andreas Meier Jörg Martin Merz
Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge dieses Bandes Dietrich Meyer Annette Meyhöfer Wolfgang F. Michael Alain Michel Wolfgang Mieder Zygmunt Mielczarek Armin Mohler Rudolf Mohr Dirk Moldenhauer Josef Morlo Elfriede Moser-Rath Katja Moses Mario Müller Winfried Müller Uta Müller-Koch Katharina Münstermann Christine Mundhenk Alexander Nebrig Wolfgang Neuber Gunther Nickel Olaf Nicolai Herbert Ohrlinger Walter Olma John Osborne Bernadette Ott Norbert H. Ott Walter Pape Georg Patzer Siegbert Peetz Dietmar Peil Thomas Pekar Ole Petras Robert Pichl Ulrike Pichler Ewa Pietrzak Hans Pörnbacher Bernd Prätorius Rosemarie Inge Prüfer Uwe Puschner Frank Raepke Wolfgang Ranke Jürgen Rathje Philipp Redl Friederike Reents Quirinus Reichen Wolfgang Reichmann Heimo Reinitzer Hubert Reitterer Matthias Richter Jürgen Ricklefs Ulfert Ricklefs Oliver Riedel Wolfgang Riedel Gerda Riedl
Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge dieses Bandes Alexander Ritter Bernd Roeck Werner Röcke Ulrich Rose Thomas Rothschild Franz Rottensteiner Joachim Rückert Arnd Rühle Holger Runow Walter Ruprechter Johannes Sachslehner Rüdiger Safranski Eda Sagarra Christoph Sahner Carola Samlowsky Jutta Sandstede Hans Sarkowicz Ingrid Sattel Bernardini Gerhard Sauder Angela Schader Eckart Schäfer Walter E. Schäfer Uta Schäfer-Richter Franca Victoria Schankweiler Elisabeth Schawerda Michael Scheffel Heinz Scheible Manfred Schier Jörg Schilling Michael Schilling Wolfgang Schimpf Martin Schmeisser Christine Schmidjell Ruth Schmidt-Wiegand Peter Schmitt Walter Schmitz Sabine Schmolinsky Rolf Schneider Ronald Schneider Cornelia Schödlbauer Detlev Schöttker Gunter Scholtz Axel Schreiber Birgit Schreiber Hermann Schreiber Winfried Schröder Sonja Schüller Erhard Schütz Hans Schuhladen Georg-Michael Schulz Gerhard Schulz Thomas B. Schumann Gudrun Schury Eckard Schuster
Hans-Rüdiger Schwab Christian Schwarz Gerhard Schwinge Reimund B. Sdzuj Friedrich Seck Ulrich Seelbach Otmar Seemann Felix Seewöster Wolfgang Seibel Rolf Selbmann Rita Seuß Reinhart Siegert Franz Günter Sieveke Friedhelm Sikora Kai Sina Andreas Urs Sommer Johann Sonnleitner Michael Spang Thomas Sparr Björn Spiekermann Yara Staets Wulfhard Stahl Guido Stefani Hartmut Steinecke Hajo Steinert Sibylle von Steinsdorff Gideon Stiening Mary E. Stewart Andrea Stoll Solveig Strauch Jochen Strobel Heinz Stübig Robert Stupperich Dieter Sudhoff Anette Syndikus Marian Szyrocki Christian Teissl Oliver Tekolf Joachim Telle Reinhard Tenberg Michael Töteberg Dietmar Trempenau Peter Ukena Elke Ukena-Best Theodor Verweyen Klaus Völker Dominica Volkert Benedikt Konrad Vollmann Karin Vorderstemann E. Theodor Voss Lieselotte Voss Torsten Voß Hans Wagener Falk Wagner
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IX Karl Wagner Bernhard Walcher Gabriela Walde Ian Wallace Luisa Wallenwein Wolfgang Walliczek Jürgen P. Wallmann Michael Waltenberger Christian Walter Klaus-Peter Walter Ingo F. Walther Jutta Wardetzky Ernst Weber Walter Weber Matthias Weichelt Michael Weise Wolfgang Weismantel Christoph Weiß Liliane Weissberg Christiane Weller Horst Wenzel
Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge dieses Bandes Dirk Werle Ursula Weyrer Stefan Wieczorek Hermann Wiegand Barbara Wien Reiner Wild Ulla Williams Werner Williams-Krapp Theresia Wittenbrink Gunther Witting Reinhard Wittmann Marie Wokalek Gerhard Wolf Jean M. Woods Stefan Bodo Würffel Dieter Wuttke Karin E. Yes¸ ilada Christa Zach Urs Martin Zahnd Hans-Joachim Ziegeler
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Rosbach, Roßbach, Rosbachius, Rosapachius, Konrad, * um 1535, † nach 1606/vor 1613. – Erbauungsschriftsteller, Lehrdichter.
Roschmann In: Archiv für Hess. Gesch. u. Alterthumskunde 15 (1884), S. 376–386 (mit Textproben aus ›Paradeißgärtlein‹ u. ›Rosa D. Mariae‹). – Wilhelm Diehl: K. R.s ›Klagegespräch‹. In: Bad-Nauheimer Jb. 4 (1925), S. 6–8 (mit Abdruck des ›Klaggesprech deß Todts u. der [...] Frawen Elisabethen aus Vom [...] Abscheydt‹, 1588). – Heimo Reinitzer: Biblia deutsch. Luthers Bibelübers. u. ihre Tradition. Wolfenb. 1983 (Ausstellungskat.), S. 247–249. – Ders.: ›Da sperret man den leuten das maul auff‹. Beiträge zur protestant. Naturallegorese im 16. Jh. In: Wolfenbütteler Beiträge 7 (1987), S. 27–56, hier S. 43 f. Joachim Telle
R. war ein spätestens seit den 1560er Jahren auf dem St. Johannesberg unweit Bad Nauheims u. in Nieder-Mörlen (Bad Nauheim/ Wetterau) tätiger Prediger, bis 1606 NiederMörlen an Kurmainz fiel u. R. gegenreformatorischem Druck weichen musste. Im Zuge seiner pfarrherrl. Aufgaben schuf R. Erbauungsschriften (Rosa D. Mariae. Das ist [...] Rosengärtlein: Darinnen [...] das Edle MarienRöselein/ Iesus Christus [...] sampt seiner Natur/ Pflantzung/ Krafft/ vnd Tugent [...] beschrieben ist. Roschmann, Anton, * 7.12.1694 Hall/TiFfm. 1587) u. bereicherte das Trostschrifttum rol, † 25.6.1760 Innsbruck. – Tiroler (Vom Seligen Abscheydt [...] der [...] Elisabeth Landeshistoriker. Sohnin. Ffm. 1588. Geistlicher Freuden-Spiegel Als Sohn einer verarmten, um Adelsansprüder Seelen. Ursel 1593. Myrrengarten mit den che ringenden Beamtenfamilie sah sich R. lieblichen Rosen/ Das ist [...] Bericht/ vom Creutz schon während seiner verzweigten Studien an der [...] Christen/ dadurch sie [...] Christo [...] der Innsbrucker Universität (bis 1722) zu müssen gleichförmig werden. Ffm. 1605). Nach- Katalogisierungsarbeiten an den Buchberuhm sicherte R. vorab ein Frühwerk der lu- ständen der Innsbrucker Hofbibliothek u. des therisch-protestantischen Naturallegorese, Klosters Stams genötigt (1720/21). Die eine zum physikotheolog. Schrifttum gehö- schlecht dotierte Arbeit verhalf ihm nach jurige Lehrdichtung (Paradeißgärtlein/ Darinnen ristischer Lizentiats- (1722), dann Notariatsdie [...] Kräuter nach jhrer Gestalt vnd Eigenschafft prüfung (1727) immerhin zu den bescheideabcontrafeyet/ vnd mit zweyerley Wirckung/ Leib- nen Positionen eines vorläufig (1722), dann lich vnd Geistlich/ auß [...] Kräuterbüchern vnd H. endgültig bestallten Universitätsnotars Göttlicher Schrifft [...] beschrieben sind. Ffm. (1727). 1740 von der Tirolischen Landschaft 1588. Faks.-Ausgabe, mit Anmerkungen hg. zu ihrem ehrenamtl. »Historicus« ernannt, von Heimo Reinitzer. Hann. 1982 u. 1986. erhielt R. schließlich die einträgl. Stelle des Erneute Ausgabe u. d. T. Newes ParadeißGärt- Innsbrucker Archivdirektors (1756). Eine als lein. Vermehrt u. hg. von Johann Wilhelm Beförderung gedachte Versetzung an das Rosapach [Rosenbach]. Ffm. 1613). Mit Blick Wiener Hofarchiv hatte der mittlerweile auf »Haußvätter/ Frauwen vnd Jungfrawen« überregional bekannte Historiograf 1751 abbelehrte R. anhand einschlägiger Sachschrif- gelehnt. ten über phytotherapeutische Praktiken, anR.s Ansehen beruhte auf seinen zahlreihand des ›Buchs der Natur‹ mittels allegor. chen, oft ungedruckten, lat. oder dt. verfassDingexegesen aber auch über orthodox-luth. ten bahnbrechenden Arbeiten zur Geschichte ›Arzneien für die Seele‹, wobei er zudem »die u. Topografie des Landes Tirol (Kurze BeWeltliche Oberkeit« an ihre Amtspflichten schreibung der fürstlichen Grafschaft Tirol. Innsbr. erinnerte. Er verband im Paradeißgärtlein hu- 1740. Veldidena urbs antiquissima. Linz 1744). manmedizischen Unterricht mit theolog. Auch als Genealoge (De origine Comitum TyroNaturallegorese u. »begründete dadurch die lensium. Ungedr. o. J.), Litterärhistoriker Gattung des biblischen Pflanzenbüchleins (Historia litteraria Tyrolensis. Ungedr. o. J.) u. und der biblischen Naturdeutung im evan- Tiroler Künstlerbiograf (Tyrolis pictoria et stagelisch-lutherischen Glaubensbereich« (Rei- tuaria. 2 Tle., ungedr.) trat der rastlos tätige nitzer, 1982). R. hervor. Sein Gelehrtenrenommee ermögLiteratur: Anton Birlinger: Sittengeschichtli- lichte der Familie 1784 die Fixierung des ches u. Sprachliches aus Hessen. Erste Abtheilung. Adelstitels.
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Ausgaben: A. R.s lat. Beschreibung der Ruinen v. Aguntum. Reliquiae aedificii Romani ad oppidum Tyrolense Lienz detectae vulgo das Zwergengebäu. Hg., übers. u. komm. v. Florian M. Müller u. a. Innsbr. 2007. – Michael Huber: A. R.s Inscriptiones. Text, Übers., Komm. Innsbr. 2009. Literatur: R. u. seine Schr.en. In: Beiträge zur Gesch., Statistik, Naturkunde u. Kunst v. Tirol u. Vorarlberg. Bd. 2, Innsbr. 1826, S. 1–184 (vollst. Werkverz.). – Franz v. Krones: A. R. In: ADB. – Johannes Duft: R.s Briefw. mit Pius Kolb. In: FS Nikolaus Grass. Hg. Louis Carlen. Bd. 2, Innsbr./ Mchn. 1975, S. 261–286. – Alfred Auer: Der Historiograph A. R. (1694–1760). Ein Beitr. zur Geistesgesch. des 18. Jh. In: Innsbrucker histor. Studien 4 (1981), S. 65–98. – Ingo Reiffenstein: A. R. (1694–1760), kath. Aufklärung u. die dt. Sprache. In: Lit. u. Sprachkultur in Tirol. Hg. Johann Holzner u. a. Innsbr. 1997, S. 123–142. Gerda Riedl / Red.
Rose, Felicitas, eigentl.: Rose F. Moersberger, geb. Schliewen, * 31.7.1862 Arnsberg/Westfalen, † 18.6.1938 Berlin; Grabstätte: Heidefriedhof Müden a. d. Oertze. – Romanautorin. Die Tochter eines preuß. Beamten wuchs in bescheidenen Verhältnissen auf, ihre musische Begabung wurde aber von den Eltern gefördert. Sie hatte den bekannten Komponisten Carl Reinecke als Klavierlehrer. Nach ihrer Heirat 1884 mit dem Postbeamten Ernst Moersberger lebte sie zunächst in Berlin, dann in Kiel, Kassel, Bremen u. von 1914 bis 1930 wieder in Berlin. Die letzten Lebensjahre verbrachte R. hauptsächlich in ihrem Haus »Hilliger Ginsterbusch« in Müden in der Lüneburger Heide. Zwischen 1914 u. 1930 war R. eine der bekanntesten u. meistgelesenen Autorinnen. Ihr autobiografisch gefärbtes Provinzmädel (10 Bde., Bln. 1902–1904) schildert u. a. Kerlchens Lern- und Wanderjahre, Flitterwochen u. Mutterglück u. etablierte ›Kerlchen‹ neben ›Trotzkopf‹ zu einem Typus des modernen Mädchenromans. Den literar. Durchbruch schaffte R. mit dem Roman Heideschulmeister Uwe Karsten (Bln. 1909. Neuaufl. 1920. Jubiläumsausg. [500. Tsd.] 1937; [600. Tsd.] 1946. Klagenf. [1965]), der auch erfolgreich verfilmt wurde (1933 von Karl Heinz Wolf nach dem
Drehbuch von Kurt Heynicke; 1954 von Hans Deppe mit daran anschließendem »Film-Roman« frei bearb. von Paul von Brandes. Mchn. [1955]). Die Liebesgeschichte zwischen der Hamburger Patriziertochter Ursula Diewen u. dem schriftstellernden Protagonisten ist in Tagebuchform aus der Sicht Ursulas geschildert. Sie findet in dem zurückgezogenen Heidelehrer Uwe Karsten, dessen Gedichte sie schon als Mädchen liebte u. sang, ihr Glück. Im Kontrast zwischen kalter Hansestadt u. freier Heidelandschaft u. vor der Folie anderer Beziehungsmuster wird die leidenschaftl. Liebe geschildert, die nach knapp drei Jahren mit Ursulas Tod im Kindbett tragisch endet. Die subjektive weibl. Perspektive, die natürl. Tagebuchsprache, die Kunstthematik, die lebensnahen Porträts der Stadt- u. Provinzmenschen u. vor allem die stimmungsvollen Naturschilderungen erklären wohl den Erfolg dieses Bestsellers. Diese Beliebtheit konnten R.s spätere Heimatromane nicht mehr erreichen, obgleich sie der Machart des Heideschulmeisters Uwe Karsten folgen. So finden sich in den Drohnen. Eine Geschichte für junge und alte Nichtstuer (Bln. 1912), der Liebesgeschichte zweier vom Schicksal geprüfter Menschen, wiederum »Tagebuchblätter«, das Kunstmotiv u. die Heide als Schauplatz, die einem Maler größere Erfüllung bietet als Rom u. die Protagonistin zur Lehrerin werden lässt. Für den Pastor Verden, der bei Cotta erschien (Stgt. 1912 [unter dem Namen »Felicitas R. Moersberger«]. 1918), wählte R. gar den »wirksameren« Untertitel »Heideroman« (Brief an Cotta vom 19.4.1912, DLA Marbach). Auch wenn andere Heimatromane R.s an der Nordsee (Der Mutterhof. Ein Halligroman. Bln. [1918]) oder in Thüringen spielen (Die jungen Eulenrieds. Roman aus Thüringen. Bln. 1936), galt sie v. a. als Heidedichterin. Allerdings nahm die Auflagenhöhe der Romane seit den 20er Jahren des 20. Jh. sukzessive ab. Die postume Werkausgabe (Gesammelte Werke. 2 Reihen, je 4 Bde. Bln. [1939]) konnte die Regionalisierung der Autorin nicht verhindern, die auch heute noch in der Lüneburger Heide verehrt wird.
3 Weitere Werke: Bilder aus den vier Wänden. Bln. 1911 (N.n). – Der Tisch der Rasmussens. Die Gesch. einer Familie. Bln. 1922. Neuaufl. u. d. T.: Der Heidehof. Mchn. [1957] (R.). – Rotbraunes Heidekraut. Lieder. Bln. 1924. – Das Haus mit den grünen Fensterläden. Bln. 1930 (R.). – Wie es bei uns zuging. In: Mein Elternhaus. Bekenntnisse. Bln. 1943, S. 209–220. – Ich bin grässlich ungezogen ... Biographisches u. Selbstbiographisches v. F. R. Hg. Yomah Deiters-Westhoff. Hermannsburg 1975. Literatur: Donald Ray Richards: The German Bestsellers in the 20th Century. A complete Bibliography and Analysis 1915–1940. Bern 1968, S. 201 f. – Wilpert/Gühring: Erstausgaben dt. Dichtung. Stgt. 21992, S. 1266. – Westf. Autorenlex. 3 (unter R. F. Moersberger). Achim Aurnhammer
Rosegger, Rossegger, Peter, auch: P. K. (d. i. Petri Kettenfeier), Hans Malser, * 31.7. 1843 Alpl bei Krieglach/Steiermark, † 26.6.1918 Krieglach; Grabstätte: ebd. – Erzähler, Lyriker, Journalist. Als ältestes von sieben Kindern einer Bergbauernfamilie auf dem Kluppeneggerhof geboren, genoss R. nur eine sporad. Schulbildung bei einem Wanderlehrer. Früh las er alle ihm zugängl. Literatur, etwa religiös konnotierte Volkskalender oder Erbauungsbücher, u. verfasste bereits 1858 eine Lebns-Beschreibung des Peter K. Rosseggers eines Baern Sohnes auf der Alben Kriglach; im Folgejahr entstanden neben dramat. Versuchen auch zwei Kalender. Die Versuche R.s, Theologie studieren zu dürfen, scheiterten, sodass er von 1860 an eine viereinhalbjährige Schneiderlehre absolvierte. R.s literar. Arbeiten spiegeln seine Vertrautheit mit der bäuerl. Bevölkerung wider u. erregten die Aufmerksamkeit des Redakteurs der »Grazer Tagespost«, Adalbert Viktor Svoboda, der 1864 in zwei Artikeln zur Förderung des Talents aufrief. Nach rasch abgebrochener Buchhandelslehre in Laibach (Ljubljana) besuchte R. von 1865 bis 1869 die neu gegründete Akademie für Handel u. Industrie in Graz u. kam in dieser Zeit in Kontakt mit den Dichtern Leopold von SacherMasoch, August Silberstein u. Robert Hamerling. R.s Entschluss, freier Schriftsteller zu werden, wurde durch Stipendien erleich-
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tert, die er auch zur Unterstützung seiner Eltern brauchte, deren Hof 1868 versteigert werden musste. 1870 erschien mit Zither und Hackbrett (Graz/Lpz.) R.s erstes gedrucktes Buch, zu dem Hamerling das Vorwort beisteuerte. Diesen Gedichte[n] in obersteir. Mundart folgten im selben Jahr eine ebenfalls dialektal geprägte Sammlung u. d. T. Tannenharz und Fichtennadeln (Graz/Lpz.) sowie ethnografische Sittenbilder aus dem steirischen Oberlande (Graz 1870; u. d. T. Volksleben in Steiermark. 2 Bde., ebd. 1875). Hatte R. 1867 eine Alpenreise unternommen, in deren Verlauf er Adalbert Stifter in Linz besucht hatte, so reiste er 1870 – durch ein Stipendium des steier. Landesausschusses finanziert – u. a. nach Deutschland, in die Niederlande u. in die Schweiz; 1872 fuhr er (gemeinsam mit Svoboda) nach Italien. Mit dem Ungarn Gustav Heckenast gewann R. – bis zu dessen Tode 1878 – einen angesehenen Verleger für seine Dorfgeschichten u. ethnografischen Skizzen sowie einen liberalen u. gebildeten Mentor, der ihn in literar. u. privaten Dingen beriet. In rascher Folge erschienen Prosabände etwa mit Erzählungen, Dorfgeschichten (in der Nachfolge Silbersteins u. Berthold Auerbachs) oder Reiseskizzen sowie 1872 R.s erster Roman In der Einöde (Pest), der später mit dem in Zeitungsfeuilletons veröffentlichten Werk Oswald und Anna (1876) zu dem zweiteiligen Roman Heidepeters Gabriel (Wien 1882) verschmolz. R. beschreibt die Erfahrungen eines bildungshungrigen Helden, der die »Einöde« verlässt u., enttäuscht vom tatsächl. Zustand städt. Bildung, als Lehrer heimkehrt, um die Bildungsnot der Einödbewohner zu lindern. Obgleich sich R. später gegen eine biogr. Lesart verwahrte, sind teilweise Parallelen zwischen seinem persönl. Schicksal u. der Handlung nicht zu verkennen, doch steht der Roman auch in der Tradition eines Wilhelm Meister oder Heinrich von Ofterdingen. 1875 erschien der in Tagebuchform verfasste Roman Die Schriften des Waldschulmeisters (Pest), der – ähnlich Stifters Nachsommer – ein erzieherisches Anliegen formuliert, wenngleich statt der großbürgerl. Stadt hier das einsame Walddorf im Mittelpunkt der pädagog. Bemühungen des Protagonisten stehen. R. en-
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gagierte sich mit dem Waldschulmeister, einem seiner erfolgreichsten Werke, im Sinne einer liberal geprägten Volksaufklärung, wobei ihn auch Erfahrungen des Kulturkampfes beeinflusst haben dürften. In einer Phase seel. Depression, deren Ursache 1875 der frühe Tod seiner Frau Anna Pichlernach knapp zweijähriger Ehe war, gründete R. 1876 die Monatsschrift »Heimgarten«, die bis 1935 bestand. War dem zuvor auf Anregung Ludwig Anzengrubers herausgegebenen »deutschen Volkskalender« »Das neue Jahr« (Pest 1873–78) kein wirtschaftl. Erfolg beschieden, so publizierte R. im »Heimgarten«, den er bis zur Übernahme durch seinen Sohn Hans Ludwig 1910 herausgab, seine literar. u. journalistischen Arbeiten, mit denen er zu aktuellen Zeitfragen u. in polit. Streitfragen (Nationalitätenstreit, Antisemitismus, Kirchenpolitik, Agrarfrage) Stellung bezog. 1877 erschien die Urfassung seiner episodenhaften, additiv gefügten Kindheitsgeschichten der Waldheimat (Preßburg/Lpz.), die in der »Ausgabe letzter Hand« auf vier Bände erweitert wurde. 1879 heiratete R. die Tochter eines Wiener Bauunternehmers, Anna Knaur. Seit 1881 erschienen R.s Werke als Oktavausgabe im Verlag Hartleben in Wien in Form Ausgewählter Schriften, die zunächst auf 12 Bände angelegt waren, jedoch sukzessive auf 30 erweitert wurden. Seit 1895 druckte sodann Staackmann in Leipzig die Bände 31 bis 52. Neben einer Vielzahl von Vorlesungen, die R. in steir. Mundart hielt, stellt der Roman Jakob der Letzte (Wien 1889), welcher den wirtschaftl. wie moralischen Ruin der Bergbauern schildert, das wichtigste Werk dieser Schaffenszeit dar. R. wurde somit auch zum Zeugen wirtschafts- u. sozialgeschichtl. Veränderungen, wobei sein sich verschärfender Antimodernismus seine Rezeption im Kontext der programmat. Heimatkunstbewegung der Jahrhundertwende begünstigte, in deren Publikationsorganen er ebenso präsent war wie in den Massenmedien Berlins. Diskutiert wurde etwa R.s zivilisationskrit. »Kulturroman« in Briefform Erdsegen (Lpz. 1900); die Aktualität religiöser Stoffe u. eine deutschnational motivierte Kritik des Katholizismus begünstigten die breite Resonanz
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der Bücher Mein Himmelreich (Lpz. 1901) u. I. N. R. I. (Lpz. 1905). R.s enorme Popularität (v. a. auch der vom Hamburger Jugendschriftenausschuss veranstalteten Auswahl von Waldheimat-Geschichten u. d. T. Als ich noch der Waldbauernbub war (3 Bde., Lpz. 1900–1902) ist an den Feierlichkeiten zu R.s 60. u. 70. Geburtstag sowie an den Ehrungen im In- u. Ausland ablesbar (Ehrendoktorate der Universitäten Heidelberg, 1903, Wien, 1913, u. Graz, 1917; 1907 Ehrenmitgl. der Londoner »Royal Society of Literature«). R. nutzte u. steigerte sein Ansehen mit öffentl. Aktionen (Schul- u. Kirchenbau) u. Appellen. Sein überaus erfolgreicher Aufruf für den »Deutschen Schulverein« (1909) exponierte ihn im sich verschärfenden Nationalitätenstreit u. war wohl auch der Grund dafür, dass R. 1913 der Nobelpreis für Literatur nicht verliehen wurde. Den Ausbruch des Ersten Weltkriegs sah R., der in den 1890er Jahren noch Bertha von Suttners »Verein der Friedensfreunde« angehört hatte, als Chance für den polit. Zusammenschluss Österreichs mit Deutschland. So steht sein publizistisches Wirken in den Kriegsjahren unter deutschnationalistischen Vorzeichen, wie etwa die Zusammenarbeit mit dem chauvinistischen Priester u. Schriftsteller Ottokar Kernstock beim Steirischen Waffensegen (Graz 1916) bezeugt. Auch der »Heimgarten« legte sich unter R.s Sohn Hans Ludwig zunehmend auf eine rassistisch motivierte Programmatik fest, welche der nationalsozialistischen Rezeption Vorschub leistete, die etwa in der Centenarfeier von R.s Geburtstag zum Ausdruck kam. Ausgaben: Ausgew. Schr.en. 30 Bde., Wien u. a. 1881–94. 22 Bde., Lpz. 1895–1919. – Ges. Werke (Ausg. letzter Hand). 40 Bde., Lpz. 1913–16. – Schr.en. Volksausg. in vier Serien. 50 Bde., Lpz. o. J. – Teilausgaben: Schr.en in steir. Mundart. 3 Bde., Graz 1895/96. – Ges. Werke. Hg. Jost Perfahl. 4 Bde., Mchn. 1989. – Briefe: Briefw. zwischen P. R. u. Friedrich v. Hausegger. Lpz. 1924. – Dichterbriefe. Der Briefw. zwischen P. R. u. August Silberstein. Wien 1929. – Briefe an einen Franzosen. Hg. Amédée Vulliod. Lpz. 1930. – Das Leben in seinen Briefen. Hg. Otto Janda. Weimar 1943. 21948. – Hans Sittner: Kienzl – R. Zürich u. a. 1953. – P. R. – Hans v. Reininghaus. Briefe 1888–1917. Hg. Kurt H. Matzak. Graz 1974. – In ewiger Deinheit. Briefe
5 von P. R. an einen Jugendfreund. Einf. u. verbindender Text v. Charlotte Anderle. Wien 1990. – P. R. – Gustav Heckenast: Briefw. 1869–1878. Hg. Karl Wagner u. a. Wien u. a. 2003. Literatur: Bibliografien: Rudolf Latzke: P. R. Bibliogr. (der Primärlit.). Wien 1949. – Anton L. Schuller: Bibliogr. der R.-Lit. In: P. R. 1983. Werkkat. u. Bibliogr. Graz 1983, S. 19–46. – Weitere Titel: Ernest Seillière: P. R. u. die steir. Volksseele. Lpz. 1903. – Amédée Vulliod: P. R. Lpz. 1913 (frz. 1912). – Anton Schlossar: P. R. Lpz. 1921. – Elisabeth Lind: P. R. u. die Hauptprobleme seiner Zeit. Diss. Wien 1936. – R. Latzke: Aus R.s Werdezeit. Wien/Lpz. 1937. – Anna Haller: P. R. als Journalist. Diss. Wien 1946. – R. Latzke: P. R. 2 Bde., Weimar 1943. Graz/Köln 1953. – Emma Hackl: P. R. u. die Politik seiner Zeit. Diss. Wien 1951. – Franz Haslinger: P. R. als Herold Adalbert Stifters. Graz 1955. – Ders.: P. R. als Jünger Merkurs u. Apolls (1865–1869). Graz 1964. – Charlotte Anderle: Der andere R. Wien 1983. – Gerhard Pail: Die Funktion subjektiver Assoziationen u. ihr Wandel in den Romanen P. R.s. Diss. Graz 1984. – Otfried Hafner: P. R. im Spiegel der Kunst. Graz 1984. – Dean Garrett Stroud: The Sacred Journey [...]. Diss. Iowa 1984 [Stgt. 1986]. – Hellmuth Himmel: P. R. In: ÖBL. – Uwe Baur u. a. (Hg.): ›Fremd gemacht?‹ Der Volksschriftsteller P. R. Wien/Köln/Graz 1988. – Irmtraud Farrenkopf: Familienbilder. Bürgerl. Wahrnehmung bäuerl. Lebensweise bei Berthold Auerbach u. P. R. Diss. Tüb. 1988. – Karl Wagner: Die literar. Öffentlichkeit der Provinzlit. Der Volksschriftsteller P. R. Habil.-Schr. Wien 1989. – Ursula Stock: ›Sehnsuchtslandschaft‹ Waldheimat: P. R.s Kindheits- u. Jugenderinnerungen. Diss. Graz 1989. – Wolfgang Hölzl: ›Der Großdt. Bekenner‹. Nationale u. nationalsozialist. R.-Rezeption. Ffm. u. a. 1991. – C. Anderle: P. R. Der Dichter, der aus dem Walde kam. Wien 1992. – Lilian E. Ramos: P. R. – poet and pedagogue. Diss. Seattle 1992. – Eva Philippoff: P. R. Dichter der verlorenen Scholle. Eine Biogr. Graz u. a. 1993. – Gabriella Catalano: Paesaggi absburgici. Luoghi e clichés di tardo Ottocento in R., Anzengruber, EbnerEschenbach, Saar. Udine 1993. – Reinhard Farkas (Hg.): P. R.s Heimgarten. Wege zum Leben. Wien u. a. 1994. – Ernestine Dillon: ›Adelige, Bürgerliche, Wirtin, Bäuerin, Wirtschafterin, Magd, Außenseiterin, Waldfee ...‹. Frauen in ausgewählten Prosawerken v. P. R. Diss. Bloomington 1998. – Wendelin Schmidt-Dengler u. K. Wagner (Hg.): P. R. im Kontext. Wien u. a. 1999. – K. Wagner: P. R. In: NDB. – R. Farkas: Von der Agrargesellsch. zur Moderne. Diagnosen, Kritik u. Perspektiven P. R.s. In: ÖGL 54 (2010), H. 2, S. 146–161. – Rainer
Rosei Hauer: P. R. Ein Vordenker der Moderne. Lebensbild, Texte, Dokumente. Graz 2011. Karl Wagner / Hans Peter Buohler
Rosei, Peter, * 17.6.1946 Wien. – Erzähler, Lyriker, Essayist, Hörspielautor, Dramatiker. R., Sohn eines Eisenbahnbeamten u. einer Geschäftsfrau, studierte in Wien Rechtswissenschaften u. war nach der Promotion zunächst Sekretär des Malers Ernst Fuchs (1969–1971), Kunsthändler u. kurze Zeit Leiter eines Schulbuchverlags. Seit 1972 ist er freier Schriftsteller u. lebt, nach einer Zwischenstation in Bergheim bei Salzburg, seit 1981 wieder in Wien. »Kunst ist Selbstverwirklichung ohne Anpassung an die Herrschenden, ohne Anpassung an die Beherrschten«, heißt es in R.s Essayband Versuch, die Natur zu kritisieren (Salzb./Wien 1982). Mit Wahrheit u. Unwahrheit habe künstlerische Betätigung nach R. nur insofern zu tun, als der Künstler unseren Kopf in eine Richtung wendet u. uns schauen lässt. R.s Weltbild hat keine klaren Konturen, die Scheinsicherheiten einer Ideologie haben für ihn keine Verbindlichkeit. Ausgesetzt sein, sich an die Grenzen des Bewusstseins herantasten, die Auflösung des eigenen Ich erleben – das thematisiert R. in weiten Teilen seines umfangreichen Werks. Die Grundstimmung der Texte ist die Verzweiflung. Dominiert in seinen frühen Texten (durchwegs Parabeln in der Tradition Kafkas) lähmende Hoffnungslosigkeit, so beschreibt R. seit Der Fluß der Gedanken durch den Kopf (Salzb. 1976) auch Sehnsüchte u. utop. Modelle, die jedoch, nicht ohne resignative Ironie, als reine Gedankenspiele entlarvt werden. Die breiten Landschaftsbeschreibungen des Erzählbands Landstriche (Salzb. 1972) dienen der Sichtbarmachung des Bewusstseins der Figuren, brutaler Einzelgänger, die plündernd u. mordend durch unwirtl. Gegenden ziehen. In Entwurf für eine Welt ohne Menschen. Entwurf zu einer Reise ohne Ziel (Salzb. 1975) schildert R. seine Vision eines selbstvergessenen Schauens, bei dem sich der Beobachter während der Betrachtung auflöst. Um das
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Thema Identität u. Identitätsverlust kreisen die Aufzeichnungen des Ich-Erzählers im Roman Wer war Edgar Allan? (Salzb. 1977). Ein Student verfällt nach einer Erbschaft in selbstzerstörerische Drogenexzesse. In Venedig lernt er einen gewissen Edgar Allan kennen, der Züge Poes trägt u. im Verdacht steht, als Rauschgifthändler in einen Mordfall verwickelt zu sein; es könnte sich jedoch auch um eine Projektion des Erzählers handeln. Es beginnt ein Verwirrspiel, in dem die Grenzen zwischen Schein u. Sein ununterscheidbar verschwimmen. Kunstvoll schlichte Sätze u. ein unverwechselbar eigener, melancholischträumerischer Tonfall bestimmen R.s folgende Romane u. Gedichte. Von Hier nach Dort (Salzb./Wien 1978) führt die ziellose Reise eines jungen Mannes mit seinem Motorrad. Zwischendurch verdient er sich sein Geld durch Drogenhandel, dann bricht er wieder auf, um unterwegs von einer Welt zu fantasieren, in der jeder mit jedem unbefangen reden könne. R. hat in diesem Roman die Realität herausdestilliert, um den Kern des Geschehens, die Wahrnehmungen u. Stimmungslagen seines Helden, in Momentaufnahmen wiederzugeben. Seit den 1980er Jahren übt R. in seinen Romanen zunehmend Gesellschaftskritik. Immer wichtiger wird für ihn in dieser Zeit auch ein kaleidoskopisches Erzählverfahren, das auf die Abbildung einer »Totalität gesellschaftlicher Wirklichkeit« abzielt (Daniela Bartens). »Was mich interessiert, kann nichts anderes sein als der Reichtum der Strukturen, die Tiefe der Welt. Die Vielzahl der Strukturen und ihre Verknüpfung miteinander«, heißt es in R.s Grazer Poetikvorlesung Beiträge zu einer Poesie der Zukunft (Graz/Wien 1995). Für sein groß angelegtes Prosawerk Die Milchstraße (Salzb./Wien 1981) stellt sich der Autor die Aufgabe, durch ein komplexes Geflecht zwischenmenschl. Beziehungen ein Spiegelbild der Gesellschaft zu geben. Eine ähnl. Absicht liegt seinem 15000 Seelen-Projekt (Salzb./Wien 1985) zugrunde, einem umfangreichen im Sinne der verschiedenen Teile eines Flügelaltars angelegten Zyklus aus sechs separat erschienenen Büchern (Salzb. 1984–88), in denen es vorrangig um Spielarten der Liebe geht, die laut R. ein »großarti-
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ger Schwindel« u. »vollkommene Illusion« sei. In seinem multiperspektivischen, der Postmoderne verpflichteten Großstadtroman Rebus (Stgt. 1990) entsteht aus 35 fragmentar. Momentaufnahmen ein umfassender u. facettenreicher Erzählkosmos, ein, so. R., »Gesamt-Atlas der Lesemöglichkeiten von Leben im Stadtraum«. Verfahren der Montage, Vernetzung u. Collage kennzeichnen auch die folgenden Veröffentlichungen, wie die aus unzähligen mehr oder weniger eigenständigen Erzählungen u. Textteilen zusammengesetzten, komplex konstruierten Romane Persona (Stgt. 1995) u. Liebe & Tod (Wien/Mchn. 2000), die von der Kritik jedoch als literar. Patchwork kritisiert wurden. Auf breitere Zustimmung hingegen stieß Wien Metropolis (Stgt. 2005), ein Gesellschaftsroman, mit dem sich der Autor einmal mehr als »Meister der Polyfonie« (Wendelin Schmidt-Dengler) erweist. Wie später auch in Das große Töten (St. Pölten/Salzb. 2009) entfaltet R. anhand der verschiedenen sich in der Metropole Wien kreuzenden Lebenswege seiner unzähligen Haupt- u. Nebenfiguren auf vergleichsweise engem Raum ein breites u. atmosphärisch dichtes Geschichtspanorama. Mit seinem umfangreichen u. vielfältigen Werk gilt R. als einer der bedeutendsten Autoren der österr. Gegenwartsliteratur. Er erhielt zahlreiche Literaturpreise, u. a. 1973 den Rauriser Literaturpreis, 1993 den Franz-Kafka-Preis u. 1999 den Anton-Wildgans-Preis. Weitere Werke: Bei schwebendem Verfahren. Salzb. 1973. – Wege. Salzb. 1974 (E.en). – Regentagstheorie. Salzb./Wien 1979 (L.). – Das Lächeln des Jungen. Ebd. 1979 (L.). – Das schnelle Glück. Ebd. 1980 (R.). – Reise ohne Ende. Aufzeichnungsbücher. Ffm. 1983. – Komödie. Salzb. 1984. – Mann & Frau. Salzb. 1984. – Die Wolken. Salzb./ Wien 1986. – Der Aufstand. Ebd. 1987. – Unser Landschaftsbericht. Ebd. 1988. – Aus den Aufzeichnungsbüchern. Stgt. 1991. – Der Mann, der sterben wollte samt einer Geschichte von früher. Stgt. 1991. – Fliegende Pfeile. Aus den Reiseaufzeichnungen. Stgt. 1993. – Kurzer Regentag. Aufzeichnungen. Wien/Bozen 1997. – Verzauberung. Ffm. 1997. – Viel früher. Graz/Wien 1998 (L.). – Naturverstrickt. Essays. Wien 1998. – St. Petersburg, Paris, Tokyo. Reisefeuilletons. Wien 2000. – Dramatisches. Wien 2000. – Album von der traurigen u. glücksstrahlenden Reise. Graz/Wien 2002.
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7 – Dramatisches 2. Wien 2004. – Die sog. Unsterblichkeit. Kleine Schriften. Wien 2006. – Österreichs Größe, Österreichs Stolz. Ideentheater. Wien 2008. – Geld. St. Pölten/Salzb. 2011 (R.). Literatur: Ulrich Greiner: Eine Reise ins Innere der Sehnsucht. In: Ders.: Der Tod des Nachsommers. Mchn. 1979, S. 146–154. – Thomas Thornton: Sucht u. Suche nach der eigenen Person. In: LuK 16 (1981), H. 155, S. 265–270. – Alexander v. Bormann: ›Es ist, als wenn etwas wäre‹. Überlegungen zu P. R.s Prosa. In: Studien zur österr. Erzähllit. der Gegenwart. Hg. Herbert Zeman. Amsterd. 1982, S. 157–188. – Michael Wetzel: Weglichkeiten. Tradition u. Futurismus im Werk P. R.s. In: Zeitmitschrift (1986), H. 1, S. 109–127. – Wilhelm Schwarz: P. R. Gespräche in Kanada. Ffm. 1992. – Gerhard Fuchs u. Günther A. Höfler (Hg.): P. R. Graz/Wien 1994. – Walter Vogl (Hg.): Basic R. Wien 2000. – Georg Patzer: P. R. In: LGL. – M. Wetzel u. Rainer Landvogt: P. R. In: KLG. – Clemens Stepina (Hg.): Advanced R. Wien 2011. Günter Eichberger / Wolfgang Reichmann
Rosen, Erwin, auch: E. Carlé, * 7.6.1876 Karlsruhe, † 21.2.1923 Hamburg. – Journalist u. Verfasser von Memoiren. Um »das Leben zu lernen«, wurde R. mit knapp 18 Jahren von seinem Vater nach Amerika geschickt, nachdem er zuvor wegen Aufsässigkeit von mehreren bayerischen Schulen verwiesen worden war. In Amerika schlug er sich als Farmer u. Apotheker, Baumwollpflücker u. Streckenarbeiter durch u. fand schließlich eine Anstellung als Reporter. Am Amerikanisch-Spanischen Krieg nahm R. auf Kuba im Freiwilligenregiment Theodore Roosevelts teil (1898). Später lebte er als erfolgreicher freier Journalist in New York. Nach Deutschland zurückgekehrt, verarbeitete R. seine Erinnerungen zu spannenden »Erlebnisbüchern«, in denen er sich zum »Bruder Leichtfuß« mit unverwüstl. Abenteuerdrang, Draufgängertum u. Lebensoptimismus stilisierte. Seine Bücher enthalten jedoch auch knappe Reportagen über das alltägl. Leben im damaligen Amerika (St. Louis, San Francisco, New York). Der temporeiche Erzählstil, die Vorliebe für Details u. Fakten nach dem Vorbild des amerikan. Journalismus, der Sinn für das Interessante u. die Fähigkeit, mit wenigen Strichen die At-
mosphäre einzufangen, erklären den beachtl. Erfolg seiner Bücher beim dt. Lesepublikum. Weitere Werke: Der dt. Lausbub in Amerika. Stgt. 1911. – In der Fremdenlegion. Ebd. 1914. – Allen Gewalten zum Trotz. Ebd. 1922. Peter König
Rosenberg, Alfred (Ernst), * 12.1.1893 Reval, † 16.10.1946 Nürnberg. – Nationalsozialistischer Ideologe u. Politiker. Der evang. Kaufmannssohn schloss sich nach dem Architekturstudium in Riga u. Moskau der NSDAP in München an, wurde 1921 Hauptschriftleiter des »Völkischen Beobachters«, 1930 Mitgl. des Reichstags, 1935 Leiter des Außenpolitischen Amtes der NSDAP u. war 1941–1945 als Reichsminister für die besetzten Ostgebiete verantwortlich für die dt. Ausbeutungs- u. Vernichtungspolitik. Im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher wurde R. als »Urheber des Rassenhasses« zum Tode verurteilt. In zahlreichen Schriften vertrat R. die These von der prinzipiellen Überlegenheit der »germanischen Herrenrasse«. Beeinflusst von Houston Stewart Chamberlain, war für ihn die Geschichte eine Folge von Rassenkämpfen. Seine pseudowissenschaftl. Auffassungen verknüpfte er mit einer provozierend vorgetragenen antichristl. Blut- und Bodenmystik u. einem militanten Antisemitismus. Sein von der NS-Führung als »Hauptwerk der Bewegung« herausgestelltes Buch Der Mythus des 20. Jahrhunderts (Mchn. 1930) erwies sich publizistisch zunächst als völliger Fehlschlag. Nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler wurde der Mythus jedoch sowohl von der Bekennenden Kirche als auch von kath. Seite als ideolog. Grundwerk des NS-Neuheidentums bekämpft. Nach begrenzten Erfolgen als Leiter der »Nationalsozialistischen Monatshefte« u. des »Kampfbundes für deutsche Kultur« ernannte ihn Hitler im Jan. 1934 zu seinem Beauftragten für die Überwachung der gesamten geistigen u. weltanschaul. Schulung u. Erziehung der NSDAP (Amt Rosenberg), ohne dass dieser Zuwachs an institutioneller Macht R.s persönl. Einfluss auf den Kampf der Partei gegen »Bolschewismus, Freimaurerei, Weltjudentum
Rosenberg
und Christentum« wesentlich erweitert hätte. Als Leiter des »Einsatzstabes Rosenberg« führte R. einen Raub von Kunstgegenständen in fast allen besetzten Gebieten in Europa durch. Weitere Werke: Wesen, Grundsätze u. Ziele der NSDAP. Mchn. 1923. – An die Dunkelmänner unserer Zeit. Ebd. 1937. – Protestantischer Rompilger. Ebd. 1937. – Letzte Aufzeichnungen. Gött. 1955. – Das polit. Tgb. A. R.s aus den Jahren 1934/ 35 u. 1939/40. Hg. u. erl. v. Hans-Günther Seraphim. Gött. 1956. Literatur: Joachim C. Fest: Das Gesicht des Dritten Reiches. Mchn. 1969. – Reinhard Bollmus: Das Amt R. u. seine Gegner. Stgt. 1970. – Robert Cecil: The Myth of the Master Race. London 1972. – Raimund Baumgärtner: Weltanschauungskampf im Dritten Reich. Mainz 1977. – R. Bollmus: A. R. In: NDB. – Ernst Piper: A. R. Hitlers Chefideologe. Mchn. 2005. Michael Behnen
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zialdemokratischer Agitator. Das soziale Drama um den Bauspekulanten Crumbleton (Cleveland 1898) entwirft ein gesellschaftl. Panorama »im Zeitalter des allmächtigen Dollar«; Auf der Moralwaage (ebd., o. J.) behandelt »das Prinzip der Keuschheit und Tugend der Frau [...] vom sozialpolitischen Standpunkt aus«. Programmatisches Ziel des von Büchner u. Ibsen beeinflussten R. war die Anwendung »wirtschaftlicher Bewegungsgesetze auf das Drama« u. damit die Überwindung des Naturalismus. Literatur: Walter v. Dierecke: W. L. R. 1927. – Ursula Münchow: Arbeiterbewegung u. Lit. 1860–1914. Bln./Weimar 1981. – Christine Heiß: Die Rezeption v. ›Dantons Tod‹ durch die deutschamerikan. Arbeiterbewegung im 19. Jh. In: Georg Büchner Jb. 4 (1984), S. 248–263. Jan-Christoph Hauschild
Rosenberg, Wilhelm Ludwig, auch: von der Mark, * 10.1.1850 Hamm, † 1928 Rosenbohm, Rosenbomius, Samuel, * 2.3. vermutlich Cleveland/USA. – Lyriker, Er- 1567 Herzhorn/Kreis Steinburg (Schleszähler, Dramatiker, Journalist. wig-Holstein), † 5.12.1624 Elmshorn. – Neulateinischer Lyriker. Der Sohn eines Beamten wuchs bei seinem Großvater, einem Gießermeister, auf, studierte Philologie u. Philosophie, promovierte zum Dr. phil. u. wurde Lateinlehrer. Seit 1875 für die Sozialdemokratie publizistisch tätig, wanderte er nach dem Sozialistengesetz (Berufsverbot) in die USA aus. 1884–1890 (Spaltung der Partei) war R. in New York Spitzenfunktionär der Sozialistischen Arbeiterpartei von Nordamerika. Anschließend arbeitete er in Cincinnati als Journalist u. gründete später in Cleveland eine Schule für entwicklungsgestörte Kinder. R.s 1880 gesammelte Lieder und Gedichte (Ffm.) erinnern im Ton an Heine. Von seinen »sozialpolitischen« Gedichten wurden die meisten in der deutschamerikan. Arbeiterpresse gedruckt. Bei dem Exilverleger Schabelitz in Zürich kamen die Prosabände Irrfahrten. Eine soziale Lebensgeschichte (1880) u. Aus dem Reich des Tantalus. Alfrescoskizzen (1888) heraus. Im Mittelpunkt des durchaus poetischen Lustspiels Vor der Wahlschlacht, geschrieben für das New Yorker dt. Arbeitertheater u. 1887 in der von R. begründeteten »Socialistic Library« erschienen, steht ein so-
Der Pastorensohn besuchte das Johanneum in Hamburg u. studierte dann Theologie in Rostock (1592) u. Wittenberg (1594, zeitweise zusammen mit Wilhelm Alard). Nach Tätigkeiten als Diakon u. a. in Wesselburen (1601) wirkte er seit 1620 als Pastor in Elmshorn. Seine durchweg lat. Lyrik, in der geistl. Themen keine bedeutende Rolle spielen u. die namentlich von dem Wittenberger Poetikprofessor Friedrich Taubmann angeregt wurde, trug ihm den von Paul Schede Melissus 1597 verliehenen Titel eines Poeta Laureatus ein u. profilierte ihn als prominenten Vertreter des norddt. Späthumanismus. R., der gelegentlich auch dem Geist eines Petrarca u. Ronsard huldigte, verfügte über das gesamte lyr. Formenspektrum; er lässt immer wieder Historisches u. Autobiografisches durchscheinen (etwa im Lob Hamburgs), verwendet auch die Typen der aggressiven Epigrammatik in der Nachfolge Martials, bewegt sich in seinen beiden gedruckten Gedichtsammlungen aber immer wieder im Anlass- u. Formenspektrum der Kasual- u. Klientelpoesie. Jenseits vieler regionaler An-
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knüpfungen u. mancher interessanter themat. Einfälle (in der Sammlung von 1634 etwa auf S. 47–49 die Honesta petitio alicujus facinorosi ad mortem damnati – ›Die ehrenhafte Petition eines zum Tode verurteilten Verbrechers‹) lässt sich hier v. a. die Hinwendung zu den internat. renommierten, v. a. den niederländ. Größen der Poesie u. Philologie (Lipsius, Heinsius u. a) verfolgen. Werke: Thalysia, seu Floridorum Liber Singularis. Leiden 1612. – Poematum Variorum [...] Pars Prima. Libris tribus distincta [Hg. v. dem Sohn Henrich Rosenbohm]. Hbg. 1634. Ausgaben (Auswahl): Janus Gruter (Hg.): Delitiae Poetarum Germanorum. Bd. 5, Ffm. 1612, S. 902–907 (elektronisch lesbar in CAMENA). – Thomas Haye (Hg.): Humanismus in SchleswigHolstein. Eine Anth. lat. Gedichte des 16 u. 17. Jh. Kiel 2001, S. 72–109, 217–225. Literatur: Bibliografien: VD 16. – VD 17. – Weitere Titel: Johannes Moller: Cimbria Litterata. Bd. 1, Kopenhagen 1744, S. 567–569. – Erich Trunz: Henrich Hudemann u. Martin Ruarus, zwei holstein. Dichter des Frühbarock [Erstdruck 1935]. In: Ders.: Dt. Lit. zwischen Späthumanismus u. Barock. Mchn. 1995, S. 287–349, 290 f. u.ö. – Dieter Lohmeier: R. S. In: BLSHL, Bd. 5 (1979), S. 236 f. Nachtrag in Bd. 9 (1991), S. 379. – Flood, Poets Laureate, Bd. 3, S. 1746 f. Wilhelm Kühlmann
Rosendorfer, Herbert, auch: Vibber Tøgesen, * 19.2.1934 Gries bei Bozen/ Südtirol. – Romancier, Erzähler, Essayist, Dramatiker, Drehbuch- u. Hörspielautor, Zeichner, Librettoschreiber u. komponierender Hobby-Musiker. R. lebte seit 1939 (Auswanderung der Eltern) in München; nach dem Tod des Vaters verbrachte er die Jahre 1943 bis 1948 bei den Großeltern in Kitzbühel (darauf bezogen: Eichkatzelried. Geschichten aus Kindheit und Jugend. Mchn. 1979. Autobiographisches. Kindheit in Kitzbühel und andere Geschichten. Mchn. 1998). Nach einem Jahr an der Münchner Kunstakademie (1954) wechselte er zum Jurastudium über. Seit 1966 arbeitete er als Staatsanwalt bzw. Amtsrichter in München, von 1993 bis zur Pensionierung (1997) als Oberamtsrichter in Naumburg. Seit 1990 lehrte er in München nebenbei als Honorarprofessor für Bayerische Literaturgeschichte.
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Neben dem Bundesverdienstkreuz u. dem Österreichischen Ehrenkreuz für Kunst und Wissenschaft erhielt er zahlreiche weitere Auszeichnungen, darunter den Oberbayerischen Kulturpreis (1992), den Jean-Paul-Preis (1999), den Deutschen Fantasypreis (2000) u. den Münchner Literaturpreis (2005). Zur Familie notierte er lakonisch (in: Kolosz/Müller 2010): »Ich habe drei Frauen – hintereinander – vier Kinder und sieben Enkel«. Seit seiner Pensionierung lebt der »Agnostiker und Privatkatholik« (ebd.) wieder in Südtirol (Epann). Sein Glaubensbekenntnis hat R. neben manchen Reden u. Essays (darunter auch über Christa Wolf) in einem kleinen Aufsatz zusammengefasst (in: ... ich geh zu Fuß nach Bozen. Mchn. 1988, S. 17–19; in diesem Band auch die Festrede auf C. Wolf): »Ich glaube, daß die Menschen schlecht sind. Dennoch soll man sich nicht gegenseitig schlecht behandeln, weil alle ungefähr gleich schlecht sind.« In seinem weitgespannten Œuvre, das der Jurist unabhängig von den jeweils aktuellen Vorlieben des Feuilletons neben seinem Berufsleben ausspinnen konnte, überschneiden sich autobiogr. Reminiszenzen u. hellsichtige Beobachtungen mit fabulösen, manchmal verschachtelten Tagträumen, mit Experimenten narrativer Fantastik, mit skurrilen, oft grotesken Inventionen u. mit Formen einer satirischen, oft humorvoll gebändigten Zeitkritik. Indem sich bei R. erzählte Alltagswelten u. witzige, manchmal schwarzgallige Illuminationen oft unterhaltsam durchdringen, konnte u. kann er ein breites Publikum gewinnen. Als zutiefst melancholischer, doch nie larmoyanter Skeptiker u. Homme de Lettres, der über eine heute fast altfränkisch wirkende Belesenheit u. eine offenbar unersättliche histor. Neugier verfügt, steht R. manchen bewusstlos u. kritiklos ritualisierten Phänomenen von ›Modernität‹ ebenso distanziert gegenüber wie den oft ins Lächerliche gezogenen Bizarrerien des Alltags u. den immer wieder thematisierten Verschleierungen der nur scheinbar verjährten Nazibarbarei. Manche seiner Erzähltexte lassen dabei auch recht Persönliches transparent werden. So seine humoristisch-satir. Auseinandersetzung mit dem Justizwesen (im Roman Ballmanns Leiden oder Lehrbuch für
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Konkursrecht. Mchn. 2008) oder mit Strömungen u. Konfigurationen des Kulturgeschäfts, ablesbar etwa in Bayreuth für Anfänger (unter dem Pseudonym Vibber Tøgesen. Zürich 1969. Mchn. 1979), Richard Wagner für Fortgeschrittene (Mchn. 2008) oder in seinem Roman Ein Liebhaber ungerader Zahlen. Eine Zeitspanne (Köln 1994), in der R. kontrastiv verschiedene Schriftstellertypen u. Verlagsagenten auf dem Hintergrund eines leerlaufenden Literaturbetriebs zeichnet. Zu diesen heiter-satirischen, eher leichtfüßigen Werken, die Literarisches ironisieren, gehören der Roman Das Messingherz (Mchn. 1979), in dem der Literat Albin Kessel über seinen Elaboraten brütet, bald aber in die Fänge des als groteske Behörde geschilderten Bundesnachrichtendienstes gerät, u. der Roman Der Hilfskoch oder wie ich beinahe Schriftsteller wurde (Mchn. 2005). Nach ersten literar. Proben seit den frühen 1950er Jahren präsentierte R.s Roman Der Ruinenbaumeister (Zürich 1969) das komplexe Textgewebe eines Ich-Erzählers, der in Art einer romantischen, letzthin musikalisch komponierten Arabeske (postmodern lange vor der ›Postmoderne‹) innerhalb einer knappen Rahmenhandlung eine Fülle überraschender, oft absurder Geschichten verkettet, in der histor. Größen in einer Weltuntergangsstimmung figurieren u. wo der halluzinierten Titelfigur ein auch poetologisch ausdeutbares Profil verliehen wird. Immer wieder liebte es R., mit solchen Tagträumen zu spielen, so auch in dem Roman Stephanie und das vorige Leben (Hbg. 1977), in dem die Protagonistin schließlich in eine zwanghaft erträumte Welt des alten Spanien untertaucht. Kurz vorher erschien der Roman Großes Solo für Anton (Zürich 1976): Ein Finanzbeamter wacht auf u. muss feststellen, dass es keine Menschen mehr um ihn herum gibt, stattdessen nur noch die Trümmer, Spuren u. Dokumente eines weit in die Vergangenheit reichenden kuriosen Lebenschaos. Zwar werden hier Motive der Robinsonade zitiert, doch geht es weder um eine tatkräftig hergestellte neue Ordnung noch um die Beklemmungen einer Antiutopie, sondern um ein manchmal sogar heiter-sarkastisch instrumentiertes Erlebenskontinuum, in dem
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der Erzähler durch seinen Helden anhand aller mögl. Relikte das vergangene Gesellschaftstheater rekonstruiert bis hin zu einem Zustand, der Anton einem Gott ähnlich macht, der nicht nur die Menschwelt, sondern auch sich auflösen möchte. Die hier zu beobachtende Technik, aus einem fruchtbaren, nicht unbedingt neuen Einfall literar. Kapital zu schlagen, bestimmt auch R.s wohl größten Romanerfolg, seine Briefe in die chinesische Vergangenheit (Mchn. 1983). Altchinesische Zustände bzw. Mentalitäten u. dt. Gegenwartserfahrungen werden hierbei wechselseitig dialektisch verfremdet. Denn ein chines. Mandarin aus der Zeit um 1000 wird per Zeitreise nach München versetzt u. berichtet brieflich über das ihm seltsam erscheinende Gebaren der »Großnasen« u. das techn. Ambiente seiner neuen Umgebung. Hier wie in dem strukturell analogen, nun die Erfahrungen der Wiedervereinigung aufgreifenden, hier u. da mit störenden Klischees operierenden Roman Die große Umwendung (Köln 1997) aktualisiert u. transformiert der Satiriker R. letzthin Montesquieus Lettres Persanes. Mit überbordender, bisweilen ermüdend-reihenhafter Situationskomik, die mit der merkwürdigen Umschreibung von Worten u. Dingen beginnt, kann R.s dieses Maskenspiel dazu benutzen, das scheinbar Selbstverständliche in Frage zu stellen u. dabei seinen Aversionen gegen zeitgenöss. Verhaltensattitüden u. unerkannte Zwänge freien Lauf zu lassen. R.s kontinuierl. Auseinandersetzung mit der dt. Vergangenheit, gipfelnd in seinen sechs Bänden Deutsche Geschichte. Ein Versuch (Mchn. 1998–2010) umfasst auch das keinesfalls unproblemat. Bemühen, Geschehen u. Aktanten der Nazibarbarei mit schwarzem Humor in das Licht des Lächerlichen u. grotesk Banalen zu tauchen. So schon in seinem absurden Roman Deutsche Suite (Zürich 1972. Neuausg. Mchn. 1979), in der infernal. Missgeburten, bekannte Gestalten der Zeitgeschichte u. ein bunter Personenfilz mit subkutaner NS-Mentalität in einem quasi musikalisch geordneten Kaleidoskop vorüberziehen. Die hier angesprochene Kontinuität des Verdrängten bestimmt auch den Problemradius in dem Erzählband Vier Jah-
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reszeiten im Yrwental (Mchn. 1986) sowie den Roman Die Nacht der Amazonen (Köln 1989), in dem sich R. der Biografie eines vom Pferdeknecht zum Münchener Stadtrat aufsteigenden Nazi-Chargen widmet. Das Œuvre R.s erstreckt sich über ein weites Gefilde. Es umfasst ferner zahlreiche Bände mit Erzählungen, verschiedenartige histor. Biografien u. Essays (z. B. Prinz Friedrich von Homburg. Mchn. 1978), mehr als ein halbes Dutzend Bühnenstücke, mindestens drei Opernlibretti, zahlreiche Fernsehdrehbücher nebst einigen Hörspielen, auch einige musikal. Kompositionen. Als Geheimtipp gelten Bände, die R.s enormes zeichnerisches, oft das Frivole ausspielende Talent dokumentieren, darunter Die Schönen des Waldes. Bildsatiren (Mchn. 2001) oder Illustrationen zu Catull (Übers. Hans Boas. Bamberg 2000). Die Germanistik hat sich mit R. bisher nur sporadisch beschäftigt. Weitere Werke (Auswahl; viele Werke auch als Tb. bzw. Hörbücher, z. T. von R. gelesen): Der stillgelegte Mensch. Zürich 1970 (E.en). – R.s Aechtes Münchner Olympia-Buch. Mchn. 1971. Überarb. Neuausg. u.d.T.: Königlich bayer. Sportbrevier. Ebd. 1984. – Über das Küssen der Erde. Frühe Schriften zur Politik u. Kunst. Mit einem Vorw. v. Friedrich Torberg. Zürich 1971. – Skaumo. Ebd. 1976 (E.). – Ball bei Thod. Mchn. 1980 (E.en). – Vorstadtminiaturen. Ebd. 1982. – Das Zwergenschloß u. sieben andere E.en. Ebd. 1982. – Der Traum des Intendanten. Gedanken zur Musik. Hg. Karl Schumann. Ebd. 1984. – Don Ottavio erinnert sich. Unterhaltungen über die richtige Musik. Kassel 1989 u.ö. – Rom. Eine Einladung. Köln 1990. – Mitt.en aus dem poet. Chaos. Römische Gesch.n. Ebd. 1991. – Die Goldenen Heiligen oder Columbus entdeckt Europa. Ebd. 1992 (R.). – Venedig. Eine Einladung. Ebd. 1993. – Die Erfindung des SommerWinters. Neue E.en, Gedichte, Glossen u. Aufsätze. Mit einem Vorw. v. Dieter Hildebrandt. Mchn. 1994. – Absterbende Gemütlichkeit. Zwölf Gesch.n aus der Mitte der Welt. Köln 1996 (E.en). – Die junge Maria Stuart. Nachw. v. Eckard Henscheid. Stgt. 1998 (E.en). – Der China-Schmitt. Köln 1999 (E.en). – Die Schönschreibübungen des Gilbert Hasdrubal Koch. Ebd. 1999 (P.). – Die Erscheinung im Weißen Hotel. Unheiml. Gesch.n zu unheiml. Bildern (zus. mit Fabius v. Gugel). Ebd. 2000. – Kadon, ehemaliger Gott. Ebd. 2001 (R.). – Die Kellnerin Anni. Mchn. 2002 (E.en). – Die Donnerstage des Oberstaatsanwalts. Ebd. 2004
Der Rosendorn (E.en). – Monolog in Schwarz u. andere dunkle E.en. Ebd. 2007. – Der Mann mit den Goldenen Ohren. Ein Italienroman. Köln 2009. – Der Gnadenbrotbäcker. Ein Bilderbuch der Unberufe (zus. mit Kay Voigtmann). Bozen 2009 (Ess.s). – Martin Kolozs u. Delia Müller (Hg.): H. R. Innsbr. 2010 (Interview, Textproben u. autobiogr. Notizen). Literatur: Françoise Sopha: Die Romanwelt des Dichters H. R. Utopie oder Groteske. Stgt. 1980. – H. R. zum 60. Geburtstag. Lit. in Bayern. Sonderheft (1994). – Heidi Rehn: H. R. In: LGL. – Erlogene Wahrheit. FS für H. R. zum 70. Geburtstag. Hg. Südtiroler Künstlerbund. Red. Florian Sonneck. Bozen 2004. – Briefe in die europ. Gegenwart. Studien zur deutschsprachigen Lit. u. Kultur. FS für H. R. zum 70. Geburtstag. Hg. Edward Bial/ek u. Jacek Rzeszotnik. Wrocl/aw 2004. – Robert Seidel: Ein ›Mo-te-kwöj‹ des zwanzigsten Jh. Gattungsgeschichtl. Überlegungen zu H. R.s Romanen ›Briefe in die chinesische Vergangenheit‹ u. ›Die große Umwendung‹. In: Dt.-chines. Literaturbeziehungen. Hg. Wei Maoping u. Wilhelm Kühlmann. Shanghai 2006, S. 357–401. – Dirk Engelhardt u. Bruno H. Weder: H. R. In: KLG. Wilhelm Kühlmann
Der Rosendorn. – Spätmittelalterliche, priapeische Kurzerzählung (15. Jh.). Die in zwei ähnl. Fassungen anonym in zwei (evtl. drei) Handschriften überlieferte Kurzerzählung (I: 276 Verse; II: 252 Verse) berichtet von einer jungen Frau, die einen von einer Rosenhecke eingehegten Kräutergarten ihr Eigen nennt. Allmorgendlich begießt sie sich mit selbstgemachtem Rosenwasser. Der Erzähler beobachtet sie einmal dabei u. wird Zeuge eines Gesprächs zwischen der Frau u. ihrem Genitale (fud), das durch die Berührung mit einer Wurzel zu sprechen vermag. Bitter beklagt sich die fud darüber, dass ihr keiner der Genüsse der jungen Frau zuteil werde, dabei sei doch sie der Grund dafür, dass die Männer die Frau umwürben. Ein Streit über die jeweiligen Vorzüge endet damit, dass die junge Frau ihre fud verstößt, um herauszufinden, wem die Welt größeres Ansehen zollt. Ein Ritter (in I der ebenfalls liebesversierte Typus des Studenten) entdeckt bald das Manko u. macht es öffentlich, so dass die Frau dem allgemeinen Gespött anheim fällt. Ähnlich ergeht es der fud: Man hält sie für eine Kröte, beschimpft u. verscheucht sie. Beider
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Klage ist groß, bis sie sich erneut treffen u. voller Wiedersehensfreude vereinigen. Schließlich sendet die Frau nach dem Erzähler mit der Bitte, ihr das Genitale dauerhaft zu befestigen, der er mit Hilfe eines »Nagels« gern nachkommt. Im Epimythion empfiehlt er denn auch allen Männern, diese handwerkl. Hilfeleistung an den Frauen vorzunehmen. Die Fassungen unterscheiden sich außer in der Varianz der männl. Figur darin, dass die zweite Version durch eine Traumvision des Ich-Erzählers eingeleitet wird, in der er den Kräutergarten selbst erblickt, wodurch die beteuerte Authentizität der Geschichte untermauert wird. In der älteren Forschung wurde v. a. die Gattungszugehörigkeit der Erzählung diskutiert. Heute interessiert sie wegen ihrer obszönen u. gender-theoret. Aspekte, die Einblick in vormoderne Konzepte von Körperlichkeit, Sexualität u. Identität/Personalität nehmen lassen. Ausgabe: Hanns Fischer (Hg.): Die dt. Märendichtung des 15. Jh. Mchn. 1966, S. 444–460 (I), 445–461 (II). Literatur: Werner Schröder: D. R. In: VL u. VL (Nachträge u. Korrekturen). – Edith Wenzel: ›Zers‹ u. ›fud‹ als literar. Helden. Zum ›Eigenleben‹ v. Geschlechtsteilen in mittelalterl. Literatur. In: Körperteile. Eine kulturelle Anatomie. Hg. Claudia Benthien u. Christoph Wulf. Reinb. 2001, S. 274–293. – Klaus Grübmüller: Die Ordnung, der Witz u. das Chaos. Eine Gesch. der europ. Novellistik im MA: Fabliau – Märe – Novelle. Tüb. 2006, S. 223–238. Corinna Laude
Rosengarten. – Heldendichtung aus dem Stoffkreis um Dietrich von Bern, erste Hälfte des 13. Jh. Die 21 Handschriften bzw. Fragmente (Ende 13. bis Ende 15. Jh.) u. sechs Drucke (1479–1590) des R., welcher der sog. aventiurehaften Dietrichepik zugeordnet wird, tradieren außer einer niederdt. Fassung (1 Fragment, 1470) sechs mhd. Textfassungen des im Hildebrandston bzw. in der Heunenweise gedichteten Dietrichepos, deren Siglen noch auf W. Grimm zurückgehen: A (6 Handschriften des 14. u. 15. Jh., 2 Drucke),
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B (»Dresdner Heldenbuch« 1472), C (1 Handschrift des 14. Jh.), D (5 Handschriften des 15. u. 16. Jh.), F (4 Handschriften-Fragmente des 14. Jh.), P (1 Handschrift u. 1 HandschriftenFragment, beide 14. Jh.). Vermutlich entstand der R. in der ersten Hälfte des 13. Jh.; Versuche der Rekonstruktion eines Archetyps gelten heute als gescheitert u. unangemessen. Ein Entstehungsort ist nicht zu verifizieren, Zentren der handschriftl. Überlieferung sind der mitteldt. Raum, die Drucke konzentrieren sich auf Frankfurt, Augsburg, Straßburg; einige der Handschriften u. Drucke sind mit Federzeichnungen bzw. Holzschnitten ausgestattet, die bisher erst im Ansatz erforscht sind. Aufgrund der z.T. erhebl. Unterschiede in Handlungsablauf, Figurenkonstruktion u. Erzählhaltung werden die Fassungen in zwei Hauptversionen (A u. DP) u. zwei davon abzweigende Misch- oder Nebenversionen (F u. C) untergliedert. Handlungsablauf in A: Kriemhild, Herrin eines Rosengartens in Worms, wünscht, dass sich ihr Verlobter Siegfried, einer der Hüter des Gartens, mit Dietrich von Bern im Kampf misst; als Siegespreis winken Rosenkränze u. ein Kuss Kriemhilds. Dietrich nimmt die Herausforderung an; Hildebrand sucht die Kämpfer aus, darunter auch seinen Bruder, den Mönch Ilsan; Dietrich erreicht mit einem Heer von 60.000 Mann nach zehn Tagen Worms. Die folgenden Reihenkämpfe zwischen je zwölf burgundischen u. Berner Helden enden bis auf eine unentschiedene Begegnung alle mit einem Sieg der Berner. Anschließend zertritt Ilsan – wie Witege im Laurin – den Rosengarten, besiegt 52 weitere Gegner, reserviert die errungenen 52 Rosenkränze seinen Mitbrüdern u. zerkratzt Kriemhild mit seinem Bart bei den 52 Küssen das Gesicht. Als Ergebnis des Kampfes muss Kriemhilds Vater Gibich sein Land von Dietrich zum Lehen nehmen. Die Berner ziehen nach Hause; Ilsan drückt seinen Mitbrüdern die Rosenkränze derart ungestüm auf den Kopf, dass ihnen das Blut übers Gesicht rinnt. Während die Grundstruktur von Herausforderung u. Männervergleich in Reihenkämpfen gleichbleibt, weicht DP in vielen Motiven von A ab, wobei P in Einzelzügen wiederum eigene Wege geht: Herr des Ro-
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sengartens ist Gibich, der den Kampf im Rosengarten wie eine Aventiure ausrufen lässt, die hier Etzel annimmt u. dann Dietrich als Helfer anwirbt. Damit wird Kriemhilds in A dominante Rolle als eine überhebliche, grundlos die Helden in einen Kampf zwingende Frau stark zurückgenommen. Nicht vollständig rekonstruieren lässt sich der Handlungsverlauf der Version F, von der nur Passagen des Anfangs – Kriemhild sendet Seburg als Botin zu Dietrich – u. der Kämpfe überliefert sind. Während die nur unikal tradierte Version C Elemente des A- u. des DPTyps miteinander kombiniert, ist der – allein erhaltene – Beginn der niederdt. Fassung, die Schilderung des Rosengartens, völlig eigenständig. Die Versionen kompilieren in je eigener Weise Motive u. Personal aus Dietrich- u. Nibelungenstoff u. aus dem Laurin (Rosengartenmotiv) miteinander u. montieren sie in einen Rahmen aus zwei sich eigentlich widerstrebenden Handlungsmodellen, der Aventiure u. dem Männervergleich. Die Fabel ist strukturell offen, jede Realisierung des Textes kombiniert Elemente der gesamten Motivtradition in aktualisierter Auswahl neu. Darüber hinaus repräsentiert der R. ein Stück Rezeptionsgeschichte des Nibelungenlieds: Das Dietrichepos setzt sich mit der schon in den konkurrierenden Fassungen des Nibelungenlieds u. in der Klage sich niederschlagenden Frage auseinander, wie das Verhalten der Protagonisten zu bewerten u. wem die Verantwortung für den Untergang zuzuweisen sei. Wie im Biterolf wird die Handlung des R. zeitlich ›vor‹ dem Nibelungenlied angesetzt, womit sich die Möglichkeit ergibt, den ›späteren‹ nibelungischen Handlungen der Figuren eine Vorgeschichte u. motivierende Tiefendimension zu geben. In A wird aus diesem assoziativ weiterentwickelten Motivangebot eine Geschichte der Bestrafung der »superbia« Kriemhilds u. zugleich ein burleskes Spiel mit dem Gegensatz zwischen der höf. Welt des Rosengartens u. dem grobianischen Benehmen der Berner Helden, das durch den Mönch Ilsan um eine Kritik am Klerus erweitert wird. DP nutzt diesen höfisch-grobianischen Kontrast zur gegenseitigen Ironisierung beider Welten u. reagiert
Rosengarten
damit parodistisch auf die beiden literar. Gattungen des höf. u. des Heldenepos. Allerdings sollte man die ironisch-krit. Tendenzen nicht überbewerten; zentral für den wichtigsten Überlieferungs- u. damit wohl auch Rezeptionszeitraum des 14. u. 15. Jh. ist eher die unterhaltsame Revue bekannter Heldensagen-Figuren in immer neuen Zusammenstellungen u. Handlungskonstellationen. Wie die breite Überlieferung zeigt, war die auf strukturelle Offenheit angelegte Verarbeitung tradierter Muster äußerst erfolgreich: Zwei Fragmente einer der Fassung P nahestehenden tschech. Übersetzung aus dem 14. Jh., der Bericht von Thidreks Zug nach Bertangaland in der Thidrekssaga u. einige dän. Balladen bestätigen die Rezeption des R. in anderen Sprachen. Das recken spil in Vigil Rabers Sterzinger Sammlung von 1511 u. ein Spiel-Fragment von 1533 dramatisieren das Epos, Hans Sachs verarbeitet es in seiner »Tragedj« Der huernen Sewfrid von 1557; auch die Kampfbegegnung Dietrichs mit Siegfried im Biterolf ist vermutlich nach dem Muster des R. gebaut. Ausgaben: Die Gedichte v. R. zu Worms. Hg. Georg Holz. Halle 1893. Neudr. Hildesh./NewYork 1982, S. 1–67 (Fassung A), S. 69–215 (Fassung D), S. 217–233 (Fassung F). – Heldenbuch 1. Hg. Joachim Heinzle. Göpp. 1981, Bl. 217–255 (Faks.). – R. Hg. Elisabeth Lienert, Sonja Kerth u. Svenja Nierentz. Bln./New York (voraussichtlich) 2013/14. – Englische Ausgabe: German epic poetry. Hg. Francis G. Gentry. New York 1995 (Fassung A). Literatur: Georg Holz: Einl. zu ›Die Gedichte v. R. zu Worms‹. a. a. O., S. I-CXIII. – Carl Bretowsky: Der R. zu Worms. Versuch einer Wiederherstellung der Urgestalt. Stgt. 1929. – Helmut de Boor: Die literar. Stellung des Gedichtes vom R. zu Worms. In: PBB 81 (1959), S. 371–391. – Joachim Heinzle: Mhd. Dietrichepik. Mchn. 1978. – Ders.: R. zu Worms. In: VL. – Ders.: Einf. in die mhd. Dietrichepik. Bln./New York 1999, S. 169–187. – Ingrid Bennewitz: Kriemhild im R. Erzählstrukturen u. Rollenkonstellationen im ›Großen R.‹. In: Aventiure – Märchenhafte Dietrichepik. 5. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Hg. Klaus Zatloukal. Wien 2000, S. 39–59. – Johannes Rettelbach: Zur Semantik des Kämpfens im ›R. zu Worms‹. In: Zwischenzeiten – Zwischenwelten. FS Kozo Hirao. Hg. Josef Fürnkäs u.a. Ffm. 2001, S. 91–104. – Meinolf Schuhmacher: Der Mönch als Held oder:
Rosenkranz Von Ilsans Kämpfen u. Küssen in den ›R.‹-Dichtungen. In: JOWG 14 (2004), S. 91–104. – Christiane Krusenbaum u. Christian Seebald: Maximilian im R. Materialität u. Funktionalität der ›Berliner Fragmente eines Rosengartenspiels‹ (Ms. germ. fol. 800). In: PBB 128 (2006), S. 93–131, Transkription der Hs. S. 108–118, Reproduktion der Federzeichnungen S. 119–130. – Andreas Hammer: Held in Mönchskleidern oder Mönch im Heldenkostüm? Zur Wahrnehmung Ilsans im ›R. zu Worms‹. In: ZfdPh 127 (2008), S. 35–49. – Ghislaine Grimm: Heldendichtung im SpätMA. Überlieferungsgeschichtl. Studien zu den skriptor., typograph. u. ikonograph. Erscheinungsformen des ›R. zu Worms‹. Wiesb. 2009. – Gunda Lange: Nibelungische Intertextualität. Generationenbeziehungen u. genealog. Strukturen in der Heldenepik des SpätMA. Bln./New York 2009, bes. S. 112–142. – Kay Malcher: Die Faszination v. Gewalt. Rezeptionsästhetische Untersuchungen zu aventiurehafter Dietrichepik. Bln./New York 2009, bes. S. 130–191. – Judith Klinger: Kriemhilds Rosen. Aushandlung v. Gewalt u. Geschlecht im ›R. zu Worms‹. In: Heldinnen. 10. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Hg. Johannes Keller u. Florian Kragl. Wien 2010, S. 71–92. Norbert H. Ott / Michael Mecklenburg
Rosenkranz, (Johann) Karl (Friedrich), * 23.4.1805 Magdeburg, † 14.6.1879 Königsberg; Grabstätte: ebd., Neurossgärter Friedhof. – Philosoph. Der Sohn eines Steuerbeamten u. einer Refugiétochter zeigte schon am Magdeburger Pädagogium (1818–1823) ein polyhistorisches Erkenntnisinteresse. In Berlin begann R. 1824 das Studium der Philologie, wechselte unter dem Eindruck Schleiermachers zur Theologie, wandte sich in Halle (ab 1826) der Philosophie zu u. promovierte 1828 mit einer Schrift über die Periodisierung der Literatur, der eine hegelianisierende Deutung von Wolframs Titurel beigegeben war. Dem für seine weitere geistige Bildung entscheidenden Studium Hegels verdankte er die Befreiung von der jugendl. romantisch-religiösen Zerrissenheit, worüber er rückblickend in der sich bis 1833 erstreckenden Autobiografie Von Magdeburg bis Königsberg (Bln. 1873) Rechenschaft ablegte. 1828 habilitierte er sich mit einer Schrift über Spinoza u. begann mit Vorlesungen über die mittelalterl. Poesie, Religionsphilosophie u. Ethik, später über
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Geschichte der Philosophie u. Ästhetik, aus denen u. a. eine Geschichte der deutschen Poesie im Mittelalter (Halle 1830), ein Handbuch einer allgemeinen Geschichte der Poesie (3 Tle., ebd. 1832/33. Umgearbeitet: Die Poesie und ihre Geschichte. Königsb. 1855) u. eine Encyklopädie der theologischen Wissenschaften (Halle 1831. Für die zweite, umgearbeitete Auflage 1845 erhielt R. 1846 den theolog. Ehrendoktor der Universität Leipzig) hervorgingen. Als Mitarbeiter an den »Halleschen Jahrbüchern« erwies er sich als einer der aufgeschlossensten u. liberalsten Hegelianer. 1831 zum a. o. Prof. ernannt, nahm R. 1833 einen Ruf auf den Lehrstuhl Kants in Königsberg an. Die wichtigsten seiner Reden u. Abhandlungen aus den 1830er Jahren zur Philosophie, Theologie, Geschichte, Kunst u. Literatur vereinigte er zu einer Sammlung von Studien (5 Tle., Lpz. 1839–48. Neudr. Hildesh. 1975. Mikrofiche Mchn. 1991), einschließlich eines Bändchens mit Gedichten. R. verstand sich als eine aus Philosoph u. Dichter zusammengesetzte Doppelnatur, der es jedoch im Vergleich mit Goethe u. Hegel an Originalität fehlte. Den Abschluss der ersten Gesamtausgabe von Kants Werken (12 Bde., Lpz. 1838–40) bildete seine umfangreiche Darstellung der Geschichte der Kant’schen Philosophie (Neudr. Bln. 1987). Als Auszeichnung empfand er den Auftrag der Familie Hegels, dessen Leben (Bln. 1844. Neudr. Darmst. 1969 u. ö.) vorzulegen. Er hielt dieses Werk, das Hegels Leben u. Lehrgebäude in einer innerlich notwendigen, einheitl. Entwicklung zeigt, für sein gelungenstes. In ähnl. Weise stellte er die Entwicklung herausragender Geister in Monografien über Schelling (Königsb. 1843. Neudr. Aalen 1969. Mikrofiche Mchn. 1990–94), Goethe (Königsb. 1847. 2 1856) u. Diderot (2 Tle., ebd. 1866. Neudr. Aalen 1964) dar. Von den 1840er Jahren an wandte er sich zunehmend auch systemat. Werken zu. Die 1837 in krit. Fortführung Hegels veröffentlichte Psychologie oder die Wissenschaft vom subjektiven Geiste (Königsb.) erfuhr 1843 eine Überarbeitung (ebd. 31863). Im dritten Band der Studien (1846) stellte er Die Modifikationen der Logik dar, 1848 die Pädagogik als System (ebd.); 1850 folgte das System der Wissenschaft (ebd.). Als sein spekulatives
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Rosenkranz
Hauptwerk fasste R. die Wissenschaft der logi- ›Welcher gesunde Mensch kann diese philosophischen Idee (2 Bde., ebd. 1858/59. Neudr. Os- schen Brocken hinunterwürgen?‹ K. R.’ ›Geschichte nabr. 1972. Mikrofiche Mchn. 1990–94) auf, der Deutschen Poesie im Mittelalter‹ u. die Anfänge der jedoch vorgeworfen wurde, die alles der Germanistik. In: Vom MA zur Neuzeit. FS Horst Brunner. Hg. Dorothea Klein. Wiesb. 2000, durchdringende Dialektik nicht spekulativ, S. 599–614. – Klaus Sachs-Hombach: K. R. In: sondern nur deskriptiv aufgefasst zu haben. Magdeburger biogr. Lexikon [...]. Hg. Guido Von Strauß 1835 der Mitte der Hegel’schen Heinrich u. Gunter Schandera. Magdeb. 2002, Schule zugerechnet (vgl. dazu R.s iron. S. 599. – Marcus Hahn: Die Poesie u. die Scholastik. Kommentar in der Komödie Das Centrum der Julian Schmidt, K. R. u. die Epigonen der LiteraSpeculation. Königsb. 1840. Neudr. Bln. 1977. turtheorie. In: Theorie – Politik. Selbstreflexion u. Mikrofiche Mchn. 1990–94), sah er sich – wie Politisierung kulturwiss. Theorien. Hg. ders. Tüb. schon zuvor – herausgefordert, einerseits 2002, S. 107–117. – Joachim Butzlaff: K. R. In: immer wieder Hegels Philosophie gegenüber NDB. – Regina Meyer: J. K. F. R. Philosoph u. Missverständnissen zu verteidigen (Kritische Germanist. In: Mitteldt. Jb. für Kultur u. Gesch. 12 (2005), S. 236 f. – S. Dietzsch: Ein Leben für KöErläuterungen des Hegel’schen Systems. Königsb. nigsberg u. Kant – K. R. In: Europ. Begegnungen. 1840. Neudr. Hildesh. 1963. Mikrofiche Beiträge zur Literaturwiss., Sprache u. Philosophie. Mchn. 1990–94. Mikrofilm Weimar 2008. FS Joseph Kohnen. Hg. Susanne Craemer u. a. LuDigitalisat Google Books 2009), andererseits xembourg 2006, S. 311–324. – Brigitte Scheer: Zur seine vorsichtig reformierende Stellung zu Theorie des Häßlichen bei K. R. In: Im Schatten des Hegel zu rechtfertigen (Meine Reform der He- Schönen. Die Ästhetik des Häßlichen in histor. gelschen Philosophie. Königsb. 1852. Epilogeme- Ansätzen u. aktuellen Debatten. Hg. Heiner F. na zur Wissenschaft der logischen Idee. Ebd. Klemme u. a. Bielef. 2006, S. 141–155. – Andreas 1862). Unter seinen vielseitigen ästhetischen Lischewski: J. K. F. R.: Die Pädagogik als System. Schriften ist die bedeutendste die Ästhetik des In: Hauptwerke der Pädagogik. Hg. Winfried Böhm u. a. Paderb. u. a. 2009, S. 376–379. Häßlichen (ebd. 1853. Neudr. Darmst. 1989. Wolfhart Henckmann / Red. Neuausg. Lpz. 1990. Mikrofiche Mchn. 1990–94. Zuletzt Stgt. 2007), welche die Negativerscheinungen aller Perioden u. GatRosenkranz, Moses, urspr.: Edmund R., tungen der Kunst in einen systemat. Zusamauch: Martin Brant, Fritz Thunn, * 20.6. menhang stellt. Obwohl in den letzten zehn 1904 Berhometh/Pruth (Bukowina), Lebensjahren fast erblindet, verfasste er u. a. † 17.5.2003 Lenzkirch. – Lyriker u. noch die Jubiläumsschrift Hegel als deutscher Übersetzer. Nationalphilosoph (Lpz. 1870. Neudr. Darmst. 1965. Zuletzt ebd. 1973. Mikrofiche Mchn. Als sechstes von neun Kindern ostjüd. Bauern 1990–94) u. gab in den vier Bänden Neue aus dem Grenzland zwischen der noch habsStudien (Lpz. 1875–79) seine wichtigsten burgischen Bukowina u. dem Zarenreich erAufsätze zur Literatur-, Kultur- u. Philoso- fuhr R. bleibende Prägung durch das bäuerlich-ländl. Milieu, das mehrsprachige kultuphiegeschichte heraus. Literatur: Richard Quäbicker: K. R. Lpz. 1879. relle Umfeld u. die Zeitereignisse in seiner Neudr. Hildesh. 1977. – Eugen Japtok: K. R. als engeren Heimat. Zwischen 1924 u. 1927 übte Literaturkritiker. Diss. Freib. i. Br. 1964. – Werner er in Österreich, Deutschland u. Frankreich Jung: Schöner Schein der Häßlichkeit [...]. Ästhetik verschiedene Berufe aus. Seit 1930 lebte er in u. Geschichtsphilosophie im 19. Jh. Ffm. 1987. – Bukarest, arbeitete in der KulturpresseabteiKlaus-Gunther Wesseling: J. K. F. R. In: Bautz. – lung des rumän. Außenministeriums u. war Steffen Dietzsch: Aufklärer zwischen Vormärz u. vorübergehend Sekretär des Schriftstellers u. Kaiserreich: K. R. In: Ders.: Fort Denken mit Kant. Politikers Ian Pillat. Die im Auftrag Königin Philosophische Versuche von diesseits u. jenseits der Fakultät. Essen 1996, S. 129–137. – Dagmar Marias auf der Grundlage ihrer Notizen u. Mirbach: J. K. F. R. In: Ästhetik u. Kunstphiloso- persönl. Auskünfte verfasste Lebensgephie. Von der Antike bis zur Gegenwart in Einzel- schichte Traum und Leben einer Königin (1935) darstellungen. Hg. Julian Nida-Rümelin u. Monika erschien ohne Hinweis auf R.s Autorschaft. Betzler. Stgt. 1998, S. 669–673. – Werner Röcke: Wegen seiner Herkunft u. seines Antisowje-
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tismus war R. Verfolgungen ausgesetzt u. Raum hineingeboren wurde ...‹. Gespräche mit dt. wurde seit 1941 über ein Jahrzehnt in rumän. Schriftstellern aus Südosteuropa. Mchn. 1997, u. sowjetischen Arbeitslagern festgehalten. S. 85–90. – Reinhard Kiefer: Bukowina. Die lyr. 1961 floh er aus Rumänien in die BR Evokation einer Landschaft bei M. R., Rose Ausländer u. Alfred Gong. In: ›Hinauf u. Zurück / in Deutschland. R. lebte zuletzt zurückgezogen die herzhelle Zukunft‹. Dt.-jüd. Lit. im 20. Jh. FS in einem Dorf im Hochschwarzwald. Birgit Lermen. Hg. Michael Braun u. a. Bonn 2000, Als eifriger Schüler der dt. Sprache (die S. 487–501. – Ders.: M. R. In: MLdjL. – Hans BerHaussprache der Familie war Ukrainisch) u. gel: Unverwechselbarkeit dichterischer Sprache. zunächst von Alfred Margul-Sperber geför- In: Ders.: Bukowiner Spuren. Von Dichtern u. bildert, veröffentlichte R. vier schmale Ge- denden Künstlern. Aachen 2002, S. 54–65. – Wolf dichtbände in Rumänien: Leben in Versen Biermann: Über M. R. Aachen 2003. – Peter Sten(Czernowitz 1930), Gemalte Fensterscheiben berg: M. R. In: LGL. – Natalia Shchyhlevska: Deutschsprachige Autoren aus der Bukowina. Die (ebd. 1936), Die Tafeln (ebd. 1940) u. 1947, als kulturelle Herkunft als bleibendes Motiv in der er schon im Gulag war, unter dem Pseud. Identitätssuche deutschsprachiger Autoren aus der Martin Brant Gedichte (Bukarest). In den spä- Bukowina. Untersucht anhand der Lyrik v. Paul ten 1980er Jahren erschienen zwei weitere Celan, Rose Ausländer, Alfred Kittner, Alfred Gong, Gedichtbände mit dem anspruchsvollen Titel M. R. [...]. Ffm. 2004. 2., korr. Aufl. 2009. – S. Im Untergang. Ein Jahrhundertbuch (Mchn. Sienerth: M. R. In: NDB. – Matthias Huff: M. R. – 1986. Innsbr. 1988). Einzelne frühe Gedichte Leben in Versen. In: Mit Toleranz u. Offenheit. wurden, geringfügig bearbeitet, wieder auf- Literar. Porträts. Hg. Ruben Frankenstein u. Mogenommen. Frühe Themenkreise – Natur, nika Rappenecker. Freib. i. Br./Bln. 2006, S. 53–67. – Elisabeth Axmann: Fünf Dichter aus der BukoBauernleben, Liebe, Todessehnsucht, Trauer wina. Alfred Margul-Sperber (1898–1967), Rose – verdichten sich in diesen beiden Bänden zu Ausländer (1901–1988), M. R. (1904–2003), Alfred Zyklen: In heraldisch konturierten Bildern Kittner (1906–1991), Paul Celan (1920–1970). (Sperber), wie immer bei R., u. eigenwillig- Aachen 2007. Krista Zach / Bruno Jahn spröder Sprache hält das lyr. Ich Bukolisches aus der Bukowina, aber auch die Schrecken der Kriege, des Holocaust, der menschl. Rosenlöcher, Thomas, * 29.7.1947 DresSelbstzerstörung u. die Sehnsucht nach Er- den. – Lyriker, Kinderbuchautor, Überlösung fest. setzer, Essayist. Von den nach der Rückkehr aus dem Gulag R. arbeitete nach Abschluss der Polytechniseit 1958 in Bukarest verfassten autobiogr. schen Oberschule als Handelskaufmann, beSchriften erschienen Kindheit. Fragment einer vor er seinen Armeedienst bei der NVA abAutobiographie (Hg. George Gut¸ u, unter Mitleistete. 1970 erwarb er das Abitur u. stuarb. v. Doris Rosenkranz. Mit einem Ess. v. dierte bis 1974 Betriebswirtschaft in Dresden. 2 Matthias Huff. Aachen 2001. 2003) u. Jugend Nach einer Tätigkeit als Arbeitsökonom stu(ebd. 2004). dierte er 1976–1979 am Institut für Literatur Weitere Werke: Bukowina. Gedichte »Johannes R. Becher« in Leipzig. R. war 1920–1997. Zusammengestellt vom Verf. unter Mitarbeiter am Kinder- u. Jugendtheater Mitwirkung v. Doris Rosenkranz u. George Gut¸ u. Dresden u. arbeitet seit 1983 freischaffend. Mit einem Interview v. Stefan Sienerth u. einem Für sein Werk erhielt er zahlreiche Preise u. Ess. v. Hans Bergel. Mit sechs Gouachen v. K. O. Auszeichnungen, u. a. den Georg-MaurerGötz. Aachen 1998. – Visionen. Hg. u. mit einem Preis (1989), den F.-C.-Weiskopf-Preis (1991), Nachw. v. D. Rosenkranz. Aachen 2007 (L.). den Schubart-Literaturpreis der Stadt Aalen Literatur: Johann Adam Stupp: Zu Gedichten (1993), den Erwin-Strittmatter-Preis (1996) u. v. M. R. In: Die Bukowina. Studien zu einer versunkenen Literaturlandschaft. Hg. Dietmar Golt- den Hölderlin-Preis der Stadt Tübingen schnigg u. Anton Schwob. Tüb. 1990, S. 243–251. – (1999). Die Dichtung R.s ist über die Jahrzehnte Dieter Schlesak: M. R. In: Halbjahresschr. für südostdt. Gesch., Lit. u. Politik 7 (1995), H. 1, durch große Kohärenz gekennzeichnet. In S. 70–96. – Stefan Sienerth (Hg.): ›Daß ich in diesen ihrem Zentrum steht das Bestreben, ein Ich
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zu konstituieren u. zu behaupten, dessen Welterfahrung romantisch u. krisenhaft, naturlyrisch u. skeptisch zgl. ist. Formal greift er dabei auf z. T. komplexe metr. Formen zurück (u. a. Elegien, Sonette, Hexameter, Liedformen); sprachlich reicht der Duktus von opulenter barocker Metaphorik bis zur Bildlichkeit der Hochromantik, wobei die iron. Aufhebung dieser Tropen seiner Dichtung inhärent ist. Zwar lassen sich lose Traditionsbezüge zur so genannten Sächsischen Dichterschule aufzeigen (insbes. zu A. Endler), rückblickend erscheint seine bisherige Dichtung aber vielmehr als Vorbote u. gleichzeitig einer der Höhepunkte neoromant. Strömungen in der Gegenwartsliteratur. Romantische Mimikry (Der Garten) als poetisches Verfahren geht in R.s erstem Gedichtband Ich lag im Garten bei Kleinzschachwitz (Halle/Lpz. 1982) einher mit iron. Brechungen u. Parodien (An die Seife; An die Klopapierrolle) derselben Verfahren. R. hat dieses Doppelspiel von Konstruktion u. Dekonstruktion später anlässlich des 200. Geburtstags von Mörike ausgeführt: »Jedes Gedicht schließt den Anspruch ein, seiner Gegenwart zu entsprechen. Und das, obwohl jeder anständige Dichter seiner Gegenwart eigentlich zu entkommen sucht« (Das Eisen blitzen sehen. Warmbronn 2004). In der Kurzinterpretation von Eichendorffs Nachts definiert R. die Romantik weniger als Eskapismus denn als Verlusterfahrung: »Weil aber durch die steinernen Wälder kein Weg zurückführt, greift man um so eher zu diesen Gedichten, die eine Hoffnung einschließen, die auch die unsere ist« (Ich lag im Garten bei Kleinzschachwitz). R. stellt intertextuell Ungleichzeitigkeiten, Brüche u. nicht eingelöste Versprechen dar. Dem Band sind zwei Notate zu Rilke u. Eichendorff mit den programmat. Titeln »Behutsamkeit« u. »Zwiespalt« beigegeben. Schneebier (Halle/Lpz. 1988, Salzb./Wien o. J. [1989]) ist dunkler im Ton; Poesie ist Gegenwelt, die wenigstens das Wünschen u. Sprechen noch erhalten möchte. Das Titelgedicht spielt an auf Caspar David Friedrichs Gemälde Die gescheiterte Hoffnung: »Eisschollen knirschten lautlos aneinander.« Sarkasmen bestimmen auch die naturlyr. Themen:
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»Was hab ich nur. Es geht, es geht doch alles. / Selbst noch der tote Fluß fließt fort« (Die Elbe). Schneebier lässt sich nicht nur als Endzeitallegorie der DDR lesen, sondern auch als genaue ökolog. Bestandsaufnahme der Naturzerstörung im Elbtal. Gleichsam als Kontrapunkt finden sich im Band die ersten Engelgedichte, die das weitere Werk R.s. durchziehen. Ihre Protagonisten sind Engel der Geschichte, die Verlustmeldungen bringen, aber auch als fast naive, bisweilen pittoreske Hoffnungs- u. Ermutigungsengel in Aktion treten. Gesammelt u. durch ein Nachwort zeitgeschichtlich kontextualisiert sind die Engelgedichte in Das Flockenkarussell. Blüten-Engel-Schnee-Gedichte (Ffm./Lpz. 2007) erschienen. In seinem Tagebuch Die verkauften Pflastersteine (Ffm. 1990), das zuerst seit Okt. 1989 in einer »Dresdner Tageszeitung« gedruckt wurde, geht R. auf den »fortlaufenden Landeskummer« ein, erwägt das Verlassen, aber auch das baldige Ende des »Dreibuchstabenlandes«. Neben »Verfall und Zerstörung und offizieller Verlogenheit« beobachtet R. auch den »Niedergang der Umgangsformen«, die herrschende Unfreundlichkeit, »die längst in den Gesichtern festgeschriebene Verdrossenheit«. Die Bedeutung dieses Tagebuchs liegt v. a. in der indirekten unpathet. Darstellung der revolutionären Ereignisse im Herbst 1989: »Schon bald werden wir Mühe haben, uns die DDR selber zu erklären.« In Die Wiederentdeckung des Gehens beim Wandern (Ffm. 1991), einer Harzreise, setzt R. die Reflexion u. Kommentierung des Wendeprozesses fort. Das Wanderprotokoll beginnt am 1.7.1990, dem Tag der Währungsunion. Aus der Perspektive des verstörenden Verstörten sammelt es, im gelegentl. Zwiegespräch mit den Vor-Gängern Goethe u. Heine, Reiseeindrücke, Satirisches u. Anekdotisches rund um die plötzl. Entwertung nicht nur des Geldes der DDR u. ihrer Produkte, sondern auch ostdt. Lebensentwürfe. In Ostgezeter. Beiträge zur Schimpfkultur (Ffm. 1997) greift R. die Thematik der ostdt. Identität u. das problemat. Verhältnis von West- u. Ostdeutschen in zahlreichen Essays wieder auf. Mit dem Gedichtband Die Dresdner Kunstausübung (Ffm.) knüpft R. 1996 an die Motivik
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seiner ersten Lyrikbände an, zu denen auch In: Lit. u. polit. Aktualität. Hg. Elrud Ibsch u. intratextuelle Verweise aufgebaut werden; Ferdinand van Ingen. Amsterd./Atlanta 1993, das jamb. Parlando hat er in diesem dritten S. 21–37. – Wulf Kirsten: Staat u. Rose. Laudatio Band zu einem unverwechselbaren Charak- auf T. R. In: NDL 45 (1997), H. 512, S. 176–185. – Jürgen Serke: T. R.: Im Schutzbereich der Engel. teristikum entwickelt. Das Brockes-PorträtIn: ders.: Zu Hause im Exil. Mchn./Zürich 1998, gedicht signalisiert eine Hinwendung zu ei- S. 353–377. – A. v. Bormann: T. R. In: KLG. – ner Naturlyrik, in der die Natur zgl. einen Martin Ebel: T. R. In: LGL. – W. Ertl: ›Sinnsuche Offenbarungscharakter hat: »Herr Brockes zwischen Veränderungshoffen u. Zerstörungssitzt am Fenster. / Der Diener klopft an, angst‹: Zu T. R.s Lyrik vor u. nach der Wende. In: bringt den Gottesbeweis / im Wasserglas, ei- An der Jahrtausendwende. Schlaglichter auf die dt. nen Kirschblütenzweig. // Andere Zeiten, ein Lit. Hg. Christine Cosentino u. a. Ffm. u. a. 2003, anderer Ast.« (Brockes) Zwar fungiert Natur S. 39–52. Stefan Wieczorek nicht mehr zwingend als Gottesbeweis, aber – in iron. Brechung – doch als GlücksverheiRosenow, Emil, * 9.3.1871 Köln, † 7.2. ßung u. Zugang zum Transzendenten. 1904 Schöneberg (heute Stadtteil von Der Lyrikband Am Wegrand steht Apollo (Ffm. Berlin); Grabstätte: ebd. – Prosa- u. Dra2001) kommentiert wie schon Die Dresdner menautor. Kunstausübung augenzwinkernd den Literaturbetrieb. Äußerer Anlass dieses »Wiepers- R. stammte aus einer baptistischen Handdorfer Tagebuch[s]« ist ein Aufenthalt im werkerfamilie. Der Vater, ein wohlhabender Künstlerhaus Schloss Wiepersdorf. R. gelingt Schuhmachermeister, musste seinen Betrieb es, sich dem viel beschriebenen Ort u. seiner während der Wirtschaftskrise 1873 schließen. Geschichte (als Wohnsitz von Achim u. Bet- R. absolvierte eine Lehre zum Bankkaufmann tina von Arnim) innovativ zu nähern. In den u. begann mit 18 Jahren für die Kölner »Arletzten Jahren ist R. verstärkt als Erzähler beiterzeitung« zu schreiben. 1891 wurde er Mitgl. der SPD. 1892–1899 war er Chefreaufgetreten. Weitere Werke: Herr STOCK geht über Stock u. dakteur des »Sächsischen Beobachters« in Stein. Eine Gesch. in Versen. Bilder v. Albrecht v. Chemnitz. 1895–1897 saß R. mehrfach weBodecker. Bln./DDR 1989. – Der Mann, der ein gen Pressvergehens u. »Verächtlichmachung« Flusspferd war. Mit Illustrationen v. Karl-Heinz von Staatseinrichtungen Gefängnisstrafen ab. Appelmann. Bln. 1991. – Der Engel mit der Ei- Anschließend heiratete er Anna Ludwig, die senbahnermütze. Speyer 1997. – Ich sitze in Sach- Tochter seines Chemnitzer Verlegers, wurde sen u. schau in den Schnee. 77 Gedichte. Ffm. 1998. 1898 jüngster Reichstagsabgeordneter u. sie– Liebst Du mich ich liebe Dich. Gesch.n zum delte nach Berlin über. Nachdem er 1899 Vorlesen. Ffm. 2002. – Wie ich in Ludwig Richters Brautzug verschwand. Zwei Dresdner E.en. Ffm. vertretungsweise die Chefredaktion der 2005. – Das langgestreckte Wunder. Mit Illustra- »Rheinisch-Westfälischen Arbeiterzeitung« tionen v. Jacky Gleich. Rostock 2006. – Der Mann, in Dortmund übernommen hatte, widmete der noch an den Klapperstorch glaubte. Bilder v. sich R. seit 1900 ausschließlich seinem Maja Bohn. Rostock 2007. – Der Mann, der lieber Reichstagsmandat u. seiner schriftstelleritot sein wollte. Mit Illustrationen v. J. Gleich. Ebd. schen Tätigkeit, die neben Dramen auch Er2010. – Herausgaben: Eduard Mörike: Gedichte. Bln. zählungen u. Kulturbilder aus den Religi1991. – Paul Fleming: Ich habe satt gelebt. Ge- onskämpfen des 16. u. 17. Jh. umfasste (Wider dichte. Ffm./Lpz. 2009. die Pfaffenherrschaft. Bln. 1904). Literatur: Christian Döring: Laudatio auf T. R. Mit der von Kleists Zerbrochnem Krug u. zur Verleihung des Hugo-Ball-Förderpreises 1990. Hauptmanns Biberpelz inspirierten erzgebirg. In: Sprache im techn. Zeitalter (1991), H. 118, Dialektkomödie Kater Lampe (1902. Stgt./Bln. S. 151–156. – Alexander v. Bormann: Wir lachen 1906) erfüllte sich noch zu R.s Lebzeiten der sie kaputt. Subversion u. Utopie in der DDR-Lyrik mit bes. Hinweis auf T. R. In: Wespennest (1991), ersehnte Erfolg als Schriftsteller. Die ChaH. 82, S. 33–40. – Wolfgang Ertl: ›Denn die Mühen raktere entsprechen lebendiger Anschauung der Ebene lagen hinter uns u. vor uns die Mühen u. Erfahrung; die realistische Erfassung des der Berge‹: T. R.s diarist. Prosa zum Ende der DDR. Handlungsorts unterstreicht ihre Typisie-
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rung. R.s volkstüml. Satire auf die dörfl. Bürokratie erlebte allein im Berliner Theater 27 Aufführungen im Jahr 1903. Sie wurde in der Folge von der Heimatkunst u. – vgl. die Verfilmung Veit Harlans 1936 – dem NS-Volkstum vereinnahmt. Das 1899 entstandene Bergarbeiterdrama Die im Schatten leben (Bln. 1911. Lpz. 41927), in seiner Milieuschilderung naturalistisch beeinflusst, wurde von der Kritik mit Hauptmanns Webern verglichen, weist perspektivisch allerdings über den Naturalismus hinaus. Obwohl es keine parteipolit. oder agitatorische Tendenz verfolgt, wurde es in Brandenburg zensiert. Ausgabe: Ges. Dramen. Hg. Anna Rosenow. Bln. 1912. Literatur: Johann Leutner: E. R. Diss. Wien 1937. – Dietmar Trempenau: Frühe sozialdemokrat. u. sozialist. Arbeiterdramatik. Stgt. 1979. – Wolfgang Höppner: E. R. in Chemnitz. Ein Schriftsteller u. das literarisch-kulturelle Leben einer Industriestadt um die Jahrhundertwende. Hbg. 1994. Dietmar Trempenau / Red.
Rosenplüt, Hans, auch: Snepper(er), Schnepper(er), * um 1400 Mittelfranken (?), † um 1460 Nürnberg (?). – Kettenhemdmacher u. Rotschmied; erster Handwerkerdichter. R. gilt als erster namentlich bekannter Vertreter der Handwerkerdichtung, als Wegbereiter des Nürnberger Meistersangs u. neben dem Stricker, Heinrich Kaufringer u. Hans Folz als bedeutendster Märendichter des MA. In der Literaturgeschichte findet R.s außergewöhnl. Vielseitigkeit, seine innovative Wirkung auf literar. Genres (z. B. Städtelob, Priamel) u. die breitenwirksame »Nobilitierung« bürgerl. Dichtung Würdigung. Auf welche Ausbildung u. Einflüsse er dabei zurückgriff, kann nur teilweise nachvollzogen werden. Seinen Dichtungen zufolge verfügte R. in geringem Umfang über Kenntnisse der lat. Sprache, in Musik, Astronomie u. Theologie; das dichterische Leben seiner Zeit hat er hingegen mit großer Aufmerksamkeit verfolgt, rezipiert bzw. durch das eigene Werk nachhaltig beeinflusst u. bereichert. Vermutlich in Mittelfranken geboren, erwarb R. 1426 das Nürnberger Bürger- u. ein
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Jahr später das Meisterrecht der »sarwührt« (Kettenhemdmacher), d. h. er hatte zu diesem Zeitpunkt in Nürnberg bereits einen eigenen Hausstand u. eine eigene Werkstatt eingerichtet. In dieser Zeit entstand das erste nachweisbare Gedicht von ihm. Da R. aus unbekannten Gründen seit 1429 in den Ratspapieren nur noch als Hans Schnepperer (Schwätzer) bezeichnet wurde, seine Werke jedoch mit H. R. bzw. Schnepperer H. R. signiert sind, ist die Zuschreibung etlicher Texte umstritten; z. T. wird von zwei Dichtern ausgegangen (Kiepe 1984, S. 274–304). Vielleicht Anfang der 1430er, spätestens jedoch in den 1440er Jahren wurde R. Meister der angesehenen Rotschmiedezunft (Messinggießer), die in Nürnberg auch mit der Anfertigung von Büchsen (Geschützen) vertraut war. Aufgrund seiner Fähigkeiten wurde R. 1444 zum Büchsenmeister der Stadt bestellt. Er nahm persönlich u. a. am Ersten Markgräflerkrieg (1449/50) teil, in dem Nürnberg sich mit wechselhaftem Erfolg gegen die Übergriffe Markgraf Albrechts Achilles von Brandenburg zur Wehr setzte. Wie andere Nürnberger (Gelegenheits-)Dichter verstand es auch R., seinem Publikum mit der polit. Reimrede Ie wesender und immer leber eine Nürnberger Erfolgsserie auszubreiten, deren einseitige Schilderung bis heute die Geschichtsforschung prägt. Da R.s Sold letztmalig am 4.6.1460 ausgezahlt wurde u. aus etwa der gleichen Zeit sein letztes datierbares Gedicht stammt, wird angenommen, dass er im Sommer desselben Jahres in Nürnberg verstorben ist. R.s Œuvre, über das aufgrund der verstreuten Überlieferung u. einer noch ausstehenden Gesamtausgabe der nötige Überblick fehlt, wird in drei große Komplexe unterschieden (nach VL 8, 21992): 1. Reimpaargedichte (Reimpaarsprüche) u. Lieder, inkl. Mären, 2. Priamel, 3. Fastnachtspiele. Die Texte sind in mehr als 40 Handschriften u. zwölf Drucken überliefert, von denen die eine Hälfte bis ca. 1500 entstand u. die andere mit Schwerpunkt im 16. Jh. bis ins beginnende 19. Jh. hineinreicht. D. h. den Höhepunkt der schriftl. Werkrezeption R.s bilden die Jahrzehnte nach seinem Tod, obwohl er sich im Unterschied zu Hans Folz oder Hans Sachs
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nicht um eine eigene Werksammlung sorgte. Besonders eindrücklich belegt ist R.s Bedeutung für die Priameldichtung, deren Zentrum im 15. Jh. Nürnberg war, da der Begriff »Priamel« von den Zeitgenossen durch seinen Namen ersetzt wurde (Kiepe 1984, S. 13). 1. Reimpaargedichte u. Lieder: R. werden 33 Reimpaargedichte, elf Mären u. drei Lieder zugeschrieben, die z. T. in stark voneinander abweichenden Redaktionen überliefert sind (Reichel 1985, S. 253–262). Seine polit. Dichtung nimmt Bezug auf herausragende aktuelle Ereignisse: einerseits aus dem unmittelbaren regionalen Umfeld R.s (Erster Markgräflerkrieg u. Bayerischer Krieg 1459–1463), andererseits auf Bedrängnisse des Reiches insg. (Hussitenkriege, Alter Zürichkrieg 1440–1446, Türkeneinfälle). Ohne mit Klagen gegen Kaiser u. Fürsten zu geizen, bringt R. hier unverblümt den bürgerl. Standpunkt einer der bedeutendsten Reichsstädte Deutschlands, die sich maßgeblich in die polit. Wirren ihrer Zeit verstrickt sah, zum Ausdruck. Mit dem Lobspruch auf Nürnberg (1447) überführt R. panegyr. Pathos, dem bis dahin in der gereimten volkssprachl. Dichtung kein Raum für Städtebeschreibungen beschieden war, in ein Lobpreis auf seine Heimatstadt u. später auch auf Bamberg (ca. 1459). Damit trägt er dem gewachsenen Selbstbewusstsein des reichsstädt. Bürgertums Rechnung u. wirkt auf nachfolgende Dichtergenerationen vorbildlich. Die elf Mären R.s, deren Autorschaft in drei Fällen besonders umstritten ist, berichten von Ehebruch u. erot. Abenteuern; drei Erzählungen handeln von komischen Missverständnissen u. Schelmenstreichen. Sie zeichnen sich durch einen schlichten Sprachstil u. ein unverhohlenes Thematisieren des Sexuellen aus. Obwohl R. verbreitete Stoffe u. Motive in seinen Mären verarbeitet (z. B. Der Wettstreit der drei Liebhaber), gibt es nur wenige Anhaltspunkte zu seinen unmittelbaren literar. Vorlagen. Dem Knecht im Garten liegt vielleicht Giovanni Boccaccios Il Decamerone zugrunde (Kern 2006, S. 70). In den geistl. Reimdichtungen R.s treten aufgrund ihres Umfangs u. ihrer Rezeption Die Kaiserin zu Rom (460 Verse, drei bekannte
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Drucke) sowie durch die meisterhafte Handhabung des traditionsreichen geblümten Stils (ausgefallene Vergleiche, Reime u. Metaphern) die beiden Marienpreisgedichte Die Turteltaube u. Unser Frauen Schöne hervor. Darüber hinaus widmete R. sich in seinen »weltlichen Reden« den zahlreichen sozialen Problemen des Zusammenlebens in Familie, Zunft, Gemeinde u. Stadt, indem er seinen Zeitgenossen mit unterschiedlichen stilistischen u. gattungsspezif. Mitteln (Teichnerreden, Marienpreis, Parodie, Minnerede etc.) einen Spiegel vorhält. Er tadelt realitätsnah Missstände in den einzelnen Ständen bzw. Berufsgruppen u. reflektiert über den Aufruf moralisch begründeter Verhaltensnormen ihr fehlgeleitetes Sozialverhalten. 2. Priamel: Priamel sind eine besondere Form der Spruchdichtung (Gnomik), in der mehrere voneinander unabhängige Aussagen oder Sachen in einer Schlusspointe zusammengeführt werden. R. wird zugeschrieben, dieser Stegreifkunst erstmals einen Platz unter den literar. Genres eingeräumt zu haben. Da Priamel fast ausschließlich ohne Autornennung überliefert sind, können sie heute nicht mehr zweifelsfrei einer bestimmten Person zugeordnet werden. Nach Hansjürgen Kiepe (1984) rechnet man heute mit etwa 140 Priameln aus R.s Feder. Als knappe einprägsame Sinnsprüche von zehn bis vierzehn Versen besitzen die Priamel ein umfangreiches Themenspektrum von pragmat. Lebensanweisungen bis hin zu derber Komik. Sie stehen den R. zugeschriebenen Wein-, Bier- u. Neujahrsgrüßen sehr nahe. Wenig überzeugend ist die Vermutung, dass diese Spruchformen v. a. die städt. Mittel- u. Unterschicht, die weniger Zeit oder Muße für »hohe« Dichtung besessen hätte, erreichen sollten (z. B. VL 8, 21992, Sp. 209). 3. Fastnachtspiele: R. gilt als Begründer der frühen Fastnachtspieltradition in Nürnberg. Er soll zur Verschriftung dieser bis dahin mündlich überlieferten Form eines wandernden Faschingstheaters entscheidend beigetragen haben. Allerdings existiert nur ein Spiel, das mit Sicherheit von ihm verfasst wurde: Im Fest des Königs von England wird ein Turnier anlässlich der Hochzeit der engl. Königstochter mit dem Herzog von Orleans
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nachgestellt, in dem die vier Besten u. der Schlechteste prämiert werden. Ähnlich wie in R.s polit. Spruchdichtung sind die vorgeblich feigen, eitlen u. eigennützigen Fürsten u. Adligen Zielscheibe des Spotts. R.s Wertschätzung als Begründer der literar. Fastnachtspieltradition geht auf die Edition Adelbert von Kellers zurück, der R. in der Mitte des 19. Jh. ein umfangreiches Korpus an Spielen zuwies. Die germanistische Forschung trägt diesem Umstand Rechnung, indem sie heute eine Sammlung mit 75 Stücken (davon 20 ungeklärt) unter dem Begriff »Rosenplütsche Fastnachtspiele« zusammenfasst. Diese Sammlung geht in der Hauptsache auf eine in München aufbewahrte Handschrift zurück, die wohl zwischen 1455 u. 1458 in Nürnberg entstanden ist. In ihrem Inhaltsverzeichnis werden 49 Texte unter der Überschrift Vasnacht Spil Schnepers aufgeführt. Alle Stücke sollen aus der Frühphase des Nürnberger Fastnachtspiels stammen (frühes 15. Jh. bis ca. 1460). Ausgaben: Handschriften- u. Druckverzeichnis in: Jörn Reichel: Der Spruchdichter H. R. Stgt. 1985, S. 25–58, 224–250 (unvollst.); umfangreiche Ausgaben- u. Literaturverzeichnisse in: Kosch u. VL. – Zu den umfassenderen bzw. neueren Ausgaben zählen: Adelbert v. Keller (Hg.): Fastnachtspiele aus dem 15. Jh. 3 Bde., Stgt. 1853. – Rochus v. Liliencron: Die histor. Volkslieder der Deutschen. Bd. 1, Lpz. 1865, Nr. 61, 68, 93, 109–110. – Karl Euling: (Ueber) hundert noch ungedruckte Priamel des 15. Jh. Paderb. 1887. – Ders.: Das Priamel bis H. R. Studien zur Volkspoesie. Breslau 1905, S. 484–583. – Johannes Demme: Studien über H. R. Diss. Münster 1906, S. 44–129. – Hanns Fischer (Hg.): Die dt. Märendichtung des 15. Jh. Mchn. 1966, Nr. 17–25. – H. R.: Lobspruch auf die Stadt Nürnberg. Nürnb. 1979 (Reprint). – Hermann-Josef Müller: Überlieferungs- u. Wirkungsgesch. der Pseudo-Strickerschen Erzählung ›Der König im Bade‹. Bln. 1983, S. 239–248. – H. R.: Reimpaarsprüche u. Lieder. Hg. J. Reichel. Tüb. 1990. – Klaus Grubmüller (Hg.): Novellistik des MA. Märendichtung. Ffm. 1996, S. 898–943, 978–1001, 1307–1330, 1341–1348. – Hellmut Thomke (Hg.): Dt. Spiele u. Dramen des 15. u. 16. Jh. Ffm. 1996, S. 11–29, 909–930. – Karina Kellermann: Abschied vom histor. ›Volkslied‹. Tüb. 2000, S. 186–216 (›Ie wesender und immer leber‹). Literatur: Werner Lenk: Das Nürnberger Fastnachtspiel des 15. Jh. Bln. 1966. – Gerd Simon: Die
Rosenplüt erste dt. Fastnachtsspieltradition. Lübeck/Hbg. 1970. – Rüdiger Krohn: Der unanständige Bürger. Untersuchungen zum Obszönen in den Nürnberger Fastnachtspielen des 15. Jh. Kronberg 1974. – Heribert Hoven: Studien zur Erotik in der dt. Märendichtung. Göpp. 1978. – Hanns Fischer: Studien zur Märendichtung. Hg. Johannes Janota. Tüb. 2 1983. – Hansjürgen Kiepe: Die Nürnberger Priameldichtung. Mchn. 1984. – Jörn Reichel: Der Spruchdichter H. R. Stgt. 1985. – Albrecht Classen: Die autobiogr. Lyrik des europ. MA. Amsterd./Atlanta 1991. – Stefan Hohmann: Friedenskonzepte. Die Thematik des Friedens in der deutschsprachigen polit. Lyrik des MA. Köln u. a. 1992. – Elisabeth Keller: Die Darstellung der Frau in Fastnachtspiel u. Spruchdichtung v. H. R. u. Hans Folz. Ffm. 1992. – Ingeborg Glier: H. R. In: VL. – Dies.: R.sche Fastnachtspiele. In: ebd. – Dies.: H. R. In: Füssel, Dt. Dichter, S. 71–82. – Thomas Habel: Vom Zeugniswert der Überlieferungsträger. Bemerkungen zum frühen Nürnberger Fastnachtspiel. In: Artibus. FS Dieter Wuttke. Hg. Stephan Füssel u. a. Wiesb. 1994, S. 104–134. – Frieder Schanze: Überlieferungsformen polit. Dichtungen im 15. u. 16. Jh. In: Schriftlichkeit u. Lebenspraxis im MA. Hg. Hagen Keller. Mchn. 2009, S. 299–331. – Brigitte Stuplich: ›Das ist dem adel ain großer schant‹. Zu R.s polit. Fastnachtspielen. In: Röllwagenbüchlein. FS Walter Röll. Tüb. 2002, S. 165–185. – Manfred Kern: ›Parlando‹. Trivialisierte Bildlichkeit, transgressive Produktivität u. europ. Kontext der Minnerede (mit einem Exkurs zu R. u. Boccacio). In: Triviale Minne? Hg. Ludger Lieb u. Otto Neudeck. Bln./New York 2006, S. 55–76. – Johannes Rettelbach: H. R. In: NDB. – Ralph Tanner: Sex, Sünde, Seelenheil. Die Figur des Pfaffen in der Märenlit. u. ihr histor. Hintergrund (1200–1600). Würzb. 2005. – Gabriel Zeilinger: Lebensformen im Krieg. Eine Alltags- u. Erfahrungsgesch. des süddt. Städtekriegs 1449/50. Stgt. 2007. – Christoph Gerhardt: ›Ein spruch von einer geisterin‹ v. R., vier Priamel u. ›Ein antwúrt vmb einen ters‹. In: ›Texte zum Sprechen bringen‹. Philologie u. Interpr. FS Paul Sappler. Hg. Christiane Ackermann u. a. Tüb. 2009, S. 307–328. – Susanne Reichlin: Die Rhetorik der Konkretisierung: Zur Darstellung v. Gewalt in H. R.s ›Die Wolfsgrube‹ u. Herrands v. Wildonie ›Die treue Gattin‹. In: Kodikas/Code – Ars Semeiotica. An International Journal of Semiotics 32 (2009), S. 279–295. Mario Müller
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Rosenthal, Dorothea Eleonora von. – Schriftstellerin der ersten Hälfte des 17. Jh. An Opitz geschult u. von Zesen mit den modernen daktyl. u. anapästischen Versen bekannt gemacht, verfasste die in Breslau oder seiner Umgebung lebende R. die Schäferdichtung Poetische Gedancken an einen der deutschen Poesie sonderbahren Beförderern (Breslau [?] 1641). Handlungsort ist ein Vorwerk in der Umgebung von Breslau. Die Schrift nimmt zwischen Opitz’ Hercinie (1630) u. Zesens Poetischer Rosen-Wälder Vorschmack (1642), der sich huldigend auf R. bezieht, einen eigenen Platz ein. Die ältere Forschung hat in der Dichterin das Vorbild von Zesens Rosemund vermutet. Ausgaben: Ausw. in: Ferdinand van Ingen, 1990, S. 102–110. – Ausw. in: Gedichte des Barock. Hg. Ulrich Maché u. Volker Meid. Stgt. 2005, S. 128. Literatur: Max Gebhardt: Untersuchungen zur Biogr. Philipp Zesens. Bln. 1888. – Julius Leopold Pagel: D. E. v. R. In: ADB. – Heiduk/Neumeister, S. 90, 230 f., 458, 548. – Jean M. Woods: D. v. R., Maria v. Hohendorff and Martin Opitz. In: Daphnis 2 (1982), S. 613–627. – Dies. u. Maria Fürstenwald: Schriftstellerinnen, Künstlerinnen u. gelehrte Frauen des dt. Barock. Ein Lexikon. Stgt. 1984, S. 101. – Ferdinand van Ingen: Philipp von Zesens zehnte Muse, D. E. v. R. ›Poetische Gedancken‹ u. ›Poetischer Rosen-Wälder Vorgeschmack‹. In: Grenzgänge [...]. FS Hans Pörnbacher. Hg. Guillaume van Gemert u. a. Amsterd. 1990, S. 85–110. – Die Dt. Akademie des 17. Jh. Fruchtbringende Gesellsch. Hg. Martin Bircher u. Klaus Conermann. Reihe I, Abt. C, Tüb. 1991, Register. – Helmut Beifuss: D. E. v. R. Eine schles. Dichterin u. ihr Werk ›Poetische Gedancken an einen der Deutschen Poesie sonderbaren Beförderern‹. In: Vergessene Lit. – Ungenannte Themen dt. Schriftstellerinnen. Hg. Petra Hörner. Ffm. u. a. 2001, S. 219–240. Ferdinand van Ingen / Red.
Rosenthal, Rüdiger, * 25.2.1952 Boizenburg/Elbe. – Lyriker, Verfasser von Aufsätzen, Herausgeber, Pressesprecher. R. wuchs in der DDR auf u. machte 1970 Abitur. Nach einer Ausbildung zum Schiffbauschlosser u. einem Physikstudium an der TH Magdeburg arbeitete er seit 1974 als
Hochschulassistent, Physiker u. Ingenieur in Ost-Berlin. Seit 1976 war R. zudem nebenberuflich als Autor u. Journalist tätig. Seit 1977 gehörte er Umwelt-, Friedens- u. alternativen Kulturkreisen der DDR-Opposition an. Seit 1980 lebte R. als freier Schriftsteller u. Journalist in Mecklenburg u. Ost-Berlin. Wegen Arbeits- u. Reiseverboten sowie anderen polit. Verfolgungsmaßnahmen emigrierte er 1987 nach West-Berlin. R.s erste Veröffentlichungen erschienen in Zeitschriften, u. a. in der Literatur- u. Kulturzeitschrift der FDJ, »Temperamente. Blätter für junge Literatur«. In der Westberliner Literaturzeitschrift »Litfass. Berliner Zeitschrift für Literatur« folgten 1979 u. 1980 weitere, hauptsächlich lyr. Beiträge. R.s erste selbstständige Veröffentlichung ist der Gedichtband Polnische Reise. Poetische Erzählungen und andere Gedichte (mit Radierungen von Cornelia Schleime), der 1984 im Westberliner Oberbaum Verlag erschien. Der titelgebende Zyklus von 33 Gedichten beschreibt eine Reise durch das Polen der »Solidarnos´c´« u. entstand nach mehreren Reisen R.s u. der Ablehnung eines neuen Reiseantrags vor Ausrufung des Kriegsrechts in Polen 1981. Abgeschlossen wird der Gedichtband durch eine Sammlung weiterer lyr. Texte (»Das Negativ des Positivs«), die sich mit dem Thema Polen ebenso auseinandersetzt wie mit Verfolgungs- u. Lebenssituationen in der DDR. Dort wurde Polnische Reise aufgrund des polit. Gehalts der Gedichte nicht publiziert. Verbunden mit R.s polit. Engagement u. den Kontakten zur alternativen Kulturszene des Berliner Ostens (Prenzlauer Berg) folgten Beiträge in Zeitschriften u. Anthologien. Mehrere Gedichte veröffentlichte R. in dem Band Berührung ist nur eine Randerscheinung. Neue Literatur aus der DDR (Hg. Elke Erb u. Sascha Anderson. Köln 1985, S. 61–64), der die alternative Szene Ostberlins in Westdeutschland bekannt machte. In seinem Aufsatz Hintergrund und Widerstand – die Parallelkultur in Berlin-Ost (in: »Freiheit ist immer Freiheit ...« Die Andersdenkenden in der DDR. Hg. Ferdinand Kroh. Ffm./Bln. 1988, S. 141–154) setzte sich R. mit dieser Thematik ebenfalls auseinander. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung befand er sich bereits nicht mehr in der
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DDR. In einem Interview mit Günter Kunert, das R. im Jahr seiner Emigration gemeinsam mit Deborah Johnson führte, ist das Ausreisen eines der diskutierten Themen (ersch. in Neue Germanistik. Minneapolis, Minnesota 1987/88, S. 89–104). In Aufsätzen beschäftigte sich R. in der Folgezeit weiterhin kritisch mit der DDR, u. a. in Stalins Erbe (in: Aufbruch in eine andere DDR. Reformer und Oppositionelle zur Zukunft ihres Landes. Hg. Hubertus Knabe. Reinb. 1989, S. 50–58). 1990 kehrte R. nach Ost-Berlin zurück u. arbeitete 1990/91 als Pressesprecher bei der Grünen Partei der DDR u. bei Bündnis 90/Die Grünen. 1990 trat er mit der Essay-Sammlung Robert Havemann. Die Stimme des Gewissens. Texte eines deutschen Antistalinisten (Reinb.) erstmals als Herausgeber in Erscheinung. Seit 1991 ist R. Pressesprecher bei Umweltverbänden. Die Anthologie Mut. Frauen in der DDR (Mchn.), die er 2005 mit Bärbel Bohley u. Gerald Praschl herausbrachte, dokumentiert seine fortgesetzte Beschäftigung mit der DDR. Im Archiv der DDR-Opposition der Robert-Havemann-Gesellschaft (Berlin) befinden sich Teile aus R.s persönl. Archiv. Literatur: Andrea Jäger: Schriftsteller aus der DDR. Ausbürgerungen u. Übersiedlungen v. 1961 bis 1989. Autorenlexikon. Ffm. u. a. 1995. S. 519 f. Nina Gawe
Rosenzweig, Franz, * 25.12.1886 Kassel, † 10.12.1929 Frankfurt/M. – Philosoph, Essayist u. Übersetzer. Der Sohn jüd. Eltern studierte nach dem Besuch eines humanistischen Gymnasiums Medizin, Neuere Geschichte u. Philosophie in Göttingen, München, Freiburg i. Br., Berlin u. Leipzig. Seine wichtigsten Lehrer waren Hermann Cohen u. Friedrich Meinecke. Nach der Promotion 1912 (Hegel und der Staat. 2 Bde., Mchn. 1920. Neuausg. hg. v. Frank Lachmann. Mit einem Nachw. von Axel Honneth. Bln. 2010) nahm R. als Freiwilliger am Ersten Weltkrieg teil. Während des letzten Kriegsjahrs begann er die Arbeit an seinem philosophischen Hauptwerk Der Stern der Erlösung (Ffm. 1921. 51988). Darin ging er auf Distanz zu den Ideen der Moderne, zum
aufklärerisch-humanistischen Denken des Deutschen ldealismus, den er durch die Geschichte diskreditiert sah, u. zum Historismus, dessen narrativem Denken er Unverbindlichkeit vorwarf. Wie Rilke u. Heidegger suchte er eine Neubegründung der Existenz in der Besinnung auf die todgeweihte Kreatürlichkeit. Gegen die Apokalyptik in der Kunst des zeitgenöss. Expressionismus entwarf er die Vision einer gemeindeähnlich gefestigten Lebensgemeinschaft, die liturgisch u. rituell in Gesang u. Tanz am Leben in Ewigkeit teilhat. Der Kunst gestand er einen Anteil an dieser religiös-ästhetischen Antizipation im Geiste des Judentums zu, sofern ihre starren Formen im lebendigen Umgang aufgelöst werden. An die Stelle der zunächst angestrebten Universitätskarriere trat seit 1920 die freie Arbeit als philosophierender Pädagoge des dt. Judentums, zunächst in Kassel, danach im 1920 gegründeten Freien Jüdischen Lehrhaus in Frankfurt/M. Dessen Aufgabe sollte es sein, zwischen polit. Zionismus u. jüd. Assimilation durch die Lehre jüd. Lebens- u. Denkformen einen selbstbewussten jüd.-dt. Kulturzionismus zu begründen. Dieser sollte von der polit. u. sozialen Geschichte unabhängig sein, indem er die Situation der Juden im Exil nicht historisch, sondern metaphysisch begreife. Durch eine fortschreitende Lähmung (amotrophe Lateralsklerose) 1922 an der Leitung des Lehrhauses u. an selbstständiger Bewegung eingeschränkt, diktierte R. seine Arbeiten künftig unter immer schwererer Behinderung. Neben Beiträgen zur Geschichte u. Philosophie des Judentums (Zweistromland. Kleinere Schriften zur Religion und Philosophie. Bln. 1926. Neuausg. mit einem Nachw. v. Gesine Palmer. Bln./Wien 2001) – wie das philosophische Hauptwerk an vielen Stellen in ekstat. Prosa verfasst – übersetzte R. von 1922 an Sechzig Hymnen und Gedichte des Jehuda Halevi (mit einem Nachwort u. mit Anmerkungen), die 1924 (21927) in Konstanz erschienen. Von 1924 an stand die Neuübersetzung der hebräischen Bibel gemeinsam mit dem befreundeten Martin Buber im Zentrum seiner Tätigkeit (Die Schrift. Zu verdeutschen unternommen von Martin Buber ge-
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meinsam mit Franz Rosenzweig. Bln. 1925 ff.). Princeton, NJ u. a. 2000. – Makom. Schriftenreihe Das u. a. von Siegfried Kracauer auch mit des F. R.-Forschungszentrums für dt.-jüd. Lit. u. heftiger Kritik aufgenommene Überset- Kulturgesch. an der Hebräischen Univ. Jerusalem. zungswerk wurde das umfangreichste zu- Paderb./Mchn. 2004 ff. – Inken Rühle: Gott spricht die Sprache der Menschen. F. R. als jüd. Theologe – sammenhängende Prosawerk des dt. Expreseine Einf. Tüb. 2004. – Björn Biester: Die Hamsionismus. An dessen Elitedenken u. Ergrif- burger F. R.-Gedächtnisstiftung 1930–1938. In: fenheitspathos hat es durch einen Stil fin- Aus den Quellen. Beiträge zur dt.-jüd. Gesch. FS gierter Mündlichkeit teil, der den Atem eines Ina Lorenz. Hg. Andreas Brämer u. a. Mchn./Hbg. vom Gotteswort erschütterten Leibes bis in 2005, S. 97–104. – W. Schmied-Kowarzik: F. R. In: NDB. – Heinz-Jürgen Görtz: In der Spur des ›neuen die Interpunktion spüren lassen will. R. reflektierte sein Schaffen zeitlebens in Denkens‹. Theologie u. Philosophie bei F. R. Freib. einem Briefwechsel mit seiner Familie, mit i. Br./Mchn. 2008. Gert Mattenklott † / Red. Freunden (Hans Ehrenberg, Eugen Rosenstock-Huessy, Gershom Scholem, Ernst Si- Rosmer, Ernst, eigentl.: Elsa Bernstein, mon) u. Mitarbeitern sowie durch Tage- geb. Porges, * 28.10.1866 Wien, † 12.7. buchaufzeichnungen, die in ihrem philoso- 1949 Hamburg. – Dramatikerin, Novelphischen u. literar. Anspruch ein eigenstän- listin. diger Teil des Œuvres sind. Die Tochter des Musikschriftstellers Heinrich Weitere Werke: Ges. Schr.en. Dordrecht 1979 ff. – Herausgeber: Das älteste Systemprogramm Porges († 1900), eines Wagner-Vorkämpfers, des dt. Idealismus. Ein handschriftl. Fund. Hei- der unter König Ludwig II. als Musikdirektor delb. 1917 (Sitzungsberichte der Heidelberger nach München berufen wurde, war zunächst Akademie der Wiss.en, Philosophisch-histor. Klas- Schauspielerin, musste aber wegen eines Augenleidens den Beruf aufgeben. 1890 heirase). Literatur: Else Freund: Die Existenzphiloso- tete sie Max Bernstein; ihr Haus war gesellphie F. R.s. Ein Beitr. zur Analyse seines Werks schaftl. Treffpunkt von Literaten; u. a. ver›Stern der Erlösung‹. Diss. Breslau 1933. 21959. – kehrten hier Michael Georg Conrad, Ludwig Nahum N. Glatzer: F. R. His Life and Thought. Ganghofer, Ludwig Thoma u. Thomas Mann New York 1953. 21963. – Reinhold Meyer: Einf. in: (der Katja Pringsheim hier kennenlernte). Seit Der Stern der Erlösung. Dordrecht 41976. – Sté- 1936 gehörte R. zu den im »Dritten Reich« phane Mosès: System u. Offenbarung. Die Philo- unerwünschten Autoren. Nur das Textbuch sophie F. R.s. Vorw. v. Emmanuel Lévinas. Mchn. des von Humperdinck vertonten, sehr er1985 (zuerst frz. 1982). – Raimund Sesterhenn folgreichen Märchenspiels Königskinder (Bln. (Hg.): Das Freie Jüd. Lehrhaus. Eine andere Frank1895. 51908) konnte bis 1941 (191. Tsd.) in furter Schule. Mchn. 1987. – Der Philosoph F. R. Internat. Kongreß Kassel 1986. Bd. 1: Die Heraus- Deutschland gedruckt werden. 1942–1945 forderung jüd. Lernens. Bd. 2: Das neue Denken. war die getaufte Protestantin wegen ihrer Freib. i. Br. 1988. – Joachim Hoppe: Neues Denken jüd. Herkunft im Konzentrationslager The– neue Sprache. Eine Einf. in das Lebenswerk v. F. resienstadt interniert. R. In: Berliner Theolog. Ztschr. 6 (1989), S. 41–52. R. schrieb zunächst Dramen über Künstler– Luc Anckaert u. Bernhard Casper: F. R. A Primary u. Eheprobleme im Stil des Naturalismus; and Secondary Bibliography. Leuven 1990. 2. Aufl. später passte sie sich den vielfältigen Ströu.d.T.: An Exhaustive R. Bibliography. Ebd. 1995. mungen der Jahrhundertwende an, experi– Wolfdietrich Schmied-Kowarzik: F. R. Existenti- mentierte auch mit neuromant. u. symboliselles Denken u. gelebte Bewährung. Freib. i. Br./ tischen Versdramen u. griff auf klass. Stoffe Mchn. 1991. – La pensée de F. R. Actes du Colloque zurück, um die Tragödie zu erneuern. Wichparisien organisé à l’occasion du centenaire de la tige Impulsgeber waren Wagner, Ibsen (ihr naissance du philosophe. Présentation et traduction par Arno Münster. Paris 1994. – Josef Wohlmuth: Pseud. ist einer Figur aus Rosmersholm entF. R. In: Bautz. – Norbert M. Samuelson: A User’s lehnt), Nietzsche u. vor allem Hauptmann, zu Guide to F. R.’s Star of Redemption. Richmond, dem auch familiäre Bindungen bestanden Surrey 1999. – Leora Batnitzky: Idolatry and Re- (ihre Tochter Eva heiratete dessen Sohn presentation. The Philosophy of F. R. Reconsidered. Klaus). Aus R.s naturalistischer Phase stam-
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men ihre bekanntesten Schauspiele. Wir drei (Mchn. 1893) behandelt das Schwanken eines Schriftstellers zwischen verschiedenen Kunsttheorien, dem Naturalismus u. dem Klassizismus, u. zwischen zwei Frauen, der Ehefrau u. einer emanzipierten Schriftstellerkollegin. Dämmerung (Bln. 1893), an der Freien Bühne uraufgeführt, zeigt wiederum eine Dreiecksbeziehung: Ein Dirigent steht zwischen seiner erblindenden Tochter u. einer jungen, selbstbewussten Ärztin, der er schließlich entsagt. Die Stücke zeichnen sich durch psycholog. Vertiefung, Natürlichkeit u. Direktheit der Sprache aus. Der Ausbruch aus den Konventionen endet jedoch – insbes. bei den emanzipierten Frauengestalten – vielfach mit der Rückkehr zu traditionellen Wertvorstellungen. Weitere Werke: Madonna. Bln. 1894 (N.n). – Tedeum. Bln. 1896 (Kom.). – Themistokles. Bln. 1897 (Trag.). – Mutter Maria. Bln. 1900. Urauff. 1901 (Trauersp.). – Johannes Herkner. Bln. 1904 (D.). – Nausikaa. Bln. 1896 (Trag.). – Maria Arndt. Bln. 1908 (D.). – Achill. Bln. 1910 (Trag.). – Das Leben als Drama. Erinnerungen an Theresienstadt. Hg. Rita Bake u. Birgit Kiupel. Dortm. 1999. 22005. Literatur: Kurt Wiener: Die Dramen Elsa Bernsteins (E. R.). Diss. Wien 1923. – Gerhard Kriwanek: Das dramat. Werk v. Elsa Bernstein. Diss. Wien 1952. – Ulrike Zophoniasson-Baierl: Elsa Bernstein alias E. R. Bern u. a. 1985. – Elizabeth Graff Ametsbichler: Society, gender, politics, and turn-of-the-century theater. Elsa Bernstein (ps. E. R.) and Arthur Schnitzler. Diss. Baltimore, Maryland 1992. – U. Zophoniasson-Baierl: E. R. In: NDB. – Helga W. Kraft (Hg.): From Fin-de-Siècle to Theresienstadt. The works and life of the writer E. Porges-Bernstein. New York u. a. 2007. Peter Haida / Red.
Rosner, Ferdinand, bürgerlich: Karl Joseph Ignatius R., * 26.7.1709 Wien, † 14.1.1778 Ettal. – Benediktinerprediger, Rhetorikprofessor, Dramatiker u. Lyriker. Der Sohn eines Beamten der kaiserl. Hofkammer besuchte, früh Waise geworden, nach zweijährigem Aufenthalt am Piaristengymnasium in Horn/Niederösterreich 1721–1726 die Ritterakademie in Ettal. 1726 trat er in das dortige Benediktinerkloster ein;
Theologie u. Jura studierte er ab 1730 in Salzburg. 1733 wurde er dort zum Dr. jur. promoviert, 1734 in Freising zum Priester geweiht. Sogleich in Ettal als Poesie-, 1736–1742 als Rhetorikprofessor eingesetzt, wirkte er als solcher u. als Präses der Marianischen Kongregation 1759–1765 u. 1769–1775 auch am bischöfl. Lyzeum in Freising. R. ist ein später Vertreter der oberdt. literar. Zweisprachigkeit (dt. u. lat.). Sein vorwiegend lat. Werk wurde erst in den letzten Jahrzehnten von Stephan Schaller erforscht u. wenigstens teilweise neu ediert. Lediglich sein Bitteres Leyden, obsiegender Todt, und glorreiche Auferstehung des eingefleischten Sohn Gottes, das Oberammergauer Passionsspiel von 1750, fand auch früher schon breite Beachtung. R.s Werke sind für Gebrauchssituationen verfasst. Sie dienen der Sprachübung u. der Persönlichkeitsbildung der Schüler sowie der Seelenführung. Die lehrhafte Tendenz verbindet die Genera, wobei auf einen Fundus exemplarischer Gestalten aus humanistischem Bildungsgut, Bibel, Historien u. Legenden zurückgegriffen wird. Die Mehrzahl der lat. Elegiae sind für den Unterricht diktiert, sie dienen jedoch auch der ethischen Unterweisung. In vielen Oden (Asinus ad Lyram. 2 Tle.) treten daneben Äußerungen zu zeitgenöss. polit. Ereignissen. Von den etwa 40 lat. Schuldramen behandeln die Hälfte Historienstoffe. Etwa zehn bringen eine bibl. Parallelhandlung in Prolog, Chören u. Epilog. Die Musik zu den Freisinger Endskomödien komponierte der Hofkapellmeister Placidus von Camerloher. Zu den Schulspielen erschienen teilweise nicht nur Periochen, sondern auch der vollständige lat. Text. Für die Endskomödien 1763–1765 u. 1769 ließ R. auch dt. Übersetzungen in Alexandrinern drucken. Steht bei derartigen Dramen die lehrhafte Tendenz häufig im Vordergrund, setzt R. etwa in Post nubila Phoebus Die nach trüben Unglückswolken schimmernde Freudensonne (Freising 1763) auf Spannung u. Kontrastierung der Handlungsebenen, wobei die unterschiedl. Gefühlsregungen glaubhaft motiviert werden. Psychologisierende Zeichnung von intrigierender Beeinflussung, freundschaftl. Rat so-
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Auch die 20 überlieferten dt. Lieder R.s wie von Reue u. verständnisvoller Bereitschaft zur Vergebung prägen z.B. Vindicta (mit lat. Titeln versehen) wollen Maximen der gloriosa sive Fronto Ruhmwürdige Rache oder Lebensführung weitergeben: Sie warnen vor Fronto (ebd. 1764). In Theatrum humanorum trügerischer Freundschaft, vor einem Sichaffectuum in passione domini (Druck: Ettal 1961) Ausliefern an die Welt u. die blinde Liebe, hatte R. bereits 1740 Personen durch Ge- setzen auf vertrauende Hingabe an Gott. R.s Predigten leben von Exempeln aus Historien, mütsäußerungen charakterisiert. Mit seiner Neufassung des Oberammer- Legenden u. dem Alltagsleben, aber auch gauer Passionsspiels wurde R. zum Mittler davon, dass typische Vertreter von Zuhörerzwischen dem jesuitischen Theatrum asceti- gruppen redend eingeführt werden. In den cum u. dem Volksschauspiel. Hier vereinen dt. Werken R.s, von den frühen Predigten bis sich oberdt. Bildungstradition u. Volkstüm- hin zu den späten Dramenübersetzungen, lichkeit sowie höchster literar. Anspruch mit schlägt sich die Angleichung der Sprache an noch erkennbarer regionaler Einbettung des eine einheitl. dt. Literaturnorm nieder, wofür Schriftbairischen. Das Spiel zeigt größere sich damals P. Heinrich Braun aus Tegernsee Dialektnähe als die Dramenübersetzungen einsetzte. Ausgaben: Passio nova. [...]. Hg. Stephan R.s, ordnet sich jedoch der zeitgenöss. oberdt. Literatursprache ein. Inhaltlich bringt es Schaller. Bern/Ffm. 1974. – Ode ad Sanctissimum Patrem Benedictum. Übers. v. dems. In: Studien u. erstmals in Oberammergau »Betrachtungen« Mitt.en zur Gesch. des Benediktiner-Ordens u. mit »Vorstellungen« (Präfigurationen aus seiner Zweige 91 (1980), S. 15–21. – Lieder, Predem AT) vor den neun »Abhandlungen« digten, Dramen. Hg. ders. Amsterd. u. a. 1989. – (Akten). Während die Reden des Schutzgeis- Oberammergauer Passionsspiel. In: Dt. Dramen v. tes in den Betrachtungen in Alexandrinern Hans Sachs bis Arthur Schnitzler. Hg. Markus gehalten sind, werden in den Vorstellungen Finkbeiner. Ffm. 2005 (CD-ROM). Literatur: Stephan Schaller: Bayer. Benediktidie Versmaße variiert. In den Abhandlungen stehen vierhebige jamb. Verse ebenso zu ner als Wegbereiter des Nhd. In: Ztschr. für Bayer. Paaren gereimt wie die Alexandriner. Die Landesgesch. 44 (1981), S. 525–541. – Ders.: F. R. Vorstellungen werden als lebende Bilder [...]. Kallmünz 1984 (mit Hss.- u. Periochen-Nachweisen). – Hans Schuhladen: P. F. R. [...]. In: dargeboten, zu denen ein erklärender Text Schönere Heimat 79 (1990), S. 253–260. – Silvia gesprochen wird. In den Abhandlungen Wimmer: F. R. In: Bautz. – Dietz-Rüdiger Moser: greifen auch Allegorien in die Leidensge- Da waren es nur noch sieben Jünger ... Zur Wieschichte ein. Die Sprache ist trotz ihrer Ein- deraufführung der R.-Passion in Freising. In: Lit. in fachheit bildkräftig u. vermag Empfindun- Bayern 51 (1998), S. 48 f. – Hans Pörnbacher: Pater gen zu wecken. Psychologisierende Momente F. R. u. seine Oberammergauer Passion. In: Beiwerden nicht selten ausgespielt, etwa wenn träge zur altbayer. Kirchengesch. 45 (2000), die Jünger sich wegen ihrer Unbeständigkeit S. 111–131. – Laurentius Koch: F. R. In: NDB. Hans Schuhladen / Red. Vorwürfe machen oder Herodes aus gekränkter Ehrsucht handelt. Die Mittel der Barockbühne finden, etwa in den Teufels- Rosner, Karl (Peter), * 5.2.1873 Wien, szenen, volle Entfaltung. Die Wirkkraft des † 6.5.1951 Berlin. – Erzähler u. Lyriker. Spiels führte zur schnellen Übernahme durch Nach einer Buchhandelslehre in Leipzig war die Münchner Stadtmusiker – aber auch in R., Sohn des Schauspielers, Schriftstellers u. Pfarrkirchen (1754), Freising, Dachau u. Tölz Verlegers Leopold Rosner, Redakteur der (1761), dann Oberaudorf (1797), Thiersee u. »Gartenlaube«, später Herausgeber der CotErl (1801) sowie Kiefersfelden (1813) wurde ta’schen Monatsschrift »Der Greif«. es aufgeführt. R. schrieb auch für weitere 1919–1934 leitete er die Zweigniederlassung Volksschauspiele – das Johannes-Nepomuk- des Cotta Verlags in Berlin. In R.s FrühproSpiel in Murnau (1753) u. das Hermenegild- duktionen ist der für das Fin de siècle chaSpiel in Oberammergau (1776) – jeweils Pro- rakteristische lebensmüde Zug spürbar. So log u. Chöre. scheitert der Protagonist des Romans Der Ruf
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des Lebens (Lpz. 1902) an der Unerfülltheit seines Trieblebens. Der Erste Weltkrieg bildete eine einschneidende Zäsur in R.s Schaffen. In Kriegsgedichten (Wir tragen das Schwert. Stgt./Bln. 1914) u. zahlreichen erfolgreichen histor. Romanen stellte er seine deutschpatriotische Gesinnung unter Beweis. Die gedankl. Schwächen seines schwärmerischen Deutschtums treten in Der deutsche Traum (Bln. 1916), einem Roman über die 1848erUnruhen in Wien, deutlich hervor, in dem der grundlegende Gegensatz zwischen Gesamtösterreichertum u. dt. Nationalgedanken nicht thematisiert, sondern mythisch verbrämt wird. Nationalsozialistischen Kritikern blieb R. wegen seines Eintretens für konfessionelle u. ethn. Toleranz dennoch ein »Schrittmacher des Judentums« (Anselm Salzer: Geschichte der Deutschen Literatur. Bd. 5, Regensb. 1932, S. 2211). Weitere Werke: Das Kind. Bln. 1896 (R.). – Georg Bangs Liebe. Ebd. 1906 (R.). – Sehnsucht. Ebd. 1907 (R.). – Die silberne Glocke. Lpz. 1909 (R.). – Der Herr des Todes. Ebd. 1910 (R.). – Der Diener Dieffenbach. Ebd. 1911 (N.n). – Die drei Fräulein v. Wildenberg. Ebd. 1914 (R.). – Der graue Ritter. Bln. 1916 (Kriegsber.). – Die große Frühlingsschlacht 1918. Tagebuchbl. Ebd. 1918. – Die Beichte des Herrn Moritz v. Cleven. Stgt. 1919 (R.). – Der König. Ebd. 1921 (R.). – Befehl des Kaisers. Ebd. 1924 (R.). – Der geschundene Eros. Ebd. 1925 (R.). – Komteß Marese. Bln. 1931 (R.). – Die Versuchung des Joos Utenhoven. Lpz. 1933 (R.). – Im Zauberkreis. Düsseld. 1946 (R.). – Damals... Ebd. 1948 (Autobiogr.). – Heilig soll der Grundsatz ›Krieg dem Krieg‹ sein! Die Erinnerungen K. R.s an seine Kriegserlebnisse im Jahr 1916. Hg. Andreas Sauer. Erfurt 2008. Literatur: Karl Kraus: Rezension zu: ›Das Kind‹. 1896. In: Kraus-Hefte 13 (1980), S. 1–4. Gerald Leitner / Red.
Rost, Kirchherr zu Sarnen (Heinrich der Rost), † 1330. – Minnesänger. Die Handschrift Manesse (C) überliefert neun dreistrophige Minnelieder, die in Orientierung am klass. Sang die zum Zeitpunkt des Singens noch unerfüllte Dienstminne thematisieren. Als Kirchherr zu Sarnen im Kanton Obwalden gehörte R. dem Zürcher Geschlecht der Edlen von Rost an. Er ist zwi-
schen 1313 u. 1330 hauptsächlich in Zürich im Umkreis der Fürstäbtissin Elisabeth belegt, das Anniversar des Zürcher Münsters verzeichnet den 21.12.1330 als seinen Todestag. Eine Beteiligung des als »schriber« bezeichneten R. an der Entstehung der Manessischen Handschrift ist erwogen worden. Die Miniatur in Handschrift C illustriert mit dem Weberost den Sängernamen u. zeigt einen Kleriker, der demütig vor einer Weberin niederkniet u. zgl. ihr entblößtes Bein berührt. Sie packt den Sänger in Reaktion auf den kühnen Griff bei den Haaren u. droht ihm wohl eher mit dem Webeschwert, als dass sie ihm die Haare abschneidet, doch ist eine Anlehnung an den Bildtypus von Samson u. Delila durchaus nahe liegend. Stilistisch u. inhaltlich lässt sich eine Beeinflussung durch hochhöf. Vorbilder wie Reinmar u. Walther festhalten. Die Kanzonenform ist dominant, die Lieder IV u. VIII weisen Refrains auf. In fünf Liedern wird der Natureingang mal verstärkend, mal kontrastiv zur inneren Einstellung des Sänger-Ichs eingesetzt. Das gängige Motiv des roten Mundes begegnet wiederholt in der direkten Anrede an den Mund als pars pro toto, auch die Kaisermotivik wird bemüht, um die Exzellenz der Minnedame herauszustellen. Die personifizierte Minne wird wiederholt vom verzweifelten Sänger-Ich als Vermittlerfigur zur Dame, die allein Trost spenden kann, angerufen. Lied VI benennt den Neid einer missgünstigen Gesellschaft als zusätzl. Hindernis neben dem Minneleid. In Lied VIII gestaltet R. mit der Vorstellung, dass das Ich Verstand, Herz u. Gemüt bei der Dame als Pfand versetzt hat u. sie nun nicht mehr auslösen kann, eine ungewöhnl. Konkretisierung psych. Minnezwänge. Ausgabe: Max Schiendorfer (Hg.): Die Schweizer Minnesänger. Bd. 1. Tüb. 1990, S. 256–265. Literatur: Richard Stettiner: Das Webebild in der Manesse-Hs. u. seine angebl. Vorlage. Bln./Stgt. 1911. – M. Schiendorfer: R. In: VL. – Ders.: Heinrich R., Kirchherr zu Sarnen, Zürcher Abteischreiber u. Minnesänger. Eine kunstgeschichtl. u. historisch-biogr. Spurenlese. In: ABäG 43/44 (1995), S. 409–432. Sandra Linden
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Rost, Johann Christoph, getauft 7.4.1717 Leipzig, † 19.6.1765 Dresden. – Verfasser von Satiren, Schäferpoesie u. erotischen Gedichten. Der Sohn des Küsters an der Thomaskirche in Leipzig wuchs in seiner Geburtsstadt auf u. studierte dort Jura u. schöne Wissenschaften (Deposition am 22.12.1723, Immatrikulation am 6.4.1734). Zu seinen Studienkollegen zählte Carl Christian Gärtner, dessen Schwester Christiana Dorothea R. 1749 heiratete. Von seinen Leipziger Lehrern beeinflusste ihn Gottsched nachhaltig, u. R. war zunächst ein Anhänger der Gottsched’schen Poesiologie. Gottsched war es auch, der ihm 1740 eine Anstellung bei der »Haude und Spenerschen Zeitung« (»Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen«) in Berlin vermittelte. Im Frühjahr 1741 gab R. diese Stelle wegen Differenzen mit Haude über die inhaltl. Konzeption der Zeitung auf u. wechselte 1742 nach Dresden, wo er zunächst bei den »Dresdnischen Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen« mitarbeitete, bald aber als Beamter in die Dienste des Grafen Brühl trat u. es bis zum Obersteuersekretär (1760) brachte. Eine panegyr. Kantate auf Gottsched (wohl 1740) zu dessen Geburtstag kennzeichnet die Abhängigkeit R.s vom Leipziger Lehrer zu Beginn seines dichterischen Schaffens. Auf dem Gebiet des kom. Epos nach dem Vorbild von Popes Rape of the Lock versuchte sich R. mit Die Tänzerinn (Bln. 1741), einem Prosagedicht ohne bes. originelle Züge, das aber neben Gottscheds auch Bodmers Anerkennung fand. Mit den in Versform abgefassten Schäfererzälungen (o. O. [Bln.] 1742) machte R. die im Barock verbreitete Gattung des Schäferromans in der abgewandelten Form kurzer Schäfererzählungen für die eigene Zeit literaturfähig. Er entsprach damit nur vordergründig Gottscheds Postulat, auch Schäferdichtung sei eine Möglichkeit, moralisch vorbildl. Benehmen in poetisch unterhaltender Form vorzuführen u. somit didaktisch zu wirken: Bei R. überwiegt deutlich der unterhaltende Charakter (delectare), Verletzung moralischer Normen wird der unvermeidl.
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menschl. Schwäche zugeschrieben. Bei häufigen erot. Szenen (Schäferstunden) ist das Handlungsgerüst einfach. Motivisch sind Anklänge an die frz. Rokokodichtung (La Fontaine) wie auch an deren dt. Ausformung durch Hagedorn (Versuch in poetischen Fabeln und Erzehlungen. 1738) erkennbar. Die Schäfererzälungen u. das 1742 separat publizierte Schäferspiel Die gelernte Liebe (o. O.), ein kurzes Alexandrinerstück, in dem die von der Mutter vor der Liebe gewarnte Schäferin Silvie schließlich doch von den Vorzügen der Liebe durch den sie umwerbenden Schäfer Damöt überzeugt wird, erschienen erneut in der um weitere Schäferdichtungen vermehrten Ausgabe Versuch von Schäfer-Gedichten und andern poetischen Ausarbeitungen (o. O. [Dresden] 1744). Die meisten der neu hinzugekommenen Stücke (zwei Schäferlieder, zwei Schäferdialoge u. die Verserzählung Thyrsis) lassen verstärkt einen eleg. Ton erkennen, der die Munterkeit u. Sinnenfreude der nur wenige Jahre vorher erschienenen Schäfererzälungen trübt. Klage über vergebl. Liebe stellt die bukol. Attribute in einen neuen Zusammenhang. Gefühle werden nunmehr angesprochen, die »zwar nicht der Moral, wohl aber der Konvention des Verhaltens in der städtischen Gesellschaft widersprechen« (Kormann, S. 93). Dies gilt auch für die ebenfalls im Versuch von 1744 neu aufgenommenen sechs Lieder An die Doris bzw. An die Phyllis, wenn sie das Dichter-Ich einbeziehen, dessen Verhältnis zur Geliebten mehr platonisch-geistig als vom körperl. Begehren geprägt ist, u. für die Gedichte Die Jugend bzw. Die Tugend, wenn der Vergänglichkeit der Jugend der bleibende Wert der Tugend gegenübergestellt wird. R.s erfolgreichstes Werk, sein kom. Heldengedicht Das Vorspiel (o. O. [Dresden] 1742. Neu hg. u. eingel. v. Franz Ulbrich. Bln. 1910. Nachdr. Nendeln 1968), zeigt, wie weit er sich in kurzer Zeit von Gottsched entfernt hat, wenn dieser darin verspottet u. angegriffen wird. Angeberei, Eitelkeit, Vielschreiberei, Übersetzertätigkeit mangels eigener poetischer Erfindungskraft sind nur einige der Vorwürfe. Anlass u. Thema des satir. Werks war Gottscheds Kontroverse mit der Prinzipalin Neuber. Die Ursache der Abkehr R.s von
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seinem ehemaligen Lehrer lag in seiner Rost, Johann Leonhard, auch: Meletaon, dichterischen Entwicklung von der starren *14.2.1688 Nürnberg (Kirchenbuch von Regeldichtung zum persönl. Stil. So überzo- St. Sebald: 15.2. Taufe), † 22.3.1727 gen in manchen Einzelheiten die Darstellung Nürnberg. – Verfasser von Romanen u. Gottscheds u. seiner Mitarbeiter im Vorspiel Briefstellern, Übersetzer, Astronom u. auch ausgefallen ist, gelang R. doch eine le- Mathematiker. bendige u. vielseitige Darstellung dieses Kreises, die im Versmaß des Alexandriners Über das Privatleben des unverheiratet geden Gegensatz von Gottschedianern u. der bliebenen R., eines »leutseligen, aufrichtigen und dienstfertigen« Mannes von »gerechtem Neuber-Truppe sinnfällig macht. Da R.s Arbeit am Vorspiel durch die Dresd- Gemüth und eindringendem Verstand« ner Gottsched-Opposition gefördert worden (Nachruf, S. 380) ist wenig bekannt. Der Sohn war, mag der Erfolg des Werks dazu beige- des Gastwirts ›Zum Hofmann‹ erhielt zutragen haben, dass R. beim Grafen Brühl sein nächst Privatunterricht, besuchte dann die Auskommen als Beamter fand. Fortan Schule von St. Sebald u. seit 1703 das Gymschränkte er seine dichterischen Aktivitäten nasium Aegidianum. Dass er »gerne von allen stark ein. Erwähnenswert ist ein 1753 erst- Sachen was verstehen« wollte (R.s Vorrede an mals erschienenes Sendschreiben, Der Teufel den Leser zu Louis Bonin: Neueste Art zur gaan den Kunstrichter der Leipziger Schaubühne (Al- lanten und theatralischen Tantz-Kunst. Ffm./Lpz. tona 1753), das, in holprigen Knittelversen [Nürnb.] 1712. Repr. Bln. 1996), beweist sein abgefasst, Gottsched erneut Überheblichkeit breit angelegtes Studium der Juristerei, Mathematik u. Naturwissenschaft in Altdorf u. Amoral vorwirft. Von literarhistor. Bedeutung sind R.s Leis- (1705–1708), Lpz. (1708/09) u. Jena tungen auf dem Gebiet der Pastoraldichtung, (1709–1712). Nach Nürnberg zurückgekehrt mit der er zu einem führenden Anreger u. (1712), ging R. noch einmal für etwa ein Jahr Vertreter des dt. Rokoko wurde, sowie sein nach Altdorf, konnte aber sein Vorhaben satir. Talent, mit dem er im Vorspiel ein auf- nicht realisieren, »mit jemandem auswärtige schlussreiches u. poetisch ansprechendes Bild Länder zu besuchen« (Nachruf, S. 378). Von des Leipziger Bühnenlebens um 1740 schuf. 1715 an lebte er als an kein Amt gebundener Weitere Werke: Die Nachtigall. Bln. 1744 Privatgelehrter in Nürnberg, lernte Italie(Verserzählung; Verfasserschaft umstritten). – Die nisch, übersetzte französischsprachige Roschöne Nacht. o. O. u. J. [1754]. Nachdr. Bremen mane (Die unvergleichliche Heldin im Bilde der 1965 (Verserzählung). – Vermischte Gedichte. [Hg. schönen Holländerin. [Nürnb.] 1715. Venda, KöChristian Heinrich Schmid, Johann Benjamin Mi- nigin in Pohlen. Nürnb. 1715. Wahrhaffte Liebeschaelis u. Johann Gottfried Dyck]. o. O. 1769. und Helden-Geschichte Heinrichs, Herzog der VanAusgaben: Das Vorspiel. Die schöne Nacht. In: dalen. Nürnb. 1722) u. verfolgte weiter als Dt. Lyrik v. Luther bis Rilke. Ffm. 2005 (CD-ROM). Mitarbeiter des angesehenen Astronomen – Internet-Ed. etlicher Texte in: Dt. Lit. des 18. Jh. Johann Philipp von Wurzelbau seine astroOnline. Hg. Paul Raabe. Mchn. 2007. nomischen u. mathemat. Studien. Er korreLiteratur: Max v. Waldberg: J. C. R. In: ADB. – spondierte, z.T. stellvertretend für WurzelGustav Wahl: J. C. R. Lpz. 1902. – Hilmar Korbau, mit Mathematikern u. Astronomen in mann: J. C. R. Eine literarkrit. Untersuchung als Deutschland u. Europa. Seinen Atlas Portatilis Beitr. zur Gesch. des dt. Rokoko. Diss. Erlangen/ Nürnb. 1965. – Friedrich Sengle: Aufklärung u. Coelestis (Nürnb. 1723) widmete er der Rokoko in der dt. Lit. Mit einer Nachbemerkung v. ›Preussischen Societät der Wissenschaften‹ in Manfred Windfuhr. Hg. Sabine Bierwirth. Heidelb. Berlin, die ihn am 3.2.1723 zum korrespon2005. Felix Leibrock / Red. dierenden Mitgl. wählte. – R. gelang der soziale Aufstieg in die Gruppe der akademisch Gebildeten u. literar. Intelligenz, die ihre Identität in der »galanten conduite« fand, einem Kodex personen- u. situationsbezogenen Verhaltens u. Sprechens. Für diese
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Schicht schrieb er, stets bemüht, die dt. Sprache, Rede- u. Kommunikationsformen, Wissen u. Charakterbildung zu fördern u. zu verfeinern. Deutlich wird dies in seiner Schrift Von der Nutzbarkeit des Tantzens (Nürnb. 1713. Repr. Bln. 1996). Der Wert des Tanzens liegt für R., der in Jena bei Louis Bonin Tanzunterricht hatte, neben der Möglichkeit »vernünftig gehen und stehen« (S. 29) zu lernen v. a. darin, dass man sich höfl. u. respektvolles Auftreten sowie die Fähigkeit erwerbe, sich angenehm zu machen (»die manier zu insinuieren« bzw. zu »complimentiren«), mithin »höflich und galant zu leben« (S. 29 f.). Denn die Verhaltensmuster des Komplimentierwesens hätten nicht nur bei Hofe ihre Gültigkeit: »die Hof-Manieren haben sich bereits so weit erstrecket, dass sie [...] fast überall gelten« (S. 30). Die Definition des Galanten übernimmt R. von Benjamin Neukirch (Vorrede zu Anweisung in teutschen Briefen. 1709) »als eine schertzhaffte und dabei kluge Artigkeit [...]. Sie ist der Weg, sich bei Hohen und Niedern beliebt zu machen.« (S. 7 f.) R. vermittelt mit seiner Tantz-Kunst Gesellschaftsetikette, die stets mit bestimmten Redeformen verbunden war, gibt Ratschläge (in Anlehnung an John Locke) zur Erziehung der Kinder, macht sich Gedanken über das Lehrer-Schüler-Verhältnis u. empfiehlt die »Conversation« mit Frauen als eine »Schule der Höflichkeit« (S. 18). Tanzlehren u. Erziehungsmaximen würden jedoch nicht den »Schusters-, Schneiders- und andern Handwercks-Kindern« gelten (S. 87). Das der Tantz-Kunst (wie den späteren Briefstellern) implizite galante, ethische wie rhetorische Regelwerk liegt auch R.s elf, zwischen 1708 u. 1715 erschienenen Romanen zugrunde. Für dessen erzählerische Umsetzung greift er auf die narrativen Formen zurück, welche die Gattungstradition des hohen wie des niedern Romans bereitstellten. Sie verdichteten sich in vier »Erzählmodellen«, dem »galant-heroischen«, dem »galant-höfischen«, dem »galant-moralischen« u. dem »galant-akademischen« (s. Gelzer, S. 358–360). R.s Romane lassen sich jeweils einem dieser in der galanten Epoche gebräuchl. Modelle u. ihren Mischformen
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zuordnen. Ob R. Stoffe, Motive u. Figurenkonstellationen aus zeitgenöss. Romanen (Bohse, Hunold) und/oder den frz. psychologisierenden ›nouvelles‹ übernommen hat, ist noch unerforscht. Die Vorbildlichkeit von Zieglers Asiatischer Banise ist nachgewiesen. Der Durchlauchtigste Hermiontes Cron-Printz aus Syrien [...] in einem Helden-Gedichte abgebildet von Meletaon (Nürnb. 1714), der zum ›orientalischen Genre‹ zählt, d.h. dessen Handlungen wie kgl. bzw. kaiserl. Personal in Vorderasien angesiedelt sind, steht beispielhaft für die meisten Romane R.s. Auch für ihn dürfte Zieglers Banise »Kompositionsmodell, Motivquelle und sprachlicher Fundus« gewesen sein (Gelzer, S. 316, zu Die Unglückseelige Atalanta [...]. Ffm./Lpz. [Nürnb.] 1708. 2 1717. Repr. Ffm. 1971). Denn das Handlungsmuster dieser galant-heroischen bzw. galant-höf. Romane ist stets das gleiche: Treueschwur des Protagonistenpaares, Trennung, Treueprüfung v. a. der ›Heldin‹ u. (meist) Wiedervereinigung u. »Beylager«. Hermiontes ist komplex angelegt gemäß dem Prinzip, »die curiosité des galanten Lesers nicht auf einmahl zu conteniren«, da »unvermutete Hindernüsse die Ergötzung« beförderten (Vorrede zu Die Türckische Helena. 1710). Der Roman setzt ein mit einem Konflikt zwischen Liebe u. Staatsräson. Die armen. Prinzessin Lesbinda, die mit dem iber. Prinzen Liberio ein heiml. Liebesbündnis eingegangen ist – er hatte sie vor einem Löwen gerettet, ein Standardmotiv seit der Banise –, muss den schon älteren, verwitweten syr. König Amisodorus heiraten. Aus dieser Ehe entspringt Hermiontes, von dem scheinbar nicht mehr die Rede ist. Als Graf Cariano in pers. Diensten nimmt Liberio an Kriegen teil, um nach 500 Seiten u. Prüfungen seiner Treue Lesbinda erneut zu begegnen (S. 662 f.). Bei beiden erwachen die »ehemaligen Neigungen« – »ein gefährliches Liebes-Feuer«. Auf ein Orakel vertrauend, das ihm den syr. Thron verheißen hatte, erobert er Syrien u. billigt, dass Lesbinda Amisodorus ermorden lässt. Die Heirat verhindert jedoch »der gerechte Himmel, der keine Boßheit für genehm hält« (679). Beide kommen bei der Eroberung der syr. Residenzstadt Palmyra durch Prinz Iberio (auch Irenio) mit einem
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arab. Heer ums Leben. Im Kontrast zu dieser Liebesaffäre steht die des Prinzen Iberio u. der arab. Prinzessin Andromache. Ihre Beständigkeit u. Tugend müssen sie in mancherlei Schicksalen beweisen. Erst am Ende des Romans erfährt Iberio u. mit ihm der Leser, dass er Hermiontes sei (S. 681 f.). Seine Mutter hatte ihn ermorden lassen wollen, was der Kronschatzmeister verhinderte. So kann der Erzähler resümieren, dass das »tugendhaffte Leben« u. »die Standhaftigkeit der Gemüther« von Hermiontes u. Andromache in den vom Schicksal verhängten »widrigen Zufällen« mit Thron u. Hochzeit ihre Belohnung fänden (S. 687). Die getreue Bellandra. In einem Liebes-und Helden-Roman [...] von Meletaon (Nürnb. 1708. 2 1716. 31739. Zu Atalanta s. Gelzer, S. 316–323) u. die in Paris, Algier u. Italien spielende Türckische Helena [...] (o. O. [Nürnb.] 1710. 21711 [wohl nur Titelauflage]; bearb. von Menantes [David Christian Walther] mit wörtl. Übernahme ganzer Passagen, weitgehender Beibehaltung der Namen, aber Verzicht auf Nebenhandlungen u. einiger Treueprüfungen u. d. T. Der unvergleichlichschönen Türckin wundersame Lebens- und LiebesGeschichte [...]. o. O. [Hbg.] 1723. 21733) sind ähnlich angelegt wie Hermiontes. R. verzichtet zum größten Teil auf die Darstellung politisch-kriegerischer Konflikte, nicht aber auf die vielfältige Erprobung der constantia der Protagonistin in der Sklaverei (u. a. Entführung, mitleidlose Räuber, Verkleidung als Mann, Gefährdung der Keuschheit, Nachricht vom vermeintl. Tod des Geliebten, drohende Hinrichtung). Denn hier entfaltet der Autor das vorbildliche höfisch-galante Verhaltensideal bedingungsloser Treue. Der verliebte Eremit [...] (o. O. [Nürnb.] 1711. 2 1720. 31721. Repr. Ffm. 1970. 1737 u. 1738 u. d. T. Die [...] Hindernüß in der Liebes-Geschichte des Grafens von Castro [...]) war R.s erfolgreichster Roman. Ursache dafür dürfte sein: die detailfreudige Darstellung adliger Lebensführung mit ihren Interaktionsritualen in Liebesaffären; die beispielgebenden Konversationen u. Briefe sowie Lieder, die den Seelenzustand der Liebenden offenbaren; die eingängige, die Gefühle der Leser ansprechende Erzählweise; der geschickte Erzähler-
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Leser-Kontakt mit Vorausdeutungen, Verweis auf Fügungen des Himmels, Erläuterung von Verhalten u. moralischer Wertung. (Im gesamten Œuvre von R. spielt die Gehorsamspflicht gegenüber den Eltern eine wichtige Rolle). Um die Handlung voranzutreiben, Spannung zu erzeugen u. eine gewisse Sensationslust zu befriedigen, bedient sich R. des tradierten Repertoires der Gattung: Brutalität u. Wollust einer nach Zieglers Chaumigrem gestalteten Figur (Graf Bernd); Wilhelmines Intrigen u. Sticheleien gegenüber der Freundin u. Protagonistin Eleonore; die breite Darstellung der Hinrichtung einer Gattenmörderin in Paris, das als ein Ort der Verbrechens gezeichnet ist; das temporäre Eremitendasein nur auf den letzten Buchseiten – entgegen dem Sensation versprechenden Romantitel – der beiden auf ihre constantia hin geprüften Hauptfiguren Graf Maximilian (Student in Prag) u. Eleonore. Wollte ein Leser galant-höf. conduite lernen, so hat ihm R. hier ein Exemplum vorgelegt. Der Schau-Platz Der Galanten und Gelährten Welt [...] (Nürnb. 1711. 21712 [wohl Titelauflage]) wie Die Liebenswürdige und Galante Noris [...] (Lpz. 1711) gewinnen mit Auflösung des Heliodor’schen Schemas u. Anleihen beim niedern Roman, Betonung des moralischen prodesse, Fehlen der metaphys. Dimension der constantia u. dem Verzicht auf die barocke, metaphernreiche Sprache fast schon Modellcharakter für die Gattungsentwicklung in den nächsten 45 Jahren. R.s sechster Roman Schau-Platz folgt dem galant-moralischen bzw. seiner Variante dem galant-akadem. Typus. Er spielt überwiegend im akadem. Milieu an dt. u. europ. Orten mit verschlüsselten oder Klarnamen. Seine Struktur entspricht einer Abfolge von Liebesbegebenheiten im bewussten Verzicht auf »verwirrte Intriguen« (2. Tl., Vorrede). Gleichwohl unterbricht der Erzähler gern v. a. tugendhafte Beziehungsgeschichten vor dem glückl. Ende mit eingeschobenen, moralisch kontrastierenden Affären. Diese Liebesgeschichten entwerfen eine eher lieblose Welt, in der man Freude daran hat, die Reputation des andern zu zerstören, Versprechen bricht, Briefe fälscht u. den negativen Affekten freien Lauf lässt (Rache, Neid, Erpressung). Die Brücke
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zum Lehrprogramm der galanten conduite schlagen zum einen drei beispielhaft gestaltete tugendhafte Liebes-Avanturen, die mit einer Ausnahme mit dem von den Eltern gebilligten »Beylager« enden, zum andern der stets präsente Erzählerkommentar. Bezeichnenderweise sind die Protagonisten jener Liebesgeschichten von Adel. Sie sind »vernünftig«, zeigen eine »wolanständige conduite« im Verhalten, Briefeschreiben u. in der Konversation. Wie im höfisch-histor. Roman wird ihre constantia immer wieder hart geprüft, nur dass hier nicht Staatsinteressen oder lüsterne Räuber die Vereinigung hinauszögern, sondern v. a. tyrannische Väter, welche die Liebenden einem Konflikt zwischen zwei gleichwertigen Normen aussetzen, der Gehorsamspflicht u. dem Treueschwur gegenüber der/dem Geliebten. Beherrschend im Schau-Platz ist jedoch der Entwurf einer mehr oder weniger galanten Lebensführung ex negativo. Fast auf jeder Seite gibt – typografisch hervorgehoben – der Erzähler einen moralischen, psychologisierenden, philosophischen oder lebensprakt. Kommentar zum gerade Erzählten ab, was die Liebesgeschichten in die Nähe der Exempelliteratur rückt. Bemerkenswert ist seine Liebespsychologie. Sie gibt Einblick in Beweggründe u. Gefühlszustände von Liebenden (Vernunft vs. Affekt; verletzte Liebe). Von Frauen verlangt er Zurückhaltung u. kluge Verstellung bei Anbahnung eines Liebesverhältnisses, von Männern, nichts mit Gewalt erzwingen zu wollen. – Im Nebeneinander der im selben Jahr erschienenen Romane Eremit u. Schau-Platz wird deutlich, dass es in Letzterem nicht um eine moralische Verbürgerlichung des galanten Romans geht, auch wenn das alltagsprakt. prodesse die Vermittlung der Interaktionsrituale der galanten conduite dominiert. Vielmehr hat R. sich bewusst unterschiedl. Erzählformen bedient, um das eth. Verhaltensideal der galanten conduite nahezubringen. Gleichwohl führt ein direkter Weg vom Schau-Platz zu den bis ins 19. Jh. populären erbaul. ExempelErzählungen in Wolangerichtete und neu-erfundene Tugend-Schul [...] (Nürnb. 1740. 1. Tl. von Bohse, 2. Tl. aus dem Nachlass von R., später, sprachlich überarbeitet, auch u. d. T. Die Sit-
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tenschule bzw. Meletaons neue Tugendschule) mit ihrer Absage an kluge Verstellung u. einen Berichtsstil ohne galantes Dekor (s. Gelzer, S. 374–384). – R. war ein professioneller Romanproduzent, der in seinen Vorreden mit dem Hinweis auf Verkaufserfolge u. das Drängen des Verlegers, zu produzieren, der Ankündigung weiterer Romane u. dem Lob renommierter Autoren wie Hunold den Absatz seiner Bücher zu befördern suchte. Was Struktur, Figurenkonstellation u. Motive der meisten Romane betrifft, bewegte sich R. auf den durch den höfisch-histor. Barockroman vorgezeichneten Bahnen, die er mit SchauPlatz u. Noris partiell verließ. In der Vorrede (Repr. Weber: Texte I, S. 453–466) zu Curieuse Liebes-Begebenheiten (Cölln [Nürnb.] 1714. 21720), seiner Übersetzung der frz. Fassung von vier Erzählungen des Spaniers Juan Perez de Montalbán, distanziert sich R. von seinem bisherigen Romanœuvre u. bittet den Leser in einem christlich motivierten Akt der »Reue« wegen der zugefügten »Beleidigung« um »Verzeyhung« (S. 457, 458). Er habe keinen rechten Begriff von dieser Gattung gehabt. Er versteht sie als eine »Liebes-Geschichte [...], die schöne Historien, kluge Erfindungen, nützliche Maximen und lehrreiche Moralien, auch eine annehmliche, keusche Schreib-Art« enthalte (S. 452). Seine Romane hingegen charakterisiere »unverschämte Redens-Arten, lasterhafte Erzehlungen, unkeusche Abbildungen [...] falsche Moralia [...] Satyrische Piquanterien« (S. 459). R.s eher schlichte Umsetzung der alten Literaturregel prodesse et delectare – die Rückbindung der Liebesthematik an ein christl. Wertesystem lässt den Einfluss der in der Zeit hochgeschätzten Réflexions sur les Romans (1684) der S. E. Prasch vermuten – differiert in einem zentralen Punkt mit der galanten Gattungsnorm: von der Vermittlung des eth. Verhaltensideals der galanten conduite ist nicht mehr die Rede. Vielmehr scheint R. im Gattungsverständnis, dem christlich-bekenntnishaften Ton u. der Sorge um das Seelenheil des Lesers den moralischen Wochenschriften vorzugreifen, wenngleich ein Teil der galanten Autoren – u. erst recht R. selbst – sich stets einem gesellschaftlich-sittl. Anspruch verpflichtet wuss-
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ten. Ob R. hier Hunold (Accademische NebenStunden. 1713) folgte u. wie dieser eine Zäsur zwischen seiner Studentenzeit u. seiner Existenz als Gelehrter setzen wollte, oder ob er spürte, dass die Zeit des galanten Romans sich dem Ende zuneigte, lässt sich nicht entscheiden. Zwischen 1713 u. 1720 veröffentlichte R. vier z.T. umfangreiche Briefsteller, einen wichtigen Typus von Lehrbuch der galanten conduite: Das Neu-Eröffnete Teutsche Briefe Cabinet [...] (2 Tle., 3 Bde., Nürnb. o. J. [1713]), Die Manier, wie man [...] einen höflichen [...] Teutschen Brief schreiben und beantworten [...] soll [...] (Nürnb. 1716. U. d. T. Die leichteste Art Teutsche Briefe zu schreiben. Ebd. 1717 u. 1720. U. d. T. J. L. R.s Allerneueste Art Höfliche und manierliche Teutsche Briefe zu schreiben. Ebd. 1736 u. 1744), Unterricht von Billeten [...] (Lpz. 1717), Neuer Vorrath Teutscher Briefe (Nürnb. 1720. Ebd. 1732). Der Anspruch, den R. mit seinem ersten Briefsteller verbindet – bei den späteren handelt es sich um theoretisch weitgehend identische, die Zahl der Musterbriefe erweiternde Varianten – ist eher bescheiden. Er lobt Bohse, Hunold u. Neukirch als »die besten Autoren, die jemals davon geschrieben [...] ich habe sie in meinem Buch zusammengefasset, was man bey jenen in verschiedenen Schrifften findet [...]« (Briefe Cabinet II, Vorrede). R. übernimmt denn auch die zentralen Theoreme dieser Komplimentierbücher. Der Brief habe sich an der mündl. Rede auszurichten, der anmutigen, leichten u. geistreichen Konversation der Galanten. Er sei eine »schrifftliche Unterredung« (I, 44), »wie es die heutige galante Welt und der überall eingeführte Hof-Stylus erfordert« (I, Vorrede). Daher sei die Kenntnis der Rhetorik notwendige Voraussetzung. Mit diesem Begriff verbindet R. weniger »rhetorische Figuren und poetische Formuln« (I, 167), die zu vermeiden sind, als das Bestreben des Schreibenden, das Wohlwollen des Adressaten um des eigenen Vorteils willen gewinnen zu wollen (»Insinuation«). Daraus folgt, dass die »gute Schreib-Art« »rein«, »deutlich« u. »wolfliessend« zu sein habe, eine Begrifflichkeit ohne bes. Trennschärfe (Leichteste Art, S. 51). »Rein« ist gleichbedeutend mit einer Sprachform, die fremdsprachige Wörter ver-
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meidet (s. das dt.-frz. Glossar in Leichteste Art). Unter »deutlich« versteht R. das Prinzip einer auf unbedingte Verständlichkeit abzielenden, weder zu langen noch zu kurzen Briefrede (simplicitas, perspicuitas, dignitas; u. a. dt. Satzbau, Vermeidung hochtrabender u. poetischer Wörter, wenig Parenthese). Für »wolfliessend« verwendet R. auch die Begriffe »Anmuth« u. »Zierlichkeit« als eine ungezwungene Schreibweise ohne »Affektiertheit« u. »Pedanterie« (z.B. keine sprachl. Redundanz, Variabilität in der Wortwahl, geschickte Adjektive, Verteilung eines Gedankens auf mehrere Sätze). R. musste angesichts der zahlreichen Briefsteller auf dem Markt (14 referiert er in Briefe Cabinet I, 14–38) den seinen ein eigenes Profil geben. Er suchte dies durch eine Fülle an Briefmustern zu erreichen. Es sind wohl über tausend ohne die Billette. Für den gesellschaftl., geschäftl. u. privaten Gebrauch entwarf er Briefe mit den dazugehörigen Antworten von u. an nach Geschlecht getrennten Personen unterschiedl. Standes, Berufs u. Charakters. (Eine Übersicht über die Briefgattungen u. die der zeitgenöss. Epistolografen in Briefe Cabinet I, 308–315). Dass er auch eher seltene Briefanlässe zum Vorwurf nahm, möge ein Beispiel belegen: »An eine vornehme Dame, die man mit Erkauffung eines Land-Gutes hinter gehen will« (Briefe Cabinet II, 89 ff.). Was die »Eintheilung«, die Struktur der Briefe betrifft – ein zentrales Thema –, so gibt es für R. keine »General-Disposition« (ebd. I, S. 274), wohl aber verschiedene Möglichkeiten: 1. das tradierte, durch »Initial- und Final-Compliment« u. durch »argumentae« erweiterbare Chrien-Schema (Antecedens, Connexion, Consequens) als die »natürlichste [Ordnung], denn es fliesset daraus eins auf das andere« (ebd. I, S. 243). 2. eine »oratorische Disposition« (fünf Schritte zwischen exordium u. conclusio) z.B. in »moralischen« u. »vetrauten Briefen« (ebd. I, S. 44 f.). 3. Briefaufbau mit Hilfe von Konjuktionen, Adverbien u. Adverbialien (eher für Anfänger gedacht; ebd. I, S. 238). 4. eine »natürliche« Ordnung in (ernsthaften) Liebesbriefen. In diesen bedürfe es keiner »oratorischen HülfsMittel, sondern seine [des Briefschreibers] Leidenschaft erlaubt ihm die Feder nach Ge-
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fallen zu führen« (I, S. 120). In der Spannweite der vorgeschlagenen Briefstrukturen zwischen einer z.T. noch am Kanzleistil ausgerichteten Rhetorik u. »natürlicher« Rede folgt R. seinen Vorbildern Hunold, Neukirch, aber auch Weise u. Bohse. R.s Briefsteller geben einen Einblick in die gesellschaftsorientierte Ethik der Galanten wie in die sozialen Strukturen der Zeit. Für den zeitgenöss. Leser bedeuteten sie zum einen Einübung in strukturiertes Schreiben u. Reflektieren (auch über sich selbst). Zum andern enthalten sie eine Standeskunde. Allein das dreisprachige (dt., frz., ital.), 304 Seiten starke Titular-Buch (dem Briefe Cabinet beigebunden) vermittelte eine Vorstellung von der Rangordnung innerhalb der Stände der dt. Kleinstaaten. Die Briefe setzten dies in Regeln des Verhaltens u. Schreibens um. Die Briefsteller waren zum dritten Sprachunterricht, der entschieden zur Verbesserung u. Verhöflichung der dt. Sprache beigetragen haben dürfte, da sie Fragen der Grammatik, Syntax, Orthografie, Interpunktion u. des Stils behandelten. Das Ziel war, eine dem Französischen ebenbürtige Literatur- u. Konversationssprache zu entwickeln. Schließlich lehrten sie auch Menschenkenntnis. Denn das rhetorische Prinzip der Insinuation machte es erforderlich, sich Stand, Alter, Geschlecht, Herkunft, Wissen u. vor allem »GemüthsNeigung« des Adressaten zu vergegenwärtigen. Dies führte zu einem Spektrum an Charakteren (Briefe Cabinet I, S. 63–96), das R. von Neukirch (1. Teil der Anweisung) übernahm. Dessen Anthropologie wiederum basierte auf Thomasius’ Schrift Von der Ausübung der Sittenlehre (1693). Obgleich R. als Romanautor, Übersetzer u. Epistolograf erfolgreich war u. renommierte Nürnberger Verleger wie Wolfgang Michahelles, Johann Albrecht, Georg Christoph Lochner oder Johann Leonhard Buggel sein Werk verbreiteten, erwähnt der Nachruf 1727 nur den Astronomen. Darin ist ihm Zedlers Universal-Lexicon gefolgt (Bd. 32, 1742, Sp. 1050–1053). Interesse an Astronomie zeigte schon der 15-Jährige. Zwischen 1703 u. 1705 assistierte er Georg Christoph Eimmart in dessen privatem Observatorium. Als Mitarbeiter von Wurzelbau publizierte er mehrere
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Dutzend Artikel eigener Forschungen in Sammlung von Natur- und Medicin- [...] Geschichten (Breslauische Sammlungen. Hg. Johann Kanold u. a. Erfurt 1718–30). Mit seinen Arbeiten zu Sonnen- u. Mondfinsternissen u. deren Vorausberechnung setzte er, darin ganz Aufklärer, dem Aberglauben die naturwissenschaftl. Beobachtung entgegen (Curieuse Vorstellung [...] der großen sichtbaren Sonnen- oder Erd-Finsterniß anno 1724. Nürnb. [1724. 2 1725]. Deutliche Beschreibung der [...] Mondfinsterniß anno 1725. Nürnb. [1725]). Sein in dt. Sprache geschriebenes Astronomisches HandBuch (Nürnb. 1718. 21726. Erweitert von Georg Friedrich Kordenbusch. Ebd. 1771–74) – es enthält Wurzelbaus Übersetzung von Dominique Cassinis De l’origine et du progrès de l’astronomie (in: Recueil d’observations [...]. Hg. L’Academie royale des Sciences. Paris 1693, S. 3–43); 100 »problemata«, i.e. Beispiele astronomischer Berechnung, basierend auf »Observationes« sowie Ephemeridentafeln; schließlich eine astronomische Instrumentenkunde, mit der wiederum ein Unterricht verbunden ist, z.B. über Distanzmessungen – ist in mehrerer Hinsicht eine Pionierleistung. Mit dem ausdrückl. Bekenntnis zur eigenen Muttersprache (Vorrede) knüpfte er an Bestrebungen von Leibniz, Thomasius u. Christian Wolff an, die dt. Sprache als Wissenschaftssprache zu etablieren. R. war zudem der Erste, der das astronomische Wissen seiner Zeit praxisnah darstellte. Zusammen mit dem Supplement Der Aufrichtige Astronomus (Nürnb. 1726. 21727) blieb das Hand-Buch für ein halbes Jahrhundert unter AstronomieLiebhabern das meistgelesene Lehrwerk, auch wenn es Fachleuten als für seine Zeit lückenhaft galt (s. Abraham Gotthelf Kästner: Anfangs-Gründe der Astronomie. 1759). Folgt man dem Rezensenten in »Neue Zeitungen von gelehrten Sachen« (29.6.1722, S. 506), gelang es R., »so gar auch Leute die nicht studiret, ja auch Bauers-Leute und Gärtner« für diese Wissenschaft zu interessieren – ein überraschender Befund angesichts der doch recht zahlreichen lat. Wendungen u. Fachbegriffe. Dass R. in der Vorrede wortreich die Vereinbarkeit von christl. Glauben u. Astronomie herausstreichen musste – die »himmlischen Körper« u. ihre regelmäßigen Bahnen
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Rostocker Liederbuch
seien »Zeugen« von Gottes »unaussprechli- E. Weber u. Christine Mithal: Dt. Originalromane cher Weisheit« u. der »vernünfftige Mensch« zwischen 1680 u. 1780. Eine Bibliogr. [...]. Bln. geradezu verpflichtet, sie zu studieren, – 1983. – Rainer Baasner: Das Lob der Sternkunst. verweist vielleicht darauf, dass das koperni- Gött. 1987. – Marina Dafova: Zur Biogr. v. Meletaon. In: Von der Nützlichkeit des Tantzens. Repr. kan. Weltbild noch nicht allgemein akzepBln. 1996, S. 666–677. – BBHS, Bd. 7, S. 231–235. – tiert war (s. a. Vorrede zu Atlas). Auch beim Olaf Simons: Marteaus Europa. Amsterd. 2001. – 2 Atlas Portatilis Coelestis (Nürnb. 1723. 1743) Marie-Thérèse Mourey: Affektdiskurse in den dt. handelt es sich um eine Einführung in die Tanzlehrbüchern. In: Passion, Affekt u. LeidenAnfangsgründe »dieser unentbehrlichen schaft in der frühen Neuzeit. Hg. Johann Anselm Wissenschaft«, der »studierendem [!] Jugend Steiger. 2 Bde., Wiesb. 2005, Bd. 2, S. 787–801. – zum Unterricht«, aber auch für Geografen u. Florian Gelzer: Konversation, Galanterie u. AbenSeefahrer nützlich. 38 handkolorierte Tafeln teuer. Romaneskes Erzählen zwischen Thomasius (gestochen von Christoph Weigel) mit meist u. Wieland. Tüb. 2007. – Hans Gaab u. Olaf Siallegor. Darstellung der Sternbilder sowie der mons: J. L. R. ›Romanist‹ u. Astronom. In: Beiträge zur Astronomiegesch. 9 (2008), S. 126–155 (BiTierkreisbilder u. Abbildungen astronomibliogr. der astronom. Arbeiten, S. 138–54; Verz. scher Instrumente unterstützten die Unter- des handschriftl. Nachlasses, S. 142 f.). weisung durch sinnl. Anschauung. – MaxiErnst Weber milian Hell hat auf einer Mondkarte in den 60er Jahren des 18. Jh. einen Krater im SW des Erdtrabanten (zwischen dem von ›Schiller‹ u. Rostocker Liederbuch. – Liederbuch mit ›Schreiner‹) nach R. benannt. Johann Hiero60 Texten u. über 30 Melodien, zweite nymus Schröter ist ihm darin in seinen SeleHälfte des 15. Jh., entstanden vermutlich notopographischen Fragmenten (Bd. 2, Gött. in Rostock; bedeutende Quelle für die 1802, S. 64 u. Tafel XLVIII) gefolgt. Weitere Werke: Liebes-Geschichte der Printzessin Normanna [...]. Nürnb. 1711. U.d.T. Billicher Lohn getreuer Liebe [...]. Ebd. 1718. – Die Durchlauchtigste Prinzessin Tamestris aus Ägypten [...]. Ebd. 1712. Ebd. 21715. Ebd. 31732. Ebd. 4 1733. – Warhafte [...] Beschreibung, desjenigen [...] so genandten Nord-Scheines [...]. [Ebd. 1721]. – Mathematischer Nutz- und Lust-Garten [...]. Ebd. 1724. 21745. Erw. u.d.T. Unterricht zur praktischen Rechenkunst. 1786. – Falsche Zuschreibungen: Leben und Thaten Derer berühmtesten Englischen Coquetten und Maitressen [...]. [aus dem Englischen] London [Nürnb.] 1721. – Lindopolanders Liebe ohne Bestand [...]. Breslau 1724. – Die Leipziger Land-Kutsche [...]. Breslau/Lpz. 1725. Ausgaben: Internet-Ed. mehrerer Texte in: dünnhaupt digital, u. in: Dt. Lit. des 18. Jh. Online. Hg. Paul Raabe. Mchn. 2007. Literatur: Bibliografie: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 5, S. 3501–3516. – Weitere Titel: Neue Zeitungen von gelehrten Sachen, Nr. 37 (8.5.1727), S. 377–381 [Nachruf]. – Herbert Singer: Der galante Roman. Stgt. 1961. – Reinhard M. G. Nickisch: Die Stilprinzipien in den dt. Briefstellern des 17. u. 18. Jh. Gött. 1969. – Texte zur Romantheorie I (1626–1731). Mit Anmerkungen, Nachw. u. Bibliogr. v. Ernst Weber. Mchn. 1974. – Gerhart Hoffmeister: Transformationen v. Zieglers ›Asiatischer Banise‹. In: GQ 49 (1976), S. 181–190. –
deutsche Lyrik des 15. Jh., speziell des norddeutschen Raumes.
Die schlichte Gebrauchshandschrift aus Papier wurde 1568 von einem Buchbinder zu Makulatur verarbeitet. 44 Blätter daraus konnten 1914 von dem Rostocker Bibliothekar Bruno Claussen aus Einbänden der Johann-Albrecht-Bibliothek herausgelöst werden; sie liegen heute unter der Signatur Mss. philol. 100/2 in der UB Rostock. Das Rostocker Liederbuch (RLB) tradiert trotz seines fragmentar. Zustandes ein großes u. ausdifferenziertes Ensemble von über 60 Texten u. 30 Melodien, die teilweise unikal überliefert sind, teilweise aber auch eine breite Parallelüberlieferung aufweisen. Vom Sprachstand her unterscheiden sich die Stücke ganz erheblich. So lassen sich Texte, die mit großer Wahrscheinlichkeit im niederdt. Raum entstanden sind (v. a. RLB 2–6, 10, 11–13, 17?, 23–27, 29, 32–35, 37, 44, 47, 49–50, 52–58, 59), von hochdt. Texten abgrenzen, die unterschiedlich stark an das Niederdeutsche angeglichen worden sind (RLB 1, 7–9, 14–15, 18–22, 28, 30–31, 36, 38, 45, 46, 48); überdies finden sich Lieder mit einer lat.-hochdt./niederdt. Sprachmischung
Rostocker Liederbuch
(RLB 28, 43) u. schließlich rein lat. Texte (RLB 16, 39–42, 51, 60). Auch mit Blick auf die literar. Darbietungsformen fällt die außerordentl. Buntheit der Sammlung auf. Im Spektrum der vertretenen Texttypen liegt der Schwerpunkt auf den Texten, die in der Tradition des hoch- u. spätmittelalterl. Werbeliedes stehen; diese ist im Rostocker Liederbuch immerhin mit 15 Beispielen vertreten: RLB 1/38a, 7–8, 14, 17, 18, 20, 22, 35, 43 [lat.-dt.], 44, 45, 46, 52, 53. Ein zweiter Akzent wird durch die vielen »contre textes« gesetzt, zu denen u. a. die sechs Schwanklieder (RLB 15, 24, 26, 33, 36, 49) gehören, aber auch das »Malmariée«-Lied RLB 21, ferner die Absagelieder RLB 23 u. 56 sowie die Lieder RLB 28 u. 38, die mit einer ausgesprochen direkten Sexualmetaphorik arbeiten. Des Weiteren ist die große Anzahl von gebrauchslyr. Stücken (Tanzlieder, Trinklieder, Witz- u. Necklieder) zu vermerken (RLB 13, 37, 47, 48, 51 [lat.], 55). Gut vertreten sind auch die historisch-polit. Lieder (RLB 3–5, 11, 58, 60), die ergänzt werden durch das moraldidakt. Lied RLB 2. Auffallend schwach ausgeprägt ist das »genre objectif«, dem lediglich drei Stücke zuzuordnen sind: der pastourellenartige Text RLB 16 [lat.] sowie zwei Tagelieder (RLB 19, eine sprachlich u. metrisch überarbeitete Version von Oswalds von WolkensteinLied Wach auff, mein hort, sowie das Lied RLB 34). Außerhalb der üblichen Register der weltl. Liederbuchlyrik stehen die fünf religiösen Lieder der Handschrift (RLB 6, eine mittelniederdt. Kontrafaktur zum lat. Hymnus Corde natus ex parentis, RLB 9 der sog. Tischsegen des Mönchs von Salzburg sowie RLB 40–42, drei lat. Mariencantiones). Ergänzt wird die Textsammlung schließlich von neun Stücken, die nach Ausweis der Form nicht für den Gesangsvortrag konzipiert worden sind. Es handelt sich zum einen um einige Texte in Reimpaaren: eine Folge von sog. Autoritätensprüchen (RLB 12), vier thematisch miteinander verwandte Gruppen sprichwortartiger Kleinsttexte (RLB 25, 29–31) sowie zwei derb-erot. Stücke (RLB 27, 32). Zum anderen finden sich Texte in Prosa: fünf lat. prosaische Tropen, die zu der Nummer RLB 39 zusammengefasst worden sind, sowie den Aflat vnde gnaden der
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kerken to Rome (RLB 59), eine niederdt. Version der Indulgentiae ecclesiarum urbis Romae (RLB 59). Die Existenz von drei Schreibern u. das Nebeneinander von unterschiedl. Typen der Melodieaufzeichnung (got. Choralnotation; schwarze u. weiße Mensuralnotation) deuten darauf hin, dass das Liederbuch vermutlich über einen längeren Zeitraum hinweg entstand, u. zwar offenbar im Kontext eines geselligen Kreises, dessen Umriss durch die Namen von Personen angedeutet wird, die in den lat. Beischriften zu RLB 9, 15, 16–17 als Beiträger zum Gemeinschaftswerk erwähnt werden (»Dominus et Magister Andreas de Prutzia«; »Johannes«; »Steffanus frater«). Der Wunsch nach schriftl. Fixierung der Texte u. Melodien geht in diesem Kreis (wie in den weltl. Liederbüchern generell) nicht mit einem Interesse an den Verfassernamen einher, u. zwar auch dann nicht, wenn diese über andere Quellen erschließbar sind (vgl. RLB 5: Hinrick Sticker; RLB 9: Mönch von Salzburg; RLB 19: Oswald von Wolkenstein; RLB 60: Philippe de Vitry?). Ausgabe: Das Rostocker Liederbuch. Nach den Fragmenten der Hs. neu hg. v. Friedrich Ranke u. J[oseph] M. Müller-Blattau. Halle/S. 1927. Unveränderter Nachdr. mit Farbfaks. u. d. T. Rostocker Liederbuch. Niederdt. Hs. des 15. Jh. aus dem Bestand der Universitätsbibl. Rostock [...]. Kassel/ London/New York 1987. – Eine Neuedition ist in Arbeit: www.rostocker-liederbuch.de. Literatur: Arne Holtorf: Rostocker Liederbuch. In: VL. – Karl Heller, Hartmut Möller u. Andreas Waczkat (Hg.): Musik in Mecklenburg. Beiträge eines Kolloquiums zur mecklenburg. Musikgesch. veranstaltet vom Institut für Musikwiss. der Univ. Rostock, 24.-27. Sept. 1997. Mit einer Zeittafel u. einer Auswahlbibliogr. zur mecklenburg. Musikgesch. Hildesh u. a. 2000. – Franz-Josef Holznagel: Das ›Rostocker Liederbuch‹ u. seine neue krit. Ed. Unter Mitarbeit v. Andreas Bieberstedt, Udo Kühne u. Hartmut Möller. In: Nd. Jb. 133 (2010), S. 45–86. Franz-Josef Holznagel
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Rostorf, eigentl.: Karl (Gottlob Albrecht) Rot, Roth, Rott, Johannes, * 30.11.1426 von Hardenberg, * 13.3.1776 Oberwie- Wemding, † 21.1.1506 Neisse; Grabstätderstedt/Sachsen, † 28.5.1813 Weißen- te: Breslau, Kathedrale. – Humanist u. fels. – Lyriker u. Herausgeber. Bischof. R.s Abstammung von einer sächs. Adelsfamilie sicherte ihm eine Offizierskarriere (1790–1801). Nach freiwilligem Abschied trat er 1806 in württembergische Dienste; 1812 wurde er Amtshauptmann in Weißenfels. Prägenden Einfluss auf R.s literar. Produktion hatte die Dichtung seines als Novalis berühmt gewordenen Bruders Friedrich. Ganz in dessen Sinne verstand sich R. als »Dichterpriester«, dem die Erlösung der Mitwelt aufgegeben sei (Pilgrimmschaft nach Eleusis. Bln. 1804). Allerdings geriet R. dabei immer mehr in den Bannkreis des Katholizismus, zu dem er 1807 folgerichtig konvertierte. Diese Konkretisierung der Erlösungsvorstellungen bedingte jedoch auch eine Engführung der von Novalis entlehnten Gedanken- u. Bildkonstellationen (Rostorfs Dichter-Garten. Würzb. 1807. Beiträge für »Poetisches Taschenbuch für das Jahr 1806«. Hg. Friedrich Schlegel. 2. Jg., Bln. 1806. »Musenalmanach für das Jahr 1802«. Hg. August Wilhelm Schlegel u. Ludwig Tieck. Tüb. 1802. Die Hesperiden. Hg. Isidorus [eigentl.: Otto Heinrich Graf von Loeben]. Bd. 1, Lpz. 1816): Sie dienen nicht mehr als assoziative Ausgangspunkte gedankl. Weiterentwicklung, sondern lediglich der Illustration vorgegebener (Welt-)Anschauungen. So begegnet bei R. neben konfessionell gebundenen Vorstellungen (Pilgerziel Rom versus Saïs) auch der »Karfunkelstein« als magischer Wegweiser; dieses verkürzte Symbolverständnis führte zur sog. »Karfunkel-Mode« der Romantik (etwa Loebens Guido von 1808) u. zu einer verfremdeten Novalis-Rezeption. Literatur: Gerhard Schulz: Einf. In: R. (Hg.): Dichter-Garten. Erster Gang/Violen. Neudr. Bern u. a. 1979. – Andreas Wistoff: Die Kritiken zu R. (Karl v. Hardenberg). In: Ders.: Die dt. Romantik in der öffentl. Literaturkritik. Die Rezensionen zur Romantik in der ›Allg. Lit.-Ztg.‹ u. der ›Jenaischen Allg. Lit.-Ztg.‹ 1795–1812. Bonn/Bln. 1992, S. 249–255. – Ingo Bach: Novalis, R. u. die Naumburger Damen. In: Saale-Unstrut-Jb. 10 (2005), S. 117 f. Gerda Riedl / Red.
Der Sohn eines Schusters (?) besuchte in Rom die Universität (etwa 1447–1454) u. wandte sich dort unter dem Einfluss Lorenzo Vallas dem ital. Renaissancehumanismus zu. Seine Ausbildung öffnete ihm den Weg zu Enea Silvio u. zu den Humanisten in der Kanzlei Kaiser Friedrichs III., der den Dr. iur. utr. mit wichtigen polit. Aufgaben betraute u. 1465 in den Ritterstand erhob. R. verschaffte sich zgl. hohe kirchl. Titularämter, 1466 die Domdechantei von Breslau, 1468 den Bischofsstuhl von Lavant. Nach dem Bruch mit Kaiser Friedrich III. 1480 ging R. zu König Matthias Corvinus von Ungarn, der ihn 1482 gegen den Willen des Domkapitels als Bischof von Breslau (Johann IV.) durchsetzte. Die für uns greifbare poetolog. Tätigkeit R.s fällt in das Jahr 1454, als sich R. offenbar um eine gesicherte Hofstellung bemüht. Er tritt hier in einen Dialog mit Gregor Heimburg über die Wissenschaftlichkeit der Jurisprudenz ein, wobei er sich auf Vallas Kritik an den Glossatoren stützt. Rhetorisch überzogen in der Form u. unsystematisch in der Darstellung, postuliert R. in einem Brief an Heimburg, den er in Abschriften auch an andere Humanisten – wie Albrecht von Eyb – sandte, den absoluten Vorrang der humanistischen Studien. Das Problem einer Vermittlung zwischen der juristischen Tradition der Spätscholastik u. der humanistischen Adaption antiker Werte vermag R. allerdings nicht argumentativ zu durchdringen, vielmehr stützt er seine Behauptung lediglich mit einer eklekt. Aneinanderreihung von Zitaten aus klass. Werken. R.s Selbststilisierung zum »patronus« der »artes humanae« u. ersten dt. Humanisten steht im Gegensatz zu seiner marginalen literar. Produktivität u. seiner geringen Nachwirkung. Immerhin machte er als einer der ersten Deutschen die neue Wissenschaft nördlich der Alpen bekannt, u. auch als Bischof von Breslau förderte er humanistische Gelehrte wie Ulrich Gossembrot u. Augusti-
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nus Moravus, der ihm seinen Dialog zur Verteidigung der Dichtkunst widmete. Literatur: Max Herrmann: Albrecht v. Eyb. Bln. 1893, S. 127–140. – Joseph Schneid: J. v. R. In: Sammelbibl. des histor. Vereins Eichstätt 23 (1908), S. 3–18. – Josef J. Menzel: J. IV. R. In: NDB. – Franz Josef Worstbrock: J. Roth. In: VL. – Rainald Becker: Der Breslauer Bischof J. R. (1426–1506) als instaurator veterum und benefactor ecclesiae suae. Eine Variation zum Thema des Humanistenbischofs. In: Röm. Quartalschr. 96 (2001), S. 100–123. – Alfred A. Strnad: Die Erneuerung v. Bildung u. Erziehung durch die Humanisten-Bischöfe in Schlesien, Mähren u. Ungarn. In: Kirchl. Reformimpulse des 13./14. Jh. in Ostmitteleuropa. Hg. Winfried Eberhard u. Franz Machilek. Köln 2006, S. 179–215. Gerhard Wolf / Red.
Rot, Wolfgang, Ordensname: Marianus, * 1597 Alpnach ob dem Wald/Schweiz, † 24.2.1663 Sins. – Benediktiner; Dramatiker.
die kath. Restauration befördernden, großen Dramen, die ebenfalls teils bibl., teils histor. Stoffe behandeln u. die er für die Klosterschule schrieb: ZuchtSchul oder Das Spiel vom ägyptischen Josef, Kunst wol zuo stärben u. das Fastnachtsspiel Lucretia. Unter dem Namen Pater Marianus war R. seit 1637 Mönch in Engelberg; zugleich wirkte er seit 1639 dort, seit 1642 in Sins/Kt. Aargau als Pfarrer. Seine vielseitigen Interessen u. seine Sammlerleidenschaft kamen seiner Predigtätigkeit zugute. Literatur: Bibliografie: Pyritz, Bd. 2, 1985, S. 573 f. – Weitere Titel: Augustin Benziger: Ein Schuldramatiker aus der ersten Hälfte des 17. Jh. In: Pädagog. Bl. 21 (Einsiedeln 1914), S. 4–8, 46–49, 57–60. – Ders.: Der Dichter P. Marianus R. In: Angelomontanus. Gossau 1914, S. 201–273. – Josef Hermann Heß: Der Dichter P. Marianus R. In: FS Albert Büchi. Freib./Schweiz 1924, S. 154–158. – Ders.: P. Marianus R. Basel 1927. – Ders.: W. (Marianus) R. In: Histor.-Biogr. Lexikon der Schweiz. Bd. 5, Neuenburg 1929, S. 718. – Oskar Eberle: Theatergesch. der inneren Schweiz. Königsb. 1929, S. 173–176. – Kosch. – Rosmarie Zeller: Marianus R. In: e-HSL. Franz Günter Sieveke
R. besuchte 1618–1621 die Jesuitenschule in Luzern, wo er die entscheidenden Impulse für seine literar. Tätigkeit erhielt, die ihn zum bedeutendsten Vertreter des barocken Katholizismus in der Schweiz machte. In Luzern Rotenberg, Stella, * 7.3.1916 Wien. – Lyschrieb er 1621 seine ersten beiden Stücke: rikerin, Erzählerin. Schöne Nachpurschaft u. Panis Eucharisticus indigne tractatus (Nachdr. hg. von J. H. Heß. R.s knapp zweihundert Gedichte umfassenAugsb./Köln 1927). Das zweite Stück, das die des lyr. Werk sowie ihre Kurzprosa sind gein vielen Volksliedern u. mehreren Dramen prägt von der Erfahrung des Exils u. der behandelte Verspottung u. Durchbohrung Shoah, von traumat. Verlusten u. tiefen Verdes Altarsakraments durch Juden sowie den letzungen, die seit 1940 in filigranen, dadurch bedingten Austritt von Blut aus der sprachlich auf Wesentliches komprimierten Hostie zur Darstellung bringt, entspricht Versen artikuliert werden. Ihre Kindheit erdem Aufbau der Fronleichnamsdisputatio- lebte R. in einem jüd., aber assimilierten Elnen der Jesuiten, die z.T. ebenfalls dieses ternhaus u. Freundeskreis in Wien. 1931 trat Thema behandeln, bei der Thematisierung sie der Vereinigung sozialistischer Mitteldes Altarsakramentes in ihren Theaterstü- schüler bei. R. sah sich mit dem Bürgerkrieg cken meist jedoch die thomistische Lehre der von 1934, dem Austrofaschismus u. dem Transsubstantiation veranschaulichen. Nach aufziehenden Nationalsozialismus konfronseiner Priesterweihe war R. 1623–1625 Pfar- tiert, u. a. an der Universität Wien, wo sie rer in seinem Geburtsort Alpnach. In dieser 1935 das Studium der Medizin begann. Zeit schrieb er Bätlerschuol, Job u. Löwenspiel – Im März 1939 konnte R. mit einem nieStücke, die z.T. bibl. Stoffe behandeln u. der derländ. Arbeitsvisum aus Österreich flüchmoralisierenden Didaxe dienen. 1625–1637 ten, um in Leiden u. Den Haag als Hauskämpfte R. als Pfarrer von Sarnen v. a. in sei- haltshilfe, dann als unbezahlte Heimhilfe in nen Predigten gegen Laster wie Trunksucht einem Waisenhaus für dt. Flüchtlingskinder u. Bestechungswesen. Der moralischen Bes- zu arbeiten. Von dort gelangte sie im Aug. serung dienten auch seine nun entstehenden, 1939 nach Großbritannien, war bis zum
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Frühjahr 1940 als Krankenhilfe in der Nervenheilanstalt Colcester tätig u. heiratete Wolf Rotenberg, einen ehemaligen Studienkollegen galizisch-polnisch-jüd. Herkunft, der sich als Freiwilliger zur brit. Armee meldete. R. folgte ihrem Mann in verschiedene Garnisonsstädte, wo sie als Arzthelferin, Verkäuferin in einer Apotheke u. schließlich als Bürokraft mehrere Jahre in Darlington Arbeit fand. Nach Kriegsende erfuhr R., dass ihre Eltern – der Vater war Textilkaufmann – 1942 auf dem Weg in das Konzentrationslager Sobibor ermordet worden waren. 1948 übersiedelte sie mit ihrem Mann nach Leeds. Im Frühjahr 1940 verfasste R. ihr erstes Gedicht, das programmatisch auf die Exilerfahrung im Sinn einer existentiellen Entortung u. Enteignung Bezug nimmt u. dabei auch sprachlich über äußerste Reduktion der Mittel u. Konzentration der Aussage die Grundrichtung ihres Sprechens anzeigt: Ohne Heimat. Ihm folgen weitere Gedichte, für längere Zeit jedoch nur wenige u. ausschließlich in dt. Sprache, in der sich R. eine Art Heimat im Exil als Heimat am Rand aufbaut gemäß dem Vers aus dem Gedicht Exil: »Von einem friedlichen Leben / blieb uns keine Erinnerung.« Den Gang in die Öffentlichkeit, v. a. den direkten Kontakt zum literar. Leben in Österreich oder Deutschland scheute sie lange u. wählte den Umweg über Israel, wo 1972 ihr erster Band unter dem schlichten Titel Gedichte (Tel-Aviv) erschien. Obwohl R. im Alltag das Englische verwendet, hält sie im Schreiben an ihrer Muttersprache fest, »der einzge Laut, der mir vertraut«, verstanden auch als Geschenk der ermordeten Mutter, deren »Wörterschatz« sie als Vermächtnis im Gedächtnis hält u. als Gedenken weitergibt: »Auf die Wund, / die ihre Mörder uns geschlagen / laß ich ihn tropfen.« Rückkehr ist für R., so das gleichnamige Gedicht, datiert 1962, auch nur vorstellbar, um die »Stätte meiner Kindheit« aufzusuchen, aber »einzig / um den Klang meiner Muttersprache wiederzuhören«. Ihr erster Band enthält demnach bereits viele für ihr Sprechen repräsentative Gedichte, die sich mit der Exilsituation, der Shoah-Erfahrung als kollektivem wie familiärem Trauma befassen, aber auch die Notwendigkeit anspre-
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chen, das Unsagbare, d.h. Auschwitz, zu thematisieren, um über das Gedenken zgl. die Fäden zu den jüd. Ursprüngen wieder aufzugreifen u. ineinander zu knüpfen. 1978 erschien der Band Die wir übrig sind (Darmst.), der die Erinnerungs- u. Gedächtnisthematik in einprägsamen Gedichten wie Schädelstätte, Der Dichter im Exil oder Biographie – »Geboren / in der Kriegszeit / in Wien, / gestorben / in der Kriegszeit / am Marsch in Richung Minsk, / erschlagen von einem SSMann / aus Wien, / weil sie nicht rascher laufen konnte. / Sie hinterließ / keinen Namen / kein Gebein / nichts / als einen / kleinen Schrei.« – zuspitzte. Seit den frühen 1980er Jahren erscheinen vermehrt Texte R.s. in dt. u. österr. Zeitschriften wie »Exil«, »Literatur und Kritik«, »Lynkeus«, »Mnemosyne« etc., die immerhin eine literar. Rückkehr in den Kindheitsraum, in den 1990er Jahren auch eine physische, ankündigten, die schließlich in ihrer Teilnahme am Theodor KramerSymposium 1990 konkreten Niederschlag fand. Der Band Scherben sind endlicher Hort (Hg. u. mit einem Vorw. u. Nachw. vers. v. PrimusHeinz Kucher u. Armin A. Wallas. Wien 1991) versammelt die meisten der bereits vorliegenden Gedichte u. erstmals Prosatexte wie den Zyklus Als meine Mutter ... oder die autobiogr. Skizze Ungewissen Ursprungs u. löste eine späte, aber doch fassbare Rezeption u. literaturgeschichtl. Wahrnehmung aus, die zu mehreren Separateditionen u. zu Übersetzungen führte. R. erhielt 1996 das österr. Ehrenkreuz für Wissenschaft u. Kunst I. Klasse, 2001 den erstmals verliehenen Theodor Kramer Preis für Schreiben im Widerstand und im Exil. Ihr lyr. Gesamtwerk, d.h. die bis dahin veröffentlichten Gedichte, vermehrt um 55 unpublizierte, erschien 2003 u. d. T. An den Quell (Hg. u. mit einem Vor- u. Nachw. vers. v. Siglinde Bolbecher u. Beatrix Müller-Kampel. Wien). Weitere Werke: Ungewissen Ursprungs. Gesammelte Prosa. Hg. u. mit einem Nachw. vers. v. Siglinde Bolbecher. Wien 1997. – Meine wahre Heimat / My true Homeland (zus. mit Tamar Radzyner). Ins Engl. übers. v. Herbert Kuhner. Mit einem Vorw. v. Armin A. Wallas. Klagenf. 1999. – Shards. Poems of S. R. Translated by Donald
Roth McLaughlin & Stephen Richardson. Edinburgh 2003. Literatur: Konstantin Kaiser: Das unsichtbare Kind. Österr. Dichterin im engl. Exil. In: Die Presse, 12./13.1.1991. – Konstanze Fliedl: Dauernd im Exil. Zu den Texten v. S. R. In: Script 2 (1992), S. 46 f. – Siglinde Bolbecher: Laudatio auf S. R. In: Mit der Ziehharmonika. Ztschr. für Lit. des Exils u. des Widerstandes 13 (1996), Nr. 4, S. 7–9. – Michaela Hasenauer: Gemischtes Leben. Über S. R.s Erinnerungsprosa. In: LuK 32 (1997), H. 319/320, S. 84–86. – Primus-Heinz Kucher: S. R. In: MLdjL. – Slavija Kabic´ : ›Einzig um den Klang meiner Muttersprache wiederzuhören‹. Zur Exil- u. ShoahLyrik v. S. R. In: Zagreber Germanistische Beiträge 14 (2005), S. 51–72. – Beatrix Müller-Kampel: Gespräch mit der Wiener Exildichterin S. R. In: Exil 23 (2005), S. 162–178. – Edith Petschnigg: ›Die Bibel zu lesen ist reines Vergnügen‹. Biblische Bezüge in der Lyrik v. S. R. Theolog. Diplomarbeit (typoskr.) Graz 2010. Primus-Heinz Kucher
Roth, Rot, Dieter, Diter, Karl-Dieter, Diterrot, eigentl.: Karl Dietrich R., * 21.4.1930 Hannover, † 5.6.1998 Basel. – Literat, Essayist, bildender Künstler, Verleger, Herausgeber, Übersetzer. R. verbrachte seine Kindheit in Hannover. Da sein Vater Schweizer war, konnte er 1943 nach Zürich übersiedeln. 1947–1951 absolvierte er in Bern eine Grafikerlehre. 1953 gründete er zusammen mit Eugen Gomringer u. Marcel Wyss die Zeitschrift »spirale« (Bern 1953 ff.). Über Kopenhagen kam R. nach Reykjavík, wo er zusammen mit Einar Bragi den Verlag »forlag ed« gründete. In den 1960er Jahren unterrichtete R. an Kunstschulen in den USA, in London u. Düsseldorf u. erfand den »Nichtunterricht als Unterricht«. Neben dem bildnerischen Werk (kinet. Bilder u. Objekte, Bilder aus Essbarem, Stempelbilder, Filme, Grafik u. anderes) entstanden Bücher. 1968–1981 war er Teilhaber der »edition hansjörg mayer« (Stgt., London, Reykjavík), wo seit 1969 R.s gesammelte werke erschienen. 1972 startete die Wanderausstellung Graphik und Bücher. 1975 gründete R. die »Zeitschrift für Alles« u. den »Diether Roth’s Familienverlag«, der unter verschiedenen Namen (zuletzt »Roth’s Verlag«) bestand. R.
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lebte hauptsächlich in Basel u. in Mosfellsveit/Island. R. selbst betrachtete die Bücher als den Hauptteil seines Werks. Es besteht aus Gedichten, Prosa, Essays, Theaterstücken, Tagebüchern u. Übersetzungen. R. hat mit fast allen literar. Formen experimentiert, sie vermischt, bereichert u. oft auch ironisch-kritisch auf ihre Aussagefähigkeit hin untersucht. Fern vom literar. Betrieb, in dem er lange Zeit als Autor gar nicht wahrgenommen wurde, hat R. seine Bücher produziert, die ihn als erfindungsreichen Kritiker kultureller (auch literar.) Regeln u. Wertvorstellungen ausweisen. R. setzte sich anfangs mit der konkreten Poesie auseinander, trieb in ideogramme (Darmst. 1959) u. bok 1956–1959 (Reykjavík 1959) die Reduktion auf das Wort weiter u. kam zu einer Reflexion der Bedeutung minimaler Zeichen: Buchstaben, Satzzeichen, der leeren Seite. Er erklärte in der damals von ihm gebrauchten Lautschrift: »das spil der zaichen selber wird interesant ueber di ideen di si mittailen hinaus« (in: auszüge aus briefen 1957–59. In: gesammelte werke. Bd. 2, London 1971). In dieser Zeit war für R., so Richard Hamilton, das Buch »eine plastische Gesamtheit, die von hinten und von vorne betreten werden kann« (Die Bücher von Diter Rot. In: SONDERN 2, Jahrbuch für Text/Bild. Hg. Dieter Schwarz. Bln. 1977). So sind auch die Bücher zu sehen, deren Material R. direkt aus den massenhaft produzierten Druck-Erzeugnissen nahm, indem er Blöcke aus Tageszeitungen oder Comics schnitt u. band. Es sind zum Buch gewordene Ready-mades. R. stellte immer wieder die Frage nach der Möglichkeit des Urteilens, indem er in seinem eigenen Werk das Provisorische, das nicht klar Begrenzte, das Veränderliche u. Unbestimmte in den Vordergrund rückte. Ein Beispiel dafür ist das Buch Scheisse. Neue Gedichte (Providence 1966), in dem er das fehlerhafte Satzbild beibehielt u. zu dem zwischen 1968 u. 1975 acht Varianten publiziert wurden (Scheisse-Bücher). Die Skepsis gegenüber der Sprache u. der Möglichkeit des abgeschlossenen, endgültigen Werkes führte bei R. zu Buchreihen, welche die Veränderbarkeit literar. Entwürfe zum Thema haben
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(Tränensee. Reykjavík 1973. Tränenmeere 1–5. Roth, Eugen, * 24.1.1895 München, Stgt./London/Zug 1973–79). Zu einer eige- † 28.4.1976 München; Grabstätte: ebd., nen Stilform entwickelte R. die Notationen Nymphenburger Friedhof. – Lyriker, Erseiner alltägl. Erlebnisse u. Gedanken. Es zähler, Essayist. entstand z. B. das Tagebuch (aus dem Jahre 1982) (Venedig 1982), in dem er die Monate vor Als Kriegsfreiwilliger wurde R., Sohn des seiner Ausstellung auf der Biennale in Vene- bekannten Münchner Journalisten Hermann Roth, im Okt. 1914 bei Ypern schwer verdig minutiös u. mit aller Klarheit darlegt. Das seit Anfang der 1970er Jahre zusam- wundet (»mein zweiter Geburtstag«). Er stumen mit Philipp Buse in Hamburg angelegte dierte in München Germanistik u. KunstgePrivatmuseum (Dieter Roth Museum) mit schichte u. promovierte bei Fritz Strich über angegliedertem Werkarchiv wird von der den Göttinger Hainbund. Klabund, mit dem 1991 gegründeten Dieter Roth Foundation er befreundet war, nannte ihn »eine Hoffnung auf ein kommendes Gestirn«. Nach betreut. Reisen durch Norwegen, Griechenland u. afAusgaben: ges. werke, 1. teil. 20 Bde., Stgt./ London/Reykjavík 1969–76. – Ges. Werke. 2. Tl. rikan. Länder versuchte sich R. als SchriftBd. 36–40, ebd. 1977 ff.; Bd. 35, 1991. – Ges. In- steller. Der religiös geprägte expressionistiterviews. Hg. Barbara Wien. Mit einem Nachw. v. B. sche Lyrikband Die Dinge, die unendlich uns Wien u. einem Text v. Tomas Schmit. London/Bln. umkreisen war schon 1918 in Kurt Wolffs 2002. – Da drinnen vor dem Auge. Lyrik u. Prosa. Reihe Der jüngste Tag (Lpz.) erschienen. Einige Hg. Jan Voss u. a. Ffm. 2005. – D. R. Ur-Tränen- vom heimatl. Landschaftserlebnis angeregte, meer. Hg. Flurina u. Gianni Paravicini-Tönz. Lu- autobiogr. Erzählungen fanden weniger Anzern 2010. – Briefe: Dieter and Dorothy. D. R. – erkennung. Dorothy Iannone. Their Correspondence in Words Ohne Zeitungserfahrung trat R. 1927 als and Works 1967–1998. Ed. by D. Iannone. Zürich Lokalchef der »Münchner Neuesten Nach2001. richten« die erste feste Anstellung an. Nach Literatur: Dieter Schwarz: Auf der Bogen Bahn. Studien zum literar. Werk v. D. R. Diss. Zü- der Machtübernahme durch die Nationalsorich 1981 (mit Bibliogr.). – D. R. 3 vorläufige Listen. zialisten wurde er im April 1933 »wegen Basel 1987 (Bibliogr.). – D. R. Gedrucktes Ge- Unzuverlässigkeit« fristlos entlassen; sein presstes Gebundenes. Druckgrafik u. Bücher »dritter Geburtstag«, wie er befand, denn 1949–1979. Ausstellungskat. Köln 1998. – D. R. wenig später kamen die großen PublikumsDie Haut der Welt. Ausstellungskat. Stgt. 2000. – erfolge. Zuerst druckte der »Simplizissimus« Dirk Dobke: Frühe Objekte u. Materialbilder einige der heiter-besinnl. Verse, die alle mit (1960–1975). Hg. v. der Dieter Roth Foundation. 2 den Worten »Ein Mensch« beginnen u. in Bde., Köln 2002. – D. R. Originale. Bearb. v. D. ihrer unpolitisch zeitlosen Tendenz damals Dobke. Hbg./London 2002. – D. R. Druckgraphik. Catalogue Raisonné 1947–1998. Bearb. v. D. Dob- fast schon polit. Gedichte waren. Kurz darauf ke. Ebd. 2003. – D. R. – Die Bibl. Hg. Johannes erschien die Sammlung Ein Mensch (Weimar Gachnang in Zus. mit Peter Erismann u. Janine 1935. Zuletzt Mchn./Wien 2006). Diese 93 Perret. Neuchâtel/Bern 2003. – Theodora Vischer u. gereimten Lebensweisheiten mit manchmal Bernadette Walter (Hg.): R. Zeit. Eine D. R. Retro- nur vier, höchstens 28 Zeilen erlebten bis spektive. Baden/Schweiz 2003. – D. R. Bücher + heute immer neue Auflagen mit insg. mehr Editionen. Catalogue Raisonné. Bearb. v. D. Dobke. als einer Million Exemplaren. Die leicht einHbg./London 2004. – Peter Prange: D. R. In: NDB. gängigen humoristischen Strophen bekamen – D. R. & Dorothy Iannone. Hg. vom Sprengel einen sinnbildhaften Buchumschlag (von R. Museum Hannover u. der Stiftung Ahlers Pro Arte. Bln. 2005. – D. Dobke: D. R. in Print. Artists’ erdacht, von Karl Arnold ausgeführt), auf Books/Künstlerbücher. New York 2006. – Benja- dem ein Leierkastenmann auf einen stilisiermin Meyer-Krahmer: D. R. Selbstbeobachtung als ten Menschen, eine Silhouette mit Herz, deutet. Als Fortsetzung dieser leicht lesbaren, künstler. Schaffensprozess. Mchn. 2007. Barbara Wien / Red. tiefsinnigen Charakterlehre in schwerelos witzigen, doch oft skept. Sätzen von sprachl. Treffsicherheit folgten Mensch und Unmensch
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(Mchn. 1948. Mchn./Wien 1997) u. schließ- Lpz. 2003 (E.). – Das große E.-R.-Jubiläumsbuch. lich Der letzte Mensch (Mchn. 1964. Mchn./ Prosa, heitere Verse u. Gedichte. Mchn./Wien 2004. Wien 1998) mit 170 neuen Bewältigungsver- – Das Beste v. E. R. Mchn./Wien 2008. Literatur: Karl-Heinz Planitz: Humor in der suchen von Alltagssituationen, mit Einsichten, Wahrheiten, Weisheiten u. Erfahrungen modernen dt. Lit. Der Dichter E. R. In: GQ 29 (1956), H. 4, S. 213–219. – Elfriede Horn: Ernst im in zuweilen mürrischem Tonfall. heiteren Wort. E. R. In: Dies.: Geehrt – geliebt – R. preist in den »Mensch«-Gedichten das vergessen? Begegnungen mit 38 Dichtern. MelPrivate u. Unheroische, ist pessimistisch ko- sungen 1985, S. 137–142. – Bert Nagel: Lachen, um misch, wenn er immer neue Beispiele dafür nicht weinen zu müssen. Humor in dt. Dichtung. gibt, wie im Alltag Spielregeln oder Erwar- In: Universitas 44 (1989), S. 576–585. – Melanie tungen verletzt werden. Nicht das Starke Schütte: Facetten des ›Menschen‹. Studien zur siegt, u. die Liebe ist immer in der Defensive. Biogr. u. zum Erzählwerk E. R.s. Münster u. a. Die »Mensch«-Gedichte sind gleichsam eine 1993. – Joachim Kaiser: ›Kurzum – der Mensch hat Popularisierung der expressionistischen »O- nichts zu lachen‹. E. R. In: Ders.: Was mir wichtig ist. Stgt. 1996, S. 189–201. – Gunna Wendt: E. R. Mensch«-Attitüde; »ein Mensch« findet sich In: NDB. Arnd Rühle / Red. auf dem Rückzug von der Menschheitsumarmung in private Tageswirklichkeit, vom Feierlichen ins Unpathetische. R.s unerbittl. Roth, Friederike, * 6.4.1948 Sindelfingen. Alltagsphilosophie hat ihre Wurzeln im Werk – Dramatikerin, Erzählerin, Lyrikerin, Schopenhauers. Unüberhörbar sind auch Af- Übersetzerin. finitäten zu Wilhelm Busch, was R.s Dichtung den Vorwurf des Epigonalen einbrachte. R. studierte an der Universität Stuttgart LinDie therapeutische Absicht seiner Verse guistik u. Philosophie u. wurde dort 27-jähkommt auch in den Lyrikbänden Der Wun- rig mit einer Untersuchung über die Ästhetik derdoktor (Weimar 1939. Zuletzt Mchn./Wien Georg Simmels promoviert. 1976–1979 war 2000) u. Rezepte vom Wunderdoktor (Mchn. sie Dozentin für Anthropologie u. Soziologie 1959. Zuletzt Mchn./Wien 2008) zum Aus- an der Fachhochschule Esslingen. Durch ihre druck. Eine »poetische Lizenz für Natur- Arbeit als Hörspieldramaturgin beim SDR kundliches« stellte ihm Konrad Lorenz im bzw. SWR (seit 1979) gewann sie Erfahrung Vorwort von Eugen Roths Tierleben für jung und im Genre des Hörspiels u. Einblick ins draalt (Mchn. 1948) aus. Hier macht R. die Zoo- mat. Metier überhaupt. R.s Verbundenheit mit dem schwäb. Idiom logie liebevoll u. mit Sachverstand zum litefand ihren Niederschlag in Mundarthörspierar. Vergnügen; die »tierische« Weltgelen (z.B. Mr sen net heimlich uf dr Welt. SDR schichte ist »in höherem Sinne naturwahr« 1978) in der u. a. durch Franz Xaver Kroetz (Konrad Lorenz). aktualisierten Tradition krit. Volksstücke. In R. betrachtete als seine größte Leistung die Experimenten, die Spielarten konkreter Poeempfindsamen Novellen, von denen die sie nahestehen, versucht sie, die sinnlich afschönste, in melancholisch-skept. Grundhalfizierenden Reize der Sprache zur Geltung zu tung u. mit lebensfreundl. Obertönen, die bringen. Hier sind »[...] nur noch die sätze zarte poetische Liebesgeschichte Abenteuer in entscheidend, und nicht mehr die sätze über, Banz (ebd. 1943. 1985) ist. weil dann die sätze begonnen haben, wirkWeitere Werke: Ausgabe: Sämtl. Werke. 5 Bde., lichkeit zu sein [...]« (in: minimal-erzählungen. Mchn. 1977. – Einzeltitel: Erde, der Versöhnung Stgt. 1970). Der Sprache als Gegenstand gilt Stern. Mchn. 1920 (L.). – Die Frau in der Weltgesch. auch die frühe Übersetzung von Charles S. 3 Mchn. 1936. Neuausg. 1990. 1994 (L.). – Das große Peirce’ graphem und zeichen (Stgt. 1971). Los. Mchn. 1938. Neudr. u. d. T. Vom Lotto zum Über den Materialreiz der Sprache hinaus Toto. Mchn. 1953 (R.). – Lebenslauf in Anekdoten. Mchn. 1962. 1986. – Ins Schwarze. Limericks u. wird die Beziehung zwischen gegebenen Schüttelreime. Mchn. 1968. 1986. – Die Fremde u. Sprachmustern, offenen Sprachmöglichkeiandere E.en. Hameln 1995. – Die schönsten E.en. ten u. empir. Wirklichkeitserfahrungen reMchn./Wien 1995. – Der Weg übers Gebirg. Ffm./ flektiert. Die Divergenz der drei Ebenen ex-
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emplifiziert R. bevorzugt in Dramen am ratene »Welt der Krüppelgärtchen« zeigt. An Kampf der Geschlechter. Typisierung u. Na- ihre ironisch-leise Lyrik schließt R. mit dem menlosigkeit der Figuren (z.B. in: Klavier- als Novelle auftretenden Langgedicht Abendspiele. Ffm. 1980. Das Ganze ein Stück. Ffm. landnovelle (Bln. 2010) an, das angesichts jegl. 1986) machen die gesellschaftl. Dimension Illusionslosigkeit einen entschiedenen Neueiner nur vordergründig individuellen Pro- beginn thematisiert, dem weniger ein Zauber blemlage sinnfällig. Die strukturelle Nähe zu als das Bewusstsein innewohnt, demzufolge den lyr. Dramen der Jahrhundertwende hat alles schon einmal, nur anders anfing. sich als Inszenierungs- u. damit RezeptionsWeitere Werke: Tollkirschenhochzeit. hemmnis geltend gemacht. Indem das Darmst./Neuwied 1978 (L.). – Ordnungsträume. Sprachereignis als solches den Aspekt der Ebd. 1979 (E.). – Schieres Glück. Ebd. 1981 (L.). – theatral. Visualisierung dominiert, entsteht Das Buch des Lebens. Ein Plagiat. Erste Folge: Liebe u. Wald. Ebd. 1983. – Krötenbrunnen. Ein Stück. die Tendenz zum Lesedrama. Ohne einer feministischen Doktrin ver- Ffm. 1984. – Die einzige Gesch. Theaterstück. Ebd. 1985. – Erben u. Sterben. Ein Stück [Das Buch des pflichtet zu sein (»Bleib mir mit FrauenfraLebens, 2. Folge]. Ffm. 1992. – Wiese u. Macht. Ein gen bloß vom Leib«. In: Ritt auf die Wartburg. Gedicht [Das Buch des Lebens, 3. Folge]. Ffm. 1993. Ffm. 1981, S. 62), stellt R. Sprachverhalten u. Literatur: Edith Wack: Kein Grund zur Freude. soziale Konventionen als von Frauen als Über die Rezeption v. F. R.s ›Ritt auf die Wartburg‹. feindselig erfahren dar u. rückt dies ins Zen- In: TheaterZeitSchrift, H. 9 (1984), S. 40–56. – trum ihrer literar. Arbeit. Eine Idealvorstel- Harald Hartung: Mondzauber u. Hexentradition. lung verwirklichter Emanzipation bietet R. In: Frankfurter Anth. Bd. 9. Hg. Marcel Reich-Ranicht an. Stattdessen propagiert sie die nicki. Ffm. 1985, S. 262–264. – Ludwig Harig: schöpferische Konfrontation von Idealen, Neue Empfindlichkeit. In: ebd., S. 267 f. – Rita Utopien u. Imaginationen mit der Wirklich- Mielke: ›Sprachstücke‹. [...]. In: Schreiben 9, H. 29/ keit. Als Resonanz auf dieses Theaterstück 30 (1986), S. 60–67. – Hajo Kurzenberger: F. R.: erhielt R. nach einem Villa-Massimo-Stipen- ›Ritt auf die Wartburg‹. Die ›ganz andere Reise‹: Eine ›Versuchskonstellation‹. In: Dt. Gegenwartsdium (1981) den Literaturpreis der Stadt dramatik. Hg. Lothar Pikulik, H. Kurzenberger u. Stuttgart (1982), den Ingeborg-Bachmann- Georg Guntermann. Bd. 1: Zu Theaterstücken v. Preis u. den Gerhart-Hauptmann-Preis (beide Thomas Brasch, Heiner Müller, F. R., Franz Xaver 1983). Die Vorstellung des Lebens als Plagiat, Kroetz, Heinar Kipphardt, Thomas Bernhard. Mit der sie eine Trilogie (Das Buch des Lebens. einer Auswahlbibliogr. v. Christiane Helios. Gött. 1983–93) widmet, weicht einer resignativen 1987, S. 70–98. – Lisa Hottong: Die Sprache ist ein Grundhaltung, welche die »Sehnsucht nach Labyrinth v. Wegen. Studien zur Dramen- u. Leuchtendem« auf einen verlorenen Posten Theaterästhetik v. F. R. Tüb./Basel 1994. – Rosasetzt – »im Zentrum des Leuchtenden / war linde Girtler: Feministische Gesellschaftskritik in immer natürlich die schwarze / die sternlose F. R.s Dramen. Columbus, Ohio 1995. – Annabella Beyer: Zur Dramenästhetik F. R.s. Kiel 1998. – Nacht« (Wiese und Macht). Verena Auffermann: F. R. In: LGL. – Ingeborg Seit den 1990er Jahren hat R. neben einigen Gleichauf: Was für ein Schauspiel! DeutschspraHörspielen – darunter auch Bearbeitungen chige Dramatikerinnen des 20. Jh. u. der Gegennach Tankred Dorst / Ursula Ehler, Gert wart. Bln. 2003. – Olaf Kutzmutz: F. R. In: KLG. Jonke, Philip Roth, Javier Tomeo u. Miguel de Cornelia Schödlbauer / Günter Baumann Unamuno – nur wenig veröffentlicht; mit der Zusammenstellung u. Herausgabe von MöriRoth, Gerhard, * 24.6.1942 Graz. – Erkes Wispeliaden (Bln. 1994) besann sie sich auf zähler, Dramatiker, Essayist. ihre regionalen Wurzeln. Kritische Aufmerksamkeit erhielt sie für die deutschspra- Der Grazer Arztsohn studierte in seiner Heichige Dialogfassung für die Bonner Insze- matstadt Medizin u. Mathematik. Über zehn nierung von Beethovens Fidelio (2005). Doch Jahre arbeitete er dann als Programmierer u. erst mit dem »Lebenstanz« Die Eifersucht der Organisationsleiter im Rechenzentrum Graz. Pharaonen (Bln. 2009) kehrte die Autorin auf Wie Wolfgang Bauer, Handke u. Eisendle die Bühne zurück, die eine aus dem Lot ge- ging R. aus dem Kreis der Autoren des Forum
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Stadtpark Graz u. der Zeitschrift »manuskripte« hervor. Seit 1976 lebt er als freier Schriftsteller in Wien u. dem steir. Dorf Obergreith. Für seinen Roman Landläufiger Tod erhielt er 1983 den Alfred-Döblin-Preis. Die Tätigkeit am Computer, bei der ihm das eklatante Missverhältnis von Anspruch u. tatsächl. Funktion wissenschaftl. Forschung klar wurde, sowie der urspr. Wunsch, als Arzt zu arbeiten, hatten auf die zentralen Themen von R.s literar. Schaffen großen Einfluss. Sein erster Roman die autobiographie des albert einstein (Ffm. 1972) spielt an einem einzigen Tag u. umfasst dennoch das ganze Leben eines Mannes, der im Wahn lebt, der Physiker Einstein zu sein. Seine »Krankheit« resultiert aus seinen Bemühungen, »die Wirklichkeit zu erfahren«. Sämtliche Wahrnehmungen fließen durch ihn wie elektr. Strom durch einen Draht, sie erregen ihn so, dass er sie nicht mehr ausreichend objektivieren kann. Noch deutlicher wird solche Zerstörung schützender Abwehrmechanismen in der Erzählung Künstel des Bandes Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs (Ffm. 1972): »Die Welt quoll durch seine Pupillen und prallte gegen das Gehirn.« R. benutzt Techniken des Kriminalromans u. erzählt entweder mit dem Gestus von Stummfilmgrotesken oder im Tonfall wissenschaftl. Abhandlungen. Mit mikroskopischem Blick demonstriert er die Fragwürdigkeit aller Versuche, die bedrängende Flut von Eindrücken u. Informationen in ein ordnendes System einzubauen. Je mehr etwa der »Flaneur« Kalb im Roman Der Wille zur Krankheit (Ffm. 1973) solche Anstrengungen unternimmt, umso unbegreiflicher werden sie ihm. Ihre Erlebnisse u. Eindrücke zerfallen den R.schen Romanhelden, vorzugsweise Ärzten u. Lehrern, in irritierende Einzelheiten u. bedrohen die vor sich selbst u. ihrer unmittelbaren Lebenswirklichkeit Fliehenden, Reisenden, Herumirrenden oder einen Lebenssinn Suchenden. Am Ende steht die Einsicht in die Sinnlosigkeit oder Vergeblichkeit, im Roman Winterreise (Ffm. 1978) z.B. der Vorsatz des Dorfschullehrers Nagl, »sich dem Leben anzuvertrauen wie dem Tod«.
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Auch die Protagonisten der R.schen Stücke sind Grenzwanderer zwischen Normalität u. Wahnsinn. Sehnsucht (Urauff. Graz u. Basel 1977) entstand parallel zum Roman Ein neuer Morgen (Ffm. 1976); beide handeln von der Sehnsucht, zu dem werden zu können, der man eigentlich zu sein glaubt. In Erinnerungen an die Menschheit (Graz 1985), einer grandguignolhaften, bilderreichen Szenenfolge, geht es R. um »Abrisse einer inneren Geschichte der Menschheit«: »Das Stück setzt sich nach und nach im Kopf des Zuschauers zusammen. Im Stück herrscht eine ›innere Ordnung‹, d.h. es ist ›sinnvoll‹.« Eine solche »innere Ordnung« bestimmt auch die Logik des Dramas Franz Lindner und er selber (Ffm. 1987), in dem R. den erinnernden Blick eines »Irren« das unwirkl. Leben eines Menschen durch das »Fernrohr seiner Isoliertheit« Revue passieren lässt. Der »Wille zur Krankheit« hat Lindner sehend gemacht, sein Krankheitsblick reißt die Zeit u. die Menschen aus ihrer genormten Bahn u. verweist sie in Fantasieräume u. Alptraumzimmer. Franz Lindner heißt auch der stumme 20jährige Sohn eines Bienenzüchters im Roman Landläufiger Tod (1984), dem zweiten Band einer Folge von fünf Romanen (beginnend 1980 mit Der stille Ozean; 1986 erschien Am Abgrund, 1988 Der Untersuchungsrichter. Die Geschichte eines Entwurfs u. 1991 Die Geschichte der Dunkelheit. Ein Bericht) u. Kernstück einer umfassenden Bestandsaufnahme vom Leben in der österr. Provinz. R. gab dem Romanzyklus den Sammeltitel Die Archive des Schweigens (alle Bände Ffm.) u. ordnete ihm auch das Fotobuch Im tiefen Österreich (Ffm. 1990) u. die Essaysammlung Eine Reise in das Innere von Wien (Ffm. 1991) zu. Lindner empfindet u. erlebt Menschen u. ihre Geschichten wie »aus der Luft gegriffen«. Im ersten Buch von Landläufiger Tod, »Dunkle Erinnerung«, rekapituliert Lindner in der Anstalt Feldhof die Stationen seines Lebens: Begegnungen mit dem ihn immer wieder magisch anziehenden Zirkus, mit dem unwissenden Mörder Lüscher u. mit dem an unüberwindl. Einsamkeit leidenden Landarzt Dr. Ascher aus Der stille Ozean. In der Anstalt entwirft sich Lindner die Welt neu, es schält sich ein »Mikrokosmos« heraus, ein Sammelsurium viel-
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fältigster Geschichten, Lebensläufe u. Traumbilder, in denen sich die Chronik der inneren Ereignisse seines Heimatdorfes manifestiert u. die mit der Zeit die Unterschiede zwischen Menschengeschichte u. Naturgeschichte verwischen. Einem »Aufbruch ins Ungewisse«, der das Leben zu entgrenzen u. die Existenz kosm. Verwandlung anheim fallen zu lassen scheint, folgen 66 ungewöhnl. Märchen u. ein Tagebuch Lindners, geschrieben nach seiner Flucht aus der Anstalt. Am Ende landet er wieder beim Zirkus, u. Bienen, die ihn schützen sollen, verhelfen ihm unerwartet zur Fähigkeit des Sprechens, seinem »Nein« zur Welt der stumpfsinnigen Wirklichkeitsmenschen. Inzwischen hat R. als literar. Komplement zu dem Unternehmen Die Archive des Schweigens einen weiteren siebenteiligen Zyklus, Orkus, abgeschlossen, der wiederum faszinierende Reisen in Grenz- u. Krisengebiete von Wahn u. Wirklichkeit enthält: Erkundungen, Abenteuer u. kuriose Schelmenstücke, teils raffiniert angelegte Thriller, teils Reiseromane mit polit. u. myst. Exkursen, die uns nach Bosnien u. Serbien, in das »Herz der Finsternis« des Balkans, nach Griechenland in die Klöster des Berges Athos, in das moderne Ägypten u. das myth. Land der Pharaonen oder nach Japan gelangen lassen; Reisen, die in Wien ihren Anfang nehmen u. auch oft wieder ins Innere dieser Stadt zurück führen. Orkus besteht aus folgenden Büchern: Der See (1995), Der Plan (1998), Der Berg (2000), Der Strom (2002), Das Labyrinth (2005), Das Alphabet der Zeit (2007), Die Stadt (2009) u. Orkus. Reise zu den Toten (2011, alle Ffm.), Bücher über Forscher, Bibliothekare, Priester, Journalisten, über Könige, Geisteskranke u. Künstler u. nicht zuletzt über den Autor selbst. Das Kern- u. Hauptstück dieses Zyklus ist die grandios erzählte Autobiografie seiner Kindheit u. Jugend, Das Alphabet der Zeit. Deren Motto lautet: »Die Erinnerung ist eine Fata Morgana in der Wüste des Vergessens.« R. erzählt in exemplarischen Geschichten von den Bedrängnissen durch Elternhaus, Schule u. Religion, von den Fluchten in die Wunderwelt der Märchen, des Kinos u. der Literatur, nicht zuletzt auch vom Glück, Menschen zu begegnen, die das eigene Leben
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entscheidend verändern u. die Ausbildung unserer Überzeugungen beeinflussen. Kurz: ein Bildungsroman, wie er anschaulicher, aufwühlender u. verstörender nur wenigen Autoren der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur gelungen ist. Während R. in Das Alphabet der Zeit in die Dunkelzonen des Verschweigens, der Verdrängungen u. schuldbeladenen Verstrickungen in seinem Elternhaus u. seiner engeren Umgebung vorzudringen sucht, begibt er sich in den Betrachtungen, Abhandlungen u. Porträts des Bandes Die Stadt ein weiteres Mal hinter die Kulissen der Museen u. Bibliotheken, in die der Öffentlichkeit nicht ohne weiteres zugängl. Archive u. Wunderkammern u. auf Friedhöfe – Orte, die von menschl. Größenwahn, Sammeleifer u. Kampf gegen die Vergänglichkeit Zeugnis ablegen. R. entdeckt Urkunden u. bestürzende Bilder, die oft ganz beiläufig die Unbarmherzigkeit geschichtl. Prozesse zeigen. »›Wir leben in einem riesigen Totenreich ... der Friedhof ist ein Mikrokosmos, ein Totenbuch, in dem wir lesen können, solange es noch eine Zeit gibt. Denken Sie an die Menschen, die vor uns gelebt haben ... sie sind da ... sie sprechen zu uns.‹« Weitere Werke: Lichtenberg. Urauff. Graz 1973. Wien/Mchn. 1975 (D.). – Der große Horizont. Ffm. 1974 (R.). – Dämmerung. Urauff. Graz 1978 (D.). – Menschen, Bilder, Marionetten. Prosa, Kurzromane, Stücke. Ffm. 1979. – Circus Saluti. Ffm. 1981 (E.). – Bruno Kreisky. Fotographien v. Konrad B. Müller. Texte v. G. R. u. Peter Turrini. Bln./Wien 1981. – Das Töten des Bussards. Graz 1982. (P.) – Die schönen Bilder beim Trabrennen. Ffm. 1982 (Ess.s, Reportagen, Kritiken, Entwürfe). – Dorfchronik zum ›Landläufigen Tod‹. Ffm. 1984 (P.). – Über Bilder. Österreichische Malerei nach 1945 aus der Sammlung der Zentralsparkasse. Wien 1990. – Das doppelköpfige Österreich. Essays, Polemiken, Interviews. Ffm. 1995. – Die PhotoNotizbücher. Hg. Robert Weichinger. Wien/New York 1995. – Im unsichtbaren Wien. Fotografien aus Wien v. 1986–2009. Hg. Daniela Bartens u. Martin Behr. Wien/Mchn. 2010. Literatur: Bibliografie: Simon Ryan: G. R. Eine Bibliogr. Werke u. Rezeption 1966–1994. Dunedin 1995. – Weitere Titel: Ulrich Greiner: G. R. In: Ders. Der Tod des Nachsommers. Mchn./Wien 1979, S. 155–172. – Uwe Wittstock (Hg.): Materialien zu ›Die Archive des Schweigens‹. Ffm. 1992. – Walter
Roth Grond: G. R.s ›Landläufiger Tod‹. Zur Genese eines Romans. In: manuskripte, H. 105 (1989), S. 83–91. – Heinz Ludwig Arnold (Hg.): G. R. (Text + Kritik. H. 128). Mchn. 1995. – Marianne Baltl u. Christian Ehetreiber (Hg.): G. R. Graz/Wien 1995. – Uwe Schütte: Auf der Spur des Vergessens. G. R. u. seine Archive des Schweigens. Wien 1997. – Ders.: G. R. In: LGL. – Daniela Bartens u. Gerhard Melzer (Hg.): G. R. Orkus. Im Schattenreich der Zeichen. Wien 2003. – S. Ryan (Hg.): Gespräche mit G. R. Das Frühwerk bis zum Landläufigen Tod. Dunedin 2009. – Friedrich Voit u. Simon Ryan: G. R. In: KLG. Klaus Völker
Roth, Joseph, * 2.9.1894 Brody/Galizien, † 27.5.1939 Paris; Grabstätte: ebd., Friedhof Thiais. – Romancier, Erzähler, Feuilletonist. R. wuchs am östlichsten Rand der HabsburgMonarchie, in Galizien, auf, nur wenige Kilometer von der russ. Grenze entfernt. Entgegen dem weit verbreiteten romantisierenden Klischee war diese Provinz (heute Ukraine u. Polen) die ärmste u. strukturschwächste des Reiches. Die Vielvölkerregion setzte sich v. a. aus Ukrainern, Polen u. Juden zusammen, in Brody selbst bildeten die jüd. Einwohner um 1900 zwei Drittel der Stadtbevölkerung. R. gehörte dem Umfeld eines religiös geprägten Judentums an: Sein Großvater mütterlicherseits, Jechiel Grübel, bei dem er nach der frühen psych. Erkrankung seines Vaters zusammen mit seiner Mutter lebte, war, wie diese selbst, streng religiös. R.s Vornamen Moses Joseph – nach seinem Großvater Moische Jossif – u. der von Moses abgeleitete Name Muniu, die er bis zur Studienzeit verwendete, dokumentieren die ostjüd. Lebenswelt. Neben dem Jiddischen, das im Alltag gesprochen wurde, lernte R. in der jüd. Gemeindeschule auch Hebräisch. Schon während der Gymnasialzeit in Brody (1905–1913) begann R. sich zusehends an der dt. Literatur u. Kultur zu orientieren u. führte dieses Interesse mit dem Studium der Germanistik zunächst in Lemberg (1913), dann mit dem Wechsel an die Wiener Universität (1914) weiter fort. Da die galiz. Juden im Reich vielfach diskriminiert wurden, verschleierte R. seine eigentl. Herkunft, indem er auch in offiziellen Papieren fortan das
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überwiegend deutsche »Schwaby Bezirk Brody« als Geburtsort angab. Gegen allen Nationalismus leitete er aus dem deutschen einen geradezu europ. Begriff von Kultur ab, der auf dem österr. Patriotismus der galiz. Juden aufsetzte. Die Vielvölker-Monarchie galt ihnen als Garant von ethnischer u. kultureller Toleranz u. damit der eigenen Existenz. Vor diesem Horizont ist auch R.s Wunsch, Soldat der kaiserl. Armee zu werden, zu verstehen. Während seines Kriegsdienstes 1916–1918 in Galizien veröffentlichte er erste Gedichte u. Feuilletons in Prager u. Wiener Tageszeitungen. Der Zusammenbruch der Monarchie bedeutete für R. wie für die galiz. Juden insg. eine schwerwiegende Katastrophe, da ihre Heimat an Polen u. damit auch die Politik kultureller Toleranz verloren ging. Rückblickend heißt es dazu in einem Brief kurz vor dem Exil: »Mein stärkstes Erlebnis war der Krieg und der Untergang meines Vaterlandes, des einzigen das ich je besessen habe: der österreichisch-ungarischen Monarchie. Auch heute noch bin ich durchaus patriotischer Österreicher und liebe den Rest meiner Heimat wie eine Reliquie.« Im Zeichen ihres Untergangs verwandelte sich die Habsburg-Monarchie im Werk R.s, insbes. in den Schriften der Exiljahre, zu einem Utopia kultureller u. religiöser Vielfalt. Im Dez. 1918 kehrte R. nach Wien zurück, wo er 1922 Friederike (Friedl) Reichler heiratete. Seit Frühjahr 1919 verfasste R. über 100 Beiträge für den linksliberalen »Neuen Tag«, arbeitete seit 1920 an der »Arbeiter-Zeitung« mit, die 1923 das Spinnennetz (Köln 1967) abdruckte, am »Berliner Börsenkurier«, am »Vorwärts« (Vorabdruck der Rebellion. Bln. 1924), seit 1923 am »Prager Tagblatt«. Die Thematik des Heimatverlusts kennzeichnet bereits die ersten journalistischen Arbeiten in Wien u. Berlin. 1923 schaffte R. den Sprung ins renommierte Feuilleton der »Frankfurter Zeitung«, die ein Jahr später einen Vorabdruck seines Romans Hotel Savoy (Bln. 1924) veröffentlichte. Darin greift R. das Thema der Heimatlosigkeit erneut auf, diesmal explizit auch mit der jüd. Realität vor Augen. Die Protagonisten in Hotel Savoy, aber auch in seinem anderen großen Heimkehrer-Roman Flucht ohne Ende (Mchn.
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[Bln.] 1927) sind sowohl von der eigenen religiösen u. kulturellen Tradition wie auch von der politischen, nämlich österr. Heimat entwurzelte Juden. Im Hotel Savoy gilt dies auf unterschiedl. Weise für eine ganze Reihe von Figuren: der Kriegsheimkehrer Gabriel Dan, der Devisenhändler Abel Glanz, der seine Existenz als »jüdisches Schicksal« versteht – »man läuft den ganzen Tag herum« –, der seinen verstorbenen Vater Jechiel Blumenfeld suchende Millionär Bloomfield, schließlich die wiederholt als Kulisse auftretenden emigrierenden Ostjuden, von denen der Erzähler schreibt: »Seit Tausenden Jahren wandert dieses Volk in engen Gassen.« Auch Franz Tunda in Flucht ohne Ende, »Sohn eines österreichischen Majors und einer polnischen Jüdin, in einer kleinen Stadt Galiziens [...] geboren«, trägt die Züge des jüd. Heimatlosen, des »Verschollenen«, der seine Identitäten u. Namen ebenso wie Berufe u. Aufenthaltsorte ständig wechselt. Das unstete Leben des Heimatlosen fand eine Entsprechung in R.s beruflich motivierten Reisen als Feuilletonkorrespondent der »Frankfurter Zeitung«, wo er es zu einem der bekanntesten u. bestbezahlten Journalisten im deutschsprachigen Raum gebracht hatte. 1925 kam er als Sonderberichterstatter nach Frankreich. Im Gegensatz zu Deutschland, wo die fortschrittlich-republikan. Kräfte mit der Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten eine schwere Niederlage erlitten hatten, avancierte Frankreich für R. zum Sinnbild für ein freies, von polit. Repressalien u. Anpassungszwängen unbelastetes Leben: »Man war nicht bestrebt, alles unverrückbar zu fixieren. Man wandelt sich jeden Augenblick, drüben, hinter dem Zaun. Wir nennen das immer ›Treulosigkeit‹, und Anpassung ist halber ›Verrat‹. Hinter dem Zaun gewann ich mich selbst wieder. Ich gewann die Freiheit, die Hände in den Hosentaschen, eine Garderobemarke an den Hut geheftet, einen zerbrochenen Regenschirm in der Hand, zwischen Damen und Herren, Straßensängern und Bettlern zu wandeln.« In dieser Zeit reiste R. u. a. auch nach Lyon, Vienne, Nimes, Marseille u. Nizza, jenes von ihm so genannte »mittägliche Frankreich«, das auch zum Gegenstand seines erst postum erschienenen
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Buches Die weißen Städte (1975/76, im Rahmen der Werkausgabe in 4 Bdn.) werden sollte. Darin tritt die »katholische Stadt« Avignon an jene symbolische Stelle, die R. bis dahin ausschließlich der Habsburg-Monarchie zuerkannt hatte, nämlich als ein Ort religiöser u. kultureller Pluralität, als Schauplatz einer völkerverbindenden, aber nicht vereinheitlichenden Lebensweise. »[S]o ist Avignon die Festung der katholischen Kirche, kosmopolitische, organische Verschmelzung aller Traditionen und Stile. Es ist Jerusalem und Rom, und es ist Altertum und Mittelalter.« Von hier aus entfaltet R. eine andere Konzeption von Assimilation, die eben keine Verlustgeschichte, sondern eine Geschichte der wechselseitigen Beeinflussung u. Bereicherung in Aussicht stellt; dem ästhetisch überformten Katholizismus kommt hier die Funktion eines universalen Vermittlers zu: »Wenn ich der Papst wäre, ich lebte in Avignon. Mich würde es freuen zu sehen, was dieser europäische Katholizismus zustande gebracht hat, welche großartige Rassenmischung, welch einen farbigen Wirrwarr der verschiedenen Lebenssäfte, und wie trotz dieser Vermengung kein langweiliges Einerlei entstanden ist. [...] Jeder versteht jeden, und die Gemeinschaft ist frei, sie zwängt niemanden in eine bestimmte Haltung. Der höchste Grad von Assimilation: gerade so fremd, wie einer ist, soll er bleiben, um heimisch zu werden.« Ein Jahr später, 1926, bereiste R. Italien u. Polen sowie Albanien u. die Sowjetunion. Letztere Station schlug sich in der Artikelfolge Reise in Rußland nieder, die wiederum Eingang fand in dem journalistischen Essay Juden auf Wanderschaft (Bln. 1927). Auch hier wird die Heimatlosigkeit zum entscheidenden Existenzial der Ostjuden erklärt: »Viele wandern aus Trieb und ohne recht zu wissen, warum. Sie folgen einem bestimmten Ruf der Fremde, oder dem bestimmten eines arrivierten Verwandten, der Lust die Welt zu sehen und der angeblichen Enge der Heimat zu entfliehen, dem Willen zu wirken und ihre Kräfte gelten zu lassen. Viele kehren zurück. Noch mehr bleiben unterwegs. Die Ostjuden haben nirgends eine Heimat, aber Gräber auf jedem Friedhof. Viele werden reich. Viele
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werden bedeutend. Viele werden schöpferisch in fremder Kultur. Viele verlieren sich und die Welt.« Was R. anstrebte, war nicht zuletzt eine angemessene »Berichterstattung« über die Ostjuden, eine »Darstellung mit Liebe [...] statt mit ›wissenschaftlicher Sachlichkeit‹«. Damit distanzierte er sich auch von Alfred Döblins Reise in Polen (1926), die R. schon Anfang 1926 in der »Frankfurter Zeitung« kritisch rezensiert hatte. Während Döblin die Ostjuden mit dem ethnografischen Blick des sich überlegen fühlenden Westeuropäers beschrieben hat, gibt sich R. als Anwalt der Ostjuden gegenüber den Westjuden. In den folgenden Jahren, die von der polit. Entwicklung, aber auch von privatem Unglück überschattet waren (Friedl Reichler erkrankte 1928 an Schizophrenie), entstanden die großen Zeitromane: zunächst der schon erwähnte Die Flucht ohne Ende, dessen Vorrede als Manifest der Neuen Sachlichkeit gilt, daraufhin Zipper und sein Vater (ebd. 1928), Rechts und Links (Bln. 1929), Der stumme Prophet (Köln 1966; aus dem Nachlass) u. Perlefter. Die Geschichte eines Bürgers (ebd. 1978). Mit den Romanen Hiob (Bln. 1930) u. Radetzkymarsch (ebd. 1932), die sich thematisch von der unmittelbaren Zeitgeschichte entfernen u. sich dem mythopoetischen Entwurf der untergegangenen Welt der habsburgischen Monarchie u. der galiz. Juden zuwenden, gelang ihm der literar. Durchbruch. Anfang 1933 ging R. nach Paris ins Exil. Die Enttäuschung über die Sozialdemokratie führte ihn ähnlich wie Kraus dazu, im austrofaschistischen Ständestaat das kleinere Übel u. in der Restauration der Monarchie eine Garantie des Fortbestands eines unabhängigen Österreich zu sehen (vgl. seine Beiträge zum »Christlichen Ständestaat« seit 1935 u. in der Artikelserie Schwarz-Gelbes Tagebuch 1939). Die Romane der 1930er Jahre transponieren die aktuelle, histor. u. biogr. Thematik, d.h. insbesondere die schwierige Geschichte der osteurop. Juden im Prozess der Modernisierung während des Zusammenbruchs ihres althergebrachten Lebensraums im ersten Drittel des 20. Jh., auf eine myth. Ebene u. erscheinen nur vordergründig geschichtsvergessen. Die Evokation eines versunkenen Universums trägt zwar deutli-
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che nostalg. Züge, verklärt die Vergangenheit jedoch nicht zu einer heilen, ambivalenzfreien Wirklichkeit. Reisen nach Wien, ein längerer Aufenthalt in Amsterdam u. Ostende unterbrachen R.s Pariser Exil, wo er in der Verzweiflung über die polit. Entwicklung u. private Schicksalsschläge immer mehr dem Alkohol verfiel. Die Sucht als verzweifelte Suchbewegung ist denn auch Motiv u. Movens jener gerade für ihre biogr. Indizes bekannten u. postum noch im Todesjahr erschienenen Legende vom heiligen Trinker (Amsterd. 1939). Anlässlich seines Begräbnisses konnten sich R.s Freunde nicht darauf einigen, ob er mit dem Kaddisch nach dem jüd. oder nach dem christl. Ritus zu beerdigen sei, da die Selbstcharakterisierung zu Lebzeiten höchst ambivalent u. widersprüchlich ausgefallen war. So hatte sich R. 1937 gegenüber Barthold Fles als »ein getaufter Jude« bezeichnet u. damit scheinbar einen Standpunkt revidiert, den er ein Jahr zuvor gegenüber Stefan Zweig geltend gemacht hatte: »Was ein armer kleiner Jude ist, brauchen Sie nicht ausgerechnet mir zu erzählen. Seit 1894 bin ich es und mit Stolz. Ein gläubiger Ostjude, aus Radziwillow.« Das Finden u. Erfinden von Identität, auch u. gerade der jüdischen, ist bei R. stets Teil eines poetolog. Programms. Indes produziert die literar. Konstruktion von Identität zwangsläufig Mehrdeutigkeiten u. Ambivalenzen, die auch vor R.s Leben selbst nicht haltmachen. Obwohl nach 1918 einer der angesehensten Feuilletonisten, setzte R.s Wiederentdeckung nach 1945 mit großer Verspätung ein: Hermann Kesten gab 1956 die erste unvollständige Werkausgabe heraus. Er zeichnet auch für das Klischee verantwortlich, das R. als Chronisten des Zerfalls der Habsburgermonarchie rezipierte u. einem organolog. Modell zufolge dem Autor auch Wachstum u. Reife zuschrieb, die seine Meisterwerke hervorgebracht hätten. Unter dem Einfluss der Cultural Studies wandte sich die Literaturwissenschaft der 1990er Jahre v. a. den diaspor. u. exiltheoret. Aspekten von R.s Schriften zu. Das zunehmende Interesse an der HabsburgMonarchie aus der Perspektive postkolonialer Theoriebildung führte in den letzten Jahren
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zu einer polit. Relektüre von R.s Werk, welche die machtpolit. Dimension u. die Verhandlung von (subalterner) Identitätsbildung in den Blick nimmt. Das Fragmentarische seiner frühen Werke schien R. selbst in einer Rezension mit dem Titel Die gesprengte Romanform (in: Literarische Welt, 12.12.1930. Auch in: Werke 4) zu rechtfertigen. Das »Bekenntnis zur gesprengten oder gebrochenen Form des Romans, will sagen, zu der stillschweigend anerkannten These, daß der überlieferte Roman mit der ›geschlossenen Handlung‹ unmöglich geworden sei«, dürfte auch für R.s Frühwerk Gültigkeit haben. Fragmente seien alle, fährt R. fort, »die Gestalten und ihre Darstellungen, die Zeit und ihre Zeitbilder. Auf die psychologische Konsequenz darf man sich kaum mehr verlassen, geradezu verkehrt manifestieren sich die alten Gesetze der menschlichen Seele.« Dieses antipsycholog. Konzept des fragmentarischen Romans entspringt nicht einem unbegründeten Innovationsbedürfnis, sondern versucht, der veränderten Realität auch formal gerecht zu werden. An die Stelle von Entwicklungen treten beim frühen R. Brüche, schlagartige Verwandlungen der Figuren. Die Auflösung der fest umschriebenen sozialen Identitäten mündet in eine Aufsplitterung des Subjekts in vielfältige, situationsangepasste Verhaltensweisen, die der »Überlebenskampf« diktiert. Diesen flexiblen Gestalten stehen die stat. Figuren gegenüber, die sich weigern, einmal übernommene Identitäten aufzugeben. Mit dem Trauma des verabschiedeten Offiziers Lohse, seiner misslungenen Rückkehr in eine zivile Existenz, mit dem damit verbundenen Machtverlust setzt sich R.s erster u. lange vergessener Roman Das Spinnennetz auseinander – eine luzide Analyse des um sich greifenden Faschismus. Zehn Jahre vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten erkannte R. die bevorstehende Gefahr für die Juden in Deutschland. In der Figur Lohses u. eines um Erich Ludendorff sich organisierenden rechten Geheimbundes skizziert R. die Pathografie eines neuen, ins wahnhafte gesteigerten Antisemitismus, wie er mit dem Auftauchen der Protokolle der Weisen von Zion
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Anfang der zwanziger Jahre aufkam u. den Nationalsozialismus ideologisch maßgebend speiste. Wie scharfsichtig R. dabei die tagespolit. Ereignisse beobachtete, zeigt sich daran, dass der im Roman beschriebene HitlerLudendorff-Putsch in München nur wenige Tage nach dem Erscheinen der letzten Folge auch tatsächlich eintraf. Das Spinnennetz legt allerdings nicht nur die antikommunistischen u. antisemitischen Umtriebe jener Geheimorganisation frei, sondern auch u. gerade die Verstrickung der dt. Juden in die korrupte u. in hohem Masse gewaltbereite Gesellschaft. Der Geschäftsmann Efrussi, Typus des deutschnationalen assimilierten Juden, unterstützt lieber den rechten Geheimbund als die ostjüd. Flüchtlinge des Berliner Scheunenviertels, in denen er potenzielle Kommunisten fürchtet. Überboten wird diese Haltung im Selbsthass des Juden Trebitsch, dem eigentl. Ideologen des Geheimbundes. In zahllosen Broschüren u. Artikeln im »Nationalen Beobachter«, in dem leicht der »Völkische Beobachter« zu erkennen ist, schürt er den »Haß gegen die jüdische Rasse«. Mit Trebitsch ist zweifellos der getaufte Jude Arthur Trebitsch gemeint, der um 1920 in einer Reihe von hochgradig antisemitischen Schriften die jüd. Weltverschwörung beschworen hatte. Bei Anton Kuh u. Theodor Lessing erscheint er, zusammen mit seinem Lehrer Otto Weininger, als der krasseste Fall von jüd. Selbsthass. Die komplexeste jüd. Figur des Spinnennetzes ist jedoch der Ostjude Benjamin Lenz, der sich, in jeder Hinsicht heimatlos, zwischen allen Gruppierungen bewegte: »Er haßte Europa, Christentum, Judentum, Monarchen, Republiken, Philosophie, Parteien, Ideale, Nationen,« ein Profil, das in mancher Hinsicht auch auf den jungen R. zutrifft. Lenz ist in diesem Roman die Gegenfigur zum faschistischen Lohse u. entzieht sich einer eindeutigen Identität. Er lässt sich nicht für die im Namen von Ideologien ausgeübte Herrschaft instrumentalisieren. In seiner scheinbaren Unterstützung Lohses – er arbeitet als Spitzel – stecken der Gestus der Verweigerung u. die abgrundtiefe Skepsis gegen Heilslehren u. abstrakte Begriffe. Mit Lenz ist eine paradigmat. Figur geschaffen,
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die in fast allen Romanen R.s der 1920er Jahre eine zentrale Stellung einnimmt: Ähnlich wie Nikolaus Brandeis in Rechts und links empfindet Friedrich Kargan, Der stumme Prophet, die Diskussionen über »Proletariat, Autokratie, Finanz, herrschende Klasse, Militarismus« als »verworrenen Lärm ohne Sinn«, als simple Formeln: »Das Leben steckt in den Begriffen wie ein ausgewachsenes Kind in zu kurzen Kleidern.« Nicht Äquidistanz zu Überzeugungen u. Einstellungen, sondern deren Negation, das Bewusstsein von dem, »worüber man nicht sprechen kann«, ist das Programm. Auf diese Weise steht R. auch in der Tradition der österreichischen sprachkrit. Literatur, aus dieser Verweigerung positiver Festschreibung dürfte sich auch R.s Lust an den autobiogr. Mystifikationen erklären lassen, allen voran die Geschichten über seinen Vater, den er nie kennen gelernt hatte: so etwa die Behauptung, er hätte sein Leben in geistiger Umnachtung am Hof eines Wunderrabbiners zugebracht. Die Widersprüchlichkeit von R.s Figuren entsteht auch aus der Erzählhaltung: Oft ist nicht zu entscheiden, ob es sich bei der Beschreibung der Figuren um einen Erzählbericht oder um erlebte Rede handelt. Ebenso lebenswichtig wie für Lohse ist die Macht für die Hauptfigur der Rebellion, Andreas Pum. Während jener die Macht, die er im Frieden verloren hat, zurückerobert, ist der einfache Soldat u. Invalide im Kriegsspital damit zufrieden, ihr gehorsamer Untertan zu sein. Den Kontakt zur Obrigkeit stellen die symbolischen Vermittlungen (die Kriegsauszeichnung u. später eine Drehorgellizenz) her. Pum identifiziert die staatl. Obrigkeit schlechthin mit Gott. Als ihm nach dem Streit mit dem saturierten Spießer Arnold die Drehorgellizenz entzogen wird, zerbricht er, da er starr an seiner Identität des von den Behörden ausgezeichneten u. geachteten Invaliden festhält. Die Hauptfigur aus Hotel Savoy, Gabriel Dan, ebenfalls ein Heimkehrer, zeichnet sich durch jene Flexibilität aus, über die Lenz verfügt, u. ist der diametrale Gegenentwurf zu einem Pum oder Lohse. Als Taglöhner, Arbeiter, Nachtwächter, Kofferträger u. Bäckergehilfe schlägt er sich durch. Seine Ver-
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weigerungshaltung entspringt einem emphat. Lebensbegriff, den auch Brandeis aus Rechts und Links vertritt: »Mancher starb, weil er nichts erlebt hatte, und war sein Leben lang nur einer gewesen.« Politisch ist R. in seiner Prosa nicht dort, wo sich scheinbare »Aussagen« aus dem Text herauspräparieren lassen, sondern in der exakten, analyt. Beschreibung der Psychosen der in der Monarchie sozialisierten Heimkehrergeneration. Diesen Figuren stellt R. die Verwandlungskünstler gegenüber, Gegenfiguren, die nicht an realistischen Ansprüchen gemessen werden dürfen, sondern als Negation ihrer lebensverneinenden u. lebensvernichtenden Antagonisten zu sehen sind. Mit dem äußerst erfolgreichen Hiob. Roman eines einfachen Mannes restauriert R. den von ihm selbst verabschiedeten Roman mit einer geschlossenen Handlung u. wendet gewissermaßen die journalistischen Beobachtungen aus Juden auf Wanderschaft ins Literarische. Anhand der Geschichte der Familie Singer verhandelt R. die gesellschaftliche, kulturelle u. religiöse Ordnung der Ostjuden im Zustand ihrer Auflösung durch Assimilation u. Auswanderung. Zwei bibl. Mytheme strukturieren den Text u. bauen ein Spannungsfeld innerhalb der Geschichte auf. Gemäß der Hiobs-Legende erscheint die Assimilation der Singers als eine Katastrophe, die in den Unglückfällen der Kinder durchdekliniert wird: Der jüngste Sohne Menuchim kommt behindert zur Welt, Mirjam unterhält amouröse Verhältnisse zu Kosaken, Jonas wird Bauer u. Soldat, Schemarjah emigriert nach Amerika, für R. die Chiffre einer unheilvollen Moderne, u. wird Geschäftsmann. Diese Formen der Transgression des Judentums verdeutlichen die Angst Mendel Singers vor dem Nichtjüdischen. Als er die Kinder vollends an den Wahnsinn u. den Krieg verliert u. seine Frau aus Verzweiflung stirbt, wird Mendel zum eigentl. Hiob. Mit dem Vorsatz »Gott will ich verbrennen« bricht er jede religiöse Praktik ab u. durchläuft fortan eine eigene Assimilationsgeschichte. Mit dem überraschenden Auftreten Menuchims entfaltet der Text jedoch noch eine »positive Assimilationsgeschichte« (Shaked), die durch das zweite bibl. Mythem sanktioniert ist: Wie der von seinen
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Brüdern verstoßene Joseph in der bibl. Legende den Stamm Israels restituiert, erscheint der inzwischen berühmte Komponist am Ende als geradezu messianisch semantisierter Retter, der die Reste der Familie wieder zusammenführt. Menuchim verkörpert ein histor. Modell der Modernisierung des Judentums, das in einer ästhetischen Transformation besteht. Auch die Erzählung Der Leviathan (postum Amsterd. 1940), entstanden 1934 im Pariser Exil, thematisiert die ostjüd. Lebenswelt eines einfachen Mannes, des Korallenhändlers Nissen Piczenik, dessen »Sehnsucht nach dem Meer« zur Aufgabe der »kontinentalen« jüd. Existenz, zum Verstoß gegen die Gebote u. schließlich zu seinem Ertrinken bei der Überfahrt nach Kanada im Atlantik führt. Sein Tod markiert zgl. das Gelingen wie das Scheitern des Ausbruchs aus dem Judentum. Ein Jahr nach dem Hiob erschien R.s wohl berühmtester Roman: In Radetzkymarsch, dessen Titel auf ein Musikstück von Johann Strauß anspielt (»Marseillaise des Konservativismus«), evoziert R. den Niedergang der Habsburgermonarchie von der Schlacht von Solferino bis zum Tod Kaiser Franz Josephs anhand mehrerer Generationen der Offiziersu. Beamtenfamilie Trotta. Konvention u. Tradition, die Übermacht väterl. Autorität definieren eine Identität, welcher der Leutnant Carl Joseph nicht gewachsen ist. Seine Existenz ist gekennzeichnet von Leere, Schulden u. Affären; ebenso unrühmlich ist sein Tod. Trotz der unverkennbaren, wenn auch ironisch gebrochenen Sympathie des Erzählers für seine erstarrten u. oft unzeitgemäßen Figuren werden die Symptome der Auflösung u. des Niedergangs der mythisierten Ordnung des Vielvölkerstaats in den Erzählungen Das falsche Gewicht (Amsterd. 1937) u. Die Geschichte von der 1002. Nacht (Bilthoven 1939) schonungslos geschildert, einer Ordnung, die als Gegenentwurf zum Faschismus fungiert. Die Kapuzinergruft (ebd. 1938) führt in die verhasste Gegenwart zurück, in der sich der Ich-Erzähler, ein Verwandter der Trottas, nicht mehr zurechtfindet u. sich beim »Anschluß« die Frage stellt: »Wohin soll ich, ich jetzt, ein Trotta?«
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Relativiert die Skepsis des literar. Frühwerks das Engagement des »roten Joseph«, so wird die monarchistische Publizistik der 1930er Jahre durch die späten Romane zwar nicht revoziert, aber immerhin als melancholisch-verzweifelte Flucht in eine Vergangenheit decouvriert, die das geringere Übel zu sein schien. Im Roman Moos auf den Steinen von Gerhard Fritsch ist der literar. Einfluss R.s deutlich spürbar; Ingeborg Bachmann setzte den »Trottas« u. damit R. in der Erzählung Drei Wege zum See ein literar. Denkmal. In den Kindheitsmustern von Christa Wolf wird die Lektüre des Hiob zu einer zentralen Erfahrung bei der Aufarbeitung der Vergangenheit. Weitere Werke: Ausgaben: Werke in 4 Bdn. Hg. u. Einl. Hermann Kesten. Köln/Bln. 1975. – Werke in 6 Bdn. Hg. Fritz Hackert u. Klaus Westermann. Köln 1989–91. – ›Ich zeichne das Gesicht der Zeit‹. Essays, Reportagen, Feuilletons. Hg. u. komm. v. Helmuth Nürnberger. Gött. 2010. – Briefe: Briefe 1911–39. Hg. u. Einl. H. Kesten. Köln/Bln. 1970. – ›Geschäft ist Geschäft, seien Sie mir privat nicht böse, ich brauche Geld‹. Der Briefw. zwischen J. R. u. den Exilverlagen Allert de Lange u. Querido 1933–1939. Hg. u. eingel. v. Madeleine Rietra. Köln 2005. Literatur: Bibliografie: Rainer-Joachim Siegel: J.-R.-Bibliogr. Morsum 1995. – Weitere Titel: David Bronsen: J. R. Eine Biogr. Köln 1974. – Claudio Magris: Weit v. wo. Verlorene Welt des Ostjudentums. Wien 1974. – D. Bronsen (Hg.): J. R. u. die Tradition. Aufsatz- u. Materialienslg. Darmst. 1975. – Günther Pflug (Hg.): J. R. 1894–1939. Ausstellung der Dt. Bibl. Frankfurt/M. Ffm. 1979. – Hanswerner Hofstetter: Wirtschaft der Verworrenheit. Analyse des Romans ›Beichte eines Mörders‹ v. J. R. Diss. Zürich 1980. –Maud Curling: J. R.s ›Radetzkymarsch‹. Eine psychosoziolog. Interpr. Ffm. 1981. – Helmuth Nürnberger: J. R. Reinb. 1981. 112006. – Rudolf Koester: J. R. Bln. 1982. – Heinz Ludwig Arnold (Hg.): J. R. Mchn. 21982 (Text + Kritik. Sonderbd.). – Géza v. Cziffra: Der hl. Trinker. Bergisch Gladbach 1983. – Matthias Hansen: Rechtspolitik u. Linkskultur. Exilpositionen v. J. R. u. Arnold Schönberg. In: SuF 36 (1984), S. 143–169. – Margarethe Willerich-Tocha: Rezeption als Gedächtnis. Studien zur Wirkung J. R.s. Ffm. 1984. – Bernd Hüppauf: J. R.: Hiob. Der Mythos des Skeptikers. In: Im Zeichen Hiobs. Jüd. Schriftsteller u. dt. Lit. im 20. Jh. Hg. Gunter E. Grimm u. Hans-Peter Bayerdörfer. Königst./Taunus 1985, S. 309–325. – Klaus Pauli: J. R.: ›Die
Roth Kapuzinergruft‹ u. ›Der stumme Prophet‹. Untersuchungen zu zwei zeitgeschichtl. Portraitromanen. Ffm. 1985. – Klaus Westermann: J. R., Journalist. Eine Karriere 1915–39. Bonn 1987. – Bernd M. Kraske (Hg.): J. R. Werk u. Wirkung. Ebd. 1988. – Wolfgang Müller-Funk: J. R. Mchn. 1989. – Jürgen Heizmann: J. R. u. die Ästhetik der Neuen Sachlichkeit. Heidelb. 1990. – Klaus Amann: Die ›verlorene Generation‹ in J. R.s frühen Romanen. In: LuK 25 (1990), H. 247/248, S. 325–334. – Reinhard Baumgart: Auferstehung u. Tod des J. R. Mchn. 1991. – Marlies Heide-Koch: Hiob oder die Auflehnung des Einzelnen gegen das Schicksal, 1991. – Gershon Shaked: Was ist ein dt.-jüd. Roman? Über J. R.s ›Hiob‹. In: Ders.: Die Macht der Identität. Ffm. 1992, S. 81–94. – Margarita Pazi: Exil-Bewußtsein u. Heimat bei J. R. In: Wider den Faschismus. Exillit. als Gesch. Hg. Sigrid Bauschinger. Tüb. 1993. – Hans-Jürgen Blanke: J. R. Hiob. Mchn. 1993. – W. G. Sebald: Kaddisch für Österr. – Über J. R. In: Ders.: Unheiml. Heimat. Ffm. 1995, S. 104–117. – Robert Mühlher: J. R.s Erzählung ›Der Leviathan‹ Graz 1995. – Frank Joachim Eggers: ›Ich bin ein Katholik mit jüdischem Gehirn‹. Moderneästhetik u. Religion bei J. R. u. Franz Werfel. Ffm. u. a. 1996. – Fritz Hackert: J. R. Hiob. Die Last von Ghetto-Mentalität. In: Erzählungen des 20. Jh. Bd. 1, Stgt. 1996, S. 201–218. – Wilhelm Kühlmann: Denkbilder jüd. Existenz. Bemerkungen zur Hiobdichtung J. R.s. In: Methodisch reflektiertes Interpretieren. Hg. HansPeter Ecker. Passau 1997, S. 375–387. – Katharina Ochse: J. R.s Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus. Würzb. 1999. – David Horrocks: The Construction of Eastern Jewry in J. R.’s ›Juden auf Wanderschaft‹. In: Ghetto writing. Hg. Anne Fuchs u. Florian Krobb. Columbia 1999, S. 126–139. – Thomas Keller: J. R. u. Bronislaw Malinowski. Heilige u. Argonauten. Gabe u. Verausgabung in einer interkulturellen Literaturwiss. In: Lesbarkeit der Kultur. Hg. Gerhard Neuman u. Sigrid Weigel. Mchn. 2000, S. 167–184. – Ursula Prutsch: Der ›Aufruf zum Misstrauen‹ durch ›Prophetischen Pessimismus‹. J. R.s Exilpublizistik in ›Pariser Tagblatt‹ u. ›Pariser Tageszeitung‹. In: ÖGL 44 (2000), S. 93–108. – Jacqueline Bel: ›Ich zeichne das Gesicht der Zeit‹. J. R. in den Jahren 1925–1939. Berichterstattung aus Paris. In: Paris? Paris! Hg. Gerhard R. Kaiser u. Erika Tunner. Heidelb. 2002, S. 407–417. – Henriette Herwig: Intertextualität als Mittel der Assimilations- u. Orthodoxiekritik in J. R.s ›Hiob. Roman eines einfachen Mannes‹. In: Ztschr. für Semiotik 24 (2002), S. 261–276. – Eva Raffel: Vertraute Fremde. Das östl. Judentum im Werk v. J. R. u. Arnold Zweig. Tüb. 2002. – HansPeter Rüsing: Die nationalist. Geheimbünde in der
52 Lit. der Weimarer Republik. J. R., Vicki Baum, Ödön v. Horváth, Peter Martin Lampel. Ffm. 2003. – Wolf Gerhard Schmidt: Realismus u. intermediale Differenz: J. R.s Roman ›Das Spinnennetz‹ (1923) u. Bernhard Wickis gleichnamige Verfilmung (1989). In: Jb. zur Kultur u. Lit. der Weimarer Republik (2003), S. 192–229. – D. Horrocks: The Representation of Jews and of Anti-Semitism in J. R.’s Early Journalism. In: GLL 58 (2005), 2, S. 141–154. – Andreas B. Kilcher: Die Wehen der jüd. Moderne. J. R.s ›Hiob‹. In: J. R.: Hiob. Roman eines einfachen Mannes. Gelesen v. Walter Schmidinger. Edition Mnemosyne 2005. Booklet. – Melissa de Bruyker: Narratologie der Vergewaltigung. Der Erzähler u. die Ikonographie der Tochter in J. R.s ›Hiob‹. In: ZfG 16 (2006), S. 77–88. – Telse Hartmann: Kultur u. Identität. Szenarien der Deplatzierung im Werk J. R.s. Tüb. 2006. – Wilhelm von Sternburg: J. R. Eine Biogr. Köln 2009. – Thomas Eicher: J. R. u. die Reportage. Heidelb. 2010. Andreas Kilcher / Jörg Marquardt
Roth, Patrick, * 25.6.1953 Freiburg i. Br. – Autor von Romanen, Erzählungen u. Erzählzyklen, Dramen u. Hörspielen; Regisseur von Filmen, Radio- u. Theaterstücken. Am Anfang von R.s künstlerischer Laufbahn steht die Liebe zum Kino, die in privaten Filmstudien an der Cinémathèque in Paris (1971/72) vertieft u. im Studium der Filmproduktion u. Regie am Cinema Department der University of Southern California (1975/ 76) professionalisiert u. in die Praxis umgesetzt wurde. R.s erste künstlerische Arbeiten sind zwei Kurzfilme, für die er in Drehbuch, Regie, Schnitt u. Produktion verantwortlich zeichnet. The Boxer (1978) erzählt die Geschichte eines Ex-Champions, der nach zwanzig Jahren den früheren Rivalen aufsucht, um am Santa-Monica-Strand nach einer neuerl. Niederlage unerwartet Trost zu finden. The Killers (1980), eine filmische Adaption der gleichnamigen Short Story von Charles Bukowski, handelt vom Einbruch zweier Stadtstreicher in eine Beverly-HillsVilla, der in eine Orgie der Gewalt umschlägt. Das Kino prägt R.s Schreiben zutiefst; Lieblingsfilme u. ihre Regisseure (bes. Chaplin, Ford, Welles, Kurosawa, Hitchcock, Bergman, Antonioni) hinterlassen Spuren im Werk – in Gestalt von Motiv-Zitaten, Adap-
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tionen typischer Atmosphären oder Evokationen ganzer Szenen. Genuin filmische Erzählmittel wie »Suspense« u. »Dissolve« organisieren die Texte untergründig u. ziehen den Leser ins Geschehen. Das szenisch-visuelle Erzählen überführt den Stoff in Bilderreihen, mit dem Effekt größtmögl. Authentizität u. Intensität. Die große Affinität zu Bildern resultiert aus der persönl. Erfahrung mit dem Unbewussten; R.s Werke basieren auf authent. Traumbildern. Die Auffassung der Psyche nach C. G. Jung, dessen analyt. Psychologie neben dem Film, der Bibel u. der Literatur als wichtigste Inspirationsquelle angeführt wird, ist grundlegend für R.s Sicht auf die Welt u. sein künstlerisches Selbstverständnis. Wie ein Laboratorium der Seelenerkundung mutet die Trilogie Die Wachsamen (Ffm. 1990) an – drei zuerst als Hörspiele in eigener Regie realisierte Monodramen, die um das Schicksal dreier Männer auf der Suche nach der verlorenen Geliebten kreisen. Indem sie sich ihres Verlusts in langen Monologen erzählend gegenwärtig werden, stoßen sie ins ›undiscovered country‹ ihrer Seele vor: drei nächtl. Selbsterkundungen, drei Sinnsuchen vor endzeitlich-apokalypt. Kulissen, vielleicht drei Untergänge zu neuem Aufgang. In Kelly oder Vom Treffen im kleinen Park, das R. auch für die Bühne inszenierte, wartet der Obdachlose Kelly Castellani in der Gaskammer von San Quentin auf seine Exekution; Minuten vor der Hinrichtung legt er Zeugnis ab von seiner schicksalhaften Liebe zu Lucy Skyler, die er aus der Ferne verehrte, der er sich ganz verschrieb u. heimlich nachging. Die heilig-reine, ungelebte Liebe ist das »dunkle Seil« ins Jenseits des »Kleinen Parks«, wo Kelly sich für immer mit Lucy zu vereinen hofft. Er nimmt die Schuld an ihrem Tod auf sich, bringt sich christusgleich zum Opfer dar, u. doch könnte er es gewesen sein, der die verehrte Frau hinter der Milchglastür erschlug, um den eigenen Namen auf ewig mit ihr zu verbinden. Das Mittelstück Paul. Menschengeschichte in einer Vigilie spielt in einer isolierten Kammer tief unter der Erde der Nuklearwaffen-Gegenwart der frühen 1980er Jahre. Hier hat der »seelisch geeichte«, in Wahrheit schwer lä-
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dierte Paul als Wächter das Signal im Auge, das die Aktivierung des nuklearen Potenzials als grünes Leuchten anzeigt. Sein zwangsneurot. Redeschwall bringt ans Licht, dass die »potentiell grüne« Stelle aufs Engste mit den »dunkel-dunkelgrünen« Augen der Geliebten konnotiert ist, die ihn für einen anderen verließ, der nicht »grün hinter den Ohren« war. Paul steigert sich in einen ekstat. Monolog an »Gerlinde« hinein, bis er den ersehnten neuen Anfang mit ihr als »grünes Signal« am Schaltpult vor sich aufleuchten sieht. Das Stück zeichnet das Psychogramm eines sehnsüchtigen, von der Frau tief gekränkten Mannes, dessen lebenslang unterdrückte »grüne Galle« ihn zuletzt die globale Katastrophe auslösen lässt. Dem Dritten im Bunde, dem dt. HölderlinÜbersetzer John, ist es aufgegeben, den Abgrund zwischen »getrenntesten Bergen«, auf denen die Liebsten in der »Patmos«-Hymne »wohnen«, zu überwinden u. zur anderen Seite zu gelangen. John oder Vom Über=setzen im Traum spielt in Anlehnung an die bibl. Apokalypse am Johannistag im brennenden, von Erdbeben heimgesuchten Los Angeles. Die innere Lage beschreibt ein Beatles-Song auf der Kassette, auf die John seine letzten Worte spricht: »Man buys ring, woman throws it away.« Die Zeichen stehen auf Untergang u. Wandlung, die John in »unschuldig Wasser[n]« des Swimmingpools der »Bethany Apartments« tauchend erfährt. Er tritt eine Reise in den Abyssos an, wo er zuletzt in ein zur Kathedrale geformtes Menschengerippe eintaucht. Wie in der »Apokalypse« des Johannes finden in Johns Ursprungsvision Geist u. »Braut«, Himmel u. Erde zeugend zueinander. Die Nachtmeerfahrt endet im neuen »Anfang/ Aufgang«, der Ankunft Johns bei sich selbst. Riverside (Ffm. 1991), R.s erste Prosaveröffentlichung, führt die Suche nach der inneren Wahrheit weiter, verlegt sie aber zurück in die Zeit des Urchristentums. »Diastasimos« ist der buchstäblich »Getrennt-Gestellte«, »In-Sich-Geteilte«, seit der Aussatz ihn traf u. ihn wie Hiob mit Gott hadern lässt. Im Zentrum der Christusnovelle steht die Begegnung mit Jesus in einer Höhle »abseits des Wegs von Jericho« (28 n. Chr.). Dieser »sammelt« das sinnlos-zerstreute Leben des Aussätzigen
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ohne Worte in Blick u. Geste ein u. gibt es ihm als Aufgabe, ganz zu werden, zurück. Der Sinn des mysteriösen Gleichnisses von den »Teilenden« im »nachtbeschatteten Land« wird einsichtig, wenn Diastasimos zum heiml. Zeugen einer nächtl. Prüfung wird, die Jesus in Gestalt des lastentragenden Knechts zeigt. Dieser wird vom eigenen Jünger (Judas) in »äußerster Liebe« beinah totgepeitscht, was den röm. Hauptmann wie einen »Verlorenen« anzieht. Dieser feindl. Römer, der Jesus zuletzt umarmt, versinnbildlicht den dunklen »Anderen« im Eigenen, den es anzunehmen gilt – eine heilende Erkenntnis. Entfaltet wird das Wunder im rückblickenden Nachtdialog mit zwei jungen Abgesandten des Apostels Thomas, die den Höhlenbewohner 37 n. Chr. aufsuchen; die Höhle avanciert zur Bühne, Diastasimos zum Lebens-Lehrer u. Vater, der die »längstvergessenen Bilder« mit Worten u. Gesten inszeniert, um sie seinen jungen Zuhörern als eigene Erfahrung zuteil werden zu lassen. Ein Ausgesetzter u. Entzweiter ist auch der Pfarrerssohn Johnny Shines, der als Dreizehnjähriger in schicksalhafter Verfehlung die geliebte Schwester erschoss. Der Roman mit dem Untertitel Die Wiedererweckung der Toten. Seelenrede (Ffm. 1993) präsentiert den 37-jährigen obdachlosen Shines, der über die Dörfer der Mojave-Wüste zieht, uneingeladen auf Beerdigungen erscheint, Särge aufbricht u. den Toten unter Berufung auf Mt 10,8 befiehlt, aufzustehen. Hintergrund u. Motiv dieser befremdl. Mission entdecken sich im intensiven Dialog mit einer Fremden in der Wintersonnenwendenacht 1992. Die »Seele«, die in einer Gefängniszelle spricht, enthüllt dem Schlafenden schrittweise den Sinn seines Kindheitstraumas, indem sie die Parabel vom 13-jährigen Jesus in der Löwengrube deutet, die der Vater dem Sohn zu erzählen pflegte. Am Ende der »Seelenrede« begeht Johnny die »Wiedererweckung der Toten« in einem abgelegenen Predigerzelt in der Wüste; eine äußere Parallele hat das Mysterium im Sarg der Schwester, der sieben Jahre später durch ein Erdbeben aufgebracht wird u. sich als leer erweist. Das Festhalten am Materiell-Sichtbaren ist das Problem des Thomas aus Corpus Christi
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(1996), des Zweiflers aus dem Johannesevangelium. Judas Thomas, genannt Didymus (Zwilling), glaubt nicht an die Auferstehung seines Herrn, sondern an die Entwendung des »Corpus« aus dem Grab. Den faktischen Beweis sucht er bei Tirza, einer Fremden aus Damaskus, die man am Ostermorgen im leeren Jesusgrab auffand. Die Zeugin der Auferstehung weist Thomas den Weg in die eigene Mitte, indem sie ihm von ihrer Vision im Felsengrab erzählt, als Jesus beim »Fest am Ende aller Zeiten« den »Entzweier« Satan als Bruder u. »verlorenen Sohn« in die Arme nimmt. Aus dem Schlaf erwacht, begibt Thomas sich in die äußere Wirklichkeit Jerusalems, wo er aufgebahrt auf einem Scheiterhaufen den Leichnams seines verlorenen Zwillingsbruders findet, der sich seinem Glauben opferte. Thomas weiß nun, dass der »Herr« auferstanden u. Tirza wahr gesprochen hat. R. hat die drei biblisch-myth. Texte 1998 unter dem Titel Resurrection – Die Christus Trilogie zusammengefasst u. darin das Leitthema benannt: Auferstehung, spirituelle Neugeburt. Eine wesentl. Erkenntnis steht im Zentrum der autobiogr. Erzählung Meine Reise zu Chaplin. Ein Encore (Ffm. 1997), die der 44jährige Ich-Erzähler aus der Sicht des 22jährigen Filmstudenten vergegenwärtigt. Schreibend wird ihm bewusst, dass Chaplin seinen Weg vom fünften Lebensjahr an kreuzte. Auslöser der rekonstruierten Reise nach Vevey ist Chaplins City Lights, der einst im L. A.-Vorstadtkino »Encore« lief und das Leben veränderte. Die Essenz des Films offenbart sich in der Schlusssequenz, die mit filmischen Mitteln so in Sprache übersetzt wird, dass der Leser die Szene zu sehen glaubt. Das Erkennen des Blumenmädchens vollzieht sich nicht im Medium des Sehens, sondern im »blinden Fühlen« ihrer Hand, die das Revers ertastet, in das sie einst die Blume flocht. Der Filmemacher Chaplin negiert das Visuelle u. verhilft damit paradoxerweise einer inneren Wahrheit zur Erscheinung. In jener Verneinung des eigenen Mediums zugunsten der Sichtbarmachung eines Unsichtbaren liegt Chaplins Größe u. der eigene künstlerische Anspruch.
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Transformierende Kraft im Erzählzyklus Die Nacht der Zeitlosen (Ffm. 2001) ist die Liebe, welche die seel. Landschaft der Protagonisten umschichtet. Mr. Colman erwacht präludiert den Wandlungsprozess im Bild des ›Absteigers‹, der Stunden vor dem Ausbruch des großen Erdbebens von Los Angeles freiwillig in einen dunklen Schacht springt, um zurück zu »ihr« ans »andere Ufer« zu finden. In Die Frau, die den Dieb erschoß wird das Ziel am Ende der Nacht erreicht: Die Vereinigung ereignet sich im Ausbruch des Bebens, als Lucy Alvarez in visionärer Zeitaufhebung den »Dieb in der Nacht« erschießt, der gekommen ist, ihr das Kind zu rauben. Aus der eingebrochenen Kugel fließt die Zeit – es folgt der Sprung zurück in die Lebenswirklichkeit, den Morgen des 17.1.1994, als Lucy mit dem Kind im Arm aus Trümmern gerettet wird. Über drei Stationen, drei Protagonisten, drei Lebensalter entfaltet sich die neue Ordnung die Nacht hindurch: Alles beginnt mit dem 15-jährigen Karlsruher Gymnasiasten u. Edgar-AllanPoe-Verehrer, der sich unsterblich in eine junge Engländerin verliebt (Das Verräterische Herz), führt weiter ins Erwachsenendasein des 22-jährigen Filmstudenten, der eine feuriggefährl. Liebesnacht mithilfe des Stab Moses’ übersteht, u. endet in der Lebensmitte eines Deutsch-Amerikaners, der sich im Nachtgespräch mit einer Jackie-Kennedy-Darstellerin der Wirklichkeit des Bösen bewusst wird (Die Nacht der Zeitlosen). Im Sinne von Weltuntergang u. Welterneuerung sind die drei Erzählabschnitte des fünfteiligen Zyklus nach dem Lauf der Sonne betitelt (sundown, night, sunrise), dem sodass dem Prozess der Bewusstwerdung kosm. Bedeutung zugesprochen wird. Die Sehnsucht nach Erneuerung ist der zentrale Impuls in Starlite Terrace (Ffm. 2004), einem Kreis aus vier Erzählungen, die über das aristotel. Prinzip der Drei-Einheit verknüpft sind. Die Handlung entfaltet sich im Verlauf eines Jahres (2002/2003) u. ist im Umfeld des »Starlite Terrace« angesiedelt, eines Apartmentkomplexes in Los Angeles, dessen Zentrum ein Swimmingpool bildet. Es ist der Wohnort des Ich-Erzählers, eines Schreibers, der die Lebensgeschichten seiner Mitbewohner vermittelt; zgl. verkörpert er
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das fühlende u. reflektierende Ich, in dem sich die Wandlung über vier Geschichten, vier »Terrassen« vollzieht. Die vier GeschichtenErzähler erster Ordnung sind bis ins Mark vom Film- u. Showmilieu geprägt, dem ihre Vorstellungen u. Idole entstammen: der alte, krebskranke Rex, der als Waise aufwuchs u. sich zeitlebens Gary Cooper als Vater erträumte; Moss, der ehemalige Casting-Agent u. die »Duschen« fürchtende Jude, dessen Tochter von der eigenen Frau entführt wurde; Gary, der ehemalige »Turtles«-Schlagzeuger u. Nebendarsteller, der den Irakkrieg verteidigt u. im Drogenrausch die Freundin vergewaltigte; schließlich die deutschstämmige 77-jährige June, eine ehemalige Sekretärin der Disney-Studios, die mit Marilyn Monroe betrogen wurde u. sich zutiefst nach einer Familie sehnt. Es sind typische Hollywood-Geschichten, voller Projektionen auf das Leben der Stars, geprägt von innerer Zerrissenheit, der Suche nach Orientierung u. dem Verlangen nach Beziehung. Der Erzähler ist derjenige, der die zerfaserten Lebens-Fäden schreibend zusammenführt, ihnen Bedeutung abgewinnt. Ein nach u. nach erinnerter Traum, der im Sternenbild eines numinos im All leuchtenden Pferdekopfes kumuliert, symbolisiert die innere Mitte, nach der die Protagonisten unbewusst auf der Suche sind. Der spontane Taufritus, den June zuletzt mit sich selbst begeht, wenn sie in die Asche ihres unbekannten jüd. Großvaters taucht, versinnbildlicht die Verbindung mit dem verlorenen Ursprung u. lässt sie als »Menschentochter« neu geboren sein. Mit dem autobiogr. Film-Essay In My Life – 12 Places I Remember (ZDF 2006) schlägt R. den Bogen zurück zu seinen künstlerischen Anfängen als Regisseur u. Drehbuchautor. Der Titel kündet von einer Rückschau in zwölf Kapiteln u. vom mögl. Ende eines Lebensabschnitts. Die 33 amerikan. Jahre verteilen sich auf zwölf Wohnadressen, die zwölf Lebensstationen, die der Erzähler noch einmal aufsucht, um sich an die entscheidenden Eindrücke zu erinnern. Synthesen ereignen sich, wenn der Reisende in Filmrollen schlüpft u. Szenen nachstellt, z.B. im Abstand von zwanzig Jahren noch einmal über den nächtl. Hollywood-Boulevard gleitet, Hölderlins
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Hymne Der Einzige lauschend. Ein Mosaik moderne Theaterstücke. Ffm. 1995, S. 175–212 setzt sich zusammen aus Landschaften, Be- (D.). – Silhouette des Reiters. P. R. interviewt John gegnungen, Erfahrungen u. Träumen, dem Ford. 1995 (Radiostück). – Johann Peter Hebels die Werke verehrter Vorbilder in Bild, Wort u. Hollywood oder Freeway ins Tal von Balzac. 1995 (E.). Alle in: Riding with Mary. 10 mal Sehnsucht. Klang so eingewoben sind, dass VergangenFfm. 2003. – Ins Tal der Schatten. Frankfurter heit u. Gegenwart, fiktive Realität u. Le- Poetikvorlesungen. Ffm. 2002 (Ess.s). – Magdalena benswirklichkeit, Innen u. Außen sich un- am Grab. Ffm./Lpz. 2003 (E.). – Zur Stadt am Meer. auflöslich durchdringen. Im Hintergrund der Heidelberger Poetikvorlesungen. Ffm. 2005 (Ess.s). Lebensreise wirkt das myth. Muster der – Edgar Allan Poe. Shadow/Schatten. In der Über»Nachtmeerfahrt«, das dem Chaos aus Daten tragung v. Arno Schmidt. Hg. u. mit Vorw. v. P. R. Ffm./Lpz. 2006. – Lichternacht. Weihnachtsgeu. Bildern Struktur u. Sinn verleiht. Generell ist die Unterweltsreise (im Bild schichte. Mit einem Ess. v. Michaela Kopp-Marx. des Orpheus) ein Modell für R.s Auffassung Ffm./Lzp. 2006 (E.). Literatur: Michael Fisch: P. R. In: LGL. – von Dichtung. Schreiben ist ihm ein Prozess der »Totensuche und -erweckung«, eine Zu- Reinhold Zwick: ›Alles beginnt im Dunkeln‹. Das sammenführung getrennter Sphären. Der Kino u. P. R.s revelator. Ästhetik. In: ›Brennender Dornbusch u. pfingstl. Feuerzungen‹. Bibl. Spuren Dialog mit dem Unbewussten ist – wie in den in der modernen Lit. Hg. Erich Garhammer u. Udo Frankfurter u. Heidelberger Poetikvorlesun- Zelinka. Paderb. 2003, S. 161–176. – Georg Langen dargelegt – Basis u. Quell der schrift- genhorst (Hg.): P. R. – Erzähler zwischen Bibel u. stellerischen Arbeit. Die ins Bewusstsein Hollywood. Münster 2005. – Hans-Rüdiger transferierten psych. Bilder formieren keim- Schwab: P. R. In: KLG. – Michaela Kopp-Marx: haft Szenen u. Strukturen, die zu einem Ro- Augenpoetik: ›Yes, I Can See Now‹. In: Dies.: man, einer Erzählung, einem ganzen Zyklus Zwischen Petrarca u. Madonna. Der Roman der fortentwickelt werden. Die filmischen, my- Postmoderne. Mchn. 2005, S. 59–67. – Gerhard tholog. u. literar. Bezüge, die R.s Texte Kaiser: Resurrection. Die Christus-Trilogie v. P. R. durchziehen, dienen der Amplifizierung u. Der Mörder wird der Erlöser sein. Tüb./Basel 2008. – M. Kopp-Marx: Das Heilig-Hohe u. das ErdigAktualisierung jener Motive. R.s SonderstelIrdische. Versuch über das Schreiben P. R.s. In: lung im dt. Literaturbetrieb gründet auf die- Suche nach dem Unbedingten. Spirituelle Spuren ser »Poetik« des Unbewussten, die ihre lite- in der Kunst. Hg. Wolfgang W. Müller. Zürich raturgeschichtl. Wurzeln in der dt. Romantik 2008, S. 137–165. – Dies.: ›Ich wollte immer schon hat. Die Wiedergewinnung insbes. des bibl. in einem Schwarzweißfilm wohnen‹. Das film. Stoffkreises für die Literatur der Gegenwart, Prinzip im Werk v. P. R. In: Medienkonstellatiodie R. von einer theologisch inspirierten Li- nen. Lit. u. Film im Kontext v. Moderne u. Postteraturkritik zugeschrieben wird, beruht moderne. Hg. Volker Wehdeking. Marburg 2008, primär auf der Bewusstmachung von Träu- S. 207–239. – Dies. (Hg.): Der lebendige Mythos. men u. sekundär auf der Lektüre der Bibel. R. Das Schreiben v. P. R. Würzb. 2010. Michaela Kopp-Marx sucht die zeitlos-archetypischen Bilder, wie sie u. a. in die Bibel eingegangen sind, für die Gegenwart zu erschließen, indem er sie mit Rothacker, Gottfried, eigentl.: Bruno dem »Persönlich-Individuellen«, dem »ganz Nowak, * 25.6.1901 Troppau, † 22.3.1940 und gar Zeitlichen« in Beziehung setzt. Er Berlin. – Prosa- u. Dramenautor. verfolgt einen metaphysischen, genau genommen psychologisch-jungian. Ansatz, aus R.s Vorfahren waren Kleinbauern, seine Eldem sich die ungewöhnl. Spannbreite u. tern hatten sich jedoch in der Stadt angesieVielschichtigkeit seines Werks ebenso erklärt delt. Zum Studium der Literatur u. Philosowie die unterschiedlichen method. Zugänge phie ging R. 1920 nach Prag (Promotion u. verschiedenartigen Deutungen, die R.s 1925), begann sich dort für die Belange der Sudetendeutschen politisch zu engagieren u. Schreiben provoziert. Weitere Werke: Die Flamme. 1984 (Hörsp.). – trat 1926 in die Deutsche NationalsozialistiBlue Aces. 1988 (Hörsp.). – Kindeskind. 1993 sche Arbeiterpartei (DNSAP) ein. Nach eini(Hörsp.). – Die Hellseher. In: Spectaculum 60. Sechs gen Jahren als Wanderlehrer in der Nähe
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Weitere Werke: Keiner für alle. Lpz. 1928 seiner Heimatstadt siedelte R. nach Berlin über, schrieb Besprechungen für die »Berli- (Kom.). – Der Kampf um Shakespeare. Ein Ber. Lpz. ner Börsenzeitung« u. veröffentlichte einige 1936. – Ankunft bei Nacht. Madrid 1941 (R.). – Gedichte u. Erzählungen. In seinem Haupt- Madrid schweigt... Mchn. 1976 (R.). – Übersetzungen: Shakespeare in neuer Übers. 3 Bde., Lpz. werk, dem Roman Das Dorf an der Grenze 1928–36. (Mchn. 1936), wollte er dem sog. GrenzlandLiteratur: Rudolf Frank: Geflügelte u. bekampf der Sudetendeutschen ein Denkmal schwingte Worte. Zu den Übers.en v. H. R. In: Der setzen u. die Anteilnahme der Landsleute im dt. Shakespeare (= Theater unserer Zeit, Bd. 7). Reich wecken. Hauptfigur ist ein Lehrer mit Basel/Hbg./Wien 1965, S. 109–119. – Karl Karst: dem programmat. Namen Ortwin Hartmi- Verwehte Spuren. Erinnerung an H. R. In: Schriftchel, der zusammen mit der Dorfgemein- steller u. Rundfunk. Hg. Jörg Hucklenbroich u. a. schaft für das Deutschtum in der Tschecho- Konstanz 2002, S. 77–98. Ilse Auer / Red. slowakei kämpft. Seitdem schrieb R. unter seinem Pseudonym. Seine Schriften u. Briefe Rothe, Johann Andreas, * 12.5.1688 Lissa sind geprägt von brutalem Rassismus u. An(poln. Lasów) bei Görlitz, † 6.7.1758 tisemitismus. / Weitere Werke: Die Stedinger. Bln. 1935 (Schausp.). – Die Kinder v. Kirwang. Bln. 1938 (E.). – Bleib stet. Mchn. 1938 (E.). – Vermächtnis. Aus dem Nachl. hg. v. Martha Rothacker-Nowak. Bayreuth 1942. Literatur: Lex. ns. Dichter. – Karsten Rinas: Deutsche u. Tschechen in Grenzlandromanen v. Fritz Mauthner u. G. R. In: Stereotype in interkultureller Wahrnehmung. Hg. Alina Kowalczyk u. Jan Pacholski. Nysa 2005, S. 77–98. Peter Krumme / Red.
Rothe, Hans, * 14.8.1894 Meißen, † 31.12. 1977 Florenz. – Dramaturg, Schriftsteller, Übersetzer, Essayist. R. studierte 1913–1916 Literatur in Edinburgh, München, Leipzig u. Berlin. Während des Ersten Weltkriegs leistete er Militärdienst. 1920–1925 war er als Dramaturg am Stadttheater in Leipzig, 1926–1930 am Deutschen Theater Berlin, 1932–1933 als Chefdramaturg der Ufa tätig. Bekannt wurde R. vor allem durch seine umstrittenen, der Gegenwartssprache angepassten Shakespeare-Übertragungen. Goebbels verbot Aufführungen mit R.s Übersetzungen als Textgrundlage als »zu liberalistisch«, R.s weitere Schriften wurden ebenfalls von den Nationalsozialisten verboten. 1934 emigrierte R. nach Italien, 1939 nach Spanien, 1947 in die USA. 1947/48 war er Professor an der University of North Carolina, 1949–1953 Professor in Miami. 1954 kehrte er nach Italien zurück.
Thommendorf (poln. Tomislaw) bei Bunzlau. – Evangelischer Kirchenlieddichter.
Der Pfarrerssohn besuchte die Schule in Görlitz u. das Maria-Magdalenen-Gymnasium in Breslau u. studierte ab Sommer 1708 Theologie in Leipzig. 1711 wurde er Adjunkt des Predigerkollegiums der Görlitzer Dreifaltigkeitskirche, wo der Pietist Melchior Schäffer Einfluss auf ihn gewann. Ab 1719 war er Hauslehrer in Leuba, bis ihn Zinzendorf 1722 nach Berthelsdorf u. Herrnhut berief. 1737 wechselte er nach Hermsdorf bei Görlitz, 1739 nach Thommendorf. R. arbeitete zunächst eng mit Zinzendorf zusammen, steuerte seine Lieder zu den ersten Herrnhuter Gesangbüchern bei u. schrieb einen umfangreichen Anhang zur Ebersdorfer Bibel 1727 über neue Übersetzungen einzelner Schriftstellen. Seine Predigt zog viele an. Durch das Eigenleben der wachsenden Brüdersiedlung u. die deshalb von der sächs. Regierung eingesetzten Untersuchungskommissionen gegen Herrnhut-Berthelsdorf 1732 u. 1736 geriet R. in eine schwierige Situation u. suchte Distanz zu Herrnhut. – R.s sprachlich ausgewogene u. wohl durchdachte geistl. Dichtung erschien z.T. in Einzeldrucken (siehe Schmersahl). Einiges hat in den Gesangbüchern bis heute überlebt, z.B. Ich habe nun den Grund gefunden (EKG 269) u. sechs Lieder im Gesangbuch der Brüdergemeine. Weitere Werke: Die ersten u. nöthigsten Gründe der christl. Religion, welche in klaren u.
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meistentheils ausdrücklichen Lehr- u. BefehlsWorten der Heil. Schrifft vorgeleget werden. Lpz. 1713 (darin auch: Gründlicher Unterricht von der christl. Freyheit in Kleidern u. Schmucke [...], u.: Gründliche Erörterung der Frage: Ob ein Mensch mit gutem Gewissen auch nur alleine zur Lust essen oder trincken könne?). – Aufsätze u. Predigtentwürfe in: Freiwillige Nachlese. Ffm. 1735–40. Nachdr. Hildesh. 1972 (= Zinzendorf: Hauptschr.en, Erg.-Bde. 11/12). – Der v. Jesu ergriffenen Seelen unaufhörl. Gegenstand. Lpz./Görlitz 1738 (Parentation auf Melchior Schäffer). Literatur: Elias Schmersahl: Gesch. jetzt lebender Gottes-Gelehrter. Langensalza 1751–55 (mit Abdr. v. 4 Liedern). – Koch 5, S. 240–248. – Hermann Arthur Lier: J. A. R. In: ADB. – Eberhard Teufel: J. A. R. In: Beiträge zur sächs. Kirchengesch. 30 (1917), S. 1–69; 31 (1918), S. 1–111. Dazu Gerhard Reichel in: Ztschr. für Brüdergesch. 13 (1919), S. 104–118. – Hermann Steinberg: J. A. R., Pfarrer in Berthelsdorf 1722–37. Ein Lebensbild. Herrnhut 1922. – Lebensbilder der Liederdichter u. Melodisten. Bearb. v. Wilhelm Lueken. (Hdb. zum Evang. Kirchengesangsbuch, Bd. II, 1). Bln. (auch Gött.) 1957, S. 241–244. – Arno Büchner: J. A. R.s Görlitzer Parentation für Melchior Schäffer. In: Jb. für Schles. Kirchengesch. 59 (1980), S. 100–107. – Karl Dienst: J. A. R. In: Bautz. – Gesch. Piet., Bd. 2, Register. – Henning Schröer: J. A. R. In: Komponisten u. Liederdichter des Evang. Gesangbuchs. Hg. Wolfgang Herbst. Gött. 1999 (22001), S. 262 f. – Dietrich Meyer: J. A. R. In: RGG. – Michael Fischer u. Rebecca Schmidt: ›Mein Testament soll seyn am End‹. Sterbe- u. Begräbnislieder zwischen 1500 u. 2000. Münster 2005 (mit. Ed.). Dietrich Meyer / Red.
Rothe, Johannes, * um 1360 Creuzburg/ Werra, † 5.5.1434 Eisenach. – Geistlicher, Stadtschreiber u. Lehrer in Eisenach, Verfasser juristischer, historiografischer, legendarischer u. didaktischer Texte. Der vermutlich in Erfurt, vielleicht an der dortigen Universität ausgebildete R. ist als Geistlicher in Eisenach erstmals 1387 bezeugt; er hatte dort verschiedene Ämter (als ›priestir‹, ›cappelan‹ u. ›vicarius‹) an der Liebfrauenkirche u. an der Georgskirche inne. Vermutlich in der Zeit von 1395 bis 1407 (1412?) übte er in Eisenach auch das Amt eines (leitenden?) Stadtschreibers aus. Wohl 1404 trat er in das Chorherrenstift St.
Marien ein; vor 1421 wurde er Leiter der Stiftsschule. Die Datierung u. chronolog. Entstehungsfolge der Werke R.s konnten infolge der Forschungsergebnisse der vergangenen Jahre präzisiert werden, sind aber auch in Teilen grundlegend zu revidieren. Im Zusammenhang mit dem Stadtschreiberamt stehen R.s Sammlung u. Systematisierung des Rechts der Stadt Eisenach (u. anderer Städte), deren Ergebnisse nur noch in unvollständiger (Eisenacher Rechtsbuch) bzw. in überarbeiteter u. erweiterter (Rechtsbuch des Johannes Purgoldt) Form erhalten sind. Die Tätigkeit muss wegen der notwendigen aufwändigen Recherchearbeiten einen längeren Zeitraum umfasst haben; R. selbst gibt im Prolog der Weltchronik einen Zeitraum von zehn Jahren an. Die Handschrift Kassel, LMB, 48 Ms. poet. et roman. 8 bietet einen in die erste Hälfte des 15. Jh. datierbaren Fixpunkt. Unter dem gemeinsamen Titel Ratsgedichte hat H. Wolf drei Texte ediert, welche die Organisation der städt. Gemeinschaft u. die Aufgaben von polit. Verantwortungsträgern zum Thema haben. Der erste beschreibt in paargereimten Versen die unterschiedl. Aufgaben der Stände vermittels einer organolog. Metapher vom Kopf (z.B. Augen: Kämmerer) über den Leib (z.B. Lunge: Kaufleute) bis zu den Beinen (Boten). In dem zweiten, von Wolf mit Von dem Rathe überschriebenen Gedicht stellt R. in leonin. Hexametern Tugendanweisungen u. Verhaltenslehren für Mitglieder des städt. Rats zusammen. Die beiden Texte sind in zwei Manuskripten in fragmentar. Form erhalten; sie entstanden um 1400 in R.s Zeit als Stadtschreiber. Der dritte Text der Gruppe, Von der Fursten Ratgeben, bietet einen in sich geschlossenen Text in paargereimten Versen. Er ist vermutlich etwas später als die beiden anderen verfasst u. auf die Interessen eines landgräfl. Publikums ausgerichtet. Der Text weist verschiedene Parallelen zu R.s Chroniken u. dem Ritterspiegel auf. Für die Entstehung aller drei Ratsgedichte gibt die Datierung in der Handschrift Fulda, Hessische Landesbibliothek D 31, fol. 64vb, den verlässl. Fixpunkt ›vor 1409‹.
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R.s drei Prosachroniken entstanden in der erschlossenen Urform zwischen 1406 u. 1409 (Thüringische Landeschronik. 1406; Eisenacher Chronik. 1409; Thüringische Weltchronik. 1407 [oder 1414]), also zu Beginn der Regierungszeit des Landgrafen Friedrichs (IV.) des Friedfertigen von Thüringen (amtierend 1406–1440) u. vermutlich in dessen Auftrag. Ein Zusammenhang mit dem Fürstenhof ist auch durch die Widmung der Weltchronik an dessen Ehefrau, die Landgräfin Anna, gegeben. R.s Chroniken zeichnen sich durch einen erzählenden Stil aus, der die histor. Fakten anekdotisch ergänzt. Zwischen den drei Werken sind zahlreiche, auf gemeinsame Quellen zurückzuführende Übereinstimmungen zu konstatieren. Ergänzungen der Chroniken reichen bis in die Jahre 1414 (Eisenacher Chronik), 1418 (Landeschronik) bzw. 1421/1440 (Weltchronik) hinein. Ob die Nachträge, die noch in R.s Lebenszeit fallen, von ihm selbst vorgenommen wurden, ist unsicher. R.s Chroniken haben wesentlich auf die spätere thüring. Geschichtsschreibung (Konrad Stolle, Wiegand Gerstenberg) eingewirkt. Zwei legendarische Texte verfasste R. vermutlich nur wenig später als die Chroniken; sie lehnen sich stilistisch u. inhaltlich an jene an. Beide Texte sind in paargereimte Verse gebunden: Die Passion, die nur in längeren Auszügen erhalten ist, erzählt die Judas- u. die Pilatuslegende u. verknüpft sie mittels eines Berichts über die Wanderung von 30 Geldstücken, womit gleichzeitig ein heilsgeschichtl. Zusammenhang hergestellt ist. Berichtet wird außerdem von der Zerstörung Jerusalems. Das in zwei verschiedenen Fassungen (Scolast-Fassung u. Rote-Fassung) erhaltene Elisabethleben hat die Lebensgeschichte der Heiligen Elisabeth von Thüringen zum Inhalt, wobei zahlreiche Episoden auch in R.s Chroniken (u. in deren lat. Vorlagen) zu finden sind. Neben der für die Gattung der Legende eher untypischen Nähe zur Chronistik ist das Elisabethleben durch lokale Bezüge geprägt. Eine umfassende Standesdidaxe für junge adlige Männer enthält der Ritterspiegel (Rsp.), der aus inhaltl. Gründen in die Zeit von R.s Tätigkeit an der Stiftsschule in Eisenach datiert wird. Wegen der Abhängigkeit von der
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Historia de Lantgraviis Thuringiae ist eine Entstehung nach 1414 sicher, vielleicht entstand der Text aber auch erst in den 1420er Jahren. In 4108 paargereimten Versen belehrt der Text über Geschichte des Rittertums, ritterl. Standesprivilegien u. ritterl. Tugenden sowie über Verhaltensregeln im Kampf. Verschiedene Elemente, insbes. sieben Standessymbole (Schwert, Ring, Knecht, Gold am Gewand, buntes Kleid, Anrede ›Herr‹, Händewaschen) werden in Rsp. allegorisch auf Tugenden hin ausgelegt. R. verwendet für diesen Text zahlreiche lat. Quellen, die er oft wortgetreu übersetzt. Dabei handelt es sich um eine breit gestreute Mischung aus den verschiedensten Wissensgebieten. Antike wie mittelalterl. Autoritäten werden teils explizit genannt (Seneca, Cicero, Aristoteles, Vegetius, Hieronymus, Gregor der Große, Bernhard von Clairvaux, u. a.), teils in längeren Passagen ohne Namensnennung verwendet (Bonaventura, Petrus von Blois). Am Schluss der Schaffenszeit R.s stehen zwei geistl. Werke, das Lob der Keuschheit (LdK, um 1425) u. die Geistliche Brustspange (auch: Liber devotae animae, 1430er Jahre). Im LdK werden die einzelnen symbolischen Elemente einer allegor. Darstellung der Keuschheit ausgelegt: das weiße Kleid, Salomons Thron aus Elfenbein, der Engelskuss, die Turteltaube, ein Kranz von weißen Perlen, die Lilie, die goldene Brustspange, die goldene Schnur unter der Brust, der Apfel in der rechten Hand, der Ring an der linken Hand, das Einhorn, die goldenen Seidenschuhe, der Teufel zu Füßen der Figur u. die um sie herum dargestellten Wappen mit Wappentieren. Biblische Exempel für Keuschheit reichen von Adam, Noah u. Joseph bis hin zu Martha u. Maria, aber auch Maria Magdalena, Maria Egyptiaca u. St. Afra werden als Vorbilder genannt. Das Akrostichon des Prologs weist darauf hin, dass das Werk Alheid Tuchin zugeeignet ist, die Nonne im Eisenacher Zisterzienserinnenkloster war u. von R. 1425 in seinem Testament bedacht wurde. Die Geistliche Brustspange geht in ähnl. Weise mit der schon im LdK behandelten goldenen Brustspange (›gulden vorspan‹) um. Neben den darin zu findenden Materialien u. Attributen (die sich z.T. mit den im LdK u. dem
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Rsp. ausgelegten Symbolen überschneiden) werden Edelsteine, Vögel u. andere Tiere sowie Pflanzen zum Gegenstand der Allegorese. Der Text wurde vermutlich für Nonnen von St. Katharina in Eisenach verfasst u. ist nur unvollständig erhalten. Wie der Rsp. sind auch das LdK u. die Geistliche Brustspange durch zahlreiche Autoritätenzitate geprägt; häufig wird bei der Naturallegorese Meister Albrecht genannt. Ausgaben: Eisenacher Rechtsbuch. Hg. Peter Rondi. Weimar 1950. – Ratsgedichte. Hg. Herbert Wolf. Bln. 1971. – Thüringische Landeschronik u. Eisenacher Chronik. Hg. Sylvia Weigelt. Bln. 2007. – Thüringische Weltchronik: Düringische Chronik des J. R. Hg. Rochus v. Liliencron. Jena 1859. – Passion. Hg. Alfred Heinrich. Breslau 1906. Neudr. Hildesh./New York 1977. – Elisabethleben. Hg. Martin J. Schubert u. Annegret Haase. Bln. 2005. – Der Ritterspiegel. Hg., übers. u. komm. v. Christoph Huber u. Pamela Kalning. Bln. 2009. – Das Lob der Keuschheit. Hg. Hans Neumann. Bln. 1934. – Die geistl. Brustspange. Hg. Jens Haustein (Druck in Vorb.). Literatur: Julius Petersen: Das Rittertum in der Darstellung des J. R. Straßb. 1906. – Karl Zander: J. R. Diss. Halle 1921. – Hans Neumann: Das Lob der Keuschheit. Ein Lehrgedicht v. J. R. Lpz. 1934. – Volker Honemann: J. R. u. seine ›Thüringische Weltchronik‹. In: Geschichtsschreibung u. Geschichtsbewußtsein im späten MA. Hg. Hans Patze. Sigmaringen 1987, S. 497–522. – V. Honemann: J. R. In: VL. – Sylvia Weigelt: Die städt. Eisenacher Kanzlei um 1400 u. die autographen Urkunden des J. R. In: Septuaginta quinque. FS Heinz Mettke. Hg. Jens Haustein u. a. Heidelb. 2000, S. 409–428. – Bettina Mattig-Krampe: Das Pilatusbild in der dt. Bibel- u. Legendenepik des MA. Heidelb. 2001, S. 203–223. – Andreas Scheidgen: Die Gestalt des Pontius Pilatus in Legende, Bibelauslegung u. Geschichtsdichtung vom MA bis in die frühe Neuzeit. Ffm. 2002, S. 178–196. – Heike Bierschwale u. Jacqueline van Leeuwen: Wie man eine Stadt regieren soll. Deutsche u. niederländ. Stadtregimentslehren des MA. Ffm. 2005. – Stefan Tebruck: J. R. In: NDB. – Pamela Kalning: Kriegslehren in deutschsprachigen Texten um 1400. Seffner, R., Wittenwiler. Münster 2006. – Jürgen Wolf: Die Heiligenlegende als multivalente Gattung zwischen klösterlich-dynast. Memorialkultur, Chronistik u. laikal-privater Andacht: Beobachtungen am ›Elisabethleben‹ des J. R. In: The Medieval Chronicle 4 (2006), S. 203–213. – V. Honemann: Eisenacher Rechtsbuch. In: HRG2 1 (2008), Sp.
60 1310–1313. – Christoph Huber: Didakt. Pluralismus u. Poetik der Lehrdichtung. Zum ›Rsp.‹ des J. R. In: Dichtung u. Didaxe. Lehrhaftes Sprechen in der dt. Lit. des MA. Hg. Henrike Lähnemann u. Sandra Linden. Bln./New York 2009, S. 413–426. – P. Kalning: Ubi-sunt-Topik im ›Rsp.‹ des J. R. zwischen lat. Quellen u. literar. Gestaltung. In: ebd., S. 427–438 – Martin Schubert: J. R. als didakt. Chronist. In: ebd., S. 439–449. – Gunhild Roth: Das ›Rechtsbuch des Johannes Purgoldt‹ u. seine Reimvorreden. In: ebd., S. 451–468. – V. Honemann: Das Bild der Gerechtigkeit im Rechtsbuch des J. R. / Johannes Purgoldt u. seine Tradition. In: ebd., S. 469–479. Pamela Kalning
Rothe, Richard, * 28.1.1799 Posen, † 20.4. 1867 Heidelberg. – Evangelischer Theologe. Der aus einer preuß. Beamtenfamilie stammende R. studierte von 1817 an in Heidelberg, wo ihn die spekulative Theologie Carl Daubs u. die Philosophie Hegels anzogen. 1819 wechselte er nach Berlin, wo er wiederum bei Hegel hörte, u. schloss sich, angeregt durch den Kirchenhistoriker Johann August Neander, der von Ernst von Kottwitz inspirierten pietistischen Erweckung an. Der Einfluss des Pietismus auf R. wurde durch die Freundschaft mit dem Erweckungstheologen August Tholuck u. durch R.s Eintritt in das pietistische Wittenberger Predigerseminar 1820 verstärkt. Doch als Gesandtschaftsprediger in Rom revidierte R. zwischen 1824 u. 1828, auch unter dem Einfluss Karl Josias Bunsens, seine Einstellung. Als Professor am Wittenberger Predigerseminar 1828–1837 legte er den Grundstein für sein erstes Hauptwerk, Die Anfänge der christlichen Kirche und ihrer Verfassung (Wittenb. 1837. Neudr. Ffm. 1963. Digitalisat Google Books). Hier zeigt sich zum ersten Mal seine bes. theologiegeschichtl. Position, welche die Entwicklung von Christentum, Kirche u. sittl. Staat als grundsätzl. Einheit begreift. 1837 wurde R. Professor für Systematische Theologie u. Exegese u. Direktor des Predigerseminars in Heidelberg, wo er, 1849–1853 durch eine Bonner Professur unterbrochen, bis zu seinem Tod wirkte. Während der letzten Jahre seines Lebens beteiligte sich R. maßgebend an kirchenpolit. Auseinandersetzungen.
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R. war Initiator einer eigentüml. u. bis Marx bis Johannes Paul II. Hg. Alf Christophersen heute diskutierten Gestalt des »Kulturpro- u. F. Voigt. Mchn. 2009, S. 60–69. Falk Wagner † / Red. testantismus«. Der Trennung von Religion u. Kirche wollte er duch die Entgrenzung beider auf eine religiös vermittelte Sittlichkeit ent- Rother, König ! König Rother gegenwirken, die als sittl. Kulturstaat realisiert werden sollte. Seine dreibändige, Rothmann, Bernhard, * um 1495 Stadt1845–1848 in Wittenberg erschienene Theo- lohn/Westfalen, † nicht vor 24.6.1535. – logische Ethik (revidiert 5 Bde., 1867–71) ar- Prediger, radikaler Täufer. beitet die Konzeption umfassend aus, wobei R. für seine spekulative Methode auf Hegel u. R. besuchte Schulen in Münster u. Deventer, für sein Religionsverständnis auf Schleier- studierte in Mainz, wurde dann Lehrer in macher zurückgriff. Sein Verständnis des Warendorf u. 1529 Prediger im Stift St. christl. Staates zielte auf das zukünftig-uto- Mauritz bei Münster. Seine Predigten veranpische Ideal einer substantiellen Einheits- lassten Kaufleute, ihm eine Reise nach Markultur, in der alle Institutionen des indivi- burg, Wittenberg u. Straßburg zu ermögliduellen u. soziokulturellen Weltumgangs chen. In Wittenberg lernte er Melanchthon u. Bugenhagen kennen u. sprach mit ihnen über integriert werden sollten. den Spiritualisten Campanus, den er nach Weitere Werke: Zur Dogmatik. Gotha 1863. – Stille Stunden. Aphorismen. Wittenb. 1872. – Ges. Münster holen wollte. In Straßburg wurde er Vorträge u. Abh.en aus seinen letzten Lebensjah- von Capito aufgenommen u. knüpfte Kontakte zu radikalen Kreisen. Nach der Rückren. Elberfeld 1886. Literatur: Adolf Hausrath: R. R. u. seine kehr vertrat er Zwingli’sche Gedanken u. Freunde. 2 Bde., Bln. 1902 u. 1906. – Hans-Joachim schrieb in diesem Geist eine Kirchenordnung Birkner: Spekulationen u. Heilsgesch. Mchn. 1959. für Münster, der sich der Rat jedoch wider– Paul Kessler: Glaube u. Gesellschaftsgestaltung. setzte. Indessen schloss sich R. den WassenEssen 1969. – Dietrich Rössler: R. R. In: Theologen berger Prädikanten an, die sich in Münster des Protestantismus im 19. u. 20. Jh. Bd. 1, Stgt. niedergelassen hatten, u. vertrat in einer 1978, S. 74–83. – Günter Geisthardt: Theolog. Disputation 1533 deren Auffassung gegen Konzeptionen v. Gesellsch. Ffm. 1987, S. 21–156. – Hermann von dem Busche. Hieraus ging seiFalk Wagner: Theolog. Universalienintegration. R. ne erste größere Schrift (Bekentnis van doepe un R. In: Profile des neuzeitl. Protestantismus. Bd. 1, aventmael) hervor, die stark gewirkt hat. Gütersloh 1990, S. 265–286. – Volker Drehsen: ViAls sich die Täufer Anfang 1534 der Stadt sion eines kirchenfreien, eth. Zeitalters des mobemächtigt hatten, ließ sich R. von ihnen dernen Christentums: R. R. (1799–1867). In: Bertaufen. Sein Gesinnungswandel ist schwer zu liner Theolog. Ztschr. 11 (1994), S. 201–218. – Friedrich Wilhelm Graf: R. R. In: Bautz. – Matthias erklären. Als einziger gewandter Theologe u. Heesch: Ein Kirchenvater des 19. Jh.? R. R. zum Schriftsteller unter den Täufern wurde er 200. Geburtstag. In: Dt. Pfarrerblatt 99 (1999), zum »Worthalter« ernannt. Sämtliche S. 709–712. – Friederike Osthof: In deinem Lichte Schriften der münsterischen Täufer – sie schauen wir das Licht. Die Wahrnehmung Gottes mussten anonym erscheinen – stammen aus im Spiegel menschl. Handelns: Zum theolog. seiner Feder. Die erste u. wichtigste Schrift ist Denken R. R.s in seinen Briefen, seinen Predigten Eine Restitution rechter und gesunder christlicher u. in der Theolog. Ethik. Bern u. a. 1999. – Georg lehre, die auf dem Höhepunkt der TäuferPfleiderer: R. R. In: LThK. – Trutz Rendtorff: herrschaft im belagerten Münster gedruckt u. ›Weltgeschichtl. Christentum‹. R. R.: Theolog. hinausgeschossen wurde. Sie stellt die SumOrtsbestimmung für die Moderne. In: Ztschr. für me der Täuferlehre dar, eine allegor. Ausleneuere Theologiegesch./Journal for the history of modern theology 7 (2000), S. 1–19. – Christian Al- gung des »figürlichen« Testaments, u. verbrecht: Versöhnung v. Christentum u. Kultur. R. R. teidigt die Mehrehe. In den Schriften Von der (1799–1867). In: Kerygma u. Dogma 48 (2002), Wrake [Rache], Von der Verborgenheit der Schrift S. 25–51. – F. W. Graf: R. R. In: NDB. – Friedemann u. Von irdischer und zeitlicher gewalt arbeitete R. Voigt: R. R. In: Religionsstifter der Moderne v. Karl die Auffassung der Täufer noch stärker her-
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aus. Wenn alles »gerestituert« sei, werde Christus seine Weltherrschaft antreten. R. sah schon die baufällige Welt zusammenstürzen: »De tyt des erves ist da« (Die Erntezeit ist da). Es ist nicht bekannt, ob er bei der Eroberung Münsters (24.6.1535) umgekommen ist oder entkommen konnte. Ausgabe: Die Schr.en B. R.s. Bearb. v. R. Stupperich. Münster 1970 (= Die Schr.en der Münsterischen Täufer u. ihrer Gegner. Tl. 1). Literatur: Bibliografien: Bertram Haller: B. R.s gedruckte Schr.en. Ein Bestandsverz. In: Jb. für Westfäl. Kirchengesch. 78 (1985), S. 83–102. – Schmidt, Quellenlexikon, Bd. 26, S. 370 f. – VD 16. – Weitere Titel: Carl Adolf Cornelius: Gesch. des Münsterischen Aufruhrs. Bd. 2, Lpz. 1860. – Ludwig Keller: B. R. In: ADB. – Hugo Rothert: B. R. In: Westfäl. Lebensbilder. Bd. 1, Münster 1930, S. 384–399. – Willem de Bakker: B. R. [...]. In: Radikale Reformatoren [...]. Hg. Hans-Jürgen Goertz. Mchn. 1978, S. 167–178. – Ilse Guenther: B. R. In: Contemporaries, Bd. 3, S. 173 f. – Martin Brecht: Die Theologie B. R.s. In: Jb. für Westfäl. Kirchengesch. 78 (1985), S. 49–82. – Karl-Heinz Kirchhoff: Das Phänomen des Täuferreiches zu Münster 1534/35. In: Der Raum Westfalen. Bd. VI/ 1, Münster 1989, S. 277–422. – Ralf Klötzer: Die Täuferherrschaft v. Münster [...]. Münster 1992, passim. – Hans-Joachim Diekmannshenke: Die Schlagwörter der Radikalen der Reformationszeit (1520–1536). Ffm. 1994, passim. – Ralf Klötzer: Hoffnungen auf eine andere Wirklichkeit. Die Erwartungshorizonte in der Täuferstadt Münster 1534/35. In: Außenseiter zwischen MA u. Neuzeit. FS Hans-Jürgen Goertz. Hg. Norbert Fischer u. a. Leiden 1997, S. 153–169. – Hans-Georg Tanneberger: Die Vorstellungen der Täufer v. der Rechtfertigung des Menschen. Stgt. 1999, Register. – Das Königreich der Täufer. Hg. Barbara Rommé. 2 Bde., Münster 2000 (Kat.). – Valerio Marchetti: B. R. e la città di Münster. In: Girolamo Savonarola da Ferrara all’Europa. Hg. Gigliola Fragnito u. a. Florenz 2001, S. 457–463. – Das Königreich der Täufer in Münster, neue Perspektiven. Hg. B. Rommé. Münster 2003. – Bernhard Ebneth: B. R. In: NDB. Robert Stupperich † / Red.
Rothmann, Christoph, * um 1560 Bernburg/Anhalt, † nach 1599 u. vor 1608, vermutlich Bernburg/Anhalt. – Astronom. R. hörte während seines Theologiestudiums in Wittenberg (Immatrikulation 1.8.1575)
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auch mathemat. u. astronomische Vorlesungen (bei Johannes Praetorius?) u. schloss sich schon damals der copernican. Heliozentrik an – Beginn der Arbeiten an seinem Werk Elementa Astronomia, in qua hypotheses Ptolemaicae ex hypothesibus Copernici corriguntur et supplentur, an dem er nachweislich noch 1583 arbeitete. Am 2.6.1582 wurde er als fürstl. Stipendiat am Gymnasium illustre in Zerbst immatrikuliert. In einem Brief an Wilhelm IV. von Hessen-Kassel nannte er sich 1585 »liberalium artium et philosophiae M[agister]«. Er scheint jedoch vor einem Studienabschluss in die Dienste von Joachim Ernst von Anhalt getreten zu sein, der ihn an den Kasseler Hof vermittelte. 1584 ging R. als Astronom an die Sternwarte Wilhelms IV. u. beteiligte sich maßgeblich an den dortigen Fixsternbeobachtungen. Wilhelm sandte ihn 1590 zu Tycho Brahe nach Kopenhagen u. auf die Insel Hven. Nach kurzem Aufenthalt kehrte R. aus unbekannten Gründen zurück in seine Heimat, wo er sich dann vornehmlich theolog. Fragestellungen widmete, ohne je wieder mit Wilhelm in Kontakt getreten zu sein. In seinem postum erschienenen Bericht von der Tauffe (Goslar 1608) wird er als »Theologus et Mathematicus quondam Landgravianus« bezeichnet. Von R.s zwölf bekannten Schriften zur Trigonometrie u. bes. zur Astronomie blieben die meisten unvollendet, die übrigen ungedruckt (in der Murhardschen Bibliothek in Kassel befindl. Manuskripte u. a. mit den 1618 von Snellius veröffentlichten, lange Zeit noch genauesten Kasseler Fixsternbeobachtungen, trigonometr. Aufzeichnungen, den Elementa Astronomica u. dem Observationum stellarum fixarum liber primus [Edition 2003], einer Anleitung zur prakt. Astronomie mit Beschreibung der Kasseler Sternwarte); R.s Beschreibung des Kometen von 1585 druckte Snellius 1619 mit ab. Dieser Komet war Anlass eines Briefwechsels zwischen Brahe, Wilhelm u. R. über alle Fragen der damaligen Astronomie (Tycho Brahe: Epistolae astronomicae. Uraniborg 1596). In seinem handbuchartigen Werk über die Fixsternbeobachtungen bekräftigte er Brahes Standpunkt, dass der Äther keine undurchdringl., festen Sphären bilden könne, wie die Astronomie
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vor Keplers Astronomia nova (1609) annahm. Er nahm in der Diskussion um das heliozentr. Weltsystem insofern eine Kompromissstellung ein, als er zwar dem copernican. Standpunkt bezüglich der Zentralstellung der Sonne zustimmte, aber statt der Erde der Fixsternsphäre die tägl. Rotation zuschrieb. Weitere Werke: Restitutio Sacramentorum, Das ist Gründlicher, Eigentlicher, heller, klarer, kurtzer Bericht von den Sacramenten. Goslar 1611. – Scriptum de cometa, qui anni Christi 1585 mensib. Novembri apparuit [1585/86]. In: W. Snellius: Descriptio cometae, qui anno 1618 mense Novembri primum effulsit. London 1619, S. 69–156. – Miguel A. Granada, Jürgen Hamel u. Ludolf v. Mackensen (Hg.): C. R.s Hdb. der Astronomie v. 1589. Komm. Ed. der Hs. C. R.s ›Observationum stellarum fixarum liber primis‹. Ffm. 2003 (mit dt. Übers. der Kapitelüberschriften). Literatur: Rudolph Wolf: Astronom. Mittheilungen, Nr. 31–33 u. 45. In: Vjs. der Naturforschenden Gesellsch. Zürich 1872–78 u. 1886 (mit ausführl. Textauszügen in Übers.). – Günther: C. R. In: ADB. – Bruce T. Moran: C. R., the Copernican theory [...]. In: The Sixteenth Century Journal 13 (1982), H. 3, S. 85–103. – Miguel A. Granada: El debate cosmológico in 1588: Bruno, Brahe, R., Ursus, Röslin. Neapel 1996. – Jürgen Hamel: Die astronom. Forsch.en in Kassel unter Wilhelm IV. Ffm. 1998. – M. A. Granada: C. R. u. die Auflösung der himml. Sphären. Die Briefe an den Landgrafen v. Hessen-Kassel 1585. In: Beiträge zur Astronomiegesch. Ffm. 1999 (22002), S. 34–57. – Peter Barker: Brahe and R. on atmospheric refraction. In: Optics and Astronomy. Hg. G. Simon u. S. Débarbat. Turnhout 2001, S. 43–50. – Andreas Kühne: C. R. In: NDB. – http://de.wikipedia.org/wiki/Christoph_Rothmann (1.11.2009). Fritz Krafft
Rothmann, Ralf, * 10.5.1953 Schleswig. – Romancier, Lyriker u. Theaterschriftsteller. R. wuchs in der Ruhrgebietsstadt Oberhausen auf, wo er nach Abschluss der Volksschule eine Maurerlehre absolvierte u. in verschiedenen Berufen seinen Lebensunterhalt verdiente. Seit 1976 lebt er als freier Schriftsteller in Berlin u. legte 1984 sein Debüt mit dem Gedichtband Kratzer (Bln.) vor, der bei seinem Erscheinen von der Kritik überaus positiv aufgenommen u. für den ihm 1986 das Märkische Stipendium für Literatur verliehen
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wurde. Es folgten die Erzählungen Messers Schneide (Ffm. 1986) u. Der Windfisch (Ffm. 1988). Das Ruhrgebiet u. seine Orte bestimmen die Topografie von R.s Romanen u. Erzählungen. Mit der sog. Ruhrgebietstrilogie (Stier. Ffm. 1991. Wäldernacht. Ffm. 1994. Milch und Kohle. Ffm. 2000) gelang dem Autor der große Durchbruch. Insbesondere Wäldernacht u. Milch und Kohle, seine vielleicht besten Romane, erschienen in hoher Auflage u. machten R. einem breiten Publikum bekannt. Nach Erscheinen der beiden ersten Teile der Trilogie erhielt R. 1996 den Literaturpreis des Ruhrgebiets; für Milch und Kohle wurde ihm 2003 der Evangelische Buchpreis zugesprochen. Alle drei Teile der Trilogie folgen einer Poetik des Erinnerungstextes, wobei die autobiogr. Grundierung der Erzählerfiguren deutlich durchscheint: Kai Carlsen, der Erzähler-Protagonist aus Stier lebt als Schriftsteller in Berlin, nachdem er Ruhrgebiet u. Maurerberuf entflohen ist; die Familie der Erzählerfigur Simon in Milch und Kohle ist wie R.s Familie in den fünfziger Jahren aus dem landwirtschaftlich geprägten Schleswig-Holstein in die industrielle Zukunftsschmiede des Ruhrgebiets migriert. Auf der Ebene der jeweiligen Fiktion werden Erinnerungshandlungen simuliert u. die Erinnerungsbilder von Ruhrgebietskindheit u. -jugend gegen Ende der 1960er u. 1970er Jahre facettenreich entworfen. Die Erzähler, allesamt Schriftsteller u. Künstler, kehren nach längerer Abwesenheit u. aus unterschiedl. Anlässen für kurze Zeit an die Orte ihrer Herkunft zurück. Dabei weiten sich die Perspektiven von der je individuellen Jugend des Helden zu Panoramen der sozial als proletarisch-kleinbürgerlich markierten Mentalitäten u. kulturellen Orientierungen einer der Kernlandschaften der alten, westdt. Bundesrepublik. Die Geschlechterverhältnisse werden illusionslos in all ihrer Tristesse gezeichnet; Individuations- u. Initiationsprozesse stehen immer wieder im Mittelpunkt, wobei das Leitmotiv der Identitätssuche der in ihrer Verletzlichkeit gezeichneten Charaktere keineswegs auf die Erzählerfiguren beschränkt bleibt. Das kleinbürgerl. Familienlebens wird ausgestellt, die repressive Fa-
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milienideologie der westdt. Nachkriegsgesellschaft entlarvt. Gattungstheoretisch lassen sich die R.schen Texte sowohl in die Reihe des Bildungs- wie des Künstlerromans einrücken. Die Künstlerfiguren besitzen indes eine durchaus unterschiedl. Kontur. Setzt R. sich in Gestalt des Protagonisten aus Wäldernacht mit der Möglichkeit eines Scheiterns der Künstlerexistenz auseinander (der Maler Jan Marrée ist ein Künstler ohne Werk), so lässt er den erfolgreichen Schriftsteller Simon aus Milch und Kohle international auf Lesereise gehen. In Junges Licht (Ffm. 2004) kehrt R. erzählerisch noch einmal in die Industrielandschaft seiner Jugend zurück, die in dem 1998 erschienenen Roman Flieh, mein Freund! (Ffm.) nurmehr als entfernte Erinnerungsspur des Protagonisten erscheint, der bei den Großeltern in einer Zechensiedlung aufgewächst. Dieser Roman hat mit den Ruhrgebietsromanen das Thema der Adoleszenzkrise gemeinsam, wobei die erzählte Auseinandersetzung mit den Eltern topografisch insofern ortlos bleibt, als Berlin, das R. als Schauplatz wählt, einen nur blassen Hintergrund bildet. Mit Berlin Blues (Ffm. 1997), seinem bislang einzigen Theatertext, versucht R. die Atmosphäre der Hauptstadt nach der Wende einzufangen; das Stück erinnert an die Volksstücke von F. X. Kroetz, R. W. Fassbinder oder M. Sperr aus den späten sechziger und beginnenden siebziger Jahren, ohne indes deren psychosoziale Prägnanz zu erreichen. Zu nennen sind sodann die Erzählbände Ein Winter unter Hirschen (Ffm. 2001) u. Rehe am Meer (Ffm. 2006) sowie der Lyrikband Gebet in Ruinen (Ffm. 2000), dessen Gedichte den Topos der Zeitlichkeit als ›conditio humana‹ beleuchten u. sich überdies als eine Art Metareflexion auf die ›conditio poetae‹ lesen lassen, die in kulturkrit. Perspektive die Entwertung des literar. Sprechens in einer von ökonomischen Imperativen beherrschten Welt konstatiert: »Doch hat Sprache nichts zu sagen, / wo alles sich auf Reichtum reimt« (Vom Eis der Oberschicht). Von einem kulturkrit. Impetus gegen die moderne Informations- u. Kommunikationsgesellschaft ist auch Vollkommene Stille (Ffm. 2006) durchdrungen, die Rede die R. aus
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Anlass der Verleihung des Max-Frisch-Preises an ihn 2006 in Zürich hielt. Hier ist es die Dichtung, welcher der Autor die Rolle des Heilmittels zuweist u. zutraut. Überhaupt ist R.s Romanen eine poetolog. Reflexion eingeschrieben, worauf bereits der Sachverhalt hindeutet, dass es sich bei ihren Erzählern um Künstlerfiguren handelt: Die auf der Textoberfläche simulierten Vorgänge des Erzählens u. Erinnerns werden immer wieder auf ihre Medialität hin reflektiert. Die hohe literar. Qualität von R.s Romanen erwächst nicht zuletzt aus der Art u. Weise, wie in ihnen das erinnernde Erzählen verkettet wird. Schließt sich in Milch und Kohle die Erzählhandlung über die Metapher des Kohlestaubs, was den Text als Metareflexion seiner eigenen Erinnerungspoetik lesbar macht (»Milch« u. »Kohle«, Weiß u. Schwarz lassen sich als Metonymie der Schrift entziffern), so zieht sich dieses Motiv vom Titel Wäldernacht, der die versunkenen Wälder der erdgeschichtl. Vorzeit bezeichnet, bis zu R.s Großstadtroman Hitze (Ffm. 2003), an dessen Beginn von »Wäldern« die Rede ist, die »staubig« werden. In diesem Sinne erschließt sich R.s Œuvre als ein komplexer Metatext. Als Auszeichnungen, die vom literar. Rang seines Werks zeugen, erhielt R. ferner den Förderpreis des Kulturkreises im Bundesverband der Deutschen Industrie (1989), das Stadtschreiberstipendium von Bergen-Enkheim (1992), den Mara-Cassens-Preis (1992), den Hermann-Lenz-Preis (2001), den Literaturpreis Kranich mit dem Stein (2002), den Rheingau Literaturpreis (2004), den WilhelmRaabe-Literaturpreis (2004), den HeinrichBöll-Preis, den Erik-Reger-Preis (2007), den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung (2008), den Hans-Fallada-Preis (2008) u. den Walter-Hasenclever-Literaturpreis (2010). Weiteres Werk: Feuer brennt nicht. Ffm. 2009 (R.). Literatur: Thomas Kraft: R. R. In: LGL. – Andreas Erb: R. R. In: KLG. – Franz-Josef Deiters: ›Staub, der einen Besuch abstattet‹ – Zur Selbsterinnerung der Schrift in R. R.s ›Milch und Kohle‹. In: Limbus. Australisches Jb. für germanist. Lit.- u. Kulturwiss. / Australian Yearbook of German Literary and Cultural Studies 1 (2008), S. 67–84. – Dieter Heimböckel u. Melanie Kuffer: ›Wir hatten
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65 ja auch gute Jahre!‹. Heimat u. Identität in R. R.s Roman ›Milch und Kohle‹. In: Interdisziplinäre Germanistik im Schnittpunkt der Kulturen. FS Dagmar Neuendorff. Hg. Michael Szurawitzki u. Christopher Schmidt. Würzb. 2008, S. 361–369. – Oliver Ruf: Milieu – Schwelle – Memorie. Zur Liminalität des Ruhrgebiets in R. R.s Gegenwartsromanen. In: Die Entdeckung des Ruhrgebiets in der Lit. Hg. Jan-Pieter Barbian u. Hanneliese Palm. Essen 2009, S. 261–279. – Christian Goldammer: Initiation in den Romanen R. R.s. Würzb. 2010. Franz-Josef Deiters
Rotteck, Karl (Wenzeslaus Rodecker) von, * 18.7.1775 Freiburg i. Br., † 26.11.1840 Freiburg i. Br. – Politiker u. Historiker. Der Sohn eines Medizinprofessors erlangte nach Abschluss seines Jurastudiums ohne fachwissenschaftl. Qualifikation im Alter von 23 Jahren in Freiburg i. Br. einen Lehrstuhl für Weltgeschichte, von dem er 1818 auf den Lehrstuhl für Vernunftrecht u. Staatswissenschaften überwechselte. R. beteiligte sich an der Ausarbeitung der badischen Verfassung u. vertrat die Universität 1818–1823 in der badischen Ersten Kammer. Seit seinen Ideen über Landstände (Karlsr. 1819) war er einer der geistigen u. publizistischen Führer des dt. Frühliberalismus, den er zur herausragenden polit. Kraft in Baden machte. Von 1831 an stand R. gemeinsam mit Carl Theodor Welcker an der Spitze der Liberalen in der Zweiten Kammer. Er war eines der prominenten Opfer der reaktionären Repressionspolitik des Bundestags. Die von ihm u. Welcker herausgegebene Zeitung »Der Freisinnige« (Freib. i. Br. 1832) wurde verboten, 1833 wurde er aus seinem Lehramt entfernt. Auch seine Wahl zum Freiburger Bürgermeister wurde von der badischen Regierung nicht bestätigt. R. war Mitgl. der Freiburger Freimaurerloge »Zur edlen Aussicht«. R.s histor. Methode hält keiner krit. Überprüfung stand. In seiner Allgemeinen Geschichte vom Anfang der historischen Kenntniß bis auf unsre Zeiten (6 Bde., Freib. i. Br. 1813–18. Illustrierte Ausg. in 11 Bdn., Braunschw. 251866/ 67) erklärte er die freiheitl. Entwicklung des Volkes im histor. Prozess zum leitenden Gesichtspunkt der Geschichtswissenschaft u. kam damit zu einer schemat. Gegenüberstel-
lung einzelner – weiter nicht untersuchter – freiheitsliebender u. freiheitswidriger Personen, Kräfte u. Strömungen in der Geschichte. Die Kurzfassung des Werks u. d. T. Allgemeine Weltgeschichte für alle Stände (4 Bde., Stgt. 1832/ 33. 7 Hauptbde., 81869–72) fand das lebhafte Interesse des dt. Bürgertums. Eine Frucht seiner Lehrtätigkeit an der Juristischen Fakultät bildete das an den Ideen der Aufklärung orientierte Lehrbuch des Vernunftrechts und der Staatswissenschaften (4 Bde., ebd. 1829–35. Bde. 1 u. 2, 21840. Neudr. Aalen 1964). Bleibende Verdienste erwarb sich R. mit dem gemeinsam mit Welcker begründeten Hauptwerk des dt. Liberalismus, dem StaatsLexicon oder Encyclopaedie der Staatswissenschaften (15 Bde., Altona 1834–43. 4 Erg.Bde. 1846–48. Revidiert 14 Bde., Lpz. 3 1856–66). R.s publizistisches u. polit. Ziel war es, das dt. Bürgertum zur führenden gesellschaftl. Kraft zu machen. Das erklärt seine ausgesprochene Preußenfeindschaft, seine Bemühung um Einschränkung der Kirchenfreiheit u. seinen Antisemitismus, da er Juden als störendes Element in einer homogenen bürgerl. Gesellschaft betrachtete. R.s Nachlass befindet sich im Stadtarchiv Freiburg. Weitere Werke: Ges. u. nachgelassene Schr.en. Mit Biogr. u. Briefw. Hg. Hermann v. Rotteck. 5 Bde., Pforzheim 1841–43. Nachdr. Dillenburg 2006. – Schr.en. 7 Bde., Stgt. 1847/48. – K. v. R. (Hg.): Allg. polit. Annalen. Neueste Folge. 11 Bde., Stgt. 1830–32. Literatur: Hans Zehntner: Das Staatslexikon v. R. u. Welcker. Jena 1929. Neudr. Rugell/Liechtenstein 1984. – Brigitte Theune: Volk u. Nation bei Jahn, R., Welcker u. Dahlmann. Bln. 1937. Neudr. Vaduz 1965. – Horst Ehmke: K. v. R., der polit. Prof. Karlsr. 1964. – Hans Boldt: Dt. Staatslehre im Vormärz. Düsseld. 1975. – Hermann Kopf: K. v. R. zwischen Revolution u. Restauration. Freib. i. Br. 1980. – Wolfgang D. Dippel: Wissenschaftsverständnis, Rechtsphilosophie u. Vertragslehre [...] bei R. u. Welcker. Münster 1990. – Hannes Kästner: Ritter Kuno v. Falkenstein u. der Teufel im Höllental. Eine Ortssage als literar. Sujet zwischen Empfindsamkeit u. Romantik (Sophie v. La Roche, K. v. R., Heinrich Schreiber). In: Zwischen Josephinismus u. Frühliberalismus. Literar. Leben in Südbaden um 1800. Hg. Achim Aurnhammer u. Wilhelm Kühlmann. Freib. i. Br. 2002, S. 213–243.
Rotth – Rüdiger v. Treskow: Jacobi – Wessenberg – R. Polit. Meinungsbildung u. Öffentlichkeit im Umfeld der Freiburger ›Iris‹. In: ebd., S. 317–329. – Manfred Mayer: Überlegungen zu einer Biogr. K. v. R.s (1775–1840). In: Aufklärung – Vormärz – Revolution. Jb. der ›Internat. Forschungsstelle Demokrat. Bewegungen in Mitteleuropa v. 1770–1850‹ an der Univ. Innsbruck 22–25 (2002–2005), S. 97 f. – Manfred Friedrich: K. v. R. In: NDB. – Heiko Haumann: ›Wir waren alle ein klein wenig antisemitisch‹. Ein Versuch über histor. Maßstäbe zur Beurteilung v. Judengegnerschaft an den Beispielen K. v. R. u. Jacob Burckhardt. In: Schweizerische Ztschr. für Gesch. 55 (2005), S. 196–214. – Joachim Faller: Freiheit, Christentum u. der Gang der Weltgesch. bei K. v. R. In: Kirchengesch. – Landesgesch. – Frömmigkeitsgesch. FS Barbara Henze. Remscheid 2008, S. 65–82. – Hans Fenske: K. v. R. u. der dt. Liberalismus. In: Poeten u. Professoren. Eine Literaturgesch. Freiburgs in Porträts. Hg. Achim Aurnhammer u. Hans-Jochen Schiewer in Verb. mit Dieter Mertens u. Thomas Zotz. Freib. i. Br. 2009, S. 153–168. – Christian Würtz: R. u. Welcker als Repräsentanten der bad. liberalen Publizisten. In: Von der Spätaufklärung zur Badischen Revolution. Literar. Leben in Baden zwischen 1800 u. 1850. Hg. A. Aurnhammer, W. Kühlmann u. Hansgeorg Schmidt-Bergmann. Freib. i. Br. u. a. 2010, S. 91–110. Michael Behnen
Rotth, Roth, Rotthe, Albrecht Christian, * 12.1.1651 Ottenhausen bei Weißensee/ Thüringen, † 10.12.1701 Leipzig. – Schulmann u. lutherischer Prediger. Was wir über R.s Leben wissen, ist dürftig. Der Sohn eines einfachen Soldaten, der als Kornett im schwed. Heer 1659 gefallen ist, besuchte Dorfschulen in Thüringen u. das Gymnasium in Halle, ehe er offenbar mit Unterstützung wohlgesinnter Gönner in Jena studieren konnte; 1675 erwarb er dort den Magistergrad. Er verdingte sich als Hofmeister u. Studienbegleiter in Jena, wo er bei dem Philosophen Valentin Veltheim studierte, bis er 1677 in Halle eine Stelle als Lehrer am Gymnasium antreten konnte. Später war er in Halle Konrektor u. ab 1689 Archidiakon bei St. Ulrich. 1692 wechselte R. nach Leipzig als Prediger (›Vesperprediger‹) an der Thomaskirche. Zwischen Beichtstuhl u. Predigtvorbereitung soll der plötzl. Tod des Vaters von
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zwölf Kindern aus zwei Ehen gekommen sein. In der Barockpoetik Vollständige deutsche Poesie (Lpz. 1688. Nachdr. Tüb. 2000), seinem ersten Werk, das wohl der Schulkarriere dienen sollte u. verschiedene Teilpublikationen vereinigt (man kennt auch einzelne Gedichte von ihm), schließt er sich eng an Morhof an, dessen Unterricht (1682) um diese Zeit für viele maßgeblich war. Anders als dieser verzichtete R. jedoch auf die Verarbeitung der poeteolog. Tradition u. hielt sich so streng an Aristoteles, dass manche seiner Formeln fast Zitatcharakter haben. Am ausführlichsten handelt R. in den Kap. IV u. V über Komödien u. Tragödien. Dem Kap. VI über die »Helden-Gedichte«, das heroische Epos, folgen Abschnitte »Von den Romainen oder LiebesGedichten« (Kap. VII), denen Huëts Lettre de l’origine des romans (1670) in der dt. Übersetzung von Happel angehängt ist. R.s Poetik gehört so zu den ersten Marksteinen der langen Integrationsgeschichte des Romans in den Kanon der anerkannten Literatur in Deutschland. R.s eigene Aussagen weichen von denen seiner Gewährsleute kaum ab, weshalb seine Schrift wohl immer nur beiläufige Würdigung gefunden hat. Seit den Jahren als Schullehrer, Diakon u. Prediger in Halle betätigte sich R. als eifriger Streiter gegen die mit wachsendem Erfolg einsetzende pietistische Bewegung Speners u. August Hermann Franckes. Er dürfte einer der militantesten Polemiker gewesen sein, wie Samuel Schelwig in Danzig, der jüngere Valentin Ernst Löscher oder jener Johann Friedrich Mayer, der sich als Scharfmacher im Dienst der orthodoxen Obrigkeit bewährte u. mit 23 Jahren Superintendent wurde. Bei R. kann man sich noch weniger des Eindrucks einer solch subalternen Rolle erwehren. Er soll an der Spitze der evang.-luth. Stadtgeistlichkeit gegen den Kreis um Francke gestanden haben. Wahrscheinlich ist er der Verfasser der frühen anonymen Schmähschriften Imago pietismi / Eben-Bild des heutigen Pietismi [der Pietisterey] (Lpz. 1691; verschiedene Titelversionen) u. Doppelte Vertheidigung desselben wider Phil. Jac. Spenern (o. J.), lanciert vom starken Arm des Hauptes der Leipziger orthodoxen Theologie, Johann Benedikt
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Carpzov. In diesen Jahren der Bildung von »Collegia pietatis« oder »philobiblica« in Leipzig, denen die Studenten zuströmten, entstand die Bezeichnung »Pietismus« als »Neck- und Spottname« (Ritschl) der Gegenseite. Im Umkreis der Pietismuskritik entstand auch eine Aufsehen erregende, erneute Kontroverse um die sog. ›Mittel-Dinge‹ (Adiaphora), in die R. seit 1699 mit einer Reihe von Streitschriften v. a. gegen Gottfried Vockerodt eintrat, der seit 1693 am Gymnasium illustre in Gotha lehrte. In diesem heftig geführten Streit, an dem mehrere Autoren beteiligt waren, ging es auch um die theologisch-moralische Legitimität von Oper u. Tanz (ausführlich Sdzuj 2005). Schließlich hat sich R. als Polemiker gegen die Weigelianer u. Böhmisten, bes. aber ad personam gegen Christian Thomasius hervorgetan, ohne damit jedoch dauerhafte Berühmtheit zu erwerben, auch keine traurige; dafür sind seine langwierigen Elaborate zu kleinkariert. In Atheistica Scriptorum Thomasianorum (Lpz. 1698) stellt er eine Typologie des Atheismus in nicht weniger als fünf Stufen vor, um ihr Thomasius zuzuordnen. Dieser, der seine Gegner immer als Dunkelmänner beschimpfe, sei selbst in der schwärzesten Nacht des Unglaubens zu Hause, heißt es am Schluss. Nach der Nähe zum Pietismus, zu Pierre Poiret (Thomasius’ Dissertatio ad Petri Poiret Libros, 1694, das sind dessen De eruditione triplici: solida, superficiaria et falsa libri III, 1692) u. zu den »Enthusiasten« war es v. a. der Versuch von Wesen des Geistes (1699), der die Kritik R.s u. nicht nur der Orthodoxie hervorrief (in: Thomasius portentosus. Lpz. 1700; mit Abdruck der inkriminierten Schriften Thomasius’ u. R.s Annotationen). Hinzu kamen die Disputationen An haeresis sit crimen (1697) u. De iure principis circa haereticos (1697), in denen Thomasius jede Häresie im Grunde für gegenstandslos erklärt: Nicht die Übereinstimmung mit dem Dogma, sondern die selbstlose Gottesliebe mache den Gläubigen, aber diese sei eine Sache des »Willens« u. somit nicht justitiabel. R. war für Thomasius der typische »Ketzermacher«, der ihm keine Entgegnung wert war: »Den guten Autor zu Leipzig«, nennt er ihn im Vorwort zum Versuch.
Rotth Weitere Werke: Kunstmäßige u. deutl. Anleitung zu allerhand Materien, welche sowohl sonst in der Rede-Kunst als insonderheit in der Poesie nützlich zu gebrauchen seyn wird. Lpz. 1687. – Kürtzl. doch deutl. u. richtige Einleitung zu den eigentlich so benahmten Gedichten, i.e. zu den Feld- u. Hirten-Gedichten, zu den Satyren, zu den Comödien u. Tragödien, wie auch zu den Heldenu. Liebes-Gedichten. Lpz. 1688. – Unmaßgebl. Bedencken v. den Pietisten u. Collegiis pietatis. Lpz. o. J. – Hg.: Cicero: De officiis libri tres [u. a. klass. Texte]. Lpz. 1692. – Eylfertiges Bedencken über M. August Hermann Franckens [...] seine Schutz-Predigt, ob er durch dieselbe seinen Zweck [...] erlanget oder nicht? [Lpz.] 1692. – Eubulus Gratianus Calumniator, das ist unrichtige Nachricht v. der Hällischen Commission [...], die ein erdichteter E. G. an den Tag gegeben u. darinne vielerley Verleumdung begangen. Lpz. 1693. – Nöthiger Unterricht v. prophet. Weissagungen [...]. Lpz. 1694. – Libellus Trinitatis Orthodoxae vindex, & per accidens ac ex parte Philosophiae Thomasianae novae obex. Lpz. 1695. – Synopsis errorum Thomasianorum [...]. [Lpz.] 1699. – Excusatio publica, quare promissis suis de mensibus Chr. Thomasii ulterius exponendis stare non possit. Lpz. [1699]. – Höchstnöthiger Unterricht v. so genanten MittelDingen [...]. Erstlich in einer Predigt auf den XVII. Sonntag nach Trinitatis Anno 1698 entworffen. Lpz. [1699]. – Eilfertige u. kurtze Abfertigung des weitläufftigen u. vergallten Geschmadderes Herrn M. Gottfried Vockerodts [...]. Lpz. 1699. – Wiederholter u. ferner ausgeführter Unterricht v. Mittel-Dingen [...]. Lpz. [1701]. Ausgabe: Vollst. dt. Poesie. 2 Teilbde. Hg. Rosemarie Zeller (mit Nachw. u. fehlerhafter Bibliogr. der Schr.en R.s im 2. Teilbd.). Tüb. 2000. Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Zedler. – Adam C. Carl Cuno: Ges. Nachrichten v. den Lebensumständen u. Schr.en evang.-luth. Theologen. Lpz. 1769. – Albrecht Ritschl: Gesch. des Pietismus in der luth. Kirche. Bd. 2, Bonn 1884. – Marian Szyrocki (Hg.): Poetik des Barock. Reinb. 1968 (mit Auszug aus ›Vollständige Dt. Poesie‹). – Wilhelm Voßkamp: Romantheorie in Dtschld. Stgt. 1973. – Karl-Heinz Stahl: Das Wunderbare als Problem u. Gegenstand der dt. Poetik. Ffm. 1975, S. 76 ff. – Gesch. Piet., Bd. 1. – Eberhard Zeller: Der wirkungspoet. Aspekt in der dt. Literaturtheorie v. Opitz bis R. Diss. A Potsdam 1978 (masch.). – Judith P. Aikin: A Language for German Opera [...]. Wiesb. 2002, S. 297–303 u. Register. – Reimund B. Sdzuj: Adiaphorie u. Kunst. Studien zur Genealogie ästhet. Denkens. Tüb. 2005, S. 264–278. – Jaumann Hdb. Herbert Jaumann
Rottmanner
Rottmanner, Karl, * 30.10.1783 Ast bei Landshut (München?), † 8.2.1824 Ast. – Lyriker, Herausgeber.
68 klärung zur Romantik. Geistige Strömungen in München. Regensb. 1984, S. 159–162 (Ausstellungskat.). – Paolo Bernardini: Le società economiche e la critica alla sociabilità illuministica intorno al 1800: il confronto tra Friedrich Heinrich Jacobi e K. v. R. In: Ders.: La Germania e l’Europa. Studi su politica, religione e filosofia del Settecento tedesco. Pisa 2002, S. 255–263. Hans Graßl / Red.
Für Ringseis war R. »der vielseitig ausgebildete Gutsbesitzer und Rechtsbeflissene, Dichter und Philosoph«. Tatsächlich reicht R.s Werk über die vielfältigen lyr. Versuche, die noch am häufigsten gewürdigt werden, wesentlich hinaus. Zu einer Konzentration aller seiner Arbeiten kam es auf philosophi- Rousseau, Johann Baptist; auch: Friedrich schem Gebiet in der Auseinandersetzung mit Saalmüller, Albano, * 31.12.1802 Bonn, Friedrich Heinrich Jacobi, dem damaligen † 8.10.1867 Köln. – Schriftsteller u. Redakteur. bayerischen Akademiepräsidenten. Im Jahr 1808, als R.s Frühlingsblumen er- R. studierte seit 1820 in Bonn, wo er Heinrich schienen, als R. das Schreiben der romantisch Heine u. Wilhelm Smets kennen lernte, Phiaufbegehrenden Landshuter Studenten an losophie, Philologie u. Geschichte, brach nach Görres mitunterzeichnete, erschien auch sei- etwa einem Jahr das Studium aus finanziellen ne Kritik der Abhandlung F. H. Jacobis über ge- Gründen ab u. ging als Hauslehrer nach lehrte Gesellschaften, ihren Geist und Zweck Broich. Seit 1823 lebte er in Köln, wo er nach (Landshut 1808). Friedrich Schlegels Polemik der Redaktion des »Westdeutschen Musengegen Jacobis Woldemar wird hier ausgewei- Almanach auf 1823–1824« die der neu getet: Die verstandeskühle, mechanistische gründeten »Agrippina. Zeitschrift für Poesie, Kultur des Protestantismus müsse überwun- Literatur, Kritik und Kunst« übernahm, die den werden durch die Aufwertung des MA, in noch im Erscheinungsjahr 1824 verboten dem allein die christl. Bildung wurzle. »Nur wurde. R. zog daraufhin nach Aachen, wo er ein dritter höherer Geist, nur ein neues seit 1825 die »Pariser Modenzeitung für schöneres Leben kann wieder ein Teutschland deutsche Frauen« u. 1825/26 die »Rheinische bilden, ein Germanien, ein Europa!« Flora« herausgab. 1827/28 edierte R. in R. rehabilitierte das von Jacobi abgewertete Hamm die Zeitschrift »Hermione«; zudem MA durch die Edition altdt. Handschriften u. gab er die Sammlung Göthes Ehrentempel (2 Minnelieder aus den Bibliotheken Landshut Bde., Hamm) heraus. 1828/29 lebte R. als u. München. Ast brachte sie neben Gedichten »Doktor der Philosophie, Kurfürstlich Hesseiner Studenten in der Landshuter »Zeit- sischer Hofrath, und Mitglied mehrer geschrift für Wissenschaft und Kunst« heraus, lehrter Gesellschaften« (vgl. Kunststudien) in die zu erscheinen begann, als die Heidelber- Frankfurt, wo er literar. Vorlesungen u. Deger »Zeitschrift für Einsiedler« eingestellt klamatorien abhielt. 1831 wurde er dort wurde. Der Kampf Johann Heinrich Voß’ Schriftleiter der »Oberpostamtszeitung«; seit richtete sich daher konsequenter Weise nicht 1833 war er Redakteur der »Münchner Poliallein gegen die Heidelberger Romantiker, tischen Zeitung«. Von München ging R. nach sondern auch gegen die in Landshut u. traf an Wien, wo er Vorlesungen über Ästhetik hielt vorderster Stelle neben Ast gerade auch R. u. zum k. k. Hofrat ernannt wurde. 1836 war Dieser hatte in seinen Frühlingsblumen August er wieder in Frankfurt; 1840 übernahm er in Wilhelm Schlegels Sonett An Calderon par- Köln die Redaktion des »Omnibus zwischen odistisch gegen Voß gewendet. Daneben hat Rhein und Niemen«. 1841 zog er nach Berlin R. hier jedoch auch zwei Romanzen aus dem u. war seit 1843 als Feuilletonredakteur bei Altspanischen übersetzt, die womöglich auf der »Neuen Preußischen Allgemeinen Zeitung« tätig. 1845–1854 lebte R. in Wien, wo Brentanos Alterswerk Alhambra wirkten. Literatur: Phillipp Funk: Von der Aufklärung er mehrere kurzlebige Zeitschriften gründezur Romantik. Mchn. 1925, S. 122–125. – Bayer. te, später vermutlich in Mainz, wo 1857 seine Bibl. 4, S. 1093. – Sigrid v. Moisy: Von der Auf- durch seinen Wien-Aufenthalt inspirierten
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Rowohlt
Lorbeerkränze als Zeit- und Gedenkblätter aus Vorlesungen u. literaturkrit. Schriften, die Österreich erschienen, von 1864 bis zu seinem das geistige Leben der Zeit beleuchten. Tod in ärml. Verhältnissen in Köln. Weitere Werke: Buch der Sprüche. Für Freunde R.s Œuvre ist trotz der zahlreichen Orts- u. der Hafisklänge. Hamm 1824. – Legenden. MünsStellungswechsel umfangreich. Vermutlich ter 1835. – Russen-Büchlein. Wien 1854. Literatur: August Weldemann: Die religiöse durch die Freundschaft mit Heine u. die wechselseitige Widmung von Gedichten in- Lyrik des dt. Katholizismus in der ersten Hälfte des spiriert war der Lyrikband Poesien für Liebe und 19. Jh. Lpz. 1911 (II. 4. Tendenziöse Dichter, S. 62–64). Karin Vorderstemann Freundschaft (Hamm 1822), dem ein Jahr später weitere Gedichte (Krefeld 1823) folgten. 1825 publizierte R. das Drama Michel Angelo Rowohlt, Ernst (Hermann Heinrich), (Trauerspiel in 4 Akten mit einem Nachspiel. * 23.6.1887 Bremen, † 1.12.1960 HamAachen), das von der Kritik negativ aufge- burg. – Verleger. nommen wurde. Im folgenden Jahr kehrte R. mit dem Gedichtband Spiele der Musen (Ffm. Wie nur wenige andere prägte R. das dt. 1826. 21829), zu dem Fouqué ein Vorwort Verlagswesen der ersten Hälfte des 20. Jh., beitrug, zur Lyrik zurück. 1831 erschienen wobei sein Hauptaugenmerk auf der VerBernsteine. Dichtungen und Novellen (Ffm.) sowie breitung anspruchsvoller Literatur zu mögeine Sammlung seiner Vorlesungen u. Zei- lichst niedrigen Preisen lag. Durch die Vertungsartikel (Kunststudien. Mchn.). Der Ver- mittlung v. a. angloamerikan. u. frz. Literatur wurde er – unbewusst – zu einem Mitgestalsuch, sich auch schriftlich als Literaturditer der bundesrepublikan. Nachkriegsöffentdaktiker zu etablieren, schlug allerdings fehl: lichkeit. Von den Dramaturgischen Parallelen (Mchn. R. stammte aus einer Bremer Kaufmanns1834), Vergleichsdarstellungen von Schriftfamilie u. trat zunächst in die Fußstapfen des stellern älterer u. neuerer Zeit, erschien leVaters, als er eine Banklehre aufnahm. Dieser diglich der erste Band. Auch R.s Gesammelte Berufsweg fand jedoch 1905 ein abruptes Kritische Schriften (Bln. 1846) kamen über Band Ende, als ihm der mit seiner Mutter be1 nicht hinaus. freundete Insel-Geschäftsführer Anton KipSeit Mitte der 1830er Jahre wandte sich R., penberg ein Volontariat bei der traditionsder schon in seinen früheren Dichtungen reichen Leipziger Druckerei Breitkopf & verschiedentlich die christl. Religion thema- Härtel anbot. Laut eigener Aussage hatte tisiert hatte, verstärkt der religiösen Dich- Kippenberg neben Samuel Fischer den größtung zu u. verfasste bzw. edierte einschlägige ten Einfluss auf seine spätere VerlegertätigTexte (Purpurviolen der Heiligen, oder Poesie und keit. Kunst im Katholizismus. 4 Bde., Ffm. 1835/36. Nach einem ersten Selbstverlags-Projekt im Madonna in Liedern, Legenden und Sagen gefeiert. Sommer 1908 gründete R. in Leipzig 1910 Bln 1843. Muttergottes-Rosen. Wien 1848. Das seinen ersten Verlag, dessen stiller Teilhaber hl. Österreich. Lpz. 1855. Das Bonifazius-Lied. zum Jahresende Kurt Wolff wurde. Beide Mainz 1855). Daneben veröffentlichte er Poe- spezialisierten sich auf hochwertige Drucke tische Reisetabletten aus Italien, Tirol, Deutsch- (Drugulin) u. zeitgenöss. Literatur (Expresland, dem Elsaß und der Schweiz (Ffm. 1836), sionisten), trennten sich aber nach Auseineine Sammlung rheinischer Sagen (Koblenz andersetzungen bereits Ende 1912 vonein1846) sowie die gleichfalls durch Legenden u. ander. Wolff übernahm sämtl. Verlagsrechte histor. Gestalten inspirierten Romanzen und u. zahlte R. aus. Zeitbilder (Düsseld. 1838). Einige seiner GeIm Jan. 1919 gründete R. seinen Verlag in dichte wurden von Giacomo Meyerbeer, Jo- Berlin neu, in dem zuerst zeitkrit. Schriften hannes Brahms u. Ferdinand Ries vertont, für (»Umsturz und Aufbau«) u. Lyrik (Menschdessen Oratorium Der Sieg des Glaubens (op. heitsdämmerung) dominierten. In den folgen157, 1829) R. auch das Textbuch verfasste. den Jahren der Weimarer Republik versamVon literarhistor. Interesse sind v. a. seine melte er solch bedeutende Autoren wie Franz
Ruarus
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Blei, Robert Musil, Alfred Polgar, Kurt Tu- Literaten wie Wolfgang Borchert u. Arno cholsky, Joachim Ringelnatz, Hans Fallada Schmidt. Neben der zeitgenöss. Belletristik um sich. 1925–1927 erschien in seinem Ver- gewannen nun gesellschaftswissenschaftl. lag die bekannte Wochenschrift »Die Litera- Werke zunehmend an Gewicht im Verlagsrische Welt«; seit 1928 fanden die amerikan. programm. Eine neuerl. Finanzkrise des Autoren Sinclair Lewis, J. R. Knickerbocker, Verlags im Gefolge der Währungsreform Ernest Hemingway u. William Faulkner ihr wurde mit dem Erscheinen von Bestsellern zweites Zuhause bei Rowohlt. Getragen wie C. W. Cerams Götter, Gräber und Gelehrte wurde der Verlag von populären Bestsellern (1949), vor allem aber durch die Einführung aus der Feder von Carl Ludwig Schleich, Leo monatlich u. in hoher Auflage erscheinender, Slezak u. Emil Ludwig sowie von den Ta- preiswerter Taschenbuchausgaben (rororo) schenausgaben der Werke von Balzac u. Ca- nach amerikan. Vorbild (1950) beendet. Dieses Modell wurde bald von anderen Verlagen sanova. Die Folgen der Weltwirtschaftskrise trie- imitiert u. führte zu einer radikalen Umben den Rowohlt Verlag fast in den Ruin. In strukturierung des Buchmarkts. Weitere Inletzter Minute erwarb die Familie Ullstein im novationen stellten das Schalten von WerbeSommer 1931 die Mehrheit u. sicherte so die seiten in Büchern, das Anregen von Schauweitere Existenz; der Bestseller Kleiner Mann – fensteraktionen in den Buchläden sowie die was nun? von Hans Fallada sorgte 1932 für Schaffung solch unverwechselbarer Marken Auftrieb. Doch die Machtergreifung durch wie der Reihe »rowohlts monographien« die Nationalsozialisten machte diesem Trend (1958) dar. 1957 erhielt R. das Große Bundesverrasch ein Ende: Viele Rowohlt-Autoren gelangten auf die »Liste des schädlichen und dienstkreuz u. die Ehrendoktorwürde der unerwünschten Schrifttums«. Obwohl R. sich Universität Leipzig. Nachdem er dem Verlag über sein Verlagsprofil nicht eindeutig einer sämtl. Rechte an Tucholskys Werken gesipolit. Richtung zuordnen ließ, erhielt er 1938 chert u. noch den Umzug von Hamburg (seit Berufsverbot wegen angebl. Tarnung jüd. 1950 alleiniger Standort) nach Reinbek mitSchriftsteller. Er verließ Deutschland nach erlebt hatte, verstarb R. an den Folgen eines der Reichspogromnacht in Richtung Brasili- Herzinfarkts. en, während sein Verlag der Deutschen VerLiteratur: Walther Kiaulehn: Mein Freund der lags-Anstalt in Stuttgart als Tochtergesell- Verleger. Reinb. 1967. – Paul Mayer: E. R. Reinb. schaft angegliedert wurde. Deren Leitung 1968. Neuausg. 2008. – Kurt Wolff 1887–1963. E. hatte bis zur endgültigen Schließung (1943) R. 1887–1960. Bearb. v. Friedrich Pfäfflin. Marsein unehel. Sohn Heinrich Maria Ledig inne. bach/Neckar 1987. – Wolfram Göbel: Der Ernst R. kehrte 1940 nach Deutschland zurück u. Rowohlt Verlag 1910–1913. In: Buchhandelsgesch. 1974, S. B 57–B 127. – Hans Georg Heepe: E. R. In: erlebte das Kriegsende in Berlin. Nach 1945 NDB. – Hans Fallada: Ewig auf der Rutschbahn – begann auch für ihn eine neue Ära. Nachdem Briefw. mit dem Rowohlt Verlag. Reinb. 2008. – Sohn Ledig bereits Ende 1945 für Stuttgart Hermann Gieselbusch, Dirk Moldenhauer, Uwe eine amerikan. Verlagslizenz erworben hatte, Naumann u. Michael Töteberg: 100 Jahre Rowohlt. erschienen dort 1946 die ersten der legendä- Eine illustrierte Chronik. Reinb. 2008. ren »Rowohlt-Rotations-Romane« (RO-RODirk Moldenhauer RO) im Zeitungsformat in einer Auflage von je 100.000 Exemplaren zum Preis von 50 Ruarus, Martin, auch: Aretius Crispicus, Pfennig. R. erhielt im März 1946 die brit. * 1588/89 Krempe/Holstein, † 1657 Lizenz für den Verlagsbetrieb in Hamburg; Straßzyn bei Danzig. – Antitrinitarischim selben Jahr folgten eine frz. (Baden-Baden) sozinianischer Theologe u. Humanist. u. eine sowjetische (Berlin) Lizenz. Über die süddt. Büros wurden erste Kontakte zu R. war nicht nur als Antitrinitarier u. Dissiwichtigen frz. Autoren wie Jean-Paul Sartre, dent eine europ. Berühmtheit, sondern v. a. Simone de Beauvoir, Albert Camus u. Jacques auch ein typischer Repräsentant des SpäthuPrévert geknüpft, im Norden zu jungen dt. manismus. Sein Vater war evang. Pastor u.
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Schulrektor in Krempe. R. studierte zunächst in Rostock, ehe er am 16.5.1611 nach Altdorf wechselte. Ernst Soner (1572/73–1612) konnte ihn dort für die antitrinitar. Bewegung der poln. Sozinianer, der sog. Ecclesia minor, gewinnen. Altdorf gilt aufgrund des Kreises um Soner als eines der Zentren des Antitrinitarismus im Reichsgebiet. Nachdem R. 1614 im Geheimen Raków, das kulturelle Zentrum der Ecclesia minor, besucht hatte, verließ er 1615 die Altdorfer Akademie. Ab 1616 reiste er als Hofmeister durch Europa. Von 1621 bis 1623 wirkte er Jahre als Rektor u. Nachfolger Johann Crells am Rakówer Gymnasium. Danach wieder auf Reisen, ließ er sich schließlich 1631 in Danzig nieder, wo er die Gründung einer sozinian. Gemeinde betrieb. 1638 wurde er infolgedessen durch ein Dekret des Senats aus der Stadt verwiesen. 1645 wohnte er dem Kolloquium von Thorn bei, wo er mit Georg Calixt zusammentraf. R. genoss fast in ganz Europa einen hervorragenden Ruf als Gelehrter u. Humanist; in Cambridge hatte man ihm einen hochdotierten Lehrstuhl für Geschichte angeboten. Er beherrschte Griechisch u. Latein; selbst im Hebräischen, Syrischen u. Arabischen war er bewandert. Unter den neueren Sprachen waren ihm v. a. Polnisch, Französisch u. Italienisch geläufig. R.’ wissenschaftl. Interessen umfassten Gebiete wie etwa Theologie, Philosophie u. Jurisprudenz. R., dessen umfangreicher Schriftwechsel in der Frühen Neuzeit mehrmals in den Druck gegangen ist, war offenbar ein Zentrum im Netz europäisch-epistulärer Gelehrtenkultur. Zu seinen vielen Korrespondenten zählten Dissidenten wie Daniel Zwicker, Johann Crell u. Florian Crusius, aber auch berühmte Theologen, Literaten u. Wissenschaftler. Seine Briefe thematisieren meist theolog. Gegenstände u. Probleme; sie stellen aber auch eine Urkundensammlung für die Verhältnisse, in denen sich R. bewegte, sowie für die literar. Zustände jener Zeit überhaupt dar. R. war zudem maßgeblich an der Kommentierung der lat. Version des Rakówer Katechismus, der zentralen Lehrschrift des poln. Sozinianismus, beteiligt. Viele seiner Briefe u. Schriften sind noch nicht ediert.
Ruarus Werke: Catechesis Ecclesiarum Polonicarum [...]. Irenopoli, post annum 1659. – Martini Ruari, Nec non H. Grotii, M. Mersenni, M. Gittichii, & Naerani, Aliorumque virorum doctorum, quorum nomina post praefationem vide, Ad ipsum Epistolarum Selectarum Centuria [...]. Amsterd. 1677. – Martini Ruari Nec non aliorum Illustrium, Spectabilium, Doctorúmque Virorum, quorum nomina in Indice videbis, ad ipsum vel ejus causâ scriptarum Epistolarum Selectarum Centuria Altera & Ultima. Amsterd. 1681. – Martini Ruari aliorumque virorum doctorum epistolarum selectarum centuriae duae. In: Gustav Georg Zeltner: Historia CryptoSocinismi Altorfinae quondam Academiae infesti Arcana [...]. Lpz. 1729. – Thomas Haye (Hg.): Humanismus in Schleswig u. Holstein. Eine Anth. lat. Gedichte des 16. u. 17. Jh. – mit dt. Übers., Kommentierung u. literaturhistor. Einordnung. Kiel 2001, S. 7–22, 36–45, 62 f., 214 [= Heinrich Hudemann; M. R.: Gedichte u. Kommentare]. – Elektron. Teilausg. in: CAMENA, Abt. CERA. Literatur: Bibliografien: Christophorus Sandius: Bibliotheca Anti-Trinitariorum [...]. Freistadt 1684. Nachdr. Warschau 1967, S. 114 f. – Friedrich Samuel Bock: Historia Antitrinitariorum [...]. Tom. 1, pars 2. Königsb./Lpz. 1774, S. 728–735. – Robert Wallace: Antitrinitarian Biography: sketches of the lives and writings of distinguished antitrinitarians. Bd. 2, London 1850, S. 587–590. – Weitere Titel: Pierre Bayle: Dictionnaire Historique et Critique. T. 2, 2nde partie: P-Z. Rotterdam 1697, S. 976. – Otto Fock: Der Socinianismus nach seiner Stellung in der Gesammtentwicklung des christl. Geistes, nach seinem histor. Verlauf u. nach seinem Lehrbegriff. 2 Tle., Kiel 1847. Nachdr. Aalen 1970. – Ludwik Chmaj: Marcin Ruar. Studjum z dziejów Racjonalismu religijnego w polsce. Krakau 1921. – Karl Braun: Der Socinianismus in Altdorf 1616. [2 Tle.]. In: Ztschr. für bayr. Kirchengesch. 1 (1933), S. 65–81, 129–150. – Erich Trunz: Henrich Hudemann u. Martin Ruarus, zwei holstein. Dichter der Opitz-Zeit. In: Ztschr. der Gesellsch. für SchleswigHolstein. Gesch. 63 (1935), S. 162–213. – Domenico Caccamo: Sozinianer in Altdorf u. Danzig im Zeitalter der Orthodoxie. In: Ztschr. für Ostforsch. (1970), S. 42–78. – Estermann/Bürger, Tl. 1, S. 975–980; Tl. 2, S. 1227 f. – Siegfried Wollgast: Zum Sozinianismus in Danzig. Zu seinem geistigen Umfeld u. seinen Folgen. In: Oppositionelle Philosophie in Dtschld. Aufsätze zur dt. Geistesgesch. des 16. u. 17. Jh. Hg. ders. Bln. 2005, S. 243–270. Martin Schmeisser
Rubatscher
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Rubatscher, Maria Veronika, * 23.1.1900 Rubin. – Minnesänger der ersten Hälfte Hall/Tirol, † 1.9.1987 Brixen/Südtirol. – des 13. Jh. Erzählerin u. Biografin. R. wuchs ab 1903, streng katholisch erzogen, in Südtirol auf u. arbeitete dort als Lehrerin u. Erzieherin. Den künstlerischen Durchbruch erzielte die Vertreterin einer völkisch-national geprägten Heimatliteratur mit einem Roman über den Grödener Herrgottschnitzer u. Maler Josef Moroder (Der Lusenberger. Mchn. 1930. Neuaufl. Wien 1950. Bozen 1980) u. dem im Tiroler Glaubenskrieg des 16. Jh. spielenden Roman Das lutherische Joggele (Heilbr. 1935). Ihre in archaisierender, mundartnaher Sprache gehaltenen Darstellungen des in Natur, Brauchtum u. Mythos verankerten Südtiroler Bauernstands (Sonnwend. Salzb. 1932. Neuaufl. Wien 1948; R.) sicherten ihr den Erfolg in NS-Deutschland bis 1939 (Option R.s für den Verbleib in Südtirol). Später widmete sich R. wie in ihren Anfängen (Maria Ward. Kevelaer 1927. Neuaufl. 1937. 1948) den Biografien vorbildhafter Christen (Bei Gemma Galgani. St. Ottilien 1950. 1955. Lino von Parma. Luzern 1952) u. histor. Tiroler Themen (Die Thurnwalder Mutter. Wien 1950. Neuaufl. Calliano 1985). Weitere Werke: Agnes. Mchn. 1930 (E.). – Perle Christi. Saarbr. 1933. U. d. T. Margarita v. Cortona. Freib. i. Br. 1938. Calliano 1993 (R.). – Luzio u. Zingarella. Bln. 1934. Calliano 1981 (E.). – Die Schmerzensreiche v. Capriana. Innsbr./Lpz. 1936. U. d. T. Passion in Tirol. Mödling 1948 (Biogr.). – Meraner Mär. Bln. 1936. U. d. T. Liebeslied aus Meran. Wien 1949. Calliano 1982 (E.). – Tiroler Legende. Freib. i. Br. 1938. – Dunkle Wege ins Licht. Wien 1949 (Teilslg.). – Große Herzen. Wiesb. 1953 (Biogr.). – Genie der Liebe – Bodelschwingh. Köln 1954 (Biogr.). – Es war einmal ein Schützenfest... Innsbr. 1958 (E.en). – Die Option 1939 in Südtirol. Calliano 1986 (Ber.). Literatur: Anna Maria Leitgeb: M. V. R. Diss. Innsbr. 1980 (mit Bibliogr.). – Georg KiersdorfTraut: M. V. R. Begegnungen. In: Der Schlern 68 (1994), H. 4, S. 229–232. – Karin Gradwohl-Schlacher: Reaktionsformen österr. Autorinnen im Nationalsozialismus. Ingeborg Teuffenbach, Erika Mitterer, M. V. R. In: Kulturelemente 24 (2000), S. 7 f. Ursula Weyrer / Red.
Ein Liedercorpus unter R.s Namen bieten alle drei südwestdt. Minnesängersammlungen: die Große (C) u. die Kleine Heidelberger (A) sowie die Weingartner Liederhandschrift (B). B u. C geben R. den Titel »her(re)«, ohne dass damit die adlige Abkunft R.s gesichert wäre. Seine Zuweisung zu einem gleichnamigen Tiroler Ministerialengeschlecht wird durch die unterschiedl. Wappen in B u. C nicht gestützt; gegen sie spricht, dass »Rubin« in den Handschriften u. in den Minnesängerkatalogen durchweg als Personenname gebraucht ist (Wallner). Versuche, aufgrund sprachl. Kriterien die Heimat R.s näher zu bestimmen, führen zu keinem überzeugenden Ergebnis. R. hat vielleicht noch zu Lebzeiten Reinmars des Alten zu dichten begonnen, jedenfalls im ersten Drittel des 13. Jh., vor dem Tod Walthers von der Vogelweide; die Lieder VII A u. XXII beziehen sich auf den Kreuzzug 1217–1219 oder auf den Kreuzzug Friedrichs II. (1227, 1228/29). Eine anonym überlieferte Strophe, die aus Anlass des Todes Ulrichs von Singenberg gedichtet sein dürfte (Reinmar von Brennenberg IV 13), nennt R. unter anderen verstorbenen »nachklass.« Minnesängern. Sie müssten spätestens in den dreißiger Jahren, nicht lange nach Walther, verstummt sein, falls Reinmar I. von Brennenberg (urkundlich 1220–1236, † 1236/37, s. Meves) den Ton geschaffen u. die Totenklage gedichtet hat. Eine Identität R.s mit dem »Robyn« der Jenaer Liederhandschrift (J) ließe sich dann nur noch unter der Voraussetzung erwägen, dass der Sängerkatalog in J, der nach Bruder Wernhers Tod verfasst ist, nicht vom Tonautor Robyn selbst stammt. Erhalten sind von R. (nach KLD) 21 Liedtöne mit insg. 78 Strophen, darunter ein Aufruf zur u. ein Abschied vor der Kreuzfahrt (VII A, XXII), ein Tagelied (XX) u. ein Minnekasus (VII B). Diktion u. Argumentation der Minnelieder verraten intimste Vertrautheit mit dem Minnesang Reinmars u. Walthers bis hin zum wörtl. u. auch Form-Zitat (XVII). Die These, dass R. sich an einer »Fehde« zwischen beiden beteiligt u. für Reinmar
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Rubiner
Partei ergriffen habe (so Kaiser), wird der in MA u. früher Neuzeit. Hg. Jan-Dirk Müller. Realität kaum gerecht. R. hält am Rein- Stgt./Weimar 1994, S. 67–92, 134 f. – Fritz Peter mar’schen Konzept der hohen Minne (das Knapp: Die Lit. des Früh- u. HochMA in den BisGegenliebe prinzipiell einschließt) fest, ent- tümern Passau [...] bis zum Jahre 1273. Graz 1994, S. 300 f., 619. – Franz-Josef Holznagel: Wege in die problematisiert es aber durch stärkere BetoSchriftlichkeit. Tüb./Basel 1995, bes. S. 247–249, nung der »fröide«, die das allg. »lop der rei- 272 f., 505–507. – T. Bein: Walther im Anhang? In: nen wîbe« schenkt (XVIII 1). Auch in Einzel- Walther lesen. FS Ursula Schulze. Hg. Volker Merzügen, z.B. der häufigeren Verwendung des – tens u. a. Göpp. 2001, S. 195–214 (zu Lied XIV). – allerdings wenig ausgedehnten – Naturein- Hans-Jochen Schiewer: Der ›Club der toten Dichgangs, zeigt R. eine gewisse Nähe zum Min- ter‹. Beobachtungen zur Generation nach Walther. nesang jüngeren Stils. Wiederholt themati- In: Walther v. der Vogelweide. Hg. T. Bein. Ffm. siert er das eigene »singen«. In seiner Form- 2002, S. 249–276, bes. S. 263–271. – Helmut Birkkunst orientiert R. sich nicht an Reinmar u. han: Gesch. der altdt. Lit. im Licht ausgew. Texte. Tl. VII, Wien 2005, S. 26–29. – Uwe Meves: ReWalther, sondern bevorzugt Kanzonenstrogesten dt. Minnesänger des 12. u. 13. Jh. Bln./New phen anderen Typs, ohne die Vorliebe der York 2005, S. 777–797, bes. S. 780 f. (zu Reinmar v. »Neifen-Schule« für auftaktlose Verse zu tei- Brennenberg). – Gert Hübner: Minnesang im 13. len. Jh. Tüb. 2008. – Carolin Schuchert: Walther in A. Keiner aus dem Kreis der Reinmar- u. Studien zum Corpusprofil u. zum Autorbild WalWalther-Nachfolger – u. a. Ulrich von Liech- thers v. der Vogelweide in der Kleinen Heidelberger tenstein, Rudolf von Rotenburg, Walther von Liederhs. Ffm. 2010, bes. S. 92 f., 104, 131 ff., Mezze – hat eine so breite Überlieferung er- 364–366, 399 f. – G. Kornrumpf: R.s Lieder. Die Corpusüberlieferung in A, a, B, C (in Vorb.). reicht wie R. (zu A, B, C kommen noch eine Gisela Kornrumpf anonyme Sammlung u. verstreute Zeugnisse ohne oder unter anderem Namen hinzu) u. ist so oft in Sängerkatalogen genannt worden Rubiner, Ludwig, auch: Ernst L. Grom(Reinmar von Brennenberg IV 13, Marner XIV beck, * 12.7.1881 Berlin, † 27.2.1920 18, Hermann Damen III 4). Eine direkte Berlin. – Lyriker, Dramatiker, Essayist u. Wirkung auf Dichter des 13. Jh. lässt sich Kritiker. freilich nicht feststellen. Der Sohn eines Unterhaltungsschriftstellers Ausgaben: KLD 1, S. 338–358 (zitiert). – Hubert ostjüd. Herkunft studierte 1902–1906 MuHeinen: Mutabilität im Minnesang. Mehrfach überlieferte Lieder des 12. u. 13. Jh. Göpp. 1989, sikwissenschaften, Kunstgeschichte, PhilosoS. 146 f. (XVIII), 242–253 (XIV, I, II, XV, XVI, XXII). phie u. Germanistik an der Universität Berlin. Er war Vorsitzender der dortigen literar. AbLiteratur: Anton Wallner: Herren u. Spielleute. In: PBB 33 (1908), S. 483–540, bes. S. 524–526. – teilung der Freien Studentenschaft u. näherte KLD 2, S. 399–429. – Gert Kaiser: Beiträge zu den sich, enttäuscht von den begrenzten StudiLiedern des Minnesängers R. Mchn. 1969 (mit eninhalten u. deren »bürgerlicher« Tendenz, Wortverz.). Dazu Helmut Tervooren in: AfdA 82 der Hart’schen »Neuen Gemeinschaft«, ei(1971), S. 75–78. – Burghart Wachinger: Sänger- nem progressiven Naturalistenzirkel mit Bokrieg. Mchn. 1973, bes. S. 107. – Olive Sayce: The hemecharakter, in dem er u. a. Mühsam u. Medieval German Lyric 1150–1300. Oxford 1982. – Landauer kennenlernte. Erste Gedichte puEva B. Scheer: ›Daz geschach mir durch ein schou- blizierte er in der anarchistisch-antimilitawen‹. Wahrnehmung durch Sehen in ausgew. ristischen Zeitschrift »Kampf«, später auch in Texten des dt. Minnesangs bis zu Frauenlob. Ffm. Zeitschriften wie Franz Pfemferts »Aktion«, 1990, bes. S. 33–35, 83 f. – Eva Willms: Liebesleid Herwarth Waldens »Sturm« u. René Schiu. Sangeslust. Mchn. 1990 (Register). – Gisela ckeles »Weißen Blättern«, bei deren GestalKornrumpf: R. In: VL (Lit.). – Hellmut Salowsky: Codex Manesse. Beobachtungen zur zeitl. Abfolge tung er auch mitwirkte. R. entwickelte bereits 1908 Thesen zur der Niederschrift des Grundstocks. In: ZfdA 124 (1993), S. 251–270, bes. S. 258, 261, 269 f. – Tho- »Politisierung des Theaters« u. den für sein mas Bein: Das Singen über das Singen. Zu Sang u. Denken zentralen Topos der Anonymität des Minne im Minnesang. In: ›Aufführung‹ u. ›Schrift‹ Künstlers: Im Sinne einer humanitären,
Rubiner
geistigen u. sozialen Erneuerung der Gesellschaft müsse der Künstler im Dienst einer Gemeinschaftsidee das »individualistische Schlafrock-Künstlertum« hinter sich lassen, in dieser ethisch fundierten Aufgabe, die ihm alles schöpferische Potenzial abverlange, ganz aufgehen. 1909 reiste R. nach Russland, möglicherweise auf den Spuren Leo N. Tolstojs, der ihm moralisches Vorbild war. 1912 verlegte er seinen Wohnsitz nach Paris (zusammen mit Carl Einstein). Französische Geisteskultur u. das polit. Leben der Metropole faszinierten R. im Vergleich zu wilhelmin. Verhältnissen. Esprit u. Engagement verbinden sich denn auch in dem manifestartigen Aufsatz Der Dichter greift in die Politik (in: Die Aktion, Nr. 2, 1912): Der Dichter »reißt auf, er legt bloß«, übt damit eine »moralische Wirkung« aus, denn Politik sei die »Veröffentlichung unserer sittlichen Absichten«. 1915 musste R. Frankreich verlassen u. flüchtete als radikaler Kriegsgegner in die Schweiz. Er schrieb für die »Neue Zürcher Zeitung« u. gab 1917/18 die Exilzeitschrift »Zeit-Echo« heraus, die er zur Plattform seiner emphat. Vorstellung einer Geistesrevolution, getragen von einer »Verantwortlichkeit aller«, machte. Seine Idealisierung der Russische Revolution führte schließlich Ende 1918 zur Ausweisung aus der Schweiz. 1919 beteiligte sich R. in Berlin an der Gründung des »Proletarischen Theaters«, einer Wanderbühne für Arbeiter. Im selben Jahr wurde er Lektor beim Potsdamer Kiepenheuer Verlag. In der von ihm herausgegebenen Anthologie Kameraden der Menschheit. Dichtungen zur Weltrevolution (Potsdam 1919) versammelte R. die Elite des politisch engagierten Expressionismus. Seine Bemühungen, dem Verlag ein zeitgemäßes Profil zu geben, gipfelten in der Edition der Reihe Der dramatische Wille, die sich auf aktuelle Theaterstücke konzentrierte. Auftakt war R.s Werk Die Gewaltlosen (ebd. 1919). Von ihm selbst als »Legende« u. »Ideenwerk« bezeichnet, wurde das Drama 1920 postum im Sinne einer Gedenkfeier uraufgeführt. Das Stück thematisiert den Kampf zwischen Bourgeoisie (bzw. dem Materialismus als Idee) u. Volk fast religiös-weihevoll mit Fi-
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guren ohne Psychologie (die R. bes. in Form der Psychoanalyse ablehnte) u. eigenem Gefühlsleben (von der »Gefühlsvergangenheit des Kapitalismus« suchte R. zu befreien). Der Kampf um eine symbolische »Lichtstadt« wird durch den fanalhaften, freiwilligen Opfertod einiger Revolutionäre, einem Martyrium, zugunsten der Befreiung entschieden. Ähnliche Töne fanden sich schon in dem psalmenartigen Gedichtzyklus Das himmlische Licht (Lpz. 1916 [= Der jüngste Tag. Bd. 33]), in dem die bürgerl. Dekadenz der technischzivilisatorisch aufgeblähten Großstädte mit dem weltweiten Erlösungswunsch des »armen Mob« bilderreich kontrastiert wird. Bei allem integren Messianismus kranken diese Werke an den mit Sinngehalt überladenen Abstrakta u. phrasenhaft wirkenden Wiederholungen. R. wollte dennoch als Dichter Anleitung zum Leben, zum Handeln geben im Gegensatz zur (selbst-)erkenntnisorientierten Kunstform Dichtung einer »verbrauchten Epoche« des »Privatmenschen«. Weitere Werke: Ausgabe: Künstler bauen Barrikaden. Texte u. Manifeste 1808–19. Hg. Wolfgang Haug. Ffm. 1988. – Auswahl in: Dt. Lyrik v. Luther bis Rilke (CD-ROM). Bln. 2004. – Einzeltitel: Die indischen Opale (Pseud.: Ernst Ludwig Grombeck). Bln. 1911 (Kriminal-R.). – Kriminal-Sonette (zus. mit Friedrich Eisenlohr u. Livingstone Hahn). Lpz. 1913. – Der Mensch in der Mitte. Betrachtungen. Bln.-Wilmersdorf 1917. – Herausgeber: Leo Tolstoi: Tagebuch 1895–99 (Übers. Frida IchakRubiner). Zürich 1918. – Kameraden der Menschheit. Dichtungen zur Weltrevolution. Potsdam 1919. – Voltaire: Die Romane u. Erzählungen (Übers. F. Ichak). Ebd. 1919. Literatur: Klaus Petersen: L. R. Bonn 1980 (mit . Bibliogr.). – Bozena Chol/uj: Vom abstakten zum konkreten Enthusiasmus. Dargestellt an L. R., Erich Mühsam u. Leonhard Frank. In: Melancholie u. Enthusiasmus. Studien zur Lit.- u. Geistesgesch. der Jahrhundertwende. Hg. Karol Sauerland. Ffm. u. a. 1988, S. 181–194. – Alessio Trevisani: Lo spazio anelato. Corpo e parola nel ›Tänzer Nijinski‹ di L. R. In: Studi germanici 37 (1999), S. 153–162. – Walter Fähnders: L. R. In: NDB. – Heidi Beutin: ›Der Dichter greift in die Politik‹. Ein Protagonist des Expressionismus im Jahrzehnt des 1. Weltkriegs u. der Revolution: L. R. In: Die Novemberrevolution im Spiegel v. Lit. u. Publizistik [...]. Hg.
Rubinstein
75 ›Helle Panke‹ zur Förderung v. Politik, Bildung u. Kultur e. V. Bln. 2008, S. 38–44. Oliver Riedel / Red.
Rubinstein, Hilde, auch: Katarina Brendel, Leonard Lundström, Maria Stefani, Hilde B. Winrich, verh. Weinreich, * 7.4. 1904 Augsburg, † 5.8.1997 Gothenburg/ Schweden. – Dramen- u. Romanautorin; Malerin. Nach dem Ersten Weltkrieg, den R., Tochter des aus dem zaristischen Russland nach Deutschland emigrierten Motoreningenieurs Jacques Rubinstein (1875–1924), als Kind in Hannover erlebte, begann sie ein Studium der Malerei in Köln, Weimar u. Düsseldorf. 1927/ 28 hielt sie sich zu Studienzwecken in Paris auf. In den 1920er Jahren knüpfte sie erste Kontakte zum Theater, zu Helene Weigel u. Brecht. Ihr erstes Drama Winterkrieg (1926), das von einem von Anarchisten verübten Attentat auf einen Eisenbahnzug handelt, wurde nie aufgeführt. Erfolg hatte sie dagegen 1932 mit dem Ehedrama Es war einmal ein treuer Husar (Urauff. Bln.). Seit 1929 Mitgl. der KPD, wurde sie Ende 1933 verhaftet. Nach ihrer Entlassung flüchtete sie über Belgien in die Niederlande u. ging 1935 nach Schweden, wo sie sich mit Gelegenheitsarbeiten u. Malaufträgen durchbrachte. Nach einem Besuch bei ihrem Bruder Fritz, der 1930 in die Sowjetunion emigriert war, in Moskau wegen angeblicher trotzkistischer Kuriertätigkeit zehn Monate in Haft, sollte sie Ende 1937 nach Deutschland ausgewiesen werden. R. konnte aber in Polen entkommen u. erreichte über Riga Schweden, wo sie zunächst als Tellerwäscherin u. Gärtnereigehilfin, dann als Malerin u. Schriftstellerin tätig war. 1982 kehrte sie für einige Jahre nach West-Berlin zurück. In Schweden entstanden ihre zahlreichen Dramen u. Gedichte, die sich provozierend u. schockierend mit der Verdrängung der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigen oder Menschen in stupender Sorglosigkeit zeigen: The Yellow Rose of Texas, Tiefgefrorenes Reh, Der Mann aus Leiden (u. d. T. Tiefgefrorenes Reh. Bln./ DDR 1987. Nachw. von Klaus Selbig). Seit 1982 veröffentlichte R. zahlreiche Essays,
Kritiken u. arbeitete für den Rundfunk. 1977 erschien ihr erster Gedichtband, Lobet den Zorn eurer Söhne und Töchter (Andernach); 1983 folgten »Gedichte und Berichte« u. d. T. Tellurische Nachrichten (Bln.). Stets unprätentiös u. direkt, treten ihre Werke für das ein, was R. »spielend leben« nennt – ein selbstbestimmtes Leben im Widerstand gegen Vereinnahmung durch die Gesellschaft. Ihre »Gefängnistagebücher unter Hitler und Stalin« erschienen zusammen mit anderen Texten u. d. T. »Ich wollte nichts als glücklich sein ...« (Hg. u. mit einem Nachw. vers. von Maria Empting u. Stefan Greif. Paderb. 1994). Weitere Werke: Atomskymning. Stockholm 1953. Dt.: Atomdämmerung. Zürich 1960 (R.; unter dem Pseud. Katarina Brendel). – Der große Coup. Urauff. Halle/S. 1958 (Kom.). – Übersetzung: August Strindberg: Das rote Zimmer. Schilderungen aus dem Leben der Künstler u. Schriftsteller. Mit einem Nachw. v. Gerhard Scholz. Bln./DDR 1963. Ffm. 1979. Ausgb. 2005. Literatur: Anneliese Mehlmann: Künstler u. Mensch H. R. Eine Bio-Bibliogr. Stockholm 1970. – Anne Stürzer: ›Schreiben tue ich jetzt nichts ... keine Zeit‹. Zum Beispiel: Die Dramatikerinnen Christa Winsloe u. H. R. im Exil. In: Exilforschung. Ein internat. Jb. Bd. 11: Frauen u. Exil. Mchn. 1993, S. 127–142. – Dies.: Dramatikerinnen u. Zeitstücke. Ein vergessenes Kapitel der Theatergesch. v. der Weimarer Republik bis zur Nachkriegszeit. Stgt./Weimar 1993, S. 50–63, 150–164, 238–251. – Dies.: Das Zeitstück v. Frauen. Ein Lehrstück vom Vergessen. Die Dramatikerinnen H. R. u. Eleonore Kalkowska. In: Zwischen Aufbruch u. Verfolgung. Künstlerinnen der zwanziger u. dreißiger Jahre. Hg. Denny Hirschbach u. Sonia Nowoselsky. Bremen 1993, S. 93–115. – Sonja Hilzinger: H. R. (1904–1997): Eine Spurensuche. In: Ztschr. für Museum u. Bildung, Nr. 63 (2005), S. 69–74. – Claudia Schoppmann: H. R. In: Im Fluchtgepäck die Sprache. Deutschsprachige Schriftstellerinnen im Exil. Hg. dies. Ffm. 21995, S. 38–47. – Dies.: H. R. In: NDB. – Agnieszka Sochal: ›Es ist grauenhaft, wohin uns die Wissenschaft führt‹. Zur Verantwortung der Wiss. für die Vernichtung der Welt durch moderne Waffen auf der Grundlage der Theaterstücke v. Maria Lazar, Ilse Langer u. H. R. In: Studia niemcoznawcze 37 (2008), S. 351–362. Stefan Greif / Bruno Jahn
Rudnick
Rudnick, Paul Jacob, * um 1718 Bütow/ Hinterpommern, † 14.6.1741 Halle/Saale. – Anakreontiker u. Satiriker.
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lichkeit des Lebens vor Augen führt u. zur Freude am Gegenwärtigen auffordert. Außerdem verarbeitete R. die philosophische Systematik des ebenfalls in Halle lehrenden Mathematikers u. Philosophen Christian Wolff in einem parodistischen Fechtbuch, eine Idee, die von seiner Tätigkeit als Fechtlehrer Gleims u. Uz’ herrührte. Die nicht publizierte Handschrift befindet sich im Gleimhaus Halberstadt. Gleim u. Uz berichten in ihrem Briefwechsel darüber, dass die Veröffentlichung zweier Briefe – der eine über die Liebe, der andere über eine Reise R.s nach Schlettau – sowie dessen Anmerkungen zu Baumgartens Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus (Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichtes, 1735) für eine Veröffentlichung geeignet wären. Der Plan R.s, gemeinsam mit Uz ein satir. Wochenblatt (»Der Dorfzuschauer«) herauszugeben, zerschlug sich durch seinen frühen Tod.
R. gilt dank des lobenden Urteils seiner Freunde Johann Wilhelm Ludwig Gleim u. Johann Peter Uz als ein hoffnungsvoller, jedoch zu früh verstorbener Dichter u. Philosoph. Er besuchte seit dem 19.10.1730 das Danziger Gymnasium u. nahm am 20.9.1736 an der Universität Jena ein Philosophiestudium auf. Nach dem Tod seines Vaters geriet er in Schulden u. floh nach Halle/Saale. Dort kam er bei Gleim u. Uz unter, die gemeinsam mit Johann Nikolaus Götz unter dem Einfluss der Ästhetiklehre des bis 1740 in Halle lehrenden Philosophen Alexander Gottlieb Baumgarten u. in Anlehnung an einen älteren Hallischen Dichterbund 1739 den zweiten bildeten. Diesem kurzlebigen, aber doch einflussreichen Freundschaftsbund schloss R. sich an. Zum Vorbild wählten sie den im 6. Jh. v. Chr. lebenden Dichter Anakreon, dem zu Ausgabe: Zweiter Hallischer Dichterkreis: Anadieser Zeit 60 sinnenfreudige Gedichte über kreontik – Gleim, Götz, R., Uz. Hg. Hans-Joachim Liebe u. Wein zugeschrieben wurden. Nach Kertscher. Halle 1993, S. 25–30 (›Der heutige Geeinem längeren Aufenthalt im Krankenbett genstand meiner Einbildungskraft‹ u. ›Ode über die durch Unvorsichtigkeit abgebrannte Kirche‹). starb R. bereits im Frühsommer 1741. R. publizierte, trotz seines Verlangens Literatur: Carl Schüddekopf: P. J. R. In: ADB. – »nach der Unsterblichkeit eines Schriftstel- Briefw. zwischen Gleim u. Uz. Hg. Carl Schüddelers« (Briefwechsel 1899, S. 138), zu Lebzei- kopf. Tüb. 1899. – Kosch. – Zweiter Hallischer ten kein einziges Stück. Von ihm sind heute Dichterkreis (siehe Ausg.n), S. 7–15, 94–97. – Gernur jene Schriften bekannt, die postum her- linde Wappler: ›Sie sind ein ungestümer Freund‹. Menschen um Gleim. Bd. 1, Oschersleben 1998, ausgegeben wurden bzw. aus der KorreS. 13, 112, 122, 155. Mario Müller spondenz seiner Freunde erschlossen werden können. 1741 veröffentlichte Uz anonym u. im veränderten Wortlaut die prosaische Satire Der heutige Gegenstand meiner Einbildungskraft Rudolf von Biberach, † nach 1326. – über die Irrwege eines Dichters u. seine Läu- Franziskanertheologe. terung durch die Philosophie. Trotz des Ver- R. wirkte wohl kurz in Paris, überwiegend risses dieser gegen Johann Christoph Gott- aber in Straßburg, wo er Meister Eckhart besched gerichteten Schrift regte Ewald Chris- gegnet sein wird. Er war Lektor am dortigen tian von Kleist, der mit R. in Danzig zur Studium generale der Franziskaner, wird als Schule gegangen war, eine Gesamtausgabe »magister« bezeichnet u. ist u. a. als Beichtdes R.schen Werks an, das jedoch nicht be- vater Herzog Leopolds von Österreich (gest. sonders umfangreich gewesen sein wird, da 1326) bezeugt. Neben der seelsorgerl. Tätigdas geplante »Bändchen« noch durch Texte keit entstanden Schriften De septem donis Spianderer ergänzt werden sollte. Fünf Jahre ritus Sancti, De excellenti praerogativa benedictae später veröffentlichte Götz die an ihn ge- Virginis, Predigten über das Hohelied u. das in richtete Ode über die durch Unvorsichtigkeit ab- über 100 Handschriften in ganz Mitteleuropa gebrannte Kirche zu Glaucha bey Halle. 1740, den 6. tradierte, oft Bonaventura zugeschriebene Jenner, in der R. seinem Freund die Vergäng- Hauptwerk über die Sieben Wege zu Gott, De
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septem itineribus aeternitatis (wohl Ende 13. Jh.). Dieser aszetisch-myst. Text – im Wesentlichen eine Kompilation aus älteren Autoren in der Tradition pseudo-dionys. Schrifttums u. vor allem der Viktoriner – entfaltet einen über rechte Absicht, Betrachtung des Ewigen u. Verkostung Gottes zunehmend intensivierten Stufenweg zur Wiederherstellung der verletzten Gottebenbildlichkeit des Menschen. Relativ selbstständig sind die Abschnitte über die Verbindung der fünf inneren Sinne, die eingehend behandelt werden, mit der Eucharistie. Das Werk wurde zu einem geistl. Handbuch des SpätMA: übersetzt u. bearbeitet im Oberdeutschen u. Niederländischen, gelesen im Kreis der Basler Gottesfreunde, herangezogen sowohl von Ordensgeistlichen u. Weltklerus wie von spirituell interessierten Laien, gelegentlich auch exzerpiert u. diagrammatisch illustriert. Der oberdt. Übersetzer hat – vielleicht Beginenhäuser u. Frauenklöster im Blick – gelegentlich verdeutlicht, gelehrt-theolog. Beiwerk ausgedünnt, lat. Vieldeutigkeit zu differenzieren versucht, sich im Ganzen aber eng an die Vorlage gehalten. Allein diese gelangte allerdings in der weiteren Geschichte der Spiritualität zu Wirkung, u. a. bei Johannes von Kastl, Vinzenz von Aggsbach u. Johannes Gerson, eventuell sogar bei Ignatius von Loyola u. Teresia von Avila. Ausgaben: De septem itineribus aeternitatis. Hg. Margot Schmidt. Stgt. 1985 (Text nach Peltier. Paris 1866). – Die siben strassen zu got. Die hochalemann. Übertragung nach der Hs. Einsiedeln 278. Hg. dies. Stgt. 1985 (zuerst Quaracchi 1969. Wörterbuch dazu: Amsterd. 1980). Literatur: Margot Schmidt: R. v. B. In: VL. – Dies.: Zur Bedeutung der Weisheit bei R. v. B. In: Mystik in den franziskan. Orden. Hg. JohannesBaptist Freyer. Kevelaer 1993, S. 96–116. – Niklaus Largier: Die Phänomenologie rhetor. Effekte u. die Kontrolle religiöser Kommunikation. In: Literar. u. religiöse Kommunikation in MA u. Früher Neuzeit. Hg. Peter Strohschneider. Bln./New York 2009, S. 953–968. Christian Kiening
Rudolf von Ems. – Höfischer Epiker des 13. Jh. R.s Biografie muss aus Angaben über Auftraggeber u. Gönner in seinen Werken u. aus
Rudolf von Ems
Selbstnennungen erschlossen werden. Als Ministeriale – »ain dienest man ze Muntfort« – bezeichnet er sich im Willehalm von Orlens; die Herkunft »von Ense« (Hohenems im Vorarlbergischen) teilt der Fortsetzer seiner Weltchronik mit. R.s literar. Aktivität ist ab etwa 1220 bis in die Mitte der 1250er Jahre belegt. Dabei setzen der Guote Gêrhart u. Barlaam und Josaphat den Anfang des Œuvre; das Ende markiert die Weltchronik. Die Arbeit am Alexander nach Barlaam und Josaphat unterbrach R. vermutlich bald u. verfasste in der Zäsur den Minneroman Willehalm von Orlens. Der Alexander II muss in zeitl. Nähe zur Weltchronik entstanden sein. Den in zwei Handschriften überlieferten Guoten Gêrhart gab der als Ministeriale des Bischofs von Konstanz 1209–1221 bezeugte Rudolf von Stainach in Auftrag. In der dem Schema des religiösen Vollkommenheitsvergleichs folgenden Rahmenhandlung muss Kaiser Otto (1.) seine guten Werke an den Helfertaten des demütigen Kölner Fernhandelskaufmanns Gêrhart messen lassen, dessen eth. Leistung, wie sein Lebensbericht zeigt, die des werkgerechten Kaisers weit übertrifft: Mit seinem Handelsgut hat Gêrhart die gefangene norweg. Königstochter Erêne »in der heidenschaft« freigekauft u. nach Köln gebracht. Ihr tot geglaubter Bräutigam, der engl. Königssohn Willehalm, kehrt erst während Erênes Hochzeit mit Gêrharts Sohn wie durch ein Wunder zurück. Gêrhart bewegt seinen Sohn zum Verzicht u. hilft Willehalm beim Wiedergewinn der Königsherrschaft. Gêrharts einzigartige Helferrolle bestimmt das literar. Novum, dass ein höf. Kaufmann als Held dieser Geschichte fungieren kann. In der Vermittlung von »rât« u. »lêre« realisiert Gêrhart demonstrativ eine eth. Lebensorientierung, die als Fürstenunterweisung »ein bezzerunge waere der kristenheit«, weshalb Kaiser Otto reumütig die Geschichte überliefern lässt. Sozialgeschichtliche Interpretationen des Werks verweisen v. a. auf das Konfliktpotential zwischen reichem Bürgertum u. Ministerialität. Konkurrierende Deutungen betonen die Dominanz des – in die Sphäre der höf. Literatur transponierten – geistl. Rangstreits.
Rudolf von Ems
Mit der Legende Barlaam und Josaphat (48 Textzeugen, davon 20 fast vollständige Hss.; eine illustrierte Hs. aus der Werkstatt Diebold Laubers) lieferte R. eine dt. Fassung der lat. Vulgata-Version des wohl auf die ind. Buddha-Legenden zurückgehenden Stoffs: Einer Weissagung gemäß wird sich der Königssohn Josaphat gegen den Willen seines Vaters Avenier zum Christentum bekehren. Trotz aller Versuche, Josaphat abgeschieden aufwachsen zu lassen, bringt ihn die Leiderfahrung dazu, nach dem Sinn des Lebens zu suchen. Der von Gott geschickte Einsiedler Barlaam stellt ihm die christl. Heilslehre vor. Der bekehrte Josaphat versucht das Christentum im Land zu verbreiten, überzeugt zuletzt sogar seinen Vater u. vollendet sein Leben als frommer Einsiedler. Konsequent hob R. die Bedeutung der Religionsgespräche, der Vermittlung von »rât« u. »lêre«, für Verständnis u. Verbreitung der Christenlehre hervor – möglicherweise im Sinne einer programmat. Abgrenzung gegenüber der Chanson-de-geste-Tradition, die den Kampf gegen die Heiden zur Verbreitung des Glaubens propagiert. Jedenfalls verfasste R. den Legendenroman auf Anraten Abt Widos u. des Konvents der Zisterzienserabtei Kappel am Albis. Der wohl auf zehn Bücher angelegte Alexander (überliefert in drei Fragmenten) bricht mitten im sechsten Buch ab. R. schrieb ihn in zwei Phasen, voneinander abgegrenzt durch den Wechsel von der Historia de preliis zu den Historiae Alexandri Magni des Curtius Rufus als bestimmender Quelle. Dabei überformte R. nach der neuen Konzeption noch einmal die Gliederung des ersten Teils. Die Unterwerfung des Perserreichs ist Höhepunkt der Eroberungskämpfe; die Kämpfe gegen den ind. König Porus u. Alexanders wunderbare Luftu. Meerfahrt führte R. wohl nicht mehr aus. Unanfechtbare virtus sichert statische Idealität u. demonstrativen Vorbildcharakter des Herrscherbildes. Vermutlich sollte der Bericht den Söhnen Friedrichs II., bes. König Konrad IV., zur Unterweisung angeboten werden. R. nennt keinen Auftraggeber, doch ein heilsgeschichtl. Exkurs suggeriert, der künftige Friedensherrscher werde aus Sizilien kommen u. damit ein Staufer sein. Die
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stauf. Politik der Friedenswahrung rückt so in die dezidierte Fürstenunterweisung ein, zu der R. seine Alexandervita programmatisch fortentwickelt hat. Die Stoffkonzeption des Minneromans Willehalm von Orlens (sieben fast vollständige Pergamenthandschriften des 13. bis 14. Jh. u. 14 Pergamentfragmente; dazu insges. zwölf Papierhandschriften aus dem 15. u. dem Anfang des 16. Jh.) verdankt R. einer (verlorenen) frz. Quelle, während er die Vorgeschichte, Liebe u. Tod von Willehalms Eltern, wohl selbst nach Vorbildern der höf. Klassik entwarf. Ausdrücklich nennt R. als Vermittler der frz. Vorlage Johannes von Ravensburg, einen schwäb. Ministerialen, u. als Auftraggeber den Reichsschenken Konrad von Winterstetten, der als Prokurator des Herzogtums Schwaben u. Berater für den stauf. Königshof einem Kreis einflussreicher Literaturliebhaber angehörte, welche die imperialen Ansprüche der Staufer programmatisch unterstützten. Nach dem Tod seiner Eltern wird Willehalm von Jofrit von Brabant, dem Kriegsgegner seines Vaters, aufgezogen u. vollendet seine Ausbildung am engl. Königshof. Dort erfasst ihn heftige Liebe zur engl. Königstochter Amelie, die ihn jedoch erst heiraten will, wenn er seine Schwertleite betrieben u. sich auf Turnieren ausgezeichnet hat. Heiratspläne des Hofes konkurrieren mit den Interessen des Paares: Willehalm kehrt überstürzt von seiner Turnierfahrt zurück; die gemeinsame Flucht wird vereitelt, das Paar gefangengesetzt, Willehalm schließlich verbannt. Die Trennung der Liebenden wird nach langem Exil erst durch Hilfe von außen überwunden. Die Hochzeit ist verbunden mit dem Gewinn von Landesherrschaft u. der glanzvollen Repräsentation höf. Idealität. Wenn Willehalm zuletzt im Rahmen eines Hoftages das Programm der Friedenswahrung für sein Reich zu realisieren sucht u. als Begründer des Geschlechts vorgestellt wird, aus dem Gottfried von Bouillon hervorgehen sollte, stiftet R. einen Zusammenhang mit dem Staufer Konrad IV., der sich als legitimen Nachfahren Gottfrieds von Bouillon, als »heres regis Hierosolymae« verstand.
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Dezidiert stauf. Legitimationsinteresse dient auch die Weltchronik (über 100 Hss. vom Ende 13.-15. Jh., zahlreiche jüngere Funde, bes. Fragmente), die R. unmittelbar im Auftrag König Konrads IV. (V. 21 663) verfasste. Den immensen Fundus naturkundl. u. profanen Wissens dieser ältesten dt. Weltchronik in Versen (nach ihrem Anfang auch Richter got herre-Chronik genannt) entnahm R. vor allem der Vulgata u. der Historia scholastica des Petrus Comestor, aber auch der Imago mundi des Honorius Augustodunensis, Isidors Etymologien, Hieronymus’ Bearbeitung der Zeittafeln des Eusebius u. dem Pantheon des Gottfrid von Viterbo. Doch blieb das Werk Torso; R. beendete seine Arbeit vermutlich bei V. 33.346. Umstritten ist, ob der Tod des Mäzens R. bewog, das monumentale Werk aufzugeben, oder ob er selbst auf dem Italienfeldzug Konrads IV. umkam. Die Weltgeschichte organisiert R. nach dem Sechs-Weltalter-Schema u. der Einteilung Augustins, verlegt aber Einschnitte, die die Zeitalter markieren. Einem – das erste überformenden – zweiten Gliederungsschema folgend, werden Heilsgeschichte u. Profangeschichte in gegeneinander abgesetzter Perspektive entfaltet (»der maere rehte ban« vs. die »biwege«). Dabei berichtet R. die Ereignisse der Profangeschichte zusammengefasst u. in Form von Inzidentien jeweils am Schluss eines Weltalters. Trotz gewaltiger Stoffülle wird die universalhistor. Deutung des Geschichtsverlaufs durch Vorausdeutungen u. leitmotivartige Querverweise transparent. In Davids Thronbesteigung erreicht die Welthistorie einen ersten Höhepunkt, der durch den genealog. Anschluss unmittelbar auf Konrad IV. als den legitimierten Erben eines solchen sakralen Königtums u. »Postfiguration« König Davids bezogen werden kann. Aus der Totalität gelehrten Wissens in der synchronist. Tradition von Eusebius u. Hieronymus wird so der Anspruch abgeleitet, über die exempla der Geschichte vorbildl. Muster christl. u. profaner Idealität für die Gegenwart zurückzugewinnen. Indem R. dabei sein Werk zunehmend für die Leitbilder der höf. Laienkultur öffnet, bezieht er es auf den aktuellen Verständigungshorizont adeliger Selbstdeutung u. sichert zgl. seinen
Rudolf von Ems
Auftrag, autoritativer Fürstenunterweisung zu dienen. Zwar bestimmt das obligate Vorbild der höf. Klassiker Hartmann, Wolfram u. vor allem Gottfried von Straßburg R.s Selbstverständnis, aber aus gelehrter Kompetenz setzt er ein neues Anspruchsniveau seiner Kunst im souveränen »Experimentieren mit Stoffen und Funktionen« (Kuhn), das der volkssprachl. Epik nach dem Muster der lat. Literaturtradition eine neue Meisterschaft des Artistischen sichert. Ausgaben: Der Guote Gêrhart: D. g. G. Eine Erzählung v. R. v. E. Hg. Moriz Haupt. Lpz. 1840. – D. g. G. Hg. Johann Alexander Asher. Tüb. 1962. 3 1989. – Der gute Gerhart R.s v. E. in einer anonymen Prosaauflösung u. die lat. u. dt. Fassung der Gerold-Legende Albrechts v. Bonstetten. [...]. Hg. Rudolf Bentzinger u. a. Bln. 2001. – Barlaam und Josaphat: B. u. J. v. R. v. Montfort. Hg. Friedrich Karl Köpke. Königsb. 1818. Lpz. 21838. – B. u. J. Von R. v. E. Hg. Franz Pfeiffer. Lpz. 1843. Neudr. mit einem Anhang aus: Franz Söhns: Das Handschriftenverhältnis in R.s v. E. ›Barlaam‹. Hg. Heinz Rupp. Bln. 1965. – Alexander: A. Hg. Victor Junk. 2 Bde., Lpz. 1928/29. Nachdr. Darmst. 1970. – Willehalm von Orlens: R.s v. E. W. v. O. Hg. ders. Bln. 1905. Neudr. Dublin/Zürich 1967. – Weltchronik: R.s v. E. W. Hg. Gustav Ehrismann. Bln. 1915. Neudr. Dublin/Zürich 1967. Literatur: Bibliografie: Angelika Odenthal: R. v. E. Eine Bibliogr. Köln 1988. – Weitere Titel: Xenja v. Ertzdorff: R. v. E. Mchn. 1967. – Helmut Brackert: R. v. E. Heidelb. 1968. – Rüdiger Schnell: R. v. E. Bern/Mchn. 1969. – Charlotte Nägler: Studien zu ›Barlaam u. Josaphat‹ v. R. v. E. Diss. Karlsr. 1972. – Wolfgang Walliczek: R. v. E.: ›Der guote Gêrhart‹. Mchn. 1973. – Wilfried Schouwink: Fortuna im Alexanderroman R.s v. E. Göpp. 1977. – Ingrid v. Tippelskirch: Die ›Weltchronik‹ des R. v. E. Ebd. 1979. – Eckard Conrad Lutz: Rhetorica divina [...]. Bln. 1984, S. 161–309, 353–367. – Walter Haug: Literaturtheorie im dt. MA. Darmst. 1985, S. 279–331, passim. – Denis Green: On the Primary Reception of the Works of R. v. E. In: ZfdA 115 (1986), S. 151–180. – W. Walliczek: R. v. E. In: VL u. VL (Nachträge u. Korrekturen). – Ders.: R. v. E., ›Der guote Gêrhart‹. In: Mhd. Romane u. Heldenepen. Hg. Horst Brunner. Stgt. 1993, S. 255–270. – Danielle Jaurant: Rudofs ›Weltchronik‹ als offene Form. Überlieferungsstruktur u. Wirkungsgesch. Tüb. 1995. – Franziska Wenzel: Stationen höf. Kommunikation. Studien zu R.s v. E. ›Willehalm v. Orlens‹. Ffm. 2000. – Sonja Zöller: Von ›zwîvel‹ u.
Rudolf von Fenis ›guotem muot‹. Gewissensentscheidungen im ›Guten Gerhard‹? In: ZfdA 130 (2001), S. 270–290. – Timo Reuvekamp-Felber: Autorschaft als Textfunktion. Zur Interdependenz v. Erzählerstilisierung, Stoff u. Gattung in der Epik des 12. und 13. Jh. In: ZfdPh 120 (2001), S. 1–23. – Jan Cölln: ›werdekeit‹. Zur literar. Konstruktion eth. Verhaltens u. seiner Bewertung in R.s v. E. ›Alexander‹. In: Herrschaft, Ideologie u. Geschichtskonzeption in Alexanderdichtungen des MA. Hg. Urich Mölk. Gött. 2002, S. 332–357. – Hartmut Bleumer: Klass. Korrelation im ›Guten Gerhart‹. Zur Dialektik v. Gesch. u. Narration im Frühwerk R.s v. E. In: Dialoge. Sprachl. Kommunikation in u. zwischen Texten im dt. MA. Hg. Nikolaus Henkel. Tüb. 2003, S. 95–112. – Otto Neudeck: Erzählen v. Kaiser Otto. Zur Fiktionalisierung v. Gesch. in mhd. Lit. Köln 2003, S. 191–265 (zum ›Guten Gerhart‹). – History as literature. German world chronicles of the thirteen century in verse. Excerpts from R. v. E. ›Weltchronik‹ [...]. Introduction, translation, and notes by R. Graeme Dunphy. Kalamazoo 2003. – Stefanie Schmitt: Autorisierung des Erzählens in Romanen mit histor. Stoffen? Überlegungen zu R.s v. E. ›Alexander‹ u. Konrads v. Würzburg ›Trojanerkrieg‹. In: Geltung der Literatur. Formen ihrer Autorisierung u. Legitimierung im MA. Hg. Beate Kellner. Bln. 2005, S. 187–201. – N. Henkel: Wann werden die Klassiker klassisch? Überlegungen zur Wirkungsweise u. zum Geltungsbereich literarischästhet. Innovation im dt. HochMA. In: Tradition, Innovation, Invention. Fortschrittsverweigerung u. Fortschrittsbewußtsein im MA. Hg. Hans-Joachim Schmidt. Bln. 2005, S. 441–467. – Miriam Riekenberg: Literale Gefühle. Studien zur Emotionalität in erzählender Lit. des 12. u. 13. Jh. Ffm. 2006 (zu ›Barlaam u. Josaphat‹ u. ›Alexander‹). – Ralf Schlechweg-Jahn: Macht u. Gewalt in den deutschsprachigen Alexanderromanen. Trier 2006. – W. Schouwink: ›Bî wem sol ich senden dar / mîn guot, swenne ich hinnan var‹. Barlaams Jahreskönig bei R. v. E. u. Jakob Bidermanns ›Cosmarchia‹. In: FS Walter Haug. Tüb. 2007, S. 245–264. – Monika Unzeitig-Herzog: Konstruktion v. Autorschaft u. Werkgenese im Gespräch mit Publikum u. Feder. In: Formen u. Funktionen v. Redeszenen in der mhd. Großepik. Hg. Nine Midema u. Franz Hundsnurscher. Tüb. 2007, S. 89–101. – Julia C. Walworth: Parallel narratives: function and form in the Munich illustrated manuscripts of ›Tristan‹ and ›Willehalm von Orlens‹. London 2007. – Christoph Huber: Minne als Brief. Zum Ausdruck v. Intimität im nachklass. höf. Roman (R. v. E., ›Willehalm v. Orlens‹ [...]). In: Schrift u. Liebe in der Kultur des MA. Hg. Mireille Schnyder. Bln. 2008, S. 125–145. – Florian Kragl: Kanonische Autorität. Literatur-
80 exkurse u. Dichterkataloge bei R. v. E. In: Der Kanon – Perspektiven, Erweiterungen u. Revisionen. Hg. Jürgen Struger. Wien 2008, S. 347–375. – Henrike Manuwald: ›Gotes kunst – des tiuvels kunst‹. Zum Kunstdiskurs im ›Barlaam u. Josaphat‹ R.s v. E. In: ZfdPh 128 (2009), Sonderheft, S. 49–68. – Mathias Herweg: Konrad IV. u. die ›Weltchronik‹ R.s v. E. [...]. In: ZfdPh 128 (2009), S. 397–420. – Georg Jostkleigrewe: Zwischen symbol. Weltdeutung u. erfahrungsbasierter Raumdarstellung. Die Geographie des europ. Raumes bei Gossuin v. Metz, R. v. E., Brunetto Latini u. anderen volkssprachl. Autoren. In: AKG 91 (2009), S. 259–295. – Christine Thumm: Aus Liebe sterben. Inszenierung u. Perspektivierung v. Elyes Liebestod in R.s v. E. ›Willehalm v. Orlens‹. In: Dichtung u. Didaxe. Lehrhaftes Sprechen in der dt. Lit. des MA. Hg. Henrike Lähnemann u. Sandra Linden. Bln. 2009, S. 173–188. – Meinolf Schumacher: Toleranz, Kaufmannsgeist u. Heiligkeit im Kulturkontakt mit den ›Heiden‹. Die mhd. Erzählung ›Der guote Gêrhart‹ v. R. v. E. In: Ztschr. für interkulturelle Germanistik 2010, S. 49–58. Wolfgang Walliczek / Corinna Biesterfeldt
Rudolf von Fenis, auch: R. von Neuenburg, R. von Fenis-Neuenburg. – Minnesänger des 12. Jh. R. gehörte zum hochadligen Geschlecht der Schweizer Grafen von Neuenburg (Neuchâtel), deren Stammsitz die Burg Fenis (Vinelz) am Bieler See war. Die Herkunft des Sängers sowie die Namensformen bezeugen die Weingartner Liederhandschrift u. die Große Heidelberger Liederhandschrift (beide mit Miniatur nach dem Typus des antiken Autorenbildes; das in C zusätzlich abgebildete Wappen entspricht der heraldischen Präsentation der Adelslinie in der Zürcher Wappenrolle, obwohl eine direkte Abhängigkeit unwahrscheinlich ist). Dass die verschiedenen Formen des Autornamens in der poetischen Tradition auch vorher bekannt waren u. wohl als authentisch anzusehen sind, belegen Nennungen in den um die Mitte des 13. Jh. zu datierenden ›Sängernachrufen‹ Reinmars von Brennenberg (»von Niuwenberc«) u. des Marners (»der Venis«). Die Forschung identifiziert den Sänger heute fast ohne Ausnahme mit Rudolf II. von Neuenburg, der 1158–1192 urkundlich erwähnt u. vor 1196 verstorben ist. Reim- u. Verstechnik der Lie-
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der ebenso wie die charakterist. Adaptation der Trobador- u. Trouvèrelyrik stimmen auch am besten zu den Lebensdaten Rudolfs II. u. legen die Einordnung des Œuvre um 1180/90 nahe. Weingartner u. Heidelberger Liederhandschrift überliefern das gesamte R. zugeschriebene Liedcorpus (25 Strophen), wobei der gemeinsame Textbestand (19 Strophen) ident. Strophenfolge u. nur geringe Textvarianz aufweist. Abhängig davon, ob die Strophen Daz ich den sumer u. Diu heide noch der vogel sanc als Liedeinheit oder als Einzelstrophen verstanden werden, umfasst R.s Œuvre acht oder neun Lieder. Unsicher ist dabei noch, inwieweit das Lied Ich was ledic (84,37) ihm zuzurechnen ist, weil die drei Strophen aus der Fenis-Sammlung der Heidelberger Liederhandschrift unter Ergänzung zweier Strophen auch als Lied Walthers von der Vogelweide überliefert sind. Die plausible Vermutung, Walther habe ein Lied des älteren Sängers aufgegriffen u. erweitert, spricht ebenso wie der Überlieferungsbefund dafür, dass die dreistrophige Fassung von R. stammt, obwohl sich diese formal u. lexikalisch wie auch in Reimgebrauch, Metrik u. Syntax von den übrigen unter R.s Namen überlieferten Liedern unterscheidet. Grundsätzliches Kennzeichen der Lieder R.s ist die Übernahme u. Verarbeitung von Strophenformen sowie Inhalten der Trobador- u. Trouvèrelyrik. Für die metr. Form u. die Melodie des Liedes Gewan ich ze minnen (80,1) etwa sind Parallelen zu drei Liedern des Trobador Folquet de Marseille belegt. Die Strophenform entspricht der von Folquets Lied Sitot me soi a tart aperceubutz (in: Trouvères et Minnesänger, Nr. 9b), aus dessen erster Strophe R. auch den Vergleich des Minnenden mit dem Spieler für die Strophe II seines Textes entnimmt. Das Bild vom Mann, der sich in einem Baum verstiegen hat, in R.s Strophe I ebenso wie der inhaltl. Ablauf der Strophe III lassen auf die Kenntnis zweier weiterer Lieder Folquets schließen. Parallelen sowohl in der metr. Form als auch in inhaltl. Elementen zeigen die Texte Mit sange wânde ich (81,30), Ich hân mir selber gemachet die swaere (83,11) u. Nun ist niht mêre mîn gedinge (84,10), während das Lied Minne gebuitet mir (80,25)
Rudolf von Fenis
nur im Strophenschema auf ein romanisches Modell zurückzuführen ist. R. schließt sich damit enger als andere Minnesänger romanischen Vorbildern an. Die Adaptation zeigt sich am konsequentesten in der Übernahme charakterist. Vers- u. Strophenformen: Neben der Kanzonenstrophe, die sich aus einem in zwei Stollen geteilten Aufgesang u. Abgesang aufbaut, fällt in den Liedern R.s gerade auch die häufige Verwendung mhd. Daktylen (Nu hân ich von ir weder trôst noch gedingen) auf, mit denen im Minnesang um 1180/90 die romanischen Zehn- u. Elfsilberverse wiedergegeben wurden. Kennzeichnend für den Adaptationsmodus R.s ist darüber hinaus jedoch die Verarbeitung verschiedener Vorlagen für einzelne Lieder u. dabei die gezielte Auswahl, Kombination sowie Gestaltung von Motiven, Stilelementen, metr. Formen u. gedankl. Ansätzen aus wechselnden Kontexten. Jede präzise Beobachtung der Abhängigkeit von Trobador- u. Trouvèrelyrik führt so zur Erkenntnis der (relativen) Eigenständigkeit R.s. Eine Tatsache weist dabei besonders auf ein bewusst mit den romanischen Texten arbeitendes Adaptationsverfahren hin: Die Eröffnungsverse der auf konkrete Vorlagen zurückgehenden Lieder R.s beziehen sich trotz der im späteren Liedverlauf häufig abweichenden Kontexte u. Schlussfolgerungen deutlich auf die entsprechend relevanten Passagen der Vorbilder. Diese Verse, die beinahe Übersetzungen u. gleichsam als Marker an prominenter Stelle platziert sind, stellen den weiteren Bezugsrahmen der Lieder u. somit deren poetische Strategie der Integration des Fremden in das Eigene (Zotz 2005) geradezu aus. Der Abstand der Lieder R.s zur übrigen dt. Minnelyrik vor Walther, etwa in der Verwendung von Motiven, die im dt. Minnesang singulär oder selten sind (vgl. 83,11; 84,10), sowie im Gebrauch von »minne« als die Dame inhaltlich an den Rand drängende Personifikation, lässt sich indes insbes. aus deren enger Verknüpfung mit der romanischen Tradition heraus erklären. Eigene Kontur u. Konsistenz besitzt das Œuvre R.s vor allem im Blick auf die Sprachgestalt u. die poetische Konzeption der einzelnen Lieder. Indem R. die Grundsituation der hohen Minne unter wechselnden
Rudolf von Fenis
Vorzeichen durchspielt, tritt in seinen Texten deutlicher als bei anderen Autoren der Variationscharakter von Minnesang in den Vordergrund. Das Lied Gewan ich ze minnen (80,1) zeigt dies, indem in Strophe I die Selbstbeobachtung des Ichs einsetzt als Erkenntnis der Verstrickung in die Minnebeziehung (»ich enweiz, wie mir süle gelingen, / sît ich si mac weder lâzen noch hân«), sich dann – in Strophe II – entwickelt zur Einsicht in die Entstehung u. damit die Gründe der Abhängigkeit (»also hân ich mich ze spâte erkant / der grôzen liste, diu minne wider mich brâhte«) u. schließlich in Strophe III übergeht in die Begründung einer argumentativen Position, die zuletzt den Sinn der Minnebeziehung für das Ich erschließt (»iedoch bitte ich si, daz siz geruoche lîden, / sô wirret mir niht diu nôt, die ich lîdende bin«). In Minne gebiutet mir (80,25) setzt die Argumentation des Ichs ganz ähnlich bei der Negativität der Minne an (»nû hân ich von ir weder trôst noch gedinge«), um dann die eigene Beständigkeit u. die Verbindlichkeit der Minnebeziehung in mehrfach neu einsetzenden paradoxalen Denkfiguren u. IchAussagen (»ich minne sî, diu mich dâ hazzet sêre, / und iemer tuon, swie ez doch dar umbe ergât«) zu demonstrieren. Überdies zeigt das Lied die für R. signifikante Poetik der Variation anhand der Motivation der Minnebefangenheit des Ichs: Inhalt der Strophen I bis III ist jeweils die Klage des Sängers über die Macht der Minnebindung u. die daraus resultierende Unmöglichkeit der Aufkündigung des Dienstes. Variation durch leichte inhaltl. Akzentverschiebungen wird erreicht, indem in diesem Falle von Strophe zu Strophe die für die ausweglose Situation verantwortlich gemachten Kräfte u. Umstände wechseln (Str. I: die personifizierte »Minne«, Str. II: »mîn grôziu staete«, Strophe III: »mîne sinne«), um schließlich in einer bündigen Formulierung des Minneparadox, um dessen bildhafte Darstellung alle Lieder R.s kreisen, zu enden (Str. IV: »diu nôt ist diu meiste wunne mîn« (MF 81,27). Andere Texte entfalten die grundsätzlich unbestrittene Abhängigkeit in der Minne als Erkenntnisprozess, der die Selbsttäuschung u. Selbstkorrektur des Ichs umfasst (81,30), als Kon-
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trast von spielerischem u. tragischem Bekennen, das Unerreichbare zu begehren (83,11), oder auch in Argumentationsabläufen, die den »trôst« des Ichs begründen (84,10). Die Texte entwickeln indes keine inhaltl. Diskussion der Bedingungen u. Möglichkeiten von Minnesang u. Minne, sondern stellen die konsequente Entfaltung von Minnesang als formal virtuoser u. inhaltlich modulierter Variationskunst dar. Die Leistung u. der literaturgeschtl. Ort der Lieder R.s sind mithin nicht nur bestimmt durch die breite Adaptation u. Vermittlung der Trobadour- u. Trouvèrelyrik, sondern gerade auch durch die Umsetzung der hohen Minne in poetisch anspruchsvolle Darstellungsabläufe, die sich in der Folge zum prägenden Charakteristikum auch der dt. Minnelyrik als Textgattung insgesamt entwickelte. Von Interesse für die Literaturgeschichte ist R.s Romania-Rezeption schließlich auch deshalb, weil sich für die drei in Lied 80,1 aufscheinenden FolquetLieder eine plausibel zu verfolgende mögliche handschriftl. Quellentradition ermitteln lässt. In der ansonsten historisch kaum greifbaren Frage nach den Kanälen dieses für die Entwicklung der dt. Minnelyrik so entscheidenden Kulturtransfers liegt damit ein Indiz für einen Fall vor, in dem dieser über das Studium romanischer Manuskripte zustande gekommen sein dürfte. Die Zugehörigkeit R.s zum Hochadel ist zudem insofern für die Minnesangforschung bedeutsam, als sie beispielhaft der Hypothese, nach der die Genese des Liebeskonzepts der hohen Minne in der Hauptsache als Ausdruck von Dienstideal u. -frustration eines sozial mobilen Ministerialenstandes zu werten sei, entgegen steht. Ausgaben: Karl Bartsch (Hg.): Die Schweizer Minnesänger. Frauenfeld 1886. Nachdr. Darmst. 1964, S. X–XXVI, 1–11, 403–409. – István Frank (Hg.): Trouvères et Minnesänger. Saarbr. 1952, S. 46–64, 72 f., 80–85, 150–165, 167–169. – Günther Schweikle (Hg.): Die mhd. Minnelyrik. Bd. 1, Darmst. 1977, S. 206–221, 405–467, s. auch Register. – Minnesangs Frühling I (381988), S. 166–177 (zitiert). – Mit Übersetzung, Kommentar und Glossar: Ingrid Kasten (Hg.): Dt. Lyrik des frühen u. hohen MA (Ed. u. Komm. v. I. K.; Übers. v. Margeritha Kuhn). Ffm. 1995, S. 140–147, 661–671. – Olive
83 Sayce (Hg.): R. v. F. Die Lieder. Unter bes. Berücksichtigung des roman. Einflusses. Göpp. 1996. Literatur: Bibliografie: Tervooren, S. 68. – Weitere Titel: Minnesangs Frühling 2, S. 85–87. 3/1, S. 203–219. 3/2, S. 418–429. – Helen Stadler: R. v. F. and His Sources. In: Oxford German Studies 8 (1973), S. 5–19. – Ursula Peters: Niederes Rittertum oder hoher Adel? In: Euph. 67 (1973), S. 244–260, hier S. 258–260. – Joachim Bumke: Ministerialität u. Ritterdichtung. Mchn. 1976 (Register). – Olive Sayce: The Medieval German Lyric. 1150–1300. Oxford 1982, bes. S. 119–124. – Ingrid Kasten: Frauendienst bei Trobadors u. Minnesängern im 12. Jh. Heidelb. 1986 (Register). – Hans-Herbert Räkel: Der dt. Minnesang. Mchn. 1986, S. 82–91. – Manfred Eikelmann: Denkformen im Minnesang. Tüb. 1988 (Register). – Hubert Heinen: Walther’s Adaptation of a Song by R. v. F. In: Von Otfried v. Weißenburg bis zum 15. Jh. Hg. Albrecht Classen. Göpp. 1991, S. 39–51. – Andreas Hensel: Vom frühen Minnesang zur Lyrik der Hohen Minne. Ffm. 1996, S. 240–390. – Volker Mertens: Dialog über die Grenzen. In: Krit. Fragen an die Tradition. Hg. Marion Marquardt u. a. Stgt. 1997, S. 15–41. – Anton Touber: R. v. F., Heinrich v. Morungen, die Troubadour-Hs. P u. Karl Bartsch. In: ZfdA 132 (2003), S. 24–34. – Ders.: Romanischer Einfluss auf den Minnesang. In: PBB 127 (2005), S. 62–81. – Nikola Zotz: Intégration courtoise. Heidelb. 2005 (Register). – Zu den Miniaturen: Horst Wenzel: Wahrnehmung u. Deixis. In: Visualisierungsstrategien in mittelalterl. Bildern u. Texten. Hg. ders. Bln. 2006, S. 17–43, bes. S. 30 f. Manfred Eikelmann / Katharina Münstermann
Rudolf von Rotenburg. – Alemannischer Lied- u. Leichdichter des 13. Jh. In dem in einer im März 1257 in Luzern ausgestellten Urkunde als Zeuge genannten »Rodolfus de Rotenburc«, einem Ministerialen der Vögte von Rotenburg, deren Burg am Rotbach nordöstlich von Luzern stand, darf man den Sänger R. vermuten, auch wenn die Forschung darin nicht einer Meinung ist; im Fragment der Budapester Liederhandschrift wird er selbst als »vogt« bezeichnet. Unter R.s Namen überliefert die Große Heidelberger Liederhandschrift zehn Lieder (41 Strophen) u. sechs Leiche; einige der Strophen sind in der Weingartner u. der Kleinen Heidelberger Liederhandschrift auch unter anderen Dichternamen verzeichnet, weshalb man R. für einen fahrenden Berufssänger gehalten
Rudolf von Rotenburg
hat. Die Dichterminiatur zeigt R.s Abschied von seiner Dame vor einer Fahrt. Seinen Tod beklagt der Elsässer Leichdichter (Wilhelm?) von Gliers. In seiner Dichtung stellt R. den Inhalt über die Form (einfacher Strophenbau) u. besingt, vor der falschen Minne warnend, die Ideale der hohen Minne, der Zucht u. des hohen Muts, womit er dem höf. Lebensideal seiner Vorgänger Walther von der Vogelweide u. Reinmar der Alte folgt. Fünf seiner sechs Leiche widmet er, thematisch wenig originell, der Minnethematik. Darin prahlt er mit seiner Belesenheit, höf. Lebensart u. geografischen Kenntnissen – wohl eher eine stilistische Manier als ein Beweis für Auslandsreisen. Ein Marienleich preist die Jungfrau Maria mit den üblichen theologisch-allegor. Anspielungen. Kaiserkrone u. Reich, heißt es in Anlehnung an Walther in einem Lied, würde er gerne für den Fingerring der Geliebten eintauschen. In R.s wohl bestem Lied, »Mir seit ein ellender bilgerîn«, vielleicht in der Ferne entstanden, bringt ein Pilger Nachricht von der Geliebten, von der R. Abschied nehmen musste; nun sucht er nach einem Boten, der ihr seine Gedichte in die weißen Hände legen möge, um dafür ihren Dank zu empfangen. Ausgabe: KLD 1, S. 359–393. Literatur: Konrad Burdach: R. v. R. In: ADB. – Joseph Wahner: Dichtung u. Leben des Minnesängers R. v. R. Diss. Breslau 1892. – Walther Steller: R. v. R. In: PBB 45 (1921), S. 371–380 – Hugo Kuhn: Minnesangs Wende. Tüb. 21967, S. 119–131. – KLD 2, S. 431–488. – A. H. Touber: Walther v. der Vogelweide 112,3 u. R. v. R. 17. In: ZfdPh 102 (1983), S. 111–115. – Max Schiendorfer: Handschriftl. Mehrfachzuweisungen. In: Euph. 79 (1985), S. 66–94. – András Vizkelety: Die Budapester Liederhs. Der Text. In: PBB 110 (1988), S. 387–407. – Silvia Ranawake: R. v. R. In: VL. – Johannes Janota: ›Der vogt von Rotenburch‹ im Budapester Fragment. In: ABäG 38/39 (1994), S. 213–222. – Albrecht Hausmann: R. v. R. im Budapester Fragment? In: Entstehung u. Typen mittelalterl. Lyrikhss. Hg. Anton Schwob. Bern u. a. 2001, S. 65–77. – M. Schiendorfer: R. v. R. In: NDB. – Ursula Kundert: Histor. Dekonstruktion. Für eine kulturelle Vervielfältigung philologisch präziser Lektüren am Beispiel des mhd. Leichs. In: Germanistik im Konflikt der Kulturen. Bd. 5: Kulturwiss.
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vs. Philologie? Wissenschaftskulturen: Kontraste, Konflikte, Synergien; Editionsphilologie: Projekte, Tendenzen u. Konflikte. Hg. Jean-Marie Valentin u. a. Bern 2008, S. 159–166. Ingo F. Walther † / Red.
Rudolphi, Karoline (Christiane Louise), * 24.8.1754 Magdeburg oder Berlin, † 15.4.1811 Heidelberg. – Pädagogin; Lyrikerin.
Sokrates« berühmt – freundschaftl. Umgang pflegte. Ihre pädagog. Erfahrungen hielt sie in dem einem Briefroman ähnlichen Gemälde weiblicher Erziehung (2 Bde., Heidelb. 1807. 4 1857) fest, das sich mit den pädagog. Strömungen der Zeit auseinandersetzt. Weitere Werke: Gedichte. Zweite Slg. nebst einigen Melodien. Hg. Joachim Heinrich Campe. Braunschw. 1787. – Neue Slg. v. Gedichten. Lpz. 1796. Literatur: Otto Rüdiger: K. R. Eine dt. Dichte-
Mit neun Jahren verlor R. den »angebeteten« rin u. Erzieherin. Klopstocks Freundin. Hbg./Lpz. Vater, Präzeptor an der Mädchenschule des 1903. – Walter Rüsch: K. R., die Dichterin des ApWaisenhauses in Potsdam, u. mit ihm ihren penzeller Landsgemeindeliedes. In: Nationale Hefte 10 (1943), 1, S. 30–33. – Gudrun LosterLehrmeister. Während der Bruder Ludwig Schneider: ›Laß mir noch Manch kleines Liedchen nach Halle in die Lateinschule geschickt glücken, Das weiche Schwesterseelen einst An ihren wurde, musste R. für sich u. die Mutter den Busen drücken‹. Zur Lyrik der ›Erzieherin‹ C. R. In: Lebensunterhalt mit Handarbeiten u. später Johann Friedrich Reichardt u. die Literatur. Kommit »Schulhalten für arme Kinder« verdie- ponieren, korrespondieren, publizieren. Hg. Walnen. »Carolinens Morgenröthe war düster ter Salmen. Hildesh. 2003, S. 271–290. – Gudrun und regnicht«, charakterisiert R. ihre Ju- Perrey: Das Leben der C. R. (1753–1811): Erziehegendzeit in der Schrift Aus meinem Leben rin – Schriftstellerin – Zeitgenossin. Heidelb. 2010. Julei M. Habisreutinger / Red. (Schriftlicher Nachlaß. Hg. Abraham Voß. Heidelb. 1835). Früh begann die Autodidaktin R. zu dichRücker, Günther, * 2.2.1924 Reichenberg ten: religiöse Jahreszeiten-, Morgen- u. (heute Liberec/Tschechien), † 24.2.2008 Abendlieder, daneben kleine Fabeln, GeleMeiningen. – Drehbuchautor, Erzähler, genheits- u. Widmungsgedichte, die in verHörspiel-, Film- u. Theaterregisseur, schiedenen literar. Journalen wie »Iris«, Kulturfunktionär. »Deutsches Museum«, »Teutscher Merkur« veröffentlicht u. von Johann Friedrich Rei- R. wuchs als Sohn eines kommunistischen chardt gesammelt herausgegeben wurden Tischlers im Sudetenland auf. 1942–1945 war (Gedichte, Erste Sammlung. Mit einigen Melo- er Soldat u. geriet zunächst in brit. Kriegsdien von Reichardt. Bln. 1781). gefangenschaft. 1945 ging er in die SBZ, Da die von ihr gewünschte Heirat nicht wurde 1949 Neulehrer in Leipzig u. begann zustande kam, verzichtete R. für immer auf im selben Jahr ein Regiestudium an der eine Ehe u. wurde zunächst Erzieherin bei Mendelssohn-Akademie. Nebenbei arbeitete der Familie von Röpert in Trollenhagen bei R. auch als Assistent am Leipziger SchauNeubrandenburg. Durch den dortigen Erfolg spielhaus. Danach war er Rundfunkregisseur ermutigt, gründete sie 1785 ein Mädchen- bei Radio Leipzig; seit 1952 lebte er in pensionat in Hamm bei Hamburg. Dort ver- (Ost-)Berlin. 1954 wurde R. Mitgl. des Deutkehrte R. im schöngeistig-aufgeklärten schen Schriftstellerverbands, 1972 auch der Reimarus-Kreis, dessen verehrter Mittel- Akademie der Künste der DDR. Zudem war er punkt Klopstock war. 1803 verlegte sie ihr 1972–1982 in der Sektion Dichtkunst und Institut nach Heidelberg, wo sich mit der Sprachpflege tätig. Reorganisation der Universität durch KurErst mit 60 Jahren begann R. Erzählungen fürst Karl Friedrich von Baden so berühmte zu veröffentlichen, die durch eine gleicherPersönlichkeiten einfanden wie Creuzer, maßen disziplinierte wie ausschweifend eleGörres, Achim von Arnim, Brentano, Voß u. gante Sprache überraschten, teilweise auch Friedrich Heinrich Christian Schwarz, mit mit ironisch-melanchol. Tönen versetzt. Die denen R. – hochgeachtet u. als »weiblicher Novellen Herr von Oe u. Hilde, das Dienstmäd-
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chen (in einem Band: Bln./Weimar 1984) angesichts des Nazi-Terrors im Zuchthaus als steckten die Themen ab: Herr von Oe (auch: eine Ethik des Standhaltens u. des WiderBln. 1985) handelt von einem estn. Adligen, stands. Als Dramatiker wurde R. vor allem durch der zeitlebens dem Traum nachjagt, Aktien einer sibir. Goldmine zu Geld machen zu das Stück Der Herr Schmidt – ein deutsches können, u. dabei in merkwürdige erot. Spektakel mit Polizei und Musik (ebd. 1969) beAbenteuer verstrickt wird (ein origineller, für kannt; er setzt sich darin mit dem Kölner die DDR ungewöhnl. Blick auf die Geschichte Kommunistenprozess auseinander. Darüber des 20. Jh.); Hilde, das Dienstmädchen (als hinaus widmete sich R. verstärkt der Gattung DEFA-Spielfilm 1986) schildert eine Kindheit Hörspiel, wo besonders monologische Forim Sudetenland u. lässt in der Brechung von men dominierten. Den Großteil seiner Hörunerfüllten Knabenwünschen u. (noch) un- spiele hat der Autor auch selbst produziert u. einlösbaren polit. Visionen der Erwachsenen inszeniert. In vielen Schaffensbereichen u. die Hoffnung auf künftiges polit. u. privates Texten von R. ist eine Überlappung persönl. Schicksale mit histor. Ereignissen zu entdeGlück aufscheinen. R.s Geschichten handeln von Außenseitern cken. Nach der Wende publizierte R. nur u. Durchschnittsexistenzen (Tischler, Volks- noch selten. Seine letzten Lebensjahre verschullehrer, Näherinnen), spielen im Vor- brachte er im thüring. Meiningen. kriegsdeutschland, im Exil oder in der DDR, Weitere Werke: Sieben Takte Tango. 11 Hörimmer aber geht es um menschl. Grunder- spiele & 1 Komödie. Lpz. 1979. – Portrait einer difahrungen wie Liebe u. Tod. Ähnlich wie cken Frau [1971]. In: Hörsp.e aus der DDR. Hg. Fühmann bedient auch R. sich tradierter Stefan Bodo Würffel. Ffm. 1982, S. 168–189 (BiFormen (Märchen, Kalendergeschichten), um bliogr. der Hörsp.e S. 277). – Anton Popper u. a. aktuelle Stoffe zu transportieren. Charakte- E.en. Bln./Weimar 1985. – Alles Verwandte. Bln. 1987 (N.n). – Erzählung eines Stiefsohns. Lpz. 1988 ristisch ist seine fast altmodische, auf einen (P., Ess.). – Die Verlobte (Texte zu 7 Spielfilmen). konventionellen Erzählstil hinauslaufende Bln./DDR 1988. – Woher die Gesch.n kommen. Schreibweise, die gleichwohl zu fesseln ver- Beiträge aus 2 Jahrzehnten. Ebd. 1990. – Nachw. mag u. ihn zu einem der populärsten DDR- zu: Anna Seghers: Der gerechte Richter. Ebd. 1990. Autoren gemacht hat. – Aus dem Leben eines Witwers. Ebd. 1995 (P.). – Seiner Erzählweise u. Themenwahl blieb R. Erste Liebe u. anderes. Ebd. 2007 (E.n.). auch in seinem Spätwerk treu: Mit der exisLiteratur: Bibliogr. Kalenderbl. der Berliner tenziellen Situation des Kriegsheimkehrers Stadtbibl. (Bln./DDR 1974). F. 2 (ebd. 1989). – Hans im Osten beschäftigte er sich in der Erzäh- Richter: G. R., der Erzähler. In: SuF 39 (1987), H. 6, lung Otto Blomow. Geschichte eines Nachtwächters S. 859–872. Hannes Krauss / Torsten Voß (ebd. 1991). Die verschiedenen Berufe vom Nachtwächter bis zum Radiomoderator oder Rückert, (Johann Michael) Friedrich, Rätselautor, denen der ehemalige Pilot auch: Freimund Reimer/Reimar/Raimar, nachgeht, reflektieren die Situation seiner * 16.5.1788 Schweinfurt, † 31.1.1866 Heimatlosigkeit u. das Suchen nach KontiNeuses bei Coburg; Grabstätte: ebd., Alnuität. Aus seinem filmischen Schaffen ragt ter Friedhof an der Dorfkirche. – Dichter, v. a. das gemeinsam mit Wolfgang Kohlhaase Übersetzer u. Orientalist. verfasste Drehbuch zu Der Fall Gleiwitz (ebd. 1961) heraus, das den von den Nationalso- Der Sohn des Kgl. Bayerischen Rentamtzialisten auf den gleichnamigen Rundfunk- manns Johann Adam Rückert verbrachte seisender inszenierten Überfall als Anlass für ne Kindheit zwischen 1792 u. 1802 in der den Einmarsch in Polen u. dessen Hinter- fränk. Provinz, wo ihn nach eigener Aussage gründe zum Thema hat. Nach seinem Dreh- (Des Dorfamtmannsohns Kinderjahre; entst. buch entstand auch der Film Bis dass der Tod 1829; gedr. in Gesammelte Gedichte. Bd. 4, Ereuch schadet (1979) in Zusammenarbeit mit langen 1837, S. 277–342) verschiedene OrtsHeiner Carow. 1980 stilisierte der Film Die geistliche zur Naturbetrachtung u. zur BeVerlobte das Martyrium einer Kommunistin schäftigung mit Dichtung u. Sprachen an-
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hielten. 1805 nahm R. auf Wunsch seines Vaters zunächst ein Jurastudium in Würzburg auf, das er aber bereits im darauffolgenden Semester zugunsten der Philologie u. Philosophie wieder aufgab. Lehrer wie Johann Jakob Wagner u. Heinrich Voss d.J., bei dem er 1808 in Heidelberg Metrik hörte, vermittelten R. entscheidende Anregungen für seine Sprachstudien, die ihren ersten Niederschlag in der 1811 in Jena eingereichten Dissertation De idea philologiae fanden. R. erhebt darin den Philologen in den Rang eines Philosophen, der über die Poesie zur Idee der Sprache durchdringt, u. formuliert damit zgl. sein Lebensprogramm. Einer kurzen Dozentur in Jena folgten Jahre der Selbstfindung. Zum Durchbruch im Literaturbetrieb verhalf R. der Fouqué-Freund Christian Truchseß von Wetzhausen, der nicht nur den Druck der Deutschen Gedichte (Heidelb. 1814) finanzierte, sondern auch Rezensionen in namhaften Zeitschriften lancierte. Überdies stellte Truchseß den Kontakt zum Verleger Johann Friedrich von Cotta her, der R. 1816/ 17 gemeinsam mit Friedrich Haug mit der Redaktion des »Morgenblatts für gebildete Stände« betraute u. ihm 1817/18 eine Italienreise ermöglichte. Auf der Rückreise kam es zum Jahreswechsel 1818/19 in Wien zur Begegnung mit dem Orientalisten Joseph von Hammer-Purgstall, der R. mit der oriental. Literatur vertraut machte. Bei seinen Sprachstudien in Coburg lernte R. 1820 das Archivratsmündel Luise Wiethaus-Fischer kennen. Er besang sie in den Gedichten des Liebesfrühlings (entst. 1821; gedr. in Gesammelte Gedichte. Bd. 1, Erlangen 1834, S. 187–406; Separatausg. Ffm. 1844), ehe er sie am 26.12.1821 zur Frau nahm. Von Eltern wie Schwiegereltern vielfältig unterstützt, bestritt R. den Lebensunterhalt der schnell wachsenden Familie zunächst aus den Einkünften seines ersten im oriental. Geist verfassten Werkes, den Oestlichen Rosen (entst. 1819–1821; Lpz. 1822), später aus Mitarbeit u. Redaktionstätigkeit bei Almanachen u. Taschenbüchern (Frauentaschenbuch, 1822–1825). Seine kongeniale Übertragung von Die Verwandlungen des Ebu Seid von Serúg oder die Makámen des Haríri in freier Nachbildung (entst. 1823–1825; Stgt. 1826. Ebd. 71878),
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einem Meisterwerk der arab. Reimprosa, führte ihn 1826 auf den Lehrstuhl für Orientalische Sprachen in Erlangen. In der Folge entstanden Übersetzungen u. Nachdichtungen von Werken aus den verschiedensten Sprach- u. Kulturkreisen: 1826 Nal und Damajanti aus dem altind. Heldenepos Maha¯bha¯rata (Ffm. 1828. Ebd. 61889. Neuausg. Hbg. 1926), zwischen 1827 u. 1829 die Hebräischen Propheten (Lpz. 1831), 1828 Firdawsis Rostem und Suhrab (Erlangen 1838. Stgt. 2 1846), 1829 das altind. Amaru-Satakam (in: Wendts Musenalmanach für das Jahr 1831, S. 127–143. Neuausg. Hann. 1925), 1831 Konfuzius’ Schi-King (Altona 1833), 1837 Jayadevas Gitagovinda (in: Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes 1837, S. 129–173 u. 286–296. Neuausg. Lpz. 1920); gegen Ende der 1830er Jahre wurde auch die Übersetzung des Koran in Auswahl fertig gestellt (Ffm. 1888. Neuausg. Würzb. 1995. Ebd. 32000). Gleichzeitig stellte er seine Gesammelten Gedichte (Erlangen 1834–38) zusammen, die bis 1838 auf insg. sechs Bände anwuchsen. Ebenfalls in die Erlanger Zeit fallen u. a. die sechsbändige Ausgabe der Weisheit des Brahmanen (entst. 1835/36. Lpz. 1836–39. Neuausg. Gött. 1998) u. der mehr als 400 Gedichte umfassende Zyklus der Kindertodtenlieder, mit denen R. den frühen Tod seiner »Lieblingskinder« Ernst u. Luise im Winter 1833/34 zu bewältigen suchte (postum hg. Ffm. 1872. Neuausg. Nördlingen 1988. Gött. 2007). Auf dem Zenit seiner publizistischen Tätigkeit wurde R. 1841 von Friedrich Wilhelm IV. an die Berliner Universität berufen. Vielleicht um den vermeintl. Erwartungen des neuen Musenhofs zu entsprechen, sicherlich aber um seinen eigenen, stark an Goethes Werk ausgerichteten Ansprüchen als Dichter zu genügen, verfasste R. zahlreiche histor. Dramen, die jedoch wenig Resonanz fanden, was seine bereits seit Mitte der 1830er Jahre spürbare resignative Grundstimmung verstärkte. Am Vorabend der Revolution von 1848 zog sich R. auf sein Landgut in Neuses bei Coburg zurück, wo er Sprachstudien betrieb u. bis wenige Tage vor seinem Tod etwa 10.000 bis heute größtenteils unveröffentlicht gebliebene Gedichte verfasste, die er
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selbst als sein Liedertagebuch bezeichnet. Teils resigniert, teils sarkastisch, aber durchgängig klarsichtig kommentiert er darin den Untergang seiner Epoche. R. beschränkt sich in seinen Dichtungen nicht darauf, zeitgeschichtl. Strömungen u. Ereignisse poetisch zu spiegeln, sondern entwirft eigene literar. Gegenwelten. So setzt er z.B. dem Untergang des Alten Reiches als Folge der Napoleonischen Kriege mit den Deutschen Gedichten u. insbes. mit dem Barbarossa die Vision von der Wiedererstehung eines einigen Deutschland entgegen. Der Enge der Restaurationsepoche seit 1815 suchte er mit dem Konzept der »Weltpoesie« zu begegnen. R., der über 40, zumeist orientalische, Sprachen beherrschte, gelang es wie kaum einem vor oder nach ihm, in seinen Übersetzungen bzw. Nachdichtungen die Authentizität der fremdsprachigen Vorlage zu wahren; er sollte bald eine Vorreiterrolle bei der Vermittlung zwischen Orient u. Okzident einnehmen. Dem reformunfähigen Gemeinwesen des dt. Partikularismus stellte er in den Haus- und Jahrsliedern (Erlangen 1838) die bürgerl. Lebenswelt nicht nur als die einzige denkbare Alternative entgegen, sondern formulierte auch in fast allen im Vormärz erschienenen Lyrikbänden deutl. Gesellschafts- u. Herrschaftskritik, so auch in der Weisheit des Brahmanen. Nach den zerstobenen Hoffnungen auf das Paulskirchenparlament von 1848/49 blieb R. nur noch der Rückzug in die letzte seiner Gegenwelten, die äußerste Privatheit im weltabgeschiedenen Neuses. Hier ließ er in unzähligen Gedichten, die nicht zur Veröffentlichung vorgesehen waren, seiner Resignation freien Lauf, die gegen Ende seines Lebens noch zum bittersten Radikalismus auswuchs. Hauptziele seiner Kritik waren die Adelsgesellschaft u. die Industrialisierung. Während er den Adel in jeder Hinsicht für obsolet erklärte, wies er hellsichtig auf die Gefahren der mit der Industrialisierung einhergehenden Entwicklung zur Massengesellschaft hin. R.s Gedichte gehören zu den am häufigsten vertonten Texten dt. Sprache. Trotz seiner Sprachmächtigkeit, die ihn weit über die meisten seiner Zeitgenossen erhebt, u. trotz seiner stupenden Übersetzungsleistung, die
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Arno Schmidt dazu veranlasste, ihn zu den vier bedeutendsten Vermittlern fremdsprachiger Literatur zu zählen, wurde R. seitens der Literaturwissenschaft die ihm gebührende Würdigung lange Zeit nicht zuteil. Zum einen dürfte der immense Umfang des Werks eine intensive Auseinandersetzung verhindert haben, zum anderen weist es eine Vielfalt auf, die einen interdisziplinären Forschungsansatz zwingend erforderlich werden lässt. Als nachteilig erwies sich darüber hinaus der Umstand, dass mit der editorischen Aufbereitung des zum Großteil noch unveröffentlichten Gesamtwerks, das eine Epoche in ihrer Totalität beschreibt, erst 1998 begonnen wurde. Seit 2009 bemühen sich die Herausgeber der Rückert-Studien das R.sche Œuvre durch themengebundene Sammelbände systematisch zu erschließen u. zu kontextualisieren. Ausgaben: Gesamtausgaben: F. R.s Werke. Hist.krit. Ausg., ›Schweinfurter Edition‹. Hg. Hans Wollschläger (†), Hartmut Bobzin, Rudolf Kreutner u. Claudia Wiener. Gött. 1998 ff. – Einzelausgaben: Kranz der Zeit. Stgt./Tüb. 1817. – Amaryllis, ein ländl. Gedicht. Ffm. 1825. – Sieben Bücher Morgenländ. Sagen u. Gesch.n. Stgt. 1837. – Erbauliches u. Beschauliches aus dem Morgenland. Bln. 1837/38. – Brahman. Erzählungen. Lpz. 1839. – Leben Jesu, Evangelien-Harmonie. Stgt. 1839. – Amrilkais. Stgt. 1843. Hann. 1924. – Saul u. David. Erlangen 1843. – Herodes der Große. Stgt. 1844. – Kaiser Heinrich IV. Ffm. 1844. – Cristofero Colombo. Ffm. 1845. – Hamâsa oder die ältesten arab. Volkslieder, ges. v. Abu Temmâm. Stgt. 1846. Neudr. Gött. 2004. – Lieder u. Sprüche aus dem lyr. Nachl. Hg. v. Heinrich Rückert. Ffm. 1867. – Ges. poet. Werke. Hg. H. Rückert. 12 Bde., Ffm. 1868/69 u. 1882. – Grammatik, Poetik u. Rhetorik der Perser. Hg. Wilhelm Pertsch. Gotha 1874. – Saadi’s Bostan. Lpz. 1882. Neudr. Osnabr. 1990. – Poetisches Tagebuch 1850–1866. Hg. Marie Rückert. Ffm. 1888. – Firdosi’s Königsbuch (Schahname). Hg. Edmund Alfred Bayer. 3 Bde., Bln. 1890–95. – Aus Saadis Diwan. Hg. E. A. Bayer. Bln. 1893. – Saadis polit. Gedichte. Hg. E. A. Bayer. Bln. 1894. – R.-Nachlese. Slg. der zerstreuten Gedichte u. Übers.en. Hg. Leopold Hirschberg. 2 Bde., Weimar 1910/11. – Polit. Notizbuch. Hg. L. Hirschberg. Bln./Lpz. 1911. – Märzgedichte (1848). Breslau 1922. – Atharwaweda. Hg. Herman Kreyenborg. Hann. 1923. – Ghaselen des Hafis. Hg. H. Kreyenborg. Mannh. 1926. – Der Scheintod. Lustspiel in
Ruederer drei Aufzügen. Hg. Karl Stolz. Schweinfurt 1970. – ›Jetzt am Ende der Zeiten‹. Unveröffentlichte Gedichte. Hg. Richard Dove. Ffm. 1988. – Safi Eddin v. Hilla. Arab. Dichtung aus dem Nachl. Hg. H. Bobzin. Wiesb. 1988. – 1001 Alt-arab. Sprichwörter. Aus dem Nachl. hg. v. H. Bobzin. Wiesb. 1988. – Fürsten, Weiber u. Schlingpflanzen, Sanskritsprüche. Hg. Bernhard Forssman u. Johannes Mehlig. Wiesb. 1991. – Briefe: Briefe. Hg. Rüdiger Rückert. Schweinfurt 1977. – R. Kreutner: F. R.s Briefe. Neufunde u. Nachträge 1996–2005. In: R.Studien XVI (2004/05), S. 65–147. Literatur: Bibliografien: Max-Rainer Uhrig: R.Bibliogr. Ein Verz. des R.-Schrifttums v. 1813–1977. Schweinfurt 1979 (Forts. in R.-Studien V, VI, VIII, XII). – Rüdiger Rückert: F.-R.-Lit.en, unter bes. Berücksichtigung der Bestände des Stadtarchivs zu Schweinfurt. 1980. – Periodika: R.Studien I ff., 1964 ff. (bis XVII, 2006/07 als Jb., seit 2009 als Reihe geführt). – Monografien und Sammelbände: Leopold Magon: Die Entwicklung F. R.s bis 1810 u. seine dichter. Anfänge mit Benutzung seines handschriftl. Nachlasses dargestellt. Diss. Münster 1914. – M.-R. Uhrig: Das Slawenbild F. u. Heinrich R.s. Ein Beitr. zum Wandel des polit. Selbstverständnisses im dt. Bürgertum des 19. Jh. Schweinfurt 1974. – Franz Golffing: F. R. als Lyriker. Ein Beitr. zu seiner Würdigung. Wien 1935. – Hildegard Behr: Zeit-Lyrik R.s 1848–1866, nach dem unveröffentlichten, handschriftl. benutzten Nachl. Greifsw. 1937. – Helmut Prang: F. R., Geist u. Form der Sprache. Schweinfurt 1963. – Christa Kranz: F. R. u. die Antike. Bild u. Wirkung. Schweinfurt 1965. – Hartmut Bobzin: Zur Gesch. der Hafis-Übertragungen R.s. In: F. R.s Bedeutung für die dt. Geisteswelt. Vorträge des Symposiums der Histor. Gesellsch. Coburg e. V. am 11./12. Juni 1988. Coburg 1988, S. 52–74. – Ders. (Hg.): F. R. an der Univ. Erlangen 1826–1841. Ausstellung des Lehrstuhls für Oriental. Philologie, des Lehrstuhls für Indogermanistik u. Indoiranistik u. der Universitätsbibl., 11. Juni – 3. Juli 1988. Kat. Erlangen 1988. – H. Bobzin: F. R.s wiss. Nachl., mit vorläufigem Inventar. In: 200 Jahre F. R. 1788–1866, Dichter u. Gelehrter (Ausstellungskat.). Hg. Jürgen Erdmann. Coburg 1988, S. 371–405. – Wolfdietrich Fischer (Hg.): F. R. im Spiegel seiner Zeitgenossen u. der Nachwelt. Aufsätze aus der Zeit zwischen 1827 u. 1986. Wiesb. 1988. – H. Bobzin: Neue Dokumente zur Gesch. v. F. R.s wiss. Nachl. In: R.Studien V (1990), S. 77–91. – W. Fischer u. Rainer Gömmel (Hg.): F. R., Dichter u. Sprachgelehrter in Erlangen. Neustadt a. d. Aisch 1990. – Claudia Wiener: F. R.s ›De idea philologiae‹ als dichtungstheoret. Schrift u. Lebensprogramm. Schweinfurt
88 1994. – Rudolf Kreutner: Die ›Sammlung R.‹. Bd. 1 ff. Schweinfurt 1994 ff. – M.-R. Uhrig (Hg.): Gestörte Idylle. Vergleichende Interpr.en zur Lyrik F. R.s. Würzb. 1995. – Annemarie Schimmel: Weltpoesie ist Weltversöhnung. Würzb. 21996. – Hans-Ulrich Wagner: ›Der letzte Ritter des Frankenlandes‹. Christian Truchseß v. Wetzhausen u. die Bettenburger Tafelrunde. In: R.-Studien XI (1997), S. 97–145. – Ali Radjaie: Das profan-myst. Ghasel des Hafis in R.s Übers. u. in Goethes ›Divan‹. Würzb. 1998. – C. Wiener: Ein Redakteur zerstreuter Blätter. Zykl. Strukturen in R.s ›Aprilflocken‹ (1817) u. ›Sicilianen‹ (1818) u. ihre Metamorphose v. der Hs. zum Werkdruck. In: R.-Studien XII (1999), S. 74–30. – R. Kreutner: F. R. In: NDB. – Ralf Georg Czapla: Annäherungen an das ferne Fremde. August Wilhelm Schlegels Kontroverse mit F. R. u. Franz Bopp über die Vermittlung v. ind. Religion u. Mythologie. In: R.-Studien XVII (2006/07), S. 131–151. – Karl-Josef Kuschel: Weisheit als interkulturelles u. interreligiöses Ideal. Ein Blick auf F. R.s Buch ›Die Weisheit des Brahmanen‹ im Interesse des interkulturellen u. interreligiösen Dialogs heute. In: R.-Studien XVII (2006/07), S. 153–174. – R. G. Czapla (Hg.): Von Goethe bis Gregorovius. F. R. u. die Romdichtung des 19. Jh. Würzb. 2009. – Ders. (Hg.): F. R. u. die Musik. Tradition – Transformation – Konvergenz. Würzb. 2010. Rudolf Kreutner / Ralf Georg Czapla
Ruederer, Josef (Anton Heinrich), * 15.10. 1861 München, † 20.10.1915 München; Grabstätte: ebd., Waldfriedhof. – Dramatiker, Erzähler. R.s Vater war Großaktionär u. portugies. Generalkonsul; seine Mutter entstammte einer reichen Bierbrauerfamilie. Nach Bankvolontariat u. Militärzeit entstanden 1884 erste lyr. u. dramat. Versuche. Während eines Studienaufenthalts in Berlin hörte er Treitschke, Sybel, Mommsen u. verkehrte im Kreis um Wildenbruch. Die Anregungen verarbeitete er in einigen (unvollendeten) Hohenstaufendramen. Nach seiner Heirat 1888 ließ sich R. in München nieder, wo er in finanzieller Abhängigkeit von seinen Eltern als »freier« Schriftsteller im Umfeld der »Münchner Secession«, des Kreises um die Zeitschrift »Gesellschaft« u. des »Akademisch-dramatischen Vereins« lebte. 1894 erschien der sozialkrit. Roman Ein Verrückter. Kampf und Ende eines
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Rüdiger von Hinkhoven
Lehrers (Mchn./Dresden) um das Zerbrechen bayer. Lit. Ludwig Thoma, Oskar Maria Graf, J. R. eines Liberalen an dörfl. u. klerikaler Bigot- In: Gehört, gelesen 43 (1996), 10, S. 4–17. – Alois J. terie, 1895 Die Fahnenweihe (ebd.), seine er- Weichslgartner: J. R. In: Ders.: Schreiber u. Poeten. folgreich aufgeführte bäuerl. Intrigenkomö- Schriftsteller aus Altbayern u. Schwaben im 19. Jh. Dachau 2001, S. 112–115. – Gertrud M. Rösch: J. R. die um Grundstücksspekulation. Neben ErIn: NDB. – W. Euba: Spießer, Spezl, Spekulanten. zählbänden wie Tragikomödien (Bln. 1897) u. Das München-Buch des J. R. Mchn. 2007. Wallfahrer-, Maler- und Mördergeschichten (Bln. Rolf Selbmann / Red. 1899) entstanden Beiträge zum aufkommenden Kabarett. An der Gründung der »Elf Rüdiger von Hinkhoven. – MärendichScharfrichter« 1901 war R. beteiligt. ter des 13. Jh. Der Tod seiner Eltern (Mutter 1906, Vater 1907) brachte ihm die finanzielle Unabhän- Sicher bezeugt ist R. nur als Verfasser der aus gigkeit. Neben weiteren Komödien wie z. B. dem Ende des 13. Jh. stammenden ReimWolkenkuckucksheim (Mchn. 1909), Die Mor- paarerzählung Der Schlegel (1199 Verse), an genröte (1904. Ebd. 1913) oder Prinz Dschem deren Anfang er sich nennt. Wahrscheinlich (ebd. 1920) fand er mit kulturkrit., oft satir. ist der Dichter mit dem in einer Regensburger Schilderungen des Münchner Bürgertums Urkunde um 1286 bezeugten Berufsschreiber (u. a. Münchener Satiren. Ebd. 1907) literar. »Rvdger hvnchhovaer« aus dem heutigen Aufmerksamkeit. Bleibenden Ruhm brachte Oberhinkhofen bei Regensburg identisch. Die in fünf Handschriften überlieferte ErDas Erwachen (ebd. 1916), der erste Band einer geplanten Tetralogie, eines Geschichtsfreskos zählung thematisiert eingangs das vierte GeMünchens zur Zeit Ludwigs I. mit autobiogr. bot, richtet aber ihre Lehre an Kinder wie Eltern: Kinder sollen Eltern ehren, diese sich Zügen. Lange vergessen, findet R. heute wieder vor Undank schützen. – Ein reicher, verwitverstärkt Beachtung aufgrund seines ur- weter Kaufmann übergibt seinen fünf Kinwüchsigen Erzähltalents, der humorvollen u. dern seinen Besitz in der Erwartung, fortan doch klarsichtigen Entlarvung der bayeri- von ihnen versorgt zu werden. Doch schon als schen »Holdriogaudi« u. der authent. Schil- er sie zum zweiten Mal reihum besucht, geiderungen Münchner Lokalitäten. Anders als zen sie u. behandeln ihn schlecht. Auf den Rat der frühe Thoma, sein altbayerischer Anti- eines Freundes hin lässt er sich eine Truhe pode (über R.: ein »allem Ländlichen ferne mit fünf Schlössern u. fünf Schlüsseln anferstehender Städter«), ist R. in strukturkonser- tigen u. hängt einen Schlüssel an seinen Rock, vativem Denken verhaftet: Seine Kritik zielt bevor er die Kinder nochmals besucht. Diese weniger auf Enthüllung gesellschaftl. Wi- bemerken den Schlüssel u. wetteifern nun um dersprüche, sondern richtet sich gegen den die Gunst des Vaters, um in Besitz des Verfall traditioneller Lebensformen u. Werte. Schatzes zu gelangen, den er noch zu horten Weitere Werke: Das Grab des Herrn Schafbeck. andeutet. Doch finden die Kinder nach dem Mchn. 1912 (N.). – Werkausg. in 5 Bdn. Hg. Hans- Tod des Alten in der Truhe nur einen Schlegel Reinhard Müller. Mchn. 1987 (mit Materialienbd.). (schweren Hammer) samt einem Zettel mit Literatur: Michael Dirrigl: Die geistige u. der Aufschrift: Wer so töricht ist, sein Eikünstler. Entwicklung J. R.s. Diss. Mchn. 1949. – gentum den Kindern zu geben u. selbst Not Ludwig Schrott: J. R. In: Bayer. Literaturgesch. [...]. zu leiden, gehört mit dem Schlegel erschlaHg. Eberhard Dünniger u. Dorothee Kiesselbach. gen. Bd. 2, Mchn. 1967, S. 326–335. – Carl-Ludwig Die Schlusspointe unterstreicht die didakt. Reichert: J. R.: München. Der Autor u. sein Stadt- Intention, die Propagierung eines in nüchbuch. Mchn. 1984 (Hörsp.; ›Bayern – Land u. Leute‹ tern-realistischer Lebenserfahrung gründen158). – Claudia Müller-Stratmann: J. R. den Verhaltens, wie es ähnlich in einigen (1861–1915). Leben u. Werk eines Münchner Dichters der Jahrhundertwende. Ffm. u. a. 1994. – Versionen der thematisch verwandten Halben Wolf Euba: Es geschah im Gasthof zur Post ... Ge- Decke formuliert wird. Der Schlegel basiert auf einem in der lat. mütlichkeit unter dem Seziermesser des J. R. Mchn. 1994. – Norbert Göttler: Das 20. Jh. im Spiegel Exempelliteratur des MA mehrmals bearbei-
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teten Stoff, der bis in die frühe Neuzeit auch in immer neuen dt. Versionen erzählt wurde, u. a. von Geiler von Kaysersberg, Johannes Pauli, Hans Sachs u. Martin Luther. Ausgaben: Ludwig Pfannmüller: Mhd. Novellen 2. Bonn 1912, S. 27–63. – Ulrich Pretzel: Dt. E.en des MA. Mchn. 1971, S. 84–103 (nhd. Übertragung). – Margareta Koch (s. Lit.). – Novellistik des MA. Märendichtung. Hg., übers. u. komm. v. Klaus Grubmüller. Ffm. 1996, S. 112–177, 1070–1082. Literatur: Ludwig Pfannmüller: Die vier Redaktionen der Heidin. Bln. 1911. Neudr. New York 1966, S. 135–146. – Ders.: Kleinere Beiträge zur Kenntnis der mhd. Novellendichtung I. In: ZfdA 54 (1913), S. 231–239. – Johannes Bolte (Hg.): Johannes Pauli. Schimpf u. Ernst. Bd. 2, Bln. 1924, S. 358 f. (Stoffgesch.). – Hanns Fischer: Dt. Lit. u. lat. MA. In: FS Hugo Kuhn. Stgt. 1969, S. 17–19. – Hanns Fischer: Studien zur dt. Märendichtung. Tüb. 21983, S. 182–184, 390 f. (Bibliogr.). – HansJoachim Ziegeler: Erzählen im SpätMA. Mchn./ Zürich 1985, S. 448, 450 (Register). – Ulla Williams: R. d. H. In: VL. – M. Koch: Der Schlegel. Zur Novelle von R. v. H. Kritische Ausg., Untersuchungen u. Übers. Hbg./Münster 1993. Ulla Williams / Red.
Rüdiger, Elise ! Hohenhausen, Elise (Friederike Felicitas) Freifrau von Rüdiger, Wilhelmine Margaretha Charlotte, auch: Minna Rüdiger, geb. Waack, * 5.4.1841 Lübeck, † 27.2.1920 Lübeck. – Prosaschriftstellerin. R., zweitältestes von acht Kindern des Lübecker Stadtschulmeisters Heinrich Waack, nahm in Kindheit u. Jugend Anteil am hanseatischen Leben des 19. Jh., das sie später literarisch vergegenwärtigte. Nach langer Verlobungszeit folgte sie dem Lehrer u. Geistlichen Johannes Rüdiger ins Mecklenburgische: 1863 nach Neustrelitz, 1876 – ihr Mann sollte das Pastorenamt übernehmen – nach Hinrichshagen. R. brachte in ihrer Ehe acht Kinder zur Welt, von denen zwei bereits kurz nach der Geburt starben. »Die Pflicht, nicht zu schreiben, ist in sehr vielen Fällen größer, als die, nach außen Gutes durch seine Worte zu verbreiten und die Aufgaben im Hause zu übersehen«, urteilte R. im Nachhinein über diese Jahre (zit. nach Saltzwedel,
S. 145). Erst kurz vor der Silberhochzeit erinnerte sie sich jugendl. literar. Ambitionen, nahm das Schreiben wieder auf u. vergrößerte durch zahlreiche Veröffentlichungen das schmale Familieneinkommen. Als Witwe lebte R. ab 1895 in Hinrichshagen u. Lübeck, bevor sie 1901 endgültig in die Heimatstadt zurückkehrte. Unter ihrem Rufnamen u. Pseudonym Minna Rüdiger erschien ein umfangreiches Prosawerk, das vor u. nach dem Ersten Weltkrieg durchaus breit rezipiert wurde. Gern wählte R. histor. Stoffe – so auch in ihrem bekanntesten Roman, einer christlich geprägten Liebesgeschichte aus dem 14. Jh.: Waldtraut. Nach der Chronik des Pfarrers zu Hinrichshagen (Schwerin 1891. Zuletzt Nachdr. Neustrelitz 1998) –, die sie bevorzugt im 16. Jh. (z.B. Um des Glaubens willen. Vier Erzählungen aus der Reformationszeit. Schwerin 1895) bzw. im norddt. Raum ansiedelte (z.B. Die Frau des Ratmannen. Eine Erzählung aus Lübecks Vergangenheit. Schwerin 1893. Aus freien Reichsstädten. Erzählungen aus Hamburgs und Lübecks Vergangenheit. Schwerin 1899. Das helle Licht. Erzählung aus der Reformationszeit Lübecks. Schwerin 1919). Weitere Schwerpunkte liegen auf der Kinder- u. Jugendliteratur (z.B. Freunde fürs Leben. Eine Geschichte für die Jugend und ihre Freunde. Schwerin 1920), der Mädchenerziehung (z.B. Antworten auf Ungefragtes. Ein Büchlein für meine jungen Freundinnen in und nach der Konfirmationszeit. Schwerin 21901), auf christl. Erbauung (z.B. Christusgeschichten. Schwerin 1915) u. dem Wert der Familie (z.B. Elternliebe über alles und andere Erzählungen. Reutl. 1915). Autobiografisch geprägt sind hingegen die Bände Unvergessenes. Erinnerungsblätter (Schwerin 1904) u. Rückblicke (Schwerin 1909). Mitunter finden sich auch Bühnenentwürfe (Zwei Tage aus großer Zeit. Aufführung für Jungfrauenvereine. Dessau 1896) oder Mundartliches (An Gottes Hand. ein Wandergruß. Schwerin 1899). Häufig ins Dänische u. Schwedische übersetzt, zeichnet sich R.s Schreiben vorwiegend durch literar. Zeugenschaft u. Verlebendigung des Gewesenen aus. In künstlerischer Hinsicht blieb es Vorbildern verhaftet, u. a. der zeitgleich populären Marie Nathusius.
91 Weitere Werke: Novellen. Schwerin 1900. – Novellen. Bd. 2. Schwerin 1902. Literatur: Pataky. – Brümmer. – Arthur Luther: Dt. Gesch. in dt. Erzählung. Ein literar. Lexikon. Leipzig 21943, passim. – Rolf Saltzwedel: Die Erinnerungen der Schriftstellerin M. R. In: Der Wagen. Ein lübeck. Jb. 1982, S. 141–152. – Kosch. – Waldemar Neubauer: Schriftstellerin aus Lübeck in Hinrichshagen heimisch: M. R. In: Nordkurier, 12.7.1997, S. 17. – Matthias Wolf: Bibel, Gesangbuch u. Roman. M. R. (1841–1920) in Hinrichshagen. In: Nordkurier, 7.2.2002, S. 7. – DBE. Kathrin Klohs
Rühle von Lilienstern, Johann Jakob Otto August, * 16.4.1780 Berlin, † 1.7. 1847 Salzburg. – Preußischer Offizier, Schriftsteller. R. wurde als Sohn eines preuß. Leutnants geboren u. war für die soldatische Laufbahn ausersehen. 1793 gab man ihn ins Berliner Kadettencorps; 1795 kam er ins Potsdamer Regiment Garde, wo er gemeinsam mit dem wenig älteren Heinrich von Kleist diente. Seit 1801 besuchte R. die von Scharnhorst begründete Akademie für Offiziere in Berlin, an der er nicht nur militärische Studien betrieb, sondern sich auch mit naturwissenschaftlichen, philosophischen u. ästhetischen Fragen beschäftigte. 1806 nahm er am Krieg gegen das napoleonische Frankreich teil; nach der Kapitulation von Prenzlau schrieb er in Dresden den Bericht eines Augenzeugen von dem Feldzuge der während den Monaten September und October 1806 unter dem Kommando des Fürsten zu Hohenlohe-Ingelfingen gestandenen Königl. preußischen und Churfürstl. sächsischen Truppen (Tüb. 1807). Anschließend wurde R. zum Erzieher des Prinzen Bernhard von Sachsen-Weimar bestellt, widmete sich jedoch vornehmlich seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Seit 1808 verantwortete er die »Pallas« (ebd. 1808–10), eine ambitionierte »Zeitschrift für Staatsund Kriegs-Kunst«; des Weiteren trug er zur Finanzierung von Kleists u. Adam Müllers Kunstjournal »Phöbus« (Dresden 1808) bei. Kurz darauf beteiligte sich R. als Angehöriger der auf frz. Seite kämpfenden sächs. Truppen nur widerwillig an der Kampagne gegen Österreich; sein umfängl., stark fiktionalisiertes Werk Reise mit der Armee im Jahre 1809
Rühle von Lilienstern
(3 Bde., Rudolstadt 1810/11. Gekürzter Neudr. Wien 1986) berichtet davon. In der Folge verfasste er den Kriegs-Katechismus für die Landwehr (Breslau 1813) sowie eine Apologie des Krieges (Neudr. Wien 1984), die Friedrich Schlegel mit dem bezeichnenden Untertitel Besonders gegen Kant im »Deutschen Museum« (ebd. 1813) erscheinen ließ. Nach seiner Rückkehr ins preuß. Heer wurde R. 1813 Major im Hauptquartier Blüchers, wo er u. a. mit Scharnhorst u. Gneisenau zusammentraf. In den Befreiungskriegen erwarb er sich ein hohes militärisches u. diplomatisches Ansehen, sodass er nach der Völkerschlacht bei Leipzig zum Oberstleutnant befördert u. zum »General-Commissarius für die Deutsche Landes-Bewaffnung« ernannt wurde. Als militärischer Sachverständiger reiste R. 1815 zum Wiener Kongress, ehe er, inzwischen Oberst, seit 1816 die Abteilung für Kriegsgeschichte des Großen Generalstabs in Berlin leitete. In dieser Funktion rief er das »Militair-Wochenblatt« (Bln. 1816–1942) ins Leben; zudem publizierte er ein Handbuch für den Officier zur Belehrung im Frieden und zum Gebrauch im Felde (2 Bde., Bln. 1817/18). 1820 wurde R. Generalmajor u. 1821 Chef des Großen Generalstabs; 1835 avancierte er zum Generalleutnant. Zwei Jahre später übertrug man ihm das Amt des Direktors der Allgemeinen Kriegsschule, u. seit 1844 stand R. als Generalinspekteur an der Spitze des gesamten preuß. Militärerziehungswesens. Er starb auf der Rückreise aus Bad Gastein, wo er sich einer Kur unterzogen hatte. Neben seinen militärgeschichtlich relevanten Publikationen u. einigen Übersetzungen aus dem Französischen legte der vielseitig begabte Dilettant R. – der auch ausgiebig musizierte, komponierte u. malte – eine Fülle naturwissenschaftlicher, philosophischer u. ästhetischer sowie pädagog., geografischer u. histor. Werke vor. Zu ihnen zählt ein Universalhistorischer Atlas, dessen 1. Heft (Bln. 1827) er gleich nach Erscheinen an Goethe sandte, dem er zuvor mehrfach persönlich begegnet war. Dieser, der schon R.s Bericht eines Augenzeugen u. die Reise mit der Armee zustimmend rezipiert hatte, bedankte sich am 12.8.1827 mit einem anerkennenden Brief. Indes sind
Rühle
weder R.s weithin vergessene Schriften noch seine Kontakte zu Goethe (sowie zu den Brüdern Humboldt, zu Schelling, Varnhagen von Ense u.v.a.) die Ursache für seine literatur- u. geistesgeschichtl. Bedeutung. Diese liegt vielmehr in seiner engen Freundschaft mit Kleist begründet, der R. sowohl den 1799 verfassten Aufsatz, den sichern Weg des Glücks zu finden [...] als auch die vermutlich 1805/06 entstandenen Reflexionen Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden zueignete. Aus dem Briefwechsel der beiden sind lediglich acht Schreiben Kleists überliefert, doch haben sich diese als bes. wertvolle Quelle für die Kleist-Forschung erwiesen. Weitere Werke: Hieroglyphen oder Blicke aus dem Gebiete der Wiss. in die Gesch. des Tages. Dresden/Lpz. 1809. – Vom Kriege [...]. Ffm. 1814. – Die dt. Volksbewaffnung. Bln. 1815. – Aufsätze über Gegenstände u. Ereignisse aus dem Gebiete des Kriegswesens. Ebd. 1818. – Beiträge zur Münzkunde des MA. Bln./Posen 1823. – Ueber das Homerische Ithaka. Bln./Posen/Bromberg 1832. – Über Sein, Werden u. Nichts. Eine Excursion über 4 Paragraphen aus Hegels Encyklopädie. 2 Bde., Bln. 1833. – Zur Gesch. der Araber vor Muhamed. Ebd. 1836. – Die Rudimente der Hydrognosie. Ebd. 1839. – Historiographische Skizze des Preuß. Staats [...]. Ebd. 1839. – Vaterländ. Gesch. v. der frühesten Zeit bis an das Ende des 13. Jh. Ebd. 1840. – Gedankenspäne. Ebd. 1846. Literatur: [Major Gerwien:] General-Lieutenant R. v. L. Ein biogr. Denkmal. In: Beiheft zum Militair-Wochenblatt für die Monate Okt., Nov. u. Dez. Bln. 1847, S. 125–191. – Bernhard v. Poten: R. v. L. In: ADB. – Rolf Elble: Der preuß. General R. v. L. – aus Anlaß seines 200. Geburtstags. In: Europ. Wehrkunde 10 (1980), S. 510–515. – Jean-Jacques Langendorf: Nachw. R. v. L. oder Die ›romant.‹ Einheit des Krieges. In: R. v. L.: Apologie des Krieges. Wien 1984, S. I–LIII. – J.-J. Langendorf: Nachw. Der Krieg als schöne Kunst betrachtet. In: R. v. L.: Reise mit der Armee 1809. Ebd. 1986, S. 233–273. – Günther Rühle: O. A. R. v. L. Ein Freund Heinrich v. Kleists. In: Kleist-Jb. (1987), S. 76–97. Stefan Hermes
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Geschichte u. Volkskunde in Frankfurt/M. 1952 wurde R. mit der Arbeit Die Träume und Geistererscheinungen in den Trauerspielen des Andreas Gryphius und ihre Bedeutung für das Problem der Freiheit (Ffm. 1952) promoviert. Seine publizistische Laufbahn begann er als Lokalreporter bei der »Frankfurter Rundschau«. 1954 trat er in die Feuilletonredaktion der »Frankfurter Neuen Presse« ein u. wechselte 1960 zur »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, wo er 1974–1985 die Leitung der Feuilletonredaktion innehatte. 1977/78 nahm er eine Gastprofessur an der Hochschule der Künste in (West-)Berlin wahr. 1985–1990 war R. in der Nachfolge von Adolf Dresen Intendant des Schauspielhauses in Frankfurt/M.; danach wechselte er in die Chefredaktion des Berliner »Tagesspiegel«, wo er bis 1994 der Feuilletonredaktion vorstand. Seit 1995 ist R. als freier Publizist tätig. R. wurde mit zahlreichen Artikeln, Porträts u. richtungweisenden Beiträgen frühzeitig zu einem der einflussreichsten Theaterkritiker des deutschsprachigen Raums. Die Dokumentationen Theater für die Republik 1917–1933. Im Spiegel der Kritik (Ffm. 1967. 1989) u. Zeit und Theater 1913–1945 (6 Bde., Ffm./Bln./Wien 1972–80) sowie die Aufsatzsammlungen Theater in unserer Zeit (Ffm. 1976) u. Anarchie in der Regie? (Ffm. 1982) fanden allg. Beachtung. Im Mittelpunkt seiner Herausgebertätigkeit standen die Werke Marieluises Fleißers (Ffm. 1973) u. Alfred Kerrs (Bln. 1989). Als Intendant in Frankfurt/M. löste R. gleich in seiner ersten Spielzeit heftige Debatten mit dem Versuch aus, Rainer Werner Fassbinders 1975 verfasstes Stück Der Müll, die Stadt und der Tod uraufzuführen. Weitere Werke: Herausgeber: Materialien zu Leben u. Schreiben der Marieluise Fleißer. Ffm. 1973. – Bücher, die das Jahrhundert bewegten. Mchn./Zürich 1978. – Bernhard Minetti: Erinnerungen eines Schauspielers. Stgt. 1985. Matthias Harder
Rühle, Günther, * 3.6.1924 Gießen. – Re- Rühm, Gerhard, * 12.2.1930 Wien. – Exdakteur, Theaterkritiker, Herausgeber u. perimenteller Schriftsteller, Musiker, Intendant. Grafiker. Nach Kriegsdienst (1942–1945) studierte der Sohn eines Wirtschaftsprüfers Germanistik,
R., der Sohn eines Wiener Philharmonikers, begann seine Laufbahn als Musiker (Studium
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Klavier u. Komposition an der Staatsakademie, Beschäftigung mit oriental. Musik) u. agierte Anfang der 1950er Jahre zunächst im Kreis bildender Künstler in Wien (mit Arnulf Rainer), ehe er durch die Bekanntschaft mit H. C. Artmann zur Literatur stieß. Seine ersten literar. Produktionen waren Lautgedichte (versuche, den eben in der malerei erfundenen tachismus auf die poesie zu übertragen. 1952. In: botschaft an die zukunft. gesammelte sprechtexte. Reinb. 1988) u. weisen – für R.s gesamtes Schaffen typisch – auf den Grenzbereich zwischen den Kunstdisziplinen. In den 1950er Jahren schloss sich R. mit Achleitner, Artmann, Bayer u. Wiener zu der später so genannten Wiener Gruppe zusammen, um in intensivem Austausch Literatur zu produzieren (Gemeinschaftsarbeiten. In: Die Wiener Gruppe. Reinb. 1967. Erw. Neuausg. 1985). Dabei ging es um eine Erneuerung der literar. Aussage aus dem Material der Sprache u. der Reflexion auf die Bedingungen ihrer Produktion. R.s Rolle darf wohl als treibend u. integrativ bezeichnet werden – bis hin zur Herausgabe der Anthologie Die Wiener Gruppe nach deren Auflösung. Von Beginn an war R. bemüht, aus dem durch eine restaurative Kulturpolitik geprägten provinziellen Klima im NachkriegsWien auszubrechen u. Anschluss an ähnl. Bestrebungen im Ausland zu finden. So besuchte er zusammen mit Achleitner 1956 Eugen Gomringer in Ulm u. veröffentlichte erste konkrete Texte (ideogramme in Heft 3 [1960] u. konstellationen in Heft 4 [1961] in der von Gomringer herausgegebenen »konkreten poesie – poesie concreta«). R. war es auch, der innerhalb der Wiener Gruppe die Entdeckung der histor. Avantgarden (Dadaismus, Expressionismus, Surrealismus, Konstruktivismus) am weitesten vorantrieb. So hat er den expressionistischen Dichter Franz Richard Behrens wiederentdeckt u. sein Werk herausgegeben (F. R. Behrens: Blutblüte. Mchn. 1979). Als Anknüpfungspunkte in der Literatur nennt R. vor allem Stramm u. Schwitters, daneben Gertrude Stein, Carl Einstein u. Scheerbart, in deren Werk das konstruktivistische Element ausgeprägt ist: die Rückführung literar. Techniken auf elementare Operationen mit
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vorgefundenem Sprachmaterial, das Ausschöpfen aller materiellen u. inhaltl. Aspekte desselben, schließlich die Anwendung errungener Methoden auf größere literar. Formen (vgl. R.s Prosatexte fenster. texte. Reinb. 1968. die frösche und andere texte. Ebd. 1971. ophelia und die wörter. gesammelte theaterstücke 1954–1971. Darmst./Neuwied 1972). 1964 verließ R. Wien, da seine u. die Arbeiten der Gruppe dort keine Anerkennung fanden, sondern durch Publikationsboykott behindert wurden. Nach dem Ausscheiden Artmanns 1958 u. nach »literarischen cabarets« (6.12.1958 u. 15.4.1959), mit denen man sich aktionistischen Formen zuwandte, begannen die Mitglieder der Wiener Gruppe eigene Wege zu gehen. R., der sich zunächst in Berlin niederließ u. 1972–1996 Professor an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg war, lebt nun in Köln u. Wien. Er wurde mit mehreren wichtigen Preisen ausgezeichnet: Hörspielpreis der Kriegsblinden (1983), Preis der Stadt Wien (1984), Großer Österreichischer Staatspreis für Literatur (1991). Die Arbeiten der Wiener Gruppe u. speziell die R.s gehören zu den repräsentativen Texten der sich in den 1950er u. 1960er Jahren formierenden experimentellen Literatur im deutschsprachigen Raum. Während die Experimentellen in der BR Deutschland ihre Texte jedoch häufig poetologisch untermauerten (Heißenbüttel u. Mon), kann eine Poetik der Wiener Gruppe nur aus verstreuten Äußerungen, Manifesten u. Kommentaren erschlossen werden. Dabei fehlt es nicht an Hinweisen auf Quellen ihrer Auseinandersetzung. So stehen sowohl Wittgenstein als auch Mauthner für die Auffassung, dass die Sprache den individuellen Ausdruck einschränkt u. dem Denken Grenzen setzt. Viele von R.s Texten sind Produkte der Auseinandersetzung mit den Zwängen der Kommunikation u. der Enge des konventionellen sprachl. Ausdrucks. Die literar. Aussage wird in R.s Texten zu einem Zeigegestus, der das Thema nicht diskursiv entfaltet, sondern in der literar. Methode selbst vorführt. So wird in der abhandlung über das weltall (1966. In: Die Wiener Gruppe. Reinb. 1985, S. 189–197), der ein
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wissenschaftl. Text zugrunde liegt, dargestellt, wie »die sprache den wärmetod (stirbt)«, indem sukzessive alle Laute bis auf das e aus dem Text eliminiert werden. Parallel zu ähnl. Entwicklungen in der bildenden Kunst (Happening) u. der Musik (Cage, Ligety) werden außerhalb des Literatursystems liegende Faktoren in die Texte einbezogen, so etwa das Umblättern oder Lesen von links nach rechts bzw. von oben nach unten (in Ideogrammen und Konstellationen). In rhythmus r (Bln. 1968) erfährt der Leser die Bedeutung von »rauh« durch ein eingebundenes Sandpapier u. soll durch Herausreißen eines Seidenpapiers einen rLaut selbst realisieren. In die Schriftzeichnungen (Hann. 1982) sind experimentell durchgespielte äußere Bedingungen des HandSchreibens eingegangen u. in die »auditive poesie« das Atmen u. die Möglichkeiten der menschl. Stimme. Für R. spielt der Umgang mit der Tradition eine bes. Rolle. Wie seine Chansons, seine Sonette, seine Adaptionen des Wiener Volksstücks, seine Dialektgedichte zeigen, ist er daran interessiert, aus überlieferten Formen u. Inhalten neue Ausdrucksmöglichkeiten zu gewinnen. Während er in den dokumentarischen sonetten (1969) die traditionelle Form mit Zeitungsmaterial konfrontiert, nutzt er in den Dialektgedichten (hosn rosn baa. Zus. mit F. Achleitner u. H. C. Artmann. Wien 1959) das für die Wiener Volkskultur typische Makabre, Schaurige u. Böse als Verfremdungseffekte. In den 1970er u. 1980er Jahren hat sich R.s frühe sprachanalyt. u. -spielerische Haltung zugunsten einer Position verändert, die sich mit gesellschaftl. Themen beschäftigt, wie z.B. der Ökologie im Hörspiel wald – ein deutsches requiem (WDR 1983). Von den Arbeiten der 1980er Jahre ist auch reisefieber. theatralische ereignisse in fünf teilen (Reinb. 1989) hervorzuheben, ein »kaleidoskopisches« Stück zwischen Theater u. Performance, u. Albertus Magnus Angelus (Salzb./ Wien 1989), ein Text, in den R.s langjährige Beschäftigung mit der christl. Mystik mündet. Zu den letzten größeren Arbeiten zählt auch textall. ein utopischer roman (Reinb. 1993), wo R. ein japanisch-dt. Wörterbuch zur Ge-
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nerierung eines Textes nutzt, der Chaostheorie u. Roman verbinden soll. Das Universum der R.schen Sprach- u. Textkunst mit seinen mehr als 100 neu erfundenen Gattungen (musikzeichnungen, lesemusik, leselieder, bleistiftmusik, melogramme, notenüberzeichnungen, liederbilder, briefbilder usw.), die in Kleinpublikationen weit vertreut sind, wird von Michael Fisch gesammelt u. seit 2005 in einer kommentierten Lese- u. Studienausgabe im Parthas Verlag Berlin herausgeben. Bisher erschienen: G. R. gesammelte werke. 1.1. gedichte; 1.2. gedichte (hg. M. Fisch. 2005); 2.1. visuelle poesie; 2.2. visuelle musik (hg. Monika Lichtenfeld. 2006). Weitere Werke: montagen (zus. mit H. C. Artmann u. Konrad Bayer) [1956]. Bleiburg/Kärnten 1964. – betrachtung des horizonts. Bln. 1965. Neuausg. Bln. 1968. – lehrsätze über das weltall. mit beweis in form eines offenen briefes an professor einstein. Bln.1965. Neuausg. Bln. 1968. – Thusnelda Romanzen. Stierstadt/Taunus 1968. – kleine billardschule. Bln. 1968. – DA. eine buchstabengesch. für kinder. Ffm. 1970. – hommage an fontana. Bln. 1970 (Collage). – in memoriam leo trotzki. Bln. 1970 (Fotomontage). – Knochenspielzeug. Märchen u. Fabeln. Mit farbigen Originalgraphiken v. Christian Ludwig Attersee. Stierstadt/ Taunus 1970. Um ›Liebesgeschichten‹ erw. Neuausg. Düsseld. 1979. – Charles Baudelaire: DIE REISE NACH CYTHERA. Zehn Umdichtungen. Stierstadt/Taunus. 1971. – voyeurobjekt. Bln. 1971. – diotima hat ihre lektüre gewechselt. HR 1971 (Hörsp.). – MANN u. FRAU. Darmst./Neuwied 1972. – Wahnsinn. Litaneien. Mchn. 1973 (mit einer Schallplatte). – blaubart vor der krummen lanke. WDR 1973 (Hörsp.). – entbindungen. Hbg. 1974. – comic. Linz o. J. [1975]. – bücher bilder bilder-bücher. Bln. 1976. – komm mit nach österr., ein führer durch österr. für außerird. wesen (zus. mit [Bildern von] C. L. Attersee). Grenchen 1976. – super rekord 50 + 50 (zus. mit Friedrich Achleitner). Linz 1980. – automatische zeichnungen / fotomontagen 1958–1966 / hand- u. körperzeichnungen. Wien o. J. Um ›schriftzeichnungen 1976–1977‹ erw. Neuausg. Hann. 1982. – bleistiftmusik. Köln o. J. [1983]. – oscar wilde. salome. Ffm. 1983 (Nachdichtung). – TEXT – BILD – MUSIK. ein schau- u. lesebuch. Wien 1984. – leselieder / visuelle musik. Graz 1986. – Zeichnungen. Hg. vom Museum Moderner Kunst Wien. Salzb./Wien 1987. – geschlechterdings. Chansons, Romanzen, Gedichte. Reinb. 1990. – japanischer salat. hom-
95 mage à eric satie. WDR 1990 (Hörsp.). – golf. poesie nach sechs wochen prosa. BR 1991 (Hörsp.). – thema mit variationen. visuelle musik. Wien 1992. – Liederbilder. Bremen 1992. – wien, wie es klingt. ORF/WDR 1992 (Hörsp.). – kinderlieder heute. WDR 1992 (Hörsp.). – Schwarzweiße Messe. Urauff. Mürzzuschlag 1993 (Theaterstück). – sämtl. wiener dialektdichtungen. Graz 1993 (mit einer CD). – überkreuzt. Arbeiten auf Papier (zus. mit H.-G. Prager). Köln 1993. – BRAVO. ein sittenbild aus den fünfziger Jahren. Innsbr. 1994. – besteckstück. objekttheater. Urauff. Graz 1994. ORF 1994 (Hörsp.). – damentennis. WDR 1994 (Hörsp.). – auf messers schneide. Innsbr. 1995 (2 Theaterstücke, mit einer CD). – zeichen-buch. Hbg. 1995 (Zeichnungen). – coole serie in memoriam. Salzb. 1996 (Fotomontagen). – Visuelle Poesie. Arbeiten aus vier Jahrzehnten. Innsbr. 1996. – höllenu. himmelfahrten. Zell am See 1996. – lesebilder – bildgedichte. Gumpoldskirchen 1997. – verlier’ nicht den kopf aus liebe. gesammelte chansons aus fünf jahrzehnten. Wien 1999 (3 CDs). – gruselgeschichten. Gmunden 1999. – um zwölf uhr ist es sommer. Gedichte, Sprechtexte, Chansons, Theaterstücke, Prosa. Ausw. u. Nachw. v. Jörg Drews. Stgt. 2000. – kunst-stücke. Texte aus fünf Jahrzehnten. Hg. Bernhard Kraller. Wien 2000. – schwellenchronik der jahrtausendwende. mit randglossen zur angelologie. Graz/Wien 2001. – momentgedichte u. kurzgesch.n. Köln 2001. – calendarium. monatstexte mit holzschnitten. Garching 2001. – ICH – ›I‹ love you. Mit Bildern u. Objekten. Weitra 2001. – Visuelle Poesie Visuelle Musik 1954–2001. Hg. Alexandra Foitl. Graz 2001 (Kat.). – pencil music. Köln 2002 (CD). – MASOCH. eine rituelle rezitation mit zitaten v. sacher-masoch u. ignatius v. loyola für eine sprecherin, einen sprecher, sprechchor u. zwei stumme darsteller. Graz/Wien 2003. – was verschweigt die schwarze witwe? schrift-, sprech- u. bildanagramme. Graz/ Wien 2004. – die geregelte vereinigung europas. ein beitr. zu einer erot. geografie. Wien 2004. – Jahrtausendwende. Ein Radiotrip durch Wahnwelten. WDR 2006 (Hörsp.). – Aspekte einer erweiterten Poetik. Vorlesungen u. Aufsätze. Nachw. v. J. Drews. Bln. 2008. – Herausgeber: Konrad Bayer: Sämtl. Werke. 2 Bde., Wien 1985. Überarb. Neuausg. Wien 1996. – die winterreise dahinterweise. neue gedichte u. fotomontagen zu franz schuberts liederzyklus. Klagenf. 1991. Literatur: Publikationen des G.-R.-Symposions. In: Protokolle 2, 1987. – Kurt Bartsch u. Stefan Schwarz (Hg.): G. R. Graz/Wien 1999. – Christiane Zintzen: G. R. In: LGL. – Michael Fisch: G. R. Ein Leben im Werk 1954–2004. Ein chronolog. Verz.
Rühmkorf seiner Arbeiten. Bielef. 2005. – Gerhard Melzer u. Melitta Becker: G. R. In: KLG (mit Bibliogr.). Walter Ruprechter
Rühmkorf, Peter, auch: Lyng, Lüng, Lynghi, Wang Lung, Lynkeus, Leslie Meier, Leo Doletzki, Johannes Fontara, John Frieder, Harry Flieder, Hans Hingst, * 25.10.1929 Dortmund, † 8.6.2008 Roseburg/Schleswig-Holstein. – Lyriker, Essayist, Herausgeber, Prosaautor, Dramatiker. R., »als Sohn der Lehrerin Elisabeth Rühmkorf und des reisenden Puppenspielers H. W. geboren«, wuchs bei Stade in Niedersachsen auf. Seit 1951 studierte er Pädagogik u. Kunstgeschichte, später auch Germanistik u. Psychologie in Hamburg. 1957 brach er das Studium ab; 1958–1964 war er Lektor im Rowohlt Verlag. Danach lebte er als freier Schriftsteller in Hamburg. 1960 hatte R. sein Debüt bei der Gruppe 47, der er bis zu ihrer Auflösung angehörte; die Wintermonate 1964/65 verbrachte er als Stipendiat in der Villa Massimo in Rom. Er übernahm Gastdozenturen für Poetik u. dt. Literatur in der BR Deutschland u. in den USA. 1993 erhielt er den Büchner-Preis als die wichtigste von zahlreichen weiteren Ehrungen. Nach der übl. Primanerlyrik begann R. seine eigentl. literar. Tätigkeit bei der zusammen mit Klaus Rainer Röhl gegründeten »Neuen Studentenbühne«, dem Kabarett »Die Pestbeule« u. im »Arbeitskreis für Progressive Kunst« an der Universität Hamburg. Hinzu kam seit Dez. 1951 – unter mehreren Pseudonymen – die Mitarbeit an der von seinem Freund Werner Riegel herausgegebenen Zeitschrift »Zwischen den Kriegen. Blätter gegen die Zeit« (1951–56). Hier entwickelten die beiden Autoren das Programm des »Finismus«, das als ein Versuch gelten kann, den Expressionismus, insbes. Benns »Ausdruckswelt«, mit Vorstellungen einer »politischen Wirkungsästhetik« zu verbinden. Die poetische Umsetzung dieses Programms findet sich u. a. in dem gemeinsam veröffentlichten Bändchen Heiße Lyrik (Wiesb. 1956).
Rühmkorf
Die Erfahrung mit dem Expressionismus, die auch für R.s spätere Tätigkeit als Lyriker, Kritiker u. Herausgeber (131 expressionistische Gedichte. Bln. 1976) wirksam blieb, bildete den wichtigsten Hintergrund seiner u. d. T. Leslie Meiers Lyrik-Schlachthof 1956–1958 geführten Literaturpolemik in der Zeitschrift »Studenten-Kurier« (seit Okt. 1957 »konkret«). Dabei ging es ihm nicht allein um eine Kritik der literar. Traditionalisten, sondern zgl. darum, »der zweiten Moderne im Nachkriegs-Deutschland die eigenen expressionistischen – Väter vorzuhalten« (Verweyen/ Witting, 1990). Gegen das formale Experiment, einen exquisiten Surrealismus oder etwa die modernisierte Naturlyrik setzte er einen »Experimentalrealismus«, der mit dem literarischen zgl. das polit. »Restauratorium« der Adenauer-Ära treffen sollte. Kennzeichen dieser neuen, sensualistisch geprägten Poetik R.s ist die Vorliebe für die »hausierenden Ambulanten« der Literatur wie Walther von der Vogelweide u. Klopstock (siehe den diesbezügl. Essayband von 1975 u. die KlopstockAuswahl. Ffm. 1968), für Parodie u. Travestie (z. B. die Variationen auf Gedichte Klopstocks, Claudius’, Hölderlins u. Eichendorffs oder Texte wie Lied der Benn-Epigonen u. Anti-Ikarus) oder auch für das oft als anrüchig empfundene »Volksvermögen« (Über das Volksvermögen. Exkurse in den literarischen Untergrund. Reinb. 1967). Ihren sinnfälligsten Niederschlag fand sie in den Gedichtsammlungen Irdisches Vergnügen in g (Hbg. 1959) u. Kunststücke (Reinb. 1962). Die dort herrschende Vielfalt intertextueller Beziehungen ist keineswegs Ausdruck eines gelehrten Eklektizismus; vielmehr soll die zitierte literar. u. bildungssprachl. Tradition – vorwiegend durch Parodie bzw. Kontrafaktur u. im Kontext von Jargon, Slang u. Werbesprache – stets zur Disposition gestellt werden (vgl. u. a. Bayerdörfer, 1990). Während des Aufenthalts in der Villa Massimo 1964/65 gewannen – beschleunigt nicht zuletzt durch die Bildung der Großen Koalition in der BR Deutschland 1963 – die Zweifel an der gesellschaftl. Relevanz der Lyrik endgültig die Oberhand. R. versuchte nun, über das Theater eine neue Synthese zwischen seiner in vielen »Zweck-, Nutz- und Leitarti-
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keln« sich äußernden politischen u. seiner literar. Existenz zu finden: Mit den sehr forcierten Parabelstücken Was heißt hier Volsinii? (Reinb. 1969), Lombard gibt den Letzten (Bln. 1972) u. Die Handwerker kommen (ebd. 1974) reüssierte er jedoch nicht. Etwa zur gleichen Zeit erschien – für einen gerade 42-Jährigen auf den ersten Blick überraschend – die aus sehr unterschiedl. Textstücken montierte Autobiografie Die Jahre die Ihr kennt. Anfälle und Erinnerungen (Reinb. 1972) – eine bewusst subjektive Gegen-Erinnerung, geprägt von einer tiefen Resignation gegenüber der Macht der Medienkonzerne wie zgl. von dem Versuch, sich dennoch seiner polit. Hoffnungen zu versichern. Um histor. Darstellung, krit. Auseinandersetzung mit der »Wegwerfgesellschaft« u. Selbstvergewisserung – hier v. a. als »Leidensgenossenschaft« – geht es auch in Walther von der Vogelweide. Klopstock und ich (ebd. 1975). 1976 kam – nach mehr als zehnjähriger Abstinenz – erstmals wieder ein eigenständiger Lyrikband heraus, eine Auswahl von Gedichten aus der Zeit von 1953 bis 1975 mit dem bezeichnenden Untertitel Wer Lyrik schreibt ist verrückt (Gesammelte Gedichte. Reinb.). Ihr folgten 1979 der Gedichtband Haltbar bis Ende 1999 (ebd.) u. 1989 die aus Lyrik, poetolog. Essays u. Briefen gemischte Sammlung Einmalig wie wir alle (ebd.). Das verfremdend verwendete Frischhaltedatum Haltbar bis Ende 1999 kann hier durchaus als eine Art Poetik in nuce gelesen werden: Lyrische Texte sind weder »Besitztümer für immer« noch »Eintagsfliegen, die sich von den Abfällen des Heute nähren« (Albert von Schirnding), sie gehören vielmehr zu den »spontanen Wahrnehmungs- und Erkundungsweisen« des erlebten Augenblicks – freilich angesichts einer durch »Matern und Matrizen« verstellten Wirklichkeit (vgl. R.s Nachwort). Dies motiviert wiederum die schon früh bevorzugten Verfahren wie Parodie, Kontrafaktur, Montage, Anspielung, Zitat u. dissonante Mischung der Stilebenen. Aus solcher Vielstimmigkeit u. der mit ihr korrespondierenden, von Engagement u. Skepsis, Spiritualität u. Schnoddrigkeit bestimmten Haltung gewann R. seinen eigenen, unverwechselbaren Ton. Es hat daher auch
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einige Zeit gedauert, bis er die verdiente öffentl. Anerkennung fand, gefördert nicht zuletzt auch durch seine späten autobiogr. Arbeiten, die als Segmente aus einem immensen Tagebuchjournal von Tausenden Seiten – »eine erdbebensichere Gedächtnisstütze« – herausgebrochen zu sein scheinen: TABU I (Reinb. 1995) zeigt Extrakte aus den Jahren 1989–1991, die als Reminiszenz an einen nicht geschriebenen (Zeit-)Roman gelesen werden können; den schicksalschweren Ereignissen um den 30.9.1989 zollt er »durchaus Anteilnahme«, gemischt jedoch mit dem »Gefühl, als ob die Weltenuhr einen imaginären Zeitsprung nach vorn gemacht hätte und der eigene Wirklichkeitssinn käme nicht mehr geschichtssynchron mit«. Die bearbeiteten Tagebucheinträge aus den Jahren 1971/72 in TABU II (Reinb. 2004) reflektieren die Entstehungszeit der Jahre die Ihr kennt, problematisieren aber auch das Tagebuchschreiben selbst mit allen rhetorischen Kniffs u. Tricks des Porträtisten, Anekdotensammlers u. Wortakrobaten. Die am Ende versprochene Fortsetzung folgte nicht, wohl aber – nach den Lyrikbänden Lethe mit Schuß (Ffm. 1998), von Robert Gernhardt ausgewählt, der mit R. auch In gemeinsamer Sache (Zürich 2000) »Gedichte über Liebe und Tod, Natur und Kunst« schrieb, sowie Wenn, aber dann. Vorletzte Gedichte (Reinb. 1999) u. Aufwachen und Wiederfinden (Ffm. 2007) – die zum Paradiesvogelschiß (Reinb. 2008) ernüchterte Sentenzenpoesie, die das eigene Ende vor Augen hat (»Den Friedhof zu Ohlsdorf / nach Betten abgespäht«), u. doch bis zum letzten Atemzug nicht von der Schönheit lassen kann (»Entschuldigen Sie, die Welt ist schön, und muß gefeiert werden«). Weitere Werke: Werke. 4 Bde., Reinb. 1999–2007. – Wolfgang Borchert. Hbg. 1961. – Strömungslehre I. Poesie. Reinb. 1978. – Auf Wiedersehen in Kenilworth. Ein Märchen. Ffm. 1980. – ›agar agar – zaurzaurim‹. Zur Naturgesch. des Reims. Reinb. 1981. – Der Hüter des Misthaufens. Aufgeklärte Märchen. Ebd. 1983. – Bleib erschütterbar u. widersteh. Aufsätze, Reden, Selbstgespräche. Ebd. 1984. – Mein Lesebuch. Ffm. 1986. – Werner Riegel: ›... beladen mit Sendung, Dichter u. armes Schwein‹. Zürich 1988. – Dreizehn dt. Dichter. Reinb. 1989. – Selbst III / 88. Aus der
Rühmkorf Fassung. Zürich 1989. – Dtschld., ein Lügenmärchen. Gött. 1993. – Gedichte. Reinb. 1996. – Ich habe Lust, im weiten Feld ... Betrachtungen einer abgeräumten Schachfigur. Gött. 1996. – Von mir, zu euch, für uns. Gött. 1999. – Wo ich gelernt habe. Gött. 1999. – »Das Lied der Deutschen«. Mit einem Ess. v. Heinz Ludwig Arnold über P. R. Gött. 2001. – Wenn ich mal richtig ICH sag ... Ein Lese-Bilderbuch. Mit einem Vorw. v. Hanjo Kesting. Gött. 2004. – Briefe: Zwischen den Kriegen. Werner Riegel, Klaus Rainer Röhl u. P. R. – Briefw. mit Kurt Hiller 1953–1971. Mit einem Nachw. v. P. R. u. Erinnerungen v. K. R. Röhl. Hg. Rüdiger Schütt. Mchn. 2009. Literatur: Bibliografien: Edith Ihekweazu: P. R. Bibliogr. Ess. zur Poetik. Ffm. 1984. – Wolfgang Rasch: Bibliogr. P. R. (1951 bis 2004). 2 Bde., Bielef. 2004. – Weitere Titel: Theodor Verweyen: Eine Theorie der Parodie. Am Beispiel P. R.s. Mchn. 1973. – Peter Bekes u. Michael Bielefeld: P. R. Ebd. 1982. – Herbert Uerlings: Die Gedichte P. R.s. Subjektivität u. Wirklichkeitserfahrung in der Lyrik. Bonn 1984. – Dieter Lamping u. Stephan Speicher (Hg.): P. R. Seine Lyrik im Urteil der Kritik. Bonn 1987. – Heinz Ludwig Arnold (Hg.) P. R. Mchn. 1988 (Text + Kritik. H. 97). – Hans Otto Horch: ›ins süße Benn-Engramm?‹ P. R.s dialekt. Rezeption Gottfried Benns. In: Dieter Breuer (Hg.): Dt. Lyrik nach 1945. Ffm. 1988, S. 65–108. – Manfred Durzak u. Hartmut Steinecke (Hg.): Zwischen Freund Hein u. Freund Heine: P. R. Studien zu seinem Werk. Reinb. 1989. – Hans-Peter Bayerdörfer: P. R. In: Dt. Dichter. Hg. Gunter E. Grimm u. Frank Rainer Max. Bd. 8, Stgt. 1990, S. 429–439. – Italo Michele Battafarano: P. R. In: Poesia tedesca del novecento. Turin 1990, S. 383–391. – T. Verweyen u. Gunther Witting: ›Leslie Meiers LyrikSchlachthof‹ oder über das Verhältnis der literar. zur wiss. Kritik. In: Heinrich Mann-Jb. 8 (1990), S. 203–230. – Astrid Keiner u. Günter Oesterle (Hg.): Ein Dichter mit u. ohne Hut. Dr. h. c. P. R. Gießen 1991. – Lars Clausen: Die Finisten. In: Mittelweg 36, Jg. 1 (1992), H. 5, S. 19–34. – Helmut Schmitz: Werner Riegel and ›Finismus‹. Between Commitment and Retreat. In: GLL 46 (1993), H. 4, S. 368–384. – Hartmut Steinecke: P. R. In: Dt. Dichter des 20. Jh. Hg. ders. Bln. 1994, S. 773–784. – H. Uerlings: Utopie u. Eigensinn. Zum Verbleib des Utopischen in der Lyrik Enzensbergers u. R.s In: EG 1994, H. 1, S. 1–27. – Jürgen Grambow: Weltstoff angeweht. Über R.s Prosa. In: NDL 47 (1999), H. 5, S. 67–76. – Frank Schäfer: Lichtenberg – Schmidt – R. Eine Analogie- u. Ableitungskunde. Hann. 1999. – Fre´ de´ rique Colombat-Didier: La situation poe´ tique de P. R. Bern u. a. 2000. – Helmut
Ruest Peitsch: ›Wer so fernsehtrunken, wie ich vorm Glaskasten sitzt, soll nicht mit Steinen werfen‹. P. R.s ›Tabu I. Tagebücher 1989–1991‹. In: Literature, markets and media in Germany and Austria today. Hg. Arthur Williams. Bern 2000, S. 33–51. – Ferdinand Scholz: P. R. In: LGL. – Frank Möbus: P. R. In: Deutschsprachige Lyriker des 20. Jh. Hg. Ursula Heukenkamp u. Peter Geist. Bln. 2007, S. 460–470. – P. Bekes: P. R. In: KLG. – Hans-Gerd Winter: P. R. In: Hamburgische Biogr. Hg. Franklin Kopitzsch u. Dirk Brietzke. Bd. 5, Gött. 2010, S. 313–316. – Wolfgang Beutin u. Rüdiger Schütt (Hg.): ›Zu allererst antikonservativ‹. Kurt Hiller (1885–1972). 2., erw. Aufl. Kiel 2010. – Jan Bürger u. Stephan Opitz (Hg.): »Lass leuchten!« P. R. zwischen Aufklärung, Romantik u. Volksvermögen. Gött. 2010. Gunther Witting / Theodor Verweyen / Günter Baumann
Ruest, Anselm, eigentl.: Ernst Samuel, * 24.8.1878 Kulm/Westpreußen, † 18.11. 1943 Carpentras/Vaucluse. – Philosoph, Literatur- u. Theaterkritiker, Herausgeber. R., Sohn eines Kantors u. Lehrers, studierte 1897–1905 Theologie, Philosophie, oriental. Sprachen, Geschichte u. Literatur in Berlin, dann in Würzburg u. promovierte dort 1905 mit der Arbeit Hat die innere Wahrnehmung einen Vorzug vor der äußeren? 1911 gründete er zusammen mit Franz Pfemfert u. Kurt Hiller die Zeitschrift »Die Aktion« u. war bis 1914 deren Theaterreferent. Nach dem Tod des Prager Dichters Victor Hadwiger 1911 übernahm er dessen Nachlassverwaltung. Zusammen mit Heinrich Lautensack u. Alfred Richard Meyer gab er die literar. Zeitschrift »Die Bücherei Maiandros« heraus (1912–1914). R. vertrat eine anarchische Philosophie in der Tradition von Max Stirner, dessen Ideen ihn seit 1898 starkt beeinflusst hatten. 1919–1925 gab er zusammen mit Salomo Friedlaender/Mynona (nur 1919) die stirnerianisch-personalistische Zeitschrift »Der Einzige« (Reprint Mchn. 1980) heraus. 1937/38 plante er im Exil in Paris die Fortführung dieser Zeitschrift u. d. T. »Die Empörung«. Diese neue Folge kam aber nicht über die Planung hinaus. 1924 edierte R. Stirners Hauptwerk Der Einzige und sein Eigentum mit einem programmat. Vorwort. Im
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Folgejahr veröffentlichte er seine Prolegomena zum Personalismus (Magdeb. 1925. Privatdruck 1927. Neudr. Bielef. 2004) als einen ersten Entwurf seines eigenen philosophisch-personalistischen Systems auf den Fundamenten Goethes, Stirners u. Bahnsens. Ab 1931 wandte er sich neuen philosophisch-histor. Arbeiten zu, u. a. der Herausgabe des wissenschaftl. Nachlasses von Julius Bahnsen (Lpz. 1931–33). Erschienen sind vier Bände, die weiteren konnten bedingt durch die Emigration nicht mehr herauskommen. Kurz vor seiner Flucht wurde R. Referent für Philosophie an der »Vossischen Zeitung«, Mitarbeiter des »Schopenhauer-Jahrbuchs« u. des Berliner Rundfunks. Seine letzte Sendung wurde im Jan. 1933 ausgestrahlt (über Bahnsen). Im Mai 1933 emigrierte R. mit Frau, Tochter u. Sohn nach Paris u. wurde Mitarbeiter bei der »Pariser Tageszeitung«. Zusammen mit dem Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld gründete er die »Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft, Kunst und Literatur im Ausland. Sitz Prag«, deren Generalsekretär er wurde. Im Okt. 1935 war er Mitbegründer der »Phönix-Bücher« (»Editions du Phénix«) u. eröffnete die Reihe mit seinem Band Deutsche und ›Arier‹ (Paris 1935), der während des Kriegs im Rundfunk zur Antinazi-Propaganda verwendet wurde. 1939 erhielt R. ein RockefellerStipendium zur Fortführung seiner philosophischen Studien, wurde aber mit Kriegsbeginn im Sept. 1939 in den Stades Colombes in Paris interniert. Eine Odyssee durch sechs Internierungslager folgte, bis er schließlich im Juni 1940 im Viehwaggon nach Marseille gebracht wurde. Ende 1940 als »grande malade« entlassen, starb R. nach langer Krankheit 1943 in Carpentras. Sein im frz. Untergrund arbeitender Sohn Frank wurde 1944 von den dt. Besatzern standrechtlich erschossen. Weitere Werke: Max Stirner. Leben – Weltanschauung – Vermächtnis. Bln./Lpz. 1906. – Napoleon Der Erste. Ebd. 1906. – William Shakespeare. Bln. 1908. – Apollodoros. Ein Dialog über Lyrik. Bln. 1913. – Zum wirklichen Individuum. Prolegomena zum Personalismus. Aus dem Nachl. hg. v. Hartmut Geerken. Bielef. 2004. – Herausgeber:
99 Briefw. zwischen Schiller u. Goethe 1794–1805. Bln. o. J. – Schiller u. Lotte. Ein Leben in Briefen. Ebd. o. J. – Clemens Brentano: Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter. Ebd. 1906. – StirnerBrevier. Die Stärke des Einsamen. Ebd. o. J. – J. P. Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Ebd. o. J. – Grillparzers Gedichte. Ebd. o. J. – Jean Paul: Im Garten der Freude. Ebd. o. J. – Victor Hadwiger: Abraham Abt. Ebd. 1912. – Ders.: Wenn unter uns ein Wanderer ist. Ebd. 1912. – Christian Reuter: Schelmuffsky v. Schelmerode. Bln./Lpz. o. J. – Helfrich Peter Sturz: Denkwürdigkeiten v. Johann Jacob Rousseau. Magdeb. o. J. – Julius Bahnsen: Das Tragische als Weltgesetz u. der Humor als ästhetische Gestalt des Metaphysischen. Lpz. 1913. – Ders.: Wie ich wurde was ich ward. Ebd. 1931. – Ders.: Programm der Realdialektik. Bln. 1933. – Übersetzer: Björn Björnson: Vom dt. Wesen. Bln. 1917. Literatur: H. Geerken: A. R. im Exil. In: Exil, Nr. 3 (1982), S. 9–13. – Maßnahmen des Verschwindens. Salomo Friedlaender/Mynona, A. R., Heinz-Ludwig Friedlaender im frz. Exil. Ausstellungskat. Kulturreferat München/BR Hörspiel. Mchn. 1993. Hartmut Geerken
Rüte, Hans von, * Anfang 16. Jh. Solothurn, † 1558 Zofingen. – Chronist u. Dramatiker. Aus religiösen Gründen siedelte R. von Solothurn nach Bern um u. wurde 1528 Berner Bürger. Er wirkte erst als Unterschreiber, dann als Kornschreiber, schließlich als Gerichtsschreiber. Aufgrund eines moralischen Vergehens verlor er 1545 Stellung u. Ansehen; man ließ ihn jedoch die Berner Chronik weiterführen, die später von Valerius Anshelm wieder aufgenommen wurde. Schließlich gewann er die Gunst der Stadtväter zurück. 1556 machte man ihn zum Stiftsschaffner in Zofingen. R. führte die Berner Chronik bis fast in die eigene Zeit. Als Gerichtsschreiber vollendete er 1538 die Gesetzsatzung, ein grundlegendes Handbuch für das Rechtsleben der Stadt. 1553 entstand die Ehesatzung. Immer wieder wurde R. als Sachverständiger in Auseinandersetzungen mit anderen Kantonen herangezogen. In R.s erstem Drama, einem Fasznachtspil den ursprung, haltung, und das End beyder, Heydnischer, und Bäpstlicher Abgötteryen [...] vergly-
Rüte
chende (Basel 1532), das Heiligenverehrung u. Götzendienst verkoppelt, spürt man die Nachwirkung seines großen Vorläufers Niklaus Manuel. Mit seinem zweiten Drama, einem Joseph (Bern 1538), nach einer Vorlage des lat. Josephus des Holländers Crocus, begann R. die dramat. Tradition des mehrtägigen Bürgermassendramas, wie es von Ruoff, Murer, Funkelin u. den Katholiken Salat, Aal u. Wagner weitergeführt wurde. Aus dem MA übernahm man das Verfahren der vollständigen Darstellung des Stoffes, das die Simultanbühne erforderte. R. schuf noch drei weitere Bürgermassendramen: Gedeon (1554), Noah (1546), mit geschicktem Rückblick auf die Zeit vor der Sintflut, u. Goliath (1555; alle Bern), in dem der Titelheld, bestürzt über das feste Gottvertrauen Davids, seinen Untergang vorausahnt. Merkwürdigerweise griff R. für sein Osterspil (Bern 1552) einen Abschnitt aus der Offenbarung des Johannes heraus. Ausgabe: Sämtl. Dramen. Hg. Friederike ChristKutter u. a. 3 Bde., Bern u. a. 2000. Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: Wilhelm Crecelius: H. v. R. in Bern u. sein Spiel v. der heidn. u. Päbstischen Abgötterei. In: Alemannia 3 (1875), S. 120–128. – Jakob Bächthold: Gesch. der dt. Lit. in der Schweiz. Frauenfeld 1892. – Kenneth Alan Fisher: H. v. R., a dramatist of the Swiss Reformation. Diss. Austin/Texas 1975. – Wolfgang F. Michael: Das dt. Drama der Reformationszeit. Bern 1984, S. 136–149 u. Register. – Friederike Christ-Kutter: ›Muoter sind vnerschrocken nun!‹ Die Mutterfigur im ›Goliathspiel‹ des Berner Dichters H. v. R. (ca. 1500–1558) u. ihre Vorlagen in zeitgenöss. Spielen. In: Mutter u. Mütterlichkeit. Wandel u. Wirksamkeit einer Phantasie in der dt. Lit. FS Verena Ehrich-Haefeli. Hg. Irmgard Roebling u. a. Würzb. 1996, S. 17–29. – Hellmut Thomke: Ed. schweizer. Dramen des 16. u. 17. Jh. (H. v. R., Johannes Mahler, Johann Caspar Weissenbach). In: Editionsdesiderate zur Frühen Neuzeit [...]. Hg. Hans-Gert Roloff. 2 Bde., Amsterd. u. a. 1997, Bd. 1, S. 67–71. – Klaus Jaeger: Zur Ed. der Dramen H. v. R.s. In: ebd., Bd. 2, S. 1005–1011. – Glenn Ehrstine: Of peasants, women, and bears. Political agency and the demise of carnival transgression in bernese reformation drama. In: The sixteenth century journal 31 (2000), S. 675–699. – G. Ehrstine: Motherhood and protestant polemics. Stillbirth in H. v. R.’s Abgötterei (1531). In: Maternal measures: Figuring caregiving in the early modern period. Hg. Naomi J. Miller
Rütt u. a. Aldershot 2000, S. 121–134. – Dorothea Christ: Stimmungsbilder mit Tradition. Die Bibeldramen des Berner Geschichtsschreibers H. v. R. († 1558). In: Wider das ›finstere Mittelalter‹. FS Werner Meyer. Red. Maria Letizia Heyer-Boscardin. Basel 2002, S. 197–206. – Martin Stern: Konfessionalisierung u. Politisierung im Bibeldrama der frühen Neuzeit. In: Colloquium Helveticum 34 (2003), S. 81–96. Wolfgang F. Michael † / Red.
Rütt, Ursula, geb. Biste, * 4.12.1914 Oppeln/Oberschlesien, † 10.5.2002 Frankreich. – Erzählerin, Essayistin, Lyrikerin. Nach Abitur (1935) u. Konservatoriumsbesuch – in dieser Zeit veröffentlichte sie erste Gedichte im »Oberschlesier« – arbeitete R. als Sekretärin, zog nach Hessen u. war im Krieg zur Fabrikarbeit zwangsverpflichtet. Ihr erster Roman, In Sachen Mensch (Zürich 1955), der 1956 auch in der DDR u. später in Moskau erschien, richtet sich scharf satirisch u. kritisch gegen westdt. Nachkriegsentwicklungen wie unmenschl. Bürokratie u. Kasernenhofmentalität in der öffentl. Verwaltung. Das Buch wurde in der BRD beschlagnahmt; eine Sonderstrafkammer hob 1956 das Buchverbot auf. Auf eine Anzeige hin fand in Frankfurt/M. ein längerer Literaturprozess um R. u. das Buch statt, der 1958 mit Freispruch endete. In diesem Jahr erschien auch die Novelle Der schwarze Regen (Düsseld.), die von den tödl. Gefahren der Atomkraft handelt. In dem 1959 in Stuttgart erschienenen Roman Nachtgesellschaft setzte sich R. mit den Spielbanken auseinander, mit ihren Opfern u. dem Gewinn, den der Staat aus ihnen zieht. R. lebte in Darmstadt u. in Südfrankreich, engagierte sich für den dt.-frz. Kulturaustausch u. publizierte kulturpolit. Beiträge in Periodika. Diesem themat. Umfeld entstammt auch ihre Arbeit Von Pappenheim nach Paris (Darmst.: Selbstverlag 1972), die den dt. Komponisten u. Freund Balzacs, Georg Jakob Strunz, vorstellt. Walter Olma
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Ruf, Ruoff, Ruof, Rueff, Ruef, Rüff, Ryff, Jakob, * um 1505 Konstanz, † 20.2.1558 Zürich. – Protestantischer Dramatiker, Verfasser medizinischer u. naturkundlicher Schriften. Seine Schulbildung erhielt der Sohn des Konstanzer Bürgers Thias Ruf vermutlich in den 20er Jahren des 16. Jh. während seines Klosteraufenthalts in Chur, dort wohl im Prämonstratenserstift St. Luzi. Nach seinem Austritt aus dem Kloster um 1525 wurde er Anhänger der Reformation. Er erlernte den Beruf des Scherers, in dem er sich zum Chirurgen qualifizierte u. vor 1531 in Lindau den Meistertitel erwarb. 1532 erhielt R. im reformierten Zürich zgl. mit dem Amt des Stadtchirurgen, das er bis zu seinem Tod in hohem Ansehen ausübte, das Bürgerrecht. Obwohl er kein medizinisches Studium absolviert hatte, übertrug ihm die Stadtobrigkeit aufgrund seiner fachl. Kompetenz zusätzlich Aufgaben eines (üblicherweise akademisch ausgebildeten) Stadtarztes. R. war mit Kleophe Schenkli aus Wil verheiratet, mit der er die leibl. Tochter Anna u. den Pflegesohn Peter Hafner großzog, der ihm beruflich nachfolgte u. 1552 sein Schwiegersohn wurde. Neben seiner medizinischen Tätigkeit fungierte R. als Leiter von Theateraufführungen im Zürcher Münsterhof, wo er mit Bürgern der Stadt seine Stücke inszenierte. Aufführungsnachrichten dokumentieren die unmittelbare Aktualität u. Wirkung dieser im städt. Leben wichtigen kulturellen Ereignisse. Die mit vollständigem Text erhaltenen fünf Schauspiele R.s sind Tendenzdramen im Dienste der Verbreitung der reformatorischen Idee, die neben der religiös-polit. Intention auch Sozial- u. Sittenkritik zur moralischen Belehrung u. Besserung des Publikums vermitteln. Mit seinem ersten Stück, dem um 1538 entstandenen, in zwei Handschriften überlieferten Etter Heini (Zentralbibliothek Zürich, Ms A 129 u. 151), übt R. aus reformatorischer Perspektive scharfe Kritik an Missständen der eidgenöss. Gegenwart, verbunden mit polem. Angriffen auf die Altgläubigen. Besonders werden das Reislaufen, die eidgenöss. Söldnerexistenz, u. das Pensions-
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wesen, die Bereitstellung von Söldnern gegen Entgelt, gegeißelt. Der Weingarten, eine Dramatisierung der reformatorisch ausgelegten neutestamentl. Parabel vom Weinberg (Mt 21, Mk 12, Lk 20), in der der Papst u. seine Anhänger den ungetreuen Weingärtnern gleichgesetzt werden, wurde unter der Leitung R.s, der auch als Darsteller mitwirkte, am Pfingstmontag 1539 aufgeführt. Die mit illustrierenden Federzeichnungen versehene Handschrift des Spieltextes, die auch ein Rollenverzeichnis u. eine aufschlussreiche Spielerliste enthält, ist in der Kantonsbibliothek St. Gallen (Vadianische Slg., Ms 357) überliefert. Auf die vier Evangelien stützt sich die Passion (Druck: Zürich, Augustin Fries 1545), ein nach dem Vorbild der spätmittelalterl. Passionsspiele der Altgläubigen gestaltetes zweitägiges Spiel vom lyden vnsers Herren Jesu Christi. Hier liegt der seltene Fall vor, dass ein protestantisches Passionsspiel seinerseits passagenweise wortgetreu von kath. Seite (z. B. im Villinger Passionsspiel von 1599) übernommen wurde. Auf der Basis des wesentlich kürzeren Urner Tellspiels von 1512/13 dramatisiert R. in seinem 1545 mit großem Beifall aufgeführten Wilhelm Tell die eidgenöss. Gründungssage, deren historisch-polit. Stoff er mit strenger Gegenwartskritik aktualisiert (Druck: Zürich, Augustin Fries 1545). Alttestamentliches Geschehen vom Sturz Luzifers über Adam u. Eva bis zur Sintflut verarbeitet R. in Anlehnung an Bibel (Gen 1–3) u. Apokryphen in dem Spiel von Adam und Eva. Das Stück wurde von ihm am 9. u. 10. Juni 1550 als städt. Großereignis in Szene gesetzt u. im selben Jahr in Zürich gedruckt (Christoph Froschauer d.Ä.). Nach der Aufführung erhielt R. in Anerkennung seines Engagements für das Zürcher Theaterwesen von seinem Ensemble eine Ehrenmedaille. Für ein nur dem Titel nach bekanntes Spiel von Paulina (nach Flavius Josephus u. Hegesipp) existieren offenbar keine Überlieferungs- oder Aufführungsbelege. Weiterhin sind R.s literar. Aktivitäten mit zwei kleineren Werken in Liedform, dem didakt. Lied von Frau Schwätzerin (nach 1545) u. dem historisch-patriot. Konstanzerlied (1548), bezeugt.
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Nach jüngster Erkenntnis (Keller 2008) kann die in der früheren Forschung behauptete Autorschaft R.s für die beiden Bibeldramen Hiob (Erstdruck Basel 1537) u. Joseph (Erstdruck Zürich 1540) nicht bestätigt werden. R.s medizinhistor. Bedeutung dokumentiert sich in einem vielfältigen, mit seiner berufl. Tätigkeit verbundenen fachliterar. Œuvre. Unter seinen medizinischen Schriften, die sich u. a. mit Augenheilkunde, Tumorlehre, Diätetik u. körperl. Missbildungen beschäftigen, ist das 1554 gedruckte (Zürich, Christoph Froschauer d.Ä.) Trostbüchlein, ein reich illustriertes Lehrbuch für Hebammen, von besonderer Wichtigkeit u. Wirkung. Wie mehrfache Nachdrucke zeigen, wurde es von der Fachwelt sowohl in dt. als auch in lat. Sprache (Übersetzung 1554 von Wolfgang Haller) breit rezipiert. Daneben hat R. Traktate u. Berichte, auch in Flugblattform, zu naturkundl. Phänomenen wie astrolog. Prognostik, Beschreibung u. Deutung spezieller Formationen von Sonne, Mond u. Wolken publiziert. Ausgabe: Kritische Gesamtausgabe: J. R. Leben, Werk u. Studien. Hg. Hildegard Elisabeth Keller. Zürich 2008. Bd. 2: Werke bis 1544; Bd. 3: Werke 1545–1549; Bd. 4: Werke 1550–1558. Literatur: Wolfgang F. Michael: Das dt. Drama der Reformationszeit. Bern/Ffm. 1984. – Barbara Thoran: Untersuchungen zu den Dramen Jacob Rueffs, des Züricher Zeitgenossen v. Hans Sachs. In: Dialog. FS Siegfried Grosse. Hg. Gert Rickheit u. Sigurd Wichter. Tüb. 1990, S. 75–89. – Brian Murdoch: Jacob R.’s ›Adam u. Heva‹ and the Protestant Paradise-Play. In: MLR 86 (1991), S. 109–125. – Christoph Petersen: Fünfakt-Schema u. Buchdruck als Entwicklungsfaktoren des deutschsprachigen Dramas der Frühen Neuzeit. Das Passionsspiel v. J. Rueff. In: Zur Lit. u. Kultur Schlesiens in der Frühen Neuzeit aus interdisziplinärer Sicht. Hg. Mirosl/awa Czarnecka. Wrocl/aw 1998, S. 97–110. – Bruce Gordon: God Killed Saul. Heinrich Bullinger and Jacob Ruef on the Power of the Devil. In: Werewolves, Witches and Wandering Spirits. Hg. Kathryn A. Edwards. Kirksville 2002, S. 155–179. – Gundolf Keil: J. Rueff. In: NDB. – Hildegard Elisabeth Keller: God’s plan for the Swiss Confederation. Heinrich Bullinger, J. R. and their uses of historical myth in Reformation Zurich. In: Orthodoxies and heterodoxies in early modern German culture [...]. Hg. Randolph C. Head u. a. Leiden/Boston 2007, S. 139–167. – J. R. Leben,
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Werk u. Studien. Hg. H. E. Keller. Zürich 2008. Bd. 1: Mit der Arbeit seiner Hände. Leben u. Werk des Zürcher Stadtchirurgen u. Theatermachers J. R. (1505–1558) [mit umfangreicher Bibliogr.]; Bd. 5: Die Anfänge der Menschwerdung. Perspektiven zur Medien-, Medizin- u. Theatergesch. des 16. Jh. Elke Ukena-Best
Ruge, Arnold, auch: Dr. Adolph, M. Karlstein, Agnes W. Stein, R. Durangelo (Anagramm), * 13.9.1802 Bergen/Rügen, † 31.12.1880 Brighton. – Philosoph, Publizist, Herausgeber. Nachdem R. als Sohn eines Gutsverwalters »tief ins Knabenalter hinein ganz dem Naturwuchs nachgelebt« (an Rosenkranz, 2.10.1839) u. von seinem Vater erfahren hatte, was es heißt, in Haft zu sein (Karl-Ewald Tietz: »Du lieber Ort, wo wir als Kinder spielten ...«. In: A. R. [1802–1880], S. 36 f.), besuchte er das Gymnasium zu Stralsund. 1821 nahm er in Halle das Studium der Philologie auf, das er 1824 nach Aktivitäten für den burschenschaftl. »Jünglingsbund« abbrechen musste. Von 14 Jahren Festungshaft verbüßte er in Köpenick u. Kolberg sechs, die er zum Erwerb umfassender philolog. u. philosophischer Bildung nutzte (es entstand u. a. eine gebundene Übersetzung des Sophokleischen Ödipus auf Kolonos. Jena 1830). Die Breite seines Talents unterstreichen auch das Drama Schill und die Seinen (Stralsund 1830) sowie Verse u. Hymnen, die ihm nicht nur halfen, seine Gefangenschaft zu überstehen, sondern auch ahnungsvoll seine lebenslangen Schwierigkeiten mit den polit. Verhältnissen in Deutschland anklingen lassen: »Wenn wieder ich im stummen Deutschland wohne / Und traurig mich vor seinen Schergen drücke« (Abschied von Zürich. 1830. In: SW 10, S. 92). Nach Halle zurückgekehrt, bald promoviert u. habilitiert (Platonische Ästhetik. Halle 1832), befasste sich R. zwei Jahre lang mit den Werken Hegels, den er, obwohl Junghegelianer, nicht persönlich kennen gelernt hatte: »erst mit der Logik [...] emanzipierte ich mich zur philosophischen Freiheit« (an Rosenkranz, s. o.); 1837 erschien seine Neue Vorschule der Ästhetik (Halle). Er vertrat einen ra-
dikalen Reformismus, immer wieder auch in verantwortungsvoller Position, was ihm wohl zu Recht die Charakterisierung als »politischer Denker und Organisator der junghegelianischen Bewegung« (H. Reinalter, in: A. R. 1802–1880, S. 58) einbrachte. An der Universität über den Privatdozentenstatus nicht hinausgelangt, gründete R. – dessen Praxisorientierung sich etwa in dem Essay Zur Reform des Deutschen Geistes (1839) aussprach: »Das öffentliche Denken ist das wahrhaft realisierte objektive Denken« (in: SW 10, S. 358) – gemeinsam mit Echtermeyer 1838 ein eigenes Publikationsforum für die von ihm vertretene Richtung des Hegelianismus. Die »Hallischen Jahrbücher«, 1841 u. d. T. »Deutsche Jahrbücher« nach Dresden verlegt u. 1843 endgültiges Opfer der Zensur, versammelten als bedeutendstes Organ der Vormärz-Publizistik so unterschiedl. Autoritäten wie Baur, Strauß, Vischer u. Feuerbach. Das Programm hatten R. u. Echtermeyer mit ihrem Manifest Der Protestantismus und die Romantik verkündet: für demokratische Freiheiten u. gegen die geniesüchtige »leere Negativität« der Romantik. R., der seine Zeit als »fundamentalste Aufklärungsperiode« (an Stahr, 7.11.1841) verstand, stieß während seines ersten Pariser Exils angesichts des Scheiterns der Zusammenarbeit mit Marx an den »Deutsch-Französischen Jahrbüchern« nach dem ersten Doppelheft 1844 an seine polit. Grenzen. Dem Liberalen sind die »Communisten, welche die Humanität in ihrer Rohheit nicht in die Ablegung derselben setzen« (an Prutz, 14.1.1846), bald nicht mehr geheuer. In ungebrochener, ja nicht zu brechender Antriebskraft fand er nach Verboten immer neue Publikationsformen (Journale, Taschenbücher, Anecdota), die zu seiner Bekanntheit, aber auch zur finanziellen Absicherung beitrugen. Trotz zahlreicher Kontakte mit Radikalen (Fourier, Saint-Simon) gab R. seine humanistische Einstellung nicht auf, als er, nach einem Aufenthalt in Dresden 1846–1848 u. trotz seines Bundestagsmandats nach Frankfurt, erneut emigrieren musste, über Paris u. Brüssel nach England. Er trug weiter zur philosophisch-polit. Diskussion bei, begriff Deutschland als Motor europ. Reformpolitik
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– »ihr seid mächtig obgleich ihr schweigt, ihr zeigen noch gegenwärtig ihre Wirkung (Pawäret die Götter Europas, wenn ihr sprächet« triotismus. Ffm. 1990). (in: Die Akademie. Philosophisches Taschenbuch. Ausgaben (einschl. Briefeditionen): Sämtl. WerLpz. 1848, S. 193) – u. führte aus, dass alle ke (= SW). 10 Bde., Mannh. 1846 u. ö. – Werke u. Ausformungen des Geistes, die »theoretische Briefe. Hg. Hans M. Sass. 12 Bde., Aalen 1985 ff. – Tätigkeit oder philosophische Praxis«, »die Wolfgang Bunzel, Martin Hundt u. Lars Lambrecht ästhetische Praxis oder die Tätigkeit des (Hg.): A. R.s Korrespondenz mit Junghegelianern in Berlin. Ffm. u. a. 2006. – M. Hundt (Hg.): Die ReKünstlers« u. »die ethische und politische daktionsbriefw. der Hallischen, der Deutschen u. Praxis« (ebd.), an der Ausformulierung u. der Deutsch-Französischen Jbb. (1837–1844). 3 Durchsetzung der Rechte der Menschen be- Bde., Bln. 2009. teiligt seien. Exemplarisch nennt er: »Die Literatur: Robert Boxberger. A. R. In: ADB. – freie Person ist die Quelle allen Rechtes« Karl Löwith: Von Hegel zu Nietzsche. Zürich/Stgt. (ebd., S. 335), der Staat eine »Gesellschaft 1950 u. ö. – Barbara Mesmer-Strupp: A. R.s Plan freier Personen« (ebd., S. 337), u. weist darauf einer Alliance intellectuelle zwischen Deutschen u. hin: »der öffentliche Unterricht verdient den Franzosen. Ffm. 1963. – Heinz u. Ingrid Pepperle Aufwand, den das Militair nicht verdient« (Hg.): Die Hegelsche Linke. Dokumente zu Philo(ebd., S. 340), eine durchaus aktuell anmu- sophie u. Politik im dt. Vormärz. Lpz. 1985. – Roman Polsakiewicz: Friedrich Hebbel u. A. R. In: tende Aussage. Er finanzierte sich u. seine JbDSG 33 (1989), S. 18–34. – Wolfgang Bunzel: Familie (R. war seit 1834 in zweiter Ehe mit ›Die vollkommenste Einigung der Wiss. mit dem Agnes Nietzsche verheiratet) wie seine Frau Leben‹. Briefe v. Eduard Meyen an A. R. mit Sprachunterricht u. schrieb unermüd- (1838–1841). In: Schnittpunkt Romantik. FS Silich: Dramen (Maria Blutfield. Der Probekuß. bylle v. Steinsdorff. Hg. Wolfgang Bunzel u. a. Tüb. Beide Lpz. 1869), Romane u. Novellen (Der 1997, S. 143–203. – Lars Lambrecht u. Karl-Ewald Novellist. Stralsund 1839. Bianca della Rocca. Tietz (Hg.): A. R. (1802–1880). Beiträge zum 200. Ebd. 1869), Libretti, Lyrik, auch Überset- Geburtstag. Ffm. u. a. 2002. – Kerstin Wiedemann: Zwischen Irritation u. Faszination. George Sand u. zungen (aus dem Englischen), die Autobioihre dt. Leserschaft im 19. Jh. Tüb. 2003, grafie Aus früherer Zeit (4 Bde., Bln. 1842–47), S. 135–159 u. ö. – Helmut Reinalter: A. R. In: NDB. bes. aber philosophische Abhandlungen Reinhold Hülsewiesche / Red. (Anecdota zur neuesten deutschen Philosophie und Publizistik. Zürich 1843); hinzu kam ein ausRuge, (Christian) August, * 11.4.1790 gedehnter Briefwechsel. »Man mag der ästhetischen Kritik Ruges Neuhaus/Oste, † 17.2.1833 Dorum/Land immerhin vorwerfen, daß sie nüchtern und Wursten. – Arzt, Verfasser von Gedichten. im Schematismus der Doktrin befangen ist; R., ältester Sohn eines Apothekers, studierte es bleibt sein Verdienst, die politische Seite seit 1810 Medizin in Göttingen, wo er 1813 des Hegelschen Systems in ihrer Überein- zum ›doctor medicinae, chirurgiae et artis stimmung mit dem Zeitgeiste dargestellt und obstetriciae‹ promoviert wurde. Als Wundin der Achtung der Nation restituiert zu ha- arzt des Hannoverschen Artillerieregiments ben.« Engels (MEW, Erg.-Bd., Tl. 2, S. 124 f.) in Celle nahm er 1815 an der Schlacht bei bezeichnet präzise den Ausgangspunkt von Waterloo teil. 1816/17 vertiefte er seine StuR.s großer Wirkung auf die Zeitgenossen. R. dien in Berlin u. ließ sich dann als Arzt – seit bleibt immer bei der Meinung: »Und doch ist 1823 als Chirurg konzessioniert, seit 1825 als in Wahrheit der Mensch das Prinzip und der Landphysikus – in Dorum nieder, wo er 42ganze Inhalt« der Philosophie (Unsere letzten jährig starb. 10 Jahre. 1845. In: SW 6, S. 27–41, hier S. 41). Seine gesammelten, tendenziell chronoloDiese zutiefst humane Einstellung u. seine gisch angeordneten Gedichte (Bremen 1825. polit. Absichten – zuletzt gehörte er den Na- Mikrofiche-Ausg. Mchn. 1994) verraten Eintionalliberalen an u. erhielt seit 1877 durch flüsse Schillers, die insbes. in den zahlreichen Bismarck für seine publizistischen Verdienste Balladen des Œuvres hervortreten. Neben um die dt. Einheit einen jährl. Ehrensold – Natur- u. Landschaftseindrücken (zum Bei-
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spiel in dem Apopemptikon Auf der Nordsee) lassen sich in R.s Gedichten gelegentlich biogr. Kerne erkennen. So verherrlicht etwa der Panegyrikos Hygea (separat schon Bln. 1816) allegorisch die griech. Heilkunstgöttin, der das lyr. Ich als Priester dienen will. Teichoskopisch dramatisiert Die Schlacht bei Waterloo das Kriegsgeschehen u. feiert den Sieg Wellingtons u. Blüchers gegen Napoleon; aus dem Gedicht Das Seebad (Amandus Augustus Abendroth gewidmet) spricht R.s balneolog. Tätigkeit in Cuxhaven. Formal dominieren – affin zu sagenhaften Stoffen u. Motiven – sechsversige Strophen u. Paarreime R.s Werk; die Hexameter der Bibeldichtung Saul und David bleiben, wie die etwas freiere Gruppenordnung des Dialoggedichts Shetländisches Idyll, die Ausnahme. Das R. (wohl seit Goedeke 11, S. 543) verschiedentlich zugeschriebene Blankverstrauerspiel Schill und die Seinen (Stralsund 1830. Mikrofiche-Ausg. Mchn. 1994) stammt tatsächlich von Arnold Ruge. Weiteres Werk: Über Seebäder im Allgemeinen u. bes. über das Seebad zu Cuxhaven. In: Ritzebüttel u. das Seebad zu Cuxhaven. Hg. [Amandus Augustus] Abendroth. Hbg. 1818, S. 113–175. Literatur: Goedeke 10. – Kosch 13. – [R.] Wiebalck: C. A. R. In: Jb. der Männer vom Morgenstern 19 (1921/22), S. 43–52 (mit Bildnis u. Gedichtabdrucken). – [E.] Lemcke: Neues v. C. A. R. In: ebd. 23 (1926/27 u. 1927/28), S. 92. – Walther Harcken jun.: Von den ersten Ärzten im Lande Wursten im 18. u. 19. Jh. In: Land Wursten. Bilder aus der Gesch. einer Marsch. Hg. Jens u. Claudia Dircksen. Bremerhaven 2007, S. 443–456. Philipp Redl
Ruhl, Ludwig Sigismund, auch: Cardenio, George Hesekiel, * 10.12.1794 Kassel, † 7.3.1887 Kassel. – Maler, Zeichner, Illustrator; Verfasser von Erzählungen u. kunsthistorischen Abhandlungen. R. entstammte einer Kasseler Künstlerfamilie; der Vater war Hofbildhauer u. Lehrer an der Kunstakademie, in die R. bereits 1806 eintrat. 1811/12 studierte er in Göttingen Anatomie, Kunstgeschichte u. Ästhetik, nahm 1814 am Frankreichfeldzug teil u. setzte anschließend seine künstlerische Ausbildung in Dresden u. München fort. Wäh-
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rend eines Romaufenthalts (1816–1818) gewann die Nazarenerschule entscheidenden Einfluss auf seine Kunst, in der er sich v. a. biblisch-religiösen, antiken u. mytholog. Themen zuwandte. Sie umfasst freilich auch Landschafts-, Natur- u. Tierstudien, einige gelungene Porträts u. Illustrationen zu Werken von Tieck, Fouqué u. Goethe, zur Nibelungensage u. zu Shakespeare-Dramen. Seit 1832 Professor, wurde R. 1840 Direktor der Akademie u. der Kunstsammlungen in Kassel. Er verfasste auch kunsthistor. Abhandlungen, u. a. Über die Auffassung der Natur in der Pferdebildung antiker Kunst (Kassel 1846) u. Über den Eindruck des Schrecklichen in Werken antiker und moderner Kunst (ebd. 1876). Seit der Kasseler Studienzeit befreundet mit den Brüdern Grimm, Arnim u. den Geschwistern Brentano, trat R. später auf seinen Reisen in Verbindung zu vielen Künstlern u. Schriftstellern; der Freundschaft mit Schopenhauer, dessen pessimistisches Welt- u. Menschenbild R.s Lebensauffassung maßgeblich bestimmte, ist seine fantastische Erzählung Eine Groteske (Kassel 1882) gewidmet. R.s literar. Hauptwerk, der histor. Roman Lux et Umbra. Ein großer Liebeshandel im sechszehnten Jahrhundert [...] (3 Bde., Bln. 1861), behandelt das Schicksal der Philippine Welser. In den 1880er Jahren veröffentlichte R. unter dem Pseud. Cardenio in den »Hessischen Blättern« eine Reihe von Feuilletonbeiträgen, in denen sich das MärchenhaftFantastische oder Anekdotisch-Historisierende des Entwurfs mit biedermeierl. Detailrealismus u. launiger Fabulierfreude verbindet: Silhouetten bei Kerzenlicht aus Kassels Vergangenheit oder Perpetuum mobile und Dampfschiff, Die Zauberer in Hessen (beide 1882), Eine abenteuerliche Stadt oder Was Feen vermögen (1883). Wie in seinem künstlerischen Werk blieb R. auch in seiner Prosa in einem epigonalen Eklektizismus befangen. Weitere Werke: Ein dt. Fürstenhof im 17. Jh. Kassel 1866. – Die Puppe. Ein Halbmärchen. Melsungen 1884. Literatur: Ludwig Schemann: Aus dem Nachlasse L. S. R.s. Beilage zur Allg. Ztg. Mchn. 1892. – Berta Schleicher (Hg.): Märchenfrau u. Malerdichter. Malwida v. Meysenbug u. L. S. R. Ein Briefw. Mchn. 1929 (vollst. Bibliogr.). – Brigitte Rechberg-
105 Heydegger: L. S. R. Diss. Gießen 1973. – Roswitha Burwick: Die Beziehungen zwischen Arnim u. R. In: JbFDH (1990), S. 166–183. – Ruth StummannBowert: L. S. R. (1794–1887) – ein Künstler u. Schriftsteller der Grimm-Zeit in Kassel. In: Jb. der Brüder-Grimm-Gesellsch. 4 (1994), S. 167–220. – Viola Hildebrand-Schat: Zeichnung im Dienste der Literaturvermittlung. Moritz Retzschs Illustrationen als Ausdruck bürgerl. Kunstverstehens. Würzb. 2004, bes. S. 256 ff. Sibylle von Steinsdorff / Red.
Ruiss, Gerhard, * 29.5.1951 Ziersdorf/ Niederösterreich. – Lyriker, Verfasser von Kurzprosa, Erzähler, Liedtexter, Musiker, Kulturpublizist.
Ruland
Neuausg. Wien 2003, S. 5). Seit 2000 veröffentlichte R. mehrere Bände mit (Mundart-) Gedichten, Skizzen, Szenen u. Dialogen (Indikationen. Wien 2000. Sänger im Bad. Ebd. 2001. 2nd happy shop. Ebd. 2003. ah da oh. Ebd. 2003). In der Konzentration auf die gesellschaftl. Wirklichkeit u. in der Deutung von Sprachmustern besitzt sein literar. Werk eine polit. Dimension, v. a. dort, wo soziale u. kulturelle Missstände angesprochen werden (»do haumma uns / wos aundas / vuagschtöd ghobt / ois daß / jetzt scho a jeda / dea an tuaban trogt / heast oida / bisd du deppad / sogt«, 2nd happy shop, S. 141). Ihren Schwerpunkt in Österreich haben auch die sich durch Hintersinn u. komische Effekte auszeichnenden Texte in dem Band Kanzlergedichte 2000–2005 (Wien 2006), der mit den Lügen von Politikern u. parteipolit. Slogans kritisch umgeht (»unser wort // wir halten wort / ganz fest / niemand kriegt’s«). In drei Bänden legte R. Nachdichtungen sämtlicher erhaltener Lieder u. Spruchdichtungen Oswalds von Wolkenstein vor: Und wenn ich nun noch länger schwieg’ (Wien/Bozen 2007), Herz, dein Verlangen (ebd. 2008), So sie mir pfiff zum Katzenlohn (ebd. 2010, jeweils mit den Originaltexten im Anhang).
R. arbeitete bis 1978 als Schriftsetzer u. Reproduktionsfotograf. 1972 begann er Lyrik u. Prosa in Zeitungen u. Zeitschriften, später in Anthologien u. Sammelbänden zu veröffentlichen. 1976/77 war er Redakteur der Literaturzeitschrift »Löwenmaul«. Zu den von R. gestarteten literar. Aktionen zählen der »Club BrouHaHa – Gesellschaft für Niveaudiskussion mit beschränkter Häufung« (1982) u. die »Konfliktkommission Theater – Personenkomitee für ein wirklichkeitsnahes Theater« (1987/88). 1979 wurde er Vorstandsmitglied der Interessengemeinschaft österreichischer (Autorinnen und) Autoren; Weitere Werke: Zahnfleischgrenzgänger. Wien seit 1982 ist er deren Geschäftsführer (bis [1980] (L.). – Ö et nous. Café Sarajevo. Wien 1999 1991 gemeinsam mit Johannes A. Vyoral). (D.). – (Hg.): Schwarz.Buch. Kulturpolit. Protokol1989 trat R., Mitgl. seit 1979, aus der Grazer le. Band 1. Wien 1999. – Das Chefbuch. ChefbeAutorenversammlung aus, deren Vizepräsi- weise 1997–2001. ›Weil der Chef bin ich‹. Wien dent er seit 1987 war. Er gehörte zu den In- 2001. – Dichter schreiben keine Romane. Ausgewählte Gedichte. Köln 2004. – Neue Gedichte. itiatoren des Ersten Österreichischen SchriftVorw.: Klaus Zeyringer. Wien 2011. stellerkongresses 1981 u. veröffentlichte Literatur: Klaus Zeyringer: Weiterhin Anwen(zum Teil zusammen mit Vyoral) eine Reihe dung verlangt! Von dem unterschätzten Dichter u. von Publikationen über den Literaturbetrieb Ohrenzeugen G. R. In: LuK 37 (2002), H. 365/366, u. -markt in Österreich. 1998 wurde er Mitgl. S. 42–46. Bruno Jahn der österr. UNESCO-Kommission, 2000 Vorstandsmitglied der Literar-Mechana. 1984–1995 war R. Lehrbeauftragter an verRuland, Martin, d.Ä., * 1532 Freising, schiedenen Instituten der Universitäten † 3.2.1602 Lauingen/Donau. – HumanisSalzburg, Innsbruck u. Wien; seit 2002 ist er tischer Arztphilologe. am Institut für Germanistik in Innsbruck u. an der Universität für Musik und darstellende R. lehrte als physicus primarius am protesKunst in Wien in der Kulturmanagement- tantischen Landesgymnasium in Lauingen Ausbildung tätig. (Fürstentum Pfalz-Neuburg); zgl. nahm man Die Single Swingers. Gedichte, Lieder, Skizzen seine Dienste als Lauinger Stadtphysicus u. (Wien 1987) »zogen Bilanz, Nachfolgepubli- Arzt des Herzogs Philipp Ludwig von Pfalzkationen waren keine vorgesehen« (Erw. Neuburg in Anspruch. 1559 verlieh ihm
Ruland
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Literatur: Julius Leopold Pagel: M. R. In: ADB. Kaiser Ferdinand I. Wappen u. Kleinod. Die verbreitete Rede vom ›Paracelsisten‹ R., der – John Ferguson: Bibliotheca chemica. Bd. 2, als Leibarzt Kaiser Rudolfs II. in Prag ge- Glasgow 1906, S. 302 f. – Hedwig Pfister: Bad Kisstorben sei, beruht auf Konfusionen mit R.s singen vor vierhundert Jahren. Würzb. 1954 (Mainfränkische Hefte. H. 19), S. 15–17. – Karl gleichnamigem Sohn. Heinz Burmeister: Achilles Pirmin Gasser R.s fester Platz in der lateingeprägten Bil- 1505–1577. Arzt u. Naturforscher. Historiker u. dungselite verrät manches in seinen Publika- Humanist. Bd. 3, Wiesb. 1975, S. 532–534 (Brief tionen befindl. Beiwerk. Hier fand sich R. u.a. Gassers vom 18.11.1572 an R.). – Peter O. Müller: von A. P. Gasser, Johannes Posthius, Nikolaus Dt. Lexikographie des 16. Jh. Konzeptionen u. u. Elias Reusner, Hieronymus Wolf, Martin Funktionen frühneuzeitl. Wörterbücher. Tüb. Crusius, A. Libavius u. Caspar Bauhin ge- 2001, S. 231–237, 401–403 (zu R.s Wörterbüchern). rühmt; signalisiert werden auch Kontakte R.s – Jaumann Hdb., S. 570f. – DBE. – CP III (2011), mit M. Toxites u. S. Siderocrates (Einzelnach- Nr. 138. Joachim Telle weise: VD 16, s. v.). Am markantesten tritt R. als Arzthumanist in seinen philolog. Werken Ruland, Rulandt, Martin, d.J., * 11.11. hervor, etwa in den De lingua Graeca [...] Libri V 1569 Lauingen/Donau, † 23.4.1611 Prag. (Zürich 1556) u. spezifisch lexikografischen – Alchemoparacelsistischer Publizist. Schriften (Nomenclatura rerum trium linguarum. Augsb. o.J. [1556]. Synonyma. Copia graecorum Der Sohn des Arzthumanisten Martin Ruland verborum omnium absolutißima [...] collecta. (1532–1602) erlangte nach Studien in TüAugsb. 1563 u. ö. Dictionariolum et nomenclatura bingen (1583) u. Jena (1590) in Basel die megermanicolatinograeca. Augsb. 1586. Dictionarium dizinische Doktorwürde (1592), lebte zulatinograecum. Ergänzt von David Höschel. nächst als Stadtarzt in Regensburg (dort habe Augsb. 1589/90), profiliert sich aber auch in seine alchem. Arznei 1603 Erzherzog Matden Adagiorum profanorum Graecolatino-Germani- thias geheilt), spätestens seit 1607 dann in corum loci communes (Basel o.J.). Einen weiteren Diensten Kaiser Rudolfs II. in Prag. Zu seinen Schwerpunkt seiner literar. Tätigkeit bildeten wohl namhaftesten Briefpartnern zählten medizinische Sachschriften. R. schuf eine Me- Andreas Libavius, Johann Kepler, der Leipzidicina practica recens et nova (Straßb. 1564 u.ö. ger Alchemoparacelsist Joachim Tancke u. Auch in: Johann Heinrich Alsted: Encyclopaedia. Johann Angelus Werdenhagen. Herborn 1630, S. 1818–1855) u. die unter Bereits bei seinen publizistischen AnfänSchulmedizinern geschätzten Curationes (Cura- gen schaltete sich R. in aktuelle Kontroversen tionum empiricarum et historicarum [...] centuria I- ein: Er beteiligte sich am Streit um eine naX. Basel 1578/1596. Auch erschienen u.d. T. turkundl. cause célèbre, nämlich um einen Thesaurus Rulandinus. Hg. Johann Screta u. Ge- angeblich dem schles. Knaben Christoph org Spörlin. 3. Ausg. Bautzen 1680), zu denen Müller gewachsenen goldenen Zahn (Nova [...] sich balneolog. Werke gesellten (Hydriatrice. historia, De aureo dente. Ffm. 1595; gerichtet an Aquarum medicarum sectiones quatuor. Dillingen A. Libavius. De dente aureo pueri silesii. Ffm. 1568. Balnearium restauratum. Basel 1579). 1597; gerichtet gegen Johann Ingolstetter); Überdies bereicherte R. mit Schriften Vom dann gesellte er sich mit einer AlchemicaWasserbaden (Dillingen 1568) bzw. Von Wasser- ausgabe (Lapidis philosophici vera conficiendi Rabädern (Basel 1579), mit einem Aderlaß bu8 ch tio, Gemina eruta tractatu. Ffm. 1606) u. Pro(Lauingen 1566) u. einer Instruction [...] wie sich gymnasmata Alchemiae, Siue problemata chymica, Reiche vnd Arme hüten [...] sollen/ an der [...] Pes- Nonaginta et vna Quaestionibus dilucidata, cum tilentz (Nürnb. 1593) das deutschsprachige lapidis philosophici vera conficiendi ratione (Ffm. Sachschrifttum für den ›Gemeinen Mann‹ u. 1607) unter die Anwälte der Transmutabehaupteten sich seine Secreta spagirica (mit tionsalchemie u. Chemiatrie. Spätestens mit Scholien von Ehrenfried Hagendorn. Jena seinem Propugnaculum chymiatrie: Das ist/ Be1676). An den theologisch-religiösen Kontro- antwortung vnd beschützung der Alchymistischen versen seiner Zeit beteiligte sich R. mit min- Artzneyen (Lpz. 1608) gab er sich im medizinisch-naturkundl. Wegestreit als ein stramdestens vier Publikationen (siehe VD 16).
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Rulmann
mer (etwa von Johann Oberndorfer scharf Jaumann Hdb., S. 571. – Ulrich Neumann: M. R. bekämpfter) Alchemoparacelsist zu erken- In: NDB. – DBE. – CP III (2011), Nr. 169. Joachim Telle nen. Nachruhm verdankt R. vorab seiner literar. Hilfe wider die unter Lesern alchemoparacelsistischer Sachschriften herrschenden Verständnisnöte (Lexicon Alchemiae sive Dic- Rulmann, Anton, * 31.7.1590 Stadthagen, tionarivm Alchemisticvm, Cum obscuriorum Ver- † 8.12.1652 Bückeburg. – Verfasser von borum, et Rerum Hermeticarum, tum Theophrast- niederdeutschen Gedichten. Paracelsicarum Phrasium, Planam Explicationem R. nahm als Schüler im März 1608 in Hancontinens (Ffm. 1612. Faks. Hildesh. 1964 u. nover an einer Redeübung teil (Exercitium 1987. Auch Ffm. 1661), die unter esoter. Im- oratorium, de optima puerorum disciplina [...] pulsen ins Englische gelangte (A Lexicon of habitum in Schola Hanoverana, sub cheirago¯gia M. Alchemy. Hg. Arthur Edward Waite. London Henrici Holscheri Rectoris, a discipulis. o. O. 1892 u. ö.). Auf R.s Tod verfasste J. Kepler ein 1608). Ab 1609 studierte er in Helmstedt u. Epicedium. Wittenberg, wo er 1610 disputierte (Disputatio Weitere Werke: Problematum medico-phy- iuridica de donationibus. Präses: Christoph sicorum liber primus (et secundus). Ffm. 1608. – De Wegner; Respondent: A. R.). Später trat er, perniciosae luis ungaricae tecmarsi et curatione, dem Vorbild des Vaters folgend, in die tractatus. Ffm. 1600 (überarb. Fassung: De morbo Dienste der Grafen von Schaumburg-Lippe Ungarico recte cognoscendo et [...] curando. Lpz. (Rat u. Kanzleisekretär in Bückeburg). 1610 u. ö.). – Alexicacus Chymiatricus. Ffm. 1611 R. gilt als (wahrscheinlicher) Verfasser einer (gerichtet gegen J. Oberndorfer). – Brief an Caspar Bauhin (Regensburg, 26.1.1604) u. Sebastian Hen- Sammlung von niederdt. Gedichten, die anricpetri (Basel, UB, Slg. Frey-Gryn.). – Brief an Jo- onym um 1650 erschien: Etlike korte und verhann Hartmann Beyer (Frankfurt/M., UB, Nachlass stendlike Kling-Gedichte, van allerhand Saken Beyer). – Briefe an Leonhard Dold (Erlangen, UB, (o. O. u. J.). Dabei handelt es sich, entgegen Slg. Trew). – Mitwirkung bei der Herausgabe der dem damals in der Poetik üblichen SprachCurationes seines Vaters. gebrauch, nicht um Sonette, sondern um Ausgaben: Johann Kepler: Ges. Werke. Bd. 15, meist längere Texte, in denen ein ruhiger, 1951, Nr. 411, S. 406 f. (Brief an Kepler, 24.2.1607). humorvoller Ton vorherrscht u. gleich zu – CP III, Nr. 169 (Dedikation an Herzog Heinrich Anfang die Distanz zu modischem »CourtiJulius von Braunschweig, 20.4.1611). seren« u. neuen »Maneren« betont wird: R. Literatur: Anton Ruland: Die Bibl. des kaiserl. »blift by der Sprake vnd Tungen / De am Leibarztes Dr. M. R. im XVII. Jh. In: Serapeum 25 Weserströem werd gelesen und gesungen« (1864), S. 346–351. – Julius Leopold Pagel: M. R. (Leitzmann, S. 4). Die Gedichte zeigen – zuIn: ADB. – Alexander Bauer: Die Adelsdocumente sammen mit einer Vorliebe für Genremalerei österr. Alchemisten u. die Abb.en einiger Medaillen alchemist. Ursprunges. Wien 1893, S. 51 f. (Bestä- u. die kulinar. Genüsse des Lebens – enge tigung des Adelsstandes u. Wappenbesserung). – Vertrautheit mit den Sitten, Gebräuchen u. John Ferguson: Bibliotheca chemica. Bd. 2, Glas- Geschichten der Heimat. Versatzstücke klass. gow 1906, S. 302–304. – Ludwig Pongratz: Natur- Bildung fehlen nicht; auch Opitz wird einmal forscher im Regensburger u. ostbayer. Raum. Re- zitiert. Moralisierende Reflexionen u. tradigensb. 1963, S. 23 f. – Nicholas H. Clulee: M. R. In: tionelle Kritik an weibl. Putz stehen neben DSB 11 (1975), S. 606 f. – Karin Figala: Kepler and ausführl. poetischer Belehrung über FlachsAlchemy. In: Vistas in Astronomy 18 (1975), u. Leinenherstellung, breit erzählte ReiseerS. 457–469. – Norbert Duka Zólyomi: Ein ärztl. lebnisse neben Freundschafts- u. HochzeitsVademecum der Ärztefamilie R. aus dem 16. Jh. In: gedichten. Das Büchlein schließt mit einer Sudhoffs Archiv 61 (1977), S. 281–197. – Reinhard Müller: M. R. In: Kosch. – Ulrich Neumann: M. R. Verteidigung der Poesie gegen ihre Verächter: In: Alchemie. Lexikon einer hermet. Wiss. Hg. »Orpheus, dat iß ein Kerl gewesen« (S. 91). Claus Priesner u. K. Figala. Mchn. 1998, S. 310 f. –
Ausgaben: Niederdt. Klinggedichte. Abdr. der Originalausg. (etwa 1650). Hg. Albert Leitzmann. Halle 1928. – Van Verachtinge der Poeterie. In: Das dt. Gedicht. 1600–1700. Hg. Christian Wagen-
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knecht. Bd. 4, Gütersloh 1969, S. 195. – Ausw. in: Wir vergehn wie Rauch v. starken Winden. Dt. Gedichte des 17. Jh. Hg. Eberhard Haufe. 2 Bde., Bln. 1985, Register. Literatur: Johann Prange: Christliche LeichPredigt bey ansehnlicher u. volckreicher Leich-Begängnüß des [...] Herrn Anthonii Rulmanni [...]. Rinteln 1653. – Günther Müller: A. R., ein Bückeburger Barockhumorist. Zur Frage des literar. Volksbarock in Niederdeutschland. In: Westfalen. Hefte für Gesch., Kunst u. Volkskunde 26 (1941), S. 114–134. – Brage Bei der Wieden: A. R. In: Schaumburger Profile. Ein historisch-biogr. Hdb. Tl. 1. Hg. Hubert Höing. Bielef. 2008, S. 249–251. Volker Meid / Red.
Rumelant (von Sachsen), (Meister) Rumsland. – Sangspruch- u. Lieddichter, zweite Hälfte des 13. Jh. R. ist selbst urkundlich nicht erwähnt, doch ist in seinen Sangsprüchen mehrfach von histor. Personen u. Ereignissen die Rede. Die datierbaren Strophen liegen zwischen 1273 u. 1286 u. verweisen in den mittel- u. norddt. Raum: Ein Spruch (V,7) ist zur Krönung Rudolfs von Habsburg (am 24.10.1273 in Aachen) verfasst; die Geißelung von Unfrieden im Land, von Räuberei u. schlechter Münze (IV,8–10; VII,3.5) dürfte sich auf das vorausgehende Interregnum beziehen. Es finden sich Totenklagen auf den Grafen Gunzelin III. von Schwerin (VIII,10; gest. 1274), auf Barnim I. von Pommern-Stettin (II,14–15; gest. Nov. 1278) u. auf Herzog Albrecht I. von Braunschweig (VIII,4; gest. 14.8.1279), der bereits zu Lebzeiten von R. gepriesen wurde (II,12; VI,5). Lobend werden die mecklenburgischen Herren Zabel von Redichsdorp u. Zabel von Plau erwähnt (urkundlich zwischen 1274 u. 1277). R. prangert die Ermordung Erichs V. Klipping von Dänemark an (Nov. 1286; VI,10; X,3–5) u. lobt den Sohn u. Nachfolger Erich VI. Menved (V,8). Aus den Lobstrophen auf den bayerischen Herzog Ludwig II. (II,13; VI,9) muss nicht geschlossen werden, dass R. auch im Süden unterwegs war; sie sind vermutlich im Zusammenhang mit der Krönung Rudolfs I. zu sehen, bei der Ludwig eine Sonderrolle zukam. Bemerkenswert sind die Auseinandersetzungen mit anderen Dichtern. In mehreren
Strophen greift R. den älteren Zeitgenossen Marner an (IV,4–7), widmet ihm aber nach seiner Ermordung eine anerkennende Totenklage. Auf ein Rätsel Singaufs antwortet R. zweimal (XI,1–2; VIII,2–3); dabei werden die Sängerkollegen Meißner, Höllefeuer, der Unverzagte u. Konrad von Würzburg (gest. Aug. 1287) erwähnt. Nach Ausweis der Jenaer Handschrift ist R. mit einer Strophe am sog. »wîp-vrouwe«-Streit in Frauenlobs Langem Ton beteiligt. Die Hauptüberlieferung zu R. findet sich in der Jenaer Liederhandschrift (J; 105 Spruchstrophen in zehn eigenen Tönen, neun davon mit Melodie; daneben zwei Strophen im SingaufCorpus, eine weitere unter Frauenlob) sowie in der Großen Heidelberger Liederhandschrift (C; 16 Spruchstrophen in vier Tönen, vier weitere fälschlich unter Walther von der Vogelweide, alle auch in J; daneben drei nur hier erhaltene dreistrophige Minnelieder in typisch spruchmeisterl. Brechung der Gattung). Nach dem sprechenden Namen (»Räum das Land!«) könnte die Autorminiatur in C gestaltet sein: Ein junger Mann ist im Begriff, sich aufs Pferd zu schwingen. R., in beiden Handschriften ausgezeichnet mit dem Titel »meister«, war nichtadliger fahrender Sänger u. stammte nach einem Hinweis in seiner Marner-Polemik (IV,6) aus Sachsen, wozu auch sprachl. Merkmale passen. Das Œuvre weist hinsichtlich der Themen u. Motive viel Typisches auf, ist dabei aber von bemerkenswerter Vielfalt u. zeigt durchaus eigenes Kolorit. R. eröffnet wie üblich mehrfach einen neuen Ton mit einem Gottesoder Marienlob, z.T. explizit in Form der Tonweihe. In seinen religiösen Sprüchen besingt er Inkarnation, Passion, Auferstehung, Mariologisches u. Moraltheologisches u. zeigt sich bewandert in der allegor. Auslegung, so etwa in dem Spruchlied I,1–4 über die vier Elemente u. die Passion, in der Ausdeutung von Nebukadnezars Traum auf die Lebensalter des Menschen (IV,1–3), in der Einhorn-Allegorese (V,2–3) oder der eigenwilligen Allegorie des Hahns (IV,21), der an Christi Passion mahnt. Dabei gelingen ihm anschauliche wie auch komplexe Bildkompositionen (bis hin zum dichten kosmolog. Entwurf I,5). Mehrfach sind gute Bibel-
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Rumohr
kenntnisse zu erkennen. Auch die weltl. – Der Marner. Lieder u. Sangsprüche aus dem 13. Strophen zeigen genaue Beobachtungsgabe, Jh. u. ihr Weiterleben im Meistersang. Hg., eingel., Lust an der Bildlichkeit u. hohes Reflexions- erl. u. übers. v. Eva Willms. Bln./New York 2008, niveau. Neben verallgemeinernder Zeit- u. S. 387–393. Christoph Huber / Holger Runow Weltklage sowie Kritik am Werteverfall spiegeln Herrenlehren, Lob u. Schelte R.s SituaRumohr, Carl Friedrich (Ludwig Felix) tion als Fahrender. Er reflektiert hier das von, * 6.1.1785 Reinhardtsgrimma bei Medium Sprache sowie Aspekte der LiteraDresden, † 25.7.1843 Dresden; Grabstätturtheorie u. Literaturpolemik. Besonders in te: Dresden-Neustadt, Friedhof. – Kunstseinen Polemiken (aber nicht nur dort) enthistoriker, Gastrosoph; Novellist u. Autor wickelt R. witzige Sprachspiele. agrargeschichtlicher Schriften. Umfang u. Qualität seines Œuvre stellen R. zu den bedeutenderen mhd. Spruchsängern R. entstammte dem holsteinischen Uradel u. vor Frauenlob. Sein Name wird von Zeitge- verbrachte seine Kindheit auf den bei Lübeck nossen erwähnt (VI,12 ist eine Polemik eines gelegenen Familiengütern. Nach dem Besuch Unbekannten gegen R. in seinem Ton). Die des Gymnasiums in Holzminden studierte er sog. ›Augsburger Cantionessammlung‹ ent- in Göttingen (1802–1804) u. a. bei Fiorillo. Im hält zwei lat. Strophen des in die Zeit um Zeichen der romant. Bewegung trat er 1804 1300 zu datierenden Vagantendichters Estas in Dresden zum Katholizismus über. Auf der in einem von R.s Tönen. Die Kolmarer Lieder- Rückfahrt von einer Bildungsreise nach Rom handschrift schreibt ihm einen (nicht authen- u. Neapel (1805/1806) machte er in Franktischen) Ton mit drei Meisterliedern zu. Sein furt/M. die Bekanntschaft mit dem BrentaName taucht auch in Katalogen des Meister- nokreis. Bis zum Wiener Kongress sollte ihn sein patriotisches Engagement in Konflikt sangs auf. Ausgabe: Holger Runow: R. v. S. Ed. – Übers. – mit den frz. Behörden bringen. Nachhaltiger Einfluss auf R.s Ästhetik, auf Komm. Bln./New York 2011. seine Vorstellung vom Primat der NaturLiteratur: Helmut Tervooren: Einzelstrophe oder Strophenbindung? Untersuchungen zur Lyrik nachahmung, ging von Schelling aus. Im der Jenaer Liederhs. Diss. Bonn 1967, S. 223–248. – Laufe eines zweiten Italienaufenthalts Burghart Wachinger: Sängerkrieg. Mchn. 1973, (1816–1821, Florenz u. Rom) erwarb sich R. S. 164–181 (u. Register). – Christoph Huber: Wort jene Kenntnisse, die ihn als den Mitbegrünsint der dinge zeichen. Ebd. 1977 (Register). – RSM der der quellenkrit. Kunsthistoriografie aus5 (1991), S. 309–326. – Peter Kern: R. (v. S.). In: VL. zeichnen. Zu seinen bedeutendsten Leistun– Reinhold Schröder: R. v. S., ein Fahrender aus gen zählt das auf Archivstudien in der TosDtschld. in Dänemark. In: The Entertainer in Mekana beruhende u. ursprünglich als komdieval and Traditional Culture [...]. Hg. Flemming mentierte Übersetzung der KünstlerbiograG. Andersen, Thomas Pettitt u. R. Schröder. Odense 1997, S. 15–46. – William Layher: Meister R. & Co.: fien Vasaris geplante Werk Italienische ForGerman poets (real and imagined) in 13th-century schungen (3 Bde., Bln. 1827–31. Neuausg. Denmark. In: ZfdPh 119 (2000), Sonderheft, Ffm. 1922. Online-Ausg. Heidelb. 2006). R. S. 143–166. – Freimut Löser: Mein liebster Feind. förderte die Nazarener u. wandte sich gegen Zur Rolle des literar. Gegners in der Sangspruch- die klassizistische Anschauung der Weimadichtung am Beispiel R.s. In: Literarische Leben raner. Nach Norddeutschland zurückge[...]. FS V. Mertens. Hg. Matthias Meyer u. Hans- kehrt, bemühte er sich um die künstlerische Jochen Schiewer. Tüb. 2002, S. 507–533. – Shao-Ji Ausbildung Hamburger Landschaftsmaler. Yao: Der Exempelgebrauch in der SangspruchDie ersehnte Berufung zum Direktor der dichtung vom späten 12. Jh. bis zum Anfang des 14. Preußischen Gemäldesammlung blieb aus, Jh. Würzb. 2006 (Register). – F. Löser: Von kleinen u. von großen Meistern. Bewertungskategorien der obwohl R. während einer weiteren ItalienSangspruchdichtung. In: Sangspruchdichtung. reise (1828/29, Florenz u. Mailand) intensive Gattungskonstitutionen u. Gattungsinterferenzen Verhandlungen über Gemäldeeinkäufe für im europ. Kontext. Hg. Dorothea Klein, Trude die neu gegründeten Berliner Museen führte. Ehlert u. Elisabeth Schmid. Tüb. 2007, S. 371–396. Daher trat er Anfang der 1830er Jahre dem
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Dresdner Kreis um Tieck näher u. stellte die Kunstslg.en 64 (1943), Beiheft, S. 1–136. – Sämtl. kunsthistor. Anliegen zugunsten der literar. Werke. Hg. Enrica Yvonne Dilk. Hildesh. 2003 ff. Literatur: Walther Rehm: R.s Geist der KochProduktion zurück. Neben der erweiterten Ausgabe seiner bereits 1822 bei Cotta – unter kunst u. der Geist der Goethezeit. In: FS Eduard dem Decknamen seines Leibkochs – erschie- Berend. Hg. Hans-Werner Seiffert u. Bernhard Zeller. Weimar 1959, S. 210–234. – Gert Ueding: nenen Gastrosophie Geist der Kochkunst von Vom Stil der Kochkunst. In: Gebrauchslit. Hg. Joseph König (Stgt./Tüb. 1832. Viele Neuaus- Ludwig Fischer. Stgt. 1976, S. 170–181. – Enrica gaben, u. a. Ffm. 1966 [Vorw. Wolfgang Yvonne Dilk: C. F. v. R. e la novellistica italiana. In: Koeppen], Heidelb. 1994 [Vorw. Dietrich Rapporti fra letteratura tedesca e italiana nella Harth]) entstanden die streckenweise recht prima metà dell’Ottocento. Mailand 1990, polem. Memoiren Drey Reisen nach Italien (Lpz. S. 107–159. – Dies.: C. F. v. R.s Verlagskorrespon1832) u. die humoristische Verhaltenslehre denz mit der J. G. Cottaschen Buchhandlung. In: Schule der Höflichkeit (2 Tle., Stgt./Tüb. 1834/ JbDSG 34 (1990), S. 87–124. – Friedrich Nerly u. die Künstler um C. F. v. R. [Ausstellungskat.]. Bearb. v. 35. Neudr. Stgt. 1982. Mikrofiche Mchn. Thomas Gädeke. Cismar 1991. – E. Y. Dilk: Ein 1994. Online-Ausg. Dresden 2009). In rascher ›practischer Aesthetiker‹. Studien zum Leben u. Folge verfasste er auch seine »Schriften von Werk C. F. v. R.s. Hildesh. u. a. 2000. – Gabriele freyer Erfindung«: die auf dem Muster der Bickendorf: Visualität u. Narrativität. Methodische altital. Anekdote aufbauenden Novellen (2 Spannungen in C. F. v. R.s Ital. Forschungen. In: Bde., Mchn. 1833 u. 1835) u. den autobio- Gesch. u. Ästhetik. FS Werner Busch. Hg. M. Kern grafisch gefärbten Adelsroman Deutsche u. a. Bln. 2004, S. 362–375. – Karl Heinz Götze: Juste milieu: C. F. v. R.; portrait d’un gastrosophe. Denkwürdigkeiten (4 Bde., Bln. 1832). In: Pour une ›économie de l’art‹: l’itinéraire de C. F. Nach 1835 beschäftigten R. auf Gut Ro- v. R.: textes rassemblés par Michel Espagne. Paris thenhausen bei Lübeck vorwiegend agrarhis- 2004, S. 146–160. – E. Y. Dilk: C. F. v. R. In: NDB. – tor. Studien, die ihn dazu bewogen, in Mai- Kerstin Dötsch u. Sven Hanuschek: ›Das ist eine land u. Bergamo (1837) das lombard. Bewäs- Fälschung, das heißt, es ist keine Fälschung‹: C. F. serungssystem zu untersuchen. 1841 trat er v. R. in Wolfgang Hildesheimers ›Marbot‹. In: Abeine fünfte Italienreise nach Venedig an u. weichende Lebensläufe, poet. Ordnungen. FS Volließ sich dann in Lübeck nieder, um sich sei- ker Hoffmann. Hg. Thomas Betz u. Franziska ner reichen Kunstsammlung zu widmen. Mayer. Bd. 2, Mchn. 2005, S. 625–656. – Hinrich Sieveking: ›Der launige Rumohr hat’s hingekritHier gelang es ihm 1842, für Geibel ein le- zelt‹. Skizzierende Beobachtungen zu C. F. v. R. als benslängl. Jahresgehalt vom preuß. Staat zu bildendem Künstler. In: Aspekte dt. Zeichenkunst. erwirken, was ihm 1828 für seinen Freund Hg. Iris Lauterbach. Mchn. 2006, S. 129–140. – Platen nicht geglückt war. Kunst, Küche u. Kalkül. C. F. v. R. (1785–1843) u. Das weitläufige Werk des Kunstkenners u. die Entdeckung der Kulturgeschichte. Hg. Muse»gesellschaftlichen« Erzählers ist erst in An- um Behnhaus Drägerhaus Lübeck. Petersberg 2010. Enrica Yvonne Dilk / Red. sätzen erforscht. R.s gastrosophisches Konzept einer idealen Sättigung von Leib u. Seele wurde von Autoren wie Fontane u. Wolfgang Rump, (Heinrich Carl Dietrich) Johann(es), Hildesheimer rezipiert. Sein Cinquecentoauch: Nathan(ael) Jünger, * 23.10.1871 Fresko Der letzte Savello (in: Urania-TaschenHamburg, † 29.9.1941 Potsdam. – Autor buch, 1834. Neuausg. Lpz. 1928) sowie seine von religiösen Schriften u. Romanen. novellentheoret. Reflexionen in der gegen Tieck gerichteten Rahmenerzählung zu den R. studierte 1892–1896 Theologie u. PhiloNovellen von 1835 wirkten insbes. auf Heyse sophie in Tübingen, Halle, Kiel u. Jena, wo er 1897 über Melanchthons Psychologie promostark nach. Weitere Werke: Ital. Novellen v. histor. Inter- vierte. Als Seelsorger wirkte er ab 1899 in esse. Hbg. 1823 (Übers.). – Kynalopechomachia. Langensalza, Bremen, Berlin u. Potsdam. Seit Lübeck 1835 (Verssatire). – Reise durch die östl. 1932 Mitgl. der Deutschen Christen, fiel R. Bundesstaaten in die Lombardey [...]. Ebd. 1838. – häufig durch völkisch-rassist. Äußerungen Briefe. Hg. Friedrich Stock. In: Jb. der Preuß. auf, die Versetzungen – gegen den Einspruch
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der betroffenen Gemeinden – u. eine (erfolgreich angefochtene) Zwangsemeritierung zur Folge hatten. Neben Predigtsammlungen (Dienst am Wort. 44 Bde., Lpz. 1905–21) veröffentlichte er unter Pseudonym erbaul. Volksbücher (Das göttliche Ich. Christusroman aus der Gegenwart. Wismar 1927), aber auch dt.-völk. Heimatromane (Heimaterde. Ebd. 1911), u. bezog ebenso Themen wie Krieg (Revanche! Ebd. 1916) u. Kolonialismus (Roddenkampp Söhne. Ebd. 1924) mit ein. Weitere Werke: Heimgefunden. Dresden 1905 (E.). – Heidekinds Erdenweg. Wismar 1908 (R.). – Der Pfarrer v. Hohenheim. Ebd. 1910 (R.). – Dt. Heldenleben an der Front. Ebd. 1917 (R.). – Volk in Gefahr. Ebd. 1921 (R.). – Kaufmann aus Mülheim. Ein Hugo-Stinnes-Roman. Ebd. 1925. Ulrich Rose
Rumpf, Georg Eberhard, * 1627 Wölfersheim, † 15.6.1702 Insel Ambon/Molukken. – Kaufmann, Naturforscher, Forschungsreisender. Der Sohn eines Baumeisters besuchte die Lateinschule in Wölfersheim u. das Hanauer Gymnasium illustre. Seit 1652 stand R. im Dienst der niederländ. Vereinigten Ostindischen Kompanie (seit 1653 auf Ambon). Dabei widmete er sich zunehmend der naturwissenschaftl. Erforschung der Molukken, die er im Dienst der Gesellschaft als Inspektor, später als Konsul zu bereisen hatte. Seine bedeutende wissenschaftl. Leistung besteht darin, dass er als Erster die regionale Fauna – speziell Mollusken, Fische u. Krebse – u. Flora genau beschrieb u. bereits Lebensweisen u. Umweltbedingungen einbezog. Seine Forschungen setzte er trotz wiederholter schwerer Schicksalsschläge bis an sein Lebensende fort: Nachdem er 1670 erblindet war, unterstützte ihn u. a. sein Sohn Paulus Augustus bei der wissenschaftl. Arbeit; 1674 verlor er Frau u. Tochter durch ein Erdbeben; 1687 vernichtete ein Brand den größten Teil seiner wertvollen Bibliothek, einen Teil seiner für den Druck bestimmten Manuskripte u. die gesamten Zeichnungen. Durch Schiffbruch gingen weitere Manuskripte verloren, sodass sein Werk erst postum erscheinen konnte.
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R.s Bücher bieten noch heute grundlegende Kenntnisse über die Molukken-Fauna u. -Flora. Seine D’Amboinsche Rariteitkamer (Amsterd. 1705. Internet-Ed. in: SUB Gött. Dt. v. Philipp L. S. Müller, mit Zusätzen v. Johann H. Chemnitz. Wien 1766) gehörte speziell wegen ihrer Beiträge zur Malakologie zu den meistzitierten naturwissenschaftl. Werken seiner Zeit. R. stand mit zahlreichen bedeutenden Naturwissenschaftlern in Kontakt; ein Teil seines Briefwechsels hat sich erhalten. Er vermittelte auch Naturalien an europ. Sammlungen, u. a. 1682 für Cosimo III. von Medici. In Anerkennung seiner Leistungen wurde R. bereits 1681 unter dem Namen »Plinius Indicus« in die Academia naturae curiosorum Germaniae aufgenommen. Weitere Werke: Michael Bernhard Valentini: Museum Museorum. Ffm. 1704. 1714 (Tle. des Briefw. als Appendix). – Thesaurus imaginum piscium, testaceorum [...]. Leiden 1711. Den Haag 1739. – Het Amboinsche Kruid-Boek [...]. Hg. Johannes Burmann. 6 Bde., Amsterd. 1741–50. Lat.: Herbarium amboinense [...]. 6 Bde., ebd. 1741–50. Internet-Ed. in: SUB Gött. – Het Auctuarium Ofte Vermeerdering [...]. Amsterd. 1755. Lat.: Herbarii amboinensis auctuarium [...]. Ebd. 1755. Ausgaben: The poison tree. Selected writings of R. [...]. Hg. E. M. Beekman. Amherst 1982. – Waerachtigh verhael, van de schrickelijcke aerdbevinge [...] op den 17. February [...] 1674. voorgevallen [...]. Hg. W. Buijze. Den Haag 1997. Jakarta 1998. – Antwoordt en rapport op enige pointen uijt name van seker heer in’t Vaderlant voorgestelt door d’Edele heer Anthonij Hurt [...]. Hg. W. Buijze. Den Haag 1998. – De generale lant-beschrijvinge van het Ambonse Gouvernement [...]. Hg. W. Buijze. Den Haag 2001. – Rumphius’ wonderwereld. Zeventiende-eeuwse natuurbeschrijvingen uit Ambon. Hg. u. komm. v. Mark Loderichs. Zutphen 2004. – Übersetzungen: The Ambonese curiosity cabinet. Hg., übers. u. komm. v. E. M. Beekman. New Haven u. a. 1999. – The Ambonese herbal [...]. Übers. E. M. Beekman. 6 Bde., New Haven 2010. Literatur: Ernst Wunschmann: G. E. R. In: ADB. – Giovanni Targioni-Tozzetti: Le Collezione di G. E. R. [...]. Hg. U. Martelli. Florenz 1903. – R. Memorial Volume. Hg. H. C. D. De Wit. Baarn 1959 (mit Bibliogr.). – W. Buijze: Rumphius’ reis naar Portugal 1645–1648. Een onderzoek. Den Haag 2002. – Ders.: Rumphius’ bibliotheek op Ambon 1654–1702 en een biografisch lexicon van weten-
Rumpler schappelijke contacten destijds in Azië en vanuit Azië met Europa. Den Haag 2004. – Brigitte Hoppe: G. E. R. In: NDB. – W. Buijze: Leven en werk van G. Everhard Rumphius (1627–1702). Een natuurhistoricus in dienst van de VOC. Den Haag 2006. Ulla Britta Kuechen / Red.
112 Oswald: Bayer. Humanistenfreundschaft. Die Äbte A. R. v. Formbach u. Wolfgang Marius v. Aldersbach. In: FS Max Spindler. Mchn. 1969, S. 401–420. – Hubert Glaser: R. In: Hdb. der bayer. Gesch. 2. Hg. Andreas Kraus. Mchn. 21988. – Ferdinand Hutz: Ein Reisebericht vor 500 Jahren. Der Formacher Abt A. R. visitiert Mönichwald. In: Bl. für Heimatkunde. Hg. vom histor. Verein für Steiermark 77 (2003), S. 11–14.
Rumpler, Angelus, * um 1460 Vornbach, Hans Pörnbacher / Red. † 6.3.1513 Vornbach. – Humanistischer Dichter u. Historiker aus dem Benediktinerorden. Rumpold und Mareth ! Spiele von Rumpold und Mareth Der Sohn des Dorfbäckers in Vornbach trat nach Besuch der Klosterschule 1477 in das dortige Benediktinerkloster ein, zu dessen Runge, Doris, * 15.7.1943 Carlow/MeckAbt er 1501 gewählt wurde. Er ist der typi- lenburg. – Lyrikerin u. Verfasserin von sche Vertreter des bayerischen Klosterhuma- Prosa. nismus, dessen Ziel die »Eruditio christiana« »Aber ich breche dir Wörter wie Brot« – R. war, die zgl. als eine der Grundlagen für gute lesen, heißt sich einlassen auf eine knappe, Klosterdisziplin galt. R. pflegte Kontakte mit verdichtete, herbe, manchmal iron. SprachCeltis u. Freundschaft mit dem gleichge- kunst. In ihren oft von einer melanchol. sinnten Wolfgang Marius (Mayr), dem späte- Grundstimmung getragenen lyr. Texten erren Abt des Zisterzienserklosters Aldersbach. zeugt sie Sinnbilder von der Liebe, vom Meer R.s Gelehrsamkeit, sein vorzügl. Latein u. oder von der Vergänglichkeit: »nur ein kleisein schriftstellerisches Werk fanden Aner- ner schwindel/ ein fliegendes herz/ ein griff kennung, ja Bewunderung; gerühmt wird die nach der kehle/ du also«. Kunst seiner Personendarstellung. Aus den Nach dem Studium an der Pädagogischen etwa 100 lat. Gedichten (geistl. Stoffe, Gele- Hochschule in Kiel arbeitete R. zeitweise als genheitsgedichte, Briefgedichte an Freunde Lehrerin. Nach einem längeren Aufenthalt etc.) ist das Carmen de Calamitatibus Bavariae, auf Ibiza lebt sie heute im »Weißen Haus« in das die Nöte des Landshuter Erbfolgekriegs Cismar. Ihr literar. Debüt gab sie mit Lied(1504/1505) schildert, hervorzuheben. 1504 schatten (Cismar 1981) u. Jagdlied (Stgt. 1985). vollendete R. die Geschichte seines Klosters u. Die mehrfache Preisträgerin (Hebbel-Preis, frühestens 1506 eine ausführl. Geschichte des Friedrich-Hölderlin-Preis, Kunstpreis des Landshuter Erbfolgekriegs. Überliefert sind Landes Schleswig-Holstein, Ida-Dehmel-Liferner Predigten, Gebetstexte, geistl. Be- teraturpreis der GEDOK) war Dozentin u. trachtungen u. ein Dialogus de contemptu mundi Professorin für Poetik in Kiel u. Bamberg; seit (Clm 1806). Sept. 2009 ist sie Ehrenprofessorin des LanAusgaben: Historia Formbacensis monasterii. des Schleswig-Holstein. Hg. Bernhard Pez. In: Thesaurus Anecd. noviss 1,3. Die Texte der »Minimalistin der deutschen Augsb. 1721, S. 425–482. – Gestarum in Bavaria Gegenwartslyrik« bestechen durch die Kunst libri VI. Hg. Felix Andreas Oefele. In: Rerum Boi- des Weglassens u. Reduzierens um unnötige carum Scriptores. Bd. 1, ebd. 1763, S. 99–139. – Wörter. Nach Silke Scheuermann spricht R. Carmen de Calamitatibus Bavariae. Hg. ders. In: »nur an der Grenze zum Schweigen«. R. zuebd., S. 135 f. – Briefgedicht an Celtis. In: Konrad folge heißt Lyrik schreiben, »die GeschwätCeltis: Briefw. Hg. Hans Rupprich. Mchn. 1934, S. 599–603. – Bayer. Bibl. [...]. Bd. 1. Hg. Hans zigkeit abzubauen«, u. so bestehen ihre Verse aus oft nur wenigen Worten u. verzichten auf Pörnbacher. Mchn. 1986. Literatur: L. Oblinger: A. R. u. die ihm zuge- Satzzeichen. In dieser speziellen u. konseschriebenen histor. Kollektaneen. In: Archival. quenten Form der Verdichtung von Sprache Ztschr. N. F. 11 (1904), S. 1–99. – Erika S. Dorrer: A. liegt die ästhetische Qualität des schmalen R. als Geschichtsschreiber. Kallmünz 1965. – Josef Œuvres von R. Die »FAZ« spricht vom »un-
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verkennbaren Runge-Sound«, der ihre Miniaturen auszeichnet, auch wenn diese seit dem letzten Bändchen (was da auftaucht. Mchn. 2010) stärker als zuvor ins Erzählende gleiten. Weitere Werke: Lyrik: Der Vogel, der morgens singt. Cork, Irland 1985. – kommt zeit. Stgt. 1988. – wintergrün. Stgt. 1991. – (Hg., zus. mit Stephan Opitz): Poesia Alemá Hoje. In: Poesia Sempre. Rio de Janeiro 1994, Nr. 4, S. 41–117. – grund genug. Stgt. 1995. – Trittfeste Schatten. Stgt. u. a. 2000. – Du also. Mchn. 2003. – Die Dreizehnte. Mchn. 2007. – Prosa: Kunst-Märchen. Bln. 1977. – Welch ein Weib! Mädchen- u. Frauengestalten bei Thomas Mann. Stgt. 1998. Literatur: Michael Neumann: Jagdlieder. Zu Gedichten v. D. R. In: LitJb 31 (1990), S. 381–386. – Kosch. – M. Neumann: Steine, Tod u. Wörter. Neue Gedichte v. D. R. In: LitJb 33 (1992), S. 379–383. – Heinz Gockel (Hg.): Aber ich breche dir Wörter wie Brot. Bamberg 1999. – Stéphanie Samesch: Ein törichter Fisch: zum Wasserfrauenmythos in den ›Sirenenliedern‹ v. D. R. In: LitJb 42 (2001), S. 332–351. – M. Neumann: D. R. In: KLG. – H. Gockel: Zur Poetik v. D. R. In: Ders.: Literaturgesch. als Geistesgesch. Vorträge u. Aufsätze. Würzb. 2005. – Stephan Atzert: Metaphysik u. Entfremdung. Zu drei Gedichten von D. R. In: Das Innerste von außen. Zur deutschsprachigen Lyrik des 21. Jh. Hg. Gert Reifarth. Würzb. 2007, S. 157–166. – Bernd Brandes-Druba: D. R. Kiel 2008. – Hans Wißkichen: Lit. als poet. Verdichtung. Zur Lyrik v. D. R. In: Auf den Schultern des Anderen. FS Helmut Koopmann. Hg. Andrea Bartl u. Antonie Magen. Paderb. 2008, S. 289–296. Dörthe Buchhester
Runge, Erika (Anna Maria), * 22.1.1939 Halle/Saale. – Regisseurin, Autorin, Psychotherapeutin. Die Tochter eines Landgerichtsdirektors studierte nach Abschluss ihrer Schulausbildung Literatur- u. Theaterwissenschaft, Romanistik u. Kunstgeschichte in Saarbrücken, Paris, Berlin u. München. 1962 wurde sie mit der Studie Vom Wesen des Expressionismus im Drama und auf der Bühne promoviert. Anschließend wandte sich R. dem Film zu, drehte erste Kurzfilme für den Bayerischen Rundfunk, arbeitete als Regieassistentin u. wurde im Laufe der 1960er Jahre zu einer bedeutenden Vertreterin des neuen dt. dokumentarischen Films. Nach 1968 nahm sie an Tagungen der
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Dortmunder »Gruppe 61« u. der Gründung des Filmverlags der Autoren in München teil; auch gab sie Anstoß zur Werkkreis-Bewegung »Literatur der Arbeitswelt«. R. gehörte bis Anfang 1989 der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) an. 1978 zog sie von München nach Berlin, wo sie nur noch gelegentlich als politisch engagierte Regisseurin u. Autorin in Erscheinung tritt. Seit 1995 widmet sie sich vorwiegend ihrer Tätigkeit als Psychotherapeutin. R. entwickelte in den späten 1960er Jahren eine politisch motivierte Form dokumentarischen Schreibens, das der zeitgenöss. Skepsis an einer in gesellschaftl. Hinsicht als folgenlos angesehenen ›bürgerlichen Literatur‹ Rechnung tragen soll, wie sie sich im Kursbuch 15 (Nov. 1968) u. der darin ausgerufenen Erklärung vom »Tod der Literatur« (H. M. Enzensberger) provokativ verdichtet. R. richtet den Blick dabei auf jene Bevölkerungsgruppen, die nach Auffassung der Autorin bislang weder von der ›Kunst‹ noch von der ›Öffentlichkeit‹ hinreichend zur Kenntnis genommen worden sind. Ein literaturgeschichtlich bedeutsames Beispiel für diesen sozialkrit. Dokumentarismus sind die Bottroper Protokolle (Ffm. 1968), in denen Entwicklungen im Ruhrgebiet, Lebensumstände u. Artikulationsweisen der Bewohner einer Stadt, die wirtschaftlich fast völlig von der benachbarten Zeche abhängt, in Gesprächen, u. a. mit einem Betriebsratsvorsitzenden, einem Pfarrer, einer Hausfrau u. einem Verkäufer, protokolliert u. zusammengestellt worden sind. Auch wenn die ausschließl. Verwendung nicht-fiktionaler, in Mundart u. Umgangssprache verschriftlichter Selbstzeugnisse eine fast wissenschaftl. Zustandsbeschreibung verspricht, ist stets zu berücksichtigen, dass R. mit diesem Band ausdrücklich den »propagandistischen Anspruch« verfolgt, das »Klassenbewußtsein aufzuspüren und am persönlichen Beispiel die Möglichkeiten von Klassenkampf zu zeigen«. Dabei findet allerdings keine Offenlegung des Darstellungsverfahrens statt, das im Sinne einer Collage v. a. auf Auswahl u. Anordnung der einzelnen Bausteine beruht, streckenweise in Form einer höchst suggestiven Kontrastierung. Im Gegenteil: Der Anspruch auf Au-
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torschaft im schöpferischen oder auch nur organisierenden Sinne wird durch den Untertitel »Aufgezeichnet von Erika Runge« aufgehoben. Auch wird die Gebundenheit der Befragung an einen subjektiven Standpunkt – anders als im Falle der Reportagen Günter Wallraffs – durchweg verschleiert. Martin Walser, der als prominenter Autor zu dieser Zeit ebenfalls mit der DKP sympathisierte, steuerte ein unterstützendes Vorwort bei, das mögl. Mehrdeutigkeiten der kompilierten Dokumente im Vorfeld ausräumt: »Wer diese Aussagen und Erzählungen gelesen hat, wird wünschen, daß Erika Runge sich wieder auf den Weg macht mit ihrem Tonbandgerät, um weitere Bottrops aufzunehmen, weitere von böser Erfahrung geschärfte Aussagen [...] einer immer noch nach minderem Recht lebenden Klasse.« Dieser Wunsch fand in den folgenden Jahren Gehör. Auf die Bottroper Protokolle folgten grundsätzlich ähnlich konzipierte Bände wie etwa Frauen. Versuche zur Emanzipation (Ffm. 1969), in dem die dt. Geschichte auf der Folie der Entwicklungs- u. Emanzipationsmöglichkeiten der Frau durchleuchtet wird, Reise nach Rostock, DDR (Ffm. 1971), der sich mit der Lebenswirklichkeit im sozialistischen Arbeiter- u. Bauernstaat auseinandersetzt, sowie Südafrika. Rassendiktatur zwischen Elend und Wohlstand (Reinb. 1974), der die Auswirkungen der Politik der Apartheid auf die schwarze Bevölkerung untersucht. Einige Jahre später erkannte R. die Fragwürdigkeit ihres Unterfangens u. erklärte bekenntnishaft ihre Überlegungen beim Abschied von der Dokumentarliteratur (in: Kontext 1. Literatur und Wirklichkeit. Hg. Uwe Timm u. Gerd Fuchs. Mchn. 1976, S. 97–119): »Ich habe die Aussagen der Bottroper nach meinen Vorstellungen verwendet, habe sie benutzt wie Bausteine, ohne zu fragen, ob die Erzähler mit dem Ergebnis einverstanden sind.« Dies habe nicht zuletzt auch bewirkt, dass die »Freiheit eines Lesers der ›Bottroper Protokolle‹ [...] nicht die Freiheit [ist], die ich selbst hatte, als ich in Bottrop war«. Diese Abkehr verbindet R. mit dem Vorhaben, nun einen Roman schreiben zu wollen, um »ästhetische Möglichkeiten – mich selber! – auszuprobieren«. Bis heute wurde dieses Projekt aller-
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dings nicht umgesetzt. Allein der in der von Jürgen Habermas herausgegebenen Anthologie Stichworte zur ›Geistigen Situation der Zeit‹ (Ffm. 1979) veröffentlichte Text Kindheit, eine offenherzige autobiogr. Aufarbeitung, darf als Ergebnis dieser Neuausrichtung gewertet werden. Acht Jahre danach erschien eine weitere Buchpublikation, die allerdings erneut dem dokumentarischen Ansatz folgt, wenngleich ohne jene eindeutig polit. Akzentuierung der sechziger u. frühen siebziger Jahre: In Berliner Liebesgeschichten (Köln 1987) berichten drei Paare u. sieben Singles aus ihren persönl. Liebesbiografien, ein Thema, das auch im Zentrum der Liebesgeschichten (Bln./ DDR 1990) steht, die von der Kritik jedoch kaum noch wahrgenommen wurden. Seitdem sind keine weiteren literar. Texte von R. erschienen. Aufmerksamkeit erregte stattdessen wiederum ihr polit. Engagement, u. a. für einen Ausgleich mit den Autoren der ehemaligen DDR u. den damit verbundenen Eintritt in den Ost-P.E.N. in den Jahren der Wende, sowie ihre Unterzeichnung der »Erfurter Erklärung«, die 1997 den Abtritt der Regierung Kohl forderte. R. wurde 1968 die Curt-Oertel-Medaille verliehen. Im selben Jahr wurde sie mit verschiedenen Preisen der Deutschen Filmkritik bei der Internationalen Filmwoche Mannheim sowie mit dem Fernsehpreis der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste ausgezeichnet. 1970 erhielt R. den Förderungspreis der Landeshauptstadt München, 1971 den Ernst-Reuter-Preis. Weitere Werke: Zum Beispiel Bottrop ... Szen. Dokumentation (zus. mit Werner Geifrig). Hg. vom Arbeitskreis Progressive Kunst. Oberhausen o. J. [1971]. – Parteilichkeit u. Zensur im Fernsehen. In: kürbiskern (1971), H. 3, S. 440–448. – ›Ich heiße Erwin und bin 17 Jahre‹. Stgt. 1973. – Sich der Wehrlosigkeit widersetzen. In: kürbiskern (1975), H. 4, S. 145–148. – ›Streik bei Mannesmann. Szen. Kantate. Libretto. Musik v. Hans Werner Henze. Dortmund 1976. Literatur: Raoul Hübner: Trivialdokumentationen v. der Scheinemanzipation? Zu E. R.s Protokollen. In: Dokumentarliteratur. Hg. Heinz Ludwig Arnold u. Stephan Reinhardt. Mchn. 1973, S. 120–173. – Waltraud Müller-Ruch u. Hermann Ruch: E. R. In: LGL. – Lisa Jennings: Sites under construction. Elusive notions of authenticity and
115 authorship in the documentary narratives of E. R., Sara Lidman, Guenter Wallraff, and Göran Palm. Diss. University of Minnesota 2004. – Hanno Beth u. Michael Töteberg: E. R. In: KLG. – Markus Wiefarn: Der blinde Fleck der BRD. Zur Problematik der literar. u. polit. Repräsentation in E. R.s ›Bottroper Protokollen‹. In: Die Entdeckung des Ruhrgebiets in der Lit. Hg. Jan-Pieter Barbian u. Hanneliese Palm. Essen 2009, S. 231–245. – Walter Delabar: Die glückl. Frau B. E. R.s ›Bottroper Protokolle‹ u. ihr Fernsehfilm ›Warum ist Frau B. glücklich?‹ In: Schreibwelten – Erschriebene Welten. Zum 50. Geburtstag der Dortmunder Gruppe 61. Hg. Gertrude Cepl-Kaufmann u. Jasmin Grande. Essen 2011, S. 224–229. Kai Sina
Runge, Philipp Otto, * 23.7.1777 Wolgast, † 2.12.1810 Hamburg; Grabstätte: ebd., Ohlsdorfer Friedhof. – Maler, Zeichner, Scherenschnittkünstler, Farbtheoretiker, Verfasser von Dichtungen, Märchen u. Briefen. R.s Familie stammte von der Ostseeinsel Rügen. Sein Vater lebte vom Holz- u. Kornhandel u. gelangte schließlich als Reeder zu erhebl. Wohlstand. R. besuchte in Wolgast die Stadtschule, an der Kosegarten unterrichtete. Durch ihn wurde R.s künstlerische Begabung entdeckt. 1795 trat er in die Hamburger Firma seines ältesten Bruders Johann Daniel ein. Hamburg wurde für ihn der erste Mittelpunkt eines künstlerisch interessierten Freundeskreises, dem neben dem Bruder auch sein späterer Verleger Perthes u. Matthias Claudius angehörten. Der Entschluss, Maler zu werden, veranlasste R., 1799 an die Akademie nach Kopenhagen zu gehen. Literarischer Mittelpunkt seines Aufenthalts wurde der Kreis um Friederike Brun. Aus dieser Zeit stammen die frühesten bekannt gewordenen literar. Arbeiten R.s, darunter ein zusammen mit seinem Mitschüler Conrad Christian August Böhndel verfasster Bericht über ihre gemeinsam unternommene Fußreise nach Seeland (1800). Das erst 1840 veröffentlichte Werk ist ein frühes Zeugnis synästhet. Kunstauffassung, da sich darin Tagebucheinträge, Verseinlagen u. Zeichnungen vermischen. 1801 übersiedelte R. nach Dresden, wo er seine künstlerische Ausbildung fortsetzte.
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Gleichzeitig beschäftigte er sich mit den Schriften von Steffens, den er persönlich kennen lernte. Unter dem Einfluss Tiecks begann er, die Werke Jacob Böhmes u. Novalis’, zu lesen. Das gesellige Leben machte ihn mit der Familie des Dresdner Handschuhfabrikanten Carl Friedrich Bassenge bekannt, mit dessen Tochter Pauline er sich 1804 vermählte. Literarische Zeugnisse dieser Geselligkeit sind R.s Briefe, aber auch Ein Prolog, geschrieben für ein Dresdner Laientheater. Von Dresden aus trat R. erstmals mit Goethe in Briefwechsel; Tieck u. August Wilhelm Schlegel forderten ihn auf, mit ihnen als Illustrator zusammenzuarbeiten. Für Tiecks Minnelieder aus dem Schwäbischen Zeitalter (1803) zeichnete R. die Vignetten. Auch von R. selbst sind aus der Dresdner Zeit lyr. Versuche überliefert, z.B. Ewig schweigt die süße Silberstimme. R.s Aufenthalt in Dresden war bis zu seiner Eheschließung mehrfach durch Reisen unterbrochen. 1803 traf er in Berlin Schlegel u. Fichte u. besuchte Goethe in Weimar, 1804 lernte er in Hamburg Friedrich Heinrich Jacobi kennen. Im selben Jahr nahm er, frischverheiratet, mit seiner Frau den Wohnsitz in Hamburg. Er arbeitete an einer OssianAusgabe, für die er Friedrich Leopold zu Stolberg als Übersetzer zu gewinnen hoffte. Dieser kritisierte jedoch die romant. Kunstauffassung des ihm vorgelegten Konzepts. Erfolgreicher war R. mit der Aufzeichnung der von ihm überlieferten plattdt. Kindermärchen. Von den beiden bereits 1805/1806 fertiggestellten Texten erschien das Märchen Von den Mahandel Bohm 1808 erstmals in der »Zeitschrift für Einsiedler« Arnims (Nr. 29 f.), das Märchen Von dem Fischer un syner Fru postum in zwei Paralleldrucken 1812 in Büschings Volks-Sagen, Märchen und Legenden u. den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm (Neudr. der beiden Märchen. Textkritisch hg. u. kommentiert von Heinz Rölleke. Trier 2008). R. kam als Märchenerzähler unmittelbar mit der Heidelberger Romantik in Berührung. Seine Beziehungen zu Arnim u. vor allem zu Brentano gingen aber über den Austausch von Briefen kaum hinaus. Noch von Hamburg aus eröffnete R. auch mit Goethe einen ausgiebigen Briefwechsel über
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Literatur: Wilhelm Feldmann: P. O. R. u. die farbtheoret. Fragen. 1806 zog R. nach Wolgast u. setzte seine Studien fort, aus denen Seinen. Lpz. 1943. – Heinz Rölleke: Von dem Fispäter die Abhandlung über die Farben-Kugel scher un syner Fru. Die älteste schriftl. Überliefe(Hbg. 1810. Neudr. Mittenwald 1977. Mit rung. In: Fabula 14 (1973), S. 112–123. – Jörg Traeger: P. O. R. u. sein Werk. Mchn. 1975. – Notizen zur Farbe u. dem Briefwechsel mit Werner Hofmann (Hg.): R. u. seine Zeit. Mchn. Goethe. Nachw. Volkmar Hansen. Köln/Stgt.- 1977. – H. Rölleke (Hg.): Der wahre Butt. Die Bad Cannstatt 1999) hervorging. 1807 kehrte wundersamen Wandlungen des Märchens v. dem er nach Hamburg zurück u. trat als stiller Fischer u. seiner Frau. Düsseld./Köln 1978. – W. Teilhaber in die neu gegründete Firma seines Hofmann u. Hanna Hohl (Hg.): R. Fragen u. AntBruders ein. Die letzten Jahre seines Lebens worten. Mchn. 1979. – Carl H. Dingedahl: Ein unbekanntes Gelegenheitsgedicht v. P. O. R. In: Jb. waren durch Krankheiten beeinträchtigt. R.s Farben-Kugel ist der Versuch, die seit der Hamburger Kunstsammlungen 25 (1980), Antike u. Renaissance behandelte Frage zu S. 97–102. – Karl Möseneder: P. O. R. u. Jakob Böhme. [...]. Marburg 1981. – Thomas Leinkauf: beantworten, inwieweit der Vielfalt der FarKunst u. Reflexion. Untersuchungen zum Verhältben eine Ordnung zugrunde liegt u. wodurch nis P. O. R.s zur philosoph. Tradition. Mchn. 1987. sie bestimmt wird. Ausgehend von den Far- – Peter Kränzle: P. O. R. In: Bautz. – Susanne ben Weiß u. Schwarz sowie Blau, Gelb u. Rot Strasser-Klotz: R. u. Ossian. Kunst, Lit., Farbenentwickelt R. keine Lichttheorie, sondern lehre. Internet-Diss. Regensb. 1995. – Johann J. K. folgt der seit dem 17. Jh. bestehenden Auf- Reusch: P. O. R. and the intellectual circles around fassung von den drei Grundfarben, aus denen Matthias Claudius. Ann Arbor, Mich. 1996. – Jörg alle anderen durch Mischung hervorgehen. Traeger: P. O. R. In: NDB. – Christian Scholl: RoNeu an R.s Systematik ist ihre Darstellung, mant. Malerei als neue Sinnbildkunst. Studien zur Bedeutungsgebung bei P. O. R., Caspar David nicht nur in einem Kreis, sondern auch als Friedrich u. den Nazarenern. Mchn. u. a. 2007. – plast. Kugel. Seine Farbtheorie erweist sich Peter Betthausen: P. O. R. Lpz. 2008. – Frank daher in Analogie zum Globus als Modell für Büttner: P. O. R. Mchn. 2010. – Uwe M. Schneede: eine polit. Weltsicht, die ihre Ordnung sym- P. O. R. Hbg. 2010. Konrad Feilchenfeldt bolisch am Gegensatz von Nord u. Süd veranschaulicht u. darin der Philosophie von Adam Müller verpflichtet ist. Runge, Wilhelm, * 13.6.1894 Rützen/ R.s Farbtheorie wirkte bis ins 20. Jh. nach. Schlesien, 22.3.1918 bei Arras gefallen. – Ausübende Künstler wie Marc, Klee u. Itten Lyriker. beriefen sich auf ihn. Nachwirkungen seines literar. Werks gehen auf die Märchen, aber In Schlesien aufgewachsen, ging R. 1914 als auch auf sein Briefwerk zurück. Aus ihm Kriegsfreiwilliger an die Front. Vor Ypern wurde er im Nov. 1914 verwundet; 1915 kam schöpfte Fritz Meichner den Stoff für seine er nach Berlin u. studierte Medizin. Dort Erzählung Wir Drei. Eine Runge-Novelle (1938. schloss er sich dem »Sturm«-Kreis um HerNeudr. Hbg. 1977). R.s Von dem Fischer un syner warth Walden an. Besonders eng befreundete Fru lieferte Grass die Thematik zum Butt er sich mit Georg Muche, damals Lehrer an (1977). Eine »Romanbiographie« veröffentder Kunstschule des »Sturm«, u. dessen Braut lichte Gerhard Dallmann: Philipp Otto Runge Sophie van Leer. Im »Sturm« erschien fast ... bleib bewundernd stehen (Gützkow 1995. seine gesamte Lyrik. Anlässlich seines frühen Husum 2009). Todes schrieben Franz Richard Behrens, Kurt Weitere Werke: Hinterlassene Schr.en. Hg. Jo- Heynicke u. Walter Mehring poetische hann Daniel Runge. 2 Bde., Hbg. 1840/41. Neudr. Nachrufe; Muche widmete ihm ein ÖlgeGött. 1965. – Briefe in der Urfassung. Hg. Karl F. mälde zum Gedächtnis. Das einzige Buch, der Degner. Bln. 1940. – Briefw. mit Goethe. Hg. Hellmuth Frhr. v. Maltzahn. Weimar 1940. – Cle- Gedichtband Das Denken träumt (Bln. 1918) – mens Brentano/P. O. R.: Briefw. Hg. Konrad Feil- von R. noch im Feld korrigiert – wurde erst chenfeldt. Ffm. 1974. – Briefe u. Schr.en. Hg. Peter nach seinem Tod veröffentlicht. Seine Lyrik Betthausen. Bln./DDR 1981, Mchn. 1982. – Briefw. vereint neuromant. Anklänge mit der reduzierten Syntax der expressionistischen WortEine Ausw. Hg. P. Betthausen. Lpz. 2010.
Ruodlieb
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kunst Waldens u. August Stramms. In die Anthologie Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts (Wiesb. 1955) wurden drei Gedichte von R. aufgenommen. Ausgaben: Die Sonne wintert. Ausgew. Gedichte. Hg. Wilfried Ihrig. Siegen 1990. – Natalia W. Pestova: W. R.: ›Das Denken träumt‹. In: Im Schatten der Literaturgesch. Autoren, die keiner mehr kennt? Plädoyer gegen das Vergessen. Hg. Jattie Enklaar u. Hans Ester unter Mitarb. v. Evelyne Tax. Amsterd./New York 2005, S. 299–306. Wilfried Ihrig / Red.
Ruodlieb. – Mittellateinischer Versroman, zweite Hälfte des 11. Jh. Johann Andreas Schmeller benannte den fragmentarisch erhaltenen mlat. Versroman in leonin. Hexametern, den er zusammen mit Jacob Grimm 1838 veröffentlichte, nach dem dt. Namen des Helden. Schon 1807 hatte Bernhard Joseph Docen einen ersten Hinweis auf das »Rittergedicht« gegeben, das in Handschriften der 1803 säkularisierten Abtei Tegernsee in die Münchner Hofbibliothek gekommen war, eingetragen auf Pergamentblättern u. -streifen, die als Buchbindematerial zweckentfremdet worden waren. Während Schmeller noch mit dem Aufsuchen u. Auslösen der Blätter beschäftigt war (heute als Codex Clm 19486 zusammengelegt), kam im Stift St. Florian bei Linz das Fragment einer weiteren R.-Handschrift zum Vorschein, so dass sich die Ausgabe von 1838 auf 18 Doppelblätter stützen konnte. (Ein weiteres Doppelblatt trat 1840 hinzu u. zuletzt 1981 ein im Tegernseer Codex Cgm 790 entdeckter Pergamentfalz.) Die richtige Anordnung der Fragmente u. die Entzifferung des z.T. erheblich beschädigten Textes erwiesen sich als schwierig, doch ist es durch die philolog. Bemühungen der letzten 150 Jahre gelungen, die Abfolge des Textes zweifelsfrei zu sichern, Lesefehler zu beseitigen u. durch Beschnitt verloren gegangene Buchstaben zu ergänzen, so dass wir uns von der Dichtung, die einmal ca. 3850 Verse umfasst haben dürfte, insg. ein recht gutes Bild machen können. Ein junger, tüchtiger, jedoch nur über einen kleinen Adelssitz verfügender Ritter
hatte im Dienst einer Dynastenfamilie nur den Hass der Gegner seiner Herren geerntet, so dass er sich gezwungen sah, außer Landes zu gehen. In einem seiner Heimat benachbarten Königreich wird er in die Dienstmannschaft des Großen Königs aufgenommen. Seine perfekte Beherrschung der ritterl. Künste, seine uneingeschränkte Loyalität gegenüber seinem Dienstherrn u. seine selbstlose Solidarität mit den Standesgenossen verschaffen ihm solches Ansehen, dass er bei Ausbruch eines Grenzkrieges zehn Jahre nach seinem Dienstantritt mit der Führung der kgl. Truppen betraut u. nach einem glänzenden Sieg ins Reich des Kleinen Königs geschickt wird, von dessen Gebiet aus der Überfall erfolgt war. Dort unterbreitet er das hochherzige Friedensangebot seines Herrn u. bringt die Vorverhandlungen zum Abschluss, aufgrund derer der Friedensvertrag unterzeichnet werden kann. Nach der Rückkehr erhält Ruodlieb – hier zum ersten Mal so genannt – einen Brief seiner früheren Herren u. seiner Mutter mit der Bitte, wieder nach Hause zu kommen. Vom Großen König mit zwölf Weisheitslehren entlohnt u. mit einem in zwei »Broten« verborgenen Schatz beschenkt, macht er sich auf den Heimweg. Unterwegs schließt sich ihm ein streunender Ritter, der »Rotkopf«, an, dessen übler Charakter sich bald zeigt: Er erzwingt sich Nachtquartier bei einem alten Bauern, verführt dessen junge Frau u. erschlägt im Streit den Alten. Ein Gericht verurteilt ihn zum Tode. Weiterreisend trifft Ruodlieb einen Verwandten (Neffen), der in der Fremde heruntergekommen war, u. überredet ihn zur Rückkehr. Nur noch eine Tagesreise von Ruodliebs Erbsitz entfernt, übernachten sie bei einer adligen Witwe. Der Neffe verliebt sich in die Tochter des Hauses u. verlobt sich mit ihr. Am nächsten Tag kommt man in Ruodliebs Heimat an, wo die Mutter ein Freudenfest feiern lässt u. Ruodlieb die mit Gold u. Schmuck gefüllten »Brote« anschneidet. Einige Zeit später richtet er die Hochzeit seines Neffen mit dem Edelfräulein aus. Nun drängt die Mutter auch Ruodlieb zur Heirat. Er holt den Rat seiner Verwandten u. Freunde ein, die ihm ein mit allen Vorzügen ausgestattetes Fräulein empfehlen. Er
Ruodlieb
findet jedoch heraus, dass sie mit einem Kleriker ein Verhältnis hat, u. nimmt von einer Verbindung Abstand. Die von Gott für Ruodlieb ausersehene Braut wird der Mutter im Traum geoffenbart: Sie wird die Tochter eines Königs u. Erbin seines Reiches sein. Der Traum beginnt sich zu erfüllen: Vor einer Waldhöhle überwältigt Ruodlieb einen Zwerg, der ihm verspricht, ihn zu einem Schatz zu führen, mit dessen Hilfe er die Königstocher Heriburg gewinnen kann. Hier endet der Clm 19486, der aufgrund paläografischer Kriterien wohl ins letzte Drittel des 11. Jh. zu datieren ist u. das Autograf des anonymen Dichters, vermutlich eines Mönchs der Abtei Tegernsee, darstellt. Der Schluss war entweder in eine andere Reinschrift eingetragen, oder der Autor überließ es der Fantasie seiner Leser, sich aus den in Fragment XVII f. gegebenen Vorverweisen den Schluss selbst auszumalen. Noch mehr Fantasie braucht der moderne Leser, der sich mit insg. 27 Lücken konfrontiert sieht. Etwa 1500 verlorenen Versen stehen 2324 ganz oder teilweise erhaltene gegenüber. Ob Wesentliches verloren ging, wird unterschiedlich beurteilt. Braun etwa vermutete, dass in der Lücke nach Fragment VIII (Gerichtsszene) weitere Ratschläge des Großen Königs in Handlung umgesetzt wurden, so dass ein geschlossener Block sich bewährender Weisheitslehren den strukturellen Mittelpunkt der ganzen Erzählung gebildet hätte. Doch überwiegt in jüngerer Zeit die Meinung, dass nach der Rotkopfepisode »die Einlösung der Lehren abbricht« u. dass, abgesehen von der Lücke nach Fragment XIV (Vermählungsfeier), »sich im weiteren keine Lücken mehr finden, in denen entscheidende uns unbekannte Motive aufgetaucht sein könnten« (Haug 1974, S. 47 u. 43). Was vom R. erhalten blieb, fasziniert – trotz der hölzernen, bisweilen unbeholfenen Ausdrucksweise – u. verwirrt zugleich, da wir immer noch Mühe haben, es in die literaturgeschichtl. Entwicklung einzuordnen. »In dieser überaus dichten, mit heiterm Gleichmut, in hart versifizierter mittellateinischer Umgangssprache vorgetragenen Folge von Bildern und Ereignissen ist uns fast alles neu und rätselhaft und nur aus einer Vielzahl
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benützter Traditionen erklärbar.« (Wehrli 1984, S. 215) Der R. ist, soweit wir wissen, der erste fiktionale Roman des lat. MA, das bis dahin außer dem einen Heldenepos Waltharius, dem Fragment eines versifizierten Apollonius-Romans u. der Tierdichtung Ecbasis captivi an epischen Großformen nur Bibel- u. Heiligendichtung, Geschichts-, Herrscherpreis- u. Lehrdichtung kannte. Ruodlieb ist weder Herrscher noch Bischof, Heiliger oder Sagenheld – selbst wenn der Name Ruodlieb der Heldensage entlehnt ist –, sondern der Prototyp eines jungen Edelmanns, der sich in jeder Lebenslage bewährt u. dafür von Gott mit einem märchenhaften Aufstieg belohnt wird. Ungewöhnlich ist auch die Auswahl der übrigen Handlungsträger u. überhaupt dessen, was der Dichter für darstellenswert hält: Dinge, deren Aussehen, u. Tiere, deren Verhalten mit liebevoller Genauigkeit geschildert werden, v. a. aber Menschen unterschiedlichsten Charakters, Standes, Alters u. Geschlechts, die in wechselnden Konstellationen aufeinandertreffen. Hier gelingen dem Autor Szenen, die in der präzisen Zeichnung einer Situation, einer Stimmung, durch das Sprechen, Handeln oder auch Schweigen der beteiligten Personen auf die höf. Erzählkunst des 13. Jh. vorausweisen, wenngleich eine eigentl. Minnehandlung dem R. noch fehlt. Dabei finden sich zu nahezu allen Gliedern der Handlungskette Motivparallelen in (erschlossener) mündl. Erzähltradition (Heldensage) u. in schriftliterar. Vorlagen, u. a. im Alexanderroman u. im Apollonius von Tyrlant. Dasselbe gilt für die Tierepisoden. Doch entnimmt der Autor seinen Vorlagen immer nur das Kernmotiv, das dann von ihm szenisch ausgestaltet wird. Auch die Auswahl u. Kombination der Quellen ist sein Werk. Von den zwölf Weisheitslehren etwa werden nur die erste bis dritte u. die siebte in Handlung umgesetzt, dafür aber der vorhergehende Dienst – in der Quelle (Ratschlagmärchen) nur knapp angedeutet – breit ausgeführt. Der Dichter bindet sich an das Ratschlagschema so wenig wie an die Gattungsgesetzlichkeit anderer literar. Typen, sondern stellt sie in den Dienst seiner eigenen Konzeption (Haug 1974, S. 52).
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Diese besteht darin, die Bedeutung der »Weisheit« für ein glückl. u. nützl. Leben aufzuzeigen, Weisheit mittelalterlich verstanden als Frömmigkeit/Güte, Geschicklichkeit/Bildung (»ars«) u. (angeborene) Klugheit. Im Gegensatz zu ihr steht die »Torheit«, d.h. religiös/ethische Fehlhaltung (Gottlosigkeit/Bosheit), mangelhafte Bildung u. fehlende Intelligenz. Die schlimmste, weil selbst verschuldete Torheit ist die religiös/ ethische, die in den Hauptsünden Stolz, Habgier u. Lüsternheit ihre Wurzeln hat. Toren dieser Art stürzen, falls sie sich nicht bekehren, sich u. andere ins Verderben (Rotkopf, Heriburgs Vater u. Bruder). Die höchste Form von Weisheit besitzen die, die Güte mit Bildung u. Klugheit verbinden: Ruodlieb, die Mutter, der Große König, der junge Bauer. Dazwischen agieren die übrigen Figuren des Romans, die mit Ruodlieb, aber auch untereinander ein Beziehungsgeflecht von Übereinstimmung u. Kontrast bilden. Nur die im vollen Sinne »Weisen« sind freilich befähigt, ihr Leben aus eigener Kraft zu gestalten (v. 444) u. andere zu führen, d.h. zu »herrschen«. Ob sie allerdings tatsächlich zur Herrschaft gelangen, hängt nicht allein von ihnen ab, sondern vom Walten der Fortuna u. der über ihr stehenden Vorsehung. So wird Ruodlieb trotz der bereits im ersten Dienstverhältnis bewiesenen Tüchtigkeit, Klugheit u. Güte in eine zehnjährige Zeit der Prüfung getrieben, deren Symbol die Namenlosigkeit ist. Er besteht die Prüfung, u. es beginnt die Zeit der Erhöhung, die im Königtum ihren triumphalen Abschluss findet. (Der Mittelteil des Romans, in dem die Heimreise erzählt wird, sieht Ruodlieb fast nur als souveränen Beobachter. Seine Tätigkeit beschränkt sich darauf, zu beraten u. seine Kunstfertigkeit unter Beweis zu stellen. Aktiv sind die anderen Figuren, an denen der Dichter sein Generalthema Weisheit/Torheit in verschiedenen Variationen durchspielt.) Im R. »versucht die Dichtung zum ersten Mal, aus der Kraft der Phantasie ein Bild des Menschen zu entwerfen, das diesem hilft, die so ganz anders geartete Gegenwart zu bewältigen« (Vollmann 1993, S. 106). Der R. setzt zwar beim Schema des spätantiken Fortunaromans an (Trennung von
Ruodlieb
Heimat u. Lieben – Jahre in der Fremde – glückl. Heimkehr), aber er füllt es mit neuem Geist – aktive Daseinsbewältigung statt passiven Duldens – u. mit neuen Motiven, die zu einer fiktiven Welt zusammenwachsen, in der Wunsch u. Wirklichkeit jene poetische Verbindung eingehen, die den R. zu einem der großen Erzählkunstwerke des MA macht. »So steht, grob gesehen, der R. auf dem Wege, der vom Märchen (eventuell unter Mitwirkung antiker Romanformen) zum Ritterroman führt. Für die motivische und ideelle Ausstaffierung im einzelnen ist mit mannigfachen Anregungen aus Bibel und Legende, Lehrdichtung, Satire und Hofpoesie zu rechnen.« (Wehrli 1984, S. 217) Als Adressaten des frühen Romans kommen u. a. junge adlige Lateinschüler im Kloster Tegernsee in Frage, denen Grammatik u. ethische Belehrung im unterhaltsamen Gewand einer weltl. Rittergeschichte vermittelt werden sollten (Vollmann 1993, S. 74). Der R. ist moralische Lehrdichtung im Sinne eines Fürsten- u. Ritterspiegels u. bietet darüber hinaus »eine nicht nur ständisch ritterliche, sondern eine allgemeine Ethik. Die Idealität, die der König verkörpert, ist, Maß und Ordnung setzend, auf die ganze Welt bezogen.« (Haug 1989, S. 231) Ausgaben: Jacob Grimm u. Johann Andreas Schmeller (Hg.): Lat. Gedichte des X. u. XI. Jh. Gött. 1838. – R., der älteste Roman des MA, nebst Epigrammen. Mit Einl., Anmerkungen u. Glossar. Hg. Friedrich Seiler. Halle 1882. – Karl Langosch (Hg.): Waltharius, R., Märchenepen. Lat. Epik des MA mit dt. Versen. Darmst. 21960. – R. Faks.-Ausg. des Cod. Lat. Monac. 19486 der Bayer. Staatsbibl. München u. der Fragmente v. St. Florian. Bd. 1: Einl. u. Tafeln. Hg. Walter Haug. Wiesb. 1974. – R. Mlat. u. dt. Übertragung, Komm. u. Nachw. Hg. Fritz Peter Knapp. Stgt. 1977. – R. (siehe Haug). Bd. 2: Krit. Text. Hg. Benedikt Konrad Vollmann. Wiesb. 1985. – The R., with Translation and Notes. Hg. C. W. Grocock. Warminster/Chicago 1985. – R. Hg. B. K. Vollmann. In: W. Haug u. B. K. Vollmann (Hg.): Frühe dt. Lit. u. lat. Lit. in Dtschld. 800–1150. Ffm. 1991, S. 388–551 (mit Übers.), 1306–1406 (Kommentar). Literatur: Werner Braun: Studien zum R. Bln. 1962. – Helena M. Gamer: Der ›R.‹ u. die Tradition. In: Mlat. Dichtung. Hg. Karl Langosch. Darmst. 1969, S. 284–329. – Fritz Peter Knapp: Bemer-
Rupert von Deutz kungen zum R. In: ZfdA 104 (1975), S. 189–204. – B. K. Vollmann: Der Strafprozeß im VIII. Fragment des ›R.‹. In: Befund u. Deutung. Zum Verhältnis v. Empirie u. Interpr. in Sprach- u. Literaturwiss. FS Hans Fromm. Hg. Klaus Grubmüller u. a. Tüb. 1979, S. 193–227. – Christian Götte: Das Menschen- u. Herrscherbild des rex maior im R. Mchn. 1981. – Steven R. Fischer: Der Traum der Mutter R.s. In: ZfdPh 102 (1983), S. 49–65. – Max Wehrli: Gesch. der dt. Lit. vom frühen MA bis zum Ende des 16. Jh. Stgt. 21984, S. 214–220. – Peter Dronke: Poetic Individuality in the Middle Ages. London 2 1986, S. 33–65. – K. Langosch: Zum Stil des R. In: Ders.: Kleine Schr.en. Hildesh. u. a. 1986, S. 179–203. – W. Haug: Der R. In: Ders.: Strukturen als Schlüssel zur Welt. Kleine Schr.en zur Erzähllit. des MA. Tüb. 1989, S. 199–235. – Paul Klopsch: Der Name des Helden: Überlegungen zum ›R.‹ In: Tradition u. Wertung. FS Franz Brunhölzl. Hg. Günter Bernt u. a. Sigmaringen 1989, S. 147–154. – Ders.: R. In: VL u. VL (Nachträge u. Korrekturen). – B. K. Vollmann: R. Darmst. 1993. – M. Wehrli: Ruodlieb u. seine Tiere. In: Ders.: Gegenwart u. Erinnerung. Ges. Aufsätze. Hildesh. u. a. 1998, S. 163–175. – B. K. Vollmann: Freundschaft u. Herrschaft. Zur ›amicitia‹-Idee im ›Waltharius‹, in der ›Ecbasis captivi‹ u. im ›R.‹. In: Mentis amore ligati. Lat. Freundschaftsdichtung u. Dichterfreundschaft in MA u. Neuzeit. FS Reinhard Düchting. Hg. Boris Körkel u. a. Heidelb. 2001, S. 509–520. Benedikt Konrad Vollmann / Heiko Hartmann
Rupert von Deutz, auch: Rupertus (abbas) Tuitiensis, Robert de Saint-Laurent, * wohl 1076 bei Lüttich, † 4.3.1129 Deutz. – Theologe. R. wurde schon im Kindesalter als »puer oblatus« in das Benediktinerkloster des hl. Laurentius bei Lüttich gegeben. Seine schriftstellerische Tätigkeit begann er in größerem Umfang nach seiner Ordination im Alter von etwa 35 Jahren. Bemerkungen in seinen Werken u. das zwölfte Buch seines Matthäuskommentars De gloria et honore Filii hominis super Matthaeum (1125/27. Hg. Rhaban Haacke. Turnhout 1979) bilden fast die einzigen Quellen zu seinem Leben. Nahezu 40 Jahre (bis April 1119) hielt R. sich im Laurentiuskloster auf, dessen Abt Berengar (1077–1116) sein geistl. Vater u. Protektor war. Im Gegensatz zur kaisertreuen Stadt Lüttich stand die Abtei im sog. Inves-
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titurstreit auf Seiten des Papstes; Berengar war ein Anhänger der gregorian. Reform u. der cluniazens. Ordnung. Als dem Kloster ein simonistisch geweihter Abt oktroyiert werden sollte, begleitete R. Berengar ins Exil nach Nordfrankreich (1092–1095). Nach ihrer Rückkehr übernahm R. das Amt des Scholasters an der Klosterschule u. wurde bald wegen seiner Gelehrsamkeit bekannt. Zum Priester ließ er sich erst weihen, nachdem der kaiserlich gesonnene Bischof Otbert von Lüttich 1106 vom Bann gelöst worden war. In den Jahren zuvor hatte R. eine spirituelle Krise durchlebt. 1119 hielt R. sich anlässlich der Wiederbesetzung des Bischofsstuhls in Köln auf u. dürfte anschließend endgültig in das Kloster Siegburg übergesiedelt sein. Seit Berengars Tod war dessen Abt Cuno II. von Raitenbuch (1105/1106–1126) sein Freund u. Förderer geworden. Ende 1120 ernannte der Kölner Erzbischof Friedrich I. von Schwarzenburg R. zum Abt des Benediktinerklosters St. Marien u. St. Heribert in Deutz, das dieser im Sinn der von seinem Vorgänger bereits eingeführten Siegburger Observanz leitete. R.s frühe Werke sind meist verloren; ihm zugeschrieben werden in nur einer Handschrift anonym erhaltene Carmina de s. Laurentio (1095. Hg. Heinrich Boehmer. Hann. 1897, S. 622–641). 1111 erschien die oft anonym überlieferte Liturgieerklärung De divinis officiis (Hg. R. Haacke. Turnhout 1967. Dt. Übers.: Der Gottesdienst der Kirche. Auf der Textgrundlage der Übersetzung von Hrabanus Haacke neu hg., übers. u. eingel. v. Helmut Deutz u. Ilse Deutz. 4 Teilbde. Freib. i. Br. u. a. 1999), die das gesamte liturg. Jahr als geistl. Leitfaden interpretiert; sie trug ihm die Kritik Wilhelms von St. Thierry, später Norberts von Xanten u. anderer ein. 1113/17 arbeitete R. an seinem großen Bibelkommentar in 42 Büchern, De s. Trinitate et operibus eius (Hg. R. Haacke. Turnhout 1971/72), der Weltgeschichte als Heilsgeschichte im Werk der drei Personen der Trinität darstellt: Dem Schöpfungswerk des Vaters folgt das Erlösungswerk des Sohns von Adams Sündenfall bis zur Inkarnation; im Zeitalter der Kirche wirkt die gnadenspendende Kraft des Geistes. 1115/16 verfasste R. Commentaria in evange-
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lium s. Iohannis (Hg. ders. Ebd. 1969. Dt. Übers.: Ferdinand Edmunds/R. Haacke: R. v. D. Lesungen über Johannes. Trier 1977), den ersten eigenständigen Kommentar zum gesamten Johannesevangelium seit der Patristik. Inspiriert von Träumen u. Visionen u. gedrängt von seinen Gönnern Cuno u. Erzbischof Friedrich, entfaltete R. seine größte schriftstellerische Produktivität in Siegburg u. Deutz. Aus der Menge der Kommentare u. Abhandlungen nebst den sie begleitenden Briefen seien die Commentaria in Apocalypsim (1117/20. Ausg.: Migne. PL 169, Sp. 827–1204. An. dt. Übers.: Augsburg 1788) hervorgehoben, eine neue, gänzlich eigenständige Auslegung: R. sah die sieben Gaben des Hl. Geistes in den Sendschreiben an die Gemeinden sowie den sieben Visionen wirksam werden; er deutete die Apokalypse historisch von den Zeiten des AT bis zu Konstantin dem Großen u. verwandte als erster außer- u. nachbibl. Quellen. Mit dem unablässigen Kampf zwischen Gott u. Satan um die Menschheit beschäftigte sich R. in dem seine geschichtstheolog. Ideen zusammenfassenden Werk De victoria Verbi Dei (1124. Hg. R. Haacke. Weimar 1970), in dem er, von einem Gespräch über die vier Weltreiche der Vision in Dan 7 ausgehend, zu einer Darlegung der Weltgeschichte als Heilsgeschichte gelangte. R. gründete seine Exegese auf die ihm vom Hl. Geist verliehene Gabe des Schriftverständnisses; seine Auslegungen zielen auf die »meditatio Scripturarum« als Mittelpunkt des monastisch-kontemplativen Lebens. Unter systemat. Gesichtspunkt vertrat er einige Sonderlehren, die zu Kontroversen mit den Theologen der Schule von Laon führten u. ihn Jahrhunderte später noch umstritten sein ließen. Zugleich stand R. in höchstem Ansehen bei seinen Zeitgenossen; Wolfger von Prüfening legte ihm als letztem berühmten Theologen nach den Kirchenvätern den Titel »magnus« bei. Zu seinen Schülern zählten Gerhoch u. Arno von Reichersberg sowie Honorius Augustodunensis; sein Einfluss in der Exegese, der Christologie, der Mariologie, der Geschichtstheologie u. verschiedenen Bereichen
Rupert von Deutz
der Kunst reicht bis weit ins 13. Jh. Im Benediktinerorden wurde R. seit dem 17. Jh. als »beatus« u. »doctor ecclesiae« verehrt. Seine Werke sind in mehr als 300 Handschriften des 12. bis 15. Jh. nachweisbar, von denen etwa 200 (davon mehr als die Hälfte aus dem 12. Jh.) erhalten sind. Zentren der Ausbreitung waren Lüttich, Köln u. Regensburg, von wo aus Cuno als Bischof (seit 1126) R.s Werk in Bayern u. Österreich bekannt machte. Einzeldrucke der Schriften R.s erschienen seit 1487. 1526–1529 gab Johannes Cochläus die erste, fast vollständige Gesamtausgabe heraus; Nachdrucke u. Neuauflagen, darunter die Erstausgabe der Opera omnia in drei Foliobänden (Köln 1577), folgten bis zu JacquesPaul Mignes Ausgabe von 1851 (in: PL 167–170). Weitere Werke: Os meum aperui. Die Autobiogr. R.s v. D. übers. u. mit einem Nachw. vers. v. Walter Berschin. Köln 1985 (= ›De gloria [...]‹, Buch 12). – W. Berschin: Os meum aperui. Die Autobiogr. R.s v. D. († um 1130). Mit zwei Abb.en. In: Ders.: Mlat. Studien II. Heidelb. 2010, S. 215–266 (rev.). – R. v. D.: Commentaria in Canticum Canticorum. Komm. zum Hohenlied. Lat. u. dt. Übers. u. eingel. v. Helmut u. Ilse Deutz. 2 Teilbde., Turnhout 2005. – Bardo Weiß: Mystik u. Institution. Zu den Visionen des R. v. D. Hbg. 2000 (= ›De gloria [...]‹, Buch 12, Auszüge, übers. v. Schwester Magdalena König O.C.S.O.). Literatur: John H. van Engen: R. of D. Berkeley/Los Angeles/London 1983. – Maria Lodovica Arduini: Neue Studien über R. v. D. Siegburg 1985. – Dies.: R. v. D. (1076–1129) u. der ›Status Christianitatis‹ seiner Zeit. Köln/Wien 1987. – Rhaban Haacke/Franz Josef Worstbrock: R. v. D. In: VL (Lit.). – Klaus-Gunther Wesseling: R. v. D. In: Bautz (Lit.). – Christel Meier: Von der ›Privatoffenbarung‹ zur öffentl. Lehrbefugnis. Legitimationsstufen des Prophetentums bei R. v. D., Hildegard v. Bingen u. Elisabeth v. Schönau. In: Das Öffentliche u. Private in der Vormoderne. Hg. Gert Melville u. Peter v. Moos. Köln/Weimar/Wien 1998, S. 97–123, bes. S. 102–109. – C. Meier-Staubach: R.s v. D. literar. Sendung. Der Durchbruch eines neuen Autorbewußtseins im 12. Jh. In: Aspekte des 12. Jh. Hg. Wolfgang Haubrichs, Eckart C. Lutz u. Gisela Vollmann-Profe (Wolfram-Studien 16). Bln. 2000, S. 29–52. – Anton Leichtfried: Trinitätstheologie als Geschichtstheologie. ›De sancta Trinitate et operibus eius‹ R.s v. D. (ca. 1075–1129). Würzb. 2002. – Sabine Gäbe: Os meum aperui. Der auto-
Ruppius biogr. Ber. R.s v. D. im Gesamtgefüge seines Matthäuskommentars. In: Scripturus vitam. Lat. Biogr. v. der Antike bis in die Gegenwart. Festg. für Walter Berschin zum 65. Geburtstag. Hg. Dorothea Walz. Heidelb. 2002, S. 967–978. – Martijn Schrama: The Office in Honour of Saint Augustine: an Unknown Work of R. of D. In: Augustiniana 54 (2004), S. 589–651. – C. Meier: R.s v. D. Befreiung v. den Vätern. Schrifthermeneutik zwischen Autoritäten u. intellektueller Kreativität. In: Recherches de Théologie et Philosophie Médiévales 73 (2006), S. 257–289. – R. v. D. – ein Denker zwischen den Zeiten? Internat. Symposion [...] 20. bis 22. Sept. 2007. Tagungsbd. Hg. Heinz Finger, Harald Horst u. Rainer Klotz. Köln 2007. – Wanda ZemlerCizewski: R. of D. and the Law of the Stray Wife: Anti-Jewish Allegory in ›De sancta Trinitate et operibus eius‹. In: Recherches de Théologie et Philosophie Médiévales 75 (2008), S. 257–269. – Dies.: The Literal Sense of Scripture according to R. of D. In: The Multiple Meaning of Scripture. The Role of Exegesis in Early-Christian and Medieval Culture. Hg. Ineke van ’t Spijker. Leiden/Boston 2009, S. 203–224. – R. Klotz: ›In XII prophetas minores‹ des R. v. D. Anmerkungen zu Forschungsstand u. Überlieferung. In: Archa Verbi 6 (2009), S. 53–66. Sabine Schmolinsky
Ruppius, Otto, * 1.2.1819 Glauchau, † 25.6.1864 Berlin. – Erzähler, Journalist; Musiker.
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1853 zog er nach Milwaukee, einem der Zentren deutschsprachiger Auswanderer, wo er 1855 das Unterhaltungsjournal »Westliche Blätter« gründete. In seiner Erzählprosa behandelte R. die Schicksale dt. Auswanderer, so in Der Pedlar (New York 1857. Bln. 1859) u. Das Vermächtniß des Pedlars (Bln. 1859). Doch tritt die Schilderung amerikan. Verhältnisse in aller Regel zurück hinter Konfliktkonstruktionen, die typisch für die nachmärzl. Unterhaltungsliteratur sind: Soziale Konflikte werden als individuelle Gefährdung für die Protagonisten dargestellt, die durch eine allseitige Persönlichkeitsbildung überwunden werden müssen (so schon in Schlamm und fester Boden. Bln. 1848. 21862). Die preuß. Amnestie ermöglichte R. Anfang der 1860er Jahre die Rückkehr nach Deutschland; in der »Gartenlaube« konnte er Erzählungen veröffentlichen, außerdem leitete er die literar. Sonntagsbeilage für Dunckers »Volksblatt«. Weitere Werke: Geld u. Geist. Bln./St. Louis 1860 (R.). – Genre-Bilder aus dem dt.-amerikan. Leben. Bln. 1861. – Aus dem dt. Volksleben. Bln. 1862. – Ein Deutscher. Lpz. 1862 (R.). – Ges. Werke. 5 Bde., Bln. 1874. Literatur: Erich Edler: Die Anfänge des sozialen Romans u. der sozialen Novelle in Dtschld. Ffm. 1977. – Martin Halter: Sklaven der Arbeit – Ritter vom Geiste. Arbeit u. Arbeiter im dt. Sozialroman zwischen 1840 u. 1880. Ffm./Bern 1983. – Michael Knoche: Volkslit. u. Volksschriftenvereine im Vormärz. Literaturtheoret. u. institutionelle Aspekte einer literar. Bewegung. Ffm. 1986. – Joachim Feldmann: Bürgerl. Vernunft u. Abenteuer. O. R.’ Amerikaroman ›Der Prairieteufel‹. In: Critica poeticae. Lesarten zur dt. Lit. FS Hans Geulen. Hg. Andreas Gößling. Würzb. 1992, S. 219–230. – Undine Janeck: Zwischen Gartenlaube u. Karl May. Dt. Amerikarezeption in den Jahren 1871–1913. Aachen 2003. – Annette Bühler-Dietrich: GermanAmerican identity in the novels of Heinrich Börnstein and O. R. In: Seminar 42 (2006), 3, S. 211–228.
Der Beamtensohn absolvierte eine Kaufmannslehre, den Militärdienst sowie eine Buchhändlerlehre. Schriftstellerische Interessen sind im Tagebuch für den preußischen Infanteristen (Erfurt 1843) dokumentiert. 1845 zog er nach Berlin, wo er zu den Gründern des »Norddeutschen Volksschriftenvereins« gehörte, mit dem bis zur Revolution Literatur »unters Volk« gebracht wurde. Mit der »schlesischen Dorfgeschichte« Eine Webergeschichte (in Ernst Keils Monatsschrift »Der Leuchtthurm«, 1846) griff er mit dem Weberaufstand eines der wichtigsten Themen Joachim Linder / Red. der sozialkrit. Vormärzliteratur auf. In der »Bürger- und Bauernzeitung« veröffentlichte Ruprecht von Würzburg. – MärendichR. 1848 einen Beitrag über die Auflösung der ter des frühen 14. Jh. Preußischen Nationalversammlung, für den er zu neunmonatiger Festungshaft verurteilt Nur durch die Reimpaarerzählung Die Treuewurde. Der Strafe entzog er sich durch die probe (auch: Von zwei Kaufleuten; 947 Verse) ist Flucht in die USA. Er brachte sich zunächst »Ruoprecht ein Wirzburgaere«, wie er sich als Musiklehrer u. Orchesterleiter durch. am Ende der Erzählung nennt, bezeugt. Na-
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Rutze
mensform u. Überlieferung des Märe nur in Moser-Rath: Cymbeline. In: EM. – Hanns Fischer: 2 einer Handschrift Würzburger Provenienz Studien zur dt. Märendichtung. Tüb. 1983, S. 201 f., 392–394 (Bibliogr.). – Hans-Joachim Zielegen die Stadt als Wirkungsort des Dichters geler: R. v. W. In: VL. – René Wetzel: ›Così fan fest, der dem gebildeten Bürgertum oder der tutte‹ in Würzburg u. Florenz. R.s v. W. ›Treuehöheren Geistlichkeit (evtl. dem Kreis um probe‹ u. Boccaccios ›Novella di Zinefra‹ (DecameMichael de Leone) Anfang des 14. Jh. ange- ron, II,9) im Schnittpunkt literar. Geschlechterhört haben dürfte. entwürfe u. städt. Interessen. In: Würzburg, der In der Handelsstadt Verdun werden die Große Löwenhof u. die dt. Lit. des SpätMA. Hg. Patrizierkinder Bertram u. Irmengart von Horst Brunner. Wiesb. 2004, S. 121–135. – Alihren Vätern verheiratet. Nach zehn glückl. brecht Classen: A woman fights for her honour. R. Ehejahren beteiligt sich Bertram in einer v. W.’s ›Von zwein kouf mannen‹. Female selfHerberge in Provins an einem Gespräch, bei determination versus male mercantilism. In: Sedem Kaufleute über ihre Frauen herziehen. minar 42 (2006), S. 95–113. Ulla Williams / Red. Nur Bertram lobt seine Frau, worauf der Gastwirt Hogier mit ihm um ihren ganzen Rutze, Rus, Nikolaus, * um 1460 Rostock, Besitz wettet, er könne Irmengart binnen ei- † nach 1514. – Theologe. nes halben Jahres verführen. Bertram bleibt in Provins, Hogier wirbt in Verdun mit kost- An der Universität seiner Heimatstadt imbaren Geschenken, Bestechung des Gesindes matrikuliert (9.10.1477) u. graduiert (artistiu. schließlich mit Geldangeboten um Irmen- sches Bakkalaureat 1479/80, Magister artium gart. Die Verwandtschaft rät der Standhaften, 1485/86), verbreitete R. als Priester hussitidas Geld im Interesse ihres Gatten nicht sche Schriften u. Lehren. Matthias Flacius zählte ihn daher in seinem Catalogus testium auszuschlagen. Verzweifelt ruft sie Gott u. veritatis (Basel 1556. Internet-Ed. in: VD 16 Maria an u. findet einen Ausweg: Für 100 digital) zu den Vorläufern Luthers u. der ReMark verbringt ihre Magd Amelin in der formation. Die ihm zugeschriebenen, in LüRolle Irmengarts eine Liebesnacht mit Hobeck um 1480 gedruckten Traktate Dat bokegier. Nach der vergnügl. Nacht schneidet ken van deme repe (›Das Büchlein von der Hogier seiner Liebhaberin zum Beweis einen dreifältigen Schnur‹; gemeint sind die drei Finger ab. Als er seinen Sieg verkündet, zeigt theolog. Tugenden Glaube, Liebe, Hoffnung) Irmengart ihre unversehrten Hände. Hogier u. De uthlegginge ouer den louen (›Die Auslegung verliert seinen Besitz, bekommt aber Amelin des [apostolischen] Glaubens[bekenntnisses]‹) u. ihre 100 Mark. Am Ende mahnt R. die hat R. weder verfasst noch übersetzt. Sie Frauen, ihre Leidenschaften zu zügeln. stammen aus dem Jahr 1412, haben Jan Hus Die hier zur Gestaltung des Themas der zum Verfasser u. dürften – nach den Nachehel. Treue verwendeten Motive der Keuschweisen von Frantisek M. Bartos (1940, 1956; heitswette (vgl. Boccaccios Decamerone II. 9, vgl. Molnár) – von dem in Prag lehrenden Shakespeares Cymbeline) u. der untergeschoMagister Johann von Lübeck († vor 1502) benen Frau sind weltweit verbreitet, die stiübersetzt u. überarbeitet worden sein. R. hat listisch gewandte u. lebendig erzählte Treuesie vielleicht zum Druck gebracht oder die probe dürfte R. jedoch nach einer frz. Vorlage Drucklegung vermittelt. eigenständig ausgestaltet haben. Ausgaben: Christoph Gutknecht: Die mhd. Versnovelle ›Von zwein koufmannen‹ des R. v. W. Hbg. 1966 (mit nhd. Übertragung). – Heinrich Niewöhner: Neues Gesamtabenteuer. 2. Aufl. hg. v. Werner Simon. Dublin/Zürich 1967, S. 161–172. Literatur: Christoph Gutknecht, a. a. O. – Winfried Frey: Tradition u. bürgerl. Selbstverständnis. Zu R.s v. W. Märe ›Von zwei Kaufleuten‹. In: Mittelalterl. Texte im Unterricht 2. Hg. Helmut Brackert u. a. Mchn. 1971, S. 93–129. – Elfriede
Literatur: Krause: N. R. In: ADB. – Joseph Müller: Zu den Schr.en des Mag. N. R. in Rostock. In: Ztschr. der Gesellsch. für niedersächs. Kirchengesch. 1 (1896), S. 173–189. – Siegfried Hoyer: N. R. u. die Verbreitung hussit. Gedanken im Hanseraum. In: Neue Hansische Studien. Hg. Konrad Fritze u. a. Bln. 1970, S. 157–170. – Amedeo Molnár: Einl. zu: Jan Hus: Dat bokeken van deme repe. De uthlegginge ouer den louen. Aus dem Tschech. ins Niederdt. übertragen v. Johann v. Lübeck (Lübeck um 1480). Hildesh./New York 1971
Rychner (= N. L. v. Zinzendorf. Materialien u. Dokumente. Hg. Erich Beyreuther u. a. Reihe 1, Bd. 2), unpag. – Christine Stöllinger-Löser: N. R. In: VL, Bd. 8, Sp. 433–436; Bd. 11, S. 1354 u. Register. – Dt. Biogr. Enzyklopädie der Theologie u. der Kirchen. Hg. Bernd Moeller u. Bruno Jahn. Bd. 2, Mchn. 2005, S. 1161 f. Gustav Adolf Benrath / Red.
Rychner, Max, * 8.4.1897 Lichtensteig/Kt. St. Gallen, † 10.6.1965 Zürich; Grabstätte: ebd., Friedhof Fluntern. – Journalist, Lyriker, Essayist.
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Analyse vorzog. »Im Element der Bewunderung vollzieht sich die Überlieferung. So wie der Bewundernde im Bewunderten lebt, so dieser einzig in ihm. Homer ist tot, wo er nicht geliebt wird« (Bewundern. In: Sphären der Bücherwelt. Aufsätze zur Literatur. Zürich 1952). Mit Gedichten, die »über Beschwörungen des Zeitgeistes zu den uralt ewigen Vorwürfen hin durchfinden« (Erwin Jaeckle), trat er u. a. mit Freundeswort (ebd. 1941) u. Die Ersten. Ein Epyllion (ebd. 1949. 1974) auch als formbewusster Lyriker in Erscheinung. 1961 erhielt R. den Literaturpreis der Stadt Zürich.
Der Sohn eines Landarztes studierte in Bern Weitere Werke: Essays: Zur europ. Lit. zwiu. Zürich Germanistik (Dr. phil. 1921) u. war schen zwei Weltkriegen. Zürich 1943. 1951. – 1922–1931 Redakteur der in Zürich erschei- Zeitgenöss. Lit. Ebd. 1947. – Welt im Wort. Ebd. nenden Zeitschrift »Wissen und Leben« (ab 1949. – Arachne. Aufsätze zur Lit. Ebd. 1957. – 1926 »Neue Schweizer Rundschau«), die er Antworten. Aufsätze zur Lit. Ebd. 1961. – Bedachte mit Beiträgern wie Ernst Robert Curtius u. u. bezeugte Welt. Darmst. 1962. – Zwischen Mitte u. Rand. Zürich 1964. – Aufsätze zur Lit. Ebd. Paul Valéry zu einem bedeutenden Forum 1966. – Briefe: Carl J. Burckhardt – M. R.: Briefe ausbaute. Ab 1931 lebte R. in Köln, zunächst 1926–65. Ffm. 1970. – Gottfried Benn – M. R.: als Redakteur der »Kölnischen Zeitung« u. Briefw. 1930–56. Stgt. 1986. – Ernst Robert Curtius 1933–1937 als Korrespondent der »Neuen – M. R.: Aus dem Briefw. Bearb. v. Claudia MertzZürcher Zeitung«. Nach einem Zwischenspiel Rychner. Marbach 1987. – M. R.: Bei mir laufen die am Feuilleton des Berner »Bund« leitete er Fäden zusammen. Literar. Aufsätze, Kritiken, 1939–1962 die Kulturredaktion der Zürcher Briefe. Hg. Roman Bucheli. Gött. 1998. »Tat«. Diese von Migros-Gründer Gottlieb Literatur: Hans Wolffheim: Gelebte BewunDuttweiler finanzierte Tageszeitung gab R. derung. In: Bedachte u. bezeugte Welt. Hg. Manden Spielraum für ein Feuilleton, das sich an fred Schlösser. Darmst. 1962, S. 13–36. – Erwin einer großen europ. Tradition orientierte, Jaeckle: Die Zürcher Freitagsrunde. Zürich 1975. – aber auch Neuem u. Unkonventionellem Ders.: M. R. In: Ders.: Zeugnisse zur Freitagsrunde. Ebd. 1984, S. 9–33. – Werner Siebert: M. R. Eine (Celan, Gwerder) offenstand. Nach 1945 Bibliogr. Bern 1986. – M. R. u. Zürich zum Beispiel. wuchs R., dem Schweizer Homme de lettres, Bearb. Gerhard Schuster. Marbach 1987. – Maike dessen Essays ihres weiten Horizonts u. ihrer Buß: Intellektuelles Selbstverständnis u. Totalitaformalen Brillanz wegen gerühmt wurden, rismus. Denis de Rougemont u. M. R. – zwei Eudie Rolle einer neutralen, von ästhetischer u. ropäer der Zwischenkriegszeit. Ffm. u. a. 2005. – nicht von polit. Warte aus urteilenden In- Roman Bucheli: M. R. In: NDB. – Slawomir Lesstanz zu, was u. a. auch Autoren zugute kam, niak: Thomas Mann, M. R., Hugo v. Hofmannsthal die wie Benn durch den Nationalsozialismus u. Rudolf Kassner. Eine Typologie essayist. Formehr oder weniger kompromittiert waren. men. Würzb. 2005. Charles Linsmayer »Er gilt als der maßgeblichste internationale Kritiker und Recensent innerhalb der deutRyff, Reiff, Rivius, Walther Hermann, * um schen Literatur«, schrieb Benn am 7.8.1949 1500 Straßburg, † 29.9.1548 Würzburg. – an F. W. Oelze. Zum Erfolg des Kritikers R. Herausgeber, Übersetzer u. Bearbeiter trug wohl wesentlich bei, dass er, ähnlich wie deutscher u. lateinischer Fachschriften. Emil Staiger u. Fritz Ernst, mitten im Scherbenhaufen der »Stunde Null« unbeirrt an R. nannte sich »Medicus« u. »Chirurgus«, seiner subjektiv gefühlsmäßigen, das Kunst- doch hatte er nach Besuch des Straßburger werk zum überzeitl. Ereignis statuierenden Gymnasiums u. der Universität Basel (1533) Methode des »Bewunderns« festhielt u. diese den Apothekerberuf erlernt u. um 1535 als einer auch soziologisch argumentierenden Hofapotheker des brandenburgischen Mark-
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grafen Albrecht VII. in Güstrow/Mecklenburg gewirkt. Dann lebte R. unstet in Zentren des dt. Druckgewerbes u. entwickelte sich in engster Zusammenarbeit mit den Druckern Balthasar Beck (Straßburg, spätestens seit 1539), Christian Egenolf (Frankfurt/M., 1544), Johann Petreius (Nürnberg, 1546/47) u. Johann Myller (Würzburg, 1548) zu einem frühen Berufspublizisten. Die Ansicht, R. habe auch Schriften unter dem Namen »Quintus Apollinaris« veröffentlicht, ist gänzlich ungesichert. Das von R. 1540–1548 geschaffene Corpus von über 30 Werken birgt hauptsächlich Abdrucke medizinisch-pharmazeutischer Texte, die teilweise bemerkenswert hohe Ausgabenzahlen erreichten. Vorherrschend sind Abdrucke antik-spätmittelalterl. Schriftenerbes (Dioskurides, Plinius, Arnald von Villanova, Raimundus Lullus, Albertus Magnus, Jean Divry). Hingegen spielten Werke zeitgenöss. Neuerer (Niccolò Tartaglia: Der Mathematischen vnd Mechanischen künst [...] bericht. Nürnb. 1547. Nachdr. Hildesh./New York 1981; Andreas Vesalius) im publizistischen Wirken R.s eine völlig untergeordnete Rolle. Traditionelles Lehrgut vermittelten auch R.s Der [...] Mathematischen vnd Mechanischen künst/ eygentlicher bericht [...] zu rechtem verstandt der lehr Vitruuij (Nürnb. 1547. Nachdr. Hildesh./ New York 1981), Der fünff maniren der Colonen [...] exempel (Nürnb. 1547. Nachdr. in Jachmann 2006, S. 131–139) sowie sein Vitruvius Teutsch, eine bis um 1800 konkurrenzlos gebliebene Bearbeitung der Vitruvius-Ausgabe von Cesare Cesariano (Nürnb. 1548. Nachdr., mit einer Einl. von Erik Forssman. Hildesh./ New York 1973), u. seine über zwei Jahrhunderte nachgedruckte Übersetzung des Traumbuchs Artemidors ([...] wie alle Tröum [...] außgelegt werden sollen. Straßb. 1540). Kennzeichnend für R.s Traditionsgebundenheit sind schließlich Drucke, die im Rückgriff auf Schriften von Eucharius Rösslin d.Ä. (Frawen Rosengarten. Ffm. 1545), Hieronymus Brunschwig (New groß Distillier Bu8 ch. Ffm. 1545) u. Hans von Gersdorf (Stat und Feldtbu8 ch/ Bewerther Wundtartznei. Ffm. 1551) entstanden sind. Bereits der Zweittitel Hauß Apoteck für das Confect Büchlin (Ffm. 1544. Nachdr. mit einem Nachw. von Carl Lüdtke. Lpz. 1983)
Ryff
oder der Gegenstand (Kochbu8 ch/ Für die Krancken. Ffm. 1545. Nachdr. mit einem Nachw. von Werner Dobras. Lindau 1979), aber auch Sprachwahl u. Darbietungsweise verraten, dass R. mit einem Hauptteil seiner Publikationen darauf zielte, den frühneuzeitl. »Haushalter« u. »gemeinen Mann« zur medizinischen Selbsthilfe zu befähigen. Seinen üblen Leumund in der gelehrt-lat. Respublica literaria der frühen Neuzeit verdankte er seinem abweichenden Sprachverhalten, wie es sich in R.s Publikationen deutschsprachiger Fachschriften für eine lateinunkundig-ungelehrte Leserschaft niederschlug; in den Argumenti contra Riffium et Rifianos von Johann Brettschneider/Placotomos (in: In libros [...] Fuchsij. 1558), aber etwa auch in der Kritik eines Jakob Ruff fand sich R. als Schänder der Gelehrtenmedizin attackiert. Zum anderen beruhte sein schlechter Ruf auf seinen piratenhaften Publikationspraktiken, die dazu führten, dass man R. u. seinen Drucker Balthasar Beck 1540 wegen Fälschung eines Druckprivilegs zu verhaften suchte. R. ließ den Leser über die Uneigenständigkeit seiner Publikationen u. die Urheber der unter seiner Flagge gedruckten Texte u. Illustrationen häufig im Unklaren, sodass sich manche Autoren (Vesalius; Leonhard Fuchs, 1544) in ihrer Urheberehre geschmälert u. verletzt fühlten: Durch die Zeiten galt R. als »der unverschämteste Plagiarius« schlechthin. Erst in jüngster Zeit verlor dieses Urteil allmählich seine ächtende Kraft u. begann der charakterlose Texträuber R. einem literarisch gewandten u. multiplikatorisch erfolgreichen Herausgeber, Übersetzer u. Bearbeiter zu weichen, der den Aufstieg des Deutschen als Wissenschaftssprache nachhaltig förderte u. dem erst seit dem 18. Jh. häufiger anzutreffenden Berufspublizisten voranschritt. Weitere Werke: Practicir Büchlin/ der Leibartznei. Ffm. 1541. – Des [...] Menschen [...] Anatomi. Straßb. 1541. Nachdr. Straßb. 1970. Mit einer Beilage v. A. Wackenheim u. Y. Dirheimer. – Die kleyne Chirurgi. Straßb. 1542. – Teutsche Apoteck. Straßb. 1542. – Spiegel vnd Regiment der Gesundtheit. Ffm. 1544. – Die groß Chirurgei. Ffm. 1545. – Lustgarten der Gesundtheit. Ffm. 1546. – Beschreibung der [...] Bereyttung vnd ge-
Rys brauch/ inn speyß vnd dranck. Würzb. 1549. – Newe [...] Baden fart. Ebd. 1549. – Reformierte Deütsche Apoteck. Straßb. 1573. Literatur: Bibliografie: Josef Benzing: W. H. R. u. sein literar. Werk. In: Philobiblon 2 (1958), S. 126–154, 203–226. – Weitere Titel: Friedrich Wilhelm Emil Roth: Hieronymus Brunschwyg u. W. R., zwei dt. Botaniker des XVI. Jh. In: Ztschr. für Naturwiss. 75 (1902), S. 102–123, hier S. 113–120. – John Ferguson: Bibliotheca Chemica. Bd. 2, Glasgow 1906, S. 306–308. – Heinrich Röttinger: Die Holzschnitte zur Architektur u. zum Vitruvius Teutsch des Walther Rivius. Straßb. 1914. – LeRoy Crummer: Early Anatomical Fugitive Sheets. In: Annals of Medical History 5 (1923), S. 189–209. 7 (1925), S. 1–5. – Arnold Pfister: Die zehn anatom. Tafeln des W. H. R. Basel 1954 (Beilage zur Faks.Ausg. v. R.s Omnium humani corporis partium descriptio. Straßb. 1541). – Gerhard Harig: W. H. R. u. Nicolo Tartaglia. Ein Beitr. zur Entwicklung der Dynamik im 16. Jh. (1958). In: Ders.: Physik u. Renaissance. Lpz. 1981, S. 13–36. – Robert Herrlinger: Gesch. der medizin. Abbildung. Bd. 1, Mchn. 1967, s. v. – Ellen Cockx-Indestege: A hitherto unknown edition of W. H. R.’s ›Tabulae decem‹, Antwerp, Cornelis Bos, c. 1542. In: Quaerendo 6 (1976), S. 16–27. – Carl Lüdtke: W. H. R. In: Dt. Apotheker-Biogr. Hg. Wolfgang-Hagen Hein u. Holm-Dietmar Schwarz. Bd. 2, Stgt. 1978, S. 551 f. – Ludger Grenzmann: Traumbuch Artemidori. Zur Tradition der ersten Übers. ins Dt. durch W. H. R. Baden-Baden 1980. – Katalin Rákósczi: Die Widerspiegelung der humanistisch-reformator. Tendenzen der Medizin im populärwiss. Werk v. W. H. R. In: Orvostörténeti Közlemények 28 (1982), S. 9–37. – Dies.: W. H. R.s populärwiss. Tätigkeit. Diss. Budapest 1983 (Mschr.). – Dies.: W. H. R.s charakterist. Stilmittel. Ein Vergleich mit H. Brunschwyg, H. Gersdorf u. O. Brunfels. In: Orvostörténeti Közlemények 30 (1984), S. 79–88. – Joachim Telle: W. H. R. In: Bibliotheca Palatina. Hg. Elmar Mittler. Heidelb. 1986, S. 243, 327 f., 336–338. – Francisca Loetz: W. H. R. In: Ärztelexikon. Von der Antike bis zum 20. Jh. Hg. Wolfgang U. Eckart u. Christoph Gradmann. Mchn. 1995, S. 314 f. – Mechthild Habermann: Dt. Fachtexte der frühen Neuzeit. Naturkundlich-medizin. Wissensvermittlung im Spannungsfeld v. Latein u. Volkssprache. Bln. 2001, s. v. – Ralf Vollmuth: Traumatologie u. Feldchirurgie an der Wende vom MA zur Neuzeit. Exemplarisch dargestellt anhand der ›Großen Chirurgie‹ des W. H. R. Stgt. 2001. – Michael Gnehm: R.s Scholien zu Vergil. In: Scholion 1 (2002), S. 69–87. – Jaumann Hdb., Bd. 1, S. 571 f. – R. Vollmuth: Originalität u. Wirkungs-
126 stärke als Kriterien histor. Wertigkeit. Dargestellt am Beispiel W. H. R.s. In: Fachprosaforschung – Grenzüberschreitungen 1 (2005), S. 11–23. – Gundolf Keil: W. H. R. In: NDB. – Julian Jachmann: Die Architekturbücher des W. H. R. Vitruvrezeption im Kontext mathemat. Wiss.en. Stgt. 2006. – DBE. – Ralf Vollmuth: W. H. R. In: Enzyklopädie Medizingesch. Hg. Werner E. Gerabek u. a. Bd. 3, Bln. 2007, S. 1277. Joachim Telle
Rys, Jan, eigentl.: Marcel Nerlich, * 22.7. 1931 Mährisch-Ostrau/CˇSR, † 22.11.1986 Unterrabnitz/Burgenland; Grabstätte: ebd. – Hörspielautor. R. besuchte dt. u. tschech. Gymnasien, verzichtete aber auf das Abitur. 1948 wanderte er illegal nach Wien aus u. ging 1949 in die BR Deutschland. Hier lernte er Kurt Miethke, dem er sein literar. »Handwerkszeug« verdankte, u. den »Hörspielpapst« Heinz Schwitzke kennen. Das Hörspiel Grenzgänger (in: Hörspiele. Ffm. 1961) verhalf ihm 1960 – nach Funk-Features wie Das Verhör von Prag (1958), Die verpaßte Chance (1959), Moorlegende (1959) – zum Durchbruch als Hörspielautor. Bereits hier entwickelt er sein Hauptthema: die Geworfenheit des Menschen in die Welt, seine Heimatlosigkeit u. die Sehnsucht, nach einem Urort zurückzukehren. Eine wichtige Rolle für sein Werk spielten die eigenen Fluchterfahrungen, der ungarische Aufstand 1956, der Vietnamkrieg u. die Niederschlagung des Prager Frühlings. R. war stark von frz. Existentialismus, von Eich, Hildesheimer, Beckett u. Ionesco beeinflusst u. an der slaw. Tradition des Absurden/Surrealen orientiert. Im Hörspiel sah er ein Feld für Experimente mit der Ambivalenz der Sprache u. verschiedenen Wirklichkeitsebenen. Von seinen etwa 50 Hörspielen (darunter: 53 Schritte. In: Hörspielbuch 1960. NDR 1961. Ffm. 1960. Franta. BR 1965. Liebesspiel. Radio Bremen 1965. Das Nannerl oder Das erlauchte Haus. WDR 1971) verarbeitete er einige zu Theaterstücken u. Fernsehspielen. R. hatte zeitweilig Kontakt zur Gruppe 47. In der engagierten Literatur der 1960er Jahre sah er eine »ungute« Entwicklung, die ihn an die polit. Literatur des tschechoslowak. Sozialismus erinnerte, während er sein eigenes Werk als
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Partisanenliteratur verstand. Seit den 1960er Jahren verfasste er auch Gedichte u. Aphorismen, die sog. Maghrebinischen Sprüche, die aber ungedruckt blieben. 1970 fand R. eine Heimat im burgenländ. Unterrabnitz, wo er ab 1971 das von ihm ins Leben gerufene Internationale Hörspielzentrum mit dem Hörspielpreis Slábbész führte. Weitere Werke: Pfade im Dickicht. Bad Godesberg 1955 (R.). – Hörspiele: Die Toten dürfen
Rys nicht sterben. SDR/HR/RB 1961. In: Hörspielbuch 1961. Ffm. 1962, S. 97–131. – Vertreibung. In: wdr Hörspielbuch 1965. Köln 1965, S. 49–85. Literatur: Horst-Walter Krautkrämer: Das dt. Hörspiel 1945–1961. Grundthemen, künstler. Struktur u. soziolog. Funktion. Diss. Heidelberg 1962, S. 48 f. – Heinz Schwitzke: Das Hörspiel. Dramaturgie u. Gesch. Köln/Bln. 1963, S. 370 f. – Ders. (Hg.): Reclams Hörspielführer. Stgt. 1969, S. 515–524. Gabriele Gockel / Red.
S Saalfeld, (Amalie Marie) Martha, eigentl.: M. vom Scheidt-Saalfeld, * 15.1.1898 Landau, † 14.3.1976 Bad Bergzabern/ Rheinpfalz. – Lyrikerin, Epikerin, Dramatikerin. Die zeit ihres Lebens eng mit ihrer pfälz. Heimat verbundene S. wuchs in Landau auf u. studierte in Heidelberg Philosophie u. Kunstgeschichte (später Pharmazie). 1928 heiratete sie den Maler u. Grafiker Werner vom Scheidt, der viele ihrer Bücher illustrierte. NS-Regime u. Krieg überlebte die Dichterin, die zwischen 1933 u. 1945 nicht veröffentlichen durfte, als Apothekerin in Worms, Düsseldorf u. Babenhausen. Während des Kriegs ausgebombt, lebte u. arbeitete S. nach 1945 in bescheidenen materiellen Verhältnissen bis zu ihrem Tod in Bergzabern. Über eine viel beschworene »Stunde Null« hinweg markiert S.s Werk eine deutl. Kontinuität innerhalb der dt. Literatur zwischen den Republiken von Weimar u. Bonn. Sie debütierte mit einer Sammlung von Sonetten, die, vermittelt durch Binding, 1925 in der »Neuen Rundschau« erschien (Der unendliche Weg. Bln. 1934). Neben Naturgedichten verfasste S., die dem Kreis der Naturlyriker um die u. a. von Martin Raschke herausgegebene Zeitschrift »Die Kolonne« (1929–32) nahestand, 1932 zwei Dramen, von denen die Tragikomödie Beweis für Kleber am 13.5.1932 mit großem Erfolg vom Nationaltheater Mannheim uraufgeführt wurde. Nach dem Krieg schrieb die mehrfach mit Preisen ausgezeichnete S. weiterhin Naturlyrik, wandte sich aber auch der Prosa zu. In dem Roman Pan ging vorüber (Mchn. 1954), der wie viele Romane S.s ein junges Mädchen zur Heldin hat, kehrt die Protagonistin Bettina nach dem
Krieg in das Haus ihrer Kindheit zurück. In der ästhetischen Form eines magischen Realismus, der Sachlichkeit u. Wunder auf paradoxe Weise vereint, gestaltet S. die Natur – hier ein zum Haus gehörender verwunschener Garten als ein Idyll bes. Art: eine in sich harmonische, zauberhafte, aber heillose Welt, in der Leben u. Sterben gleichgültig nebeneinander stehen. S.s präzis geformte, böse Naturidyllen stehen in der Tradition von Stifter, Alain-Fournier, Jean Giono u. Wilhelm Lehmann. Im Roman Judengasse (ebd. 1965) u. der (selbstständigen) Fortsetzung Isi oder die Gerechtigkeit (ebd. 1970) verlässt S. die Naturthematik u. behandelt die Tragödie der Judenverfolgung. Weitere Werke: Gedichte. Bln. 1931. – Staub aus der Sahara. Bln. 1932 (Schausp.). – Dt. Landschaft. Düsseld. 1946 (L.). – Das süße Gras. Söcking 1947 (Kurzgesch.). – Idyll in Babensham. Düsseld. 1947 (E.en). – Der Wald. Mchn. 1949 (R.). – Anna Morgana. Ebd. 1956 (R.). – Herbstmond. Ebd. 1958 (Gedichtslg.). – Mann im Mond. Ebd. 1961 (R.). – Gedichte u. Erzählungen. Heidelb. 1973. – Die Gedichte. Mit einem autobiogr. Beitr. v. Werner vom Scheidt. Blieskastel 1998. Literatur: Heidrun Ehrke-Rotermund: ›Nun find ich mich in diesem bitterbösen Märchen wieder ...‹. Zu den Zeitromanen der Rheinpfälzerin M. S. In: Bl. der Carl-Zuckmayer-Gesellsch. 11 (1985), S. 5–22. – M. S. Dokumente u. Materialien. Hg. Wolfgang Diehl. Literar. Verein der Pfalz. Landau 1986. – Michael Scheffel: Magischer Realismus. Die Gesch. eines Begriffes u. ein Versuch seiner Bestimmung. Tüb. 1990. – Wolfgang Diehl: Hommage für M. S. zum 100. Geburtstag. Ausstellung ihrer Bücher, Briefe, Dokumente, Illustrationen mit Kunstausstellung. Landau 1998 (Kat.). – Ders.: M. S. In: NDB. Michael Scheffel / Red.
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Saalmann, Günter, * 29.6.1936 Waldbröl/ Bergisches Land. – Kinderbuchautor, Erzähler u. Lyriker; Musiker.
Saar Literatur: Reimar Deenhardt: Wer ist G. S.? In: Beiträge zur Kinder- u. Jugendbuchlit., H. 45 (1977), S. 11–17. – Fred Rodrian: Über G. S. In: Ders.: Für den Tag geschrieben. Notizen, Reden, Auskünfte. Hg. Marianne Konzag. Bln. 1985, S. 138–142. – Claudia Rouvel: Umberto bricht ein. In: DDR-Lit. ’87 im Gespräch. Hg. Siegfried Rönisch. Bln./Weimar 1988, S. 327–335. – Gabriele Barbey-Sahli: Doch, Dichter gibt es noch. In: Jugendlit. Ztschr. des Schweizer. Bundes für Jugendlit. (1992), H. 3, S. 17–21. – KJL.
S. studierte drei Jahre in Leipzig Slawistik u. wurde 1958 exmatrikuliert. Nach Tätigkeiten als Straßenbahnschaffner u. Materialverbrauchsnormhilfssachbearbeiter arbeitete er in der Werbung u. als Tanz- u. Jazzmusiker (Posaune). Für seine Jazzband »Praxis II« u. für einen Kinderchor schrieb er Schlager- u. Carola Samlowsky / Red. Liedtexte. 1973–1976 studierte er am Literaturinstitut in Leipzig. Seitdem ist er freier Saar, Ferdinand (Ludwig Adam) von, Schriftsteller u. lebt in Chemnitz. S. schrieb zunächst Bilderbuchtexte u. Ge- * 30.9.1833 Wien, † 24.7.1906 Wiendichte für Kinder (Die Ballade vom Hahnenkran. Döbling; Grabstätte: ebd. – Erzähler, Lyriker, Dramatiker, Epiker. Bln./DDR 1977), die bei der DDR-Kritik viel Zustimmung fanden. Er orientierte sich da- S. entstammte einer geadelten Beamtenfabei an der Tradition des Volkslieds sowie an milie. Sein Vater, zuletzt Geschäftsführer eiRingelnatz u. Morgenstern. Mit Streit um nes industriellen Unternehmens, starb nur Legohr (ebd. 1981) folgte eine Tiergeschichte, wenige Monate nach S.s Geburt; die Mutter deren Rahmenerzählung die Diskrepanz von kehrte mit ihm in ihr Vaterhaus zurück, wo Fiktion u. Realität in der Literatur beleuchtet. sie ein materiell bescheidenes u. zurückgeIn der längeren, mehrere Erzählstränge par- zogenes Leben führte u. S. zusammen mit allel führenden u. von Rückblenden unter- seinem Vetter, dem späteren Maler August brochenen Geschichte Das Vorbild mit dem Pettenkofen, erzogen wurde. In Wien beSchnauzebart (ebd. 1978) sucht S. Kindern die suchte er die Volksschule des Waisenhauses u. Persönlichkeit Hermann Dunckers nahezu- die Stadtschule der Schotten, seit 1843 deren Gymnasium. Noch als Gymnasiast erlebte er bringen. Der Roman Umberto (ebd. 1987. Bln. 1989) 1848 die Revolution. Sein Vormund beerregte wegen der Darstellung »asozialer stimmte ihn, obwohl S. als Adliger militärfrei Verhältnisse« im Sozialismus zunächst au- war, zum Beruf des Soldaten. So trat er 1849 ßerhalb der DDR Aufsehen u. wurde 1989 als Kadett in das kaiserl. Heer ein. Erst 1854 mit dem Kunstpreis der FDJ u. dem Gorki- zum Leutnant befördert, blieb S. bei Preis ausgezeichnet. Umberto schildert das schmalstem Sold u. ohne fördernde Beziehungen bis 1860 beim Militär u. nahm dann Schicksal eines Jungen, der mangels häusl. u. seinen Abschied, um als freier Dichter zu legesellschaftl. Fürsorge im Erziehungsheim ben. Die folgenden Jahre gehörten zum landet. Fernes Land Pa-isch (Mchn. 1994. VerSchwersten, was S. erlebte: Gläubiger verfilmt 2000, Regie: Rainer Simon) erzählt vom folgten ihn ständig wegen kleiner Schulden Schicksal des nunmehr 16-jährigen Umberto. aus der Militärzeit u. brachten ihn wiederholt Weitere Werke: Frank ist krank. Bln./DDR in Haft. Das Drama Der Borromäer (u. d. T. 1976. – Mutti, schau aus dem Fenster! Ebd. 1976. – Tempesta. Heidelb. 1881), das S. während seiEin Rucksack voll Ukraine. Ebd. 1986. – Am Katner Militärzeit geschrieben hatte, wurde vom zentisch. Mit Bildern v. Dietrich Lange. Würzb. Burgtheater zurückgewiesen; Schreibhem1991. – Zu keinem ein Wort. Ein Kriminalfall. Bln. 1993. – Der Räuber mit den großen Koffern. Ebd. mungen verhinderten eine rasche Produkti1994. – Stärker als mein Nachbar. Kindergesch.n on, mit der S. sich dem Publikum bald hätte für (Groß)Eltern. Chemnitz 1996. – Ich bin der bekannt machen oder Geld durch journalisKing. Ravensburg 1997. – Leselöwen. Lehrer- tische Arbeiten hätte verdienen können. In gesch.n. Zeichnungen v. Ralf Butschkow. Bindlach diesen »bösen Jahren« (so auch ein Gedichttitel) entstanden die Doppeltragödie Kaiser 2000.
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Heinrich IV. (Hildebrand. Ebd. 1865. Heinrichs Tod. Ebd. 1867) u. die Novelle Innocens (ebd. 1866); das Drama Thassilo sollte er allerdings erst 20 Jahre später zum Abschluss bringen (ebd. 1886). Aus der Zeit um 1868 liegen erste Zeugnisse vor, dass S. an seiner zweiten Novelle, Marianne (ebd. 1873), arbeitete. Trotz bereichernder persönl. Kontakte zu geistesverwandten Dichtern wie Hamerling u. Milow u. zur Wiener Gesellschaft spitzte sich seine finanzielle Situation immer mehr zu. Da kam Hilfe von unerwarteter Seite: Josephine von Wertheimstein half S. im Herbst 1871 mit einer großzügigen Geldzuwendung u. befreite ihn damit aus drückendster Not. Zugleich erschlossen sich ihm durch ihre Bekanntschaft die wohlhabenden u. kunstliebenden jüd. Salons von Wien. Eine zweite bedeutende Gönnerin S.s war Altgräfin Elisabeth Salm-Reifferscheidt. Seine 1881 mit ihrer Gesellschafterin Melanie Lederer geschlossene Ehe endete 1884 mit deren Freitod. In der Folgezeit wurden pessimistische u. melanchol. Phasen häufiger, obwohl S.s Lebenswerk nach u. nach sichtbar wurde: Nach dem Erscheinen der ersten Ausgabe der Novellen aus Österreich (Heidelb. 1877) folgten eine Gedichtsammlung (Gedichte. Ebd. 1822. 2., vermehrte Aufl. 1888), die Novellensammlungen Schicksale (ebd. 1889) u. Frauenbilder (ebd. 1892) sowie sein größter lyr. Erfolg, die Wiener Elegien (ebd. 1893). Zu diesen, wenn auch immer bescheidenen u. sich kaum auszahlenden literar. Erfolgen kam in steigendem Maße die Anerkennung von außen: 1890 wurde S. der Franz-Joseph-Orden verliehen, der 60. Geburtstag – wie auch später der 70. – wurde von alten Weggefährten u. von Vertretern des »Jungen Wien« gleichermaßen zum Anlass genommen, S. öffentl. zu ehren. In dem Festblatt (Hg. Victor FelgelFeldegg u. Arthur Hammer. Wien 1893) sind u. a. Bahr, Hofmannsthal, Schnitzler u. Müller-Guttenbrunn mit Beiträgen vertreten. S.s letzte Jahre wurden zunehmend durch Krankheit u. Klagen über den mangelnden Absatz seiner Werke sowie seine Erfolglosigkeit als Dramatiker verdüstert. Auch seine Berufung ins Herrenhaus 1902 u. die Verleihung eines Jahresgehalts brachten keine stimmungsmäßige Wende. Seine Gesundheit
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wurde durch ein chron. Leiden immer stärker angegriffen. Von den wenigen Publikationen dieser Zeit tragen v. a. die vier Novellen seiner letzten Sammlung Tragik des Lebens (Wien/ Lpz. 1906) bereits das Zeichen des nahen Todes. Ohne Aussicht auf Heilung nahm sich S. 1906 das Leben. S.s Stellung in der Literatur des 19. Jh. lässt sich am besten durch seinen Ausspruch »Ich bin halt der Übergang zu Euch« charakterisieren. In diesen Worten kommt deutlich zum Ausdruck, dass er sich mit seinem Werk als Bindeglied zwischen den Ausläufern der Klassik (Stifter, Grillparzer) u. der österr. Moderne (Schnitzler, Hofmannsthal) empfand. Wenn S. auch zeitlebens glaubte, v. a. Dramatiker zu sein, so ist doch sein erzählerisches Werk sein eigentlich bedeutendes dichterisches Vermächtnis. Die Novellen aus Österreich, zu denen er alle seine Novellen zählte, zeichnen sich durch eine präzise Darstellung von Geschehnissen u. Örtlichkeiten aus, die nicht selten mit S.s Leben in Verbindung gebracht werden können. So nennt er viele Straßen, Plätze u. Häuser Wiens u. entwirft dadurch ein lebendiges Bild der Stadt in der franzisko-josephin. Epoche. Aber auch die Schlösser seiner Gönner in Mähren (Blansko, Habrovan), niederösterr. u. steiermärk. Lokalitäten beschreibt er so genau, dass sie noch heute identifizierbar sind. Zugleich gilt S. zu Recht als der Schilderer fast aller gesellschaftl. Schichten der Donaumonarchie. Ob es das Militär (z. B. in Vae victis!), die Theater- u. Künstlerwelt (Die Geigerin, Geschichte eines Wiener Kindes), die Arbeiterschaft (Die Familie Worel, Die Steinklopfer), das Judentum (Seligmann Hirsch), Beamtenschaft u. Kleinbürgertum (Marianne, Die Parzen, Die Heirat des Herrn Stäudl), der Adel (Schloß Kostenitz) oder aber soziale Randgruppen sind (Die Troglodytin), immer ist seine Darstellung kenntnisreich u. menschlich mitfühlend. In diesen sozialen Porträts wird die kulturelle Wandlung deutlich, die sich im 19. Jh. durch die wirtschaftl. u. polit. Veränderungen vollzog. Zugleich erreicht S. in der poetischen Verarbeitung der verschiedenen Charaktere u. Typen eine psycholog. Dichte u. dichterische Wahrscheinlichkeit, durch die allein er als einer der großen Realisten gelten darf. Mit
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seinen erzähltechnischen Neuerungen, v. a. der Verschachtelung des Erzählens durch Rahmen- u. Binnenerzähler, die den subjektiven Standpunkt u. den Perspektivismus betont, antizipierte er die Subjektivierung des Erzählens in der Wiener Moderne. Die Leistung S.s, der sich selbst als »österreichischen Porträtisten« sah, beruht jedoch nicht ausschließlich auf der historisch-sozialen u. psycholog. Darstellung. Sie bildet vielmehr die – allerdings notwendige – Grundlage für seine eigentl. poetische Aussage. S. versteht es meisterhaft, in dieses Raster eine Vielzahl struktureller, symbolischer u. intertextueller Bezüge einzubinden, durch welche die Novellen einen tieferen Sinngehalt gewinnen. So deutet er etwa in Innocens den Verzicht des Protagonisten als eine »säkularisierte Glaubenslehre vom Sieg des alten über den neuen Adam« als »den Mythos vom verlorenen und wiedergefundenen Paradies« (Stüben). In Marianne stellt er hinter der Fabel einer unglückl. Liebe den Mythos vom Sündenfall dar. Indem aber die Briefnovelle ganz nach Goethes Leiden des jungen Werthers komponiert ist, wird auch die Unhintergehbarkeit der Moderne u. der Verlust an Erlebnisintensität reflektiert. In Die Geigerin verarbeitet S. bes. eindrücklich Schopenhauers Philosophie zu einer verdichteten Menschheitsgeschichte. Die Novelle Seligmann Hirsch, vordergründig ein Beispiel für den Prozess der jüd. Assimilierung, wird zu einer als Drama gestalteten Vorahnung des Zusammenbruchs der k. u. k. Monarchie. Gesellschaftskritik wird aber von S. nie um ihrer selbst willen eingesetzt, sondern stets in Verbindung mit den poetischen Mitteln u. einer Reihe von Bezügen zu anderen Künsten, so dass S.s Novellen eine reizvolle u. vielschichtige Spielart des »poetischen Realismus« sind. Die sechs Dramen S.s haben dagegen kaum nennenswerte Wirkung gezeitigt. Es ist dies seiner Tendenz zuzuschreiben, an einem schon zu seiner Zeit überholten Dramenideal festzuhalten. Praktiker wie etwa Dingelstedt u. Kenner wie Marie zu Hohenlohe haben die den Stoffen angemessene u. historisch fundierte Gestaltung S.s anerkannt, aber gleichzeitig die wenig griffige Handlungsführung
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herausgestellt; Grillparzer kleidete sie in die treffende Bemerkung: »wo [Saar] historisch sein soll, wird er poetisch und wo er poetisch sein soll, wird er historisch.« Doch hat sich Hofmannsthal das Künstlerdrama Tempesta zum Vorbild seiner ersten dramatischen »Studie« Gestern (Lpz./Wien 1891, unter dem Pseud. Theophil Morren) genommen: Die »Zeit der großen Maler«, zu der Hofmannsthal sein Stück spielen lässt, widerruft selbstbewusst die resignative Einsicht eines Epigonen, wie sie S.s Titelheld Pieter Mulier alias Tempesta äußert: »Die Zeit der großen Maler [...] ist vorüber«. In seiner Lyrik knüpft S. an ältere Vorbilder an, kommt jedoch zu einem ganz eigenen lyr. Ausdruck. Persönlich Erlebtes wird in knappe, treffende Stimmungsbilder gegossen, die ihre Wirkung kaum je verfehlt haben (manche Gedichte finden sich bis heute in Lesebüchern u. Anthologien). Auch hier ist S. der Chronist einer Epoche, deren soziale u. ästhetische Strömungen er in verdichteter Form widerspiegelt. Besonders in den Wiener Elegien hat er eine formal, sprachlich u. symbolisch dichte Formel für Pessimismus u. Hoffnung, trauernden Rückblick u. zweifelnde Ahnung gefunden. S. registriert die Veränderungen der »Moderne« (vgl. IX. Elegie) im ›Noch‹ und ›Nicht mehr‹ des Übergangs ähnlich wie Baudelaires Tableaux parisiennes die Modernisierung der Großstadt poetisch zu fassen versuchen. Die feste Form u. Tradition werden bei S. zu Gegenkräften der Moderne, wie paradigmatisch das Liebesgedicht Elisabeth zeigt, das eine Liebesbeziehung durch eine visionäre Retrospektive (»Wir sehen nur, wie sehr wir uns geliebt!«) nach Klopstocks An Fanny beglaubigt. In der epischen Idylle Hermann und Dorothea (Kassel 1902) transponiert S. Goethes gleichnamiges Epos in eine von Nationalitätenstreit und polit. Spannungen geprägte Moderne, die mit der glückl. Lösung kontrastiert. Andererseits zeigt sein madrigalisches Gedicht Ver sacrum (in: Ver Sacrum 1, 1898), das die »Kunst« preist, die »in stillen, / Geheimnisvoll umzirkten Zaubergärten / Blüht« u. das zum Programmgedicht der Secession wurde, S.s Affinität zu Moderne u. Ästhetizismus.
Saar Weitere Werke: Die beiden de Witt. Heidelb. 1875 (Trauersp.). – Eine Wohlthat. Ebd. 1887 (Volksdrama). – Nachklänge. Neue Gedichte u. N.n. Ebd. 1899. – Camera obscura. Fünf Gesch.n. Ebd. 1901. – Ausgaben: Sämtl. Werke in 12 Bdn. Hg. Jakob Minor. Lpz. o. J. [1908]. – F. v. S. Krit. Texte u. Deutungen. Hg. Karl Konrad Polheim. Bonn, später Tüb., dann Bln./New York 1980 ff. Bd. 1: Marianne. Hg. Regine Kopp. Bd. 2: Die Geigerin. Hg. Heinz Gierlich. Bd. 3: Seligmann Hirsch. Hg. Detlef Haberland. Bd. 4: Innocens. Hg. Jens Stüben. Bd. 5: Herr Fridolin u. sein Glück. Hg. Lydia Beate Kaiser. Bd. 6: Ginevra. Hg. Stefan Schröder u. K. K. Polheim. Bd. 7: Leutnant Burda. Hg. Veronika Kribs. Bd. 8: Hymnen. Hg. Nikolaus Nowak. – Briefe: Fürstin Marie zu Hohenlohe u. F. v. S. Ein Briefw. Hg. Anton Bettelheim. Wien 1910. – Briefw. zwischen F. v. S. u. Marie v. EbnerEschenbach. Hg. Heinz Kindermann. Ebd. 1957. – Briefw. mit Abraham Altmann. Hg. Jean Charue. Bonn 1984 (1. Erg.-Bd. zu ›F. v. S. Krit. Texte u. Deutungen‹). Literatur: Bibliografie: Hadwig Kretzschmar: F. v. S. Eine Zusammenstellung der seit seinem Tod erschienenen Ausg.n seiner Schr.en u. der Lit. über ihn u. sein Werk. Köln 1965. – Weitere Titel: Jakob Minor: F. v. S. Lpz./Wien 1898. – Max Morold: F. v. S. Lpz. 1909. – Hermann Leicht: F. v. S. als Novellist. Mchn. 1923. – Clara Kinscherf: Die Technik der Novellendichtung bei F. v. S. Mchn. 1925. – Wolfgang Kroeber: F. v. S.s ›Novellen aus Österreich‹. Bückeburg 1934. – Helene Saenze: Soziale Probleme bei F. v. S. Wien 1934. – Walter Feiner: F. v. S. im Verhältnis zu den geistigen, kultur., gesellschaftl. u. polit. Problemen seiner Zeit. Wien 1936. – Robert Müller: Die Charaktertypen in den ›Novellen aus Österreich‹ v. F. v. S. Innsbr. 1952. – Hans-Günther Prescher: Das Problem der literar. Gattungen bei F. v. S. Marburg 1954. – Claudio Magris: F. v. S. u. die Würde des Untergangs. In: Ders.: Der habsburg. Mythos in der österr. Lit. Salzb. 1966, S. 191–202. – Jean Charue: F. v. S. Écrivain autrichien. Paris 1976. – Burkhard Bittrich (Hg.): Die Anfänge der sozialen Erzählung in Österr. Ebd. 1979. – Detlef Haberland: F. v. S. u. das Judentum. In: FS Hanno Beck. Bonn 1983, S. 17–52. – Roman Rocek: F. v. S. Zeitkritik aus trag. Lebensgefühl. In: LuK 18 (1983), H. 179/180, S. 531–542. – Edward M. V. Plater: F. v. S.s ›Innocens‹: ›Ein Werk anordnender Absichtlichkeit‹. In: GR 58 (1983), S. 49–57. – Ders.: F. v. S.s ›Schloß Kostenitz‹. In: MAL 16 (1983), H. 2, S. 18–35. – Karl Konrad Polheim (Hg.): F.v. S. Ein Wegbereiter der literar. Moderne. Bonn 1985. – Wolfgang Müller-Funk: Das Verschwinden der Gegenwart.
132 Interpretator. Überlegungen zur Traurigkeit des Glücks im Erzählwerk F. v. S.s. In: Sprachkunst 58 (1986), S. 1–22. – Alfred Riemen: ›Schloß Kostenitz‹ u. sein Erzähler. In: Euph. 82 (1988), S. 25–50. – Achim Aurnhammer: ›Zur Zeit der großen Maler‹. Der Renaissancismus im Frühwerk Hugo v. Hofmannsthals. In: Il Rinascimento nell’Ottocento in Italia e Germania. Hg. August Buck u. Cesare Vasoli. Bologna 1989, S. 231–260. – Herbert Klauser: Ein Poet aus Österr. F. v. S. – Leben u. Werk. Wien 1990. – Kurt Bergel (Hg.): F. v. S. Zehn Studien. Riverside 1995. – Mandane Manko: Figurenu. Konfliktdarstellung bei Friedrich Spielhagen, Theodor Fontane, F. v. S., Eduard v. Keyserling. Hbg. 1995. – Ernst Kobau: ›Rastlos zieht die Flucht der Jahre ...‹. Josefine u. Franziska v. Wertheimstein u. F. v. S. Wien 1997. – Regina Fasold: F. v. S.s Novelle ›Leutnant Burda‹ im Kreuzungspunkt des Diskurses über Traum, Wahn, Sexualität u. Dichtung 1885/1887 in Wien. In: Literar. Leben in Österr. Hg. Klaus Amann. Wien/Köln/Weimar 2000, S. 690–704. – Klaus Heydemann: Nach bewährtem Muster: F. v. S.: ›Hermann u. Dorothea‹. In: Goethe in Olmütz 2000. Hg. Ingeborg FialaFürst. Olomouc 2000, S. 93–110. – H. Klauser: Thematik, Weltanschauung, Form u. literar. Gestaltung in den Werken F. v. S.s. In: Orbis linguarum 16 (2000), S. 19–34. – Monika Ritzer: Weltlauf u. Schicksal. Spätrealismus im Drama F.v. S.s. In: ebd., S. 672–689. – Karl Wagner: Schaulust, Hysterie u. Lit. vor Freud: F. v. S.s Novelle ›Geschichte eines Wienerkindes‹. In: Hysterie. Hg. Wiener Psychoanalytische Vereinigung. Wien 2003, S. 52–63. – Werner M. Bauer: Anthropomorphismus u. Säkularisation. Zu den Tiergesch.n F. v. S.s u. Marie v. Ebner-Eschenbachs. In: Ders.: Aus dem Windschatten. Studien u. Aufsätze zur Gesch. der Lit. in Österr. Innsbr. 2004, S. 263–285. – J. Stüben: Die hist.-krit. Ausg. Ausgew. Werke u. Briefe v. F. v. . S.: Konzeption u. Editionsgrundsatze. In: Sichtungen 8 (2005), S. 132–141. – Giselheid Wagner: Harmoniezwang u. Verstörung. Voyeurismus, Weiblichkeit u. Stadt bei F. v. S. Tüb. 2005. – K. Wagner: F. v. S. In: NDB. – Michael Boehringer (Hg.): F. v. S. Richtungen der Forschung. Directions in Research. Gedenkschr. zum 100. Todestag. Wien 2006. – Ders.: Der Dichter des Übergangs. F. v. S. In: Praesent. Das österr. Literaturjahrbuch 2006, S. 23–31. – Evelyne Polt-Heinzl: F. v. S. zum 100. Todestag am 24. Juli 2006. In: LuK 41 (2006), H. 405/406, S. 19–24. Detlef Haberland / Achim Aurnhammer
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Sabais, Heinz Winfried, * 1.4.1922 Bres- Sabinus, Georg, eigentl.: Schuler, * 23.4. lau, † 11.3.1981 Darmstadt. – Lyriker, 1508 Brandenburg/Havel, † 2.12.1560 Essayist. Frankfurt/O.; Grabstätte: ebd., Marienkirche. – Gründungsrektor der UniversiDer Breslauer Arbeitersohn legte 1940 das tät Königsberg, neulateinischer Dichter, Begabtenabitur ab u. nahm als Luftwaffenfürstlicher Rat. angehöriger am Zweiten Weltkrieg teil. Nach dem Krieg begann er als Redakteur bei der »Thüringischen Landeszeitung« in Rudolstadt, avancierte zum Chefredakteur des Greifen-Verlags u. war gleichzeitig Stadtverordneter. S.’ Hauptwerk, Götter, Kaiser, Diktatoren (Mchn. 1965), ist ein Buch über die Geschichte polit. Macht. Seine erste Veröffentlichung war der hymn. Gedichtband Und über allem sei Liebe (Rudolstadt 1946). S. war 1947 Cheflektor des Kiepenheuer Verlags in Weimar, dann Organisator des Goethe-Jahres 1949. Mitglied sozialdemokratischer Widerstandsgruppen, floh er 1950 in die BR Deutschland u. war zunächst freier Journalist in West-Berlin. 1951 wurde er Redakteur der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt. Nach 1954 machte S. eine kommunalpolit. Karriere – Kulturreferent Darmstadts, 1963 Dezernent für Schulen u. Kultur, 1971 Oberbürgermeister –, die seine schriftstellerische Arbeit zunehmend in den Hintergrund drängte.
Weitere Werke: Looping über dem Abendland. Darmst. 1956 (L.). – Linker Hand. Ebd. 1968 (ges. Reden). – Darmstädter Ansichten. Ansprachen u. Aufsätze. Ebd. 1972. – Selbst oder Saxifraga. Lyr. Memorial. St. Michael 1981. – Fazit. Gedichte u. Prosa. Mit einem Vorw. v. Karl Krolow. Darmst. 1982. – Thomas Mann u. H. W. S. Begegnungen u. Korrespondenzen. Hg. im Auftrag des Magistrats der Stadt Darmstadt, Presse- u. Informationsamt. Darmst. 1999. Literatur: H. W. S. zum Gedächtnis. 1922–81. Darmst. 1981. – Yorck Alexander Haase: Poet u. Politiker. Eine Hommage an den früheren Oberbürgermeister H. W. S. In: Hessen in der Gesch. Hg. Christof Dipper. Darmst. 1996, S. 515–521. Jürgen Diesner / Red.
S. stammte aus einer angesehenen Familie: Sein Vater Balthasar u. sein Bruder Andreas waren Bürgermeister der Altstadt Brandenburg; S.’ Nichte Anna heiratete 1576 den märk. Theologen u. Chronisten Zacharias Garcaeus. Nach erstem Unterricht in seiner Heimatstadt ging S. von 1523/24 bis 1533 in Wittenberg einem Jura- u. Philologiestudium nach, über dessen Verlauf die Überlieferung weitgehend schweigt. Ungewiss ist, ob er hier oder anderswo den akadem. Titel eines Doktors des kanonischen u. kaiserl. Rechts erwarb. S. wohnte während des Studiums bei seinem akadem. Lehrer u. späteren Schwiegervater Philipp Melanchthon. Erste Lorbeeren erwarb er durch Elegien über Kaiser Karl. V. u. den Augsburger Reichstag 1530, den er gemeinsam mit Melanchthon besucht hatte. Das dortige polit. Umfeld nutzend, trat er alsbald in die Dienste der zollerischen Fürsten, denen er zeitlebens fest verbunden blieb. Zu seinen Förderern zählten die Brüder Kurfürst Joachim I. von Brandenburg u. Kardinal Albrecht, Herzog Albrecht von Preußen, mit dem S. sich zeitweise überwarf, u. Kurfürst Joachim II. von Brandenburg. In zahlreichen Gedichten setzte er ihnen ein bleibendes Denkmal; ein Panegyrikus (Lobgedicht) auf den allerdings wenig erfolgreichen Türkenfeldzug Joachims II. (1533 publiziert), in dem der Kurfürst als ein vorbildliches u. heroisches Gegenbild zu den im Glaubensstreit kämpfenden dt. Fürsten dargestellt wird, gehört zu den seltenen religiösen Positionierungen des S. Bereits 1532 hatte er mit seinen Panegyriken auf die Caesares Germanici, angefangen mit Karl dem Großen bis Kaiser Ferdinand I., sein Talent unter Beweis gestellt; die vorangestellte Einleitung des Dichterfürsten Eoban Hesse trug zum Erfolg wesentlich bei. Als S. 1533 zu einer 10-monatigen Reise nach Italien aufbrach, eilte ihm sein Ruf als Dichter voraus. Zu Ehren seines Vorbilds
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Ovid hatte er 1528 den Namen Sabinus angenommen, eines engen Freundes des röm. Dichters. Mit dem 1535 gedruckten Bericht zur Italienreise (Hodoeporicon itineris Italici), in kunstfertigen u. schwungvollen Distichen verfasst, viele bekannte Zeitgenossen u. Orte beschreibend, mit zahlreichen Anekdoten versehen, verstand es S., sich als gekrönten Dichter im Kreis der bekanntesten Humanisten der Zeit neu zu erschaffen. Er lernte u. a. Hesse u. Erasmus von Rotterdam persönlich kennen; ein längerer Aufenthalt in Padua begründete die langjährige Freundschaft mit dem Dichter u. Kardinal Pietro Bembo. In Venedig ehrte ihn der päpstl. Nuntius Girolamo Aleandro mit der Würde eines Poeta laureatus, Eques auratus u. Comes palatinus (Pfalzgraf). In einem späteren Diplom (1541) bestätigte Kaiser Karl V. die Ritterwürde des S.; im verliehenen Wappen trug er einen weißen Pegasus auf blauem Grund. S. heiratete 1536 die 14-jährige Anna, eine Tochter Melanchthons, u. nach deren Tod (1547) die aus einer Königsberger Kaufmanns- u. Ratsherrenfamilie stammende Anna Cromer. Aus erster Ehe gingen fünf Töchter u. ein Sohn hervor, aus zweiter Ehe eine Tochter u. drei Söhne (die verwandtschaftl. Bindungen der Kinder in NDB, Bd. 22, S. 320). Das Verhältnis zu Melanchthon wurde auf eine harte Probe gestellt, als die Ehe mit Anna zu scheitern drohte u. S. sich mit dem Gedanken trug, die Verbindung aufzulösen. Eine vielleicht nur oberflächl. Eintracht konnte auf Vermittlung des langjährigen Freundes Joachim Camerarius hergestellt werden. Eva Hoffmann-Aleith (Eva Hempel) hat die Lebensgeschichte Anna Melanchthons zur Grundlage ihres gleichnamigen histor. Romans (Bln. 1954) gemacht. Nachdem S. 1538–1544 als Professor für Poesie u. Rhetorik an der Universität Frankfurt/Oder gewirkt hatte, wurde er auf Empfehlung von Melanchthon u. Camerarius in das preuß. Königsberg berufen, um dort als Rektor die Gründung u. den Aufbau der Universität vorzubereiten. Aufgrund der Arbeitslast u. vieler Schwierigkeiten, die mit der Gründung verbunden waren, legte er 1547 das Amt des Rektors auf Lebenszeit aus eigenem Antrieb nieder. Mit der Berufung des
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Theologen Andreas Osiander (1549) wurde das Professorenkollegium im Streit um die Rechtfertigungslehre in Anhänger Melanchthons u. Anhänger Osianders geteilt. Als letzter Vertreter des Gründungskollegiums u. Parteigänger seines Schwiegervaters resignierte S. 1555 u. kehrte nach Frankfurt zurück. Als akadem. Lehrer zeichnete er sich durch seine Vorliebe für Vorlesungen zu Ovid u. Cicero aus. Die anfängl. Verbundenheit zwischen der preuß. Herzogsfamilie u. der Familie S.’ schlug sich in Gelegenheitsdichtungen zu Taufen, Hochzeiten u. Todesfällen nieder; zu wichtigen Gönnern wurden der Ermländer Bischof u. Dichter Johannes Dantiscus sowie dessen zweiter Nachfolger Stanislaus Hosius. In Frankfurt lebte S. bis zu seinem Tod. Zahlreiche diplomatische Aufträge im Dienst des Landesherrn hielten ihn von seinen Lehraufgaben ab. Er soll u. a. an der Mitbelehnung des kurfürstlich-zollerischen Zweiges mit Preußen durch den poln. König beteiligt gewesen sein. Weil die Zusammenführung des Kurfürstentums Brandenburg mit dem Herzogtum Preußen (1618) u. damit auch die spätere Erhöhung der brandenburgischen Zollern zu Königen »in Preußen« (1701) diese Mitbelehnung voraussetzten, wird S.’ (nicht hinlänglich untersuchter) Anteil daran in der Forschungsliteratur hervorgehoben. Während einer zweiten Italienreise erkrankte S. auf dem Weg nach Florenz u. starb in Frankfurt an einem Rückfall. S. vermied es, gegen Verfechter der alten Kirche zu polemisieren. Stattdessen pflegte er zu ihnen gute Kontakte u. wurde von Albrecht von Preußen u. Kurfürst Joachim II. (beide waren protestantische Fürsten) bevorzugt zu diplomatischen Missionen herangezogen, die viel Feingefühl für die konfessionelle Zerrissenheit verlangten. S.’ vage testamentarische Äußerungen u. seine Flucht aus Wittenberg 1538, als ihm ein übermäßiges Lob für den von Luther verfemten Kardinal Albrecht von Brandenburg zur Last gelegt wurde, lassen sein Urteil über die reformatorischen Umbrüche nicht klar erkennen. Die Auffassung, S. besitze »kein Bewusstsein unterschiedener Konfessionen« (Greiff 2006, S. 335), dürfte überzogen sein, allerdings verrät sein Testa-
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ment, dass er die Hoffnung hegte, die Glaubensspaltung seiner Generation könne in der nächsten überwunden werden (Bieder 1908). Zu Lebzeiten gab S. drei Gedichtsammlungen seiner zuvor einzeln publizierten Schriften heraus (Poemata. Straßb. 1538. Internet-Ed.: VD 16 digital. 1544 u. Lpz. 1558). Darunter finden sich zahlreiche panegyr. Gedichte an Fürsten u. fürstl. Räte, an einflussreiche humanistische Gelehrte (z.B. in der Erotica, darin auch das Liebesbekenntnis an seine erste Frau), erzählende Gedichte über Zeitereignisse (Reichstage, Reiseberichte, Hochzeiten, Feldzüge), histor. Schriften (Herrscherbiografien, Geschichte Brandenburgs), akadem. Schriften (Vorlesungskommentare, Statuten, Mahnschriften, darunter ein kleines Lehrbuch über die Dichtkunst: De carminibus ad veterum imitationem artificiose componendis praecepta bona et utilia), Epitaphe u. Epigramme (Grabschriften, Sinnsprüche, Anekdoten etc.), zwei Eklogen (Hirtenlieder) sowie ein Buch Hendekasyllabi (11-silbige Verse). Seine durchaus berechnende, aber nicht ungewöhnl. Dichtung für bekannte Fürstinnen u. Fürsten der Zeit bildet das höf. Umfeld ab, in dessen Gunst u. Diensten S. stand. Das Verhältnis zum preuß. Herzogs- u. brandenburgischen Kurfürstenhof fand den größten Niederschlag. Nach S.’ Tod gelangten Bibliothek u. Nachlass in die Hände seines Schwiegersohnes, des Frankfurter Professors Abdias Praetorius; als dieser 1572 starb, soll das Erbe unwiederbringlich verstreut worden sein (Heffter 1844, S. 84). Das Interesse an S.’ Person u. Werk ist bis heute ungebrochen. Zuweilen folgen die Urteile über ihn einer ungerechtfertigten Polemik: Sein Lebenswandel (hohe Verschuldung, Selbstsucht) u. das Verhältnis zu Anna Melanchthon stehen dabei im Mittelpunkt. Durch die ungünstige, oft einseitig argumentierende Überlieferung wird die Rekonstruktion von S.’ Lebensgeschichte erschwert: Den autobiogr. Auszügen aus seinem Werk (die ein überbetont positives Bild eines gelehrten Dichters entwerfen) stehen Korrespondenzen u. Epigramme über S. entgegen. Vor allem das vernichtende Urteil Melanchthons über seinen Schwiegersohn während der schweren Ehekrise hat starken Einfluss
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auf die Nachwelt genommen. S.’ dichterische Verdienste werden fast ausnahmslos anerkannt (am kritischsten Ellinger); er zählt zu den wichtigsten neulat. Dichtern Deutschlands im 16. Jh. S.’ Schüler aus Königsberg u. Frankfurt bewahrten das Erbe ihres Lehrers (vgl. Ellinger), insbes. die Überzeugung, dass die Poesie nichts anderes sei »als eine durch Versmaße u. Geschichten gefällig gestaltete Philosophie, in der die Lehre ehrbarer Künste und Moralvorschriften, erhellt durch Beispiele von Königreichen, enthalten ist« (Fabularum Ovidii interpretatio; Übertragung Mundt 2008, S. 102). Die Poesie wird hier nicht im Verhältnis zur Philosophie abgewertet, im Gegenteil; gemeint ist ein enges Abhängigkeitsverhältnis, wonach die Qualität der »Lehre ehrbarer Künste u. Moralvorschriften« von der Kunstfertigkeit der Poesie u. ihrer Dichter bestimmt wird. Im 19. Jh. bestimmten nationale u. regionale Beweggründe sowie die intensive Beschäftigung mit Luther u. Melanchthon die Forschung; Arbeiten über S. stammen überwiegend aus der Feder von Gelehrten der Städte Brandenburg, Königsberg u. Frankfurt. Die Lobpreisungen der brandenburgischen Kurfürsten des 15./16. Jh. in S.’ Gedichten haben zwar in der Geschichtsforschung wenig Wertschätzung erfahren, doch ihre Rezeption trug wesentlich dazu bei, dass die antiken Beinamen Achilles, Cicero, Nestor u. Hektor für Albrecht, Johann, Joachim I. u. Joachim II. noch heute im landesgeschichtl. Bewusstsein verankert sind. Unter anderem die Editoren von Melanchthons Werk, Karl G. Bretschneider u. Heinrich E. Bindseil, versuchten den Erweis zu erbringen, dass ein Teil von S.’ Schriften auf seinen akadem. Lehrer zurückzuführen seien. Über S.’ juristische Tätigkeit, die durch Kurfürst Joachim I. gefördert wurde (Schillmann 1911), liegen kaum Informationen vor. In der jüngeren Vergangenheit werden vermehrt Teile des Werks kritisch ediert u. S.’ Wirken im Zusammenhang mit der Geschichte der Universitäten Königsberg u. Frankfurt dargestellt. Über die Schriften, verfasst zu Leben u. Werk, die auch ein lebhaftes Interesse außerhalb Deutschlands bekunden, geben Töppen (1844) u. Heffter (1844) ausführlich
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Auskunft (1939 von Heyne um mehrere Titel ergänzt). Die aktuelle Forschung ist mit weiteren Verweisen bei Mundt (2008) verzeichnet. Ausgaben: (Eine kritische Ed. v. S.’ Gesamtwerk fehlt.). – Poemata [...] et numero librorum et aliis additis aucta, et emendatius denuo edita [...]. Hg. Eusebius Menius. Lpz. 1563 (vollständigste Ed.; sieben Neudr.e bis 1632; Lpz. 1568. Internet-Ed. in: VD 16 digital u. CAMENA). – CR, Bd. 11, Sp. 364–373 (De utilitate studiorum eloquentiae), Sp. 763–775 (Oratio habita [...] in funere nobilissimae Dominae Dorotheae, coniugis illustrissimi Principis Alberti); Bd. 19, Sp. 497–654 (Fabularum Ovidii interpretatio tradita in Academia Regiomontana u. d. T.: Phil. Mel. Enarratio Metamorphoseon Ovidii); Bd. 20, Sp. 473–514 (De electione et coronatione Caroli V. Caesaris historia), Sp. 453–472 (Narratio deliberationis Maximiliani Imperatoris Romanorum de bello Turcio u. d. T.: Exhortatio Maximiliani Caesaris ad bellum Turcis inferendum). – Theodor Echtermeyer u. Moritz Seyffert: Anth. aus neueren lat. Dichtern. Bd. 1, Halle 1834. – Johannes Voigt: Mitt.en aus der Correspondenz des Herzogs Albrecht v. Preussen mit Martin Luther, Philipp Melanchthon u. G. S. Königsb. 1841. – Max Töppen: Die Gründung der Univ. zu Königsberg u. das Leben ihres ersten Rectors G. S. Königsb. 1844 (Testament, Briefe u. a.). – Adolf Fürstenhaupt: G. S., der Sänger der Hohenzoller’schen Dynastie. Bln. 1849 (Auszüge des histor. Werks in dt. Übertragung). – Otto Amdohr: Zwei Elegien des Frankfurter Rektors G. S. In: Zum zweihundertjährigen Jubiläum des Königl. Friedrichs-Gymnasiums zu Frankfurt a. d. Oder. Frankf./O. 1894, S. 129–153 (Das Gesicht zu Speier; Das Wunder am Frankfurter Mädchen). – Hermann Bieder: Bilder aus der Gesch. der Stadt Frankfurt a. d. Oder. Bd. 2, Frankf./O. 1908, S. 102–106 (Testament in dt. Übertragung). – Adalbert Schroeter: Beiträge zur Gesch. der nlat. Poesie Deutschlands u. Hollands. Bln. 1909, S. 129–152. – Lat. Gedichte dt. Humanisten. Ausgew., übers. u. erl. v. Harry C. Schnur. Stgt. 21987, S. 338–359, 468 f. – Metamorphosis. Frankf./O. 1589. Nachdr. New York 1976. – Renaissance Latin Verse. Hg. Alessandro Perosa u. John Sparrow. London 1979, S. 445–452. – Galle u. Honig. Humanistenepigramme. Hg. H. C. Schnur. Lpz. 21984. – HL, S. 499–539, 1240–1270. – Lothar Mundt: Hzg. Albrechts v. Preußen zweite Hochzeit (Königsberg 1550) in zeitgenöss. bukol. Darstellung. In: Daphnis 32 (2003), S. 435–490. – Ursula Greiff: Dichter u. Herrscher in lat. Gedichten aus der Mark Brandenburg (16. u. 17. Jh.). Hildesh. 2006, S. 148–149 (Ioachimus Primus Elector),
136 204–206 (Albertus Marchio Brandenburg). – Ursinus Velius u. G. S.: De nuptiis Ferdinandi (1521), Epicedion in Maximilianum (1547), Chronicorum mundi epitome, monosticha et disticha (1534). Hg. Anton Sommer. Wien (in Vorb.). – Internet-Ed. diverser Texte in: VD 16 digital. Literatur: Bibliografien: Marga Heyne: Das dichter. Schrifttum der Mark Brandenburg bis 1700. Potsdam/Bln. 1939, S. 23–29 (34 zu Lebzeiten publizierte Drucke des dichter. Werks; S. 22: Porträt v. 1751). – VD 16. – VD 17. – Weitere Titel: Acta Borussica ecclesiastica, civilia, literaria. Hg. Michael Lilienthal. Bd. 1, Königsb./Lpz. 1730, S. 459 (Portrait, Standeserhebung). – Daniel H. Arnoldt: Ausführl. u. mit Urkunden versehene Historie der Königsbergischen Univ. 2 Tle. u. mehrere Zusätze, Königsb. 1746–1804. Nachdr. in 4 Bdn. Aalen 1994 (Register). – Ernst A. Hagen: Beschreibung der Domkirche zu Königsberg u. der in ihr enthaltenen Kunstwerke. Königsb. 1833 (Epitaphe). – Moritz W. Heffter: Erinnerung an G. S. Lpz. 1844, S. 85 (Verz. der Bildnisse). – Theodor Muther: Aus dem Universitäts- u. Gelehrtenleben im Zeitalter der Reformation. Erlangen 1866, S. 329–367. – Fritz Schillmann: Die jurist. Bibl. des G. S. In: Zentralblatt für Bibliothekswesen 28 (1911), S. 487–495. – Ellinger, Bd. 2, Register. – Johannes Dantiscus: Carmina. Hg. Stanislaus Skimina. Krakau 1950, S. 210–216 (Hendekasyllabi ad Georgium Sabinum). – Hermann Wiegand: Hodoeporica. Baden-Baden 1984, S. 71–79, 523 f. – J. Dantiscus: Piesni [Lieder]. Hg. Anna Kamienska. Olsztyn 1987 (Gedichte an S.). – Marchia resurge: erhebe Dich Du Mark [...]. Bearb. Bernhard Kytzler. Wiesb. 1992 (Kat.), Nr. 42–46. – Heinz Scheible: G. S. (1508–1560). Ein Poet als Gründungsrektor. In: Die Albertus-Univ. zu Königsberg u. ihre Professoren. Hg. Dietrich Rauschning u. Donata v. Nerée. Bln. 1995, S. 17–31. – Wilhelm Kühlmann: Der Poet u. das Reich. In: Europa u. die Türken in der Renaissance. Hg. Bodo Guthmüller u. W. K. Tüb. 2000, S. 193–248. – Ders. u. Werner Straube: Zur Historie u. Pragmatik humanist. Lyrik im alten Preußen. Von Konrad Celtis über Eobanus Hessus zu G. S. In: Kulturgesch. Ostpreußens in der Frühen Neuzeit. Hg. Klaus Garber u. a. Tüb. 2001, S. 657–736 (mit Text-Ed., Übers. u. Komm., S. 712–731). – Michael Höhle: Univ. u. Reformation. Die Univ. Frankfurt (Oder) v. 1506 bis 1550. Köln u. a. 2002. – Jerzy Starnawski: Die Beziehungen des Humanisten G. S. (1508–1560) zu Polen. In: Germania latina. Latinitas teutonica. Hg. Eckhard Keßler u. Heinrich C. Kuhn. Bd. 1, Mchn. 2003, S. 469–481. – Heinz Scheible u. Bernhard Ebnet: G. S. In: NDB. – Flood, Poets Laureate,
137 Bd. 4, S. 1778–1787. – Lothar Mundt: Die Lehrtätigkeit des G. S. an der Univ. Königsberg. In: Die Univ. Königsberg in der Frühen Neuzeit. Hg. Hanspeter Marti u. Manfred Komorowski. Köln u. a. 2008, S. 77–115. Mario Müller
Sacer, Gottfried Wilhelm, auch: Hartmann Reinhold, * 11.7.1635 Naumburg, † 8.9. 1699 Wolfenbüttel; Grabstätte: ebd., Hauptkirche Beatae Mariae Virginis. – Satiriker, Übersetzer, Lyriker. S. besuchte die Naumburger Stadtschule u. das Gymnasium in Pforta, bevor er Jura u. Philosophie in Jena studierte. Der Eintritt in die kurbrandenburgische Kriegskanzlei in Berlin unterbrach die eingeschlagene Juristenlaufbahn. Gesellschaftliche Beziehungen förderten die Anerkennung seiner poetischen Versuche (1660 Aufnahme in den Elbschwanenorden als »Hierophilus«, 1663 Poeta laureatus) u. brachten ihn mit bedeutenden Dichtern (Tscherning, Harsdörffer, Rist) in Verbindung. Mehrere Hofmeisterstellen führten S. durch Deutschland, nach Holland u. Dänemark. Erst mit der Berufung zum Advocatus Ordinarius am Fürstlichen Hofgericht in Wolfenbüttel (1670) u. der Promotion in Kiel begann S.s verspätete Juristenkarriere, die ihn bis zur Stellung eines Fürstlichen Kammerkonsulenten führte. Die an Herzog Anton Ulrich von Braunschweig gerichtete Abdanckungs-Rede, die S. zum Leichen-Begängnis des gelehrten Sprachforschers Justus Georg Schottelius (Wolfenb. 1676. Neudr. bei Maria Fürstenwald: Trauerreden des Barock. Wiesb. 1973, S. 285–290, 492–494) hielt, bekundet seine rhetorische Kunst. Als statusbedachten Repräsentanten des späthumanistischen Gelehrtenstandes weisen S. einige Gerichtsakten sowie der Umstand aus, dass er seine Mitgliedschaft in der ›Fruchtbringenden Gesellschaft‹ (›Der Bedrückte‹) betonte, ja noch im Epitaph festhalten ließ, auch wenn ihn kein Gesellschafterverzeichnis führt. Die Zeitgenossen schätzten S. als Verfasser geistl. Lieder, die in engem Austausch mit namhaften Autoren dieser Gattung entstanden sind (Johann Rist, Paul Gerhardt, Ernst Christoph Homburg, Johann Franck). Dabei
Sacer
ist wohl schon die frühe Sammlung von Passionsgedichten Der Bluttriefende, Siegende und Triumphirende Jesus (1661; anonym) – Grundstock für die Anthologie Geistliche, liebliche Lieder (Hg. Georg Nitsch. Gotha 1714) – von ernsten Glaubenszweifeln geprägt. Diese beruhen auf S.s Neustoizismus, den v. a. seine wenig beachteten Übersetzungen bekunden: Die letzten Worte des Sterbenden Seneca (Budissin 1666; aus dem Französischen nach Pierre Antoine Mascaron) mit der aus dem Lateinischen übertragenen Rede des J[ustus] Lipsius von der Lästerung (ebd. 1666). Auf den Zusammenhang mit dem stoischen Seneca-Kult hat jüngst Dieter Merzbacher hingewiesen. Für die in älteren Bibliografien verzeichnete Übersetzung Hieronymi Savonarola Andachten (Wolfenb. 1695) gibt es zwar bis heute keinen Standortnachweis, doch hat S. zu dem Emblembuch Tägliches Hertzens Opfer des Lüneburger Rektors Henning Wedemann (Wolfenb. 1686) 24 Lieder beigesteuert, die sich an Savonarolas Meditationen zum 51. Psalm (»Miserer mei Domine«) orientieren. Bleibende Bedeutung verdankt S. seinen Literatursatiren. Manche der Nützlichen Erinnerungen Wegen der Deutschen Poeterey (Alten Stettin 1661), die aus dem Blickwinkel des Opitzianers gegen die »Fehlgriffe« eines Plavius u. Zesen polemisieren, gingen in die wichtigere Satire Reime dich / oder ich fresse dich ein, die 1673 pseudonym u. mit fingiertem Druckort (Northausen) erschien. Darin befehdet S. in noch schärferem Ton modische Tendenzen in der Literatur wie Fremdwortgebrauch u. Eindeutschungsmanie, poetische Prätentionen bei mangelnder Erfindungsgabe u. fehlender Inspiration. Der Titel von S.s Schrift wurde zum geflügelten Wort in der satir. Tradition (z. B. Abraham a Sancta Clara: Reimb Dich, Oder, Ich Liß dich. 1684). Ausgaben: Internet-Ed. mehrerer Werke in: dünnhaupt digital. Literatur: Bibliografien: Dünnhaupt, Bd. 5, S. 3517–3526 (Werkverz.). – Flood, Poets Laureate, Bd. 4, S. 1787–1791 (Werkverz.). – Weitere Titel: Johann Arnold Ballenstädt: Saceri memoria. Helmstedt 1745. – Max v. Waldberg: G. W. S. In: ADB. – Leopold Pfeil: G. W. S.s ›Reime dich, oder ich fresse dich [...]‹. Diss. Heidelb. 1914. – Bruno Markwardt: Gesch. der dt. Poetik. Bd. 1, Bln. 31964, S. 199–207,
Sacher 397–399. – Wolfgang Kelsch: ›Reime dich oder ich fresse dich‹. Der Wolfenbütteler Jurist G. W. S. als Verfasser einer barocken Literatursatire. In: Braunschweigisches Jb. 60 (1979), S. 85–97. – Dieter Merzbacher: ›So sag ich: S. ist der Teutschen Lipsius‹. Funde zu G. W. S. In: WBN 21 (1994), S. 108–123; 22 (1995), S. 118. – Claudine MoulinFankhänel: Orthographiereform u. Orthographische Satire im Barock. G. W. S.s ›Reime dich oder ich fresse dich‹ (1673). In: Beiträge zur Schriftlinguistik. FS Dieter Nerius. Hg. Petra Ewald u. KarlErnst Sommerfeldt. Ffm. u. a. 1995, S. 175–189. – D. Merzbacher: ›Göttliche Anwehung‹ u. ›geistliche Bewegung‹. G. W. S.s ›Geistliche / liebliche Lieder‹ im Umfeld des Frühpietismus. In: ›Geistreicher‹ Gesang. Halle u. das pietist. Lied. Hg. Gudrun Busch u. Wolfgang Miersmann. Tüb. 1997, S. 123–156. Achim Aurnhammer
Sacher, Friedrich, auch: Fritz Silvanus, * 10.9.1899 Wieselburg/Niederösterreich, † 22.11.1982 Wien. – Lyriker, Erzähler u. Herausgeber. Wie sein Vater wurde S. Lehrer, studierte daneben an der Universität Wien (Dr. phil. 1924) u. lebte ab 1934 als freier Schriftsteller in Wien. S., der 1938 den »Anschluss« öffentlich begrüßte, publizierte von 1920 an (Die stille Stunde. Wien; E.en) ein über 50 Bände umfassendes Werk restaurativ-konservativer Ausrichtung: Formal an Goethe, Rilke u. später an Weinheber orientiert, verklärt er in seiner Lyrik Kindheit, Liebe u. Landschaft, postuliert Ordnung u. christl. Demut (Das große Suchen. Lpz. 1921. Maß und Schranke. Wien 1937. Menschen in den Gezeiten. Ebd. 1937. Vom Kahlenberg. Ebd. 1946). Eine oft forciert wirkende Naivität kennzeichnet auch S.s idyllisierende Erzählungen, Prosaminiaturen über Alltagsdinge, Märchen, Fabeln, Parabeln u. Anekdoten (Die Ernte. Ebd. 1938. 1947. Der Guckkasten. Mchn. 1940. Die Silberkugel. Wien 1948. Die Welt im Fingerhut. Ebd. 1953. Vorwiegend heiter. Wien/Krems 1971). S. trat auch als Essayist u. Herausgeber literar. Anthologien (Die Gruppe. Wien 1932. 1935) hervor. Weiteres Werk: 1946 oder Das Pumpenhaus. Ein Heimkehrerroman. Steyr 1981. Literatur: Bibliografie: Johann Luger (Bearb.): F. S. – Leben u. Werk. Wien 1980, S. 29–31 (Ausstel-
138 lungskat.). – Weitere Titel: Barbara Sanders: Zur Motivik in den E.en F. S.s [...]. Diss. Salzb. 1975. – Elisabeth Schicht: F. S. In: Dies. u. Norbert Sprongl: Wer im Werk den Lohn gefunden ... St. Pölten 1976, S. 149–153. – Paul Wimmer: Ein Meister der Idylle. F. S. In: Niederösterreichs Lit. im Aufbruch. Hg. Johannes Twaroch. St. Pölten 1988, S. 40–48. – Waltraud Ebner: F. S. (1899–1982). Gedanken zu F. S. anläßlich seines 100. Geburtstages. Wieselburg 1999. Ursula Weyrer / Red.
Sacher-Masoch, Alexander von, * 18.11. 1901 Wittkowitz/Mähren, † 17.8.1972 Wien; Grabstätte: ebd., Friedhof Grinzing. – Erzähler. S., Sohn des Schriftstellers u. Übersetzers Artur Wolfgang von Sacher-Masoch (Pseud. Michael Zorn) u. Großneffe Leopold von Sacher-Masochs, wuchs durch die häufigen Versetzungen seines Vaters, der auch Offizier in der k.u.k.-Monarchie war, zweisprachig (dt., ungarisch) auf. S. besuchte Schulen in Graz, Wien u. verschiedenen ungar. Garnisonsstädten, wo er die Matura erwarb. Nach dem Chemiestudium in Graz (Promotion 1925) war S. zunächst in seinem Beruf in Berlin tätig, wandte sich aber bald der Schriftstellerei zu. Er publizierte zahlreiche Kurzgeschichten in diversen Zeitungen u. Zeitschriften, wurde Theaterkritiker, dann Kulturredakteur des »Vorwärts« u. Mitgl. des künstlerischen Beirats der Berliner Volksbühne. 1933 ging er nach Wien, wo er mit Kurt Neumann die »Neuen österreichischen Blätter« herausgab. Nach dem »Anschluss« Österreichs 1938 floh der als ›Halbjude‹ geltende S. nach Belgrad u. war Korrespondent des Schweizer Regierungsorgans »Der Bund«. Als Jugoslawien 1941 dem Dreimächtepakt beitrat, schloss sich S. der Widerstandsbewegung an. Vor den einrückenden Deutschen floh er auf die dalmatin. Insel Korcˇula, die kurz darauf von den Italienern besetzt, dann von Partisanen erobert u. schließlich von den Deutschen eingenommen wurde. Dort begann S. den Roman Die Ölgärten brennen (Hbg./Wien 1956. Neuausg. Hg. u. mit einem Nachw. von Jutta Freund. Mannh. 1994), in dem er die autobiografisch geprägte Gestalt Pierre die unsichere Existenz auf
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Korcˇula durchleben lässt. Pierre kann Marion Diethelm. Zürich 1949. Erw. Neuaufl. schließlich zusammen mit seiner Partnerin Zechnungen v. Wilfried Zeller-Zellenberg. Wien/ Mila per Schiff nach Bari fliehen, wohin ihr Stgt. 1953. – Der verlorene Garten. Wien 1953 väterl. Freund Fritz Theobald ihnen voraus- (Kindergesch.). – Vierbeinige Gesch.n. Wien 1953 (Tierporträts). – Plaotina. Gesch.n v. einer dalmagegangen ist. Theobald ist das literar. Porträt tin. Insel. Basel 1963. – Vierbein u. Zweibein. des österr. Dramatikers Theodor Csokor, mit Gesch.n v. Tier u. Mensch. Mit Federzeichnungen dem S. befreundet u. der ebenfalls auf Kor- v. W. Zeller-Zellenberg. Wien 1968. Neubearb. cˇula war. Das scheinbar glückl. Ende wird Aufl. 1974. durch den Schluss des Romans konterkariert, Literatur: Jutta Freund, in: A. S.-M.: Die Ölder die Geschichte von Milas Vater, dem jüd. gärten brennen, 1994, S. 187–203. – LöE. – Thomas Rechtsanwalt Markus Feldmann, einem Diecks: A. v. S.-M. In: NDB. hochdekorierten Offizier der k.u.k.-MonarHermann Schreiber / Jürgen Egyptien chie, bis in die Gaskammern von Auschwitz weiter erzählt. Sacher-Masoch, Leopold (Franz Johann S. selbst entkam ebenfalls 1944 nach Bari u. Ferdinand Maria) Ritter von, auch: Charwar bis 1946 beim alliierten Rundfunk tätig, lotte Arand, Zoë von Rodenbach, * 27.1. bevor er nach Wien zurückkehrte. Dort setzte 1836 Lemberg, † 9.3.1895 Lindheim bei er sich mit den österr. Italien-Emigranten um Frankfurt/M. – Erzähler, Romancier, Csokor u. Hermann Hakel für den literar. Feuilletonist, Theaterautor. Wiederbeginns ein. Angesichts der zaudernden Rückkehr der West-Emigranten waren es Als ältestes von fünf Kindern des PolizeidiCsokor als Präsident u. S. als Generalsekretär rektors Leopold von Sacher-Masoch wuchs S. (bis 1951), die den P.E.N.-Club 1947 wieder in Lemberg u. Umgebung auf. Die galiz. errichteten u. im Ausland auf junge Autoren Landschaft, Erlebnisse im jüd. Ghetto, der aufmerksam machten. Als Chefredakteur des frühe Tod dreier Geschwister u. die Niederlinksorientierten »Österreichischen Tage- schlagung des Polenaufstands 1846, an der buchs« 1946–1950 führte S. den Kampf ge- sein Vater maßgeblich beteiligt war, prägten gen die unbehelligten Größen der österr. NS- ihn nachhaltig. 1848 zog die Familie nach Literatur. 1955–1958 lebte er in Frankfurt/ Prag, seinem »geistigen Geburtsort«. Hier erlernte S. die dt. Sprache, entdeckte seine M., danach wieder in Wien. In seinem eigenen Werk interessierte sich Leidenschaft für das Theater u. begann ein S. weniger für die Gegenwart als für die Studium der Geschichte u. der Philosophie, letzten Jahre der Donaumonarchie. Elegi- das er 1856 in Graz mit der Promotion abschen Stimmungen verdanken seine Erzäh- schloss. Im selben Jahr habilitierte er sich lungen aus Wien u. altösterr. Garnisonsstäd- dort für Geschichte. Der Aufstand in Gent unter ten ihren Charme, wobei die Knabenge- Kaiser Carl V. (Schaffh. 1857) belegt aber beschichte Die Parade (Wien 1946. Bearb. Neu- reits, dass sein eigentl. Interesse dem Erzähausg. Wien u. a. 1971. ORF-Fernsehsp. 1974) len galt. 1858 veröffentlichte S. anonym den am bekanntesten wurde, die Liebesgeschichte Roman Eine galizische Geschichte. 1846 (ebd. Mit Es war Ginster ... (Wien 1951. Hbg./Wien 1960) seinem Namen u. d. T. Graf Donski. Ebd. S.s beste dichterische Leistung bleiben dürfte. 1864). Von da an erschienen nahezu jedes Jahr Gemeinsam mit Piero Rismondo schrieb er eines oder mehrere Bücher. Zudem publidas Schauspiel Das unsichtbare Volk (ebd. 1947. zierte S. allerorten Feuilletons u. »CauseriHörsp. 1958). S. übersetzte aus dem Ungari- en«, verfasste Theaterstücke, histor. Betrachschen (u. a. Mór Jókai) u. dem Serbokroati- tungen u. versuchte sich auch immer wieder schen. 1990 wurde eine nach S. benannte als Gründer meist kurzlebiger Zeitschriften, etwa der »Gartenlaube für Oesterreich« (Graz Stiftung ins Leben gerufen. Weitere Werke: Zeit der Dämonen. Sonette. 1866/67). Der Erfolg seiner 1866 in »Westermann’s Wien 1946. – Beppo u. Pule. Zürich 1948 (R.). – Abenteuer eines Sommers. St. Gallen 1948. – Pi- Monatsheften« abgedruckten Novelle Don platsch träumt. Ein Zigeunerbuch. Zeichnungen v. Juan von Kolomea bewog ihn, sich noch stärker
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seiner galiz. Heimat u. dem oft problemat. Philosemitismus u. sein großer Erfolg in Zusammenleben der Polen, Ruthenen, Juden Frankreich nach 1870/71, die ihn dem u. der österr. Verwaltungsbürokratie zuzu- Kreuzfeuer bösartigster Angriffe aussetzten. wenden. Vor diesem landschaftl. u. gesell- Dass er in eindringl., überaus anschaul. Weise schaftl. Hintergrund wollte S. in seinem auf das Leben einer längst vergangenen Welt zu sechs Teile mit je sechs Novellen projektier- vermitteln versteht, dass seine Prosa sich als ten Hauptwerk, Das Vermächtniß Kains, die frühes Beispiel einer realistischen Erzählart Themenkreise Liebe (2 Bde., Stgt. 1870), Ei- lesen lässt, wurde darüber bis heute vergenthum (2 Bde., Bern 1877), Staat, Krieg, Arbeit nachlässigt. u. Tod behandeln. Doch diese »novellistische Weitere Werke: Die Messalinen Wiens. Lpz. Theodicee« (Rudolf Gottschall) blieb unvoll- 1873 (E.en). – Russ. Hofgesch.n. 4 Bde., Lpz. 1873/ endet. S. vermochte nur zwei Teile abzu- 74 (E.en). – Galiz. Gesch.n. Ebd. 1875 (E.en). – Der schließen; von den anderen existieren nur neue Hiob. Stgt. 1878. – Judengesch.n. Lpz. 1878 einzelne Novellen. Venus im Pelz, sein be- (E.en). – Frau v. Soldan. Ebd. 1884 (R.). – Jüd. Leben rühmtester Prosatext, findet sich als Nr. 5 in in Wort u. Bild. Mannh. 1891 (E.en). – Die Satten u. die Hungrigen. 2 Bde., Jena 1894 (R.). – Grausame Die Liebe. Zu Lebzeiten nie selbstständig verFrauen. 6 Bde., Lpz. 1907 (E.en). – Souvenirs. öffentlicht (erst Dresden 1901), hat er den- Mchn. 1985 (aus dem Frz., autobiogr. P.). – Seiner noch zusammen mit Die geschiedene Frau (Lpz. Herrin Diener. Briefe an Emilie Mataja. Ebd. 1987. 1870) S.s literar. u. persönl. Ruf entscheidend Literatur: Carl Felix v. Schlichtegroll: S. u. der beeinflusst. So nahm Krafft-Ebing die in Masochismus. Dresden 1901. – Wanda v. Sacherdiesen beiden Romanen dargestellten, S.s ei- Masoch: Meine Lebensbeichte. Memoiren. Bln./ gene Liebesbeziehungen verarbeitenden Ab- Lpz. 1906. – Michael Farin (Hg.): L. v. S.-M. Matehängigkeitsverhältnisse von Männern zu do- rialien zu Leben u. Werk. Bonn 1987 (Bibliogr.). – minanten Frauenfiguren zum Anlass, aus Kurt Adel: L. v. S.-M. In: ÖBL. – Albrecht Koihnen den Begriff »Masochismus« abzulei- schorke: L. v. S.-M. Die Inszenierung einer Perversion. Mchn. 1988. – Bernard Michel: S.-M. ten. 1873 heiratete S. Angelica Aurora Rümelin 1836–95. Paris 1989. – Monika Treut: Die grausame Frau. Zum Frauenbild bei de Sade u. Sacher-M. (1845-nach 1906; drei Kinder), die unter dem Basel/Ffm. 21990. – Holger Rudloff: Pelzdamen. Pseud. Wanda von Dunajew, dem Namen der Weiblichkeitsbilder bei Thomas Mann u. L. v. S.-M. Heldin aus Venus im Pelz, später ebenfalls als Ffm. 1994. – Ingrid Spörk u. Alexandra Strohmaier Autorin (u. a. Die Damen im Pelz. 1882) auftrat. (Hg.): L. v. S.-M. Graz/Wien 2002. – Lisbeth Exner: Wien, Graz, Bruck an der Mur u. Budapest, L. v. S.-M. Reinb. 2003. – M. Farin (Hg.): Phantom seit 1881 Leipzig waren die Stationen ihres Schmerz. Quellentexte zur Begriffsgesch. des Magemeinsamen Lebens. Dort gründete S. die sochismus. Mchn. 2003. – Max Kaiser: L. v. S.-M. internationale Revue »Auf der Höhe«, die er In: NDB. – Gilles Deleuze: Présentation de S.-M.: le bis 1885 herausgab. Ein Jahr später wurde froid et le cruel. Paris 2007. Engl. New York 1994. – ihre Ehe geschieden. 1890 heiratete er die Christoph Dolgan: Poesie des Begehrens. Textkörper u. Körpertexte bei L. v. S.-M. Würzb. 2009. – L. Übersetzerin Hulda Meister (drei Kinder); v. S.-M.: Briefe u. Dokumente. Hg. Lisbeth Exner. mit ihr lebte er, mit Unterbrechung durch Mchn. 2010. – Hannes Böhringer u. Arne Zerbst längere Aufenthalte in Paris (1886/87) u. (Hg.): Gestalten des 19. Jh. Von Lou Andreas-SaloMannheim (1890), seit 1886 in Lindheim. Die me´ bis L. v. S.-M. Paderb. 2010. Urne mit seiner Asche wurde 1929 bei einem Michael Farin / Red. Hausbrand vernichtet. S.s Werk ist ungeordnet, verstreut u. zum Sacher-Masoch, Wanda von, geb. AngeTeil bereits verschollen. Er ist, als Autor, fast lika Aurora Rümelin, auch: Wanda von vergessen. Die Gründe hierfür liegen nicht Dunajew, D. Dolorès, * 14.3.1845 Graz, allein in seiner Vielschreiberei u. monoma† 1933 (?). – Erzählerin, Übersetzerin. nischen Umkreisung masochistischer Thematik, es waren auch seine Stellung als Für die aus einfachen Verhältnissen stamÖsterreicher im preuß. Deutschland, seine mende Angelika Rümelin bedeutete die 1871 Überheblichkeit gegenüber der Kritik, sein brieflich (unter dem Pseud. Wanda von
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Dunajew) arrangierte Begegnung mit dem ihren Briefen. In: Leopold v. Sacher-Masoch: Ein angesehenen Schriftsteller Leopold von Wegbereiter des 20. Jh. Hg. Marion Kobelt-Groch Sacher-Masoch einen sozialen Aufstieg. Die u. Michael Salewski. Hildesh. u. a. 2010, Wulfhard Stahl 1873 geschlossene, von Beginn an schwierige S. 287–322. Ehe (vgl. Meine Lebensbeichte. Memoiren. Bln./ Lpz. 1906. Mchn. 2003) war aufreibend, das Sachs, Hans, * 5.11.1494 Nürnberg, † 19.1. Leben an der Seite des umtriebigen Autors u. 1576 Nürnberg. – Meistersinger, Lied- u. Herausgebers finanziell unsicher u. unstet: Spruchdichter, Dramatiker, LaientheoloWien, Graz, Bruck/Mur, Budapest u. Leipzig ge. waren die Stationen bis zur 1883 erfolgten Trennung (Scheidung 1886). Ihre eigenen Als Sohn des Schneidermeisters Jörg Sachs u. belletristischen Veröffentlichungen (Der Ro- der Christine Sachs, geb. Prunner, besuchte S. man einer tugendhaften Frau. Ein Gegenstück zur nach eigener Aussage zwischen 1501 u. 1509, »geschiedenen Frau« von Sacher-Masoch. Prag also von seinem siebten bis zum fünfzehnten 1873. Echter Hermelin. Geschichten aus der vor- Lebensjahr, eine Nürnberger Lateinschule. nehmen Welt. Bern/Lpz. 1879. Die Damen im Anschließend erlernte er das SchuhmacherPelz. Geschichten. Lpz. 1881) sind untrennbar handwerk. 1511 trat er die für einen Gesellen mit L. von Sacher-Masoch verbunden, für übliche Wanderung an, die ihn durch Oberdessen Werk sie sich auch immer wieder österreich, Bayern, Franken bis in das einsetzte. Nach der Trennung lebte S. u. a. in Rheinland führte. In dieser Zeit dichtete er La Neuveville (Schweiz), ab 1884 in Paris u. seine ersten Lieder u. Meisterlieder. 1516 bemühte sich um Übersetzungen aus dem kehrte er nach Nürnberg zurück, heiratete Französischen (E. de Goncourt, E. Renan, M. drei Jahre später Kunigunde Creutzer u. ließ Prévost, P. Bourget, B. Lazare). Versuche, sich 1520 als Schuhmachermeister nieder. nach 1900 erneut Kurzgeschichten zu veröf- 1561 ging er nach dem Tod seiner Frau eine zweite Ehe mit Barbara Harscher ein. Wohlfentlichen, scheiterten. Gegen Ende 1909 stand ermöglichte es ihm in späteren Jahren, verlieren sich ihre Spuren. das Handwerk aufzugeben u. sich ganz seiner Weitere Werke: Masochismus u. Masochisten. dichterischen Tätigkeit zu widmen. Nachtrag zur Lebensbeichte. Bln./Lpz. 1908. – S. war ein weltoffener Mann. Seine DichÜbersetzungen: Aus dem Französischen: Georges Ohtung spiegelt die Lebensverhältnisse u. -pronet: Das Recht des Kindes. Stgt. 1894 (R.). – Ins Französische (unter Pseud. D. Dolorès): Leopold v. bleme seiner Zeit in ihrer ganzen Vielfalt Sacher-Masoch: La pantoufle de Sapho et autres wider. Zugute kam ihm, dass die Freie contes. Paris 1907. – Ders.: La Czarine noire et au- Reichsstadt Nürnberg eines der wichtigsten tres contes sur la flagellation. Paris 1907. – Ders.: La wirtschaftl., polit. u. kulturellen Zentren des jalousie d’une impératrice. Paris 1908. Reichs war u. auch in den AuseinandersetLiteratur: Bibliografie: Wulfhard Stahl: Bio- zungen um die Reformation eine führende Bibliogr. In: Frauenbiografieforschung – Theoret. Rolle spielte. Diese wurde für S. zum Diskurse u. methodolog. Konzepte. Hg. Susanne Schlüsselerlebnis. Die Intensität, mit der er Blumesberger u. Ilse Korotin. Wien (in Vorb.). – sich mit der neuen Lehre beschäftigte, beWeitere Titel: Christa Gürtler: Damen mit Pelz u. zeugt die dreijährige Pause, die er sich nach Peitsche. Zu Texten v. W. v. S.-M. In: Schwierige 1520 in seiner poetischen Produktion verVerhältnisse. Liebe u. Sexualität in der Frauenlit. ordnete. Nachdem er bis dahin schon zwei um 1900. Hg. Therese Klugsberger u. a. Stgt. 1992, Fastnachtspiele u. eine Reihe Lieder sowie S. 71–82. – Katharina Gerstenberger: ›But I Wanted geistl. u. weltl. Meisterlieder verfasst hatte, to Write an Honest Book‹: The Confessions of W. v. meldete er sich als Dichter erst 1523 wieder S.-M. In: Dies.: Truth to Tell. German Women’s Autobiographies and Turn-of-the-Century Culture. mit der Wittenbergisch Nachtigall zu Wort, in Ann Arbor 2000, S. 140–174. – Christoph Dolgan: der er in allegor. Einkleidung Martin Luthers Poesie des Begehrens. Textkörper u. Körpertexte Sieg über die ›Feinde‹ des Evangeliums feiert. bei L. v. S.-M. Würzb. 2009. – W. Stahl: ›Verlieren Da der Titel bald zum geflügelten Wort Sie nur nicht die Geduld mit mir.‹ W. v. S.-M. in wurde u. Richard Wagner die Eingangsverse
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in den Text der Meistersinger aufnahm, gehört das Spruchgedicht noch heute zu den bekanntesten Dichtungen des S. Ein Jahr später ließ er vier Prosadialoge folgen, nämlich die Disputation zwischen einem Chorherren und Schuchmacher, Ein gesprech von den Scheinwercken der Gaystliche, Ein Dialogus [...] den Geytz betreffend, Ain gesprech eins Ewangelischen Christen mit einem Lutherischen. Diese Texte gehören zu den interessantesten Beispielen der für die Flugschriftenliteratur der frühen Reformationszeit so wichtigen Gattung der Prosadialoge. Was die Mitmenschen an Luthers Lehre anzog u. worin sie sich dadurch in ihren religiösen Anschauungen u. sozialen Interessen bestätigt fühlten, wird in den Dialogen eindrucksvoll dokumentiert. Gleichzeitig legen sie Zeugnis ab von der selbstständigen, krit. Haltung, mit der S. die Umsetzung von Luthers Lehre in die religiöse u. soziale Praxis zu unterstützen suchte. Auch in den kommenden Jahren stellte S. seine literar. Tätigkeit in den Dienst der Reformation. 1525 publizierte er acht Kirchenlieder, ein Jahr später eine Bearbeitung von dreizehn Psalmen, u. bald begann er auch damit, Abschnitte des AT u. des NT zu Meisterliedern u. Spruchtexten umzudichten. Bis zum Ende seines Lebens brachte er auf diese Weise fast die gesamte Bibel in dt. Verse. 1527 erhielt er vom Rat der Stadt ein Druckverbot, weil er sich nach dessen Auffassung mit seiner Auslegung der wunderlichen weissagung von dem papstum in der Kritik an der röm. Kirche zu weit vorgewagt hatte. Der Lobspruch der statt Nürnberg, den er 1530 verfasste, war wahrscheinlich ein Beitrag auch dazu, das Wohlwollen der Stadtväter zurückzugewinnen. Noch ein weiteres Mal sah sich der Nürnberger Rat veranlasst, gegen einen S.-Text einzuschreiten: Markgraf Albrecht Alcibiades von Brandenburg-Kulmbach hatte 1552 die Stadt überfallen. S. verfasste dazu einen Clagspruch. Als S. 1557 aber den bös-satir. Nachruf Gesprech von der himelfart margraff Albrechz hatte folgen lassen, trug der Rat aus Gründen polit. Vorsicht so große Bedenken, dass er nach dem Tod des S. diesen aus dessen Nachlass entfernen ließ. 1566/67 verfasste S. die Summa all meiner gedicht, in der er stolz alles bisher Geleistete
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aufzählt. Es sind weit über 6000 Werke. An Umfang u. Stofffülle steht damit das dichterische Œuvre des S. in der Geschichte der dt. Literatur einzig da. Vom Prosaroman abgesehen, umfasst sein Werk sämtliche in der dt. Literatur des 16. Jh. üblichen Gattungen: Lieder, Meisterlieder, Komödien, Tragödien, Fastnachtspiele, Schwänke, Kampfgespräche, Spruchdichtugen, Prosadialoge. Stofflich hat S. in seinen Werken nicht nur weite Bereiche des aus der Antike u. dem MA kommenden Bildungsguts der Zeit verarbeitet, sondern sich auch als Moralist zu nahezu allen wichtigen, das religiöse, private u. öffentl. Leben der Epoche betreffenden Fragen geäußert. Da S. über seine Produktion sorgfältig Buch geführt hat, indem er die Texte mit genauer Datumsangabe fortlaufend in Sammelbände eintrug u. 1560 ein nach Gattungen geordnetes Generalregister anlegte, lässt sich der Schaffensprozess fast lückenlos verfolgen. Er zeugt von dem stupenden Fleiß eines Mannes, der das Dichten mit der Regelmäßigkeit eines Handwerks betrieb, u. verblüfft durch die Selbstverständlichkeit, mit der er Stoffe unterschiedlichster Provenienz u. geistigen Zuschnitts sich verfügbar zu machen verstand. Er hat seine Kunst als Berufung verstanden. Im Spruchgedicht Die neun gab Muse oder kunstgöttin betreffend (1536) lässt er sich von den Musen den Auftrag erteilen, seine Kunst »Zu straff der laster, lob der tugendt, / Zu lehre der blüenden jugendt, / Zu ergetzung trawriger gmüt« auszuüben, also seinen Mitmenschen Belehrung, Rat u. Trost zu spenden sowie prakt. Handlungsanweisungen für alle Lebenslagen zu geben. Damit stand er im Einklang mit seinen dichtenden Zeitgenossen, die er durch die Rezeption der Fülle des zu diesem Zweck literarisch umgesetzten Materials sowie durch die Konsequenz übertraf, mit der er seinen didakt. Auftrag erfüllte. Das Echo, das er fand, reichte in alle sozialen Kreise. Seit den 1520er Jahren fanden seine Texte, z. T. in Zusammenarbeit mit namhaften Künstlern, als Einzeldrucke Verbreitung, u. seit 1558 begann in Nürnberg eine fünfbändige Folioausgabe seiner Werke zu erscheinen, deren
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erste drei Bände bis zum Ende des Jahrhunderts drei bzw. vier Auflagen erlebten. Nicht in die Ausgabe aufgenommen worden sind die Meisterlieder. Bis heute sind sie großenteils ungedruckt geblieben. Sie waren v. a. für den Vortrag in den Singschulen bestimmt. Da nur handschriftlich überliefert, sind viele verloren gegangen. In neueren Editionen findet man lediglich etwa ein Drittel veröffentlicht. Ihre Katalogisierung mit Unterstützung des von S. angelegten Generalregisters wurde von Horst Brunner abgeschlossen. Die enorme Zahl der aus der Produktion von S. stammenden Meisterlieder dokumentiert eindrucksvoll die zentrale Rolle, die S. im Meistersang gespielt hat, dieser heutigem Kunstverständnis kaum mehr zugänglichen, strengem Reglement unterworfenen Kunstübung der Handwerker des 15. u. 16. Jh. S. schuf nicht nur »das bei weitem umfangreichste und wirkungsmächtigste Liedœuvre« (Brunner), sondern hat dem Meistersang auch völlig neue Stoffgebiete erschlossen. Er stellte ihn als erster entschieden in den Dienst der Reformation u. machte ihn, entgegen der Tradition, in größerem Umfang weltl. Themen zugänglich. Auch um die Organisation des Nürnberger Meistersangs hat er sich Verdienste erworben. Unter seiner Mitwirkung entstand 1540 der sog. Nürnberger »Schulzettel«, eine Sammlung von Vorschriften, die in den Singschulen zu beachten waren, u. 1555–1561 übte er selbst die Funktion eines Merkers aus, der die Einhaltung der strengen Regeln zu überwachen hatte. Seine Protokolle aus dieser Zeit sind in dem Gemerkbüchlein überliefert. Die Hochschätzung, die ihm von den Zunftgenossen zuteil wurde, wird u. a. dadurch bezeugt, dass er auf einer Nürnberger Meistersingertafel Ende des 16. Jh. als dreizehnter unter die »alten Meister« eingereiht wurde. In der poetischen Produktion, die Lieder ausgenommen, hat sich S. ausschließlich des traditionellen vierhebigen Reimpaarverses bedient. In der Spruchdichtung, die er in »histori, kampffgesprech, gesprech, lobsprüch, klagred, comparacion, sprüch, fabel und schwenck« untergliedert, knüpft er an die einheimische literar. Tradition der spätmittelalterl. Kleinepik satirisch-didakt. u.
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erzählenden Inhalts an, deren Stoffbereich er jedoch erheblich ausweitete. Mit seiner dramat. Produktion dagegen betrat er teilweise literar. Neuland. Denn S. war einer der ersten, die sich von den humanistischen Bemühungen um die Erneuerung des antiken Dramas zu eigenen Tragödien u. Komödien in dt. Sprache anregen ließen. Seine Lucretiatragödie von 1527 ist neben der Parabell vam vorlorn Szohn des Burkhard Waldis die früheste dt. Bühnendichtung mit Akteinteilung. Ihr folgten bald weitere dramat. Versuche, zunächst nach vorwiegend antiken oder humanistischen Vorbildern. Zu ihnen gehört 1531 die Bearbeitung von Johannes Reuchlins Henno sowie die 1549 entstandene Übertragung des Hecastus von Georgius Macropedius. Die weitaus meisten Dramen schrieb S. zwischen 1550 u. 1560 in der Blütezeit des Nürnberger Meistersingertheaters, das er ins Leben gerufen hatte u. viele Jahre von ihm geleitet wurde. Obwohl auch als Dramatiker bei Weitem der produktivste u. vielseitigste unter den Zeitgenossen – etwa ein Drittel der Dramen sind religiös-bibl. Inhalts, die Übrigen behandeln vorwiegend Stoffe aus antiker u. mittelalterl. Geschichte u. Sage sowie aus dem Bereich der ital. Renaissancenovellistik –, ist S.’ Leistung gerade auf diesem Gebiet meist recht negativ eingeschätzt worden. Das liegt daran, dass er sich in der dramat. Aufbereitung v. a. von den Erfordernissen der Vermittlung der Gehalte u. nicht von tekton. Formgesetzen bestimmen ließ, sowie daran, dass er an sämtl. Stoffe den Maßstab der Moral anlegte, die im Epilog – wie meist auch in der Schlusssentenz seiner übrigen Texte – auf eine einprägsame Formel gebracht wird. Diese Charakteristika sind aber für das dt. Drama des 16. Jh. insgesamt typisch u. können daher nur unter Berücksichtigung der historisch bedingten didakt. Funktion angemessen gewürdigt werden. Für die dt. literar. Produktion des 16. Jh. galt weithin als immanentes Gesetz, dass der Zweck die Form beherrscht. Anders steht es in erhebl. Maße mit den Fastnachtspielen. Sie zählen nach einhelliger Auffassung zum Besten, was S. geschaffen hat, u. in begrenzter Auswahl gehören sie bis heute zum Repertoire von Laienspielgruppen
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auf der ganzen Welt. Anknüpfend an die Tradition, die speziell in Nürnberg seit Mitte des 15. Jh. gepflegt worden war, hat S. das Fastnachtspiel herkömml. Prägung zu einem neuen Spieltypus weiterentwickelt: inhaltlich durch die Dramatisierung von Stoffen aus der mittelalterl. Versnovellistik, die an die Stelle der im 15. Jh. vorherrschenden grobianischen Thematik treten, formal durch die Ablösung des Reihenspiels durch das Handlungsspiel. In einigen Spielen, wie im Das heysz Eisen, Das Kelberbrüten oder Der fahrendt Schueler im Paradeiss, sind ihm auf diese Weise Gehalt u. Gestalt zusammenführende Einakter gelungen, die in der dt. Literatur des 16. Jh. einzig dastehen u. auf das spätere Lustspiel vorausweisen, weil sie ungleich dramatischer sind, als Handlungsspiele des 15. Jh. sein konnten. Nach S. haben in Nürnberg nur noch Peter Probst u. Jacob Ayrer Fastnachtspiele verfasst. Das Gattungstypische wurde danach in andere literar. Formen überführt, z. B. in die Lustspiele oder die Intermedien des Jesuitendramas, oder es wurde durch andere Gattungen ersetzt, z. B. durch die Commedia dell’Arte. Während S. bis zum Ende des 16. Jh. viel gelesen u. aufgeführt wurde, trat das Interesse an ihm nach 1630 bis ins 18. Jh. eher zurück. Zu trauriger Berühmtheit gelangte sein Name in den Literaturfehden der frühen Aufklärung, in denen man ihn als Prototypen handwerklich bornierter Kunstausübung verspottete. Goethe v. a. hat S. als Dichter wiederentdeckt u. seinen Knittelvers von neuem literaturfähig gemacht. Seit dem 19. Jh. wurde S. als Verkörperung des Inbegriffs dt. Biedersinns romantisierend gefeiert. Das Denkmal, das ihm Richard Wagner in den Meistersingern (1868) gesetzt hat, prägt die populäre Vorstellung von ihm bis heute. S. selbst aber sah sich als ein Humanist, wie ihn das früheste S.-Porträt von 1546 in Bild u. Text vor Augen führt. Im Sinne des Renaissance-Humanismus u. der reformatorischen Bewegung war für S. das Hauptziel seiner literar. Tätigkeit dementsprechend, die »Ethisierung aller Lebensbereiche« (D. Wuttke) bzw. die »normative Zentrierung« (B. Hamm) der Gesellschaft vielstimmig litera-
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risch, mit menschenfreundl. Didaktik zu befördern. Ausgaben und Übersetzungen: H. S. Werke. Hg. Adalbert v. Keller u. Edmund Goetze. 26 Bde., Stgt. 1870–1908. Nachdr. Hildesh. 1964. Registerbd. v. Roger A. Crockett. Hildesh./New York 1982. – Sämtl. Fastnachtspiele v. H. S. In chronolog. Ordnung nach den Originalen. Hg. E. Goetze. 7 Bde., Halle 1880–87. – Sämtl. Fabeln u. Schwänke v. H. S. In chronolog. Ordnung nach den Originalen. Hg. E. Goetze u. Carl Drescher. 6 Bde., Halle 1893–1913. – H. S.ens ausgew. Werke. Hg. Paul Merker u. Reinhard Buchwald. 2 Bde., Lpz. 1911 u. ö., z.B. Insel 1923/24 (bibliophil). – H. S. Werke in zwei Bdn. Ausw., Einl. u. Anmerkungen v. Reinhard Hahn. Textrevision u. Fußnoten v. Erika Weber. Bln./Weimar 1992. – Das Gemerkbüchlein des H. S. Nebst einem Anhang: Die Nürnberger Meistersinger-Protokolle 1595–1605. Hg. Karl Drescher. Halle 1898. – The Book of Trades. Jost Ammann and H. S. With a new introduction by Benjamin A. Rifkin. Facs. reprint of the first edition. New York/London 1973. – Die Wittenbergisch Nachtigall. Spruchgedicht, vier Reformationsdialoge u. das Meisterlied Das Walt Got. Hg. Gerald H. Seufert. Stgt. 1974. – Die Buhllieder des H. S. (s. Heinzmann in Lit., weitere Titel). – Fastnachtspiele des 15. u. 16. Jh. (s. u. Lit., Bibliogr.n). – H. S. Meisterlieder, Spruchgedichte, Fastnachtspiele. Ausw., eingel. u. hg. v. Hartmut Kugler. Stgt. 2003. – Der Jedermann im 16. Jh. Die Hecastus-Dramen v. Georgius Macropedius u. H. S. Hg. Raphael Dammer u. Benedikt Jeßing. Bln. u. a. 2007. – Das handschriftl. Generalregister des H. S. Mit einer Einf. v. Reinhard Hahn. Köln/Wien 1986. – Hinweise auf Übersetzungen sind verzeichnet in der Bibliografie von Holzberg sowie in der Bibliografie der H. S.-Biografie von Bernstein (s. Lit., weitere Titel). Literatur: Bibliografien: VD 16. – Heinrich Röttinger: Die Bilderbogen des H. S. Straßb. 1927. – Karl Schottenloher: Bibliogr. zur dt. Gesch. im Zeitalter der Glaubensspaltung 1517–1585. 2. Aufl. Bd. 2, Stgt. 1956; Bd. 5, 1958; Bd. 7, bearb. v. Ulrich Thürauf, 1966. – H. S. Werke. Hg. Adalberg v. Keller u. Edmund Goetze (wie unter Werke). Bde. 24, 25, 26 (grundlegend). – Niklas Holzberg: H.-S.-Bibliogr. Nürnb. 1976 (grundlegend). – Ders.: Nachträge zur H. S.-Bibliogr. In: Mitt.en des Vereins für Gesch. der Stadt Nürnberg 64 (1977), S. 333–343. – RSM, Bd. 1, 1994 (Verz. der Hss. u. Drucke der Meisterlieder); Bd. 2,1, 2009 (Verz. der Töne); Bde. 9–11, bearb. v. Horst Brunner, Eva Klesatschke, Dieter Merzbacher, Johannes Rettelbach, 1986/87 (Repertorium der Texte). – Hans-
145 Joachim Köhler: Bibliogr. der Flugschriften des 16. Jh. Teil 1, Bd. 3, Tüb. 1996 (Nr. 3989–4016). – Fastnachtspiele des 15. u. 16. Jh. Unter Mitarb. v. Walter Wuttke hg. v. Dieter Wuttke. Stgt. 72006 (Lit. bis 1989 zu allen Bereichen). – Bernstein: H. S. (Lit. reichhaltig, s. weitere Titel). – Franz Otten: H. S. (Bibliogr. umfassend bis 2001, s. weitere Titel). – Kataloge: Die Welt des H. S. 400 Holzschnitte des 16. Jh. (Eine Ausstellung der Stadt Nürnberg). Nürnb. 1976. – H. S. Kat. zur Ausstellung in der Kunstslg. der Univ. Göttingen. 2., durchges. u. erw. Aufl. Hg. Stephan Füssel. Gött. 1979. – H. S. u. die Meistersinger in ihrer Zeit. Eine Ausstellung des German. Nationalmuseums. Nürnb. 1981. – Die Meistersinger u. Richard Wagner. Die Rezeptionsgesch. einer Oper v. 1868 bis heute. Eine Ausstellung des German. Nationalmuseums in Nürnberg. Nürnb. 1981. – 500 Jahre H. S. Handwerker, Dichter, Stadtbürger. Ausstellung u. Kat. v. D. Merzbacher u. a. Wiesb. 1994. – H. S., der Schuhmacher 1494–1576. Sonderausstellung im Dt. Schuhmuseum. Hg. Gabi Posniak. Offenbach am Main 1994. – H. S.-Drucke des 16. Jh in der Bibl. Otto Schäfer. Bearb. v. Georg Drescher. Schweinfurt 1997. – Weitere Titel: Edmund Goetze: H. S. In: ADB. – Helene Henze: Die Allegorie bei H. S. Mit besonderer Berücksichtigung ihrer Beziehungen zur graph. Kunst. Halle 1912. – Georg Stuhlfauth: Die Bildnisse des H. S. vom 16. bis zum Ende des 19. Jh. Bln. 1939. – Dieter Wuttke: Die ›Histori Herculis‹ des Nürnberger Humanisten u. Freundes der Gebrüder Vischer, Pangratz Bernhaubt gen. Schwenter. Köln/Graz 1964 (Register, v. a. zum literaturtheoret. Stichwort ›Zweck herrscht über Form‹). – Winfried Theiß: Exemplarische Allegorik. Untersuchungen zu einem literaturhistor. Phänomen bei H. S. Mchn. 1968. – Michael Mathias Prechtl u. Godehard Schramm: Nürnberger Bilderbuch. Nürnb. 1970 (Register). – D. Wuttke: Versuch einer Physiognomie der Gattung Fastnachtspiel (1973). In: Fastnachtspiele des 15. u. 16. Jh. (s. o. unter Bibliogr.n), S. 441–462. – Helmut Krause: Die Dramen des H. S. Untersuchungen zur Lehre u. Technik. Bln. 1979. – D. Wuttke: Ethik im Humanismus (1979). In: Ders.: Dazwischen. Kulturwiss. auf Warburgs Spuren. 2 Bde., Baden-Baden 1996, hier Bd. 1, S. 309–311. – Ders.: Didakt. Dichtung als Problem der Literaturkritik u. der literaturwiss. Wertung (1982). In: Wuttke, s. o., Bd. 1, S. 251–278. – Frieder Schanze: Meisterl. Liedkunst zwischen Heinrich v. Mügeln u. H. S. 2 Bde., Mchn. 1983/84. – Joachim Knape: Historie in MA u. Früher Neuzeit. Begriffs- u. gattungsgeschichtl. Untersuchungen im interdisziplinären Kontext. Baden-Baden 1984. – Maria E. Müller: Der Poet der Moralität. Untersuchungen zu H. S.
Sachs Bern/Ffm. 1985. – M. Dutschke: ›was ein singer soll singen‹. Untersuchungen zur Reformationsdichtung des Meistersängers H. S. Ffm. u. a. 1985. – Jürgen Weber: Das Ehekarussell. Der H. S.-Brunnen in Nürnberg. Nürnb. 1988. – Michael Schilling: Bildpublizistik der frühen Neuzeit. Aufgaben u. Leistungen des illustrierten Flugblatts in Dtschld. bis um 1700. Tüb. 1990. – Ingeborg Spriewald: Lit. zwischen Hören u. Lesen. Fallstudien zu Beheim, Folz u. S. Bln. 1990. – Wolfgang F. Michael: H. S., der Humanist. In: Daphnis 20 (1991), S. 423–431. – Eckhard Bernstein: H. S. mit Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten. Reinb. 1993 (beste neuere Gesamtdarstellung, Lit.). – D. Wuttke: Über die Schwierigkeiten, 1994 H. S. zu feiern. In: Wuttke, s.o., Bd. 2, S. 595–613 . – H. S. im Schnittpunkt v. Antike u. Neuzeit. Hg. S. Füssel. Nürnb. 1995. – H. Brunner: H. S. In: LexMA. – Cornelia Epping-Jäger: Die Inszenierung der Schrift. Der Literarisierungsprozess u. die Entstehung des Dramas. Stgt. 1996 (letztes Kap. ist S. gewidmet). – Hannes Kästner: Wissen für den ›gemeinen Mann‹. Rezeption u. Popularisierung griech.-röm. Lit. durch Jörg Wickram u. H. S. In: Latein u. Nationalsprachen in der Renaissance. Hg. Bodo Guthmüller. Wiesb. 1998, S. 345–378. – Barbara Könneker: H. S. In: TRE. – Ulrich Feuerstein: ›Deshalb stet es so uebel icz fast in allem regiment.‹ Zeitbezug u. Zeitkritik in den Meisterliedern des H. S. Nürnb. 2001. – Julia Maria Heinzmann: Die Buhllieder des H. S. Form, Gehalt, Funktion u. sozialhistor. Ort. Wiesb. 2001. – Franz Otten: H. S. In: Bautz, Bd. 20 (2002), Sp. 1239–1260 (grundlegend, auch bibliographisch bis 2001). – Johannes Rettelbach: Die frühen Liebeslieder des H. S. In: Dt. Liebeslyrik im 15. u. 16. Jh. Hg. Gert Hübner. Amsterd. 2003, S. 201–220. – Berndt Hamm: Lazarus Spengler (1479–1534). Der Nürnberger Ratschreiber im Spannungsfeld von Humanismus u. Reformation, Politik u. Glaube. Tüb. 2004 (Register). – Winfried Neumann: Zeitenwechsel. Weltliche Stoffe des 12. bis 14. Jh. in Meisterliedern u. motivverwandten Dichtungen des H. S. Heidelb. 2005. – J. Rettelbach: H. S. In: NDB. – Wolfram Washof: Die Bibel auf der Bühne. Exempelfiguren u. protestant. Theologie im lat. u. dt. Bibeldrama der Reformationszeit. Münster 2007, passim. – Maria E. Dorminger: Wo selbst der Teufel nichts erreichen kann. Der Teufel u. die alten Frauen bei H. S. In: Current topics in Medieval German literature. Hg. Sibylle Jefferis. Göpp. 2008, S. 103–116. – Benedikt Jeßing: Zur Rezeption des ›morall play‹ vom ›Everyman‹ in der nlat. u. frühnhd. Komödie. Macropedius, H. S. In: Das lat. Drama der Frühen Neuzeit. Hg. Reinhold F. Glei u. Robert Seidel. Tüb. 2008, S. 87–99. – Simone Lo-
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leit: Wahrheit, Lüge, Fiktion. Das Bad in der deutschsprachigen Lit. des 16. Jh. Bielef. 2008. – Christiane Ackermann u. Rebekka Nöcker: ›Wann gantz geferlich ist die Zeit.‹ Zur Darstellung des Türken im Werk des H. S. In: Texte zum Sprechen bringen. FS Paul Sappler. Hg. C. Ackermann u. Susanne Borgards. Tüb. 2009, S. 437–464, 490–497. – Hélène Feychy: Der Narr bei H. S. In: Der Narr in der dt. Lit. im MA u. in der Frühen Neuzeit. Hg. Jean Schillinger. Bern u. a. 2009, S. 103–123. – Wilhelm Kühlmann: Weiser oder Narr? – Zur Topik der Diogenes-Darstellungen in der dt. Lit. der Frühen Neuzeit, besonders bei H. S. In: ›Fortunatus‹, ›Melusine‹, Genovefa‹. Internat. Erzählstoffe in der dt. u. ungar. Lit. der Frühen Neuzeit. Hg. Dieter Breuer u. Gábor Tüskés. Bern u. a. 2010, S. 53–68. Barbara Könneker / Dieter Wuttke
Sachs, Nelly, eigentl.: Leonie S., * 10.12. 1891 Berlin, † 12.5.1970 Stockholm; Grabstätte: ebd., Norra kyrkogården, Mosaiska Kapellet. – Lyrikerin, Dramatikerin, Übersetzerin. S. wuchs als einziges Kind des Gummiwarenfabrikanten Georg William Sachs u. seiner Frau Margarete, geb. Karger – beide aus jüd. Kaufmannsfamilien stammend – in einem großbürgerl. Umfeld auf. Wegen gesundheitl. Probleme erhielt sie zeitweise Privatunterricht u. musste sich zwischen 1905 u. 1910 immer wieder in Landschulheimen, an Kurorten u. in Sanatorien aufhalten. Mit 17 Jahren verliebte sie sich in einen älteren, verheirateten Mann, was eine lebensbedrohl. Krise u. psychiatr. Betreuung zur Folge hatte. Aus den genaueren Umstände dieser Beziehung, die angeblich in den 1930er Jahren noch einmal begann u. mit dem Tod des Geliebten endete (»Er wurde Widerstandskämpfer in der Nazi-Zeit. Er wurde [vor meinen Augen] gemartert und schließlich umgebracht«, Brief an Walter A. Berendsohn), machte S. Zeit ihres Lebens ein Geheimnis. In der frühen u. mittleren Werkphase spielt dieses Erlebnis eine wichtige Rolle, etwa im unveröffentlichten Zyklus Lieder vom Abschied. An den Fernen (1937) oder in den Gebeten für den toten Bräutigam (In den Wohnungen des Todes).
Erste schriftstellerische Versuche hatte S. mit zwölf Jahren unternommen. 1919 sandte sie Gedichte an Selma Lagerlöf, mit der sich ein kleiner Briefwechsel entspann. S.’ Vorliebe für romant. Lieder u. Märchendichtung, für Sagen-, Tier- u. Naturmotive kam nicht nur in ihrer Lyrik zum Ausdruck, sondern auch in den 1921 in Kleinstauflage veröffentlichten Legenden und Erzählungen (Bln.). Ein tiefer Einschnitt war die 1924 einsetzende Krebserkrankung des künstlerisch interessierten Vaters, den S. bis zu dessen Tod 1930 pflegte. Sie zog dann mit ihrer Mutter in ein der Familie gehörendes Mietshaus, dessen Verwaltung sie übernahm. Zur literar. Szene der Weimarer Republik hatte S. kaum Kontakt. 1929 konnte sie in der »Vossischen Zeitung»« erstmals ein Gedicht veröffentlichen. Die Gedichtzyklen, Erzählungen, Puppenspiele u. Marionettenstücke der 1930er Jahre blieben thematisch konventionell u. im Ton epigonal, wurden aber um bibl. Motive erweitert (Biblische Lieder. 1933/34). S.’ Lyrik wurde im 1933 gegründeten Jüdischen Kulturbund vorgetragen u. im »Berliner Tageblatt« sowie später in jüd. Zeitschriften veröffentlicht. Erwähnenswert von diesen frühen Arbeiten, deren Nachdruck sie später untersagte, ist noch der autobiografisch gefärbte Prosatext Chelion. Eine Kindheitsgeschichte (1930–37). Die antijüd. Repressalien nach der »Machtergreifung« betrafen auch S. u. ihre Mutter. Ab 1938 bemühte sie sich um ihre Ausreise; 1939 reiste ihre Freundin Gudrun Harlan nach Schweden u. erreichte mit Hilfe von Selma Lagerlöf u. Prinz Eugen Bernadotte die Zusage für ein Durchreisevisum. Im Mai 1940 erhielt S. den Stellungsbefehl zum Arbeitsdienst u. gleichzeitig die Einreiseerlaubnis; am 16. Mai konnte sie mit ihrer Mutter Deutschland auf einem der letzten Flüge nach Schweden verlassen. 1941 bekamen beide eine kleine Einzimmerwohnung im Süden Stockholms, 1948 eine etwas größere im selben, der jüd. Gemeinde gehörenden Haus, in der S. bis zu ihrem Tod blieb. Die neuen Gedichtzyklen (u. a. Schwedische Elegien, Miniaturen um Schloß Gripsholm) klammerten die erlebten Schrecken noch aus u. blieben im Ton der frühen
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Lyrik verhaftet; auch dramat. Versuche wie das Spiel vom Zauberer Merlin griffen vertraute Sujets auf. Erst mit den 1943 begonnenen Grabschriften in die Luft geschrieben, die Initialen deportierter Freunde u. Verwandter enthielten, den Elegien von den Spuren im Sande sowie den szen. Dichtungen Eli. Ein Mysterienspiel vom Leiden Israels (1943–46) u. Abram im Salz (1946–52) setzte die von dichterischem Pathos getragene Auseinandersetzung mit dem Schicksal des jüd. Volkes u. dem Grauen der Herrschaft der Nationalsozialisten ein. Große Bedeutung für S.’ Werk hatte die Begegnung mit der modernen schwed. Lyrik (Johannes Edfelt, Gunnar Ekelöf, Erik Lindegren u. a.). Schon 1942 hatte sie mit Übertragungen angefangen; Übersetzungsaufträge u. Unterstützungsgelder sicherten die Grundlage ihrer Existenz. Da sie tagsüber ihre Mutter pflegte, konnte sie nur nachts schreiben; dennoch entstanden weitere Gedichtzyklen, von denen Auszüge in internat. Zeitschriften gedruckt wurden. 1947 erschien S.’ erster Gedichtband: In den Wohnungen des Todes wurde in 20.000 Exemplaren im OstBerliner Aufbau Verlag veröffentlicht, wie auch der von ihr übersetzte »Querschnitt durch die schwedische Lyrik des 20. Jahrhunderts« Von Welle und Granit. 1949 folgte bei Bermann-Fischer der zweite Gedichtband Sternverdunkelung (Amsterd./Bln./Wien), der aber nur geringe Beachtung fand. Am 7.2.1950 starb Margarete Sachs nach langer Krankheit; kurz darauf erlitt S. einen Nervenzusammenbruch. Den Abschied von der Mutter verarbeitete sie in Briefen aus der Nacht, die sie allerdings nicht veröffentlichte. Seit Ende der 1940er Jahre hatte sie sich intensiv mit jüd. Mystik u. insbes. der Kabbala beschäftigt u. Werke von Hugo Bergmann, Martin Buber, Ernst Müller u. Gershom Scholem gelesen, was sich auch auf ihre lyr. Produktion (wie den Zyklus Sohar) u. ihre szen. Dichtungen (Nachtwache) auswirkte. 1956 veröffentlichte S. eine autobiogr. Skizze über die Zeit vor ihrer Flucht, Leben unter Bedrohung. Immer wieder brachte sie einzelne Texte in Zeitschriften unter, doch erst 1957 erschien der Lyrikband Und niemand weiß weiter (Hbg./Mchn.), den sie als Beginn ihres Spätwerks betrachtete. Schon ein Jahr zuvor
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war die von ihr übersetzte Auswahl schwed. Lyrik Aber auch diese Sonne ist heimatlos (Darmst.) herausgekommen. 1959 folgte der erstmals auf Zyklen verzichtende Gedichtband Flucht und Verwandlung (Stgt.). 1959 u. 1960 entstanden weitere dramat. Dichtungen (Vergebens auf einen Scheiterhaufen, Was ist ein Opfer?). 1958 wurde Eli als Hörspiel ausgestrahlt, 1959 die gleichnamige Oper von Moses Pergament. S., erschrocken über die Dominanz der Musik, erlitt erneut einen Nervenzusammenbruch. In diesen Jahren verstärkten sich ihre Verfolgungsängste; sie fühlte sich bedroht durch Klopfzeichen u. Funksignale u. glaubte, von Nationalsozialisten überwacht zu werden. 1960 kam es zur Einweisung in die Nervenklinik Beckomberga, wo sie mit Unterbrechungen bis 1963 blieb u. mit Elektroschocks u. Insulin behandelt wurde. Das unter großen Anstrengungen hervorgebrachte Spätwerk, in dem es nicht mehr um poetische Trauerarbeit, sondern um Verknappung u. Vieldeutigkeit, um die Einbeziehung des Schmerzes u. des Schweigens ging, gipfelte in den vier Zyklen der Glühenden Rätsel (1962–66). In dieser Zeit entstanden auch weitere szen. Dichtungen (Beryll sieht in der Nacht. 1961), der Gedichtband Fahrt ins Staublose (Ffm. 1961) sowie zahlreiche Übersetzungen schwed. Poesie. 1965 erschienen die Späten Gedichte (Ffm.). Im März 1967 erlitt S. einen Herzanfall; 1968 kam sie noch einmal in eine psychiatr. Klinik, 1969 folgte eine Krebsoperation. Einer größeren Öffentlichkeit war S. erst mit In den Wohnungen des Todes bekannt geworden. Als bedeutende Dichterin wurde sie ab Ende der 1950er Jahre wahrgenommen, nach Aufnahme in verschiedene Akademien (Darmstadt 1957, Hamburg 1961, München 1963), der Ausstrahlung ihrer szen. Dichtung im Rundfunk u. etlichen Preisen (1958 Lyrikpreis des Schwedischen Autorenverbandes, 1959 Literaturpreis der Deutschen Industrie, 1960 Meersburger Droste-Preis, 1961 Nelly-Sachs-Preis Dortmund). Großen Anteil an der Wirkung ihres Werks hatten ihre zahlreichen freundschaftl. Kontakte, in Schweden zu Enar Sahlin, Moses Pergament, Bengt u. Margaretha Holmqvist, aber auch zu
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Emigranten wie Walter A. Berendsohn, Kurt Sachs, Walter, * 9.12.1901 Traisen/NiePinthus oder ihrem Vetter Manfred George derösterreich, † 5.3.1985 Lilienfeld; vom New Yorker »Aufbau«. Besonders wich- Grabstätte: ebd., Friedhof. – Autor von tig waren die in der zweiten Hälfte der 1950er Lyrik u. betrachtender Prosa. Jahre einsetzenden Verbindungen zu jüngeS., Sohn eines Fabrikarbeiters u. einer ren dt. Dichtern wie Alfred Andersch, ElisaDienstmagd, besuchte die Lehrerbildungsbeth Borchers, Paul Celan, Hans Magnus anstalt in St. Pölten u. war dann als DorfEnzensberger u. Peter Hamm. Auf der Taschullehrer in seiner Heimatregion tätig. gung der Gruppe 47 1964 in Sigtuna u. 1933 erschien sein erster bedeutender LyrikStockholm kam es zu weiteren Begegnungen. band, Zwischen Wäldern und Schloten (Wien), in Letzte große Ehrungen waren 1965 der Friedem er sich mit Technik u. Natur im Indusdenspreis des Deutschen Buchhandels u. triedorf auseinandersetzt. Nach Kriegsdienst 1966 der Literaturnobelpreis (zus. mit Josef u. Gefangenschaft wurde S. Schuldirektor in Agnon), »für ihre hervorragenden lyrischen Traisen u. lebte dort auf dem Berghof Buund dramatischen Werke, die das Schicksal chersreith. Wie seinem erfolgreicheren LehIsraels mit ergreifender Stärke interpretierer- u. Dichterkollegen Karl Heinrich Wagren«. Zeichen ihres späten Ruhms waren auch gerl war auch ihm die Gabe genauen Beobdie Bände Nelly Sachs zu Ehren (1961 u. 1966, achtens zu eigen. Das tiefere Eindringen in beide Ffm.) u. Das Buch der Nelly Sachs (Hg. das Naturgeschehen bedeutete ihm in der Bengt Holmquist. Ffm. 1968) sowie die große dörfl. Enge eine Öffnung in die Weite. Sein Zahl von Übersetzungen. Mit der 2010 u. lyr. Stil entwickelte sich von den streng ge2011 in vier Bänden erschienenen Werkausbundenen expressionistischen Anfängen zur gabe sind S.’ Texte, einschließlich des Nachknappen Diktion freier Rhythmen. 1963 lasses ab 1940, erstmals kommentiert greifwurde ihm der Würdigungspreis des Landes bar. Niederösterreich u. 1967 der Preis der TheoWerke: Kommentierte Ausg. in vier Bdn. Hg. dor-Körner-Stiftung verliehen.
Aris Fioretos. Bln. 2010/11. – Briefwechsel: Briefe der N. S. Hg. Ruth Dinesen u. Helmut Müssener. Ffm. 1984. – Paul Celan / N. S.: Briefw. Hg. Barbara Wiedemann. Ffm. 1993.
Literatur: Ruth Dinesen (Hg.): N. S. Briefregister. Stgt. 1989. – Dies.: N. S. Eine Biogr. Ffm. 1992. – Gabriele Fritsch-Vivié: N. S. Reinb. 1993. – Michael Kessler u. Jürgen Wertheimer (Hg.): N. S. Neue Interpr.en. Tüb. 1994. – Dorothee Ostmeier: Sprache des Dramas – Drama der Sprache. Zur Poetik der N. S. Tüb. 1997. – Birgit Lermen u. Michael Braun (Hg.): N. S. – ›an letzter Atemspitze des Lebens‹. Bonn 1998. – Anja Tippner: N. S. In: LGL. – Ruth Dinesen: N. S. In: NDB. – Ariane Huml (Hg.): ›Lichtersprache aus den Rissen‹. N. S. – Werk u. Wirkung. Gött. 2008. – Gerald Sommerer: ›Aber dies ist nichts für Deutschland, das weiß und fühle ich.‹ N. S. – Untersuchungen zu ihrem szen. Werk. Würzb. 2008. – Gudrun Dähnert: Wie N. S. 1940 aus Dtschld. entkam. In: SuF 61 (2009), H. 2, S. 226–257. – Andreas Kraft: ›nur eine Stimme, nur ein Seufzer‹. Die Identität der Dichterin N. S. u. der Holocaust. Ffm. u. a. 2010. – Anton Thuswaldner: N. S. In: KLG. Matthias Weichelt
Weitere Werke: Lyrik: Der Karneol. Wien 1960. – Spätherbst. Wien/Mchn. 1969. – Brückenbogen. St. Pölten 1976. – Pinselstriche. Baden 1981. – Im Nebel der Zeit. St. Pölten 1984. – Bild u. Inbild. Auswahlbd. hg. u. mit einem Nachw. vers. v. Alois Eder. Wien 1987. – Späte Prosa. Knabenwege – Altersweisheit. Hg. A. Eder. St. Pölten 1991. Literatur: Kurt Adel: ›Das Mädchenbild durchstrahlt dich‹. Zum Tod von W. S. In: Morgen. Kulturztschr. aus Niederösterr. Nr. 41 (1985), S. 169 f. – Alois Eder: Der niederösterr. Dichterstreit im Spiegel einer Dichterfreundschaft. Wilhelm Szabo u. W. S. In: Niederösterreichs Lit. im Aufbruch. Hg. Johannes Twaroch. St. Pölten 1988, S. 63–71. – Franz Richter: Für Dein Heiliges gibt es kein Gloria mit Pauken u. Trompeten. Zum 100. Geburtstag v. W. S. In: Lit. aus Österr. 46 (2001), H. 264/265, S. 19–21. Elisabeth Schawerda / Red.
Sachse, Johann Christoph, * 13.7.1761 Cobstädt bei Gotha, † 20.6.1822 Teplitz. – Verfasser einer Autobiografie. Der Sohn eines Händlers u. »vielwissenden Spekulanten« wurde bekannt durch seine
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Der von Sachsendorf
wenige Jahre vor seinem Tod verfasste Le- Hg. Wolfgang Frühwald. Tüb. 1989, S. 1–15. – bensgeschichte. Von Goethe zum Druck vor- Anne Lagny: ›Der dt. Gil Blas‹ (J. C. S.): entre bereitet u. mit Vorwort u. Titel versehen, er- l’aventure et le pèlerinage ou: comment lire l’auschien das Buch 1822: Der deutsche Gil Blas, tobiographie de l’homme du peuple? In: La littérature populaire dans les pays germaniques. Hg. eingeführt von Goethe. Oder Leben, Wanderungen Eva Philippoff. Villeneuve d’Ascq 1999, S. 125–138. und Schicksale Johann Christoph Sachses, eines – Gilbert Belo: Der Seele ungeheure Kluft: Leben, Thüringers. Von ihm selbst verfaßt (Stgt./Tüb.). Reisen u. Schicksal des Gil B. Frei nach dem dt. Gil Als repräsentatives Beispiel goethezeitl. Un- Blas des J. C. S. u. einem Vorw. v. J. W. v. Goethe. terschicht-Autobiografien, etwa neben den Salem 2007. Stefan Iglhaut / Red. Erinnerungen des Schusters Johann Kaspar Steube oder des Soldaten u. Schriftstellers Der von Sachsendorf. – Österreichischer Laukhard, findet der Text bis heute Beach- Minnesänger, Mitte 13. Jh. tung u. wurde mehrfach wieder aufgelegt (Hg. Wulf Segebrecht. Mchn. 1964. Neudr. Die Handschrift Manesse (C) überliefert sie1983. Hg. Jochen Golz. Bln. 1977. Neudr. ben Lieder, die das gängige Inventar des höf. Minnesangs nutzen u. variierend umspielen. Nördlingen 1987). S. erfasste chronologisch sein bewegtes Le- Stärker noch als die Ausrichtung auf Neidben bis 1800, als er sich in Weimar niederließ hart, auf den die Tanzthematik verweist, ist u. mit Goethes Unterstützung eine Stelle als die Orientierung an Walther von der VogelBibliotheksdiener erhielt. Die Darstellung weide. In Österreich u. der Steiermark kommen seiner schweren Kindheit im Zeichen des mehrere Orte namens S. in Frage, wahrleichtsinnigen Vaters, seiner eigenständigen scheinlich ist das niederösterr. S. in der GeWahl bäuerl. Pflegeeltern, seiner bei großem meinde Kirchberg bei Wagram. Eine Identität Bildungseifer unterbrochenen Schulausbildung u. der stetigen Suche nach neuen An- mit dem in Ulrichs von Liechtenstein Frauenstellungen geben dem Buch vom erzählten dienst als Teilnehmer der Artusfahrt erwähnten Ulrich von Sachsendorf (Str. 1482), dessen Stoff her den Charakter eines Abenteuer- u. Familie zur Ministerialität der Küenringer Schelmenromans. Nicht zuletzt das Selbstzählte u. der 1249 bezeugt ist, wurde mehrwertgefühl des Individuums beim Einfordern fach als wahrscheinlich erwogen. Die Miniabürgerl. Rechte rückte S. in die Nähe der betur in Handschrift C zeigt den liegenden rühmten Romanfigur Gil Blas des Alain-René Sänger, dem ein Arzt den Unterschenkel Le Sage. Im Gegensatz zu diesem Kunstwerk bandagiert – eine bildl. Ausgestaltung der in hob Goethe im Vorwort das »Naturwerk« S.s Lied VI,3 formulierten Klage des Sängers, hervor, das mittels natürl. poetischer Talente dass er sich im Dienst der Dame den Fuß eines einfachen Mannes nicht nur die Wirrgebrochen habe. nisse eines Lebens authentisch erzählt, sonDie Lieder thematisieren eine ungelohnte dern letztlich – trotz aller Mühsal – den Minne, das Ich sieht sich hilflos der VerfüGlauben an eine »moralische Weltordnung« gungsgewalt seiner Dame ausgeliefert u. bestärkt. Insofern sei das Buch auch »die Bi- hofft auf zukünftige Belohnung. In den beibel der Bedienten und Handwerksbursche«. den ersten Liedern wird ein frühlingshafter Literatur: Klaus-Detlef Müller: Autobiogr. u. Natureingang zur Kontrastfolie für das LieRoman. Studien zur literar. Autobiogr. der Goe- besleid des Ichs, das sich trotz mangelnden thezeit. Tüb. 1976, S. 200–220. – Werner Psaar: Ein Erfolgs u. Anfeindungen des Publikums nicht ›deutscher Gil Blas‹? Literaturdidakt. Erwägungen von seiner Dame abwendet. Wiederholt nutzt zu den ›Memoiren v. unten‹ aus der Zeit der SpätS. das Stilmittel der Personifikation, so in der aufklärung. In: Sub tua Platano. FS Alexander Beinlich [...]. Emsdetten 1981, S. 485–508. – Eda tadelnden Anrede an das Herz, das zu voreilig Sagarra: Gil Blas: Gesch. und Abenteuer eines Ro- zum Minnedienst geraten habe (Lied I), u. an manhelden auf dem europ. Buchmarkt. In: Zwi- Frau Minne als Fürsprecherin bei der Dame schen Aufklärung u. Restauration: sozialer Wandel (Lied III). In Lied III illustriert S. die Leiin der dt. Lit. (1700–1848). FS Wolfgang Martens. densbereitschaft im Minnedienst mit dem
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plastischen, auch bei Konrad von Würzburg u. Hadloub begegnenden Bild, dass das Ich in der Glut der Minne geröstet wird. Mehrere Lieder zeigen ein selbstreflexives Moment, indem die Funktion des Sangs sowohl im persönl. Minnedienst als auch in der Gesellschaft bedacht wird. So öffnet Lied IV den Minnediskurs zum lehrhaften Sprechen u. thematisiert in der mahnenden Anrede an andere Ritter den Frauenpreis als Möglichkeit, gesellschaftl. Ansehen zu erlangen. Im Verweis auf einen »niuwen dôn« bezieht sich S. in Lied VI wohl auf eine neue Sangesmode. Diese wird vom Sänger in einem Bescheidenheitsgestus als »ze snel« abgelehnt, zgl. demonstriert er ironisch mit seinem Sang, dass er die metr. Anforderungen der neuen Form mit Daktylen u. versübergreifendem inneren Reim durchaus beherrscht. Die Angabe des Tons zu Beginn eines Liedes ist im Minnesang eher untypisch (vgl. Walthers von der Vogelweide, In dem dône, L. 111,22), die Thematisierung eines neuen Singens jedoch mehrfach belegt. Ausgabe: KLD, Bd. 1, S. 397–402. Literatur: Eduard Kranner: Ulrich v. S. Ein höf. Minnesänger im babenberg. Österr. Wien/Lpz. 1944. – Elisabeth Hages: D. v. S. In: VL. – Eva Willms: Noch einmal Anmerkungen zum Marner. In: ZfdA 137 (2008), S. 335–353, hier S. 344 f. Sandra Linden
Sachsenspiegel ! Eike von Repgow Sack, August Friedrich Wilhelm, * 4.2. 1703 Harzgerode, † 23.4.1786 Berlin. – Reformierter Prediger. S., einer der berühmtesten Kanzelredner seiner Zeit, entstammte einer streng reformierten Familie. Sein Vater Daniel Sack war Bürgermeister von Nordhausen. Am 18.6.1722 nahm er an der Universität Frankfurt/O. das Studium der evang.-reformierten Theologie auf. Eingehende Beschäftigung mit arminian. Theologie, Samuel Clarkes Deismuskritik u. vor allem mit der neueren Philosophie (Descartes, Locke, Wolff) entfremdete ihn dem calvinistischen Dogma. Seit 1731 Prediger in Magdeburg, wurde S. 1740, noch unter Friedrich Wilhelm I., als
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dritter Hof- u. Domprediger sowie Konsistorialrat nach Berlin berufen. 1744 wurde er erster Hofprediger u. in die Akademie der Wissenschaften aufgenommen; seit 1750 war er Mitgl. des neu errichteten Oberkonsistoriums. Sein theolog. Hauptwerk, Vertheidigter Glaube der Christen (8 Stücke, Bln. 1748–51. 2 1773), ist eine Apologie im Geist der religiösen Toleranz u. des »sapere aude«, die sich gegen Atheismus u. Orthodoxie in gleicher Weise wendet. Vom Gott der aufgeklärten Schul- u. Popularphilosophie unterscheidet sich der Gott S.s kaum. Seine auf die Prinzipien der »natürlichen Religion« reduzierten christl. Grundartikel – Dasein Gottes, Wirken einer Vorsehung, Unsterblichkeit der Seele – u. sein Bemühen, bibl. Offenbarung (an der S. uneingeschränkt festhielt), vernünftige Einsicht u. moralisches Gefühl zur Deckung zu bringen, machten S. zum Nestor der Neologen (J. S. Semler, J. J. Spalding, J. F. W. Jerusalem). Weitere Werke: Predigten über [...] Wahrheiten zur Gottseligkeit. 6 Tle., Magdeb./Bln. 1735–64. Tle. 1 u. 2, 61757. – Lebensbeschreibung nebst einigen [...] Briefen u. Schr.en. Hg. Friedrich Samuel Sack. 2 Bde., Bln. 1789 (Schriftenverz. in Bd. 1). Literatur: Siegfried Lommatzsch: A. F. W. S. In: ADB. – Karl Aner: Die Theologie der Lessingzeit. Halle 1929. Nachdr. Hildesh. 1964. – Rudolf v. Thadden: Die brandenburgisch-preuss. Hofprediger im 17. u. 18. Jh. [...]. Bln. 1959, bes. S. 216–220 u. Ahnentafel Nr. 5. – Horst Möller: A. F. W. S. In: Berlinische Lebensbilder. Bd. 5: Theologen. Hg. Gerd Heinrich u. a. Bln. 1990, S. 129–146. – J. Jürgen Seidel: A. F. W. S. In: Bautz. – Hans-Georg Kemper: Dt. Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 6/I, Tüb. 1997, Register. – Mark Pockrandt: Bibl. Aufklärung. Biogr. u. Theologie der Berliner Hofprediger A. F. W. S. (1703–1786) u. Friedrich Samuel Gottfried S. (1738–1817). Bln./New York 2003 (mit Lit.). – Christopher Spehr: Das Magdeburger Neologentreffen im Jahre 1770. In: Christentum im Übergang. Neue Studien zu Kirche u. Religion in der Aufklärungszeit. Hg. Albrecht Beutel u. a. Lpz. 2006, S. 87–102. – M. Pockrandt: A. F. W. S. (1703–1786). Hofprediger unter Friedrich dem Großen. In: Jb. für Berlin-Brandenburgische Kirchengesch. 67 (2009), S. 157–173. Wolfgang Riedel / Red.
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Sack, Gustav (Mathias), auch: Ernst Schahr, * 28.10.1885 Schermbeck bei Wesel, † 5.12.1916 bei Finta Mare nahe Bukarest (gefallen). – Romancier, Erzähler, Lyriker. S. stammte aus einer Schermbecker Lehrerfamilie, besuchte das Gymnasium in Wesel u. verfasste bereits in seiner Jugendzeit erste Gedichte, von denen 1904 das heroische Gedicht Olof (Bln.) veröffentlicht wurde – als nahezu einziges zu S.s Lebzeiten erschienenes Werk. Dessen 1906 entstandene, rund 800 Stanzen umfassende Fortsetzung Erwins Tod blieb indes unpubliziert. Im selben Jahr begann S. zunächst ein Studium der Germanistik, dann der Naturwissenschaften, insbes. Biologie, in Greifswald, Münster, Halle u. schließlich erneut in Münster, gleichwohl ohne einen akadem. Grad zu erlangen. In die Studienzeit fallen auch S.s erste Prosaversuche, die stark verändert Eingang in spätere Werke fanden. 1910 kehrte S. nach Schermbeck zurück u. begann mit der Arbeit an dem autobiogr. Roman Der dunkelblaue Enzian, der, nachdem ihn zunächst mehrere Verlage abgelehnt hatten, u. d. T. Ein verbummelter Student (Bln. 1917. Stgt. 1987) bekannt wurde. Seit Okt. 1911 absolvierte S. ein militärisches Dienstjahr in Rostock, überarbeitete den Verbummelten Studenten u. schrieb an dem ebenfalls autobiogr. Roman Mein Sommer 1912 (später u. d. T. Ein Namenloser. Bln. 1919). In Schermbeck begann S. das Romanprojekt Im Hochgebirge (späterer Titel Paralyse), an dem er v. a. während seines Aufenthalts in München 1913/14 weiterarbeitete, welches indes Fragment blieb. Trotz seiner vielfältigen literar. Produktion von Gedichten, Novellen, Essays u. Kritiken (u. a. Zur Würdigung der Kunst oder Zynismus unserer Jüngsten) gelang es S. in München nicht, als Literat Fuß zu fassen. Im Juli 1914 heiratete S. Paula Harbeck, die Schwester des Schriftstellers Hans Harbeck. Er floh in die Schweiz, verweigerte bei Kriegsausbruch den Wehrdienst, kehrte jedoch aufgrund materieller Not gemeinsam mit seiner Frau zurück, stellte sich, wurde amnestiert u. an die Westfront geschickt. Während eines Lazarettaufenthalts vollende-
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te er das Drama Der Refraktair. Während des Kriegsdienstes entstanden seit 1914 auch Gedichte u. novellistische Skizzen (u. a. Aus dem Tagebuch eines Refraktairs, Der Igelrücken, Hinter der Front), seit Okt. 1916 eine Materialsammlung für das Buch In Ketten durch Rumänien. S.s Werk blieb mit Ausnahme einiger Gedichte u. kleinerer Prosaarbeiten zu seinen Lebzeiten ungedruckt. Erst ein Jahr nach seinem Tod fand sich ein Verleger für den Verbummelten Studenten, der rasch ein Publikumserfolg wurde. Sein übriges Œuvre, das von Paula Sack in den zweibändigen Gesammelten Werken (Bln. 1920) zugänglich gemacht wurde, fand hingegen in der Öffentlichkeit weniger Beachtung. In seinen Romanen behandelt S., der literarhistorisch als Einzelgänger gilt u. von Adorno mit Proust verglichen wurde, den existenziellen Konflikt zwischen wissenschaftl. Skepsis, der Unmöglichkeit einer letzten Erkenntnis u. der vorpositivistischen Sehnsucht nach einheitsstiftenden Weltmodellen. Vergebens suchen S.s Protagonisten fehlenden Lebenssinn durch Hingabe an eine kosmisch verstandene Natur oder radikalisierte Sexualität zu überwinden. S.s sprachkrit. Problemstellung (Nietzsche, Mauthner) reicht weit über autobiogr. u. epochentypische Deutungsaspekte (Zivilisationskritik in expressiven Naturdarstellungen, Antimilitarismus) hinaus. Sie ist vielmehr in der Nähe von Musil u. Broch charakteristisch für den Beginn modernen Erzählens u. führt in Ein Namenloser u. in Paralyse zu S.s Methode einer sich in permanenter Reflexion selbst in Frage stellenden Sprache, die seine Dichtung zum freien, keiner Realität verpflichteten Denkraum (Eibl) – hierin Kafka nicht unähnlich – werden lässt. Ausgaben: Die drei Reiter. Gedichte 1913–1914. Hbg./Mchn. 1958. – Prosa, Briefe, Verse. Mchn./ Wien 1962. – Paralyse. Der Refraktär. Hg. Karl Eibl. Mchn. 1971. – G.-S.-Lesebuch. Zusammengestellt u. mit einem Nachw. vers. v. Walter Gödden. Köln 2002. – Gesammelte Werke. Hg. W. Gödden u. Steffen Stadthaus. Bielef. 2011. – Nachlass: DLA (24 Kästen). Literatur: Bibliografien: Helmut Scheffler (Hg.): G. S. Leben u. Werk des Schermbecker Dichters im
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Spiegel der Lit. 2 Bde., Schermbeck 1985 u. 1991. – Westf. Autorenlex. 3. – Weitere Titel: Hans Harbeck: G. S. Eine Einf. in sein Werk u. eine Ausw. Wiesb. 1958. – Curt Hohoff: G. S. u. die expressionist. Renaissance. In: Merkur 14 (1960), S. 492 f. – Franz Georg Wansch: G. S. Persönlichkeit u. Werk. Diss. Wien 1967. – Gerhard Loose: G. S. In: Expressionismus als Lit. Gesammelte Studien. Hg. Wolfgang Rothe. Bern u.a. 1969, S. 681–689. – Paula Sack: Das G.-S.-Archiv. Ein Nachlaß-Bericht. In: LitJb 10 (1969), S. 231–271; 11 (1970), S. 357–367. – Karl Eibl: Die Sprachskepsis im Werke G. S.s. Mchn. 1970. – P. Sack: Der verbummelte Student G. S. – Archivbericht u. Werkbiogr. Mchn. 1971. – Robert Wayne Zahniser: The autobiographical hero of G. S. and the tradition of the Dostoevskian underground man. Diss. Ann Arbor, Mich. 1975. – Ovid S. Crohma˘lniceanu: Berichte dt. u. rumän. Schriftsteller v. der rumän. Front im Ersten Weltkrieg. In: Rumänisch-dt. Interferenzen. Hg. Klaus Heitmann. Heidelb. 1986, S. 129–146. – Hans J. Schütz: G. S. In: Ders.: ›Ein dt. Dichter bin ich einst gewesen‹. Mchn. 1988, S. 236–240, 327. – Dieter Sudhoff: Die literar. Moderne u. Westfalen. Besichtigung einer vernachlässigten Kulturlandschaft. Bielef. 2002, S. 95–136. – Helmut Scheffler: G. S. In: NDB. – Walter Gödden u. Steffen Stadthaus: G. S. – ein verbummelter Student. Enfant terrible u. Mythos der Moderne. Bielef. 2010. Martin Huber / Hans Peter Buohler
Sackmann, Jacobus (nicht Jobst), * 13.2. 1643 Hannover-Neustadt, † 21.5.1718 Limmer bei Hannover. – Evangelischer Pfarrer, Verfasser hochdeutscher u. niederdeutscher Predigten. S. besuchte 1662/63 das Gymnasium illustre in Bremen u. immatrikulierte sich am 26.4.1665 in Jena. Als Hospes im Kloster Loccum (1670/71) vertrat er im Turnus Konventuale. Nach einem Eklat wartete S. »biß in die 13 Jahr« auf Anstellung u. wurde schließlich 1680 auf die Pfarrstelle in Limmer gewählt. Gegen Ende seiner 35-jährigen Tätigkeit klagte er über »die vielen Verfolgungen und blâmen, so mihr zugestoßen offentlich von bößen gottesvergeßenen Zuhörern« (Brief vom 23.10.1714 an seine Patronatsherrin). Seit 1715 wurde er durch einen Adjunkten vertreten. Zu Lebzeiten fand S.s Verkündigung Widerhall in Beschwerden an das Konsistorium (zuerst 1696, bes. 1705–1712) sowie in der
Korrespondenz der Kurfürstin Sophie von Hannover mit ihren Nichten Liselotte von der Pfalz u. Raugräfin Louise von Degenfeldt (1710 u. 1712). Nach diesen Äußerungen u. den Summarien seiner Predigten an die Kirchenbehörde war S. ein unerschrockener Bußprediger, der sogar die Konversionen welf. Fürsten anprangerte; er verfügte über reiches rhetorisches Repertoire, wozu anscheinend auch Passagen in Calenberger Mundart zählten. Aus Hannover kamen z.T. über 100 Personen, um S. zu hören u. sich hinterher über ihn lustig zu machen. Nachschriften seiner Predigten kursierten bei Hofe. Postum erschien 1720 im Recueil von allerhand Collectaneis und Historien eine Leichenpredigt von 1709, um 1740 ein Predigtauszug (Ffm./Lpz. o. J.), wohl von 1710. Beide Stücke dürften Echtes enthalten; sie lösten eine Tradition aus, die sich bis in die USA (Christian Johann Mehrtens: Plattdeutsche Reden. Reading/Pa. 1881) u. in das vorige Jahrhundert fortsetzte. Obwohl die Texte dem Amüsementbedürfnis gebildeter Kreise entsprangen u. sekundäre Übertreibungen enthielten, trugen sie schließlich zur Wiedergeburt der niederdt. Literatur- u. Predigtsprache bei. Ausgaben: Plattdt. Predigten [...]. Celle 1878. Nachdr. Hann.-Döhren 1977. – Unziemliche hochu. niederdt. Predigten des J. S. Hg. u. mit einem Nachw. vers. v. Reimer Hansen. Breese im Bruche 1982. 31989 (Privatdr.; Breeser Blätter 4). Literatur: Heinrich Mohrmann: J. S. Hann. 1880 (mit Auszügen aus den Personalakten). – Paul Zimmermann: J. S. In: ADB. – Richard Brill: J. S. Neumünster 1955. – Helmut Zimmermann: J. S. [...]. Hann. 1984. – Heinrich Kröger: ›Erret de Speel-Lüde nicht‹, weder eine Traupredigt noch v. S. In: Quickborn 75 (1985), Nr. 2, S. 109–111. – Hans Werner Dannowski: J. S. [...]. In: De Kennung 8 (1985), S. 114–118. – Nicolaus Heutger: J. S. In: Bautz. – H. Kröger: J. S. In: Braunschweigisches biogr. Lex. 8. bis 18. Jh. Hg. Horst-Rüdiger Jarck u. a. Braunschw. 2006, S. 602 f. Heinrich Kröger / Red.
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Sächsische Weltchronik. – Älteste deutsche Prosachronik, mittelniederdeutsch, um 1260/75. Als Verfasser der S. W. kann nach dem jetzigen Stand der Forschung nicht länger der Sachsenspiegel-Autor Eike von Repgow gelten. Der anonyme Chronist gehörte vermutlich dem Franziskanerorden an. Das Werk, dessen Rezensionen A, B u. C, drei Fassungen unterschiedl. Umfangs, in 56 Textzeugen (darunter vier Bilderhandschriften u. fünf lat. Rückübersetzungen) erhalten sind, begegnet vom 13. bis zum 16. Jh. im gesamten dt. Sprachgebiet u. hat die volkssprachl. Geschichtsschreibung der Zeit nachhaltig beeinflusst. Eine predigthafte Reimvorrede eröffnet die S. W. Die eigentl. Darstellung beginnt mit dem ersten Schöpfungstag u. reicht in der längsten Fassung bis in die zweite Hälfte des 13. Jh. Die Chronik folgt zunächst der alttestamentl. Geschichte, mit gleichzeitigem Blick auf Babylon, Persien u. Griechenland. Das Hauptthema aber ist die Geschichte des Römischen Reichs, von Romulus bis zu dem als 95. Herrscher nach Augustus zählenden Stauferkaiser Friedrich II. u. zu König Wilhelm von Holland. Hier stellt unter der Friedensherrschaft des Augustus die Zeitenwende mit Christi Geburt die Hauptachse dar. Unter Kaiser Konstantin geht die »reine kintheit der heiligen cristenheit« zu Ende, nachdem Reichtum u. Sicherheit das urkirchl. Armutsideal u. die frühere Bereitschaft zum Martyrium verdrängt haben. Dieser Niedergang wird vom Autor in einer eindrückl., von franziskan. Gedankengut geprägten Mahnpredigt beklagt. Einen Tiefpunkt erreicht die Reichsgeschichte während des Investiturstreits, dessen Folgen das Verhältnis zwischen Papsttum u. Kaisertum bis in die Gegenwart des Chronisten hinein belasten. Dagegen hält die S. W. die Regierungsjahre Lothars von Süpplingenburg (1125–1137), des würdigen Nachfolgers Konstantins, Karls des Großen u. Ottos des Großen, für das Goldene Zeitalter. Die geistl. Herkunft des Autors zeigt sich nicht zuletzt auch in seinen liturgiegeschichtl. Beobachtungen.
Sächsische Weltchronik
Ihre annalistische Struktur u. ihre durchgehende Orientierung an den Regierungszeiten der einzelnen Herrscher verdankt die S. W. ihren beiden Hauptquellen, der Weltchronik Frutolfs von Michelsberg in der Bearbeitung Ekkehards von Aura u. den Pöhlder Annalen, denen bes. die sagenhaften Erzählungen über die dt. Könige u. Kaiser entnommen sind. In die älteste u. umfangreichste Rezension C haben auch verschiedene Sagen u. Legenden der Kaiserchronik Eingang gefunden. Die komplizierte Textgeschichte der S. W. ist im Wesentlichen an die Frage geknüpft, wie sich die drei Rezensionen A, B u. C zueinander verhalten: ob die Langform C eine Aufschwellung der in A u. B vorliegenden knapperen Fassung oder diese vielmehr eine Kurzform von C darstellt. Die ältere Forschung betrachtete die Kurzform als Ausgangspunkt u. übersah dabei die method. Bedeutung der Kaiserchronik-Rezeption für eine überzeugende Klärung der Rezensionenabfolge. Bezieht man diesen zentralen textgeschichtl. Aspekt in die Auswertung des Überlieferungsbefunds mit ein, so ergibt sich ein umgekehrtes Bild, nach dem die Langform des Werks am Anfang steht. Die Verbindung der niederdt. Prosachronik mit der gereimten oberdt. Kaiserchronik innerhalb der Rezension C führt dort zu einem Prosimetrum, wie es auch die lat. Historiografie des MA kennt. Von dieser Vers-Prosa-Mischung (C1) hängt jene andere C-Version ab, in der die eingefügten Reimpartien aus der Kaiserchronik nachträglich in Prosa aufgelöst worden sind (C2). Aus dieser letzteren Fassung leitet sich wiederum die v. a. im alemann. u. bair. Sprachraum verbreitete Kurzfassung her, in der die längeren erzählenden Passagen der urspr. S. W. entweder gerafft oder ganz beseitigt worden sind. In dieser Gestalt eines kürzeren u. übersichtlicheren Geschichtskompendiums verzeichnete die S. W. ihren größten Publikumserfolg. In der handschriftl. Überlieferung treten verschiedentlich kurze Anhänge zur S. W. hinzu, darunter Über die Herkunft der Sachsen, die Genealogie der Welfen, die Genealogie der Grafen von Flandern u. die Fünfzehn Vorzeichen des Jüngsten Gerichts, oder aber auch Kurz-
Saeger
chroniken, eine sog. Sächsische, eine Thüringische u. fünf Bairische Fortsetzungen, durch die das große universal- u. reichshistor. Werk landesgeschichtl. Abrundungen erfährt. Ausgaben: S. W. Hg. Ludwig Weiland. Hann. 1877 (= MGH, Dt. Chron. 2), S. 1–384. Neudr.e Bln./Zürich 1971, Mchn. 1980, Hann. 2001. CDROM Quellensammlung zur mittelalterl. Gesch. Forts. Continuatio fontium medii aevi. Hg. Thomas Müller u. Alexander Pentzel. Bln. 1999. – S. W. Staats- u. Universitätsbibl. Bremen, Ms. a. 33. Farbmikrofiche-Ed. Hg. Dieter Hägermann. Mchn. 1989. – Das Buch der Welt. Die S. W. Ms. Memb. I 90 der Forschungs- u. Landesbibl. Gotha. Faks. Luzern 1996. Komm. u. Ed. Hg. Hubert Herkommer. Luzern 2000. Literatur: Hermann Ballschmiede: Die S. W. In: Nd. Jb. 40 (1914), S. 81–140. – Hans Voltelini: Der Verfasser der S. W. In: Anton Pfalz u. H. Voltelini: Forsch.en zu den dt. Rechtsbüchern 2. Wien/ Lpz. 1924, S. 5–60. – Karl August Eckhardt: Rechtsbücherstudien 2. Die Entstehungszeit des Sachsenspiegels u. der S. W. Bln. 1931, S. 72–128. – H. Herkommer: Überlieferungsgesch. der S. W. Mchn. 1972. – Ders.: Eike v. Repgows ›Sachsenspiegel‹ u. die S. W. Prolegomena zur Bestimmung des Sächs. Weltchronisten. In: Nd. Jb. 100 (1977), S. 7–42. – Manfred Zips: ›Daz ist des van Repegouwe rat‹. Bemerkungen zur Verfasserfrage der S. W. In: ebd. 106 (1983), S. 43–73. – Michael Menzel: Die S. W. Quellen u. Stoffausw. Sigmaringen 1985. – H. Herkommer: S. W. In: VL u. VL (Nachträge u. Korrekturen). – Ernst Schubert: S. W. In: LexMA. – M. Menzel: S. W. In: Heinrich der Löwe u. seine Zeit. Hg. Jochen Luckhardt u. Franz Niehoff. Bd. 1, Mchn. 1995, Kat. D 75, S. 268 f. – Dagmar Neuendorff: Vom erlösten Heidenkönig zum Christenverfolger. Zur ›Kaiserchronik‹ u. ihrer Integration in die S. W. In: Dt. Lit. u. Sprache von 1050–1200. FS Ursula Hennig. Hg. Annegret Fiebig u. HansJochen Schiewer. Bln. 1995, S. 181–198. – H. Herkommer: S. W. In: Dt. Weltchroniken des MA. Hss. aus den Beständen der Bayer. Staatsbibl. u. die S. W. der Forschungs- u. Landesbibl. Gotha. Mchn. 1996, Kat. 2, S. 14 f. – Karin Schneider: S. W. In: ebd., Kat. 3, S. 15 f. – M. Zips: Die S. W. im Spannungsfeld von Intention u. Rezeption (I, II). In: Nd. Jb. 119 (1996), S. 7–60; 120 (1997), S. 7–32. – Jürgen Wolf: Die S. W. im Spiegel ihrer Hss. Überlieferung, Textentwicklung, Rezeption. Mchn. 1997. – H. Herkommer: Lust auf Gesch.n. Zur Inszenierung der Weltgesch. in dt. Chroniken des MA. In: Bibliotheksforum Bayern 25 (1997), S. 3–15. – K. Schneider: Die Schrift des Gothaer Codex der S. W. In: Das Buch der Welt (s. Ausg.n), S. 5–17. – Rudolf
154 Große: Sprachgeschichtl. Stellung der S. W. u. der Gothaer Hs. In: ebd., S. 19–45. – Renate Kroos: Die Miniaturen. In: ebd., S. 47–117. – H. Herkommer: Einf. zur Ed. In: ebd., S. III*–LXIX*. – Bernd Michael: S. W. In: Aderlaß u. Seelentrost. Die Überlieferung dt. Texte im Spiegel Berliner Hss. u. Inkunabeln. Hg. Peter Jörg Becker u. Eef Overgaauw. Mainz 2003, Kat. 193, S. 408–410. – Gabriele v. Olberg-Haverkate: Das ›Buch von der Welt‹. Entwicklung u. Wandel des geschichtl. Weltbildes im MA. In: Weltbilder. Hg. Hans Gebhardt u. Helmuth Kiesel. Heidelb. 2004 (= Heidelberger Jbb. 47, 2003), S. 155–177. – H. Herkommer: S. W. In: Heiliges Röm. Reich Dt. Nation 962 bis 1806. 29. Ausstellung des Europarates u. Landesausstellung Sachsen-Anhalt im Kulturhistor. Museum Magdeburg. Hg. Matthias Puhle u. Claus-Peter Hasse. Bd. 1. Dresden 2006, Kat. IV.131 u. 132, S. 364–366. – G. v. Olberg-Haverkate: Zeitbilder – Weltbilder. Volkssprachige Universalchronistik als Instrument kollektiver Memoria. Bln. 2008. – Henrike Manuwald: Medialer Dialog. Die ›Große Bilderhs.‹ des ›Willehalm‹ Wolframs v. Eschenbach u. ihre Kontexte. Tüb. u.a. 2008, S. 481–495 (Die Gothaer Hs. der S. W.). – Franziska Schäfer: S. W. (Rezension B). In: Aufbruch in die Gotik. Der Magdeburger Dom u. die späte Stauferzeit. Landesausstellung Sachsen-Anhalt. Hg. Matthias Puhle. Bd. 2. Mainz 2009, Kat. VII.5, S. 424–427. – Dies. u. Beate Braun-Niehr: Die S. W. Rezension C aus Gotha. In: ebd., Kat. VII.6, S. 427–430. – Vera Wiesenthal: S. W. In: Otto IV. Traum vom welf. Kaisertum. Hg. Braunschweig. Landesmuseum. Petersberg 2009, Kat. 87, S. 302–304. – F. Shaw: S. W. In: The Encyclopedia of the Medieval Chronicle. Bd. 2, Leiden/Boston 2010, S. 1315 f. Hubert Herkommer
Saeger, Uwe, * 3.1.1948 Ueckermünde. – Erzähler, Dramatiker, Filmszenarist. S. studierte 1966–1970 in Greifswald Pädagogik, war sechs Jahre Lehrer u. verfasst seit 1976 Prosatexte, Theaterstücke u. Filmszenarien, die häufig geprägt sind von der Region, in der er aufwuchs u. heute noch lebt (Bellin/Vorpommern), die indes die Heimat nie klischeehaft verklären, sondern beobachtetes u. erfahrenes Leben kritisch-realistisch schildern. Manche seiner Dramen (Empedokles) greifen histor. Stoffe auf, andere (Vorkommnis. 1978. Flugversuch. 1983) handeln wie die Prosatexte (Grüner Fisch mit gelben Augen. Rostock 1976. Nöhr. Ebd. 1981. U. d. T. Der
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Kakerlak. Mchn. 1990) von Menschen, denen längst die private u. gesellschaftl. Utopie abhanden gekommen ist. S.s Texte zeichnen sich gleichermaßen durch erzählerisches Kalkül, eine an Kroetz erinnernde kräftigbildhafte Sprache u. frappierende Detailgenauigkeit aus. Momentaufnahmen aus der realsozialistischen Provinz (zwischen Arbeitsalltag u. Alkohol, Honoratioren-Selbstgerechtigkeit u. dumpfer Ausgrenzung von Außenseitern) gruppieren sich zum illusionslosen Bild einer zugrunde gehenden Gesellschaft. S.s ungeschminkter Realismus erschwerte die Publikation seiner Werke in der DDR. Für seine das Perestroika- u. GlasnostThema aufgreifende Erzählung Aus einem Herbst jagdbaren Wildes (in: Das Überschreiten einer Grenze bei Nacht. Mchn. 1988) erhielt S. 1987 den Klagenfurter Bachmann-Preis. In Die Nacht danach und der Morgen (ebd. 1991) geht es um die Verarbeitung des Wehrdiensts bei der Nationalen Volksarmee. Der Dienst an der Mauer wird aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet, führt aber im Ergebnis bei allen Beteiligten zu einer tief gehenden Traumatisierung. Die Erzählung Landschaft mit Dornen (Halle 1993), 1992 für das Fernsehen verfilmt u. 1993 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet, spielt in der ostdt. Kleinstadt D...hausen nach der Wende. Vier arbeitslose Jugendliche planen den Mord am Vater einer Freundin. Töten ist für sie der Kick, einmal der Langeweile ihres Alltags zu entfliehen. In Sommerspelt (Halle 1996) entwirft S. in 54 Bildern eine kleinbürgerl. Hölle aus Alkohol, Provinzialität u. Perspektivlosigkeit. Angesiedelt ist die Filmerzählung in der Nähe der poln. Grenze nach dem Mauerfall. Bobo, ein geistig behinderter Junge, tötet seine Schwester Zissa, deren Liebhaber Anthony u. den Maler u. Vagabund Vincent, als die jungen Leute beschließen, diesen Ort zu verlassen. Zissa ist nicht nur das Objekt von Bobos sexueller Begierde. Sie ist quasi auch das Symbol für die frühere DDR, die von Anthony aus den USA u. Vincent aus Westdeutschland okkupiert wird. Der Roman Die gehäutete Zeit trägt den Untertitel Ein Judasbericht (Rostock 2008) u. setzt ein, als Judas von Jesus in den Kreis der Jün-
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ger aufgenommen wird. Er ist der Lieblingsjünger Jesu, u. gefragt wird nach dem Grund seines Verrats. Jesus funktionalisiert Judas durch seine Zuneigung u. macht ihn von sich abhängig. Im Verlauf des Berichts verschmelzen beide zu »Jejudassus«. Deutlich wird, dass beide jenseits individueller Entscheidungsfreiheit nur Akteure in einem heilsgeschichtl. Plan sind. Bereits in seinem Vorwort zu dem Sammelband Verkleidungen (Gifkendorf 1998) hatte S. über die ›Verfügtheit‹ des Subjekts reflektiert. Er versteht hier die antiken Figuren als Möglichkeit, die eigene »widerborstige Exemplarität« zu bewahren. Trotzdem beurteilt S. sein Schreiben in ›Sklavensprache‹ in der Retrospektive kritisch als »Gewandungen antikmoderner Nichtssagenheit und Vieldeutigkeit«. Die Verkleidung des Ichs als antike Figur könnte als bloße Geste (miss-)verstanden werden; die literar. Texte bedeuten jedoch für S. »Akte selbsterhaltender Ichigkeit«. Weitere Werke: Warten auf Schnee. Rostock 1981 (Kurzroman). – Einer hat getötet. Bln./DDR 1984. U. d. T. Haut v. Eisen. Mchn. 1990 (E.en). – Das Vorkommnis. Flugversuch. Außerhalb v. Schuld. Gehen hinaus. Bln./DDR 1988 (Dramen). – Prometheus Ende. Mit Zeichnungen v. Joachim John. Neubrandenburg. 1998 (E.). – Die schönen Dinge. Dreißig Gedichte. Gifkendorf 2000. – das unerwartete. geschichten aus drei jahrzehnten. Weimar/Rostock 2003. – Ebeil oder die Rückseite der Liebe. Neubrandenburg 2010. – Theater: Im Glashaus. Urauff. Neustrelitz 12.6.1983. – Außerhalb von Schuld. Urauff. Lpz. 30.9.1984. – Jeder gegen jeden. Urauff. Lpz. 17.5.1988. – Empedokles. Urauff. Osnabr. 26.5.1989. – EndeAnfangEnde. Urauff. Stendal 20.9.1995 (als Hörsp. HR. 24.3.1993). – Hörspiele: Besuch beim lieben Gott. 17.2.1976. – Gehen hinaus. 30.11.1986. – Außerhalb von Schuld (alle Rundfunk der DDR) 5.5.1987. – Die Umbenennung des Feuers. SDR 2.10.1994. – Himmel ohne Licht. SDR 12.2.1996. Literatur: Frank Hörnigk: U. S. ›Einer hat getötet‹. In: DDR-Lit. ’84 im Gespräch. Hg. Siegfried Ronisch. Bln./DDR 1985, S. 244–250. – Peter Reichel: DDR-Dramatik Mitte der 80er Jahre. In: WB 33 (1987), H. 9, S. 1524–1551. – Gunnar MüllerWaldeck: U. S. ›Einer hat getötet‹. In: ebd., S. 1491–1495. – Andrea Jäger: Der Schrecken der Selbstbegegnung. Zwei Novellen v. U. S. In: Lit. für Leser (1990), H. 2, S. 94–106. – Wolfgang Gabler: Erzählen auf Leben u. Tod. U. S. Prosawerk der
Der Saelden Hort 80er Jahre. Mit drei unveröffentlichten Texten. Neubrandenburg 1990. – Carsten Gansel: Risse durch das Ich u. die Welt. Jugendliche Helden in der Krise u. Möglichkeiten der literaturdidakt. Erschließung. In: DU 46 (1993), H. 2, S. 90–103. – Karsten Dümmel: Identitätsprobleme in der DDRLit. der siebziger u. achtziger Jahre. Ffm. u. a. 1997. – Peter Hanenberg: U. S. In: KLG. – Serena Grazzini: Der Hund mit sechs Beinen. Zu einer moral. Kontroverse in Texten v. Tucholsky, Chamisso, Heine, Ebner-Eschenbach u. U. S. In: Lit. für Leser 24 (2001), H. 1, S. 37–53. – Helmut Graumann: U. S. Schwerin 2001. – Owen Evans: Telling tales. Moral responsibility and the Stasi in U. S. ›Die Nacht danach u. der Morgen‹. In: German writers and the politics of culture. Dealing with the Stasi. Hg. Paul Cooke u. Andrew Plowman. Basingstoke 2003, S. 121–138. – Detlef Stapf: Zauber allen Anfangs. Der vorpommersche Autor U. S. hat vor dreißig Jahren debütiert. Neubrandenburg 2006. – O. Evans: Mapping the Contours of Oppression. Subjectivity, Truth and Fiction in Recent German Autobiographical Treatments of Totalitarianism. Amsterd. 2006, S. 53–94. – Christiane Baumann: Für sein Gewissen u. sein Gesicht ist jeder selbst verantwortlich. Interview mit U. S. (2005) In: Rückblende (2008), S. 107–132. – Henning Fangauf: U. S. In: LGL. Hannes Krauss / Elke Kasper
Der Saelden Hort. – Alemannische Bibeldichtung, um 1300.
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jungfräul. Leben wird in höchsten Tönen gepriesen. Die bibl. Gestalten erhalten mitunter moderne Züge; so ist der reiche Fürst Lazarus zunächst eine Art Turnier- u. Aventiureritter. Hauptquelle ist die Legenda aurea des Jacobus de Voragine. Wahrscheinlich schon integraler Bestandteil des Urtexts war das in zwei Handschriften überlieferte umfangreiche Bildprogramm. Der Verfasser scheint von der mit »du« angeredeten Adressatin auch eine innere Stellungnahme zum Bild zu verlangen. Mithin wäre der S. H. eine der seltenen mhd. Dichtungen, in denen eine enge Beziehung zwischen Wort u. Bild bereits zur urspr. Konzeption gehörte. Ausgabe: Der S. H. Hg. Heinrich Adrian. Bln. 1927. Literatur: Lotte Liersch: Motivgeschichtl. u. stilist. Untersuchungen zur alemann. Magdalenenlegende. Diss. Marburg 1936. – Frieda Eder: Studien zu Der S. H. Diss. Bln. 1938. – Walter Henß: Tatians Diatesseron im S. H. Diss. Marburg 1953. – Peter Ochsenbein: Der S. H. Neuentdeckte Fragmente einer bisher unbekannten frühen Hs. In: ZfdA 103 (1974), S. 193–199. – Irmtraut Albrecht: Der S. H. Exemplarische Untersuchungen [...]. Diss. Innsbr. 1976. – Timothy R. Jackson: Der S. H.: Ich u. Du, Wort u. Bild. In: Zur dt. Lit. u. Sprache des 14. Jh. Hg. Walter Haug u. a. Heidelb. 1983, S. 141–154. – P. Ochsenbein: Der S. H. In: VL. – Freimut Löser: Maria Magdalena am Grab. ›Der S. H.‹, ›Von Gottes Zukunft‹ u. die ›Bair. Magdalenenklage‹ als poet. Bearb.en einer Pseudo-Origenes-Predigt. In: Studien zur dt. Sprache u. Lit. FS Konrad Kunze. Hg. Václav Bok u. a. Hbg. 2004, S. 156–177. Werner Williams-Krapp / Red.
Der Verfasser des etwa 11.300 Verse umfassenden, wohl im frühen 14. Jh. entstandenen Erzählwerks stammt aus dem hochalemann. Bereich, vielleicht aus Basel. Den Titel, »Schatz des Heils«, bezeichnet er als Verlegenheitsbenennung; das Werk soll sein weibl. Laienpublikum von weltlich-höf. Texten (Tristan, Wigalois) ablenken. Sälder, Säldner, Selder, Konrad, auch: K. S. Grundlage des Werks ist das Leben Jesu. von Rottenacker, * um 1415 RottenDoch bildet es nur den Hintergrund für die acker (?), † April 1471 Wien. – Lehrer der beiden ausführl. Legenden von Johannes dem Artes liberales, Theologe. Täufer u. Maria Magdalena. Diese beiden exemplarischen Gestalten eines bußfertigen S. erlangte sein Magisterium 1437 an der Lebens bieten die Möglichkeit, das Publikum Artistischen Fakultät Wiens, an der er dann immer wieder mahnend zu einem tugend- zeitlebens tätig war. Sein theolog. Studium haften Leben anzuhalten. Das Verfahren er- (1445 Baccalarius formatus) führte er mininnert an das der zur Meditation anregenden destens bis 1465 weiter, verzichtete aber aus Passionstraktate. Zweifellos ist Magdalena als materiellen Gründen auf den Erwerb des Identifikationsfigur für den weibl. Adressa- Doktorats. tenkreis gedacht, der u. a. vor den klass. LasWie in den Themen seiner Vorlesungen tern Hoffart u. Geiz gewarnt wird. Das zeigt sich S. auch in einem mit seinem frü-
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heren Studienfreund Sigmund Gossembrot Sämann, Wolfgang, * 16.1.1940 Pratau bei 1457–1459 geführten Briefwechsel als Ver- Wittenberg. – Erzähler, Lyriker. treter der konservativen Fraktion, die sich gegen die Versuche stellt, das Programm der S. schloss das Studium an der Bergakademie Studia humanitatis im artistischen Vorle- Freiberg 1964 als Diplomingenieurökonom sungsbetrieb zu verwirklichen. Den huma- für Buntmetallurgie ab u. arbeitete bis 1977 nistischen Anspruch, die universitäre Lektüre als Betriebsorganisator im »volkseigenen« antiker u. zeitgenöss. Dichtung durch deren Werkzeugbau, dem er 1986 kündigte, um moralischen Bildungswert zu legitimieren, »Position zu beziehen« u. als freischaffender lehnt er mit dem Verweis auf Bibel u. Kir- Autor zu leben. In der Tradition der soziachenväter vehement ab; die bewusste Abkehr listisch-realistischen Arbeiterliteratur steht er von der scholast. Dialektik u. Grammatik freilich nicht. Schon seine ersten Erzählunsieht er nur als mangelnde Bildung, die neue gen in Der Anfang einer Reise (Rostock 1977) Rhetorik nur als gekünstelten Ausdruck. Er weisen ihn als Erzähler aus, der um Anschluss erkennt, dass die Träger der Bewegung, als an die europ. Moderne bemüht ist. Seine deren »uxor« er Enea Silvio Piccolomini be- Geschichten aus dem Alltag der DDR verzeichnet, sich hier einen alternativen Weg sucht er in einem Erzählstil zu bannen, der sozialer Karriere schaffen, diffamiert dies al- Monolog, Protokoll, Reflexion, Traum, lerdings als Streben nach Geld u. Ehre, das Rückblenden u. geradliniges Voranschreiten den mühsamen Weg der langen Ausbildung der Handlung verbindet. Während die »Neue in den höheren Fakultäten nicht gehen will. Zeit« (31.3.1980) aus Anlass des zweiten ErDass S. in dieser Kontroverse in Wien schon zählbands, Das Haus des Dr. Pondabel (ebd. starke Gegner entstanden waren, zeigt die 1979), die »assoziative Denkprosa« mit unter seinem Vorsitz 1458 geführte Disputa- »surrealistischem Einschlag« lobte, vermisste tio de quolibet, in deren Verlauf Georg Peu- das »Neue Deutschland« (23.2.1980) den erbach in einer Programmrede nicht ohne »wertenden, formierenden« Erzählkommengegen S. gerichtete Ironie den Wert der Poesie tar. Zu den psych. Konfliktsituationen, die S.s für die Theologie mit der gerade erfolgten Figuren durchstehen, gehört u. a. auch das in der Geschichte der DDR-Literatur heikle Wahl Piccolominis zum Papst beweist. Literatur: Wilhelm Wattenbach: Sigismund Thema der Republikflucht. In seinem Roman Gossembrot als Vorkämpfer der Humanisten u. Abends kommt immer noch ein bißchen Nebel (ebd. seine Gegner. In: Ztschr. für die Gesch. des Ober- 1989) setzt sich S. in seiner gewohnt »antirheins 25 (1873), S. 36–69 (Teiledition des Briefw.). konventionellen Erzählart« (E. Ullrich) mit – Karl Großmann: Die Frühzeit des Humanismus der zunehmenden Bedrohung durch eine in Wien bis zu Celtis Berufung 1497. In: Jb. für Umweltkatastrophe auseinander. Nach der Landeskunde v. Niederösterr. N. F. 22 (1929), Wende wirft der Roman Mein Leben im Caravan S. 254–258. – Hans Rupprich (Hg.): Die Frühzeit des Humanismus u. der Renaissance in Dtschld. (Bln. 1992) einen humorvoll iron. Blick auf Lpz. 1938 (Ed. der Disputatio, S. 197–210). – Al- die neuen Verhältnisse im Land u. Malthus phons Lhotsky: Die Wiener Artistenfakultät (Offenbach am Main 2004) führt noch einmal 1365–1497. Wien 1965, S. 123–125. – Heinz Otto zurück in die (Arbeits-)Welt einer Metallhütte Burger: Orthodoxae fidei viro venerabili et perpe- Ost-Berlins. 1993 erhielt S. das Stipendium rito. Ein Humanistenbrief. In: FS Gottfried Weber. des Atelierhauses Worpswede. Er lebt in Bad Homburg 1967, S. 145–157. – Paul Uiblein Berlin. (Hg.): Die Akten der Theolog. Fakultät der Univ. Wien (1396–1508). Bd. 1, Wien 1978, passim. – Franz Josef Worstbrock: K. S. In: VL. Frank Fürbeth / Red.
Weitere Werke: Der Lichtblick. Rostock 1981 (E.en). – Das Mädchen aus dem Hochlandwald. Ebd. 1987 (E.en). – In der Tiefe des Takyr. Ebd. 1989 (E.en). – Der zweite Atem. Offenbach am Main 2002 (R.). – Fläminglieder. Ebd. 2007 (L.). – Das Tagebuch dreier Welten. Ebd. 2008 (E.en.). Literatur: Rulo Melchert: Widersprüchliches Erzählen. In: NDL 27 (1979), H. 5, S. 152–155 (zu
Safranski ›Das Haus des Dr. Pondabel‹). – Jürgen Engler: Der verborgene Erzähler. Gedanken zu W. S.s Prosa. In: NDL 35 (1987), H. 4, S. 77–79. – Bernd Heimberger: Stille u. Spannung. In: NDL 36 (1988), H. 4, S. 148–151 (zu ›Das Mädchen aus dem Hochlandwind‹). – Eckhard Ullrich: Wärme im Eisschrank transportiert. In: NDL 38 (1990), H. 1, S. 132–135 (zu ›Abends kommt immer noch ein bißchen Nebel‹). Hajo Steinert / Philipp Kluwe
Safranski, Rüdiger, * 1.1.1945 Rottweil/ Württemberg. – Biograf, Philosoph, Essayist, Literaturwissenschaftler. S. studierte seit 1965 Germanistik, Philosophie, Geschichte u. Kunstgeschichte in Frankfurt/M. u. Berlin. 1972–1977 war er wissenschaftl. Assistent im Fachbereich Germanistik an der Freien Universität Berlin, wo er 1976 mit Studien zur Entwicklung der Arbeiterliteratur in der Bundesrepublik Deutschland promoviert wurde. 1977–1984 arbeitete er als Dozent im Bereich der Erwachsenenbildung; daneben war er bis 1981 Mitherausgeber der kulturpolit. Zeitschrift »Berliner Hefte«, in der er Aufsätze zu Kultur, Politik u. Philosophie veröffentlichte. Seit 1985 lebt S. als freier Autor in Berlin u. Badenweiler/Baden-Württemberg; seit 2002 ist er – neben Peter Sloterdijk – Gastgeber in der ZDF-Talkshow »Das Philosophische Quartett«. Bekanntheit erlangte S. nicht nur mit seinen Beiträgen im Bereich der prakt. Philosophie (Wieviel Wahrheit braucht der Mensch? Über das Denkbare und das Lebbare. Mchn./Wien 1990. Das Böse oder Das Drama der Freiheit. Ebd. 1997. Wieviel Globalisierung verträgt der Mensch. Ebd. 2003), sondern auch u. in erster Linie durch seine vielfach preisgekrönten u. mittlerweile in 19 Sprachen übersetzten Biografien zu E. T. A. Hoffmann, Arthur Schopenhauer, Martin Heidegger, Friedrich Nietzsche, Friedrich Schiller sowie seine biogr. Abhandlung zur Freundschaft von Goethe u. Schiller. Flankiert werden diese Biografien z.T. von Anthologien, für die S. als Herausgeber zeichnet (Schopenhauer. Mchn. 1995. Nietzsche. Ebd. 1997. Schiller als Philosoph. Bln. 2005. Wo immer ich gehe, folgt mir ein Hund namens Ego. Das Leben auf den Punkt gebracht. Friedrich Nietzsche. Mchn. 2008).
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S., dessen Popularität als Autor in Wechselwirkung mit der öffentl. Wahrnehmung seiner Person als Gastgeber im »Philosophischen Quartett« tritt, verwehrt sich ausdrücklich einem »Biografismus«, der das Werk ausschließlich als Effekt persönl. Lebensumstände des jeweiligen Dichters oder Denkers betrachtet; auch der weitgehende Verzicht auf psychologisierende Spekulationen ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Im Mittelpunkt stehen stattdessen die anhand der histor. Lebensgeschichten nachgezeichneten Werkentwicklungen, die sich nur insofern auf Details des Persönlichen stützen sowie auf dem Terrain der allgemeinen Zeitu. Denkgeschichte bewegen, wie es dem Biografen für ein angemessenes Verständnis notwendig erscheint. Ansatz u. Anspruch S.s verdichten sich programmatisch im Vorwort zu Schopenhauer und Die wilden Jahre der Philosophie (Mchn./Wien 1987): »Ich wage den Versuch, über Philosophie nachzudenken, indem ich sie erzähle, so, wie ich auch das Leben Schopenhauers und seine kulturgeschichtlichen Umstände erzähle. Die Menschen, die das alles damals gedacht haben, sind tot, ihre Gedanken aber leben. Grund genug, die Gedanken, die sie überlebt haben, wie lebendige Menschen auftreten zu lassen.« Diese erzählerische Vermittlung des Werks geht einher mit betont subjektiven u. allgemein zugängl. Schreib- u. Ausdrucksweisen, wodurch die Zugangsvoraussetzung selbst mit Blick auf komplexeste Zusammenhänge stets niedrig gehalten wird. Dieses Konzept führt S. – als »philosophierender und diskursiv erzählender Schriftsteller«, so eine Selbstbeschreibung – auf Jean-Paul Sartre zurück, der mit seiner dreibändigen Flaubert-Biografie L’idiot de la famille. Gustave Flaubert de 1821 à 1857 (Paris 1971/72) das »Philosophische an der Literatur« u. das »Literarische an der Philosophie« für ihn in vorbildl. Weise umgesetzt habe. Eines der zentralen Elemente der Erzählweise ist dabei die Bestimmung eines prägnanten, thesenartigen Grundgedankens, eines narrativen Zentrums, von dem aus sich das Denken u. das Leben der biografierten Person kohärent entfalten lässt. So wird etwa in Friedrich Nietzsche. Biographie seines Denkens (Mchn./
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S. wurde 1995 der Friedrich-Märker-Preis Wien 2000) eingangs u. dann beständig die zentrale Bedeutung der Musik betont (»man für Essayistik, 1996 die Wilhelm-Heinse-Mekönnte sagen, Nietzsches ganze Philosophie daille der Mainzer Akademie der Wissenist der Versuch, sich am Leben zu halten, auch schaften und der Literatur, 1998 der Ernstwenn die Musik vorbei ist«), während im Robert-Curtius Preis für Essayistik u. 2000 Prolog von Friedrich Schiller oder Die Erfindung der Friedrich-Nietzsche-Preis des Landes des deutschen Idealismus (ebd. 2004) der über Sachsen-Anhalt verliehen. 2003 erhielt er den lange Jahre desolate Gesundheitszustand des Premio Internazionale Federico Nietzsche der Dichters als Ursprung einer »schöpferischen ital. Nietzsche-Gesellschaft, 2005 den Preis Freiheit« gesehen wird, die den »Schmerz- der Leipziger Buchmesse in der Kategorie attacken des Körpers« zu widerstehen versu- Sachbuch/Essayistik, 2006 den FriedrichHölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg u. che. In diesem überzeugenden biogr. Ansatz den »Welt«-Literaturpreis, 2009 den internat. allein ist jedoch nicht der Grund für den be- Buchpreis Corine u. den Ehrenpreis des merkenswerten Erfolg des Autors zu finden, Bayerischen Ministerpräsidenten für das Ledessen Bücher im Falle Schopenhauers (200. benswerk. Seit 2009 ist S. Träger des VerGeburtsjahr), Nietzsches (100. Todesjahr) u. dienstkreuzes 1. Klasse der Bundesrepublik Schillers (200. Todesjahr) in unmittelbarer Deutschland. zeitl. Nähe zu großen Jubliläen erschienen Weitere Werke: E. T. A. Hoffmann. Das Leben sind – ein erfolgversprechendes Prinzip, hält eines skept. Phantasten. Mchn./Wien 1984. – Ein man sich die gesteigerte Aufmerksamkeit der Meister aus Deutschland. Martin Heidegger u. seikulturinteressierten Öffentlichkeit im Um- ne Zeit. Ebd. 1994. – Goethe u. Schiller. Geschichte feld solcher ›Events‹ vor Augen. Die Biogra- einer Freundschaft. Mchn. 2009. Literatur: Gisela Vitt-Maucher: E. T. A. Hofffien rücken ausschließlich die sog. Geistesgrößen in den Fokus, die allesamt Bestandteil mann. Das Leben eines skept. Phantasten [Rez.]. In: einer fest etablierten Bildungstradition sind. GQ 59 (1986), S. 485–487. – Otto A. Böhmer: Schopenhauers wilde Jahre. In: Die Zeit, 9.10.1988. Der Autor aktualisiert damit einen denk- u. – Richard Rorty: A Master From Germany. In: New literaturgeschichtl. Kanon, dessen Aneig- York Times, 3.5.1998. – Andreas Urs Sommer: nung für die »gelehrte Kultur der Bildungs- Nachlese zum Nietzsche-Jahr 2000. Enzyklopäd., eliten« (Jost Schneider) weiterhin obligato- bio- u. bibliogr. Neuerscheinungen. In: Nietzscherisch ist, ein Bildungsbedürfnis, das diese Studien 30 (2001), S. 488–498. – Michael A. Levene: Bücher – stets angemessen in der Sache u. R. S.: Friedrich Schiller oder Die Erfindung des Dt. anregend in der Form – zu stillen verspre- Idealismus [Rez.]. In: ZfG 15 (2005), H. 2, S. 425 f. – chen. Aus der Ausrichtung auf einen genuin Theodore Ziolkowski: R. S.: Romantik [Rez.]. In: dt. Kanon macht S. dabei kein Hehl, im Ge- arbitrium 26 (2008), H. 1, S. 82–85. – Terence Reed: genteil: Seine Aufgabe bestehe darin, »die R. S.: Goethe u. Schiller. Geschichte einer Freundschaft [Rez.]. In: Goethe-Jb. 126 (2009), S. 289 f. romantische Weltflüchtigkeit, die metaphyKai Sina sische Obsession, das Grüblerische, das Spekulative, ja auch das Tiefe« als Konstante eines »deutsche[n] Sonderweg[s] in geistigen Sagar, Maria Anna, auch: M. A. S., geb. Dingen« zu bewahren, mit dem man nach Radoschny (Rodoschny?), * 24.7.1727 1945 gebrochen habe. Dabei geben nicht nur Prag, † 4.6.1805 Wien. – Romanautorin. die Studien zu Hoffmann, Schopenhauer, Nietzsche u. Heidegger Ausdruck von dem Über den Lebensweg S.s ist wenig bekannt. spezif. Interesse an ›deutscher Tiefe‹, sondern Ihr Vater war Erster Böhmischer Statthalteauch u. vor allem die systematisch angelegte – rei-Registrator. Nach seinem Tod musste sie und gerade hinsichtlich ihrer (zu) engen na- in Wien als Magd arbeiten. Sie heiratete den tionalen Ausrichtung kritisierten – Arbeit zur Prager Schlosshauptmann u. Lustspieldichter Romantik (ebd. 2007), die denn auch bezeich- Johann Sagar. nenderweise den Untertitel Eine deutsche Affäre Noch vor ihm begann sie zu publizieren: trägt. Ihr Roman Die verwechselten Töchter, eine
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wahrhafte Geschichte, in Briefen entworfen von ei- Sahl, Hans, eigentl.: Hans Salomon, auch: nem Frauenzimmer erschien 1771 anonym in Frans Floris, Peter Munk, Salpeter, * 20.5. Prag. Damit steht sie neben Sophie von La 1902 Dresden, † 27.4.1993 Tübingen. – Roche für die Anfänge der von Frauen ver- Erzähler, Lyriker, Dramatiker, Journalist. fassten Romanliteratur im 18. Jh. Das für S.s Roman konstitutive u. ihn in die Nähe der S. wuchs in einer großbürgerlichen, assimiKomödie stellende – in der Ausführung an lierten dt.-jüd. Familie in Dresden, seit 1907 Johann Elias Schlegels Lustspiel Die stumme in Berlin auf. Der Vater war Bankier. Nach Schönheit (1747) erinnernde – Verwechs- dem Abitur an der Leibniz Oberrealschule lungsmotiv dient ihr zur Thematisierung der 1920 studierte er in Berlin, München u. Frage nach der weibl. Identität. Dabei bleiben Leipzig Kunstgeschichte, Germanistik, PhiS.s Eintreten für eine natürl. Erziehung u. die losophie u. Archäologie, seit 1922 in Breslau, Vorstellung weibl. Vollkommenheit am bür- wo er mit der Dissertation Der Breslauer Bargerlich-aufklärerischen Ideal der Frau als bara-Altar. Ein Beitrag zur Geschichte der deutGattin, Hausfrau u. Mutter orientiert. Sowohl schen Malerei im 15. Jahrhundert (Breslau 1926) die Identitätsproblematik als auch die in der promoviert wurde. Anschließend arbeitete S. Vorrede angestellte Reflexion auf den Prozess als Theater-, Film- u. Literaturkritiker für den des Schreibens, die auch die Erzähltechnik »Montag Morgen«, »Das Tage-Buch« u. den bestimmt, finden ihre Fortführung in S.s »Berliner Börsen-Courier«, wodurch er in zweitem Roman, Karolines Tagebuch ohne aus- Kontakt mit Brecht, Kisch, Piscator, Koeppen, serordentliche Handlungen oder gerade soviel als Leonhard Frank u. Hanns Eisler kam. Nach gar keine (Prag 1774; Pseud. M. A. S.). Die er- der Machtergreifung floh S. im März 1933 neut gewählte Form des Briefromans erfährt nach Prag, wo er für den »Prager Mittag« u. hier durch den Einschub von als Schreib- »Das Neue Tage-Buch« schrieb. S. verfasste übung getarnten fiktionalen Elementen zudem Chansontexte für die Exilkabaretts mehrfache Brechungen u. markiert damit »Cornichon« u. »Die Pfeffermühle«. Einem zgl. die Widersprüche einer sich im Schreiben Aufenthalt in Paris 1934 folgte Ende 1935 die selbstvergewissernden Frau. Ihr ironisch- Umsiedlung in die Schweiz, wo es 1938 in parodistischer Stil u. ihr Votum für die Fik- Zürich zur Aufführung seines Chorwerks Jetionsfähigkeit der Frau geben den Romanen mand. Mit den Holzschnitten ›Die Passion eines ihre Eigenart. Erst in der literaturwissen- Menschen‹ von Frans Masereel (Zürich 1938. CD schaftl. Frauenforschung finden die verges- 2003) kam. S. charakterisierte sein Stück im Vorwort als den Versuch, »das stumme senen Werke S.s wieder Resonanz. Literatur: Christine Touaillon: Der dt. Frau- Schwarz-Weiß der Masereelschen ›Passion‹ enroman des 18. Jh. Wien/Lpz. 1919. – Helga zum Sprechen zu bringen« u. »aus den drei Meise: Die Unschuld u. die Schrift. Dt. Frauenro- Elementen: Sprache, Bild und Musik ein mane im 18. Jh. Bln./Marburg 1983. – Dies.: Das zeitgenössisches Oratorium zu schaffen, woWerk v. M. A. S. [...]. In: Untersuchungen zum bei die Holzschnitte auf eine Leinwand proRoman v. Frauen um 1800. Hg. Helga Gallas u. jiziert werden, während Sprecher und Chor Magdalene Heuser. Tüb. 1990, S. 79–91. – Brigitte in den Bildablauf eingreifen und jeweils die E. Jirku: Spiel, Spiegel, Schrift in M. A. S.s ›KaroSituationen der Handlung interpretieren.« linens Tagebuch‹. In: Colloquia Germanica 26 Das Stück gestaltet das Schicksal eines ex(1993), 1, S. 17–35. – Claire Baldwin: The emergence of the modern German novel: Christoph emplarischen Arbeiters (»Jemand«) in Zeiten Martin Wieland, Sophie v. La Roche, and M. A. S. der Unterdrückung, dessen revolutionäres Bewusstsein ihn vor die Gewehrläufe eines Rochester u. a. 2002. Birgit Schreiber / Red. Pelotons führt. Es ist ein eschatolog. Stationendrama. Am Ende der in einem eindringlichen expressionistischen Sprachduktus verfassten »europäischen Kantate« verkündet der Sprecher »den Bau einer neuen Menschheit.« Wieder in Frankreich, war S. nach
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Kriegsbeginn 1939/40 interniert. Nach der Auflösung des Lagers gelangte er über Marseille, wo er Mitarbeiter von Varian Fry war, im März 1941 nach Lissabon u. nahm von dort den Weg ins amerikan. Exil. S. begann bald mit Übersetzungsarbeiten u. wurde nach 1945 als Übersetzer von Thornton Wilder, Tennessee Williams, John Osborne u. Arthur Miller zu einem wichtigen Vermittler des modernen amerikan. Dramas in den dt. Sprachraum. 1942 veröffentlichte S. den Varian Fry gewidmeten Gedichtband Die hellen Nächte (New York), der die Stationen seiner letzten Jahre schildert u. – wie es in der Leseranspache heißt - »in Eisenbahnabteilen, / Auf Ozeanen und im Wartesaal« entstanden ist. Seit 1947 arbeitete S. als New Yorker Kulturkorrespondent für die »Neue Zürcher Zeitung«, die »Süddeutsche Zeitung« u. »Die Welt«. Eine erste Auswahl von S.s journalistischen Arbeiten aus mehr als sechs Jahrzehnten, die insg. an die zweitausend Artikel umfassen, bietet der Band »Und doch...«. Essays und Kritiken aus zwei Kontinenten (Hg. Klaus Blanc. Ffm. 1991). Von 1953 bis 1958 lebte S., nachdem er 1952 die amerikan. Staatsbürgerschaft angenommen hatte, in Deutschland. Er nahm 1954 an der Tagung der Gruppe 47 teil, wo er aus dem Manuskript des bereits vor dem Zweiten Weltkrieg begonnenen autobiogr. Romans Die Wenigen und die Vielen (Ffm. 1959. 1977. Hbg./Zürich 1991. Taschenbuchausg. Mchn. 1994) las. Darin blickt der im New Yorker Exil lebende Berliner Schriftsteller Georg Kobbe auf seine europ. Erfahrungen zurück u. entwirft das Modell des Exils als »geistiger Lebensform« bzw. existenzieller »Exterritorialität« (A. Reiter). S.s Stellung zwischen allen ideolog. Lagern potenzierte seine Isolation zu einem Exil im Exil (Ffm. 1990. Taschenbuchausg. Mchn. 1994), wie S. den zweiten Band seiner Autobiografie nach den Memoiren eines Moralisten (Zürich 1983. Darmstadt/Neuwied 1985. Taschenbuchausg. Mchn. 1995. Beides u. d. T. Memoiren eines Moralisten I und II. Hbg./Zürich 1992) nannte. Da Mitte der 1950er Jahre seine Position nur wenig Resonanz fand, u. a. auch wegen seiner harschen Kritik an der damals dominanten abstrakten Malerei, kehrte S. in die USA zu-
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rück u. lebte von 1958 bis 1989 wieder in New York. Erst in den letzten Lebensjahren, als seine Hauptwerke in dt. u. Schweizer Verlagen erschienen, ließ er sich erneut in Deutschland, in Tübingen nieder. Der Titel von S.s Gedichtsammlung Wir sind die Letzten (Heidelb. 1976. 2., durchges. Ausg. 1986. Erw. u. d. T. Wir sind die Letzten. Der Maulwurf. Ffm. 1991) sollte die nachgeborenen Generationen mahnen, die Überlebenden der europ. Katastrophe nach ihren polit. Erfahrungen zu befragen, um das gesellschaftl. Bewusstsein zu schärfen. Die Gedichte sind primär zeitgeschichtl. Dokumente u. dienten der polit. Selbstverständigung, der Positionsbestimmung in einer aus den Fugen geratenen Welt. In der Form schmucklos, liegt ihre Qualität in der authent. Selbstaussage. Eine größere, wenn auch philologisch nicht unproblemat. Auswahl bietet der Band Die Gedichte (Hg. Nils Kern u. Klaus Siblewski. Mchn. 2009). In seinen beiden Erzählbänden Umsteigen nach Babylon (Zürich 1987) u. Der Tod des Akrobaten (Hbg./Zürich 1992) überschreitet S. seinen reichen autobiogr. Fundus u. erfindet parabelhafte Texte über die existenzielle Verfasstheit des Menschen. Auffällig ist, wie oft man in S.s Erzählungen auf Figuren mit Sprachhemmungen oder -störungen stößt. Ihre Sprachnot erscheint als Konsequenz der in der Titelerzählung von Umsteigen nach Babylon formulierten Erkenntnis, dass »dieser Welt mit Worten nicht mehr zu helfen« sei. Als quasi emblemat. poetolog. Gestalt fungiert die Statue einer Sybille, »die mit schweigengebietender Gebärde den Finger an den Mund hielt«. Ihre allegor. Bedeutung besteht wohl darin, dass inmitten des »Tumults der Meinungen« allein im Schweigen die Wahrheit bewahrt bleibt. S.s Erzählungen initiieren daher einen gegenläufigen Körperdiskurs, indem sie – an Kleist erinnernd – dem Austausch von Gesten, Berührungen u. Blicken ihre unaufdringl. humane Botschaft einschreiben. S. erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Thornton-Wilder-Preis (1979), den Andreas-Gryphius-Preis (1984), die Goethe-Medaille (1991), die Zuckmayer-Medaille (1993) u. den Lessing-Preis (1993).
SAID Weitere Werke: Hausmusik. Eine Szenenfolge. Bad Homburg 1980. – Die Inselfahrt. Eine ernste Komödie. Ebd. 1990. – Rubinstein oder Der Bayreuther Totentanz. Ebd. 1990. – George Grosz. H. S. So long mit Händedruck. Hg. Karl Riha. Hbg. 1993. – Der Schrei u. die Stille. Mit Zeichnungen v. Georg Sternbacher. Nördlingen 1993. – Herausgabe: George Grosz: Heimatl. Gestalten. Zeichnungen. Ffm./Hbg. 1966. Literatur: Bibliografie: Gregor Ackermann u. Momme Brodersen: H. S. Eine Bibliogr. seiner Schr.en. Mit einem Vorw. v. Edzard Reuter. Marbach 1995. – Weitere Titel: Erich Wolfgang Skwara: H. S. Leben u. Werk. New York u. a. 1986. – Sigrid Kellenter: Gustav Regler u. H. S. In: Exil 9 (1989), Nr. 2, S. 54–77. – Dies.: H. S. In: Dt. Exillit. Bd. 2, Tl.1, S. 803–825. – Michael Rohrwasser: H. S. In: KLG. – Karina v. Tippelskirch: H. S. In: MLdjL. – Andrea Reiter: Der Briefw. H. S. u. Hermann Broch. In: Exil 23 (2003), Nr. 1, S. 36–49. – Susanne Schedl: H. S. In: LGL. – Momme Brodersen: H. S. In: NDB. – Bernhard Spies: H. S. Remigration als doppeltes Exil. In: Fremdes Heimatland. Remigration u. literar. Leben nach 1945. Hg. Irmela v. der Lühe u. Claus-Dieter Krohn. Gött. 2005, S. 153–168. – Tim Hess: Der Begriff des Exils im Werk v. H. S. Marburg 2006. – Wulf Köpke: H. S. als Übersetzer. In: Exilforsch. 25 (2007), S. 208–226. – A. Reiter: Die Exterritorialität des Denkens. H. S. im Exil. Gött. 2007. – Robert Krause: Lebensgesch.n aus der Fremde. Autobiogr.n deutschsprachiger emigrierter SchriftstellerInnen als Beispiele literar. Akkulturation nach 1933. Mchn. 2010. – Ders.: Berliner Kritiken. H. S.s journalist. Frühwerk aus der Weimarer Republik. In: Jb. zur Kultur u. Lit. der Weimarer Republik 13 (2010), S. 29–52. Jürgen Egyptien
SAID (Pseudonym), * 27.5.1947 Teheran. – Lyriker, Essayist u. Hörspielautor. S. kam zum Studium u. als Flüchtling vor dem Schah-Regime 1965 in die BR Deutschland. Er studierte Politologie in München. S. war aktiv bei den Demonstrationen beim Besuch des Schah in Deutschland 1967 u. in der CISNU, der Oppositionsbewegung der Exiliraner gegen das Schah-Regime, zu deren Generalsekretär er 1973 gewählt wurde. Nach dem Sturz des Schah 1979 kehrte er in den Iran zurück, ging jedoch angesichts der Chomeini-Diktatur nach wenigen Wochen erneut ins Exil u. lebt seitdem als freier Schriftsteller in München. Er ist Mitgl. des
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Verbands Deutscher Schriftsteller u. des dt. P.E.N.-Zentrums, war bis 1997 Vizepräsident des Writers in Prison Committee des P.E.N. u. 2000–2002 Präsident des P.E.N.-Zentrums Deutschland. Sein erster Gedichtband, Liebesgedichte (Mchn. 1981), zeigt bereits, ähnlich wie der zweite Gedichtband, Wo ich sterbe ist meine Fremde. Exil und Liebe (Ffm. 1983), die S.s gesamtes lyr. Werk bestimmende Ausdrucksform: Unter Verzicht auf Sprachexperimente u. Ausschmückungen gelingt ihm durch sprachl. Knappheit eine höchst konzentrierte Aussage. Individuelle Erfahrungen werden stark sinnenhaft u. in intensiven Bildern dargestellt. Exil u. Liebe in enger Beziehung bilden dabei die Grundmotive. Liebe ist (wie auch die Sprache) Zufluchtsort in der Ausgesetztheit des Exils, das immer wieder in die polit. Dimension im Hinblick auf die aktuelle Situation im Iran gerückt wird. In seinen späteren Gedichten, so v. a. in Aussenhaut Binnenträume (Mchn. 2002), tritt als dominierendes Motiv unmittelbar neben der sinnl. Liebe immer stärker der Tod ins Zentrum: »der tod hausiert zwischen den zeilen«. In zwei Hörspielen u. in seinen Essays setzt sich S. direkt mit der polit. Situation im Iran auseinander: Ich und der Schah ist ein fingiertes Zwiegespräch S.s mit dem Schah nach dessen Sturz, eine Abrechnung des Autors im Exil mit der despotischen Herrschaft des nunmehr Entmachteten unmittelbar vor seinem Tod. Die Beichte des Ayatollah (beide Hbg. 1987) stellt eine entlarvende Lebensbilanz Chomeinis dar: In Form eines fiktiven Gebetsmonologs betrachtet er selbstgefällig seine restriktiven polit. Maßnahmen der Entwestlichung u. Re-Islamisierung als Errungenschaften u. Bausteine der perfekten islamischen Republik. Immer wieder werden in S.s Werken Fremdheit u. Isolation als Voraussetzungen seines Schreibens thematisiert u. reflektiert. So ist die dt. Sprache für ihn nicht nur Medium, sondern v. a. Zufluchtsort in der Isolation u. seine eigentl. Heimat, das »auffanglager« für den Flüchtling. Mit dieser seiner Beziehung zur dt. Sprache setzt er sich ausführlich auseinander in seinem Band In Deutschland leben. Ein Gespräch mit Wieland
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Freund (Mchn. 2004), in dem er auch seine (2005/2006), 2, S. 49–59. – Irmgard Ackermann: Erinnerungen an Teheran, an »’68 und die Psalmendichtung aus der Außenperspektive. In: folgen« sowie an die dt. Wiedervereinigung Stimmen der Zeit 226 (2008), S. 185–196. Irmgard Ackermann thematisiert u. das für ihn »typisch deutsche« zu bestimmen sucht, im Epilog aber auch ausdrücklich den Bogen zu Europa spannt. Saiko, George, eigentl.: Emmanuel Georg Aber nicht nur Erinnerung u. nicht nur die Josef S., * 5.2.1892 Seestadtl/Nordböhpolit. Dimension bestimmen S.s Werk, sonmen, † 23.12.1962 Rekawinkel/Niederdern auch die Öffnung in den spirituellen österreich. – Romancier, Erzähler u. Bereich, bes. intensiv in seinen 99 als Psalmen Kunsthistoriker. (mit einem Nachwort von Hans Maier. Mchn. 2007) betitelten Gebetstexten. Muslimische, Nach dem Besuch des humanistischen Gymjüd. u. christl. Glaubentraditionen finden nasiums in Komotau u. der Reifeprüfung am hier in spiritueller Suche eine sehr persönl. u. Königlich-kaiserlichen Staatsgymnasium im aktuelle Ausdrucksform existenzieller Be- heutigen Teplitz-Schönau studierte der Sohn findlichkeit jenseits konfessioneller Zuord- begüterter Eltern ab 1912 Kunstgeschichte, nung. Nicht Gewissheit u. kein konkretes Archäologie, Philosophie u. Psychologie in Gottesbild bestimmen die Beziehung zum Wien. Bereits als junger Student veröffentimmer wieder als »herr« angeredeten tran- lichte S. mit Das letzte Ziel (1913) u. Die gnaszendenten Gesprächspartner, sondern Suche denlose Stadt (1914) zwei vom Expressionisu. Verlangen des sprechenden »ich« nach ei- mus geprägte Erzählungen. Vor Ausbruch nem Gegenüber gleichsam »auf Augenhöhe«, des Ersten Weltkriegs versuchte er sich zudem als Schauspieler. Im Jan. 1914 wirkte er das sich den bohrenden Fragen stellt. S. erhielt 1985 den Literaturpreis der Stadt in einem von der bekannten BühnenkünstleMünchen, 1992 den Civis-Hörfunk-Preis, rin Ida Orloff zusammengestellten Ensemble 1994 den Premio Letterario Internationale an einer Gastspieltournee in St. Petersburg »Jean Monnet«, 1996 den Heidelberger Preis mit. Während der Kriegsjahre war S. – nach für Exilliteratur, 1997 die Hermann Kesten kurzem Kriegsdienst an der Front – dem Medaille des P.E.N.-Zentrums Deutschland, Kriegspressequartier zugeteilt. 1919 nahm er 2002 den Adelbert-von-Chamisso-Preis u. sein Studium wieder auf. Gleichzeitig begann er mit dem russ. Übersetzer Dimitrij Uman2006 die Goethe-Medaille. skij Dramen von Ilja Surgutschew, Michail Weitere Werke: Sei Nacht zu mir. Liebesgedichte. Mchn. 1989. – Dann schreie ich, bis Stille Tschulkow u. Leo Tolstoj ins Deutsche zu ist. Gedichte. Tüb. 1990. – Selbstbildnis für eine übertragen. Nach seiner Dissertation über ferne Mutter. Mchn. 1992. – Der lange Arm der den frühbarocken Palastbau u. der Promotion Mullahs. Notizen aus meinem Exil. Mchn. 1995. – zum Dr. phil. 1927 arbeitete S. als PrivatgeDieses Tier, das es nicht gibt. Ein Bestiarium. lehrter u. Kunsthistoriker u. veröffentlichte Mchn. 1999. – Landschaften einer fernen Mutter. kunsthistor. Essays in namhaften FachzeitMchn. 2001. – Friedrich Hölderlin empfängt nie- schriften wie »The Studio« u. »Creative Art«. manden mehr. Ein Hörsp. Mchn. 2002 (CD). – Ich In jener Zeit nahmen auch die ersten größeu. der Islam. Mchn. 2005. – Das Rot lächelt, das ren literar. Pläne S.s feste Formen an. Als Blau schweigt. Gesch.n über Bilder. Mchn. 2006. – S. 1938 mit dem satir. Gesellschaftsstück HofDer Engel u. die Taube. Mchn. 2008 (E.en). – Ruf und Personal-Nachrichten als Dramatiker zu rezurück dir Vögel. Neue Gedichte. Mchn. 2010. üssieren gedachte, stoppte der »Anschluss« Literatur: Ewout van der Knaap: S. In: KLG. – Österreichs an das Deutsche Reich diesen Thomas Baginski: Von Mullahs u. Deutschen. Anersten größeren Anlauf zu literar. Wirken. näherung an das Werk des iran. Exillyrikers S. In: GQ 74 (2001), S. 22–36. – Jürgen Wertheimer: Das Stück, das zur Uraufführung auf den Laudatio auf S. In: Bayer. Akademie der Schönen Spielplan des Theaters in der Josefstadt geKünste. Jb. 16 (2002), S. 501–508. – Cornelia Zetz- setzt worden war, wurde kurzerhand verbosche: S. In: LGL. – Kurt Scharf: Zuflucht bei der dt. ten. Erst 1986 sollte die Komödie erstmals im Sprache. S.: ein pers.-dt. Autor. In: Iranistik 4 Druck erscheinen (in: G. S.: Sämtliche Werke in
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fünf Bänden. Bd. 4, S. 7–127) u. 1988 in eben diesem Theater in Wien uraufgeführt werden. Da er der Reichsschrifttumskammer nicht beitreten wollte, wurde S. zu Kriegsbeginn 1939 von den nationalsozialistischen Machthabern mit Schreibverbot belegt u. als Kunsthistoriker an die Graphische Sammlung Albertina dienstverpflichtet. Neben seiner Verantwortung für Schutz u. Bergung der Exponate vor mögl. Kriegseinwirkungen organisierte er 1940–1942 eine Serie von Kunstausstellungen unter dem übergeordneten Titel »Die unbekannte Albertina«. 1945 wurde S. für kurze Zeit mit der provisorischen Leitung der Albertina betraut. Wegen eines Zerwürfnisses mit einem Vorgesetzten 1950 aus dem Dienst entlassen, wirkte er fortan als freier Schriftsteller in Wien. S.s literar. Werk erschien fast zur Gänze erst nach dem Zweiten Weltkrieg. 1948 veröffentlichte der Limes-Verlag den Roman Auf dem Floß (Wiesb.) als Lizenzausgabe für Deutschland. In seiner Heimat bekannt wurde das monumentale Werk, das den Niedergang der feudalen Gesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg schildert u. im skurrilen Plan des Fürsten Alexander Fenckh gipfelt, seinen vergifteten Diener Joschko ausgestopft im Glaskasten der Schlosshalle aufzustellen, jedoch erst 1954 durch die Neuauflage im Marion von Schröder-Verlag (Hbg.). S.s Perspektive auf die untergegangene Donaumonarchie ist von psycholog. Neugierde geprägt u. durchdringt dabei jenen brüchigen Untergrund, in dem die österr. Katastrophe der dreißiger Jahre ihre Wurzeln fand. Im Staatsvertragsjahr 1955 machte S. mit dem Roman Der Mann im Schilf (Hbg.) das Chaos des Jahres 1934 zum Thema, womit er jene schwarzen Jahre der österr. Geschichte vor Augen führte, die bis heute einem gesellschaftl. u. polit. Verdrängungsprozess unterliegen. In den Sog dieses polit. Geschehens geraten zufällig drei aus Kreta zurückkehrende Archäologen, der Österreicher Robert u. ein engl. Ehepaar, die im Raum Salzburg in den undurchsichtigen Kleinkrieg von Bundesheer, Gendarmerie, Heimwehr, nationalsozialistischen Putschisten u. Agenten
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verwickelt werden. Bei der Suche nach einem flüchtigen Putschisten, der sich in einem Schilfgürtel eines Sees verborgen haben soll, wird Hanna, die Verlobte Roberts, beim Versuch diesen zu befreien, erschossen. Der Mann im Schilf selbst bleibt unauffindbar. In diesem Roman ist das Endstadium des Wertezerfalls erreicht. Sämtliche Konventionen, die das Triebhafte unter Kontrolle zu halten vermochten, sind vollends gesprengt. Der Zusammenbruch allgemein verbindlicher gesellschaftl. Normen wird hier zum alles beherrschenden Maßstab der Realität u. bestimmt folglich die polit. Auseinandersetzungen ebenso wie die zwischenmenschl. Beziehungen. Parallel zu den Arbeiten an seinen Romanen schrieb S. literatur- u. kulturkrit. Essays u. versuchte sich im Genre der Kurzgeschichte. 1962 veröffentlichte der Hans Deutsch-Verlag den Band Giraffe unter Palmen (Wien/Stgt./Basel), dessen Erzählungen in der Wahl der Schauplätze vornehmlich an Italien u. größtenteils an eine erotisch-sexuelle Thematik gebunden sind. Ebenfalls 1962 verlegte der Hans DeutschVerlag den Novellenband Der Opferblock (ebd.), der die beiden Kriegserzählungen Die Klauen des Doppeladlers u. Die Badewanne enthält, die zu den dichtesten u. komplexesten Texten der jüngeren österr. Literatur zu zählen sind. Obwohl S. in Österreich wesentlich zur Vermittlung der Moderne beigetragen u. mit seinen beiden Romanen bedeutende Zeit- u. Gesellschaftspanoramen entworfen hat, wurde er von Kritik u. Wissenschaft äußerst ambivalent beurteilt. Mit Konstanz begleitete die Rezeption des Autors das Urteil der schweren Lesbarkeit. Realität u. Handlungszusammenhang seien zu sehr in eine Fülle assoziativ verbundener psych. Empfindungen zerlegt. In der Tat ist der Leser durch perspektivische Brechung sowie durch Sprünge u. Überlagerungen von Geschehnisebenen ständig mit der Störung des linearen Erzählens konfrontiert u. gezwungen, sich Handlungsmuster u. Inhalte selbst zu erschließen. Die Reduktion der Interpretationen auf die psych. Vorgänge in S.s Prosa gipfelte schließlich im Vorwurf, dass es sich
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vornehmlich um die Umsetzung Freudscher Theorien in Romanprosa handle. In seiner kompositionellen Praktik, die durch Vergleiche u. Symbolbildungen sowie einer gewissen Affinität zu Formprinzipien der bildenden Kunst, Gedanken, Bewusstseinsfetzen, Assoziationen, Triebanstöße, aber auch Vor- u. Unbewusstes in Bilder zu fassen u. so gewissermaßen zu verlebendigen sucht, sah S. eine Möglichkeit, sich kritisch mit der gesellschaftl. Wirklichkeit u. histor. Klischees auseinanderzusetzen. Für sein künstlerisches Schaffen wurde er 1959 mit dem Preis der Stadt Wien für Dichtkunst u. 1962 mit dem Großen Österreichischen Staatspreis für Literatur ausgezeichnet. Weitere Werke: Die dunkelste Nacht. Eingel. u. ausgew. v. Ferdinand Wernigg. Graz/Wien 1961. – Die erste u. die letzte Erzählung. Hg. Rudolf Felmayer. Wien 1968. – Sämtl. Werke in fünf Bdn. Hg. Adolf Haslinger. Salzb./Wien 1985–92. Literatur: Heinz Rieder: Der mag. Realismus. Eine Analyse v. ›Auf dem Floß‹ v. G. S. Marburg 1970. – Joseph P. Strelka (Hg.): G. S.s mag. Realismus. Zum Werk eines unbekannten grossen Autors. Bern u. a. 1990. – Peter König: Epische Struktur u. Psychoanalyse bei G. S. Diss. Salzburg 1991. – Nikolaus Douda: The conditio humana and G. S.’s anthology ›Giraffe unter Palmen‹. Diss. Reading 1994. – Hans Wolfschütz: G. S. In: KLG. – Renate S. Posthofen: Treibgut. Das vergessene Werk G. S.s. Wien u. a. 1995. – Michael Hansel u. Klaus Kastberger (Hg.): G. S. Texte u. Materialien. Wien 2003. – M. Hansel: G. S. oder: Die Wirklichkeit hat doppelten Boden. Wien 2010. Michael Hansel
Sailer, Johann Michael, * 17.11.1751 Aresing bei Schrobenhausen/Obb., † 20.5. 1832 Regensburg; Grabstätte: ebd., Dom. – Katholischer Theologe, Prediger, Pädagoge. Als Sohn eines Schusters kam S. 1762 nach München aufs Jesuitengymnasium u. war 1770–1772 Jesuitennovize in Landsberg. Anschließend studierte er Philosophie u. Theologie in Ingolstadt, wo er 1777–1781 als Repetitor (1780/81 auch als Professor für Dogmatik) in dt. Sprache lehrte u. zu den Modernisten zählte. Als Exjesuit 1781 entlassen, führte S. eine kurfürstlich angeordnete Revi-
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sion der Gebetbücher durch u. schuf sein Vollständiges Lese- und Gebetbuch für katholische Christen (6 Bde., Mchn. 21785. Neudr. hg. von Franz Keller. Freib. i. Br. 1916. 2 Bde., Mchn. 1 1783), das aus altkirchl. Traditionen schöpft. Es war bei kath. wie evang. Christen überaus erfolgreich u. fand die Zustimmung Lavaters, Claudius’, Friedrich Heinrich Jacobis, Hamanns u. vieler anderer. Allerdings wurde S. von protestantischer Seite (z. B. Nicolai) auch der Proselytenmacherei, von kath. der Aufklärerei verdächtigt. 1784–1794 war S. Professor für Pastoraltheologie u. Ethik in Dillingen. In Auseinandersetzung mit Kant löste er sich jetzt vom Rationalismus u. fand zum christologischheilsgeschichtl. Denken, mit dem er zum Erneuerer des Katholizismus in Bayern wurde. In dieser Zeit befasste er sich erstmals mit der Lehre u. veröffentlichte seine Vorlesungen aus der Pastoraltheologie (3 Bde., Mchn. 1788). Seine Gegner verdächtigten ihn des Mystizismus wie des Illuminatentums u. erreichten 1794 S.s zweite Entlassung. 1795–1799 widmete er sich im Hause Karl Theodor Becks in Ebersberg literar. Arbeiten. Seine Übersetzung von Thomas’ von Kempen Buch von der Nachfolgung Christi (2 Tle., Mchn. 1794. Neudr. hg. von Walter Kröber. Stgt. 1976. Online-Ausg. Ballinlough 2004), eine sprachl. Meisterleistung, fand große Verbreitung. S. erneuerte mit diesem Werk die Devotio moderna des 14. u. 15. Jh. Gleichzeitig arbeitete er auch an seiner großangelegten Anthologie Briefe aus allen Jahrhunderten der christlichen Zeitrechnung (6 Bde., Mchn. 1800–1804), die als Kontinuum abendländ. Frömmigkeit von den Aposteln bis in S.s Gegenwart in den geistigen Besitz der Lukasbrüder in Rom einging. Im Rahmen der aufgeklärten Reformpolitik des Grafen Montgelas wurde S. 1799 in Verkennung seiner geistigen Richtung als Professor für Moral- u. Pastoraltheologie an die Ingolstädter Universität berufen, die 1800 nach Landshut verlegt wurde. Während er hier dem Landshuter Romantikerkreis (um Savigny u. die Geschwister Brentano) angehörte, versammelte er eine Gruppe junger Theologen um sich, die sog. Priesterschule S.s, die für die Verbreitung der neuen kath.
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Frömmigkeit sorgte. Auf seinen religionsphilosophischen Vorlesungen beruhen die Grundlehren der Religion (Mchn. 1805), die Jacobi als »eins der besten Bücher in deutscher Sprache« bezeichnete. 1807 erschien S.s pädagog. Hauptschrift Ueber Erziehung für Erzieher (Mchn. Neudr. hg. von Eugen Schoelen. Paderb. 1962. Online-Ausg. Ballinlough 2004. Digitalisat Mchn. 2010) u. 1810 Die Weisheit auf der Gasse, oder Sinn und Geist deutscher Sprichwörter (Augsb./Mchn. Neudr. Nördlingen 1987. Zuletzt Ffm. 1996). Dieses Lehrbuch für uns Deutsche, mitunter auch eine Ruhebank für Gelehrte, die von ihren Forschungen ausruhen möchten (Untertitel), enthält im ersten Teil eine auch heute noch wertvolle Sprichwörterkunde u. im zweiten eine dem 18. Jh. verpflichtete dt. Sprichwörtersammlung. Auf Betreiben Kronprinz Ludwigs u. gegen den Widerstand der Nuntiatur wurde S. 1821 zum Domherrn, 1822 zum Koadjutor u. am 28.10.1829 zum Bischof von Regensburg ernannt. Nachdem S. 1817 mit seinem Handbuch der christlichen Moral (3 Bde., Mchn.) eine krit. Auseinandersetzung mit der Ethik Kants vorgelegt hatte, folgte als Summe seiner theolog. u. pädagog. Erkenntnisse Der Mensch und Christ für Welt und Ewigkeit. In naturgeschichtlicher, philosophischer, moralischer und christlich-religiöser Hinsicht (3 Bde., Grätz 1827). Noch zu Lebzeiten S.s erschienen die ersten Bände seiner von Joseph Widmer herausgegebenen Sämmtlichen Werke (40 Bde., Sulzbach 1830–41. Suppl. 1855). Weitere Werke: Glückseligkeitslehre. Mchn. 1791. Neudr. hg. v. Joseph Maria Nielen. Ffm. 1926. – Übungen des Geistes zur Gründung u. Förderung eines hl. Sinnes u. Lebens. Mchn. 1799. Neudr. hg. v. Franz Keller. Freib. i. Br. 2. u. 3. Aufl. 1919. – J. M. S.s Sämmtl. Werke. Digitalisat Google. Literatur: Wilhelm Kosch: S.s ›Weisheit auf der Gasse‹. In: Ztschr. des allg. dt. Sprachvereins 28 (1913), Sp. 293–296. – Hubert Schiel: J. M. S. Leben u. Briefe. 2 Bde., Regensb. 1948–52 (Schriftenverz. u. Lit. bis 1952: Bd. 2, S. 641–680). – Gerard Fischer: J. M. S. u. Immanuel Kant. Freib. i. Br. 1953. – Ders.: J. M. S. u. Johann Heinrich Pestalozzi. Ebd. 1954. – Ders.: J. M. S. u. Friedrich Heinrich Jacobi. Ebd. 1955. – Dieter Narr: J. M. S. u. das dt. Sprichwort. In: Bayer. Jb. für Volkskunde (1956), S. 139–147. – Hans Graßl: Aufbruch zur Romantik.
166 Mchn. 1968. – Georg Schwaiger. J. M. S. In: Bavaria Sancta. Hg. ders. Bd. 2, Regensb. 1971, S. 296–315. – Elisabeth Stopp: Romantic Affinities of J. M. S.’s Kerygmatic Writing. In: Romantik in Dtschld. Hg. Richard Brinkmann. Stgt. 1978, S. 463–474. – Bernhard Gajek (Hg.): J. M. S., Melchior Diepenbrock, Clemens Brentano. Regensb. 1979 (Ausstellungskat.). – G. Schwaiger: J. M. S., der bayer. Kirchenvater. Mchn. 1982 (mit Quellen u. Lit.). – Franz Niedermayer: Goethe u. S. In: NDH 30 (1983), S. 510–523. – Hans Bungert (Hg.): J. M. S. Theologe, Pädagoge u. Bischof [...]. Regensb. 1983. – Wolfgang Mieder: Gesch. u. Probleme der nhd. Sprichwörterlexikographie. In: Studien zur nhd. Lexikographie. Hg. Herbert Ernst Wiegand. Bd. 5, Hildesh. 1984, S. 323 ff. – G. Schwaiger: J. M. S. In: Lebensbilder aus der Gesch. des Bistums Regensburg. Hg. ders. Tl. 2, Regensb. 1989, S. 495–512 (mit Lit.). – Hans Pörnbacher: J. M. S. als Vater der schwäb. Kinder- u. Jugendlit. im 19. Jh. In: Ztschr. für bayer. Landesgesch. 55 (1992), 2, S. 367–374. – Raimund Lachner: J. M. S. In: Bautz. – Johann Hofmeier: J. M. S. In: Gesch. der Seelsorge in Einzelporträts. Bd. 2. Hg. Christian Möller. Gött. 1995, S. 371–385. – Kazimierz Starzyk: Sünde u. Versöhnung: J. M. S. u. sein Vermächtnis. Regensb. 1999. – Konrad Baumgartner u. Peter Scheuchenpflug (Hg.): Von Aresing bis Regensburg: FS zum 250. Geburtstag v. J. M. S. am 17. Nov. 2001. Regensb. 2001. – Werner Chrobak, Paul Mai u. Hermann Reidel: J. M. v. S.: Pädagoge – Theologe – Bischof v. Regensburg. Kat. der Ausstellung zum 150. Todestag S.s im Diözesanmuseum Regensburg 1982. Festg. zum 75. Geburtstag für Manfred Müller, Bischof v. Regensburg (1982–2001). Regensb. 2001. – Themenheft: Zum 250. Geburtstag v. J. M. S. (1751–1832). Münchener theolog. Ztschr. 52 (2001), H. 4. – J. M. S.: das postume Inquisitionsverfahren. Hg. Hubert Wolf. Paderb./Zürich 2002. – Bertram Meier: J. M. S.: Theologe u. Seelsorger zwischen Aufklärung u. Romantik. In: Theologen des 17. u. 18. Jh.: konfessionelles Zeitalter, Pietismus, Aufklärung [...]. Hg. Peter Walter u. Martin H. Jung. Darmst. 2003, S. 244–261. – Hubert Wolf: J. M. S. In: NDB. – P. Scheuchenpflug: Die Privatbibl. J. M. S.s. Nachdruck des Verzeichnisses v. Büchern aus S.s Nachl. [...]. Ffm. 2006. – Philipp Gahn: J. M. S.s Gebetbücher. Eine Studie über den lebenslangen Versuch, ein Dolmetsch des betenden Herzens zu sein. Tüb./Basel 2007. Wolfgang Mieder / Hans Leuschner / Red.
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Sailer, Sebastian, eigentl.: Johann Valentin S., * 17.2.1714 Weißenhorn/Bairisch Schwaben, † 7.3.1777 Obermarchtal/Donau. – Wanderprediger, Dialektdichter.
Sakowski Ausgaben: Schr.en im schwäb. Dialekte. Ges. v. Sixt Bachmann. Buchau 1819. Neudr. Reutl. 1976. – Sämtl. Schr.en in schwäb. Dialekte. Neue Aufl. v. Konrad Dietrich Haßler. Ulm 1842. 41893. – Die bibl. u. weltl. Komödien. Hg. Owlglass [= Hans Erich Blaich]. Mchn. 1913. – Die Schöpfung des ersten Menschen, der Sündenfall u. dessen Strafe. Nachw. v. Sebastian Blau [= Josef Eberle]. Marbach 1956. – Jubiläumsausg. zum 250. Geburtstag. Hg. Lorenz Locher. Munderkingen 1965. – Die Schöpfung. Hg. Martin Stern. Stgt. 1969. – Adams u. Evens Erschaffung u. ihr Sündenfall. Ausg. mit Noten v. 1783. Nachw. v. Stefan Ott. Biberach 1977. – Internet-Ed. mehrerer Texte in: Dt. Lit. des 18. Jh. Online. Hg. Paul Raabe. Mchn. 2007. Literatur: Josef Kunstmann: S. S. In: Lebensbilder aus dem Bayr. Schwaben. Bd. 2, Mchn. 1953, S. 291–303. – Benedikt Welser: S. S. In: Lebensbilder bedeutender Oberschwaben. Ehingen 1959, S. 96–104. – Franz Weyr: S. S., der schwäb. Aristophanes. In: Unbekannte Bayern 6 (1961), S. 108–125. – Martin Stern: S. S.s ›Schöpfung‹. Ein Vorsp. zu Goethes Farcen. In: JbDSG 9 (1965), S. 131–165. – Kurt Wais: Bernard de la Monnoye u. S. S. In: Ztschr. für frz. Sprache u. Lit. 76 (1966), S. 154–168. – S. S. 1714–1777. Bearb. v. Hans Albrecht Oehler. Marbach am Neckar 1996. – Monika Küble: Schwäb. Dialektlit. bis 1800. Von den ›Suavischwaifigschwetzigen Schwäbischen Froschgoschigen breiten schwatzmäulern‹. In: Schwabenspiegel. Lit. vom Neckar bis zum Bodensee 1000–1800. Hg. Ulrich Gaier, M. Küble u. Wolfgang Schürle. Bd. 2, Ulm 2003, S. 41–52. – Hans Pörnbacher: S. S. In: NDB. Hans-Albrecht Koch
S., Kind eines Fugger’schen Amtsschreibers, wurde nach der Ausbildung im Kloster Obermarchtal dort Ordensbruder der Prämonstratenser u. wirkte in verschiedenen Pfarreien der Diözese Konstanz, 1757–1773 zu Dieterskirch. 1761–1764 gehörte S., als schlagfertiger Unterhalter geschätzt, zu den Gästen Friedrich von Stadions auf Schloss Warthausen, wo er u. a. Wieland u. Sophie La Roche begegnete. Er trat als Kanzelredner u. Festprediger (Geistliche Reden. 3 Bde., Augsb. 1766–70) hervor, u. a. 1767 in Wien, wo er von Maria Theresia empfangen u. als ein Cicero Suevicus geehrt wurde. Neben geistl. Werken (Marianisches Orakel. 2 Bde., ebd. 1764–70) u. der Jubiläumsschrift seines Klosters (Das jubilierende Marchthal. Ebd. 1771) verfasste S. Kantaten, weltl. u. geistl. Schwänke u. Burlesken (Kain und Abel, Fall Luzifers, Siebenschwabenspiel, Schwäbischer Sonnund Mondfang, Die Schwäbischen heiligen drei Könige, Schultheißenwahl zu Limmelsdorf. Alle zuerst bei Bachmann). Die derbe, anschaul. u. volkstüml. Sprache von S.s Dichtungen, die auch seine Kanzelreden auszeichnet – für eine Predigtsammlung schlug er den Titel »Geistlicher Misthaufen« vor –, wird durch die Verwendung des schwäb. Dialekts verstärkt. Sein bekanntestes Dialektspiel, Die Sakowski, Helmut, * 1.6.1924 Jüterbog, Schöpfung, ein Melodram in drei Akten aus † 9.12.2005 Wesenberg. – FernsehdramaArien u. Rezitativen, schrieb S. 1743 für den tiker, Romancier. Geburtstag des Abtes von Schussenried. Das Nach einer Forstlehre (1941–1943) war S., Stück, »herzhafter Ernst im Narrenkleid, Sohn eines Angestellten, Soldat u. geriet in Frömmigkeit in grobianischer Gestalt [...], Kriegsgefangenschaft. 1947–1949 besuchte ein eigentliches Vorspiel zu Goethes Farcen« er die Fachschule für Forstwirtschaft, wurde (Martin Stern), wurde 1766 auch zur Tau- Mitarbeiter im Ministerium für Land- u. sendjahrfeier des Klosters Ottobeuren aufge- Forstwirtschaft, 1951 Leiter des staatl. Forstführt. Theologische Kritiker warfen S. die wirtschaftsbetriebs Salzwedel u. dann ReVerwendung der Bauernsprache als Grobheit vierförster. Seit 1961 lebte er als freier vor u. klagten ihn – freilich vergeblich – beim Schriftsteller in Neustrelitz, dann bis zu seiErzbischof von Konstanz wegen Verballhor- nem Tod in Wesenberg. S. war 1972–1974 nung der Bibel an. Zu den frühen Bewunde- Vizepräsident des Kulturbunds u. seit 1973 rern des eigentl. Begründers der schwäb. Mitgl. des Zentralkomitees der SED. Er erDialektdichtung gehörten Goethe, der das hielt u. a. 1959, 1965, 1968 u. 1972 den NaInteresse auf die Sammlung von S.s Spielen tionalpreis der DDR, 1987 u. 1988 den Hörgelenkt zu haben scheint, u. Mörike. spielpreis der DDR u. 1964 den Fritz-Reuter-
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Preis. S. war Mitgl. der Deutschen Akademie liensaga zum Chronisten Mecklenburgs (Trider Künste. Nach 1989 betrachtete er seine logie Die Schwäne von Klevenow. Bln./Weimar polit. Arbeit kritisch, hielt aber den Sozialis- 1993. Schwarze Hochzeit auf Klevenow. Ebd. mus »für die faszinierendste Idee des Jahr- 1994. Die Erben von Klevenow. Bln. 2000). hunderts«. Weitere Werke: Weiberzwist u. Liebeslist. S.s Genre war die Fernsehdramatik, die Urauff. als Fernsehsp. u. Drama 1961. Buchausg. wegen ihrer unmittelbaren Wirkung auf das Bln./DDR 1961. – Sommer in Heidkau. Urauff. als Publikum von der DDR-Kulturpolitik stark Fernsehsp. 1964. Buchausg. ebd. 1967. – Zwei gefördert wurde. Thematisch im Mittelpunkt Zentner Leichtigkeit. Ebd. 1970 (Gesch.n). – Versteht die Umgestaltung der Landwirtschaft u. flucht u. geliebt. Ebd. 1981 (Fernsehsp. u. R.). – Das Wagnis des Schreibens. Ebd. 1984 (Aufsätze, Reden des Lebens auf dem Lande. Die sozialistischen u. a.). – Wege übers Land. Ein Lesebuch. Vorw. v. Zeitstücke Die Entscheidung der Lene Mattke Ilse Galfert. Ebd. 1984. – Wie brate ich eine Maus. (Urauff. als Fernsehsp. 1958, als Hörsp. u. Ebd. 1987 (E.). – Die letzte Hochzeit. LebensDrama 1959. Buchausg. Lpz. 1960) u. Steine gesch.n. Ebd. 1988. – Mutig waren wir nicht. Ein im Weg (Fernsehsp. 1960. Buchausg. Bln./ Bericht. Bln. 1990. – Prinzessin, wir machen die DDR 1963) zeigen v. a. Frauen in entschei- Fliege. Stgt. 1993 (Forts. v. ›Wie brate ich eine denden Situationen, in denen sie zu Gleich- Maus‹). – Die Geliebte des Hochmeisters. Bln. 2004 berechtigung, Aufstieg u. Liebeserfüllung (R.). – Hörspiele: Eine Frau kommt ins Dorf. 1959. – gelangen. Bekannt wurde S. mit dem »dra- Monolog einer alten Zeitungsfrau. 1966. – Schrei matischen Fernsehroman« Wege übers Land der Wildgänse. 1986. Literatur: Ingrid Seyfarth: Unser Werkstattgemit Ursula Karusseit u. Manfred Krug in den Hauptrollen (Urauff. als Fernsehsp. 1968, als spräch mit H. S. In: Theater der Zeit 20 (1965), H. 24, S. 16–18. – Günter Ebert: Wirkung u. Wagnis. Drama 1969. Buchausg. Halle 1969), der in Zum Werk H. S.s. In: SuF 21 (1969), H. 5, fünf Teilen die Geschichte der Gertrud Ha- S. 1195–1208. – Volker Kurzweg: Interview mit H. bersaat erzählt, die, in der Liebe enttäuscht, S. In: WB 15 (1969), H. 4, S. 742–751. – Ders.: Dem als Vorsitzende einer LPG Erfüllung findet. Leben u. dem Volk verbunden. Zum dramat. Werk Weniger erfolgreich war der fünfteilige H. S.s. In: ebd., S. 752–762. – Willi Köhler: Ein Fernsehroman Die Verschworenen mit Manfred Dramatiker erzählt Gesch.n. In: NDL 19 (1971), H. Krug u. Armin Mueller-Stahl (Urauff. als 1, S. 175–178 (zu ›Zwei Zentner Leichtigkeit‹). – Fernsehsp. 1971, als Drama 1977), in dessen Gottfried Fischborn: H. S. In: Lit. der DDR. Hg. Zentrum nicht mehr der einzelne Held, son- Hans Jürgen Geerdts. Bd. 1, Bln./DDR 1974, dern eine Gruppe von Verschworenen aus S. 387–402, 588–591. – Werner Jehser: Konflikte u. Figuren im dramat. Werk H. S.s. In: Weggenossen. dem Zuchthaus Brandenburg steht, die nach Fünfzehn Schriftsteller der DDR. Hg. Klaus Jar1945 versucht, histor. Erfahrung u. Konti- matz u. Christel Berger. Ffm. 1975, S. 348–394. – nuität des polit. Kampfes zur neuen Form Rüdiger Bernhardt u. a.: ›Verflucht und geliebt‹ v. einer Partei zu führen. Von der Hoffnung auf H. S. In: WB 28 (1982), H. 2, S. 100–115. – Ders.: H. gesellschaftl. Veränderung im Sozialismus S.: ›Wie ein Vogel im Schwarm‹. In: WB 31 (1985), kündet der fünfteilige Fernsehfilm Daniel H. 4, S. 647–657. – Ilja Seifert: Einander ernstDruskat mit Hilmar Thate u. Manfred Krug nehmen. In: SuF 37 (1985), H. 2, S. 412–415 (zu (Urauff. 1976, als Bühnenstück 1984. Buch- ›Wie ein Vogel im Schwarm‹). – Helga Korff-Edel: ausg. Bln./DDR 1976, Mchn. 1977). Während Übers Land mit S. Erinnerungen. Hg. Heide HamS.s Werke der 1960er u. 1970er Jahre zumeist pel. [Neubrandenburg] 2009. Rüdiger Bernhardt anekdotisch zugespitzt sind, werden seine späteren Romane (Wie ein Vogel im Schwarm. Salat, Jakob, * 22.8.1766 Abtsgmünd, Bln./DDR 1984. Fernsehsp. 1990 mit Käthe † 11.2.1851 Landshut; Grabstätte: ebd., Reichel) zur Analyse eines den Einzelnen Hauptfriedhof (Gedenkplatte in der Kaeinschränkenden Alltags. Nach der Wende pelle). – Katholischer Theologe u. Philoschrieb er auch Kinder- u. Jugendbücher (u. a. soph. Katja Henkelpott und die Schlangenkönigin. Stgt./ Wien 1995. Katja Henkelpott kommt in die S.s zahlreiche Schriften richten sich an Schule. Ebd. 1998) u. wurde mit einer Fami- »denkendere Wahrheitsfreunde« u. versu-
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Literatur: Adam Seigfried: Vernunft u. Offenchen eine Synthese von Jacobis u. Kants Philosophie mit allgemeinverständl. Antworten barung bei dem Spätaufklärer J. S. Innsbr./Wien auf Zeitfragen. Zentralthemen sind die Ein- 1983 (mit Bibliogr.). – Raimund Lachner: J. S. In: heit von Vernunft u. Offenbarung, die mora- Bautz. – A. Seigfried: J. S. u. Johann Michael Sailer – ein trag. Verhältnis. In: Von Aresing bis Regenslische Begründbarkeit von Philosophie u. die burg. FS zum 250. Geburtstag v. Johann Michael Autonomie des Menschen. Sailer am 17. Nov. 2001. Hg. Konrad Baumgartner S., Sohn eines Bauern, nahm die geistl. u. Peter Scheuchenpflug. Regensb. 2001, S. 80–113. Laufbahn: Jesuitengymnasium, Doktor der – Ders.: J. S. In: NDB. – Konrad Lotter: Ein PhiloPhilosophie im Klerikalseminar Dillingen, soph auf der Kanzel: der Aufklärer u. Professor J. S. 1790 Priesterweihe. 1792–1821 hatte er Kir- als Pfarrer in Arnbach 1802 bis 1821. In: Amperchenämter inne, seit 1802 in seiner eigenen land 42 (2006), 2, S. 294–297. Gudrun Schury / Red. Pfarrei Arnbach bei München. Aufsehen erregte S. mit Publikationen aufklärerischen Inhalts u. seiner reformerischen Seelsorge- Salat, Seiler, Johannes, Hans, * 1498 Sursee/ praxis. Auch wegen Zusammenkünften mit Kt. Luzern, † 1561 Freiburg/Üchtland. – anderen Aufklärungstheologen wurde er der Katholischer Chronist u. Dichter. Ketzerei u. des Illuminatentums angeklagt, jedoch freigesprochen. Obwohl er gegen Ex- Der Sohn eines Seilers besuchte vermutlich treme war (Auch die Aufklärung hat ihre Gefah- die Lateinschule seiner Heimatstadt. Zuren! Mchn. 1801), wurde er von den Exjesui- nächst betrieb er das Seilerhandwerk in Sursee; nachdem seine erste Frau an der Pest ten angegriffen. 1801 erhielt S. eine theolog. Professur am gestorben war, siedelte er 1520 nach Luzern kurfürstl. Lyzeum München, 1807 eine phi- über. Außer als Seiler erwarb er seinen Unlosophische in Landshut. Bis 1827 entstanden terhalt 1522–1527 durch Beteiligung an hier seine Lehrbücher, z. B. Die Religionsphi- Kriegszügen in frz. Diensten (als sog. Reislosophie (Mchn. 21821), Handbuch der Moral- läufer) u. als Schreiber. Für seine Teilnahme wissenschaft (ebd. 1824) u. weitere krit. am ersten Kappeler Krieg belohnte man ihn Schriften, mit denen er wieder aneckte – in- mit dem Luzerner Bürgerrecht. 1531 erhielt zwischen herrschte der Schellingianismus. er das außerordentlich wichtige Amt des Gerichtsschreibers. Er hatte den diplomatischen Allgemein diffamiert, wurde S. 1827 quiesVerkehr mit anderen Kantonen u. Staaten zu ziert. Er fühlte sich als Opfer von Obskuranleiten. Nach dem zweiten Kappeler Krieg, an tismus u. Reaktion u. rechtfertigte sich verdem er ebenfalls beteiligt war, wurde er für geblich: Wahlverwandtschaft zwischen dem sogeein scharfes Pamphlet gegen die Züricher nannten Supernaturalisten und Naturphilosophen (Tanngrotz. Abgedr. in: Jakob Baechtold: Hans (Landshut 1829). Seit 1835 verteidigte S. die Salat. Basel 1876, S. 89–109) mit mehreren Aufklärung gegen die neuen Denker Schelling Tagen im Turm bestraft. Im Auftrag kath. und Hegel (Heidelb. 1842). Die geringe ReOrte schrieb er eine Reformationschronik (Chrozeption zeigt aber, dass S., der anfangs am nicka und Beschrybung von Anfang des nüwen kath. Konservatismus gescheitert war, nun Unglaubens); ferner bezeugt die Biografie des mit seiner ungebrochen aufklärerischen Schweizer Nationalhelden Bruder Claus seine Doktrin als veraltet galt. Tätigkeit auf dem Gebiet der GeschichtsWeitere Werke: Die Aufklärung in Baiern im schreibung. 1537 erschien sein einziges ganz Kontraste mit der Verfinsterung im ehemaligen erhaltenes Bühnenwerk, das Drama vom VerHochstift Augsburg. Dtschld., recte Ulm 1803 lorenen Sohn. Aus seinem Tagebuch ist be(anonym). – Ueber den Geist der Philosophie [...]. kannt, dass S. 1530 einen Traum des Paris Mchn. 1803. – Die Fortschritte des Lichtes in Baiern. Ulm 1805 (anonym). – Vernunft u. Verstand. 2 aufführen ließ. Eine Historia Judith, von der Bde., Tüb. 1808. – Denkwürdigkeiten betreffend sich vielleicht Bruchstücke erhalten haben, den Gang der Wiss. u. Aufklärung im südl. Dtschld. konnte 1534 nicht aufgeführt werden. 1538 Landshut 1823. – Die Hauptgebrechen der dt. führte S. Regie bei dem großen Luzerner Passionsspiel: Er war nicht nur für TextgePhilosophie als Wiss. [...]. Stgt. 1834.
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staltung u. Anleitung bei der Aufführung verantwortlich, sondern die gesamte Leitung dieses großartigen Unternehmens lag in seiner Hand. Seine leichtfertige Lebensführung jedoch stürzte ihn in immer größere Schulden. Um sie zu decken, verübte er 1540 einen groben Betrug. Er wurde sofort seines Amtes enthoben u. aus Luzern ausgewiesen. Einige Jahre wirkte er in Sursee, Sempach u. Sarnen. Von 1544 bis zu seinem Tod lebte er in Freiburg/Üechtland. Er betätigte sich als Lehrer, als Reisläufer, später auch als Wundarzt. Von späteren Aufführungen (Urstend 1540 in Alpnach; Die Welt, eine Schüleraufführung in Freiburg) weiß man aus seinen Tagebüchern; Texte sind nicht erhalten. Ein Daniel, 1544 in Freiburg aufgeführt, 1545 in Bern erschienen, bisher mehrfach S. zugeschrieben, stammt wahrscheinlich nicht von ihm.
170 Forschungsbericht [...]. Bern 1989. – R. Jörg: Zwingli u. die Reformation in Zürich im Spiegel der Chronik v. J. S. In: ARG 80 (1989), S. 88–104. – Dies.: Heinrich Bullinger kontra J. S. Ein Historikerstreit im 16. Jh. In: Von Cyprian zur Walzenprägung. Streiflichter auf Zürcher Geist u. Kultur der Bullingerzeit. FS Rudolf Schnyder. Hg. Hans Ulrich Bächtold. Zug 2001, S. 9–28. – Rudolf Gamper: Repräsentative Chronikreinschriften in der Reformationszeit. In: Aegidius Tschudi u. seine Zeit. Hg. Katharina Koller-Weiss u. a. Basel 2002, S. 269–286. – R. Jörg: Historiograph bis ans Lebensende. Ein Streiflicht auf J. S. aus der Hs. S I 246 der Zentralbibl. Solothurn. In: ›Freude an der Wissenschaft‹. FS Rolf Max Kully. Hg. Thomas Franz Schneider u. a. Solothurn 2004, S. 123–135. – Dies.: J. S. In: NDB (Lit.). – Dies.: J. S. In: HLS (2005). – Wolfram Washof: Die Bibel auf der Bühne. Exempelfiguren u. protestant. Theologie im lat. u. dt. Bibeldrama der Reformationszeit. Münster 2007, Register. Wolfgang F. Michael † / Red.
Weitere Werke: Triumphus Herculis Helvetici. o. O. 1532. – Eyn parabel oder glichnus, vsß dem Evangelio Luce am 15. von dem Verlornen, oder Güdigen Sun. Basel 1537.
Salburg, Edith Gräfin, verh. Freifrau Krieg von Hochfelden, * 14.10.1868 Schloss Leonstein/Steiermark, † 3.12. Ausgaben: Jakob Baechtold: Hans S.s Drama 1942 Dresden. – Romanautorin, Dramavom verlorenen Sohn. In: Geschichtsfreund 36 tikerin, Lyrikerin. (1881), S. 1–90. – Helene Levinger: A sixteenthcentury Judith drama. In: MLR 32 (1937), S. 571–583 (= Fragment v. S.s ›Judith‹?). – Reformationschronik 1517–34. Bearb. Ruth Jörg. 3 Bde., Bern 1986. – Der verlorene Sohn (1537). In: Fünf Komödien des 16. Jh. Mit Erläuterungen, biobibliogr. Komm. u. je einem sprach- u. literaturgeschichtl. Essay. Hg. Walter Haas. Bern 1989.
Literatur: Bibliografien: Baechtold. – Klaiber, S. 251. – VD 16. – Weitere Titel: Jakob Baechtold: Hans S., ein schweizer. Chronist u. Dichter [...]. Basel 1876. Nachdr. Vaduz 1986. – Ders.: Zu Hans S. In: Anzeiger für Schweizer. Gesch. 3 (1878), S. 56. – Ders.: Hans S. In: ADB. – Adolf Schweckendiek: Bühnengesch. des verlorenen Sohns in Dtschld. Lpz. 1930. – Friedrich Kümmerli: Hans S.s ›Triumphus Herculis Helvetici‹. Freib. i. Br. 1931. – Wolf Tomei: Beobachtungen zu Hans S.s Leben u. Werk (1498–1561). In: Geschichtsfreund 119 (1966), S. 118–164. – Kuno Müller: Das abenteuerl. Leben des Luzerner Dichters Hans S. Luzern 1967. – R. Jörg: Vom Einfluß des philolog.-rhetor. Humanismus auf die Kanzleisprache. In: Schweizerisches Wörterbuch, Ber. über das Jahr 1977. Zürich 1977, S. 11–21. – Dies.: J. S., Fälscher eines Zwingli-Briefes? In: Zwingliana 15 (1981), S. 429–433. – Wolfgang F. Michael: Das dt. Drama der Reformationszeit. Bern 1984. – Ders.: Ein
Nach lyr. Anfängen u. naturalistischen Bauernstücken fand die verarmtem Landadel entstammende S. ihr Grundthema in – teils historischen – Romanen, die in der Darstellung des österr. Adels als dekadenter u. charakterloser Gesellschaftsschicht autobiogr. Erfahrungen verarbeiten, meist in Form des an aktuellen Skandalen aufgezogenen satir. Schlüsselromans (Romantrilogie Die oesterreichische Gesellschaft: Die Exclusiven. Papa Durchlaucht. Die Inclusiven. Lpz. 1897/98). Teils vordergründig-sensationell, teils mit treffender realistischer Milieuschilderung (z. B. der Fabrikwelt) ausgestattet, teils satirisch überzogen, befassen sich S.s Romane auch mit Priesterschicksalen (Golgatha. Ebd. 1900), den Militärs (Der Königsglaube. 2 Bde., Dresden 1906. Wilhelm Friedhoff [d. i. Admiral Tegethoff]. Ebd. 1907) u. Koloniegründern (Karl Peters und sein Volk. Weimar 1929). Deutschnationalismus, Antiklerikalismus u. Antisemitismus kennzeichnen ihre Haltung, verstärkt nach dem Ersten Weltkrieg, als sie völlig in völk. Fahrwasser geriet u. bes. die Verbundenheit von deutsch gesinntem Adel
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u. Bauerntum thematisierte. Ihren aufschlussreichen Erinnerungen einer Respektlosen (3 Bde., Lpz. 1927/28) kommt zeitsymptomat. Bedeutung zu. Weitere Werke: Der Kronanwalt. Graz 1889 (D.). – Dynasten u. Stände. 4 Bde., Dresden 1911–14 (Romanzyklus). – Die für die Heimat bluten. Ebd. 1916. – Deutsch zu Deutsch. Lpz. 1933 (R.). – Conrad v. Hötzendorf. Der Preuße Oesterreichs. Ebd. 1935 (R.). – Der schwarze Adel. Volk meiner Heimat. Ebd. 1937 (Chronikroman).
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zurückgriff. S.s im preußisch-militaristischen Ambiente angesiedelte Werke fanden in Bearbeitungen bis zum Ersten Weltkrieg ihr Publikum (Einberufen! oder: Mit Gott für König und Vaterland. Posse mit Gesang in einem Akt. Bln. 51893. Lpz. 1914). Andreas Meier
Salis, Hortensia von, verw. Gugelberg von Moos, * 1659 Maienfeld, † 29.6.1715 Maienfeld. – Schriftstellerin, Gelehrte, Literatur: Sigrid Schmid-Bortenschlager: Elite Heilkundige, Dichterin.
u. Kampf bei E. S. In: Österr. u. der Große Krieg 1914–18. Hg. Klaus Amann u. Hubert Lengauer. Wien 1989, S. 200–205. Christian Schwarz
Salingré, Hermann, eigentl.: Hermann Salinger, * 17.5.1853 Berlin, † 4.2.1879 Berlin. – Possenautor, Journalist. S. absolvierte in Berlin eine kaufmänn. Lehre, widmete sich aber seit 1852, nach dem Aufführungserfolg seines einaktigen Schwanks Ein blauer Montag (Bln. 1873) dem Unterhaltungstheater. Er brillierte auch als Hauptdarsteller u. häufig als Alleinunterhalter in kom. Soloszenen, wie in Margarethe (Bln. 1865), einer Parodie der Gounod’schen Oper Faust, oder in Spillike in Paris (Bln. 1869), einer antifranzösischen Farce. Während des Deutsch-Französischen Kriegs 1870/71 begleitete S. neun Monate lang das preuß. Hauptquartier als Berichterstatter u. erwarb danach die »Neue Freie Zeitung«, deren Chefredaktion er selbst bis zu ihrem Konkurs übernahm. Zuletzt fesselte den erblindeten S. eine schwere Krankheit ans Bett. Seine am Friedrich-Wilhelmstädtischen u. Wallner’schen Theater erfolgreichen Stücke basieren überwiegend auf Berliner Lokalsujets (u. a. Jette vor’m Schiedsrichter. Pietsch im Verhör. Beide Bln. 1858. Jettchens Liebe und Kabale. Bln. 1861. Berliner Kinder. Bln. 1865), in deren Milieu er auch fremde Stoffe (oft von Wiener Possen) übertrug (u. a. Das Gespenst um Mitternacht. Bln. 1867; nach einer Novelle Hackländers). Seine Possen u. Schwänke zeichnen sich insbes. durch den pointierten Einsatz von Couplets aus, zu deren Vertonung er stets auf die Mitarbeit routinierter Unterhaltungskomponisten (u. a. Adolf Lang)
Einer weitverzweigten, einflussreichen Graubündner Adelsfamilie entstammend, avancierte S. im Witwenstand zur Gallionsfigur orthodox-reformierter Gelehrter im Bildungswettstreit der Länder u. darüber hinaus zur Identifikationsfigur für engagierte Schweizer Protestantinnen. Ihr allgemeines Erkenntnisstreben, das Arznei- u. Bibelwissen sowie ihre Heilerfolge fanden vor ihrer Heirat u. während ihrer Ehejahre 1682–1692 hauptsächlich innerhalb ihres Wirkungskreises Beachtung, doch schon 1693 gab eine Zürcher Debattier- u. Lesegesellschaft zu Protokoll, die Adlige habe mit den allergelehrtesten Männern »raisoniert, disputiert, opponiert und correspondiert«. Um die Jahreswende 1695 forderte ein kath. Geistlicher S. heraus, sich zu der Neuerscheinung Wohlriechende, hertz- und seel-stärckende Meß-Blum (Zug 1694) zu äußern. Der glarnerische Pfarrer Johann Jacob Gartner erklärt darin die zwinglianisch-calvinistischen Glaubenslehren zu theolog. Feindbildern des Katholizismus. Der geschickt eingefädelte Bekehrungsversuch fruchtete nicht; als jedoch der reformierte Zürcher Theologe Johann Heinrich Schweizer S.’ ausgedehnte briefl. Stellungnahme zu der Streitschrift – von ihm sprachlich verbessert – im Druck verbreiten ließ, nahm das Ganze eine unvorhersehbare Wendung. Obwohl die von Schweizer herausgegebene Glaubens-Rechenschafft (Zürich 1695. 21695. 31696) ohne Namensnennung erschien, war die Autorschaft ein offenes Geheimnis. Von reformierten Eliten als Beschützerin u. Verteidigerin von Glaubenswahrheiten gelobt, von Frauenfeinden u. Geschlechtsgenossinnen angegriffen, verfasste S. ein die damalige misogyne Polemik
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abwehrendes Antwortschreiben, das der neu Cleophea Barbara Schlumpf, der mutmaßl. aufgelegten Glaubens-Rechenschafft angehängt Verfasserin der Rose der unschätzbaren Freyheit wurde. Die als offener Brief konzipierte (o. O. 1693), in freundschaftl. Beziehung. Für Schutzschrift der kämpferischen Vordenkerin weiterführende Forschungen ist die Kenntnis enthält ein machtkrit. Plädoyer für mehr der Kontaktkreise, in die S. eingebunden war, Freiheit für Frauen. Implizit werden Kirche unabdingbar. Was von den Korrespondenzen u. Gesellschaft aufgerufen, Frauen zu akzep- dieser »höflichen Gelehrten« mit Diskutantieren, welche die Rechtmäßigkeit ihres ten wie den Theologen Gotthard Heidegger Freiheitsstrebens in der Bibelinterpretation u. Johann Heinrich Heidegger oder dem Arzt dieses Textes gestützt sehen. Das Gleich- und Naturforscher Johann Jacob Scheuchzer heitsideal, das S. für Frauen u. Männer ein- erhalten ist, sollte daher durch Editionen fordert, will sie nicht als Kritik an institutio- allgemein zugänglich gemacht werden. nellen Gegebenheiten verstanden wissen. Weitere Werke: H. v. S., verw. Gugelberg von Dennoch ging die Schweizer Frauenrechtle- Moos: Glaubens-Rechenschafft – Conversationsrin Emma Graf so weit, die Autorin 1918 als Gespräche – Gebät [Chur 1715]. Hg. Maya Widmer. Vorläuferin der Frauenbewegung zu be- Bern u. a. 2003. Literatur: Martin Anosi: Unerschöpffliche zeichnen. Wiederum anonymisiert u. unter gleicher zeitlich u. ewig-erfreuende Trost-Quelle [...]. Chur Herausgeberschaft kamen 1696 die Geist- und 1715. – Emma Graf: H. Gugelberg v. Moos, lehr-reichen Conversations Gespräche (Zürich) 1659–1715. In: Jb. der Schweizerfrauen 4 (1918), S. 83–98. – Lili Frey: H. v. S. Diss. Zürich 1920 heraus. Mit Sicherheit regten die Lehrge(nach Frey hat S. drei Trauergedichte verfasst). – spräche von Madeleine de Scudéry S. zu die- Ursula Hitzig: Gotthard Heidegger – 1666–1711. sem Buchprojekt an. Die frz. Autorin stand zu Zürich u. a. 1954, S. 9–17. – Jean Muir Woods u. diesem Zeitpunkt besonders im Alten Reich Maria Fürstenwald: Schriftstellerinnen, Künstleu. in der Schweiz in dem Ruf, eine scharf- rinnen u. gelehrte Frauen des dt. Barock. Ein Lesinnige Denkerin, Tugendheldin u. Sitten- xikon. Stgt. 1984, S. 107. – Regula Wyss: Heillehrerin der Frauen zu sein. Die Schweizerin kundige, Gelehrte, Autorin. H. Gugelberg v. Moos. verwendet im Blick auf ihr eigenes, von ei- In: Und schrieb u. schrieb wie ein Tiger aus dem nem autobiografisch gefärbten Erzählfaden Busch. Über Schriftstellerinnen in der deutschdurchzogenes Bändchen die fragwürdige sprachigen Schweiz. Hg. Elisabeth Ryter u. a. Zürich 1994, S. 13–28. – Rosmarie Zeller: KonversaGattungsbezeichnung ›Roman‹ u. kombition u. Freundschaft. Die ›Conversations Gespräniert szenisch vorgeführte Gespräche mit che‹ der H. v. S. In: Ars et amicitia. Beiträge zum prakt. Ratschlägen u. religiös Erbaulichem. Thema Freundschaft in Gesch., Kunst u. Lit. FS Verglichen mit anderen Konversationenbän- Martin Bircher. Hg. Ferdinand van Ingen u. den transportiert der Text auf engstem Raum Christian Juranek. Amsterd. u. a. 1998, S. 331–342. eine erstaunl. Fülle von autodidaktisch er- – J. Jürgen Seidel: Die Anfänge des Pietismus in worbenem Fachwissen (Geologie, Balneolo- Graubünden. Zürich 2001, S. 73–88. – Thomas gie, Diätetik, Physiologie, Medizin, Philoso- Lau: ›Stiefbrüder‹: Nation u. Konfession in der phie, Theologie). Letzteres mag den Theolo- Schweiz u. in Europa. Köln u. a. 2008, S. 374–379. – gen Gotthard Heidegger zu der Bemerkung Sabine Koloch: Kommunikation, Macht, Bildung. Frauen im Kulturprozeß der Frühen Neuzeit (im veranlasst haben, die Gelehrten desiderierten Druck). Sabine Koloch nichts anderes, als dass die Conversations Gespräche zehnmal so lang seien. Stand in der Sekundärliteratur bislang Salis, Jean-Rudolf von, * 12.12.1901 Bern, mehr die Person als das gedruckte Schrifttum † 14.7.1996 Brunegg/Kt. Aargau. – Hisim Vordergrund, liefert die Werkausgabe von toriker. Maya Widmer die Grundlagen für texthermeneutische, komparatistische u. mikrohis- Der Sohn eines Arztes aus alter Graubündner tor. Untersuchungen. S. war entgegen an- Politiker- u. Militärfamilie studierte von 1920 derslautender Aussagen nicht die einzige an in seiner Heimatstadt bei Paul Häberlin u. Schweizer Autorin des 17. Jh. So stand sie mit Gonzague de Reynold. Es folgten Studien in
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Montpellier, 1922/23 in Berlin bei Friedrich Wiss.en 148 (1998), S. 433–440. – Sibylle Birrer Meinecke, schließlich in Paris bei Henri Berr. u. a.: Nachfragen u. Vordenken. Intellektuelles Mit einer Arbeit über Sismondi, 1773–1842 Engagement bei J.-R. v. S., Golo Mann, Arnold (Paris 1932) promovierte er an der Sorbonne. Künzli u. Nikolaus Meienberg. Zürich 2000. – Pierre Ducrey u. a. (Hg.): J.-R. v. S., die Intellektu1935–1968 wirkte S. als o. Prof. für allg. Geellen u. die Schweiz. Zürich 2003. – Franz Menges: schichte an der Eidgenössischen Technischen J. R. v. S. In: NDB. – Urs Bitterli: J.-R. v. S. HistoHochschule in Zürich, daneben 1947 als riker in bewegter Zeit. Zürich 2009. Gastprofessor in Wien u. 1965/66 in LauQuirinus Reichen / Red. sanne. 1952–1966 war er Präsident der Stiftung Pro Helvetia, die weite Bereiche des Salis-Marschlins, Meta (Barbara) Freiin kulturellen Lebens der Schweiz – auch im von, * 1.3.1855 Schloss Marschlins/Kt. Ausland – bestimmte. Graubünden, † 11.3.1929 Basel. – EssayBekannt wurde S. durch zwei Werke, die istin, Lyrikerin, Erzählerin. aus Freundschaften entstanden: Rainer Maria Rilkes Schweizer Jahre (Frauenfeld 1936. Neudr. Nach Studien in Zürich u. Bern erwarb die Ffm. 1975) u. Fritz Wotruba (Zürich 1948) – er Bündner Aristokratin 1887 als eine der ersten hatte den Bildhauer 1947 in Wien kennen Frauen den Doktortitel in Philosophie u. übte gelernt – sowie durch die Auftragsarbeit danach als Journalistin u. Vortragsreisende Giuseppe Motta, 30 Jahre Eidgenössische Politik eine vielfältige Tätigkeit innerhalb der Frauenrechtsbewegung aus. Auch ihr literar. Werk (ebd. 1941). Zwischen 1940 u. 1945 las S. im – das lyr. Pamphlet Die Zukunft der Frau Auftrag des Schweizerischen Bundesrats sei(Mchn. 1866), die beiden Romane Die Schutz2 ne wöchentl. Weltchronik (ebd. 1966. 1981) im engel (ebd. 1889) u. Furchtlos und treu (ebd. Schweizer Sender Radio Beromünster. Die 1891) sowie eine große Anzahl Gedichte, die zurückhaltend formulierte, aber offene u. sie zuletzt in zwei Bänden u. d. T. Aristokratika krit. Sendung konnte in ganz Europa emp(Marschlins 1902. Zürich 1909) publizierte – fangen werden u. war für viele die einzige war ausschließlich feministischen Zielsetzuverlässige Informationsquelle während des zungen verpflichtet u. ist wohl unter diesen, Zweiten Weltkriegs. nicht aber unter künstlerischen GesichtsObwohl bewusst zu seiner bündnerischpunkten bedeutsam. Über die Frauenrechtsschweizerischen Herkunft stehend, zeigen S.’ bewegung hinaus drang einzig S.’ Studie Werke doch den europäisch denkenden His- Philosoph und Edelmensch. Ein Beitrag zur Chatoriker. Verdienstvoll ist seine Vermittlerrolle rakteristik Friedrich Nietzsche’s (Lpz. 1897. zwischen Deutschem u. Französischem. S. Nachdr. Baden 2000), die Gespräche mit war mehrfacher Ehrendoktor, Offizier der Nietzsche im Sommer 1887 in Sils-Maria zum frz. Ehrenlegion u. wurde mit dem Preis der Gegenstand hat. Eines fragwürdigen GeAcadémie Française u. dem Silbernen Ehren- richtsurteils wegen verbittert, verkaufte zeichen der Republik Österreich ausgezeich- S. 1904 Schloss Marschlins u. lebte, dem net. Frauenrechtsgedanken zunehmend entfremWeitere Werke (Erscheinungsort jeweils Zü- det, zusammen mit der Lyrikerin Hedwig rich): Weltgesch. der neuesten Zeit. 3 Bde., Kym auf Capri u. ab 1910 in Basel. 1951–60. – Im Laufe der Jahre. 1962 (Ess.s). – Schwierige Schweiz. 1968 (Ess.s). – Gesch. u. Politik. 1971 (Ess.s). – Grenzüberschreitungen. 2 Tle., 1975 u. 1978 (autobiogr.). – Notizen eines Müßiggängers. 1984 (Tagebuchnotizen 1981–83). Ffm. 1989. – Kriege u. Frieden in Europa. Polit. Schr.en u. Reden (1938–1988). 1989. – Letzte Aufzeichnungen. 1996. Literatur: Buch der Freunde für J.-R. v. S. zum 70. Geburtstag. Zürich 1971. – Gerald Stourzk: J.R. v. S. In: Almanach der Österr. Akademie der
Weitere Werke: Auserwählte Frauen unserer Zeit. 2 Bde., Marschlins 1900. Basel 1916. – Die unerwünschte Weiblichkeit. Autobiogr., Gedichte. Feministische Schr.en. Hg. Doris Stump. Thalwil 1988. Literatur: Berta Schleicher: M. v. S.-M. Das Leben einer Kämpferin. Erlenbach/Lpz. 1932. – Doris Stump: Sie töten uns – nicht unsere Ideen. M. v. S. Thalwil 1986. – Brigitta Klaas Meilier: Hoch-
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saison in Sils-Maria. M. v. S. u. Friedrich Nietzsche. Zur Gesch. ihrer Begegnung. Basel 2005. Charles Linsmayer
(2000), S. 435–451. – R. Theus Baldassarre: Diplomatie u. Aufklärung: U. v. S.-M. In: Bündner Monatsblatt 1 (2001), S. 8–34. Matthias Richter / Red.
Salis-Marschlins, Ulysses von, * 25.8. 1728 Marschlins/Kt. Graubünden, † 6.10. 1800 Wien. – Verfasser politischer u. his- Salis-Seewis, Johann Gaudenz von, * 26.12.1762 Schloss Bothmar bei Malans/ torischer Schriften. Kt. Graubünden, † 29.1.1834 Schloss S., der einem alten schweizerischen Ge- Bothmar; Grabstätte: Seewis/Kt. Grauschlecht aus Graubünden entstammte, trat bünden. – Lyriker. 1749 – nach autodidaktischen Studien, einem kurzen Besuch der Universität Basel u. Reisen – in den Staatsdienst ein u. wirkte erfolgreich in verschiedenen staatsmänn. Positionen im Veltlin u. in Graubünden, dort v. a. 1768–1792 als frz. Geschäftsträger. Von den Ideen der Aufklärung geprägt, durchsetzungsfähig, in der Wahl seiner Mittel nicht unumstritten u. wegen vermeintlich zu großer Machtfülle vielfach angefeindet, war S. auf vielen Gebieten reformerisch tätig. So unterstützte er das Seminar in Marschlins, eine höhere Bildungsanstalt, die auch für kurze Zeit als Philanthropin von Carl Friedrich Bahrdt geführt wurde. Im Gefolge neu erwachter Streitigkeiten zwischen Veltlin u. Bünden u. vollends nach Ausbruch der Französischen Revolution geriet S. politisch unter Druck, musste 1794 seine Heimat verlassen u. starb im Exil. S.’ Schriften sind meist eng verbunden mit den polit. Tagesfragen, die ihn jeweils beschäftigten. Auch sein (poetisch wenig überzeugendes) Drama Der Eidgenössische Bund der Bewohner der Gebirge an den drey Quellen des Rheins (Winterthur 1803) ist wesentlich ein patriotischer Traktat. Den Bereich der polit. Gelegenheitsschriften verlassen allein die als historiografische Leistung beachtenswerten, 1792 in vier Bänden erschienenen Fragmente der Staats-Geschichte des Thals Veltlin und der Graffschaften Clefen und Worms (o. O.). Weiteres Werk: Bildergallerie der Heimwehkranken. 3 Bde., Winterthur 1798–1802 (Biogr. v. S.’ Sohn Karl Ulysses: Bd. 3, S. 7–82). Literatur: Otto Hunziker: U. v. S.-M. In: ADB (mit Schriftenverz.). – Peter Metz: U. v. S.-M.: 1728–1800. Chur 2000. – Ruth Theus: Formazione e democrazia: U. v. S.-M. e l’esperimento della Pflanzschule di Haldenstein (1761–1771). In: Annali di storia moderna e contemporanea anno 6
S. entstammte einer begüterten Schweizer Adelsfamilie u. wurde auf dem väterl. Schloss von Privatlehrern standesgemäß erzogen. Unter dem Einfluss der Mutter entwickelte sich ein Hang zu pietistischer Frömmigkeit, der den jungen S. jedoch nicht darin hinderte, sich eine weltläufige umfassende Bildung anzueignen. Nach kurzem Besuch der Akademie in Lausanne 1778 reiste er im Folgejahr nach Paris u. begann eine Offizierskarriere in der Schweizer Garde. Seine reichl. Mußestunden nutzte er bevorzugt zum Studium der schönen Literatur. Inspiriert von der empfindsamen Dichtung Rousseaus u. Salomon Gessners, verfasste S. erste Gedichte, die seit 1788 in Zeitschriften wie dem »Göttinger Musenalmanach« oder dem »Schweizerischen Musenalmanach« erschienen. Wichtig für seine literar. Entwicklung waren Begegnungen mit Goethe, Schiller, Wieland u. Herder während einer Deutschlandreise 1789/90. Nach den dramat. Umwälzungen der Französischen Revolution blieb S. in der nun republikanisch gewordenen Armee; er verstand sich als »ein Verteidiger der Freiheit und der Menschenrechte, der seine Waffen nur für das gemeine Wohl zu ziehen braucht«, wie er 1791 schrieb. Die Verschärfung der Revolution u. die Hinrichtung Ludwigs XVI. bewogen ihn jedoch 1793, den Dienst zu quittieren u. in seine schweizerische Heimat zurückzukehren. Hier heiratete er im selben Jahr Ursina von Pestalozzi, mit der ihn eine mehrjährige innige Freundschaft verbunden hatte. Nach Jahren als Privatier wurde er 1798 in die Armee der Helvetischen Republik berufen, deren Ziele S. bejahte. Er war zunächst Generalinspekteur der Milizen von Zürich u. Schaffhausen, seit 1799 Chef
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des Generalstabs der Armee. 1801 avancierte füllung zu finden – ganz so, wie er es in seier zum Mitgl. des Gesetzgebenden Rats in nem Gedicht An Pfeffel beschrieb: »Hoher Mut Bern; seit 1803 gehörte er dem obersten Ge- ward dir in trüben Tagen – / Und wie herrlich richtshof an. In seinen späteren Lebensjahren schimmert dir das Ziel! / Himmelsfriede, hatte er noch weitere amtl. Funktionen inne, Heiterkeit und Ruh’ / Strömet dir aus deinen wandte sich jedoch verstärkt der Pflege häusl. Taten zu.« Geselligkeit u. literar. Korrespondenz zu. Literatur: Adolf Frey: J. G. v. S. Frauenfeld S. hat nur ein schmales lyr. Werk hinter- 1889. – Rose Friedmann: Die Wandlungen in den lassen: die einbändige Ausgabe seiner Ge- Gedichten v. J. G. v. S. Diss. Zürich 1917. – Emil dichte, die Matthisson erstmals 1793 in Zürich Ermatinger: J. G. v. S. In: Ders.: Dichtung u. herausgab u. die bis zum Tod des Autors in Geistesleben der dt. Schweiz. Mchn. 1933, immer neuen, ergänzten Editionen aufgelegt S. 541–546. – Emil Jenal: J. G. v. S., dem Dichter, Menschen u. Staatsbürger. Chur 1934. – Johann wurde. Obwohl seine Verse sprachl. Klarheit Ulrich Schlegel: Die Beziehungen zwischen J. G. v. u. eingängige Metaphorik prägen, oft einen S. u. Ignaz Heinrich v. Wessenberg. Diss. Zürich liedhaft-volkstüml. Klang annehmen (nicht 1976. – Alexander Weinmann: ›Das Grab‹ v. J. G. v. zufällig zählt Franz Schubert zu den Verto- S.: ein literarisch-musikal. Bestseller. Wien 1979. – nern), hatte der »dichtende General« stets Christian Erni: Von Paris nach Weimar: J. G. v. S. in Mühe mit seiner literar. Produktion. Erst in der Frz. Revolution u. auf Urlaubsreise nach Weilangem Reifungsprozess u. nach mehrmali- mar 1789–1790. In: Jb. Histor. Gesellsch. v. Graugem Überarbeiten vermochte S. seinen Ge- bünden 1995, S. 181–238. – Hans Peter Gansner: J. dichten die gewünschte Form zu verleihen. G. v. S. u. Ferdinand Freiligrath: zwei LyrikerDie intensive Bildlichkeit seiner Naturlyrik u. Schicksale. In: ›[...] in einem Zelt, träumt ich von einem eingestürzten Tempel‹. Hg. Werner Broer. Elegiendichtung zeigt eine nachhaltige BeDetmold 1995, S. 258–265. – J. U. Schlegel: Der einflussung durch die empfindsame Poesie Dichter als General [...]. In: Limmattaler Tagblatt, des Göttinger Hains (v. a. Höltys) sowie 3.4.1999. – Willy Walther: Das Volk nannte ihn Klopstocks u. Gessners. Kennzeichnende General [...]. Dokumentarfilm Zürich 2002. – Chiffren des S.schen Œuvres sind Begriffe wie Rémy Charbon: J. G. v. S. In: NDB. – Walter Zindel»Heimweh« u. »Natur«. Zahlreiche seiner Kuoni: J. G. v. S.: Landschaft seiner Lieder u. Gesch. Gedichte sind Ausdruck der Sehnsucht nach seiner Zeit. Chur 2006. Walter Weber / Red. einer »heilen Welt«, die den Deformationsprozess der Zivilisation konterkariert. Mit Sallet, Friedrich (Karl Ernst Wilhelm) von, dem »Idyll« der naturhaft-ländl. Schweiz * 20.4.1812 Neisse, † 21.2.1843 Reichau entwarf S. ein Gegenbild zur Entfremdung bei Nimptsch. – Lyriker, Erzähler, Essaygroßstädt. Lebens, die er selbst in Paris kenist. nengelernt hatte. Dort hatte er gedichtet: »Traute Heimat meiner Lieben, / Sinn ich still S. entstammte einer aus Litauen nach Schlean dich zurück, / Wird mir wohl; und den- sien eingewanderten Adelsfamilie; der Vater noch trüben / Sehnsuchtstränen meinen war Hauptmann († 1814). Nach der KadetBlick« (Lied eines Landsmanns in der Fremde). tenausbildung in Berlin u. Potsdam wurde er Solche Verse verweisen zgl. auf die Befind- 1829 als Secondelieutenant nach Mainz lichkeit eines Autors, für den die Poesie zum kommandiert, 1832 wegen einer vorgebl. liMittel der Lebensbewältigung wurde. Doch terar. Verunglimpfung des Militärs zu einem bedeutete für S. das Bedürfnis nach Subli- zweimonatigen Festungsarrest in Jülich vermation der erlebten Wirklichkeit in der urteilt u. anschließend nach Trier versetzt. Dichtung weniger »Flucht in die Innerlich- 1835–1837 besuchte S. die Kriegsschule in keit«, dafür war er ein viel zu realistischer Berlin (wo auch 1835 seine erste Sammlung »Tatmensch«. Sein Ideal war vielmehr, die Gedichte erschien) u. beschäftigte sich intensiv beiden Seiten seiner Existenz (als Soldat u. mit Geschichte, Philosophie (erste HegelstuDichter) auf ihre je eigene Weise produktiv dien), Geografie, Sprachwissenschaft u. werden zu lassen, die Alltagswelt zu meistern Rechtslehre. In Trier erschienen 1837 die u. gleichzeitig in schöpferischer Muße Er- Epigramme Funken; 1838 folgten die Verser-
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zählung Die wahnsinnige Flasche u. das Mär- Welt einst als Apostel gelten‹. F. v. S.s Erlösungschen Schön Irla. Im selben Jahr entstand die hoffnung. In: Oberschles. Jb. 9 (1993), S. 181–195. Erzählung Contraste und Paradoxen (postum – Sina Farzin: F. v. S. In: NDB. Norbert Eke / Red. Breslau 1845), die eine entscheidende Zäsur in S.s Werk markiert. Als Produkt des Übergangs bewahrt sie noch romant. Ideengut u. Salman und Morolf. – Mittelalterliche romant. Poetologie, weist gleichzeitig aber Erzählung, zweite Hälfte 12. Jh. auch schon die Idee von der Poesie als autonomem Wert u. Moment einer universalen Die in der zweiten Hälfte des 12. Jh. von eiErlösung (vgl. insbes. Schön Irla) zurück u. nem Anonymus geschaffene Erzählung vom verbindet diese Absage mit der Vorstellung biblischen, hier christl. König Salman, der eines handlungsgeleiteten Wirkens in die heidnischen, später getauften Königstochter Salme u. Salmans ebenso listigem wie gerisWelt. Nach seinem Abschied vom ungeliebten senem Bruder Morolf geht – ebenso wie die Militärdienst (1838) setzte S. seine Hegelstu- Erzählung vom Wettstreit zwischen dem dien fort. Unter ihrem Einfluss entstanden weisen König Salomo der Bibel u. dem das in Jamben gefasste Laien-Evangelium (Lpz. schlauen Narren Marcolphus – auf die jü1842) u. die apologet. Streitschrift Die Atheis- disch-oriental. Erzählung von der Entmachten und die Gottlosen unserer Zeit (Lpz. 1844), in tung Salomos durch den Dämonenfürsten denen S. die Notwendigkeit eines grundle- Aschmodai (Asmodeus) zurück, der sich in genden sozialen Wandels als Reformpro- den Besitz von Salomos Ring, dessen Reich u. gramm am Christentum formuliert. Das in dessen Frau bringt: In der europ. Erzähltraden religionsphilosophischen Schriften als dition des MA spaltet sich die Figur des Verwirklichung des göttl. Geistes im Men- Aschmodai in den weitsichtigen u. raffinierschen formulierte Ziel einer Erneuerung des ten Bruder Salmans u. den, hier allerdings Menschen (u. damit der politisch-sozialen ganz undämonischen, Entführer von Salmans Verhältnisse) spricht sich in S.s reflexiv-rhe- heidn. Frau Salme, den ebenfalls heidn. König Fore (Pharao). tor. Spätlyrik explizit politisch aus. Der Roman zeichnet sich durch eine lineare S.s Gedichte wurden im Vormärz zum u. rasche Geschehensabfolge aus: König SalVorbild einer kompromisslos radikalen polit. Lyrik stilisiert u. im Umkreis etwa von Georg man von Jerusalem hat die heidn. KönigsHerwegh gefeiert (vgl. den S.-Nachruf Ein- tochter Salme entführt, getauft u. geheiratet. Nun allerdings begehrt sie Fore (Pharao) von undzwanzig Bogen aus der Schweiz. 1843). Weitere Werke: Ges. Gedichte. o. O. [Königsb.] Wendelse zur Frau u. will sie gewaltsam er1843. – Sämmtl. Schr.en. Hg. Theodor Paur. 5 Bde., obern, wird aber mit seinem Heer geschlagen Breslau 1845–48. – Briefe an Eduard Duller u. gefangen genommen. Mit einem Zauberring lässt er sie, die entgegen Morolfs Rat zu 1834–43. Bln. 1920. Literatur: Leben u. Wirken F. v. S.s. Breslau seiner Wächterin bestellt war, in Liebe zu ihm 1844. – Marie Hannes: F. v. S. Diss. Mchn. 1915. – entbrennen, kann mit ihrer Hilfe fliehen u. Otto Hundertmark: F. v. S., ein Dichterphilosoph. sie aufgrund ihres Scheintods ebenfalls entDiss. Würzb. 1916. – Ernst Reichl: F. v. S. u. seine führen. Im Anschluss daran macht sich Mo›Contraste u. Paradoxen‹. Diss. Lpz. 1925. – Inge- rolf in der Haut eines alten Juden, den er borg Krahl: F. v. S. u. sein Laienevangelium. Diss. ausschließlich zu diesem Zweck getötet hat, Wien 1945. – Gertrud Kraus: F. v. S. Diss. Freib. i. auf die Suche nach Salme. Immer wieder beBr. 1956. – Hermann Hettner: F. v. S. (ca. 1844). In: dient er sich des Mittels der Verkleidung. Der Ders.: Schr.en zur Lit. u. Philosophie. Hg. Dietrich Weisheit Salomos ist er damit ebenso überSchaefer. Ffm. 1967, S. 25–86. – George Helmut Koenig: F. v. S.: A Social and Political Satirist of the legen wie der Macht u. Gewalt seiner Gegner: ›Vormärz‹. Diss. Univ. of Maryland 1972. – Alfred Er bewegt sich zwischen den festen ErwarRiemer: F. v. S. In: Eichendorff u. die Spätroman- tungen u. gewohnten Formen der Selbstdartik. Hg. Hans-Georg Pott. Paderb. u. a. 1985, stellung u. wird gerade dadurch gefährlich. S. 157–180. – Yvonne-Patricia Alefeld: ›Er wird der So findet er schließlich auch zu Salme, wird
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entdeckt, kann aber dennoch fliehen. Es folgt der im zweiten Teil des König Rother nachgebildete Sieg Salmans über Fore: Er versteckt sein Heer in der Nähe von Fores Burg, wird entdeckt, soll vor dem Wald gehenkt werden, in welchem das Heer versteckt liegt, u. wird endlich befreit. Ein zweiter Kursus, die Flucht Salmes mit dem Heidenkönig Princian, wiederholt spiegelbildlich den ersten; der Roman endet mit Salmes Ermordung durch Morolf u. Salmans Heirat mit Fores Schwester. Morolf ist eine außerordentlich widersprüchliche, aber auch exzeptionelle Figur: Er ist ebenso klug wie rücksichtslos in der Durchsetzung seiner Interessen; beherrscht die Kunst der vorausplanenden Kalkulation, aber auch der Verkleidung u. Verwandlung, sodass er sich seinen Feinden immer wieder entziehen kann; u. er besitzt erstaunliche techn. Fertigkeiten (vgl. z. B. ein von ihm gefertigtes, auf Taschengröße faltbares Unterseeboot aus Leder; eine mechan. Nachtigall, welche die Königin beim Schachspiel ablenkt u. ä.), die ihn nahezu unangreifbar machen. Dieser Morolf trägt Züge eines »tricksters«; d.h. einer in den Mythen vieler Völker bekannten Tier- oder Schelmengestalt, die mit durchtriebenen Tricks überlistet, keine Skrupel kennt, prinzipiell egoistisch agiert, zgl. aber auch als Wohltäter in Erscheinung tritt. In dieser Widersprüchlichkeit ist Morolf der deutlichste Exponent eines Erzählens, das sich v. a. durch die Kompilation unterschiedl. Erzählmuster auszeichnet. Die ›Verwilderung‹ des Romans ist von Karlheinz Stierle als »Ursprung seiner Möglichkeit« bezeichnet worden. Für den Abenteuerroman S. u. M. ist das insofern konstitutiv, als er die unterschiedlichsten Erzähltraditionen u. -formen miteinander verbindet: so z. B. wird die jüdisch-oriental. Erzählung von der Entmachtung Salomos durch den Dämonenfürsten Aschmodai als Brautwerbungsgeschichte erzählt, wobei das Brautwerbungsschema allerdings ins Gegenteil verkehrt wird. Nicht der christl. Herrscher erkämpft hier – wie in den meisten Brautwerbungserzählungen – eine heidnische, häufig schon dem christl. Glauben zuneigende Prinzessin, sondern die bereits getaufte, ehemals heidn.
Salman und Morolf
Königin flieht mit Hilfe ihrer heidn. Entführer aus dem christl. Glauben u. der christl. Herrschaft Salomos. Hinzu kommt, dass S. u. M. in der älteren Forschung noch dem ›spielmännischen‹ Erzähltypus (»Spielmannsepos«) zugerechnet wird, die listigraffinierte Verwandlungs- u. Verkleidungskunst Morolfs den Text aber auch zum schwankhaften Erzählen, insbes. zum Schwankroman – wie z. B. dem lat. Dialogus Salomonis et Marcolphi mit seinen dt. Bearbeitungen – öffnet. Diese Öffnung wird nicht zuletzt auch dadurch unterstrichen, dass in der späteren Überlieferung des lat. Dialogs (als sog. ›Epilog‹ in dessen Handschrift S u. im dt. ›Spruchgedicht‹) Kurzfassungen von S. u. M. auftauchen. Dementsprechend ist eine eindeutige Gattungszuweisung u. -definiton des Texts schon allein aus dem Grund unmöglich, da seine wichtigste Besonderheit seine Uneindeutigkeit ist. Er kompiliert Züge der Salomonsage u. Brautwerbungserzählung, des Abenteuer- u. Schwankromans, ohne sich weiter festzulegen. Ziel dieses Erzählens ist die bloße Lust an der Abenteuerlichkeit des Geschehens u. der entsprechenden Unterhaltung, die wohl auch noch die Druckfassungen des späten 15. Jh. u. frühen 16. Jh. (Straßburg 1499, 1510) geprägt hat. In der weiteren Überlieferungs- u. Druckgeschichte ist der Text dann aber von dem Redestreit zwischen dem weisen König Salomon u. dem listigen, hässl. u. bäuerl. Narren Marcolphus verdrängt worden. Ausgaben: Friedrich H. v. der Hagen u. Johann G. Büsching (Hg.): Dt. Gedichte des MA I. Bln. 1808, S. 1–43. – Friedrich Vogt (Hg.): Die dt. Dichtungen v. Salomon u. Markolf 1: S. u. M. Halle 1880. – Walter J. Schröder (Hg.): Spielmansepen 2: Sankt Oswald, Orendel, S. u. M. Texte, Nacherzählungen, Anmerkungen u. Worterklärungen. Darmst. 1976, S. 267–398. – Alfred Karnein (Hg.): S. u. M. Tüb. 1979. – Wolfgang Spiewok u. Astrid Guillaume (Hg.): S. u. M. Mhd./nhd. Greifsw. 1996. Literatur: Walter J. Schröder: Spielmannsepik. Stgt. 21967, S. 69–80. – Karlheinz Stierle: Die Verwilderung des Romans als Ursprung seiner Möglichkeit. In: Lit. in der Gesellsch. des SpätMA. Hg. Hans Ulrich Gumbrecht. Heidelb. 1980, S. 253–313. – Maria Dobozy: The function of knowledge and magic in S. u. M. In: The dark fig-
Salomon ure in medieval German and Germanic literature. Hg. Edward Haymes u. Stephanie Cain v. d’Elden. Göpp. 1986, S. 27–41. – Hans-Jürgen Bachorski: Serialität, Variation u. Spiel. Narrative Experimente in S. u. M. In: Heldensage, Heldenlied, Heldenepos. Ergebnisse der II. Jahrestagung der Reineke-Gesellsch. Gotha 16.-20. Mai 1991. Hg. Danielle Buschinger. Amiens 1992, S. 7–29. – Michael Curschmann: S. u. M. In: VL. – Walter Haug: Struktur, Gewalt u. Begierde. Zum Verhältnis v. Erzählstruktur u. Sinnkonstitution in mündl. u. schriftl. Überlieferung. In: Ders.: Brechungen auf dem Weg zur Individualität. Kleine Schriften zur Lit. des MA. Tüb. 1997, S. 3–16 (zuerst: FS Klaus v. See. Odense 1988). – Lydia Miklautsch: S. u. M. Thema u. Variation. In: ›Ir sult sprechen willekomen‹. Grenzenlose Mediävistik. FS Helmut Birkhan. Hg. Christa Tuczay, Ulrike Hirhager u. Karin Lichtblau. Bern 1998, S. 284–306. – Otto Neudeck: Grenzüberschreitung als erzähler. Prinzip. Das Spiel mit der Fiktion in S. u. M. In: Erkennen u. Erinnern in Kunst u. Lit. Kolloquium Reisensburg, 4.-7. Jan. 1996. Hg. Dietmar Peil u. Wolfgang Frühwald. Tüb. 1998, S. 87–114. – Henning Wuth: M.s Tauchfahrt. Überlegungen zur narrativen Bedeutung v. ›Technik‹ im S. u. M. In: Archiv 235 (1998), S. 328–343. – Sabine Griese: Salomon u. Markolf. Ein literar. Komplex im MA u. in der frühen Neuzeit. Studien zur Überlieferung u. Interpr. Tüb. 1999. – Armin Schulz: M.s Ende. Zur Dekonstruktion des feudalen Brautwerbungsschemas in der sog. ›Spielmannsepik‹. In: PBB 124 (2002), 2, S. 233–249. Werner Röcke
Salomon, Ernst (Friedrich Karl) von, * 25.9.1902 Kiel, † 9.8.1972 Stoeckte bei Winsen/Luhe; Grabstätte: Heiligenthal, Heidefriedhof. – Romancier, Drehbuchautor. Der Sohn eines preuß. Offiziers u. späteren Kriminalrats wurde ab 1913 in den Kadettenanstalten Karlsruhe u. Lichterfelde (heute zu Berlin) erzogen. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs meldete er sich zunächst freiwillig zu den regierungstreuen Truppen u. schloss sich 1919 den Freikorpskämpfern im Baltikum u. in Oberschlesien an. 1920 beteiligte er sich aktiv am Kapp-Putsch u. gehörte danach zum Kreis um den ehemaligen Freikorpsführer Kapitän Ehrhardt u. zu dessen militanter »Organisation Consul«. Wegen Beihilfe zur Ermordung von Außenminister Rathenau wurde S. 1922 zu fünf Jahren
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Zuchthaus u. weiteren vier Jahren Ehrverlust verurteilt. In seinem Roman Die Geächteten (Bln. 1930. Reinb. 1986), mit dem er als Schriftsteller debütierte, beschreibt S. mit dokumentar. Akribie seinen polit. Werdegang vom preußisch-nationalen Kadetten zum antidemokratischen Vorkämpfer für ein mythisch verklärtes »neues Deutschland«, das v. a. eines sein sollte: Antipode zur verhassten Weimarer Republik, die nationale Ehre, Heldentum u. Elitedenken verachte. Mit der angeblich nicht antisemitisch motivierten Ermordung des für sie führenden Repräsentanten der demokratischen Entwicklung, Walter Rathenau, wollten die Verschwörer, so S., einen revolutionären Umsturz auslösen. Trotz seiner eindeutig rechtsradikalen Einstellung wurde S. wegen seiner stilistischen Brillanz u. seiner analyt. Offenheit von zahlreichen Kritikern, u. a. Robert Musil, z.T. euphorisch gefeiert. Bei der NS-Literaturkritik dagegen stieß S., vor allem nach seinem zweiten Roman, der Geschichte eines scheiternden Revolutionärs (Die Stadt. Bln. 1932), auf wenig Zustimmung, weil er, so Hjalmar Kutzleb 1933 in der »Neuen Literatur«, den »Nihilismus« predige, statt aus seiner antibürgerl. Haltung heraus den Nationalsozialismus zu propagieren. In NS-Literaturgeschichten taucht sein Name deshalb auch nur äußerst selten auf, obwohl S. mit seinen Veröffentlichungen, u. a. seinen Jugenderinnerungen Die Kadetten (Bln. 1933. Reinb. 1979) u. dem von ihm herausgegebenen Buch vom deutschen Freikorpskämpfer (Bln. 1938. Nachdr. 1988), hohe Auflagen erreichte. S. arbeitete während der NS-Zeit v. a. für die Ufa u. verfasste zahlreiche Drehbücher, vorwiegend für Unterhaltungsfilme (u. a. für Sensationsprozeß Casilla. 1938. Kautschuk. 1939. Münchnerinnen. 1944), aber auch für den antienglischen u. antisemitischen Kolonialfilm Carl Peters (1941). Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde S., wie er selbst behauptete, »irrtümlich« bis Sept. 1946 von den Amerikanern interniert. 1951 veröffentlichte er den Roman Der Fragebogen (Hbg. Reinb. 1999), in dem er in Form einer Autobiografie seine Antworten auf die 131 Fragen der Entnazifizierungsbehörden dokumentierte u. damit auch die
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Absurdität dieser alliierten Maßnahme offenlegte. Der Roman löste eine heftige Diskussion aus, weil S. wenig Distanz zu seiner eigenen Vergangenheit erkennen ließ u. sich damit zum Sprecher derjenigen machte, die weiterhin deutschnational dachten. »Das ungeratene Dritte Reich«, so Alfred Polgar 1951, »wird zurechtgewiesen wie ein ungeratener Sohn vom Vater, dem hierbei der Stolz über den Teufelsjungen im Auge blinkt«. Der Fragebogen wurde zum ersten Bestseller der BR Deutschland. S. verfasste danach wieder eine Reihe von Filmdrehbüchern, u. a. für 08/15 (1954/55) u. Liane, das Mädchen aus dem Urwald (1956), ehe er 1960 u. d. T. Das Schicksal des A. D. (Reinb.) die Lebensgeschichte eines Reichswehrleutnants veröffentlichte, der von der Weimarer Republik bis 1950 unschuldig im Gefängnis gesessen hatte. Neben dieser eindrucksvollen dokumentar. Prosa, der allerdings die krit. Selbstreflexion fehlt, schrieb S. unterhaltende Bücher, von denen die Kritik kaum Notiz nahm. Weitgehend auf Ablehnung stieß der postum erschienene erste, im MA endende Teil seiner auf drei Bände angelegten dt. Geschichte, Der tote Preuße (Mchn. 1973. Ffm./ Bln. 1988). Weitere Werke: Nahe Gesch. Stgt. 1936. – Die schöne Wilhelmine. Reinb. 1965. – Dtschld., deine Schleswig-Holsteiner. Hbg. 1971. – Die Kette der tausend Kraniche. Reinb. 1972. Ffm./Bln. 1991. Literatur: Alfred Polgar: Eine gespenst. Erscheinung. In: Ders.: Kleine Schr.en. Hg. v. Marcel Reich-Ranicki in Zusammenarbeit mit Ulrich Weinzierl. Bd. 4, Reinb. 1984, S. 167–174. – Jeef Vandergucht: Nihilismus, Normerhöhung, Nullpunkt. E. v. S. u. seine Zeit. In: Etappe 8 (1992), S. 57–79. – Klaus v. Delft: Die Geschichtserfahrung der Geächteten der Weimarer Republik. E. v. S.s autobiogr. Dokumentarroman ›Die Geächteten‹ neu gelesen. In: Acta Germanica 21 (1992), S. 99–119. – Lex. ns. Dichter. – Markus Josef Klein: E. v. S. Eine polit. Biogr. Mit einer vollst. Bibliogr. Limburg/Lahn 1994. Überarb. Neuaufl. Aschau 2002. – Martin Lindner: Leben in der Krise. Zeitromane der Neuen Sachlichkeit u. die intellektuelle Mentalität der klass. Moderne. Mit einer exemplar. Analyse des Romanwerks v. Arnolt Bronnen, Ernst Glaeser, E. v. S. u. Ernst Erich Noth. Stgt. 1994. – Teresa Seruya: Gedanken u. Fragen beim Überset-
Salomon zen v. E. v. S.s ›Der Fragebogen‹. In: Konflikt, Grenze, Dialog. Hg. Jürgen Lehmann u. a. Ffm. u. a. 1997, S. 227–237. – Dies.: Ernst Jünger e E. v. S. Afinidades e desencontros. In: Runa 27 (1997/98), S. 245–255. – Richard Herzinger: Ein extremist. Zuschauer: E. v. S. Konservativ-revolutionäre Lit. zwischen Tatrhetorik u. Resignation. In: ZfG 8 (1998), H. 1, S. 83–96. – Hubert Orlowksi: Die vorgetäuschte Diskontinuität. E. v. S.s Schaffen vor 1945. In: Ders.: Lit. u. Herrschaft – Herrschaft u. Lit. Ffm. u. a. 2000, S. 45–55. – Jenny Williams: E. v. S. u. Rudolf Ditzen/Hans Fallada. Parallelen u. Wege. In: Hans-Fallada-Jb. 3 (2000), S. 17–28. – Jost Hermand: E. v. S. Wandlungen eines Nationalrevolutionärs. Stgt. u. a. 2002. – Ders.: Trotzreaktionen eines verbitterten Nationalbolschewisten. E. v. S.s Romane ›Der Fragebogen‹ (1951) u. ›Das Schicksal des A. D.‹ (1960). In: Weiter schreiben – wieder schreiben. Hg. Adrian Hummel u. Günter Häntzschel. Mchn. 2004, S. 130–142. – Gregor Streim: Unter der ›Diktatur‹ des Fragebogens. E. v. S.s Bestseller ›Der Fragebogen‹ (1951) u. der Diskurs der ›Okkupation‹. In: Literar. u. polit. Deutschlandkonzepte 1938–1949. Hg. Gunther Nickel. Gött. 2004, S. 87–115. – J. Hermand: E. v. S. In: NDB. – Maciej Walkowiak: E. v. S.s autobiogr. Romane als literar. Selbstgestaltungsstrategien im Kontext der histor.-polit. Semantik. Ffm. u. a. 2007. – Ders.: E. v. S.s Verortung in der Konservativen Revolution. Der nationale Revolutionär u. dessen Widerspiegelung im Autobiographischen. In: Der Hüter des Humanen. Hg. Edward Bial/ek u. Bernd Balzer. Dresden u. a. 2007, S. 325–341. – Ralf Heyer: ›Verfolgte Zeugen der Wahrheit‹. Das literar. Schaffen u. das polit. Wirken konservativer Autoren nach 1945 am Beispiel v. Friedrich Georg Jünger, Ernst Jünger, E. v. S., Stefan Andres u. Reinhold Schneider. Dresden 2008. – Wilfried Barner: Literaturstreite im Westen. E. v. S. ›Der Fragebogen‹ u. Wolfgang Koeppen ›Das Treibhaus‹. In: Doppelleben. Literar. Szenen aus Nachkriegsdtschld. Hg. Helmut Böttiger u. a. Gött. 2009, S. 365–374. Hans Sarkowicz / Red.
Salomon, Horst, * 6.5.1929 Pillkallen/ Ostpreußen, † 20.6.1972 Gera. – Dramatiker, Autor von Fernsehdrehbüchern. S., Sohn eines Landarbeiters, war Schüler des Gymnasiums in Allenstein. 1945–1950 arbeitete er in Thüringen im Antifaschistischen Jugendausschuss u. später in der Freien Deutschen Jugend (FDJ), 1951–1958 als Bergmann bei der Wismut-SDAG. 1958 wurde er an das Literaturinstitut in Leipzig de-
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legiert, kehrte jedoch 1961 zur WismutSDAG u. nach Gera zurück. Seit 1965 lebte er dort als freier Schriftsteller u. Nationalpreisträger. Seine Wirkung erreichte S. als Stückeschreiber für Theater u. Fernsehen, obwohl ihm seine Gedichte – beeinflusst von Majakowskij – einen respektablen Widerhall brachten (Getrommelt, geträumt und gepfiffen. Bln./DDR 1960; Erich-Weinert-Medaille). Nach seinem Studium arbeitete er erneut im Bergbau, um die dortigen prekären Arbeitsverhältnisse öffentlich zu machen. Ab 1962 kam es zur Zusammenarbeit mit dem Theater in Gera u. als deren Ergebnis zur Uraufführung des Schauspiels Katzengold (ebd. 1964; Nationalpreis der DDR). S.s milieugetreues u. humorvolles Stück ohne Schönfärberei wurde vom informierten Publikum goutiert. Am 2.3.1967 fand an der gleichen Bühne die Uraufführung Der Lorbaß statt. Aber erst die Inszenierung durch Benno Besson am 12.10.1967 im Deutschen Theater Berlin setzte das Lustspiel als Repertoirestück für viele Bühnen durch. S. verfasste auch Nachdichtungen, Porträts u. Reportagen. Nachgesagt wird S. eine Tätigkeit als »IM« der DDRStaatssicherheit unter dem Decknamen »Petrus«. Weitere Werke: Für eine Minute (zus. mit Werner Bräunig). Lpz. 1960 (Agit-Prop). – Vortrieb. Urauff. 1961 (Schausp.). – Kantate der Freundschaft. Lpz. 1961. – Der Regenbogen. 1968 (Fernsehsp.). – Genosse Vater. Urauff. 1969 (Fernseh- u. Schausp.). – Schwarzes Schaf. 1971 (Fernsehsp.). Literatur: Heinz Klunker: Zeitstücke – Zeitgenossen. Mchn. 1975, S. 72–80, 205–211. Jutta Wardetzky / Red.
Salomon, Peter, * 4.9.1947 Berlin. – Lyriker, Prosaautor, Herausgeber, Essayist. Der Sohn eines Arztes verbrachte seine Kindheit u. Jugend als »wohlbehütetes großbürgerliches Einzelkind« in Berlin, wo er noch in Schülertagen auf den literar. Expressionismus aufmerksam wurde. Nach einem Jura- u. Germanistikstudium in München u. Freiburg i. Br. lebt S. seit 1972 in Konstanz, wo er 1976–1999 Rechtsanwalt war. Den Zugang zur Literatur fand er durch
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die sog. Alternativpresse; sie bildete nach seinem Verständnis eine genuine Form jugendlich-oppositioneller Selbstartikulation u. Selbstfindung, die S. trotz aller polit. u. zeitgeschichtl. Brüche als »Neue Jugendbewegung« verstand. In diesem Rahmen erschienen auch erste schmale Debüts (Einer denkt sich was. Schwenningen 1972; L. Gedichte. Konstanz 1973. Abgang Juhnkuhns. Konstanz 1973; P.). 1974 begründete er die Konstanzer Literaturzeitschrift »Univers« mit, die er bis 1981 mit herausgab. Parallel zu seiner Tätigkeit als Wiederentdecker u. Herausgeber verschollener bzw. vergessener Autoren hat sich S. seit den 1970er Jahren v. a. der Lyrik gewidmet u. in Kleinverlagen ein rundes Dutzend Gedichtbände veröffentlicht (u. a. Kaufhausgedichte – 42 Stück zu 9 Mark 50. Hannoversch-Münden 1975. Gegenfrost. Freib. i Br. 1979. Die Straße aus der Stadt. Bergen/NL 1987. Wind kriegen. Eggingen 1988. Der Herr am Nebentisch. Ebd. 1994. 7 Gedichte. Mchn. 2002), aus denen er zwei Auswahlbände zusammenstellte (Die Natur bei der Arbeit. Eggingen 2000. Kleine Pannenhilfe für Schöngeister. Ebd. 2005). Charakteristisch für seine Lyrik ist eine »Poetik des zeitgenössischen Bewusstseins«, mit der sich S. zu Beginn der 1980er Jahre von zwei virulenten Strömungen abzusetzen suchte: Der engagiert-polit. Schreibmotivation warf er häufige Plattitüden u. Formelhaftigkeit vor, während die »Neue Subjektivität« für ihn allzu oft der Tendenz zu Egozentrik u. Eskapismus erlag. Mit dieser doppelten Absage zielte S. auf eine »investigative« Poetik, die den subjektiven Dimensionen von Alltag u. Zeitgenossenschaft in ihrer komplexen, widersprüchl. u. fragwürdigen Realität dicht auf den Fersen bleibt. S. fühlt sich der »Befindlichkeit seiner Generation« verpflichtet, um an deren Chronik mitzuschreiben, mitzuwirken an einer »Tradition im Sinne von Geschichtsschreibung«. S. betätigt sich auch als »Literaturdetektiv«. Seine Funde u. Ergebnisse veröffentlichte er in der 1992 begründeten Reihe »Replik«, in der – bei wechselnden (Mit-) Herausgeberschaften – bislang ein knappes Dutzend »Autorenporträts aus dem Abseits der Moderne« erschien. Galten diese zu-
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Salomon und Markolf
nächst vergessenen Figuren der expressio- Salomon und Markolf. – Schwankroman nistischen Generation, wurden später auch in Versen, 14. Jh. Autoren u. Themen des Bodenseeraums einDie älteste dt. Bearbeitung des lat. Schwankbezogen. Als Anthologist trat S. zunächst mit romans Dialogus Salomonis et Marcolfi (entLiteratur im alemann. Raum – Regionalismus & standen gegen Ende des 12. Jh., wahrscheinDialekt (zus. mit Jochen Kelter. Freib. i Br. lich in Nord- oder Nordostfrankreich) 1978) hervor; später folgten PS Hero – 50 exstammt von einem unbekannten, wohl moemplarische Autogedichte (zus. mit Horst selfränk. Verfasser aus dem späten 14. Jh. Brandstätter. Ffm. 2002) u. Konstanz – ein GeDieser stellt sich als Mönch vor, der »Mardicht (zus. mit Walter Rügert. Konstanz 2006). kolfs buch« (V. 1901) auf Bitten von Fremden In Autobiographische Fußnoten (Eggingen 2009) geschrieben habe. Die früher gebräuchl. Behat S. verstreut erschienene Beiträge recht zeichnung des Texts als »Spruchgedicht« gilt vermischten Inhalts (»Gelegenheitsprosa«) als überholt. gesammelt; sie enthalten neben Rückblicken Der lat. u. der dt. Schwankroman sind auf das eigene Leben literar. Erfahrungen, zweigeteilt: Auf ein Streitgespräch zwischen persönlich gehaltene kleine Essays, poetische dem wegen seiner Weisheit u. Gerechtigkeit Statements sowie Freundes- u. Kollegenpor- berühmten König Salomon der Bibel (1. Kön. träts, die S.s Weg in den Literaturbetrieb u. 2–11) u. dem ebenso schlauen wie aggressivseine Stellung darin kenntlich machen. komischen Bauern Markolf folgt eine Reihe Weitere Werke: Hermann Plagge. Expressio- von Schwankerzählungen, in deren Verlauf nist. Eggingen 1992. – Wo hagre Häuser ins Fir- Markolf je neu seine Überlegenheit über Samament zu ragen sich erfrechen. Der Expressionist lomon unter Beweis stellt. Darüber hinaus Willy Küsters. Ebd. 1993. – Ich bin ein Abenteurer hat der dt. Anonymus zwei Erzählungen dieser dunklen Zeit. Der Expressionist R. A. Dieeingefügt, die dem Muster der übrigen Erterich. Ebd. 1993. – Otto Ehinger. Jurist, Schriftzählungen nicht folgen, in der Erzählliterasteller, Bürgermeister – v. a. aber unabhängig (zus. tur des SpätMA aber gut belegt sind: einermit Manfred Bosch). Ebd. 1994. – Zu irrer Schöpfung rast die Welt heran. Der Expressionist Eugen seits das exemplum von alten Weib, das sich Ferdinand Hoffmann. Ebd. 1996. – Der aussätzige als noch böser als der Teufel erweist, andeMai. Der Expressionist A. Rudolf Leinert (zus. mit rerseits die – ins Ulenspiegel-Buch (1510, HisWulf Kirsten). Ebd. 1999. – (Mitautor) Expressio- torie 9) übernommene – Erzählung von den nismus am Bodensee. Ausstellungskat. Wessen- beiden Dieben eines Bienenkorbs, die Marberg-Galerie Konstanz. Ebd. 2001. – Asphalt. kolf aufeinanderhetzt. Ganz aus dem RahMchn. 2003. – Einen Tag lang nicht töten. Der men des lat. Dialogus fällt die Neufassung des Dichter Edlef Köppen (zus. mit Siegmund Ko- Schlusses heraus: Während der Marcolphus pitzki). Ebd. 2004. – Herausgaben: Rudolf Adrian des lat. Romans trotz seiner Verurteilung Dietrich: Mit spitzen Blicken. Bln. 2005. – So ist es zum Tode schließlich doch in Gnaden an Sanun mal. G. Benns Briefw. mit Gert Micha Simon lomons Hof aufgenommen u. sogar versorgt 1949–1956. Warmbronn 2005. – Simon Traston: In wird, greift der Verfasser des dt. Schwankroder Schattensee. Späte Verse u. Prosa. Bln. 2007. – mans auf die Erzählfolge des Spielmannsepos Eduard Reinacher: Gastruf. Bln. 2008. – Eduard Reinacher: Bohème in Kustenz. Eggingen 2009. – Salman und Marolf zurück, wonach Markolf/ Übersetzung: Guillaume Apollinaire: ZONE. Mchn. Marolf, der kluge Bruder des Königs Salomon/Salman, die ehebrecherische Gattin Sa2007. Literatur: Josef Hoben: P. S. – Lyriker u. lomons/Salmans von ihrem neuen heidn. Rechtsanwalt. In: Bodenseehefte 43 (1992), H. 3, Gatten rückentführt u. schließlich im Bad S. 42–45. – Manfred Bosch (Hg.): Welches Verfalls- getötet habe. Der lat. u. der dt. Schwankroman folgen datum haben wir heute? Ein Porträt des Dichters P. S. als Fünfzigjähriger. Eggingen 1997. – Walter einer Logik des Kontrasts. Von der ersten Rügert: Ein Porträt des Konstanzer Lyrikers P. S. Begegnung beider Kontrahenten über ihr In: Konstanzer Almanach 2002, S. 62–64. Streitgespräch u. ihre anschließenden prakt. Manfred Bosch Auseinandersetzungen bis zur endgültigen
Salomon und Markolf
Aufnahme Markolfs an Salomons Hof ist ihr gegenbildl. Bezug das Grundmuster des Texts. Wird dieser gegenbildl. Bezug zunächst in der Opposition von Salomons Pracht u. Herrlichkeit einerseits, der grotesken Hässlichkeit Markolfs u. seiner Schwester Sludergart andererseits deutlich, die sich v. a. durch ihre tierischen u. diabol. Züge (gesträubte Haare, breites Maul, lange Zähne, Ohren wie von Bären etc.) auszeichnen, so dann v. a. im Streitgespräch zwischen dem weisen Salomon u. dem listig-überlegenen Markolf. Dieses Streitgespräch ist parodistisch angelegt. Salomon zitiert Lehrsätze alt- u. neutestamentl. Weisheit (Sprüche Salomonis, Jesus Sirach u. a.) sowie einer prakt. Ethik des alltägl. Lebens, der Erziehung u. sozialen Ordnung, die von Markolf hinsichtlich ihrer formalen Struktur übernommen, inhaltlich aber ins Gegenteil verkehrt werden. Die Überzeugung von einer gesicherten sozialen, religiösen u. ethischen Ordnung der Welt wird nun zu einer Kalkulation des individuellen Nutzens, der rücksichtslosen Durchsetzung des nur eigenen Vorteils, häufig genug auch der bloßen Lust am Fäkalischen u. Obszönen verschoben. Zwar entschuldigt sich der Anonymus verschiedentlich dafür, dass er seinem Publikum Worte zumuten müsse, welche die Norm höf. Sprechens verletzten (»die nit hobischlich enludeten in dutscher zungen«, V. 1011). Zugleich aber ist die Faszination der unterschiedlichsten Ausdrucksformen der ›Nicht-mehr-schönen-Künste‹ offensichtlich. In der anschließenden Schwankreihe wird diese Gegenbildlichkeit von Weisheit u. Tugend einerseits, ihrer Inversion zu Egoismus u. Freude am Bösen andererseits in prakt. Handeln umgesetzt. Dabei folgen die einzelnen Erzählungen einer jeweils analogen Struktur: Behauptung steht gegen Behauptung, kgl. Macht- u. Gewaltanspruch gegen bäuerl. List u. Raffinesse, mittels derer sich Markolf – entsprechend der Schwanklogik einer Suprematie des listigen Schwachen gegenüber dem Starken u. Mächtigen – je neu durchzusetzen vermag. Dabei stehen Grundüberzeugungen höf. Ethik, wie der Lobpreis der Frauen, die Ehre als Kernpunkt adliger
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Identität oder die Reputation des Königs ebenso im Mittelpunkt wie die Möglichkeit eines gerechten Richtspruchs zwischen zwei Frauen, die dasselbe Kind beanspruchen, die prakt. Durchsetzung eines kgl. Urteils u. Ä. In allen diesen Fällen ist Markolf der Regisseur des Geschehens. Zwar wird er immer wieder vom Hof vertrieben u. von Salomons Macht- u. Gewaltapparat bedroht. Zugleich aber gelingt es ihm trotz seiner sozialen Verächtlichkeit nicht nur, seine Nähe zum König, sondern sogar seine Überlegenheit auf Dauer zu sichern. Über literar. Wirkungen des dt. Schwankromans ist – von den beiden Erzählungen vom bösen alten Weib u. von Markolf im Bienenkorb (s. o.) einmal abgesehen – nichts Gesichertes bekannt. Da die Versfassung im Unterschied zur Prosaübersetzung des späten 15. Jh. (Salomon und Markolf, Schwankroman in Prosa, 15. Jh.) nicht gedruckt worden ist, war ihr Einfluss wohl begrenzt. Die Versübersetzung, die Gregor Hayden für den Landgrafen Friedrich V. von Leuchtenberg in der Oberpfalz verfasst hat, geht wahrscheinlich nicht auf den dt. Schwankroman, sondern auf den lat. Dialogus Salomonis et Marcolfi zurück. Ausgaben: Friedrich H. v. der Hagen u. Johann G. Büsching (Hg.): Dt. Gedichte des MA. Bd. 1, Bln. 1808, S. 44–64, 91–99. – S. u. M. Das Spruchgedicht. Hg. Walter Hartmann. Halle 1934. – Lateinischer Text: Salomon et Marcolfus. Hg. Walter Benary. Heidelb. 1914. – Gregor Haydens Übersetzung des lat. ›Dialogus‹: S. u. M. In: Narrenbuch. Hg. Felix Bobertag. Bln./Stgt. 1884, S. 299–361. Literatur: Hans Robert Jauß (Hg.): Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen (= Poetik und Hermeneutik III). Mchn. 1968. – Werner Röcke: Die Freude am Bösen. Studien zu einer Poetik des dt. Schwankromans im SpätMA. Mchn. 1987, S. 85–142. – Michael Curschmann: S. u. M. (Spruchgedicht). In: VL. – Ders.: Marcolfus dt. Mit einem Faks. des ProsaDrucks v. M. Ayrer (1487). In: Kleinere Erzählformen des 15. u. 16. Jh. Hg. Walter Haug u. Burghart Wachinger. Tüb. 1993, S. 151–255. – Sabine Griese: S. u. M. Ein literar. Komplex im MA u. in der Frühen Neuzeit. Tüb. 1999. – W. Röcke: S. u. M. In: EM. Werner Röcke
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Salomon und Markolf. – Schwankroman in Prosa, 15./16. Jh. Die dt. Prosaübertragung des lat. Schwankromans Dialogus Salomonis et Marcolfi (entstanden gegen Ende des 12. Jh, wahrscheinlich in Nord- oder Nordostfrankreich, der Verfasser ist unbekannt), von der drei handschriftliche u. vier Druckfassungen bekannt sind, wurde – vor allem aufgrund der leichteren Reproduktion u. Verbreitung im Druck – zu einem großen literar. Erfolg: Bis ins 17. Jh. sind ca. 25 Drucke erschienen; hinzukommen zahlreiche literar. Referenzen u. Bearbeitungen des 16. Jh., welche die Popularität der dt. Prosa zusätzlich unterstreichen. Gleichwohl ist die aus der Romantik (Joseph Görres) stammende Bezeichnung »Volksbuch« für Romane des 15./16. Jh. irreführend u. sollte vermieden werden (H. J. Kreutzer). Der älteste Druck u. d. T. Frag und antwort Salomonis und Marcolfi (Nürnb., Marcus Ayrer, 1483/86) ist nur fragmentarisch überliefert; der erste vollständige Druck erfolgte Nürnberg 1487 (im Anschluss daran Ulm 1496 u. 1498. Nürnb. ca. 1550. Augsb. ca. 1505. Nürnb. 1520). Eine weitere Druckfassung erschien u. d. T. Red und widerred Salomonis und Marcolfi (Augsb. 1490. Lpz. 1490); hinzukommen noch im 15. Jh. eine niederfränkische (Köln, nicht vor 1487) u. zwei niederdt. Bearbeitungen (Stendal 1489. Hbg. ca. 1500). Der dt. Schwankroman in Prosa schließt eng an einen Überlieferungsstrang des lat. Dialogus an, dem – im Unterschied zum dt. Schwankroman in Versen (14. Jh.) – der abschließende Rückgriff auf das Spielmannsepos Salman und Morolf fehlt. Im Übrigen aber folgt der Text dem zweiteiligen Aufbau seiner lat. Vorlage: 1. Streitgespräch zwischen dem weisen König Salomon der Bibel u. dem raffiniert-witzigen Bauern Markolf; 2. eine Folge von Schwankerzählungen, in denen der Wettstreit zwischen König u. Bauer nicht nur sprachlich, sondern auch praktisch handelnd realisiert wird. Der Beginn der Erzählung entwirft das Bild von Salomon als Repräsentant idealer, der ewigen Weisheit Gottes verpflichteter Herrschaft, dessen Kontrast zur abstrusen Hässlichkeit Markolfs u. seiner Frau Policana (im
Salomon und Markolf
lat. Text: Politana) den ganzen Text kennzeichnet: Gemäß der mittelalterl. Überzeugung der Entsprechung von Innen u. Außen verweist Salomons Schönheit u. ruhige Herrscherpose auf die Gerechtigkeit u. Weisheit seiner Herrschaft, Markolfs Hässlichkeit hingegen auf seine Infragestellung überkommener Werte u. Freude am Bösen. Im weiteren Verlauf des Texts wird diese Infragestellung bislang selbstverständl. Regeln sozialer Kommunikation u. Ordnung, verbindl. Verhaltensmuster in Familie u. Staat, Hof u. Gesellschaft zunächst mittels einer parodistischen »Komik der Gegenbildlichkeit« (H. R. Jauß) erreicht, in der daran anschließenden Folge einzelner Schwankerzählungen mittels einer ebenso radikalen wie gnadenlosen Berechnung u. Durchsetzung von Markolfs nur eigenem Vorteil, der Salomon nicht gewachsen ist. Zum Abschluss des Wettstreits mit Markolf muss er seine Niederlage eingestehen u. diesen »zu eynem ewigen knecht« an seinen Hof aufnehmen. Neben dem scharfen Witz Markolfs sowie der Öffnung des Texts zu den unterschiedlichsten Formen des Körperlichen, Fäkalen u. Obszönen war es wohl v. a. diese Verkehrung von Herrschaft u. Knechtschaft, Weisheit u. Raffinesse, Schönheit u. Hässlichkeit, die das zeitgenöss. Publikum fasziniert u. eine breite Wirkung des Texts angestoßen hat. Das betrifft zunächst das Theater des 15./16. Jh.: Die Fastnachtspiele der Nürnberger Hans Folz (80er Jahre des 15. Jh.) u. Hans Sachs (1550) einerseits, des Luzerners Zacharias Bletz (1546) andererseits verweisen ebenso auf einen hohen Bekanntheitsgrad dieses Erzählu. Spieltyps wie die Bearbeitung einzelner Erzählungen oder entsprechender Redewendungen in Johannes Paulis außerordentlich wirkmächtiger Erzählsammlung Schimpf und Ernst (Nr. 283, 1522), in Luthers Tischreden, Johann Agricolas Sprichwörtersammlung (Nr. 131) u. a. Die Bearbeitungs- u. Transformationsgeschichte der dt. Prosa über Salomon und Markolf endet erst im 18. Jh. mit Der visirliche Marcolphus. Bestehend in einem abendtheurlichen Gespräch, zwischen dem König Salomon, und diesem unberichtsamen und groben Menschen (o. O. u. J.; das Exemplar der Berliner Kgl. Bibliothek, Sign.: Yt 5521, ist verschollen).
Salten
Einen weiteren Versuch der »Erneuung« dieses Texts hat erst Friedrich Heinrich von der Hagen (Narrenbuch. Halle 1811, S. 215–268) vorgelegt, der wissenschaftl. Ansprüchen wohl nicht genügt, unter dem Gesichtspunkt einer Aktualisierung mittelalterl. Literatur im frühen 19. Jh. aber sehr interessant ist. Ausgaben: Friedrich Heinrich v. der Hagen: Narrenbuch. Halle 1811, S. 215–268. – Frag u. antwort Salomonis u. marcolfi. Nürnb. (Marcus Ayrer) 1487. Faks.-Druck im Anhang zu Michael Curschmann: Marcolfus dt. In: Kleinere Erzählformen des 15. u. 16. Jh. Hg. Walter Haug u. Burghart Wachinger. Tüb. 1993, S. 240–255. Literatur: Hans Joachim Kreutzer: Der Mythos vom Volksbuch. Studien zur Wirkungsgesch. des frühen dt. Romans seit der Romantik. Stgt. 1977. – Werner Röcke: Die Freude am Bösen. Studien zu einer Poetik des dt. Schwankromans im SpätMA. Mchn. 1987, S. 85–142. – Michael Curschmann: S. u. M. (Volksbuch). In: VL. – Ders.: Marcolfus dt. In: Kleinere Erzählformen des 15. u. 16. Jh., a.a.O., S. 151–255. – Ders.: Markolf tanzt. In: FS Walter Haug u. Burghart Wachinger. Hg. Johannes Janota u. a. Bd. 2, Tüb. 1992, S. 967–994. – Sabine Griese: S. u. M. Ein literar. Komplex im MA u. in der Frühen Neuzeit. Tüb. 1999. – W. Röcke: S. u. M. In: EM. – Ders.: Die Gewalt des Narren. Rituale v. Gewalt u. Gewaltvermeidung in der Narrenkultur des späten MA. In: Die Kultur des Rituals. Inszenierungen, Praktiken, Symbole. Hg. Christoph Wulf u. Jörg Zirfas. Mchn. 2004, S. 110–128. – Eulenspiegel trifft Melusine. Der frühnhd. Prosaroman im Licht neuer Forsch.en u. Methoden. Hg. Catherine Drittenbass u. Andre´ Schnyder. Amsterd. 2010. Werner Röcke
Salten, Felix, eigentl.: Siegmund Salzmann, * 6.9.1869 Pest (heute zu Budapest), † 8.10.1945 Zürich; Grabstätte: ebd., Jüdischer Friedhof. – Erzähler, Dramatiker, Essayist, Feuilletonist. Der aus einer liberalen jüd. Familie stammende S. wuchs in ärml. Verhältnissen in Wien auf. Mit 16 Jahren verließ er das Hernalser Gymnasium, arbeitete kurze Zeit in einer Versicherungsfirma, begann dann mit dem Schreiben von Kurzgeschichten sowie mit journalistischer Tätigkeit; er war Burgtheaterreferent u. Feuilletonist der »Wiener Allgemeinen Zeitung«, der »Wiener Litera-
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turzeitung« u. der »Zeit«. 1890 stieß S. zum Literaturverein »Freie Bühne« um Hermann Bahr u. gewann Anschluss an den Jung Wiener Freundeskreis um Hofmannsthal, Schnitzler, Beer-Hofmann u. a. Durch seinen publizistischen Einsatz für Literatur u. Kunst der Moderne trug er wesentlich zum Durchbruch des »Jungen Wien« bei. Verheiratet mit der Burgschauspielerin Ottilie Metzl (ab 1902), führte S. ein aufwändiges gesellschaftl. Leben. 1935 wurden seine Bücher in Deutschland verboten; nach dem »Anschluss« Österreichs 1938 blieb er aber von persönl. Repressalien verschont. 1939 emigrierte er in die Schweiz. S.s schriftstellerisches Werk ist zunächst vom Impressionismus geprägt. Schnitzler nannte S.s Stil einen »genialen Feuilletonismus«. Sein erzählerisches Werk umfasst sieben Novellensammlungen; die Erzählungen beschäftigen sich mit Künstlerproblematik u. Sozialkritik. Unter seinen zahleichen Einzelveröffentlichungen befinden sich teilweise für ein jugendl. Publikum bestimmte histor. Novellen (Herr Wenzel auf Rehberg und sein Knecht Kaspar Dinckel. Bln. 1907. Die Geliebte Friedrichs des Schönen. Bln. 1908. Prinz Eugen, der edle Ritter. Bln. 1915), Zeitromane wie Olga Frohgemuth (Bln. 1910) u. Martin Overbeck (Wien 1927), galante Erzählungen, die Frivolität u. Adelskritik vereinigen (Die Gedenktafel der Prinzessin Anna. Wien 1902. Die kleine Veronika. Bln. 1903), dazu Kriegsnovellen (Abschied im Sturm. Wien 1915) u. Bibelstoffe (Simson. Das Schicksal eines Erwählten. Bln. 1928). S. gilt als Verfasser des Prostituiertenromans Josefine Mutzenbacher. Der Roman einer Wiener Dirne (Wien: Privatdruck 1906. Untertitel späterer Ausgaben: Die Lebensgeschichte einer wienerischen Dirne, von ihr selbst erzählt). In den Mietskasernen der Vorstadt spielend, kann dieser Klassiker der erot. Literatur als Milieustudie, als Kinderpornografie oder als Plädoyer gegen eine verlogene Sexualmoral gelesen werden. Das Buch wurde zum Paradefall langwieriger Rechtsstreitigkeiten über die Grenzen zwischen Pornografie u. Kunst. Internationalen Ruhm erlangte S. durch seine neun Tierromane u. drei Sammlungen mit Tiergeschichten, darunter die Waldro-
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Saltzmann
mane Bambi (Bln. 1923), Bambis Kinder (Zürich 1911 (N.n). – Gestalten u. Erscheinungen. Bln. 1940), Die Jugend des Eichhörnchens Perri (Zürich 1913 (Ess.). – Kaiser Max, der letzte Ritter. Ebd. 1942), sowie Romane u. Erzählungen um 1913 (Jugendbuch). – Die klingende Schelle. Ebd. Haus- u. Nutztiere wie Florian. Das Pferd des 1915 (R.). – Österr. Novellen. Ebd. 1916. – Der alte Narr. Ebd. 1918 (N.n). – Der Hund v. Florenz. Wien Kaisers (Wien 1933), Renni der Retter. Das Leben 1923 (Künstler-N.). – Geister der Zeit. Erlebnisse. eines Kriegshundes (Zürich 1941) oder Djibi das Ebd. 1924. – Bob u. Baby. Ebd. 1925 (Jugendbuch). Kätzchen (Zürich 1945). Durch die Anthropo- – Schöne Seelen. Lpz. 1925 (Kom.). – Freunde aus morphisierung der Waldtiere u. die sympath. aller Welt. Wien 1931 (R.). – Kleine Brüder. Ebd. Darstellung von domestizierten Tieren ge- 1935 (Tiergesch.n). – Kleine Welt für sich. Zürich. staltete S. Ideale der Toleranz u. Mitmensch- 1944 (E.). – Correspondenzen. Briefe an Leopold v. lichkeit u. beeinflusste die Entwicklung des Andrian 1894–1950. Hg. Ferruccio Delle Cave. Genres »Tiergeschichte« wesentlich, v. a. Marbach/Neckar 1989. Literatur: Ilse Stiaßny-Baumgartner: F. S. In: auch im Hinblick auf dessen Adaptionsmöglichkeiten für Comics u. Film (Bambi wurde ÖBL. – Lieselotte Pouh: Wiener Lit. u. Psychoanalyse. Felix Dörmann, Jakob Julius David, F. S. Ffm. 1942 von Walt Disney verfilmt). 1997. – Jürgen Erneß: F. S.s erzähler. Werk. Ffm. Als Theaterkritiker – 1906 wurde er Thea2002 – Siegfried Mattl, Klaus Müller-Richter u. terreferent der Berliner »Morgenpost«, später Werner Michael Schwarz (Hg.): F. S.: WurstelpraChefredakteur des Wiener »Fremdenblattes« ter. Ein Schlüsseltext zur Wiener Moderne. Wien bzw. Feuilletonist der »Neuen Freien Presse« 2004. – Andreas Brandtner: F. S. In: NDB. – S. – hatte S. wesentl. Anteil an der Herausbil- Mattl u. W. M. Schwarz: F. S. Schriftsteller, Jourdung einer modernen Kritik; seine besten nalist, Exilant. Wien 2006. – Manfred Dickel: ›Ein Feuilletons fassen die beiden Bände Schauen Dilettant des Lebens will ich nicht sein‹. F. S. zwiund Spielen (Wien 1921) zusammen. Über- schen Zionismus u. Jungwiener Moderne. Heidelb. zeugende essayistische Studien zur österr. 2007. – Michael Gottstein: F. S. (1869–1945). Ein Schriftsteller der Wiener Moderne. Würzb. 2007. Kulturgeschichte enthalten u. a. die SammJohannes Sachslehner / Florian Krobb lungen Das österreichische Antlitz (Bln. 1909), Wurstelprater (Wien/Lpz. 1911. Neuausg. Wien/Mchn./Zürich 1973) u. Das Burgtheater Saltzmann, Salzmann, Friedrich Rudolf, (Wien 1922). auch: Frédéric-Rodolphe S., * 8.3.1749 Wie kaum ein anderer jüd. Autor trat S. auf Straßburg, † 7.10.1821 Straßburg. – PuVortragsreisen u. in Beiträgen für Theodor blizist u. theosophischer Schriftsteller. Herzls »Die Welt« für den Zionismus ein. 1924 unternahm er eine Palästinareise, deren S., Spross einer bekannten elsäss. GelehrtenEindrücke er in Neue Menschen auf alter Erde familie, wuchs in Straßburg auf, wo er das (ebd. 1925. Neuaufl. Königst./Taunus 1986) protestantische Gymnasium besuchte, Theoschildert. Auf der internationalen P.E.N.-Ta- logie, dann (1770–1773) Rechtswissenschafgung in Dubrovnik 1933 gelang es S. nicht, ten studierte, Goethe traf u. Freundschaft mit den völk. Kräften Paroli zu bieten; kurz da- Jung-Stilling schloss. 1773/74 war er in Götnach trat er von seinem Amt als Präsident des tingen Erzieher des Freiherrn vom Stein österr. P.E.N.-Clubs zurück. Sein Werk um- während dessen Studium. Wieder in Straßfasst weitere Reisebücher (Fünf Minuten Ame- burg, gründete er dort mit Lenz 1775 die rika. Bln./Wien/Lpz. 1913), Dramen, Film- Deutsche Gesellschaft. Seit 1779 Buchhändler drehbücher u. Libretti. S. betätigte sich u. Publizist, veröffentlichte er zahlreiche Beiträge im »Bürgerfreund« u. in den »Gekurzzeitig auch als Theaterleiter. lehrten Kunstnachrichten« u. gründete auch Weitere Werke: Ausgabe: Ges. Werke in EinZeitungen u. Zeitschriften (darunter »Gazetzelausg.n. 6 Bde., Wien 1928–32. – Einzeltitel: Die Hinterbliebene. Ebd. 1899 (N.n). – Der Gemeine. te de Strasbourg« oder »Strasburgischer Ebd. 1901. Urauff. Bln. 1901 (D.). – Gustav Klimt. Weltbote«). Obwohl Sympathisant der FranEbd. 1903. – Der Schrei der Liebe. Wien 1905 (N.). – zösischen Revolution, wurde er 1793 von Wiener Adel. Bln. 1905 (Ess.) – Künstlerfrauen. dem Jakobiner Eulogius Schneider wegen Mchn. 1908 (E.en). – Das Schicksal der Agathe. Lpz. »girondistischer Meinungen« angegriffen u.
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tauchte während der Schreckensherrschaft unter. S., der sich publizistisch u. auch als Übersetzer für die dt.-frz. Literaturbeziehungen im Elsass einsetzte, propagierte nach der Revolution als Theosoph pietistisch-myst. Ideen, z.T. unter dem Einfluss von Claude Louis de Saint-Martin, auch in Kenntnis von J. Böhme. S. war eng mit Lavater befreundet u. verkehrte mit Oberlin. 1802–1810 veröffentlichte er u. d. T. Es wird alles neu werden (Straßb.) eine Reihe von umfangreichen myst. u. eschatolog. Traktaten. Seine wichtige Autobiografie ist als Manuskript erhalten. Die S. stets zugeschriebene Schrifttasche auf einer neuen Reise durch Teutschland, Frankreich, Helvetien und Italien (Ffm./Lpz. 1780) stammt nicht von ihm. Weitere Werke: Bemerkungen über die letzten Zeiten [...], v. einem Forscher der Wahrheit. Straßb. 1806. – Geist u. Wahrheit, oder Religion der Geweihten [...]. Ebd. 1816. Literatur: Hans Grassl: Aufbruch zur Romantik. Bayerns Beitrag zur dt. Geistesgesch. 1765–1785. Mchn. 1968 (Register). – Jules Keller: Le théosophe alsacien F.-R. S. et les milieux spirituels de son temps. Bern 1985. – La presse départementale en Révolution (1789–91). Ouvrage présenté par P. Albert u. G. Feyel. Straßb. 1992, S. 199 f., 254–258. – J. Keller: F.-R. S. In: NBDA. Heiner Boehncke / Red.
Salus, Hugo, * 3.8.1866 Böhmisch-Leipa (Cˇeská Lípa), † 4.2.1929 Prag. – Lyriker, Prosaautor. Der Sohn eines jüd. Veterinärbeamten besuchte zunächst im nordböhmischen Leipa, sodann in Budweis (Cˇeské Budeˇjovice) u. zuletzt in Leitmeritz (Litomeˇrˇ ice) das Gymnasium, wo er 1885 das Abitur ablegte. S. schloss ein Medizinstudium in Prag an, wurde 1891 promoviert u. arbeitete – nach einem Militärhalbjahr in Theresienstadt (Terezín) u. einer Tätigkeit als Operateur u. Assistent in einer gynäkolog. Klinik – seit 1895 als renommierter Frauenarzt wiederum in Prag. In diese Zeit fallen auch S.’ erste lyr. Veröffentlichungen, die in den Zeitschriften »Simplicissimus«, »Jugend« u. »Ver Sacrum« erschienen. Neben Friedrich Adler wurde S. bald zu einem der führenden Vertreter der
Prager Literaturszene vor der Jahrhundertwende; gemeinsam dominierten sie etwa den Schriftsteller- u. Künstlerverein »Concordia«. S. korrespondierte u. a. mit dem jungen Rilke, der ihn schätzte, u. war mit Willy Haas u. Arthur Schnitzler befreundet; Schönberg vertonte 1901 die Gedichte Einfältiges Lied u. Der genügsame Liebhaber (in: Arnold Schönberg: Sämtliche Werke. Abt. 1: Lieder. Reihe A, Bd. 2, Mainz 1988, S. 109 f.). Der »Simplicissimus«-Herausgeber Albert Langen veröffentlichte die ersten beiden Gedichtbände S.’ (Gedichte. Mchn. 1898. 21901. Neue Gedichte. Mchn. 1899), die eine Phase literar. Produktivität einläuteten. 1900 erschien der äußerst erfolgreiche Lyrikband Ehefrühling (Lpz. 1900. 51920), der – wie auch das Trostbüchlein für Kinderlose (Jena 1909) – von Heinrich Vogeler illustrierte wurde; Emil Orlik bebilderte Christa, ein Evangelium der Schönheit (Wien 1902). S. publizierte neben formal u. inhaltlich zumeist traditionellen Gedichten (wie etwa einem Vorfrühlings-Gedicht, erschienen in: Jugend 3 [1898], S. 87) auch einzelne Dramenversuche (Susanna im Bade. Mchn. 1901, illustriert von Wilhelm Scholz. Römische Komödie. Ebd. 1909) sowie Novellen (Novellen des Lyrikers. Bln. 1903. Das blaue Fenster. Ebd. 1906), in denen sich der betont patriotische u. deutschnationale Jude dennoch häufig bibl. u. talmudischer Stoffe annahm (u. a. in der »Ghettogeschichte« Die Beschau. Wien 1920). Als solcher wurde er in Werfels Roman Der Stern der Ungeborenen als extremer Assimilant literarisch verewigt, u. als modischer Vertreter der literar. Neuromantik war der »Prager Heimatkünstler« S. Ziel vehementer Angriffe u. a. von Egon Erwin Kisch u. von Karl Kraus, der die Österreichische Offiziersballade (in: Die Zukunft, 29.3.1913) u. d. T. Salus populi karikierte (in: Die Fackel 15 [1913/1914], Nr. 374/ 375, S. 8–10) sowie den Warencharakter u. die biedermeierl. Idyllik von S.’ Lyrik kritisierte. Weitere Werke: Ernte. Mchn. 1903 (L.). – Neue Garben. Mchn. 1904 (L.). – Die Blumenschale. Mchn. 1908 (L.). – Schwache Helden. Ebd. 1910 (N.n). – Glockenklang. Ebd. 1911 (L.). – Seelen u. Sinne. Lpz. 1913 (N.n). – Das neue Buch. Mchn. 1919 (L.). – Die schöne Barbara. Wien 1919 (N.). –
187 Vergangenheit. Ebd. 1921 (N.n). – Klarer Klang. Ebd. 1922 (L.). – Die Harfe Gottes. Ebd. 1928 (L.). Literatur: Paul Wertheimer: H. S. Prag [1902]. – Karl Kraus: Arzt u. Künstler. In: Die Fackel, Nr. 393/394 (1914), S. 15–18. – Lotte Tinkl: Neuromant. Elemente bei H. S. u. Franz Herold. Diss. Wien 1949. – Frantisˇek R. Tichy´ : Jüd. Thematik bei H. S. In: Ztschr. für die Gesch. der Juden 4 (1966), S. 230–232. – Helga Abret: H. S. u. Jaroslav Vrchlicky. In: ÖGL 24 (1980), H. 1, S. 28–34. – Josef Mühlberger: Gesch. der dt. Lit. in Böhmen 1900–39. Mchn. 1981, S. 189–193. – Alois Hofmann: F. R. S. In: ÖBL. – Adalbert Schmidt: H. S. – der Prager Dichterarzt. In: Sudetenland 33 (1991), S. 194–205. – Margarita Pazi: H. S.: 1866 Böhmisch Leipa – 1929 Prag. In: Stifter-Jb. 7 (1993), S. 153–163. – Klaus Heydemann: Gedichte lesen: Notizen zur Darbietungsform der Lyrik des H. S. In: Deutschböhm. Lit. Hg. Ingeborg Fiala-Fürst. Olomouc 2001, S. 187–208. – Ders.: Poet in Prag: zu den Anfängen des H. S. In: Brünner Beiträge zur Germanistik u. Nordistik 22 (2008), S. 57–67. Johann Sonnleitner / Hans Peter Buohler
Salvatore, Gaston, eigentl.: Gaston Salvatore Pascal, * 29.9.1941 Valparaiso/Chile. – Dramatiker, Erzähler, Essayist, Librettist. S. entstammt einer nach Chile eingewanderten ital. Familie u. ist ein Neffe des 1973 ermordeten Staatspräsidenten Allende. Er begann in Santiago ein Jurastudium, ging aber 1965 nach West-Berlin, wo er Soziologie u. Germanistik studierte u., im Umfeld Rudi Dutschkes, eine führende Rolle in APO u. Studentenbewegung spielte. Der neunmonatigen Inhaftierung wegen Landfriedensbruchs entzog er sich im Jan. 1969 u. kehrte vorerst nach Chile zurück, arbeitete 1969/70 in Rom als Regieassistent für Michelangelo Antonioni u. lebte, amnestiert, bis 1977 wieder in Berlin. 1979 gründete er mit Hans Magnus Enzensberger die Zeitschrift »TransAtlantik«. S. erhielt 1973 den GerhartHauptmann-Preis; 1990 wurde er in Dresden mit dem Kleist-Preis ausgezeichnet. Seit einigen Jahren lebt S. sowohl in Venedig u. auch in Deutschland. S.s Begeisterung für revolutionäres Denken dokumentiert sich bereits 1967 in der Übersetzung von Ernesto Guevaras Schaffen wir zwei, drei, viele Vietnam (Bln. 1967). Eine erste
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Bilanz des Unbehagens an der »bürgerlichen« Studentenrevolte zieht S. in dem Gedichtband Der langwierige Weg in die Wohnung der Natascha Ungeheuer (Bln. 1971. Auch Libretto zu Hans Werner Henzes gleichnamiger Oper). Ein Jahr später wurde das viel diskutierte Stück Büchners Tod (Darmst. 1972) aufgeführt, eine Parabel des polit. Scheiterns, hinter deren einander vieldeutig durchdringenden beiden Realitätsebenen – Büchners letzte Stunden im Zürcher Krankenzimmer u. die Verfolgung u. Folterung der Freunde u. Mitarbeiter am »Hessischen Landboten« – ständig der Verweis auf eine dritte, das Debakel des 68er-Aufbruchs, gegenwärtig bleibt. Mit dem Holocaust u. der Flucht einiger Nazigrößen nach Südamerika setzt sich S. auf krit. Weise u. mit den Mitteln des Kriminalstücks in Lektionen der Finsternis. Eine Tragödie (Ffm. 1989) kritisch u. vielseitig auseinander. Der Identitätswechsel der flüchtigen Nazis soll anscheinend auch die Verlogenheit von einigen Teilen der Nachkriegsgesellschaft widerspiegeln. In dem Drama King Kongo. Ein Vaudeville (Ffm. 1991) beschäftigt sich der Autor mit der Situation der kleinen Leute während der Gründerzeit. Ebenso verarbeitet der Text den bereits in den Anfangsjahren des Wilhelminismus latent vorhandenen Antisemitismus u. die damalige Kolonialpolitik. All das fügt S. zu einem Berlin-Panorama der Jahrhundertwende zusammen. S.s spätere Arbeiten bleiben durchaus engagiert u. der Dialektik des revolutionären Prozesses verpflichtet. Das schlägt sich auch in den Essays S.s nieder, wobei er das revolutionäre u. antibourgeoise Potenzial nicht primär einer bestimmten polit. Richtung zuordnet. So nimmt er 1992 in einem Essay auch den ital. Dichter Gabriele D’Annunzio (Gabriele D’Annunzio. Hbg. 1992) u. dessen berühmte Rede vom 17.5.1915 in den Blick, wo dieser in einer charismat. Rhetorik von der Tribüne des röm. Kapitols den Kriegseintritt Italiens enthusiastisch begrüßte. Seine früheren Kontakte zur Studentenbewegung nutzt S. immer wieder für seine literar. Produktivität. 1994 erschien der gemeinsam mit Daniel Cohn-Bendit konzipierte Band Der Bildstörer (Bln. 1994).
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Weitere Werke: Intellektuelle u. Sozialismus (zus. mit Paul A. Baran u. Erich Fried). Bln. 1968 (Ess.s). – Wolfgang Neuss. Ein faltenreiches Kind. Ffm. 1974 (Biogr.). – Fossilien. Ebd. 1975 (D.). – Der Freibrief. Ebd. 1977 (D.). – Der Kaiser v. China. Mchn. 1979 (P.). – Waldemar Müller. Ebd. 1982 (P.). – Stalin. Ffm. 1987 (D.). – Hess u. andere Stücke. Ebd. 1992 (D.). – Venedig. Das Insider-Lexikon. Mchn. 1995 (P.). – Anleitungen für den Umgang mit schönen Frauen. Hbg. 1997 (P.) – Einladung zum Untergang. Venezianische Hintertreppen Wien 2000 (P.). – Feuerland. Ffm. 2008 (D.). Literatur: Ludwig Fischer: Erkennen u. Wiedererkennen. Über die Aneignung v. Gegenwart u. Vergangenheit in G. S.s ›Büchners Tod‹. In: Zeitgenosse Büchner (1979), S. 61–95. – Harald Wieser: Heinrich Heine im Alfa Romeo. Über die neue Monatsztschr. Transatlantik. In: Der Spiegel, Nr. 40 (1980), S. 245–249. Friedhelm Sikora / Torsten Voß
Salzinger, Helmut, auch: Jonas Überohr, * 27.12.1935 Essen, † 3.12.1993 Odisheim. – Romancier, Essayist, Lyriker.
Erzählungen Ohne Menschen (Löhrbach 1988) beschreibt er eigenwillig u. in lyr. Ton v. a. Landschaft u. Naturphänomene wie Sonne, Wind u. Regen. Weitere Werke: Jonas Überohr live. Kritische Ausschweifungen über Kultur u. Krebs. Hbg. 1976 (Ess.s). – Gehen, Schritte. Odisheim 1979 (L.). – Rock um die Uhr u. andere kleine Schr.en zur Musik u. Gegenkultur. Ebd. 1982 (Ess.s). – Irdische Heimat. Hbg. 1983 (L.). – Nackter Wahnsinn. Die Wirklichkeit u. die Suche nach ihr zwischen Konsens u. Nonsens (Minima Maxima. Bd. 1). Hbg. 1984 (Ess.s). – Mein letzter Sommer. Gött. 1984 (L.). – Stille Wasser. Odisheim 1987 (L.). – Pschschhh... Sechs Versuche, in den Ofen zu pinkeln, samt einem Vorw. Ffm. 1989 (L.). – Best of Jonas Überohr. Popkritik 1966–1982. Hg. Frank Schäfer. Hbg. 2010 (Ess.s). Literatur: Alexander v. Bormann: ›Irdische Heimat‹. In: Dt. Bücher 13 (1983), S. 200–203. – Klaus Modick, Mo Salzinger u. Michael Kellner (Hg.): HUMUS. Hommage à H. S. Hbg. 1996. – Caroline Hartge u. Ralf Zühlke (Hg.): querFALK. Buch über eine Ztschr. Ostheim/Rhön 2007. Georg Patzer
Nach dem Studium der Literatur- u. Kunstgeschichte in Köln u. Hamburg (Promotion Salzmann, Christian Gotthilf, * 1.6.1744 1967 über Eugen Gottlob Winkler) arbeitete Sömmerda bei Erfurt, † 31.10.1811 S. als freier Schriftsteller, Musikkritiker u. Schnepfenthal; Grabstätte: ebd. – ReligiEssayist, u. a. für die »Zeit« u. die Musikonspädagoge u. Philanthropist. zeitschrift »Sounds«. In seinen kultur- u. musikkrit. Essays analysierte er provokativ S. besuchte zunächst das Lyzeum in Langenden Kulturbetrieb der BR Deutschland; dabei salza, erhielt danach nur noch Privatunterstießen v. a. seine intelligent u. fantasievoll richt von seinem Vater, der 1758 eine Pfarrkompilierten essayistischen Bücher über die stelle in Erfurt angenommen hatte, u. stuBeziehung zwischen Rockmusik u. Politik dierte seit 1761 Theologie in Jena. 1768 (Rock Power oder Wie musikalisch ist die Revolu- übernahm er eine Pfarrstelle in Rohrborn bei tion? Ffm. 1972. Neuausg. Reinb. 1982) u. Erfurt u. lernte dort die bittere Armut der über den Philosophen Walter Benjamin Landbevölkerung kennen. Seit 1772 war S. an (Swinging Benjamin. Ffm. 1973. Erw. Neuausg. der St. Andreaskirche in Erfurt als Diakon, Hbg. 1990) in der Kritik meist auf Ablehnung dann als Pfarrer tätig. Schon in seinen ersten u. Unverständnis, auch wenn er mit ihnen auf Publikationen kritisierte er die autoritäre lange Sicht die Popkritik begründete u. die Erziehungspraxis seiner Zeit u. forderte eine undogmat. Rezeption des Philosophen Ben- kindgerechte Erziehung im Sinne Rousseaus jamin entscheidend beeinflusste. In den frü- u. Basedows. In seinem Buch Anweisung zu hen 1980er Jahren zog sich S. vom Betrieb einer zwar nicht vernünftigen, aber doch modischen zurück u. lebte bis zu seinem Tod als Lyriker Erziehung der Kinder (Erfurt 1780), das seit der u. Herausgeber der Zeitschrift »FALK« in dritten Auflage (1792) als Krebsbüchlein oder Odisheim an der Nordsee, wo sein Hof als Anweisung zu einer unvernünftigen Erziehung der »HEAD FARM« Anziehungspunkt für Lite- Kinder einen großen Bekanntheitsgrad erraten u. Künstler wurde. In Lyrik u. Prosa reichte, beschrieb er in satir. Übertreibung artikuliert sich S. knapp u. lakonisch. In den Erziehungsfehler seiner Zeit. In seiner Schrift
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Über die wirksamsten Mittel, Kindern Religion beyzubringen (Lpz. 1780) entwickelte er kindgemäße Formen der religiösen Erziehung, wonach bei den Kindern zuerst das Gefühl für den Schöpfer der Natur durch anschaul. Geschichten erweckt werden müsse u. erst danach der bibl. u. katechetische Unterricht erfolgen solle. Diese Auffassung machte ihn bei seinen Amtskollegen in Erfurt des Ketzertums verdächtig. So ging er 1781 auf Basedows Angebot ein, am Philanthropin in Dessau als »Religionslehrer und Liturg« tätig zu werden. Während der Dessauer Periode entstand eine Reihe grundlegender Schriften zur christl. Erziehung, in denen das philanthropische Aufklärungsprogramm einer an der kindl. Entwicklung orientierten Pädagogik mit der im Gefühl wurzelnden sittl. Gesinnung verbunden wurde. Diese Synthese von Verstandes- u. Gemütsbildung dokumentieren die in Dessau entstandenen Werke S.s: Gottesverehrungen, gehalten im Betsaale des Dessauischen Philanthropins (1.-4. Slg., Ffm./Lpz. 1781–83), Unterhaltungen für Kinder und Kinderfreunde (Bd. 3, Lpz. 1783), Moralisches Elementarbuch (1. u. 2. Tl., Lpz. 1782/83. Teilnachdr. Dortm. 1980). Die konsequente Durchführung der Erziehungsreform sah S. wegen der internen Spannungen am Dessauer Philanthropin nicht gewährleistet, u. er entschloss sich daher, eine eigene Erziehungsanstalt zu gründen. Mit seiner programmat. Schrift Noch etwas über die Erziehung, nebst Ankündigung einer Erziehungsanstalt (Lpz. 1784) beendete er seine Tätigkeit in Dessau u. gründete mit großzügiger Unterstützung des Herzogs Ernst II. von Gotha auf Gut Schnepfenthal in Thüringen ein eigenes Philanthropin. Das Erziehungsklima in Schnepfenthal war bestimmt von gemüthaften Bindungen an Natur u. Heimat vor dem Hintergrund einer christl. Glaubensauffassung ohne betont konfessionelle Bindung. Nach Auffassung S.s kann nur innere Zufriedenheit u. Beständigkeit in Einklang mit der geschaffenen Natur u. den göttl. Geboten die sozialen Probleme der Zeit lösen. Rationale Aufklärung u. sittl. Bildung müssen gleichermaßen gepflegt werden, um den Einzelnen zur Veränderung seiner Lebenslage zu befähigen. S. erkannte
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die bes. Bedeutung der körperl. Ertüchtigung sowohl für die seel. u. phys. Gesundheit als auch für die künftige berufl. Tätigkeit. Die sportl. Erziehung wurde daher durch den Lehrer Christoph Guts Muths (1759–1839) in Schnepfenthal eingerichtet u. systematisch ausgebaut. Der langfristige Erfolg der Schnepfenthaler Erziehungsanstalt zeigt sich daran, dass sie 1884 das 100-jährige Bestehen im Deutschen Kaiserreich, 1934 den 150. Jahrestag am Beginn des NS-Regimes u. schließlich 1984 die 200-Jahr-Feier in der DDR begehen konnte. Eine kleinbürgerlich geschlossene, von Ehrlichkeit u. Aufrichtigkeit, Fleiß u. Zufriedenheit, Gottesfurcht u. Tugendstreben geprägte Hausgemeinschaft war die elementare Grundlage der Erziehungspraxis in Schnepfenthal wie vorherrschende Leitidee der Schriften S.s. In ihnen vertrat S. eine religiöse Erziehung, die im Naturerlebnis Gott erfahrbar machen sollte u. damit die Seligkeit in das Diesseits verlagerte (Der Himmel auf Erden. Schnepfenthal 1797); zugleich beschrieb er, v. a. in seinem »Boten aus Thüringen« – einem zunächst wöchentlich, später monatlich 1788–1811 erscheinenden Periodikum – Erziehungs- u. Lebensprobleme der kleinen Leute u. erteilte Ratschläge für die verschiedensten Lebenssituationen. S. beklagte eindringlich das soziale Elend der unteren Gesellschaftsschichten, erwartete aber eine Verbesserung der spezifisch dt. Verhältnisse nicht von einer revolutionären Umgestaltung der Gesellschaftsstruktur, sondern von einer aufgeklärten Erziehung zu gottesfürchtigem u. sittl. Verhalten. Im »Boten aus Thüringen« lehnte S. daher ausdrücklich die revolutionären Umwälzungen in Frankreich als Vorbild für Deutschland ab (Revolutionsgespräche [...]. Ebd. 1794. Taschenbuch zur Beförderung der Vaterlandsliebe. Ebd. 1801; siehe auch König, 1961, S. 26 ff.). S. verfasste seine Schriften mit großem Einfühlungsvermögen in das Lebensgefühl der sozialen Stände u. fand eine der jeweiligen Schicht angemessene Sprache. So schildert er in seinem Roman Carl von Carlsberg oder über das menschliche Elend (6 Tle., Lpz. 1783–88. Neudr. hg. von Günter Häntzschel. Bern 1977) mit empir. Genauigkeit das so-
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ziale Elend aller Schichten u. durchleuchtet die verschiedensten Missstände bis hin zu den unbarmherzigen Schicksalen in den Zuchthäusern, den sozialen Bedingungen der Prostituierten u. dem Elend der ausgebeuteten Weber. Den Kaufleuten war Herrn Constants, Kaufmann zu Richmannshausen, curiöse Lebensgeschichte [...] (3 Bde., Lpz. 1791–93) gewidmet; für die Bauern schrieb er die Ausführliche Erzählung wie Ernst Haberfeld aus einem Bauer ein Freyherr geworden (Schnepfenthal 1805). Die größte Aufmerksamkeit aber brachte er den Kleinbauern u. Kleinbürgern entgegen: Das zeigt sich in der Fülle von Geschichten, Belehrungen u. Klugheitsregeln im »Boten aus Thüringen« oder im Roman Konrad Kiefer oder Anweisung zu einer vernünftigen Erziehung der Kinder. Ein Buch für’s Volk (2 Bde., ebd. 1798. Neudr. hg. von Theo Dietrich. Bad Heilbrunn 1961), in dem S. die Erziehungsideale des Rousseau’schen Emile auf dt. Verhältnisse übertrug. Schließlich war sein Ameisenbüchlein oder Anweisung zu einer vernünftigen Erziehung der Erzieher (Schnepfenthal 1806) in der Geschichte der Pädagogik das erste Buch, das die Erziehung der Erzieher zur Voraussetzung jegl. Erziehungsreform erklärte. S. zählt zu den pädagog. Volksschriftstellern der Spätaufklärung, die zu ihren Lebzeiten große Breitenwirkung erzielt haben, deren Werke aber durch die Vorherrschaft der klass. Literaturästhetik als Trivialliteratur der Vergessenheit anheimfielen (siehe Schillers abwertendes Urteil in: Ueber naive und sentimentalische Dichtung. Bd. 20 der Nationalausgabe, S. 479). S.s Werke sind daher lediglich in der pädagog. Geschichtsschreibung in Erinnerung geblieben. Die volkstüml. Literatur der Spätaufklärung gewinnt jedoch gegenwärtig sowohl für die sozialgeschichtl. Betrachtungsweise als auch für eine von der Einseitigkeit klass. Interpretationsmuster befreite Literaturgeschichte neue Bedeutung (vgl. Häntzschels Vorwort im Neudruck des Carl von Carlsberg). Ausgaben: Ausgew. Schr.en. Hg. Eduard Ackermann. 2 Bde., Langensalza 21897–1901. – C. G. S. Pädagog. Weisheiten. Hg. Helmut König. Bln./ DDR 1961.
190 Literatur: Bibliografie: Wolfgang Pfauch u. Reinhard Röder (Hg.): C.-G.-S.-Bibliogr. [...]. Weimar 1981. – Weitere Titel: FS zur 100jährigen Jubelfeier der Erziehungsanstalt Schnepfenthal. Schnepfenthal 1884. – Johannes Ludolf Müller: Die Erziehungsanstalt Schnepfenthal 1784–1934. FS aus Anlaß des 150jährigen Bestehens [...]. Geleitwort v. Friedrich Ausfeld. Ebd. 1934. – Ilse Breddin: Volkskunde u. Volksideal bei C. G. S. Langensalza 1937. – Gudrun Burggraf: C. G. S. im Vorfeld der Frz. Revolution. Germering 1966. – Gothaer Museumsheft. Abh.en u. Ber.e zur Regionalgesch. 1984. – 200 Jahre Salzmannschule. Sonderh.e 1 u. 2, Gotha 1984. – Die Erziehungsanstalt Schnepfenthal [...]. Symposium aus Anlaß des 200. Jahrestages der Gründung der Salzmannschule. In: Jb. für Erziehungs- u. Schulgesch. der DDR 26 (1986), S. 11–118. – Reinhard Stach: Zur S.-Rezeption in der DDR. In: Pädagog. Rundschau 41 (1987), H. 2, S. 217–223. – Roswitha Grosse: C. G. S.s ›Der Bote aus Thüringen‹ [...]. Ffm. 1989. – Reinhard Wunderlich: Neolog. Heilsgewißheit u. Romanform der Spätaufklärung. C. G. S.s Roman ›Carl von Carlsberg oder über das menschliche Elend‹ (1783–88). Würzb. 1994. – Frank Lindner: Schnepfenpfad ›Salzmanien‹. Auch eine Wegmarke an der Thüringer Klassikerstraße. In: Palmbaum 2 (1994), H. 4, S. 6–16. – Herwart Kemper u .a. (Hg.): Menschenbild u. Bildungsverständnis bei C. G. S. Weinheim 1995. – R. Stach: C. G. S.s ›Unterhaltungen für Kinder- u. Kinderfreunde‹. In: Pädagog. Rundschau 53 (1999), H. 2, S. 169–187. – Heinrich Macher: Der Aufklärungsroman als ›Gemälde‹ des menschl. Elends. C. G. S.s ›Carl von Carlsberg‹ (1783–1788). In: Schönheit, welche nach Wahrheit dürstet. Beiträge zur dt. Lit. v. der Aufklärung bis zur Gegenwart. Hg. Gerhard Kaiser u. H. Macher. Heidelb. 2003, S. 27–51. – R. Stach: Die Robinsonaden C. G. S.s. In: Von der Steinzeit bis zur Gegenwart. Historisches in der Kinder- und Jugendlit. [...]. Hg. Günter Lange u. Kurt Franz. Baltmannsweiler 2004, S. 164–182. – Leonhard Friedrich: C. G. S. In: NDB. – Wilhelm Kühlmann: Die Nachtseite der Aufklärung. Goethes ›Erlkönig‹ im Lichte der zeitgenöss. Pädagogik (C. G. S.s ›Moralisches Elementarbuch‹) [zuerst 1993]. In: Kühlmann (2006), S. 688–700. – Rainer Lachmann: C. G. S. – Schnepfenthal als Erziehungsanstalt der Aufklärung. In: Bl. für württemberg. Kirchengesch. 107 (2007), S. 89–103. Horst Krause / Karin Vorderstemann
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Sambucus, Johannes, eigentl.: János Zsámboky, * 25. oder 30.7.1531 Tyrnau/ Nagyszombat, † 13.6.1584 Wien. – Arzt, Historiker, Philologe, Dichter.
Sander zur Emblematik des 16. Jh. Utrecht 1971. – Karel Porteman: The earliest reception of the ›ars emblematica‹ in Dutch. In: The European Emblem. Hg. Bernhard F. Scholz, Michael Bath u. David Weston. Leiden u. a. 1990, S. 33–53, bes. S. 36–40. – Werner Waterschoot: Lucas d’Heere u. J. S. In: The Emblem in Renaissance and Baroque Europe. Tradition and Variety. Hg. Alison Adams u. Anthony J. Harper. Leiden u. a. 1992, S. 45–52. – István Monok, András Varga u. Péter Ötvös (Hg.): Die Bibl. S. Szeged 1992. – Othon Scholer: Ein Text hart wie ein Diamant oder ›De emblemate‹ des Joannes S. Tirnaviensis. In: Etudes Classiques 5 (1993), S. 69–209. – Imre Téglásy: A bujdosó Magyarország (J. S.). In: Régi és új peregrináció Magyarok külföldön külföldick Nagyarországon. II. Budapest/Szeged 1993, S. 273–281. – Gábor Tüskés: Imitation and Adaption in Late Humanist Emblematic Poetry: Zsámboky (S.) and Whitney. In: Emblematica 11 (2001), S. 261–292. – Arnoud S. Q. Visser: Joannes S. and the learned image: the use of the emblem in late-Renaissance humanism. Leiden/Boston 2005. Wolfgang Harms
Schon 1542 begann S. sein Philologiestudium in Wien, das er in Leipzig, Wittenberg, Ingolstadt, Straßburg u. Paris (Magister) fortsetzte u. dem er später u. a. in Padua (Lizentiat 1555) ein Medizinstudium hinzufügte. Seit 1584 war er in Wien als Arzt tätig, dort auch bald am Kaiserhof als Rat, Hofhistoriograf, Kartograf u. kaiserl. Leibarzt. Zu seinen zahlreichen Freunden zählten Joachim Camerarius d.Ä., Carolus Clusius, Fulvio Orsini u. Justus Lipsius. Sein reicher humanistischer Briefwechsel zeigt ihn mit Gelehrten vieler Disziplinen in engem Austausch (Philologie, Numismatik, Botanik, Medizin, Geschichte). S.’ bedeutende Handschriften- u. Büchersammlung wird zur Grundlage seiner zahlreichen Arbeiten, die er nur z. T. publizierte. Im Zentrum stehen seine editorischen – textkritischen wie kommentierenden – Leis- Sander, Ernst (Leo Emil), auch: Werner tungen für die Erschließung der Antike (u. a. Leist, * 16.6.1898 Braunschweig, † 1.7. Homer, Lukian, Horaz, Petronius, Plautus, 1976 Freiburg i. Br. – Lyriker, Erzähler, Diogenes Laertius, Nonnos, Dioskurides), Essayist u. Übersetzer. aber auch Editionen u. andere Arbeiten zur Nach dem Notabitur 1916 wurde der KaufGeschichte seiner ungarischen Heimat. Her- mannssohn im Ersten Weltkrieg als Fernausragende Wirkung erzielte er mit seinen melder eingezogen. Das 1919 in Braunvon Plantin verlegten Emblemata (Antwerpen schweig aufgenommene Studium der Ma1564. Erw. Aufl. 1566. Niederländ. 1566. Frz. thematik u. Physik brach S. bald ab u. stu1567. Weitere lat. Ausg.n 1569, 1576, 1584, dierte seit 1920 Germanistik, Archäologie u. 1599); durch Anspielungen u. Widmungen Musikwissenschaft in Berlin u. Rostock, wo er spiegelt sich in den Emblemen, in welchem bereits 1922 die Dissertation Johannes Schlaf Maß S. persönlich u. sachlich mit der spät- und das naturalistische Drama (Lpz. 1925) vorhumanistischen Gelehrtenwelt Europas ver- legte. Anschließend war er bis 1929 als Lektor bunden ist. des Reclam Verlags tätig u. arbeitete dann als Ausgaben: Emblemata. Antwerpen 1964. freier Schriftsteller u. als Kritiker der »HamNeudr. mit Einf. u. Bibliogr. v. August Buck. Bu- burger Nachrichten« u. des »Hamburger dapest 1982. – Emblemata. Editio altera (erste Fremdenblattes«. Nach 1933 wurde er als vollständige u. wohl letzte von S. selbst besorgte »entarteter Kunstkritiker« angegriffen u. Ausgabe). Antwerpen 1566. Mit Einl. hg. v. WolfRepressalien ausgesetzt. Im Zweiten Weltgang Harms u. Ulla-Britta Kuechen. Hildesh./New krieg wurde er wegen antifaschistischer ÄuYork 2002. ßerungen degradiert u. nach dem Attentat Literatur: Jöcher 4. – Richard Hoche: J. S. In: vom 20.7.1944 als »politisch unzuverlässig« ADB. – Hans Gerstinger: J. S. als Handschriftensammler. In: FS der Nationalbibl. in Wien. Wien aus dem Heer entlassen. 1948 siedelte er nach 1926, S. 251–400. – Ders.: Aus dem Tgb. des kai- Badenweiler u. 1960 nach Freiburg i. Br. um. S. hatte in Frankreich bei Marcel Brion, serl. Hofhistoriographen J. S. (1531–84). Wien 1965. – Ders.: Die Briefe des J. S. (Zsámboky) Robert Minder u. René Montigny schon früh 1554–84. Ebd. 1968. – Holger Homann: Studien Anerkennung gefunden. Bedeutsamer als
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sein erzählerisches u. lyr. Werk, dem er selbst kritisch gegenüberstand, ist seine Arbeit als Übersetzer zahlreicher ital., engl. u. vor allem frz. Autoren. Die Liste seiner Übertragungen umfasst weit mehr als 200 Titel; neben Walter Pater, Oscar Wilde, Barbey D’Aurevilly, Baudelaire, Diderot, Flaubert, Giono, Montherlant u. Zola ist v. a. die erste vollständige Übersetzung (zus. mit Felix Paul Greve, Hedwig Lachmann u. Irma Sander-Schauber) u. Herausgabe von Balzacs Comédie Humaine (Mchn. 1962–70) hervorzuheben. Als genauem Beobachter sprachgeschichtl. Entwicklungen waren ihm Übersetzungen stets zeitgebundene, mitunter schnell alternde Annäherungen an ein Werk, einen Autor, deren urspr. Fremdheit nicht durch eine allzu glatte Übersetzung eingeebnet werden dürfe. Weitere Werke: Die Entwurzelten. Bln. 1922 (D.). – Die Lehrjahre des Herzens. Hbg. 1931 (R.). – Die jüd. Mutter. Hbg. 1946 (E.). – Der Bücherdieb. Bln./Ffm. 1953 (E.). – Ein junger Herr aus Frankreich. Köln 1958 (R.). – Die Schwestern Napoleons. Hbg. 1959 (R.). – Das Überwundene. Freib. i. Br. 1961 (L.). – E. S. Eine Ausw. aus seinem Werk. Zum 100. Geburtstag des Braunschweiger Schriftstellers u. Übersetzers E. S. (1898–1976). Mit einer Einf. hg. v. Eberhard Rohse unter Mitarb. v. Karl-Ludwig Müller. Braunschw. 1997. Literatur: Jürgen v. Stackelberg: Weltlit. in dt. Übers. Vergleichende Analysen. Mchn. 1978, S. 184–203. – Hans-Albrecht Koch (Hg.): Sprachkunst u. Übers. Gedenkschr. E. S. Bern/Ffm./New York 1983. – Ders.: E. S. In: NDB. Frank Raepke / Jürgen Egyptien
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führenden europ. Intellektuellen (Klopstock, Goethe, Wieland, Lessing, Sophie La Roche, Daubenton, George Louis Lesage, Buffon) begegnete. Die Verbindung literar. u. naturwissenschaftlich-technolog. Kultur prägte S.s Werke. Neben eher traditionellen Erbauungsschriften (Erbauungsbuch zur Beförderung wahrer Gottseligkeit. Lpz. 1781) stehen volksaufklärerische Werke, die durch die Verbreitung naturkundl. Wissens die ökolog. Verantwortung für die Schöpfung vermitteln (Oekonomische Naturgeschichte für den deutschen Landmann und die Jugend. 3 Bde., Lpz. 1781/82). Bekannt wurde S. vor allem durch seine Reiseberichte (Beschreibung seiner Reisen durch Frankreich, die Niederlande, Holland, Deutschland und Italien. 2 Tle., Lpz. 1781/82). Hier ist der enzyklopädisch-statistische Grundzug der Gattung bereits gepaart mit einer subjektivempfindsamen Kritik, die nicht ohne Widerspruch blieb. Weitere Werke: Von der Güte u. Weisheit Gottes in der Natur. Karlsr. 1778. – Über das Grosse u. Schöne in der Natur. 4 Bde., Lpz. 1780–82. – Predigten für alle Stände. 2 Bde., Lpz. 1783. – Kleine Schr.en. 2 Bde., Lpz. 1784/85. Literatur: Hamberger/Meusel 12. – Gustav Albiez: H. S. als Naturforscher u. Naturlehrer. In: Badische Heimat 35 (1955), S. 28–33. – Hans Merkle: H. S. [...] auf Reisen. In: ebd. 57 (1977), S. 41–45. – Thomas Grosser: Reiseziel Frankreich. Opladen 1989, S. 168–171. – Siegfried Peter: Berühmte Mitglieder der Familie Sander. In: Teningen. Ein Heimatbuch. Hg. Peter Schmidt. Teningen 1990, S. 195–200. Thomas Grosser
Sander, Heinrich, * 25.11.1754 Köndringen bei Freiburg, † 5.10.1782 Köndringen Sander, Levin (Friedrich) Christian, auch: bei Freiburg. – Verfasser von Erbauungs- Christian Friedrich, Dr. Eckstein, Chrisschriften, naturwissenschaftlichen Ab- toph Bachmann, * 13.11.1756 Itzehoe, handlungen u. Reisebeschreibungen. † 29.7.1819 Kopenhagen. – Deutschdänischer Erzähler, Dramatiker u. ÜberAus einer Familie von Medizinern u. evang. setzer; Germanist. Pfarrern stammend, interessierte sich S. nach dem Besuch der Realschule in Lörrach u. des Karlsruher Gymnasiums bes. für die Naturwissenschaften. Er studierte in Tübingen Theologie u. in Göttingen zgl. Ökonomie. 1775 wurde er Professor für Naturgeschichte u. Beredsamkeit am Gymnasium in Karlsruhe. Dem ungeliebten Schuldienst entzog er sich durch mehrere Reisen, auf denen er
Der in seiner Jugend kränkelnde Sohn eines Schneiders bildete sich hauptsächlich durch Selbststudium, bis er 1774 Hauslehrer bei Martin Ehlers in Altona, dem Rektor des Christianeums, wurde. Ihm verdankt S. die Initiation in das literar. Leben der Zeit: Nach der Lektüre von Wilhelm Heinses heroisierender Tasso-Biografie (1774), Begegnungen
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mit einem »ausgewählten Kreise« um Klopstock, den Grafen Stolberg, Johann Heinrich Voß u. Matthias Claudius u. der Bekanntschaft mit den epochemachenden Dramen Julius von Tarent von Leisewitz u. Klingers Zwillingen, verfasste S. selbst eine Tragödie im Stil des ›Sturm und Drang‹. S.s Golderich und Tasso (Flensburg/Lpz. 1778 [recte 1777]) behandelt den Konflikt des Renaissancedichters Torquato Tasso u. des Herzogs Alfonso, der hier Golderich heißt. S. lässt beide Titelhelden durch Selbstmord enden u. ordnet diesen Freundschaftstod der Liebe des Dichters zu Prinzessin Leonore über. Auch wenn S. Tasso zum Kraftgenie verzeichnet, antizipiert seine »Gesinnungs-Tragödie« (Mauser) in mancher Hinsicht Goethes klassizistisches Künstlerdrama Torquato Tasso (1790). Nachdem S., gefördert von seinem Gönner Ehlers, von 1775 bis 1778 Theologie in Kiel studiert hatte, wirkte er von 1779 bis 1783 als Lehrer am Philantropinum in Dessau. Neue literar. Anregungen vermittelte ihm 1783/84 der Kreis um Johann Wilhelm Ludwig Gleim in Halberstadt, bevor er 1784 nach Kopenhagen wechselte, wo er bis 1789 als Privatlehrer bei dem Grafen Friedrich von Reventlow angestellt war. 1789 trat er in den dän. Staatsdienst ein; zunächst als Bevollmächtigter bei der Königlichen Kreditkasse, seit 1791 als Sekretär der dän. Wegekommission. Im Jahre 1800 wurde S. Professor für Pädagogik u. Rhetorik am neu gegründeten Lehrerseminar in Kopenhagen. Dort unterrichtete er auch dt. Sprache u. Literatur. 1811 wurde das Pädagogikseminar Teil der Universität Kopenhagen, als deren erster ›Germanist‹ S. gilt. Erst in jüngster Zeit ist S. als einer der bedeutendsten Vermittler dän.-dt. Dichtung u. als ein Repräsentant »transkultureller Literatur« (Blödorn) gewürdigt worden. Noch lückenhaft erforscht sind die dt. Jahre, in denen S. sich als Dramatiker u. als Erzähler zu etablieren suchte. Nach seinem dramat. Erstling u. einigen Stücken für die Dessauer Schulbühne ergänzte S. selbstbewusst ein Fragment Lessings: den »Torso« des dreiaktigen Lustspiels Der Schlaftrunk (Meldorf/Lpz. 1787, unter dem Pseudonym »Dr. Eckstein«). Als Erzähler debütierte S. mit dem dreibändigen Roman Geschichte meines Freundes, Bern-
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hard Ambrosius Rund (Hbg. 1784, unter dem Pseudonym »Christoph Bachmann«) sowie mit einer Gleim u. Wieland gewidmeten Gargantua-Bearbeitung nach Rabelais u. Johann Fischart. In seinem Gargantua und Pantagruel (3 Bde. Hbg. 1785–87, unter dem Pseudonym »Dr. Eckstein«) hat S. den frühneuzeitl. Text gründlich »ausgemistet«, nämlich von grober Drastik purgiert, u. aktualisiert: So finden sich darin aufklärerische Spitzen gegen Zeitgenossen wie Cagliostro u. Lavater. Zahlreiche Dichtungen, Lieder, Schwänke u. Fabeln veröffentlichte S. in Wielands »Teutschem Merkur«, dem Vossischen »Musenalmanach«, in Boies »Deutschem Museum« u. in der »Berlinischen Monatsschrift«. Bekannt wurde S. als Dichter des ersten dän. Historiendramas in dänischer Sprache: Sein »vaterländisches Trauerspiel« Niels Ebbesen af Nörreriis (Kopenhagen 1799. Dt. Ebbesen von Nörreriis. Ebd. 1798), das 1797 als »Geburtstagsstück« für den dän. König uraufgeführt wurde, machte S. über Nacht zum gefeierten dän. Nationaldichter. Das fünfaktige klassizistische Drama um einen dt.-dän. Konflikt des MA, das im Opfertod des Titelhelden für das Vaterland gipfelt, war S.s größter Erfolg; bis 1834 stand es regelmäßig auf dem Spielplan des Kopenhagener Königlichen Theaters. Das »Gegenstück«, das dt.dän. Mittelalterdrama Knud, Danmarks Hertug (Kopenhagen 1808. Dt. Knud Laward. In: Neue Erholungen. Hg. G. W. Becker. Bd. 10 [Lpz. 1810], S. 1–123, u. 11 [Lpz. 1811], S. 67–129), in dem die nationalen Identitäten im dt.-dän. Konflikt harmonisch relativiert werden, hatte weniger Erfolg u. wurde nach wenigen Vorstellungen abgesetzt. Neben pädagog. u. ästhetischen Schriften in dän. Sprache hat sich S. vor allem durch seine Übersetzungen zeitgenössischer dän. Dichtung ins Deutsche einen Namen als transnationaler Vermittler gemacht. Er übertrug u. a. Texte von Jens Baggesen, Knud Lyhne Rahbek, Johannes Ewald, Christen Henriksen Pram). Exemplarisch genannt seien das Singspiel Die Fischer (nach Ewalds Fiskerne. Kopenhagen 1786), die Comischen Erzählungen (Kopenhagen/Lpz. 1792) u. die Auswahl dänischer Lustspiele für Deutsche (Zürich
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1794. 21811). Überdies propagierte S. die Sander, Ulrich, * 29.3.1892 Anklam/PomAltskandinavistik in Deutschland, indem er mern, † 16.3.1972 Leversen/Kreis Hareine Auswahl altdänischer Heldenlieder und Bal- burg. – Romancier, Erzähler u. Lyriker. laden (Kopenhagen 1816) veröffentlichte. Der Sohn eines Gymnasiallehrers studierte Kulturhistorisch bedeutsam waren auch seine nach dem Abitur Germanistik (1911–1914), dt. Übertragungen wissenschaftl. Abhandbrach das Studium jedoch kurz vor dem Erslungen zur nordischen Historiografie u. Myten Weltkrieg ab, trat als Fahnenjunker in thologie. So übersetzte S. etwa Peter Erasmus den Krieg ein u. stieg später zum Leutnant u. Müllers Studien Über die Aechtheit der Asalehre Kompanieführer auf. Er gründete 1919 eine und den Werth der Snorroischen Edda (KopenhaBauernhochschule. Nach 1933 leitete er gen 1811) u. Über den Ursprung und Verfall der die Nationalpolitische Erziehungsanstalt in isländischen Historiographie (ebd. 1813) sowie Potsdam. S. lebte seit 1941 als freier Autor an Rasmus Nyerups Wörterbuch der Skandinavider Ostsee. schen Mythologie (ebd. 1816). S. ist ein Vertreter des retrospektiven ReWeitere Werke: Burkhard u. Amadine. Eine gionalromans, aber auch des von den NaHexenballade. Hbg. 1783 (anon.). – Prosaische tionalsozialisten geförderten affirmativen Dichtungen. Flensb. u.a. 1783. – Papiere des Kleeblattes oder Ecksteiniana, Brandiana u. Andresiana. Kriegsromans, der die Erfahrung des Ersten Meldorf/Lpz. 1787. – Eropolis (dän./dt.). Kopen- Weltkriegs zu einem Gemeinschaftserlebnis hagen/Lpz. 1804. – Hospitalet (dän.). Kopenhagen stilisiert, das sich im Kampf erprobt u. dem1805. – Das Hospital zum Besten der Tollen. Ebd. gegenüber die Lebensverhältnisse während 1806 [verschollen]. – [Gallerie Nord-Albingischer der Weimarer Republik als verweichlichend Dichter 2] L. C. S. [Selbstbiogr.] In: Der Freimüthige charakterisiert werden. Der Roman Pioniere 1809, Nr. 49–54. – Strena for 1819 og 1820. Ko- (Jena 1933) u. seine Vorgeschichte Jungens penhagen 1819. (ebd. 1935), dessen Dialoge teilweise in Literatur: Bibliografie in: Blödorn 2004, Plattdeutsch verfasst sind, vertreten zentrale S. 394–404. – Weitere Titel: Franz Brümmer: S. In: Aspekte der NS-Ideologie: »Härte« wird poADB. – Richard Paulli: S. In: Dansk biografisk sitiv bewertet, ein »Vorwärtskommen durch Leksikon. Bd. 12, Kopenhagen 1982, S. 608 f. – Kay Blut und Eisen« wird ausdrücklich begrüßt. Dohnke: L. C. S. In: Steinburger Jb. 27 (1983), S. 243–253. – Leif Ludwig Albertsen: Der Grenz- Lebensaufgabe des Einzelnen ist es, sich für gänger S. In: Steinburger Jb. 33 (1989), S. 287–303. sein Volk zu opfern. Diesem Geist sind auch S.s in Nord– Jean-Paul Barbe: C. L. S., adaptateur de Rabelais: Libertés d’un traducteur à la fin du XVIIIème siècle. deutschland angesiedelte Bauern- u. HeiIn: Melanges offerts à Jacques Grange. Hg. von J.-P. matromane verpflichtet, insofern sie den alle B. Nantes 1989, S. 17–26. – Wolfram Mauser: Klassengegensätze überbrückenden, gemein›Harmonie der Höllensphären‹. L. F. C. S.s Tasso- schaftl. Kampf in den Mittelpunkt stellen. Tragödie (1777). In: Torquato Tasso in Dtschld. Hg. Damit propagiert S. das Bild einer verschwoAchim Aurnhammer. Bln./New York 1995, renen Volksgemeinschaft, die bereit ist, ihS. 52–64. – L. L. Albertsen: Deutsches u. Dänisches rem Führer zu folgen. S.s Romane wurden in L. C. S.s Ideendramen. In: Cimbria literata. Wirkungen einer Literaturlandschaft. Hg. Helga durch die Wehrmachtsbücherei in hohen Bleckwenn. Flensburg 1999, S. 55–61. – Andreas Auflagen in Umlauf gebracht. Blödorn: Vom Deutschen zum Dänen: Der Literat C. L. S. in Kopenhagen um 1800. In: Dän.-dt. Doppelgänger: Transnationale u. bikulturelle Lit. zwischen Barock u. Moderne. Hg. Heinrich Detering. Gött. 2001, S. 77–94. – Ders.: Zwischen den Sprachen. Modelle transkultureller Literatur bei C. L. S. u. Adam Oehlenschläger. Gött. 2004. Achim Aurnhammer
Weitere Werke: Inge Holm. Breslau 1934 (R.). – Norddt. Menschen. Breslau 1935 (E.en). – Bauern, Fischer u. Soldaten. Bln. 1936 (E.en). – Die Frau v. Gohr. Breslau 1936 (R.). – Marie Godglück. Bln. 1937 (R.). – Brücken über Tod u. Teufel. Karlsbad 1942 (R.). – Heimat, Reich u. Welt. Potsdam 1942 (L.). – Christian Heinrich Deep. Bln. 1943 (R.). – Hollewinkel. Hbg. 1949.
Sandrart
195 Literatur: S. Gliewe: In memoriam U. S. In: Pommern 10 (1972), H. 2, S. 44 f. Helmut Blazek / Red.
Sandrart, Joachim von, d.Ä., * 12.5.1606 Frankfurt/M., † 14.10.1688 Nürnberg. – Maler, Kupferstecher, Kunstschriftsteller. Der Sohn eines aus Valenciennes nach Frankfurt geflüchteten calvinistischen Kaufmanns erhielt schon seit etwa 1615 eine Ausbildung als Kupferstecher u. a. in Nürnberg u. Prag, seit 1625 als Maler in Utrecht. Auf seinen Wanderjahren in Italien (1629–1635) mit einem längeren Aufenthalt in Rom erwarb er sich breite Kenntnis histor. u. zeitgenöss. Denkmäler u. hatte Kontakt zu führenden Künstlern u. Wissenschaftlern. Bald nach seiner Rückkehr zog S. nach Amsterdam (1637–1645), wo er als Kunstkenner, Kaufmann u. Bildnismaler Zugang zum Patriziat u. den wichtigsten Literaten hatte. Samuel Coster, Gerhard Johannes Vossius, Pieter Cornelisz. Hooft u. Caspar van Baerle (Barlaeus) versahen S.s Werke ebenso mit Versen wie Joost van den Vondel, dessen Klagegedicht auf S.s Abschied von Amsterdam auf eine enge Freundschaft schließen lässt. In Süddeutschland, wo sich S. zunächst auf Schloss Stockau, dem Erbe seines Schwiegervaters, niederließ (1645–1670), gewannen kath. Auftraggeber ihn für die Ziele der Gegenreformation, sodass er für sie trotz seiner calvinistischen Konfession monumentale Altarbilder schuf. Wegen seiner Verdienste als Maler erhielt S. 1653 den Adelstitel. Nach dem Verkauf von Stockau zog er nach Augsburg (1670–1673), wo er eine Akademie errichtete. Seit 1674 verbrachte S. seine letzten Jahre in Nürnberg. Berühmt wurde u. blieb S. durch das erste große Quellenwerk der dt. Kunsthistoriografie, L’Academia Todesca della Architectura, Scultura et Pittura: oder Teutsche Academie der edlen Bau- Bild- und Mahlerey-Künste (Nürnb./Ffm. 1675. Forts.: Der Teutschen Academie zweyter und letzter Haupt-Theil [...]. Lpz./Nürnb. 1679. Verkürzte lat. Ausg. Nürnb./Ffm. 1683). Vasari u. van Mander voraussetzend, enthält es Lebens- u. Werkbeschreibungen von Künst-
lern seit der Antike, theoret. u. prakt. Kapitel zur Malerei- u. Baukunst u. im Anhang S.s Lebenslauf. Briefe belegen, dass Sigmund von Birken an dem bald als Handbuch weit verbreiteten Werk maßgeblich mitarbeitete. Birken veranlasste auch die Aufnahme S.s (28.4.1676) als »Der Gemeinnützige« in die Fruchtbringende Gesellschaft. Ausgaben: J. v. S.s Academie der Bau-, Bild- u. Mahlerey-Künste v. 1675 [...]. Hg. u. komm. v. Alfred R. Peltzer. Mchn. 1925. Nachdr. Westmead 1971 (Textausw. aus den Ausg.n 1675, 1679 u. 1683). – L’Academia Todesca della Architectura, Scultura et Pittura [...]. In: Renaissance u. Barock. Hg. Thomas Cramer u. a. Ffm. 1995 (= Bibl. der Kunstlit., Bd. 1), S. 349–638 (Textausw.), 793–922 (Komm.). – L’Academia Todesca della Architectura [...]. Nürnb. 1675. Nachdr. Genschmar 2004. Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Jean Louis Sponsel: S.s ›Teutsche Academie‹ krit. gesichtet. (Diss. Lpz. 1887) Dresden 1896. – Josef Huggenberger: Briefe des Malers J. v. S. In: Ztschr. für bayer. Landesgesch. 2 (1929), S. 379–394. – Friedrich Bohmert: J. v. S.s ›Teutsche Academie [...]‹ 1675 u. 1679. Diss. Freib. i. Br. 1949. – Cathérine Krahmer: J. v. S. [...]. Diss. Paris 1966. – Annette Nicopoulos: Die Stellung J. v. S.s in der europ. Kunsttheorie. Diss. Kiel 1976. – Christian Klemm: J. v. S. Kunst-Werke u. Lebens-Lauf. (Diss. Basel 1978) Bln. 1986 – Karel Portemann: J. v. S., Joost van den Vondel, Caspar Barlaeus [...]. Wommelgem 1987. – Daniela Burkhardt: Die Anfänge des deutschsprachigen Künstlerportraits. Linguist. Untersuchungen zum Kunstbegriff u. zur Textgattung anhand der Werke ›Nachrichten‹ v. Johann Neudörfer aus dem 16. Jh. u. ›Teutsche Academie‹ v. J. v. S. aus dem 17. Jh. Diss. Augsb. 1993. – C. Klemm: Sigmund v. Birken u. J. v. S. Zur Entstehung der ›Teutschen Academie‹ u. zu anderen Beziehungen v. Literat u. Maler. In: ›der Franken Rom‹. Nürnbergs Blütezeit in der zweiten Hälfte des 17. Jh. Hg. John Roger Paas. Wiesb. 1995, S. 289–313. – Die dt. Akademie des 17. Jh. Fruchtbringende Gesellsch. Hg. Martin Bircher u. Klaus Conermann. Reihe II, Abt. C, Bd. 2, Tüb. 1997, S. 243–344 u. Register (mit Werk- u. Literaturverz.). – Hartmut Laufhütte: Barlaeus, Vondel, Birken. Drei poet. Reaktionen auf einem Gemäldezyklus v. J. v. S. In: FS Erich Trunz. Hg. Dietrich Jöns u. a. Neumünster 1998, S. 23–42. – Esther Meier: J. v. S.s ›Lebenslauf‹. Dichtung oder Wahrheit? In: Marburger Jb. für Kunstwiss. 31 (2004), S. 205–239. – C. Klemm: J. v. S. In: NDB. – J. v. S. (1606–1688). Ein europ. Künstler aus Frankfurt
Sandrub [...]. Red. Anna Schreurs. Ffm. 2006 (Kat.). – Michèle-Caroline Heck: Théorie et pratique de la peinture. S. et la ›Teutsche Academie‹. Paris 2006. – Michael Thimann: Gedächtnis u. Bild-Kunst. Die Ordnung des Künstlerwissens in J. v. S.s ›Teutscher Academie‹. Freib. i. Br. 2007. – J. v. S. Ein europ. Künstler u. Theoretiker zwischen Italien u. Dtschld. [...]. Hg. Sybille Ebert-Schifferer u. a. Mchn. 2009. – A. Schreurs: Vesuvausbruch von 1631, ein Spektakel auf der Weltbühne Europa. Anmerkungen zu J. v. S.s Beitr. zum Theatrum Europaeum v. Matthäus Merian. In: Welt u. Wissen auf der Bühne. Theatrum-Lit. der Frühen Neuzeit. Wolfenb. 2011 (Online-Ed.: HAB Wolfenb.), S. 297–332. Ulla Britta Kuechen / Red.
Sandrub, Lazarus ! Schnurr, Balthasar
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der Totengespräche schrieb er Minos. Sive de rebus Friderici II. apud inferos gestis (2 Tle., Lpz. 1797 u. 1799). Darin kommen u. a. Cato, Rabener, d’Alembert u. Voltaire zu Wort; histor. Ereignisse bis zur Revolution werden beurteilt. Neben lat. u. dt. Schulprogrammen mit meist popularphilosophischer oder pädagog. Thematik publizierte S. Predigten, Reden u. Vorlesungen. Weitere Werke: Hl. Reden. Nordhausen 1771. – Einige Reden für Zuhörer v. Geschmack. Halle 1788. – Ueber Verfinsterung u. Aufklärung. Libau 1791. – Moral für Preussens Krieger. Bln. 1793. Literatur: Wolf-Dieter Ostermann: C. F. S. In: Ders.: Ascherslebener Biogr. Lexikon. Aschersleben 2008, S. 56 f. Gerhard Sauder / Red.
Sangerhausen, Christoph Friedrich, Sankt Georgener Predigten ! St. Ge* 17.5.1740 Großkorbetha bei Weißenfels, orgener Predigten † 22.12.1802 Aschersleben. – Lyriker, Verfasser von Predigten u. Reden. Santifaller, Maria Christina, auch: M. Ditha, verh. S.-Sellschopp, * 30.6.1904 S. schloss sein Studium als Magister der PhiKastelruth/Südtirol, † 5.11.1978 Dortlosophie ab u. wirkte seit 1772 in Ascherslemund. – Lyrikerin, Kunsthistorikerin u. ben als Prediger u. Rektor der Stadtschule. Unternehmerin. Gleim war für ihn der größte Dichter, Friedrich II. der größte König. Er pflegte die im Gleim-Kreis u. in der Rokokoliteratur beliebten Gattungen: Epigramm, Epistel, Fabel, Romanze, die scherzhafte Erzählung u. moralische Betrachtung. Seine Briefe in Versen (2 Tle., Halberst. 1771/72) besingen die Ungebundenheit des Dichters u. die moralische Kraft der Poesie; mehrere sind an Weiße, Gleim u. Jacobi gerichtet; gelegentlich bedient sich S., nach Jacobis Vorbild, der VersProsa-Mischung. Seine Gedichte, formal korrekt, in konventioneller Manier geschrieben, ließ er u. a. im Voß’schen Musenalmanach (1779–81, 1783, 1787) u. in Gieseckes Taschenbuch für Dichter und ihre Freunde (1792) erscheinen. Gesamlete Gedichte (Lpz. 1782) u. Gedichte (postum Halle 1803) enthalten das lyr. Lebenswerk. S.s philolog. Gelehrsamkeit wurde geschätzt – er trat auch als nlat. Dichter hervor (Odae. Quedlinb. 1775); lat. Gedichte veröffentlichte er in Gottlob Nathanael Fischers Calendarium Musarum (1786). Seine FriedrichVerehrung drückt sich in zahlreichen rühmenden Erzählungen aus; in der Tradition
S., eine Südtiroler Notarstochter, Schwester des Historikers Leo u. des Erzählers u. Romanciers Pius Santifaller, belegte – nach Studien in Bologna u. Verona u. Sprachstudien in England u. Frankreich sowie journalistischer Tätigkeit in Oberitalien – ab 1932 Kunstgeschichte u. Germanistik in Wien (Dr. phil. 1939 mit Die Radierungen Giambattista Tiepolos), arbeitete daneben auch weiter als Journalistin u. war danach fünf Jahre als Kunsthistorikerin an der Universität Florenz tätig. 1944 heiratete sie den Offizier u. Transportunternehmer Hans Hemsoth u. ging in der Folge mit ihrem Mann nach Buenos Aires. Sie leitete nach seinem Tod die Firma, heiratete 1966 den Agrarfachmann Ernst August Sellschopp u. lebte mit diesem in Peru, zuletzt in Dortmund. S. veröffentlichte kunsthistor. Arbeiten, insbes. über Tiepolo u. über die Kunst Venedigs im 18. Jh., in dt., ital. u. engl. Kunstzeitschriften u. Katalogen. Ab 1928 erschienen Gedichte in Anthologien, Zeitungen u. Zeitschriften (Gedichte. Wien 1933. Erw. u. d. T. Deine Ernte sammle. Gedichte 1930–1970.
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Mit einem Nachw. von Alfred Gruber. Bozen 1978). Im Wesentlichen aus dem Erleben ihrer Südtiroler Heimat erwachsen, drückt S.s einfühlsame u. einprägsame Lyrik bei schwermütig-resignativem Grundton Naturempfinden u. Landschaftserleben aus. Farbsowie Licht-Dunkel-Effekte bestimmen weitgehend die sprachl. Bilder. Literatur: Karin Dalla Torre-Pichler: M. D. S. Diss. Innsbr. 2003. Elisabeth Lebensaft
Saphir Palmbaum 2 (1994), H. 1, S. 56–65. – Georg-Michael Schulz: Vom Bösen u. im gleichen Maße auch vom Guten. R. S.: ›Das verlorene Kind‹. In: Dennoch leben sie. Verfemte Bücher, verfolgte Autorinnen u. Autoren. Hg. Reiner Wild. Mchn. 2003, S. 343–351. – Hania Siebenpfeiffer: R. S., ›Das verlorene Kind‹ (1926). In: Meisterwerke. Deutschsprachige Autorinnen im 20. Jh. Hg. Claudia Benthien u. a. Köln u. a. 2005, S. 337–356. – Cornelia Heering: Die Kultur des Kriminellen. Literar. Diskurse zwischen 1918 u. 1933. Ernst Weiß. Mit einem Exkurs zu R. S. Münster 2009. Christoph Groffy / Red.
Sanzara, Rahel, eigentl.: Johanna Bleschke, * 9.2.1894 Jena, † 8.2.1936 Berlin; Grabstätte: ebd., Waldfriedhof Wilmers- Saphir, Moritz (Gottlieb), eigentl.: Moses S., * 8.2.1795 Lovas-Berény bei Budapest, dorf. – Romanautorin. † 5.9.1858 Baden bei Wien. – Kritiker, S., älteste Tochter eines Musikers, ging 1913 Feuilletonist, Prosaist, Dramatiker. nach Berlin u. lernte im selben Jahr den Arzt u. Schriftsteller Ernst Weiß kennen, mit dem sie bald eine lebenslange, enge Freundschaft verband. Sie ließ sich als Tänzerin u. Schauspielerin ausbilden, nahm 1918 den Namen Rahel Sanzara an u. trat in Prag, Darmstadt, Zürich u. Berlin auf. Wegen ihres jüdisch klingenden Pseudonyms erhielt sie 1933, bereits todkrank, Schreibverbot. Als Schriftellerin wurde S. vor allem mit dem Roman Das verlorene Kind (Bln. 1926. Neuaufl. Ffm. 1983. 2004) bekannt. Er handelt vom Sexualmord an der vierjährigen Tochter eines Gutsbesitzers. Die Psyche des Täters u. die sich wandelnde Haltung des Gutsbesitzers zu ihm stehen im Mittelpunkt der Darstellung. Der Roman war sofort ein Erfolg, wurde in elf Sprachen übersetzt u. erhielt höchstes Lob u. a. von Benn, Ehrenstein u. Zuckmayer. 1933 schloss S. den Roman Die glückliche Hand (Neuaufl. Ffm. 1985. Lpz. 2009) ab, der allerdings erst 1936 – S. änderte ihren Namen hierfür in Johanna S. – in einem Zürcher Exilverlag erscheinen konnte. Seelische u. gesellschaftl. Ursachen individuellen Unglücks, hier am Beispiel einer Krankenschwester, werden, wie in S.s erstem Roman, einfühlsam u. spannend dargestellt. – Ein fertiges Romanmanuskript aus dem Jahr 1931, Die Hochzeit der Armen, ist verschollen.
Literatur: Diana Orendi-Hinze: R. S. Eine Biogr. Ffm. 1981. – Meike G. Werner: R. S.: ›... eine Membrane, die Schwingungen aufnahm‹. In:
Aus einer orthodoxen jüd. Familie stammend, studierte S. 1806–1814 an der rabbin. Schule in Prag. Nach der Rückkehr in seine Heimatstadt widmete er sich journalistischer Tätigkeit. 1822–1825 war S. durch Vermittlung Bäuerles an der renommierten »Wiener Theaterzeitung« beschäftigt. Seit 1825 wirkte er als Kritiker in Berlin, wo er die »Berliner Schnellpost« (1826–29) u. den »Berliner Courier« (1827–29) wie auch 1827 den literar. Verein »Tunnel über der Spree« gründete. 1829 ging S. nach München u. gab dort den »Bazar für München und Bayern« (1830–33) sowie den »Deutschen Horizont« (1831–33) heraus; neben seiner Arbeit als HoftheaterIntendanzrat leistete er auch als Regierungsspitzel Dienste. Seine Münchner Zeit war 1830 von einem kurzen Aufenthalt in Paris unterbrochen (Kontakt zu Heine u. Börne). Alle genannten Ortswechsel S.s waren durch ehrenrührige Skandale erzwungen. 1832 konvertierte er zum Protestantismus. Zwei Jahre später kehrte er nach Wien zurück u. widmete sich weiterer Arbeit an der »Theaterzeitung«. 1837 gründete er die Zeitschrift »Der Humorist« (Wien 1837–55). S. war eine kontroverse Figur als Kritiker, da er bes. in den sozial u. politisch spannungsvollen 1840er Jahren gegen die demokratischen Tendenzen der Wiener Vorstadtbühnen u. die nicht-legitimist. Literatur sowie ihre prominenten Vertreter polemisch zu Felde zog. Ein Leipziger Aufenthalt 1843 spaltete den dor-
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tigen »Literatenverein«, da die Liberalen sich Sapidus, Johannes, eigentl.: Hans Witz, von ihm distanzierten. Mit Bauernfeld u. * 1490 Schlettstadt, † 8.6.1561 Straßburg. Nestroy trug S. in Wien offene Fehden aus. Zu – Humanist u. Poet, Schulreformer. seinen wenigen Freunden zählte Castelli. Als Der Sohn eines Zunftmeisters u. Ratsherrn Erzähler war S. seit seinen Anfängen ein Nachfolger von zwei der populärsten Autoren studierte nach dem Schulbesuch in Schlettim damaligen Wien, Jean Paul u. Börne, deren stadt in Paris bei Faber Stapulensis u. Faustus humoristischen Stil er nachbildete, ohne ihre Andrelinus (Baccalaureat 1506/1507, Magisweltanschaul. Substanz zu besitzen. S.s ter artium 1508; humanistische Studien mit Theaterstücke hatten geringen Erfolg, wäh- Beatus Rhenanus). Er wurde Hilfslehrer, nach rend seine Gedichte in der Manier Rückerts, Gebwilers Berufung nach Straßburg bald bes. die Wilden Rosen (Wien/Lpz. 1838. 31856), Rektor (1510–1525) der berühmten Schlettstädter Humanistenschule (Reform des Lagroße Popularität genossen. teinunterrichts, Einführung des GriechiWeitere Werke: Poet. Erstlinge. Pest 1821. – schen), wo er antike Dramen (Terenz, Plautus, 2 Humorist. Glasperlen. Mchn. 1831. 1833. – Ges. Schr.en. 4 Bde., Stgt. 1832. – Dumme Briefe, Bilder aber auch die griech. Tragiker) einstudieren u. Chargen, Cypressen, Lit.- u. Humoral-Briefe. ließ. Renommiertes Mitgl. der Schlettstädter Mchn. 1834. – Humorist. Damenbibl. 6 Bde., Wien Humanisten-Sodalität, kam S. in dauernde 1838–41. – Conversations-Lexikon für Geist, Witz Verbindung mit Erasmus, auf den er Gedichte u. Humor. 5 Bde., Dresden 1851 f. – Pariser Briefe schrieb (s. Ueli 2000) u. der ihm 1520 die über Leben, Kunst, Gesellsch. u. Industrie [...]. Pest Antibarbari widmete, u. Melanchthon. Da er u. a. 1856. – Schr.en. 26 Bde., Brünn 1886–88. – sich entgegen den meisten Mitgliedern des Ausgew. Werke. Hg. Guido Glück. Wien o. J. Schlettstädter Humanistenkreises für die ReLiteratur: Eduard Hitzig: Gelehrtes Berlin im formation engagierte, wurde er im Aug. 1525 Jahre 1825. Bln. 1826, S. 235. – Adolph v. Schaden: zur Resignation gezwungen, siedelte nach Gelehrtes München im Jahre 1834. Mchn. 1834, Straßburg über u. übernahm im Aug. 1528 S. 91–99. – Julius Seidlitz: Die Poesie u. die Poeten in Oesterr. im Jahre 1836. Bd. 1, Wien 1837, vorläufig die Lateinschule im PredigerklosS. 157 ff. – Valerie Haydn: S. als Theaterkritiker. ter, vermochte sich aber nur schwer in der Diss. Ebd. 1934. – Siegfried Friedländer: M. G. S. neuen Rolle zurechtzufinden. An der durch In: Literaturwiss. Jb. des Dt. Instituts der Univ. pädagog. Reformen berühmten Schule seines Budapest 6 (1940), S. 201–309. – Wiltrud Hain- Schwiegersohnes Johannes Sturm übernahm schink: Die witzige Kritik, dargestellt an dem als er 1538 eine Lehrerstelle für die oberen ihrem Begründer verschrieenen M. G. S., unter Klassen, wurde 1540 auch zum Professor für Berücksichtigung seiner Beeinflussung durch L. Poesie ernannt. Börne. Diss. Wien 1950. – Jacob Toury: M. S. u. Karl Neben seiner nicht geringen poetischen u. Beck, zwei vormärzl. Literaten Österreichs. In: Judidakt. Produktion publizierte S. gelegentden im Vormärz u. in der Revolution v. 1848. Hg. lich aktuelle Beiträge, so zur Verteidigung Walter Grab u. Julius H. Schoeps. Stgt./Bonn 1983, S. 138–156. – Peter Sprengel: M. G. S. in Berlin. des Novum Testamentum des Erasmus gegen Journalismus u. Biedermeierkultur. In: Studien zur Edward Lee (in: Epistolae eruditorum virorum. Lit. des Frührealismus. Hg. Günter Blamberger, 1520) oder die Consolatio de morte Illustriss. Manfred Engel u. Monika Ritzer. Ffm. u. a. 1991, Principis Alberti Marchionis Badensis (Straßb. S. 243–275. – Wulf Wülfing: Folgenreiche Witze. 1543). Eines seiner selbstständigsten Werke M. G. S. In: Rhetorik 12 (1993), S. 73–83. – Johann war das Schuldrama Anabion sive Lazarus rediSonnleitner: Bauernfeld – S. – Nestroy. Literar. vivus (Straßb. 1539. Köln 1541. Straßb. 1543 Streitfälle im österr. Vormärz. In: Konflikte – u. ö. Dt. Nürnb. 1557. Hg. übers. u. komm. Skandale – Dichterfehden in der österr. Lit. Hg. Wendelin Schmidt-Dengler u. a. Bln. 1995, von Wolfgang F. Michael u. Douglass Parker. S. 92–117. – Sigurd Paul Scheichl: S. – kein Wiener Bern u. a. 1991). Der Prolog dieses wichtigen Heine. In: Les écrivains juifs autrichiens (du Vor- Stückes verteidigt Positionen einer genuin märz à nos jours). Hg. Jürgen Doll. Poitiers 2000, christl. Dramenpoetik u. wendet sich gegen S. 27–41. – Andreas Brandtner: M. S. In: NDB. eine unangebrachte sklav. Nachahmung der Wolfgang Neuber Antike.
199 Weitere Werke: Elementale introductorium in nominum et verborum declinationes Graecas. Straßb. 1512 u.ö. – Epigrammata. Ebd. 1520. – Apotheosis Erasmi. In: Catalogi duo operum Des. Erasmi Rot. ab ipso conscripti. Hg. Bonifaz Amerbach. Basel 1536/37. – Sylva Epistolaris seu Barba. Ebd. 1540. – Epitaphia sive Gymnasii Argentoratensis luctus. Ebd. 1542. – Teilausg. in: L’Alsace au Siècle de la Réforme (1481–1621). Hg. Jean Lebeau u. Jean Marie Valentin. Nancy 1985, S. 325–328 (Epigramme), 362–370 (Anabion). – s. Dill (2000) unter Literatur. Literatur: Gustav Knod: J. S. In: ADB. – Joseph Lefftz: Die gelehrten Gesellsch.en im Elsaß vor 1870. Heidelb. 1931, S. 11 u. passim. – Paul Merker: Der elsäss. Humanist J. S. In: FS Franz Schultz. Hg. Hermann Gumbel. Ffm. 1938, S. 79–111. – Paul Adam: L’humanisme à Sélestat. Sélestat 21967 (dt. 1995), passim. – Miriam U. Chrisman: Bibliography of Strasbourg Imprints. New Haven 1982. – Wolfgang F. Michael: Das dt. Drama der Reformationszeit. Bern u.a. 1985, S. 240 f. u.ö. – Contemporaries. – Peter Schaeffer: J. S. im Hirtenkleid. Die Bucolicae Querelae des Eucharius Synesius. In: Annuaire – Société des amis de la Bibl. de Sélestat 42 (1992), S. 27–35. – Jean Claude Margolin: Humanism et Christianism dans l’Anabion sive Lazarus redivius de J. S. (Strasbourg 1539). In: EG 50 (1995), S. 413–433. – P. Schaeffer: J. S. In: German Writers of the Renaissance and Reformation, 1280–1580. Hg. James Hardin u. Max Reinhart. Detroit u. a. 1997, S. 253–259. – Hubert Meyer: J. S. In: NDBA, Lfg. 32 (1998), S. 3369 f. – Ueli Dill: J. S. u. die Familie Amerbach [im Anhang Briefe u. Texteditionen]. In: Aus der Werkstatt der Amerbach-Ed. Hg. U. Dill u. Beat R. Jenny. Basel 2000, S. 13–50. – Wolfram Washof: Die Bibel auf der Bühne. Exempelfiguren u. protestant. Theologie im lat. u. dt. Bibeldrama der Reformationszeit. Münster 2007, bes. S. 215–225. Heinz Holeczek / Wilhelm Kühlmann
Sapper, Agnes, geb. Brater, * 12.4.1852 München, † 19.3.1929 Würzburg. – Kinder- u. Jugendbuchautorin, Verfasserin von pädagogischen Werken. Die Tochter des liberalen Politikers u. Gründers der »Süddeutschen Zeitung«, Karl Ludwig Brater, sammelte erste pädagog. Erfahrungen als Lehrerin in einer Sonntagsschule. Sie wurden Thema ihrer ersten Erzählungen (Das erste Schuljahr. Stgt. 1894. Gretchen Reinwalds letztes Schuljahr. Ebd. 1901), zu denen sie
Sapper
ihr Mann, der Jurist Eduard Sapper, ermutigt hatte. In den folgenden Jahren veröffentlichte S. weitere Kinder- u. Jugendbücher. Ihre größten Erfolge wurden der Roman Die Familie Pfäffling (Stgt. 1907) u. seine Fortsetzung Werden und Wachsen (ebd. 1920), die sich durch realistische Alltagsbeschreibungen auszeichnen u. zgl. ein harmon., versöhnl. Bild von Ehe u. Familie entwerfen. Beide Romane beruhen in vielen Details auf der Lebensgeschichte von S.s Mutter (Frau Pauline Brater. Ebd. 1908). S.s Werk ist durch die Sensibilität für die kindl. Psyche u. für soziale Fragen (Dienstmädchenproblem, Frauengefängnis) geprägt u. besitzt einen starken pädagog. Impuls. Letztlich bleibt es aber den traditionellen Auffassungen von Familie, Rolle der Frau u. Gesellschaft verhaftet. S. verfasste auch pädagog. Schriften mit populärwissenschaftl. Ausrichtung, so Die Mutter unter ihren Kindern (Stgt. 1895). Ihre Bücher erreichten hohe Auflagen, wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt u. vereinzelt in jüngerer Zeit neu aufgelegt. Weitere Werke: Erziehen oder Werdenlassen? Stgt. 1912 (Ess.). – Ein Gruß an die Freunde meiner Bücher. Ebd. 1922. – Lili. Erzählung aus dem Leben eines mutterlosen Kindes. Ebd. 1924. Literatur: Charlotte Breyer: A. S. 1852–1929. In: Frauengestalten in Franken. Hg. Inge Meidinger-Geise. Würzb. 1985, S. 174–177. – Gudrun Wedel: ›[...] nothing more than a German Woman [...]‹. Remarks on the Biographical and Autobiographical Tradition of the Women of One Family. In: German Women in the Eighteenth and Nineteenth Centuries. Hg. Ruth-Ellen B. Joeres u. Mary J. Maynes. Bloomington/Indiana 1986, S. 305–320. – James Krüss: Die Familie Pfäffling Oder Wenn die Moral die Kunst besiegt. In: Ders.: Naivität u. Kunstverstand. Gedanken zur Kinderlit. Weinheim 2 1992, S. 194–198. – Heinrich Pleticha: A. S. Würzb. 1994. – Ingeborg Nickel: Zur Vermittlung bürgerl. Werte. Der weibl. Anteil am Kulturleben zwischen Vormärz u. Erstem Weltkrieg. In: ›Die Erlangischen Mädchen sind recht schön u. artig...‹. Ein Erlanger Frauengeschichtsbuch. Hg. Nadja Bennewitz. Cadolzburg 2002, S. 94–103. – Harald Salomon: A. S.s Wirkung in Japan. Zur Rezeption eines dt. Familienbilds in der frühen Shôwa-Zeit. In: Japonica Humboldtiana 7 (2003), S. 179–238. – Herbert Hummel: A. S. In: NDB. Peter König / Oliver Tekolf
Sapper
Sapper, Theodor, * 16.9.1905 Feldbach/ Steiermark, † 25.9.1982 Wien. – Lyriker, Herausgeber, Literaturkritiker. S., Sohn des in Graz lehrenden Naturphilosophen u. evang. Theologen Karl Sapper, wurde 1923 von seinem Vater in eine Nervenklinik gesteckt, weil er das Abitur nicht bestanden hatte. 1924 holte er die Matura nach u. studierte seit 1925 Geschichte u. Philosophie in Graz u. für ein Semester in München. S. entdeckte die expressionistische Dichtung u. befreite sich geistig vom deutschnationalen, monarchistischen Elternhaus. In dieser Zeit schloss er sich Wilhelm Thöny u. der Grazer Sezession an u. kam in persönl. Kontakt zu dem verehrten Theodor Däubler. 1929 wurde er mit einer Arbeit über Feuerbach u. Marx promoviert. Im selben Jahr besuchte er Berlin, wo er Albert Ehrenstein u. Emil Nolde begegnete. Von 1930 bis 1938 arbeitete S. für Zeitungen u. den Rundfunk u. machte ausgedehnte Reisen durch Deutschland, Spanien u. Nordafrika. In diese Zeit fiel der Beginn der freundschaftl. Beziehung zu Elias Canetti. 1938 erhielt S. Schreibverbot; während des Krieges übte er, für wehruntauglich befunden, verschiedene Gelegenheitsarbeiten aus. Zuletzt wurde er noch zum Volkssturm einberufen. Ende 1944 hatte S. geheiratet u. trat zum Katholizismus über. Er lebte 1947/48 im oberösterr. Taufkirchen a. d. Pram, von wo aus er Alfred Kubin besuchte. Seit 1948 lebte S. in Wien, schlug sich lange als Redakteur u. Korrektor durch, bis ihm Fritz Wotruba 1960 einen Lehrauftrag für Literatur an der Akademie der Bildenden Künste in Wien vermitteln konnte. Weitere freie Vortragstätigkeiten kamen hinzu. S. starb vergessen u. verarmt. S. veröffentlichte 1974 die literaturhistor. Untersuchung Alle Glocken der Erde (Wien), mit der er eine Pionierleistung zur Erschließung des Expressionismus in Österreich erbrachte. S.s eigene Dichtung verrät bis zuletzt eine deutl. Prägung durch die gemäßigte österr. Variante des Expressionismus. Sein bedeutendstes literar. Werk ist der Roman Kettenreaktion Kontra, der wohl in den Jahren 1942–1950 geschrieben, aber mehr als ein halbes Jahrhundert später erstmals gedruckt
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wurde (Hg. u. mit einem Nachw. vers. von Hartmut Zelinsky. Salzb. 2006). Zuvor gab es nur wenige Vorabdrucke einzelner Kapitel u. eine stark gekürzte Version auf zwei Hörkassetten (Ohrbuch 1994). Dieser umfangreiche Roman, der »den Opfern der Rassenverfolgung 1933–1945 gewidmet« ist, klassifiziert sich selbst im Untertitel als Assoziationsgewebe eines Verfolgten aus den Terrorjahren 1938–1945. Ein Auslöser für die Niederschrift dürfte die Hinrichtung einer Reihe mit S. befreundeter Angehöriger einer Grazer Widerstandsgruppe am 18.8.1942 gewesen sein. Protagonist ist der junge Schriftsteller Hans Pfingster, der 1943 die Alpen durchwandert, um der barbarischen Atmosphäre seiner Heimatstadt zu entfliehen. Doch selbst die Natur versagt ihre Wirkung als Antidot zur Geschichte u. löst stattdessen apokalypt. Visionen in ihm aus. In einer Stadt im Gebirge wird Pfingster Opfer eines Bombenangriffs. Die äußere Handlung ist bloß Akzidens für die Bilderflut von Pfingsters Innenleben. S. lässt aus Pfingsters zerrüttetem Bewusstsein ein assoziatives Fresko hervorgehen, das vom konkreten histor. Verbrechen bis zu kosmolog. Spekulationen reicht. S. hat in einer Selbstcharakteristik (in: protokolle. 1996. H. 2) sein Werk als »symphonische Dichtung« u. »Wort-Requiem« bezeichnet. Elias Canetti, der zu den ersten Lesern u. Bewunderern dieses Romans gehörte, verglich seine schroffe Gestaltung u. blutige Opferatmosphäre mit altmexikan. Codices. S. hat auch aus dem Spanischen, Holländischen u. Französischen, u. a. Mircea Eliades Ewige Bilder und Sinnbilder, übersetzt u. war als Herausgeber expressionistischer Autoren tätig. S.s Nachlass befindet sich im Österreichischen Literaturarchiv der ÖNB. Weitere Werke: Kornfeld. Wien 1947. Neuausg. Köln 1980 (N.). – Schmerz vor Tag. Lyr. Zyklus. Baden bei Wien 1957. – Alle Trauben u. Lilien. Gedichte der Frühzeit. Wien 1967. – Tausend Lichter – tausend Tode. Mchn. 1980 (L.). – Die Mähne des Ruhmes. In: protokolle. 1988. H. 1, S. 22–48 (autobiogr. Prosa). – Herausgaben: Theodor Däubler: Echo ohne Ende. Graz/Wien 1957. – Jakob Haringer: Der Hirt im Mond. Graz/Wien 1965.
201 Literatur: Hilde Langthaler: T. S. – zur Gesch. eines ehrl. Schriftstellers. In: Zwischenwelt 20 (2003), Nr. 2, S. 64–66. Jürgen Egyptien
Sarasin, Jacob, * 26.1.1742 Basel, † 10.9. 1802 Basel. – Fabrikant, Kulturförderer, Politiker, Literat. Nach Lehrjahren in Mülhausen, Neuenburg u. Augsburg reiste S. 1761 für längere Zeit nach Italien. Danach übernahm er zusammen mit seinem Bruder die elterl. Seidenbandfabrik in Basel, die ihn dort zu »einem der reichsten Kaufleute« machte (Wilhelm Heinse: Sämmtliche Werke. Hg. Carl Schüddekopf. Lpz. 1902–25, Bd. 10, S. 68). 1770 heiratete er Gertrud Battier, mit der er später neun Kinder hatte. Seit 1774 Mitgl. der »Helvetischen Gesellschaft« in Schinznach, war er 1794 deren Vorsteher (seine Vorsteher-Rede ist erhalten in seinem Nachlass, Staatsarchiv Basel, PA 212a, F 12). 1777 begründete er mit Isaak Iselin die noch heute sehr aktive Basler »Gesellschaft zur Beförderung des Guten und Gemeinnützigen« u. wurde 1786 deren Präsident. Wegen eines schweren Nervenleidens seiner Frau suchte S. 1781 in Straßburg Cagliostro auf. In dessen Obhut besserte sich der Gesundheitszustand von Gertrud SarasinBattier zusehends. Fortan konnte Cagliostro auf S.s Unterstützung zählen: Er ließ sich 1787/88 von S. das Schloss Rockhalt (bei Biel) mieten u. gründete in S.s Haus eine »ägyptische Loge«. In Straßburg pflegte S. engen Kontakt mit Catharina Salomé Schweighäuser u. trat Gottlieb Konrad Pfeffels Lesegesellschaft in Colmar bei. Bereits Mitgl. des Großen Rats seiner Heimatstadt, wurde S. 1793 Appellationsrichter u. 1798 Mitgl. der Nationalversammlung. Von seinen literar. Versuchen, die den Sturm und Drang kritisch reflektieren, wurden zu Lebzeiten nur die gemeinsam mit Friedrich Maximilian Klinger u. Johann Caspar Lavater auf S.s Landsitz in Pratteln verfassten ersten elf Kapitel von Plimplamplasko, der hohe Geist (Basel 1780. Neudr. hg. v. Peter Pfaff. Heidelb. 1966) veröffentlicht, einer dem Stil des 16. Jh. nachempfundenen Satire auf den ›Gottesspürhund‹ Christoph Kaufmann (»eine Handschrift aus den Zeiten
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Knipperdollings und Doctor Martin Luthers«). Plimplamplasko ironisiert die GenieÄsthetik, die den großen Einzelnen jeglicher menschl. u. göttl. Ordnung entrückt u. ihm die Kraft zubilligt, alles aus sich selbst heraus zu schaffen. Die Atmosphäre der Zusammenarbeit in Pratteln fängt ein gleichfalls von S., Klinger und Lavater gemeinsam verfasstes burleskes Hexameter-Gedicht Der Spaziergang in Pratteln ein (teilweise ediert bei Max Rieger: Klinger in der Sturm- und Drangperiode. Darmst. 1880, S. 344–346). Erhalten sind in S.s Nachlass Gedichte (PA 212a, F 14), das Lustspiel Der Hausfriede (1781, PA 212a, F 16 – F 17), diverse Aufsätze, Abhandlungen, Reden, Preisschriften u. Reiseaufzeichnungen (PA 212a, F 18 – F 23). Sie zeigen, welch starken Anteil S. an aufklärerischen Denk- u. Schreibbewegungen hatte. Seine Bedeutung liegt zum einen darin, dass sein palastartiges, hoch über dem Rhein gelegenes »Weißes Haus« in Basel eine Begegnungsstätte der Vertreter der Aufklärung sowie zeitgenöss. literar. Strömungen war (u. a. Wilhelm Heinse, Prinz Heinrich von Preußen, Johann Georg Jacobi, Johann Heinrich Jung-Stilling, Christoph Kaufmann, Jakob Michael Reinhold Lenz, Franz Christian Lerse, Merck, Johann Heinrich Pestalozzi, Johann Konrad Pfenninger, Johann Georg Schlosser, Sophie La Roche). Aufschlussreich ist hierfür S.s im Nachlass überliefertes Journal (PA 212a, F 9). Zum anderen verlieh S. durch seine Tätigkeit in den aufgeklärten Gesellschaften u. seine weitläufige Korrespondenz den pädagogischphilanthropischen, sozialen, wirtschaftlichutilitaristischen u. schweiz-nationalen Ideen der Zeit nachhaltig Ausdruck. Archivalien: Staatsarchiv Basel, PA 212a F Jacob Sarasin-Battier. Literatur: Karl Rudolf Hagenbach: J. S. u. seine Freunde. Basel 1850. – August Langmesser: J. S. Der Freund Lavaters, Lenzens, Klingers u. a. Diss. Zürich 1899. – Emil Schaub: J. S. 1742–1802. In: Gesch. der Familie Sarasin in Basel. Bd. 1, Basel 1914, S. 95–283. – Ernst Baumann: Straßburg, Basel u. Zürich in ihren geistigen u. kulturellen Beziehungen im ausgehenden 18. Jh. Beiträge u. Briefe aus dem Freundeskreis der Lavater, Pfeffel, Sarasin u. Schweighäuser (1770–1810). Ffm. 1937. – Ulrich Im Hof: Die Entstehung einer polit. Öf-
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fentlichkeit in der Schweiz. Frauenfeld 1983. – Edgar Hans Brunner: Eine Basler Schilderung der bern. Bürgerbesatzung v. 1775. In: Regio-Familienforscher Basel 5 (1992), Nr. 2, S. 20–26. – Albert M. Debrunner: Frauenzimmerbibliotheken u. Töchterschulen. Die Bemühungen Schweizer Aufklärer um die intellektuelle Bildung v. Frauen. In: Librarium 41 (1998), S. 86–96. – Silvia Flubacher: Esoter. Wissen u. soziale Strukturen: Jakob u. Gertrud S.-Battiers Korrespondenznetz. Lizentiatsschrift Univ. Basel 2009. Axel Schreiber / Andreas Urs Sommer
Sarcerius, Erasmus, * 19.4.(?)1501 Annaberg, † 28.11.1559 Magdeburg. – Lutherischer Prediger, Schulmann, Superintendent. S. besuchte die von Johannes Rhagius Aesticampianus gegründete Lateinschule in Freiberg, an der kurze Zeit auch Mosellanus wirkte, u. studierte ab dem Wintersemester 1522 Theologie in Leipzig u. Wittenberg. In Wien erwarb er 1530 den Magistergrad. Er war dann Prediger u. Lehrer in Rostock (Immatrikulation an der Universität im Sommer 1530) u. Lübeck (1531–1536), wo ihn eine enge Freundschaft mit Hermann Bonnus, dem ersten Rektor der neu gegründeten lat. Gelehrtenschule (Katharineum) u. Superintendenten (1531), verband u. er auch heiratete. 1536 folgte S. einem Ruf nach Siegen, wo er zum Superintendenten ernannt wurde (Bestallungsurkunde am 31.8.1537). 1548 fand seine Tätigkeit in Nassau mit der Einführung des in Augsburg erlassenen Interims ihr Ende; S. wurde von Graf Wilhelm entlassen. Seine weiteren Lebensstationen waren Leipzig (ab 1549 Pfarramt an St. Thomas), Eisleben (ab 1553), wo er als Generalsuperintendent im Febr. 1554 die Synode zum Lehrstreit über Georg Majors Thesen zur Bedeutung guter Werke leitete, u. schließlich 1559 Magdeburg. S. gehört zu der großen Schar luth. Geistlicher, die sich im 16. Jh. an den interkonfessionellen Polemiken beteiligten, sich um neue Bibelauslegungen u. -kommentare, katechetische Texte u. Anleitungen für Predigten bemühten u. zgl. mit didakt. Schriften über Fragen der Moral ihren Beitrag zur protestantischen »Verkirchlichung des all-
täglichen Lebens« leisteten. Typisch für das Moral- u. Gesellschaftsverständnis der neuen Prediger ist der Furor, mit dem S. verbal, aber auch bei fortgesetzten »Visitationen« gegen volkstüml. Bräuche u. Vergnügen aller Art vorging, sie als »Unzucht« u. »Gotteslästerung« denunzierte u. die Obrigkeit zu drakon. Strafen anstachelte. In Zwo Predigten (Lpz. 1551) eiferte er »wider das Teuflische, unordentliche, und vihische leben, so man in der Fastnachts zeit treibet« u. perhorreszierte so im Stil der später grassierenden Teufelbücher städt. Feste u. Vergnügungen. In seinem Beitrag zur Fülle reformatorischer Ehetraktate, Ein Buch vom heiligen Ehestande, und von Ehesachen (Lpz. 1553. Bedeutend erw. Eisleben 1556. U. d. T. Corpus iuris matrimonialis. Vom Ursprung, anfang u. herkhomen des Heyligen Ehestandts [...]. Bearb. Andreas Hondorf. Ffm. 1569), einer Kompilation aus früheren Ehebüchern, geht es in detailfreudiger Kasuistik um den Entwurf eines dogmat. Lehrgebäudes zur Ehe u. eine konsequente Verrechtlichung u. Institutionalisierung des Verfahrens in Ehestreitigkeiten, bei denen die weltl. Obrigkeit »die mutwilligen lesterer und zureisser der Ehe mit leiblichen und zeitlichen straffen zuechtigen« solle – auch dies ein Beispiel für den aggressiven u. staatsförmigen Charakter des frühneuzeitl. Protestantismus u. seine repressive Alltagsethik. Weitere Werke: Dialectica multis ac variis exemplis illustrata [...]. Marburg 1536 u. ö. – Rhetorica plena ac referta exemplis [...]. Marburg 1537 u. ö. – Catechismus [...]. Marburg 1537. – Methodus in praecipuos scripturae divinae locos [...]. Basel 1538. – Von christlichen, nötigen, u. nützen Consistorien oder Geistlichen Gerichten [...] einfeltigs bedencken [...]. Eisleben 1555. – Bekendtnis der Prediger in der Graffschafft Mansfelt [...]. Wider alle Secten, Rotten, u. falsche Leren [...]. Eisleben 1560. Ausgaben: Internet-Ed. etlicher Texte in: VD 16 digital, u. in: The Digital Library of Classic Protestant Texts (http://solomon.tcpt.alexanderstreet.com/). – Praecipui sacrae scripturae communes loci [...] in concinnam methodi formam contracti. Ffm. 1539. Internet-Ed. in: Slg. Hardenberg. – De scholasticae theologiae vanitate [...] liber, in locos communes digestus [...]. Ffm. 1541. InternetEd. in: ebd. – Form u. Weise einer Visitation, fur die
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203 Graff u. Herschafft Mansfelt [...]. Eisleben 1554. Internet-Ed. in: ebd.
genwart (Koblenz 1924). Als Lyriker u. Dramatiker war S. wenig erfolgreich.
Literatur: Bibliografien: Eskuche. – Wilhelm Risse: Bibliographia logica. Bd. 1, Hildesh. 1965, Register. – VD 16. – Weitere Titel: Johann Wigand: Leichenpredigt, bey der Begrebnis Erasmi Sarcerii [...]. Magdeb. 1560. – Wilhelm Beste: Die bedeutendsten Kanzelredner der luth. Kirche des Reformationszeitalters [...]. Lpz. 1856, S. 375–397. – H. Holstein: E. S: In: ADB. – Gustav Eskuche: E. S. als Erzieher u. Schulmann. Siegen 1901 (Programm mit Verz. der Schr.en). – Gustav Kawerau: E. S. In: RE. – Joachim Dyck: The first german treatise on homiletics: E. S.s ›Pastorale‹ and classical Rhetoric. In: Renaissance Eloquence. Hg. James J. Murphy. Berkeley u. a. 1983, S. 221–237. – Reinhard Tenberg: E. S. In: Bautz. – Repertorium deutschsprachiger Ehelehren der Frühen Neuzeit. Hg. Erika Kartschoke. Bd. I/1, Bln. 1996, Nr. 83, S. 181–185. – Christian Peters: E. S. u. die Reformation in Nassau-Dillenburg (1536–1548). In: Fides et pietas. FS Martin Brecht. Hg. ders. Münster 2003, S. 57–85. – Reformatoren im Mansfelder Land. E. S. u. Cyriakus Spangenberg. Hg. Stefan Rhein u. a. Lpz. 2006 (mit Lit.). – Anthony N. S. Lane: Justification by faith in sixteenth-century patristic anthologies. The claims that were made. In: Die Patristik in der frühen Neuzeit. Die Relektüre der Kirchenväter in den Wiss.en des 15. bis 18. Jh. Hg. Günter Frank u. a. Stgt.-Bad Cannstatt 2006, S. 169–189.
Weitere Werke: Der Eroberer. Stgt. 1912 (D.). – Wanderer u. Gefährte u. andere Novellen. Lpz. 1921. – Semiramis. Köln 1923 (D.). – Weihe des Lebens. Ein Versbuch Lpz. [1923]. – Die dt. Lit. in der Krise. In: Krisis. Ein polit. Manifest. Hg. Oscar Müller. Weimar 1932, S. 307–315. – Helden, Meister u. Schelme. Kölner Sagen. Saarlautern 1939. – Das Schwert des Cäsar. Eine Novelle aus dem röm. Köln. Köln 1941. – Die Reiterin in der Heide. Das Ledigenhaus. Ratingen 1949 (N.n).
Hans-Jürgen Bachorski † / Reimund B. Sdzuj
Sarnetzki, Dettmar (Detmar, Dethmar) Heinrich, * 26.11.1878 Bremen, † 24.8. 1961 Bremen. – Erzähler, Lyriker, Dramatiker. S. war Redakteur der »Kölner Zeitung«, lebte später in Refrath bei Bensberg. Sein Hauptwerk Die Pfeifer von Altensande (Lpz. 1921), ein sehr erfolgreicher Heimatroman, ist eine Familiengeschichte. Am Schicksal von Bruder u. Schwester entwickelt S. den Konflikt zwischen Land- u. Großstadtleben. Die entscheidende Orientierung bietet letztlich allerdings die heimatl. Umgebung, in die alle Familienmitglieder zurückkehren. S.s Schilderungen von Landschaft u. großstädt. Milieu wurden von der zeitgenöss. Kritik gelobt. Neben eigenen Gedichten gab S. Anthologien rheinländ. Dichter heraus (Das Lied vom Rhein. 2 Bde., Köln 1922), Rheinische Dichter der Ge-
Literatur: Gertrude Cepl-Kaufmann: Der Bund Rheinischer Dichter 1926–1933. Paderb. u. a. 2003, S. 97 ff. u. ö. (Register). – Literar. Nachlässe in rhein. Archiven. Ein Inventar. Bearb. v. Enno Stahl. Düsseld. 2006, S. 250–252. Christian Schwarz / Red.
Sartorius, Georg Frhr. von Waltershausen (seit 1827), * 25.8.1765 Kassel, † 24.8. 1828 Göttingen. – Historiker, Politikwissenschaftler. Nach dem Besuch des Carolinums in Kassel studierte S., Sohn eines Pastors, 1783–1788 in Göttingen, anfangs Theologie, dann Geschichte. Zunächst als Bibliothekar tätig, schlug er bald die Universitätslaufbahn ein (Vorlesungen über Politik seit 1792). Sympathien für die Französische Revolution (Parisreise 1791) erschwerten eine Zeitlang sein Vorankommen, doch konnte sich S. schließlich in Göttingen durchsetzen (o. Prof. 1802). Engere Beziehungen unterhielt er u. a. zu Benjamin Constant (während der Napoleonischen Herrschaft) u. seit 1801 zu Goethe, auf dessen Veranlassung er die weimarische Gesandtschaft zum Wiener Kongress begleitete. In tagespolit. Fragen versuchte er mit pragmat., gemäßigt konservativen Stellungnahmen vermittelnd einzugreifen (z. B. Ueber die Gefahren, welche Deutschland bedrohen, und die Mittel, ihnen mit Glück zu begegnen. Gött. 1820). Als Universitätslehrer war S. ein bedeutender Vermittler der nationalökonom. Theorien von Adam Smith. Sein histor. Hauptwerk ist die Geschichte des Hanseatischen Bundes (3 Bde., Gött. 1802–1808). Johannes von Müller nannte in einer von Goethe angeregten Besprechung diese erste moderne Geschichte der Hanse meisterhaft. Eine Be-
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arbeitung des Werks, in der S. die historiografische Wende zu einer rigorosen Quellenkritik mitvollzieht u. neben einen thematisch stark eingeschränkten Darstellungsteil einen umfangreichen Dokumentenband stellt, konnte er nicht mehr vollenden (postum hg. von Johann Martin Lappenberg: Urkundliche Geschichte des Ursprunges der deutschen Hanse. 2 Bde., Hbg. 1830. Neudr. Köln 1989. OnlineAusg. Gött. 2009). Weitere Werke: s. Goedeke 6, S. 315. Literatur: Caroline Sartorius: Zum Andenken an G. S. Gött. 1830. – Ferdinand Frensdorff: G. S. In: ADB. – Goethes Briefw. mit G. u. Caroline S. (v. 1801–1825): Mit 15 neuen Goethe-Briefen u. vielen anderen unbekannten Dokumenten aus der Goethezeit. Hg. Else v. Monroy. Weimar 1931. – Klaus Friedland: Vom sittl. Wert geschichtl. Erkenntnis: G. S.’ Werk über den Hanseat. Bund. In: Hansische Geschichtsbl. 116 (1998), S. 117–136. – Hans Kleiner: G. S., Frhr. v. W.: ein Kapitel aus der Gesch. des Schlosses Waltershausen. In: Heimat-Jb. des Landkreises Rhön-Grabfeld 23 (2001), S. 251–254. Uta Schäfer-Richter / Red.
Sassen, Hans von, * April 1885 Düben a. d. Moldau, † 1915 (?) Westfront, Frankreich. – Lyriker, Übersetzer, Altphilologe.
men / des schönen denken was der sommer gab / wir schreiten andachtsvoll auf seinem grab / in freier halde bei den buchenbäumen«, Der letzte Abendgang). Atmosphärisch dominieren Traum, Trauer, Wehmut u. Müdigkeit, motivisch Schwäne, Blässe, Hain u. Perlen. Die Gedichte zeigen S. als virtuosen Epigonen der Fin-de-Siècle-Stimmung. Nach der Promotion unterrichtete S. Altphilologie an der Universität Marburg. Er betätigte sich als Übersetzer von Aischylos, Pindar u. Sappho u. stand mit Angehörigen des George-Kreises wie Norbert von Hellingrath u. Herman Schmalenbach im Austausch über seine Übertragungen. S.s Übersetzung von Aischylos’ Sieben gegen Theben (erhalten im Hellingrath-Nachlass der Württembergischen Landesbibliothek, Stuttgart) wurde 1911 im Kreis der Beiträger des »Jahrbuchs für die geistige Bewegung« diskutiert u. fand sogar Georges Anerkennung. Bei Aufenthalten in München nahm S. mehrfach an den Jours im Hause Wolfskehl teil. Eine S. zur Last gelegte Indiskretion führte jedoch 1912 zu einer zeitweiligen Sistierung der Kontakte. Ein Habilitationsvorhaben zum Thema »Religion in der griechischen Philosophie« zerschlug sich, als S. im Frühjahr 1915 eingezogen wurde. Bis Ende November unterrichtete S. Hanna u. Karl Wolfskehl über seinen Einsatz an der frz. Westfront, dann brechen die Lebenszeugnisse ab.
S. besuchte die Elementar- u. anschließend die Gewerbeschule in Remscheid; das Abitur legte er 1905 im hess. Friedberg ab, wo er den Dichter Albert H. Rausch kennenlernte. Seit 1905 studierte S. zwei Semester Altphilologie u. Germanistik in Marburg, dann zwei SeJürgen Egyptien mester in Berlin. Zu seinen akadem. Lehrern gehörten u. a. Elster, Cohen u. Natorp (in Sassmann, Hans, * 17.12.1882 Wien, Marburg), Breysig, R. M. Meyer, Roethe, E. † 8.5.1944 Langenkampfen/Tirol. – DraSchmidt, Wilamowitz u. Wölfflin (in Berlin). matiker, Erzähler u. Journalist. 1907 kehrte S. nach Marburg zurück u. wurde 1910 bei Theodor Birt über Platons Phai- S. besuchte die Handelsschule, war kaufdros promoviert. männisch tätig u. arbeitete 1911/12 bei den In den Jahren zuvor waren bei von Holten Wiener Städtischen Gaswerken. Sein publiGedichtbände (Der letzte Abendgang. Bln. 1908. zistisches Wirken während des Ersten WeltDer Sohn der Sonne. Bln. 1909) im Privatdruck kriegs an der Zeitschrift »Die Schwelle« ist erschienen, die S. als einen Dichter von geprägt von einer engstirnigen Polemik gestrenger George’scher Observanz kenntlich gen Karl Kraus’ »Fackel«, die eine nationamachen. Beide Bände besitzen zykl. Gestalt, listisch-kriegspatriotische Geisteshaltung bebenutzen mehrere für George typische Stro- zeugt. Nach 1915 war S. Kulturreferent des phenformen u. lehnen sich in Vokabular, »Neuen Wiener Journals«. Große BühnenDuktus u. Stil v. a. an Das Jahr der Seele an erfolge erzielte er mit Der Retter (Wien 1916) (»lass uns den herbst in stiller ruh verträu- u. Feuer in der Stadt (ebd. 1921). Nach dem
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Ersten Weltkrieg bemühte sich S. intensiv um den Aufbau von Bühnen u. Wanderbühnen sowohl für Laien wie für Berufsschauspieler. Nach 1930 schrieb er erfolgreiche Filmdrehbücher, so zu Der Berg ruft oder Germain. In seiner österr. Kulturgeschichte Das Reich der Träumer (Bln. 1932) vertritt S. ein imperial romantisiertes Geschichtsbild im Gefolge der Kulturgeschichte seines Lehrers u. Freundes Egon Friedell, das in der Verklärung des Hochbarock als Vollendung des österr. Menschen seinen konservativen Gipfel erreicht. Weitere Werke: Michael Kohlhaas. Wien 1920 (D.). – Metternich. Wien 1929 (D.). – Haus Rothschild. Bln. 1930 (D.). – 1848. Bln. 1932 (D.). – Wienerisch. Humoresken. Mchn. 1935. – Der liebe Augustin. Bln. 1941. Neuaufl. Salzb. 1949 (R.). Literatur: Kurt Adel: H. S. In: ÖBL. – Hans Hübner: Gesch. im Drama. Matthäus v. Collin: Der Babenbergerzyklus (1808–1817); H. S.: Die österr. Trilogie (1929–1932). Diss. Wien 1991 (Mikrofiche). – Milan Hornácek: Das Jahr 1914 aus der Sicht der Kulturgesch. Egon Friedell, H. S. u. Friedrich Heer über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs. In: Wende, Bruch, Kontinuum. Die moderne österr. Lit. u. ihre Paradigmen des Wandels. Hg. Renata Cornejo u. a. Wien 2006, S. 273–291. Arnulf Knafl / Red.
Sastrow, Bartholomäus, * 21.8.1520 Greifswald, † 7.2.1603 Stralsund. – Verfasser einer Autobiografie. Durch die Heirat von S.s Vater gewann die Kaufmannsfamilie Anschluss an die führenden Geschlechter Greifswalds u. Stralsunds. S. ging nach Schulbesuch in Greifswald u. Stralsund auf die Universitäten Rostock (1538) u. Greifswald (1541). Das Diplom eines kaiserl. Notars eröffnete ihm 1544 eine juristische Karriere. 1546 forschte S. in Rom nach der Hinterlassenschaft seines Bruders, des Poeta laureatus Johannes Sastrow (1515–1545), u. erlebte dabei die Gefährdung eines dt. Lutheraners in der Umgebung der Kurie. 1545 wurde er Notar in der fürstl. Kanzlei Herzog Philipps I. in Wolgast, 1558 pommerischer Geschäftsträger beim Reichskammergericht in Speyer. Nach seinem Abschied 1550 praktizierte er seit 1551 als Rechtsanwalt u. Notar in Greifswald, übernahm 1555 das Stadt-
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schreiberamt in Stralsund, wurde 1562 in den Rat der Stadt gewählt u. war von 1578 bis zu seinem Tod Bürgermeister. Als 75-Jähriger begann S., seinen Kindern zu »Underricht, Lehre, Warnung, Trost, Danksagung und Gebet zum gnedigen Gott« seine Lebensbeschreibung auszuarbeiten. Sich als Exempel für das segensreiche Wirken Gottes darstellend, demonstriert er seine Glaubensbindung u. sucht seine Nachkommen auf die göttl. Autorität zu verpflichten. Die öffentlich anerkannten Muster christlichvorbildl. Lebensführung, die hier als Interpretations- u. Leseanweisung eines aufstiegsmobilen Stadtbürgers benannt sind, werden ergänzt um den Anspruch auf zeitgeschichtl. Dokumentation. Zudem gewinnt das Buch mit der Zuwendung zur städt. Bürgerschaft die für die meisten Bürgermeisterbiografien zu konstatierende Dimension der öffentl. Apologie. So demonstriert der Text, dass mit den zunehmenden Möglichkeiten individueller Lebensgestaltung in der Stadt auch die Bewusstwerdung über die eigene Geschichte an Raum gewinnt. Die drei erhaltenen Teile des Werks führen bis 1555. Der vierte Teil über die Jahre in Stralsund wurde, falls er zustande kam, vielleicht mit Rücksicht auf den Rat der Stadt Stralsund von der Familie S.s unterdrückt. Ausgaben: Bartholomäi Sastrowen Herkommen, Geburt u. Lauff seines gantzen Lebens [...]. Hg. u. erl. v. G. Chr. F. Mohnike. 3 Tle., Greifsw. 1823/24. – Ein dt. Bürger des 16. Jh. Hg. Horst Kohl. Lpz. o. J. [1912]. – B. S., Lauf meines Lebens. Hg. u. bearb. v. Christfried Coler. Bln. 1956. Literatur: Th. Pyl: B. S. In: ADB. – F. Kuntze: B. S. In: Die Grenzboten 63 (1904), S. 16–25, 84–94, 137–147. – Rudolf Stammler: Des Nikolaus S. Rechtssprache. 1524–88. In: Dt. Rechtsleben im Alten Reich. Charlottenburg 1928, S. 69–80. – Johannes Schildhauer: Soziale, polit. u. religiöse Auseinandersetzungen in den Hansestädten Stralsund, Rostock u. Wismar im ersten Drittel des 16. Jh. Weimar 1959. – Ingrid Schiewek: Zur Manifestation des Individuellen in den frühen dt. Selbstdarstellungen. Eine Studie zum Autobiographen B. S. In: WB 89 (1967), S. 885–915. – Ursula Brosthaus: Bürgerleben im 16. Jh. Die Autobiogr. des Stralsunder Bürgermeisters B. S. als kulturgeschichtl. Quelle. Köln/Wien 1972. – Stephan Pastenacci: Erzählform u. Persönlichkeitsdarstellung
Satori in deutschsprachigen Autobiogr.n des 16. Jh. Ein Beitr. zur histor. Psychologie. Trier 1993, S. 27–48. – Horst Langer: B. S.s Selbstdarstellung. Zu Strukturen autobiogr. Schreibens im 16. Jh. In. Pommern in der Frühen Neuzeit. Hg. Wilhelm Kühlmann u. H. Langer. Tüb. 1994, S. 187–197. – Karl-Reinhart Trauner: Identität in der frühen Neuzeit. Die Autobiogr. des B. S. Münster 2004. Horst Wenzel / Red.
Satori, Johanne, eigentl.: Johanne Neumann, geb. Hippe, * 29.9.1786 bei Mannheim, † 31.5.1863 Elbing. – Erzählerin, Dichterin. Die Abstammung S.s ist unklar, da wichtige Dokumente nicht mehr erhalten sind. Getauft wurde S. in der Mannheimer Jesuitenkirche als Kind von Anna Maria Eckin u. dem Posthalter Christopherus Hippe (Hiepe). Dessen Familie ist in Mannheim allerdings nicht nachweisbar. Vermutlich war S. eine natürl. Tochter des späteren bayerischen Königs Maximilian I. (Joseph), mit dem S.s Mutter offenbar ein Verhältnis hatte. Nach dem Tod Hippes zog die Mutter nach Wien u. überließ die Erziehung der Tochter ihrem Schwager, dem Hofgerichtsadvokaten Friedrich Ledenbauer. 1803 ging S. zu ihrer Mutter nach Wien, die dort mittlerweile mit dem Intendanten beim Privattheater des Fürsten von Liechtenstein verheiratet war. Im Haus ihres Stiefvaters lernte S. Schauspieler u. Dichter kennen, die auf ihre literar. Ambitionen aufmerksam wurden. Namentlich Heinrich Joseph von Collin förderte das junge Talent. Die ersten ihrer über hundert Bücher veröffentlichte S. allerdings erst als Leiterin der von ihr in Elbing gegründeten höheren Mädchenschule (Sämmtliche Schriften. 3 Bde., Lpz. 1824–26. Die Großmama. Eine Sammlung von Mährchen für die Jugend. Lpz. 1826. Fortgesetzt u. d. T. Mährchen und moralische Erzählungen für die Jugend beiderlei Geschlechts. Elbing 1831). In die (alt-)preuß. Heimatstadt ihres Mannes, des aus großbürgerl. Verhältnissen stammenden Kaufmannes Philipp Samuel Neumann, war S. nach der Hochzeit (1805) übergesiedelt. Seit 1826 erhielt die von S. zur Verbesserung der Sittlichkeit u. Bildung höherer Töchter gegründete Schule, der 1839
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auch ein Pensionat angeschlossen wurde, dauerhafte u. hohe finanzielle Zuwendungen von der preuß. Kronprinzessin Elisabeth, einer Tochter Maximilians I. (Joseph) von Bayern. Seit dem Konkurs ihres Mannes (1818/ 1821?) sorgte S. für den Unterhalt der Familie. In den 1830er u. 1840er Jahren publizierte sie neben ihrer pädagog. Arbeit dutzende histor. Romane in der Tradition Walter Scotts, in denen die erzählte faktische Geschichte durch erfundene Liebes- u. Abenteuergeschichten bereichert wird (Seraphine oder Der Uebel größtes ist die Schuld. Eine Erzählung aus dem siebzehnten Jahrhundert. Lpz. 1830. Blanca von Castilien oder Das Opfer der Politik. Eine historische Erzählung. 2 Bde., Lpz. 1831. Die Brüder. Eine historische Erzählung aus den Zeiten der schottischen Königin Maria. Lpz. 1839. Johann Casimir von Polen. Historischer Roman. 3 Bde., Danzig 1839. Armand, Marquis von Autremont. Eine romantisch-historische Erzählung aus den höchsten Kreisen der Gesellschaft Frankreichs und Englands. 3 Bde., Braunschw. 1844. Licht und Schatten. Ein historischer Roman aus den Zeiten Peters des Großen von Rußland. 3 Bde., Nordhausen 1847). Besonderes Ansehen bei der preuß. Kulturelite genoss S. aufgrund ihrer Erzählungen u. Romane zur preuß. Geschichte, in denen der preuß. Nationalmythos verherrlicht wurde (Preussens Vorzeit. Eine Sammlung von historischen Erzählungen für die reifere Jugend beiderlei Geschlechts. Bln. 1836). Auf Vermittlung des preuß. Oberpräsidenten Heinrich Theodor von Schön wurde S. auch vom Kronprinzenpaar während einer Reise 1834 in Schloss Marienburg empfangen. Das ehemalige Stammschloss der Deutschordensritter u. deren – von der preuß. Geschichtsschreibung im 19. Jh. positiv umgedeuteten – Niederlage 1410 gegen die Polen in der Schlacht bei Tannenberg hat S. – neben Eichendorff, Wichert u. Hauff – mehrfach literarisiert (Die Belagerung von Marienburg. Eine historische Erzählung. In: J. S.: Novellenkranz. 4 Bde., Lpz. 1835–37, hier Bd. 4. Das Schloß in Marienburg. Historischer Roman aus der Mitte des XIV. Jahrhunderts. Grimma/Lpz. 1852). Nach dem Tod ihres Mannes 1836 gründete S. eine Leih- u. Lesebibliothek, die sie
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neben der Unterstützung durch die preuß. Königin finanziell absicherte. Aufgrund von Meinungsverschiedenheiten mit der Stadtverwaltung wurde die Töchterschule 1852 von S. geschlossen, das Pensionat hingegen von der Tochter S.s weitergeführt. Weitere Werke: Pulawsky u. Kosinsky, oder böse Mittel entweihen gute Zwecke. Eine histor. Erzählung aus der poln. Revolution. 2 Bde., Lpz. 1827. – Kain oder Wenzel u. Boleslaw, Prinzen v. Böhmen. Eine histor. Erzählung. Lpz. 1836. – Lohn des Fleißes. Eine Sammlung v. Mährchen u. Erzählungen moral. Inhalts für die Jugend beiderlei Geschlechtes v. zehn bis vierzehn Jahren. Lpz. 1837. – Bleibe im Lande u. nähre dich redlich! Eine Robinsonade für die reifere Jugend. Lpz. 1841. – Hof-Intriguen. Ein histor. Roman aus der Zeit Catharina v. Medicis. 2 Bde., Danzig 1843. Literatur: Bruno Th. Satori-Neumann: J. S.Neumann. Ein Elbinger Frauenleben aus der ersten Hälfte des neunzehnten Jh. In: Elbinger Jb. 15 (1938), S. 227–254. Bernhard Walcher
Sattler
berg erschienene u. mehrfach aufgelegte (21775. 31786) Roman Friederike oder die Husarenbeute gewesen sein. S. wollte einen dt. Originalroman nach dem Vorbild von Hermes’ Sophiens Reise für den fränk. Raum schreiben (s. Vorreden. Repr.: Weber). Doch gelang ihm in dieser v. a. Gemütsbewegungen schildernden Liebesgeschichte in Briefen nicht, die nach dem heliodorschen Grundmuster strukturierte Handlung in den Charakteren zu motivieren. Weitere Werke: Wochenblatt für rechtschaffene Eltern. Nürnb. 1772. – Morgenstunden eines Einsiedlers. Ebd. 1799. Literatur: Will/Nopitsch 8. – Texte zur Romantheorie II (1732–1780). Mit Anmerkungen, Nachw. u. Bibliogr. v. Ernst Weber. Mchn. 1981, S. 333–353, 592 f. Ernst Weber
Sattler, Johann (Hans) Rudolph, gen. Weissenburger, getauft 30.6.1577 Basel, † 5.7.1628 Basel. – Verfasser von StandesSattler, Johann Paul, * 1.1.1747 Nürnberg, u. Titelrhetoriken. † 14.10.1804 Nürnberg. – Pädagoge, Pu- S. stammte aus einer angesehenen Baseler blizist, Romanautor. Familie. 1606 wurde er Gerichtsschreiber der Der Sohn eines Bortenmachers studierte zwischen 1765 u. 1769 Philologie u. Philosophie in Altdorf. Nach mehrjähriger Tätigkeit als Hauslehrer wurde er 1774 zum Konrektor, 1787 zum Professor am EgidienGymnasium in Nürnberg ernannt, jedoch aus Gesundheitsgründen am 3.11.1803 pensioniert. Als Redakteur der »Politischen Nürnberger Reichs-Oberpostamts-Zeitung« (1778–1803) u. Mitherausgeber der »Nürnberger gelehrten Zeitung« (1777–1800), als Übersetzer (Des Phaedrus Aesopische Fabeln. Nürnb. 1798), Verfasser von Gedichten, Beiträger zu Wochenschriften (»Wochenblatt ohne Titel«. Nürnb. 1770. »Der Kranke«. Ebd. 1775/76) u. Herausgeber (Neue Sammlung wahrer und merckwürdiger Schicksale reisender Personen als Denkmahle der göttlichen Vorsehung. Erlangen 1784/85) war S. vielseitig literarisch tätig. S.s neben den pädagog. Schriften (Briefe eines Lehrers an seine jungen Freunde. Nürnb. 1779/80. Beobachtungen und Erfahrungen eines vieljährigen Schullehrers. Ebd. 1800) wohl erfolgreichstes Buch dürfte der 1774 in Nürn-
Stadt, 1621 – wie zuvor sein Vater – Ratsherr. Seit 1607 war er mit Maria Gumann verheiratet. Seine häufig aufgelegten Schriften stehen im Zusammenhang mit seiner Kanzleitätigkeit: Sie bieten detaillierte, durch Musterbeispiele gestützte Anleitungen zum richtigen, d.h. der Gelegenheit u. dem Stand des Adressaten angemessenen schriftl. u. mündl. Verkehr. Erfolg hatte S. angesichts fehlender Normen für die dt. Schriftsprache auch mit einer Teutschen Orthographey und Phraseologey (Basel 1607. 31617. Nachdr. Hildesh. 1975. 5 1658.), welche die Praxis der Kanzleien zu vermitteln suchte. Weitere Werke: Teutsche Rhetorick u. Epistelbüchlein [...]. Basel 1604. 61643. – Außführl. Beschreibung, deß fürtrefflichen Gesellenschiessens [...]. Basel 1605. – Werbungsbüchlein darinnen zu finden ein underricht für den Redner [...]. Basel 1606. 61633. – Thesaurus notariorum, das ist: ein new vollkommen Notariat u. Formularbuch [...]. Basel 1605. 21607. Internet-Ed.: SUB Gött. 6 1636. – De epistolis germanice conscribendis, libri III. Von anstell: u. verfassung teutscher Episteln, Sendbrieffen, u. Missiven, drey Theil. Basel 51618. 1624. 61643. – Instructio oratoris [...]. Ffm. 1618.
Sattler Literatur: Bibliografien: William Jervis Jones: German lexicography in the european context. A descriptive bibliography [...]. Bln. u. a. 2000, Nr. 973–977. – VD 17. – Weitere Titel: Max Hermann Jellinek: Gesch. der nhd. Grammatik [...]. Bd. 1, Heidelb. 1913, S. 46 f. – Reinhard M. G. Nickisch: Die Stilprinzipien in den dt. Briefstellern des 17. u. 18. Jh. Gött. 1969, S. 49–56, 260–263. – Volker Sinemus: Poetik u. Rhetorik im frühmodernen dt. Staat [...]. Gött. 1978, Register. – Erich Trunz: Johann Matthäus Meyfart. Mchn. 1987, S. 196 f., 400. – Georg Braungart: Hofberedsamkeit [...]. Tüb. 1988, S. 50–66, Register. – Wolfgang Neuber: ›Jch habe mich fast in keiner Sache so sehr bemühet, als in den Episteln‹. Christian Weises Brieftheorie u. die Tradition. In: Strukturen der dt. Frühaufklärung 1680–1720. Hg. Hans Erich Bödeker. Gött. 2008, S. 225–246. Volker Meid / Red.
Sattler, Michael, * um 1490 Staufen/ Breisgau, † 20.5.1527 Rottenburg. – Täufer; Liederdichter. Neben Georg Blaurock (um 1492–1529), Georg Wagner († 1527), Balthasar Hubmaier (1480?–1528), Ludwig Hätzer (um 1500–1529) u. Felix Manz (um 1498–1527) gehört S. zu den führenden Geistern der süddt.-schweizerischen Täuferbewegung, die für ihren Glauben hingerichtet wurden. S., Mönch (ca. 1510) u. später Prior im Benediktinerkloster St. Peter bei Freiburg i. Br., wurde nach dem Beginn der Reformation zu einem der wichtigsten Täuferführer. 1526 maßgeblich an der Gründung einer Täufergemeinde in Straßburg beteiligt, leitete er, seit dem Frühjahr in Zürich tätig, am 24.2.1527 die Täuferversammlung in Schleitheim, auf der erstmals ein täuferisches Bekenntnis formuliert wurde, dessen sieben Artikel (›Brüderliche Vereinigung‹, auch ›Schleitheimer Artikel‹ oder ›Sieben Artikel von Schlaten‹) auf S. zurückgehen. Bald darauf wurde er mit anderen Täufern in Rottenburg verhaftet, »mit glüenden Zangen gerissen, die Zung abgeschnitten, darnach verbrendt«, seine Frau Margaretha zwei Tage später im Neckar ertränkt. Mehrere zeitgenöss. Schriften beschreiben seinen Tod. Die Straßburger Reformatoren, insbes. Capito, verwarfen S.s Lehren nie gänzlich u. ver-
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suchten, seine Anhänger für ihre Richtung zu gewinnen. S. verbreitete seine Überzeugung in mehreren Druckschriften; wahrscheinlich geht Wie die Gschrifft verstendigklich soll unterschiden, und erklärt werden (o. O. u. J. [Augsb. 1545]. Internet-Ed.: VD 16 digital), sicher Ein Sendtbrieff M. Sattlers an eyn Gemein Christi (o. O. 1527) auf ihn zurück. Breitere Nachwirkung auch über täuferische Kreise hinaus fand S.s zwölfstrophiges Lied Als Christus mit seiner waren Leer (Wackernagel 3, Nr. 405), das zuerst in einem Liederbuch der Böhmischen Brüder (Jungbunzlau 1531), dann im Außbund etlicher schöner christlicher Geseng (1583) erschien. Auch ein im Angesicht des Todes verfasstes u. nur auf niederländisch erhaltenes Lied mit der Anfangsstrophe »Als man schreef vijftien hondert Ende seventwintich jaer« wird S. zugeschrieben (Mennonitisches Gesangbuch: Het Offer des Heeren. 1570). Ausgaben: Brüderliche vereynigung etzlicher kinder Gottes, siben Artickel betreffend. Jtem, Eyn sendtbrieff Michel satlerß [...]. Worms 1527. Internet-Ed.: VD 16 digital. – Beatrice Jenny: Das Schleitheimer Täuferbekenntnis 1527. In: Schaffhauser Beiträge zur vaterländ. Gesch. 28 (1951), S. 5–81 (auch Sonderdr. Thayngen 1951). – Brüderliche Vereinigung [...]. In: Der linke Flügel der Reformation. Glaubenszeugnisse der Täufer [...]. Hg. Heinold Fast. Bremen 1962, S. 58–71. – Artikel u. Handlung (1527). In: ebd., S. 71–77. – Brüderliche Vereinigung. In: Quellen zur Gesch. der Täufer in der Schweiz. Bd. 2: Ostschweiz. Hg. H. Fast. Zürich 1973, Nr. 26, S. 26–36 (krit. Ed.). – Das Schleitheimer Bekenntnis 1527. Einl., Faks., Übers. u. Komm. Hg. Urs B. Leu u. Christian Scheidegger. Zug 2004. Literatur: Bibliografien: Robert Friedmann: Die Schr.en der Huterischen Täufergemeinschaften. Gesamtkat. [...] 1529–1667. Wien 1965, S. 135. – Schmidt, Quellenlexikon, Bd. 27, S. 58 f. – VD 16. – Weitere Titel: Ludwig Keller: M. S. In: ADB. – Friedrich Spitta: M. S. als Dichter. In: ZKG 35 (1914), S. 393–402. – Gustav Bossert u. Gerhard Hein: M. S. In: Mennonit. Lexikon 4 (1967), S. 29–38. – The Legacy of M. S. Hg. John Howard Yoder. Scottdale, Pa. 1973. – C. Arnold Snyder: The life and thought of M. S. Scottdale, Pa. 1984. 32002. – Dennis D. Martin: Monks, mendicants, and anabaptists. M. S. and the Benedictines reconsidered. In: The Mennonite Quarterly Review 60 (1986), S. 139–164. – Klaus Deppermann: M. S. Radikaler
Saubert
209 Reformator, Pazifist, Märtyrer. In: Mennonit. Geschichtsblätter 47/48 (1990/91), S. 8–23. – Sean F. Winter: M. S. and the Schleitheim Articles. A study in the background to the first anabaptist confession of faith. In: Baptist Quarterly 34 (1991), S. 52–66. – Elisabeth Schröder-Kappus u. Wolfgang Wagner: M. S., ein Märtyrer in Rottenburg (1490–1527). Tüb. 1998. – Hans O. Mühleisen: M. S. (ca. 1490–1527), Benediktiner, Humanist, Täufer. In: Edith-Stein-Jahrb. 4 (1998), S. 225–242. – C. A. Snyder: M. S. In: TRE. – Hans-Georg Tanneberger: Die Vorstellungen der Täufer v. der Rechtfertigung des Menschen. Stgt. 1999, Register. – H.-O. Mühleisen: Vom Benediktiner zum Täufer. M. S. Ein fast vergessenes Schicksal der oberrhein. Kirchengesch. zur Zeit der Reformation. In: Freiburger DiözesanArchiv 120 (2000), S. 141–156. – Diether Götz Lichdi: Die Mennoniten in Gesch. u. Gegenwart [...]. 2., erw. Aufl. Großburgwedel 2004, Register. – H. O. Mühleisen: M. S. [...]. In: Mennonit. Geschichtsblätter 61 (2004), S. 31–48. – Hans-Jürgen Goertz: M. S. In: NDB. Ingeborg Dorchenas / Red.
Saubert, Johann, d.Ä., * 26.2.1592 Altdorf, † 2.11.1646 Nürnberg. – Evangelischer Theologe, Prediger, Emblematiker. Der Zimmermannssohn S. wurde nach dem frühen Tod des Vaters Müllerbursche. Der Theologe Jacob Schopper ermöglichte ihm den Besuch des Gymnasiums u. der Universität in Altdorf (1611 Magister u. Poeta laureatus). Nach einer Hofmeisterstelle in Tübingen u. Studien bei Johann Gerhard in Jena kam er 1617 nach Altdorf zurück, wo er als Katechet, seit 1618 als Diakon u. Professor der Theologie wirkte. 1622 übernahm er das Amt des Diakons an St. Egidien in Nürnberg u. trat mit Schriften zu Luther hervor. 1637 wurde er erster Prediger an St. Sebald u. Stadtbibliothekar. S. stand im Zentrum der luth. Reformorthodoxie. Er führte einen reichen Briefwechsel u. a. mit Gerhard, Meyfart, Aegidius Hunnius, Andreae u. den Herzögen August von Braunschweig-Wolfenbüttel, Ernst von Sachsen-Gotha u. Georg von Hessen u. setzte sich für die niederösterr. Exulanten u. für karitative Aufgaben ein. Nach langen Auseinandersetzungen gelang ihm 1646 gegen kryptokalvinistische Tendenzen die Festle-
gung des Rats auf die Libri normales unter Auslassung philippistischer Stellen. S. hinterließ, obwohl er zeitlebens kränklich war, ein reiches literar. Werk. 1631 widmete er Johann Georg von Sachsen eine Beschreibung der Übergabe der Confessio Augustana an Kaiser Karl V. mit 47 Kupferstichen (Miracula Augustanae Confessionis). Er befasste sich mit den Ideen Georg Cassanders, dessen Gedanken über das Abendmahl er übersetzte (Cassander evangelicus. Nürnb. 1632). Sein Psychopharmacum pro Evangelicis & Pontificis (ebd. 1636) war an Gläubige beider Konfessionen gerichtet. 1642 – nach dem Separatfrieden in Braunschweig-Wolfenbüttel – versuchte er Die Frage / Warumb Teutschland noch nicht geheilet worden? mit Vorschlägen für einen Ausgleich zwischen den Konfessionen zu beantworten. Aus irenischer Grundhaltung verteidigte S. 1646 auch zwei Streitschriften Christian Hoburgs. S.s eigentl. Wirkungsfeld war die Predigt. Er befasste sich in zahlreichen, auch gedruckten Predigten in Anknüpfung an Arndt u. Gerhard v. a. mit der Passion, mit den Bußpsalmen u. dem Exilium um Christi willen. 1640/41 widmete er dem Frieden mehrere Predigten: Media pacis inter deum et homines (Nürnb. 1640), Desiderium pacis novantiquum (ebd. 1640), Spes pacis iterata (ebd. 1641). Dem Bemühen um ein gelebtes Christentum dienten Lieder u. katechetische Schriften, sein Zuchtbüchlein Der Evangelischen Kirchen (ebd. 1636), sein Buß- und Gebetsspiegel (ebd. 1639), die Cyclopaedia Christiana (ebd. 1643) u. sein Lesebüchlein auß heiliger Schrifft (ebd. 1629), in dem er bibl. Geschichten für Kinder nacherzählte. Bahnbrechend für die dt. Frömmigkeitsgeschichte waren die emblemat., für die private Andacht verfassten Werke S.s, durch die er in Anknüpfung an jesuitische Erbauungsbücher u. gegründet auf Gal 3,1 »Christus Jesus ist euch für die Augen gemahlet« einen über die Sinne vermittelten Zugang zum Glauben ermöglichen wollte (Emblematum sacrorum. 4 Tle., ebd. 1625–30. Icones precantium. Ebd. 1638). Eine Sammlung emblemat. Predigten aus den 1640er Jahren, die Gemähl-Postill, konnte erst 1658 von seiner Witwe u. seinem Sohn Johann Saubert d.J. herausgegeben werden.
Sauer
Die gelehrten Arbeiten S.s wurden – bis auf den Prodromus Philologiae von 1620 u. seine Historia bibliothecae reipublicae Noribergensis mit dem ersten Inkunabelkatalog der Welt (Nürnb. 1643) – erst postum gedruckt. Von großer Wirkung war S.s Ausgabe der Lutherbibel mit Kapiteleinteilung u. Summarien, die zwischen 1629 u. 1788 mindestens 15 Auflagen erlebte. Weitere Werke: Variae lectiones textus Graeci Evangelii S. Matthaei. Helmstedt 1672. – Palaestra theologica-philologica. Altdorf 1678. – Opera postuma. Hg. J. Fabricius. Ebd. 1694. – Herausgeber: Epitome Examinis Philippi Melanchthonis. Appendix. Nürnb. 1639 u. 1645. 41754. – Epistolarum Philippi Melanchthonis Liber quartus. Ebd. 1639. 1646. – (Hss. in der Nürnberger Stadtbibl.). Literatur: Joh. Sauberti Umbra a Joh. Val. Andreae. Stgt. 1647. – Wagenmann: J. S. In: ADB. – Karl Braun: Der Nürnberger Prediger J. S. [...]. In: Ztschr. für bayr. Kirchengesch. 6 (1931), S. 1–24, 74–83, 145–163. – Otmar Brombierstäudl: Der Hauptprediger J. S. d.Ä. [...]. In: Mitt.en des Vereins für Gesch. der Stadt Nürnberg 44 (1953), S. 371–425. – Richard van Dülmen: Sozietätsbildungen in Nürnberg im 17. Jh. In: FS Karl Bosl. Mchn. 1969, S. 150–190. – Waltraud Timmermann: Die illustrierten Flugbl. des Nürnberger Predigers J. S. In: Bayer. Jb. für Volkskunde (1983/ 84), S. 117–135. – Wolfgang Sommer: J. S.s Eintreten für Johann Arndt. In: Ders.: Politik, Theologie u. Frömmigkeit im Luthertum der Frühen Neuzeit. Gött. 1999, S. 237–262. – Dietrich Blaufuß: J. S. In: NDB. – Flood, Poets Laureate, Bd. 4, S. 1805–1808. Renate Jürgensen / Red.
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che bestimmt, die in traditioneller Form Naturerleben u. das poetische »Schatzkästlein« Prag thematisiert. Der Salon des Ehepaars Sauer spielte eine führende Rolle im literarisch-akadem. Leben Prags zur Jahrhundertwende. Zu den Gästen zählten Bertha von Suttner u. Rilke, den August Sauer seit Beginn seiner Lehrtätigkeit gefördert hatte u. der mit S. korrespondierte. S. schrieb auch Feuilletons u. Kritiken in der »Bohemia«, der »Deutschen Arbeit« u. im »Witiko«. 1925 erschien eine schmale Novelle über Goethes Altersliebe Ulrike von Levetzow (Goethe und Ulrike. Reichenberg 1925). Als ihr Mann 1926 starb, kehrte S. zum verwitweten Vater zurück. Ihre Werke wurden nach Kriegsende nicht wieder aufgelegt, der Nachlass gilt als verschollen. Weitere Werke: Gedichte. Prag 1895. – Ins Land der Liebe. Prag 1900. – Bei den gefangenen Tieren. Zürich/Lpz./Wien 1920. – Bibl. Balladen. Reichenberg 1923. – An himml. Ort. Ebd. 1926. Literatur: Alois Hofmann: Begegnungen mit Zeitgenossen. (H. S.s Erinnerungen an R. M. Rilke). In: philologica pragensia 9 (48) (1966), S. 292–304. – Elisabeth Buxbaum: H. S. begegnet in Prag Rainer Maria Rilke. In: Lit. in Bayern 39 (1995), S. 65–68. – Eva Vondálová: H. S. u. Rainer Maria Rilke. In: Brünner Beiträge zur Germanistik u. Nordistik 18 (2004), S. 281–286. Herbert Ohrlinger / Red.
Sauerwein, Johann Wilhelm, auch: Philipp Dietrich Wittlich, * 9.5.1803 Frankfurt/M., † 31.3. oder 1.4.1847 Frankfurt/ Sauer, Hedda, auch: H. Heddin, * 24.9. M. – Verfasser von politischer Lyrik u. 1875 Prag, † 21.3.1953 Prag; Grabstätte: Prosa sowie Frankfurter Lokalpossen; ebd., Friedhof Malvazinky. – Lyrikerin, Zeitschriftenherausgeber, Übersetzer. Erzählerin, Übersetzerin. S. war die älteste Tochter des Prager Ordinarius für Klass. Philologie Alois Rzach u. der Hedwig Polak, einer Nichte des Komponisten Smetana. 1891, nach dem Besuch der Klosterschule der Englischen Fräulein, heiratete sie den Germanisten August Sauer. 1892 erschien die erste, von ihrem Bruder Otto illustrierte Gedichtsammlung Im Frühling (Prag 1892). S.s Lyrik ist, wie die späteren Gedichte (Wien 1912) oder der Geibel gewidmete Band Wenn es rote Rosen schneit (Prag 1904) zeigen, durch eine metaphernreiche, romant. Spra-
S. war in den Polizeiberichten des Vormärz eine bekannte Figur, während er heute v. a. als Frankfurter Mundartdichter noch Erwähnung findet (Der Amerikaner. Posse in 1 Aufzug. Ffm. 1830. 31856. Der Gräff wie er leibt und lebt. Darmst. 1833. 61882. Frankfurt wie es leibt und lebt. Ffm. 1838–40. 31909). Der Sohn eines Schneidermeisters wurde nach einem Heidelberger Theologiestudium (1822–1825) offenbar aus polit. Gründen in Frankfurt/M. vom Pfarramt u. danach auch vom Schuldienst ausgeschlossen. Ende der 1820er Jahre, v. a. aber nach 1830 war er als Mitbegründer
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u. Herausgeber der Zeitschriften »Der Proteus« u. »Die deutsche Volkshalle« sowie als Mitarbeiter oppositioneller Zeitschriften tätig u. veröffentlichte, z. T. anonym, zahlreiche kritisch-analyt. u. satir. Schriften (u. a. ABC – Buch der Freiheit für Landeskinder. Hanau 1832. Pfeffernüsse. Ausgetheilt. Offenbach 1833. Gedichte aus der Zeit und für die Zeit. Biel 1835). S. werden verschiedene revolutionäre Lieder zugeschrieben, u. a. das Lied der Verfolgten, ein alsbald in vielen Varianten u. Erweiterungen gesungener u. noch im Heckerlied von 1848 weiterlebender Kristallisationstext republikan. Sehnsüchte u. Verlusterlebnisse. – In grellem Widerspruch dazu steht sein extremer Antisemitismus (Beleuchtung der Judenemanzipation. Ein Wort an das deutsche Volk. Offenbach 1831). Aus verschiedenen Gründen (Redner beim Hambacher Fest, Mitgl. von Geheimbünden, Mitwisser beim Frankfurter Wachensturm) den Behörden missliebig, sah sich S. 1834 zur Flucht ins Ausland gezwungen. Nach Stationen des Mangels u. a. in Bern u. Paris erhielt er 1836 in St. Marcellin/Isère eine Gymnasialprofessur für Deutsch u. Englisch. 1844 kehrte er wegen einer Rückenmarkserkrankung nach Frankfurt zurück; er starb ein Jahr vor Ausbruch der Revolution. Literatur: R[udolf] Jung: J. W. S. In: ADB 53. – Goedeke 15. – Karl Glossy (Hg.): Literar. Geheimber.e aus dem Vormärz. Wien 1912, passim. – Walter Grab u. Uwe Friesel: Noch ist Dtschld. nicht verloren [...]. Mchn. 1970 u. ö., passim. – Otto Büsch u. W. Grab (Hg.): Die demokrat. Bewegung in Mitteleuropa im ausgehenden 18. u. frühen 19. Jh. Ein Tagungsber. Bln. 1980, S. 429, 435. E. Theodor Voss
Sauter, Ferdinand, * 6.5.1804 Werfen bei Salzburg, † 30.10.1854 Wien; Grabstätte: ebd., Hernalser Friedhof. – Lyriker, Handelsgehilfe. Als Sohn eines fürsterzbischöfl. Rats, Kämmerers u. Pflegers wurde S. unterhalb der Burg Hohenwerfen im Salzburgerland geboren. Nach dem frühen Tod des als ebenso streng wie musisch interessiert geltenden Vaters 1807 zog die Familie zu dessen Bruder auf ein Landgut nach Gnigl in die Nähe von
Salzburg, wo S. glückl. Kindheitsjahre verlebte, bis der Tod des Onkels erneut einen Umzug in die Stadt erzwang. Das Gymnasium brach er ab, um in eine kaufmänn. Lehre zu treten. Eine Entscheidung, die S. zeitlebens als unreif bedauerten, da ihn die Tätigkeit als Handlungsgehilfe intellektuell unterforderte u. ihm der Brotberuf im Büro wie ein Gefängnis erschien. Nach kurzer Anstellung als Handlungsgehilfe in Wels wechselte er 1825 nach Wien, wo er bis zu seinem Tod wohnte u. zunächst als Kommis in einer Niederlassung der Papierfabrik Kleinneusiedel, später nach schlecht bezahlter Redakteurstätigkeit durch Vermittlung Friedrich Halms als Diurnist bei der Niederösterreichischen Assekuranz-Versicherungsgesellschaft arbeitete. Der Tod der geliebten Mutter u. wenig später seines jüngeren Bruders Ludwig 1827 stürzten S. in eine tiefe Krise, die zu einem Selbstmordversuch führte. Allein das Dichten gab ihm in diesen Jahren Halt. In Wien fand S. schnell Aufnahme in den Schubert-Kreis u. reifte durch die Bekanntschaft mit Nikolaus Lenau zum Lyriker. 1828 porträtierte Moritz von Schwind den jungen S. in Öl. Später gewann jedoch das »Vogl-Haus« um den Dichterfreund Johann Nepomuk Vogl für ihn an Bedeutung. Der Künstlerkreis traf sich in verschiedenen Wirtshäusern u. regte S. zum improvisierten Dichten an. Für seine pointierten Stegreifgedichte erhielt S. viel Beifall. Zwar gelang es ihm, meist auf Drängen seiner Freunde, einzelne Gedichte in Zeitschriften u. Almanachen, wie dem »Wiener Postillon«, der »Modezeitung«, dem »Taschenbuch für das Leopoldstädter Theater«, dem »Österreichischen Morgenblatt« oder dem Revolutionsorgan »Album der glorreichen Ereignisse der Woche vom 12. bis 18. März 1848«, zu veröffentlichen, sein eigentl. Publikum fand er jedoch in den Gaststuben der Wiener Vorstadt, das Aussprüche S.s. wie »Verkaufts mei Gwand i bin im Himmel« im Volksmund verewigte. Während des Vormärz u. der Revolutionstage stand S. auf der Seite der Oppositionellen u. schloss sich verschiedenen Untergrundorganisationen an. Seine Aktivität beschränkte sich aber auf die lyr. Abrechnung mit dem Metternichsystem. Weit über die Grenzen
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Wiens bekannt wurde sein Gassenlied, das in Geist u. Geister aus dem alten Wien. Bilder u. Geimmer neuen Strophen, von denen sich nur stalten. Wien 1922, S. 122–135. – Alfred Fürst: ein kleiner Teil erhalten hat, die Missstände Sonnenkinder im Regenwinkel. Ein S.-Roman. des restaurativen Polizeistaates anprangert. Wien 1925. – Hermynia zur Mühlen: Kleine Gesch.n v. großen Dichtern. Miniaturen. London Zu einer Ausgabe seiner Gedichte konnte ihn o. J. [1943]. Wien 31946, S. 7–11. – Rudolf Holzer: auch Adalbert Stifter nicht bewegen, der diese Der Himmel voller Geigen. Ein österr. Drama. selbst besorgen u. bei Heckenast in Pest pu- Wien 1946. – Eduard Paul Danszky: Trabant der blizieren lassen wollte. Stattdessen arbeite S. großen Sterne. Roman. Wien 1948. – Ernst J. Goals Kopist für Stifters Band Wien und die Wie- erlich: F. S. u. die Wiener Dichtung. In: Leuvense ner, ohne etwas zum Inhalt beizusteuern. Bijdragen: Tijdschrift voor Germaanse Filologie 46 (1956/7), S. 82–95. – Karl Wace: Dichterbildnisse 1854 starb S. an der Cholera. Postum gab der spätere Reichstagsabge- aus Alt- u. Neu-Wien, Wien 1969, S. 7–14. – Josef Buchowiecki: F. S. Mit ungedr. Gedichten u. einer ordnete u. Jurist Julius Alexander Schindler Bibliogr. Wien 1972. – Wolfgang Häusler u. Elisaeinen Auswahlband der Gedichte unter dem beth Lebensaft: F. S. In: ÖBL. – O. P. Zier: Über F. S. Pseudonym Julius von der Traun (Wien 1855) (1804–1854). In: LuK 28 (1993), H. 275/276, heraus. Seine von S. selbst verfasste Grab- S. 101–106. – Hermann Loimer: F. S. Ein Wiener schrift mit den Versen »Und der Mensch im Original aus Salzburg. In: Mitt.en der Gesellsch. Leichentuch, | Bleibt ein zugeklapptes Buch« für Salzburger Landeskunde 134 (1994), inspirierte den Schriftsteller Ludwig Laher S. 585–614. – Hermann Loimer: Erinnerungen an zum Titel seiner Roman-Biografie Aufgeklappt F. S. In: ebd. 146 (2006), S. 341–388. – Gertraud (Innsbr. 2003), dem jüngsten einer Reihe von Schaller-Pressler: Volksmusik u. Volkslied in Wien. In: Wien, Musikgesch. Tl. 1: Volksmusik u. Wiekünstlerischen Aneignungen, die das Leben nerlied. Hg. Elisabeth Th. Fritz u. Helmut Kretdes unangepassten Dichters gestalten. Seit schmer. Wien/Münster 2006, S. 95–99. Beginn des 20. Jh. wird aber auch S.s Werk als Thorsten Fitzon Vorwegnahme eines modernen Wiener Tons anerkannt. Der weite Bogen, den seine Gedichte, von der melancholisch-ernsten Stim- Sauter, Samuel Friedrich, * 10.11.1766 mungslyrik bis zur sarkastisch-iron. Politsa- Flehingen/Kraichgau, † 14.7.1846 Fletire u. zum heiter-anzügl. Gelegenheitsge- hingen/Kraichgau. – Schulmeister; Lyridicht spannen, widersetzt sich dem Bild des ker. behaglich-süßl. Biedermeier, sodass heute in Aus Gefälligkeit schrieb in den 1790er Jahren S. trotz der vernichtenden Kritik Friedrich der badische Dorfschulmeister S. einem Hebbels, der ihm jedes Talent zum Dichter schwäb. Wanderhändler ein Gedicht auf seiabsprach, ein origineller unzeitgemäßer Lynen Berufsstand. Durch den Hausierer kam riker erkannt wird, dessen virtuos-spieleridas Krämermichelslied in die Welt u. wurde – scher wie unprätentiöser Umgang mit dem als Flugblatt gedruckt u. von Johann ChrisDialekt auch die Lautgedichte der Wiener tian Ludwig Abeille vertont – schnell zum Gruppe inspirierte. Volkslied. S.s Reimkünste, die sich auch bei Ausgaben: Hg. Otto Pfeiffer u. Karl v. Thaler. allerhand regionalen Reimanlässen bewährWien 1895. – Erste Gesamtausg. Hg. Wilhelm ten, machten ihn bald im weiten Umkreis Börner. Ebd. 1918. – Gesamtausg. u. Biogr. Hg. bekannt u. beliebt u. ermöglichten ihm um Hans Deissinger u. O. Pfeiffer. Ebd. 1926. 21927. – 1800 die Gründung einer Lesegesellschaft, ›Freu dich schnell, es ist vonnöten!‹ Ein F.-S.-Brevier. Ausgew. u. hg. v. Otto Stein. Ebd. 1940. – ›... deren Zentrum er 16 Jahre lang war u. die für und das Glück lag in der Mitten‹. Eingel. u. ausgew. ihn einen Ort sozialer u. geistiger Emanziv. Laurenz Wiedner u. Gunther Martin. Graz/Wien pation bedeutete. 1811 ließ er seine Volkslieder 1958. – Gedichte. Ausgew. u. hg. v. Peter Blaikner und andere Reime. Vom Verfasser des Krämermichels (Heidelb.) erscheinen; kurz vor seinem mit einem Vorw. v. O. P. Zier. Salzb. 1995. Literatur: Friedrich Schlögl: Über F. S. den Tod konnte er rund 350 Gedichte als Die [fast] Dichter u. Sonderling. Wien/Lpz. 1884. – Ludwig sämmtlichen Gedichte des alten Dorfschulmeisters Wegmann: F. S. Wien 1904. – Hermine Cloeter: Samuel Friedrich Sauter (Karlsr. 1845; in Kom-
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mission. Nachdr. hg. von Gerhard Wilhelm Steinbach. Zaisenhausen 1995) zusammenfassen. S., Sohn eines Bäckers u. Wirts, hatte bei einem Dorfschulmeister Lehrer gelernt, als Hilfslehrer in Bissingen/Enz gearbeitet, war 1786–1816 Schulmeister in Flehingen u. 1816–1841 im Nachbarort Zaisenhausen. In seiner Hilfslehrerzeit hatte er »öfters Gelegenheit [...], den berühmten Dichter Schubart auf der nahen Festung Aschberg zu besuchen, dessen Gedichte [...] die ersten poetischen Gedanken in mir erweckten«. Einzelne Lieder S.s (so v. a. Der Wachtelschlag, Kartoffellied, Das arme Dorfschulmeisterlein) wurden sehr bekannt, von Beethoven u. Schubert vertont, auch irrtümlich Claudius zugeschrieben. Ludwig Eichrodt u. Adolf Kussmaul stilisierten S. später zum Prototyp des »Biedermaiers«. Ausgaben: Ausgew. Gedichte. Hg. Eugen Kilian. Heidelb. 1902 (mit Biogr.). – Das Urbild des Biedermeier. Lieder u. Gedichte des [...] S. F. S. Hg. Helmut Klausing. Sinsheim 1968 (mit Bibliogr.). Literatur: Helmut Bender: S. F. S. – Dorfschulmeister u. Poet dazu. In: Badische Heimat 61 (1981), S. 239–247. – Michael Ertz: S. F. S. (1766–1846), der Dichter des Kraichgaus. In: Kraichgau. Beiträge zur Landschafts- u. Heimatforsch. 14 (1995), S. 239–251. – Günther Mahal: Biedermeier u. Heimatdichter? S. F. S. – ein früher Realist aus dem späten 18. Jh. In: Badische Heimat 76 (1996), S. 247–269. Reinhart Siegert / Red.
Sautier, Heinrich, auch: Erich Servati, * 10.4.1746 Freiburg i. Br., † 31.5.1810 Freiburg i. Br.; Grabstätte: ebd. – Katholischer Theologe, Aufklärungskritiker. S., der 1761 in den Jesuitenorden eingetreten war, unterrichtete Grammatik an den Kollegien in Pruntrut u. Freiburg, bevor er nach Aufhebung des Ordens durch Kaiser Joseph II. von 1773 bis 1792 als Professor am akadem. Gymnasium Freiburg Poetik unterrichtete u. danach als Privatgeistlicher lebte. S.s umfängl. Werk hat drei Schwerpunkte, die auch zeitlich eine Abfolge bilden: Literaturdidaxe, Aufklärungskritik u. Philanthropie. S.s Poesieunterricht zeichnete sich durch Offenheit gegenüber der zeitgenöss. dt.
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Dichtung aus. So zog er zur Erklärung der Dichtkunst des Horaz (Basel 1789) die ProsaÜbersetzung von Karl Wilhelm Ramler (Basel 1777) u. die Versübertragung von Christoph Martin Wieland (Basel 1789) heran. Auch seine Abhandlung Der Reim (Freib. i. Br. 1777) bezeugt, dass S. die zeitgenöss. deutschsprachige Dichtung bestens vertraut war. Er zitiert u. beruft sich auf die empfindsamen Lyriker wie Gleim, Jacobi u. Klopstock u. orientiert sich wie diese vorrangig am frz. Klassizismus: Eine Übersetzung von Boileaus »Satyre über die Schwierigkeit gut zu reimen« beschließt die Reimpoetik. Seine eigenen lyr. Versuche beschränken sich allerdings auf die Kurzweile in Sinngedichten (Freib. i. Br. 1774), die in der klass. epigrammat. Tradition stehen, wie die vielen witzigen Angriffe auf Ärzte u. ein nlat. Anhang (»Appendicula latina«) zeigen. Bedeutender war S. als polem. Aufklärungskritiker. Unter seinem Pseudonym Erich Servati wandte sich der ›Exjesuit‹ in mehreren Polemiken gegen die Repräsentanten der kath. Aufklärung in Freiburg, Kaspar Rueff, Franz Josef Bob u. Josef Anton Sauter, sowie gegen deren Periodika, den »Freymüthigen« u. die »Beyträge«. S.s Freymüthige Beurtheilung der deutschen Disputation, die H. Kaspar Ruef [...] zur Erhaltung der juristischen Doctorswürde [...] 1785 zu Freyburg im Breisgau hielt (Freib. i. Br. 1786) weist neben Übernahmen aus Johann Kaspar Riesbecks aufklärerischen Briefen eines reisenden Franzosen über Deutschland [...] (Zweyte beträchtlich verb. Ausg. 2 Bde., [Zürich] 1784) problemat. theolog. u. antikath. Positionen nach. Der Glaube des Selbstdenkers (Freib. i. Br. 1788) gilt explizit dem Kampf gegen die »Aufklärer«, die S. als »Nachbeter und Ausschreiber« (S. 4) diffamiert, um in einer ausgreifenden Synopse die häret. Auffassungen der »Selbstdenker« mit orthodoxen kath. Positionen zu konfrontieren. Mögen S.s. antiaufklärerische Schriften heute weitgehend vergessen sein, so dauert die Wirkung seines philanthropischen Engagements noch immer fort. S. warb in mehreren programmat. Schriften für ein Stipendienwesen, das auch »dürftigen Bürgertöchtern und Bürgersöhnen« eine angemessene Ausbildung ermöglichen sollte. Seinem Katechismus zur Ausbildung und Ausstattung
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dürftiger Bürgertöchter (Freib. i. Br. 1800) ließ er mit der Schrift Die arme brave Marie oder das Bild eines vollkommenen Dienstbothen (6 Tle., Freib. i. Br. 1801–1803) das idealtypische, freilich katholisch-konservative Curriculum eines Mädchens folgen, das trotz widriger Bedingungen dank der Förderung der Stiftung zu einer tüchtigen Hauswirtschafterin wird. Armen Jünglingen sollte, wie der Denkzettel der Stiftung zur Ausbildung und Ausstattung dürftiger Bürgersöhne (Freib. i. Br. 1801) zeigt, eine handwerkl. Ausbildung ermöglicht werden. Die S.sche Stiftung erhielt viele Schenkungen u. bildet bis heute ein wichtiges kommunales Förderinstrument. Weitere Werke: S.s Werke sind sämtlich online zugänglich über die UB Freiburg: www.ub.unifreiburg.de. – Ländl. Briefw. v. den vorderösterr. Kirchenreformatoren unter dem Nahmen des Freymüthigen. Freib. i. Br. 1785. – Warum soll ich ein Freymaurer werden? Basel 1786. – Die Philanthropen von Freyburg; oder die Stifter u. Wohlthäter der Hauptstadt Freyburg im Breisgau u. der Albertinischen Hochschule. Freib. i. Br. 1798. Literatur: Johann Jakob Gradmann: Das gelehrte Schwaben. Ravensburg 1802. – Hamberger/ Meusel. Bd. 7, 10 u. 15. – F. Kössing: H. S. In: Badische Biographieen. Hg. Friedrich v. Weech. Bd. 2, 1875, S. 240–242. – Anton Retzbach: H. S. Ein Volksschriftsteller u. Pionier der sozialen Arbeit. 1746–1810. Freib. i. Br. u. a. 1919. – Josef Wysocki: Das erste Freiburger Sparkassenprojekt v. H. S. (16.10.1803). In: Ztschr. des Breisgau-Geschichtsvereins Schau-ins-Land 96 (1977), S. 20–23. Achim Aurnhammer
Savigny, Friedrich Carl von, * 21.2.1779 Frankfurt/M., † 25.10.1861 Berlin; Grabstätte: Gut Trages bei Hanau. – Jurist. Der luth. S. stammt väterlicherseits aus lothring. Adel, der seit dem 17. Jh. in dt. Gesandten- u. Verwaltungsdiensten stand, zuletzt in Hessen-Nassau. Nach dem frühen Verlust des Vaters (1791), der Mutter (1792) u. zuvor seiner zwölf Geschwister studierte er 1795–1799 in Marburg (1796/97 in Göttingen) die Rechte u. promovierte 1800. Sensationell »für einen Mann von Geburt« (Goethe), wählte er die Wissenschaft als Beruf. Seit 1804 mit Gunda, der Schwester Clemens Brentanos, verheiratet, wirkte er 1808–1810
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als o. Prof. des Römischen Zivilrechts in Landshut, dann auf Initiative Humboldts in Berlin bis 1842; bis 1848 übernahm er zgl. zentrale Aufgaben in Ämtern u. Politik. Zur häusl. Todesfeier 1861 erschienen u. a. König Wilhelm mit sämtl. Prinzen u. die Professoren der Universität im Talar. An S.s großen Namen knüpfen sich viele Glanzstücke aus dem geistigen Haushalt der dt. Nation: »Geschichtliche Rechtswissenschaft«, Gründung der sog. Historischen Schule, Historismus, Romantik u. Idealismus, aber auch schon Positivismus u. Formalismus u. noch Naturrecht u. juristische Metaphysik, Volksgeistlehre, Privatrechtstheorie u. allg. Rechtslehren, Gesetzgebungskritik u. konservative Politik mit liberalen Elementen. S. hat der Jurisprudenz seiner Zeit die doppelte Orientierung aufgegeben, zgl. historisch-positiv-konkret u. philosophisch-metaphysisch-allgemein zu sein. Dies prägte er seiner Epoche auf in vier wesentlichen, noch heute grundlegenden Werken (Das Recht des Besitzes. Gießen 1803. Vom Beruf [...]. Geschichte [...]. System [...]). Seine Gegner hat er in eine intensive Abgrenzungsdebatte gezogen, die weit in die Fachphilosophie u. -historie reichte, bis zu Hegel u. Marx, aber etwa auch zu J. F. Fries oder Niebuhr, Ranke u. Dahlmann. Erkenntnistheoretisch lässt sich S.s doppelte Orientierung aus einem parallel zu Schelling, Hegel, Hölderlin u. Friedrich Schlegel ansetzenden »objektiven« Idealismus verstehen. Im diachron u. synchron lebenden »positiven« Recht selbst u. nur hier sind in einer Mischung von Allgemeinem u. Individuellem Idee u. Wirklichkeit allen Rechts aufzufinden. Alles Recht hat untrennbar eine objektive, »innerlich notwendige« u. eine individuelle, äußerlich zufällige Seite. Es ist »natürliches Recht in einem anderen Sinne als unser Naturrecht« (1814). Diese »vereinigungsphilosophische« Auffassung prägt wesentliche juristische Grundbegriffe S.s. Sie trägt zudem seine theoretisch durchdachte polit. u. religiöse Haltung. So fallen schon in der berühmten Grundsatzschrift gegen Thibaut, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (Heidelb. 1814), zu Rechtsbegriff, Rechts-
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quellen, Staat, Recht u. Volk, Freiheit u. Sittlichkeit, Juristenrolle, Methode u. Auslegung usw. die damals die Auffassungen von Recht, Staat u. Politik umwälzenden Sätze einer durchdacht neuen juristischen Metaphysik, die bis heute beschworen wird. Alles Recht entstehe unsichtbar aus dem Volksbewusstsein (später: Volksgeist), in stets organischem Wachstum, im Rahmen eines »doppelten Lebensprincips« im triad. Schema von verlorener Natur, Entzweiung u. jetziger Kunstnatur. »Ideal ist, was Natur war« (Hölderlin). Das Recht sei daher nur wissenschaftlich erkennend wahrhaft erfassbar, nicht gesetzgeberisch-gestaltend. »Staat« sei nicht als künstlich zu begreifen, sondern als »leibliche Gestalt der [gegebenen] geistigen [nicht bloß natürlichen!] Volksgemeinschaft«. Freiheit wie Recht dienen der Verwirklichung von Sittlichkeit im Sinne der geschichtlich durchgedrungenen »christlichen Lebensansicht« (1840), im Privatrecht immerhin durch grundsätzlich »freie Entfaltung«, die aber jedem doch nur »notwendig zugleich [...] als Glied eines höheren Ganzen«, als »höhere gemeinsame Freiheit« statt »besondere Willkür« (1815) gegeben sei. Diese seine Positionen sind heute in Vorlesungsmanuskripten u. -nachschriften bes. zur Methodologie 1802/1803–1842, Politik vor 1814, Dogmatik nach 1809 u. um 1824 erstmals deutlicher fassbar, auch in neueren Editionen (s. Savignyana). In seinem histor. Meisterwerk, der Geschichte des Römischen Rechts im Mittelalter (6 Bde., Heidelb. 1815–31. 21834 ff.), verfolgt S. die große Konzeption eines Fortlebens des röm. Rechts auch ohne Staat u. erbringt zgl. eine Unmenge von bis heute grundlegender Stoffsichtung v. a. zur Gelehrten- u. Universitätsgeschichte. Paralleles leistete er für die allgemeineren Lehren des Rechts, des Privatrechts u. teilweise des Prozessrechts im System des heutigen Römischen Rechts (8 Bde., Bln. 1840–49) u. in Das Obligationenrecht als Theil des heutigen Römischen Rechts (2 Bde., ebd. 1851–53). Er durchdenkt die Tradition u. vor allem die Quellen des Corpus Iuris neu u. bringt sie in oft genialer Reduktion möglichst auf Prinzipien. Inhaltlich kommt er in Abstraktion von bloß röm. Verhältnissen wie
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Sklaverei u. Familienrecht vielfach zu modernen, liberalen Konzepten, wenn er Probleme als primär privat begreift, wie allg. Rechtsfähigkeit, Vertrag, Irrtum, Delikt, Eigentum u. Ä. im reinen Verkehrsrecht, anders aber bei Streitfragen wie Selbstmord, Urrechte u. Juristische Person. Das sittl. Element des Rechts führt ihn auch auf soziale »Hilfe«-Aufgaben im »öffentlichen Recht«. Je konkreter dogmat. Fragen er angeht, desto mehr tritt die metaphysisch-notwendige Legitimation des Positiven zurück. Fruchtbar bleibt stets die prinzipielle, systemat. Anstrengung. S.s bewundernswert gleichmäßigen doppelten Blick auf das Notwendig-Allgemeine u. das Zufällig-Individuelle, auf philosophische Grundlagen, konkrete Rechtswissenschaft u. immanente Politik, haben in der Germanistik die Grimms bewahrt, in der Historie der ihm nahestehende Ranke. Spätere verlieren teils diese Fähigkeit, teils den philosophischen Willen dazu. So teilt sich seine unmittelbare Wirkungsgeschichte in die mehr philosophische Anstrengung der sog. Begriffsjurisprudenz eines Puchta (röm. Recht als »Weltrecht«) u. frühen Jhering u. die mehr historisch-positive Richtung Windscheids u. anderer. Von S.s das volle juristische Detail eroberndem Systemwillen kann man lernen bis heute, denn eine method. Doppelorientierung durch Begriff (oder Hypothese) u. Anschauung (oder Fakten) konstituiert noch das modern unmetaphys. forschende Verstehen. Ein noch unentbehrl. Beitrag zur Standortklärung ist zweitens das Verständnis der metaphys. Grundlage bei S. u. ihrer inhaltl. Folgen, um mit S.s gültiger Mahnung ein »sermocinari tamquam e vinculis« (1814) zu vermeiden. Die spätere Wirkungsgeschichte dieser Zentralfigur geriet in die Geleise eines oft recht bemühten Ahnenkults oder bisweilen -fluchs, wie es etwa die zahllosen S.-Reden zeigen. Zumeist wärmt oder reibt man sich an seinen allg. Ideen über Recht u. ihren jeweiligen polit. Konsequenzen. S.s allg. Lehren enthalten eine auch zum liberaleren Thibaut keineswegs einfach antipodische, zeitgemäße polit. Theorie konservativ-liberaler Reform, die in ihrer metaphys. Wendung gegen Will-
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kürliches »von Menschenhand« hohe Anziehungskraft entfalten konnte. So haben sich ihrer bis heute sehr verschiedene antiparlamentarische, gesetzesfeindl. Positionen bedient, sei es im Namen von rechtem Volksgeist u. gesundem Volksempfinden, aber auch von angeblich unpolitisch reiner, allkompetenter Jurisprudenz oder von offen neoidealistischer Rechtswissenschaft. Der Reichtum u. breitere Ansatz seiner Werke u. Haltungen wurde dabei gern verkürzt. Weitere Werke: Vermischte Schr.en. 5 Bde., Bln. 1850. Neudr. Aalen 1981. Literatur: Joachim Rückert: Idealismus, Jurisprudenz u. Politik bei F. C. v. S. Ebelsbach 1984 (mit umfassender Bibliogr.). – Hans Kiefner: F. C. v. S. In: HRG, Bd. 4 (1990), Sp. 1313–1323. – J. Rückert: F. C. v. S. (1779–1861). Gesch. des Röm. Rechts im MA. In: Hauptwerke der Geschichtsschreibung. Hg. Volker Reinhardt. Stgt. 1997, S. 560–564. – Dieter Nörr: F. C. v. S. In: NDB. – J. Rückert: S.s Dogmatik im ›System‹. In: FS ClausWilhelm Canaris. Hg. Andreas Heldrich u. a. 2 Bde., Mchn. 2007, Bd. 2, S. 1263–1297. – Jan Schröder: F. C. v. S. In: Kleinheyer/Schröder (52008) (Lit.). – J. Rückert: Religiöses u. Unreligiöses bei S. In: Konfession im Recht. Auf der Suche nach konfessionell geprägten Denkmustern u. Argumentationsstrategien in Recht u. Rechtswiss. des 19. u. 20. Jh. Hg. Pascale Cancik u. a. Ffm. 2009, S. 49–69. – Ders.: Recht als Wiss.: F. C. v. S. (1779–1861). Der Greifswalder Ruf v. 1804 u. S.s neue Wiss. im ›Recht des Besitzes‹. In: Greifswald – Spiegel der dt. Rechtswiss. 1815 bis 1945. Hg. Joachim Lege. Tüb. 2009, S. 61–91. Joachim Rückert
Sayer, Walle, * 13.9.1960 Bierlingen/Kr. Tübingen. – Lyriker, Prosaist. S. machte eine Lehre als Bankkaufmann u. ein Praktikum in einem Kindergarten. Seinen Zivildienst leistete er in einer Heimeinrichtung u. wurde Mitarbeiter im »Projekt Zukunft«, das im ländl. Raum alternative Lebens- u. Arbeitsformen befördern möchte. S. lebt in Dettingen bei Horb. In einer Notiz am Ende seines ersten Gedichtbands Die übriggebliebenen Farben (Bremen 1984) bezeichnet S. sein Schreiben als »Notwehr und Selbstbehauptung«. Seine Gedichte sind in Ton u. Thematik typische Produkte der 1980er Jahre. Sie verknüpfen
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Gesten der Rebellion u. das polit. Bekenntnis zu den Sandinisten in Nicaragua mit apokalypt. Bildern einer ökolog. Katastrophe. In einem an Ludwig Fels erinnernden schmucklosen Stil werden Militarismus, kapitalistische Entfremdung, Zersiedelung u. Ausbeutung beklagt. Zuweilen nehmen die freirhythm. Gedichte litaneihaften Charakter an. Im folgenden Band Briefe aus Bierlingen. Gedichte und kurze Prosa (Bremen 1986) gewinnt der Stil von S. langsam seine individuelle Kontur. Das abstrakt Politische wird durch die Hinwendung zur unmittelbaren Umgebung konkretisiert. Die Wut richtet sich nun auf die Indolenz der »Seelenkrüppel« u. die Stammtischnazis in der Provinz, ihr wächst aber in diesem Band auch ein histor. Bewusstsein zu. Symptomatisch für den Blick von S. ist der Zyklus Verblichene Fotos, der Momentaufnahmen der Vergangenheit evoziert u. ihnen eine soziale Dimension zuspricht. Die Hinwendung zum einzelnen Objekt u. das geschichtl. Bewusstsein führen im Weiteren zu einer neuen Akzentsetzung von S.s Schreiben. Seine Gedichte werden zu einem Archiv, in dem Topografie, Lokalgeschichte u. eigene Kindheit eine originäre Verbindung eingehen. Die zur genauen Wahrnehmung erzogene Sprache verrät S.s intensive Beschäftigung mit Günter Eich, Marie-Luise Kaschnitz u. Walter Helmut Fritz. Mit dem Gedichtband Zeitverwehung (Bergatreute 1994) etabliert sich S. als genauer Chronist des Landlebens, an dem gesellschaftl. Prozesse ablesbar sind. Präzise u. nüchtern notiert er das Verschwinden von Berufen, von Originalen, von sozialer Praxis. Die Tendenz zum Bewahren, zum Registrieren mündet konsequent in der Verschleifung der Grenze zwischen Lyrik u. Prosa. S. entwickelt einen prosanahen lyr. Duktus, der alles Deklamatorische abgestreift hat u. eine eigene Satzmelodie entwickelt. Der folgende Band Kohlrabenweißes. Menschenbilder, Ortsbestimmungen (Tüb. 1995. 2001) besteht aus mehreren Prosazyklen, die in Gestalt einer Sammlung von Miniaturen eine Porträtgalerie einzelner Personen u. »Ansichtskarten« vom dörfl. Leben bieten. Sein Blick ist dabei von einer iron. Sympathie geleitet, die nicht
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die Augen vor provinzieller Beschränktheit tität zu einer Chiffre unauflösl. Rätselhaftigverschließt, die skurrilen Hintersassen jedoch keit: »Wir sind wir: eine einfache Gleichung als Repräsentanten einer aussterbenden In- mit zwei Unbekannten.« S. erhielt außer zahlreichen Stipendien u. dividualität begreift. S.s Standpunkt ist die unaufhebbare Distanz zum Objekt seiner Förderpreisen den Thaddäus-Troll-Preis Beobachtung eingeschrieben. Das gilt nicht (1994) u. den Berthold-Auerbach-Preis (1997). bloß poetologisch, sondern auch existenziell. Weitere Werke: Michael Kohtes, Vreni Merz, Die Bedingung seines dichterischen Schaffens W. S.: Drei Gedichtbände in einem. Zelg-Wolfhalliegt für ihn – eine klass. Bestimmung des den/Zürich 1990. – Kleine Studie. Karlsr. 2001 (L.). melanchol. Temperaments – in seinem – Ausgangspunkt. Bebildert v. Eric van der Wal. Bergen/NL 1998 (L.). – Irrläufer. Tüb. 2000 (L.). »Fremderhaltungstrieb«. Literatur: Hermann Bausinger: Laudatio auf Der Melancholiker S. verfügt über ein ausgeprägtes Sensorium für den »Verlorenheits- W. S. In: Allmende 14 (1994), Nr. 42/43, schimmer« einer Dingwelt, die aus dem Fluss S. 248–254. – Jürgen Egyptien: Der Epiker des Augenblicks. Zu W. S.s staunenswerter ›Beschafdes Fortschritts ausgestoßen wurde. Wie eine fenheit des Staunens‹. In: die horen 48 (2003), H. Gemme fassen seine Verse Dinge ein, die aus 211, S. 167–169. – Karl-Heinz Ott: Stillleben mit dem Zwang zur Nützlichkeit entlassen dem Mopedgeknatter. In: NZZ, 18.4.2009. Melancholiker als histor. Strandgut zufallen. Jürgen Egyptien Zum Sammelobjekt wird S. dabei zunehmend die Sprache selbst, so dass seine Texte Sbruglio, Sbru/olius, Riccardo Foroiulianus die Funktion eines »Wortsammelsuriums« (aus Cividale oder Udine in Friaul), * um annehmen, in dem »die Wortkrumen / des 1480, † nach 1525. – Humanist u. neulaDialekts« (aus: Von der Beschaffenheit des Stauteinischer Dichter. nens. Miniaturen, Notate und ein Panoptikum. Tüb. 2002) ein Asyl finden. Mit dieser po- Beim Studium in Bologna machte S. die Beetolog. Ausrichtung seines Schreibens tritt S. kanntschaft Christoph Scheurls, der ihm den an die Seite von Autoren wie Wulf Kirsten Weg nach Deutschland geebnet haben dürfte. oder Dieter Hoffmann. Die folgenden Ge- Vom Konstanzer Reichstag 1507 folgte S. dichtbände Den Tag zu den Tagen (Tüb. 2006) dem sächs. Kurfürsten Friedrich dem Weisen u. Kerngehäuse (Tüb. 2009) setzen diese Ent- nach Wittenberg an die junge Universität, wo wicklung schlüssig fort. Sie dokumentieren sich ein humanistischer Kreis (u. a. Scheurl u. S.s Bestreben, Altbekanntes u. Gewesenes so Georg Sibutus) etabliert hatte. 1513 wechselte wahrzunehmen, als fiele zum ersten Mal der S. nach Frankfurt/Oder, hielt sich 1515 bei Blick darauf. Aus dieser Momentaufnahme Mutian in Gotha auf, 1516 an der Universität entfaltet S. den histor. Gehalt der Objekte. Köln; 1517 trat er in Freiburg mit Zasius, Seine Sprachbilder entwickelt er im Medium 1518 in Ingolstadt mit Urban Rhegius in des Narrativen. Er wird gleichsam zum Kontakt. »Epiker des Augenblicks«, der die stillgeBereits 1513 in Augsburg zum poeta laustellte Szene erzählend verlebendigt. In dem reatus gekrönt, empfahl sich S. durch Widals »Erzählgeflecht« bezeichneten Band Zu- mungen Maximilians Räten Blasius Hölzel u. sammenkunft (Tüb. 2011), der Prosatexte aus Maximilian von Zevenbergen u. wurde 1517/ den vorangegangen Publikationen versam- 18 in die Arbeit am Ruhmeswerk eingebunmelt u. um neue Texte ergänzt, erschafft S. den: Zur Absicherung von Jakob Mennels ein aus vielen Mosaiksteinen zusammenge- genealog. Forschungen unternahm S. Reisen setztes, historisch vertieftes Panorama seiner u. a. nach Flandern u. Brabant; er besorgte die Landschaft. Übersetzung der lat. Tituli der Ehrenpforte u. S.s Sprache wohnt die Tendenz zum wurde mit der Übertragung des Theuerdank in Aphorismus u. zur Sentenz inne. Sie lässt ihn lat. Hexameter betraut. Maximilians Tod häufig zu paradoxalen Zuspitzungen kom- 1519 bedeutete das Ende der Karriere bei men wie etwa in der Entstellung der hei- Hof; trotz mehrerer Publikationen (u. a. eine matstolzen Formel landsmannschaftl. Iden- Naenia mit Holzschnitt der chapelle ardente
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von Hans Springinklee) gelang es nicht, Karl in un carmen heroicum virgiliano. In: Studi UmaV. oder Ferdinand als Förderer zu gewinnen. nistici Piceni 22 (2002), S. 169–179. – Albert Nach briefl. Kontakt kam es 1520 in Köln Schirrmeister: Triumph des Dichters. Köln/Wien zur persönl. Begegnung mit Erasmus, den S. 2003. – Flood, Poets Laureate, Bd. 4, S. 1811–1814. Elisabeth Klecker gegen Widersacher an der Theologischen Fakultät Löwen verteidigt hatte (was sich vielleicht nachteilig bei den Ratgebern Karls V. auswirkte). 1522 lehrte S. an der Lateinschule Schaber, Karl Wilhelm Friedrich, getauft: in Freiberg in Meißen. Ein Epithalamium für Immanuel Wilhelm Friedrich S., * 8.7. den Hofkanzler Erzherzog Ferdinands, Ga- 1762 Gebersheim bei Leonberg, † April briel Salamanca, zeigt, dass S. weiterhin um 1794 Mainz. – Verfasser von Travestien. Anschluss an Maximilians Nachfolger be- Der Pfarrerssohn studierte im Tübinger Stift müht war. 1525 gehörte S. auf einer Un- Theologie, musste aber wegen einiger Stugarnreise gemeinsam mit Michael Sander u. dentenstreiche Ende 1780 die Anstalt verlasFriedrich Nausea zum Gefolge Kardinal Lo- sen. Nach dem Philosophiestudium in Türenzo Campeggis, der ihn in Ofen zum Dok- bingen u. Erlangen u. dem Scheitern der ertor beider Rechte promovierte; die Urkunde sehnten akadem. Karriere begann S. ein unstellt zgl. das letzte Lebenszeugnis dar. stetes Wanderleben als Soldat, Hauslehrer, Die Reaktionen der Zeitgenossen auf S.s Vikar u. Schauspieler, das ihn immer weiter Persönlichkeit u. poetisches Schaffen waren in die Kriminalität führte. Zeitweise wurde er kontrovers: Eobanus Hessus karikiert S. als wegen Unterschlagung, Betrugs u. Hochstaüberhebl. Italiener (Idyll. 11); Erasmus führt pelei auch steckbrieflich gesucht. Nach Aufihn im Convivium poeticum als Gesprächspart- enthalten in Berlin (1789), Nürnberg, Heiner ein. Unter zahlreicher Panegyrik, Ge- delberg u. Bonn (1791) war er 1792 in dichten religiöser Thematik (z. B. Theocharis, Bergzabern Mitgl. des dortigen Jakobinerein Passionsgedicht mit meditativen Einla- klubs (Rede im Klub zu Bergzabern gehalten von gen) u. Druckbeigaben ragt die unvollendet Professor K. W. F. Schaber. o. O. 1792), verdingte gebliebene (Fürwittig- u. Unfallo-Reihe um- sich dann aber als preuß. Spion; 1793 wurde fassende) Theuerdank-Bearbeitung hervor er von den Franzosen in Alzey festgenommen (handschriftlich: Wien, ÖNB, cod. 9976): u. nach Mainz gebracht (Mein Tagebuch der Ohne die Spannungen der Gattungsdifferenz Belagerung von Mainz. Ffm. 1793). Literarisch berüchtigt wurde S. durch seine völlig lösen zu können, transformiert S. das Heldenbuch in ein »carmen heroicum« nach Travestie von Ovids Werken von der Liebe (3 dem Vorbild von Vergils Aeneis; die Abenteuer Bde., Bln./Lpz., recte Ffm. 1794) sowie die werden zu »labores«, die Magnanimus/Theuer- Fortsetzung der von Blumauer travestierten dank in stoischer Gesinnung gleich Aeneas u. Aeneis des Vergil (Bd. 4, Wien u. a., recte Ffm. Herkules auf dem Weg zur schicksalsbe- 1794). S. ließ hier die Trojaner – mit gegenrevolutionärer Tendenz – als frz. Freiwillige stimmten Herrschaft erträgt. Ausgabe: Magnanimus. Die lat. Fassung des auftreten, die dazu beitragen, die RevolutiTheuerdank Kaiser Maximilians I. Eingel. u. hg. v. onsideen zu verbreiten. Seine häufiger verClaudia u. Christoph Schubert. Remchingen 2002. zeichneten Reisen durch Deutschland sind wohl Literatur: Ellinger, Bd. 1, S. 350–352; Bd. 2, tatsächlich nie im Druck erschienen. S. 58–64. – Maria Grossmann: Humanism in Wittenberg 1485–1517. Nieuwkoop 1975. – Jan-Dirk Müller: Gedechtnus. Mchn 1982, S. 159–169. – Ilse Guenther: R. S. In: Contemporaries, Bd. 3, S. 211. – Stephan Füssel: Riccardus Bartholinus Perusinus. Baden-Baden 1987, S. 29–31. – Heinz Kathe: Die Wittenberger Philosoph. Fakultät 1502–1817. Köln/Wien 2002. – Christoph Schubert: Il Teuerdank dell’Imperatore Massimiliano I, trasformato
Weitere Werke: Die Briefe Pauli an die Tessalonicher u. Philipper frey übers. Stgt. 1787. – Theresia, Elisabeth u. Joseph. Scenen aus der Oberwelt. o. O. 1790. Literatur: Schlichtegroll, Bd. 2, S. 319–330. – Hellmut G. Haasis: Gebt der Freiheit Flügel. Bde. 1 u. 2, Reinb. 1988, passim. – Wilhelm Triebold: Ich sollt’ u. wollte travestieren. In: Schwäb. Tagebl., 18.4.1990. – Thomas Stauder: Die literar. Traves-
219 tie: terminolog. Systematik u. paradigmat. Analyse. Ffm. u. a. 1993, bes. S. 308 ff. Wolfgang Griep
Schacht, Ulrich, * 9.3.1951 Stollberg/Erzgebirge. – Lyriker, Journalist, Essayist, Verfasser von Erzählungen, Reiseberichten u. Drehbüchern, Herausgeber zeitgeschichtlicher u. politischer Bücher. S. kam im DDR-Frauengefängnis Hoheneck auf die Welt, wo seine Mutter, aufgrund der politisch nicht geduldeten Verbindung u. geplanten Flucht mit S.s Vater, einem russ. Besatzungsoffizier, inhaftiert war. Er verbrachte seine Kindheit u. Lehrlingszeit (Bäcker, 1965–1968) in Wismar. Danach arbeitete S., der die Niederschlagung des Prager Frühlings vor Ort miterlebte, in verschiedenen kirchl. Einrichtungen u. studierte evang. Theologie in Rostock (Relegation 1971) u. Erfurt. In diese Zeit fallen erste literar. Veröffentlichungen sowie seit 1971 die Herausgabe des kleinen Samisdat-Blatts »Avantgarde«. Ende März 1973 wurde S. verhaftet u. wegen »staatsfeindlicher Hetze« zu siebenjähriger Haft verurteilt (vgl. Gewissen ist Macht. Mchn. u. a. 1992, S. 40 ff.). Im Nov. 1976 wurde der Gefangene im Rahmen eines Häftlingsfreikaufs in die Bundesrepublik entlassen. In Hamburg absolvierte er ein Studium der Politikwissenschaft u. Philosophie. Zudem publizierte S., der sich in erster Linie als Lyriker versteht, seine ersten Gedichtbände Traumgefahr (Pfullingen 1981) u. Scherbenspur (Zürich 1983), die von der Kritik mit großer Resonanz aufgenommen wurden. Seit 1984 war er u. a. als Feuilletonredakteur der Tageszeitung »Die Welt« u. als Leiter des Ressorts Kulturpolitik bei der »Welt am Sonntag« (seit 1987) tätig, ehe der Beiträger verschiedener Periodika 1998 als freier Publizist nach Schweden übersiedelte. Ausschlaggebend für diesen Schritt mag der ausgebliebene nationalkonservative Aufbruch im wiedervereinigten Deutschland gewesen sein, für den das einstige SPD-Mitgl. (1976–1992) v. a. als Mitherausgeber bzw. Koautor der programmat. Manifeste Die selbstbewußte Nation (Hg. gemeinsam mit Heimo Schwilk. Ffm. 1994) u. Für eine Berliner Republik (zus. mit H. Schwilk. Mchn. 1997)
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eintrat. Nicht nur aufgrund dieser beiden Bände, sondern auch wegen seines Engagements für den rechtspopulistischen »Bund freier Bürger« 1997 u. den Kontakt zur neurechten Wochenzeitung »Junge Freiheit« ist der streitbare Schriftsteller wiederholt in die Kritik geraten – zuletzt aus Anlass seiner Ernennung zum Dresdner Stadtschreiber 2007. Während S.s zeitgeschichtl. u. erzählerische Werke – etwa die Hohenecker Protokolle (Hg. U. S. Zürich 1984) oder Brandenburgische Konzerte (Stgt. 1989) – zumeist einen sehr direkten Bezug zu eigenen biogr. Erfahrungen u. Anschauungen aufweisen, gelingt es ihm in seinem lyr. Œuvre, den persönl. Heimatverlust zu sublimieren, diesen zgl. als Grunderfahrung des modernen Menschen zu transzendieren u. poetisch aufzuheben. Dazu bedient sich der bekennende Christ insbes. kunstreligiöser sowie romant. Gedankenfiguren, die er auch poetologisch ausformuliert hat. In der für ihn charakteristischen versbrechenden, konzentrierten u. metaphernreichen Diktion entwirft S. naturlyr. Bildwelten, mit denen er immer wieder literar. Traditionsbestände u. Vorbilder (Huchel, Bobrowski, Celan) aufruft. Für seine journalistischen u. schriftstellerischen Arbeiten wurde S. mehrfach ausgezeichnet – u. a. mit dem Theodor-Wolff-Preis (1990) u. dem Andreas-Gryphius-Förderpreis (1981). In seinem Buch Vereister Sommer (Bln. 2011) greift S. die Geschichte seines Vaters auf, dem er erstmals 1999 in Moskau begegnete. Weitere Werke: Dänemark-Gedichte. Hauzenberg 1986. – Letzte Tage in Mecklenburg. Erinnerungen an eine Heimat. Mchn./Wien 1986. – Lanzen im Eis. Stgt. 1990 (L.). – Du bist mein Land ... Eine Heimkehr. NDR/ARD 1990 (Drehb.). – Archipel des Lichts. Leben auf den Färöer-Inseln (mit Jürgen Ritter). Dortm. 1992. – Von Spitzbergen nach Franz-Josef-Land. Am kalten Rand der Erde (mit J. Ritter). Dortm. 1993. – Die falschen Farben (zus. mit Pontus Carle). Bln. 1996. – De Schacht Saga – Een Duitse Familie-Geschiedenis. VPRO Amsterd. 1999 (Drehb. Dokumentarfilm). – Von Wilhelm II. bis Adenauer. Chronik einer Kleinbürgerfamilie 1862–1954. Hbg. 2000. – Verrat. Die Welt hat sich gedreht. Bln. 2001 (E.en). – Die Treppe ins Meer. Schweden-Gedichte. Hauzenberg 2003. – Weißer Juli. Sechsunddreißig Gedichte u. ein Essay. Ebd. 2006. – Bildnis eines venezian.
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Mönchs. Eine Liebesgesch. Ebd. 2007. – Herausgeber: Reiner Kunze [Text] u. Jürgen Ritter [Fotos]: Nicht alle Grenzen bleiben. Gedichte u. Fotos zum geteilten Dtschld. Dortm. 1989 (mit einem Vorw. v. U. S.). – Mein Wismar. Ffm./Bln. 1994. – Gott mehr gehorchen als den Menschen. Christliche Wurzeln, Zeitgesch. u. Gegenwart des Widerstands (zus. mit Martin Leiner, Hildigund Neubert u. Thomas A. Seidel). Gött. 2005. Literatur: Vera Dindoyal: ›Mystische Landschaft‹ oder ›Entwurf ohne mich‹? Die Rolle der Natur in der Lyrik U. S.s. Bln. 2003. – Jörn Bernig: Heimatverlust. Zu U. S.s literar. Werk. In: Dt.-dt. Literaturexil. Schriftstellerinnen u. Schriftsteller aus der DDR in der Bundesrepublik. Hg. Walter Schmitz u. J. Bernig. Dresden 2009, S. 282–309. Philipp Böttcher
Schack, Adolf Friedrich Graf (seit 1876) von, * 2.8.1815 Gut Brüsewitz bei Schwerin, † 14.4.1894 Rom; Grabstätte: Stralendorf bei Schwerin. – Kunstsammler; Lyriker, Epiker, Dramatiker, Historiker, Übersetzer. Nach einem widerwillig absolvierten Jurastudium trat der Diplomatensohn 1838 beim Berliner Kammergericht das Referendariat an. Er studierte weiterhin Geschichte u. oriental. Sprachen, ließ sich 1839 vom Dienst beurlauben u. bereiste den Mittelmeerraum. 1840 begleitete S. den Großherzog von Mecklenburg-Schwerin auf einer Orientreise; danach wirkte er im mecklenburgischen diplomatischen Dienst, zunächst in Frankfurt/ M., dann in Berlin. Die Reihe seiner kulturgeschichtl. Studien eröffnet die Geschichte der dramatischen Literatur und Kunst in Spanien (3 Bde., Bln 1845/46); unvollendet blieb das ergänzende Werk Die englischen Dramatiker vor, neben und nach Shakespeare (Stgt. 1893). S.s Ruhm als Übersetzer begründeten die Bände Firdusi: Heldensagen (Bln. 1851) u. Firdusi: Epische Dichtungen (Bln. 1853). Sie bewogen Maximilian II. von Bayern, S., der 1852 den Staatsdienst quittiert hatte, nach München zu berufen. Dort widmete sich S. seit 1859 dem Aufbau einer Sammlung der zeitgenössischen dt. spätromantisch-»idealistischen« Malerei. Nach dem ersten Band Gedichte (Bln. 1869) erschienen auch in schneller Folge poetische Werke. Dem verehrten Platen folgte S. als
Geschichtsschreiber; er suchte das Vorbild durch Meisterschaft in allen drei klass. Gattungen noch zu überbieten. Wie dieser kultivierte er die antik-mediterrane u. oriental. Stoffwelt; das Verhältnis Europas zum Orient will S.s Studie Die erste und die zweite Renaissance in der Sammlung Pandora (Stgt. 1889) klären. Neben die Gedankenlyrik treten in seinem Schaffen das Trauerspiel Die Pisaner (Bln. 1872) mit dem bei Dante überlieferten, im Wettstreit mit Gerstenberg aufgenommenen Ugolino-Stoff sowie die »politischen Lustspiele« im Geist des Aristophanes: Der Kaiserbote u. Cancan (Lpz. 1873). Das Epos Lothar (Bln. 1872) verschränkt die Erlebnisse eines in der Reaktionszeit verfolgten Burschenschafters mit autobiogr. Reiseschilderungen; im zentralen Weltanschauungsepos Nächte des Orients oder Die Weltalter (Stgt. 1874) wird an bunten histor. Szenen der geschichtsphilosophische Widerstreit von »Pessimismus« u. »Optimismus« demonstriert, bis sich zuletzt doch ein steter Aufstieg der Menschheit »sonnenwärts« abzeichnet, dem sich auch die »politische Wiedergeburt Deutschlands« einordnet. Die zehn Gesänge von Die Pleiaden (ebd. 1881) spiegeln den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/ 71 im Freiheitskampf der Hellenen gegen die Perser. Noch die späte Schrift Joseph Mazzini und die italienische Einheit (ebd. 1891) zeugt als Denkmal einer Freundschaft von S.s Liberalismus. Verbittert nahm er die »tödliche Gleichgültigkeit« der »deutschen Nation« gegen sein Schaffen hin. In München galt der schwer Augenleidende allmählich als »wunderlicher Heiliger« (Heyse). Wegen der Verweigerung einer Zuwahl Anzengrubers trat er 1887 aus dem Kapitel des Maximiliansordens aus; seine Gemäldesammlung vermachte er Kaiser Wilhelm II. Erst die oppositionellen Münchner »Modernen« Conrad u. Kirchbach setzten sich wieder für S. ein. Die Brüder Hart erkannten in S.s Streben »das Ideal des modernen und nationalen Dichters« u. rühmten ihn als einen »Mittler zwischen dem Einst und dem Jetzt«. Weitere Werke: Ausgabe: Ges. Werke. 6 Bde., Stgt. 1882. Zwei Erg.-Bde. 1884. 3. Aufl. in 10 Bdn. 1897–99. – Einzeltitel: Poesie u. Kunst der Araber in Spanien u. Sizilien. 2 Bde., Bln. 1865. – Meine
221 Gemäldesammlung. Stgt. 1882. – Ein halbes Jahrhundert. 3 Bde., ebd. 1888. – Gesch. der Normannen in Sizilien. 2 Bde., ebd. 1889. Literatur: Heinrich u. Julius Hart: Graf S. als Dichter. In: Krit. Waffengänge 5 (1883). – Eugen Zabel: Graf A. F. v. S. Wien 1885. – Wolfgang Kirchbach: Zum siebenzigsten Geburtstag. In: Die Gesellsch. Nr. 31, 4.8.1885. – Erich Walter: S. als Übersetzer. Lpz. 1907. – Johanna Arndt: Das kulturgeschichtl. Epos bei A. F. v. S., Heinrich Hart, Josef Pape. Diss. Königsberg 1928. – Melahat Azmi: Graf A. F. v. S. u. der Orient. Diss. Bln. 1934. – Dora Staudtner: Farbige Weltschau in Natur u. Gesch. als konstitutives Element im Werke des Grafen S. Diss. Mchn. 1935. – Otto Schoen: Gehalt u. Gestalt im dramat. Schaffen des Grafen A. F. v. S. Breslau 1938. – Edward J. Newby: The Prose Essays and Autobiography of A. F. v. S. Diss. Chapel Hill, Univ. of North Carolina 1963. – Beatriz Brinkmann Scheihing: Span. Romanzen in der Übers. v. Diez, Geibel u. S. Marburg 1975. – Christoph Heilmann: Dt. Malerei der Spätromantik. Mchn. 21988, S. 11–14. – Günter Hess: S. u. Italien: die Galerie als literar. Spiegelkabinett. In: Kunstlit. als Italienerfahrung. Hg. Helmut Pfotenhauer. Tüb. 1991, S. 277–287. – A. F. Graf v. S.: Kunstsammler, Literat u. Reisender [Ausstellungskat.]. Hg. Christian Lenz. Heidelb. 1994. – Jutta Ernst: A. F. Graf v. S.: ein Übersetzer u. Literaturvermittler aus Leidenschaft. In: Weltlit. in dt. Versanth.n des 19. Jh. Hg. Helga Eßmann. Bln. 1996, S. 471–492. – Jill Marian Templet: Richard Strauss and A. F. v. S.: observations on the poetry and music of opp. 15, 17 and 19. Diss. Austin 1996. – Erwin Neumann: A. F. Graf v. S. – Versuch einer Annäherung an seine kunstästhet. Auffassungen. In: Mecklenburgische Jbb. 112 (1997), S. 151–156. – Eva Chrambach: A. F. v. S. In: NDB. – Hans-Edwin Friedrich: ›Aufzählen wird uns bald nach Darwins Lehre ein Jeder seine ganze Vorfahr-Reihe‹: Darwinismusrezeption im Epos des 19. Jh. (A. F. v. S., Heinrich Hart). In: Heuristiken der Literaturwiss.: disziplinexterne Perspektiven auf Lit. Hg. Uta Klein. Paderb. 2006, S. 451–471. Walter Schmitz / Red.
Schad, Schadäus, Elias, * 1541 Liebenwerda/Brandenburg, † 19.11.1593 Straßburg. – Theologe, Verfasser von Schriften zur Judenmission. Darstellungen von S.s Vita weisen Lücken u. Ungereimtheiten auf. 1570 heiratete S. Agnes Luckhart; ein Jahr später erwarb er das Straßburger Bürgerrecht. Er war Diakon bzw.
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Pfarrer mehrerer Straßburger Kirchen, seit 1581 Münsterprediger. 1574 erwarb S. den Magistergrad; seit 1586 hatte er eine Professur der Theologie an der Straßburger Akademie, 1589–1593 die Hebräischprofessur neben seiner privaten hebräischen Offizin inne. S. erlag einem Schlaganfall. Abgesehen von Schriften zu Lexik u. Grammatik des Hebräischen bzw. Jiddischen besorgte S. mit Hamishah Das ist Fünf Bücher des Newen Testaments (Straßb. 1592) eine Teilausgabe des Neuen Testaments (Lk, Joh, Apg, Röm, Hebr), welche die luth. Übersetzung in hebr. Schriftzeichen wiedergibt. Luthers Ermahnung zur Judenmission folgend, machte S. in Mysterium [...] Von bekehrung der Juden (Straßb. 1592) Vorschläge zu Siedlungs- u. Bildungspolitik gegenüber Juden; er vertrat dabei, ähnlich wie später Christian Knorr von Rosenroth (1636–1689), eine eher konziliantere Position. Gemeinsam mit seinem Amtskollegen Johann Pappus (1549–1610) sorgte S. für die Konsolidierung der luth. Orthodoxie in Straßburg. In diesen Zusammenhang fällt auch S.s Judicium de Theophrasti Paracelsi scriptis Theologicis (Straßb. 1616), ein frühes Beispiel der Verketzerung Hohenheims durch die Lutheraner u. gleichzeitig eine der ersten Streitschriften gegen die Rosenkreuzer. Neben verstreuter Kasuallyrik hinterließ S., selbst Mitgl. der Meistersänger, das balneografische Gedicht Von dem Greyßbacher und von Sanct Peters Brunnen (Straßb. 1590) über zwei Heilquellen in der Ortenau. Weitere Werke: Grammatica linguae sanctae ex optimis quibusque Authoribus hebraeis et latinis collecta et concinnata. Straßb. 1591. – Oratio de linguae sanctae origine, progressu et varia fortuna. Straßb. 1591. Ausgabe: Judenmissions-Tractate des E. S. Hg. Wilhelm Horning. Lpz. 1892. Literatur: Wilhelm Horning: Magister E. S. Lpz. 1892. – Anton Schindling: Humanistische Hochschule u. freie Reichsstadt. Wiesb. 1977, S. 264 f., 372–374. – Jean Rott u.Marc Lienhard: La communauté des ›frères suisses‹ des Strasbourg. In: Saisons d’Alsace 76 (1981), S. 25–35. – Ralf Georg Bogner: Das ›Judicium‹ des E. S. In: Parerga Paracelsica. Hg. Joachim Telle. Stgt. 1991, S. 121–139. – François Joseph Fuchs: E. S. In: NDBA, Bd. 33 (1999), S. 3387 f. – Hermann Süß u. Heike Tröger: Die altjidd. (jüd.-dt.) Drucke der Universitätsbibl.
Schad Rostock. Erlangen 2003, Nr. 203, 248. – Peter Heßelmann: Unbeachtete oberrhein. Bäder-Lyrik [...]. In: Die Ortenau 85 (2005), S. 345–360. Michael Hanstein
Schad, Johann Baptist, Ordensname: Roman S., * 30.11.1758 Mürsbach, † 13.1. 1834 Jena. – Philosoph.
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mysteriösen Umständen außer Landes gebracht. S. sah darin eine späte Rache der Benediktiner. Er kehrte über Berlin zurück nach Jena u. lebte dort in ärml. Verhältnissen, von seiner als Privaterzieherin arbeitenden Tochter materiell unterstützt. Weitere Werke: Grundriß der Wissenschaftslehre. Jena 1800. – Neuer Grundriß der transcendentalen Logik u. der Metaphysik nach dem Principium der Wissenschaftslehre. Tl. 1: Die Logik. Jena, Lpz. 1801. – Gemeinfaßl. Darstellung des Fichteschen Systems [...]. 3 Bde., Erfurt 1800–1802. Bd. 3 auch u. d. T. Absolute Harmonie des Fichteschen Systems mit der Religion. Ebd. 1802. – System der Natur- u. Transcendentalphilosophie [...]. 2 Bde., Landshut 1803 u. 1804. – Lebens- u. Klostergesch. v. ihm selbst beschrieben. Mit einer freyen Charakteristik der Mönche zu Banz, u. des Mönchthumes überhaupt [...]. 2 Bde., Erfurt 1804.
Als Kind armer Bauern wurde S. streng katholisch erzogen. Ersten Unterricht erteilte der Vater; mit fünf Jahren kam S. in die Schule, 1768 als Chorknabe in das Benediktinerkloster Banz, 14-jährig an ein von Jesuiten geleitetes Gymnasium nach Bamberg, wo er als Domsänger seinen Unterhalt verdiente. 1778 wurde S. Novize in Banz. Dort studierte er intensiv Philosophie, insbes. die Schriften Kants u. Fichtes, u. publizierte, z. B. im »Magazin für Katholiken« (Coburg Literatur: Liepmann: J. B. S. In: ADB. – Jo1796–98) den Aufsatz Über die Wichtigkeit des hannes Richter: Die Religionsphilosophie der Studiums der kritischen Philosophie u. im »Neuen Fichte’schen Schule. Diss. Bln. 1931. – Christoph Teutschen Merkur« (1797) Geständnisse aus Scherer: Der Philosoph J. B. S. Hbg. 1942. – Vladidem Kloster, was ihm innerhalb des Ordens mir Alekseevic Abaschnik: Kant u. der Dt. Idealismus in der Ukraine im ersten Drittel des 19. Jh. Kritik u. Ablehnung einbrachte. Als bekannt Schwerpunkt: J. B. S. (1758–1834). Jena 2002. – wurde, dass S. auch der Verfasser der satir. Volodymyr O. Abasˇ nik: J. B. S. (1758–1834), ProSchrift Über Leben und Schicksal des ehrwürdigen fessor der Philosophie an den Universitäten Jena u. Vaters Sincerus (Coburg 1798) war, musste er Charkov. In: Europa in der Frühen Neuzeit. FS fliehen u. trat – auch um vor den Nachstel- Günter Mühlpfordt. Bd. 6: Mittel-, Nord- u. Ostlungen des Ordens sicher zu sein – zum Pro- europa. Hg. Erich Donnert. Köln/Weimar/Wien testantismus über. Nach seiner Autobiografie 2002, S. 349–380. – Vladimir Abaschnik: J. B. S. In: war für diese Entwicklung neben seiner Kri- Naturphilosophie nach Schelling. Hg. Thomas tik am Klosterleben die Auseinandersetzung Bach u. Olaf Breidbach. Stgt.-Bad Cannstatt 2005, mit Kants Moralphilosophie entscheidend. S. 563–593. – Ders.: J. B. S.s u. Hegels Positionen um 1801. In: Hegel-Jb. 2005, S. 252–257. Dieser folgend, begriff er Gott als Ideal der Gesa Dane / Red. absoluten Freiheit, »das die menschliche Freiheit in ihrer Selbsterkenntniß nothwendig sich selbst bildet, das ihr immer zur Schade, Georg, * 8.5.1712 Apenrade/DäNachahmung vorschwebt, und das so gewiß nemark, † 10.4.1795 Kiel. – Jurist, philowirklich ist, als sie selbst« (Lebensgeschichte von sophischer Schriftsteller. ihm selbst beschrieben. 2 Bde., Altenburg 1828, Bd. 2, S. 284). Nach dem Studium der Rechte in Kiel, UtS. ging nach Jena u. stellte sich Fichte vor; recht u. Leiden ließ sich S. 1741 im dän. Hanach dessen Entlassung (1799) lehrte er dort dersleben (Schleswig) nieder u. gründete eine Philosophie, bes. Fichtes System. Später Anwaltskanzlei. Neben der juristischen Täwandte er sich Schellings Naturphilosophie tigkeit widmete er sich ausgiebig philosozu. phischer Lektüre. Als die preuß. Akademie In Jena heiratete S. eine Coburgerin, mit der Wissenschaften 1747 eine Preisfrage über der er zwei Kinder hatte. 1804 folgte er einem die physikal. Anwendbarkeit u. folglich AkRuf als Philosophieprofessor nach Charkow/ tualität der leibnizianischen Monadologie Russland, wurde dort 1817 entlassen u. unter ausschrieb, reichte S. einen Beitrag ein. Er ist
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nicht überliefert, dürfte aber, wie spätere Schriften S.s, um einen Ausgleich von Leibniz u. Newton bemüht gewesen sein. Aufgrund des metaphysikfeindl. Kurses innerhalb der Akademie ging der Preis jedoch an den sächs. Juristen u. Kameralisten Johann Heinrich Gottlob von Justi, der eine Kritik der Monadologie vorgelegt hatte. S. wandte sich an weitere Teilnehmer, die der Monadenlehre zugetan waren, mit dem Plan, die »Allgemeine Gesellschaft der Wissenschaften und der Tugend« zu gründen, eine geheime Sozietät nach dem Vorbild der Freimaurerlogen u. Rosenkreuzervereinigungen. Als reale Institution mit Versammlungen u. organisatorischer Infrastruktur hat sie indes niemals bestanden. S. stand ausschließlich in briefl. Kontakt mit seinen Mitgliedern u. schaffte es offenbar – durch gedruckte Rundschreiben u. seit 1750 unregelmäßig erscheinende Broschüren – den Eindruck eines intakten Vereinslebens zu erwecken. Eine besondere Rolle spielten dabei S.s philosophisch-spekulative Schriften der folgenden Jahre, die er teilweise als von ihm herausgegebene Einsendungen verschiedener Gesellschaftsmitglieder präsentierte. Besonders in der mehrteiligen Einleitung in die höhere Weltweisheit entwickelte S. Grundzüge einer für die geheimen ›Adepten‹ konzipierten monadologisch-hermetischen Universalwissenschaft, einer Art esoter. Alternative zur Schulphilosophie Christian Wolffs, die neben Kosmologie u. Physik (1. Teil: o. O. 1752) auch Psychologie bzw. Pneumatologie (2. Teil: o. O. 1753) umfasste. Von weiteren geplanten Bänden, die neben der Chemie auch Ökonomie, Staats- u. Kriegskunst behandeln sollten, ist trotz umfangreicher Vorarbeiten nur ein Vorbereitungs-Theil erschienen (Der wahre und unentbehrliche Nutzen der Monadologie in der Naturlehre und Chymie. Altona 1757). Nach zwei ruhigeren Jahren in Sonderburg, in denen sich S. intensiv seinen Studien widmete, zog er 1756 in das liberale Altona, damals unter dän. Herrschaft, um in der unmittelbaren Nähe der Metropole Hamburg seine Sozietätspläne weiter auszubauen. Durch Kooperation mit der Druckerwitwe Weinerth gelang es S. 1758, das Druckprivileg zu erhalten. So konnte er nicht nur die
Schade
Schriften seiner Gesellschaft auf eigene Regie veröffentlichen, sondern auch 1759 die Zeitung »Stats- und Gelehrten Neuigkeiten« begründen, die nicht zuletzt als kommunikative Plattform für die »Allgemeine Gesellschaft« gedacht war. All diese Aktivitäten kamen plötzlich zum Erliegen, als S. 1761 ohne Prozess auf der Festungsinsel Christiansø gefangen gesetzt wurde. Auslöser für die Verurteilung war eine Schrift, in der sich S., ausgehend von seinen naturwissenschaftl. u. wissenschaftsgeschichtl. Studien, für die Suffizienz einer natürl., also nicht mehr an eine histor. Offenbarung gebundenen Religion aussprach. Einmal mehr dient die Monadenlehre als philosophisches Fundament: Die unwandelbare und ewige Religion der ältesten Naturforscher und Adepten (1760; mit falschem Erscheinungsort Bln./Lpz. Neudr. mit einer Einl. hg. v. Martin Mulsow. Stgt.-Bad Cannstatt 1999). An die Stelle der christl. Heilslehre setzt S. das pythagoreische Konzept der Seelenwanderung, das er im Sinne eines moralischen Aufstiegsschemas deutet. Ein solches Eintreten für heterodoxe, nicht zuletzt deistische Ansichten stellte selbst in Altona ein Wagnis dar. Auf eine denunziatorische Rezension in den »Hamburger Anzeigen und Urtheilen von Gelehrten Sachen« (27.10.1760) hin übte der Senat der Hansestadt Druck auf die dän. Regierung aus. Das Buch, das in Hamburg bereits öffentlich verbrannt worden war, wurde beschlagnahmt, der Autor selbst unter Arrest gestellt, bis im Febr. 1761 das Urteil der kgl. Kanzlei erfolgte. Trotz mehrfacher Gnadengesuche wurde S. erst 1772 auf freien Fuß gesetzt. Bis zu seinem Lebensende wirkte er in Kiel als Regierungsadvokat. Weitere Schriften hat er nicht mehr veröffentlicht. Die kulturgeschichtl. Signifkanz seines eigenwilligen Werks beruht auf der Verbindung von leibniz-wolffianischer Metaphysik, hermet. Naturphilosophie u. aufklärerischer Praxisorientierung, die jenseits der philosophischen Spitzenleistungen der Epoche den Denkhaushalt vieler Zeitgenossen bestimmt haben dürfte. Weitere Werke: Histor. Nachricht von dem Anfange, Wachsthum, Hindernissen u. nunmehrigen Fortgange u. Nutzen der zur Ausbesserung der
Schade höheren Natur- u. Geisterlehre vor einiger Zeit errichteten allg. Gesellsch. der Wiss.en bis auf das Jahr 1757. o. O. 1757 (?). – Die vernünftige Metempsychosis oder Archäen- u. Seelenwanderung als das wahre innere u. allg. Gesetz der Natur [...]. o. O. 1760. – Merkwürdige Vorstellung, Deduction u. Bitte eines wegen der natürl. Religion verfolgten Weltweisen an Christian VII. Kopenhagen 1772. Literatur: Martin Mulsow: Monadenlehre, Hermetik u. Deismus. G. S.s geheime Aufklärungsgesellsch. 1747–1760. Hbg. 1998 (Lit.). – Ders.: G. S. In: NDB. Björn Spiekermann
Schade, Johann Caspar, auch: ICS, * 13.1. 1666 Kühndorf bei Meiningen, † 25.7. 1698 Berlin. – Lutherischer Theologe, Pietist, Liederdichter. Sehr früh Halbwaise, kam S. nach dem Tod der Mutter 1679–1685 in die Obhut des hochverehrten Onkels Johann Ernst Schade, des Rektors des Schleusinger Gymnasiums (Trost-Schreiben. In: Geistreicher und erbaulicher Schriften Erster Band [im Folgenden GES]. Mit Vorrede Gottfried Arnolds. Bd. 5, Ffm./Lpz. 1720/21, S. 176–181). Ihm verdankte S. seine solide philolog. Ausbildung. Bestimmend für seinen späteren Weg wurde jedoch die an seinem Studienort Leipzig einsetzende, von ihm entschieden mitgestaltete pietistische Bewegung. Ihr Scheitern um 1690 wurde für S. schließlich – nach 1690 fast kompromittierenden Bemühungen Veit Ludwig von Seckendorfs, S. nach Meuselwitz zu holen (Strauch 2005) – von Philipp Jacob Spener/ Berlin aufgefangen, nicht zuletzt durch Vermittlung von aus Leipzig ausgewiesenen Theologen in Pfarrstellen; S. wurde Ende 1691 an Speners Kirche Diakon. Hier entfaltete er eine weit reichende katechetische, homiletische u. seelsorgl. Tätigkeit. So sehr sich das in einer Fülle von Schriften niederschlug, lange wurde all dies zu Unrecht unterschätzt durch eine Überbewertung von S.s Kampf gegen die formale Beicht- u. Absolutionspraxis. Er ist jedoch weder dem – wie schon die Zeitgenossen meinten – neurotisch-depressiven Verhalten von S. zuzuschreiben, noch enthält jener Kampf wesentl. Elemente pietistischer Gesellschaftskritik (anders Obst 1972). S. vermochte seinem Anliegen in pathetischen, fast pamphletischen Predigten,
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Flugschriften eindringlich Sprachgestalt zu geben: »Lobe wer da wil, ich sage: / beichtstuhl, Satans-stuhl: Feuer-Pfuhl.« Doch D. E. Jablonski berichtet Leibniz im Juli 1699 von starkem Festhalten an der Einzelbeichte bei der Bevölkerung (Ak.Ausg. I 17, S. 320 f.). Es lagen längst schärfere Stimmen zur Sache vor (Heinrich Müller). Auch war die Beicht- u. Absolutionsfrage im Rahmen des Kampfes der Pietisten für »inneren Gottesdienst« häufig ein Streitpunkt. Orthodoxe Gegner aber nahmen jenes Schlagwort S.s auf, pietistische Freunde (allen voran der dadurch äußerst geforderte u. mit seinem Schüler A. H. Francke durchaus nicht einige Spener) suchten erfolglos zu vermitteln – bei markant begründetem Eintreten des gut informierten D. E. Jablonski für S. (Drese 2005, S. 89–94), in Speners Brief an D. E. Jablonski, wohl für Patrick Gordon/England (Spener: Schriften 16/1, S. 66*), natürlich nicht angesprochen. Das Zurücktreten der Beichtproblematik in S.s GES zeigt aber auch den kurzlebigen Charakter dieser 1698 mit Abschaffung der Pflicht zur Einzelbeichte erledigten Auseinandersetzung. Unter den »Stillen im Lande« wirkten S.s in J. A. Freylinghausens Gesangbuch bald gut vertretene Lieder, erbaul. Schriften – mit »Schatzkästlein« wohl auch titelgebend anregend (Bogatzky) – u. die erst im 18. Jh. z. B. in Hof von J. S. Buchka betreuten, um »einen sehr wohlfeilen Preiß« oft aufgelegten Predigten, von Freunden vervollständigt. Bis aus Schlesien und Südosteuropa wurden S.s Schriften aus Halle erbeten. Von hohem Bußernst u. gewissem Anklagepathos geprägt, kommt in ihnen die Distanz zur Welt immer wieder zum Ausdruck. Viele Passagen tragen autobiogr. Züge, wenngleich etwa die Darstellung atheistischer Anfechtung schon topischen Charakter haben kann. – Einer breiten Erforschung der – mitunter stilisierten epistolografischen – Quellen S.s steht die z.T. extreme Seltenheit seiner Werke im Weg. Weitere Werke: Teilsammlungen: FASCICULUS CANTIONUM Das ist Zusammengetragene Geistl. Lieder [...]. Cüstrin [1699?] (Bln. DSB Werniger. Hb 1496). – Fischer/Tümpel. – Predigten über die Evangelia [...]. Ffm. 1714 (mit Vorrede v. Gottfried Arnold, 20.4.1713 [auch in Ausg. 1762]. Exemplar:
225 Goslar Marktkirchen B). Leicht geänderte Aufl.n: Hof 1740. 1751. Gießen 1754 (?). 1762 (ohne Anhänge) [Internet: Google bücher]. 1767. 1778. 1787. Teildr. Hg. Johann Nicolaus Reuter. Nürnb. 1853. – Einzeltitel: Kurtze u. deutl. Einl. zu dem Wahren Christenthum [...]. Lpz. 1689. 61700. – Kinder Gottes Geistliches Schatz-Kästlein u. Güldenes ABC. Lpz. 1694 (auch in GES II). – Vom conscientia erronea [...]. o. O. [1696] (Stuttgart, Landesbibl.). – Die schändl. PRAXIS des BeichtStuhl u. Nacht-Mahls [...]. o. O. 1697 (Augsburg, Stadt- u. Staatsbibl.). – Briefe: GES 5, S. 1–202, Nr. 1–67 (s. Blaufuß 1980, S. 175–186, 51–60; Drese 2005, S. 77; Estermann/Bürger, Tl. 2, S. 1242 f.). – Handschriften in Gotha, Halle/Saale, Karlsruhe. Literatur: Bibliografien: Blaufuß 1980, S. 144–173 (s. u.). – Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 1, S. 344, 346. – Pyritz 2, Nr. 6532–6535, 7407. – Raupp. – Schmidt, Quellenlexikon, Bd. 27, S. 74 f. – VD 17, unvollständig. – Weitere Titel: Joachim Lange: Abdankungsrede für J. C. S. In: Trauerreden des Barock. Hg. Maria Fürstenwald. Wiesb. 1973, S. 351–359. – DBA. – Johann Georg Walch: Histor. u. Theolog. Einl. In die Religions-Streitigkeiten Der Evang.-Luth. Kirche 5. 1739. Nachdr. mit Nachw. v. Dietrich Blaufuß. Stgt. 1985, S. 80–99. – S. Lommatzsch: J. Kaspar S. In: ADB. – Hans Leube: Gesch. der pietist. Bewegung in Leipzig [...] (1921). In: Ders.: Ges. Studien. Bielef. 1975, S. 153–267. – Klaus Harms: Die gottesdienstl. Beichte [...]. Greifsw. 1930, S. 97–107. – August Langen: Der Wortschatz des dt. Pietismus (1954). Tüb. 21968. – Wolfgang Schmitt: Die pietist. Kritik der Künste [...]. Diss. Köln 1958. – Helmut Obst: Der Berliner Beichtstuhlstreit [...]. Witten 1972. – Reinhard Breymayer: Die Bibl. Gottfried Arnolds [...]. In: Linguistica Biblica (1976), Nr. 39, S. 112–114. – D. Blaufuß: Spener-Arbeiten [...]. Bern 21980. Tle. I, 3 u. II (mit älterer Lit., Register). – Philipp Jakob Spener: Schr.en 11–16. Korrespondenz. Hg. Erich Beyreuther. Hildesh. 1987–99. – Ingrid Bernheiden: Individualität im 17. Jh. [...]. Ffm. 1988. – Wolfgang Martens: Lit. u. Frömmigkeit in der Zeit der frühen Aufklärung. Tüb. 1989. – Johann Karl v. Schroeder: Zwei Bildnis-Medaillen auf J. C. S. In: Der Herold 32 (1989), S. 285–287. – Ryoko Murakami-Mori: Der Berliner Beichtstuhlstreit [...]. In: PuN 17 (1991), S. 62–94. – Gesch. Piet., Bd. 1, S. 354–356, 387. – Martin Gierl: Pietismus u. Aufklärung. Theolog. Polemik [...]. Gött. 1997, S. 597 u. Register. – Werner Raupp: J. C. S. In: Bautz (2000). – Solveig Strauch: Veit Ludwig v. Seckendorff [...] Reformationsgeschichtsschreibung [...]. Münster 2005. – Interdisziplinäre Pietismusforschungen [...] 2001. Hg. Udo Sträter u. a. Halle/
Schaden Tüb. 2005 (Register). – P. J. Spener: Briefw. mit August Hermann Francke 1689–1704. Tüb. 2006, S. 730, Anm. 22 u. ö. (Register). Dietrich Blaufuß
Schaden, Johann Nepomuk Adolph von, * 18.5.1791 Oberdorf/Allgäu, † 30.5.1840 München. – Verfasser von Lustspielen u. humoristischen Romanen. Der früh verwaiste Sohn eines Hofrats u. Pflegeverwalters trat 1806 nach dem Besuch des Gymnasiums als Freiwilliger in die bayerische Artillerie ein, wechselte jedoch schon 1809 nach einer schweren Verwundung in den zivilen Dienst u. trat mit dem Ende der Befreiungskriege ganz aus der Armee aus. Nach Aufenthalten in Leipzig, Berlin, Dresden, Prag u. Wien zog er 1822 nach München, wo er bis Ende der 1830er Jahre als Schriftsteller wirkte. S.s Dramen basieren teils – wie sein Erstling Theodor Körners Tod oder das Gefecht bei Gadebusch (Bln. 1817) – auf zeitgeschichtl. Stoffen; in erster Linie versuchte S. jedoch, sich als Verfasser von Lustspielen einen Namen zu machen, so in der Typenkomödie Aurelius Commodus und die Königin von Saba. Originalposse in zwei Akten (Augsb. 1823) oder mit den beiden Grillparzer-Parodien Die Ahnfrau. Ein musikalisches Quodlibet tragikomischer Natur; in einer neu aufgewärmten Versart (Bln. 1819) u. Die moderne Sappho. Ein musikalisch-dramatisches Durcheinander ohne Sinn und ohne Verstand (Lpz. 1819). Auch in seinen zahlreichen Romanen u. Erzählungen behandelt S. sowohl histor. als auch zeitgenöss. Stoffe auf humoristische u. teils derb komisierte Weise. Prägend für S.s literar. Schaffen war die Zusammenarbeit mit Julius von Voß: So ist nicht nur inhaltlich u. formal eine deutl. Orientierung an Voß erkennbar, sondern dieser unterstützte S. auch mehrfach bei der Publikation seiner frühen Werke; gemeinsam veröffentlichten beide die Sammlungen Theaterpossen nach dem Leben (Bln. 1819), die Lebensgemälde üppiger gekrönten Frauen der alten und neuen Zeit (Bln. 1821) u. die u. d. T. Düster und munter! Ein Sträuschen gedruckten »Original-Romane« (Lpz. 1821). Auch die Sentimentalen und Humoristischen Rückblicke auf mein
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viel bewegtes Leben (Lpz. 1838) räumen der Beziehung zu Voß – neben weiteren Bekanntschaften wie August Lewald u. Ferdinand Raimund – besonderen Raum ein. S. verfasste außerdem, v. a. in den 1830er Jahren, zahlreiche Reisehandbücher für München u. Umgebung, die oft mehrfach wiederaufgelegt wurden. S.s Dramen u. Romane fanden wenig Anklang bei der Literaturkritik, waren beim Publikum aber immerhin so beliebt, dass S. sich gegen Autoren wehren musste, die ihre eigenen Werke unter seinem Namen veröffentlichten. Weitere Werke: Schill, oder die Bestürmung Stralsunds. Ein Gedicht in 2 Akten. Bln. 1818. – Die Dt. Emigranten. Skizze zur Charakteristik der Zeit. Boston (Bln.) 1818. – Europas Auswanderer, eine verwilderte Skizze zur Charakteristik einer verwilderten Zeit in einer freien Versart als Gegenstück zu den Dt. Emigranten. Boston (Bln.) 1819. – Feindl. Freunde u. freundl. Feinde. Roman. Bln. 1820. – Der dt. Don Juan. Ein Originalroman. Bln. 1820. – Die span. Johanna. Ein Original-Roman, als Gegenstück zum dt. Don Juan. Bln. 1820. – Katersprung v. Berlin über Leipzig nach Dresden. Dessau/Lpz. 1821. – Das Fischermädchen, oder Kreuzu. Querzüge zu Wasser u. zu Lande. Bln. 1822. – Krit. Bocksprung v. Dresden nach Prag. Schneeberg 1822. – Berlins Licht- u. Schattenseiten. Nach einem mehrjährigen Aufenthalte an Ort u. Stelle skizziert. Dessau 1822. – Theodora, die Leipziger Jungemagd, ein historisch-romant. Original-Gemälde hellen. Hochsinnes u. türk. Barbarei. Lpz. 1822. – Meister Fuchs, oder humorist. Spaziergang v. Prag über Wien u. Linz nach Passau. Dessau 1822. – Des Mainotenfürsten Tertullian Sarvathy u. des dt. Freiherrn v. Maltitz Waffenthaten im heiligen Freiheitskampfe der Hellenen. Romant. Original-Nachtstück. Lpz. 1824. – Mozarts Tod. Trauersp. in drei Acten. Augsb./Lpz. 1825. – Rochus Pumpernickels Tod, oder: Cadiz’ Fall im Jahre 1823. Tragikom. Roman. Lpz. 1824. – Phantasiestücke u. Schwänke in der sammetnen u. drolligen Breughels-Manier. Lpz. 1825. – Die Brieftaube, oder: Der Sturm auf Wittenberg im Jahre 1814. Original-Lustsp. in einem Akte. Lpz. 1825. – Die beiden Dorotheen. Original-Lustsp. Mchn. 1825. – Die Ahnenprobe. Humorist. Original-Feenmährchen aus dem 19. Jh. Mchn. 1825. – Jäckele u. Jakobine, oder: Die Reise nach München zur Eröffnung des neuerbauten Hof- u. National-Theaters. Humoristisch-romant. Originalgemälde. Augsb./ Lpz. 1826. – Skizzen in der Manier des sel. A. G.
226 Meißner. Augsb. 1827/28. – Der Stammbaum in der Klemme. Original-Ritter- u. Geistergesch. der neuesten Zeit. Augsb./Lpz. 1827. – Graf Wallersee, der unwissend Vermählte. Humorist. Schauergesch. Gera 1830. – Jussuph Pascha, oder: Gesch. der an seinem vermeintl. Todestage erfolgten Flucht Napoleons aus St. Helena. Stgt. 1829. – Don Miguel, der furchtbare Kronenräuber oder das polit. Opferfest. Romant. Originalblutgemälde neuester Zeit. Stgt. 1830. – Die schwäb. Landjunkern in Bavariens Haupt- u. Residenzstadt. Humoristisch-romant. Original-Sitten-Gemälde unserer Zeit. Augsb. 1830. – Dr. Martin Luthers geheimnisvolle Reisen v. Augsburg ins Augustinerkloster nach Mindelheim im Jahre 1518. Stgt. 1830. – Die Franzosen in Algier u. die Pariser Revolution im Jahr 1830. Mchn. 1831. – Blutverwandtschaften. Ein Seitenstück zu Goethe’s Wahlverwandtschaften. Romant. Zeitgemälde. Mchn. 1831. – Die histor. Fresken unter den Arkaden des Hofgartens zu München. Mchn. 1832. – Die neuen landschaftl. Fresken unter den Arkaden des Hofgartens zu München. Mchn. 1832. – Neueste topographischstatistisch-humorist. Beschreibung des Tegern- u. Schlier-Sees; des Wildbades Kreuth u. dessen Umgebungen mit der Ansicht des Schlosses zu Tegernsee, einem Kärtchen u. siebzehn maler. Landschaften. Mchn. 1832. – Neueste topographischstatistisch-humorist. Beschreibung des Würm- oder Starnberger-Sees, seiner Ufer u. interessanten Umgebung. Mchn. 1832. – Neue Reisebilder in H. Heines Manier. Aufgenommen im bayer. Hochlande. Mchn. 1832. – Humorist. Rößelsprung v. München nach Partenkirchen, Innsbruck [...]. Mchn. 1833. – Neustes Taschenbuch für Reisende durch Bayerns u. Tyrols Hochlande [...]. Humoristisch, topographisch u. statistisch bearb. v. A. v. S. Mchn. 1833. – Der Bayer in Griechenland. Mchn. 1833. – Neueste humoristisch-topographisch-statist. Beschreibung der Haupt- u. Residenzstadt München u. deren Umgebungen. Mchn. 1833. – Vollständiges Handbuch für Reisende durch die gesammte Schweiz oder Rhätien u. Helvetiens 22 Kantone. Mchn. 1834. – Historisch-romant. Taschenbuch des Abentheuerlichen, Außerordentlichen, Wundervollen u. Seltsamen, in den wirkl. Schicksalen größtentheils geschichtlich-berühmter Personen für das Jahr 1834. Mchn. 1834. – Die Belagerung v. Leyden. Historisch-romant. Gemälde aus der letzten Hälfte des 16. Jh. Danzig 1834. – Neueste Gesammelte Erzählungen. Danzig 1834. – Gelehrtes München im Jahre 1834. Mchn. 1834. – Münchner Vergißmeinnicht oder Erinnerung an den Aufenthalt im dt. Athen. Mchn. 1835. – München wie es trinkt u. ist, wie es lacht u. küßt. Mchn. 1835/36. – Artistisches München im Jahre 1835.
227 Mchn. 1836. – Alpenblumen, oder fünfundzwanzig maler. Ansichten interessanter Berge, Seen, Städte, Burgen, Thäler [...] im bayer. Hochlande. Mchn. 1837. – Lebensbilder. Humoristisch-satyr. Gemälde unserer Zeit. Bunzlau 1838. – GebirgsAlbum oder neueste Slg. nach der Natur neu aufgenommener maler. Ansichten aus Tyrol u. Vorarlberg. Mchn. 1840. Literatur: Franz Brümmer: A. v. S. In: ADB. – Wolfgang Struck: Konfigurationen der Vergangenheit. Dt. Geschichtsdramen im Zeitalter der Restauration. Tüb. 1997, S. 101–103. – Hans Pörnbacher: Schwäb. Literaturgesch. Tausend Jahre Lit. aus Bayerisch Schwaben. Weißenhorn 2002, S. 252. – Hartmut Vollmer: Der deutschsprachige Roman 1815–1820. Mchn. 1993, S. 144–148. – Claude D. Conter: Jenseits der Nation – das vergessene Europa des 19. Jh. Die Gesch. der Inszenierungen u. Visionen Europas in Lit., Gesch. u. Politik. Bielef. 2004, S. 339–350. Christiane Hansen
Schadewaldt, Wolfgang, * 15.3.1900 Berlin, † 10.11.1974 Tübingen; Grabstätte: ebd., Bergfriedhof. – Altphilologe. Ursprünglich wollte S., Sohn eines früh verstorbenen Arztes, Bildhauer werden, studierte aber nach kurzem Kriegsdienst seit 1919 in Berlin Klassische Philologie, Archäologie, Germanistik u. Philosophie bei den Altphilologen Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff u. Werner Jaeger – streng philolog. Observanz pflegte der ältere, nach Sinnbezügen der Antike zur Gegenwart suchte der jüngere – sowie bei Gustav Roethe u. Eduard Spranger. 1924 mit der Euripides-Studie Monolog und Selbstgespräch (Bln. 1926. Bln. u. a. 2 1966) promoviert, wurde er Assistent von Gerhart Rodenwaldt am Deutschen Archäologischen Institut. 1927 habilitierte sich S. in Berlin für Klassische Philologie mit der Studie Der Aufbau des Pindarischen Epinikion (Halle/ S. 1928. Nachdr. Darmst. 1966) u. wurde bereits 1928 Ordinarius in Königsberg. 1929 nach Freiburg i. Br. berufen, war er dort – für kurze Zeit vom Nationalsozialismus beeindruckt – 1933 mitverantwortlich für die Ersetzung des gewählten Rektors durch Martin Heidegger. 1934 übernahm S. einen Lehrstuhl an der Universität Leipzig u. wurde 1941 nach Berlin berufen. Dort stieß er durch die Vermitt-
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lung Sprangers zur Mittwochs-Gesellschaft, von deren Mitgliedern einige – u. a. Generaloberst Ludwig Beck – dem Widerstand angehörten. 1950 folgte S. einem bereits kurz nach Kriegsende an ihn ergangenen, damals jedoch abgelehnten Ruf nach Tübingen. Zu der großen Zahl seiner Schüler, die er als begeisternder Lehrer u. – im Grimm’schen Sinne – Philologe der Sachen, nicht der Wörter, an die dortige Universität zog, gehörten sein späterer Nachfolger Konrad Gaiser u. Hans (Joachim) Krämer, die mit ihren Studien zur ungeschriebenen Lehre eine Revolution der Platon-Forschung auslösten. Die Iliasstudien (Lpz. 1938. Darmst. 1966) sind S.s wissenschaftl. Hauptwerk, in dem er gegen die damals vorherrschende ›zerstückelnde‹ Homer-Analyse den Nachweis der kompositorischen Einheit des Epos u. der Autorschaft eines einzigen, freilich in langer Sängertradition geschulten Dichters der Ilias führte. Der antiken Homer-Legende widmete er das kleine Buch Legende von Homer dem fahrenden Sänger (Lpz. 1942 u. ö.). Anders als in seinen Ilias-Arbeiten, nahm S. in seinen Studien zur Odyssee später selbst eine stärker ›analytische‹ Position ein. Die wachsende Zahl seiner kleineren Homer-Studien fand Eingang in das mehrfach erweiterte u. auch außerhalb gelehrter Kreise viel gelesene Buch Von Homers Welt und Werk (Lpz. 1945. Stgt. 4 1965). Neben Homer galten seine Forschungen der frühgriech. Lyrik, der vorsokrat. Philosophie, den Historikern Herodot u. Thukydides, den attischen Tragikern u. der Fortwirkung der Antike in der dt. Literatur von Johann Joachim Winckelmann über die Weimarer Klassik bis zu Friedrich Hölderlin, Richard Wagner u. Carl Orff. Seit einer mehrmonatigen Rekonvaleszenz im Jugendalter, die ganz von der Lektüre Goethes ausgefüllt war, bildete dieser Dichter neben den Autoren der Antike den zweiten Schwerpunkt von S.s wissenschaftl. Interesse. Zu seinem Lebenswerk zählt auch die, am Modell von Autorenwörterbüchern der Klassischen Philologie ausgerichtete Begründung des GoetheWörterbuchs (Stgt. u. a. 1966 ff.), das neben dem Grimm’schen Wörterbuch zu den ganz wenigen großen Unternehmen gehörte, bei
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denen Akademien der Wissenschaften in der BR Deutschland u. der SBZ/DDR zusammenarbeiteten. In Rundfunksendungen u. Vorträgen schilderte S. das Griechentum als lebendiges Fundament europ. Kultur u. warb für einen modernen altsprachl. Unterricht, der antike Werke nicht als vorbildl. Muster, sondern als auf die Grundstrukturen vereinfachte Modelle von Konflikten, Problemen, Situationen usw. behandeln sollte. Große Wirkung bei einem breiten Publikum erzielte S. mit dem Erzählband Griechische Sternsagen (Ffm./Hbg. 1956. Neudr. Mchn. 1970. Zuletzt: Sternsagen. Die Mythologie der Sterne. Ffm./Lpz. 2002), v. a. aber mit seinen sprachschöpferischen Übersetzungen, die ihn zu einem der bekanntesten Altphilologen des 20. Jh. machten: Die Prosaübertragung der Odyssee (Hbg. 1958 u. ö.) erschließt – bei bewusstem Verzicht auf die Versstruktur – dem dt. Leser zum erstenmal die ›Gegenständlichkeit‹ der homerischen Sprache. Die Aufnahme bei einem breiten Publikum wurde durch den Umstand befördert, dass in der Nachkriegszeit viele Familien vom Schicksal aus dem Kriege heimgekehrter Männer geprägt waren. Bereits 1946 hatte S. zu Peter Suhrkamps Taschenbuch für junge Menschen u. d. T. Die Heimkehr des Odysseus eine Nacherzählung der Odyssee beigesteuert. Postum erschien eine denselben Prinzipien verpflichtete, aber freirhythmisch gestaltete Ilias-Übersetzung (Ffm. 1975), die S. trotz einem schweren Schlaganfall noch zu Ende führen konnte. Seine – zunächst durch Peter Suhrkamp angeregte – Übertragungen von Aischylos, Sophokles, Aristophanes u. Menander (z. T. in: Griechisches Theater. Deutsch von W. S. Ffm. 1964) verbinden philolog. Exaktheit mit den Anforderungen der modernen Bühne, die ihm aus dem engen freundschaftl. Umgang mit zahlreichen Theaterpraktikern vertraut waren, zu denen neben Orff auch die Regisseure Erwin Piscator, Gustav Rudolf Sellner, Wieland Wagner, Harry Buckwitz u. Hansgünther Heyme gehörten. S., dessen Wirken wesentlich dazu beitrug, dass die Universität Tübingen in der Nachkriegszeit nicht nur auf den Gebieten der
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Natur- u. Rechtswissenschaften, sondern auch durch ihre Geisteswissenschaften besondere Anziehungskraft ausübte, war Mitgl. der Akademien der Wissenschaften in Berlin, Heidelberg u. Leipzig sowie der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. 1963 wurde ihm der Reuchlin-Preis der Stadt Pforzheim verliehen, für den er sich mit der Studie Der Gott von Delphi und die Humanitätsidee (Pforzheim 1963) bedankte. S. war u. a. Träger des Großen Verdienstkreuzes mit Stern des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland u. des Österreichischen Ehrenzeichens für Wissenschaft und Kunst. Seit 1962 gehörte er dem Orden Pour le mérite an. S. war verheiratet mit Maria Schadewaldt, einer Tochter des Zürcher Professors der Theologie Arnold Meyer. Weitere Werke: Die Geschichtsschreibung des Thukydides. Bln. 1929. – Sappho. Potsdam 1950. – Hellas u. Hesperien. Ges. Schr.en zur Antike u. zur neueren Lit. Hg. Ernst Zinn. Zürich/Stgt. 1960. 2., verm. Aufl. Hg. Reinhard Thurow u. E. Zinn. Mit Personalbibliographie. 2 Bde., ebd. 1970. – Goethestudien. Ebd. 1963. – Der Aufbau der Ilias. Ffm. 1975. – Tübinger Vorlesungen. Hg. Ingeborg Schudoma. Bd. 1–4, Ffm. 1978–91. – Übertragungen: Pindars Olympische Oden. Ffm. 1972. – Sophokles: Aias. Ffm. 1993. – Sophokles: Antigone. Ffm. 1974. – Sophokles: Elektra. Ffm. 1994. – Sophokles: Ödipus auf Kolonos. Hg. Hellmut Flashar. Ffm. 1996. – Sophokles: Philoktet. Ffm. 1999. – Sophokles: Die Frauen v. Trachis. Ffm. 2000. Literatur: Synusia. Festg. für W. S. zum 15. März 1965. Hg. Hellmut Flashar u. Konrad Gaiser. Tüb. 1965. – Horst Rüdiger: W. S. als Übersetzer. In: Jb. der Dt. Akademie für Sprache u. Dichtung (1966), S. 36–48. – Dino Larese: W. S. Amriswil 1967. – Das Altertum u. jedes neue Gute. FS für W. S. Hg. K. Gaiser. Stgt./Bln. 1970. – Albin Lesky: W. S. In: Orden Pour le mérite. Reden u. Gedenkworte 12 (1974/75), S. 111–123. – H. Flashar: W. S. In: Gnomon 47 (1975), S. 731–736. – Hugo Ott: Martin Heidegger als Rektor der Univ. Freiburg 1933/34. In: Ztschr. für Gesch. des Oberrheins 132 (1984), S. 343–357. – Klaus Scholder (Hg.): Die MittwochsGesellsch. Protokolle aus dem geistigen Dtschld. 1932–1944. Bln. 21982. – Thomas A. Szlezák u. Karl H. Stanzel (Hg.): W. S. u. die Gräzistik des 20. Jh. Hildesh. 2005. – H. Flashar: W. S. In: NDB. Hans-Albrecht Koch
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Schadow, (Johann) Gottfried, * 20.5.1764 Berlin, † 27.1.1850 Berlin; Grabstätte: ebd., Dorotheenstädtischer Friedhof. – Bildhauer, Zeichner, Radierer; Autor von Memoiren u. kunsttheoretischen Schriften.
Schädlich terung‹ [Ausstellungskat.]. Paretz/Potsdam 1993. – Bernhard Maaz: J. G. S. u. die Kunst seiner Zeit [Ausstellungskat.]. Köln 1994. – Martin H. Schmidt: J. G. S.s Auseinandersetzung mit Johann Wolfgang v. Goethe – bezogen auf die Jahre 1800 bis 1823. Diss. FU Bln. 1994. – Ders.: ›Ich machte mir: eine Büste von Goethe‹: S.s Widerstreit mit Goethe. Ffm. u.a. 1995. – Marita Gleiss: S.s Berlin. Zeichnungen v. J. G. S. [Ausstellungskat.]. Bln. 1999. – Claudia Czok: S., Sokrates u. das Judentum: J. G. S. ›Sokrates im Kerker‹ [Ausstellungskat.]. Köln 2002. – Jutta v. Simson: J. G. S. In: NDB. – Sibylle Badstübner-Gröger, C. Czok u. J. v. Simson: J. G. S., die Zeichnungen. Bln. 2006. – C. Czok: Der Bildhauer J. G. S. (1764–1850) als Zeichner: Studien zur Zeichenkunst in Berlin um 1800. Diss. Halle 2006. – Joachim Lindner: Wo die Götter wohnen. J. G. S.s Weg zur Kunst. Bln. 2008. Ingrid Sattel Bernardini / Red.
Der Hauptvertreter der klassizist. Kunst in Berlin um 1800 wurde als Sohn eines Schneidermeisters geboren. Nach der Ausbildung bei Antoine Tassaert u. an der Königlichen Kunstakademie folgte 1785 ein zweijähriger Italienaufenthalt, der ihn auch mit Canova zusammenführte. Als Nachfolger Tassaerts wurde S. 1788 Leiter der Hofbildhauerwerkstatt u. ordentl. Mitgl. der Königlichen Kunstakademie, die ihn 1815 zu ihrem Direktor ernannte. Internationalen Ruhm erwarb S. mit Skulpturen wie etwa der Quadriga auf dem Brandenburger Tor. 14 Porträtbüsten von »rühmlich ausgezeichneten Schädlich, Hans Joachim, * 8.10.1935 Teutschen« (Ludwig I. von Bayern) befinden Reichenbach/Vogtland. – Prosaautor, Essich in der »Walhalla«. S. war aber mit anti- sayist. napoleon. Spottblättern (Radierungen) u. S. war nach einem Germanistikstudium in Berliner Witz- u. Anekdoten-Lithografien Leipzig seit 1959 an der Ostberliner Akadeauch ein feinsinniger Satiriker u. polit. Kari- mie der Wissenschaften tätig (1960 Promotikaturist. on über Phonologie des Ostvogtländischen). Als 1849 erschienenen die Memoiren des 85- Mitunterzeichner der Petition gegen die jährigen S., Kunst-Werke und Kunst-Ansichten Biermann-Ausbürgerung 1977 entlassen, ar(Bln. Neuausg. 1987. Mikrofiche Mchn. beitete er als freier Übersetzer. Die Veröf1994), ein wichtiges kunst- u. zeitgeschichtl. fentlichung seiner seit 1969 entstandenen, in Quellenwerk. Ebenfalls von hohem literar. der DDR nicht gedruckten Prosa in einem Reiz ist S.s Aufsatz Ueber einige in den Propyläen westdt. Verlag machte ihn prominent u. hat abgedruckte Sätze Goethes (in: Eunomia, 1801), wohl die Genehmigung eines Ausreiseantrags in dem er gegen den von ihm Hochverehrten beschleunigt. 1977 übersiedelte er nach die Berliner Kunst in Schutz nimmt. Ein Hamburg; seit 1979 lebt er in (West-)Berlin. bleibendes Denkmal setzte ihm Fontane 1861 S.s frühe Texte (Versuchte Nähe. Reinb. in seinem später in die Wanderungen aufge- 1977), weniger Erzählungen denn kurze, nommenen S.-Aufsatz. zugespitzte Momentaufnahmen, wurden von Weitere Werke: Polyclet oder v. den Maaßen Kritikern u. Kollegen (Grass) gelobt. Scharf u. des Menschen (nach dem Geschlecht u. Alter) [...] u. präzise, zgl. verfremdet durch eine kunstvollAbhandlung v. dem Unterschiede der Gesichtszüge überhöhte Sprache, berichten sie von den [...] der Völker [...]. Bln. 1834. Ergänzung: NatioKleinlichkeiten realsozialistischen Alltags. nalphysiognomien. Bln. 1835. – Aufsätze u. Briefe. Ausgangspunkt ist offensichtlich eine tiefe Hg. Julius Friedländer. Düsseld. 1864. Verzweiflung; mit Hilfe von Sprache wird die Literatur: Herman Grimm: Goethe u. der zerstörerische Banalität der Macht enttarnt. Bildhauer G. S. In: Ders.: 15 Ess.s. 4. F., Gütersloh 1890. – Hans Makkowsky: J. G. S. Jugend u. Auf- Auch die danach im Westen entstandenen stieg 1764–97. Bln. 1927. – Gishold Lammel (Hg.): Texte (zusammengefasst in: Ostwestberlin. J. G. S. Bln./DDR 1987. – Götz Ekkardt: J. G. S. Lpz. Ebd. 1987) zielen auf dunkle Punkte in Ge1991. – Adelheid Schendel: J. G. S., Königin Luise schichte u. Gegenwart. Wenn S. über Obin Zeichnungen u. Bildwerken: ›In stiller Begeis- dachlosigkeit u. Konsum, Euthanasie u. Ter-
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rorismus schreibt, verbergen sich dahinter Mannes (Mal hören, was noch kommt. Ebd. 1995) oder in drei Erzählungen vom abrupten immer die Nöte des Mitleidenden. In seinem ersten Roman (Tallhover. Ebd. Ende glanzvoller Lebensgeschichten (über 1986) hat er die Ursachen dieses Leidens auf den Schriftsteller Stevenson, den Altertumsden literar. Begriff gebracht u. sich »freige- forscher Winckelmann u. den Komponisten schrieben von den Traumata, die den Riß in Rosetti – Vorbei. Ebd. 2007). S.s Insistieren auf den Prinzipien von Verseiner Biographie begleiten« (Wolfgang Emmerich). Aus der Perspektive des Täters pro- nunft u. Aufklärung (gegen Terror u. Gewalt tokolliert er 136 Jahre (1819–1955) im Leben unter der Fahne der Gesellschaftsverändeeines fiktiven dt. Geheimpolizisten, der von rung) mündet in ein kompromissloses StreMetternich über Hitler bis Ulbricht stets der ben nach sprachl. Perfektion. Seine Prosa erBewahrung des Bestehenden dient – bis er innert an Uwe Johnson; wie dieser misstraut sich das Leben nimmt, weil das »Manufak- der »skeptische Linguist« S. (Sybille Cramer) turzeitalter der politischen Polizei zu Ende den Konventionen einer Sprache, die von geht«, weil also die Bespitzelung Dimensio- Politikern unterschiedlichster Provenienz nen angenommen hat, die nicht mehr von immer wieder korrumpiert werden konnte. ihm persönlich beherrschbar sind. Mit den Deshalb pflegt er einen schmucklosen, fast Recherchemethoden des Polizei-Perfektio- kargen Stil, mit dem es ihm gleichwohl genisten Tallhover korrespondiert die akrib. lingt, für unterschiedlichste Stoffe den jeSprache eines Romans, der zgl. die spezifisch weils angemessenen Ton zu finden. Das stellt dt. sozialhistor. Wurzeln eines Dienens um nicht geringe Anforderungen an die Leser, welche die oft nur in Konturen angerissenen jeden Preis bloßlegt. Themen wie intellektuelle Korruption, Bilder für sich selbst vervollständigen müsAnpassung an polit. Macht u. – immer wieder sen. S.s Schreibweise verhindert beiläufiges – die kommunistische Diktatur stehen im Lesen genauso, wie sein virtuoses Spiel mit Zentrum von S.s mittlerweile umfangrei- den Möglichkeiten fiktionaler Literatur. Lechem Werk: in zahllosen Aufsätzen, Essays, ser, die sich den Mühen der Lektüre unterReden u. Interviews (gesammelt in: Der andere ziehen, werden allerdings belohnt durch Blick. Ebd. 2005); im wenig beachteten Text ganz neue Perspektiven auf (deutsche) GeDie Sache mit B (in: Kursbuch 109, 1992, genwart u. Geschichte. S. 81–89) – einer literar. Auseinandersetzung Weitere Werke: Der Sprachabschneider. Reinb. mit dem autobiogr. Faktum einer jahrzehn- 1980 (Kinderbuch). – Mechanik. Assenheim 1984 telangen Bespitzelung durch den eigenen (P.). – Schott. Reinb. 1992 (R.). – Vertrauen u. VerBruder, auf die S. nicht mit Empörung, son- rat. Gött. 1997 (Ess.s). – Gib ihm Sprache. Leben u. dern mit einem vordergründig simplen, tat- Tod des Dichters Äsop. Eine Nacherzählung. Reinb. sächlich ungemein kunstvollen Text reagier- 1999. – Anders. Ebd. 2003 (R.). Literatur: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): H. J. S. te, der das nicht Beschreibbare in Sprache aufhob; in Trivialroman (Reinb. 1998) – einer (Text + Kritik. H. 125). Mchn. 1995. – Wulf Segebrecht (Hg.): Auskünfte von u. über H. J. S. BamParabel über Mächtige (Gangster, Terrorisberg 1995. – Paul Ingendaay: H. J. S. In: LGL. – ten, polit. Nomenklatur?), die den schlei- Theo Buck: H. J. S. In KLG. Hannes Krauss chenden Verlust ihrer Macht nicht wahrnehmen, aber in ihrem Agieren typische Strukturen totalitären Handelns enthüllen; u. unSchaefer, Camillo (Michael), * 21.9.1943 längst im Blick auf das Leben eines »gelernWien. – Verfasser von Romanen u. bioten Emigranten« – des einst vor der Oktografischen Essays. berrevolution geflohenen russisch-amerikan. Botanikers Fjodor K. (Kokoschkins Reise. Ebd. Nach Schulabbruch u. kaufmänn. Lehre ver2010). suchte S. Anfang der 1970er Jahre als Ein anderes wiederkehrendes Thema in S.s Schriftsteller Fuß zu fassen, gründete 1976 Werk ist der Tod: im – auch sprachlich – gemeinsam mit H. Schürrer u. G. Jaschke die verstörenden Monolog eines sterbenden Literaturzeitschrift »Freibord« u. arbeitete
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im Brotberuf bis 1983 bei einer Versicherung. 1987. – ›Gewaltig viele Noten ...‹. Die Musik der Dort lernte er Paul Wittgenstein kennen, von Habsburger. Wien 1996. Wolf Käfer / Christian Teissl dem er (vgl. Thomas Bernhards Drama Wittgensteins Neffe) ein viel beachtetes literar. Porträt verfasste (Wittgensteins Größenwahn. Wien/ Schäfer, Hans Dieter, * 7.9.1939 Berlin. – Mchn. 1986). Aus krit. Sicht wird das Zer- Literaturwissenschaftler, Essayist u. Lyristörungswerk der Welt an dem labilen, ker. stadtbekannten Neffen des Philosophen S., der in Leipzig aufwuchs, schloss sein StuLudwig Wittgenstein bis zu seinem Tod 1979 dium der Germanistik, Geschichte u. Philoin der Anstalt Niedernhart bei Linz geschil- sophie 1968 in Kiel mit der Dissertation Wildert. Dabei geht es S. mehr um die Schaffung helm Lehmann. Studien zu seinem Leben und Werk einer exemplarischen Hyperrealität als um (Bonn 1969) ab. Er ist Mitherausgeber von histor. Genauigkeit. Auch S.s biogr. Essay Lehmanns Gesammelten Werken (8 Bde., Stgt. über Peter Altenberg (ebd. 1979. Erw. 21980. 1982–2009). Von 1974 bis 2004 unterrichtete 3 1992) beschreibt mehr den Außenseiter als er dt. Literaturgeschichte an der Universität den ins literar. Leben Wiens integrierten Regensburg. Dichter. In seinen literaturwissenschaftl. Arbeiten S. erwarb sich früh den Ruf eines Fach- beschäftigt sich S. vor allem mit der Dichtung manns für Wiener Kultur- u. Sittengeschich- des 20. Jh. Große Beachtung fand er mit seite, den er mit Arbeiten wie der 1992/93 in der nen Untersuchungen zur Kultur des »Dritten Wiener Tageszeitung »Die Presse« erschie- Reichs«, die in die These münden, die Hitlernenen Artikelserie Köpfe, Käuze, Untergeher, Diktatur sei »von einem tiefen Gegensatz einem anekdotenreichen Streifzug durch die zwischen nationalsozialistischer Ideologie Wiener Kaffeehäuser, insbes. die Literatenca- und Praxis« bestimmt gewesen. So habe fés, zu festigen wusste. Der proletar. Kultur »nichtnationalsozialistische Literatur« exisder Wiener Vorstadt widmete er sich in sei- tieren bzw. entstehen können, zu deren Vernem ersten Roman Die Erfindung der Angst fassern einige der nach 1945 bekanntesten (Wien 1980). Darin werden Lebenswege u. Schriftsteller gehörten (vgl. die EssaysammSchicksale mehrerer Arbeiter- u. Kleinbür- lung Das gespaltene Bewußtsein. Über deutsche gerfamilien von der Jahrhundertwende bis Kultur und Lebenswirklichkeit 1933–1945. Mchn./ zum Ende des Zweiten Weltkrieges in epi- Wien 1981. Erweiterte Neuausg. mit dem scher Breite dargestellt. S. unternahm hier Untertitel Vom Dritten Reich bis zu den langen den ehrgeizigen Versuch, eine große Stadt- Fünfziger Jahren. Gött. 2009). Um die Vergegenwärtigung privater Versaga u. damit ein ergänzendes Gegenstück gangenheitserlebnisse geht es S. in der zur kurz davor entstandenen Alpensaga, einem Aufsehen erregenden österr. Fernseh- Sammlung Fiktive Erinnerungen (Nachw. von spielzyklus des Autorenduos Pevny/Turrini, Wilhelm Lehmann. Darmst. o. J.), mit der er zu schaffen. Sein zweiter, autobiografisch 1968 als Lyriker debütierte. Erinnerungsbilgefärbter Roman Richter, Loidl, Süsz (Wien der, in denen sich Realität u. Traum vermi1992) hingegen ist in der Gegenwart ange- schen, entwirft er in den Prosagedichten des siedelt u. zeichnet ein iron. Bild der Wiener Bandes Das Familienmuseum (ebd. 1970). Der Boheme, der S. eine Zeit lang selbst angehört unmittelbaren Alltagsgegenwart zugewandt sind seine späteren Gedichte (Kältezonen. Zühat. Mit seinem dritten Roman Segregation rich 1978. Heimkehr. Passau 1988). In ihrem (Neckenmarkt/Wien 2007) bleibt S. im Mittelpunkt steht ein einsames Ich, das mit Künstlermilieu, verlässt jedoch seine Heiwachem Blick die Dinge u. Begebenheiten matstadt u. erzählt von den Gefühlsverwireiner fremd gewordenen Lebenswelt regisrungen innerhalb einer Gruppe von Aussteitriert. S.s in freien Versen verfasste Lyrik gern auf einer griech. Insel. zeichnet eine sachlich-anschaul. Sprache aus, Weitere Werke: Nachtmähr. Wien 1977. – Mayerling. Die Tragödie u. ihre Deutungen. Ebd.
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die auf rhetorische Stilmittel weitgehend verzichtet. Weitere Werke: Holubek. Darmst. 1972 (Prosagedicht). – Dem Leben ganz nah. Mchn./Wien 1982 (L.). – Mein Roman über Berlin. Prosastücke u. Gedichte. Passau 1990. – Herr Oelze aus Bremen. Gottfried Benn u. Friedrich Wilhelm Oelze. Gött. 2001. – Spät am Leben. Warmbronn 2001 (L.). – Final cut. Mit Zeichnungen v. Christoph Meckel. Passau 2002 (L.) – Gottfried Benn u. das Offizierskorps. Warmbronn 2005. – Regensburger Nacht. Mit Linolschnitten v. László Zoller. Regensb. 2005 (L.). – Erinnerungstraining. Aufzeichnungen. Mit Photographien v. Barbara Klemm. Neumarkt 2009. – Herausgaben: Horst Lange: Tagebücher aus dem Zweiten Weltkrieg. Mainz 1979. – Berlin im Zweiten Weltkrieg. Der Untergang der Reichshauptstadt in Augenzeugenberichten. Mchn./Zürich 1985. Überarb. Neuausg. Ebd. 1991. – Wilhelm Lehmanns Stimme u. Echo. Gött. 2005. Literatur: H. D. S. im Dialog mit der Moderne. Eine Ausstellung des Instituts für Germanistik u. der Universitätsbibl. Regensburg. Hg. Siegmund Probst u. Ulrike Siebauer in Verb. mit H. D. S. Neumarkt 2005. – H. D. S. Das Gedicht ›Augustabend im Spitalgarten‹ interpretiert v. Alexander Pfannenstiel. Warmbronn 2009. Peter Langemeyer
Schaefer, Oda (Emma Johanna), geb. Kraus, * 21.12.1900 Berlin, † 5.9.1988 München; Grabstätte: ebd., Waldfriedhof. – Lyrikerin, Erzählerin u. Feuilletonistin. S. entstammt einer künstlerisch begabten Familie des Baltikums. An einer kleinen Berliner Kunstschule lernte sie Grafik u. Kunstgewerbe. Erste lyr. Versuche in den 1920er Jahren brachten S. mit den Autoren des »Kolonne«-Kreises (u. a. Günter Eich, Peter Huchel, Elisabeth Langgässer, Eberhard Meckel, Horst Lange) in Verbindung; der charakterist. »magische Naturton« blieb Kennzeichen ihrer Gedichte, die Naturlyrik ihre eigentl. Domäne. Die Gegnerschaft zum NS-Regime führte wie auch bei anderen Autoren dieser Gruppe in die »innere Emigration«. Sowohl die Heimkehr ihres an einer schweren Kriegsverletzung leidenden zweiten Mannes Horst Lange wie auch der Tod ihres einzigen Sohnes im Zweiten Weltkrieg
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waren einschneidende Erlebnisse, die Trauer u. Verlusterfahrung zu konstanten Motiven ihres Schreibens werden ließen. Mit ihren Bekenntnissen zur Metapher, zum Symbol, zur Schönheit, auch zur religiösen Dimension ird. Existenz, stand S., etwa in ihrem Lyrikband Irdisches Geleit (Mchn. 1947), im Gegensatz zur Kahlschlag-Ideologie der Nachkriegszeit. Das Autorenpaar Lange/S. hielt auch sonst Distanz zum literar. Treiben in der BR Deutschland; die Kontakte zur Gruppe 47 waren eher spärlich. In ihren Erinnerungsbänden Auch wenn du träumst, gehen die Uhren (ebd. 1970) u. Die leuchtenden Feste über der Trauer. Erinnerungen aus der Nachkriegszeit (ebd. 1977) nimmt die seit 1950 in München ansässige Autorin immer auch Bezug zu gesellschaftl. Fragen. Im Gegensatz zu den Achtungserfolgen, die ihre Lyrik u. Prosa bei Kritik u. Lesern hervorriefen, stießen ihre in den 1950er u. 1960er Jahren geschriebenen Modefeuilletons in literar. Kreisen auf ein nicht geringes Befremden, eine Reaktion, über die sich S. zeitlebens amüsierte u. die sie, auf die Notwendigkeit des Geldverdienens hinweisend, damit kommentierte, auch Colette habe einen Kosmetiksalon besessen, u. dies habe ihrer literar. Arbeit nicht geschadet. Für ihr literar. Werk wurde S. mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Lyrikpreis der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz (1950) u. der Ehrengabe der Bayerischen Akademie der Schönen Künste in München (1952). Weitere Werke: Die Windharfe. Balladen u. Gedichte. Bln. 1939. – Die Kastanienknospe. Mchn. 1947 (E.en). – Katzenspaziergang. Poetisches Feuilleton. Ebd. 1956. – Grasmelodie. Gedichte. Ebd. 1959. – Und fragst du mich, was mit der Liebe sei. O. S. antwortet auf eine unbequeme Frage. Mchn./Esslingen 1968. – Der grüne Ton. Späte u. frühe Gedichte. Mchn. 1973. – Die Haut der Welt. E.en u. Augenblicke. Mchn./Zürich 1976. – Wiederkehr. Ausgew. Gedichte. Ausw. v. Walter Fritzsche. Ebd. 1985. – Balladen u. Gedichte. Eine Ausw. Mchn. 1995. Literatur: Zeki Bayram: Gespräch mit dem Gedicht ›Sappho‹ v. O. S. In: Arastirma Dergisi 24 (1997), S. 221–227. – Ulrike Leuschner: Wunder u. Sachlichkeit. O. S. u. die Frauen der ›Kolonne‹. In: Der Traum vom Schreiben. Schriftstellerinnen in München 1860 bis 1960. Hg. Edda Ziegler. Mchn.
233 2000, S. 137–158. – Dies.: ›Das Unsagbare benennen‹. Ein Nachtr. zum 100. Geburtstag der Lyrikerin u. Feuilletonistin O. S. am 21. Dez. 2000. In: Lit. in Bayern 63 (2001), S. 77–80. – Dies.: O. S. In: NDB. – Antje Liebau, Christina Manukowa u. Nadin Seltsam: Aus den Briefen v. Günter Eich an O. S. u. Horst Lange (1945 bis 1960). In: Berliner Hefte zur Gesch. des literar. Lebens 7 (2005), S. 103–116. – Monika Bächer: O. S. (1900–1988). Leben u. Werk. Bielef. 2006. Andrea Stoll / Red.
Schäfer(-Dittmar), Wilhelm, * 20.1.1868 Ottrau/Hessen, † 19.1.1952 Überlingen/ Bodensee; Grabstätte: Ottrau. – Erzähler, Dramatiker, Redakteur. Der Sohn eines Häuslers u. einer Magd wuchs in Gerresheim bei Düsseldorf auf. Als Volksschullehrer war er bis 1896 in Vohwinkel u. Elberfeld tätig. Nach einem Studienaufenthalt in der Schweiz u. in Paris ließ sich S. 1898 als freier Schriftsteller in Berlin nieder. 1900–1923 war er Herausgeber von »Die Rheinlande« (Düsseld.) u. lebte in Vallendar, seit 1918 in Überlingen. 1931 verließ er aus ideolog. Gründen mit Kolbenheyer u. Emil Strauß die Preußische Dichterakademie. 1941 erhielt er den Goethe-Preis der Stadt Frankfurt. Nach ersten erzählerischen (die Bauerngeschichten Mannsleut) u. dramat. Versuchen (Ein Totschläger. Beide Elberfeld 1894) kehrte sich S. von der »Zustandsschilderung des Naturalismus« ab u. entwickelte seit 1901 eine mannigfaltige u. für sein Werk charakterist. Kurzepik: Anekdoten (mehrere Sammlungen, u. a. Dreiunddreißig Anekdoten u. Neue Anekdoten. Mchn. 1911 bzw. 1926) u. Novellen (z. B. Die Halsbandgeschichte. Ebd. 1910. Hölderlins Einkehr. Ebd. 1925. Winckelmanns Ende. Ebd. 1925) nach dem Vorbild Hebels u. Kleists. Bei Verzicht auf psycholog. Ausleuchtung stellt S. den – meist (welt-)historischen – Vorgang ins Zentrum, wobei er versucht, die Strenge der Form mit Volkstümlichkeit der Aussage zu vereinen. Daneben konzentrierte sich S. auf biogr. Romane: Am bekanntesten wurde Der Hauptmann von Köpenick (Mchn. 1930), erschienen ein Jahr vor Zuckmayers Dramatisierung u. basierend auf der Lebensgeschichte des Schusters Wilhelm Voigt, der mit Hilfe
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einer Uniform ein auf Autoritätsgläubigkeit, Bürokratie u. Militarismus ausgerichtetes System entlarvt. Als erster Teil einer Art Schweizer Trilogie erschien, S.s eigene Künstlerproblematik spiegelnd, in Ich-Form (des gescheiterten Malers) Karl Stauffers Lebensgang. Eine Chronik der Leidenschaft (ebd. 1912); in dem in dt. »Ursprache« dargebotenen Lebenstag eines Menschenfreundes (ebd. 1915) wendet sich S.s fortschrittspessimistischer u. antizivilisatorischer Impuls anhand des Lebenswerks Pestalozzis gegen die »Sklavenherrschaft der Bildung«; Huldreich Zwingli. Deutsches Volksbuch (ebd.) folgte 1926. S.s Selbstverständnis zeigt die Rede Der Schriftsteller (Ffm. 1911) auf: In »volkstümlicher Berufung und Verantwortung« habe er seinem Erziehungsauftrag nachzukommen. Von dt. Sendungsbewusstsein zeugen Die dreizehn Bücher der deutschen Seele (Mchn. 1922; 1952: 227. Tsd.) – konzipiert als archaisierendes Dokument dt. Geschichte u. Kultur bis zur Weltkriegszeit mit romantisierender Mystifizierung der dt. »Volksseele«. Damit leistete er in der NS-Zeit der Propagierung eines völkisch-nationalistischen Lebensmodells Vorschub. Weitere Werke: Rheinsagen. Bln. 1908. – Die unterbrochene Rheinfahrt. Mchn. 1913 (N.). – Hundert Histörchen. Ebd. 1940. – Novellen. Ebd. 1943. – Rechenschaft. Kempen 1948 (Autobiogr.). – Die Anekdoten. Ausg. letzter Hand. Stgt. 1957. Literatur: Bibliografie: Conrad Höfer: W. S.-Bibliogr. Bln. 1937. – Weitere Titel: Hans Lorenzen: Typen dt. Anekdotenerzählung. Kleist – Hebel – S. Diss. Hbg. 1935. – Josef Hamacher: Der Stil in W. S.s ep. Prosa. Diss. Bonn 1951. – Todd C. Hanlin: Literature and Political Prejudice: The Victimization of W. S. In: Dt. Exillit. Hg. Wolfgang Elfe u. a. Bern u. a. 1981, S. 54–59. – Gertrude Cepl-Kaufmann: Von Gerresheim nach Düsseldorf: W. S.s literar. Anfänge. In: Das literar. Düsseldorf: zur kulturellen Entwicklung v. 1850–1933. Hg. ders. u. Winfried Hartkopf. Düsseld. 1988, S. 165–174. – Albrecht Classen: Der Tristan-Stoff im 20. Jh.: moderne Novellistik u. mittelalterl. Rezeptionsformen. W. S.s ›Anckemanns Tristan‹. In: Carleton Germanic Papers 24 (1996), S. 109–126. – Carsten Würmann: Vom Volksschullehrer zum ›vaterländischen Erzieher‹: W. S., ein völk. Schriftsteller zwischen sozialer Frage u. dt. Seele. In: Dichtung im Dritten Reich? Zur Lit. in Dtschld. 1933–1945.
Schäferdiek Hg. Christiane Caemmerer. Opladen 1996, S. 151–168. – Sabine Brenner: ›Wir ungereimten Rheinländer wollen es wieder richtig machen‹: W. S. u. die Kulturztschr. ›Die Rheinlande‹. In: ›Ganges Europas, heiliger Strom!‹ Der literar. Rhein (1900–1933) [Ausstellungskat.]. Hg. S. Brenner. Düsseld. 2001, S. 47–74. – Kerstin Glasow: ›im spitzen Winkel gegeneinander denken‹. Der Briefw. zwischen Hesse u. W. S. In: ›Beiden Rheinufern angehörig‹. Hermann Hesse u. das Rheinland [Ausstellungskat.]. Hg. S. Brenner. Düsseld. 2002, S. 77–84. – Mechthild Curtius: Über die Möglichkeiten u. Schwierigkeiten, sich einem Heimatdichter filmisch zu nähern: Essay über den rhein. Schriftsteller W. S. In: Lit. in Westfalen 7 (2004), S. 397–412. – Wolfgang Delseit: W. S. In: NDB. Gabriela Walde / Red.
Schäferdiek, Willi, auch: Hermann Domhoff, * 19.1.1903 Speldorf (heute Stadtteil von Mülheim an der Ruhr), † 26.3.1993 Troisdorf. – Erzähler, Lyriker, Dramatiker.
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14.9.1933 vom Westdeutschen Rundfunk Köln, wiederholt am 3.6.1986 u. 15.9.1989 vom WDR) sozialutopisch ausgestaltet wird, bleibt allerdings undifferenziert u. kann in ihrem pathet. Vortrag den Mangel an dramat. Substanz nicht verdecken. Überzeugender ist erst die Darstellung des Untergangs revolutionärer Ideen im Ränkespiel der Politik, so in der »Komödie einer Republik« Wer ist mit im Spiel?! (1935; Urauff. Wiesbaden, 8.2.1939; eine Hörspielfassung wurde am 24.3.1983 vom WDR u. NDR u. am 18.1.1984 vom Deutschlandfunk gesendet), welche die Machtübernahme Napoleons u. den Verrat der Französischen Revolution durch Geschäftemacher thematisiert. Mit der epischen Gestaltung des Münzerstoffs in Rebell in Christo (Hattingen 1953. Mchn. 1989. Ffm. 1992) fand S. über dessen Lehre hinaus auch zur Darstellung der Person des Revolutionärs u. entwarf ein spannendes, wenngleich bisweilen flächiges Panorama des Reformationszeitalters.
Nach dem Tod des Vaters (1916), der die FaWeitere Werke: Matthias Tobias. Ein rhein. milie mittellos zurückließ, musste der Ar- Schelmenroman. Lpz. 1938. 3., wesentlich erw. beitersohn S. in einer Schreinerei arbeiten. Aufl. Bergisch Gladbach 1949. – Marina zwischen 1917–1921 besuchte er das Lehrerseminar in Strom u. Moor. Salzb./Lpz. 1939. Bonn u. a. 1951 Kettwig, ohne es abzuschließen. Danach war (R.). – Ges. Bühnenwerke. Siegburg 1981. – Oh er als Bankangestellter tätig. Von Ernst Flügelschlag des Bussards. Ebd. 1982 (ges. L.). – Casanovas verschwiegene Abenteuer. Erzählungen, Hardt, dem ersten Leiter des WDR, wurde er Historien, Kalendergesch.n. Ebd. 1982. – Drei1926 als Dramaturg u. Redakteur nach Köln klang. Ebd. 1984 (R.e). – Lebens-Echo. Erinnerunberufen. 1937 wechselte er an den Reichs- gen eines Schriftstellers. Düsseld. 1985. – ›Ich war sender Saarbrücken, 1939 an den dt. Kurz- mit dabei‹. Hautnah erlebte Zeitgesch. Erlebniswellensender nach Berlin. Nach der Teilnah- zeugen berichten. o. O. [Siegburg] 1991. me am Zweiten Weltkrieg seit 1944 u. ameLiteratur: Claudia Maria Arndt: Buch, Bühne rikan. Kriegsgefangenschaft ließ S. sich 1945 u. Radio. Schlaglichter aus Leben u. Werk v. W. S. in Siegburg nieder, wo er, neben seiner Tä- anläßlich seines 100. Geburtstags. In: Heimatbl. tigkeit als freier Schriftsteller u. Rundfunk- des Rhein-Sieg-Kreises 71 (2003), S. 182–195. – W. mitarbeiter, Öffentlichkeitsarbeit für Indu- S. 1903–2003. Hg. Harry Böseke. Münster 2003 strieunternehmen leistete. Er war der erste (Schriftenverz. in Ausw. S. 77–85). Michael Geiger / Bruno Jahn Vorsitzende des Westdeutschen AutorenVerbandes. S.s Frühwerk, das in der »szenischen BalSchaeffer, Albrecht, * 6.12.1885 Elbing/ lade« Mörder für uns (Bonn 1927. Urauff. Westpreußen, † 4.12.1950 München; Mannheim, 22.5.1927) u. dem Erzählband Grabstätte: Hannover, Engesohder Ende der Kreatur (Dresden 1930) in wirtschaftl. Friedhof. – Romancier, Erzähler, Lyriker, Not geratene Menschen u. ihre verzweifelten Dramatiker, Übersetzer. Taten darstellt, ist sozialkrit. Anklage. Seine Alternative, die Botschaft der Liebe, die im S., Sohn eines Architekten im Staatsdienst, Thomas-Münzer-Drama Der Trommler Gottes verbrachte seine Jugend in Hannover. Er (Mchn. [1932]; Hörspielfassung gesendet am studierte 1905–1909 ohne Abschluss alte u.
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neuere Sprachen in München, Marburg u. Berlin. Nach kurzem Redaktionsvolontariat in Eberswalde lebte er bei den Eltern in Hannover. Ein erster Gedichtband wurde 1911 vom Vater finanziert. Erst 1913 kam auf Empfehlung Stefan Zweigs die Verbindung zum Insel Verlag zustande, in dem bis 1931 fast alle Werke S.s erschienen u. zu dessen produktivsten Autoren er zählte. 1914 wurde S. nach kurzem Dienst beim Landsturm wegen einer Erkrankung in die Pressestelle der Kriegsbeschädigtenfürsorge in Berlin versetzt. Seine anfängl. Kriegsbegeisterung wich bald innerer Distanz. Die privilegierte Stellung erlaubte S. eine bemerkenswert umfangreiche literar. Tätigkeit u. vermittelte die Bekanntschaft mit Otto von Taube u. Ludwig Strauß, mit dem zusammen S. Parodien auf die Gedichte Stefan Georges veröffentlichte: Die Opfer des Kaisers, Kremserfahrten und die Abgesänge der hallenden Korridore (Lpz. 1918). 1919 zog S. mit seiner Frau, Irma Bekk, wegen der schlechten Versorgungslage nach Neubeuern/Obb. Hier wurde der Bildungsroman Helianth. Bilder aus dem Leben zweier Menschen von heute und aus der norddeutschen Tiefebene (3 Bde., Lpz. 1920. Von S. gekürzte Neuausg. 2 Bde., ebd. 1928. Neuausg. der Erstausg. mit einem Nachw. von Adolf Muschg. Hg. Rolf Bulang. Bonn 1995) abgeschlossen, der als S.s bedeutendstes Werk gilt. Während der 1920er Jahre folgten neben dem zweiten großen Werk, Parzival. Ein Versroman in drei Kreisen (ebd. 1922), mehrere Romane u. Kleinepen sowie zahlreiche Novellen. Langjährige Freundschaften verbanden S. mit Hans Carossa, Martin Buber u. Sigmund Freud. Nach der Trennung von seiner ersten Frau heiratete er 1931 Olga Elisabet Heymann u. zog nach Rimsting/Chiemsee. Aufgrund seiner Zurückgezogenheit geriet S. nicht in Konflikt mit den Nationalsozialisten, allerdings fand er als »politikreiner Mensch« zusehends weniger Publikationsmöglichkeiten. In den 1930er Jahren knüpfte er Kontakte zu Kurt Ihlenfeld u. dem Kreis von Autoren um die Zeitschrift »Eckart«. 1939 emigrierte S. in die USA, um seinen schulpflichtigen Kindern »die Vergiftung ihrer Seelen durch die Pestilenz« zu ersparen.
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In Croton-on-Hudson/New York betrieb seine Frau ein Heim für Emigrantenkinder, während S., fast völlig isoliert, seine literar. Arbeiten fortsetzte. Nach dem Tod seiner Frau siedelte er 1947 nach New York über, wo er von Sozialhilfe lebte. Erst 1950 kehrte S. in die BR Deutschland zurück, fand neue Verleger, erfuhr durch die Verleihung des Niedersächsischen Literaturpreises die einzige öffentl. Anerkennung seines Werks u. starb – noch vor der Preisverleihung – an einem Herzinfarkt. Die Grabrede hielt Hans Henny Jahnn. S. begann als neuromant. Lyriker in der Nachfolge Stefan Georges. Bald jedoch deutete die Hinwendung zum Roman (Josef Montfort. Lpz. 1918. Neubearb. u. d. T. Das nie bewegte Herz. Bln. 1931. Elli oder Sieben Treppen. Lpz. 1919. Neubearb. Wiesb. 1949) auf ein verändertes Selbstverständnis, wie es sich in den George-Parodien u. vor allem im großen Essay über George (in: Dichter und Dichtung. Lpz. 1923) dokumentierte. Im Helianth, den die Zeitgenossen mit den Romanen Joyces u. Prousts verglichen, versuchte S. die Erneuerung des dt. Bildungsromans mit den Mitteln der Moderne: Georg von Trassenberg durchläuft eine Reihe von Irrwegen, bevor er sich schließlich der Regierung des gleichnamigen Herzogtums gewachsen zeigt. Dieses Motiv des Suchens prägt ebenso S.s Odysseus (Die Meerfahrt. Lpz. 1912. Neubearb. u. d. T. Der göttliche Dulder. Ebd. 1920) wie noch den Parzival, jenes Epos, in dem er »die Verschmelzung germanischer Übersinnlichkeit und hellenischen Formwillens« zum »Sucherroman« anstrebte. In seinen Novellen (Das Prisma. Lpz. 1925. Mitternacht. Ebd. 1928), die mit legenden- u. parabelhaften Zügen zwischen klass. Strenge u. sachl. Realismus oszillieren, nahm S. schon früh Einflüsse von Freuds Psychoanalyse auf. Die Übersetzung antiker Literatur (Des Apuleius sogenannter Goldener Esel. Lpz. 1926. Die Odyssee Homers. Bln. 1927. Die Ilias. Ebd. 1929) führte schließlich zur Beschäftigung mit Problemen des Mythos, dem ein Teil des Spätwerks, v. a. im Exil, galt. In den USA setzte S. auch die Umarbeitung fast aller früheren Werke fort, von denen aber nur wenige nach seiner Rückkehr noch veröffentlicht wurden. So
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entstand die paradoxe Situation, dass S.s Werke in der von ihm gewünschten Gestalt großenteils bis heute ungedruckt im Nachlass ruhen.
Briefe an Otto v. Taube. In: Ostpreußen. Facetten einer literar. Landschaft. Hg. ders. Bln. 2001, S. 67–89. Rolf Bulang / Red.
Weitere Werke: Attische Dämmrung. Lpz. 1914 (L.). – Rainer Maria Rilke. Ebd. o. J. [1916] (Ess.). – Gudula oder Die Dauer des Lebens. Ebd. 1918 (E.). – Demetrius. Bln. 1923 (Trauersp.). – Krit. Pro Domo. Bln. 1924 (Ess.s). – Der goldene Wagen. Legenden u. Mythen. Lpz. 1927. – Griech. Helden-Sagen. 2 Bde., Lpz. o. J. [1929/30]. – Gedichte aus den Jahren 1915–30. Ebd. o. J. [1931]. – Das Opfertier. Ebd. o. J. [1931] (E.en). – Der Roßkamm v. Lemgo. Bln. 1933. Neubearb. u. d. T. Janna du Coeur. Mchn. 1949 (R.). – Der General. Ffm. 1934. Neubearb. Witten/Bln. 1955 (E.). – Cara. Potsdam 1936. Neubearb. ebd. 1948 (R.). – Aphaia. Der Weg der Götter, Völker u. Zahlen. Ebd. 1937. – Rudolf Erzerum oder des Lebens Einfachheit. Stockholm 1945 (R.). – Enak oder das Auge Gottes. Hbg. 1948 (E.). – Der Auswanderer. Überlingen 1950 (E.en, N.n). – Mythos. Abh.en über die kulturellen Grundlagen der Menschheit. Hg. Walter Ehlers. Heidelb./Darmst. 1958. – Traumdeutung. Zwei E.en u. eine Theorie zur Psychoanalyse. Hg. Bernd Rauschenbach. Zürich 1985.
Schäffer, Johann Christian Heinrich, * 1753 Kehl, † 2.2.1833 Altona. – Schauspieler, Bühnenschriftsteller, Lyriker.
Literatur: Bibliografie: Walter Ehlers (Hg.): A. S. Das Werk. Hbg. 1935. Forts. im Jb. der Akademie der Wiss.en u. der Lit. Mainz 1951, S. 139–142. – Weitere Titel: Walter Muschg: Der dichterische Charakter. Eine Studie über A. S.s ›Helianth‹. Bln. 1929. – Alexandra Melnyk: S.s u. Wolframs Parzival-Epen. Diss. Graz 1948. – Peter H. Madler: Das Bildungsgut in A. S.s ›Helianth‹. Diss. Ebd. 1956. – A. S. 1885–1950. Kat. zur Gedächtnisausstellung. Marbach 1961. – Heidi E. Faletti: A. S. In: Dt. Exillit., Bd. 2,1, 1989, S. 826–854. – Dies.: The Problem of ›Sprachnot‹ and the Quest for ›Mythos‹ in A. S.’s Exile ›Erzählung‹, ›Die Verwechslung‹. In: Neoph. 73 (1989), S. 424–437. – Rolf Bulang: Ludwig Strauss u. A. S. Umriß einer Freundschaft. In: Ludwig Strauss 1892–1992. Beiträge zu seinem Leben u. Werk mit einer Bibliogr. Hg. Hans Otto Horch. Tüb. 1995, S. 227–250. – H. E. Faletti: Der Feuermythos u. die Beziehung A. S.s zu Sigmund Freud. In: GRM 73 (1992), S. 428–443. – Dossier A. S. In: Juni 22 (1995), S. 8–61. – R. Bulang: A. S.s ›Helianth‹. Zur Ed. der Exilfassung. In: die horen 41 (1996), H. 183, S. 165–172. – Christina E. Russu: Zur Phantastik in den Werken A. S.s. Ann Arbor 1998. – R. Bulang: ›Das Verlassen der Heimat hatte nur Schrecken für mich‹. A. S.s Weg ins Exil. In: Dt. Autoren des Ostens als Gegner u. Opfer des NS. Hg. Frank-Lothar Kroll. Bln. 2000, S. 179–188. – F.-L. Kroll: Eine preuß.-balt. Dichterbegegnung. A. S.s
Über S.s Leben ist wenig bekannt. Er war Schauspieler u. Souffleur, u. a. in Weimar. Erfahrungen aus dieser Zeit hat S. in einem Lustspiel verarbeitet: Nichts mehr und nichts minder sind gute Souffleurs als Eselsbrücken für faule Acteurs; ein Theatralisches Gemählde (Dtschld. 1789). Von 1786 an war S. Antiquar in Hamburg; dort erschien sein Band Vermischte Gedichte (1800). Seit 1802 lebte er in Altona; S. hinterließ eine Reihe von Gelegenheitsdichtungen, die alle zu seinen Lebzeiten, z. T. in Einzeldrucken, erschienen. Weitere Werke: Sigmund Backtrog, oder das Kind ohne Vater. Weimar 1792 (Lustsp.). – Auf Dr. Bahrdt’s Tod. Dtschld. 1792. – Die Friedensfeier. Ebd. 1801 (D.). – Herausgeber: Leben, Schicksal u. Vorgänge meines Großvaters [...] Johann Balthasar Schäffers, ehemaligen Augustinerpaters u. nachherigen Hoftanzmeisters zu Sachsen-Meiningen v. ihm selbst [...] aufgesetzt [...]. Jena 1791. Literatur: Meusel 10, S. 549. – Hans Schröder: Lexikon der hamburg. Schriftsteller. Bd. 6, Hbg. 1873. – Kosch TL. Gesa Dane
Schäffle, Albert (Eberhard Friedrich), * 24.2.1830 Nürtingen, † 25.12.1903 Stuttgart. – Nationalökonom u. Soziologe. Nach dem Besuch des Seminars in Schönthal u. des evang. Stifts in Tübingen sammelte S. 1850–1855 journalistische Erfahrungen beim »Schwäbischen Merkur«. 1855 bestand er die Dienstprüfung für den höheren Staatsdienst. 1856 wurde er mit einer staatswissenschaftl. Arbeit promoviert. Als Mitarbeiter an Cottas »Deutscher Viertelsjahrsschrift« befasste er sich mit nationalökonomischen Themen. 1860 erhielt er den Lehrstuhl für Staatswissenschaft in Tübingen. Er engagierte sich, großdt. Positionen vertretend, in der Hochschulpolitik, 1861–1865 als Mitgl. des württembergischen Landtags, als Vorstand im Deutschen Reformverein u. 1868
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Schätzing
im Zollparlament. 1868 nach Wien berufen, Schätzing, Frank, * 28.5.1957 Köln. – war S. 1871 für kurze Zeit Handelsminister Verfasser von Kriminalromanen, Scienceim Kabinett Hohenwart, an dessen föderalis- Fiction-Thrillern u. Essays; Musiker. tischer Politik er wesentl. Anteil hatte. Von 1872 an war er als Privatgelehrter, Publizist Der Kommunikationswissenschaftler arbeiu. Herausgeber der »Zeitschrift für die ge- tete bis 2004 in leitender Funktion in verschiedenen Werbeagenturen. Daneben entsamte Staatswissenschaft« tätig. S. sah die Gesellschaft im Gegensatz zu der standen seit Anfang der 1990er Jahre erste vom Individuum ausgehenden Soziologie als Novellen u. Satiren; 1995 erschien sein Deein Ganzes, als einen dem menschl. Körper bütroman Tod und Teufel (Köln), ein histor. vergleichbaren Funktionszusammenhang. Kriminalroman aus dem Köln des 13. Jh. Sein Hauptwerk Bau und Leben des socialen Obwohl S. zunächst nur in der Freizeit Körpers (4 Bde., Tüb. 1875–78) dokumentiert schrieb, betrieb er umfassende Recherchen. den Einfluss der Naturwissenschaft einerseits Die folgenden Werke – Mordshunger (Köln auf einer heuristisch-metaphor., andererseits 1996), Die dunkle Seite (Köln 1997) u. der polit. auf einer theoret. Ebene. S.s zeittypisch Thriller Lautlos (Köln 2000) – behalten den ganzheitl. Ansatz erwies sich, wie seine Aus- lokalen Schwerpunkt bei u. machten S. zu einandersetzung mit dem Sozialismus (Die einem bekannten Vertreter des sog. KölnQuintessenz des Sozialismus. Gotha 1875. Die Krimis. Mit dem Science-Fiction-Thriller Der Aussichtslosigkeit der Sozialdemokratie. Tüb. Schwarm (Köln 2004) verließ S. die Köln-The1885) zeigt, als politisch mehrdeutig. Weitere Werke: Das gesellschaftl. System der matik mit großem internat. Erfolg. Der Romenschl. Wirtschaft. Tüb. 1867. – Dt. Kern- u. man, in dem intelligente Lebewesen aus der Zeitfragen. 2 Bde., Bln. 1894/95. – Aus meinem Tiefsee die Menschheit bekämpfen, wurde in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt u. erLeben. 2 Bde., Bln. 1905. Literatur: Fritz K. Mann: A. S. als Wirtschafts- möglichte S. eine berufl. Konzentration auf u. Finanzsoziologe. Jena 1932. – Leopold v. Wiese: das Schreiben. Für Der Schwarm erhielt S. A. S. als Soziologe. In: Gründer der Soziologie [...]. zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den CorineJena 1932, S. 1–10. – Knut Borchardt: A. S. als Literaturpreis für Belletristik (2004) u. den Wirtschaftstheoretiker. In: Ztschr. für die gesamte Deutschen Science-Fiction-Preis (2005). Mit Staatswiss. 117 (1961), 4, S. 610–634. – Imai-Alex- dem maritimen Sachbuch Nachrichten aus eiandra Röhreke: A. S.s Wandlungsprozess vom linem unbekannten Universum (Köln 2006) beralen Zentralisten zum freiheitl. Konservativen wandte sich S. einer neuen Textgattung zu; in Österr. Wien 1971. – Karl Bücher: Festgaben für A. S. zur siebenzigsten Wiederkehr seines Ge- erzählt wird die Entwicklung des Meeres von burtstages am 24. Febr. 1901. Ffm. 1989. – Dirk den Anfängen bis zu Zukunftsperspektiven. Kaesler: A. S. In: NDB. – Karl-Heinz Schmidt: Des Dem Thema Meer blieb S. auch als Heraussciences économiques à l’économie sociale et à la geber verbunden: Die tollkühnen Abenteuer der sociologie fiscale: références d’A. E. S. (1831–1903). Ducks auf hoher See (Hbg. 2006) sind eine In: La pensée économique allemande. Hg. Alain Sammlung von 25 Donald-Duck-Comics von Alcouffe u. Claude Diebolt. Paris 2009, S. 269–287. Carl Barks, von S. ausgewählt u. kommen– Jürgen Backhaus (Hg.): A. S. (1831–1903): the letiert. In seinem opulenten Science-Fictiongacy of an underestimated economist. Ffm. 2010. – Thriller Limit (Köln 2009) entwirft er das fuGeoffrey M. Hodgson: A. S.’s critique of socialism. In: Economic theory and economic thought [...]. turistische Szenario einer Energieversorgung mittels Bergbau auf dem Mond u. eines Hg. John Vint. London u. a. 2010, S. 296–315. Günther Lottes / Red. Weltraumlifts (sowie der Bedrohung durch eine globale Verschwörung). Der Stil der Werke, von S. selbst als »filmisch« charakterisiert, zeichnet sich v. a. durch eine Kombination von Elementen des Science-Fiction- u. des Kriminalromans mit Elementen des Sachbuchs aus. Diese techn.,
Schäuffelen
polit. u. histor. Sachtexte werden subtil in eine polyperspektivische Erzählform eingebettet u. tragen so zur Handlung bei. Die Inhalte entspringen den persönl. Interessen S.s, vor allem der Bezug zu den Ozeanen, der im aktiven Sporttauchen u. in der Unterstützung von Meeresschutzprojekten besteht. Weitere Werke: Keine Angst. Geschichten aus der Zwischenwelt. Köln 1997. – Science-Fiction für Höhlenmenschen – Wie man Wiss. erfolgreich unters Volk bringt. In: Fakt, Fiktion, Fälschung. Hg. Grit Kienzlen u. a. Konstanz 2007, S. 144–151. Literatur: Berbeli Wanning: Yrrsinn oder die Auflehnung der Natur: Kulturökol. Betrachtungen zu ›Der Schwarm‹ v. F. S. In: Kulturökologie u. Lit. Hg. Hubert Zapf. Heidelb. 2008, S. 339–357. – Gerhard Matzing: F. S. über Beststeller. Interview. In: SZ, 2./3./4.10.2009. Andreas Grünes
Schäuffelen, Konrad Balder, * 16.6.1929 Ulm. – Psychiater, Verfasser konkreter Poesie u. experimenteller Literatur, Übersetzer; bildender Künstler.
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Künstler war S. bei der Biennale (1969, 1986) sowie bei der Documenta 6 (1977) vertreten. 1979 erhielt er den Schwabinger Kunstpreis. Seit den 1980er Jahren beschäftigt sich S. mit bildnerischen Arbeiten sowie mit eng an die frühneuzeitl. Emblematik anschließenden »Wort-Bild-Werken«, die alle Sinne ansprechen wie etwa in 46-mal Augen – drei Augengeschichten (Lilienthal 1981) für einen Sprechchor zur Musik von Wolfgang Heinisch. Ausgehend vom assoziativen Potential von Alltagsobjekten u. Fundstücken aus der Natur, ermöglichen sie es dem Betrachter, sich angesichts der Bedrohung durch totalen Sinnverlust »in ihnen identifizierend aufgehoben zu fühlen als in einem Bilderrätsel« (Ein haymlich Verstan. Beiträge zur Emblematik. In: Kunstforum 102, Juli/Aug. 1989, S. 173–183; mit Abb. der Embleme). Die fließenden Übergänge von Sprache – auch auf der virtuellen Ebene des Übesetzens – und Bild zeichnen S. als wichtigen Vertreter des Poststrukturalismus aus. Weitere Werke: bilderspiegel. Köln 1966. – e 635 von tulln nach tabor. Bad Homburg 1966. – gegen stände sätze. Erlangen/Mchn. 1979. – nadel buch. Bln. 1985. – Inventare. Köln 1995. – Schwalbenweisheiten. Köln 1996. – Minimaldialoge. Köln 1998. – Danke für das Gespräch. Neue Minimaldialoge. Wien 2004.
S. studierte Medizin u. Philosophie in Tübingen, München, Prag, Paris u. Frankfurt/ M. 1966–1970 arbeitete er am Max-PlanckInstitut für Psychiatrie in München, wo er seit 1972 als niedergelassener Nervenarzt u. PsyLiteratur: k. b. s. sprache ist fuer wahr ein chotherapeut lebt. Schon mit en gros et en détail koerper. Mchn. 1976 (Ausstellungskat. Städt. Ga(Stgt. 1965), von Max Bense in seine Reihe rot lerie im Lenbachhaus Mchn.). – Heinz Schütz: Das aufgenommen, profilierte sich S. im literar. Theater der Embleme. In: Kunstforum 102 (Juli/ Experiment mit der Sprache. Aus dem Aug. 1989), S. 49–131. – Installationen u. EmbleTschechischen übersetzte er seit 1966 expe- me. Kat. mit Beiträgen v. Norbert Michels u. H. rimentelle Texte, v. a. von Jirˇ i Kolárˇ (Das Schütz. Schwäbisch Hall 1991 (Werkverz., Lit.). – sprechende Bild. Ffm. 1971), aber auch von Veˇra Aus dem Auge, aus dem Sinn. Objekte, InstallatioLinhartová, Ladislav Novák u. anderen. Da- nen, Embleme, Dialoge, Protokolle. Hg. Hanna neben befasste sich S. in zahlreichen bildne- Stegmayer. Tüb. 1999. Wilfried Ihrig / Günter Baumann rischen Arbeiten mit Sprache als Objekt. Eine repräsentative Textsammlung für ein größeres Publikum bot raus mit der sprache (Ffm. Schaeve, Schaevius, Heinrich, * 1624 Kiel, 1969). Die frühen Arbeiten S.s waren zwi† 7.11.1661 Thorn (poln. Torun´). – Meschen zwei Polen angesiedelt: der von ihm so diziner, Schulmann, Schuldramatiker, genannten »Dekomposition«, wenn er z. B. Lyriker. Gedichte von Goethe bis Brecht als Schäuffelens Lyrikausgaben (Köln 1968) in Form von S. studierte zunächst seit Juli 1645 in KöTeigbuchstaben in Flaschen füllt, u. der nigsberg; im Winter 1649 wird er in der »Komposition«, wenn er mit Hilfe kon- Matrikel der Universität Jena als »med. cand. struktiver Verfahren experimentelle Texte et Graecae l[inguae]. prof. designatus in oder künstlerische Gebilde erstellt. Als gymnasio Stetinensi« geführt. In diesem
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Schaffner
Ausgabe: Übers. der Oden des Horaz in: Daniel Amt, als Professor des Griechischen u. der Poesie, wirkte er, inzwischen Poeta laureatus, Georg Morhof: Unterricht von der teutschen Spra2 ab 1650 an der Fürstenschule in Stettin, che u. Poesie. Lübeck/Ffm. 1700. Neuausg. hg. v. nachdem er am 11. Jan. dieses Jahres in Jena Henning Boetius. Bad Homburg u. a. 1969, S. 369 (705)-387 (728); vgl. S. 300 (562). zum Dr. med. promoviert worden war (Pro Literatur: Bibliografien: Ephraim Praetorius: licentia summos in arte medica honores ac privilegia Athenae Gedanenses [...]. Lpz. 1713, Nr. 10, S. 213. doctoralia consequendi Phrenitidem publico erudi– VD 17. – Weitere Titel: Gottfried v. Bülow: H. S. In: torum examini subjicit H. S. Chilon. Holsat. P. L. ADB. – Barbara Bien´kowska: Kopernik i helioCaes. [...]. Präses: Werner Rolfinck. Jena centryzm w polskiej kulturze umysl/owej do kon´ca 1650). Am 11.11.1660 übernahm er das Rek- XVIII wieku. Wrocl/aw 1971. – Heiduk/Neumeister, torenamt in Thorn. Er starb kaum ein Jahr S. 91 f., 232 f., 460. – Charles Bearden: H. S.’s später an der Pest. translation of Horace’s ode 1.17 in the context of In Stettin ließ S. einige Schuldramen auf- seventeenth-century translation theory. In: Daphführen, darunter Die vielgeplagte und endlich nis 21 (1992), S. 45–64. – Ueberweg, Bd. 4/2, Retriumphirende Europa (Alten Stettin 1651; nach gister. – Estermann/Bürger, Bd. 2, S. 1243. – Flood, Ovid u. Apuleius). Heute nur noch dem Titel Poets Laureate, Bd. 4, S. 1815–1817. Robert J. Alexander / Reimund B. Sdzuj nach bekannt ist Thebais (Aufführungsdatum unbekannt; nach Statius). Erhalten sind auch die lat. Schulkomödie Penthaesthesia sive actus Schaffner, Jakob, * 14.11.1875 Basel, oratorio-poeticus de quinque sensibus (Stettin † 25.9.1944 Straßburg; Grabstätte: Buus/ 1656), die ein Pyramus-und-Thisbe-Spiel Kt. Basel-Land. – Erzähler, Essayist, Lyrienthält, u. Arcadia, in vier dramatische Abhandker u. Dramatiker. lungen verfasset (Stettin 1650) nach Sir Philip Sidneys gleichnamigem Roman (1590). Ne- Der Sohn einer dt. Magd u. eines Schweizer ben einer von Morhof veröffentlichten Über- Gärtners verbrachte die ersten Jahre im Haus setzung der Oden des Horaz u. einem Buch des elterl. Dienstherrn, eines Basler Pfarrers. über die antike Götterwelt (Mythologia deorum Als der Vater starb u. die Mutter nach Ameac heroum, ex Natali Comite, Torrentino, Ravisii rika auswanderte, kam S. 1883 zunächst zu officina ac poetis classicis methodice contracta [...]. den Großeltern ins badische Wyhlen u. ab Stargard 1660 u. ö.), dem eine Mantissa mate- 1884 in die protestantisch-pietistische Wairiae poeticae »ad inventionem & elaborationem senanstalt Beuggen. Dieser Aufenthalt u. die carminum apprime faciens« angefügt ist, eng damit zusammenhängende Verfügung, verfasste S. eine Sammlung hochdt. Leber- dass er nicht Lehrer, sondern nur Schuster reime u. d. T. Euphrosinen von Sittenbach Züch- werden dürfe, wirkten lebenslang in S. nach tige Tisch- und Leberreimen, an jhre Gespielinnen, u. bestimmten bis zuletzt nachhaltig seine die als Anhang zu Georg Greflingers Kom- Stellung zu sozialen Fragen, Staat u. Erzieplimentierbuch Ethica complementoria (Hbg. hung. 1891 trat S. bei einem Basler Schuster in die Lehre; 1893–1900 war er in halb Eu1660 u. ö.) erschien. Weitere Werke: Dissertationum philologica- ropa auf der Walz u. wurde dabei zu einem rum prima [–VI.]. Präses: H. S. Stettin 1652–54. – begeisterten Anhänger dt. Lebensart bzw. der Anatomischer Abriss [...]. Alten Stettin 1653. Auch Idee eines kommenden, durch Deutschland in: Felix Wuertz: Practica der Wundatzney [...]. bestimmten, neuen europ. Zeitalters. Wieder Stettin 1659 u. ö. – Sceleton geographicum in usus in Basel, begann S. in einer Guttemplerpoëticos et historicos adornatum. Stettin 1654. Zeitschrift Erzählungen zu publizieren u. Minden 41679. – Drama funebre, augustissimis schaffte 1905 auf Anhieb den Sprung vom manibus [...] principis [...] Bogislai XIV. &c. &c. Schuster zum Schriftsteller, als S. Fischer, novissimi ex sua familia Pomeraniae ducis, humilwohl durch Vermittlung des mit S. befreunlime tributum. Stettin o. J. [ca. 1654]. – Metamorpho¯seo¯n sacrarum thema I. [...] [–XIII.] Stettin deten Hermann Hesse, in Berlin seinen Roo. J. – Dissertationes pansophicae VII. ad metho- man Irrfahrten (Neufassung u. d. T. Die Irrdum Januae aureae Comenii concinnatae [...]. fahrten des Jonathan Bregger. Bln. 1912) herausbrachte. Thorn 1661.
Schaffner
Nach drei weiteren dt. Wanderjahren ließ sich S. 1908 mit seiner ersten Frau, der aus Darmstadt gebürtigen Frieda Barth, in Arlesheim nieder u. schrieb dort den Roman Konrad Pilater (Bln. 1910. Verändert 41922. Neuausg. Zürich 1982). Der Text, der thematisch die Irrfahrten wiederholt, gestaltet in einfacher, bildkräftiger Sprache das Schicksal eines Schweizer Schustergesellen, der zwischen den Verlockungen eines bürgerl. Lebensglücks, wie es ihm in einer kleinen elsäss. Stadt bzw. in der Liebe zur Meisterstochter Barbara winkt, u. der durch seinen Freund Franz Reske ausgelösten Sehnsucht nach der großen Welt der modernen Technik hin u. her gerissen wird, bis er zuletzt bei Nacht u. Nebel Reißaus nimmt, um als Fabrikarbeiter sein Glück zu suchen. Barbara jedoch folgt ihm auf seinem Irrweg u. findet in treuer Anhänglichkeit an den ruhelosen Geliebten den Tod. Pilaters Glaube an die Technik u. die Erklärbarkeit der Welt hatte S. schon mit den in Dänemark entstandenen »Briefen an ein Weltkind«, Hans Himmelhoch (Bln. 1909. Neu hg. v. Christof Wamister u. d. T. Hans Himmelhoch. Wanderbriefe an ein Weltkind. Zürich 2005), vorweggenommen: Nicht der Poesie, der Wissenschaft gehört das letzte Wort, Haeckels Monismus soll an die Stelle von Homers Dichtung treten. So war es denn nur konsequent, dass S. nach den Jahren des Ersten Weltkriegs, die er als Anhänger der dt. Sache demonstrativ in Berlin zugebracht hatte, dazu überging, in grell gefärbten, das Einzelschicksal zum Typus stilisierenden Romanen wie Die Weisheit der Liebe (Lpz. 1919), Das Wunderbare (Stgt. 1923) oder Der Mensch Krone (ebd. 1928) das Großstadtleben in all seinen Höhen u. Niederungen darzustellen. Überzeugender als diese bis in die dialektale Färbung der Sprache hinein »berlinischen« Romane sind die parallel dazu entstandenen Texte mit spezifisch schweizerischer bzw. autobiogr. Thematik: Die Glücksfischer (Stgt. 1925), die romanhafte Gegenüberstellung des ruhelosen, weltsüchtigen u. des bieder-selbstzufriedenen Typus des Schweizers in Gestalt von zwei ungleichen Brüdern, v. a. aber die monumentale JohannesTetralogie (Johannes. Roman einer Kindheit. Stgt. 1922. Zürich 1958. Zuletzt Mchn./Wien
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2005. Die Jünglingszeit des Johannes Schattenhold. Stgt. 1930. Eine deutsche Wanderschaft. Bln./ Wien 1933. Kampf und Reife. Stgt. 1939). Bedeutsam ist bes. der erste Teil, in den S. das Anstaltserlebnis in Beuggen, hier »Demutt« genannt, eingearbeitet hat u. der zu seiner eindringlichsten, stilsichersten Prosa gehört. Vor allem mit dem von den Zöglingen »Herr Vater« genannten Anstaltsleiter ist S. eine eindrückliche, in ihrer Mischung aus Fanatismus, Fürsorglichkeit u. Schwäche unverwechselbare Erziehergestalt gelungen. Allerdings hat S. das literar. Niveau des ersten Teils in der Fortführung der Geschichte von Band zu Band immer weniger halten können. Die Jünglingszeit schildert Johannes’ erste Liebe u. das schwierige Verhältnis zur Mutter, die aus Amerika zurückgekehrt ist u. dem Sohn vielerlei Rätsel aufgibt. Eine deutsche Wanderschaft repetiert nochmals das PilaterThema des zwischen Sesshaftigkeit u. Ausbruch in die Welt schwankenden Handwerkers, bloß dass aus Pilaters sozialistischem Freund u. Berater Franz Reske hier nun der chauvinistische dt. Rassist Franz Stolz von Loeskow geworden ist, der Johannes auf das neue nationale Deutschland verpflichtet. Nach Loeskows Ermordung geht die Mentorfunktion auf seine Schwester Emilie über, die Johannes im vierten Teil des Romans nach allerlei Wirrungen u. Irrungen schließlich heiratet u. zu einem parteitreuen NS-Dichter macht. Auch diese polit. Festlegung ist autobiografisch bestimmt: Emilie von Loeskow ist, ebenso wie ihr Bruder, eine Verkörperung von S.s zweiter Frau Julia Cuno, einer Gutsherrentochter aus Ostpreußen, die von 1916 bis zu ihrem Tod 1941 mit ihm zusammenlebte, seine Deutschlandbegeisterung zielstrebig förderte u. ihn ab 1933 auf die Prinzipien des Nationalsozialismus festzulegen verstand. In Publikationen wie Offenbarung in deutscher Landschaft. Eine Sommerfahrt (Stgt. 1934), Berge, Ströme und Städte. Eine schweizerische Heimatschau (ebd. 1938) oder Ostpreußen. Stille und Kraft (Bln./Lpz. o. J. [1939]) nahm S. unzweideutig für den Nationalsozialismus Partei, bekannte sich aber zgl. immer wieder als überzeugter Eidgenosse, der sich einer dt. Eroberung mit der Waffe in der Hand wi-
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Schafgans
dersetzen würde (Volk zu Schiff. Zwei Seefahrten (Schausp.). – Stadtgänge. Frühe Erzählungen. Hg. mit der ›KdF‹-Hochseeflotte. Hbg. 1936, S. 166). Charles Linsmayer. Zürich 1979 (mit Bibliogr. der In der Schweiz, wo S. noch 1930 mit dem E.en vor 1920). – ›Es ging am Anfang nicht leicht Großen Schiller-Preis geehrt worden war, mit uns.‹ Hermann Hesse u. J. S. im Briefw. 1905–1933. Nach Vorarbeiten v. Hermann Affolter fand diese Haltung keinerlei Verständnis u. hg. v. Christof Wamister. Zürich 2009. führte trotz mahnender Voten von Albin Literatur: Pio Fäßler: J. S. Diss. Zürich 1937. – Zollinger u. Carl Albert Loosli allmählich zu Hans Bänziger: J. S. In: Ders.: Heimat u. Fremde. seiner völligen Ächtung. 1940, nach einer Bern 1958, S. 21–158. – Karl Schmid: J. S. Der Ruf umstrittenen Bundesratsaudienz des selbst- des Reichs. In: Ders.: Unbehagen im Kleinstaat. ernannten »Vermittlers«, wurden Forderun- Zürich 1963. 31977, S. 144–168. – Charles Linsgen nach der Ausbürgerung des »geistigen mayer: J. S. In: J. S.: Konrad Pilater. Zürich 1982, Landesverräters« S. laut, u. als er 1944 zu- S. 365–422 (mit Bibliogr.). – Werner Günther: J. S. sammen mit seiner dritten Frau, der 23-jäh- In: Ders.: Dichter der neueren Schweiz 3. Bern rigen Studentin Renate Bissegger, in Straß- 1986, S. 300–339. – H. Bänziger: Literar. Konseburg Opfer eines Bombardements wurde, quenzen einer nationalist. Utopie: J. S. In: Autoren weigerte sich seine Heimatgemeinde Buus damals u. heute. Hg. Gerhard P. Knapp. Amsterd./ Atlanta 1991. – Peter Hamm: [Nachw.:] Ordnung u. zunächst, die sterbl. Überreste auf ihrem Leid ohne Ende. In: J. S.: Johannes. Roman einer Friedhof zu bestatten. Das Verhältnis zur Jugend. Mchn./Wien 2005, S. 523–556. Heimat war denn auch ausschließlich das Charles Linsmayer Thema, unter welchem S. nach 1945 von der Schweizer Germanistik – die dt. ignorierte Schafgans, Hans, * 18.8.1927 Bonn. – Foihn völlig – noch behandelt wurde. Erst die tograf, Erzähler, Opernkritiker. Neuausgaben u. Kommentare von Charles Linsmayer, Christof Wamister u. Peter Hamm S. stammt aus einer Bonner Fotografendy– siehe dessen Nachwort zur Neuausgabe von nastie u. führt in vierter Generation das von Johannes (2005) – führten seit 1979 dazu, dass seinem Urgroßvater Johannes Schafgans S. allmählich auch wieder als origineller Sti- (1828–1905) 1854 gegründete Atelier in der list u. begabter Erzähler ins Blickfeld geriet. Rathausgasse. Porträts prominenter PersönWeitere Werke: Die Laterne. Bln. 1907 (N.n). – lichkeiten aus Politik u. Kultur, darunter der Die Erlhöferin. Bln. 1908 (R.). – Die goldene Fratze. Bundespräsidenten u. der Kanzler, machten Bln. 1912 (N.n). – Geschichte der schweizer. Eid- es überregional bekannt. Wie bereits sein genossenschaft. Stgt. 1915. – Das Schweizerkreuz. Vater Theo Schafgans (1892–1976) widmet Bln. 1916. Neufassung u. d. T. Das Liebespfand. sich S. auch der Landschafts- u. ArchitekturStgt. 1942 (N.). – Der Dechant v. Gottesbüren. Bln. fotografie. Seine Aufnahmen, die sich durch 1917 (R.). – Grobschmiede. Bln. 1917 (N.n). – Frau Formbewusstsein u. klare Linienführung Stüssy u. ihr Sohn. Frauenfeld 1918 (N.). – Die Erauszeichnen, dokumentieren den Wandel lösung vom Klassenkampf. Lpz. 1920 (Ess.). – Kinder des Schicksals. Lpz. 1920 (R.). – Die Mutter. Bonns von einer rheinischen Provinzstadt zur Lpz. 1924 (N.). – Brüder. Stgt. 1925 (N.n). – Die Bundeshauptstadt. Als Sohn einer jüd. Mutletzte Synode. Stgt. 1925 (Satire). – Das große Er- ter – Hilde Schafgans, geb. Levy, die sich 1934 lebnis. Stgt. 1926 (R.). – Das verkaufte Seelenheil. hatte evangelisch taufen lassen, verlor zwei Lpz. 1927 (E.). – Föhnwind. Stgt. 1928 (N.n). – Der Angehörige ihrer Familie in Auschwitz –, lachende Hauptmann. Mit einer Rede ›Heimat u. hatte S. Ende Juni 1942 das BeethovenWelt‹. Lpz. 1931 (N.). – Die Predigt der Marien- Gymnasium verlassen u. mehrere Monate in burg. Bln./Wien 1931. – Nebel u. Träume. Ebd. einem Versteck auf Frachtschiffen zubringen 1934 (N.n). – Larissa. Ebd. 1935 (R.). – Der Luftmüssen. Suspendierte Lehrer übernahmen ballon. Bremen 1936 (E.en). – Meisternovellen. seinen Unterricht; der Vater bildete ihn Wien 1936. – Der Gang nach St. Jakob. Stgt. 1937 (E.). – Türme u. Wolken. Eine Burgenfahrt. Hbg. heimlich zum Fotografen aus. Nach dem 1937. – Die schweizer. Eidgenossenschaft u. das Krieg besuchte S. als Gasthörer an der UniDritte Reich. Stgt. 1939 (Rede). – Bekenntnisse. versität Bonn Vorlesungen zur Philosophie Ebd. 1940 (L.). – Das Tag- u. Nachtbuch v. Glion. sowie zur Literatur- u. Kunstgeschichte. Die Ebd. 1943 (L.). – Das kleine Weltgericht. Ebd. 1943 frühe gesellschaftl. Marginalisierung schärfte
Schaflinger
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sein krit. Bewusstsein. Als sich S. bei Thomas Mit dem dystop. Roman Der letzte Mann von Mann 1950 für die Anfechtungen entschul- Paris (Unkel/Bad Honnef 1999) verlässt S. den digt, die seinen Besuch in Deutschland be- Horizont der Zeitgeschichte. Aus einem gleiten, bedankt sich der Nobelpreisträger in amerikan. Forschungslabor sind genmanieinem persönl. Schreiben. Beim Protest gegen pulierte Virenkulturen gestohlen worden, die den Regierungsumzug von Bonn nach Berlin Männer unfruchtbar machen. Unaufhaltsam u. der damit verbundenen Kürzungen der breitet sich die Seuche aus: Die GeburtenraEtats von Theater u. Oper engagierte sich S. ten gehen drastisch zurück, so dass die Gesellschaft überaltert u. die Menschheit als streitbarer Bürger. Sein Verständnis von Fotografie als eines schließlich ausstirbt. Vermittelt wird das narrativen Vorgangs brachte S. zur Literatur. Geschehen durch einen greisen Erzähler, den Zwar reichen erste literar. Versuche bis in die Geologen Gustave Genois, der anhand seines Schulzeit zurück, doch sollte es bis in die Tagebuchs die Regression einer hochtechni1980er Jahre dauern, ehe S. einen Verleger für sierten Zivilisation zur primitiven Höhlenseine Texte fand. Seine Prosa ist autobiogra- existenz nachzeichnet u. der, indem er am fisch grundiert, greift jedoch ins Kollektiv- Ende des Romans in einem Grabhäuschen auf geschichtliche aus. In dem Roman Die Insel dem Friedhof von Père Lachaise Quartier (Gerlingen 1984) thematisiert S. die Identi- nimmt, selbst diesen Weg geht. Stärker noch tätsprobleme der Nachkriegszeit. Auf einer als in den Erzähltexten der achtziger Jahre rheinischen Wasserburg lässt er mit der ver- gibt sich S. in Der letzte Mann von Paris als witweten Erbin der Burg, einem aus der Zeitkritiker zu erkennen, der auf bedenkl. Emigration heimgekehrten Journalisten u. Entwicklungen der Gegenwart aufmerksam dessen Tochter sowie einem aus Ostpreußen macht u. vor deren Folgen warnt. vertriebenen jungen Mann vier Menschen Weiteres Werk: Jedem das Seine. Verse zum mit verschiedenen Schicksalen zusammen- Gebrauch. Bonn o. J. [1980]. kommen. Nur zögernd wagen sie ihr vom Literatur: Portraitfotografie in vier GeneratioBombenkrieg verschont gebliebenes Refugi- nen. Das Atelier S. in Bonn. Kat. Rhein. Landesum aufzugeben u. sich an die Außenwelt museum. Köln 1980. – Frank Günter Zehnder heranzutasten. Menschen, die unverschuldet (Hg.): S. – 150 Jahre Fotografie. Kat. Rhein. Lanin existenzielle Grenzsituationen geraten desmuseum. Bonn 2004. – Tuya Roth: H. S. Fotosind, stehen im Mittelpunkt der elf Erzäh- grafien Bonner Architektur der fünfziger u. sechziger Jahre. Diss. Bonn 2007. – Dies.: H. S. zum 80. lungen von Chronik einer Heimreise (Gerlingen Geburtstag. In: Frame. Jb. der Dt. Gesellsch. für 1986). Mit Humor, Intellekt u. zuweilen auch Fotografie 2008, S. 160–168. Ralf Georg Czapla mit bloßer Wut überwinden sie ihre Notlage u. finden zu sich selbst. In dem als Fortsetzung von Die Insel konzipierten Roman Schaflinger, Knut, * 22.5.1951 Graz. – Wunschland (Gerlingen 1989) begibt sich ein Lyriker u. Fernsehredakteur. in den USA lebender dt. Journalist 1967 nach Bonn, um Materialien für ein Deutschland- S. arbeitete nach seinem Studium in Wien, buch zu suchen. Vor dem Hintergrund zeit- das er 1974 mit einer Diplomarbeit über den geschichtl. Ereignisse wie der Bildung der Anarchismus abschloss, als freier FilmemaGroßen Koalition, dem Beginn der Studen- cher; im Alter von 44 Jahren trat er nicht nur tenbewegung, den Demonstrationen gegen seine Stelle als Redakteur bei den »Tagesden Schah-Besuch oder dem Sechstagekrieg themen« der ARD in Hamburg an, sondern zwischen Israel u. seinen arab. Nachbarn ge- debütierte auch als Lyriker. Er unterrichtet rät die Romanhandlung zu einer Chronik der zudem an der Bayerischen Akademie für Umbruchsjahre der Bundesrepublik. Nach Fernsehen in München. S. lebt in Hamburg u. den Jahren der Restauration unter Konrad Friedberg bei Augsburg. Adenauer sind die Menschen auf der Suche Beruf u. Berufung steht für S. in einem nach ihrem Wunschland. Der Roman erzählt Wechselverhältnis, beides verlangt nach einer von ihren Hoffnungen u. Enttäuschungen. knappen Wortwahl – wo allerdings im Re-
Schaidenreisser
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daktionsalltag die Anschlagzahl u. die Primärinformation obenan stehen, entscheiden im Gedicht auch die Leerstelle u. die Mehrdeutigkeit über den Inhalt. In dem Band Scherben und Mosaike (St. Ingbert 2005), dessen zweigliedrige Titel an poetische Gegenentwürfe zu informationsmedialen Headlines mit Haupt- u. Unterzeilen erinnern, zerlegt der Autor die Sprachlogik, um neue eigendynam. Gesamtbilder zu erschaffen. Bereits die früheren Gedichte entfalten eine über Enjambements gedankenvoll irrlichternde Melodie, deren Klänge den Lebensalltag mit seinen kleinen, belanglosen Begebenheiten beschreiben (z. B. in einem Gedicht wie Schneidest mir Nackenhaare), wie sie die darin aufscheinende zwielichtige Wunderwelt unterstreichen, die insbes. im jüngeren Werk dominiert: »im Grün der Suppe spiegelt sich ein Himmel ohne Horizont jetzt.« Der Band Abhanden (St. Ingbert 2007) beschwört in einer chiffriert-fragilen Sprache abhanden gekommene Befindlichkeiten, Selbstverständliches u. Abwegiges. Weitere Werke: Drei Teile vom Licht. Fulda 1995 (L.). – Der geplünderte Mund. Weissach 1998 (L.). – Das Versprechen der Steine. Hanau 2001 (L.). – Flüchtige Substanzen. Deiningen 2009 (L.). Literatur: Rainer Wochele: Kundschafter im vertrauten, fremden Gelände des Alltags. In: K. S.: Scherben u. Mosaike, S. 107–114. Günter Baumann
Schaidenreisser, Schaidenreißer, Scheydreyscher, Simon Minervius (Minervus), * um 1500 Bautzen/Lausitz, † 1573 München. – Humanist, Lehrer u. Stadtschreiber, Übersetzer. Das seit 1515 in Wittenberg bezeugte Studium der Artes schloss S. 1516 mit dem Baccalaureus ab. Es folgten Wanderjahre, die ihn schließlich nach Süden führten, u. um 1522–1524 oder schon früher hielt er sich als Student in Basel auf, wo er 1523 den Magistergrad erwarb. An einer höheren Fakultät scheint er nicht studiert zu haben. Seine Beziehungen zu dem Konstanzer Humanisten Johann von Botzheim (* um 1480) könnten ihn in Basel oder auch zuvor in Konstanz mit Erasmus u. Heinrich v. Eppendorff (* 1496) in
Kontakt gebracht haben, eindeutig belegt ist dies aber nicht. Seit 1525 lebte S. dauerhaft in München, zunächst bis 1534 als Lehrer an der Lateinschule, dem von 1478 bis 1597 bestehenden ›Poetengymnasium‹, wo er wie üblich als humanistischer Lektor der Poetik (vielleicht auch zeitweise als Rektor) u. als ›Stadtpoet‹ wirkte. 1534–1537 war er im Dienst des Rats der Stadt wahrscheinlich als Stadtschreiber, danach als Gerichtsschreiber (propraetor, vielleicht als Gehilfe eines Richters) tätig. In der Überschrift eines Gedichts an den jungen Herzog Albrecht V. von Bayern nannte er sich selbst »M. Simon Minervius, ab archivis senatus Monacensis«. Freundschaft verband ihn in München mit dem aus Basel stammenden, bedeutenden Komponisten Ludwig Senfl († um 1543), dessen Liedertexte nach Horaz u. a. er für seine 1534 erschienene dt. Übersetzung lat. Poeten verwandte. Proben eigener Kasualpoesie (Widmungsgedichte u. a.) sind verstreut überliefert. S. hat Ciceros Paradoxa Stoicorum ins Deutsche übersetzt (1538); größte Beachtung verdient er jedoch als Verfasser der ersten Übersetzung von Homers Odyssee in dt. Prosa: Odyssea [Odissea]: das seind die aller zierlichsten und lustigsten vier und zwaintzig bücher des eltisten kunstreichesten Vatters aller Poeten Homeri zu Teutsch tranßferiert, mit argumenten und kurtzen scholijs erkläret, zuerst 1534 bei Alexander Weissenhorn in Augsburg (weitere Drucke dort 1537 u. 1538; eine weitere Ausgabe in Frankfurt/M.: Hieronymus Feyerabend, 1570). Als Vorlagen dienten ihm die lat. Übersetzung von Gregorius Maxillus (Straßb. 1510) u. Raphael von Volterra (Volaterranus. Köln 1534). S. übersetzte nach dem Prinzip der ›Sinn‹-Wiedergabe. Von einer begonnenen Ilias-Übersetzung scheint nichts erhalten. Weitere Werke: Übers.: Horaz u. a. lat. Dichter. Nürnb. 1534 (nach der Liederslg. v. Ludwig Senfl). – Übers.: Cicero: Paradoxa. Das seind wunderbarliche u. in dem gemainen wone oder verstand unglaubliche sprüch. Augsb. 1538. Internet-Ed.: VD 16 digital. – Beitr. zu: Petrus Apianus: Astronomicum Caesareum [Kaiser Karl V. gewidmet]. Ingolst. 1540. Nachdr. Lpz. 1967. Ausgaben: Odyssea. Augsb. 1537. Nachdr. hg. v. Friedrich Weidling. Lpz. 1911. – Dass. Nachdr. hg.
Schaitberger v. Günther Weydt u. Timothy Sodmann. Münster 1986 (mit Abh. des Hg. u. Bibliogr.). Literatur: Bibliografien: Worstbrock, Register. – VD 16. – Weitere Titel: Karl v. Reinhardstöttner: Der erste dt. Übersetzer der Odyssee vom Jahre 1537, ein Münchener Beamter. In: Jb. für Münchener Gesch. 1 (1887), S. 511–518. – Georg Westermayer: S. S. In: ADB. – Michael Betz: Homer, S., Hans Sachs. Ein Beitr. zur Stoffgesch. Sachsischer Dichtungen. Mchn. 1912. – Rudolf Pfeiffer: Ergänzungen zu S.s Leben u. Schr.en. In: ZfdPh 46 (1915), S. 285–291. – Friedrich Hornschuch: Minervius. Herkunft, Studien- u. Poetenjahre. In: ZfdPh 55 (1930), S. 78–84. – Richard Newald: Die dt. Homerübers.en des 16. Jh. In: Das humanist. Gymnasium 43 (1932), S. 47–52. – Winfried Zehetmeier: S. Minervus S. Leben u. Schr.en. Diss. München 1962. – Ingrid Eiden u. Dietlind Müller: Der Buchdrucker Alexander Weissenhorn in Augsburg 1528–1550. In: AGB 11 (1971), Sp. 527–592. – Thomas Bleicher: Homer in der dt. Lit. (1450–1740). Stgt. 1972. – Günther Weydt: Grimmelshausen u. Homer. Zum Lektürekanon des Simplicissimus-Dichters. In: Simpliciana 8 (1986), S. 7–17. – Ilse Guenther: S. S. In: Contemporaries. – Monika Fink-Lang: S. S. Ein Münchner Schulmeister des 16. Jh. übersetzt Homers Odyssee. Mchn., Bayer. Rundfunk 1989. – Klemens Alfen, Petra Fochler u. Elisabeth Lienert: Dt. Trojatexte des 12.-16. Jh. Repertorium. In: Die dt. Trojalit. des MA u. der frühen Neuzeit. Hg. Horst Brunner. Wiesb. 1990, S. 8–196. – P. Fochler: Fiktion als Historie. Der Trojan. Krieg in der dt. Lit. des 16. Jh. Wiesb. 1990 (Bibliogr.). – M. Fink-Lang: Das Poetengymnasium, ein Kapitel Münchner Schulgesch. Mchn., Bayer. Rundfunk 1993. – Jaumann Hdb. – Birgit Lodes u. Matthias Miller: ›Hic jacet Ludevicus Senfflius‹. Neues zur Biogr. v. Ludwig Senfl. In: Die Musikforsch. 58 (2005), H. 3, S. 260–266. – Regina Toepfer: ›Mit fleiß zu8 Teütsch tranßferiert‹. S.s. ›Odyssea‹ im Kontext der humanist. HomerRezeption. In: Übertragungen. Formen u. Konzepte v. Reproduktionen in MA u. Früher Neuzeit. Hg. Britta Bußmann. Bln./New York 2005, S. 329–348. Herbert Jaumann
Schaitberger, Scheitberger, Joseph, * 19.3. 1658 Dürrnberg bei Hallein/Salzburg, † 2.10.1733 Nürnberg. – Bergmann, evangelischer Erbauungsschriftsteller. Der Sohn des Bauern u. Bergmanns Johannes Schaitberger, selbst Bergmann, bekannte sich, wie zahlreiche andere Bewohner des Deferegger Tals, zur Lehre Luthers. Auf Be-
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fehl des Erzbischofs Maximilian Gandolf in Ketten nach Salzburg gebracht, widerstand er der Aufforderung zur Konversion, wurde gefangen gehalten, seines Vermögens beraubt u. zusammen mit etwa 900 seiner Glaubensgenossen im Winter 1685/86 ausgewiesen. S. fand Aufnahme in Nürnberg u. arbeitete als Holzarbeiter, Drahtzieher u. zeitweise als Tagelöhner, ehe er im »Mäntelschen Stift« – als geistl. Vater der Salzburger Exulanten geachtet u. geehrt – seinen Lebensabend verbringen konnte. S. trat mit zahlreichen Traktaten hervor, die im Salzburgischen zur Erbauung u. Belehrung der dort verbliebenen Glaubensgenossen Verbreitung fanden. Die bedeutendste dieser Schriften ist Ein Send-Brief an die hinterlassenen Landesleute (Schwabach 1688; mehrfach nachgedr.), der zusammen mit weiteren Flugschriften S.s unter dem Titel Neu-vermehrter evangelischer Send-brief, an die Lands-leut in Saltzburg, dadurch dieselbigen zur christlichen Beständigkeit in der evangelischen Glaubenslehr aufgemuntert werden (Nürnb. 1702. Nachdr. ebd. 1732 u. ö. Sog. Jubelausg. Reutl. 1889) erneut veröffentlicht wurde. Mehr als ein bloßer Laienprediger, wenn auch ohne einen eigenen theolog. Standpunkt zu entwickeln, entfaltete S. in seinen besinnlich-belehrenden Abhandlungen ein sehr persönl., zugleich zeittyp. Ensemble geistl. Lebensregeln (u. a. in der Ausgabe von 1702: Sterbetrost und Sterbens Gedancken, Traktat von der Vollkommenheit, Kräftige Trostschrift vor geängstete und angefochtene Seelen, Schreiben an seinen Bruder bzw. seine Kinder im Salzburgischen). Das bekannteste seiner Lieder ist I bin ein armer Exulant, das sog. Salzburger Exulantenlied. Literatur: Zedler, Bd. 34, Sp. 815–818. – Julius August Wagenmann: J. S. In: ADB. – Alois Dissertori: Auswanderung der Deferegger Protestanten 1666–1725. Innsbr. 1964. – Hermann Langer: J. S. Ein evang. Glaubenskämpfer des 17. Jh. Seine Familie u. seine Anhänger [...]. Salzb. 1985. – Josef Feldner: Erbauung u. Polemik. Studien zum ›Sendbrief‹ des Salzburger Emigranten J. S. (1658–1733). Diss. Salzb. 1990. – Werner Wilhelm Schnabel: Österr. Exulanten in oberdt. Reichsstädten. Mchn. 1992. – Gustav Reingrabner: J. S.s. religiöse Position. In: Mitt.en der Ges. für Salzburger Landeskunde 138 (1998), S. 343–366. – Ders.: J. S. In: Bautz. – Ders.: J. S., Bergmann u. Exul Christi.
Schallenberg
245 Wien 2000. – Ders.: J. S. In: NDB. – Ders.: Um Glaube u. Freiheit. Eine kleine Rechtsgesch. der Evangelischen in Österr. u. ihrer Kirche. Ffm. 2007. Michael Behnen / Red.
Schall, Carl, * 24.2.1780 Breslau, † 18.8. 1833 Breslau. – Lustspielautor, Kritiker, Redakteur u. Rezitator. S., Sohn eines reichen Kurzwarenhändlers aus dessen zweiter Ehe mit einer frz. Gouvernante, besuchte das Breslauer FriedrichsGymnasium u. trat 1796, ohne innere Neigung, in das väterl. Geschäft ein. Am Breslauer Stadttheater wurde 1802 der einaktige Erstling des lebenslangen Bühnenenthusiasten Die blonde Perücke uraufgeführt. Seit 1803 erschienen in den »Schlesischen Provinzialblättern« anonyme Theaterkritiken aus seiner Feder, die durch Sachkenntnis bestachen. Als Bonvivant von immenser Körperfülle, aber auch durch zahlreiche Liebesabenteuer war S. stadtbekannt; der von ihm in die Welt des Theaters eingeführte Holtei hat in seiner Autobiografie Vierzig Jahre allerlei Anekdotisches überliefert. Herausragende Leistung S.s war 1820 die Gründung der »Neuen Breslauer Zeitung« (seit 1828 »Breslauer Zeitung«), die auf biedermeierl. Weise in einem behagl. Plauderstil das Unterhaltungsbedürfnis einer breiten Leserschaft befriedigte. Erwähnenswert sind seine vorzügl. Rezitationsabende (v. a. Goethe u. Shakespeare), die von Zeitgenossen wie Steffens u. Fanny Lewald gelobt wurden. Erfolgreich war auch seine gemeinsam mit Max Habicht u. von der Hagen unternommene Übersetzung von Tausend und eine Nacht (15 Bde., Breslau 1825. 51840) aus einer tunes. Handschrift. Weitere Werke: Die unterbrochene Whistpartie. Breslau 1817 (Lustsp.). – Theatersucht. Ebd. 1817 (Lustsp.). Literatur: Anna Valeton: C. S. In: Schles. Lebensbilder 4 (1931). 21985, S. 257–264. – Ulrich Seelmann-Eggebert: Sir Falstaff v. Breslau. Das Leben C. S.s. In: Goldenes Tor 3 (1948), S. 554–561. Henk J. Koning
Schallenberg, Christoph von, * 31.1.1561 Schloss Piberstein/Oberösterreich, † 25.4. 1597 Wien. – Lyriker, Übersetzer. Nach dem Besuch der Lateinschule in Enns u. Linz studierte S. ab 1578 in Tübingen, Padua (1580), Bologna (13.11.1581) u. Siena (1581), reiste nach Süditalien u. Sizilien. 1583 zurückgekehrt, trat er 1584 als Truchsess in den Dienst des Erzherzogs Matthias in Wien. Zu seinen Freunden gehörten die Dichter Johann Ferenberger von Egenberg u. Johann Seeger von Dietach. In den Türkenkriegen wurde er 1594 kaiserl. Statthalter in Niederösterreich u. 1595 Kommandant der Donauflotte. Er starb an den Folgen einer Verwundung. S.s lat. u. dt. Gedichte blieben in einer Papierhandschrift des 16./17. Jh. bewahrt, wurden jedoch erst 1910 veröffentlicht. Er begann in der Studienzeit mit lat. Gedichten, darunter zahlreichen Distichen. Seine Begabung ragte über viele dichtende Zeitgenossen hinaus. In jungen Jahren »dichtete er schon die vollendetsten Hexameter und Pentameter, [...] wetteiferte er mit den alten Römern in der Schilderung der Fluren, der Natur« (Hurch). Anlass zu den Gelegenheitsgedichten bildeten Hochzeiten, Namens- u. Geburtstage, der Tod von Verwandten u. Freunden, Huldigung u. Abschied von Freundinnen u. Freunden. Vereinzelt griff er auch religiöse Themen auf. Treffsichere satir. Epigramme richtete er gegen junge Mädchen u. alte Jungfern, gegen Trinker u. Spieler, an Freund u. Feind. 77 dt. Lieder (einschließlich einiger Dubletten) besingen Liebeslust u. -leid in vielfältiger Weise. Kennzeichnend sind Elemente des Volkslieds, Reflexe des Minnesangs u. die Umsetzung nlat. Dichtungsimpulse. Vereinzelt klingt Meistersingerisches an. In Italien hat er neue Kunstformen, so die Terzine u. den Elfsilbler, kennen gelernt. S. hat nicht nur »wällische Villanellen« verdeutscht – er kannte Regnarts Lieder – u. in der »Sicilianisch waiss« gedichtet; vielmehr hat die ital. Lyrik seine Lieder durchgängig angeregt. Unter den acht aus dem Italienischen übersetzten Liedern findet sich die erste dt. Übertragung eines Gedichts Tassos (Nr. 34). Akrosticha kommen mehrfach vor, darunter
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MARVSCH, seine spätere Frau (Nr. 23, 32), wobei er seinen Namen kunstvoll einflicht (»Hertzlieb, das lied soll überall durchschallen berg und tieffe thal«, Nr. 32). S.s Gesellschaftslieder sind wie das Raaber Liederbuch eine bedeutende Stufe auf dem Weg zur Kunstdichtung. Ausgaben: C. v. S., ein österr. Lyriker des 16. Jh. Hg. Hans Hurch. Tüb. 1910. – Sämtl. Werke u. Briefe. S.s Freundeskreis. Ausgew. Gedichte, Briefe u. Dokumente. Übers. u. hg. v. Robert Hinterndorfer. 2 Bde., Wien u. a. 2008. Literatur: Joachim G. Boeckh u. a.: Gesch. der dt. Lit. v. 1480 bis 1600. Bln. 1961, S. 482 ff. – István Nemeskürty: S., Vadianus es Balassi. In: Irodalomtorteneti Kozlemenyek 84 (1980), S. 310–315. – Alberto Martino: Die ital. Lit. im dt. Sprachraum [...]. Amsterd. u. a. 1994, Register. – La´ szlo´ Jo´ na´ csik: Poetik u. Liebe [...]. Ffm. u. a. 1998, S. 142–147 u. ö. (Register). – Gert Hübner: C. v. S. u. die dt. Liebeslyrik am Ende des 16. Jh. In: Daphnis 31 (2002), S. 127–186. – Bernhard Kreuz: Verstrickte Liebe, geballte Hitze. Zu C. v. S.s dt. Liedern Nr. 11 u. 20. In: Sprachkunst 35 (2004), S. 207–223. – Elisabeth Klecker: Es schallt durch Berg u. tiefe Tal. Hieronymus Arconatus u. C. v. S. In: Unsere Heimat. Ztschr. für Landeskunde v. Niederösterreich 75 (2004), S. 152–169. Klaus Düwel / Red.
Schaller, Gottfried Jakob, * 17.6.1762 Obermodern bei Buchsweiler, † 26.3.1831 Pfaffenhofen/Elsass. – Lyriker, Epiker; politischer Schriftsteller. S., Sohn eines Landpfarrers, besuchte das Gymnasium in Buchsweiler u. erwarb sich dort durch literar. Studien die Gunst des Landgrafen Ludwig IX. von Hessen-Darmstadt. Dieser ermöglichte ihm ein Studium der Theologie u. schönen Wissenschaften in Erlangen (1782–1785). Nach dessen Abschluss folgte S. seinem Vater auf der Pfarrei Pfaffenhofen nach u. hatte sie bis zu seinem Tod inne. 1807–1831 war er zgl. Präsident des Konsistoriums von Ingweiler. S., der mühelos eine Vielzahl literar. Formen beherrschte u. in dt., frz. u. lat. Sprache veröffentlichte (er übersetzte daneben auch aus dem Lateinischen, Griechischen u. Hebräischen), stellte sein Talent vorwiegend in den Dienst seines Berufs u. der Tagespolitik.
Neben der Veröffentlichung von Huldigungsgesängen, Predigten u. Grabreden begleitete er publizistisch die Französische Revolution im Elsass bis zum Ende Napoleons; abgesehen von einigen Monaten Gefängnis überstand er unbeschadet alle polit. Veränderungen. Sein kom. Versepos Die Stuziade oder der Perükenkrieg (3 Bde., Straßb. 1802–1808) erscheint heute ebenso zeitgebunden wie seine Gedichte, die von betont simplen Bauernliedern u. verspielter Anakreontik über jakobinernahe Freiheitsgesänge zu komplizierten Oden reichen. Eine Sammlung seiner Schriften besitzt die Universitätsbibliothek Straßburg. Weitere Werke: Kleiner Versuch in dt. Poesie. [Straßb.] 1780. – Vermischte Gedichte. Kehl 1789 (nur Bd. 1 ersch.). – Gegen den bürgerl. Aufruhr in einem Staate. [Straßb.] 1789 (Predigt). – Festgesänge der Franken zum Tempelgebrauch. Ebd. [1795]. – Friedensgesänge. Ebd. [1801]. Literatur: Martin: G. J. S. In: ADB. – Goedeke 13, S. 50 f. – Hans-W. Engels: Gedichte u. Lieder dt. Jakobiner. Stgt. 1971. Reinhart Siegert
Schallück, Paul, * 17.6.1922 Warendorf/ Westf., † 29.2.1976 Köln. – Romanautor. Als Kriegsgefangener lernte S.s Vater, Heinrich Schallück, 1914 in Irkutsk seine spätere Frau, Olfa Alexandrowna Nowikowa, kennen, mit der er 1921 nach Deutschland kam. Die Erfahrung von Fremdenhass u. Feindseligkeit, der die Mutter ausgesetzt war, ging in S.s literar. Werk ein, das die Misere zu Unrecht verfolgter Menschen schildert. Als Soldat wurde S. 1944 beim Rückzug der dt. Truppen in Paris am Bein schwer verwundet. Ihm wurde das Hinken zum Symbol für die Verwundbarkeit des Menschen überhaupt. S. studierte Philosophie, Geschichte u. Theaterwissenschaften in Münster u. Köln. Er war Mitbegründer der dt.-jüd. Bibliothek in Köln u. nach 1972 Chefredakteur der dt.-frz. Zeitschrift »Dokumente«. In seinem ersten Roman, Wenn man aufhören könnte zu lügen (Opladen 1951), versucht ein junges Paar das Dickicht der Lügen aus der Hitlervergangenheit zu durchdringen u. zu bewältigen, um sich eine neue seel. Existenzgrundlage zu schaffen. Mit dem Problem
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einer mögl. Abtreibung konfrontiert, erfah- 2000, S. 99–109. – Westf. Autorenlex. 4. – Walter ren sie die Fragwürdigkeit überlieferter mo- Gödden u. Jochen Grywatsch (Hg.): ›Wenn man aufhören könnte zu lügen ...‹. Der Schriftsteller P. ralischer Werte. Die eigentl. Hauptfigur des Romans Engel- S. (1922–1976). Bielef. 2002. – Wolfgang Delseit: ›Eine Stadt mit tausend Gesichtern‹. P. S. u. Köln. bert Reinecke (Ffm. 1959. Hbg. 1997) ist der In: Kultur als Fenster zu einem besseren Leben u. Vater des Titelhelden Engelbert mit dem Arbeiten. Hg. Volker Zaib. Bielef. 2003, S. 259–276. Spitznamen »Beileibenicht«. Dieser hatte als – Nino Erné: P. S. In: LGL. – J. Grywatsch: AufarStudienrat in der NS-Zeit auf skurrile u. er- beitung – Dialog – Symbiose. Das Wirken P. S.s für findungsreiche Art Widerstand geleistet, bis christl.-jüd. Verständigung. In: Jüd. Lit. in Wester denunziert wurde u. in ein Todeslager falen. Hg. Hartmut Steinecke u. a. Bielef. 2004, kam. Nur durch die genaue Erinnerung an S. 213–236. – Stefan Niehaus: Die Windmühlen ihn kann der Sohn seine eigene moralische gewinnen den Kampf gegen Don Quixote. P. S.s Existenz aufbauen u. gegen analoge Ten- Ende als Romanautor. In: Am Erker 28 (2005), H. 50, S. 97–99. – Kay Alexandra Bühler: P. S. – ein denzen in der BR Deutschland auftreten. vergessener Autor. In: Lit. in Westfalen 8 (2006), Den aussichtslos scheinenden Kampf gegen S. 217–241. – Fred Viebahn: P. S. In: KLG. – Literar. den Fremdenhass in der BR Deutschland re- Nachlässe in rhein. Archiven. Ein Inventar. Bearb. präsentiert der Held seines nächsten Romans, v. Enno Stahl. Düsseld. 2006, S. 256 f. Don Quichotte in Köln (Ffm. 1967). Zum GeAlan F. Keele / Red. spött seiner Mitmenschen unternimmt ein Rundfunkredakteur in der Karnevalszeit den Versuch, Ideale wie Freiheit, Menschlichkeit, Schami, Rafik, eigentl.: Suheil Fadél, Frieden u. Brüderlichkeit zu verwirklichen. * 23.6.1946 Damaskus. – Erzähler, EssayWeitere Werke: Gericht über Kain. Saarbr. 1949 (R.). – Wir sind ja auch bald drüben. Ffm. 1952 (E.). – Buddy, ein Neger. Ebd. 1952 (E.). – Ankunft null Uhr zwölf. Ebd. 1953. Hbg. 1995 (R.). – Die unsichtbare Pforte. Ffm. 1954. 1977 (R.). – Pro Ahn sechzig Pfennige. Ebd. 1954 (E.). – Lakrizza u. a. Erzählungen. Baden-Baden 1966. – Karlsbader Ponys. Ebd. 1968 (N.). – Essays: Von dt. Tüchtigkeit. Köln 1954 – Von dt. Vergesslichkeit. Ebd. 1956. – Von dt. Resignation. Ebd. 1957. – Von dt. Gemütlichkeit. Ebd. 1959. – Von dt. Gleichgültigkeit. Ebd. 1962. – Zum Beispiel. Ffm. 1962. – Warendorfer Pferde. Bln. 1965. – Moment mal! Glossen u. Gedanken zur Zeit. Zussammengestellt u. mit einem Nachw. vers. v. Walter Gödden u. Jochen Grywatsch. Köln 2003. – P.-S.-Lesebuch. Bielef. 2008. Literatur: Jacques Cluytmans: P. S. Diss. Gent 1967. – Alan F. Keele: P. S. and the Post-War German Don Quixote. Bern 1976. – Malte Dahrendorf: Der Erzähler P. S. In: Lakrizza [...]. a. a. O. – Lev Z. Kopelev: Don Quichotte in Köln – P. S. In: Ders.: Laudationes. Gött. 1993, S. 133–137. – Werner Jung: Erinnerungsarbeit. Der Schriftsteller P. S. In: Literaturpreise. Literaturpolitik u. Lit. am Beispiel der Region Rheinland/Westfalen. Hg. Bernd Kortländer. Stgt./Weimar 1998, S. 155–174. – John Klapper: The Paradox of Simultaneity: ›Vergangenheitsbewältigung‹ in P. S.’s ›Engelbert Reineke‹. In: The Challenge of German Culture. Hg. Michael Butler u. Robert Evans. Basingstoke u. a.
ist. Der aus der christlich-aramäischen Minderheit in Damaskus stammende S., dessen Vater eine Bäckerei besaß, besuchte 1956–1959 die Klosterschule des »Ordens des Erlösers« im Libanon. 1963 trat er in die Kommunistische Partei Syriens ein, der er bis 1976 angehörte. 1964 gründete er mit Freunden die bald von der Partei verbotene Jugendzeitschrift »al Scharara« (Der Funke), 1966 in der Altstadt von Damaskus die Wandzeitung »al Muntalak« (Der Ausgangspunkt), die 1969 vom Geheimdienst verboten wurde. Seit 1965 studierte S. in Damaskus Naturwissenschaften. Um nach dem Abschluss des Studiums 1970 dem Militärdienst in einem despotischen Regime zu entgehen, flüchtete er im Dez. 1970 nach Beirut, reiste von dort im März 1971 nach Ost-Berlin u. nahm dann an der Universität Heidelberg das – mit Gelegenheitsarbeiten finanzierte – Studium der Chemie auf, das er 1976 mit dem Diplom abschloss; 1979 wurde er promoviert. 1980–1982 arbeitete S. als Pharmareferent bei einem Pharmakonzern u. ist seitdem als freier Schriftsteller tätig. 1980 gehörte er zu den Begründern der Literaturgruppe »Südwind«, aus welcher der Polynationale Litera-
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tur- und Kunstverein PoLiKunst (1981–1987) hervorging (Mitgl. jeweils bis 1985). 1980–1985 war S. Mitherausgeber der Reihe »Südwind-Gastarbeiterdeutsch« (seit 1983 »Südwind-Literatur«), in der auch seine Bände Das letzte Wort der Wanderratte. Märchen, Fabeln und phantastische Geschichten (Illustriert von Erika Rapp. Kiel 1984) u. Das Schaf im Wolfspelz (Mit Zeichnungen von Barbara Rieder. Dortm. 1982. Neuausg. Kiel 1986) erschienen. Zentrales Thema dieser »Gastarbeiterliteratur« ist die Situation der in Deutschland lebenden u. arbeitenden Ausländer, deren Unterdrückung u. Benachteiligung, aber auch deren Anpassung in den neuen gesellschaftl. Verhältnissen (vgl. Die Sehnsucht fährt schwarz. Geschichten aus der Fremde. Mchn. 1988. Erw. u. vollst. überarb. Ausg. mit Illustrationen von Root Leeb. Kiel 1996. Neuausg. Mchn./Wien 1997). Über seine Erfahrungen zum Thema »Fremdsein« berichtet S. auch in einem Interview mit Erich Jooß in Damals dort und heute hier (Freib. i. Br. 1998). Der sich als Vermittler zwischen Orient u. Okzident sehende S. verband wie schon in seinem ersten Buch in dt. Sprache (Andere Märchen. Illustriert von Angelika Sahra. Bonn 1978) in Der erste Ritt durchs Nadelöhr. Noch mehr Märchen, Fabeln und phantastische Geschichten (Mit Illustrationen von E. Rapp. Kiel 1985) zeitkrit. Satire mit oriental. Motiven. Die aus der Perspektive eines Jugendlichen erzählten Märchen in Der Fliegenmelker (Bln. 1985. Neuausg. illustriert von R. Leeb. Kiel 1993) sind im christl. Viertel von Damaskus in den 1950er u. zu Beginn der 1960er Jahre angesiedelt. Einer Sammlung von aramäischen Volksmärchens, die S. in der Universitätsbibliothek Heidelberg entdeckte, verdankt sich der Band Malula. Märchen und Märchenhaftes aus meinem Dorf (Kiel 1987. Neuausg. Mchn./Wien 1997). Eigene Erfahrungen verarbeitete S. in den Kinderbüchern Luki. Die Abenteuer eines kleinen Vogels (Illustriert von Theo Schelling. Gött. 1983) u. Weshalb darf Babs wieder lachen? (Illustriert von E. Papp. Ebd. 1985) sowie in dem Jugendroman Eine Hand voller Sterne (Weinheim 1987), in dem es einem vierzehnjährigen Bäckersohn gelingt, einen eigenen
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Lebensweg zu finden u. ihn gegen die Vorstellungen seines Vaters durchzusetzen. In Form eines Tagebuchs schildert er Alltagsszenen in der Altstadt von Damaskus u. erzählt von Gefühlen, Träumen u. Enttäuschungen. In Zusammenarbeit mit Illustratoren wie Peter Knorr (Der Wunderkasten. Ebd. 1990), Wolf Erlbruch (Das ist kein Papagei! Mchn./Wien 1994) oder Ole Könnecke (Wie ich Papa die Angst vor Fremden nahm. Ebd. 2003) entstanden Bilderbücher, für die S. die Texte verfasste. In dem Roman Erzähler der Nacht (Weinheim 1989) bettet S. seine fantastischen u. märchenhaften Geschichten in eine Rahmenhandlung ein. Der alte Kutscher Salim verstummt plötzlich, erfährt jedoch von seiner ihn bislang inspirierenden Fee, wie er die Sprache wiedererlangen könne: durch sieben einmalige Geschenke innerhalb von drei Monaten. Nach verschiedenen vergebl. Versuchen (u. a. Speisen, Getränke, Düfte) erkennen Salims Freunde – die sieben Männer gehören unterschiedl. Gesellschaftsschichten an –, die einst Salims Erzählungen lauschten, dass mit den erlösenden Geschenken Geschichten gemeint sein könnten, die dann in den verbleibenden sieben Nächten erzählt werden, die letzte von Fatmeh, der Ehefrau von Salims ältestem Freund Ali, der sich selbst dazu nicht imstande sieht. Thema des Romans ist Erzählen u. Zuhören; in die Geschichten fließen krit. Bemerkungen über Machthaber ein. In den folgenden zwei Zirkusromanen thematisiert S. seine Vorstellungen von einem friedl. Zusammenleben der Völker. Der ehrliche Lügner (ebd. 1992) vereint »alle bisher bekannten Varianten der Lüge [...], auch die kuriosen, lebensrettenden Lügen der Tiere« (Damals dort und heute hier, S. 112). Erzählt wird – in der Erinnerung des alten Salik – die Geschichte eines jungen Mannes, der einen durch den Ausbruch eines Bürgerkrieges in der Stadt Morgana monatelang festgehaltenen indischen Zirkus durch »wahrhaftige Geschichten von ehrlichen Leuten, zu hundert Prozent gelogen« unterhält, gleichzeitig aber von Diktatoren u. ihren Geheimdiensten berichtet. Während dieser »Roman von tausendundeiner Lüge« noch ausschließlich in
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Arabien angesiedelt ist, werden wie in dem späteren Roman Die Sehnsucht der Schwalbe (Mchn./Wien 2000) im zweiten Zirkusroman Reise zwischen Nacht und Morgen (ebd. 1995), in dem der sechzigjährige Zirkusdirektor Valentin Samani mit seinem in Deutschland ums Überleben kämpfenden Zirkus von einem arab. Jugendfreund zu einer Tournee in seine Heimat eingeladen wird, die Erzählorte Arabien u. Europa zusammengeführt. Es ist zgl. ein Roman über das Altern u. Jungbleiben (durch die Liebe) sowie über den Tod. Als Appell zu einem Dialog der Kulturen ist der zum 250. Geburtstag des Dichters erschienene Roman Der geheime Bericht über den Dichter Goethe, der eine Prüfung auf einer arabischen Insel bestand (zus. mit Uwe-Michael Gutzschhahn. Ebd. 1999) konzipiert, in dem auf der arab. Insel Hulm (= Traum) Kronprinz Hakim ein »Zentrum der Weisheit« errichten will, das die besten Werke der Literatur u. Philosophie der Welt versammeln soll. In acht Nächten werden Texte Goethes diskutiert; in der neunten Nacht wird über ihre Aufnahme in das »Zentrum der Weisheit« abgestimmt. Als nach Eroberung der Insel durch die Kolonialmächte die Erdölvorkommen ausgebeutet werden, versinkt die Insel im Meer. In seinem Opus magnum, dem 900-SeitenRoman Die dunkle Seite der Liebe (ebd. 2004), erzählt S. die Geschichte von Farud Muschtak u. Rana Schahin, die zwei verfeindeten Clans eines syr. Bergdorfs angehören. Wegen der religiösen u. persönl. Auseinandersetzungen ihrer kath. bzw. orthodox-christl. Familien wählen sie das Exil. Vor dem Panorama der syr. Gesellschaft zwischen 1870 u. 1970 werden die Konflikte in der Fehde der beiden Clans geschildert. Im letzten Kapitel des um Religion, Sexualität u. Politik kreisenden Romans berichtet S. von seinem Entschluss als Sechzehnjähriger, einen Roman zum Thema Liebe über die Religionsgrenzen hinweg zu schreiben, nachdem er Zeuge eines ›Ehrenmords‹ in den Straßen von Damaskus geworden war; er schildert hier auch den Entstehungsprozess des Romans u. die Schwierigkeiten, die er bei der Umsetzung der Idee in eine Geschichte hatte. Die im Damaskus der 1950er Jahre angesiedelte Ge-
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schichte einer verbotenen Liebe in dem Roman Das Geheimnis des Kalligraphen (Mchn. 2008) ist in einem zweiten Erzählstrang mit den Versuchen eines Kalligrafen verknüpft, die arab. Schrift zu reformieren. S. engagiert sich seit vielen Jahren für die Lösung des Konflikts zwischen Israel u. Palästina. Nach einem ersten Treffen von Israelis u. Arabern 1976 in Heidelberg gehörte er zu den Initiatoren des Halterner-Kreises, der 1983 den ersten großen palästinensischisraelischen Dialog in Deutschland organisierte. Zu bestimmenden Themen von S.s Werk gehören ebenso das Leben der Migranten in Deutschland, einschließlich des Auftretens gegen Rassismus u. Antiislamismus, u. die polit. Verhältnisse in Syrien u. in dessen Nachbarländern. Über die Ereignisse am 11. Sept. 2001 in New York u. den Palästinakonflikt verfasste S. das polit. Tagebuch Mit fremden Augen (Heidelb. 2002). Damaskus im Herzen und Deutschland im Blick (Mchn./Wien 2006) enthält Essays, Reden u. Artikel S.s aus zwei Jahrzehnten, die sich mit Entwicklungen in Europa u. in der arab. Welt beschäftigen. S. verbindet Freude am Erzählen u. Fabulierkunst mit realistischer Darstellung u. weiß polit. Inhalte damit zu verknüpfen. Den Stellenwert von öffentl. Lesungen u. seine Rolle als »greifbarer« Autor thematisierte er in seinem Roman Sieben Doppelgänger (ebd. 1999). Von S.s Werken liegen Übersetzungen in 25 Sprachen vor, seit 2003 auch ins Arabische. S. wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Thaddäus-Troll-Preis (1986), dem Smelik-Kiggen-Preis der Niederlande (1989), dem Rattenfängerpreis der Stadt Hameln (1990), dem Phantastik-Preis der Stadt Wetzlar (1990), dem Mildred L. Batschelder Award (USA) (1991), dem Adelbert-von-ChamissoPreis (1993), dem Hermann-Hesse-Preis (1994), dem Prix de Lecture, Frankreich (1996), dem Hans-Erich-Nossack-Preis (1997), dem Storytelling World Award, USA (1997), dem Kunstpreis des Landes Rheinland-Pfalz (2003) u. dem Nelly-Sachs-Preis (2007). Seit 2002 ist S. Mitgl. der Bayerischen Akademie der Schönen Künste; 2010 erhielt er die Brüder-Grimm-Professur der Universität Kassel.
Schamoni Weitere Werke: Der Kameltreiber v. Heidelberg. RIAS Bln. 1986 (Hörsp.). – Als die Puppen aus der Reihe tanzten. Urauff. Kellertheater im Unterholz, Mchn. 1987 (D.). – Bobo u. Susu. Illustriert v. Erika Rapp. Wien 1986. – Der Löwe Benilo. Illustriert v. E. Rapp. Wien 1989. – Der fliegende Baum. Die schönsten Märchen, Fabeln u. phantast. Gesch.n. Illustriert v. Root Leeb. Kiel 1991. Neuausg. Mchn./ Wien 1997. – Vom Zauber der Zunge. Reden gegen das Verstummen. Frauenfeld 1991. – Der brennende Eisberg. Eine Rede, ihre Gesch. u. noch mehr. Ebd. 1994. – Das ist kein Papagei. Radio DRS 1994 (Hörsp.). – Der Schnabelsteher. Illustriert v. Els Cools u. Oliver Streich. Gossau/Zürich 1995 (Bilderbuch). – Fatima u. der Traumdieb. Illustriert v. dens. Ebd. 1996 (Bilderbuch). – Loblied u. andere Olivenkerne. Mit Zeichnungen v. R. Leeb. Mchn./Wien 1996. – Hürdenlauf oder Von den unglaubl. Abenteuern, die einer erlebt, der seine Gesch. zu Ende erzählen will. Rede an der Johann Wolfgang Goethe Univ. Ffm. 1996. – Zu Besuch bei Harry Heine. Süddt. Rundfunk 1997 (Hörsp.). – Gesammelte Olivenkerne. Aus dem Tagebuch der Fremde. Mit Zeichnungen v. R. Leeb. Mchn./Wien 1997. – Milad. Von einem, der auszog, um einundzwanzig Tage satt zu sein. Ebd. 1997 (R.). – Albin u. Lila. Gossau/Zürich 1999 (Bilderbuch). – (Hg.): Angst im eigenen Land. Israelische u. palästinens. Schriftsteller im Gespräch. Zürich 2001. – Die Farbe der Worte. Bilder u. Gesch.n (zus. mit R. Leeb). Cadolzburg 2002. – Marie Fadel: Damaskus. Der Geschmack einer Stadt. Aufgezeichnet v. R. S. Zürich 2002. Überarb. u. erw. Neuaufl. Mchn. 2010. – Das große R. S. Buch. Mit Vignetten v. R. Leeb. Mchn. 2003. – Die schönsten Märchen. Mchn./ Wien 2003. – Der Kameltreiber v. Heidelberg. Gesch.n für Kinder jeden Alters. Mit Bildern v. Henrike Wilson. Ebd. 2006. – Wie federleichte Liebe einen schweren Bären bewegen kann. Mit Bildausschnitten v. Barbara Trapp. Eschbach 2007. – Was ich schaffe, überdauert die Zeit. Eine Gesch. v. der Schönheit der Schrift. Mit fünf farbigen Kalligraphien v. Ismat Amiralai. Mchn. 2008. – Die Geburt. Eine Weihnachtsgesch. Eschbach 2008. – Für das Lächeln eines Kindes oder was Weihnachtsfrauen vermögen. Ebd. 2008. – Eine dt. Leidenschaft namens Nudelsalat u. andere seltsame Gesch.n. Mchn. 2011. – Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte. Oder wie ich zum Erzähler wurde. Mchn. 2011. Literatur: Iman Osman Khalil: Zum Konzept der Multikulturalität im Werk R. S.s. In: Monatshefte 86 (1994), H. 2, S. 201–217. – Donna Kinerney: The Stories of R. S. as Reflections of his Psychopolitical Program. In: The Germanic Mosaic. Cultural and Linguistic Diversity in Society. Hg.
250 Carol Aisha Blackshire-Belay. Westport, CT 1994, S. 225–239. – Annette Deeken: Der listige Hakawati. Über den oriental. Märchenerzähler R. S. In: DU 48 (1995), H. 7/8, S. 363–370. – Franco Foraci: ›Das Wort ist die letzte Freiheit, über die wir verfügen‹. Gespräch mit dem syr. Erzähler u. Literaten R. S. In: Diskussion Deutsch 26 (1995), H. 143, S. 190–195. – I. Khalil: Zur Rezeption arab. Autoren in Dtschld. In: Denn Du tanzt auf einem Seil. Positionen deutschsprachiger MigrantInnenliteratur. Hg. Sabine Fischer u. Moray McGowan. Tüb. 1997, S. 115–131. – Ders.: From the Margins to the Center. Arab-German Authors and Issues. In: Transforming the Center, Eroding the Margins. Essays on Ethnic and Cultural Boundaries in German-Speaking Countries. Hg. Dagmar C. G. Lorenz u. Renate S. Posthofen. Columbia, SC 1998, S. 227–237. – Graeme Dunphy: R. S. In: Encyclopedia of German Literature. Hg. Matthias Konzett. Bd. 2, Chicago/London 2000, S. 874–951. – HansHeino Ewers: Ein oriental. Märchenerzähler, ein moderner Schriftsteller? Überlegungen zur Autorschaft R. S.s. In: Konfiguration des Fremden in der Kinder- u. Jugendlit. nach 1945. Hg. Ulrich Nassen u. Gina Weinkauff. Mchn. 2000, S. 155–167. – Susan M. Schürer: In Search of R. S.’s ›Kameltreiber v. Heidelberg‹. In: Modern Language Studies 30 (2000), H. 1, S. 167–178. – Utai Aifan: Araberbilder. Zum Werk dt.-arab. Grenzgängerautoren der Gegenwart. Aachen 2003. – Isabel Grübel: R. S. In: LGL. – A. Mansour Bavar: Aspekte der deutschsprachigen Migrationsliteratur. Die Darstellung der Einheimischen bei Alev Tekinay u. R. S. Mchn. 2004. – Lutz Tantow: R. S. In: KLG. – Bettina Wild: R. S. Mchn. 2006. – Haimaa El Wardy: Das Märchen u. das Märchenhafte in den politisch engagierten Werken v. Günter Grass u. R. S. Ffm. 2007. – Nader Alsarras: Die Orientbilder im Werk R. S.s. Eine literaturwissenschaftl. Untersuchung am Beispiel seines Romans ›Die dunkle Seite der Liebe‹. Diss. Heidelb. 2010. Bruno Jahn
Schamoni, Rocko, eigentl.: Tobias Albrecht, * 8.5.1966 Lütjenburg/SchleswigHolstein. – Romanautor, Entertainer u. Musiker. S. ist einer der bekanntesten Künstler u. Musiker der so genannten Hamburger Schule. Seit den frühen 1980er Jahren hat er mit verschiedenen Rockbands u. auch als Solist erste künstlerische Gehversuche unternommen. 1989 eröffnete er mit Musikerkollegen in der Nähe der Reeperbahn (später ins
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Schanzenviertel umgezogen) die mittlerweile Punk ist in S.s Retrospektive ein identitäts- u. legendäre Kneipe »Pudel Club«. Ende der kunststiftendes Prinzip, dem Abgrund des 1990er Jahre gründete er mit Heinz Strunk u. Banalen, der Tristesse u. auch der Gewalt im Jacques Palminger die Comedytruppe »Stu- Dorf etwas entgegenzusetzen. Die Entwicklung S.s vom schreibenden dio Braun«, die mit Liveperformances u. Minihörspielen Kultstatus erlangte. S. kompo- Entertainer zum ›ernsthaften‹, autobiograniert auch Musik fürs Theater (u. a. für Stücke fisch arbeitenden Chronisten der Pop- u. Gegenkultur zeigt sich deutlich in dem Roman von Elfriede Jelinek). In seinem Debütroman Risiko des Ruhms Sternstunden der Bedeutungslosigkeit (Köln (Reinb. 2000. Überarb. Neuaufl. mit dem 2007). Der Erzähler Michael Sonntag ist ein Untertitel Director’s Cut. Ebd. 2007) versuchte aus der Provinz in die Großstadt Hamburg sich S. erstmals an einem literar. Großgenre, gezogener Kunststudent u. Lebenskünstler, blieb jedoch von den erzähltechn. Verfahren der im Schanzenviertel von Nebenjobs als u. Motiven eher dem skurril-brachialen Hu- Roadie u. Plakatkleber lebt, sich unglücklich mor u. verblüffenden Pointen des Klein- verliebt u. insg. mit seiner verkrachten Bokunst-Entertainers verhaftet, darin an Helge heme-Existenz nicht klarkommt, sogar reSchneider erinnernd. Der Erzähler berichtet gelmäßig einen Therapeuten aufsucht. So von seiner merkwürdigen Kindheit u. Jugend resümiert der Erzähler an einer Stelle selbstin Ungarn als Sprössling einer Artistenfamilie kritisch seine künstlerischen Gehversuche: mit kleinkrimineller Energie. Als ein moder- »So viel Kraft und so wenig Vision.« Auch im Roman Tag der geschlossenen Tür ner Simplex durchschreitet der Erzähler mit strateg. Ignoranz u. überbordender Fantasie (Mchn. 2011) versucht der Protagonist Michael eine Welt, in der er ständig Erstaunliches er- Sonntag auf schwankendem Kiez-Boden Sinn lebt. Gegen Ende seines Buches greift S. den u. Erfüllung zu erfahren. Mit Anfang 40 führt Diskurs über die Hamburger Schule auf, den ihn seine Ziel- u. Antriebslosigkeit immer er zwar ironisch überzeichnet, in dem er sich wieder in berufliche, ökonomische u. amouaber gleichwohl als versöhnl. Beobachter u. röse Sackgassen. Auch wenn Sonntag als Großstadtmelancholiker eine zwischen Pop u. Akteur der Medienlandschaft behauptet. In seinem zweiten Roman Dorfpunks (Reinb. Prekariat schwankende Generation von Be2004), der sowohl als Theaterstück (Urauff. rufsjugendlichen verkörpert, die weitgehend Hamburg 2008) umgesetzt als auch verfilmt in ihrer narzisstischen Privatwelt verharrt, so (2009) worden ist, wendet sich S. der wohl kann man S.s Roman durchaus auch als prägenden Phase seines Künstlerlebens zu. Kommentar zur aktuellen Hamburger KulObwohl Orts- u. Personennamen verändert turpolitik lesen. In seinem Roman sind es viele wurden, verweist alles auf S.s Jugend in der abstrus-komische Guerilla-Aktionen, mit deholsteinischen Kleinstadt Lütjenburg (im nen sein Held der allgegenwärtigen EventBuch Schmalenstedt). Hier begegnet er der kultur, aber auch der Gentrifizierung von gePunk- u. New-Wave-Kultur der späten 1970er wachsenen Stadtteilen mit einer konsequenu. 1980er Jahre, hier macht er seine ersten ten Sinnzertrümmerung begegnet. Schritte als Musiker u. Entertainer, erlebt alLiteratur: Dirk Frank: Verschwende Deine Julerdings auch die schwindende Relevanz ei- gend? Unheroische Popsozialisation in R. S.s ner anfänglich als revolutionär u. befreiend ›Dorfpunks‹ u. Heinz Strunks ›Fleisch ist mein empfundenen Jugend- u. Gegenkultur. Aus Gemüse‹. In: DU 60 (2008), H. 6, S. 70–77. Dirk Frank Tobias Albrecht (sein bürgerl. Name) alias Roddy Dangerblood (eines seiner jugendl. Pseudonyme) wird schließlich Rocko SchaSchanz, Julius August, auch: Uli Schanz, moni, ein Name, der auf groteske Weise Ele* 19.9.1828 Oelsnitz/Vogtland, † 14.4. mente der Trashkultur (z.B. Pornodarsteller 1902 Leipzig. – Lyriker. Rocco Siffredi) u. der Hochkultur (»Schamoni« erinnert u. a. an die Filmemacher Peter u. S. besuchte das Gymnasium in Plauen/VogtUlrich Schamoni) zusammenbringt. (Dorf-) land u. studierte danach in Leipzig Jura, wo er
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Literatur: Das litterar. Leipzig. Illustriertes in Verbindung zu oppositionellen Kräften trat, darunter mit der Schriftstellerin u. Hdb. der Schriftsteller- u. Gelehrtenwelt, der Presse Journalistin Louise Otto u. dem Buchhändler u. des Verlagsbuchhandels in Leipzig. Lpz. 1897, u. Publizisten Emil Ottokar Weller. An der S. 117 f. – Brümmer 6 (1913), S. 142 f. – Rolf Weber: Emil Ottokar Weller. In: Karl Obermann u. a. Märzrevolution beteiligte er sich v. a. vom (Red.): Männer der Revolution v. 1848. Bd. 1, Bln. Vogtland aus publizistisch u. als Redner auf 1988, S. 171 f., 181–183. – Johanna Ludwig: Zu Volksversammlungen, auch mit der Veröf- bisher unbekannten Briefen v. Louise Otto-Peters fentlichung polit. Gedichte. Er war wichtigs- an Franz Brendel, J. S., Adolf Hofmeister u. Robert ter Mitarbeiter der »Vogtländischen Blätter« Schumann aus den Jahren 1847 bis 1853. In: u. des »Erlbusch«. In Louise Ottos »Frauen- Louise-Otto-Peters-Jb. 1 (2004), S. 192–204. Zeitung« erschien u. a. das anklagende WieJohanna Ludwig genlied einer sächsischen Mutter. Ab Nov. 1849 war S. Mitgl. des Leipziger Blum-Vereins u. gab Die Doppelfeier von Robert Blums Todes- und Schaper, Edzard (Hellmuth), * 30.9.1908 Geburtstag am 9. und 10. November 1849 in Leipzig Ostrowo/Posen (heute: Ostrów Wielko(Lpz. 1849) heraus. Er wurde in Leipzig erpolski/Polen), † 29.1.1984 Bern. – Roneut verhaftet u. zu fünf Jahren Kerkerhaft mancier, Erzähler, Essayist, Hörfunkverurteilt. Ein Gnadengesuch führte zur vorautor u. Übersetzer. zeitigen Entlassung aus dem Zuchthaus Zwickau. Danach war S. in Dresden journa- Nach Ende des Ersten Weltkriegs zog S. mit listisch tätig. 1853 heiratete er Pauline Leich, den Eltern – der Vater war Offizier u. Milidie wie auch die 1859 geborene Tochter Frida tärbeamter – nach Glogau, 1920 nach HanSchriftstellerin war. S. gehörte 1856 zu den nover, wo er bis zum 16. Lebensjahr die höGründern der »Dresdner Nachrichten« u. here Schule besuchte. Anschließend studierte leitete 1859 die »Saxonia«. Er veröffentlichte er Musik, war kurze Zeit Regieassistent u. neben Gedichten auch Märchen u. Sagen u. Schauspieler in Herford, Minden u. Stuttgart. betrieb Studien zur ital. Geschichte. Seine 1927–1929 lebte er auf der kleinen dän. OstFestgabe Zur Dante-Feier (Dresden 1865) seeinsel Christiansö; dann arbeitete er als führte zur Berufung auf Professuren für dt. Gärtner in Potsdam u. seit 1930 ein Jahr lang Sprache u. Literatur, u. a. nach Venedig u. als Matrose auf einem Fischdampfer im Rom. 1872 legte S. die dt. Übersetzung des nördl. Atlantik u. im Eismeer. 1931 lernte er bei Freunden in Berlin Alice Pergelbaum Librettos der Verdi-Oper Aida vor. Nach Erkrankung kehrte der inzwischen kennen, die er 1932 in Reval heiratete. Seit 1932 lebte S. als freier Schriftsteller in Geschiedene 1881 nach Deutschland zurück, lebte zunächst in Hamburg u. Dresden u. Estland, veröffentlichte im Insel Verlag u. war übersiedelte 1886 nach Leipzig. S.’ späteres Korrespondent für United Press. 1933 ging er literar. Schaffen ist von konservativen Auf- im Zuge der Rücksiedlung der Baltendeutschen nicht ins Deutsche Reich zurück. Weil fassungen geprägt. Weitere Werke: Das Heckerlied. Lpz. 1848. – er für UPI über das Baltikum berichtete, Dt. Liederbuch (hg. zus. mit Carl Parucker). Lpz. wurde er sowohl von den Deutschen als auch 1848. – Liande. Eine Märchen-Dichtung. Zwickau von den Russen, der Spionage verdächtigt, in 1854. – Ein Buch Sonette. Lpz. 1864. – Lieder aus Abwesenheit zum Tode verurteilt. Er konnte Italien. Düsseld. 1870. – Der Montcenis-Tunnel, aber 1940 mit seiner Familie vor den Russen seine Erbauung u. seine Umgebungen. Wien/Pest/ nach Finnland fliehen. Nach dem WaffenLpz. 1872. – Italien, Dtschld., Österr. im Spiegel stillstand zwischen Finnland u. der Sowjetmoderner Dichtung. Rom 1879. – Kornblumen u. union 1944 floh er nach Schweden, wo er als Immergrün. Eine Dichtergabe aus Italien. 3 Bde., Rom 1879/80. – Übersetzung: Emilio Castelar: Er- Landarbeiter, Übersetzer u. Sekretär der schinnerungen an Italien. Mit einer Vorrede des Ver- wed. Kriegsgefangenenfürsorge u. Nachkriegshilfe arbeitete. 1947 ließ S. sich in Züfassers. Lpz. 1876. rich nieder, 1953 zog er nach Brig, anschließend nach Münster/Wallis.
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Durch die Begegnung mit der russisch-orthodoxen Kirche wurde der protestantisch erzogene S. zum bewussten Christen u. konvertierte 1951 zum Katholizismus, ohne damit seine Sympathien für den Protestantismus u. die russisch-orthodoxe Kirche aufzugeben. Sein Leben schilderte er in Bürger in Zeit und Ewigkeit. Antworten (Hbg. 1956). S.s Werk ist zum einen durch seinen christl. Glauben geprägt, zum anderen dadurch, dass er einen großen Teil seines Lebens in Grenzgebieten bzw. im Ausland verbrachte. Ein Großteil seiner Werke ist im Baltikum angesiedelt. Hauptthemen sind daher auch die Grenze, Flucht u. Gefangenschaft, wobei alle Themen sowohl eine konkrete als auch eine innere, religiöse Bedeutung haben: Grenze wird auch als Grenze zwischen Zeitlichkeit u. Ewigkeit begriffen, Gefangenschaft auch als Möglichkeit, innere Freiheit zu gewinnen, Flucht auch als Flucht vor sich selbst, Gerechtigkeit nicht nur als formales Verhalten, sondern auch als Haltung, die sich nur in der inneren Bekehrung gewinnen lässt. S.s Figuren werden, ähnlich wie bei Stefan Andres, immer in Grenzsituationen dargestellt, in denen sie sich zu entscheiden haben. Häufig sind es Offiziere u. Priester, die Vertreter gegensätzl. geistiger Haltungen sind. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg erfreute sich S.s Werk wie auch das anderer christl. Schriftsteller (z. B. Stefan Andres, Werner Bergengruen, Graham Greene u. Georges Bernanos) in der BR Deutschland großer Popularität. Als sich Ende der 1950er Jahre eine neue, sozialkritisch engagierte Literatur durchsetzte, war für S. der Höhepunkt seiner öffentl. Wirksamkeit überschritten. In den 1970er u. 1980er Jahren wurde er nur noch wenig beachtet. S.s erster bedeutender Roman ist Die sterbende Kirche (Lpz. 1936). Er handelt von der Begegnung mit der russisch-orthodoxen Frömmigkeit u. erzählt die Geschichte einer kleinen Kirche in Estland u. ihres Priesters Seraphim, der nach der Russischen Revolution floh. Im Roman Der letzte Advent (Zürich 1949) setzte S. die Geschichte in der Gestalt des Diakons dieser Kirche fort, der nach Russland zurückkehrt, um den Menschen
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heimlich das Abendmahl zu spenden, u. dabei zum Märtyrer wird. Der Roman Der Henker (Lpz. 1940. U. d. T. Sie mähten gewappnet die Saaten. Köln/Olten 1956) spielt im Jahr 1905, während der lettisch-estn. Revolution gegen die dt. Landeigentümer. Hauptperson ist ein russ. Offizier dt. Abstammung, der als Vorsitzender eines Militärgerichts Aufständische zu Tod u. Verbannung verurteilen muss u. später von der Bevölkerung dafür verantwortlich gemacht wird. Großen Erfolg hatte in den 1950er Jahren der Roman Die Freiheit des Gefangenen (Köln/ Olten 1950) u. seine Fortsetzung Die Macht der Ohnmächtigen (ebd. 1951): Ein napoleonischer Offizier wird wegen angebl. Beteiligung an einer bourbonischen Verschwörung schuldlos ins Gefängnis geworfen u. findet in der Unterhaltung mit einem Priester inneren Frieden. In der Fortsetzung muss sich der Priester mit einem atheistischen Kommissar auseinandersetzen. In beiden Romanen wird das Verhältnis eines totalitären Staates zur Kirche u. zur inneren Freiheit des Individuums thematisiert. Mit einer seiner besten Erzählungen, Der Gouverneur oder Der glückselige Schuldner (Köln/ Olten 1954), kehrte S. ins Baltikum zurück. Der letzte schwed. Gouverneur Estlands zur Zeit des Nordischen Kriegs lässt in Verletzung seiner Amtspflichten aus Barmherzigkeit einen unschuldig zum Tod verurteilten schwed. Offizier mit seiner Verlobten entkommen. In den Arbeiten der 1970er Jahre steht die christl. Thematik weniger im Vordergrund als in den meisten früheren Werken. Unter den Romanen ist v. a. der kurz vor dem Ersten Weltkrieg in Polen spielende Am Abend der Zeit (Köln/Olten 1970) hervorzuheben, in dem S. Erinnerungen an seine Kindheit aufnahm. S.s Schaffen wird ergänzt durch szen. Werke (Dramen u. Hörspiele), Essays u. zahlreiche Übersetzungen aus dem Finnischen, Dänischen u. Schwedischen. Weitere Werke: Die Bekenntnisse des Försters. Stgt. 1928. – Die Insel Tütarsaar. Lpz. 1933. – Die Arche, die Schiffbruch erlitt. Lpz. 1935 (R.). – Attentat auf den Mächtigen. Ffm. 1957. – Das Tier oder Die Gesch. eines Bären, der Oskar hieß. Ffm.
Scharang 1958. – Der vierte König. Köln/Olten 1961. – Dragonergesch. Ebd. 1963. – Grenzlinien. Ein Lesebuch. Mit einem Ess. v. Werner Ross. Hg. Matthias Wörther. Mchn. 1987. Literatur: Ingrid Pohl: ›Am Abend der Zeit‹. In: NDH 30 (1983), S. 617 f. – Alfons Bungert: Gewalt bricht Glauben nicht. E. S. zum 75. Geburtstag. In: Der Literat 25 (1983), S. 227 f. – Irène Sonderegger-Kummer: Transparenz der Wirklichkeit. E. S. u. die innere Spannung in der christl. Lit. des zwanzigsten Jh. Bln./New York 1971. – FrankLothar Kroll (Hg.): Wort u. Dichtung als Zufluchtsstätte in schwerer Zeit. Bln. 1996. – Armin v. Ungern-Sternberg: ›Dieses primitiv Epische‹? Zu E. S.s Erzählverhalten. In: Triangulum. Germanistisches Jb. für Estland, Lettland u. Litauen 5 (1998), Sonderheft E. S., S. 148–179. – Iso Baumer u. a.: Annäherungen. E. S. wiederentdeckt? Basel 2000. – Arnulf Otto-Sprunck: Wagnis der Gegenwart. Nationalsozialismus, Bolschewismus u. christl. Menschenbild im Werk E. S.s. In: Die totalitäre Erfahrung. Dt. Lit. u. Drittes Reich. Hg. F.-L. Kroll. Bln. 2003, S. 303–315. – A. v. Ungern-Sternberg: ›Erzählregionen‹. Überlegungen zu literar. Räumen mit Blick auf die dt. Lit. des Baltikums, das Baltikum u. die dt. Lit. Bielef. 2003. – Matthias Langheiter-Tutschek: Literar. Ver-Mittlung u. konfessionelles Dilemma. Zu Pär Lagerkvist u. E. S. In: Triangulum 10 (2003/04), S. 112–122. – Michael Garleff: E. S. In: NDB. Hans Wagener / Red.
Scharang, Michael, * 3.2.1941 Kapfenberg/Steiermark. – Erzähler, Drehbuchu. Hörspielautor, Essayist. Der aus einer Arbeiterfamilie stammende S. studierte ab 1960 in Wien Philosophie, Theaterwissenschaft u. Kunstgeschichte u. promovierte mit einer Dissertation über Musils Dramen, der neben Karl Kraus entscheidenden Einfluss auf seine Arbeit hat. Schon in seinem Essayband Zur Emanzipation der Kunst (Neuwied/Bln. 1971) zeichnet sich sein literaturtheoret. Ansatz ab: die marxistische Kritik an den ökonomischen Bedingungen der kapitalistischen Gesellschaft, vornehmlich der Literaturproduktion; anhand der Thesen Walter Benjamins u. Brechts analysiert S. die Unvereinbarkeit von Kunst u. Kommerz. Zu seinen ersten, kollektiv produzierten Hörspielen in Zusammenarbeit mit Arbeitern, im O-Ton aufgezeichnet, zählt der Bericht vom Arbeitsamt (NDR 1972). S. gehörte
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1971 zu den Gründern des Autorenkollektivs »literaturproduzenten«, wurde 1973 Mitgl. des ersten Vorstandes der »Grazer Autorenversammlung« u. war 1973–1978 Mitgl. der KPÖ. Seine ersten Prosaarbeiten – etwa die »Strafrede« Ein Verantwortlicher entläßt einen Unverantwortlichen (in: Schluß mit dem Erzählen und andere Erzählungen. Neuwied/Bln. 1970, S. 9–18. Fernsehfilm ORF 1971), ein iron. Spiel mit Sprachmustern u. -schablonen – sind formal von der experimentellen Literatur geprägt. Die provokative Sprachanalyse aber hat hier schon ihre entschieden gesellschaftskrit. Botschaft. S.s erster Roman, Charly Traktor (Darmst./Neuwied 1973), stellt einen Arbeiter vor, der am Ende eines Bewusstseins- u. Sprachprozesses in der Kommunikation mit Gleichgesinnten eine Chance zur Veränderung der Arbeitsbedingungen sieht. Der Roman Der Sohn eines Landarbeiters (ebd. 1976), Gegenparabel zu Charly Traktor, zeigt das Scheitern des »Helden« an den sozioökonomischen Bedingungen. S.s theoret. Arbeiten, darunter seine Essays für die Zeitschrift »Konkret«, sind dialektisch ausgefeilt, nicht selten mit gut gesetzten Kraftausdrücken gewürzt. Vor allem seine ersten Romane haben Lehrstückcharakter, sind schematisch aufgebaut, die Figuren zu Typen reduziert: ein Versuch, so die polit. Botschaft plakativer zu gestalten. Mit dem Roman Der Lebemann (Mchn. 1979. Fernsehfilm ORF 1979) verließ S. 1979 das Arbeitermilieu u. wandte sich dem Mittelstand zu, ein »Paradigmawechsel« stellte die Kritik fest. Mit der Geschichte der ungleichen Liebe zwischen einem Banker u. einer Verkäuferin, von einer zweiten Handlungsebene, einer »Bankräubergeschichte«, ironisch gebrochen, gelingt S. eine subtile Zeichnung seiner Figuren, bei der nicht zuletzt deren genaue Sprachgestaltung die gegensätzl. u. letztlich unvereinbaren Lebensbedingungen u. Zielsetzungen offensichtlich machen. Im Roman Auf nach Amerika (Hbg./Zürich 1992) treffen sich der Ich-Erzähler, ein Museumsangestellter, u. die erfolgreiche Kanzlerberaterin Maria in einem Wiener Cafehaus, um die Erinnerung an ihre einst abenteuerliche gemeinsame Reise nach Amerika heraufzubeschwören. Im Wechsel aus Rück-
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Scharf
Weitere Werke: Verfahren eines Verfahrens. blenden u. Gegenwart entsteht ein Geschichtspuzzle mit sarkast. Seitenhieben auf Nachw. v. Helmut Heißenbüttel. Neuwied 1969 gesellschaftl. Verhalten u. auf parteipolit. (E.). – Das Glück ist ein Vogerl. WDR 1972 (Hörsp.). Hintergründe in der Österreich- u. Europa- – Einer muß immer parieren. Dokumentation von Arbeitern über Arbeiter. Mit einem Beitr. v. Klaus politik der 1980er Jahre. Der Roman Das Schöning. Darmst./Neuwied 1973. – Das doppelte Jüngste Gericht des Michelangelo Spatz (Reinb. Leben. Ein Drehbuch. Salzb. 1981 (R.). – Harry. 1998) übernimmt das Personal aus Auf nach Eine Abrechnung. Darmst./Neuwied 1984 (R.). – Amerika. In New York will der Ich-Erzähler Die List der Kunst. Ebd. 1986 (Ess.s). – Das Wunder die Geschichte der amerikan. Metropole als Österreich. Oder wie es in einem Land immer besser Stadt des 20. Jh. schreiben. Die Mixtur aus u. dabei immer schlechter wird. Ess.s, Polemiken, skurrilen Gedanken u. bizarren Abhandlun- Glossen. Ebd. 1989. – Herausgeber: Über Peter gen gerät zu einem opulenten Werk, in dem, Handke. Ffm. 1972. Literatur: Cegienas de Groot: Arme Menschen. so scheint es, keine Frage offen bleibt. Zur Darstellung der existentiellen u. gesellschaftl. Scharfsinnig u. einfallsreich, bisweilen aber Position des Menschen bei den österr. Autoren auch zu ausschweifend geht der Ich-Erzähler Gerhard Roth, M. S. u. Gernot Wolfgruber. Hilmit der »Epoche des Kleinbürgers« zu Ge- desh. 1988. – Hans Joachim Bernhard: M. S. In: richt, nach der, so sein Tenor, »der Bürger die Österr. Lit. des 20. Jh. Hg. Horst Haase u. Antal Welt von sich erlösen kann«. Mádl. Bln./DDR 1988, 716–733, 861 f. – Peter BeIm Jahr 2000 begann S. sein bisher wich- kes: M. S. In: KLG. – Geoffrey C. Howes: ›Auf nach tigstes Drehbuch, an dem er mit seiner Amerika‹. Ein Gespräch mit M. S. In: MAL (1989), Tochter Elisabeth, Regisseurin u. Redakteu- H. 2, S. 71–83. – Gerhard Fuchs u. Paul Pechmann rin, über zwei Jahre arbeitete. Der Fernseh- (Hg.): M. S. (Dossier 19). Graz/Wien 2002. – G. Fuchs: M. S. In: LGL. – Hans Haider: Darstellung film Mein Mörder (ORF 2005) thematisiert die bedeutet immer Veränderung. M. S. Ein Interview. Kindereuthanasie u. beschreibt die Ge- In: Wiener Zeitung, 1.2.2010. Jutta Freund schichte eines Wiener Jungen, der, zehnjährig, während des Nationalsozialismus in eine Wiener Kindereuthanasieanstalt kommt u. Scharf, Ludwig, * 2.2.1864 Meckenheim/ später in eine Anstalt für abnorme Rechts- Pfalz, vermisst seit 1938/39. – Lyriker. brecher gebracht wird. Der Film basiert auf S. zählt zu den frühesten Vertretern naturaeiner wahren Geschichte, bei der allerdings listischer Lyrik, wie sie sich 1885 noch vor der betreffende NS-Arzt (Heinrich Gross) von den distinkteren Programmatiken naturalisseiner Vergangenheit eingeholt u. vor Gericht tischer Prosa in der Anthologie Moderne Dichgestellt wird. ter-Charaktere (Hg. Wilhelm Arent. Bln.) unter Fast zehn Jahre später erschien der Roman einem unspezif. Begriff der Revolte versamKomödie des Alterns (Bln. 2010), der eine innige melten. Neben persönl. Kontakten zu John Männerfreundschaft beschreibt. Ein Öster- Henry Mackay u. dem Dichterkollektiv reicher u. ein Ägypter erkennen ihre konfor- Friedrichshagen belegen S.s Gedichte in ihrer men Wertvorstellungen; ihr soziales Enga- vehementen Ablehnung bürgerlich saturiergement eint sie. Schließlich gehen sie nach ter Normativität seine Teilhabe an den anarÄgypten u. gründen in der Wüste eine Farm. chisch-messian. Utopien des ausgehenden Sechzigjährig wird aus tiefer Freundschaft Jahrhunderts. Sein satir. Talent zeigte sich in schließlich erbitterter Hass. Doch gleich, mit der zeitweiligen Beteiligung am Münchner welcher Thematik sich S.s Arbeiten befassen, Kabarett »Die Elf Scharfrichter«. welchen sozialen Hintergrund sie haben In S.s Lyrik vermischen sich noch ungemögen, immer beweist sich der Autor als schieden die zumeist durch Nietzsches Kulscharfer Gesellschaftsanalytiker, der seine turkritik angeregten u. später in Jugendstil, Kritik im Zusammenprall konträrer Lebens- Ästhetizismus u. Expressionismus differenhaltungen, die Entfremdung seiner Figuren, zierten Motive u. Topoi: pseudopolitische ihre Sinnsuche in einer für ihn eigenen prä- Bekenntnisse zu Anarchie u. Atheismus, zisen Sprachanalyse darzustellen vermag. Proletarierkult, Misogynie, Geschichtspessi-
Scharnhorst
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mismus u. krasseste Ablehnung von Fort- Scharnhorst, Gerhard (Johann David) von schritt, Wissenschaft u. Kultur, hymn. Feier (seit 1802), * 12.11.1755 Bordenau bei des Dionysischen, der Leidenschaft u. des Hannover, † 28.6.1813 Prag; Grabstätte: Rausches sowie eine mystische, nicht selten Berlin, Invalidenfriedhof. – Soldat; Verschwülstige Naturanbetung. Zusammenge- fasser u. Herausgeber militärischer halten wird die motivische Vielfalt seiner Schriften. angestrengten u. ästhetisch anspruchslosen Lyrik durch die konsequente Stilisierung des Nach seiner Ausbildung auf der schaumburglyr. Ich zum heroischen Außenseiter, zum lipp. Militärschule trat S. 1778 in hannoversche Dienste u. lehrte zunächst an der RegiAusnahme-Menschen. »Tschandala«, die Nietzsches Götzendäm- mentsschule in Northeim, später an der Armerung entlehnte Chiffre, die sowohl den Ekel tillerieschule in Hannover. Am Anfang seiner vor den formlosen »Mischmasch-Menschen« schriftstellerischen Tätigkeit stand die Herals auch die emphat. Haltung des gesell- ausgabe der »Militair Bibliothek« (Hann. schaftl. Parias, des Lyrikers als Revolutionär, 1782–84) u. der »Bibliothek für Officiere« repräsentieren soll, zieht sich bereits durch (Gött. 1785). Beide Zeitschriften informierten S.s erste Gedichtsammlung (Lieder eines Men- ausführlich über militärische Neuerscheischen. Mchn. 1892) u. gab der zweiten ihren nungen sowie über die Verhältnisse in den Titel (Tschandala-Lieder. Stgt. 1905). Die Re- wichtigsten europ. Armeen. Den größten Erzeption blieb auf Künstlerkreise u. literar. folg hatte S. mit dem »Neuen Militärischen Zirkel beschränkt, so dass S. sein Leben, Journal«, von dem insg. 13 Bände erschienen zeitweise samt Familie durch einen ungari- (Hann. 1788–1805). Seit 1797 fand in diesem schen Mäzen unterhalten, nur mühsam fris- Periodikum eine grundsätzl. Debatte über ten konnte. Seine Frau starb in Wien an Ent- den Wandel des Kriegsbildes u. der Streitkräftung. Die desolate finanzielle Lage mag kräfte in der Revolutionsepoche statt. Durch ihn bewogen haben, dem 1902 von Bierbaum, seine Veröffentlichungen gelang es S., »eine Dehmel, Hofmannsthal, Holz u. anderen ins echte Idee von Wissenschaft« in das KriegsLeben gerufenen »Kartell lyrischer Autoren« handwerk hineinzutragen (Stadelmann). beizutreten, einer Art Lyriker-Gewerkschaft, Gleichzeitig verfasste er bedeutende Unterdie sich bis 1930 für angemessene Honorie- richtswerke, u. a. das Handbuch für Officiere, in rung u. Urheberrechtsschutz einsetzte. S. den anwendbaren Theilen der Krieges-Wissenlebte zuletzt in München, wo er vorwiegend schaften (3 Bde., Hann. 1787–90) sowie das als Übersetzer tätig war. Militairische Taschenbuch zum Gebrauch im Felde Weitere Werke: Studien u. Skizzen. Braun- (ebd. 1793). schw. 1882. – König Laurins Rosengarten. Ein ti1801 erfolgte S.s Übertritt in die preuß. roler Heldenmärchen. Mchn. 1911. – Die Großstadt Armee. Seine als Militärschriftsteller erworlauert. 1921. – Der Fleischmarkt. 1922. benen Kenntnisse sowie seine Erfahrungen Literatur: Hans Cappel: L. S. – ein saarpfälz. aus dem Revolutionskrieg (1793–1795) u. Dichter. In: Saarpfalz 66 (2000), 3, S. 40–58. – dem Preußisch-Frz. Krieg (1806/1807) bildeOliver Bentz: Pfälzer König der Boheme. L. S. ten die wichtigsten Bezugspunkte für die von (1864–1938), ein vergessener Literat der Schwaihm maßgeblich inspirierte Heeresreform in binger Boheme um 1900. In: Die Pfalz 61 (2010), 2, Preußen. S. starb als Generalleutnant zu BeS. 12 f. Frank Raepke / Red. ginn des Befreiungskriegs an den Folgen einer in der Schlacht von Großgörschen (2.5.1813) erlittenen Verwundung. Ausgaben: Militärische Schr.en. Erläutert durch Frhr. v. der Goltz. Bln. 1881. – Briefe. Hg. Karl Linnebach. Bd. 1, Mchn./Lpz. 1913. Neudr. Mchn. 1980. – Ausgew. Schr.en. Hg. Ursula v. Gersdorff. Osnabr. 1983. – Ausgew. militär. Schr.en. Hg. Hansjürgen Usczeck u. Christa Gudzent. Bln. 1986.
257 – S.-Briefe an Friedrich v. der Decken 1803–13. Hg. Joachim Niemeyer. Bonn 1987. – Private u. dienstl. Schr.en. Hg. Johannes Kunisch. Köln u.a. 2002 ff. Literatur: Max Lehmann: S. 2 Tle., Lpz. 1886/ 87. – Rudolf Stadelmann: S. Wiesb. 1952. – Heinz Stübig: S. Gött./Zürich 1988. – Eckardt Opitz: G. v. S.: vom Wesen u. Wirken der preuß. Heeresreform [...]. Bremen 1998. – Andreas Broicher: G. v. S. Soldat, Reformer, Wegbereiter. Aachen 2005. – Johannes Kunisch: G. S. In: NDB. – H. Stübig: G. v. S. – preuß. General u. Heeresreformer. Studien zu seiner Biogr. u. Rezeption. Bln./Münster 2009. Heinz Stübig / Red.
Scharpenberg, Margot, eigentl.: Anna Margarete, verh. Wellmann, * 18.12.1924 Köln. – Lyrikerin u. Prosaistin. Nach Abitur in Köln u. Zwangsverpflichtung zum Arbeitsdienst in Pommern wurde S. Diplombibliothekarin in Köln. 1957 heiratete sie den Pathologen u. Felskunstforscher Klaus F. Wellmann (1929–1980), mit dem sie – nach einem ersten Aufenthalt 1957/58 in den USA u. 1960–1962 in Kanada – 1962 endgültig nach New York übersiedelte. Allerdings hält sie sich zweimal jährlich längere Zeit im dt. Sprachraum auf, vorwiegend in Köln u. München. Im Zentrum ihres Schaffens steht die Lyrik, wobei S. der Gattung des Bildgedichts bes. Aufmerksamkeit widmet – so intensiv u. meisterhaft wie kein anderer Autor nach 1945. Ihre Methode erschöpft sich nicht im Beschreiben oder Interpretieren des betreffenden Kunstwerks. Vielfalt u. Reichtum der Bildaussage gewinnen durch das Medium Sprache neues Leben. Bild u. Gedicht werden als unabhängige, gleichberechtigte Variationen zu einem gemeinsamen Thema begriffen. Das Bildgedicht bzw. das Bildgespräch ist für S. Mittel komplexer Zeiterfahrung, indem sie vielfältige Aspekte, z.B. aus Theologie, Philosophie, Psychologie, Anthropologie oder Geschichte, in den literar. Text verwebt u. so zu einer zusammenfassenden Sicht der jeweiligen Kunstepoche gelangt. Die Metaphern in ihren freien Versen entnimmt sie der Alten wie der Neuen Welt, dem Großstadtleben wie der nordamerikan. Landschaft oder ihrer Vertrautheit mit indian. Kulturen.
Scharpenberg
Hauptthemen bilden Zeit u. Zeitlichkeit, Tod u. Vergänglichkeit, Natur, Sprache u. Liebe. Im europ. Kontext ist S. von der Bildwelt Paul Klees u. Emil Noldes beeinflusst, doch zeugen ihre Gedichte zur romanischen Kirchendecke von St. Martin im graubündischen Zillis (Bildgespräche mit Zillis. Beuron 1974. Zillis wieder im Bildgespräch. Ebd. 2001) auch von der Verwurzelung in der christl. Tradition. Ihre Wahlheimat hat S. auch in Reisebüchern wie Einladung nach New York (Mchn. 1972. Neu u. d. T. New York. Rastatt 1980) verarbeitet: »Wir sind wider Willen global unter die Lupe gelegt / wir werden beim Wort all unsrer Sprachen genommen / wir in den roten Zahlen wir in der Tinte im welteigenen Netz / wir beherzte Achtmillion Gärtner [...]«. S.s Erzählungen, gesammelt in Ein Todeskandidat (Ffm. 1970) u. Fröhliche Weihnachten (Mchn. 1974), enthalten zumeist auf wenigen Seiten komprimierte Lebensläufe. Dabei geht es ihr um einen »Prozeß der Entlarvung«, um die Frage, »wie verhalten sich Realität und Bewußtsein zueinander, was deckt die Sprache auf oder zu?« Obwohl S. Ende der 1950er Jahre mit Ingeborg Bachmann zu den wichtigsten jüngeren Lyrikerinnen gerechnet wurde (z.B. von Karl Krolow), ist sie heute weniger bekannt u. präsent. Weitere Werke: Lyrik: Gefährl. Übung. Mchn. 1957. – Spiegelschriften. Ebd. 1961. – Brandbaum. Darmst. 1965. – Schwarzweiß. Duisburg 1966. – Vermeintl. Windstille. Krefeld 1968. – Mit Sprachu. Fingerspitzen. Duisburg 1970. – Spuren. Ebd. 1973. – Neue Spuren. Ebd. 1975. – Veränderung eines Auftrags. Ebd. 1976. – Fundfigur. Ebd. 1977. – Bildgespräche in Aachen. Ebd. 1978. – Fundort Köln. Ebd. 1979. – Domgespräch. Ebd. 1980. – Moderne Kunst im Bildgespräch. Ebd. 1982. – Fallende Farben. Ebd. 1983. – Windbruch. Ebd. 1985. – Verlegte Zeiten. Ebd. 1988. – Augenzeugnisse. Ebd. 1991. – Rahmenwechsel. Ebd. 1992. – 31 mal Klee. Wuppertal 1995. – Gegengaben u. Widerworte. Duisburg 1995. – Wenn Farben blühen. Mühlacker 1999. – Von Partituren, Lesezeichen u. so weiter. Duisburg 2003. – Gedichte. In: Auskunft 22 (2002), S. 65–78. – Verwandeln. 60 verstreute u. neue Gedichte. Duisburg 2009. Literatur: Thomas B. Schumann: Verbindung v. poet. Kraft u. geistiger Klarheit. M. S. u. ihre
Scharrelmann Bildgedichte. In: Ders.: Entdeckungen. Duisburg 1984, S. 34–38. – Über M. S. (Carleton Germanic Papers 21). Ottawa, Ont. 1993. – Rainer Hering: Aufdecken. Die Schriftstellerin M. S. In: Auskunft 22 (2002), S. 79–86. – Ders.: Die Schriftstellerin M. S. In: Muschelhaufen 46 (2006), S. 27–56 (mit Bibliogr.). Thomas B. Schumann / Günter Baumann
258 Literatur: Johann-Günther König: Versuch über W. S. (1875–1950). Anmerkungen zu Leben u. Werk, zur ›Kogge‹ u. zum ›Antlitz der Freundschaft‹. In: W. S.: Antlitz der Freundschaft, a. a. O., S. 16–75. – Gerhard Schmolze: W. S.s bibl. Welten. Ein Exkurs. In: ebd., S. 76–82. Christian Schwarz / Red.
Scharrelmann, Wilhelm, * 3.9.1875 Bremen, † 18.4.1950 Worpswede. – Erzähler. Scharrer, Adam, * 13.7.1889 Kleinschwarzenlohe bei Nürnberg, † 2.3.1948 Der Kaufmannssohn S. war als Volksschul- Schwerin; Grabstätte: ebd., Stadtfriedlehrer (1896–1905) bes. um den Unterricht hof. – Erzähler, Dramatiker. lernbehinderter Schüler bemüht. Nach Auseinandersetzungen mit der Schulbehörde wegen seiner ersten Buchveröffentlichung ließ er sich als freier Schriftsteller in Worpswede nieder. In seinem naturalistischen Frühwerk greift S. das Elend des Proletariats auf u. bringt seine christl. Haltung zum Ausdruck, so in den Erzählungen Blätter aus unseres Herrgotts Tagebuch (Dresden-Loschwitz 1904) u. im autobiogr. Roman Michael Dorn (Hbg. 1909). Er ermahnt zu Ehrlichkeit, Nächstenliebe u. Unabhängigkeit von materiellem Reichtum in den Geschichten aus der Pickbalge (Lpz. 1916), die auch als kulturhistor. Dokumente bedeutsam sind. Mit den Romanen Jesus der Jüngling (ebd. 1920) u. Die erste Gemeinde (ebd. 1921) trug S. in adogmatisch-myst. u. sozialeth. Weise zu der um die Jahrhundertwende zunehmenden Jesus-Literatur bei. Ein Künstlerroman vor dem Hintergrund norddt. Landschaft (Das Fährhaus. Bremen 1928), märchenhafte Erzählungen (Katen im Teufelsmoor. Ebd. 1928. Neuausg. mit Einf. von Fritz Westphal. Ebd. 1983) u. weitere Jugendbücher schlossen sich an.
Weitere Werke: Die Fahrt ins Leben. Bln. 1907 (E.en). – Stimmen der Stille. Hbg. 1908 (N.). – Rund um St. Annen. Neue Pickbalge-Gesch.n. Lpz. 1919. – Täler der Jugend. Ebd. 1919 (R.). – Hinnerk der Hahn. Bln. 1930 (E.). – In der Pickbalge. Bremen 1934 (R.). – Ein Kind schlägt die Augen auf. Ebd. 1938 (autobiogr. R.). – Worpsweder Märchen. Gesch.n u. E.en aus meiner Hütte. Hg. Hans Pawelcik. Worpswede 1984. – Das Haus meiner Väter. Gesch.n aus meiner Kindheit. 1875–1890. Bremerhaven 1996. – Antlitz der Freundschaft. Hg. Johann-Günther König. Bremen 2000.
S.s Herkunft aus ärml. bäuerl. Verhältnissen prägte sein Engagement als Mitgl. des Spartakusbundes 1918 u. ab 1920 der Kommunistischen Arbeiterpartei Deutschlands (KAPD), einer Abspaltung der KPD, die parlamentar. u. legale Aktionen zugunsten spontaner Rebellion ablehnte. Nach Lehrzeit u. Gesellenprüfung war S. »auf der Walz« als Schlosser u. Werftarbeiter, seit 1917 in Berlin. Seine Erlebnisse als Frontsoldat im Ersten Weltkrieg gestaltete er im Roman Vaterlandslose Gesellen. Das erste Kriegsbuch eines Arbeiters (Wien/Bln. 1930. Bln./DDR 1951. Bln. 1973. Rostock 2004). Präzise, z.T. reportagehaft, schildert S. den tödl. Stellungskrieg an der Front, die Arbeit in den Munitionsfabriken u. die Organisation von Massenstreiks bis zur Formierung der Arbeiter- u. Soldatenräte in Berlin. Im Gegensatz zu Renns Krieg (1928) u. Remarques Im Westen nichts Neues (1929) ist der Roman eine polit. Analyse aus der Arbeiterperspektive. Ab 1929 war S., zeitweise arbeitslos, u. a. als Redakteur der »Kommunistischen Arbeiterzeitung« u. als Mitarbeiter am KAPD-Organ »Proletarier« tätig. 1933 emigrierte er in die CˇSR. Im Malik-Verlag erschien Maulwürfe (Prag 1933. Bln./SBZ 1945) – ein früher sozialistischer Dorfroman, der in der realistischen Tradition von Jeremias Gotthelf u. Johann Peter Hebel steht u. zum Beispiel Erwin Strittmatter beeinflusste. In den Dialogteilen, in fränk. Mundart geschrieben, wird von der Tragödie der dt. Kleinbauern vom Ende des 19. Jh. bis in den Sommer 1933 erzählt. Das entbehrungsreiche Leben, aber auch dörfl. Enge, Trägheit u. die Furcht der Bauern beschreibt S. als Gründe für den Erfolg der Nationalsozialisten auf
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Schatz
dem Land. Ab 1934 lebte S. in der Sowjet- Ein ›aus der Art‹ geschlagener Schriftsteller? In: union, wo er als Delegierter am ersten Kon- Der Literat 50 (2008), H. 10/11, S. 22–24. Rita Seuß / Red. gress der Sowjetschriftsteller in Moskau teilnahm u. für Exilzeitschriften tätig war. Im Mai 1945 ging er mit der Sowjetarmee nach Schatz, Schaz, Georg (Gottlieb), * 1.11.1763 Deutschland, um am kulturellen WiederaufGotha, † 3.3.1795 Gotha. – Lyriker, Erbau mitzuarbeiten. Er war Mitbegründer des zähler, Übersetzer u. Literaturkritiker. »Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung Deutschlands« u. Redakteur der Der Sohn eines Tranksteuerkommissars er»Schweriner Landeszeitung«. Obwohl einer hielt in seiner Heimatstadt zunächst PrivatTradition sozialistischer Arbeiterliteratur von unterricht, bevor er ab 1779 das dortige hohem literar. Niveau zugerechnet, ist S.s Gymnasium unter dem Rektor Friedrich AnWerk heute kaum bekannt. dreas Stroth besuchte. Im Herbst 1781 nahm Weitere Werke: Aus der Art geschlagen. S. ein Jurastudium in Jena auf, ging jedoch Reiseber. eines Arbeiters. Bln. 1930. Bamberg 2006. stärker seinen literar. Interessen nach u. – Der große Betrug. Bln./Wien 1931. Erfurt 1951 kehrte 1783 nach dem Tod seines Vaters nach (R.). – Abenteuer eines Hirtenjungen u. a. Dorf- Gotha zurück. Durch die Vermittlung Friedgesch.n. Moskau/Leningrad 1935. – Die Zäuners. rich Wilhelm Gotters wurde er für knapp Moskau 1939 (D.). – Familie Schuhmann. Ebd. zwei Jahre Vorleser des Oberhofmarschalls 1939. Bln./DDR 1953 (R.). – Der Hirt v. Rauhweiler. Ernst August von Studnitz; später privatiMoskau 1942. Bln./SBZ 1946. – Der Landsknecht. sierte er. Biogr. eines Nazi. Moskau 1943. – In jungen JahIn diese Zeit fallen auch S.’ erste literar. ren. Erlebnisroman eines dt. Arbeiters (mit einer Nachbemerkung v. Fritz Hofmann). Bln./SBZ 1946. Veröffentlichungen: Im »Teutschen Merkur« Mchn. 1977. – Dorfgesch.n einmal anders. Bln./SBZ erschienen allein in den Jahren 1785 u. 1786 1948. – A.-S.-Archiv in der Akademie der Künste, insg. 28 Fabeln u. 80 Gedichte, von denen S. Berlin. viele in seinen ersten Gedichtband Bluhmen Literatur: Frank Wagner: Bauernroman an- auf den Altar der Grazien (Lpz. 1787) übernahm. ders. In: Erfahrung Exil. Hg. Sigrid Bock u. Man- Nachdem diese Sammlung »züchtiger Mafred Hahn. Bln./DDR 1979. – Hans J. Schütz: A. S. drigalle, friedfertiger Epigramme [...,] proIn: Ders.: ›Ein dt. Dichter bin ich einst gewesen‹. saischer Fabeln« sowie Lieder u. Romanzen Mchn. 1988, S. 240–245, 327 f. – Gudrun Mohr: A. von der literar. Öffentlichkeit nicht so wohlS. (1889–1948). Empfehlende Bibliogr. Bln. 1989. – wollend wie erhofft aufgenommen worden Evelyn Greubel u. Gudrun Vollmuth: A. S. Vom war (so sprach Schlegel der Sammlung jegl. fränk. Hirtenjungen zum Arbeiterschriftsteller Kleinschwarzenlohe/Speikern. Neunkirchen am Originalität ab), veröffentlichte er keine Lyrik Sand 1998. – Thierry Feral: A. S. Écrivain antifa- mehr u. wandte sich fortan vermehrt Übersciste et militant paysan. Paris u. a. 2002. – Deborah setzungen zu. Er übertrug u. a. Carlo GoldoViëtor-Engländer: A. S.s u. Oskar Maria Grafs nis Memoiren Goldoni über sich selbst, und die Exillit. In: Akten des X. Internat. Germanisten- Geschichte seines Theaters (Lpz. 1788. Neuaufl. kongresses Wien 2000. ›Zeitenwende‹ – Die Ger- Mchn. 1968. Mchn./Zürich 1988), Samuel manistik auf dem Weg vom 20. ins 21 Jh. Bd. 7: Constant de Rebecques Roman Laura oder Gegenwartslit. – Deutschsprachige Lit. in nicht- Briefe einiger Frauenzimmer aus der französischen deutschsprachigen Kulturzusammenhängen. Hg. Schweiz (4 Bde., Lpz. 1788/89), welcher in der Peter Wiesinger unter Mitarbeit v. Hans Derkits. Tradition des empfindsamen Briefromans Bern u. a. 2002, S. 363–370. – Ulrich Dittmann: Das erste Kriegsbuch eines Arbeiters. A. S.: ›Vater- steht, sowie Jacques Cazottes Moralisch-komilandslose Gesellen‹ (1930). In: Von Richthofen bis sche Erzählungen, Mährchen und Abentheuer (Lpz. Remarque: Deutschsprachige Prosa zum I. Welt- 1789/90) aus dem Französischen. Ferner verfasste S., der – wie sein Freund krieg. Hg. Thomas F. Schneider u. Hans Wagener. Amsterd./New York 2003, S. 375–386. – D. Vietor- Friedrich Wilhelm Gotter – ein Verehrer Engländer: A. S. In: NDB. – Gerd Berghofer: A. S. Lessings war, zahlreiche Rezensionen, u. a. in der »Allgemeinen Literaturzeitung« u. der »Neuen Bibliothek der schönen Wissen-
Schatzgeyer
schaften«. Für eine Rezension von Gottfried August Bürgers Gedichten durch S. 1790 in Friedrich Nicolais »Allgemeiner deutscher Bibliothek« revanchierte sich Bürger mit dem Vogel Urselbst, in welchem neben dem »kranken Uhu« Schiller auch der »Papagei« S. verspottet wird. Überdies findet sich im Nachlass Goethes ein Xenion, welches an »Herr[n] Schatz, a. d. Reichsanzeiger« gerichtet ist: »Dieser schreckliche Mann recensierte für Jena, für Leipzig! / Deutschland!! Solche Gewalt konntest Du einem vertraun!« Weitere Werke: Nachlass: UFB Erfurt/Gotha. – German. Nationalmuseum Nürnb. – Übersetzungen: Der Thurm v. Samarah. [...] v. [William] Beckford. Lpz. 1788. – Erscheinungen u. Träume v. [Louis Sébastien] Mercier [...]. 2 Bde., Lpz. 1791. – Alexis oder das Häuschen im Walde [...]. 2 Bde., Lpz. 1792. – Benjamin Franklins kleine Schr.en [...], nebst seinem Leben. Weimar 1794. – Mallet du Pan über die frz. Revolution. [...] Lpz. 1794. – Herausgeber: Anonym zus. mit Johann Gottfried Dyck: Nachträge zu Sulzer’s allg. Theorie der schönen Künste. 8 Bde., Lpz. 1792–1800 (von S. verfasst u. namentlich gezeichnet: Art. ›Ludovico Ariosto‹. Bd. 3, S. 180 ff.). Literatur: Schlichtegroll 1795, 6,2. – Friedrich Carl Gottlob Hirsch: Histor.-literar. Hdb. Abt. 1, Bd. 10, Lpz. 1807. – Meusel 12. – Kosch. Hans Peter Buohler
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Guardian nach Nürnberg, wurde 1520 erneut zum Provinzial gewählt u. zog 1524 als Guardian in das Münchner Kloster. In seinen Schriften verteidigt S. den Katholizismus gegen die Reformation (bes. gegen Johann von Schwarzenberg, Johann von Staupitz u. Eberlin von Günzburg). Auf die ersten Veröffentlichungen Luthers (De votis monasticis u. De abroganda missa) antwortete S. mit seiner Replica contra periculosa scripta post Scrutinium [...] emanata (Augsb. 1522), in der er Ordensstand u. Eucharistie verteidigte. Über die Eucharistie führte er in Nürnberg Auseinandersetzungen u. a. mit Andreas Osiander (Von dem hayligisten Opffer der Meß [...]. Augsb. 1525. Tractatus de missa [...]. Tüb. 1525. Vom fegfeür oder volkommner Raynigung der außerwölten [...]. Mchn. 1525. Vom hochwirdigisten Sacrament des zartten fronleichnams Christi [...]. Mchn. 1525. Abwaschung des unflats so Andreas Osiander: dem Gaspar Schatzger in sein antlitz gespiben hat [...]. Landshut 1525); das gleiche Thema behandelt die Schrift Ein gietliche und freüntliche anntwort (Mchn. 1526). In der Traductio sathanae (entstanden 1525. Tüb. 1530) legte er sein Kirchenverständnis dar. Außer auf die Bibel stützt er sich bes. auf die Kirchenväter, v. a. auf Augustinus u. Ambrosius.
Schatzgeyer, Schatzger, Sasger, Kaspar, * 1463/64 Landshut, † 18.9.1527 München. – Franziskaner, katholischer Kontroverstheologe.
Weitere Werke: Examen novarum dogmatum [...]. Ulm 1523. – De sanctorum imploratione et eorum suffragijs scriptum [...]. Augsb. 1524. – Wider herr Hansen von Schwartzenbergs [...] püchelin von der Kirchendiener u. gaystlichen personen Ee [...]. Mchn. 1927.
S. studierte ab Okt. 1480 in Ingolstadt, wo er das philosophische Bakkalaureat erwarb. Er trat in den Franziskanerorden ein, wirkte dann als Lektor der Theologie in drei ordenseigenen Studienklöstern u. wurde 1599 zum Guardian des Münchner Konvents berufen. Seit 1508 Prediger u. Lektor in Ingolstadt (Freundschaft mit Eck), wählte man ihn 1514 in Heidelberg zum Provinzial der oberdt. Ordensprovinz; sein Sekretär wurde Konrad Pellikan, der spätere Anhänger der Reformation. 1517 reiste S. zum Generalkapitel der Franziskaner nach Rom, wo sich Papst Leo X. erfolglos bemühte, den Streit um die wahre Armut des Ordens zu schlichten. Nach Ablauf seiner Amtszeit ging S. 1517 als
Ausgaben: Scrutinium divinae scripturae pro conciliatione dissidentium dogmatum (Augsb. 1522). Hg. Ulrich Schmidt. Münster 1922. – Von der waren christl. u. evang. freyheit (Mchn. 1524) / De vera libertate evangelica (Tüb. 1525). Hg. Philipp Schäfer. Münster 1987. – Omnia opera [...]. Ingolst. 1543. – Schr.en zur Verteidigung der Messe. Hg. Erwin Iserloh u. a. Münster 1984. – Wahre Erklärung u. Unterrichtung die Ehescheidung betreffend. In: Flugschr.en gegen die Reformation (1518–1524). Hg. Adolf Laube. Bln. 1997, S. 715–728. – Fürhaltung von 30 Artikeln / Abwaschung des Unflats / Wider Herrn Hansen v. Schwarzenberg. In: Flugschr.en gegen die Reformation (1525–1530). Hg. A. Laube. Bd. 1, Bln. 2000, S. 76–112, 416–428. – Internet-Ed. der meisten Texte in: VD 16 digital, u. in: The Digital
Schaufert
261 Library of the Catholic Reformation (http://solomon.dlcr.alexanderstreet.com/). Literatur: Bibliografien: Paulus (s. u.), S. 144–146. – Klaiber, S. 253–255. – VD 16. – Weitere Titel: August v. Druffel: K. Schatzger. In: ADB. – Nikolaus Paulus: K. S., ein Vorkämpfer der kath. Kirche in Süddeutschland. Freib. i. Br. 1898. – Heinrich Klomps: Kirche, Freiheit u. Gesetz bei dem Franziskanertheologen K. S. Münster 1959. – Emil Komposch: Die Messe als Opfer der Kirche [...]. Diss. Mchn. 1965. – Paul. L. Nyhus: C. S. and Conrad Pelican. The triumph of dissension in the early sixteenth century. In: ARG 61 (1970), S. 179–204. – Erwin Iserloh: K. S. [...]. In: Kath. Theologen der Reformationszeit. Hg. ders. Bd. 1, Münster 1984, S. 56–63. – Karlheinz Diez: ›Ecclesia non est civitas platonica‹. Antworten kath. Kontroverstheologen des 16. Jh. auf Martin Luthers Anfrage an die ›Sichtbarkeit‹ der Kirche. Ffm. 1997. – Gerhard Philipp Wolf: K. S. In: TRE. – Reinhard Schwarz: Luthers Schrift ›Von der Freiheit eines Christenmenschen‹ im Spiegel der ersten Kritiken. In: Lutherjb. 68 (2001), S. 47–76. – Reimund Haas: K. S. In: Bautz (Lit.). Uta Müller-Koch / Reimund B. Sdzuj
Schaufert, Hippolyt August, * 5.3.1835 Winnweiler/Pfalz, † 18.5.1872 Speyer. – Dramatiker. S. besuchte die Lateinschule in Winnweiler u. seit 1847 das Gymnasium in Speyer. 1852–1856 studierte er in München Jura; anschließend war er bis 1859 Rechtspraktikant in Zweibrücken. Nach dem glänzend bestandenen Examen u. mehrjähriger Tätigkeit in Notariatsbüros in Kusel, Wolfstein u. Kaiserslautern ging er 1864 als Polizeikommissar nach Waldmohr u. 1866 in gleicher Funktion nach Dürkheim; 1868 wurde er Assessor beim Landgericht in Germersheim. 1869 ließ er sich für ein Jahr von seinem Posten beurlauben, um sich in Wien gänzlich dem Schreiben zu widmen. Dort lernte er 1870 Marie Görres, eine Enkelin von Joseph von Görres, kennen, die er 1871 heiratete. Um die Jahreswende 1871/72 zog S. mit seiner Familie aus gesundheitl. Gründen nach Speyer, wo er an Lungentuberkulose starb. Seit seiner Studienzeit verfasste S. zahlreiche Stücke, vorwiegend Lustspiele, die von den Theatern jedoch abgelehnt wurden. Lediglich die Komödie Ein Kuß zur rechten Zeit,
oder: der Geisbock von Lambrecht ging 1867 an seinem Wirkungsort Dürkheim über die Bühne (Druck ebd. 1867). Der Erfolg des von einer dort gastierenden Wanderbühne aufgeführten Stücks blieb trotz der sehr positiven Aufnahme lokal begrenzt. Überregional als Dramatiker anerkannt wurde S. erstmals 1865 bei einem vom Münchner Actien-Theater ausgeschriebenen Wettbewerb, dessen Jury zwei seiner Lustspiele, nämlich Actuar Lachmann’s Hochzeitsabenteuer u. Die Sipplinger zur Aufführung empfahl. Praktisch umgesetzt wurde diese Empfehlung allerdings nicht. Der Durchbruch gelang S. 1868 bei einem vom Wiener Burgtheater veranstalteten Stückewettbewerb mit dem histor. Lustspiel Schach dem König (Urauff. Wien 1868; Drucke: Wien 1869 u. Lpz. 1872), einer am engl. Hof Jakobs I. spielenden Komödie im Stil Shakespeares. Deren Erfolg beflügelte auch die Aufführung von S.s früheren Lustspielen auf verschiedenen dt. Bühnen. Das eigens für das Wiener Publikum verfasste Drama 1683. Schauspiel aus Wiens Geschichte (Urauff. Wien 1869) fiel dagegen durch. Trotz dieses Misserfolgs gelang es S., sich auch als ernster Dramatiker zu profilieren. 1871 präsentierte er das soziale Drama Vater Brahm (Druck: Mainz 1871), in dem er mit den Mitteln des bürgerl. Trauerspiels die miserablen Lebensbedingungen der Arbeiter anprangert. Obwohl der Plan des Stücks auf 1868 datiert u. S. im Vorwort Zusammenhänge des 1870 fertiggestellten Werks mit der Pariser Kommune abstreitet, wurde die Aufführung des Dramas in Wien verboten. In Berlin wurde das auf den Naturalismus vorausweisende Stück dagegen mit großem Erfolg gespielt. Trotzdem geriet es ebenso wie S.s übrige Werke nach seinem Tod bald in Vergessenheit. Aus seinem heute in der Pfälzischen Landesbibliothek Speyer befindl. Nachlass wurde lediglich das Lustspiel Ein Erbfolgekrieg aufgeführt (Druck: Lpz. 1872; Urauff. München 1873). S.s Nachruhm beruht v. a. auf seinem Erfolgsstück Schach dem König, das als einziges seiner zahlreichen Lustspiele auch produktiv rezipiert wurde. Um 1890 vertonte Ignaz Brüll ein von Victor Léon »frei nach Schauf-
Schaukal
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ferts gleichnamigem Lustspiel« erarbeitetes Libretto. Das Textbuch u. ein Klavierauszug erschienen 1893 in Leipzig; die Uraufführung der Oper fand 1894 in München statt. S.s Lustspiel bildet zudem die Vorlage für die Operette Schach dem König! von Walter Wilhelm Goetze (Libretto: Paul Harms), die 1935 in Berlin Premiere hatte u. 1958 beim Westdeutschen Rundfunk in Köln eingespielt wurde. Weitere Werke: Verwechselte Annoncen. Lustspiel. Urauff. Berlin 1870. – Dorothea. Eine Novelle. Regensb. 1873. – Gedichte. Zusammenstellung u. Ed. aufgrund des S.-Nachlasses in der LB Speyer u. privater Nachlaßteile. Hg. Hans Loschky. Ludwigshafen 1934 (masch.). – Briefe u. Aufzeichnungen. Hg. H. Loschky. Ludwigshafen 1934 (masch.). Literatur: Hyazinth Holland: H. A. S. In: ADB. – Ludwig Eid: H. A. S., der preisgekrönte pfälz. Dramatiker. In: Pfälz. Museum 31 (1914), S. 53–58. – Hans Loschky: H. A. S. Dem pfälz. Dichter zum 100. Geburtstag am 5. März 1934. Speyer 1934. – Hans Berkessel: ›Krank ist diese Zeit, krank bis zum Tod‹. ›Proletariat‹ u. ›Klassenkampf‹ im Spiegel der bürgerl. Lit. des späten 19. Jh. Zu H. A. S.s sozialem Drama ›Vater Brahm‹. In: Mainzer Geschichtsbl. 3 (1986), S. 115–126; Faks.-Teilabdruck des Trauerspiels aus dem vierten Stand. Mainz 1871, ebd., S. 127–155. Karin Vorderstemann
Schaukal, Richard von, * 27.5.1874 Brünn, † 10.10.1942 Wien. – Erzähler, Lyriker, Essayist u. Übersetzer. Der Sohn eines Kaufmanns u. Chemikers studierte in Wien Rechtswissenschaft u. brachte es als Beamter in kurzer Zeit zum Ministerialrat: Zuerst arbeitete er an der Statthalterei in Brünn, dann an der Bezirkshauptmannschaft in Mährisch-Weißkirchen, ab 1903 im Ministerratspräsidium in Wien. Der überzeugte Monarchist, mit dem Kriegskreuz II. Klasse für Zivilverdienste ausgezeichnet u. nobilitiert, ließ sich schon 1918 pensionieren u. lebte seither als freier Schriftsteller. Als S. 1933 wegen der in seinen Werken manifesten monarchistischen u. kath. Einstellung von NS-Kritikern angegriffen wurde, verteidigte er sich durch den Verweis darauf, dass er immer schon Antise-
mit gewesen sei. Dem austrofaschistischen Ständestaat stand er wohlwollend gegenüber. S.s Schaffen in den beiden Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg war u. a. von der Vermittlung frz. Lit. in den dt. Sprachraum geprägt; er veröffentlichte Übersetzungen von Verlaine, Hérédia, Mérimée, Barbey d’Aurevilly u. anderen. Seine eigene Produktion folgte den Moden der Zeit: Frühe Gedichtbände wie Meine Gärten (Bln. 1897), Tristia (Lpz. 1898), Tage und Träume (Lpz. 1899) oder Sehnsucht (Lpz. 1900) fangen die Fin-de-SiècleStimmung von Vergänglichkeit u. morbider Sinnlichkeit ein; sie sind spürbar von den frz. Einflüssen abhängig. Prosabände wie Intérieurs aus dem Leben der Zwanzigjährigen (Lpz. 1901), Mimi Lynx (Lpz. 1904), Eros Thanatos (Wien/Lpz. 1906) bieten Skizzen erot. Verwirrungen, kombinieren Einblicke in menschl. Innenleben u. Portraits zeittypischer Figuren (wie Dandy oder femme fatale) mit einem Kult des Ästhetischen u. Künstlichen (manchmal im historisierenden RokokoAmbiente). In Leben und Meinungen des Andreas von Balthesser, eines Dandy und Dilettanten (Mchn. 1907. Stgt. 1986) schlägt die Kritik an der bürgerlich-demokratischen Massengesellschaft in eine exklusiv-aristokratische Pose mit deutlich rassistischen Untertönen um. Stilistisch-formale Merkmale (Symbolismus, Impressionismus, konsequente Innenperspektiven, das Genre »Gespräch« für Kunst- u. Literaturkritik) verraten ein ausgeprägtes Sensorium für zeittypische literar. Trends. Nach platter u. gehässiger Kriegslyrik während des Ersten Weltkriegs verfasste S. immer mehr kulturkrit., die parlamentar. Demokratie ablehnende Schriften mit manchen antisemitischen Einschlägen. Stellungnahmen zum Zeitgeschehen erfolgten vielfach in S.s Aphoristik. Weitere Werke: Ausgabe: Werke in Einzelausg.n. Hg. Lotte v. Schaukal u. Joachim Schondorff. 6 Bde., Mchn. 1965–67. – Einzeltitel: Beiträge zu einer Selbstdarstellung. Wien 1934. – Korrespondenzen: Briefw. R. v. S. – Arthur Schnitzler. In: MAL 8 (1975), H. 3/4, S. 15–42. – Thomas Mann: Briefe an R. v. S. Ffm. 2003. Literatur: Viktor Suchy: Die ›österr. Idee‹ als konservative Staatsidee bei Hugo v. Hofmannsthal, R. v. S. u. Anton Wildgans. In: Staat u. Gesellsch. in
263 der modernen österr. Lit. Hg. Friedbert Aspetsberger. Wien 1977, S. 21–44. – Karl Johann Müller: Das Dekadenzproblem in der österr. Lit. um die Jahrhundertwende, dargelegt an Texten v. Hermann Bahr, R. v. S., Hugo v. Hofmannsthal u. Leopold v. Andrian. Stgt. 1977. – Johann Sonnleitner: Eherne Sonette 1914. R. v. S. u. der Erste Weltkrieg. In: Österr. u. der Große Krieg 1914–18. Hg. Klaus Amann u. Hubert Lengauer. Wien 1989, S. 152–158. – Claudia Warum: R. v. S. als Kritiker u. Übersetzer aus dem Französischen. Wien 1993. – Primus-Heinz Kucher: R. v. S. In: ÖBL. – Dominik Pietzcker: R. v. S. Ein österr. Dichter der Jahrhundertwende. Würzb. 1997. – Florian Krobb: Rococo Gardens, Fin-de-Siècle Epigonality and Wahlverwandtschaften Echoes in R. v. S.’s Novella ›Eros‹. In: MAL 31 (1998), H. 2, S. 52–70. – Ders.: ›denn Begriffe begraben das Leben der Erscheinungen‹. Über R. v. S.s ›Andreas v. Balthesser‹ u. die ›Eindeutschung‹ des Dandy. In: Eros Thanatos. Jb. der Richard-v.-Schaukal-Gesellsch. 3/4 (1999/2000), S. 89–111. – Claudia Girardi: R. v. S. In: NDB. – Christian Neuhuber: R. v. S.s Auseinandersetzungen mit der NS-Presse um ›Anschluss‹ u. ›Österreich-Idee‹ 1932–1934. In: MAL 38 (2005), H. 3/4, S. 13–36. Johann Sonnleitner / Florian Krobb
Schaumann, Ruth, * 24.8.1899 Hamburg, † 13.3.1975 München. – Bildende Künstlerin, Lyrikerin, Erzählerin u. Kinderbuchautorin. S. war Tochter des preuß. Offiziers Curt Schaumann, der 1917 vor Verdun fiel, u. seiner Frau Elisabeth (autobiografisch: Amei. Eine Kindheit. Bln. 1932. Erw. Heidelb. 1949. Der Major. Bln. 1935. Das Arsenal. Heidelb. 1968. Der Kugelsack. Hbg. 1999 postum). Die ersten Kindheitsjahre verbrachte S. in Hagenau/Elsass. Mit sechs Jahren verlor sie ihr Gehör infolge einer Scharlacherkrankung. Auf diese sie tief prägende Erfahrung kam sie später immer wieder zurück. Nach weiteren Jahren in Hamburg, wo sie Privatunterricht durch einen Taubstummenlehrer erhielt, ging sie 1917 nach München. S. begann eine Ausbildung zur Modezeichnerin, die sie jedoch bald abbrach, um 1918 an der Kunstgewerbeschule in die Klasse des Bildhauers Josef Wackerle einzutreten. Dessen Meisterschülerin wurde sie 1921. Sie widmete sich als Künstlerin der Plastik, der Malerei, der Grafik u. dem ästhetisch längst überholten
Schaumann
Scherenschnitt (Kleine Schwarzkunst. Scherenschnitte und Verse. Heidelb. 1946). S. war eine Doppelbegabung. Lange vor ihrer Ausbildung zur Bildenden Künstlerin begann sie zu schreiben. 1920 erschien ihr erster Gedichtband Die Kathedrale (Mchn.) als Heft 83 der berühmten Reihe »Der Jüngste Tag«. Der literar. Expressionismus blieb für sie wichtig. Schon ihre frühen Gedichte greifen alt- u. neutestamentl. Themen u. Stoffe auf, zeigen aber auch Kenntnis der symbolistischen Lyrik u. der Lyrik Rilkes, dessen Ton sie in epigonaler Manier nachahmt. Erste Gedichte will sie schon in der frühen Kindheit formuliert haben (Über sich selbst. Nachw. zur Neuaufl. der Erzählung Die Zwiebel. Lpz. 1943. Stgt. 1965). 1924 konvertierte S. zum Katholizismus u. heiratete den »Hochland«-Schriftleiter Friedrich Fuchs, der 1923 den ersten Artikel über sie in der Zeitschrift veröffentlicht u. sie so im kath. Milieu bekannt gemacht hatte (R. S. Plastik und Dichtung). Mit Fuchs hatte sie fünf Kinder. Nach dem Erscheinen dieses Artikels war das »Hochland« für S. ein Jahrzehnt lang ein wichtiges literar. Forum; es brachte immer wieder Gedichte u. Erzählungen u. wies in Artikeln u. Anzeigen auf S. hin. Fuchs selbst machte die kath. Auseinandersetzung mit der ästhetischen Moderne u. besonders mit dem Film ganz zu seiner Angelegenheit; S. hat sich ihm darin nie angeschlossen. Religiöse Themen u. Stoffe waren für die Dichterin wie für die Bildende Künstlerin von Beginn an bestimmend (Madonnen, Engel, Heiligengestalten, Kirchenfenster, Kreuzwege); besonders nach dem Zweiten Weltkrieg war S. eine gefragte religiöse Gebrauchskünstlerin. So vielfältig ihre künstlerischen Techniken u. Materialien sind, so trivial u. schematisch ist zumeist der Ausdruck. Gotisierende u. expressionistische Anklänge finden sich; anthropologische Muster wollen den Effekt beim Publikum sichern. S. platziert sich so in einem Kontext figurativer u. gegenständl. Kunst des 20. Jh. (Barlach, Kollwitz, Georg Kolbe – u. Berta [Maria Innocentia] Hummel). Seit dem Ausscheiden von Fuchs aus der »Hochland«-Redaktion (1934/35) finden sich keine Beiträge mehr von u. über S. Zu offen-
Schaumberger
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Literatur: Rolf Hetsch: R. S.-Buch. Berlin 1933. sichtlich war inzwischen, wie sehr sie nun immer mehr zum Kunstgewerblichen, ja zum – Marie-Luise Herzog: Das Frauenproblem in den Kitsch neigte. S. war außerordentlich pro- Romanen R. S.s. Diss. Univ. Innsbr. 1960. – Albert duktiv. Sie publizierte mehr als neunzig, z.T. Raffelt: R. S. In: Dt. christl. Dichterinnen des 20. Jh. Gertrud von le Fort, R. S., Elisabeth Langgässer. FS von ihr selbst illustrierte Bücher u. KleinFriedrich Kienecker. Hg. Lothar Bossle u. Joël Potschriften; sie illustrierte Andersen u. Brenta- tier. Würzb. 1990. – Thomas Vollhaber: R. S.s unno. 1931 wurde S. mit dem Dichterpreis der endl. Schreiben. In: R. S.: Der Kugelsack. Hbg. Stadt München ausgezeichnet; 1959 erhielt 1999, S. 247–274. – Thomas Betz u. Peter Fuchs: R. sie das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse, 1960 S. In: NDB. – Wolfgang Braungart: R. S. – Autorin den Kogge-Ring u. den Dichterpreis der Stadt u. Künstlerin des kath. Milieus. In: Moderne u. Minden, 1964 den Bayerischen Verdienstor- Antimoderne. Der Renouveau catholique u. die dt. den u. 1974 die päpstl. Auszeichnung »Pro Lit. Hg. Wilhelm Kühlmann u. Roman LuckscheiEcclesia et Pontifice«. In den wichtigen frü- ter. Freib. i. Br. 2008, S. 361–379. Wolfgang Braungart hen Nachkriegsanthologien ist S. aber nicht vertreten. S. war zeitlebens eine religiöse, christlich- Schaumberger, Heinrich, * 15.12.1843 kath. Autorin u. Künstlerin. Das brachte sie Neustadt/Heide (Thüringen), † 16.3.1874 nach 1933 zwangsläufig in Opposition zur Davos. – Erzähler. offiziellen NS-Kunstpolitik, was sie aber von Nach dem Tod des Vaters übernahm S. 1869 sich aus nicht anstrebte. Zuweilen wird sie dessen Lehrerstelle in Weißenbrunn, dem sogar der sog. Inneren Emigration zugerech- »Bergheim« seiner Erzählungen. Von Kindnet. Eine wirkliche, ästhetisch-poetolog. heit an kränklich, erlag er früh einem LunAuseinandersetzung mit der Moderne blieb genleiden. ihr aber ganz fremd. 1945 bildete für sie S.s Gesammelte Werke (9 Bde., Wolfenb.) erkeine Zäsur; sie inszenierte sich, noch als ar- schienen postum 1874–1876. Seine Dorfrivierte Autorin, gern in einem Ton kindl. erzählungen entstanden auf der Grundlage Naivität, Innigkeit u. Wahrhaftigkeit, der ei- genauer Kenntnis dörfl. Zustände u. geben in nen humoristischen Einschlag haben kann, u. realistischer, z. T. den Naturalismus antiziverlagerte ihr Erzählen in die Welt der Bibel pierender Weise Einblicke in die psycholog. oder in historisch anmutende, aber unbe- Folgen der Armut auf dem Land (bes. in: Im stimmte Vergangenheiten. S. neigte zu reli- Hirtenhaus); durch eigenständige, dabei disgiösen Allegorisierungen, zu Mythisierun- ziplinierte sprachl. Formung, überzeugende gen, zum Märchenhaften. Solche Schreib- Komposition u. Naturschilderung sowie hustrategien lassen eine Aura erbaul. Bedeut- morvolle Darstellung dörfl. Originale (bes. in samkeit u. semant. Tiefe entstehen u. wollen den Bergheimer Musikantengeschichten. 2 Bde.) die Grenze zur bloßen Unterhaltungslitera- sind sie bis heute nicht nur wegen ihres kultur ziehen. Wie viele christl. Autoren seit dem turhistor. Informationswertes lesbar. Im 19. Jh. wollte S. erkennbar ›wertvolle‹, ›gute‹ Entwicklungsroman Fritz Reinhardt (3 Bde.) Literatur schreiben. Sie wollte mehr sein als verband S. volkspädagog. Absichten mit der eine Autorin des kath. Milieus u. war doch Schilderung schwieriger Lebensumstände u. genau dies. Gegen Ende ihres Lebens fand sie innerer Konflikte eines Landschullehrers. kaum mehr öffentl. Aufmerksamkeit. Der Schicksalsromane bzw. -erzählungen sind kleinere Teil ihres Nachlasses liegt im Deut- Vater und Sohn u. Zu spät, Letztere die Ausschen Literaturarchiv in Marbach, der grö- wanderungswelle nach Nordamerika mitverßere in der Stadtbibliothek München. folgend. Weitere Werke: Das Passional. Mchn. 1926 (L.). – Der Rebenhag. Ebd. 1927 (L.). – Yves. Ebd. 1933 (R.). – Solamen. Baden-Baden 1946. – Die Uhr. Ebd. 1946 (R.). – Der Ölzweig. Ebd. 1946. – Seltsame Gesch.n. Heidelb. 1947. – Ländl. Gastgeschenk. Ebd. 1948 (L.).
Literatur: Franz Brümmer: H. S. In: ADB. – Heinrich Schmidtkunz: Unser Heimatdichter H. S. 1949. – Albin Schubert: H. S. zum Gedenken. Festrede zum 100. Todestag [...]. o. O. 1974. – Ders.: Friedrich Rückert u. H. S.: zwei Dichter fränk. Stammes im lebendigen Bewußtsein der
Schechner
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Schechner, Schechtner, Schedner, Jörg, Georg, * um 1500 München, beerdigt 6.7.1572 Nürnberg; Grabstätte: ebd., Rochusfriedhof. – Tuchmacher, Meistersinger u. Christian Schwarz / Red. Schwenckfelder.
Bürger v. Rodach. In: Rodacher Almanach 1986, S. 130–148. – Gerhard Reisenweber: H. S.– fränk. Dichter u. Volkserzähler: eine regionalgeschichtl. Betrachtung. Sonneberg 1998.
Schauwecker, Franz, * 26.3.1890 Hamburg, † 31.5.1984 Günzburg. – Erzähler, Dramatiker u. Essayist. Der Sohn eines Oberzollinspektors studierte in München, Berlin u. Göttingen Kunstgeschichte u. Germanistik, bevor er sich 1914 als Kriegsfreiwilliger meldete. Die Verklärung des Ersten Weltkriegs als männl. Bewährungsprobe bestimmt die meisten seiner Bücher, in denen er mit aggressivem Nationalismus die dt. Soldaten als Vorkämpfer des kommenden neuen Reichs propagierte. Der Durchbruch gelang S. mit seinem »Frontbuch« Im Todesrachen (Halle 1919). Für Der feurige Weg (Lpz. 1926) schrieb Ernst Jünger das Vorwort. Bekannt wurde S. aber v. a. mit seinem Roman Aufbruch der Nation (Bln. 1930), aus dem der damals viel zitierte Satz stammt: »Wir mußten den Krieg verlieren, um die Nation zu gewinnen.« Von der NS-Literaturbürokratie geschätzt u. gefördert, erreichten seine Bücher hohe Auflagen. Nach 1945 verstummte S. Weitere Werke: Weltgericht. Halle 1920. – So war der Krieg. Bln. 1927. – Deutsche allein. Ebd. 1931. – Die Entscheidung. Ebd. 1933. – Der Panzerkreuzer. Ebd. 1938. – Der weiße Reiter. Ebd. 1944. Literatur: Oswald Claaßen: F. S. Ein Leben für die Nation. Bln. 1933. – Karl Prümm: Das Erbe der Front. In: Horst Denkler u. K. Prümm: Die dt. Lit. im Dritten Reich. Stgt. 1976, S. 138–164. – Erhard Schütz: Romane der Weimarer Republik. Mchn. 1986, S. 203–208. – Lex. ns. Dichter. – Ulrich Fröschle: ›Radikal im Denken, aber schlapp im Handeln‹? F. S.: ›Aufbruch der Nation‹ (1929). In: Von Richthofen bis Remarque: Deutschsprachige Prosa zum I. Weltkrieg. Hg. Thomas F. Schneider u. Hans Wagener. Amsterd./New York 2003, S. 261–298. – Bernd Hüppauf: Zwischen Metaphysik u. visuellem Essayismus. F. S.: ›So war der Krieg‹ (1928). In: ebd., S. 233–248. Hans Sarkowicz / Red.
Aus einer wohlhabenden Münchner Wollweberfamilie stammend, erlernte S. nicht nur das Handwerk seines Vaters, sondern besaß auch solide Kenntnisse in Latein u. Griechisch. Er begründete vermutlich 1526 einen eigenen Hausstand mit einer nicht weiter bekannten Frau namens Anna, mit der er mehrere gemeinsame Töchter hatte. Nach ersten Hinweisen auf eine intensivere Auseinandersetzung mit den reformatorischen Lehren bei einem Kolloquium mit Thomas Müntzer, Johannes Bugenhagen u. Philipp Melanchthon in Wittenberg 1522 schloss S. sich 1527 der (Wieder-)Täufergemeinde seiner Heimatstadt an, musste aber bereits im darauffolgenden Jahr nach Augsburg, später nach Rothenburg ob der Tauber u. Straßburg fliehen, wo er Caspar von Schwenckfeld kennenlernte. Schwenckfeld, ein einflussreicher Spiritualist der Reformationszeit, wurde für S., mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verband, zum Vorbild. Spätestens 1530 erbat S. das Nürnberger Bürgerecht. Da es ihm gewährt wurde, muss er vermögend gewesen sein u. seinem frühen Bekenntnis zu den Täufern entsagt haben. Er kaufte ein Haus u. fand 1531 als Meister Aufnahme in der Färber- u. Tuchmacherzunft. Nach dem Tod seiner ersten Frau im Nov. 1559 heiratete S. im Mai 1563 Susanna Lederer aus Füssen, mit der er vier Töchter u. einen Sohn zeugte. 1544 vermittelte er ergebnislos zwischen den beiden zerstrittenen Reformatoren Schwenckfeld u. Martin Luther, geriet in diesem Jahr u. 1558 in Nürnberg unter Verdacht, den verbotenen Lehren Schwenckfelds anzuhängen u. wurde deswegen 1566 nach einem mehrere Personen betreffenden Prozess kurzzeitig aus der Stadt verbannt. Am Ende seines Lebens hatte S. wohl ein beachtl. Vermögen angesammelt u. abgesehen von seiner religiösen Vergangenheit eine gute Reputation. S.s Bruder Arsatius, der 1568 aus München nach Nürnberg
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gekommen war, wurde 1571 in den Größeren Schaffensphase von nicht einmal vier Jahren nachgewiesen werden kann, sind nicht nur Rat der Stadt aufgenommen. Von S. sind in der Hauptsache 22, teils an- sein Ton, sondern auch seine Texte recht gut onym überlieferte Meisterlieder, ein Meis- überliefert; z. T. liegen bis zu acht Abschrifterton, mehrere Briefe an Schwenckfeld u. ten für ein Lied vor. Der Großteil dieser Abmehrere Ratsverlässe aus Nürnberg bekannt, schriften dürfte zeitgenössisch sein; die in denen zwei verschollene religiöse Be- jüngsten Überlieferungen reichen bis um die kenntnisschriften von ihm erwähnt werden. Jahre 1625/1630. Die Briefe u. Ratsschriften zeugen davon, Ausgaben: Friedrich Roth: Zur Gesch. der Wiedass S. in Nürnberg tatsächlich mit dem dertäufer in Oberschwaben, Tle. 2–3. In: Ztschr. Täufertum abgeschlossen hatte; dem des Histor. Vereins für Schwaben u. Neuburg 27 Schwenckfeldertum hingegen blieb er bis (1900), S. 1–45; 28 (1901), S. 1–154. – Corpus zum Lebensende treu u. nahm regen Anteil Schwenckfeldianorum. Letters and treatises of an den reformatorischen Kontroversen seiner Caspar Schwenckfeld v. Ossig. Hg. Chester D. Hartranft, Elmer E. Schultz Johnson u. Selina Zeit. Gerhard Schultz. Lpz./Pennsburg 1907–61 (Bd. 8, Als Meistersinger trat S. nur wenige Jahre Nr. 368, 375, 414; Bd. 9, Nr. 457–458, 464; Bd. 10, in Erscheinung: von Febr. 1535 bis Dez. Nr. 605; Bd. 11, Nr. 685, 725; Bd. 12, Nr. 762, 812; 1538, also kurz nach seiner Ankunft in Bd. 15, Nr. 985; Bd. 17, Nr. 1130, 1171, 1172). – Nürnberg. Über sein Wirken dort lässt sich Irene Stahl: J. S. Täufer, Meistersinger, Schwärmer. kaum etwas herausfinden; nur Georg Hager, Würzb. 1991, S. 70–177. ein Meistersinger u. 1619–1634 Leiter der Literatur: Aloys Dreyer: Hans Sachs in MünNürnberger Singschule, erwähnt S. in seinem chen. In: Analecta Germanica. FS Hermann Paul. Traumlied Die 12 nach dichter zu Nürnburg. Er Amberg 1906, S. 323–390. – Hans Rössler: Wierechnet S. zu den zwölf wichtigsten Dichtern dertäufer in u. aus München 1527–1528. In: der zweiten Nürnberger Meistersingergene- Oberbayer. Archiv 85 (1962), S. 42–58. – Christoph ration, angeführt von dem »unbestrittenen« Petzsch: Zu Albrecht Lesch, J. S. u. zur Frage der Münchener Meistersingerschule. In: ZfdA 94 Meister Hans Sachs. S. wird nicht aufgrund (1965), S. 121–138. – Hans-Dieter Schmid: Täuferseiner Texte hervorgehoben, sondern wegen tum u. Obrigkeit in Nürnberg. Nürnb. 1972. – seines Tons (Melodie u. Metrik), der den Na- RSM, Bd. 7, 1990, S. 364 (2HaG/163a – ›Die 12 nach men »Reisige Freudweise« trägt. Hager u. dichter zu Nürnburg‹). – Stahl 1991 (siehe Ausgaseine Nürnberger Dichterkollegen wie Bene- ben). Mario Müller dict von Watt u. Hans Deisinger oder auch Meistersinger aus Städten wie Magdeburg, Schede, Schedius, Elias, * 1615/16 Cadan/ Augsburg u. Breslau belegen die Beliebtheit Böhmen, † 2.3.1641 Warschau. – Polydes Tons bis zur Mitte des 17. Jh. histor; Dichter. Bis auf eine Ausnahme geben S.s Texte Bibelzitate aus der Hl. Schrift wieder u. inter- Der Sohn des Güstrower Gymnasialrektors pretieren diese. S. bevorzugte Passagen aus Georg Schede studierte Jura. Früh zum Poeta den Büchern Mose, den Psalmen sowie dem laureatus gekrönt (Rostock 1633), verfasste S. Lukas- u. Johannesevangelium. Unverkenn- mit 21 Jahren eine umfangreiche Geschichte bar knüpft er an sein geistl. Vorbild an. Der der Religion u. Mythologie der Germanen (De Dualismus zwischen den äußeren Worten u. Diis Germanis. Hg. Georg Schede. Amsterd. dem inneren Bekenntnis zum christl. Glau- 1648), in der er patriotisch-polyhistorisch ben, die unbedingte Konzentration auf Got- bibl., antike u. mittelalterl. Quellen mit tes Sohn u. seine Heilskraft lassen S. als einen neuerer Historiografie vereinigt u. mit den »Bekenner der Glorie Christi«, wie sich die Mitteln seiner Zeit (u. a. »etymologisch« beSchwenckfelder selbst nannten, hervortreten. gründete Namenserklärungen für die KonIn welcher Weise sich die Texte S.s u. struktion kultureller Verbindungen einsetSchwenckfelds durch Auswahl, Zitation u. zend) ein überregionales kulturelles Geflecht, Auslegung beeinflussten, wurde bisher noch das Ägyptisches wie Slavisches einbezieht, nicht untersucht. Obwohl für S. nur eine nachzuweisen sucht. Die Monografie fand
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auch den Respekt Johann Albert Fabricius’, der die mit Anmerkungen von Johannes Sarkius u. Johann Georg Keysler versehene Ausgabe (Halle 1728) unterstützte. S. selbst hat mit dem Manuskript dieser Ausgabe zahlreiche, heute verlorene poetische Werke in dt. u. lat. Sprache unpubliziert hinterlassen. Literatur: Ernst Joachim v. Westphalen: Monumenta inedita rerum Germanicarum [...]. Bd. 1, Lpz. 1739, S. 26 f. – Wolfgang Harms: Das angeblich altdt. Anthyriuslied. In: FS Ingeborg Schröbler. Tüb. 1973, S. 381–405, bes. 388 f. – Flood, Poets Laureate, Bd. 4, S. 1819 f. Wolfgang Harms
Schede, Paul, belegt latinisiert: Paulus Schedius Melissus bzw. Paulus Melissus Schedius, meist nur Paulus Melissus (nach dem Herkunftsort der Mutter: Mailes, mundartlich Melis [?]), * 20.12.1539 Mellrichstadt, † 3.2.1602 Heidelberg. – Verfasser neulateinischer, gelegentlich deutscher Lyrik. Der Franke S., wohl bäuerl. Herkunft, erhielt seine höhere Schul- u. erste Universitätsbildung im luth. Sachsen (Zwickau, Jena) u. neigte seither dem Philippismus zu. Schon früh fühlte er sich, beeindruckt von Petrus Lotichius Secundus, zum Dichter u. lange auch zum Musiker berufen (Kontakte mit Orlando di Lasso, Claude Goudimel, Leonhard Lechner). Während eines Vierteljahrhunderts in der Fremde (1561–1586) suchte er teils die Unterstützung durch Mäzene, teils die Freundschaft internat. angesehener Gelehrter u. Schriftsteller, oft über Konfessionsgrenzen hinweg (u. a. Henri Estienne, Joseph Justus Scaliger, Piero Vettori, Janus Douza, Justus Lipsius, Philip Sidney, JeanAntoine de Baïf). Seine dichterischen Anfänge (seit 1560) weisen ihn zunächst als Elegiker in der Nachfolge des Lotichius aus. Daneben suchte er sogleich durch panegyr. Gedichte am Kaiserhof in Wien 1561–1567 allerhöchste Förderung zu gewinnen; er wurde am 2.5.1564 von Kaiser Ferdinand I. zum Poeta laureatus ernannt u. geadelt, fand aber auch unter dessen Nachfolger Maximilian II. (Teilnahme am Türkenfeldzug 1566) keine längerfristige Verwendung. Enttäuscht verhängte er 1567 ein Autodafé über fünf Bücher
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Elegien u. zwei Bücher Epigramme u. verließ Wien. Seine gleichzeitige Hinwendung zu kleinformatiger, stilistisch erlesener u. pointierter lat. Lyrik u. seine Begeisterung für die frz. Pléiade (Ronsard) brachten ihn unter Neulateinern in eine Avantgardeposition. Hierzu trugen besonders S.s Frankreichreise 1567/68 u. sein Aufenthalt in Genf 1568–1571 bei. Hier vertiefte er durch Zusammenarbeit mit Henri Estienne seine Kenntnis antiker Lyrik (lat. Nachdichtung von Epigrammen der Anthologia Graeca), pflegte im Freundeskreis gesellige Poesie u. Musik nach frz. Geschmack u. wurde zum Calvinisten. Zugleich fand er hier Zugang zur reformierten Pfalz: Kurfürst Friedrich III. beauftragte ihn 1570 mit der Übersetzung des Hugenottenpsalters ins Deutsche. S. verband diese Aufgabe mit sprachreformerischen Zielen (u. a. einer Orthografiereform; eine Introductio in linguam Germanicam u. ein Dictionarium Germanicum aus dieser Zeit sind verschollen). Di Psalmen Davids in Teutische gesangreymen nach Französischer melodeien und sylben art mit sönderlichem fleise gebracht (Heidelb. 1572) bieten die ersten 50 Psalmen; obwohl S. bis 1576 angeblich auch die übrigen übertrug, blieb sein Unternehmen Torso: Die Psalterübersetzung des Lutheraners Ambrosius Lobwasser 1573 setzte sich rasch durch. S. empfand schon 1574 seine Stellung in Heidelberg als unsicher u. bemühte sich, durch eine zweibändige Gesamtausgabe seiner lat. Gedichte seine eigentl. Bedeutung zu demonstrieren u. als Franke zwischen Rhein u. Main Mäzene zu finden: Die Schediasmata poetica (Ffm. 1574) umfassen Oden, Hendekasyllaben u. Reste der Wiener Elegien, die Schediasmatum reliquiae (Ffm. 1575) Epigramme, beide außerdem viele Gedichte namhafter Freunde an S. Bei der hastigen Drucklegung geriet der anspruchsvollste Werkteil ans Ende der Reliquiae: die Spinae (Dornen), seine Liebesdichtung. Die Gedichte an Rosina, verstreut auch in anderen Abschnitten vertreten, stehen in der Tradition petrarkistischer Liebeslyrik. Neu gewendet wird der biogr. Aspekt: Die Geliebte wird nicht als existent vorgestellt, sondern als die von Gott in einem 1560 in Königsberg/Franken, wo er damals als Kantor wirkte, erlebten Traum
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verheißene Gattin ständig erwartet. So hat der Lebensgang über die Dichtung zu entscheiden. S.s weiteres Dichten sollte fortan in den – wiederholt modifizierten – Rahmen dieser zweibändigen Ausgabe passen. Zincgref nahm 1624 fünf dt. Gedichte S.s in den Anhang zu Martin Opitz’ erster Gedichtsammlung auf, darunter das erste dt. Alexandrinersonett. Sie fehlen in S.s eigenen gedruckten Sammlungen wohl deshalb, weil er sich für ein europ. Publikum u. damit für das Latein entschieden hatte, nach 1575 fast ausnahmslos. Auch so ist S. einer der wichtigsten Wegbereiter dt. Kunstlyrik vor Opitz. Als in der Pfalz 1576 wieder der luth. Glaube vorgeschrieben wurde, begab sich S., von Freunden u. Gönnern finanziell unterstützt, auf eine Italienreise (1577–1580). Hier entwickelte er sich, mit preisenden Gedichten um die Freundschaft großer Philologen werbend u. so ihre Anerkennung findend (v. a. die des Marc-Antoine de Muret), ganz zum Odenlyriker in den Formen des Horaz u. Pindar (nach Ronsards Vorbild). Später hat S. sein lyr. Formenspektrum weitgehend auf die horazischen Odenformen reduziert. Am 23.10.1579 wurde S. in Padua zum Comes Palatinus (Hofpfalzgraf) ernannt, eine in ihrer Legitimität fragl. Ehrung, die ihm u. a. das Recht gab, im Namen des Kaisers Dichter zu krönen. Nach seiner Rückkehr lebte er 1580–1584 in Nürnberg, beschäftigt mit Gelegenheitsgedichten für reiche Bürger, warb aber zgl. mit dem Versprechen höf. Epik um fürstl. Mäzene. Ein Anerkennungszeichen Elisabeths von England für den im calvinistischen Raum angesehenen Autor ermutigte ihn schließlich zu einer Neufassung seiner Schediasmata poetica von 1574 eigens für die Königin, die er während eines Aufenthalts in Paris 1584/85 vollendete u. ihr um die Jahreswende 1585/86 in England persönlich überreichte. Diese weit umfangreicheren Schediasmata (Paris 1586), unter den Drucken S.s Hauptwerk, bestehen jetzt aus den drei Teilen Oden, Elegien, Epigramme; die darin chronologisch angeordneten Gedichte lassen wie ein Briefcorpus die Biografie des Verfassers erstehen u. bieten mit der Vielzahl der fast systematisch angesprochenen Adressaten
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eine Art »Who’s Who« der europ. Gelehrtenrepublik zwischen Wien u. Paris, Rom u. London, Genf u. Leiden, die in Wirklichkeit längst von Konfessionskonflikten in Frage gestellt war. Aus England wurde S. 1586 durch den Regenten der inzwischen wieder calvinistischen Pfalz nach Heidelberg berufen, wo er mit dem Titel Kurpfälzischer Rat als Verwalter der kurfürstl. Bibliotheca Palatina u. darüber hinaus frei als Poet tätig war. Eine neue Aufgabe übernahm er als dichtender Ratgeber des minderjährigen Kurfürsten mit Paraenetica (Heidelb. 1587), Odae Palatinae (ebd. 1588) u. anderem, widmete sich aber v. a. seiner Ich-Lyrik. Dabei wuchs der zweite Band der Schediasmata so an, dass ihm nur noch eine Teiledition gelang, die Meletemata pia (Ffm. 1595), fromme Meditationen allg. Glaubensfragen, Psalmen in Odenform, aber auch persönl. Lebenssituationen. Sein eigentl. Hauptwerk scheint die Zweitfassung der Spinae (jetzt unter dem gräzisierten Titel Acanthae) geworden zu sein, die am Ende 36 Bücher umfassten; sie gingen später bis auf wenige Gedichtduplikate verloren. Die Acanthae enthalten vor allem S.s Rosina-Oden, auch über die als Erfüllung der Rosina-Prophezeiung gefeierte Hochzeit mit der jungen Emilie Jordan 1593 hinaus. In diesen Jahren gewann S. beträchtl. Einfluss auf das Dichten in Deutschland, nicht zuletzt durch seine Krönung von (wohl über 30) Poeten. Die Zunahme der Odenlyrik (darunter der pindarischen Ode), der Parodia (d.h. der nichtparodistischen Kontrafaktur zu bekannten Gedichten), der Verse auf Devisen, Wappen, Bildnisse u. Anagramme, insbes. der petrarkistischen Manier der Liebesdichtung sowie eines frühbarock gesteigerten Stils bei den dt. Neulateinern, vielleicht überhaupt deren langes Festhalten am Latein, ist nicht ohne seine Autorität erklärbar. Seinem Ziel, ein dt. Horaz u. Ronsard zu werden, ist im 16. Jh. niemand näher gekommen. Weitere Werke: Cantionum musicarum quatuor et quinque vocum liber unus. o. O. 1566. – Collegii Posthi Melissaei Votum (zus. mit Johannes Posthius). Ffm. 1573. – Mele sive odae ad Noribergam et Septemviros reipub. Norib. Nürnb. 1580.
269 Auswahlausgabe mit Übers., Komm. u. Bibliogr. in: HL, S. 753–862, 1395–1483. Literatur: Max Hermann Jellinek (Hg.): Die Psalmenübers. des P. S. Melissus (1572). Halle 1896. – Ludwig Krauß: P. S.-Melissus. 2 Bde., Nürnb. 1918 (Hs. Universitätsbibl. Erlangen). – Pierre de Nolhac: Un poète rhénan, ami de la Pléiade: P. Melissus. Paris 1923. – Karl Otto Conrady: Lat. Dichtungstradition u. dt. Lyrik des 17. Jh. Bonn 1962. – James E. Philips: Elizabeth I as a Latin Poet. An epigram on P. Melissus. In: Renaissance News 16 (1963), S. 289–298. – Leonard Forster u. Jörg-Ulrich Fechner: Das dt. Sonett des Melissus. In: Rezeption u. Produktion zwischen 1570 u. 1730. FS Günther Weydt. Hg. Wolfdietrich Rasch u. a. Bern/Mchn. 1972, S. 33–51. – Wilhelm Kühlmann: Humanistische ›Geniedichtung‹ in Dtschld. – Zu P. S. M.’ ›Ad Genium suum‹ (1574/75). In: ›Der Buchstab tödt – der Geist macht lebendig‹. FS Hans-Gert Roloff. Hg. James Hardin u. Jörg Jungmayr. Bern u. a. 1992, Bd. 1, S. 1117–1130, auch in Kühlmann (2006), S. 342–353. – Eckart Schäfer: Paulus Melissus Schedius (1539–1692). Leben in Versen. In: Humanismus im dt. Südwesten. Biogr. Profile. Hg. Paul Gerhard Schmidt. Sigmaringen 1993, S. 239–263. – HL, S. 753–861, 1395–1483. – Robert Seidel: ›Virtute constanti rebelles‹ – Die poet. Freundschaft des dt. Dichters P. S. M. mit Justus Lipsius zur Zeit des niederländ. Freiheitskampfes. In: The world of Justus Lipsius: A contribution towards his intellectual biography. Hg. Marc Laureys. Turnhout 1998, S. 137–171. – Ralf Georg Czapla: ›Non infima liberalium artium‹. Vom Wert u. den Grenzen der Medizin zwischen ›Vanitas‹-Vorstellung u. eschatolog. Heilserwartung. Zu P. S. M.’ ›Meletemata‹. In: Iliaster. Lit. u. Naturkunde in der frühen Neuzeit. Festg. für Joachim Telle. Hg. W. Kühlmann u. Wolf-Dieter Müller-Jahncke. Heidelb. 1999, S. 79–97. – W. Kühlmann: Poetische Hexenangst. Zu zwei Gedichten des pfälz. Humanisten Paul Melissus (1539–1602) u. ihrem literar. Kontext. In: Chloe 33 (2000), S. 153–174, auch in Kühlmann (2006), S. 323–341. – R. G. Czapla: Zwischen polit. Partizipationsstreben u. literar. Standortsuche. Die Italienreise des pfälz. Späthumanisten P. S. M. In: Lat. Lyrik der Frühen Neuzeit. Poetische Kleinformen u. ihre Funktionen zwischen Renaissance u. Aufklärung. Hg. Beate Czapla u. a. Tüb. 2003, S. 217–255. – Ders.: Transformationen des Psalters im Spannungsfeld von gemeinschaftl. Adhortation u. individueller Meditation. P. S.s ›Psalmen Davids‹ u. ›Psalmi aliquot‹. In: Der Genfer Psalter u. seine Rezeption in Dtschld., der Schweiz u. den Niederlanden (16.-18. Jh.). Hg. Eckhard Grunewald,
Schedel Henning P. Jürgens u. Jan R. Luth. Tüb. 2004, S. 195–215. – Flood, Poets Laureate, Bd. 4, S. 1820–1829. – E. Schäfer: P. Melissus – der erste dt. Petrarkist? In: Francesco Petrarca in Dtschld. Seine Wirkung in Lit., Kunst u. Musik. Hg. Achim Aurnhammer. Tüb. 2006, S. 91–110. – Lee Piepho: Paulus Melissus and Jacobus Falckenburgius: two German protestant humanists at the court of Queen Elizabeth. In: The sixteenth century Journal 38 (2007), S. 97–110. – Jörg Robert: Dt.-frz. Dornen – P. S. M. u. die Rezeption der Pléiade in Dtschld. In: Abgrenzung u. Synthese. Lateinische Dichtung u. volkssprachl. Traditionen in Renaissance u. Barock. Hg. Marc Föcking u. Gernot Michael Müller. Heidelb. 2007, S. 207–229. – W. Kühlmann: Ein Heidelberger Dichter wünscht ›prädestiniert‹ zu sein. Zur Behandlung konfessionalist. Positionen in der geistl. Lyrik des dt. Späthumanismus, ausgehend v. einer Ode des P. S. M. (Meletemata I, 21) v. 1595. In: Prädestination u. Willensfreiheit. Luther, Erasmus, Calvin u. ihre Wirkungsgesch. FS Theodor Mahlmann. Hg. Wilfried Härle u. Barbara MahlmannBauer. Lpz. 2009, S. 146–158. – E. Schäfer: Die Freundschaft zwischen Ianus Dousa u. Paulus Melissus. In: Ianus Dousa. Nlat. Dichter u. Klass. Philologe. Hg. Eckard Lefèvre u. E. Schäfer. Tüb. 2009, S. 213–253. Eckart Schäfer
Schedel, Hartmann, * 13.2.1440 Nürnberg, † 28.11.1514 Nürnberg. – Arzt, Humanist, Polyhistor, Büchersammler. Der Sohn des Nürnberger Kaufmanns Hartmann Schedel u. der Anna Grabner verlor früh seine Eltern, so dass seine Erziehung von seinem älteren Vetter Hermann Schedel übernommen wurde. S. studierte seit dem Wintersemester 1455/56 in Leipzig, wo er im Sommer 1457 Baccalaureus u. im Winter 1459 Magister artium wurde. In der Folge pflegte er in Leipzig humanistische u. juristische Studien, um dann 1463 mit Peter Luder nach Padua zu gehen. Dort betrieb er ital., griech. u. hebräische Sprachstudien, widmete sich aber v. a. der Medizin u. wurde am 17.4.1466 zum Dr. med. promoviert. 1466–1470 wirkte er als Arzt in Nürnberg (1468 begab er sich auf eine Wallfahrt nach Aachen u. bereiste Brabant u. Flandern), 1470 in Nördlingen, 1477 in Amberg, seit 1484 wieder in Nürnberg als Stadtarzt. 1488 wurde er »Genannter« des Großen Rats. S. war in erster Ehe mit Anna Hengel († 1485), in
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zweiter Ehe mit Magdalena Haller († 1505) verheiratet. S.s Ruhm wird in erster Linie durch seine Weltchronik, den Liber Chronicarum, begründet, eines der aufwendigsten Bücher der Zeit. Das Projekt einer »newenn Cronick« war eine Gemeinschaftsleistung des Nürnberger Humanistenkreises, an dem S. als Verfasser (zgl. mit anderen Zulieferern wie Conrad Celtis u. Hieronymus Münzer), die Patrizier Sebald Schreyer u. Sebastian Kammermeister als Geldgeber, Michael Wolgemut u. sein Stiefsohn Wilhelm Pleydenwurff (neben anderen, darunter auch dem jungen Dürer) als Künstler u. Anton Koberger als Drucker beteiligt waren. Die lat. Erstausgabe (Registrum huius operis libri chronicarum cum figuris [...]) mit 326 Blättern Umfang erschien 1493 in Nürnberg, die dt. Übersetzung (Register des buchs der Croniken u. geschichten mit figuren u. pildnissen von anbeginn der welt bis auf dise unsere Zeit) von dem Losungsschreiber Georg Alt im Umfang von 297 Blättern ebenfalls 1493 in Nürnberg; beide Ausgaben ohne eigenständiges Titelblatt im modernen Sinne, im »Königsformat« (47 x 32,5 cm) u. auf hervorragendem Papier gedruckt, zählen 1809 Holzschnitte. Sie wurden ein großer Erfolg u. in ganz Europa verbreitet u. gelesen. 1496 erschien bei Johann Schönsperger in Augsburg ein Raubdruck in dt. Sprache, jedoch in stark verminderter Qualität; er wurde 1497 noch einmal aufgelegt. S.s Weltchronik hat einen wesentl. Beitrag zur Kenntnis der Geschichte geleistet. Die Leistung S.s ist jedoch eher kompilatorisch, er schreibt ältere Arbeiten z. T. wörtlich ab; eine Hauptquelle war das Supplementum chronicarum (Venedig 1492) des Jacobus Philippus Foresta von Bergamo. Eigenwert hat die Weltchronik nur für die zweite Hälfte des 15. Jh. Ausgehend von der Erschaffung der Welt, bezieht S. sehr viel Kulturgeschichtliches (Himmelserscheinungen, Hungersnöte, Kuriosa) ein u. berücksichtigt die Literaturgeschichte. Hervorzuheben ist auch die Verbindung der Geschichte mit der Geografie u. Topografie, die zur Entdeckung der Heimat (doppelseitige Stadtansicht von Nürnberg) führt.
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S.s sonstige histor. Schriften, kompilatorische Arbeiten zur bayerischen u. thüring. Geschichte, sind ohne bes. Wert; von Bedeutung für die Archäologie ist sein Sammelwerk über Italien (1504). Überliefert ist auch eine autobiogr. Skizze S.s in dem von ihm angelegten Schedel’schen Familienbuch. S. war in erster Linie Sammler, nicht Forscher. Schon seine Leipziger Lehrer bescheinigten ihm einzigartige Gelehrsamkeit u. hervorragende Charaktereigenschaften. S. war von enormer Arbeitskraft u. großem Fleiß. Seine aus 670 Drucken u. 400 Handschriften bestehende Bibliothek, heute in der Bayerischen Staatsbibliothek München, ist für die Geschichte des dt. Frühhumanismus von großer Bedeutung. S. steht im Zentrum des – auch gegenüber den Künsten aufgeschlossenen – Nürnberger Humanistenkreises. Die den dt. Frühhumanismus kennzeichnende tiefe Religiosität zeigt sich auch bei ihm, der zahlreichen Bruderschaften angehörte. Weiteres Werk: S.sches Familienbuch (Hs., Staatsbibl. Berlin, Cod. Germ. 28 447). Ausgaben: Liber chronicarum (1493). Nachdr. Puchheim 1970. Valencia 1994. – Das buch der Croniken (1493). Nachdr. Lpz. 1933. Mchn. 1965 u. v. a. – Weltchronik (1493). Nachdr. Ludwigsburg u. a. 1990 (mit Kommentarbd. v. Konrad Kratsch u. Elisabeth Rücker). – Weltchronik. Kolorierte Gesamtausg. v. 1493. Einl. u. Komm. v. Stephan Füssel. Köln u. a. 2001. Augsb. 2004. Literatur: Bibliografie: Schmidt, Quellenlexikon, Bd. 27, S. 122–124. – Weitere Titel: Wilhelm Wattenbach: H. S. In: ADB. – Michael Haitz: H. S.’s Weltchronik. Mchn. 1899. – Joseph Sprengler: H. S.s Weltchronik. Diss. Würzb. 1905. – Richard Stauber: Die S.sche Bibl. [...]. Freib. i. Br. 1908. Nachdr. Nieuwkoop 1969. – Xaver Schnieper: Die S.sche Weltchronik. Eine Einf. u. Würdigung. In: Stultifera Navis 7 (1950), S. 85–104. – Leonhard Sladeczek: Albrecht Dürer u. die Illustrationen zur Schedelchronik [...]. Baden-Baden u. a. 1965. – Elisabeth Rücker: Die S.sche Weltchronik [...]. Mchn. 1973. 1988. – Béatrice Hernad u. Franz Josef Worstbrock: H. S. In: VL, Bd. 8, Sp. 609–621 (u. Register in Bd. 14). – 500 Jahre S.sche Weltchronik [...]. Hg. Stephan Füssel (= Pirckheimer-Jb. 9). Nürnb. 1994. – F. J. Worstbrock: H. S.s ›Index Librorum‹ in: Studien zum 15. Jh. FS Erich Meuthen. Hg. Johannes Helmrath u. a. 2 Bde., Mchn. 1994, Bd. 2, S. 697–715. – Nicolaus C. Heutger: H. S. In:
Schedlinski
271 Bautz. – Peter Zahn: H. S.s. Weltchronik. Bilanz der jüngeren Forsch. In: Bibliotheksforum Bayern 24 (1996), S. 231–248. – S. Füssel: Die Welt im Buch. Buchkünstlerischer u. humanist. Kontext der S.schen Weltchronik v. 1493. Mainz 1996. – F. J. Worstbrock: H. S.s ›Liber antiquitatum cum epitaphiis et epigrammatibus‹. Zur Begründung u. Erschließung des histor. Gedächtnisses im dt. Humanismus. In: Erkennen u. Erinnern in Kunst u. Lit. [...]. Hg. Dietmar Peil u. a. Tüb. 1998, S. 215–243. – Christoph Reske: Die Produktion der S.schen Weltchronik in Nürnberg. Wiesb. 2000. – F. J. Worstbrock: Imitatio in Augsburg. Zur Physiognomie des dt. Frühhumanismus. In: ZfdA 129 (2000), S. 187–201. – C. Reske: Albrecht Dürers Beziehung zur S.schen Weltchronik unter bes. Berücksichtigung des Berliner Stockes [...]. In: Gutenberg-Jb. 78 (2003), S. 45–66. – Mara R. Wade: Von S.s. ›Weltchronik‹ bis zu Birkens Friedensdichtung. Eine Nürnberger emblematisch-ikonograph. Tradition im Kontext. In: Die Domänen des Emblems [...]. Hg. Gerhard F. Strasser u. a. Wiesb. 2004, S. 55–78. – Dieter Wuttke: ›Film vor dem Film‹. Zur lat. Buchanzeige v. H. S.s ›Liber chronicarum‹. In: Nova de veteribus. Mittel- u. neulat. Studien für Paul Gerhard Schmidt. Hg. Andreas Bihrer u. a. Mchn. 2004, S. 799–808. – Franz Fuchs: H. S. In: NDB. – Jonathan Green: Marginalien u. Leserforsch. Zur Rezeption der ›S.schen Weltchronik‹. In: AGB 60 (2006), S. 184–261. Karl Heinz Burmeister / Red.
Schedel, Hermann, * 1410 Nürnberg, † 4.12.1485 Nürnberg. – Arzt, Humanist, Büchersammler.
nes von Eich u. des Domkapitels zu Eichstätt, 1456 Leibarzt Herzog Ludwigs des Reichen in Landshut, trat aber diese Stelle nicht an, sondern wurde Stadtarzt in Augsburg. S. wurde zum Mittelpunkt der von Sigmund Gossembrot begründeten humanistischen Sodalität in Augsburg. Vergeblich suchte er Peter Luder dorthin zu holen; diesem war die Augsburger Sodalität zu stark kirchlich gesinnt. 1463 hatte S. mit wechselndem Erfolg gegen die Pest zu kämpfen (wie später 1483 in Nürnberg). 1467 übersiedelte er nach Nürnberg, wo er bis zu seinem Tod als (Stadt-)Arzt praktizierte. 1472/ 73 war S. für kurze Zeit an der damals neu gegründeten Universität Ingolstadt tätig. Schriftstellerisch wirkte S. vor allem durch seine Rezeptbücher u. Konsilien, die ihn als erfolgreichen Arzt ausweisen. Seit seiner ersten Studienzeit kopierte er zahlreiche Handschriften (Vorlesungsniederschriften, Werke der antiken Klassiker u. nlat. Autoren, medizinische Bücher). Den größten Teil seiner Bibliothek vermachte er testamentarisch seinem Vetter Hartmann Schedel. Die Rezeption des Humanismus in Nürnberg bleibt mit dem Namen S.s eng verbunden, auch wenn es ihm nicht gelang, hier eine Sodalität nach dem Augsburger Vorbild zu begründen. Seine Bedeutung liegt in erster Linie in der Vorbildwirkung, die er für seinen berühmteren Vetter Hartmann Schedel hatte. Ausgabe: H. S.s Briefw. (1452–1478). Hg. Paul
Der aus alter Nürnberger Kaufmannsfamilie Joachimsohn. Tüb. 1893. stammende S. studierte seit dem SommerseLiteratur: Richard Stäuber: Die S.sche Bibl. mester 1433 in Leipzig die freien Künste, Freib. i. Br. 1908. – Walter Höpfner: Die Nürnwurde im Winter 1435/36 Baccalaureus u. im berger Ärzte des 15. Jh. DDr. H. u. Hartmann S. Winter 1437/38 Magister artium, wandte sich [...]. Diss. med. Lpz. 1915. – Martin Lowry: Veneseit Winter 1439 in Padua der Medizin zu u. tian capital, german technology and Renaissance wurde am 14.7.1442 zum Dr. med. promo- culture in the later fifteenth century. In: Renaissance studies 2 (1988), S. 1–13. – Bernhard Schnell: viert. Sowohl aus Leipzig als auch aus Padua H. S. In: VL, Bd. 8, Sp. 621–625 (u. Register in hat S. eine Anzahl von Vorlesungsnieder- Bd. 14). – Franz Fuchs: H. S. In: NDB. schriften der von ihm gehörten Professoren Karl Heinz Burmeister / Red. überliefert. Das Fachstudium steht dabei im Vordergrund. 1444 kehrte er nach Nürnberg Schedlinski, Rainer, * 11.11.1956 Magzurück. Spätestens seit 1446 wirkte S. als deburg. – Lyriker u. Essayist. Leibarzt des Kurfürsten Friedrich II. von Brandenburg (Aufenthalte in Prenzlau, Nach einer Ausbildung zum WirtschaftsSpandau, Zerbst, Berlin). 1452/53 kehrte er kaufmann u. einem abgebrochenen Studium nach Nürnberg zurück, wurde 1453 Leibarzt der Pflanzenzüchtung arbeitete S. zunächst des humanistisch gesinnten Bischofs Johan- in verschiedenen Berufen (z. B. als Heizer,
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Kraftfahrer u. Hausmeister) vornehmlich in einen im Juni 1992 in der Zeitschrift »neue Magdeburg, wo er auch sporadisch in Zei- deutsche literatur« (H. 6, S. 75–105) publitungen publizierte. Nach einem Suizidver- zierten Essay konterkariert, in dem S. seine such u. längerer psychiatr. Behandlung zog er IM-Tätigkeit zu legitimieren suchte u. sie als 1984 nach Berlin/DDR. Er integrierte sich Möglichkeit darstellte, »rechtsfreie Räume zu schnell in die alternative Literatur- u. Kunst- erschließen«. Aufgrund der Enthüllungen schieden S. u. szene des ›Prenzlauer Bergs‹ u. wurde zu einem ihrer wichtigsten Akteure. Entscheidend Sascha Anderson aus der Geschäftsführung für den ›Prenzlauer Berg‹ war ein z. T. er- des von ihnen 1990 gegründeten Galrev Verzwungenes, z. T. selbst gewolltes distanzier- lags aus. Sie kehrten aber bereits sechs Motes Verhältnis zur ›Öffentlichkeit‹: Die Ar- nate darauf zurück, was dazu führte, dass beiten wurden, wenn überhaupt, im Selbst- Klaus Michael seinen gemeinsam mit Peter verlag publiziert u. zirkulierten in kleiner Böthig herausgegebenen Sammelband zur Auflage in internen Kreisen. So auch die von Verstrickung des ›Prenzlauer Bergs‹ mit der S. zusammen mit Andreas Koziol herausge- Staatssicherheit nicht wie geplant bei Galrev gebene u. wohl auf eine Initiative von Sascha veröffentlichen konnte. Er erschien stattdesAnderson zurückgehende Theoriezeitschrift sen bei Reclam (MachtSpiele. Literatur und »ariadnefabrik« (1986–1989), die ebenso wie Staatssicherheit im Fokus Prenzlauer Berg. Lpz. der 1988 erschienene Gedichtband die rationen 1993). S. publizierte bei Galrev abriß der arides ja und des nein (Bln./Weimar) S.s Nähe zum adnefabrik (hg. zus. mit Andreas Koziol. Bln. frz. Poststrukturalismus dokumentiert. S.s 1991) u. die männer / der frauen (Zeichnungen Lyrik u. Essayistik zeichnen sich durch das von Uta Hünniger. Bln. 1991); danach zog er Spiel mit Sprache aus; sein Werk wurde dabei sich weitgehend aus dem Literaturbetrieb immer wieder als ein Versuch gelesen, Herr- zurück. schaftssprache zu dekonstruieren. Weitere Werke: In der Tinte. Malerbuch mit Angesichts der tragenden Rolle, die S. als Michael Voges. Bln./DDR 1986. – innenansichten Literat u. Herausgeber in der Prenzlauer ddr. letzte bilder. Fünf Essays. Mit Fotos v. Jonas Berg-Szene eingenommen hatte, war die Ir- Maron. Reinb. 1990. – die arroganz der ohnmacht. ritation u. Empörung in der dt. Literatur- u. aufsätze u. zeitungsbeiträge 1989 u. 1990. Bln./ Medienlandschaft umso größer, als im Weimar 1990 (Ess.s). Literatur: Erk Grimm: R. S. In: KLG. – WolfHerbst/Winter 1991/92 bekannt wurde, dass gang Emmerich: Kleine Literaturgesch. der DDR. sowohl S. als auch Sascha Anderson jahrelang 2., erw. Aufl. Lpz. 1997. – Sylvia Klötzer: als Inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicher(Sub)kultur u. Staatssicherheit: R. S. In: ›im wiheit aktiv waren. Diese Enttarnungen trugen derstand/in missverstand‹? Zur Lit. u. Kunst des wesentlich zur Entmythisierung der Prenz- Prenzlauer Bergs. Hg. Christine Consentino u. lauer Berg-Szene bei, wobei sich der Vorwurf, Wolfgang Müller. New York u. a. 1995, S. 51–74. – dass die gesamte alternative Szene nicht nur Michael Braun: R. S. In: LGL. – Gert Reifarth: R. S. von der Staatssicherheit kontrolliert, sondern (1956– ). ›diese unvordenkl. lichtung‹ (1988). In: gleichsam komplett von ihr inszeniert wor- Poetry Project. Irish Germanists Interpret German den sei, nicht belegen lässt. S. reagierte Verse. Hg. Florian Krobb u. Jeff Morrison. Bern u. a. prompt, wenn auch ambivalent auf die Ent- 2003, S. 261–267. Friederike Krippner hüllung: Im Jan. 1992 erschien ein Artikel in der »FAZ«, in dem er behauptete, dass er Scheer, Maximilian eigentl.: M. Walter erstmals 1974 im Alter von 17 Jahren wegen Schlieper-Scheer, * 22.4.1896 Hahn/ der Flucht seines Bruders in den Westen ins Rhld., † 3.2.1978 Berlin/DDR. – ReiseVisier der Staatssicherheit kam u. nach anschriftsteller, Redakteur, Journalist. haltenden Nötigungen u. Erpressungen seit 1984/85 zu einem der Hauptinformanten in S., Sohn eines Schmieds, arbeitete zunächst der Prenzlauer Berg-Szene wurde. Betonte S. als Büroangestellter u. -leiter. Während dieser hier seine eigene menschl. Schwäche, so Zeit bildete er sich autodidaktisch weiter u. wurde der anrührende Ton des Artikels durch studierte als Gasthörer Literatur- u. Theater-
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Literatur: Josef Jansen: M. S. (1896–1978). In: wissenschaften in Köln. Seit Mitte der 1920er Jahre veröffentlichte er Theaterkritiken. Als Lit. v. nebenan. 1900–1945. 80 Portraits v. Autoren »parteiloser Gefolgsmann der Kommunis- aus dem Gebiet des heutigen Nordrhein-Westfalen. ten« (Alfred Kantorowicz) emigrierte er 1933 Hg. Bernd Kortländer. Bielef. 1995, S. 305–310. Boris Heczko / Red. nach Paris, wo er sich nach eigenen Worten »vom Theaterkritiker zum Kritiker des Welttheaters« entwickelte: als Redakteur der Scheerbart, Paul (Carl Wilhelm), auch: antifaschistischen Nachrichtenagentur InKuno Küfer, * 8.1.1863 Danzig, † 15.10. press, als Mitarbeiter der »Neuen Weltbüh1915 Berlin. – Dichter, Theaterautor, ne« u. als Mitverfasser des Bandes Das deutsche Zeichner, Kunstkritiker, Utopist. Volk klagt an – Hitlers Krieg gegen die Friedenskämpfer in Deutschland (Paris 1936). 1939 Der Sohn eines Danziger Zimmermanns wurde S. interniert, konnte jedoch 1940/41 wollte Missionar werden, wandte sich dann über Lissabon nach New York entkommen, aber der Philosophie, der bildenden Kunst u. wo er als Redakteur der Presseagentur schließlich der Literatur zu. Seit 1885 schrieb »Overseas News Agency« arbeitete. 1947 S. Kunstkritiken für diverse Zeitungen. Er kehrte er nach Deutschland zurück, ließ sich ging nach Berlin u. gründete dort 1892 den in Berlin nieder, war Chefredakteur der von Verlag deutscher Phantasten. Groß war die Kantorowicz herausgegebenen Zeitschrift Produktion nicht, doch der Name war Pro»Ost und West« u. 1949–1952 Leiter der gramm, u. es erschienen in dem Ein-MannHauptabteilung Künstlerisches Wort des Verlag ein Band mit Texten von S., Ja... was... Berliner Rundfunks u. des Deutschlandsen- möchten wir nicht Alles! Ein Wunderfabelbuch ders (DDR), wobei sein bes. Interesse der (Bln. 1893. Paderb. 1988), sowie Albert GiraHörspieldramaturgie galt. Seit 1956 unter- uds Zyklus des Pierrot lunaire in einer Übernahm S. zahlreiche Reisen in außereurop. tragung von Otto Erich Hartleben. 1900 heiLänder (u. a. Ägypten, Irak, Kuba, Indien), ratete S. die Witwe Anna Sommer. Die Ehe über die er in Artikeln u. Büchern berichtete. hielt bis zu seinem Tod. 70 »Schmoll- und In Arabische Reise (Bln./DDR 1957) zeichnete er Liebesbriefe des Dichters an seine Frau« sind ein positives Bild der polit. Umwälzungen im u. d. T. Von Zimmer zu Zimmer 1921 erstmals in Ägypten Nassers. In tagespolit. Artikeln u. Berlin publiziert worden. In Berlin blieb er Rundfunkkommentaren vertrat er die polit. der ganz in die eigenen Ideen verstrickte Linie der SED (vgl. S.s Angriff gegen Kan- Außenseiter, pflegte kaum Umgang mit torowicz nach dessen Weggang aus der DDR: Kollegen. Zu den wenigen Ausnahmen geDas Eintagsbömbche. In: NDL, H. 10, 1957). In hörte Erich Mühsam, mit dem zusammen er den Erinnerungsbüchern So war es in Paris 1903 die Tageszeitung »Das Vaterland« (Bln./DDR 1964) u. Paris – New York (ebd. gründen wollte. S. publizierte zahlreiche, oft 1966) berichtete er über seine Exilerfahrun- allerdings nur wenige Dutzend Seiten umgen. S.s Reportagen zeichnen sich durch Sinn fassende Bücher. Er schrieb in den wichtigsfür das Charakteristische im Alltäglichen, ei- ten Zeitschriften seiner Zeit, darunter »Die nen knappen, zupackenden, kräftig pointie- Freie Bühne«, »Pan«, »Die Jugend«, »Ver renden Stil u. eine präzise, dabei oft bilder- Sacrum«, »Der Sturm«, »Die Gegenwart«. reiche Sprache aus. S. war vielseitig begabt, hielt sich nicht an Weitere Werke: Blut u. Ehre. Paris 1937 (Ess.). Vorgegebenes u. lässt sich keiner zeitgenöss. – Fahrt an den Rhein. Bln./SBZ 1948 (R.). – Mut zur Richtung zuordnen. Er schuf seine eigenen Freiheit. Bln./DDR 1951 (Hörsp.). – Die Rosen- künstlerischen Gattungen, sei es in der Litebergs. Ebd. 1953 (Schausp. u. Hörsp.). – Spieler. ratur, in der Zeichnung oder der Architektur. Reisebilder aus Westdeutschland. Ebd. 1955. – Er war ein Utopist, der nur seiner Fantasie Irak, dürstendes Land. Ebd. 1959. – Von Afrika folgte. Mynona, der ebenso wie Christian nach Kuba. Ebd. 1961. – Ein unruhiges Leben. Ebd. Morgenstern u. Hans Arp S.s Person u. Werk 1975 (Autobiogr.). viel verdankt, sagte zu dessen 50. Geburtstag, der Dichter habe »mephistophelisch gut be-
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griffen, wie unendlich sehr alles Augenschein, alles Perspektive, alles Traum, alles Maske, Geheimnis ist, und nur Eins real: Der grandiose Geist dieser Weltverwandlung, von dem der seinige einen Hauch verspürt«. In seinem ersten Buch, Das Paradies. Die Heimat der Kunst (Bln. 1889), stellte S. den herrschenden Kunstrichtungen des Naturalismus, Impressionismus u. Symbolismus die Forderung nach einer fantastischen Kunst entgegen. Das Fantastische war ihm das Reale, er glaubte an die Wirkung des »allzeit schlagfertigen Spotts«. Humor bedeutete für ihn »sich über alles hinwegsetzen zu können – Alles überwinden«. Er wollte das Neue, u. er wollte die Vereinfachung. S. propagierte seine Ideen nicht nur, er lieferte Entwürfe. Er illustrierte seine Bücher selber, von dem 1902 in Minden erschienenen »phantastischen Nilpferdroman« u. d. T. Immer mutig! (Neudr. Ffm. 1990) bis zu dem »Berliner Roman« Münchhausen und Clarissa (Bln. 1906). Er schrieb Stücke, die er in der 1904 in Berlin erschienenen Revolutionären Theater-Bibliothek zusammenfasste u. von denen nur wenige gespielt wurden, so ungewöhnlich war seine Theaterauffassung. Schon 1889 rief er zusammen mit Georg Posener zur Gründung der »Einfachen Bühne« auf. Seine Theaterentwürfe umfassen u. a. ein Oratorium in Ballongondeln u. eine Riesenpantomime mit Fesselballons. 1907 brachte S. ein Mappenwerk mit allerlei gezeichneten Fabelwesen u. d. T. Jenseits-Galerie heraus. Drei Jahre später versuchte er das Rätsel des Perpetuum mobile zu lösen (Lpz. 1910), u. 1914 erschienen seine Vorstellungen einer Glasarchitektur (Bln. Neuausg.n Bln. 2000. Ffm. 2002), die so gewichtig waren, dass sie die Gebrüder Taut u. Luckhardt zum Zusammenschluss zu der Gruppierung »Die gläserne Kette« inspirierten. Als Pazifist trat S. 1909 mit der Flugschrift Die Entwicklung des Luftmilitarismus und die Auflösung der europäischen Land-Heere, Festungen und Seeflotten dem Militarismus Kaiserdeutschlands entgegen. Alle seine Werke weisen ihn aus als einen Meister des Fantastischen u. des Grotesken sowie als Skeptiker, der an der Sprache u. an der Wirklichkeit zweifelt.
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Hanns Heinz Ewers schrieb 1911 über S., er sei »der am wenigsten gelesene aller lebenden deutschen Autoren, und dabei ist er unser allerfeinster Humorist«. Die Expressionisten u. Dadaisten lasen ihn u. ließen sich von ihm beeinflussen. Mit seinen Vorstellungen von der Veränderung des Theaters hatte er Einfluss auf die Theaterkonzeption Alfred Jarrys. 1955 kam eine Auswahl seiner Texte in einer Reihe mit dem bezeichnenden Titel Verschollene und Vergessene heraus. Erst in jüngerer Zeit sind, nicht zuletzt dank der Aktivitäten der S.-Forscherin Mechthild Rausch, die meisten seiner Arbeiten in neuen Editionen zugänglich. Weitere Werke: Ausgaben: Ges. Arbeiten für das Theater. Hg. u. Nachw. v. Mechthild Rausch. 2 Bde., Mchn. 1977. – Ges. Werke in 10 Bdn. Hg. Joachim Körber, Uli Kohnle u. Thomas Bürk. Ffm. 1986–96. – Einzeltitel: Tarub, Bagdads berühmte Köchin. Arabischer Kulturroman. Bln. 1897. – Rakkóx, der Billionär. Ein Protzenroman. Lpz. 1901. – Die große Revolution. Ein Mondroman. Lpz. 1902. – Kometentanz. Astrale Pantomime in zwei Aufzügen. Lpz. 1903. Ffm. 1990. – Der Kaiser v. Utopia. Ein Volksroman. Bln. 1904. – Machtspäße. Arabische Novellen. Bln. 1904. – KaterPoesie. Paris/Lpz. 1909. – Lesabéndio. Ein Asteroiden-Roman. Mit 14 Zeichnungen v. Alfred Kubin. Mchn./Lpz. 1913. – Der alte Orient. Kulturnovelletten aus Assyrien, Palmyra u. Babylon. Hg. M. Rausch. Mchn. 1999. – Briefe: Briefw. mit Max Bruns 1898–1903 u. andere Dokumente. Hg. Leo Ikelaar. Ffm. u. a. 1990. – 70 Trillionen Weltgrüße. Eine Biogr. in Briefen. Hg. M. Rausch. Bln. 1991. Literatur: Bibliografie: Uli Kohnle: P. S. Eine Bibliogr. [Bellheim] 1994. – Weitere Titel: Hanns Heinz Ewers: P. S. In: Ders.: Führer durch die moderne Lit. Bln. 1911. – Walter Benjamin: Erfahrung u. Armut. In: Die Welt im Wort 1/10, 7.12.1933. – Arno Schmidt: Seifenblasen u. nord. Gemähre. In: Die Zeit, 25.1.1963. – Mechthild Rausch: P. S. – Eine Art Barbar. In: Berlin um 1900. Bln. 1984 (Ausstellungskat.). – Berni Lörwald u. a. (Hg.): Über P. S. 100 Jahre S.-Rezeption. 3 Bde., Paderb. 1998. – Leo Ikelaar (Hg.): P. S. u. Bruno Taut. Zur Gesch. einer Bekanntschaft. S.s Briefe der Jahre 1913–1914 an Gottfried Heinersdorff, Bruno Taut u. Herwarth Walden. Paderb. 1996. – M. Rausch: Von Danzig ins Weltall. P. S.s Anfangsjahre (1863–1895). Mit einer Ausw. aus P. S.s Lokalreportagen für den ›Danziger Courier‹ (1890). Mchn. 1997. – Helmuth Mojem: Algabal bei den Phantasten? Stefan George u. P. S. In: George-Jb. 4
275 (2002/03), S. 36–78. – Ralph Musielski: Bau-Gespräche. Architekturvisionen v. P. S., Bruno Taut u. der ›Gläsernen Kette‹. Bln. 2003. – Roland Innerhofer: ›Mir ist so orientalisch zu Muth‹ 1897. P. S. publiziert arab. Romane. In: Mit Dtschld. um die Welt. Eine Kulturgesch. des Fremden in der Kolonialzeit. Hg. Alexander Honold u. Klaus R. Scherpe. Stgt./Weimar 2004, S. 209–216. – M. Rausch: P. S. In: NDB. – Robert Hodonyi: P. S. u. Herwarth Waldens Verein für Kunst. Zur Konstellation v. Lit. u. Architektur in der Berliner Moderne um 1900. In: Wiss.en im Dialog. Hg. Noémi Kordics. Bd. 2, Großwardein 2008, S. 143–161. – Ders.: P. S. u. Herwart Waldens Ztschr. ›Der Sturm‹. Zum Dialog der Künste in der Berliner Moderne um 1900. In: Else-Lasker-Schüler-Jb. zur klass. Moderne 4 (2009), S. 65–90. – Clemens Brunn: Der Ausweg ins Unwirkliche. Fiktion u. Weltmodell bei P. S. u. Alfred Kubin. 2., durchges. u. aktualisierte Aufl. Hbg. 2010. – Josiah McElheny: The Light club. On P. S.’s ›The light club of Batavia‹. Chicago/London 2010. – Stefan Tetzlaff: P. S.s astrale Hermeneutik. Vorschlag zu einer Bestimmung des Begriffs ›Neoromantik‹. In: Hofmannsthal 18 (2010), S. 259–286. Ingrid Heinrich-Jost † / Red.
Schefer, (Gottlob) Leopold (Immanuel), * 30.7.1784 Muskau, † 16.2.1862 Muskau. – Erzähler, Lyriker, Komponist. Das einzige Kind eines Arztes († 1797) u. einer Pfarrerstochter wurde in den Kreis von Kindern um den Erben der Muskauer Standesherrschaft aufgenommen; mit Hermann Graf (später: Fürst) Pückler-Muskau verband ihn eine lebenslange Freundschaft (mit all den im Standesunterschied begründeten Schwierigkeiten). Erste Gedichte u. Kompositionen entstanden während der Schulzeit (seit 1799 am Gymnasium zu Bautzen). Seither führte S. ein Tagebuch (von dem 59 Foliohefte erhalten sind) mit Reflexionen seiner umfangreichen Lektüre, persönl. Standortbestimmungen u. Entwürfen für literar. Texte. 1804 kehrte S. nach Muskau zur kranken Mutter († 1808) zurück, entschlossen, sich autodidaktisch weiterzubilden u. die beschränkte bürgerl. Karriere nicht anzutreten, die ihm nach einem Universitätsstudium offengestanden hätte. Da Pückler, Standesherr in Muskau seit 1811, Offiziersdienste leistete, setzte er S. an die Spitze der standesherrschaftl. Verwal-
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tung, die mit alten Schulden belastet war u. unter Truppendurchmärschen u. -einquartierungen zu leiden hatte. S. bewährte sich, auch gegenüber der bedrückten Bevölkerung aus Deutschen u. Sorben. 1815 konnte er eine geordnete Verwaltung übergeben u. reiste mit Pückler nach England (u. a. um Parkanlagen zu studieren). 1816 trat er schließlich die »große Reise« an, die er seine »Lebensuniversität« nannte: In Wien studierte er Musik (u. a. bei Salieri) u. erweiterte seine Sprachkenntnisse um Neugriechisch, Türkisch u. Koptisch. 1817–1819 lernte er Italien, Griechenland u. den östl. Mittelmeerraum bis nach Kleinasien kennen; er hielt sich mehrfach in Rom auf u. hatte Kontakte zur dt. »Kolonie« aus Künstlern u. Gelehrten. 1821 heiratete er in Muskau Johanna Friederike Lupke u. zog mit ihr fünf Kinder groß. Leben konnte er zunächst von einer Pension, die Pückler ihm ausgesetzt hatte, doch zunehmend von Honoraren für eine wachsende u. erfolgreiche literar. Produktion. Zuletzt unterstützte ihn auch die Schillerstiftung. 1811 war auf Betreiben Pücklers ein erster Lyrikband (Gedichte mit Kompositionen. Bln.) von S. erschienen; 1822 veröffentlichte er die »neugriechische« Novelle Palmerio im »Taschenbuch zum geselligen Vergnügen für 1823« (Lpz.). Damit begann eine Schriftstellerkarriere, die im Zusammenhang mit den Veränderungen im Bereich des »Literatursystems« während der »Biedermeier«-Zeit zu sehen ist: Gefragt waren erzählende Texte, die ehrbare Unterhaltung mit realistischer Information verbanden u. dabei die Leser gleichsam persönlich ansprachen. Für die sich unterhalb des Höhenkamms der Kunstliteratur durchsetzenden neuen Prosaformen, die v. a. in Taschenbüchern u. Almanachen erschienen, war S. (neben Tieck beispielsweise) einer der repräsentativen Autoren. S. reüssierte zunächst mit Griechennovellen: Der griech. Freiheitskampf gegen die Türkei fand in Deutschland große Sympathie; zudem konnte S. eigene Erlebnisse vorweisen. Doch das Themenspektrum seiner über 80 Novellen, Erzählungen u. Romane ist wesentlich breiter; in ihnen zeigt sich ein scharfer Blick für die Wirklichkeit seiner Zeit. Er griff histor. Stoffe auf, in deren Darstel-
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lung die Leser eigene Situationen wiederfin- Clausen: L.-S.-Bibliogr. Werk u. Rezeption den konnten (z. B. Göttliche Komödie in Rom. 1799–1984. Ffm. 1985. – Dies. u. Lars Clausen: Zu Cottbus 1841; über die Verfolgung Giordano allem fähig. Versuch einer Sozio-Biogr. zum VerBrunos), u. behandelte soziale Probleme feu- ständnis des Dichters L. S. 2 Bde., Ffm. 1985. – Dies.: ›Ich habe mich nicht zerstreut‹. L. S. als Gedaler Standesherrschaft (z. B. in Graf Promnitz, neralinspektor v. Muskau (1811–1815). In: Kulder letzte seines Hauses. Ebd. 1842. Der Hirten- turtypen, Kulturcharaktere. Träger, Mittler u. knabe Nikolas, oder der deutsche Kinderkreuzzug im Stifter v. Kultur. Hg. Wolfang Lipp. Bln. 1987, Jahre 1212. Lpz. 1857). In einer Reihe von Er- S. 107–123. – Wolfgang Albrecht: L. S., ›Die Dezählungen stellte er Auswanderung u. Aus- portierten‹. In: Dt. Erzählprosa der frühen Rewandererschicksale dar. Darüber hinaus the- staurationszeit. Studien zu ausgew. Texten. Hg. matisierte er den Status der Kunst u. die Bernd Leistner. Tüb. 1995, S. 112–144. – ErnstStellung des Künstlers. Immer wieder gelang Jürgen Dreyer: Salieris zweiundzwanzigster Schües S., die Begrenzungen der Taschenbuch- ler: der Muskauer Dichterkomponist L. S. In: Jb. prosa produktiv zu überschreiten. Als Her- des Staatl. Instituts für Musikforsch. Preuß. Kulturbesitz 1998, S. 277–297. – Bernd-Ingo Friedausgeber betreute er den Almanach »Helena« rich: L. S.: Dichter, Komponist 1784–1862. Görlitz (4 Bde., Bunzlau 1837–40). 2005. – Nikolaus Gatter: L. S. In: NDB. – E.-J. Den wohl nachhaltigsten Erfolg beim Pu- Dreyer u. B.-I. Friedrich: ›Mit Begeisterung u. nicht blikum brachte S. Das Laienbrevier (2 Bde., Bln. für Geld geschrieben‹. Das musikal. Werk des 1834/35. Lpz. 191898). Es enthält für jeden Dichters L. S. Görlitz/Zittau 2006. Tag des Jahres Lehrgedichte, in denen S. Joachim Linder / Red. »subtile sinnliche Erfahrung zu Kontrastund Bilderreichtum« umsetzte (Clausen Scheffel, Joseph Viktor von (seit 1876), 1985, Bd. 1, S. 241). In den 1850er Jahren * 16.2.1826 Karlsruhe, † 9.4.1886 Karlserschien zudem Liebeslyrik, für deren Inten- ruhe; Grabstätte: ebd., Hauptfriedhof. – sität die Zeitgenossen nur mehr wenig Ver- Erzähler, Versepiker, Lyriker. ständnis aufbrachten (Hafis in Hellas. Hbg. 1853. Koran der Liebe nebst kleiner Sunna. Ebd. Zu seinem 50. Geburtstag gratulierte S. das 1855). Von Nachruhm kann man bei S. kaum national empfindende Deutschland – sprechen: Nach 1850 geriet seine eigenwillige Reichskanzler Bismarck u. der badische LanVerbindung von Unterhaltung, Exotik u. desfürst an erster Stelle – mit »allgemeinen realistisch-krit. Wirklichkeitsblick außer Ovationen«, die das für einen lebenden Konjunktur. Erst Arno Schmidt hat mit eini- Dichter gekannte Maß weit überstiegen. 1886 ger Resonanz wieder auf ihn aufmerksam galt er förmlich als »Lieblingsdichter des neuen [d. h. des 1871 geeinten] Deutschgemacht. Weitere Werke: Gesänge zum Pianoforte. Lpz. lands« (Konrad Alberti). Diesen Ruhm ver1812. – Novellen. 5 Bde., ebd. 1825–29. – Neue dankte S. drei Werken: der Verserzählung Der Novellen. 4 Bde., ebd. 1831–35. – Lavabecher. 2 Trompeter von Säckingen (Stgt. 1854), dem EkBde., Stgt. 1833 (N.n). – Die Gräfin Ulfeld oder die kehard. Eine Geschichte aus dem 10. Jahrhundert 24 Königskinder. 2 Bde., Bln. 1834 (R.). – Kleine (Ffm. 1855) u. der Sammlung Gaudeamus. Romane. 6 Bde., Bunzlau 1836/37. – Vigilien. Gu- Lieder aus dem Engeren und Weiteren (Stgt. 1868). ben 1843 (L.). – Ausgew. Werke. 12 Bde., Bln. 1845/ Wiewohl zuletzt erschienen, waren diese z. T. 46. – Die Sibylle v. Mantua. Hbg. 1852 (E.). – schon 1846/47 in Heidelberg entstandenen Hausreden. Dessau 1855 (L.). – 13 Gedichte u. Liestudentischen Lieder (u. a. Als die Römer frech der. Hg. Bettina Clausen. Ffm. 1984. – Der Waldgeworden, Im schwarzen Walfisch zu Askalon, Altbrand. Ges. E.en. Hg. Klaus Völker. Ffm. 1985. – ›Später Abend mit goldenem Rand‹. Die besten Heidelberg, du feine), durch ZeitschriftenabSeiten v. L. S. Ausw. u. mit Anmerkungen vers. v. drucke u. Abschriften schon seit 1848 weit verbreitet, für S.s Popularität die eigentl. Bernd-Ingo Friedrich. Bad Muskau 2006. Literatur: Arno Schmidt: Der Waldbrand oder Ursache. Den von 1870 bis in die Weimarer vom Grinsen des Weisen. In: Ders.: Belphegor. Republik gleichbleibend hohen VerkaufsKarlsr. 1961, S. 180–229. – Albin Lenhard: Zur zahlen (allein die Originalausgabe des TromErzählprosa L. S.s. Köln/Wien 1975. – Bettina peters erreichte bis 1927 334, die des Ekkehard
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bis 1918 284 Auflagen) entsprach keine gleichbleibend hohe Wertschätzung. Noch vor dem Ersten Weltkrieg setzte die heftige literar. Kritik an der »Gefühlswelt der Altdeutschelei« (Hermann Hesse) ein. Die mit den erzählten Stoffen vorgegebenen Probleme – die Krise einer Künstlerbiografie im Trompeter, die nationale Krise des Kampfes mit den Hunnen u. das auf die Gegenwart zu übertragende krisenhafte Verhältnis von Macht u. Religion im Ekkehard – überdeckte S. durch episod. Anlage u. humoristischen Grundton (Trompeter) bzw. durch eine statische u. auf Effekte hinzielende Erzählweise (Ekkehard). Sein Erfolg mit solchen auf Glättung u. Verharmlosung ausgerichteten Werken in einer Zeit, die durch ihre stürmische soziale Entwicklung nicht nur optimistisch, sondern auch angstvoll in die Zukunft blicken ließ, ist daher leicht verständlich. S. verstand sein Werk, im Wesentlichen in einem zehn Jahre umfassenden Zeitraum hoher Produktivität entstanden, zuvörderst als Unterhaltung. »Gern trägt die Meerflut leichten Sinn und leichte Ware«, machte er sich in der Zueignung zum Trompeter Mut – wie er sich im Vorwort des Ekkehard gegen alle wendet, die »scharfes Benagen harmlosem Genießen vorziehen«. Erst unter dem Druck des Erfolgs wandelte er sich vom »Geselligen Unterhalter« u. Gelegenheitsautor zum Dichterfürsten, ein Status, der ihm bald zur Bürde wurde. Sein 1857 Karl Alexander von Weimar gegebenes Versprechen, einen ernsten Wartburg-Roman zu schreiben, konnte er trotz intensiver Vorarbeiten nicht halten. Später gelangen ihm nur noch Opuscula. Und er, der als Unterhalter, nicht jedoch als Künstler hätte bestehen können, rettete sich wie sein Trompeter in die Klage: »Ach, ich bin ein Epigone.« Für das große Publikum war S. weder der feinsinnige Epigone noch der kränkl., oft depressive Melancholiker, als der er sich den Freunden anvertraute; man wollte den Dichter so vieler heiterer Verse gelassen, in sich ruhend sehen – so wie ihn der Freund (u. Illustrator von S.-Prachtausgaben) Anton von Werner vor dem Hohentwiel zeigt. S. unterstützte dieses Image in der Rolle des zufrie-
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denen Gutsherrn (seit 1872) der »Seehalde« bei Radolfszell u. durch die ungewollte, aber doch perfekte Inszenierung als Wanderpoet. Dabei suchte er auf seinen zahlreichen Wanderungen weniger dichterische Anregung als Fluchträume. Zu dieser Zeit hatte er kaum noch etwas gemein mit dem »blonden, bescheidenen und heiteren, fast mädchenhaft dreinschauenden«, dabei hochbegabten Sohn eines Ingenieurs u. badischen Majors im Staatsdienst, als der er in seiner produktiven Phase geschildert wurde. Die Begabung verhalf S., der als Abiturient »Primus omnium« gewesen war u. sein Jurastudium (1843–1847) in Heidelberg, Berlin u. München hervorragend abgeschlossen hatte, nach der dt. Revolution jedoch nicht dazu, im bürgerl. Leben Fuß zu fassen. Nachdem er 1848 in Frankfurt/M. als Sekretär dem badischen Bundesabgesandten Welcker zur Seite gestanden war u. im Mai 1849 auf der Seite der Konstitutionellen, also gegen die radikalen Republikaner, gekämpft hatte, legte er zwar 1849 noch sein Doktorexamen ab, war auch zwei Jahre in Säckingen u. Bruchsal als Rechtspraktikant tätig, gab dann aber die Beamtenlaufbahn auf. Auf einer Italienreise wollte er sich 1853 als Maler ausbilden. Als er im folgenden Jahr zurückkehrte, hatte er nur einige Skizzen, dafür aber das vollständige Manuskript des Trompeters in der Tasche. Der Versuch einer Universitätskarriere scheiterte ebenfalls. Schon sein erstes Studienobjekt für eine projektierte Habilitation, die Chronik von St. Gallen, verführte ihn über die Übersetzung des Walthari-Liedes (ersch. Stgt. 1874) wieder zur Poesie, zu seinem histor. Ekkehard-Roman. Der zunächst zögernde, dann massiv einsetzende Erfolg nahm ihm jede weitere Berufsentscheidung ab (1857 katalogisierte er als Fürstenbergischer Bibliothekar noch die fürstl. Hofbibliothek in Donaueschingen). Zahlreiche Reisen u. längere Aufenthalte (u. a. mit Anselm Feuerbach nach Venedig; München, Paris, Niederrhein, Alpen, Schweiz) folgten. Die Ehe mit der bayerischen Diplomatentochter Caroline von Malsen scheiterte schon nach zwei Jahren (1866) – wie zuvor die Liebe zu seiner Cousine Emma Heim. Bei aller Rat- u. Rastlosigkeit seines Lebens blieb S.
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auf sich allein gestellt integer u. weitsichtig. Scheffer, Thassilo von, * 1.7.1873 PreuDen kranken Vater u. Bruder pflegte er auf- ßisch Stargard/Danzig, † 27.11.1951 Beropfernd, zu Beginn des Deutsch-Französi- lin; Grabstätte: ebd. – Dichter u. Überschen Kriegs bereitete er Notlager für die setzer. Verwundeten vor u. stimmte auch nicht in Aus einer spät geadelten ostpreuß. Familie den nationalistischen Siegesjubel ein. Ist S.s Ruhm auch längst verblasst – der stammend, verbrachte S. die Kindheit auf 1890 gegründete Scheffel-Bund bildet mit dem väterl. Gut, später aus gesundheitl. mehr als 5000 Mitgliedern immer noch die Gründen in Südwestdeutschland. Er studierzahlenmäßig größte literar. Gesellschaft in te Jura u. neuere dt. Philologie in Straßburg, Königsberg u. Freiburg i. Br. u. lebte danach der BR Deutschland. in Süddeutschland u. Italien, meist aber in Weitere Werke: Frau Aventiure. Lieder aus Heinrich v. Ofterdingens Zeit. Stgt. 1863. – Juni- Berlin. S. bediente sich in seiner Lyrik strenger perus. Gesch. eines Kreuzfahrers. Stgt. 1868. – Bergpsalmen. Stgt. 1870. – Waldeinsamkeit. Stgt. Formen u. suchte schon in seiner ersten 1880 (L.). – Hugideo. Stgt. 1884 (entstanden 1857; Sammlung, Die Eleusinien (Bln. 1898), die BeE.). – Krit. Ausg. in 4 Bdn. Hg. Friedrich Panzer. gegnung mit der antiken Mysterienreligion. Lpz./Wien 1919. – Briefe ins Elternhaus. Hg. Wil- Diesem Band folgten Neue Gedichte (Mchn. helm Zentner. 5 Bde., Karlsr. 1926–51. 1907), später die Sammlung Die Gedichte (Bln. Literatur: Bibliografie: J. V. v. S. Bibliogr. 1945 1939). So bedeutend diese Lyrik auch ist, S.s bis 2005. Zusammengestellt v. Stefan Schank u. große Leistung liegt in seiner Arbeit als Jürgen Oppermann. Karlsr. 2005 (online). – Weitere Übersetzer. Seine versgetreue Übertragung Titel: Johannes Proelß: S.s Leben u. Dichten. Bln. 1887. – Manfred Lechner: J. V. v. S. Eine Analyse der Ilias (Mchn. 1913) u. der Odyssee (ebd. seines Werkes u. seines Publikums. Diss. Mchn. 1918) erlangte größere Verbreitung als die 1962. – Rolf Selbmann: Dichterberuf im bürgerl. etwa gleichzeitig entstandene von Rudolf Zeitalter. J. V. v. S. u. seine Lit. Heidelb. 1982. – Alexander Schröder. In jahrelanger Mühe Günther Mahal: J. V. v. S. Versuch einer Revision. verdeutschte er die Dionysiaka des Nonnos Karlsr. 1986. – Hans-Otto Hügel: J. V. v. S. Gesel- (ebd. 1926–33. 2. Aufl. Wiesb. [1953]) u. die liger Unterhalter – gefeierter Künstler. In: Lit. im Argonauten von Apollonios Rhodios (Lpz. dt. Südwesten. Hg. Bernhard Zeller u. Walter 1940). Seine Nacherzählungen griech., röm. Scheffler. Stgt. 1987, S. 231–241. – Theo in der Smitten: ›Daß bei den Rosen gleich die Dornen u. german. Sagen gehörten 1925–1959 zu den stehn ...‹. J. V. v. S.s ›Trompeter v. Säkkingen‹. In: meistgelesenen Sammlungen. In seiner Esdie horen 37 (1992), 3, S. 72–81. – Barbara Potthast: sayistik umkreist S. Homer, aber auch die Zu Signaturen ästhet. Erinnerung in J. V. v. S.s griech. Religion u. ihre myth. Wurzeln; er ›Ekkehard‹ (1855). In: Euph. 94 (2000), S. 205–224. beschäftigt sich mit Mysterien, Orakeln, – Klaus Gantert: ›Neigung zieht mich nach der Sternsagen u. Kultbünden der frühgriech. Wartburg, Pflicht hält mich an der Donau stillem Gesellschaft. Die moderne Homer-Diskussion Quell‹. J. V. v. S.s nie verwirklichter Wartburgronimmt nicht mehr auf S. Bezug. man. In: Euph. 96 (2002), S. 469–493. – J. V. v. S. (1826–1886). Ein dt. Poet – gefeiert u. geschmäht. Hg. Walter Berschin. Ostfildern 2003. – Hansgeorg Schmidt-Bergmann: J. V. v. S. In: NDB. – Marcel Krings: ›Donnerwetter, wie haben wir uns blamiert!‹ S.s Hegelstudien u. die Badische Revolution. In: Von der Spätaufklärung zur Badischen Revolution. Literar. Leben in Baden zwischen 1800 u. 1850. Hg. Achim Aurnhammer, Wilhelm Kühlmann u. Hansgeorg Schmidt-Bergmann. Freib. i. Br. 2010, S. 683–701. Hans-Otto Hügel
Weitere Werke: Die Schönheit Homers. Bln. 1921. – Homer u. seine Zeit. Wien 1924. – Die Kultur der Griechen. Ebd. 1935. Köln 2001. – Hesiod. Wien. 1936 (Übers. sämtl. Werke). – Vergils Aeneis. Lpz. 1943. Mchn. 1995 (Übers.). – Die Metamorphosen des Ovid. Wiesb. 1948. Zürich 1998 (Übers.). Literatur: Rudolf Pfeiffer: Die dt. Odyssee von T. v. S. In: Das humanist. Gymnasium 29 (1919), S. 150–154. – H. E. Schwarz: Der Leidensweg eines Dichters. S.s letzte Jahre. In: Neue Lit. Welt 3 (1952), Nr. 23, S. 7. – Herbert Schönfeldt: S. In: ebd., Nr. 3, S. 16 f. Hermann Schreiber / Red.
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Scheffler, Johannes ! Angelus Silesius Scheffler, Karl, * 27.2.1869 Eppendorf (heute zu Hamburg), † 25.10.1951 Überlingen; Grabstätte: ebd., Friedhof. – Kunstjournalist, Redakteur.
Scheffner Mühe galt: die Kunst‹ – K. S. (1869–1951). Zusammengestellt u. erarbeitet v. Michael Krejsa u. Anke Matelowski. Bln. 2006. Literatur: Max J. Friedländer: [Nachruf]. In: Kunstchronik 4 (1951) S. 320 f. – Sigrun PaasZeidler: Kunst u. Künstler (1902–33). Diss. Heidelb. 1975. – Gast Mannes: Aline Mayrisch u. die dt. Kunstkritik unter bes. Berücksichtigung v. K. S. In: Galerie 11 (1993), H. 1, S. 46–62. – Dieter Scholz: Max Liebermann u. K. S. In: Jb. der Berliner Museen 39 (1997), S. 157–168. – Andres Zeising: K. S. u. das ›Phantom Großstadt‹. Zur Kontinuität kulturpessimist. Deutungsmuster nach 1945. In: Kunstgesch. nach 1945. Hg. Nikola Doll u. a. Köln/ Weimar/Wien 2006, S. 113–123. – Ders.: Los v. Italien! K. S.s ›Tgb. einer Reise‹. In: Die Grand Tour in Moderne u. Nachmoderne. Hg. Joseph Imorde u. a. Tüb. 2008, S. 151–171.
S. erlernte das Stubenmalerhandwerk, besuchte eine Kunstgewerbeschule u. arbeitete als Ornamentzeichner. Unter dem Einfluss von William Morris begann er zu schreiben, wurde in Berlin, wo er seit 1888 lebte, von Maximilian Harden u. Julius Meier-Graefe gefördert, bildete sich autodidaktisch weiter u. entwickelte sich zu einem führenden Kunst- u. Architekturkritiker. Zwischen 1894 u. 1946 entstanden mehr als 50 Bücher in Winfried Hönes † / Red. glänzender Diktion (Der Geist der Gotik. Lpz. 1919. Geschichte der europäischen Malerei vom Klassizismus bis zum Impressionismus. Bln. 1926. Scheffner, Johann George, * 8.8.1736 KöForm als Schicksal. Zürich 1939). 1906–1933 nigsberg, † 16.8.1820 Königsberg. – Lywar S. Chefredakteur der liberalen Zeitschrift riker. »Kunst und Künstler« (Berlin). 1944 verlieh Der Sohn eines preuß. Beamten u. Gutsihm die Universität Zürich die Ehrendoktorpächters hatte nach dem Jurastudium in Köwürde, während ihn die offizielle dt. Kunstnigsberg (1752–1757) eine Sekretärsstelle bei wissenschaft nur ungern zur Kenntnis nahm. dem Herzog Carl von Holstein-Beck inne. Am S. setzte sich für die Impressionisten (Max Siebenjährigen Krieg nahm S. als Freiwilliger Liebermann. Mchn. 1906) u. die moderne Arteil (1761–1763), wobei er die Züge seines chitektur (Henry van de Velde. Lpz. 1913) ein. Regiments dazu nutzte, um mit literar. GröDie Expressionisten waren ihm fremd, Verßen wie Christoph Otto Frhr. von Schönaich, treter der abstrakten Malerei bekämpfte er. Gottsched u. Lessing in Verbindung zu treSeine Autobiografie Die fetten und die mageren ten. Seine Lyrik aus dieser Zeit (CampagnenJahre (Mchn. 1946) ist eine wichtige Quelle für Gedichte zum Zeitvertreib im Lager. Dresden die jüngere dt. Kunstgeschichte. 1761; z.T. erneut in Freundschaftliche Poesien Weitere Werke: Paris. Lpz. 1908. – Italien. Tgb. eines Soldaten. Bln./Lpz. 1764) gehört, anders einer Reise. Lpz. 1913. – Die Europ. Kunst im 19. Jh. 2 Bde., Bln. 1927. – Max Slevogt. Bln. 1940. – als Gleims Grenadierlieder, nicht zur polit. Eine Ausw. seiner Essays. Hg. G. Carl Heise u. Jo- Publizistik der Kriegsjahre. Vor dem Hinterhannes Langner. Stgt. 1969. – Briefe zwischen K. S. grund des als roh geschilderten Soldatenleu. Max Schwimmer (1925–1949). Hg. Ernst Braun. bens wird die schöngeistige Lebensform der In: Marginalien 121 (1991), S. 8–42; 122 (1991), dichtenden Intelligenz entworfen. 1764 S. 36–59. – Der Architekt u. andere Ess.s über lernte S. Ramler in Berlin kennen, der sein Baukunst, Kultur u. Stil. Bln. u. a. 1993. – Ernst literar. Urteil entscheidend prägte. 1765 Volker Braun: Max Tau u. K. S. in ihren Briefen u. wurde S. Sekretär der Kriegs- u. DomänenErinnerungen. In: ›Ein symbolisches Leben‹. Bei- kammer in Königsberg. Seit 1767 Kriegs- u. träge anläßlich des 100. Geburtstages v. Max Tau Steuerrat in Gumbinnen, versetzte man ihn (1897–1976). Hg. Detlef Haberland. Heidelb. 2000, 1770 in gleicher Funktion nach Königsberg u. S. 137–164. – Briefe einer Freundschaft. K. S. u. Gerhard Gollwitzer (1933–1951). Hg. u. komm. v. 1772 nach Marienwerder. 1775 nahm er seiE. Braun. Dresden 2002. – Max Liebermanns Briefe nen Abschied. S. lebte zunächst in Stolzenberg bei Danan K. S. Hg. E. Braun. In: Jb. der Berliner Museen 44 (2002), S. 223–249. – ›... das Wort, dem alle zig, erwarb 1780 das Gut Sprintlack bei Ta-
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piau u. bewirtschaftete nach dessen Verkauf das Gut Ebertswalde. 1795 zog er für den Rest seines Lebens nach Königsberg. Als Gutsherr bemühte er sich um die Verbesserung des Dorfschulunterrichts durch Verbreitung neuerer pädagog. Literatur, darunter der Schriften Rochows. Seit 1761 gehörte er der Drei-Kronen-Loge in Königsberg an. 1787 gab er (mit einer Vorrede von Hippel) das Gesangbuch für Freymäurer heraus (erste Lieder in Lieder für Frey-Mäurer. Marienberg 1775), veröffentlichte in seinen Spätlingen (Königsb. 1803) Freimaurerlieder u. schrieb den Artikel P. M. über die Freymaurerey in Schenkendorfs Studien (H. 1, Bln. 1808). Zwischen 1775 u. 1795 unternahm S. mehrere Reisen, darunter nach Berlin, wo er den Kontakt mit dem Buchhändler J. F. La Garde pflegte. Diesem hatte er den Verlag von Kants Kritik der Urteilskraft verschafft, worauf La Garde sich mit einer zweiten, veränderten Auflage der Freundschaftlichen Poesien (Bln. 1793) – es war die Zeit der Koalitionskriege – u. einer wenig erfolgreichen Sammlung von Aufsätzen aus Kalendern u. Taschenbüchern »zur Beförderung des Vernunftglaubens« (Aehrenlese vom Calenderfelde. 2 Bde., Königsb. 1792 u. 1794) revanchierte. In den Königsberger Jahren wuchs S. in eine polit. Rolle hinein. In seiner Lichtenberg folgenden, aber mehr trockenen denn satir. Aphorismensammlung Gedanken und Meynungen über Manches im Dienst und über andere Gegenstände (Königsb. 1802. 21804. Bd. 2,1, 1806. Bd. 2,2, 1812. Bd. 2,3, 1821) unterstützte er (bes. im ersten Teil) die Bemühungen des preuß. Königs um ein neues Pflichtbewusstsein der Beamten (s. Kabinettsbefehle 1797 u. 1800). Vor allem aber diente er Hans Jakob von Auerswald u. dem Freiherrn vom Stein als Berater u. Publizist. Im Konflikt um die Aufhebung der Erbuntertänigkeit u. der Patrimonialjustiz wie im Bemühen um die Volksbildung setzte er sich für die Ziele der reformbereiten Staatsbeamten ein. S. ist wahrscheinlich der Verfasser der anonym erschienenen u. sofort verbotenen Schrift Ueber die Aufhebung der Erbuntertänigkeit in Preußen (Königsb. 1803. Verbot 1807 aufgehoben. Auch in Studien. H. 1, Bln. 1808). 1813 unterstützte er zwei Wochen vor der Kriegser-
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klärung den von Arndt u. vom Stein initiierten polit. Meinungsbildungsprozess, indem er mit Versen (Ein Vierblatt-Klee gewachsen unter Eis und Schnee. [Königsb.] 1813) an die Fürsten appellierte, den Kampf gegen Napoleon aufzunehmen. 1810 wurde S. Mitgl. der »Kgl. Deutschen Gesellschaft« in Königsberg, deren Direktor er 1813/14 kurzfristig war. Literaturgeschichtlich überlebt hat S. vor allem wegen seiner persönl. u. briefl. Verbindungen zu Schönaich, Gottsched, Ramler, Herder, Hamann, Hippel (mit dem ihn eine langjährige Freundschaft verband, dessen Vorstellungen von der gesellschaftl. Rolle der Frau er aber nicht teilte) u. Kant (zu dessen Tischgesellschaft er gehörte) sowie zu Mitgliedern des preuß. Königshauses u. der preuß. u. ostpreuß. Regierung. Von diesen Kontakten zeichnet seine Autobiografie ein beschönigendes Bild. Seine Briefe lassen einen in seinem Urteil unsicheren Mann erkennen, der sich den Denkrichtungen seiner Adressaten anzupassen verstand. S. blieb der Regelpoetik u. dem Glauben an den normativen Wert der »Alten« verpflichtet. Seine Rezension von Herders Fragmenten in den »Königsbergschen Gelehrten und Politischen Zeitungen« (1767) belegt, dass ihm dessen histor. Betrachtungsweise fremd war. Er verstand das Werk als eine Sammlung von Regeln für Kritiker u. Dichter. Allein mit seiner von der Kritik zurückhaltend rezipierten, anonym erschienenen erot. Lyrik hat S. individuelles Profil gewinnen können. Ihr liegt sein nur bedingt gelungener Versuch zugrunde, sinnl. Liebe in der Tradition des Ovid u. empfindsam-geistige Liebe nach dem Vorbild Petrarcas miteinander zu verbinden. Seine Gedichte im Geschmack des Grécourt (Lpz. [Königsb.] 1771. Verb. 21773. London [Danzig] 31780. Ab 4., rev. Aufl. London [Bln.] 1786 u. 5. Aufl. Paris [Bln.] 1792 u. d. T. Gedichte nach dem Leben. Neudr. von 1792, hg. Simon Bunke. Hann. 2008, Nachw. S. 157–170) thematisieren gewagt u. provozierend die körperl. Liebe. Wieland verurteilte sie als »ekelhafte Obscönitäten« u. »unflätigsten Priapismus« (Brief an Johann Georg Jacobi, 6.11.1771). S. versuchte die Akzeptanz seiner Verse dadurch zu sichern, dass er sie 21773 als das Werk zweier
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Weitere Werke: Jugendl. Gedichte. Königsb. adliger Offiziere ausgab (Vorrede). Denn allein dem Adel gestand man erot. Freizügig- 1761. – Der Treue Schäfer. Ein Schäferspiel a. d. I. keit zu. Ein Schritt auf dem Weg, Erotik als des Baptista Guarini. Mietau/Hasenpoth 1773. – etwas Natürliches, dem Menschen Zugehöri- Acheron u. Antiacheron. Königsb. 1799 (erneut in ›Spätlinge‹. Verf. des ›Acheron‹ ist Frhr. v. Eelking. ges darzustellen, signalisiert die TiteländeBremen 1798). – [Zeitreime. Gedichte v. J. G. S.] rung ab der 4. Auflage. Damit zerstörte S. das (Ohne Titelblatt, 260 S.n, 125 Gedichte zwischen in der anakreont. Dichtung beliebte apolo- 1806 u. 1816. Einziges gedrucktes Ex. in UB Bonn). getische Argument, dass es sich bei den erot. – Mein Leben. Lpz. 1816 (ausgeliefert 1823). – Versen um literar. Fiktion u. poetische Imi- Nachlieferungen zu meinem Leben. Lpz. 1884. – tation großer Vorbilder handle (gleichwohl Briefe von u. an S. Hg. Arthur Warda u. Carl Diesch. ist fast allen Gedichten ein Motto aus der 5 Bde., Mchn./Lpz. 1916–38. Liebesdichtung seit der Antike vorangestellt), Literatur: Arthur Plehwe: J. G. S. Diss. Ködie mit realer Lebenspraxis wenig zu tun nigsb. 1934 (dort auch die ältere biogr. Lit.). – hätten. Dieser Weg mündet in der unter dem Margarete Frey: Über die Gedichte von J. G. S. In: Pseudonym ›Freyherr v. d[er] G[oltz]‹ her- Preußenland. Mitteilungen der histor. Kommission ausgegebenen, vierbändigen Sammlung Na- für ost- u. westpreuß. Landesforsch. 8 (1970), Nr. 4, S. 52–55 (über die aufgefundenen [Zeitreime]). – türlichkeiten der sinnlichen und empfindsamen Heinz Schlaffer: Musa iocosa. Stgt. 1971. – Ernst Liebe ([Königsb.] 1798), deren Titel Programm Weber: Lyrik der Befreiungskriege (1812–15). Stgt. ist. Während der erste Band die 6. Auflage der 1991. – Uwe Hentschel: Erot. Dichten u. bürgerl. Gedichte von 1771 enthält (der vierte eine Wohlverhalten am Beispiel v. J. G. S. In: WW 43 Übersetzung der Basia des Johannes [Jan] (1993), H. 1, S. 25–35. – Kevin F. Hilliard: Petrarca Secundus [1511–1536]; Neuausg. lat./dt. hg. in der erot. Lyrik v. J. G. S. In: Francesco Petrarca in u. mit einem Nachw. vers. von Simon Bunke. Dtschld. Hg. Achim Aurnhammer. Tüb. 2006, Bielef. 2010), bringt der dritte eine Neuauf- S. 375–394. Ernst Weber lage der Erotischen Gedichte (Bln. 1780) nebst dem mit Wieland unter dem zu Lebzeiten S.s Scheib, Asta (Agnes), geb. Fuchs, * 27.7. nie aufgedeckten Pseudonym v. d. G. ge1939 Bergneustadt/Rheinland. – Erzähführten Briefwechsel. Zwar hat zu diesen lerin, Journalistin, Drehbuchautorin. Gedichten Petrarca als Vorbild empfindsamer Liebe Pate gestanden, doch handelt es sich um Nach ihrer Ausbildung als Textilingenieurin eine »raffinierte Kontrafaktur«, durch welche war S. journalistisch tätig u. arbeitete dieser »in ein sinnlicheres Idiom übersetzt« 1976–1987 als Redakteurin bei bekannten (Hilliard) wird. Denn S. gestaltete die Verse Frauenzeitschriften. Ihren ersten literar. Erso, dass sie – wie auch die empfindsame Liebe folg hatte sie, als Rainer Werner Fassbinder recht weit fassenden Doris-Gedichte im 1974 ihre Erzählung Angst vor der Angst verzweiten Band – als Lebensdokumente er- filmte. Daraus entstand der Roman Langsame scheinen, zumal das Liebesgeschehen in der Tage (Mchn. 1981), eine psycholog. Studie bürgerl. Welt angesiedelt u. Merkmale der über eine junge Frau, die als Folge tiefer Literarizität ausgeblendet sind. S.s literatur- Einsamkeit Artikulationsschwierigkeiten geschichtl. Leistung besteht darin, dass er die hat. Trennung von hoher u. niederer Minne aufS.s großer Durchbruch war der Roman hob u. antiker u. moderner Liebesauffassung Kinder des Ungehorsams (ebd. 1985), der von einen größeren Lebensbezug u. damit mehr Luthers Familienleben u. seiner Ehe mit KaGlaubwürdigkeit gegeben hat. – Johannes tharina von Bora handelt. Damit lenkte S. die Bobrowski erinnert in seiner Erzählung Epi- Aufmerksamkeit auch auf ihre vorangegantaph für Pinnau (1962) an den fast vergessenen genen Romane wie z.B. Schwere Reiter (Mchn. »amorosen Poeten« als Mitgl. der Kant’schen 1982), eine Persiflage auf das Easy-RiderTischgesellschaft sowie mit drei seiner Ge- Syndrom. Zwei ältere Damen reisen auf eidichte in der von ihm herausgegebenen An- nem Motorrad durch Deutschland, auf der thologie Wer mich und Ilse sieht im Grase (Hanau Suche nach dem eigenen Ich. Wegen ihrer 1965, S. 75–79). unkonventionellen Beschäftigung mit der
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weibl. Psyche u. durch die originellen Lösungsvorschläge für aktuelle Probleme sicherte sich S. die Aufmerksamkeit der Kritik. Im Gegensatz hierzu bietet der spätere Roman Der Austernmann (Hbg. 2004) Einblick in eine männl. Psyche. Geschrieben wird aus der Sicht eines Mannes, dessen Unfähigkeit, Gedanken u. Gefühle zu äußern, ihn in eine ›Auster‹ verwandelt. Als ihn seine Frau verlässt, geht er im Rückblick den Gründen seines Schweigens nach. Der Roman Diesseits des Mondes (Mchn. 1988) verbindet das Deutschlanderlebnis einer jungen Israelin mit der Lebensgeschichte eines Schriftstellers u. Journalisten. Dieser findet unter dem Eindruck der tragisch endenden Liebe der Jüdin zu einem jungen dt. Adligen zu seiner Frau zurück. Im Thema nahe am Klischee besticht der Roman durch eine dichte u. bildhafte Prosa. Gemeinsam mit Martin Walser schrieb S. den Kriminalroman Armer Nanosh (Ffm. 1989), der 1989 als »Tatort«-Fernsehspiel gesendet wurde. Seit 1992 verfasste S. mehrere Drehbücher für bekannte Fernsehserien u. arbeitete von 1992 bis 1999 für Fernsehanstalten. Mit der Absicht, gegen das Vergessen zu schreiben u. »gegen die Angst, dass die Vergangenheit zurück kommt, wenn wir uns weigern, uns zu erinnern«, hält S. in Beschütz mein Herz vor Liebe (Mchn. 1992; Ernst-Hoferichter-Preis 1993) die wahre Geschichte einer Münchner Jüdin während der NS-Zeit fest, die dank der Hilfe mutiger Menschen drei Jahre in einem Verschlag versteckt den Krieg überleben konnte. Besonderen Stellenwert in S.s Werk nehmen die gründlich recherchierten Romanbiografien von Frauen ein, denen die Historie »Unrecht« getan hat oder die sie unbeachtet ließ. Indem S. über sie schreibt, wirft sie ein neues Licht auf deren Leben. Im Bestseller Eine Zierde in ihrem Hause (Reinb. 1998) geht es um Ottilie von Faber-Castell, Erbin der berühmten Bleistiftfabrik, eine Frau, die in für ihre Zeit äußerst privilegierte Verhältnisse hineingeboren, von Familie u. Gesellschaft allerdings verstoßen wird, als sie sich von ihrem Mann scheiden lässt. Den Impuls für die Auseinandersetzung mit der bayerischen Schriftstellerin Lena Christ gab die Arbeit am
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Essay Der Not keinen Schwung lassen (In: Der Traum vom Schreiben. Hg. Edda Ziegler. Mchn. 2000, S. 58–77). Im Roman In den Gärten des Herzens (Hbg. 2002) wird dann die Geschichte Christs ausgebreitet, die trotz des ihr in Familie u. Ehe widerfahrenen Leids u. des erlebten sozialen Elends im Schreiben ihre wahre Begabung entdeckte u. berühmt wurde, ehe sie sich 1920 unter unklaren Umständen das Leben nahm. Erst in späteren Romanbiografien rücken Männer als Hauptfiguren in den Vordergrund. Frost und Sonne (ebd. 2007) handelt vom russ. Fürsten Jussupow u. seinem spannungsreichen Verhältnis zu Rasputin, das in dessen Ermordung kulminiert. Wie alle Romanbiografien S.s gibt auch dieser das Epochenkolorit im Detail wieder. In Das Schönste was ich sah (ebd. 2009) ruft sie das unstete Leben des bedeutenden, heute jedoch beinahe vergessenen Malers Giovanni Segantini u. seine Liebe zu Luigia Bugatti ins Gedächtnis. Zu S.s Werk gehören zahlreiche Erzählungen u. Lyrik (Lyrik-Zyklus /litfass 1986). Eine Sonderstellung nehmen zudem das als Jugendbuch entworfene Werk Agnes unter den Wölfen (Würzb. 1995) ein, das S. gemeinsam mit einer Abiturklasse geschrieben hat, sowie der autobiografisch angehauchte Roman Sei froh, dass du lebst (Bln. 2001), der von ihrer Kindheit in den von Kriegsverdrängung u. wirtschaftl. Aufschwung gleichermaßen geprägten 1950er Jahren berichtet. S. erhielt mehrfach Preise u. Auszeichnungen, u. a. das Bundesverdienstkreuz (1997) u. den Bayerischen Verdienstorden für Engagement und Verdienste um die deutsche Sprache (2000). Weitere Werke: Der zweite Anlauf zum Glück – Risiko u. Chance der Stieffamilie. Mchn. 1987 (Sachbuch). – ... Dein wahrhaft sorgfältiger Vater. Briefe an Kinder. (hg. zus. mit Gertraud Middelhauve). Vorw. v. Gabriel Laub. Köln/Zürich 1988. – Deine, meine, unsere Kinder. Bergisch Gladbach 1989. – Der Höhepunkt der Lust. Frauen u. Männer reden über ein Tabu. Ffm. 1992 (Sachbuch). – Das zweite Land. Mchn. 1994 (R.). – Frau Prinz pfeift nicht mehr. Reinb. 1999 (Krimi). – Jeder Mensch ist ein Kunstwerk. Mchn. 2006 (›Kurzgeschichten‹ über die Begegnung mit Künstlern, Dichtern u. a.). – Christian Ude. Ein
283 Portrait. Mchn. 2007. – Streusand. Hbg. 2011 (E.en). Literatur: Ursula Homann: ›Langsame Tage‹. In: Dt. Bücher 12 (1982), S. 43 ff. – Carna Zacharias: A. S.: Schreiben ist ein süßes Gift: Gespräch. In: Börsenblatt für den Dt. Buchhandel 45 (1989), Nr. 48, S. 1922–1925. – Gilad Margalit: On Ethnic Essence and the Notion of German Victimization. Martin Walser and A. S.’s ›Armer Nanosh‹ and the Jew within the Gypsy. In: German Politics and Society 20 (2002), 3, S. 15–39. – Ruth Spietschka: A. S. In: LGL. – Jessica Riemer: A. S. In: KLG. Hermann Schreiber / Anastasia Manola
Scheibe, Johann Adolph, * getauft 5.5. 1708 Leipzig, † 22.4.1776 Kopenhagen. – Komponist, Musikjournalist, Übersetzer. Der Sohn des Leipziger Orgelbauers Johann Scheibe studierte nach dem Besuch der Nikolaischule zunächst Jura (1719–1725), wandte sich aber unter dem Einfluss Gottscheds bald den Geisteswissenschaften zu. Finanzielle Schwierigkeiten zwangen S. zum Abbruch des Studiums. Mehrere Male bewarb er sich vergeblich um einen Organistenposten, u. a. an der Leipziger Thomaskirche. 1735 ging er als Musiklehrer u. Komponist nach Hamburg. Auf Anregung Telemanns gründete S. den »Critischen Musikus«, das erste journalistische Fachorgan für Musikästhetik in Deutschland (78 Lfg.en, Hbg. 5.3.1737 bis 23.2.1740). Ausgehend von der Philosophie Wolffs, plante S. eine metaphys. Begründung der musikal. Prinzipien; Hauptthema der Beiträge ist das Verhältnis von Melodie u. Harmonie. S.s Ziel war es, analog zu Gottscheds Versuch einer Critischen Dichtkunst (1729) allgemeinverständlich musikal. Geschmacksregeln zu entwickeln. Mit Gottsched teilte er die Prinzipien der Regelhaftigkeit u. Lehrbarkeit ästhetischer Gegenstände, deren Ziel es sein sollte, den Geschmack zu bessern u. eine nationale Identität der dt. Kunst im europ. Vergleich zu fördern. An Bach, den er dennoch zu den großen Komponisten zählte, tadelte S. die »Schwülstigkeit«, die »allzu große Kunst«. In die vermehrte zweite Auflage des Critischen Musikus (Lpz. 1745) nahm S. die Verteidigung Bachs durch Johann Abraham Birnbaum auf.
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Durch formale Kriterien u. bes. durch die Forderung nach »vernünftiger Nachahmung der Natur« der Aufklärungsästhetik verpflichtet, entwickelte S. schon in den 1730er Jahren in seiner Schrift Compendium MUSICES (Erstdr. in: Peter Benary: Die deutsche Kompositionslehre des 18. Jahrhunderts. Lpz. 1961) der Empfindsamkeit verwandte Thesen: Über die »Vergnügung des Gehörs« ziele die »Melodia naturalis« unmittelbar auf die »Bewegung und Erregung derer Gemüths-Neigungen und Leidenschafften«. Die Seele habe eine »angebohrne Neigung und Verlangen, eine Music, sonderlich aber eine Melodie zu hören, [...] wobey [...] Gesang das vornehmste ist« (S. 5). Naturgemäße Ausdrucksmittel waren für S. solche, die auf die Affekte der Zuhörer wirken. Den Primat des Gesangs begründete er ausführlich in der Abhandlung vom Ursprung und Alter der Musik, insonderheit der Vokalmusik (Altona/Flensburg 1754. Neudr. Mchn. u. a. 1987). 1740 wurde S. Kapellmeister am holsteinischen, 1745 am Kopenhagener Hof, wo er in der neu gegründeten Musikalske Societet bald eine führende Rolle spielte. Mit dem Thronwechsel 1748 änderte sich der musikal. Geschmack; S. wurde zugunsten eines ital. Nachfolgers pensioniert. In Sonderburg (Sønderborg) gründete er eine Musikschule. Er übersetzte mehrere Bücher aus dem Dänischen, darunter zwei Werke Ludvig Holbergs: Peter Paars ein comisches Heldengedicht (Lpz., recte Kopenhagen 1750) u. Moralische Fabeln [...] (ebd. 1752). Bei seinen häufigen Besuchen in Kopenhagen wohnte S. im Hause Gerstenbergs, dessen Kantate Ariadne auf Naxos er vertonte. Der Band (Kopenhagen/Lpz. 1765) enthält zwei weitere Werke S.s: die Vertonung von Johann Elias Schlegels Prokris und Cephalus u. den Aufsatz Sendschreiben vom Rezitativ. Das selbstverfasste Textbuch zu seinem Oratorium Der wunderbare Tod des Welterlösers (Lpz. 1754) lehnt sich an Klopstocks Messias an; u. a. übernahm S. aus dem vierten Gesang die Gestalt der Cidli, Klopstocks Erfindung. 1769 kehrte S. als Hofkomponist nach Kopenhagen zurück.
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Weitere Werke: Lebenslauf, von ihm selbst entworfen. In: Johann Mattheson: Grundlage einer Ehren-Pforte [...]. Hbg. 1740, S. 310–315. – Thusnelde. Lpz./Kopenhagen 1749 (Singsp.). – Über die musical. Composition. Bd. 1: Die Theorie der Melodie u. Harmonie. Lpz. 1773. Literatur: Heinrich Welti: J. A. S. In: ADB. – Joachim Birke: Christian Wolffs Metaphysik u. die zeitgenöss. Lit.- u. Musiktheorie: Gottsched, S., Mizler. Bln. 1966. – Hermann Keller: J. A. S. u. Johann Sebastian Bach. In: Musik u. Verlag. FS Karl Vötterle. Hg. Richard Baum u. Wolfgang Rehm. Kassel u. a. 1968, S. 383–386. – Karsten Mackensen: J. A. S. In: MGG 2. Aufl. Bd. 14 (Personenteil). Ulrike Leuschner / Red.
Scheibelreiter, Ernst, * 13.11.1897 Wien, † 3.3.1973 Wien; Grabstätte: ebd., Grinzinger Friedhof. – Lyriker, Erzähler, Dramatiker, Essayist, Jugendbuch- u. Hörspielautor.
des »völkischen Frühlings« (in: Neue Freie Presse, 26.6.1938). Der große Durchbruch blieb S. jedoch versagt. Dem Roman Das Königreich auf dem Wiesenhang (Wien 1939), in dem ein ehemaliger k. k. Oberstleutnant die ersten Tage der Republik zu bewältigen lernt, folgte das Volksstück Der Aufzug (ungedr. 1940 Jubiläumspreis des Deutschen Volkstheaters); danach konzentrierte er sich auf seine Arbeit für Film u. Hörfunk. Für das Hörspiel Kasperlespiele erhielt er 1944 den Raimund-Preis. – Nach Kriegsende widmete sich S., dessen Antrag auf Wiederaufnahme in den österr. P.E.N.-Club noch 1954 abgelehnt wurde, Kinder- u. Jugendbüchern (z.T. zusammen mit seiner Frau Berta: Kasperleabenteuer. Wien 1947). Bekannt wurde v. a. auch das Mädchenbuch Klaudia, ein Jahr eines jungen Mädchens (Wien 1948). Weitere Werke (Erscheinungsort, wenn nicht anders angegeben: Wien): Die frohe Ernte. 1935 (L.). – Acht Gedichte. 1936 (L.). – Der Liebe Schattenspiel. 1936 (R.). – Wien u. seine Welt. Graz 1936 (Ess.). – Die Flucht aus dem Philisterfrieden. 1937. Neudr. u. d. T. Lump, der Fuchs. 1949 (R.). – Hanna u. die Wallfahrer. 1938 (R.). – Das Krumauer Jahr. Hbg. 1939 (L.). – Des Gottes neunter Arm. 1940 (N.). – Der Baum der Erkenntnis. 1944 (N.). – Schattenspiele der Liebe. 1944 (N.). – Der Weg durch die bittre Lust. 1946 (R.). – Gastgeschenke. 1946 (L.). – Unselige Begegnung. Graz 1947 (Ess.). – Die weiße Orchidee. 1947 (N.). – Der Ritt auf dem Einhorn. 1947 (N.). – Die Arche Noah. 1948 (Kinderbuch). – Sommer in Hörbis. Klagenf. 1949 (R.). – Das Nessosgewand. 1949 (R.). – Spatz, die Gesch. einer Jugendliebe. 1949 (Jugendbuch). – Weltverwandler Edison. 1955 (Jugendbuch). – Das Viergespann. Einl. u. Ausw. v. Otto Stein. Graz/Wien 1961. – Mensch unter Trümmern u. Splittern. 1972 (L.).
S., Sohn eines Bahnbeamten, studierte 1918/ 19 an der Universität Wien bzw. an der Wiener Hochschule für Bodenkultur Sprach- u. Naturwissenschaften. Gefördert von Stefan Zweig u. Franz Karl Ginzkey, in dessen Zeitschrift »Bergland« er erste Gedichte u. Prosa veröffentlichte, gelang S. mit dem Gegenwartsdrama Aufruhr im Dorf (ungedr. Urauff. Innsbr. 1930) ein erster Erfolg (Julius-ReichPreis für Dramatik 1928). Aufsehen u. ein beträchtl. Medienecho bewirkte das Legendendrama Hirten um einen Wolf (ungedr. Urauff. Wien 1933) aufgrund vermeintl. Anspielungen auf Hitler; 1934 kam das Stück auf die Verbotsliste. 1932 erschien S.s erster Lyrikband, Freundschaft in der Stille (Wien 1932. Förderpreis zum Großen Österreichischen Staatspreis 1934). Die eigene, durch Literatur: Hans Lampalzer: Zum Gedenken E. eine Hüfterkrankung schwere Jugend schil- S. In: Niederösterr. Kulturber.e, H. 7 (1978), S. 8. – dert er in dem autobiogr. Roman Rudi Hofers Barbara Heigl: E. S. Leben u. Werk unter bes. Begrünes Jahrzehnt (Wien 1935). rücksichtigung seiner Lyrik. Diss. Salzb. 1979 (mit S. war Beiträger des Dichterbuches. Deutscher Bibliogr.). Johannes Sachslehner / Red. Glaube, deutsches Sehnen und deutsches Fühlen in Österreich (Wien 1933) u. schloss sich dem von Scheid, Richard, auch: Jakob Andries, illegalen österr. Nationalsozialisten domi* 11.5.1879 Koblenz, † 19.2.1962 Münnierten Kreis um die Zeitschrift »Der Augarchen. – Lyriker. ten« (1934–43) an. 1936 Mitgl. des »Bundes deutscher Schriftsteller Österreichs«, be- Nach dem Schulbesuch in Koblenz, Obergrüßte auch er nach dem »Anschluss« das lahnstein, Ahrweiler u. Prüm absolvierte S. Ende des »Schicksalswinters« u. das Kommen eine Apothekerlehre u. arbeitete sechs Jahre
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in seinem Beruf in Karden/Mosel, Idar, Koblenz, Königsberg, Hannover u. Zürich, bevor er sich 1900 in München niederließ, um Kunst- u. Literaturgeschichte zu studieren. Im selben Jahr erschien sein erster Band mit Liebesgedichten, lyr. Widmungen an einige Städte, in denen er die Jahre zuvor gelebt hatte, u. melanchol. Versen, in denen er seiner Sehnsucht nach Glück – so der Titel eines Gedichts – Ausdruck verleiht (Madonna. Dresden/Lpz.). 1901 gab S. »Avalun«, ein »Jahrbuch neuer deutscher lyrischer Wortkunst« (Mchn.) heraus, in dem er auch eigene Gedichte präsentierte. 1911–1920 war er als Gemeindebevollmächtigter im Münchner Rathaus tätig. Nach 1933 wurde er dreimal festgenommen u. war vier Jahre im Konzentrationslager inhaftiert. Einige seiner in Dachau entstandenen Gedichte erschienen in der Anthologie De profundis (Hg. Gunter Groll. Mchn. 1946). Weitere Werke: Gedichte der Verfolgung. Privatdr. mit einem Titelblatt v. Willi Geiger. Mchn. 1959. – Das Traumschiff. Liebesgedichte. Privatdr. unter Pseud. Mchn. 1960. Petra Ernst
Scheidt, Scheit, Caspar, * um 1525/30, † 1565 Worms. – Satirisch-didaktischer Schriftsteller. S. verbrachte wohl die längste Zeit seines Lebens als Lehrer in Worms, wo vorübergehend Johann Fischart zu seinen Schülern gehörte. Er starb mit seiner Familie an der Pest. Seine Sprache lässt elsäss. Herkunft vermuten, seine Sprachkenntnisse des Italienischen (neben dem Französischen) weisen auf einen längeren Aufenthalt im Süden (zu Studienzwecken?) hin. In den 1550er Jahren war er Erzieher in der Familie von Wachenheim (bei Dürkheim). Mit publizistischen Arbeiten trat S. bereits 1549 hervor. Für den Wormser Drucker Gregor Hofmann (fl. 1542–1553) übersetzte er aus dem Italienischen eine Flugschrift über den Einritt des span. Prinzen Philipp in Mailand (Newe Zeittunge Des Durchleuchtigsten/ Hochgebornen Fürsten vnd Herren/ Herrn Philipsen/ Printzen in Hispani). Zwei erhaltene Einblattdrucke (undatiert; der eine lat., der andere dt.), De generibus ebriosorum et ebrietate
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vitanda u. Die volle Brüderschaft stehen als lehrhafte Dichtungen in der Tradition der Trunkenheitskritik. Die Flucht Annas von Wachenheim vor dem frz. Heer u. ihr Tod 1552 bilden den Hintergrund der allegor. Reimpaardichtung (u. Trostschrift) Die Frölich Heimfart (Worms [1553]). Bekannt wurde S. vor allem durch seine Übersetzung von Friedrich Dedekinds Grobianus (ebd. 1551; bis 1615 weitere 14 Ausgaben). Sie war kaum weniger erfolgreich als das lat. Original u. stellt eine kräftig erweiterte, »mit mancherley Scholien gespickt[e] und gesaltzen[e]« Bearbeitung dar. Von 1551 datiert auch der Kurfüst Friedrich II. von der Pfalz gewidmete Prosatext Ein kurtzweilige Lobrede von wegen des Meyen (ebd.), der in der Tradition der Streitgedichte zwischen Frühling u. Herbst steht. Daneben übersetzte S. (aus dem Lateinischen) die Verse zu Wol gerissnen und geschnidten figuren Auß der Bibel (Lyon 1554; auch 1564). Der Verleger Johannes (Hans) Tornesius verlegte die Bibelbilder des Künstlers Bernard Salomon gleich in mehreren Sprachen (frz. Quadrins historiques de la Bible) u. dürfte S. gezielt für die dt. Fassung angeworben haben. Auch der später mehrfach neu aufgelegte Todten Dantz mit Bildern von Hans Holbein d.J. (Köln 1557) ist eine Auftragsarbeit: die Kölner Erben Arnold Birckmanns hatten bereits zwei Jahre zuvor die lat. Ausgabe (Imagines mortis) nach Gilles Corrozets Les simulacres et historiées faces de la mort (Lyon 1538) herausgebracht. 1561 erschien die Reformation Lob unnd satzung der Edlen und lieblichen Kunst der Musica (Heidelb.), gereimte Statuten einer in Worms gegründeten Musikgesellschaft. – Fischart rühmte die der natürl. Wortbetonung folgenden, ungezwungenen Reime seines Lehrers S. (»Der best Reimist zu8 vnser zeit«, Flöhatz 1573) u. wurde durch ihn zu seinem Eulenspiegel reimenweis (Ffm. 1572) angeregt. Ausgaben: Philipp Strauch: Zwei fliegende Blätter von C. S. In: Vjs. für Litteraturgesch. 1 (1888), S. 64–98. – Friedrich Dedekinds Grobianus verdeutscht v. C. S. Hg. Gustav Milchsack. Halle 1882. – Albert Leitzmann: Fischartiana. Mit einem Anhang: Kaspar S.s ›Reformation der Musica‹. Jena 1924. – Die fröhl. Heimfahrt. Hg. P. Strauch. Bln. 1926. – Lobrede v. wegen des Meyen. Hg. ders.
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Halle 1929. – Friedrich Dedekind: Grobianus / Dt. Fassung v. C. S. [i.e. Reprint der Ausg. Worms 1551]. Mit einem Vorw. v. Barbara Könneker. Darmst. 1979. – C. S.: Grobianus. Hg. Rolf D. Fay. Stgt. 1985. Literatur: Adolf Hauffen: C. S., der Lehrer Fischarts. Straßb. 1889. – Philipp Strauch. In: ADB. – Karl Hedicke: C. S.s Frölich Heimfart. Diss. HalleWittenberg 1903. – Alfred Schauerhammer: Mundart u. Heimat Kaspar S.s auf Grund seiner Reimkunst untersucht. Ebd. 1908. – Anna Kathrin Bleuler: Imitatio veterum – imitatio modernorum: Kaspar Scheits ›Fröhliche Heimfahrt‹. In: Daphnis 38 (2009), S. 527–554. Barbara Könneker / Ulrich Seelbach
Scheidt, Christian Ludwig, * 26.9.1709 Waldenburg/Württemberg, † 25.10.1761 Hannover. – Jurist, Historiker, Bibliothekar u. Kirchenlieddichter. Nach dem Studium an den Universitäten in Altdorf u. Straßburg war S. zunächst als Hofmeister tätig; 1737 wurde er in Göttingen zum Dr. jur. promoviert, wo er im folgenden Jahr ein Extraordinariat erhielt. 1739 wurde er zum o. Prof. für bürgerl. u. dän., dann auch für Natur-, Völker- u. Staatsrecht in Kopenhagen ernannt, 1748 von Gerlach Adolf von Münchhausen als Bibliothekar nach Hannover berufen. Gründliche Archivkenntnisse ermöglichten S. umfangreiche Quellenpublikationen sowie Studien zur Landes-, Adels- u. Rechtsgeschichte. Noch als Hofmeister hatte S. 1734 Halle besucht u. war dort dem damals pietistisch gesinnten Sigmund Jacob Baumgarten begegnet. Aus dieser Zeit stammen zehn Kirchenlieder, von denen fünf im Wernigerodischen Gesangbuch von 1735, die andere Hälfte in der Neuen Sammlung geistlicher Lieder (Wernigerode 1752) gedruckt sind. Am bekanntesten wurden die gegen alle Werkgerechtigkeit gerichteten Verse »Aus Gnaden soll ich selig werden« u. das Abendmahlslied Gottlob, ich hab den Weg gefunden. Weitere Werke: Ethica philosophica in gratiam juventutis methodo scientificae aemula scripta. Kopenhagen 1745. – Herausgeber: G. W. Leibniz: Protogaea sive de prima facie telluris [...]. Gött. 1749 (dt. Lpz. 1749). – Origines Guelficae [...]. 4 Bde., Hann. 1750–53.
Ausgabe: Anmerkungen u. Zusätze zu des Herrn Geheimten Raths v. Moser Einleitung in das Braunschweig-Lüneburgische Staats-Recht [...]. Gött. 1757. Internet-Ed.: UB Braunschweig. Literatur: Catalogus librorum C. L. S. Hann. [1761]. – Ferdinand Frensdorff: C. L. S. In: ADB. – Koch 4, S. 489. – Sigrid Fillies-Reuter: C. L. S. In: Bautz. Heimo Reinitzer / Red.
Schein, Johann Hermann, * 20.1.1586 Grünhain bei Annaberg, † 19.11.1630 Leipzig. – Komponist u. Lyriker. S. kam mit 13 Jahren als Chorknabe in die Dresdener Hofkapelle, besuchte Schulpforta u. studierte seit 1608 Jura in Leipzig. 1613 wurde er »Praeceptor« u. »Haußmusik Director« in Weißenfels. Mit der Ernennung zum Hofkapellmeister in Weimar begann 1615 die musikal. Laufbahn, die ihn schon 1616 in das Thomaskantorat nach Leipzig führte. Als Komponist zählt S. auf dem Gebiet der Motettenkunst (Israelis Brünlein. Lpz. 1623) wie auf dem der konzertierenden geistl. Komposition in ital. Stil (Opella nova. 2 Bde., Lpz. 1618 u. 1626; 58 geistl. Konzerte) zu den führenden dt. Meistern des frühen 17. Jh. Seine viersätzigen Orchestersuiten (Banchetto Musicale. Lpz. 1617; 20 Tanzsuiten) stehen am Anfang einer selbstständigen dt. Instrumentalmusik. S.s Bedeutung für die Frühgeschichte des dt. Lieds liegt in der Entwicklung der kunstvoll strukturierten stroph. Liedform. Dem ital. Vorbild gemäß, tritt dem Madrigal als dem Typus des schon anspruchsvollen Kunstlieds bald die aus Tanzformen entwickelte volkstüml. Villanella zur Seite: meist dreizeilige Strophen, bevorzugt werden sieben- oder elfsilbige Verse zum dreistimmigen homophonen Satz mit klarer Zeilengliederung. In der Nachfolge Jacob Regnarts, der die neue Form vermittelt hatte, entwickelte S. ein konzentriertes, schwungvoll schreitendes Strophenlied mit variablen Formen. Während Regnart aus dem Italienischen übersetzte, schuf S. eigene Texte, wobei er sich häufig älteren dt. Traditionen anschloss. Insgesamt verfasste er etwa 100 Liedtexte: Venus Kräntzlein (Wittenb. 1609) enthält 16
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Lieder, die drei Teile der Musica boscareccia Wiesb. 1973. – Werner Brauer: J. Regnart, J. H. S. u. Oder Wald-Liederlein (Lpz. 1621, 1626, 1628) die Anfänge der dt. Barocklyrik. In: DVjs 17 (1939), zusammen 50 Lieder, die Diletti Pastorali Oder S. 371–404. – Hermann Rauhe: Dichtung u. Musik Hirten Lust (Lpz. 1624) 15 Madrigale, der Stu- im weltl. Vokalwerk J. H. S.s. Diss. Hbg. 1959. – Walter Reckziegel: Das Cantional v. J. H. S. Bln. denten-Schmausz (Lpz. 1626) fünf Lieder. 1963. – Adam Adrio: Die Drucker u. Verleger der Das musikal. Formprinzip des Lieds be- mus. Werke J. H. S.s. In: FS Karl Vötterle. Kassel dingte einen modernen Versbau, der sich v. a. 1968. – David Paisey: Some occasional aspects of J. in der geschlossenen Strophenform u. den H. S. In: The British Library Journal 1,2 (1975), deutl. Reimschlüssen zeigt. S.s ausgeprägte S. 171–180 – Basil Smallman: J. H. S. as Poet and Neigung zur Rundung bewirkte inhaltl. Ge- Composer. In: Slavonic and Western Music. Hg. schlossenheit auch in der größeren Liedstro- Malcolm Hamrick Brown u. Roland John Wilney. phe. Das gilt auch für die strophisch unge- Oxford 1985, S. 33–48. – Walter Werbeck: J. H. S. gliederten Madrigalstrukturen. Das Madrigal In: Komponisten u. Liederdichter des Evang. Gesangbuchs. Hg. Wolfgang Herbst. Gött. 1999 mit seiner formalen Freiheit (zwischen sieben (22001), S. 272 f. – New Grove (mit Werkverz.). – u. fünfzehn schwankende Anzahl der Verse, Werner Braun: Thöne u. Melodeyen, Arien u. unterschiedl. Silbenfüllung der Verszeilen) Canzonetten. Zur Musik des dt. Barockliedes. Tüb. tendiert zum Epigramm u. entspricht so der 2004, bes. S. 132–140. – Walter Werberg u. Claudia Vorliebe für einen witzig-pointierten Stil. Die Theis: MGG 2. Aufl. Bd 14 (Pers.), Sp. 1249–1263 »Pastoral- oder Hirten-Textlein« in der Hirten (umfassend mit Lit.). – Bernhold Schmid: J. H. S. Lust, die S. »Auff Madrigalmanier« »selbst In: NDB. Ferdinand van Ingen / Red. meditirt« hat, lehnen sich eng an ital. Muster an. In der Freude am Klangspiel u. im Motiv- Scheiner, Christoph, * 25.7.1573 (nicht reichtum überragt S. Regnart. Das zeigt 1575) Wald (heute: Markt Wald bei Minschon die erste, noch während der Studien- delheim), † 18.6.1650 Neisse (heute: zeit entstandene Sammlung, in der Motive Nysa/Polen). – Jesuit, Astronom. des dt. Volkslieds eine Verbindung mit ital. Musikformen eingehen. Dagegen wird in den Nach dem Besuch der jesuitischen LateinWald-Liederlein u. der Hirten Lust die modisch- schule in Augsburg u. des Jesuitenkollegs in pastorale Bildwelt mit dem humanistisch- Landsberg studierte S. ab 1600 Philosophie in gelehrten Apparat der Götter u. Nymphen Ingolstadt, wo er 1603 den Grad eines Maausgestaltet. Das Kontrafakturverfahren, das gisters erwarb. Bevor er 1605 mit dem TheoS.s Texte der Musica boscareccia in der Ausgabe logiestudium die Ausbildung beendete, von 1644 durch anonyme geistl. Texte er- lehrte er am Jesuitengymnasium in Dillingen. setzte, lässt die Beliebtheit seiner Lieder er- Seit 1610 Professor für Mathematik u. Hebräisch in Ingolstadt, wurde S. ab 1614 kennen. Mit der spielerischen Darstellung mehrfach als Berater Erzherzog Maximilians petrarkist. Themen u. Situationen kam S. der nach Innsbruck gerufen; 1616 siedelte er Zeitmode entgegen. Sein bekanntester Schüdorthin über, wo er 1617 ordiniert wurde. ler, Paul Fleming, sollte die Gattung des peAuch unter Erzherzog Leopold blieb er in trarkist. Liebeslieds zum Höhepunkt führen. Innsbruck u. wurde Lehrer u. Berater von Ausgaben: Gesamtausg. Hg. Arthur Prüfer u. a. dessen Bruder, der als Bischof von Neisse u. Lpz. 1901 ff. (bis 1923 7 Bde.). – Sämtl. Werke. Brixen S. 1622 zum Rektor des Neissener JeNeuausg. Hg. Adam Adrio. Kassel 1963 ff. – Erstausgaben: Cymbalum Sionium sive Cantiones sacrae. suitenkollegs ernannte. Mitte 1624 begleitete Lpz. 1615. – Musica divina. Lpz. 1620. – Madrigali. er den Erzherzog auf einer polit. Mission Lpz. 1623. – Villanelle. Lpz. 1625. – Cantional. Lpz. nach Spanien, wurde jedoch unterwegs nach Rom delegiert u. blieb am Collegium Roma1627. Literatur: Bibliografie: Dünnhaupt 2. Aufl. num, bis er 1633 nach Deutschland zurückBd. 5, S. 3557–3593. – Weitere Titel: Arthur Prüfer: gerufen wurde. Bevor er 1639 endgültig zum J. H. S. Lpz. 1895. – Ders.: J. H. S. u. das weltl. dt. Antritt des Rektorats nach Neisse übersieLied des 17. Jh. Lpz. 1908. Neudr. Niederwalluf bei delte, war er als Berater am Wiener Hof tätig.
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Eine Beschreibung des von ihm 1603 er- 19. Jh. wieder interessierte. Hauptarbeitsgefundenen Storchschnabels zur maßstäbl. biet S.s war allerdings die Optik, neben der Vergrößerung u. Verkleinerung von Zeich- atmosphär. Refraktion speziell die physiolog. nungen (später Körpern) veröffentlichte S. Optik: Er erkannte den Sehnerv u. wies die erst 1631 in Rom (Pantographice). Wohl als Netzhaut als eigentl. Sitz des Sehvorgangs erster verwirklichte er (1613 oder 1617) die nach, erkannte die Anpassungsfähigkeit der Idee des Keplerschen Fernrohrs. Bei gemein- Linse, die Bedeutung der Pupille u. berechsam mit seinem Schüler Johann Baptist Cysat nete richtig die Brechungsindices der wichdurchgeführten Beobachtungen der von tigsten Medien des Auges. In Oculus sive funstarkem Nebel verdunkelten Sonne entdeckte damentum opticum (Innsbr. 1619. Freib. i. Br. S. im März 1611 unabhängig von Galilei 1621. London 1652) werden auch die dazuFlecken, die er zunächst als der Sonne abge- gehörigen Grundversuche beschrieben. kehrte Schattenseite sonnennaher Planeten Ausgaben: Briefe an Welser. In: Le opere di Gadeutete. Geeignete Witterungsbedingungen lileo Galilei, Bd. 5 (Neudr. Florenz 1964). – Aus(von denen er sich dann durch die Einfüh- gew. Stücke aus C. S.s Augenbuch, übers. u. erl. v. rung von Farbfiltern unabhängig machte) Moritz v. Rohr. In: Ztschr. für ophthalmolog. Operlaubten erst vom 21. Okt. bis 14. Dez. sys- tik mit Einschluß der Instrumentenkunde 7 (1919), temat. Beobachtungen. Er scheute zwar eine S. 35–44, 53–64, 76–91, 101–113, 121–133. – Franz Daxecker: Das Hauptwerk des Astronomen Veröffentlichung, teilte seine Beobachtungen P. C. S. SJ ›Rosa Ursina sive Sol‹ – eine Zusamund Überlegungen dazu jedoch dem be- menfassung. Innsbr. 1996. – C. S.s ›Sol ellipticus‹. freundeten Augsburger Patrizier Marcus Hg. F. Daxecker u. Lav Subaric. Innsbr. 1998. Welser in drei Briefen mit, die dieser ohne Literatur: Bibliografie: Johann Christian PogWissen S.s sogleich unter dem Pseud. »Apel- gendorff: Biogr.-literar. Handwörterbuch der exles hinter der Tafel« (in Anspielung auf den akten Naturwiss.en. Bd. VIIa. Suppl. Bearb. v. Rugriech. Maler) in Druck gab (De Maculis Sola- dolph Zaunick. Bln. 1971, 578 f. – Weitere Titel: ribus. Augsb. 5.1.1612). Drei weitere Briefe, Anton v. Braunmühl: C. S. als Mathematiker, Phydie Welser wiederum anonym drucken ließ siker u. Astronom. Bamberg 1891. – Ernst Goercke: (De Maculis Solaribus et stellis. Ebd., Sept. C. S. war nicht der erste, der die Sonnenflecken 1612), brachten neuere Beobachtungen. Einer ›entdeckte‹. In: Ingolstätter Heimatblätter (Beilage der Briefe ging auf ein Schreiben Galileis an zum Donau Kurier) 46 (1983), Nr. 3, S. 9–12. – F. Krafft: Johann Baptist Cysat. In: Biogr. Lex. LMU, Welser vom 4.5.1612 ein, in dem dieser seine Teil I, S. 77–79. – F. Daxecker: C. S. In: NDB. – Prioritätsansprüche anmeldete (er hatte im Ders.: Der Physiker u. Astronom C. S. Innsbr. 2006. April 1611 seine Entdeckung in Rom vorge- – Ders.: C. S. u. die Camera obscura. In: Beiträge führt), die ihm von S. nicht einmal streitig zur Astronomiegesch. 8 (2006), S. 37–42. – F. gemacht wurden. Galilei schlug in seiner Krafft: Die bedeutendsten Astronomen. Wiesb. Antwort vom 1.12.1612 einen sehr scharfen 2007, S. 107–110. – F. Daxecker: C. S. u. der flüsTon an. Seine einzige Publikation über die sige Himmel. In: Beiträge zur Astronomiegesch. 9 Sonnenflecken (Istoria e dimonstrazioni intorno (2008), S. 26–36. Fritz Krafft alle macchie solari. Rom 1613) bestand dann in einem Wiederabdruck der unter dem Namen Scheinhardt, Saliha, * 23.4.1946 Konya/ Apelles erschienenen Briefe S.s u. der dagegen Türkei. – Erzählerin. gerichteten Kritik in seinen beiden Briefen an Welser. Im sich anschließenden Prioritäts- Die aus einer Arbeiterfamilie stammende S. streit konnte S. den genialen Spekulationen kam 1967 nach Deutschland. Bereits als JuGalileis in seinem Werk Rosa Ursina (Brac- gendliche arbeitete sie als Putzfrau, Textilciano 1626–30) genaue Messungen u. präzise arbeiterin, Kellnerin u. Stewardess. Gegen Kupferstiche entgegenhalten, die schließlich den Widerstand der Mutter besuchte S. die obsiegten. Volks- u. Mittelschule. Ihr Vater förderte ihre Daneben berichtete S. in diesem Werk über Schulbildung u. erlaubte ihr, auf das Gymseine Entdeckung der Sonnenfackeln u. der nasium zu gehen. 1971 machte sie in Granulation, für die man sich erst seit dem Deutschland Abitur, studierte anschließend
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Pädagogik u. wurde Lehrerin. Seit 1978 wis- 1996. – Mahmut Karakus¸ : Formen der Darstellung senschaftl. Mitarbeiterin an der Pädagogi- der Migration: Latife Tekin u. S. S. im Vergleich. In: schen Hochschule Neuss, lehrte sie später an Die ›andere‹ Dt. Literatur. Istanbuler Vorträge. Hg. der Universität Frankfurt. 1985 wurde sie mit Manfred Durzak u. Nilüfer Kuruyazıcı. Würzb. 2004, S. 125–133. – Ingrid Laurien: S. S. In: KLG. einer Dissertation zum Thema Islam in der Ingo Langenbach Diaspora promoviert. Seit den 1980er Jahren ist S. als eine der ersten Deutsch schreibenden ausländ. Autor(inn)en bekannt. Sie lebt in der Scheler, Max (Ferdinand), * 22.8.1874 Türkei u. in Deutschland. München, † 19.5.1928 Frankfurt/M.; 1983 erschien S.s Erstling Frauen, die sterben, Grabstätte: Köln, Südfriedhof. – Philoohne daß sie gelebt hätten (Bln.) über das Schei- soph. tern der Liebe u. das Leiden am Leben. Die Verfilmung des Stoffs 1989 von Tevfik Baser Als Sohn eines evang. Gutsverwalters u. einer u. d. T. Abschied vom falschen Paradies wurde mit jüd. Mutter wurde S. orthodox jüdisch erzomehreren internat. Preisen ausgezeichnet. gen. Nach dem Studium in München, in Mit dem polit. Buch Drei Zypressen (Bln. 1984) Berlin bei Dilthey u. Georg Simmel u. in Jena thematisiert S. anhand der authent. Schick- bei dem Neukantianer Rudolf Eucken trat er sale dreier Frauen deren Entfremdung u. das 1899 zum kath. Glauben über, um die geZerrissensein ihrer eigenen Kultur. Im auto- schiedene Amélie von Dewitz heiraten zu biogr. Buch Träne für Träne werde ich heimzah- können. Nach der Habilitation in Jena bei len. Kindheit in Anatolien (Reinb. 1987) verar- Rudolf Eucken (Die transzendentale und die beitet sie die strenge türk. Erziehung ihrer psychologische Methode. Lpz. 1900) lernte er Eltern sowie ihre eigene Kindheit u. Jugend Edmund Husserl kennen, dessen Logische Unin der Türkei. S. schreibt vorwiegend Erzäh- tersuchungen (1900/1901) ihn für die phänolungen, Romane u. Sachbücher. Vor allem menolog. Philosophie gewannen. 1906 habiihre Kindheits- u. frühen Jugenderlebnisse, litierte sich S. nach München um, wo er sich die sie stark geprägt haben, thematisiert sie dem sog. München-Göttinger Kreis junger immer wieder am Schicksal unterdrückter Phänomenologen (Alexander Pfänder, Moritz Frauen. Ihre Romane sind zumeist im dt.- Geiger, Adolf Reinach) anschloss. 1910 türk. Milieu angesiedelt u. behandeln den musste er aufgrund persönl. Verwicklungen seine Privatdozentur aufgeben. 1912 heiraZwiespalt zwischen Tradition u. Moderne. S. erhielt 1985 den Literaturpreis der Stadt tete er nach seiner Scheidung Märit FurtOffenbach u. wurde die erste ausländ. Stadt- wängler, die Schwester des Dirigenten, u. schreiberin Deutschlands. 1993 wurde ihr der verdiente seinen Lebensunterhalt durch eine (Vom UmAlfred-Müller-Felsenburg-Preis für »auf- Vielzahl phänomenolog. Studien 2 5 rechte Literatur«, 1995 die »Friedens-Silber- sturz der Werte. 2 Bde., Lpz. 1919. 1972), überragt von seinem Hauptwerk Der Formamedaille« der Stadt Seligenstadt für das hulismus in der Ethik und die materiale Wertethik manitäre u. polit. Engagement in ihren Werken u. 1996 die Bronzemedaille der Stadt (2 Bde., Halle 1913 u. 1916). In den ersten beiden Kriegsjahren beteiAlzenau für ihr Werk u. ihren Einsatz für Völkerverständigung u. multikulturelles Zu- ligte er sich an der weltanschaul. Rechtfertigung des »Deutschen Krieges« (Der Genius des sammenleben verliehen. Krieges und der Deutsche Krieg. Lpz. 1915), forWeitere Werke: Und die Frauen weinten Blut. derte aber bald eine Wiedergeburt Europas Bln. 1985 (E.en). – Von der Erde bis zum Himmel Liebe. Ffm./Wien 1988. – Liebe, meine Gier, die aus dem Geist des augustinisch-kath. Glaumich frißt. Köln 1992 (E.). – Die Stadt u. das bens (Krieg und Aufbau. Lpz. 1916). 1919 Mädchen. Freib. i. Br. u. a. 1993 (R.). – Schmer- wurde er Direktor des Instituts für Sozialwissenschaften u. Ordinarius für Philosophie zensklänge. Roman aus der Türkei. Ffm. 2008. Literatur: Andrea Zielke-Nadkarni: Frauenfi- an der neu gegründeten Universität Köln. guren in den Erzählungen türk. Autorinnen. 1922/23 distanzierte er sich öffentlich von der Identität u. Handlungs(spiel)räume. Pfaffenweiler kath. Kirche, nachdem er sich kurz zuvor
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durch die 1921 in Leipzig erschienenen Ab- 2001. – C. Bermes, W. Henckmann u. H. Leonardy handlungen Vom Ewigen im Menschen (62000) (Hg.): Vernunft u. Gefühl. S.s Phänomenologie des den Ruf des führenden kath. Philosophen dt. emotionalen Lebens. Würzb. 2003. – Hans Hermann Groothoff: M. S. Philosophische AnthropoSprache erworben hatte. logie u. Pädagogik zwischen den Weltkriegen. Hbg. In dieser Periode, in der er 1924 seine dritte 2003. – C. Bermes, W. Henckmann u. H. Leonardy Frau Maria heiratete, wandte sich S. von der (Hg.): Solidarität. Person u. soziale Welt. Würzb. Ethik u. Religionsphilosophie ab u. arbeitete 2005. – W. Henckmann: M. S. In: NDB. – Ralf Bean groß angelegten Werken der Anthropolo- cker, C. Bermes u. H. Leonardy: Die Bildung der gie, Geschichtsphilosophie u. einer beide in- Gesellschaft. S.s Sozialphilosophie im Kontext. tegrierenden Metaphysik. In ihr wollte er die Würzb. 2007. – R. Becker u. a. (Hg.): Philosophische Lehre von einer durch die Weltsphären von Anthropologie im Aufbruch. M. S. u. Helmuth Leben u. Geist hindurch sich progressiv ent- Plessner im Vergleich. Bln. 2010. Wolfhart Henckmann / Red. faltenden Gottheit entwickeln. Hiervon sind nur Fragmente erschienen (Die Wissensformen und die Gesellschaft. Lpz. 1926. Die Stellung des Menschen im Kosmos. Darmst. 1928. 162005. Schelhammer, Maria Sophia, geb. Conring, getauft 9.9.1647 Helmstedt, † 1719. Idealismus-Realismus. In: Philosophischer An– Verfasserin von Kochbüchern. zeiger 2, 1927/28, S. 255–324. Philosophische 3 Weltanschauung. Bonn 1929. 1968). S. starb Magnus Daniel Omeis unterrichtete die kurz nach seiner Berufung an die Universität Tochter Hermann Conrings während einiger Frankfurt/M. im Haus ihres Schwagers Johann Saubert in Ausgabe: Gesammelte Werke. Hg. Maria Scheler Altdorf verbrachter Jahre. 1679 heiratete sie den Mediziner Günter Christoph Schelhamu. Manfred S. Frings. Bern, später Bonn 1954 ff. Literatur: Bibliografien: Wilfried Hartmann: M. mer (1649–1716), der in Helmstedt (ab 1679), S. Bibliogr. Stgt.-Bad Cannstatt 1963. – Eberhard Jena (ab 1690) u. Kiel (ab 1695) unterrichtete. Avé-Lallemant: Bibliogr. Verz. In: M. S.: Ges. S.s vollen Namen nennen nur die TitelWerke. Bd. 14. Hg. Manfred S. Frings. Bonn 1993, blätter der dritten u. vierten Auflage ihres S. 456–464. – Weitere Titel: Paul Good (Hg.): M. S. Kochbuchs Die wol unterwiesene Köchinn im Gegenwartsgeschehen der Philosophie. Bern (Braunschw. 1692. 31704. 41713. Nürnb. 1975. – Wilhelm Mader: M. S. Reinb. 1980. 21996 1715. U. d. T. Das Brandenburgische Koch-Buch, (mit Bibliogr.). – Ron Perrin: M. S.’s concept of the oder: Die wohl-unterwiesene Köchinn. Bln. 1723. person. An ethics of humanism. Basingstoke/Lon1732). Nicht anonym folgte Der wohl-unterdon 1991. – E. Avé-Lallemant: Die Aktualität v. S.s Köchinn zufälliger Confect-Tisch Polit. Philosophie. In: Phänomenolog. Forschun- wiesenen gen 28/29 (1994), S. 116–163. – Ernst W. Orth u. (Braunschw. 1699. 1706. Bln. 1723). S. beanGerhard Pfafferott (Hg.): Studien zur Philosophie v. spruchte, als erste in Deutschland das Kochen M. S. Freib. i. Br. 1994. – Franco Bosio: Invito al »mit einigen Kunst-Regeln begleitet« u. in pensiero di M. S. Milano 1995. – Jan H. Nota: M. S. eine »richtige Ordnung« gebracht zu haben. Der Mensch u. seine Philosophie. Fridingen a. D. – Das Schauspiel Der große Alexander (Braun1995. – M. S. Frings: The mind of M. S. The first schw. 1706) ist eine Übersetzung aus dem comprehensive guide based on the complete works. Frantzösischen des Herrn Racine [...] vorgestellet Milwaukee 1997 (Bibliogr. u. Literaturverz. von dem in der ehmahligen teutsch-gesinneten GeS. 299–314). – G. Pfafferott (Hg.): Vom Umsturz der nossenschaft genannten Zerschellenden, also von Werte in der modernen Gesellschaft. II. InternaGünther Christoph Schelhammer. Messkatationales Kolloquium der M.-S.-Gesellsch. Bonn 1997. – P. Good: M. S. Eine Einf. Düsseld. u.a. loge nennen eine Übersetzung S.s, Des Glückes 1998. – Wolfhart Henckmann: M. S. Mchn. 1998. – Wanckelmuth (Braunschw. 1699) nach BoccacChristian Bermes, W. Henckmann u. Heinz Leo- cios De casibus virorum illustrium. nardy. (Hg.): Denken des Ursprungs – Ursprung des Denkens. S.s Philosophie u. ihre Anfänge in Jena. Würzb. 1998. – Dies. (Hg.): Person u. Wert. S.s ›Formalismus‹ – Perspektiven u. Wirkungen. Freib. i. Br. 2000. – Angelika Sander: M. S. zur Einf. Hbg.
Ausgaben: Die wol unterwiesene Köchinn [...]. Braunschw. 21697. Internet-Ed.: SLUB Dresden. – Der wohl-unterwiesenen Köchinn zufälliger Confect-Tisch [...]. Braunschw. 1700. Internet-Ed.: HAB Wolfenbüttel (dünnhaupt digital). – Das
291 Brandenburgische Koch-Buch, oder: Die wohl-unterwiesene Köchinn [...]. Bln. 1723. Nachdr. Rostock 1984. 21989. Literatur: Zedler. – Jean M. Woods u. Maria Fürstenwald: Schriftstellerinnen, Künstlerinnen u. gelehrte Frauen des dt. Barock. Ein Lexikon. Stgt. 1984, S. 108. – Ursula Kundert: Konfliktverläufe. Normen der Geschlechterbeziehungen in Texten des 17. Jh. Bln./New York 2004. – Jorunn Wissmann: M. S. S. In: Braunschweigisches biogr. Lex. 8. bis 18. Jh. Hg. Horst-Rüdiger Jarck u. a. Braunschw. 2006, S. 615. – Alexander Nebrig: Rhetorizität des hohen Stils. Der dt. Racine in frz. Tradition [...]. Gött. 2007. Dieter Lohmeier / Red.
Scheller, Karl Friedrich Arend, auch: Arend Wârmund, Karl Notwehr, * 6.11. 1773 Hessen bei Wolfenbüttel, † 1.8.1842 Braunschweig. – Niederdt. Sprachreformer (Bibliograf, Lexikograf, Editor u. Autor); Arzt.
Schelling
genwart reichende Bibliografie, die trotz aller darin enthaltenen »sassischen« Schwärmerei doch mehr als 100 Jahre lang (bis zur Niederdeutschen Bibliographie von Borchling/Claußen, 1931 ff.) unentbehrl. Hilfsmittel blieb. S., dessen letzte Lebensjahre von schweren Schicksalsschlägen überschattet waren, starb an den Folgen eines Fenstersturzes (unsicher, ob Suizid). Weiteres Werk: Die Jeromiade in 7 Gesängen u. einer Apotheose. o. O. u. J. [Braunschw. 1814] (polem. Versepos gegen König Jérôme Bonaparte). Literatur: Hans-Friedrich Rosenfeld: K. F. A. S.s Sassisch-Niederdt. Wörterbuch. In: Nd. Jb. 69/ 70 (1943/47), S. 118–137. – Herbert Blume: K. F. A. S. u. das Sassische. In: Braunschweigisches u. Ostfälisches. Gedenkschrift für Werner Flechsig. Hg. Mechthild Wiswe. Braunschw. 1992, S. 51–68 (mit Werkbibliogr.). – Ders.: Zweimal ›Henneke Knecht‹. Hoffmann v. Fallersleben u. K. F. A. S. als Editoren mittelniederdt. Texte. In: Hoffmann v. Fallersleben. Internat. Symposion Corvey/Höxter 2008. Hg. Norbert Eke, Kurt G. P. Schuster u. Günter Tiggesbäumker. Bielef. 2009, S. 195–226.
Der Bauernsohn S., aufgrund eines im Kindesalter nicht behandelten Hüftleidens ein Leben lang gehbehindert, studierte in Herbert Blume Braunschweig u. Jena Medizin (Dr. med. 1804). Der Arztberuf, den er zuerst im Heimatort, seit 1806 in Braunschweig ausübte, Schelling, Caroline ! Schlegel-Schelling, diente ihm nur als Broterwerb. Seine literar. Caroline Arbeit galt dem Ziel, die seit der frühen Neuzeit außer Verkehr geratene niederdt. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von Schriftsprache wieder in ihre alten Funktio(seit 1808), * 27.1.1775 Leonberg, † 20.8. nen einzusetzen. Zu diesem Zweck versuchte 1854 Bad Ragaz/Schweiz; Grabstätte: er, neuen niederdt. Lesestoff zu schaffen, als ebd., Friedhof. – Philosoph. Autor (Dat Sassishe Döneken-bôk. Hbg. 1829) wie als Editor mittelalterl. Texte (u. a. Reineke Ein »System der Freiheit« als Gegenstück zu Fos. 1826. Hermann Botes Shigt-bôk der stad Spinozas Metaphysik des Absoluten – das Brunswyk. 1829). Zudem erarbeitete er ein war, was S. zeitlebens wollte. Erreicht hat er umfangreiches Sassisch-Niederdeutsches Wörter- es nicht. Was von ihm vorliegt, sind Ansätze, buch (8 Ms.-Bde., UB Greifswald). Seine Ziele Anläufe zu einem solchen System. Die Versind denen zeitgenöss. Sprachplaner wie Vuk schiedenartigkeit seiner GedankenexperiKaradzˇic´ (Serbokroatisch) oder Ivar Aasen mente wird bereits im Spiegel ihrer literar. (norweg. Landsmaal) vergleichbar. Dass er, Gestalt erkennbar: Die Mehrzahl seiner anders als diese, erfolglos blieb, ist teils seiner Schriften besteht aus Einleitungen, Entwürkuriosen (Christian Hinrich Wolke verpflich- fen, Briefen, Ideen, Dialogen, Aphorismen u. teten) »sassishen« Orthografie zuzuschrei- Gedichten. Sie sind zusammen mit den übben, v. a. aber seiner polit. Fehleinschätzung rigen Abhandlungen u. Vorlesungen Wegdes Publikumsinteresses an einer Rückkehr marken eines »work in progress«, in dem S. zum geschriebenen Niederdeutschen. S.s be- den ontolog. Monismus des Spinoza in die deutendstes Werk ist seine Bücherkunde der Theorie eines kreativen Absoluten transforSassisch-Niederdeutschen Sprache (Braunschw. miert, das sich in der Ungeschiedenheit von 1826), eine von den Anfängen bis in S.s Ge- Geist u. Materie aus freiem Willen offenbart.
Schelling
S., frühreifer Sohn eines württembergischen Pfarrers, wurde mit 15 Jahren Eleve des Tübinger Stifts, wo er mit Hegel u. Hölderlin Freundschaft schloss. Sie verband ein intensives Studium der Philosophie Kants u. Rousseaus sowie die Begeisterung für die Ideale der Französischen Revolution. S. schrieb revolutionär gestimmte Kommentare zum NT, insbes. zum paulin. Briefcorpus. 1792 erschien seine philosophische Magisterdissertation, in welcher der bibl. Sündenfall mit den ältesten Überlieferungen anderer Völker parallelisiert wird (Antiquissimi de prima malorum humanorum origine philosophematis Genes. III explicandi tentamen criticum et philosophicum. Tüb.). Die Aufmerksamkeit der philosophischen Fachwelt indes erregte die Schrift Über die Möglichkeit einer Form der Philosophie überhaupt (Tüb. 1795), zu der er durch eine persönl. Begegnung mit Fichte angeregt wurde. Bereits diese Frühschrift zeigt bei aller Anlehnung an Fichte die ontolog. Ausrichtung seines Denkens: Sie zielt auf die Begründung der Kant’schen Philosophie aus einem einheitl. absoluten Prinzip. S. zeigt gegen Jacobi u. Reinhold, wie das von Kant versuchte System der Philosophie in seinem theoret. Teil durch den Fichte’schen Begriff eines ersten Grundsatzes fundiert werden kann, in dem Form u. Inhalt sich wechselseitig bedingen. Auf die prakt. Philosophie ausgedehnt u. zgl. radikaler gefasst wird das begründende Prinzip in S.s Vom Ich als Princip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen (Tüb. 1795). Darin wird das Konzept des ersten Grundsatzes aufgegeben zugunsten einer Begriffsanalyse des »Unbedingten«: Wenn das Prinzip unbedingt, d.h. kein Ding u. damit kein Objekt ist, so muss es jenseits der Subjekt-Objekt-Relation als ein dieser gegenüber indifferentes Sein gefasst werden. Das Modell der Reflexion erweist sich als unvermögend, einen Zugang zum Absoluten zu bahnen. Diese offenbar der Diskussion mit Hölderlin erwachsene Kritik am Reflexionsmodell des Absoluten trifft den »Kritizismus« Fichtes u. den »Dogmatismus« Spinozas gleichermaßen: Fichte hatte alle Erkenntnis in der Tathandlung des »Ich« fundiert u. damit der
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prakt. Philosophie systemat. Priorität eingeräumt; Spinoza begriff die seienden Dinge als Modi eines ichlosen Seins u. legte damit einen Primat der theoret. Philosophie nahe. Die Subjektivitätsphilosophie Fichtes schien das Objekt auf das Subjekt, die Substanzmetaphysik Spinozas hingegen das Subjekt auf das Objekt zu reduzieren. Seinen Versuch, der Einseitigkeit der beiden Ansätze auf einem dritten Weg zu entgehen, präzisierte S. in den Philosophischen Briefen über Dogmatismus und Kriticismus (in Niethammers Philosophischem Journal, 1795). Den Konflikt der beiden Systeme deutet er hier als tragischen Widerstreit insofern, als beide sich mit denselben Mitteln der Reflexion bekämpfen u. damit im Versuch der Selbstbehauptung ihr Scheitern auf ganzer Linie herbeiführen. Dies war der philosophische Problemstand, als S. seine Studien im Stift mit der theolog. Examensdissertation De Marcione Paullinarum epistolarum emendatore (Tüb. 1795) abschloss, in der er den Häretiker Marcion gegen den Vorwurf einer Verfälschung der Paulus-Briefe erfolgreich verteidigte. Theologe werden wollte er jedoch nicht; im Herbst 1795 nahm er eine Stelle als Hauslehrer der Söhne des Barons von Riedesel an, die er zum Studium nach Leipzig begleitete. Er nutzte die Zeit zur Systematisierung der in den Briefen entwickelten Gedanken (Allgemeine Übersicht über die neueste philosophische Litteratur. In: Philosophisches Journal, 1797. U. d. T. Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre. Landshut 21809); v. a. aber bot sich ihm hier Gelegenheit zu ausgiebigem Studium der Naturwissenschaften, das zunächst in zwei naturphilosophischen Schriften seinen Niederschlag fand: Ideen zu einer Philosophie der Natur (Lpz. 1797) u. Von der Weltseele, eine Hypothese der höheren Physik zur Erklärung des allgemeinen Organismus (Hbg. 1798). Mit Letzterer zog er die Aufmerksamkeit Goethes auf sich, der, unterstützt u. a. von Fichte u. Schiller, seine Berufung auf eine a. o. Professur für Philosophie an der Universität Jena durchsetzte. Die fünf Jahre in Jena wurden die fruchtbarste Schaffensperiode S.s. Er stand in regem Austausch mit den führenden Romantikern u. nahm an deren Zusammenkünften teil; in dieser Zeit lernte er Caroline,
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die Frau August Wilhelm Schlegels, kennen, die er 1803, nach ihrer Scheidung, heiratete. (Die Ereignisse waren die Anregung für Goethes Wahlverwandtschaften). Er erfreute sich der Assistenz von Hegel, der auf sein Betreiben nach Jena gekommen war u. sich dort habilitierte. Gemeinsam mit ihm gab S. das »Kritische Journal der Philosophie« heraus (Tüb. 1802/1803. Neuausg. Lpz. 1981), dessen Programm auf die Überwindung der Reflexionsphilosophie gerichtet war. Angeregt durch die Gespräche im Kreis der Romantiker, erschloss er sich den Bereich der Kunst: Neben dem philosophischen Programmgedicht Epikurisch Glaubensbekenntniß Heinz Widerporstens (1799) verfasste er den Aufsatz Über Dante in philosophischer Beziehung (in: Kritisches Journal, 1803). Parallel hierzu vertiefte S. seine naturphilosophischen Studien. Eine Reihe von Einzelschriften erschien: Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (Jena/Lpz. 1799), Einleitung zu einem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie. Oder: Über den Begriff der speculativen Physik und die innere Organisation eines Systems dieser Wissenschaft (ebd. 1799), Allgemeine Deduction des dynamischen Processes oder der Categorieen der Physik (1800 in S.s »Zeitschrift für speculative Physik«. Jena/Lpz. 1800–1801. Neudr. Hildesh. 1969. Hbg. 2001). Seine Naturphilosophie war für S. der Versuch, das spekulative Prinzip der Fichte’schen Philosophie, die Subjektivität, als objektiv, als Prinzip nicht nur des Denkens, sondern auch der Natur des Ausgedehnten zu erweisen. Im Rückgriff auf Theoreme des späten Kant wird der Organismus als ein der Tathandlung des Ich paralleles, wenn auch (noch) nicht bewusstes Grundverhältnis konstruiert. Indem die Materie der kreative Widerstreit von zwei einander beschränkenden Tätigkeiten (Repulsiv- u. Attraktivkraft) ist, der sich selbst stufenweise zu immer höheren Einheiten (Potenzen) bis hin zum menschl. Bewusstsein organisiert, wird sie dem Ich zum »Vorschein« bzw. zur genet. Voraussetzung. Hieraus ergibt sich: »Ich« bin – bzw. Geist ist – nicht ohne Materie; Materie, indem sie den Geist aus sich produziert, ist nicht ohne Geist. Und: Naturphilosophie ist
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Geschichte des werdenden Selbstbewusstseins. Indem die Naturphilosophie von der Materie zum Ich fortschreitet, bewegt sie sich in einer der Fichte’schen Wissenschaftslehre entgegengesetzten Richtung. Beide bringen somit jeweils nur ein Moment des Absoluten zur Erscheinung u. finden darin ihre Grenze. Einer Philosophie aber, die das Absolute als das gemeinsame Prinzip von Natur u. Geist erweisen will, erwächst hieraus die Aufgabe zu klären, wie bzw. worin das Absolute unter Vermeidung jener Einseitigkeiten zur Darstellung gebracht werden kann. S. löst das Problem im System des transzendentalen Idealismus (Tüb. 1800) mit dem Aufweis des Zusammenwirkens der beiden Tätigkeiten im Prozess des künstlerischen Schaffens u. in dessen Produkt, dem Kunstwerk. Indem dieses die naturhaft-objektive mit der geistigsubjektiven Tätigkeit so in Harmonie setzt, dass die eine nur zgl. mit der anderen wirksam ist, wird es zur Offenbarung des Absoluten. Das Theorem der Objektivation des Absoluten im Kunstwerk, von Schiller lebhaft begrüßt, führte S. zu einer Neubestimmung des Absoluten u. über sie zu einem neuen Paradigma seiner Philosophie: Philosophie des Absoluten ist nicht Theorie der Subjektivität (Fichte) oder spekulative Physik als deren reflexives Pendant; sie ist vielmehr nur möglich als Theorie des poetischen Geistes, die beide miteinander verschmilzt. Ihr gemäß werden Welt u. Geschichte nur dann adäquat verstanden, wenn sie nach dem Muster eines Kunstwerks als Idee angeschaut, d.h. als Einheit von Begriff u. Anschauung konstruiert werden. Dieses Konzept eines poetischen Geistes, der Subjekt u. Objekt auf indifferente Weise zgl. sein kann u. deswegen unbeschadet der Formen des prädikativen Seins (Potenzen), die er anzunehmen vermag, identisch mit sich selbst bleibt, durchwirkt die Schriften des »Identitätssystems«. Dessen wichtigstes Dokument ist die Darstellung meines Systems der Philosophie (in: Zeitschrift für speculative Physik, 1801) – eine Schrift, die in Inhalt wie Darstellung den Anspruch erhebt, den spinozistischen Systemgedanken idealistisch zu überbieten. Ausgehend vom absolu-
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ten Subjekt-Objekt qua Indifferenz, konstruiert S. alles endlich Seiende als Seinkönnen bzw. Modifikation des Absoluten. Als Konsequenz dieses Ansatzes ergibt sich erstens das Prinzip der quantitativen Differenz von Subjektivem u. Objektivem in jedem Seienden, zweitens die Möglichkeit einer Folge von Potenzen des Seienden, drittens die Inhärenz alles Seienden im Absoluten. Die Schrift blieb Fragment u. zog alsbald Fernere Darstellungen aus dem System der Philosophie (in: Neue Zeitschrift für speculative Physik, 1802) nach sich. Dasselbe Thema variieren die im Umkreis der Darstellung entstandenen Schriften, so etwa der Dialog Bruno oder über das göttliche und natürliche Princip der Dinge (Bln. 1802), der in Anknüpfung an Platons Timaios u. den Neuplatonismus das Universum als göttl. Kunstwerk konstruiert, oder die 1803 in Jena gehaltenen Vorlesungen über die Methode des academischen Studiums (Tüb. 1803) sowie v. a. die Vorlesungen über die Philosophie der Kunst (1802/1803. Postum Stgt./Augsb. 1859), die S. in Würzburg 1804/1805 wiederholte, nachdem er 1803 einen an ihn ergangenen Ruf dorthin angenommen hatte. Das identitätsphilosophische Konzept des Absoluten als des poetischen Geistes bedeutete zgl. die Abkehr S.s von Fichte. Im 1804 geschriebenen (jedoch nicht publizierten) System der gesammten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere wird sie u. d. T. einer Überwindung der Subjektivität vollzogen, in deren Konsequenz die intellektuelle Anschauung aus ihrer Einschränkung auf das Selbstbewusstsein herausgelöst wird. (Der Briefwechsel mit Fichte hatte bereits 1802 aufgehört; mit der Darlegung des wahren Verhältnisses der Naturphilosophie zu der verbesserten Fichte’schen Lehre [Tüb. 1806] machte S. den Bruch öffentlich.) Der Versuch einer identitätsphilosophischen Überwindung der Subjektivitätsphilosophie stellte S. aber vor ein Problem, das seinem Denken einen neuen Grund weisen sollte: Wie kann, wenn im Absoluten alles absolut ist, die Tatsache des Endlichen erklärt werden? Es ging um das, was das AT in dem Mythologem des Sündenfalls ausgesprochen hatte. Bereits im Bruno hatte S. die Verselbstständigung des Endlichen gegenüber dem
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Absoluten als Folge von dessen eigenem Willen interpretiert. Die Abhandlung Philosophie und Religion (Tüb. 1804) vertieft diese Sicht durch den Gedanken des Abfalls: Im Absoluten liegt zwar die Möglichkeit des Endlichen; verwirklicht wird sie aber ausschließlich durch dessen eigene Tat. Die Frage nach der Möglichkeit dieser Tat wiederum verweist auf das Problem der menschl. Freiheit, das S. allerdings erst fünf Jahre später erörterte. Inzwischen hatte er Würzburg aus polit. u. konfessionellen Gründen verlassen u. war Mitgl. der Akademie der Wissenschaften in München geworden. Hier, wo er, abgesehen von einem Aufenthalt in Erlangen (1820–1827), fast drei Jahrzehnte lebte, wurde er durch Franz von Baader mit der Theosophie, insbes. dem Denken Böhmes, bekannt gemacht; er wandte sich dem Problem der Materie erneut zu. Das Absolute wird nun als »natura naturans« bestimmt, aber im Gegensatz zu Spinoza u. in Absetzung von seiner eigenen Identitätsphilosophie als schöpferisches Wollen verstanden, das alles durchwirkt. Dieses ist das unteilbare »Band« bzw. die »Idea«, welche die koexistierenden polaren Momente Schwere u. Licht zu jeweils individuellem Sein verbindet (Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie. In: Jahrbücher der Medicin als Wissenschaft. Hg. von S. Tüb. 1805. Aphorismen über die Naturphilosophie. In: ebd., 1806. Über das Verhältniß des Realen und Idealen in der Natur. Oder Entwickelung der ersten Grundsätze der Naturphilosophie an den Principien der Schwere und des Lichts. Hbg. 1806). Diesem Konzept entsprechend bestimmte S. auch das Wesen der Kunst neu: Kunst ahmt Natur nur dann wahrhaft nach, wenn sie Darstellung des Bandes, d.h. des Kunstwollens der schaffenden Natur ist (Über das Verhältniß der bildenden Künste zu der Natur. Landshut 1807). Diese Rede bewirkte, dass S. 1808 zum Generalsekretär der Akademie der bildenden Künste ernannt wurde – ein Amt, das er bis 1823 innehatte. Das Konzept der schaffenden Natur als Wollen wurde zur Grundlage für die Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände (in: Philosophische Schriften. Bd. 1, Landshut 1809). Analog zum Dualismus von Schwere u.
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Licht in der Materie werden auch in Gott u. Mensch die Momente von dunklem Grund der Existenz (Individuations- bzw. Personalitätsprinzip) u. lichtem Existierenden (Formprinzip/Idee) unterschieden, die sich wie Grund u. Folge zueinander verhalten u. durch das Band des Wollens verbunden sind. Ist dieses personale Band in Gott unauflöslich, so dass in ihm die spontan hervorbringende Kraft des Grundes notwendig der Formkraft des Existierenden untergeordnet ist, so hat der Mensch im Gebrauch seiner (Willens-)Freiheit die Rangordnung beider umgekehrt u. dadurch in einer für ihn tragischen Weise das Band aufgelöst. Gleichzeitig aber gibt sein Abfall Gott die Möglichkeit, das Band neu zu knüpfen, indem er sich dem Menschen als personale Liebe offenbart u. so die gestörte All-Einheit wiederherstellt. Mit der Begründung der menschl. Freiheit in einer Gott u. Mensch gemeinsamen Natur sah S. sich gleichzeitig mit dem Problem der Freiheit Gottes konfrontiert. Sie ist das Thema der als danteske Erzählung geplanten, Torso gebliebenen Weltalter, an denen S. fast zwei Jahrzehnte, von 1810 bis 1827, gearbeitet hat. Schon in den nach dem Tod von Caroline (1809) gehaltenen Stuttgarter Privatvorlesungen hatte er das Leben Gottes als Prozess der Selbstbewusstwerdung, in der freiwilligen Scheidung seines dunklen Grundes von sich, beschrieben – ganz analog der Geschichte des menschl. Selbstbewusstseins. Dieser Gedanke der Geschichtlichkeit des Absoluten wurde das Leitmotiv des ersten Entwurfs der Weltalter. Dass er als Gleichsetzung von Gott u. Geschichte bzw. Natur hätte verstanden werden können, zeigte die Reaktion Jacobis auf S.s Akademierede. Jacobi warf S. Naturalismus vor u. bezichtigte ihn implizit des Atheismus (Von den Göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung. 1811). S. antwortete mit einer äußerst scharfen Streitschrift, welche die Natur in Gott betonte, ohne dessen Transzendenz einzuebnen (Denkmal der Schrift von den göttlichen Dingen etc. des Herrn Friedrich Heinrich Jacobi. Tüb. 1812). Der Streit mit Jacobi, in dessen Verlauf Goethe entschieden Partei für S. ergriff, veranlasste diesen, in den beiden folgenden (ebenfalls nicht publizierten) Entwürfen der Weltalter (1813) das Mo-
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ment der Transzendenz Gottes stärker hervortreten zu lassen. In der als Beilage zu den Weltaltern bezeichneten letzten Druckschrift Über die Gottheiten von Samothrace (Stgt./Tüb. 1815) werden am Exempel der sich zu einem überweltl. persönl. Gott steigernden Kabirengötter (von Goethe im Faust karikiert) bereits Umrisse der Spätphilosophie erkennbar. Sie führte zu einer grundlegenden Wende in seinem Denken, die in seiner ersten Vorlesung an der neu gegründeten Münchener Universität, System der Weltalter (1827/28), zum Ausdruck kommt. Er bindet die Ergebnisse der um das Problem der Weltalter kreisenden Denkbemühungen ein in das Projekt eines »Systems der Freiheit«, das sich als Korrektiv von Spinozas Ethik u. Gegenentwurf zu Hegels Wissenschaft der Logik versteht. S. diagnostiziert den Rationalismus der bisherigen Systeme als defizitär, sofern dieser die Tatsache der Welt, d.h. den bereits von der Naturphilosophie aufgezeigten Sieg des subjektiv Geistigen über das objektiv Materielle, mit seinen Mitteln nicht zu erklären vermag. S. sucht diesen Mangel mit seiner »positiven Philosophie« dadurch zu beheben, dass er die Tatsache als Wirkung einer außer beiden liegenden Ursache, der Freiheit des göttl. Willens, erklärt. S. vertieft diese Metaphysik in den Vorlesungen zur Philosophie der Mythologie und der Offenbarung, die er auch an der Universität Berlin fortsetzte. Dorthin war er 1841 berufen worden, um Hegels wirkmächtige Philosophie zu bekämpfen. Anfänglich stark beachtet – zu seinen Hörern zählten u. a. Kierkegaard, Engels, Bakunin, Ranke, Droysen u. Burckhardt –, verloren seine Vorlesungen recht bald an Resonanz, so dass er sie 1846 ganz einstellte u. sich auf Akademievorträge beschränkte. Die Wirkung von S.s Denken ist aufgrund des Fehlens einer Schule nicht leicht feststellbar, dennoch aber vielfältig; sie erstreckt sich auf die Theologie des 19. Jh. (Tübinger Schule: J. A. Möhler, F. A. Staudenmaier) u. 20. Jh. (P. Tillich), die russ. Religionsphilosophie (W. Solowjew, N. Berdjajew), die spätromant. Geschichtsphilosophie (E. v. Lasaulx), die bildende Kunst (Ph. O. Runge), die Kunsttheorie (K. W. F. Solger) u. die Poetik (S. T. Coleridge, W. Wordsworth) sowie über Kierkegaard u. Nietzsche
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auf Anthropologie u. Psychologie, schließlich auf Heidegger u. die Kritische Theorie. Weitere Werke: Ausgaben: Sämmtl. Werke. Hg. Karl Friedrich August Schelling. 14 Bde., Stgt./ Augsb. 1856–61. Neudr. (Ausw.) Darmst. 1966 ff. – Werke. Hg. Manfred Schröter. 13 Bde. (inkl. 6 Erg.Bde. u. Nachlassbd. ›Die Weltalter‹). Mchn. 1927–54. – Hist.-krit. Ausg. der Bayer. Akademie der Wiss.en. Stgt.-Bad Cannstatt 1976 ff. – Ausgew. Schr.en in 6 Bdn. Hg. Manfred Frank. Ffm. 1985. – Briefe: Aus S.s Leben. In Briefen. Hg. Gustav Leopold Plitt. 3 Bde., Lpz. 1869/70. – Briefe u. Dokumente. Hg. Horst Fuhrmans. 3 Bde., Bonn 1962–75. – Fichte – S. Briefw. Hg. Walter Schulz. Ffm. 1968. – Walter E. Ehrhardt: S. Leonbergensis u. Maximilian II. v. Bayern (Briefw. mit Komm.). Stgt.-Bad Cannstatt 1989. – S. – Fichte. Briefw. Hg. u. komm. v. Hartmut Traub. Neuried 2001. – Tagebücher: Das Tgb. 1848. Hg. Hans Jörg Sandkühler. Hbg. 1990. – Philosophische Entwürfe u. Tagebücher 1809–1813. Hg. Lothar Knatz, H. J. Sandkühler u. Martin Schraven. Hbg. 1994. – Philosophische Entwürfe u. Tagebücher 1814–1816. Hg. dies. Hbg. 2002. – Einzelwerke, postume Ausgaben, Nachschriften: Initia philosophiae universae. Erlanger Vorlesung 1820/21. Hg. H. Fuhrmans. Bonn 1969. – Grundlegung der positiven Philosophie. Münchener Vorlesung WS 1832/33 u. SS 1833. Hg. ders. Turin 1972. – Stuttgarter Privatvorlesungen. Version inédite. Hg. Miklos Vetö. Ebd. 1973. – Barbara Loer: Das Absolute u. die Wirklichkeit in S.s Philosophie [...]. Bln./New York 1974. – Philosophie der Offenbarung. Hg. M. Frank. Ffm. 1977. – S.s u. Hegels erste absolute Metaphysik (1801–1802). Zusammenfassende Vorlesungsnachschr.en v. Ignaz Paul Vitalis Troxler. Hg. Klaus Düsing. Köln 1988. – Einl. in die Philosophie. Hg. W. E. Ehrhardt. Stgt.-Bad Cannstatt 1989. – System der Weltalter. Münchener Vorlesung 1827/28 in einer Nachschr. v. Ernst v. Lasaulx. Hg. Siegbert Peetz. Ffm. 1990. 21998. – Philosophische Untersuchungen über das Wesen die menschl. Freiheit u. dem damit zusammenhängenden Gegenstande. Hg. Thomas Buchheim. Hbg. 1997. – WeltalterFragmente. Hg. Klaus Grotsch. 2 Bde., Stgt.-Bad Cannstatt 2002. – Bruno oder über das göttl. u. natürl. Prinzip der Dinge. Ein Gespräch. Mit einer Einl. u. Anmerkungen hg. v. Manfred Durner. Hbg. 2005. Literatur: Bibliografien: Guido Schneeberger: F. W. J. v. S. Eine Bibliogr. Bern 1954. – Hans Jörg Sandkühler: F. W. J. S. Stgt. 1970. – Gesamtdarstellungen: Kuno Fischer: Gesch. der neuern Philosophie. Bd. 6 (2 Bücher), Heidelb. 1872 u. 1877. – Xavier Tilliette: S. Une philosophie en devenir.
296 2 Bde., Paris 1970. 21992. – Hans Michael Baumgartner u. Harald Korten: F. W. J. S. Mchn. 1996. – H. J. Sandkühler (Hg.): F. W. J. S. Stgt./Weimar 1998. – Biografien, biografische Dokumente: X. Tilliette: S. im Spiegel seiner Zeitgenossen. 3 Bde., Turin 1974–81. Mailand 1988. – Ders.: S. Biographie. Stgt. 2004. – Weitere Titel: Eduard v. Hartmann: S.s philosoph. System. Bln. 1897. – Horst Fuhrmans: S.s Philosophie der Weltalter. Düsseld. 1954. – Jürgen Habermas: Das Absolute u. die Gesch. Von der Zwiespältigkeit in S.s Denken. Diss. Bonn 1954. – Karl Jaspers: S. Größe u. Verhängnis. Mchn. 1955. – Walter Schulz: Die Vollendung des Dt. Idealismus in der Spätphilosophie S.s. Pfullingen 1955. 21975. – Alexander Hollerbach: Der Rechtsgedanke bei S. Ffm. 1957. – Dieter Jähnig: S. Die Kunst in der Philosophie. 2 Bde., Pfullingen 1966 u. 1969. – Martin Heidegger: S.s Abhandlung Über das Wesen der menschl. Freiheit (1809). Tüb. 1971. – Werner Beierwaltes: Platonismus u. Idealismus. Ffm. 1972. 2 2004. – Manfred Frank u. Gerhard Kurz (Hg.): Materialien zu S.s philosoph. Anfängen. Ffm. 1975. – Ludwig Hasler (Hg.): S. Seine Bedeutung für eine Philosophie der Natur u. der Gesch. Stgt.-Bad Cannstatt 1981. – M. Frank: Eine Einf. in S.s Philosophie. Ffm. 1985. – Wolfram Hogrebe: Prädikation u. Genesis. Metaphysik als Fundamentalheuristik im Ausgang v. S.s ›Die Weltalter‹. Ffm. 1989. – Jean-François Courtine: Extase de la Raison. Essais sur S. Paris 1990. – Thomas Buchheim: Eins von Allem. Die Selbstbescheidung des Idealismus in S.s Spätphilosophie. Hbg. 1992. – Friedrich Hermanni: Die letzte Entlastung. Vollendung u. Scheitern des abendländ. Theodizeeprojekts in S.s Philosophie. Wien 1994. – Lore Hühn: Fichte u. Schelling oder: Über die Grenze menschl. Wissens. Stgt./Weimar 1994. – Siegbert Peetz: Die Freiheit im Wissen. Eine Untersuchung zu S.s Konzept der Rationalität. Ffm. 1995. – H. M. Baumgartner u. Wilhelm G. Jacobs (Hg.): S.s Weg zur Freiheitsschrift. Legende u. Wirklichkeit. Stgt.-Bad Cannstatt 1996. – Paul Ziche: Mathemat. u. naturwiss. Modelle in der Philosophie S.s u. Hegels. Ebd. 1996. – Thomas Leinkauf: S. als Interpret der philosoph. Tradition. Zur Rezeption u. Transformation v. Platon, Plotin, Aristoteles u. Kant. Münster 1998. – Jochem Hennigfeld: F. W. J. S.s ›Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschl. Freiheit u. der damit zusammenhängenden Gegenstände‹. Darmst. 2001. – T. Buchheim u. F. Hermanni (Hg.): ›Alle Persönlichkeit ruht auf einem dunkeln Grunde‹. S.s Philosophie der Personalität. Bln. 2004. – W. G. Jacobs: S. lesen. Stgt.Bad Cannstatt 2004. – Jörg Jantzen: F. W. J. S. In: NDB. Siegbert Peetz
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Schelwig, Schelgvig(ius), Samuel, * 8.3.1643 Lissa (poln. Leszno), † 18.1.1715 Danzig. – Philosophieprofessor, Bibliothekar, evangelischer Theologe. Der Sohn des Pfarrers Samuel Schelwig u. einer Tochter des Liederdichters Johann Heermann besuchte zunächst das MagdalenenGymnasium in Breslau. 1661 nahm er ein Philosophie- u. Theologiestudium in Wittenberg auf, wo u. a. Abraham Calov u. Johann Andreas Quenstedt zu seinen Lehrern gehörten. Dort erwarb er nach einer Disputation am 18.4.1663 (Exercitationem historicochronologicam de sabbatho dierum [...] examini submittunt Praeses M. Daniel Spiegel [...] et Respondens S. Schelguigius [...]. Wittenb. 1663) den Magistergrad, entfaltete eine intensive Disputationstätigkeit u. wurde 1667 Adjunkt der Philosophischen Fakultät; doch schon 1668 übernahm er das Amt des Konrektors am Gymnasium in Thorn. In der Thorner Zeit verfasste er u. a. ein Poetikhandbuch, den Entwurff, der lehrmäßigen Anweisung zur teutschen Ticht-Kunst (Wittenb. 1671), in dem er die Poesis als »dienstbahre Fertigkeit«, also als Instrumentalhabitus, definierte, sowie das auf Lucian basierende Drama Timon, oder, Mißbrauch des Reichthums (Thorn 1671) u. nahm polemisch Stellung zu der europaweit geführten Debatte um Isaac de La Peyrères These (1655) über Menschen vor Adam (Exercitatio de Praeadamitis. Präs.: S. S.; Autor u. Resp.: Andreas Benjamin Hempel. Thorn 1673). 1673 erfolgte S.s Berufung als Philosophieprofessor u. Bibliothekar an das Athenaeum, das Danziger Gymnasium illustre, wo er bald zum a. o. Prof. der Theologie aufstieg u. 1681 zudem Prediger an der Katharinenkirche wurde. Am 7.5.1685 verteidigte S. in Wittenberg zum Erwerb des theolog. Lizentiats unter dem Vorsitz von Quenstedt die Dissertatio historico-theologica, de statu ecclesiae evangelicae, a beata Theandri Lutheri morte (Wittenb. 1685), wenig später, am 25. Juni, wurde er zum Dr. theol. promoviert. In Danzig wurde er danach Rektor des Gymnasiums sowie Pastor an der Dreifaltigkeitskirche. In seiner am 11.9.1685 gehaltenen Rede zum Amtsantritt setzte er sich mit den zeitgenöss. Unionsbestrebungen auseinander
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(De articulis fidei, ad unionem ecclesiae nostrae cum romana promovendam [...] oratio inauguralis [...]. Danzig 1685), ein Thema, das er später noch einmal vor dem Hintergrund von zahlreichen Konversionen zur röm. Kirche zum Gegenstand mehrerer Disputationen machte (De unione ecclesiarum, Tridentinae atque Augustanae confessioni adhaerentium, disputationes sex, Tubae pacis, Matthaei Praetorii, apostatae [...] oppositae. Danzig 1689). In den neunziger Jahren griff S. mit etlichen Schriften in die Streitigkeiten mit den Pietisten ein, gegen die er den Lehrbegriff der luth. Orthodoxie, insbes. den Primat des Glaubens, offensiv verteidigte: 1693 gab er ein Gutachten der Leipziger Theologischen Fakultät heraus u. versah es mit einer Vorrede (Der hochwürdigen theologischen Facultät, in der rechtgläubigen Universität Leipzig, an Chur-Fürstl. Durchlaucht. zu Sachsen, gründliches und wolgesetztes Bedencken, von der Pietisterey [...]. Danzig 1693), gegen seinen Danziger Amtsgenossen Constantin Schütze, Pastor an der Marienkirche u. Anhänger Speners, war Eine christliche Predigt, von Außtreibung des Schwarm-Teuffels (1695) gerichtet, u. auch Spener selbst, den ›Patriarchen der Pietisten‹, griff er an (u. a. Kurtze Wiederholung der evangelischen Warheit, in einigen Lehr-Puncten, betreffende die Artickel vom Gesetz und Evangelio, vom Glauben und den Wercken, von der Rechtfertigung und Heiligung [...]. Ffm./Lpz. 1695. Die sectirische Pietisterey [...] aus Hn. D. Philipp Jacob Speners und seines Anhangs Schrifften [...]. 3 Tle., o. O. 1696/97). In engstem systemat. Zusammenhang mit den orthodoxen Bemühungen um die Abwehr der pietistischen ›Werkheiligkeit‹ stand die Thematisierung der ›vergönnten Weltfreude‹. In seiner Synopsis controversiarum. Sub pietatis praetextu motarum (Danzig 1701 u. ö.) lehrte S., dass die heilige Lebensführung durchaus nicht zur »via salutis« als deren konstitutiver Teil gehöre. Der Glaube werde durch sie weder bewahrt noch vermehrt noch gestärkt, u. es bestehe keine Notwendigkeit, das ganze Leben mit ganzer Kraft nach der Bibel einzurichten. Bezeichnenderweise widmete S. den Artikel ›De libertate christiana‹ dieser Synopsis ausschließlich der Behandlung u. Rechtfertigung weltbezogener Vergnügun-
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gen, u. zwar jenseits allen Nutzens, dem sie auch noch dienen könnten. Der überwiegende Teil von S.s umfassendem Œuvre ist noch unerforscht; es existiert kein auch nur annähernd vollständiges Werkverzeichnis. Weitere Werke: Exercitatio politica, de neutra parte. Resp.: Benjamin Löscher. Wittenb. 1664. – Ius linguae. Resp.: Wolfgang Abraham v. Gersdorf. Ebd. 1667. – Idea logicae. Thorn 1673. – Connexio praeceptorum logicorum [...] in gratiam repetentium, tabulis repraesentata. Danzig 1674. – Connexio praeceptorum metaphysicorum [...] in gratiam repetentium, tabulis repraesentata. Ebd. 1674. – De incrementis bibliothecae Gedanensis, epistola et commentatio. Ebd. 1677. – Lobwürdige SelbstLiebe des Leibes. Predigt über Rom. 13. v. 14. Ebd. 1681 (möglicherweise verschollen). – CatechismusReinigung [...]. Ebd. 1684 u. ö. – Schrifftmäßige Prüfung des Babstthums [...]. Lpz. u. a. 1687 u. ö. – Cynosura conscientiae, oder Leit-Stern des Gewissens [...]. Ffm. u. a. 1692. – Dissertationem solennem, de lingua beatorum in altera vita [...] offert auctor Gabriel Groddeck. Danzig o. J. [1692]. – Itinerarium antipietisticum, das ist kurtze Erzehlung einiger Dinge, so er auff seiner, schon im vorigen 1694sten Jahre verrichteten Reise, der Pietisten wegen, in Teutschland wahrgenommen [...]. Stockholm 1695. – Supplementum synopseos [...]. Danzig 1708. – Dissertatio theologica de sensu scripturae s. literali [...]. Resp.: Christian Bernhard Bücher. Ebd. 1710. Ausgaben: Internet-Ed. mehrerer Texte in: VD 17. – Entwurff, der lehrmäszigen Anweisung zur teutschen Ticht-Kunst. Wittenb. 1671. InternetEd.: http://books.google.de. – Eine christl. Predigt, von Außtreibung des Schwarm-Teuffels [...]. Danzig 1695. Internet-Ed.: SB Berlin. – Übers.: O poczatkach Biblioteki Gdan´skiej [...]. Übers. u. komm. v. Lidia Pszczól/kowska. Vorw. v. Zbigniew Nowak. Gdan´sk 1992 (De incrementis bibliothecae Gedanensis [...]). Literatur: Bibliografien: Praetorius, S. 129–135. – VD 17. – Weitere Titel: Ephraim Praetorius: Athenae Gedanenses [...]. Lpz. 1713, Nr. 68, S. 127–135. – Bibliotheca Schelguigiana sive catalogus librorum [...]. Hg. Georg Mattern. Danzig 1716. – D. Erdmann: S. S. In: ADB. – Wagenmann (C. Mirbt): S. S: In: RE, Bd. 17, S. 553–555. – Bruno Markwardt: Gesch. der dt. Poetik. Bd. 1, Bln. 31964, Register. – Fritz Gause: S. S. In: Altpr. Biogr., Bd. 2, S. 603. – Heiduk/Neumeister, S. 92, 233, 461. – Gesch. Piet., Bd. 1, S. 366 f., 370; Bd. 4, S. 418. – Joachim Dyck: Ticht-Kunst. Dt. Barockpoetik u. rhetor. Tradition.
298 Tüb. 31991. – Estermann/Bürger, Tl. 1., S. 1105; Tl. 2, S. 1247 f. – Martin Gierl: Pietismus u. Aufklärung. Theologische Polemik u. die Kommunikationsreform der Wiss. am Ende des 17. Jh. Gött. 1997, Register. – Jörg Wesche: Literar. Diversität. Abweichungen. Lizenzen u. Spielräume in der dt. Poesie u. Poetik der Barockzeit. Tüb. 2004. – R. B. Sdzuj: Adiaphorie u. Kunst. Tüb. 2005, bes. S. 278–280. – Heike Krauter-Dierolf: Die Eschatologie Philipp Jakob Speners. Der Streit mit der luth. Orthodoxie um die ›Hoffnung besserer Zeiten‹. Tüb. 2005, Kap. 10, S. 296–310. Reimund B. Sdzuj
Schenck, Schenk, (Friederike Marie) Charlotte von, * 1742 Dessau, † 31.5.1789 Walbeck. – Lyrikerin. S. war die Tochter eines Oberstallmeisters in Dessau. Sie gehörte zur Familie der Schenck von Flechtingen aus dem Hause Lemsell in der Altmark. S.s geliebter Vater u. ihr Bruder starben früh; dies sei – so schreibt sie in der Vorrede zu ihren Gedichten – die wahre Veranlassung gewesen, etwas von ihren schriftl. Beschäftigungen »der Presse zu überliefern«. Ihre Vorbilder waren Richardson, Gellert u. Cronegk. 1772 veröffentlichte S. ihr einziges Buch: Versuche in Gedichten (Braunschw.). Das schmale Bändchen enthält überwiegend empfindsame Oden auf die verschiedensten Anlässe u. Gegenstände, z. B. auf den Tod des Herrn Cronegk oder An ein Buch. Meist haben die Gedichte moralisch-reflektierenden Charakter. Überzeugend ist S. in einfachen Themen, wie in dem Gedicht An eine Rose (S. 51). Sie starb unverheiratet in Walbeck im Halberstädtischen. Literatur: Andreas Gottfried Schmidt: Anhalt’sches Schriftsteller-Lexikon [...]. Halle 1830, S. 354. – Frankfurter gelehrte Anzeigen vom Jahr 1772. 2. Hälfte. Neudr. Heilbr. 1883, S. 638. – Goedeke 4,1.1, S. 127. – Elisabeth Friedrichs: Die deutschsprachigen Schriftstellerinnen des 18. u. 19. Jh. Stgt. 1981, S. 267. Andrea Ehlert
Schendel, Andreas, * 9.6.1971 Kamp Lintfort. – Erzähler, Kinder- u. Jugendbuchautor. S. ist am Niederrhein aufgewachsen. Nach der Realschule machte er eine Lehre im Bergbau; 1992 legte er das Abitur ab. S. studierte an-
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schließend in Freiburg i. Br. Psychologie, Germanistik u. Philosophie, brach das Studium 1998 aber nach Erscheinen seines ersten Buches ab, um als freier Schriftsteller zu leben. 2003 war er Dresdner Stadtschreiber u. erhielt den Peter-Klein-Literaturpreis. Seither pendelt S. zwischen Dresden u. Budapest. An Kinder richten sich die beiden Romane Lotte und die Wüstenfreundschaft (Zürich 2000; auch als Hör-CD, Freib. 2005) u. Virág oder Wenn die Welt verrutscht (Bln. 2010), in denen die Hauptfiguren Mädchen sind. Lotte leidet darunter, dass ihre Eltern keinen Besuch erlauben. In einem Park lernt sie eine merkwürdige Frau kennen, die in einem Wohnwagen mit vielen Tieren lebt u. eine Fliegerkappe trägt. Sie freundet sich mit ihr an u. feiert in deren Wohnwagen ihren Geburtstag, zu dem sie die Klassenkameraden einlädt. Virág ist elf Jahre u. wird eines Tages von einem seltsamen Zittergefühl befallen. Als sie sich im Unterricht krampfhaft an ihre Freundin klammert, kommt sie zur psychiatr. Behandlung in eine Klinik. Die Gespräche mit der Therapeutin fördern Verlustängste zu Tage, die aus dem häufigen Streit ihrer Eltern resultieren. Der Roman endet verhalten hoffnungsvoll. Leuchtspur (Bln. 2001) ist ein klass. Adoleszenzroman. Der autobiografisch geprägte Erzähler Benjamin schildert in behutsamer Weise den Loslösungsprozess vom Elternhaus, die Phase intellektueller u. erot. Entdeckungen. In Nimm Anlauf und spring (Zürich 2003. Taschenbuchausg. Ffm. 2008) heißt der 13-jährige Ich-Erzähler ebenfalls Benjamin. Während sein Freund Leckerchen noch ganz Kind ist, erwacht in ihm der Drang zur Autonomie u. das Interesse am anderen Geschlecht. Unbemerkt von den Eltern unternimmt er nächtl. Ausflüge zu einem einsam liegenden, leer stehenden Haus, wo er einmal die aus der Ferne verehrte Schulkameradin Bettina heimlich beim Sex beobachtet. Einen adoleszenten Protagonisten hat auch der Roman Dann tu’s doch (Mchn. 2007), der in Budapest spielt. Der 14-jährige Zoltán, der mit Mutter u. älterem Bruder in einer Plattenbausiedlung lebt, knüpft zarte Bande mit Aranka, deren Eltern ebenfalls getrennt sind.
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S.s Roman Fluchtpunkt. Geschichte einer Liebe (Zürich 2002) besitzt ein histor. Sujet. Er handelt von der Verbindung zwischen dem jungen Iren Samuel Weldon u. der aus Norwegen stammenden Malerin Signe, die im Herbst 1936 in Paris beginnt. Sie ziehen zusammen u. kümmern sich liebevoll um die kleine Bekka, die ihnen der Nachbar Thomas Blum zum Spielen u. Vorlesen überlässt. Bekkas Eltern sind dt. Juden, u. während sie im Sommer 1939 in Paris illegal Unterschlupf findet, wird ihr Bruder Georg in Amsterdam versteckt. Dies ist der zweite Handlungsort in S.s Roman. Im Mittelpunkt steht hier das Milieu des Widerstands, der sich nach der dt. Besatzung formiert. Einer der Widerständler, Max Goedhart, muss nach einem gescheiterten Attentat verschwinden u. erhält Blums Adresse. Was dann geschieht, lässt sich nur erahnen. Jedenfalls finden Sam u. Signe die Leichen von Blum, Bekka u. einem Unbekannten in ihrer Wohnung. Die herabgelassenen Hosen von Goedhart deuten auf ein versuchtes Verbrechen hin. Als die Gestapo sich für den Fall zu interessieren beginnt, flüchten Sam u. Signe mit dem Fahrrad aus Paris Richtung Süden. Es gelingt ihnen zu entkommen u. den Krieg zu überstehen, aber ihr Leben hat einen unheilbaren Riss. Am Ende ihrer Flucht, als der durch einen Fahrradunfall verletzte Sam sich Hilfe suchend zu einem Lastwagen des Roten Kreuzes begibt, spielt S.s Roman noch mit einer literaturgeschichtl. Allusion. Die Szene ruft ein Foto von Samuel Beckett ins Gedächtnis, das ihn im Sommer 1945 als Rotkreuzhelfer an einem Lastwagen lehnend zeigt. S. hat die Chronologie dieser Ereignisse in eine verschachtelte Erzählweise aufgelöst. Die Hauptquelle bilden Sams Tagebucheinträge nach Bekkas Tod im Juli 1942. Der Briefverkehr zwischen den Geschwistern sowie Blums Berichte an Bekkas Vater sind eine weitere erzählerische Quelle. Als Kommentarebene zur Handlung fungieren die von Sam notierten Träume u. die Besuche von Chaplin-Filmen. Fluchtpunkt beeindruckt durch die Souveränität des Erzählens sowie durch die Sensibilität in der Figurengestaltung u. im Umgang mit dem histor. Stoff.
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Ein verbindendes Element aller Bücher von taube Blume. Bln. 1933. – Wilhelm v. Oranien. Bln. S. ist die Verwendung von Motti u. leitmoti- 1935. Helmut Blazek visch eingesetzten Zitaten aus Liedtexten von Bob Dylan. Schenk, Eduard von (seit 1828), * 10.10. Weiteres Werk: Die Gesch. v. Gina u. Herrn Seeger (zus. mit Lola Renn). Zürich 1998 (Kinderbuch). Jürgen Egyptien
Schendell, Werner, auch: Roman Quitt, * 18.4.1891 Elsterwerda, † 5.3.1961 WestBerlin. – Bühnenautor, Romancier u. Erzähler. Der Arztsohn u. promovierte Philosoph war während der Weimarer Republik Geschäftsführer des Schutzverbandes dt. Schriftsteller. 1933 wurde der Verband aufgelöst; S. galt als unerwünscht. Er zog sich in die »innere Emigration« zurück u. publizierte vorläufig nicht mehr. S. setzte sich später in verschiedenen Standesorganisationen für die Autoren, ihre geistige Freiheit u. soziale Sicherung ein. Sein vor dem Ersten Weltkrieg spielendes Drama Parteien (Bln. 1918) zeigt für den Expressionismus charakterist. Züge. Die Sprache ist von teilweise ekstat. Pathos getragen; das Wissen um die Unterdrückung der Arbeiterklasse führt zu positiver Bewertung des Sozialismus. Der Roman Nachspiel (Bln. 1923) schildert die Midlife-crisis eines Anwalts, der sich, enttäuscht von Ideologien u. am Werteverfall der Nachkriegszeit leidend, in die Provinz zurückzieht. Die Sehnsucht nach erfülltem Leben treibt ihn aus dem Kreis seiner Familie nach Berlin. Nach einem erot. Abenteuer kehrt er zu Frau u. Kindern zurück: Er will sich jetzt der Familie u. dem Wohl der Gesellschaft widmen. In S.s Roman erscheinen die Verhältnisse nach dem Ersten Weltkrieg als gnadenlose gegenseitige Ausbeutung. Nach 1945 trat S. vor allem als Verfasser von Komödien hervor, beispielsweise mit dem Berliner Volksstück Die Badewanne (Urauff. Spandau 1952). Die damalige OstWest-Problematik wird auf humor- u. gefühlvolle Weise dargestellt. Weitere Werke: Naturereignisse im dt. Drama. Diss. Greifsw. 1918. – Dienerin. Bln. 1919. – Ein glückl. Erbe. Bln. 1930. – Ein Scheffel Salz. Die
1788 Düsseldorf, † 26.4.1841 München; Grabstätte: ebd., Alter Südlicher Friedhof. – Staatsbeamter; Lyriker, Dramatiker. Der Sohn eines hohen Staatsbeamten studierte in Landshut Jura, konvertierte 1817 zum Katholizismus, stieg dank seiner engen Beziehungen zu König Ludwig I. schnell auf u. wurde 1828 Innenminister. Erst die im Gefolge der frz. Julirevolution auch in Bayern einsetzende Liberalisierung beendete S.s polit. Karriere; 1831 entlassen, wurde er als Regierungspräsident der Oberpfalz nach Regensburg abgeschoben. – Als engster kulturpolit. Berater Ludwigs I. hatte S. entscheidenden Anteil an der Verlegung der Universität Landshut nach München, der Neufundierung der säkularisierten bayerischen Klosterlandschaft, an der klerikalen Durchsetzung der Bayerischen Akademie der Wissenschaften u. des neuhumanistischen Schulwesens. In seinen Händen lag die organisatorische Durchführung des Baus der Walhalla bei Regensburg als eines in Bayern angesiedelten dt. Pantheons. In Anerkennung seiner dichterischen Leistungen wurde S.s Büste von Ludwig I. (bei dessen Lyrik er als verstechn. Berater zur Seite gestanden hatte) in die Münchner Ruhmeshalle aufgenommen. S.s (unaufgeführte) Trauer- u. Huldigungsspiele, allen voran Belisar (1826), verbanden eine gezwungene Motivierung mit pathetisch gesteigerten Hauptu. Staatsaktionen. Sprachlich orientierte sich S. an der hohen Verssprache Schillers, deren Bildstrukturen er epigonal ausmalte. Als Lyriker lieferte S. neben Huldigungs-, Fest- u. Einweihungsgedichten eine Fülle religiöser oder religiös verbrämter Liebeslyrik, für deren Verbreitung er als Herausgeber des Taschenbuchs »Charitas« (Regensb. 1834 ff.) sorgte. Daneben förderte er seinen Freund Michael Beer, dessen Dramen er herausgab. Ausgabe: Schauspiele. 3 Bde., Stgt. 1829–35. Literatur: Karl Wilhelm Donner: E. v. S. Diss. Münster 1913. – Max Spindler (Hg.): Ludwig I.
301 Briefw. mit E. v. S. 1833–41. Mchn. 1930. – Josef Weyden: E. v. S. Graz 1932. – Sylvia Krauß: E. v. S., die Gesch. u. sein Verhältnis zu Ludwig I. In: ›Vorwärts, vorwärts sollst du schauen ...‹. Gesch., Politik u. Kunst unter Ludwig I. Bd. 9. Hg. Johannes Erichsen u. Uwe Puschner. Mchn. 1986, S. 101–108 (Ausstellungskat.). – Gerhard Schulze: ›Dem Geiste treu, dem Zeitgeist nicht‹. Zum 200. Geburtstag des Staatsmannes u. Dichters E. v. S. In: Unser Bayern 37 (1988), H. 10, S. 78–79. – Ernst Emmerig: E. v. S. – der erste Regierungspräsident der Oberpfalz (1788–1841). In: Berühmte Regensburger. Hg. Karlheinz Dietz u. Gerhard H. Waldherr. Regensb. 1997, S. 225–231. – Wilhelm Weidinger: E. v. S. Innenminister, Regierungspräsident in Regensburg u. Dichterfreund Ludwigs I. Regensb. 2001. Rolf Selbmann
Schenk, Herrad, * 5.1.1948 Detmold. – Roman- u. Sachbuchautorin.
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Daneben schrieb S. Sachbücher zu Problemen des Feminismus, der neuen Lebensformen u. zur Thematik des Alterns. Zudem leitet sie Schreibwerkstätten, in denen sie Interessierte an das Schreiben von Autobiografien heranführt. Weitere Werke: Geschlechtsrollenwandel u. Sexismus. Zur Sozialpsychologie geschlechtsspezif. Verhaltens. Weinheim/Basel 1979. – Die feminist. Herausforderung. 150 Jahre Frauenbewegung in Dtschld. Mchn. 1980. – Frauen kommen ohne Waffen. Feminismus u. Pazifismus. Ebd. 1983. – (Hg.): So nah u. doch so fern. Die Gesch.n mit den Eltern. Reinb. 1985 (Anth.). – Freie Liebe – wilde Ehe. Über die allmähl. Auflösung der Ehe durch die Liebe. Ebd. 1987. – Glück u. Schicksal. Wie planbar ist unser Leben? Mchn. 2000. – Wie in einem uferlosen Strom. Das Leben meiner Eltern. Ebd. 2002. – Der Altersangst-Komplex. Auf dem Weg zu einem neuen Selbstbewusstsein. Ebd. 2005. – Die Heilkraft des Schreibens. Wie man vom eigenen Leben erzählt. Ebd. 2009. – Das Leben einsammeln. Olga A. – die Gesch. einer Messie. Weinheim/Basel 2009. Heinrich Detering / Sonja Schüller
Nach einem Studium der Sozialwissenschaften in Köln u. York promovierte S. mit einer gerontolog. Untersuchung. 1972–1980 war sie wissenschaftl. Assistentin an der Universität Köln. Für ihr Romandebüt Abrechnung (Reinb. 1979) wurde sie mit dem Förderpreis Schenk, Johannes, * 2.6.1941 Berlin, des Georg-Mackensen-Literaturpreises aus- † 4.12.2006 Berlin. – Lyriker, Dramatiker, gezeichnet; mit ihrem zweiten Roman, Un- Erzähler. möglich ein Haus in der Gegenwart zu bauen (Darmst./Neuwied 1980), erzielte sie einen S. fuhr als Vierzehnjähriger für mehrere Jahre großen Erfolg. Einfallsreich u. selbstironisch auf verschiedenen Frachtdampfern zur See. erzählte Erinnerungen, Montagen aus literar. Bevor er freier Schriftsteller wurde, arbeitete Texten, Wissenschafts- u. Alltagssprache er u. a. als Gärtner, Gelegenheitsarbeiter u. verbinden sich hier zu einem Bild tradierter Buchhändler. Ende der sechziger Jahre u. mögl. zukünftiger Geschlechterbeziehun- wandte sich S. nach einer Tätigkeit als Bühgen u. zu einer präzisen Studie über die Le- nenarbeiter bei der Schaubühne am Halbensalter. Zentrale Motive dieses Romans leschen Ufer in Berlin verstärkt dem Theater greift S. in Die Unkündbarkeit der Verheißung zu. 1986–1992 führte er in Berlin das (Düsseld. 1984) wieder auf. In Die Rache der »Schenk’sche Sonntagscafé«. S. lebte in Beralten Mamsell. Eugenie Marlitts Lebensroman lin sowie in einem Circuswagen in Worps(ebd. 1986) verlässt S. die bisher dominie- wede. In den Gedichtbänden der 1960er u. 1970er rende halbautobiogr. Ich-Erzählung. Die sich Jahre finden sich dezidiert polit., kapitalishier abzeichnende Tendenz zu objektiviemuskrit. Gedichte (Zwiebeln und Präsidenten. renden Erzählformen setzt sich fort im Roman Raimunds Schwestern (ebd. 1989), zgl. Bln. 1969. Die Genossin Utopie. Bln. 1973. ZitGeschichte einer Familie u. zeitkrit. »deut- tern. Bln. 1977). Er ergreift Partei für die sches Porträt«. Mit den Romanen Am Ende Unterprivilegierten u. Marginalisierten der (Köln 1994) u. In der Badewanne (ebd. 2007) Industriegesellschaft. S. nennt als ersten bietet S. dem Leser unverblümte Einblicke in Lehrer Erich Fried. Auch die frühen Stücke Fisch aus Holz (Bln. 1967) u. Transportarbeiter die letzte Lebensphase ihrer Protagonisten. Jakob Kuhn (Ffm. 1976) zeugen vom polit. Engagement, das sich in der Arbeit mit dem
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Weitere Werke: Bilanzen u. Ziegenkäse. Bln. »Kreuzberger Straßentheater« (Die Sardinendose. Ffm. 1973. Hans Buckow. Teilabdr. in: 1968 (L.). – Die Stadt im Meer. Darmst./Neuwied Literaturmagazin 5, 1976) fortsetzt; teilweise 1977 (Kinderroman). – Der Schiffskopf. Reinb. schließen die Stücke an Bertolt Brechts Lehr- 1978 (P.). – Gesang des brem. Privatmanns Johann Jakob Daniel Meyer. Ein Poem. Mchn./Königst. stücktradition an. 1982. – Spektakelgucker. Stgt. 1990 (L.). – Dorf S. belebte das Erzählgedicht neu (Jona. unterm Wind. Eine Kindheit in Worpswede. Stgt. Reinb. 1976) u. bereicherte es um eine mari- 1993 (P.). – Hinter dem Meer. Bremen 1998 (L.). – time Bilderfülle. Der utop. Impuls in S.s Ge- Segeltuch. Bln. 1999 (L.). – Galionsgesicht. dichten erfuhr seit Mitte der 1970er Jahre [Worpswede] 2002 (L.). – Salz in der Jackentasche. eine melanchol. Akzentuierung: Aus dem Bln. 2005 (L.). – Der Schiffskopf u. andere Prosa. maritimen Bereich entlehnte Wunschbilder Gött. 2008. – Die Gedichte [1964–2006]. 3 Bde., von der unendl. Fahrt ins Offene, vom un- Gött. 2009. Literatur: Alexander v. Bormann u. Catarina gebundenen, nomad. Dasein fungieren nun Fonseca: J. S. In: KLG. – Herbert Wiesner: Drei in weit ausgreifenden Erzählgedichten als Koffer voller Gedichte. Über J. S. In: die horen 54 Motive der Sehnsucht (Café Americain. Stgt. (2009), H. 236, S. 191–197. 1985). Kontrastiert u. unterwandert werden Michael Braun / Stefan Wieczorek solche exotischen Imaginationen durch wiederkehrende psych. Grunderfahrungen von Zurückweisung, Ausgrenzung u. Entfrem- Schenk von Limburg ! Limburg, dung. »Die Zeit von 1963 bis 1988 hatte mich Schenk von Gedichte / schreiben lassen, die zu einem einzigen Buch gehörten« bilanziert S. im Schenkdenkwin, Eberhard, vermutlich Prolog des Bandes Überseekoffer (Bln. 2000), Schenk Eberhard, Graf von Erbach, den er ebenfalls als Abteilung dieses »langen † 14.10.1441. – Verfasser einer historischBuches« betrachtet. Überseekoffer erschien wie politischen Ereignisdichtung. das gesamte spätere lyr. Werk im Eigenverlag »Eberhart Schenk den Win« nennt sich der u. führt die zentralen maritimen, circens. u. Dichter in v. 651 einer Reimrede zu den inerot. Motive fort. In der poetolog. u. autonerstädt. Auseinandersetzungen 1428–30 in biogr. Skizze Mein Koffer und meine Gedichte Mainz. Die Ereignisse kreisen um den Kon(in: Für die Freunde an den Wasserstellen. Reinb. flikt zwischen patriz. Rat u. Gemeinde unter 1980) hat S. sein poetisches Credo formuliert: massiver Beteiligung der Zünfte. Er endete »Meine Grammatik ist das Leben, das ich mit der Wahl eines neuen Zehnerrats u. einer sehe, fühle, rieche, schmecke.« S. vertraute tiefgreifenden Verfassungsänderung. Die Inauf die poetische Kraft der sinnl. Wahrneh- siderinformationen u. die polit. Tendenz der mung. S.s Dichtung blieb von den poetischen 674 Verse umfassenden Reimpaarrede lassen Entwicklungen nach den 1960er Jahren un- die Verfasserschaft des Grafen Eberhard von beeindruckt. Er arbeitete mit Elementen der Erbach als nahezu sicher erscheinen. War er Art brut u. der Groteske. Neben grandiosen doch von 1410 bis 1440 Mainzer StadtkämBildeinfällen prägen stilistisch häufig Rei- merer u. hatte ein massives Interesse, den hung u. monotone Relativsatzkonstruktio- Konflikt ins richtige Licht zu setzen u. sich nen die Gedichte. selbst zu exkulpieren. Als Kämmerer stand er Die Werkausgabe stellt neben den publi- auf Seiten des neuen Rats u. der Gemeinde zierten Texten Gedichte aus dem Nachlass gegen den alten Rat u. die Geschlechter. vor (Schaluppes Logbuch. In: Die Gedichte Die Mitte März 1429 entstandene Dichtung 2000–2006. Gött. 2009). Durch Erstveröffent- ist ein eindrückl. Beispiel tendenziöser polit. lichungen macht sie aber v. a. auf den Erzäh- Dichtung u. gibt Einblick in den Schlagabler (Jo Schattig. Roman. Gött. 2009. Aventura. tausch unter Publizisten. E. S. reagiert mit Roman. Gött. 2010) u. Stückeschreiber (Die seiner Darstellung auf ein zuvor gegen ihn Sardinendose. Stücke und Hörspiele. Gött. 2011) gerichtetes »gedicht« (v. 13), das nicht überaufmerksam. liefert ist, u. formuliert neben einer detail-
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genauen Schilderung der Vorgänge massive Vorwürfe gegen den alten Mainzer Rat. Wenig später repliziert ein Publizist der Gegenseite, Jacob Stoßelin, die Angriffe, indem er gegen den Zehnerrat polemisiert, E. S. als dessen Mitgl. namentlich herausstellt u. der Lügen u. Irreführung der Gemeinde bezichtigt. Die Dichtungen des E. S., des J. Stoßelin u. eine dritte anonyme Rede zu den Mainzer Unruhen (Liliencron, Nr. 63–65) sind in ein Papierheft eingetragen, das aus dem Familienarchiv der Patrizierfamilie Zum Jungen stammt, Angehörige des Mainzer alten Rats, die im Verlauf der Unruhen die Stadt verlassen mussten u. nach Frankfurt übersiedelten. Ausgaben: Rochus v. Liliencron (Hg.): Die histor. Volkslieder. Bd. 1. Lpz. 1865. Nachdr. Hildesh. 1966, Nr. 63, S. 308–319 (dort auch das Lied des Jacob Stoßelin (Nr. 64, S. 319–324) u. des Anonymus (Nr. 65, S. 325 f.). Literatur: Arthur Wyß: Über die drei Gedichte v. den bürgerl. Unruhen zu Mainz 1428–1430. In: Forsch.en zur Dt. Gesch. 25 (1885), S. 99–112. – Die Chroniken der mittelrhein. Städte. Mainz. Bd. 2. Gött. 21968. – Frieder Schanze: E. S. In: VL. – Karina Kellermann: Abschied vom ›historischen Volkslied‹. Tüb. 2000 (Register). – Heidrun Kreutzer: Auf dem Weg vom Patriziat zum Niederadel. In: Bausteine zur Mainzer Stadtgesch. Hg. Michael Matheus u. Walter Gerd Rödel. Mainz 2002, S. 47–70. Karina Kellermann
Schenkel, Andrea Maria, * 21.3.1962 Regensburg. – Verfasserin von Kriminalromanen. S., Ehefrau eines Arztes, Hausfrau u. Mutter von drei Kindern, landete 2006 mit ihrem Debütroman Tannöd (Hbg.) einen Überraschungserfolg, nachdem mehrere Verlage das Manuskript abgelehnt hatten. Das Buch erhielt 2007 den Deutschen Krimipreis, den Friedrich Glauser Preis in der Sparte Debüt u. den Corine-Weltbild Preis, einen Leserpreis. 2008 folgte der Martin Beck Award für den besten internat. Krimi. Bis 2009 wurde das Buch über eine Million Mal verkauft, in zwanzig Sprachen übersetzt, als Hörbuch u. Hörspiel bearbeitet, verfilmt, u. es erfuhr mehrere Inszenierungen auf deutschsprachigen Bühnen. Die Handlung spielt in der Mitte der 1950er Jahre u. erzählt die Ge-
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schichte eines Mordes auf einem oberpfälz. Bauernhof namens Tannöd, dem die gesamte Familie Danner, der Bauer mit seiner Frau, der Tochter, deren beider Kinder u. eine Magd, die erst am Tage zuvor ihren Dienst angetreten hatte, zum Opfer fällt. S. folgt nicht dem klass. Schema des ›Whodunit‹, sondern erzählt aus unterschiedl. Perspektiven von den Ereignissen. Dabei kommen die Bewohner des Dorfes zu Wort, welche die Hintergründe des Mordfalls nach u. nach sichtbar werden lassen, u. immer wieder wird der Leser auch zum Beobachter des Mörders bei seinen Besuchen am Tatort. Langsam, aber unaufhörlich entlarvt S. die bayerische Provinzidylle, u. die Lösung, die sie am Ende präsentiert, offenbart die Ausweglosigkeit u. Härte der von ihr entworfenen Lebenswelt. Der Roman basiert auf einem histor. Mordfall, der sich 1922 in Hinterkaifeck bei Schrobenhausen ereignet hat. Inwieweit S. Akten auswertete, lässt sie sowohl im Roman wie auch in späteren Interviews offen. Die Plagiatsklage eines Journalisten, der zwei Sachbücher über diesen Fall veröffentlicht hatte, wurde letztlich abgewiesen. Das Buch bezieht seinen Reiz aus der faszinierenden Vermischung von Fiktion u. Fakten u. den wechselnden Erzählperspektiven. Einem ganz ähnl. Muster folgt der zweite Roman, Kalteis (Hbg. 2007), der ebenfalls zu einem großen Publikumserfolg wurde u. 2008 den Deutschen Krimipreis erhielt. S. verarbeitete den Fall des Frauenmörders u. Massenvergewaltigers Johann Eichhorn, der 1939 in München hingerichtet wurde. Im Mittelpunkt der Erzählung steht Kathie, das naive Mädchen aus der Provinz, dem seine Hoffnungen auf ein besseres Leben in der Großstadt München zum Verhängnis werden. Die Taten des Josef Kalteis, aber auch das soziale Umfeld seiner Opfer werden in einer Collage aus Vernehmungsprotokollen, Erzählpassagen, Monologen u. Aktennotizen ausgebreitet. Im Frühjahr 2009 erschien der Roman Bunker (Hbg.), der sich keines histor. Falls als Vorlage bedient. Erzählt wird darin von der Entführung einer jungen Frau u. ihrer Internierung in einem Bunker, in dem sie vom Täter brutal misshandelt wird. Unterschied-
Der Schenkenbach
liche Schrifttypen markieren die wechselnden Erzählperspektiven, die Monologe des Täters u. des Opfers sowie den Bericht der Befreiung. Dieses Buch konnte an den großen Verkaufserfolg der ersten beiden Bücher nicht anknüpfen. Literatur: Der Fall A. M. S. Auf den Spuren einer (Krimi-)Autorin. A. M. S. im Gespräch mit Michaela Zeman. In: Transitträume. Beiträge zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Hg. Andrea Bartl. Augsb. 2009, S. 491–499. – Elizabeth Boa: Warring Pleasures and their Price: Sex in the City in Irmgard Keun’s ›Das Kunstseidene Mädchen‹ u. A. M. S.’s ›Kalteis‹. In: GLL 62 (2009), S. 343–358. Silke Göttsch-Elten
Der Schenkenbach, Schenckenpach, Anfang 16. Jh. – Politischer Lieddichter (oder Pseudonym?) aus Süddeutschland. Beim Schenkenbach handelt es sich entweder um den Namen eines nicht nachweisbaren Dichters oder um ein Pseudonym, mit dem zwei Lieder aus dem frühen 16. Jh. signiert sind (»singt uns der Schenkenbach«). Da die Lieder gegenläufige Aussagen vertreten, wird in der Forschung einhellig davon ausgegangen, dass sie auf verschiedene Verfasser zurückgehen: auf den »S.« u. den »Pseudo-S.«. Das Lied des S., Von erst so well wir loben, fand nicht nur aufgrund seines provokativen Inhalts, sondern auch wegen seiner Rhythmik (Ton) viel Resonanz. Eine Polemik gegen den Papst als Antichrist von 1523, mit der die Verse 1 u. 3 sowie der Ton des Schenkenbachlieds aufgenommen wurden, blieb bis ins beginnende 20. Jh. ein beliebtes u. zahlreich variiertes Stück. Den vollständigen Text u. Verfasser des Liedes hingegen entdeckte erst 1826 Freiherr Karl H. G. von Meusebach wieder (Wendeler 1880, S. 37). Es ist fraglich, ob vom Dichter eines so kunstfertigen u. erfolgreichen Liedes tatsächlich nichts weiter bekannt ist oder ob »S.« sein (sonst nicht gebrauchtes) Pseudonym war. Nach Anrufung der Gottesmutter u. des hl. Georg wendet sich der S. in seinem neunstrophigen Lied gegen die reichen u. sich adelsgleich dünkenden Bürger, die von den »reitersknaben« des Frankenlandes mit Raub u. Brand verfolgt werden müssen; schiere Not
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u. bürgerl. Repression zwingt sie dazu. Dabei setzt er die Bürger mit Bauern gleich (eine gebräuchl. Diffamierung dieser Zeit) u. verwendet im weiteren Fortgang zur Beschreibung der adligen Willkür Sprachbilder aus dem Waidwerk, der Beizjagd u. der Fischerei. S. spricht von »unserm orden«, bezeichnet damit aber keine der im 14. u. 15. Jh. vielerorts gegründeten Adelsgesellschaften im Besonderen. Vielmehr rekurriert er auf das durch diese Gesellschaften ausgedrückte Gemeinschaftsgefühl u. die Verpflichtung, einander auch mit Waffen beizustehen. Auf dieses Lied sind drei unmittelbare Antworten überliefert: Zu klagen ist vor ougen, verfasst von einem »kaufman«, das anonyme Wer hat je gesehen u. der Pseudo-S. Ich wais ain nüwen orden. Sie verurteilen allesamt die adligen Raubtaten, prophezeien Gefängnis u. Galgen. Jedoch verwerfen sie den Adel als Stand nicht gänzlich, sondern erinnern an sein löbl. Herkommen u. seinen Schutzauftrag. Da im Kaufmannslied die Einnahme der Burg Hohenkrähen (nördlich von Singen) durch den kaiserl. Feldhauptmann Paul von Liechtenstein am 12. Nov. 1512 erwähnt wird, ist damit ein Anhaltspunkt für die Entstehungszeit der nicht datierten Texte gegeben. In der dreizehnten Strophe des Pseudo-S. werden die »reitersknaben« vor dem Bundschuh gewarnt, einer vornehmlich von der ärmeren Landbevölkerung getragenen Bewegung, die 1493 im Elsass ihren Ausgang nahm. Die Lieder um S. stehen in der Tradition des etwa 650 Texte umfassenden Korpus polit. Ereignisdichtungen aus dem späten MA (›Dulce bellum inexpertis‹, 2002, S. 37). Gerade in Mittelfranken brachte der Konflikt zwischen Adel u. Stadt eine polit. Publizistik zum Blühen, die mit bekannten Ereignissen z. B. aus dem Ersten Markgräflerkrieg 1449/ 50, von der Kirchweih von Affalterbach 1502 u. der Hinrichtung Sebastians von Seckendorf durch den Nürnberger Rat 1512 in Verbindung steht. Ausgaben: Ludwig Uhland (Hg.): Alte hoch- u. niederdt. Volkslieder. Bd. 1, Stgt./Tüb. 1844 (Nachdr. Hildesh. 1968), Nr. 141–143 (›Von erst so well wir loben‹, ›Zu klagen ist vor ougen‹, ›Wer hat je gesehen‹). – Philipp Wackernagel (Hg.): Das dt.
305 Kirchenlied v. der ältesten Zeit bis zu Anfang des XVII. Jh. Bd. 3, Lpz. 1870, Nr. 477 (Polemik v. 1523). – Franz M. Böhme: Ahd. Liederbuch. Lpz. 1877 (Nachdr. 1966), Nr. 380, 426 (›Von erst so well wir loben‹, Pseudo-S., beide mit Melodie). – Camillus Wendeler (Hg.): Briefw. des Freiherrn Karl H. G. v. Meusebach mit Jacob u. Wilhelm Grimm. Heilbronn 1880. – Zu Überlieferung, Literatur u. weiteren Ausgaben siehe VL 11 (22004), Sp. 1376–1381 (Frieder Schanze). Literatur: Gerhard Pfeiffer (Hg.): Nürnberg. Gesch. einer europ. Stadt. Mchn. 1971. – Peter Seibert: Aufstandsbewegungen in Dtschld. 1476–1517 in der zeitgenöss. Reimliteratur. Heidelb. 1978, S. 131–148. – Sonja Kerth: ›Der landsfrid ist zerbrochen‹. Das Bild des Krieges in den polit. Ereignisdichtungen des 13. bis 16. Jh. Wiesb. 1997, S. 6, 15, 17, 24, 233. – Horst Brunner u. a.: ›Dulce bellum inexpertis‹. Bilder des Krieges in der dt. Lit. des 15. u. 16. Jh. Wiesb. 2002. – Walter Hinderer (Hg.): Gesch. der polit. Lyrik in Dtschld. Würzb. 22007, S. 79. Mario Müller
Schenkendorf, (Gottlob Ferdinand) Max(imilian Gottfried) von, * 11.12.1783 Tilsit, † 11.12.1817 Koblenz. – Lyriker. Der Sohn eines Salzfaktors u. späteren Gutsbesitzers studierte Kameralistik in Königsberg (1798–1806). Bis 1812 war S. hier im Staatsdienst tätig (ab 1808 bei der Landesdeputation). Der Kontakt mit dem Kammerpräsidenten Hans Jakob von Auerswald eröffnete ihm die höheren gesellschaftl. Kreise. Dort fand er das Publikum für seine frühen literar. Arbeiten (u. a. Gedichte u. das Liederspiel Die Bernsteinküste). 1807 gab er die Monatsschrift »Vesta« (Königsb.) gemeinsam mit Ferdinand von Schrötter heraus, dessen Beitrag Deutschlands Nationalruhm nach dem sechsten Heft zum Verbot durch die Berliner Zensur führte (Abdr. der Prosabeiträge S.s in Köhler, S. 176–184). Noch in Königsberg erschien S.s erste Lyriksammlung, Freiheitsgesänge 1810 (Neudr. Bln. 1930), eine Huldigung an den König u. den »Herrn- und Ritterstand« anlässlich der Aufhebung der Erbuntertänigkeit in Preußen. Die Königsberger Zeit endete für S. unglücklich. 1809 wurde seine rechte Hand nach einem Duell gebrauchsunfähig, u. er fiel durchs zweite Examen.
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Die letzten fünf Jahre seines Lebens, verheiratet mit Henriette Barckley, verbrachte S. meist im Rheinland. Von Karlsruhe aus, wo er dem religiös-schwärmerischen Kreis um Jung-Stilling u. Juliane von Krüdener angehörte, ging er 1813 zur Armee nach Schlesien, ohne jedoch eine Funktion zu erhalten. Im Herbst erschienen die Sieben Kriegslieder (zus. mit Friedrich de la Motte Fouqué. o. O.), die mit ihrem Lobpreis der jüngsten Siege u. des Soldatenlebens der polit. Meinungs- u. Willensbildung dienen sollten. Ab Okt. 1813 war S. im Auftrag des Freiherrn vom Stein für die Zentralverwaltung in Frankfurt/M. tätig, zuständig für die Volksbewaffnung in Baden. 1815 brachte Cotta S.s Gedichte (Stgt./Tüb.) heraus. Erst diese Sammlung – sie enthielt auch die zuvor in Periodika (u. a. »Preußischer Correspondent«, »Rheinischer Merkur«, »Neues Bürgerblatt«, »Die Musen«) publizierten Verse – begründete seinen Ruhm als nationaler Dichter (Rückert: »Kaiserherold«). Ab Juli 1815 war S. beim Militärgouvernement in Aachen, kurzfristig auch in Köln, beschäftigt, bevor er sich Ende Dezember in Koblenz niederließ, wo er u. a. Umgang mit Görres, Arndt, Gneisenau u. Scharnhorst hatte. Seine Ernennung zum Regierungsrat erlebte er nicht mehr. S. war ein Dichter der »Nebenstunden«. Die soziale Rolle eines freien, dem anonymen Publikum ausgesetzten Schriftstellers hat er nie angestrebt. Dichten gehörte für ihn zur Lebensform der Gebildeten, u. er verwirklichte sein poetisches Talent vornehmlich in literarisch interessierten Freundeskreisen. Sein Ruhm im 19. Jh. gründete sich mehr auf seine zeitbezogene als auf seine religiöse Lyrik, von der sich einige Lieder noch Anfang des 20. Jh. in Kirchengesangbüchern finden (z.B. »Brich an, du schönes Morgenlicht«, »Ostern, Ostern Frühlingswehen«). Im 19. Jh. galt S. neben Arndt u. Körner als bedeutendster Dichter der Befreiungskriege. Doch seinen Versen fehlt (wie denen Körners, Rückerts u. Eichendorffs) jede reformpolit. Perspektive. Die Vorstellung von Nationenbildung durch Krieg, wie sie im publizistischen Gebrauch der Befreiungskriegslyrik zum Ausdruck kam, blieb ihm ebenso fremd wie deren antifeudale Zielsetzung. Seine Gedich-
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te, darunter die auch vertonten, volkstümlich gewordenen Freiheit, die ich meine u. Muttersprache, Mutterlaut!, geprägt vom patriotischen Gedankengut der literar. Intelligenz des 18. Jh., vermitteln die Zeitereignisse durch das verklärte Bild mittelalterl. dt. Reichsgeschichte. Sie kamen damit einer Zeit entgegen, die ihren Wunsch nach nationaler Einheit nur literarisch verwirklichen konnte. Eichendorff würdigte S. als Romantiker u. Patrioten von tiefer Religiosität. In den Kriegen gegen Frankreich wie im »Dritten Reich« zu nationalistischen Zwecken missbraucht (»Verkünder und Erneuerer des deutschen Volkstums«, »Seher deutscher Zukunft«), ist S. heute ein fast vergessener Autor. Weitere Werke: M. v. S. (Hg.): Studien. H. 1, Bln. 1810. – Christl. Gedichte. Frommen Jungfrauen u. Mägdlein zur Weihnachtsgabe. Bln. 1814. – Die dt. Städte. Ffm. 1814. 21815. – Poetischer Nachlaß. Bln. 1832. – Sämmtl. Gedichte. Bln. 1837 (erste vollst. Ausg., hg. Friedrich Lange). – Sämtl. Gedichte. Mit einem Lebensabriß u. Erläuterungen hg. v. Ernst August Hagen. Stgt. 31862. Literatur: Friedrich de la Motte Fouqué: Aus M. v. S.s Leben. In: Preuß. Provinzialbl. 12 (1834), S. 100–110. – Ernst August Hagen: M. v. S.s Leben, Denken u. Dichten. Bln. 1863. – August Köhler: Die Lyrik bei M. v. S. Diss. Marburg 1915. – Klaus Bruckmann: M. v. S. In: Nordost-Archiv 19 (1986), S. 35–66, 73–104. – Erich Mertens: Neue Beiträge zu M. v. S.s Leben, Denken u. Dichten. Koblenz 1988. – Ernst Weber: Lyrik der Befreiungskriege (1812–15). Stgt. 1991. – Erich Mertens: Zur ›Vereinnahmung‹ v. Dichtern im Sinne der polit. Herrscher – Das Beispiel S. 1933. In: Publications du Centre Universitaire de Luxembourg. Germanistik 13 (1998), S. 31–115. – Christof Dahm: M. S. In: NDB. Ernst Weber
Schenker, Walter, * 16.7.1943 Solothurn. – Erzähler, Hörspielautor u. Sprachwissenschaftler. Der Kaufmannssohn wurde mit der Arbeit Die Sprache Max Frischs in der Spannung zwischen Mundart und Schriftsprache (Bln. 1969) promoviert. Nach Habilitation u. langjähriger wissenschaftl. Tätigkeit lebt S. seit 1984 als freier Schriftsteller in Trier. In seinem autobiografisch gefärbten Werk (Debüt mit Leider. Solothurner Geschichten. Bern
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1969) schlüpft er als Ich-Erzähler gleichsam probeweise in fremde Biografien: in Anaxagoras oder der Nord-Süd-Konflikt (Reinb. 1981) in die des greisen griech. Philosophen, in Gudrun (Zürich 1985) in die einer bundesdt. Frau zwischen 1940 u. den 1980er Jahren; in Am andern Ende der Welt (ebd. 1988) sammelt der Ich-Erzähler Lebensspuren eines früh verstorbenen Onkels, dessen Bild für den Leser allerdings bruchstückhaft bleibt. S.s bekanntestes Werk ist der Roman Eifel (ebd. 1982. Verfilmung SWF 1988 mit S. in der Hauptrolle) um einen im Selbstmord endenden, arbeitslosen Deutschlehrer. S.s Prosa zeichnen ein meist getragener Rhythmus, eine auf vielen Reisen mit scharfem Detailblick erworbene Kenntnis von Landschaft u. sprachl. Eigenarten ihrer Bewohner, exakt ausgearbeitete Figurenpsychologie sowie ein vielfach ironisch gebrochener Bezug auf Kultur u. Gesellschaft in der BR Deutschland u. der Schweiz aus, der sich auch in den Hörspielen Katerleben (1982) u. FKK (1985) findet. Nach vierjähriger Ausbildung wurde S. 1995 zum Diakon geweiht. Erst nach fünfzehnjährigem Schweigen begann er mit der Herausgabe seiner Werke als Books on Demand (BoD) u. legte zwei neue, autobiografisch gefärbte, z.T. von Frustration u. einer Neigung zur Depressivität gezeichnete Werke: Die familiengeschichtl. Spurensuche Zum Roten Stiefel (BoD 2005), in die ein unvollendet gebliebener Versuch über die Pubertät einfloss, u. Porta Nigra (BoD 2008), das Tagebuch eines größenwahnsinnigen Schriftsteller in vergebl. Erwartung des Literatur-Nobelpreises. Weitere Werke: Professor Gifter. Reinb. 1979 (R.). – Soleil. Eine Gesch. zwischen Tag u. Traum. Echternach/Luxemburg 1981. – Engelsstaub. Ein Protokoll oder Paris am Gegenpol der Melancholie. Zürich 1986. – Manesse. Ebd. 1991. Literatur: Josef Zierden: W. S. In: KLG. Klaus-Peter Walter
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Scher, Peter, eigentl.: Fritz Schweynert, auch: Emanuel, Leon Holly, Pierre Blaguere, * 30.9.1884 Großkamsdorf/Thüringen, † 23.9.1953 Wasserburg/Inn. – Humoristischer Lyriker, Feuilletonist u. Redakteur.
Scherenberg dies. Bln. 1940 (L.). – Briefe: Ludwig v. Ficker: Briefw. 1909–14. Hg. Ignaz Zangerle, Walter Methlagl, Franz Seyr u. Anton Unterkircher. Salzb. 1986. – Der Nachlassbestand P. S. im Stadtarchiv Wasserburg. Inhalte, Bestandsgesch., Erschließung. Hg. Matthias Haupt u. Irene Krauss. In: Archive in Bayern 5 (2009), S. 47–58.
Literatur: Anton Unterkircher: Zwischen Der Beamtensohn erhielt Unterricht durch Privatlehrer, war ansonsten jedoch Autodi- ›Sturm‹ u. ›Brenner‹. P. S. u. sein wiedergefundenes dakt. S. wurde Kaufmann, Versicherungsan- Porträt v. Oskar Kokoschka. In: Mitt.en aus dem Brenner-Archiv 6 (1987), S. 11–21. gestellter u. Schauspieler; seit 1903 war er Walter Pape / Red. Redakteur der Berliner Zeitung »Zeit am Montag«. Wegen politisch radikaler Betätigung kam er in Oldenburg ins Gefängnis u. Scherenberg, Christian Friedrich, * 5.5. veröffentlichte darüber unter dem Pseud. 1798 Stettin, † 9.9.1881 Zehlendorf (heuLeon Holly Kettenklirren. Gedichte und Erzäh- te zu Berlin). – Lyriker, Versepiker. lungen aus dem Gefängnis (Bln. 1908). Das frische, sich frei im Vers bewegende S. verkehrte seit 1910 im Kreis der literar. Schildern preuß. Schlachten war die Stärke Avantgarde Berlins mit Herwarth Walden, S.s, der er Anerkennung bei Hofe wie bei den Paul Scheerbart, Else Lasker-Schüler. Liberalen Preußens verdankte. Als Sohn eines 1910–1913 schrieb er weniger bedeutende Kaufmanns zum selben Gewerbe bestimmt, pathetische, satir. oder groteske Gedichte u. floh S. 1818 nach Berlin, wo ihm Pius A. Erzählungen für den »Brenner«, die »Akti- Wolff, Schauspieler u. Freund Goethes, eine on«, den »Sturm«, den »Simplicissimus« u. Stelle in einer Magdeburger Wandertheaterdie »Jugend«. Zu Recht vergessen sind seine truppe verschaffte. 1821 verheiratet, musste späteren, meist heiteren Erzählungen u. Ro- er sich doch in den Kaufmannsstand schimane. cken. Nach gescheiterter Ehe verließ S. 1838 1914–1916 u. 1919–1930 war S. Redakteur Magdeburg, um in Berlin Fuß zu fassen. des »Simplicissimus« in München; nach dem Neben Abschreibarbeiten u. HauslehrertäErsten Weltkrieg verband ihn enge Freund- tigkeit widmete er sich nun entschieden der schaft mit Ringelnatz; er schrieb für die Dichtkunst. Louis Schneider, später Vorleser Feuilletons verschiedener Zeitungen u. Zeit- des preuß. Königs, vermittelte S. 1840/41 in schriften Literarisches u. Kritisches u. über- den literar. Verein »Tunnel über der Spree«. setzte aus dem Französischen, u. a. Alphonse 1845 erschien eine Auswahl Gedichte (Bln. Daudet u. Offenbachs Pariser Leben als Pariser 41869), es entstand sein Versepos Ligny (ebd. Luft. Bemerkenswerter ist eine populäre, aber 1849), u. er erhielt eine Anstellung im preuß. nicht unkrit. Biografie über Wilhelm Busch Kriegsministerium. Bekanntschaften mit hö(Stgt. 1938). heren Offizieren ermutigten S., die preuß. Weitere Werke: (Leon Holly:) Sturm u. Stille. Beteiligung an den Kriegen mit Napoleon in Erfurt 1904. – (Emanuel:) Unkenrufe aus dem wirkungsvolle u. poetisch neuartige Bilder zu Tümpel der Kultur. Bln. 1910 (L.). – Holzbock im bringen, entwickelt aus modernisiertem baSommer u. a. aktuelle Lyrik. Bln.-Wilmersdorf rocken Sprachgebrauch. Als 1849 das Epos 1913. – Die Flucht aus Berlin. Skizzen. Mchn. 1914. Waterloo, gefördert von Friedrich Wilhelm – Kampf u. Lachen. Konstanz 1915 (E.en u. L.). – IV., herauskam (ebd.), traf es den nachrevoAnekdotenbuch. Mit Zeichnungen v. Thomas lutionären, patriotisch gesinnten Ton breiter Theodor Heine. Mchn. 1925. – Das Buch v. MünKreise in Preußen. S. wurde eine Pension gechen (zus. mit Hermann Sinsheimer). Ebd. 1928. – Urlaub im Süden. Von Sonne, Wein u. heitern währt; Prutz nannte ihn einen echten Poeten, Menschen. Mchn. 1937. – Gott gibt die Nüsse. Ein Lassalle umwarb ihn. Die politisch umakRoman v. Freundschaft u. Liebe. Stgt. 1938. – Der zentuierte Entwicklung nach 1860 ließ S., der Himmelfahrtstrank. Bln. 1940 (Werkausw.). – Am beständig weiter dichtete, rasch in VergesAlltag vorbei. Mühlacker 1940 (E.en). – Gerade senheit geraten. Daran änderte auch Fontanes
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feinfühlige Lebensbeschreibung Christian Friedrich Scherenberg und der literarische Verein von 1840 bis 1869 (ebd. 1885) wenig. Weitere Werke: Versepen: Leuthen. Bln. 1852. – Abukir, die Schlacht am Nil. Ebd. 1855. – Hohenfriedberg. Ebd. 1868. Literatur: Ernst Klein: C. F. S.s Epen. Diss. Marburg 1914 (Teildr.). – Robert Ulich: C. F. S. Ein Beitr. zur Literaturgesch. des neunzehnten Jh. Lpz. 1915. – Christian Grawe u. Helmuth Nürnberger (Hg.): Fontane-Hdb. Stgt. 2000, S. 750–753. – Barbara Beßlich: Der dt. Napoleon-Mythos. Lit. u. Erinnerung 1800–1945. Darmst. 2007, S. 276–280. Roland Berbig / Red.
Scherer, Georg, * 3.11.1540 (1539?) Schwaz/Tirol, † 26.11.1605 Linz; Grabstätte: ebd., Minoritenkirche (Grabstein), am 26.11.1678 überführt in den Alten Dom. – Jesuit, Hofprediger, Volksmissionar u. Polemiker. Als ältestes von acht Kindern armer Eltern kam S. um 1550 mit einem Stipendium des Stadtrats von Wien an das dortige Jesuitengymnasium, trat am 17.9.1559 in den Orden ein u. wurde 1560 noch als Student Hauptprediger des Wiener Kollegs. Nach Magisterexamen (1564) u. Priesterweihe (1565) wirkte er in Predigt u. Volksmission so erfolgreich für die Rekatholisierung Ostösterreichs, dass er bald zum Domprediger von St. Stephan (1567–1594), dann zum Hofprediger an der Wiener Hofburgkapelle (1577–1600) u. zeitweiligen Hofbeichtvater der Erzherzöge Ernst u. Maximilian ernannt wurde. S. bekämpfte die Doktrin des Protestantismus (Drey Predigten, vonn der Augspurgischen Confession. Gehalten Wien 1580/81. Druck Ingolst. 1601), prangerte dessen Zersplitterung (Der Lutherische Bettler Mantel [...]. Wien 1588) u. liturg. Missbräuche an (Eigentliche Abcontrafehung einer newen unerhörten Monstrantzen [...]. Ingolst. 1588), wehrte Invektiven gegen das Papsttum ab (Ob es wahr sey? Daß auff ein Zeit ein Bapst zu Rom schwanger gewesen [...]. Ingolst. 1584. Internet-Ed.: VD 16 digital), verurteilte aber auch das Fehlverhalten des kath. Klerus (Ein Prelaten predig, bey der christlichen Leich, des [...] Herrn Johann, Abten S. Benedicti Ordens [...]. Wien 1583). Mit seinen
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konfessionellen Anliegen verband S. polit. Ziele: Die Polemik gegen Josua Opitz, Lukas Osiander u. Jakob Heerbrand sowie mehrere Türkenpredigten beim kaiserl. Heer in Ungarn (1593/94) u. auf dem Landtag zu Preßburg (Scala Iacob. Die HimmelsLeitter. Wien 1595. Internet-Ed.: VD 16 digital) suchten die kaiserl. Zentralgewalt gegenüber den meist protestantischen Landständen zu stärken. Nach einer eher schwierigen Amtszeit als Rektor des Wiener Jesuitenkollegs (1590–1594) wurde S. 1600 Superior der Missionsstation in Linz. S.s literar. Bedeutung liegt in der Ausbildung eines den theolog. Diskurs mit originellen Exempeln u. volksnaher Redeweise genuin verbindenden Predigtstils, der später u. a. von Prokop von Templin u. Abraham a Sancta Clara individuell weiterentwickelt wurde. Zugleich dokumentieren seine Werke die soziale Einflusssphäre der interkonfessionellen Publizistik. Weitere Werke: Alle Schrifften, Bücher u. Tractätlein. 2 Tle., Bruck/Thaya 1599/1600 u. ö. – Postill [...] uber die Sontägl. Evangelia durch das gantze Jahr. Ebd. 1603 u. ö. – Christl. Postill, von Heyligen, u. uber die Fest [...]. Ebd. 1605 u. ö. – Catechismus oder Kinderlehr [...]. Passau 1608. Münster 1609 u. ö. Literatur: Bibliografien: Backer/Sommervogel, Bd. 7, Sp. 746–765; Bd. 9, Sp. 842 f. – Kat. gedr. deutschsprachiger kath. Predigtslg.en. Hg. Werner Welzig u. a. Wien 1984. Bd. 1, Nr. 8, 10, 11; Bd. 2, S. 761. – VD 16. – VD 17. – Weitere Titel: Heinrich Reusch: G. S. In: ADB. – Paul Müller: Ein Prediger wider die Zeit. G. S. Wien/Lpz. 1933. – Gottfried Mierau: Das publizist. Werk v. G. S. SJ. Diss. Wien 1968 (mit Werk- u. Quellenverz.). – Dieter Breuer: Literar. Leben in München bis zur Mitte des 17. Jh. In: Stadt u. Lit. im dt. Sprachraum der Frühen Neuzeit. Hg. Klaus Garber. 2 Bde., Tüb. 1998, Bd. 2, S. 1063–1091. – Oratio Funebris: Die kath. Leichenpredigt der frühen Neuzeit [...]. Hg. Birgit Boge u. a. Amsterd. u. a. 1999, Register (Tl. A/B). – Thomas Gloning: The pragmatic form of religious controversies around 1600. A case study in the Osiander vs. S. & Rosenbusch controversy. In: Historical dialogue analysis. Hg. Andreas H. Jucker. Amsterd. u. a. 1999, S. 81–110. – Ekkart Sauser: G. S. In: Bautz. – Robert Pichl: G. S. In: NDB (Lit.). – Kai Bremer: Religionsstreitigkeiten. Volkssprachliche Kontroversen zwischen altgläubigen u. evang. Theologen im 16. Jh. Tüb. 2005. – Hans-Georg
309 Kemper: Dt. Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 4/1, Tüb. 2006, Register. Robert Pichl / Red.
Scherer, Wilhelm, * 26.4.1841 Schönborn/ Niederösterreich, † 6.8.1886 Berlin; Grabstätte: ebd., Ehrengrab, Alter St. Matthäus Friedhof. – Germanist. Der Sohn eines gräfl. Oberamtmanns wurde 1854 in das Akademische Gymnasium in Wien aufgenommen u. studierte von 1858 an u. a. bei Franz Pfeiffer. 1860 wechselte S. nach Berlin u. a. zu Moriz Haupt u. Karl Müllenhoff. 1862 in Wien ohne Dissertation promoviert, habilitierte er sich dort 1864 mit dem Probevortrag Über den Ursprung der deutschen Litteratur. Als erste Publikation sind seine Arbeiten zu den Denkmälern deutscher Poesie und Prosa aus dem VIII.–XII. Jahrhundert (hg. zus. mit Karl Müllenhoff. Bln. 1864. 2 Bde., 41964) zu nennen. Zunächst Privatdozent, übernahm S. trotz ständiger Auseinandersetzungen mit Pfeiffer nach dessen Tod sein Wiener Ordinariat u. veröffentlichte seine Studie Zur Geschichte der deutschen Sprache (Bln. 1868). Seiner preußisch-nationalen Einstellung folgend, ging er 1872 an die neu gegründete Straßburger Universität u. nahm dort auch kulturpolit. Einfluss, der sich in seiner Geschichte des Elsasses von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart (zus. mit Ottokar Lorenz. Bln. 1871) programmatisch angedeutet hatte. 1877 kehrte er ins Zentrum der Macht, nach Berlin, zurück. Dabei kam es zu einer allmähl. Interessenverschiebung von der älteren zur neueren Literatur, sodass sich bei S. die nun einsetzende Ergänzung der Altdurch die Neugermanistik beispielhaft ablesen lässt. Er wurde Mitgl. der Akademie der Wissenschaften, Vizepräsident der GoetheGesellschaft u. kontrollierte die Goethe-Philologie über die Zugangsregelung zum nun freigegebenen Nachlass des Dichters. Daneben hielt er zahlreiche öffentl. Vorträge, die ihn zusammen mit der sich an die »Gebildeten« wendenden Geschichte der Deutschen Litteratur (9 Lfg.en, Bln. 1880–83. 1619–27) außerordentlich populär machten. Zahlreiche Veröffentlichungen S.s erschienen zudem als Zeitungsfeuilletons.
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S. galt bislang als Repräsentant des literaturwissenschaftl. Positivismus, doch ist dieses Bild in den letzten Jahren entschieden korrigiert worden (Sternsdorff). Nicht nur sein – auch persönlich – enges Verhältnis zu Dilthey, sondern auch die theoret. Ausrichtung seiner Studien lassen ihn eher als einen Philologen erscheinen, der seine Wissenschaft in ihren Grundlagen neu zu bestimmen suchte. Durchgehendes Prinzip der Germanistik sollte nach S. das Verstehen des »Warum« der literar. Erscheinung sein, die aus Zeitumständen, Traditionen, der Psyche des Autors herzuleiten sei. Diese Orientierung am Ursache-Wirkungs-Verhältnis integrierte auch geistesgeschichtl. Zusammenhänge, die Rolle der Persönlichkeit (Ueber den Ursprung der deutschen Literatur. Bln. 1864), die Bedeutung von Völkern (Geschichte der deutschen Sprache) u. die Wirkung des literar. Marktes. Ergebnis dieser Überlegungen ist die Fragment gebliebene u. erst postum von Richard Meyer edierte Poetik (Bln. 1888. Neuausg. mit Einl. u. Materialien. Tüb. 1977), die eine systemat. Philologie als die Analyse von Dichtung in ihrem »Hergang«, ihren »Ergebnissen« u. in ihren »Wirkungen« zu begründen suchte. Als Versuch einer avancierten Methodologie war die Poetik den Zeitgenossen, abgesehen von Dilthey, weit voraus u. wurde auch von S.s Nachfolgern, der sog. Scherer-Schule, unterschätzt. Nahezu alle Überlegungen von S. sind in die populäre Geschichte der Deutschen Litteratur eingegangen, die in der Literatur ganz historistisch ein Panorama »deutscher Möglichkeiten« zu eröffnen sucht. Wie in der Geschichte der deutschen Sprache sollte auch hier die Literaturgeschichte in »ein System der nationalen Ethik« münden, d. h. aus dem Gang der Geschichte sollte kein Ziel, sondern ein Verhaltenskodex gewonnen werden, der das »Wesen der Nation« ausdrückte. S.s herausragende Stellung innerhalb seines Fachs beruhte auf seinem kulturpolit. u. institutionellen Einfluss. Nicht nur sollte er in Straßburg ideologisch das nationale Terrain erweitern; auch in Berlin spielte er in der Öffentlichkeit eine so maßgebende Rolle, dass seine Kollegen u. Lehrer (Karl Müllenhoff) glaubten, ihn mit dem Feuilletonis-
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musvorwurf an seine wissenschaftl. Pflichten erinnern zu müssen. Eine nicht unerhebl. Rolle spielte S., der zwar deutschnational, aber dezidiert nicht antisemitisch war, im Berliner Antisemitismusstreit, in dem er sich gegen die antisemitischen Thesen seines Professorenkollegen Heinrich von Treitschke wandte. Gleichzeitig trat er als Erbe der »Berliner Germanistik« auf u. verstand es, durch Einflussnahme auf Lehrstuhlbesetzungen im ganzen Kaiserreich seine Schüler zu platzieren. S.s Schüler waren u. a. Erich Schmidt, Otto Brahm, Jakob Minor, Konrad Burdach u. August Sauer. Noch über die Jahrhundertwende hinaus bestimmte die Scherer-Schule das Bild der wilhelmin. Germanistik.
Pichl: W. S. In: ÖBL. – Catherine LeGouis: Positivism and imagination. Scientism and its limits. Emile Hennequin, W. S. and Dmitrii Pisarev. Lewisburg, Pa. 1997. – Tom Kindt u. Hans-Harald Müller: Dilthey gegen S. – Geistesgesch. contra Positivismus. Zur Revision eines wissenschaftshistor. Stereotyps. In: DVjs 74 (2000), S. 685–709. – Werner Michler: Lessings ›Evangelium der Toleranz‹. Zu Judentum u. Antisemitismus bei W. S. u. Erich Schmidt. In: Judentum u. Antisemitismus. Studien zur Lit. u. Germanistik in Österr. Hg. Anne Betten. Bln. 2003, S. 151–166. – W. Höppner: W. S. In: IGL. – Ders.: W. S. In: NDB. – Steffen Martus: ›Jeder Philolog ist eine Sekte für sich‹. W. S. als Klassiker des Umgangs mit Klassikern. In: Mitt.en des Dt. Germanistenverbandes 53 (2006), 1, S. 8–26. Jürgen Fohrmann / Red.
Weitere Werke: Jacob Grimm [1863]. Erw. Bln. 1885. – Leben Willirams Abtes v. Ebersberg in Baiern. Wien 1866. – Dt. Studien. 2 Bde., Wien 1870 u. 1874. – Vorträge u. Aufsätze zur Gesch. des geistigen Lebens in Dtschld. u. Österr. Bln. 1874. – Gesch. der dt. Dichtung im elften u. zwölften Jh. Straßb. 1875. – Aufsätze über Goethe. Hg. Erich Schmidt. Bln. 1886. – Kleine Schr.en. Hg. Konrad Burdach u. E. Schmidt. 2 Bde., Bln. 1893 (mit vollst. Bibliogr. Bd. 2, S. 390–415). – Briefwechsel: Karl Müllenhoff u. W. S. Hg. Albert Leitzmann. Bln. 1937. – W. S. – Erich Schmidt. Hg. Werner Richter u. Eberhard Lämmert. Bln. 1963. – W. S. – Elias v. Steinmayer. Göpp. 1982.
Scherffer von Scherffenstein, Wenzel, Wencel, Initiale: W. S., * 1598/99 Leobschütz/Oberschlesien, † 27.8.1674 Brieg. – Lyriker, Übersetzer, Organist.
Literatur: Edward Schröder: W. S. In: ADB. – Dietrich Grohnert: Die methodolog. Konzeption in W. S.s ›Gesch. der dt. Lit.‹ In: Wiss. Ztschr. der Pädagog. Hochschule Potsdam (1965), S. 111–126. – Peter Salm: Drei Richtungen der Literaturwiss. S. – Walzel – Staiger. Tüb. 1970. – Franz Greß: Germanistik u. Politik. Stgt. 1971. – Uta Dobrinkat: Vergegenwärtigte Literaturgesch. Diss. 2 Bde., Bln. 1979. – Jürgen Sternsdorff: Wissenschaftskonstitution u. Reichsgründung. Die Entwicklung der Germanistik bei W. S. [...]. Ffm. 1979. – Wolfgang Höppner: Studien zu den literaturwiss. Auffassungen W. S.s. Habil.-Schr. Bln./DDR 1986. – Jürgen Fohrmann: Das Projekt der dt. Literaturgesch. [...]. Stgt. 1989. – Angelika Monden: Histor. Schule u. Positivismus bei W. S. Ein Beitr. zur Genesis der Literaturwiss. in Dtschld. Diss. Lpz. 1989. – Rainer Kolk: Berlin oder Leipzig? Eine Studie zur sozialen Organisation der Germanistik im ›Nibelungenstreit‹. Tüb. 1990. – W. Höppner: Das ›Ererbte, Erlebte u. Erlernte‹ im Werk W. S.s. Ein Beitr. zur Gesch. der Germanistik. Köln u.a. 1993. – Robert
S.s Vater, vermutlich Zacharias Scherffer von Scherffenstein, studierte in Wittenberg u. wurde später in Leobschütz Rat. Seine Mutter Anna Otter könnte die Tochter des Schweidnitzer Rats Wenzel Otter von Otterau gewesen sein. Über S.s Bildungsgang ist nichts bekannt. Er verfügte über ein gutes Allgemeinwissen u. war in der lat. Literatur der Antike belesen. Als S. wegen des Kriegs seine Heimatstadt verlassen musste, fand er Zuflucht wohl bei Johann Georg von Czigan im benachbarten Teschen. 1630 finden wir S. in Brieg im Dienst Herzog Johann Christians als Erzieher des jungen Prinzen Rudolf. Nach dessen Tod Anfang 1633 erhielt S. die Stelle des Organisten an der Brieger Schlosskirche. 1642 heiratete er seine Verwandte Anna Arnold aus Brieg; sie hatten mehrere Kinder. 1645 wurde S. als »Der Verlangende« in die Deutschgesinnte Genossenschaft aufgenommen u. 1652 zum Poeta laureatus gekrönt. S. schrieb für Geburts-, Tauf-, Hochzeitsfeste u. Totenfeiern der herzogl. Familie, des Hofs, des Landadels u. der städt. Oberschicht jahrzehntelang Gedichte u. Lieder (zu manchen komponierte er selbst Melodien), die sowohl in Einzeldrucken als auch in drei Sammlungen erschienen. Zwischen den 1646 in Brieg verlegten Leichgesängen und Grab-
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schrifften u. den 1658 gedruckten Bind- und Namens-Liedern erschien 1652 in Brieg der Band Geist: und Weltlicher Gedichte Erster Teil (Nachdr. hg. u. mit einem Nachw. vers. von Ewa Pietrzak. Tüb. 1997), der als Sammelwerk den Höhepunkt im Schaffen S.s bildet u. größtenteils sprachlich, stilistisch u. metrisch geglättete oder auch stärker überarbeitete Dichtungen früherer Jahre enthält. Neben Kasualtexten wurden Übersetzungen, ein Hymnus auf die Musik (Der Music Lob), Lehrgedichte, geistl. Gedichte sowie Gedichte vermischten Inhalts (darunter Der alten Teutschen Ankunft) in die Sammlung aufgenommen. Unter den Übersetzungsarbeiten nimmt Friedrich Dedekinds Grobianus (Der Grobianer und Die Grobianerin. Brieg 1640. 1654. U. d. T. Der unhöffliche Monsieur Klotz. Sittenau [= Braunschweig] 1708) eine hervorgehobene Position ein. S. gestaltete seine Vorlage verhältnismäßig frei: Er erweiterte sie um zwei Drittel durch Amplifikationen, aktualisierende Einschübe u. Ergänzungen; sprachlich u. metrisch orientierte er sich an den Regeln der opitzian. Poetik; dabei nutzt er die Reibung zwischen dem eleganten modernen Alexandriner u. einem auf die behandelte Materie abgestimmten derben Wortschatz. Einen Schwerpunkt der Übersetzertätigkeit S.s bildet das Epigramm. Als Fortsetzung der beiden Epigrammbücher Opitz’ sah er seine erste zweisprachige Sammlung Florilegii Continuati liber tertius (Brieg 1641). Das Hundert Außerlesener und spitziger Epigrammatum [...] Auß vielen [...] Poeten aufgesucht (o. O. u. J.) bringt v. a. »Überschrifften« aus Owen. Eine dritte Sammlung stellt das Erste Funffzig Altund neuer Grabschrifften (Brieg 1655) dar. Aus dem Polnischen übertrug S. Epigramme (Fraszki) Jan Kochanowskis, die als ScherzReime das 6. Buch seiner Gedichte füllen. 1662 erschien seine Übersetzung des Erbauungsu. Emblembuches Pia desideria des Jesuiten Hermann Hugo (Gottsäliger Verlangen Drey Bücher. Brieg. Nachdr. hg. von Michael Schilling. Tüb. 1995); die ersten vier Elegien wurden schon in den Gedichten abgedruckt. Sein in Alexandrinern abgefasstes Gedicht Pitschnische Schlacht (Brieg 1665) fußt auf einer metrischen lat. Beschreibung der Schlacht bei
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Pitschen (1588) u. bildet einen Versuch, ein modernes carmen heroicum in dt. Sprache zu schaffen. S. sah Opitz als seinen Meister an u. bevorzugte wie dieser den Alexandriner. Bemüht um die Reinheit der dt. Sprache, bediente er sich doch auch der schles. Mundart u. des Rotwelschen. Nach dem Vorbild Harsdörffers versuchte er sich in der Klangmalerei; in der Rechtschreibung folgte er Zesen. Sein Werk entspricht den poetologischen u. rhetorischen Erfordernissen der Zeit. Durch Menge u. Vielfalt der behandelten Themen u. durch den Reichtum der von ihm verwendeten lyr. Formen ist S. eine exzellenter Vertreter der barocken Kasuallyrik. Seit dem Nachdruck der Geist: und Weltlichen Gedichte hat ein verstärktes Interesse der Forschung an den Werken des Schlesiers eingesetzt. Weitere Werke (von den über 70 selbstständigen Drucken werden nur längere Texte genannt; Erscheinungsort, wenn nicht anders angegeben: Brieg): Der Götter vnd Göttinnen Prosopopœische Lieder. [1637]. – Gaudium Martini. 1640. – Quercus Piastæa. [Nach 1640]. – Ecloga. Zweyer Bauren Gespräch. 1641. – Winter-Lieder. 1642. – MeyenGedicht. [1646]. – Friedens beqwämigkeiten. 1649. – Momus. [Nach 1652]. – Galatheus, Lucidor u. Corydon [...], Trauer-gespräch. 1653. – WeinMonaths-Gedichte. o. O. [1653]. – Mühl-Gedichte. 1671. Literatur: Bibliografien: Paul Drechsler: W. S. v. S. Diss. Breslau 1886, S. 56–67. – Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 5, S. 3594–3607. – Ewa Pietrzak: Addenda zur Bibliogr. der Werke W. S.s v. S. In: WBN 23 (1996), S. 1–13. – Franz Heiduk: Oberschles. Lit.Lexikon. Bd. 3. Heidelb. 2000, S. 52. – Flood, Poets Laureate, Bd. 4, S. 1837–1840. – Weitere Titel: Heiduk/Neumeister, S. 93 f. – Paul Drechsler: W. S. v. S. u. die Sprache der Schlesier. Breslau 1895. Nachr. Hildesh. 1977. – Kazimierz Kapal/ka: Niemieckie tl/umaczenie ›Fraszek‹ Kochanowskiego i ›Koledy‹. In: Pamietnik Literacki 12 (1913), S. 169–182. – Marian Szyrocki: Niemieckie echa twórczos´ci Kochanowskiego, Szymonowica i Modrzewskiego. In: Sobótka 10 (1955), S. 611–645. – Jan Piprek: Polska w twórczos´ci Wacl/awa Scherffera s´laskiego poety XVII wieku. In: Kwartalnik Opolski 2 (1956), S. 121–132. – Ders.: Piastowicze w poezji S. v. S. In: Germanica Wratislaviensia 1 (1957), S. 37–56. – Ders: W. S. v. S. Poeta s´laski i polonofil XVII wieku. Opole 1961. – Hans Peter Althaus: Landsknechtssprache u. Rotwelsch in Schlesien. In: Jb. für Ostdt.
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Volkskunde 7 (1962), S. 66–91. – Helmut Henne: Hochsprache u. Mundart im schles. Barock. Köln 1966. – Michael Schilling: ›Der rechte Teutsche Hugo‹. Deutschsprachige Übers.en u. Bearb.en der ›Pia desideria‹ Hermann Hugos SJ. In: GRM N.F. 39 (1989), S. 283–300. – Karl-Jost Bomers: Rhetorik, Emblematik u. baconist. Positivismus bei W. S. v. S. In: Oberschles. Jb. 7 (1991), S. 45–67. – E. Pietrzak: Schlesier in den Sprachgesellsch.en des 17. Jh. In: Europ. Sozietätsbewegung u. demokrat. Tradition. Hg. Klaus Garber u. Heinz Wismann. Bd. 2, Tüb. 1996, S. 1286–1319. – Thomas Althaus: S.s Versbau. In: Daphnis 30 (2001), S. 391–415. – E. Pietrzak: Ein schles. carmen heroicum. W. S.s v. S. ›Pitschnische Schlacht‹ im Vergleich mit ihrer wiedergefundenen lat. Quelle. In: ebd., S. 417–440. – M. Schilling: Lit. u. Malerei. Ein Namenstagsgedicht W. S.s v. S. als Kabinettstück für den Brieger Hofmaler Ezechiel Paritius. In: ebd., S. 441–464. – Jost Bomers: ›Du Göttliches Geschenk / Des Herzens Wehrte Lust‹. Weltanschauung u. Kunsterfahrung in W. S.s ›Der music Lob‹. In: ebd., S. 465–489. – Bernhard Jahn: ›Encomium Musicae‹ u. ›Musica Historica‹. Zur Konzeption v. Musikgesch. im 17. Jh. an Beispielen aus dem schlesisch-sächs. Raum (S., Kleinwechter u. Printz). In: ebd., S. 491–511. – J. Bomers: W. S.s Geist- u. weltl. Gedichte vor dem Hintergrund der Opitzian. Reformbestrebungen. In: Die oberschles. Literaturlandschaft im 17. Jh. Hg. Gerhard Kosellek. Bielef. 2001, S. 21–57. – Eckhard Grunewald: Die ›Pia Desideria‹-Übers. des W. S. v. S. – ein frühes Zeugnis ›schles. Toleranz‹? In: ebd., S. 59–74. – Detlef Haberland: ›ZU tadeln bistu fix in andrer Leuthe sachen / Und kanst in Ewigkeit was bessers doch nicht machen‹ – Zum ›Grobianus‹ W. S. v. S.s. In: ebd., S. 75–89. – G. Kosellek: Polonica in S.s literar. Werk. In: ebd., S. 91–111. – Knut Kiesant: Friedensvisionen in Casualgedichten W. S.s v. S. (1598/99–1674). In: Memoria Silesiae [...]. Hg. Mirosl/awa Czarnecka u. a. Wrocl/aw 2003, S. 281–297. – Eberhard Möller: Die Gedichte des W. S. v. S. als Schütz-Quelle. In: Kulturgesch. Schlesiens in der Frühen Neuzeit. Hg. K. Garber. Bd. 2, Tüb. 2005, S. 925–932. Marian Szyrocki † / Ewa Pietrzak
Scherg, Georg, * 19.1.1917 Kronstadt (rumän. Bras¸ ov), † 20.12.2002 Bodelshausen bei Tübingen. – Romanautor, Lyriker, Dramatiker, Übersetzer, Literaturwissenschaftler. Nach frühem Verlust der Eltern wuchs S. als Adoptivkind eines Fabrikanten auf. Während
der Gymnasialjahre in Kronstadt wurde sein Interesse von seinem Lehrer Adolf Meschendörfer geprägt. Er studierte Germanistik, Romanistik, Philosophie u. Musik in Gießen, Berlin, Paris, Tübingen u. Straßburg (1935–1937 u. 1941–1944). Im Zweiten Weltkrieg arbeitete S. als Deutschlehrer in Reutlingen, später als Dolmetscher. 1947 illegal unter abenteuerl. Umständen nach Rumänien zurückgekehrt, unterrichtete er in Kronstadt u. in weiteren Kleinstädten der Umgebung Deutsch. In den 1950er Jahren kam es zu den ersten Publikationen. S. wirkte als Dozent für Germanistik bis zu seiner Verhaftung 1958 in Klausenburg (rumän. Cluj). Im »Prozess der deutschen Schriftstellergruppe« wurde er zu 20 Jahren Haft verurteilt. 1962 entlassen, wurde er 1968 rehabilitiert. Schnell zum Prof. in Hermannstadt (rumän. Sibiu) avanciert, konnte S. zahlreiche Romane veröffentlichen u. nahm als Leiter des örtl. Schriftstellerkreises eine führende Stellung in der rumäniendt. Literatur ein. 1984 wurde er emeritiert u. siedelte 1990 in die BR Deutschland über. Obwohl S. auch als Lyriker, Dramatiker, Übersetzer, Literaturwissenschaftler tätig war, gilt er v. a. als Romanautor. Sein Fabuliertalent, seine neuen Sichtweisen u. sein humorvoller Stil fanden die Anerkennung des Lesepublikums, der Kritik u. der Literaturwissenschaft. In spannenden Romanen beschreibt S. das Völkerpanorama Siebenbürgens; seine Helden sind meistens Bauern, Hirten, Kleinbürger u. Kleindiebe unterschiedlichster Nationalität. S. setzte in seiner ersten Schaffensphase die mimet. Tradition der Epik der Zwischenkriegszeit fort. In diesen Kindheitserzählungen spiegeln sich die Stereotype über die Einheit u. Geschlossenheit der Siebenbürger Deutschen wider. Leichte Zugeständnisse an die Erwartungen des sozialistischen Realismus sind nicht zu übersehen (Da keiner Herr und keiner Knecht. Bukarest 1956; R.). Nach der Haftzeit u. dem Publikationsverbot erschienen seine Texte wie nach einem Dammbruch: S. suchte – privat u. für die deprimierte Leserschaft – Szenerien der Lebenskraft u. Lebenslust zu gestalten u. fand diese in einer pittoresken ruralen Bergwelt
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zwischen Pferdedieben u. Gaunern, die ur- Schernberg, Dietrich, * zweite Hälfte des wüchsig leben wollen u. dabei mit dem Ge- 15. Jh., † Anfang des 16. Jh. – Verfasser setz in Konflikt kommen (Paraskiv Paraskiv. eines Mirakelspiels. Cluj-Napoca 1976. 2. Aufl. u. d. T. Paraskiv, der S. ist 1483–1510 als »cleric«, »schrieber« u. Roßtäuscher. Bln./DDR 1982). Die Schlusssze»vicar« der thüring. Freien Reichsstadt ne des Paraskiv-Romans, eine GerichtsverMühlhausen urkundlich bezeugt. Er verfasste handlung, erinnert an S.s eigene Verurteilung. Die Stimme des Autors wirkt dabei in der ersten Hälfte der 80er Jahre des 15. Jh. zunehmend intellektueller. Themen wie ein spiel von fraw Jutten, das ausschließlich in Treue, Sehnsucht, Gerechtigkeit, Lebenskraft einem Eislebener Druck von 1565 überliefert u. Simultaneität der Geschehnisse finden ist. Das Spiel bietet die früheste dichterische Einzug in seine Werke, die aber immer wie- Bearbeitung jenes Stoffs: der Geschichte einer der Züge des Schelmenromans aufweisen. Teufelsbündlerin, die zum Papst gewählt u. Auch die Möglichkeit des Kunstschaffens in erst durch die Geburt ihres Kindes als Frau einem mehrsprachigen Gebiet wird themati- entlarvt wird. S. beabsichtigte, an der Figur siert (Penelope ist anderer Meinung. Bukarest der sündigen Heiligen Jutta die Kraft der 1971; R.). In seiner letzten Schaffensperiode Fürbitte Marias u. des hl. Nikolaus sowie die schrieb S. zunehmend auch Lyrik. 2000 er- Gnade Gottes aufzuzeigen, die auch hielt er den Siebenbürgisch-Sächsischen Kul- schwerste Sünden vergeben könne. Mit seiner geistl. Aussage u. der Bestimmung für die turpreis. Simultanbühne gehört das Stück zu den LeWeitere Werke: Giordano Bruno. Bukarest gendenspielen des späten MA, auch wenn 1954 (D.). – Ovid. Bukarest 1955 (D.). – Die Erzählung des Peter Merthes. 3 Bde., Bukarest mehrfach die grellen Effekte des Fastnachts1957–84. – Das Zünglein an der Waage. Bukarest spiels eingesetzt werden. S.s Belesenheit tritt 1968 (R.). – Der Mantel des Darius. Bukarest 1968 an zahlreichen Passagen zutage, die er von (R.). – Die Silberdistel. Bukarest 1968 (L.). – Baß u. anderen Autoren übernommen u. in sein Binsen. Cluj 1973 (R.). – Spiegelkammer. Bukarest Drama eingebaut hat (u. a. aus dem niederdt. 1974 (R.). – GOA MGOO oder die Erfindung der Theophilus, dem Alsfelder Passionsspiel, dem Unsterblichkeit. Münster 1997 (R.). – Begegnun- Künzelsauer Fronleichnamsspiel). Der protestangen. Ausgew. Gedichte. Bukarest 2001. – Piranda. tische Geistliche Hieronymus Tilesius als Hermannstadt 2003 (L.). Herausgeber des Spiels u. der Eislebener Literatur: Ausführliche Bio-Bibliogr. in: Worte Pfarrer Christoph Irenäus, der für den Druck als Gefahr u. Gefährdung. Fünf dt. Schriftsteller ein Nachwort beisteuerte, verwandten die vor Gericht (15. September 1959 – Kronstadt/Rumänien). Hg. Peter Motzan u. Stefan Sienerth unter Geschichte in polem. Absicht gegen das Mitwirkung v. Andreas Heuberger. Mchn. 1993, Papsttum. Das Drama u. sein Stoff haben eine S. 412–415. – Emmerich Reichrath (Hg.): Reflexe. erstaunlich breite u. lange WirkungsgeKrit. Beiträge zur rumäniendt. Gegenwartslit. Bu- schichte entfaltet (u. a. bei Johann Christoph karest 1977, S. 186–207. – Ders. (Hg.): Reflexe II. Gottsched, Achim von Arnim, Rudolf BorAufsätze, Rezensionen u. Interviews zur dt. Lit. in chardt). Rumänien. Cluj-Napoca 1984, S. 143–150. – Gert Ungureanu: Die Kunst ist eine Zigeunerin namens Piranda. Intertextualität u. Gruppenkommunikation in der Diktatur – die Oraliteralität in den Texten des siebenbürg. Autors G. S. Sibiu 1999. – Cornelius Scherg: Meister labyrinth. Sprachwelten. Zum Tod des Schriftstellers G. S. In: Südostdt. Vierteljahresbl. 52 (2003), H. 1, S. 32–38. András F. Balogh
Ausgaben: Spiel v. Frau Jutten (1480). Hg. Edward Schröder. Bonn 1911. – Ein schön Spiel v. Frau Jutten. Hg. Manfred Lemmer. Bln. 1971. Literatur: Friedrich Richard Haage: D. S. u. sein Spiel v. Frau Jutten. Diss. Marburg 1891. – Werner Kraft: Die Päpstin Johanna. Eine motivgeschichtl. Untersuchung. Diss. Ffm. 1925. – James E. Engel: The Stage Directions in S.’s ›Spiel v. Frau Jutten‹. In: Middle Ages, Reformation, Volkskunde. FS John G. Kunstmann. Chapel Hill 1959, S. 101–107. – Hansjürgen Linke: Bauformen geistl. Dramen des späten MA. In: Zeiten u. Formen in Sprache u. Dichtung. FS Fritz Tschirch. Hg. Karl-
Scherr Heinz Schirmer u. Bernhard Sowinski. Köln/Wien 1972, S. 209–213. – Elke Ukena: Die dt. Mirakelspiele des SpätMA. Studien u. Texte. Bern/Ffm. 1975, S. 150–222. – H. Linke: D. S. In: VL. – Valerie R. Hotchkiss: D. S.’s ›Ein schön Spiel von Frau Jutten‹. The Salvation of the Female Pope. In: Canon and Canon Transgression in Medieval German Literature. Hg. Albrecht Classen. Göpp. 1993, S. 195–206. – Sabine Doering: Die Schwestern des Doktor Faust. Eine Gesch. der weibl. Faustgestalten. Gött. 2001. – Norbert H. Ott: D. S. In: NDB. – Michael Obenaus: Hure u. Heilige. Verhandlungen über die Päpstin zwischen spätem MA u. früher Neuzeit. Hbg. 2008. Michael Schilling
Scherr, Johannes, auch: Ilius Pamphilius, Jedediah Gaudelius Enzian, Johannes Zinnober, Jeremia Sauerampfer, Hans Scheer, Giovanni Scherr u. a., * 3.10.1817 Hohenrechberg bei Schwäbisch Gmünd, † 21.11.1886 Zürich. – Literatur- u. Kulturhistoriker, Erzähler, Übersetzer. Der Sohn eines Lehrers u. jüngere Bruder des Pädagogen Thomas Scherr studierte nach nicht beendetem Priesterseminar in Ehingen/ Donau Deutsche Philologie u. Geschichte in Tübingen (1840 Dissertation über das Nibelungenlied). Darauf war er an der Zürcher Privatschule seines Bruders als Lehrer tätig. Seit 1843 freier Schriftsteller in Stuttgart, verfasste S. unter dem Einfluss Heines u. Herweghs polit. Denkschriften wie Württemberg im Jahre 1844 (Winterthur 1844). 1847 in die württembergische Abgeordnetenkammer gewählt, wurde er nach dem Scheitern der Revolution aufgrund seiner radikal freiheitlich-republikan. Haltung zu 15 Jahren Festungshaft verurteilt, floh im Juni 1849 ins Schweizer Exil, lebte lange in Winterthur u. erhielt 1860 einen Ruf als Professor der Geschichte u. Literatur an das Polytechnikum in Zürich. S.s große – u. breitenwirksame – Produktivität als Historiker u. Literat ist von der Überzeugung geprägt, dass sich kollektive ebenso wie subjektive Identität wesentlich über die Vergangenheit definieren wie das »teutsche Heldengedicht« Des armen Michels Lebenslauf (In: Das enthüllte Preußen. Winterthur 1844, S. 13–47), eine Verssatire auf den dt. Nationalcharakter, bezeugt. Sein Kultur-
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pessimismus nahm nach dem Scheitern der 48er-Bewegung noch zu (Die Gekreuzigte oder das Passionsspiel von Wildesbuch. St. Gallen 1860) u. spiegelt sich auch in der histor. Belletristik (Der Student von Ulm. Ulm 1841. Der Prophet von Florenz. Stgt. 1845. Die Pilger der Wildnis. Lpz. 1853), die ebenso wie die biogr. Studien durch literar. Verfahren u. psychologisierende Darstellung geprägt sind (Schiller. 2 Bde., Lpz. 1856. Blücher. Seine Zeit und sein Leben. Lpz. 1862). Darin liegt, wie im Fall der mehrfach wiederaufgelegten Menschlichen Tragikomödie (Lpz. 1882/83), ihre Popularität begründet. Gemeinsam mit der Geschichte deutscher Kultur und Sitte (Lpz. 1852/53) bildet sie den Kern S.s kulturhistor. Schaffens, das die polit. Ereignisgeschichte zugunsten von Alltags- u. Mentalitätsschilderung zurückstellt u. die Nationalhistorie in anthropolog. Perspektive als Volkswerdung begreift. Anders jedoch als die Kultur- u. Sittengeschichte verhandelt die Tragikomödie, eine umfangreiche Sammlung histor. Essays, Studien u. dramat. Skizzen, die von der Völkerwanderungszeit bis zur europ. Moderne reichen, das menschl. Schicksal in karikierender Form u. lässt sich, nach Beendigung der Einigungskriege u. Reichsgründung, als iron. Replik auf die eigene revisionistische Geschichtsdeutung lesen. In seinen zahlr. Dorfgeschichten bedrohen wie recht typisch für den Realismus Unglück, Verlust u. Tod das scheinbare Idyll u. erweisen sich als allgegenwärtig: »Eine ganze Glückswoche ist schon viel im menschlichen Leben« (Rosi Zurflüh. Eine Geschichte aus den Alpen. Prag 1860). Eine größere Auswahl der erzählerischen Schriften S.s ist in seinem Novellenbuch (10 Bde. Lpz. 1873–77) versammelt, u. a. der Roman Michel (4 Bde., Prag 1858), ein iron. Porträt dt. Mittelmäßigkeit. In der Auseinandersetzung mit der dt. Geschichte, insbes. mit der »Rückwärtserei« nach der Revolution, verherrlicht S. stets die Ideale der Aufklärung. Die Desillusionierung geht einher mit der öffentl. Distanzierung von der engagierten Literatur des Vormärz (u. a. von George Sand, deren Romane S. ins Deutsche übertrug). J.s kultur- u. literaturgeschichtl. Arbeiten erzielten hohe Auflagen u. stießen, analog zu
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Burckhardt u. Freytag, weniger in der wissenschaftl. Fachwelt als im Bildungsbürgertum auf hohe Resonanz. Anerkennung gebührt seiner Tätigkeit als Übersetzer u. Literaturvermittler, nicht allein von zeitgenöss. Belletristik (Sue, de Lamartine, Lacroix), sondern auch von Standardwerken der europ. Historiografie (Thomas Carlyle: Werke. Stgt. 1883. Pierre Antoine Noël Bruno Daru: Geschichte der Republik Venedig. Lpz. 1854. William Hickling Prescott: Geschichte Philipps des Zweiten von Spanien. Lpz. 1856–59). Weitere Werke: Poet. Versuche. Gmünd 1835. – Sagen aus Schwabenland. Reutlingen 1836. – Herzog Ulrich, der Verbannte, v. Wirtenberg. Reutlingen 1839. – Gemeinfassl. Gesch. der religiösen u. philosoph. Ideen. Schaffh. 1840. – Laute u. leise Lieder. Winterthur 1842 (L.). – Briefe eines dt. aus dem Exil. Ebd. 1843. – Georg Herwegh. Literar. u. polit. Blätter. Ebd. 1843. – Ein Priester. Historie aus der Gegenwart. Stgt. 1843. Poeten der Jetztzeit in Briefen an eine Frau. Stgt. 1844. Die Schweiz u. die Schweizer. Winterthur 1845. – Die Auswanderungsfrage, vom religiös-socialist. Standpunkt betrachtet. Stgt. 1845. – Erbauliches u. Beschauliches für andächtige Seelen. Winterthur 1846. – Die Waise von Wien. Stgt. 1847. – Hans v. Dampf. Satire. Zürich 1850. – Allg. Gesch. der Lit. Allg. Gesch. der Lit. v. den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Ein Hdb. für alle Gebildeten. Stgt. 1851. – Graziella. Memoiren-Novelle. Lpz. 1852. – Gesch. der engl. Lit. Lpz. 1854. – Dt. Parnass. Zürich 1854. – Nemesis. Prag/Lpz. 1854 (R.). – Dichterkönige. Lpz. 1855. – Tochter der Luft. 2 Bde., Prag/Lpz. 1855 (R.). – Gesch. der Religionen. Lpz. 1855–57. – Gesch. der dt. Frauen. In drei Büchern nach den Quellen. Lpz. 1860. – Drei Hofgesch.n. Lpz. 1860. – Mischmasch. Bln. 1867. – Aus der Sündflutzeit. Lpz. 1867. – Das Trauerspiel in Mexiko. Lpz. 1868. – Farrago. Lpz. 1870. – Dämonen, Lpz. 1871. – Hammerschläge u. Historien. Zürich 1872. – Werther-Graubart. Lpz. 1873. – Göthe’s Jugend. Der Frauenwelt geschildert. Lpz. 1874. Blätter im Winde – Lucrezia Borgia. Lpz. 1875. – Größenwahn. Vier Kap. aus der Gesch. menschl. Narrheit. Lpz. 1876. – Germania. 34 H.e, Stgt. 1876–78. Vom Zürichberg. Ein Skizzenbuch. Lpz. 1881. Porkeles u. Porkelessa. Eine böse Gesch. Bln./Stgt. 1882. – Haidekraut. Ein neues Skizzen- u. Bilderbuch. Wien/Teschen 1883. Neues Historienbuch. Lpz. 1884. Die Nihilisten. Lpz. 1885. – Illustrierte Gesch. der Weltlit. Stgt. 1886. – Letzte Gänge. Bln./Stgt. 1887. Übersetzungen: Eugène Sue: Thérèse Dunoyer. Fünf Theile. Stgt.
Scherr 1844. George Sand: Die Gräfin v. Rudolstadt. Stgt. 1844. – Dies.: Johanna. Vier Theile. Stgt. 1844. – E. Sue: Mathilde. Erinnerungen einer jungen Frau. Übers. u. eingel. v. J. S. Stgt. 1845. – Narcisse Fournier u. Auguste Arnould: Struensee oder Günstling u. Königin. Stgt. 1845. – Emile FlygareCarlén: Tutti Fritt. Sechs Theile. Stgt. 1845. – E. Sue: Die Verschwörung oder Ludwig XIV. u. sein Hof. Stgt. 1846. – Alphonse de Lamartine: Raphael. Eine Liebesgesch. Stgt. 1848. – Paul Lacroix: Die beiden Hofnarren. Histor. Roman. Stgt. 1848. – G. Sand: Das Schloss v. Oedenweiler. Stgt. 1851. – Alfred de Vigny: Cinq-Mars oder eine Verschwörung gegen Richelieu. Stgt. o. J. Literatur: Theophil Zolling: J. S. u. sein Nachl. In: Die Gegenwart 31 (1887), S. 357–360. – Jacob Achilles Mähly: J. S. In: ADB. – Wilhelm Lotz: J. S. Sein Leben u. Wirken als Politiker u. Geschichtsschreiber. Diss. Ffm. 1925. – Willibald J. Klinke: J. Thomas S.s Erlebnisse im Zürichbiet. 1825–1842. Zürich 1940. – Ders.: J. S., Kulturhistoriker. Leben, Wirken, Gedankenwelt. Thayngen-Schaffh. 1943. – Heinrich Reintjes: J. S. In: Geist u. Zeit 1 (1958), S. 153–157. Elisabeth Genton: Zwei vergessene Satiren des Vormärz v. J. S. In: Internat. HeineKongreß Düsseld. 1972. Referate u. Diskussionen. Düsseld. 1973, S. 106–120. M. J. Mcbryde: The Revolution of 1848 in the Works of Georg Weerth, Robert Prutz, J. S. and Adolf Glaßbrenner. Univ. of Canterbury. Christchurch 1975. – Ders.: Georg Weerth, J. S. and Robert Prutz. Three Novelists of 1848 and their Attitudes Towards the Fourth Estate. In: GLL 29 (1975/76), S. 351–362. – Fritz Hippler: Verbrecher Mensch? Die Beobachtungen des Historikers J. S. In: Suevica 5 (1989), S. 171–175. – Peter Bachmann: Rückert als Übersetzer arab. Dichtung in J. S. ›Bildersaal der Weltlit.‹. In: Internat. Anthologies of Literature in Translation 1995. Hg. Harald Kittel. Bln. 1995, S. 189–198. – Udo Schöning: S.s Romania. Bemerkungen zum roman. Anteil im ›Bildersaal der Weltlit.‹. In: Weltlit. in dt. Versanth.en des 19. Jh. Hg. Helga Eßmann u. U. S. Bln. 1996, S. 410–432. – Marion Steffen: J. S. als Anthologist u. Kulturhistoriker. In: ebd., S. 391–409. – Hans Schleier: Gesch. der dt. Kulturgeschichtsschreibung. 2 Bde., Waltrop 2003, Bd. 1, S. 716–738. – Kerstin Wiedemann: Zwischen Irritation u. Faszination. George Sand u. ihre dt. Leserschaft im 19. Jh. Tüb. 2003 (Register). – Klaus Gmachl: Zauberlehrling, Alraune u. Vampir. Die Frank Braun-Romane v. Hanns Heinz Ewers. Norderstedt 2005, S. 122–142. – Hans Schleier: J. S. In: NDB. Stefan Iglhaut / Julia Ilgner
Schertenleib
Schertenleib, Hansjörg, * 4.11.1957 Zürich. – Erzähler, Lyriker, Dramatiker, Hörspiel- u. Jugendbuchautor. Nach einer Ausbildung zum Schriftsetzer u. Typografen (1974–1978) u. dem Besuch der Kunstgewerbeschule in Zürich (1975–1980) arbeitete S. seit 1981 als freier Schriftsteller: zunächst in Zürich und Basel, wo er in der Spielzeit 1992/93 Hausautor am Theater war. Dann lebte er an wechselnden Orten, u. a. in Norwegen, Wien u. London, seit 1996 in Irland, seit 2003 in Durban/Südafrika, seit 2005 zeitweise auch wieder in Zürich. Der häufige Wechsel des Wohnsitzes ebenso wie S.s. ausgedehnte Reisen schlagen bereits eine Brücke zu bevorzugten Motiven seines literar. Werks: dem Unterwegssein, dem Ausbruch aus der Wohlgeordnetheit der Schweiz u. der Suche nach Authentizität. Schon seine 1982 erschienene Erzählung Grip (in: Grip. 3 Erzählungen. Zürich/Köln 1982) konfrontiert in diesem Sinn die Enge der Schweiz mit der Sehnsucht nach Freiheit u. nach fernen Ländern, in denen erst, so zumindest für die männl. Zentralfigur der Erzählung, ein wirkl. Leben möglich erscheint. Eine Reise nach Norwegen u. auf die einsame Insel Grip lässt die Titelfigur jedoch im Fremden immer deutlicher die vertrauten Muster von zu Hause wiedererkennen, u. dies bestimmt ihn schließlich, die Rückreise anzutreten »in die Gegend, die er kennt, und die, ob er will oder nicht, die seine ist« (Grip, S. 87). Auch in den nächsten drei Büchern S.s., den beiden Romanen Die Ferienlandschaft (Zürich/Köln 1983) u. Die Geschwister (Köln 1988) sowie dem Erzählungsband Die Prozession der Männer (Köln 1985), geht es um S.s. großes Thema: um das Unterwegssein als Öffnung des Menschen für neue Erfahrungen. Die Ferienlandschaft vergegenwärtigt eine Reise ins Land der Kindheit, doch was Heimat zu sein verspricht, bleibt dem erwachsenen Ich-Erzähler des Romans innerlich fremd. Als Konsequenz dieser Erfahrung sucht er sein »zu Hause« nun in den »Worten«, in der Sprache u. »zu allererst in sich selbst« – wobei am Ende offen bleibt, wie sehr ihm das gelingt. Die fünf Erzählungen aus der Prozession der Männer variieren das Grundthema des
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Unterwegsseins, vom Gehen als einer Schule des Sehens zum Reisen im Kopf u. in der Fantasie. Im Roman Die Geschwister löst eine überraschende Wendung im Leben der Geschwister Martin u. Martina eine Suche nach neuen existenziellen Ufern aus. Doch der von den beiden auf völlig unterschiedl. Weise inszenierte Neuanfang wird für den Leser – durch virtuos eingesetzte Mittel der erzählerischen Ironie – von vornherein in Frage gestellt. Auch in dem 1991 veröffentlichten Roman Der Antiquar (Köln) scheint ein einziges Ereignis – hier der Überfall auf einen Antiquitätenhändler – ein ganzes Leben von Grund auf zu verändern. Aber alle Neuorientierungsversuche der Titelfigur führen den Antiquar nicht in eine neue Lebensrealität, sondern immer nur in seine »Fantasiewelten« zurück. Unterwegssein heißt hier v. a. Erinnerungsarbeit u. Sinnsuche. Die erzähltechnisch nicht immer stringent wirkende Geschichte hat ihre Stärken in der bildhaften, verweisungsreichen Sprache u. den faszinierenden Landschaftsbeschreibungen. S.s. nächster Roman Das Zimmer der Signora (Köln 1996), S.s. erster kommerzieller Erfolg, markiert in Thematik u. Sprache einen überraschenden Neuansatz. Das Werk beschreibt die sexuellen Erfahrungen eines jungen Mannes u. reflektiert in einer bildhaft-plastischen, oft auch drast. Sprache die unauflösl. Verstrickung von Sexualität, Macht u. Gewalt. Genauer besehen, geht es jedoch auch hier um eine Lebenskrise u. um die Suche nach neuer Identität, letztlich um eine Reise in seel. Grenzbereiche in der Tradition von Schnitzlers Traumnovelle. In dem »Sektenthriller« (so die Kritik) Die Namenlosen (Köln 2000) schreibt S. in einem handfest realistischen Stil, der auch reißerische Darstellungsmittel nicht scheut. Die literar. Qualität dieses spannend zu lesenden Terroristenszenarios liegt allerdings in dem psychologisch dicht gewebten Portrait der rätselhaft-widersprüchl. Mittelpunktfigur des Romans: einer jungen Frau, die dem charismat. Oberhaupt der obskuren Sekte hörig wird. Nach einem Erzählungsband (Von Hund zu Hund. Köln 2001), der in stilleren Tönen Unterhaltungsqualitäten mit psycholog. Tief-
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Schertlin von Burtenbach
gang verknüpft, u. einem in Irland spielen- 1992 den Buchpreis der Stadt Zürich, 1992, den düsteren Krimi (Der Papierkönig. Bln. 1996 u. 2001 die Ehrengabe des Kantons 2003) folgte 2005 die Novelle Der Glückliche Zürich. (Bln.). S. konfrontiert hier die glückl. Tage Weitere Werke: Im Herzen der Bestie. WDR eines Jazztrompeters in Amsterdam mit des- 1987 (Hörsp.). – Stoffmann u. Herz. Urauff. Stadtsen plötzl. u. sinnlosen Unfalltod. So wie sich theater Luzern 1988 (D.). – Stift, Papier u. Bilddie Sinnfrage u. die Identitätssuche im schirm. In: Es muss sein. Autoren schreiben über Glücklichen vom Unterwegssein verschoben das Schreiben. Köln 1989, S. 127–138. Literatur: Urs Engeler: Logbuch einer Wandehat in das Hier u. Jetzt des gelebten Lebens u. die in ihm eingewebten Erinnerungen, so ist rung nach Irgendwo. Ein Gespräch mit H. S. In: es auch in dem Irlandroman Das Regenorchester Zwischen den Zeilen. Eine Ztschr. für Gedichte u. ihre Poetik Nr. 1 (1992), S. 60–74. – Der Staat hat (Bln. 2008) ein in Erinnerung vergegenwäruns die Utopien aus dem Leib geprügelt. Gespräch tigtes Leben, die traurige Liebes- u. die be- mit H. S. In: Drehpunkt 24 (1992), H. 84, S. 18–27. wegende Lebensgeschichte einer 60-jährigen – Christa Grimm: Ließe sich ein Ort finden, ist Irin, die dem Protagonisten des Romans, ei- Heimat ein schönes Wort. Zu Texten v. H. S. In: nem Schweizer Schriftsteller, wieder Mut Literaturkritik u. erzählerische Praxis. Hg. Herbert macht für einen neuen Anfang in seinem ei- Herzmann. Tüb. 1995, S. 137–145. – Tomas Kraft: genen, aus dem Lot geratenen Leben. In dem H. S. In: LGL. – Helen Hauser, in Zusammenarbeit Roman Cowboysommer (Bln. 2010) rückt das mit Susan Tebbutt: Ein neues Irlandbild? Die Thema von Enge u. Ausbruch in die Vergan- Schweizer Autoren Gabrielle Alioth u. H. S. erzähgenheit u. gewinnt zgl. tragische Züge. S. len lange verschwiegene irische Geschichten. In: Beziehungen u. Identitäten: Österr., Irland u. die erzählt hier die Geschichte einer JugendSchweiz. Hg. Gisela Holfter u. a. Bern u. a. 2004, freundschaft in der Schweiz der 1970er Jahre: S. 255–274. – Ulrich Horn u. Andreas Paschedag: Die Ausbruchsversuche des Freundes schei- H. S. In: KLG. Ronald Schneider tern damals tragisch, doch allein schon der Versuch des Freundes, aus der Schweizer Enge auszubrechen, wurde für den Ich-ErSchertlin von Burtenbach, Schärtlein, zähler zum verpflichtenden Appell, seinen Schertle v. B., Sebastian, * 12.2.1496 eigenen Lebensweg zu suchen. Schorndorf, † 18.11.1577 Augsburg. – S. präsentiert sich auch als Lyriker (Auf der Verfasser einer Autobiografie. Haupttribüne. Fahnen im Wind und Schlachtrufe. Zürich 1981. Der stumme Gast. Köln 1989), der Der Sohn eines wohlhabenden Bürgers u. eiseine Themen hier sehr viel stärker meta- ner Adligen studierte ab 1512 in Tübingen phorisiert, sowie als Dramatiker u. Hörspiel- (Magister 1516). S. gewann, zunächst unter autor, z.B. mit In meinem Kopf schreit einer Frundsbergs Kommando, als Landsknecht(Radio DRS 1984) oder Die Frau mit dem Koffer führer in kaiserl. Diensten in den Türken(SWR2 2000). Zudem ist er ein sensibler Ju- kriegen 1522 u. 1529, in der Schlacht bei gendbuchautor, was nicht verwundert, wenn Pavia 1525, bei der Niederwerfung der BauJugend auch für Identitätssuche u. Aufbruch ern 1525 u. in der Abwehr der Türken vor ins Leben steht. In Zeitpalast (Hbg. 1998) öff- Wien 1532 wachsenden Ruhm. 1525 zum nen sich für Patrick, einen 15-jährigen Jun- Ritter geschlagen, kaufte er 1532 als Feldgen, die Grenzen der empir. Wirklichkeit hauptmann Augsburgs die Herrschaft Burdurch die Erfahrung der Liebe ins Magische tenbach zwischen Augsburg u. Ulm. Wähu. Fantastische. In Schattenparadies (Hbg. rend des Schmalkaldischen Krieges trat er 2001) allerdings lernt Patrick die Kehrseite zum luth. Glauben über u. führte die Trupder Liebe kennen: sexuelle Ausbeutung u. pen der protestantischen oberdt. Städte. So Gewalt, u. doch bleibt die Magie der Liebe fiel er in Reichsacht, seine Güter wurden hier am Ende die stärkere Kraft. konfisziert. 1548 flüchtete er nach Basel, trat S. erhielt zahreiche Ehrengaben, Stipendi- danach zusammen mit seinem Sohn Hans en u. Preise, darunter den Preis der Schwei- Sebastian in frz. Dienste unter Heinrich II. u. zerischen Schillerstiftung (1988 u. 1996), nahm Einfluss auf die Bildung der gegen Karl
Schertzer
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V. gerichteten Bündnissysteme. Nach Lösung der Reichsacht erhielt S. 1553 seinen Besitz zurück u. wurde 1556 erneut Feldhauptmann von Augsburg. Er setzte sich 1566 in Augsburg zur Ruhe u. verfasste eine kulturhistorisch bedeutende Autobiografie in Chronikform: Leben und Taten des Herrn Sebastian Schertlin von Burtenbach, von ihm selbst beschrieben (Ffm./Lpz. 1777. Münster 1858. Heidenheim 1972). Seine Briefe an den Magistrat der Stadt Augsburg veröffentlichte Theodor Herberger (Augsb. 1852; mit ausführl. Biografie). Literatur: Alfred Stern: S. S. v. B. In: ADB. – Franz v. Rexroth: Der Landsknechtführer S. S. v. B. Bonn 1940 (biogr. R.). – Friedrich Blendinger: S. S. v. B. In: Lebensbilder aus dem Bayer. Schwaben. Bd. 2. Hg. Götz Frhr. v. Pölnitz. Mchn. 1953, S. 197–226. – Heinrich Gaese. S. S. v. B. In: Ludwigsburger Geschichtsblätter 2 (1975), S. 9–88. – Gerd Wunder: S. S. Feldhauptmann u. Kriegsunternehmer. 1496–1577. In: Lebensbilder aus Schwaben u. Franken. Bd. 13. Hg. Robert Uhland. Stgt. 1977, S. 52–72. – Horst Wenzel: Die Autobiogr.n des späten MA. Bd. 1, Mchn. 1980, S. 187–217. – S. S. (1496–1577) als Ortsherr v. Burtenbach. Hg. Georg Kreuzer u. Walter Gruber. Burtenbach 21996. – Christof Paulus: Artes Belli – Kriegsmotivation- u. Rechtfertigung am Beispiel des Donaufeldzugs 1546. In: Ztschr. des Histor. Vereins für Schwaben 97 (2004), S.121–138. Walter E. Schäfer / Red.
Schertzer, Scherzer, Scherzerus, Johann Adam, * 1.8.1628 Eger, † 23.12.1683 Leipzig. – Lutherischer Theologe, akademischer Lehrer. 1629 im Gefolge des Restitutionsedikts aus Eger vertrieben, wanderte die Familie des Juristen Jeremias Schertzer ins markgräfl. Hohenberg an der Eger aus. S. besuchte das Kulmbacher Gymnasium u. ab 1646 die Universitäten Altdorf, Jena u. Leipzig (1650). In Jena ging er von der Medizin zur Theologie über. Der kundige Botaniker S. gilt als Urheber des »Schertzerischen Balsams«. In Leipzig erlangte er eine Stelle in der Philosophischen Fakultät mit zwei metaphys. Disputationen De potentia (1. Quid sit possibile et ens potentia [1653]; 2. Quid sit potentia logica et objectiva? [1654]. Lpz. 1654). Sein Vademecum
seu Manuale philosophicum (Lpz. 1654) bietet einen Abriss des luth. Aristotelismus. 1658 wurde dem gelehrten Hebraisten die Professur für Hebräisch übertragen. 1666 zum Dr. theol. promoviert, wirkte er seit 1667 als theolog. Ordinarius, ab 1670 im Rang des Primarius, der 1672 u. 1676 die Universität Leipzig im kursächs. Landtag vertrat. Einflussreich auch durch kirchl. Ämter (Assessor des Konsistoriums, Meißener Kanonikus, Bautzener Dompropst), erreichte er 1673 ein Verbot von Pufendorfs De jure naturae et gentium für Kursachsen. Die materiale Auseinandersetzung mit Pufendorf übernahm sein Schüler Valentin Alberti. Die eigenen polem. Schriften gegen Sozinianer, Altgläubige (Bellarmin) u. Calvinisten wiederholen mit advokator. Geschick die seit drei Generationen vorgebrachten luth. Argumente; auch die dogmat. Werke zeigen hohe formale Begabung. Der Schluss des Breviculus Theologicus [...] (Lpz. 1675. 71707. Dt. 1677 u. ö.) formuliert die hochorthodoxe Lehre in einem Satz. Die Präzisionsarbeit des umfangreicheren Systema Theologiae [...] (Lpz. 1680 u. ö.) distanziert sich vorsichtig von der sächs. Tradition zugunsten der genuin luth. Tübinger Christologie. Die aktuelle antiröm. Polemik S.s entzündete sich v. a. an den Schriften Johannes Schefflers; dessen Gründlichen Ursachen und Motiven warumb Er von dem Lutherthumb abgetretten [...] (1654) trat er noch im selben Jahr mit einer Widerlegung der gründlichen Ursachen [...] entgegen. 1655 griff auch der Jenaer Theologe Christian Chemnitz den Konvertiten an (Veritas Religionis Lutheranae defensa [...]. Jena 1655). Schefflers Apologie, alles andere als ein Dokument religiöser Erfahrung, hatte 83 Gründe für die »Catholische Kirche« u. 55 Merkmale des luth. Irrtums aufgelistet. Die Kontrahenten erwiderten nicht weniger gestückt. Sie blieben ohne Antwort. Nicht die 1657 erschienene Erstgestalt des Cherubinischen Wandersmanns, erst Schefflers Türcken-Schrifft [...] (1664) rief S., aber auch Chemnitz u. andere luth. Autoren erneut auf den Plan. Der Behauptung, die türk. Aggression sei Gottes Strafe für den Abfall der Protestanten, die überdies als Soldaten feige u. unfähig seien, widersprach S. mit der Deduc-
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tion-Schrifft / Daß Joh. Schefflers / [...] TürckenSchrift / [...] eine abscheuliche Läster-Schrift / [...] / sey [...] (Lpz. 1664). Diesmal kam es zur literar. Fehde, in deren Verlauf S. bis 1667 noch sieben Schriften verfasste. Chemnitz trat 1664 mit fünf Texten gegen Scheffler an. Dass S. diesen Streit aufnahm, dürfte nicht nur durch die Fortschritte der Gegenreformation in Schlesien – allein 1653/54 waren 628 evang. Kirchen aufgehoben worden – zu erklären sein. Als dennoch kaisertreu gebliebener böhmischer Exulant, der sich noch im Widmungsschreiben des Systema für Kurfürst Johann Georg II. als »extorris« bezeichnete, als Sohn des einstigen Anwalts der Lausitzer in Eger, als Bautzener Dompropst u. als Senior Nationis Polonicae an der Leipziger Universität musste gerade er sich durch den schles. Konvertiten herausgefordert sehen. Dennoch bietet seine Deduction nur die umständl., mit histor. Material überfrachtete konfessionelle Antipolemik eines Gelehrten. Die kurz danach publizierte zweite Schrift von S., die Widerlegung der Schefflerischen Christen-Schrifft [...] (Lpz. 1664), ist nicht minder akademisch, während sich seine folgenden Äußerungen gegen Scheffler durch originelle Erwiderungen u. volkstüml. Bildhaftigkeit in den Titeln auszeichnen. Den bewegten Sprachduktus der Kampfschrift des Pfarrers Adam Becker (Jesus! Nothdrängende Beantwortung der schmählichen Türcken-Schrift / welche Joannes Scheffler außgehen lassen [...]. 1664) erreicht S. so wenig wie den einfachen Ton des anonymen Gesprächs Dreyer Personen uber Doctor Schäfflers Pantagruelische Ertz- und Center-Lügen (1664), in dem »Jauckel Redefrey / der Bauer« – im Dialekt –, »Clauß Wahrheit / der Narr« u. »Hanß Ohnefurcht / der Soldat« die Kontroverse mit dem Konvertiten führen. Merkwürdigerweise bleibt in dem ganzen Streit auch für S., obwohl er die spiritualistischen Einflüsse auf Scheffler beim Namen nennt (siehe: Und Scheffler verstummet [...]. Lpz. 1664, Blatt C), die Dichtung des Angelus Silesius außer Betracht. Der orthodoxe Erdmann Neumeister wird sie 1695 als theologisch unbedenklich beurteilen (De Poetis Germanicis. Halle 1695, S. 8).
Schertzer
Nach 1667 äußerte sich S. in der Sache nicht mehr. Den Leipziger Widerspruch gegen Scheffler, der über die geschichtstheolog. Anwürfe hinaus weitere polem. »Argumente« aufbot, übernahm ab 1670 der Schüler u. Kollege Alberti; noch zwei Jahre nach Schefflers Tod verfasste dieser ein Gründliches Gutachten über etliche neu aufgewärmte päpstische Schriften [...] (1679), in dem er nahezu dessen gesamte antiprotestantischen Publikationen abfertigte. Weitere Werke (Erscheinungsort jeweils Lpz.): Schillerus krounochytroleraios sophista. Oder Schillerus quadrilinguis. 1654. – Beweiß / daß D. Johann Scheffler Abschied hinter der Thür genommen / Und mit seinem Kehrwisch sich selbst auf das Maul geschlagen [...]. 1664. – Und Scheffler redet noch so viel als nichts [...]. 1664. – Daß D. Johann Scheffler Durch Seine abgeschmackte Abwürtzung sich selbst die Suppen verderbet [...]. 1665. – Und Scheffler verbrandte sich / u. bließ / Oder Schefflers Zerblasen bleibet So viel als Nichts. 1666. – Collegium Anti-Socinianum [...]. 1672. 3 1702. – Operae pretium Orientale [...]. 1672. – Programmata Publica cum orationibus nonnullis Academicis [...]. 1679. – Anti-Bellarminus [...]. 1681. 21703. – Dissertationum theologicarum Fasciculus [...]. 1683. – Breviarium Theologicum Hulsemannianum enucleatum atque auctum Valent. Alberti. 1687. – Collegium Anti-Calvinianum [...] a Ioann. Schmidio editum [...]. 1704. Ausgabe: Vade mecum sive Manuale philosophicum. Lpz. 1675. Nachdr. hg. u. mit einer Einl. vers. v. Stephan Meier-Oeser. Stgt.-Bad Cannstatt 1996. Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Henning Witten: Memoriae Theologorum nostri seculi clarissimorum renovatae decasdecima sexta. Ffm. 1685, S. 2127–2137. – Johann Jacob Vogel: Leipzig. Geschichtbuch oder Annales [...]. Lpz. 1714, S. 713, 731, 830. – Walter Dürig: Johann Scheffler [...]. Diss. masch. Breslau 1944. – Jochen Ihmels: Das Naturrecht bei V. Alberti. Diss. masch. Lpz. 1955. – Ernst Otto Reichert: Johann Scheffler [...]. Gütersloh 1967. – Fiammetta Palladini: Discussioni seicentesche su Samuel Pufendorf [...]. Bologna 1978. – Ulrich G. Leinsle: Reformversuche protestant. Metaphysik im Zeitalter des Rationalismus. Augsb. 1988, S. 20–26. – Ders.: J. A. S. In: Bautz. – Ueberweg, Bd. 4/1 (2001), S. 520–522 u. Register. – Markus Hein u. Helmar Junghans (Hg.): Die Professoren u. Dozenten der Theolog. Fakultät
Schesaeus der Univ. Leipzig v. 1409 bis 2009. Lpz. 2009, S. 261 f. Jörg Baur
Schesaeus, Christian(us), * um 1535 Mediasch/Siebenbürgen, † 30.7.1585 Mediasch. – Neulateinischer siebenbürgischsächsischer Epiker u. Lyriker. Der Sohn eines Stuhlrichters besuchte das berühmte, von Johannes Honterus begründete Gymnasium in Kronstadt, dann das in Bartfeld in der Zips, wo der Rektor Leonhard Stöckel sein Lehrer war. Ihm widmete er 1560 einen poetischen Nachruf mit einem Lebenslauf. 1556 begann er sein Studium in Wittenberg u. trat in den Schülerkreis Philipp Melanchthons ein. In seine Heimat zurückgekehrt, wurde er 1558 Hilfsgeistlicher in Klausenburg, dann Pfarrer in Tobsdorf u. war von 1569 bis zu seinem Tod Stadtpfarrer in seiner Heimatstadt Mediasch u. Dechant des Mediascher Kapitels. Sein Epitaph mit einer lat. Inschrift ist in der Mediascher Stadtkirche erhalten. S. ist der wohl bedeutendste nlat. Dichter der Siebenbürger Sachsen. Im Gefolge von Vergils Aeneis u. Lucans Pharsalia verfasste er ein umfangreiches zeitgeschichtl. Epos Ruina Pannonica in zwölf Büchern, von denen sieben bereits 1571 in Wittenberg erschienen. Fast vollständig wurde das Werk erst 1979 von Franciscus (Ferenc) Csonka im Rahmen der Opera quae supersunt omnia des S. ediert – freilich fehlte noch die in eleg. Distichen verfasste Darstellung einer Ehebruchsgeschichte Historia Annae Kendi, die erst 1996 von Joachim Wittstock u. Gernot Nussbächer mit rumän., dt. u. ungarischer metr. Übertragung publiziert wurde. Gattungsmischend wurde sie Bestandteil der »heroischen« Darstellung der Ruina Pannonica. In diesem umfangreichen poetischen Hauptwerk thematisiert S. die Thronstreitigkeiten zwischen Kaiser Ferdinand I. bzw. Maximilian II. auf der einen u. Johann II. Sigismund Zápolya in Ungarn auf der anderen Seite. Er stellt in episodenhafter Darstellung sich in enger Anlehnung an die polit. Abläufe unzweideutig auf die Seite des von den Türken unterstützten Zápolya, auch wenn er die Verwüstung Ungarns u. Siebenbürgens durch
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die Türken heftig beklagt u. sich in der Zeichnung der Türken nicht von den zeitgenöss. Türkenbildern unterscheidet. Die Abneigung gegen die Habsburger dürfte nicht zuletzt auf konfessionelle Gründe zurückzuführen sein. Sie spielt freilich keine Rolle mehr in der epischen Schilderung der Eroberung von Szigethvar durch Sultan Suleiman den Prächtigen mit der eindrucksvollen Vergegenwärtigung der christl. Verteidiger unter Miklos Zrínyi d.Ä. im 10. Buch. Als Theologe hielt S. 1580 auf einer Synode eine wichtige Rede über die Geschichte der Reformation in Siebenbürgen: Oratio de origine et progressu inchoatae et propagatae coelestis doctrinae in hac miserrima patria nostra (Csonka 1979, S. 344–362). Neben das epische Hauptwerk treten zahlreiche zeittypische Kasualgedichte u. Lyrica wie ein Epithalamium auf die Hochzeit von Caspar Bökes mit Anna von Harinna, Würdigungen der »Gründungsväter« von Humanismus u. Reformation in Siebenbürgen u. theolog. Gedichte u. Predigten wie eine Auslegung des 90. Psalmes, eine an Nikolaus Selnecker gerichtete Imago boni pastoris, eine Art Lehrdichtung. Alle diese Werke wurden erstmals 1979 von Csonka in einer Gesamtausgabe zusammen ediert. Übersetzungen: Michael Albert: Die Ruinae Pannonicae (sic) des C. S. In: Programm des evang. Gymnasiums in Schäßburg 1872/73. Hermannstadt 1873, S. 49–75. – Friedrich Teutsch: Drei sächs. Geographen des 16. Jh. In: Archiv des Vereins für Siebenbürgische Landeskunde 15 (1880), hier S. 632–635. – Bernhard Capesius (Hg.): Sie förderten den Lauf der Dinge. Dt. Humanisten auf dem Boden Siebenbürgens. Bukarest 1967, S. 231–282 (Ausw. aus ›Ruina Pannonica‹), S. 338 f. (Bibliogr.); verkürzt in: Ders.: Dt. Humanisten in Siebenbürgen. Bukarest 1974, S. 129–159. – Wittstock/Nussbächer (vgl. Ausg.n). – Lore Poelchau 2003 (vgl. Lit.). Ausgaben: Franciscus Csonka (Hg.): Christianus S. Opera quae supersunt omnia. Budapest 1979 (dort u. a. S. 11–18 ›De vita operibusque Christiani Schesaei‹, u. S. 37–41 [unvollständig] bis dahin erschienene Lit. in dt. u. ungar. Sprache). – Joachim Wittstock u. Gernot Nussbächer (Hg.): C. S.: Historia Annae Kendi [...] Die Gesch. der Anna Kendi. Kluj-Napoca/Gundelsheim 1996.
321 Literatur: Hermann Schuller: Die handschriftlich erhaltenen Gesänge aus S.’ Ruina Pannonica. Beilage zum Jahres-Ber. des evang. Gymnasiums A.B. in Mediasch 1923. – Ders.: C. S. als Lyriker. Mediasch 1927. – Thomas Nägler: C. S. In: Taten u. Gestalten. Bilder aus der Vergangenheit der Rumäniendeutschen. Bd. 1. Hg. Dieter Drotleff. ClujNapoca 1983, S. 114–116. – Stefan Sienerth: Gesch. der Siebenbürgisch-Dt. Lit. Von den Anfängen bis zum Ausgang des sechzehnten Jh. Cluj-Napoca 1984, S. 130 f., 149–154, 232 f. u. ö. – Paul Binder: Der Humanist C. S. u. Klausenburg. In: Forschungen zur Volks- u. Landeskunde 36 (1993), S. 40–50. – Joachim Wittstock: C. S.: Gelegenheitsgedichte, religiöse Oden, Elegien u. das Epos ›Pannonische Trümmer‹. In: Die dt. Lit. Siebenbürgens. Von den Anfängen bis 1848. 1. Halbbd. Hg. ders. u. S. Sienerth. Mchn. 1997, S. 155–175. – Hermann Wiegand: Nlat. Türkenkriegsepik des dt. Kulturraums im Reformationsjahrhundert. In: Europa u. die Türken in der Renaissance. Hg. Botho Guthmüller u. Wilhelm Kühlmann. Tüb. 2000, S. 177–192, hier S. 188–192; weitere Lit. in den Anm. 31–42. – Lore Poelchau: C. S. (1535–1585). Humanistische Dichtung eines siebenbürg. Geistlichen des 16. Jh. In: Lat. Lyrik der Frühen Neuzeit. Poetische Kleinformen u. ihre Funktionen zwischen Renaissance u. Aufklärung. Hg. Beate Czapla, Ralf Georg Czapla u. Robert Seidel. Tüb. 2003, S. 159–179; mit weiterer Lit. u. Übers.en. – Dies.: C. S. Ein humanist. Lyriker. In: Konfessionsbildung u. Konfessionalisierung in Siebenbürgen in der Frühen Neuzeit. Hg. Volker Leppin u. Ulrich A. Wien. Stgt. 2005, S. 211–220. – H. Wiegand: Miklós Zrínyi der Ältere (um 1508–1566) in der nlat. Dichtung Siebenbürgens im 16. Jh. Zum 10. Buch der Ruina Pannonica v. C. S. In: Militia et Litterae. Die beiden Nikolaus Zrínyi u. Europa. Hg. W. Kühlmann u. Gábor Tüskés unter Mitarb. v. Sándor Bene. Tüb. 2009, S. 137–150. Hermann Wiegand
Lienhart Scheubels Heldenbuch, auch: (Wiener) Piaristenhandschrift. – Spätmittelalterliche Sammlung von Heldendichtungen. Die Sammlung (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 15478; vorher im Piaristen-Kollegium St. Thekla auf der Wieden in Wien) trägt ihren Namen nach dem Mann, der sie um 1500 besaß u. den man in Nürnberg nachgewiesen hat. Ob sie dort auch entstanden ist, erscheint fraglich. Diese jüngste u. umfänglichste Zusammenstellung
Lienhart Scheubels Heldenbuch
von strophischen Heldendichtungen (etwa 1480–1490) besteht aus sieben selbstständigen Faszikeln, die von einer Hand, jedoch nicht in einem Zuge geschrieben sind; Nr. 1, 2 u. 5 werden durch ganzseitige Bilder eröffnet. Der Band zeigt Spuren eifriger Lektüre. Den Kern bilden Bearbeitungen von Ortnit (3) u. Wolfdietrich (4) sowie des Nibelungenliedes in zwei Teilen (5, 6). Angehängt hat der Schreiber u. Redaktor den Lorengel im »Schwarzen Ton« des Wartburgkriegs (7), der einen Teil des Lohengrinstoffs behandelt, hier aber an die Zeit Etzels anknüpft u. an die kriegerische Begegnung Etzels u. Parzivals erinnert. Entgegen der Chronologie des Stoffes vorgeschaltet sind die Virginal (1) sowie Antelan (2), eine kurze Erzählung von der Begegnung des Zwergenkönigs mit Parzival u. anderen Artusrittern, die nach Strophenform u. Vokabular der Heldenepik nahesteht. Ins Auge fällt das Interesse am Thema der Brauterwerbung, das wohl die Auswahl maßgeblich bestimmt hat (Nr. 1, 3–7). Während im Dresdner Heldenbuch Wert auf knappe Dichtungen gelegt ist u. notfalls stark gekürzt wird, zeichnen sich die hier gebotenen Fassungen der Heldenepen durch ihren Umfang aus. Große Sorgfalt hat man der Strophengestalt u. Versform angedeihen lassen, wobei wohl eher die Sangbarkeit als Prinzip eine Rolle spielte als, wie beim Dresdner Heldenbuch, die Rücksicht auf tatsächlich beabsichtigten Gesangsvortrag. Ausgaben: Das Nibelungenlied nach der Piaristenhs. Hg. Adelbert v. Keller. Tüb. 1879. – Margarethe Springeth: Die ›Nibelungenlied‹Bearb. der Wiener Piaristenhs. (L. S.s H.: Hs. k). Göpp. 2007, S. 49–361 (Transkription). – Ebd. S. 23 f. Nachweis der Ausg.n der übrigen Texte bzw. Textfassungen. Literatur (s. auch die Lit. zu den Einzeltexten, insbes. zum Nibelungenlied): Hermann Menhardt: Verz. der altdt. literar. Hss. der Österr. Nationalbibl. Bd. 3, Bln. 1961, S. 1426–1430 (Lit.). – Xenja v. Ertzdorff: Linhart S.s H. In: FS Siegfried Gutenbrunner. Hg. Oskar Bandle u. a. Heidelb. 1972, S. 33–46. Wieder in: X. v. E.-Kupfer: Spiel der Interpretation. Göpp. 1996, S. 393–410. – Peter Jörg Becker: Hss. u. Frühdrucke mhd. Epen. Wiesb. 1977, S. 156–158. – Werner Hoffmann: Die spätmittelalterl. Bearb. des Nibelungenliedes in L. S.s
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H. In: GRM 60 (1979), S. 129–145. – Joachim Heinzle: ›Heldenbücher‹. In: VL. – Gisela Kornrumpf: Strophik im Zeitalter der Prosa: Dt. Heldendichtung im ausgehenden MA. In: Lit. u. Laienbildung im SpätMA u. in der Reformationszeit. Hg. Ludger Grenzmann u. Karl Stackmann. Stgt. 1984, S. 316–340, bes. S. 321–323, 327 f., 329 f. – Alfred Ebenbauer: ›Antelan‹. In: Helden u. Heldensage. FS Otto Gschwantler. Hg. Hermann Reichert u. a. Wien 1990, S. 65–73. – Norbert H. Ott: ›Antelan‹. In: Kat. der deutschsprachigen illustrierten Hss. des MA. Bd. 1, Mchn. 1991, S. 229–231 u. Abb. 121. – RSM 5. Bearb. v. Frieder Schanze u. Burghart Wachinger. Tüb. 1991, S. 534 f. – Jan-Dirk Müller: ›bei heldes zeiten‹. Anmerkungen zum Beginn des ›Nibelungenliedes‹ k. In: Verstehen durch Vernunft. FS Werner Hoffmann. Hg. Burkhardt Krause. Wien 1997, S. 271–278. – J. Heinzle: Einf. in die mhd. Dietrichepik. Bln./New York 1999, S. 44, 136 f. – Die Nibelungen. Sage – Epos – Mythos. Hg. J. Heinzle u. a. Wiesb. 2003, bes. S. 206 f. (Heinzle), 233 (Klaus Klein), 283–298 passim (Lothar Voetz). – Lydia Miklautsch: Montierte Texte – hybride Helden. Zur Poetik der Wolfdietrich-Dichtungen. Bln./New York 2005, bes. S. 67–69, 223. – Margarethe Springeth (s. Ausg.), bes. S. 21–25 (zur Hs.), 363 ff. – Sonja Kerth: Gattungsinterferenzen in der späten Heldendichtung. Wiesb. 2008 (Register). – Victor Millet: German. Heldendichtung im MA. Eine Einf. Bln./New York 2008, bes. S. 425 f., 433 f. – N. H. Ott: ›Virginal‹. In: Kat. der deutschsprachigen illustrierten Hss. des MA. Bd. 4/1, Lfg. 1/2. Mchn. 2008, S. 78–83, hier S. 83 u. Abb. 50. Gisela Kornrumpf
Scheuchzer, Johann Jakob, * 2.8.1672 Zürich, † 23.6.1733 Zürich. – Arzt, Naturforscher. Nach dem Besuch der Zürcher Hohen Schule nahm S. 1692 das Studium der Naturphilosophie in Altdorf auf, wo ihn Johann Christoph Sturm u. a. mit der Technik des Experiments vertraut machte. Ein Jahr später wechselte er nach Utrecht u. wurde dort 1694 zum Dr. med. promoviert. Nach einem zweiten, kurzen Studienaufenthalt in Altdorf u. Nürnberg, während dessen er sich mit Astronomie, Versteinerungskunde u. Botanik beschäftigte, kehrte er in seine Vaterstadt zurück. Dort wurde S. 1695 zweiter Stadtarzt u. 1697 Aktuar der gelehrten Gesellschaft der Wohlgesinnten. Im selben Jahr nahm ihn
unter dem Namen »Acarnan« die Academia naturae curiosorum, 1704 die Royal Society in London als Mitgl. auf. Letztere unterstützte finanziell naturwissenschaftl. Publikationen S.s über die Schweiz u. trug zur Verbreitung seiner Schriften sowie zur Förderung des engl. Alpentourismus bei. 1710 wurde der inzwischen berühmte S. bescheidener Mathematikprofessor am Zürcher Carolinum. Das Angebot, Leibarzt Peters des Großen zu werden, lehnte er 1712 ab. Wenige Monate vor seinem Tod rückte S. zum Physikprofessor, zgl. zum ersten Stadtarzt u. Chorherrn auf. Schon auf seiner ersten Alpenreise, die ihn 1694 auf die Rigi, den Pilatus u. andere Voralpengipfel führte, erforschte S. die Topografie u. die Naturerscheinungen des Alpenraums wie auch die Lebensweise der Schweizer Bergbevölkerung an Ort u. Stelle, durch eigene Beobachtungen u. im Kontakt mit ansässigen Gewährsleuten. 1699 versuchte er, vorerst ohne Erfolg, mit Hilfe eines sehr umfassenden Fragebogens Informationen zur schweizerischen Landeskunde zu sammeln. Mit der Physica oder Natur-Wissenschaft (Zürich 1701), die in fünf Auflagen erschien, legte S. ein naturphilosophisches Lehrwerk vor, das im Sinne der Altdorfer Eklektiker verschiedenen Autoritäten (Bibel, Aristoteles, Newton, Descartes) gleichermaßen verpflichtet sein will. Im ersten Teil des Kompendiums werden sowohl die Eigenschaften als auch die Veränderungen der natürl. Körper u. der Sinneswahrnehmungen, ferner die Bewegungen, im zweiten die Himmelskörper samt den Kometen, die Naturerscheinungen aufgrund der eingehend erörterten Vierelementenlehre, die Pflanzen- u. Tierwelt sowie das Wesen des Menschen, v. a. seine Affekte, behandelt. Häufige Verweise auf die Bibel unterstreichen, dass die Naturerkenntnis den Glaubenswahrheiten entspricht u. die Tätigkeit des Naturforschers als Lobpreis des göttl. Schöpfers u. seines Werks zu verstehen ist. Dies geht v. a. aus S.s Abhandlungen zur Fossilienkunde, Specimen lithographiae Helveticae curiosae (Zürich 1702) u. Piscium querelae et vindiciae (ebd. 1708), hervor. Die Versteinerungen sind nicht das Resultat eines bloßen Spiels der Natur, sondern Zeugnisse der
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Sintflut (Diluvialhypothese). Mit dem Wo- Nachlass bezeugt ist. Seine naturkundl. chenblatt »Beschreibung der Natur-Ge- Werke wurden lange Zeit mit Vorliebe als schichten des Schweizerlandes« (ebd. Fundgruben für Realwissen ausgeschöpft. 1706–1708) brachte S. einem breiteren Lese- Dem Literaturhistoriker ist S. nicht nur als publikum die Alpenwelt nahe, mit den Nova Sagensammler bekannt; die ästhetisierende literaria Helvetica (ebd. 1703–15) bediente er Darstellung von Land u. Volk in Schillers die Gelehrten mit bibliogr. Informationen. In Wilhelm Tell geht u. a. auf S.s Naturgeschichte ‚ Ou1esifoíth& Helveticus s. itinera per Helvetiae zurück. alpinas regiones (Leiden 1723) berichtet S. über Weitere Werke: Herbarium diluvianum. Züseine mit obrigkeitl. Unterstützung durch- rich 1709. – De matheseos usu in theologia. Ebd. geführten Exkursionen in die Alpen, wo er 1711. – Enchiridion mathematicum. Ebd. 1714. – u. a. barometr. Höhenmessungen vornahm. Museum diluvianum. Ebd. 1716. Literatur: Rudolf Steiger: J. J. S. (1672–1733). 1712 entstand S.s berühmte Schweizerkarte, Nova Helvetiae tabula geographica (Neuaufl. Zürich 1927. – Ders.: Verz. des wiss. Nachlasses v. J. 1765), 1716–1718 (Nachdr. 1978/79) eine J. S. Ebd. 1933. – Hermann Alfred Schmid: Die mehrbändige Naturgeschichte der Schweiz, Entzauberung der Welt in der Schweizer Landeskunde. Basel 1942, S. 98–161. – Hans Fischer: J. J. in der die Oberflächengestalt (Helvetiae stoiS. Neujahrsbl. auf das Jahr 1973 als 175. Stück der cheiographia, orographia et oreographia. Zürich Naturforschenden Gesellsch. in Zürich [...]. Zürich 1716), die Seen, Flüsse u. Bäder (Hydrographia 1973. – Rudolf Schenda u. Hans ten Doornkaat Helvetiae. Ebd. 1717) u. die Witterungsver- (Hg.): Sagenerzähler u. Sagensammler der Schweiz. hältnisse (Meteorologia et oryctographia Helvetiae. Bern/Stgt. 1988, S. 181–201. – Urs B. Leu: Gesch. Ebd. 1718) beschrieben werden. In weiteren der Paläontologie in Zürich. In: Paläontologie in Bänden sollten die Pflanzen- u. Tierwelt so- Zürich. Fossilien u. ihre Erforsch. in Gesch. u. Gewie der schweizerische Mensch vorgestellt genwart. Zürich 1999, S. 11–76. – Irmgard Müsch: werden; umfangreiche, z.T. druckfertige Geheiligte Naturwissenschaft. Die Kupfer-Bibel des Manuskripte liegen im Nachlass S.s in der J. J. S. Gött. 2000. – Robert Felfe: Naturgesch. als kunstvolle Synthese. Physikotheologie u. BildpraZürcher Zentralbibliothek. In der Vorrede xis bei J. J. S. Bln. 2003. – Michael Kempe: Wiss., zum landes- u. naturkundl. Hauptwerk be- Theologie, Aufklärung. J. J. S. (1672–1733) u. die tont S. erneut, dass Naturforschung gleich- Sintfluttheorie. Epfendorf 2003. – Ders.: J. J. S. In: zeitig »eine Einleitung zur Kenntnis Gottes NDB. – Ders.: Die Gedächtnisspur der Berge u. aus der Natur« sei. Auch in seinem Jobi physica Fossilien. J. J. S.s Sintfluttheorie als Theologie der sacra oder Hiobs Natur-Wissenschaft (ebd. 1721) Erdgeschichte. In: Sintflut u. Gedächtnis. Erinnern bleibt S. der biblizistischen Naturauffassung u. Vergessen des Ursprungs. Hg. Martin Mulsow treu. Noch in der Physica sacra (Augsb. u. a. Mchn. 2006, S. 199–222. – Paul Michel: Phy1731–33), in der er das kopernikan. Weltbild sikotheologie. Ursprünge, Leistung u. Niedergang vertritt, versucht er, die von Gott geheiligte einer Denkform. Zürich 2008. – Simona Boscani Leoni (Hg.): Wiss. – Berge – Ideologien. J. J. S. Natur dem Leser durch beigefügte Kupferta(1672–1733) u. die frühneuzeitl. Naturforschung. feln auch ästhetisch nahezubringen. Aus Basel 2010. Hanspeter Marti kultur- u. nationalgeschichtl. Gründen verdient die Schrift über das Heimweh (De nostalgia. In: De Bononiensi scientiarum et artium Scheuer, Norbert, * 16.12.1951 Prüm. – instituto. Bologna 1731, S. 307–313) BeachLyriker u. Erzähler. tung; v. a. wissenschaftshistorisch ist S.s handschriftlich überlieferte Briefsammlung Nach dem Schulabschluss machte S. eine von Bedeutung. Elektrikerlehre u. absolvierte zur gleichen Neben Haller ist S. der wohl bedeutendste Zeit das Abendgymnasium. Anschließend Entdecker der Schönheit der Alpen im frühen studierte er Physikalische Technik u. Philo18. Jh. Den naturwissenschaftl. Pionierleis- sophie in Bonn, Düsseldorf u. Iserlohn. tungen ist S.s Vorliebe für die Schweizerge- 1981–1985 erfolgten Veröffentlichungen in schichte an die Seite zu stellen, die durch eine Literaturzeitschriften u. im Rundfunk. 1985 große Quellensammlung im handschriftl. war S. Preisträger beim NRW-Literaturwett-
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bewerb in Prosa. Er arbeitet als Systempro- noch einmal in das Hotel am Wehr zurück. grammierer u. Datenschutzberater. 1993 er- Hermann präsentiert sich der Familie nackt hielt er den Kulturförderpreis des Kreises mit einem geschminkten Fischmaul u. einem Euskirchen; seit 1990 lebt er mit seiner Fa- Köder auf dem kahlgeschorenen Kopf. Beim ungeliebten Angeln gerät L. in einen Strudel milie in Keldenich (Eifel). In den Gedichten von S. (Ein Echo von allem. der Erinnerung. Leo bezeichnet den Fluss als Mainz 1997) werden Momentaufnahmen u. eine Matrize, in der sich die Geschichte der Erinnerungssplitter in sinnlich konkreter Menschen als Trübstoff ablagert. Der Vater, Form kombiniert. Material liefern Landschaft der den Jungen das Fischen beigebracht hat, u. Menschen der Eifel, die S. in einer unprä- ist tot. Er war Alkoholiker u. vegetierte zwitentiösen Sprache, die formal an William schen stinkenden Ködern im Keller. Die Carlos Williams geschult ist, bewahrt. Den Mutter siecht nach zwei Schlaganfällen in sozialen Gehalt von S.s lyr. Standfotos hat einem Altenheim dahin, das Hotel verHans Bender mit der Fotografie August San- kommt. Eingeleitet werden die einzelnen Kapitel mit Bildern von Fischen oder Ködern, ders verglichen. Ebenso wie Der Hahnenkönig (Mchn. 1994) die S.s Sohn Erasmus gezeichnet hat. Fischen u. Der Steinesammler (Mchn. 1999) ist auch der u. Menschen wird die gleiche Bedeutung zuRoman Flußabwärts (Mchn. 2002) in der Eifel gemessen. So wird die Groppe, die im angesiedelt. Der Roman beginnt voller Opti- Schlamm wühlt u. auf diese Weise den mismus mit einer Fußballmannschaft, die für Schmutz vergangener Tage aufwirbelt, mit den Aufstieg in die Bezirksliga trainiert. Doch einer Romanfigur verglichen, deren Geals der Ball in die Urft fällt u. flussabwärts schwätz niemanden interessiert. Zudem sind schwimmt, wird deutlich, dass die Fließrich- der Vater u. Hermann auf der erfolglosen tung für das Leben der Protagonisten sym- Suche nach dem myth. Urfisch Ichthys. Fiptomatisch ist. Der Ich-Erzähler Leo besucht schen wird als eine Beschäftigung für Verlieseine Mutter regelmäßig im Altenheim. Die rer angesehen, obwohl dieses Buch als großFahrten dorthin sind eine Zeitreise in die artige Hommage an Paul McLean, den FlieVergangenheit. Leos Familie besitzt zuerst genfischer aus dem Roman A River Runs noch eine Gastwirtschaft, doch als diese sich Through It (1976) von Norman McLean, zu nicht mehr rentiert, löst sich auch die Familie lesen ist. auf. Die Mutter arbeitet in zwei Jobs, der Weiteres Werk: Bis ich dies alles liebte. Neue Vater geht auf Montage. Lia, die in der Gast- Heimatgedichte. Mchn. 2011. wirtschaft geholfen hat u. mit der Mutter Literatur: Theo Breuer: Eine lyr. Marginalie befreundet war, trennt sich von ihrem Mann. oder Ein Echo v. allem. In: Ders.: Ohne Punkt & Während sie eine neue Liebschaft eingeht, Komma. Lyrik in den 90er Jahren. Köln 1999, verfällt ihr Ehemann dem Alkohol u. versucht S. 49–67. – Josef Zierden: Eifeler Autoren schreiben sie zu ermorden, als die kleine Tochter Clara sich nach vorne. Michael Lentz u. N. S. In: Eifel-Jb. 2006, S. 94–96. in einem Abwasserkanal zu Tode kommt. Elke Kasper Ein Mosaik aus Miniaturen entwirft S. in dem Erzählungenband Kall, Eifel (Mchn. Scheuermann, Silke, *15.6.1973 Karlsru2005. Tb. 2010). Mit dem Motto ›true places he. – Lyrikerin, Verfasserin von Romanen, never are‹ von Melville betont S. die imagiErzählungen u. Kinderbüchern, Herausnäre Realität u. die Zeitlosigkeit der Eifeler geberin, Kolumnistin. Rituale wie die Wahl des Hahnenkönigs. Das Personal aus S.s früheren oder späteren Wer- Nach dem Studium der Theater- u. Literaken ist in dieser nüchternen Chronik genauso turwissenschaft in Frankfurt, Leipzig u. Paris präsent wie der existenzielle Reigen von Lie- trat S. zunächst als Lyrikerin in Erscheinung. be, Tod u. (Un-)Glück. Ihr Debüt Der Tag an dem die Möwen zweistimAls sein Bruder Hermann den Verstand mig sangen (Ffm. 2001) begleitete die Verleiverliert, kehrt Leo, der Ich-Erzähler des Ro- hung des Leonce-und-Lena-Preises der Stadt mans Überm Rauschen (Mchn. 2009. Tb. 2011) Darmstadt, was der Autorin sogleich eine
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große öffentl. Aufmerksamkeit eintrug. Die Gedichte umkreisen das Thema partnerschaftl. Beziehung, wobei als vorherrschende Stilmittel die direkte Ansprache eines ungenannten Gegenübers sowie das Bemühen um eine syntakt. Verdichtung ephemerer (Sinnes-)Eindrücke zu nennen sind. So heißt es im Titelgedicht: »Schwimmen kannst du noch, aber du schwimmst dich / nicht mehr frei«. Da S. jede Form des Sentiments vermeidet, lassen sich die Texte nicht als Liebesgedichte im herkömml. Sinne klassifizieren; im Gegenteil ist die Figurenrede auch als Selbstansprache des lyr. Ichs lesbar. Dass die Erstausgabe des Bandes in der edition suhrkamp auf dem Umschlag einen falschen Titel verzeichnet, statt »zweistimmig« singen die Möwen hier »zweisprachig«, illustriert die Funktionalisierung sprachl. Ambiguität. Der 2005 mit dem Hermann-Hesse-Förderpeis ausgezeichnte Nachfolger Der zärtlichste Punkt im All (Ffm. 2004) provozierte im Gegensatz zum Debüt auch krit. Stimmen. Jörg Drews etwa bemängelte die Vagheit der sprachl. Bilder. S. begegne dem Formproblem zeitgenöss. Lyrik mit einer professionellen, zuweilen aber angestrengten Schreibweise. Dieser »oft intellektuell-sentimentalische[]« (Drews) Ton äußert sich u. a. in Lang-Überschriften wie »Die Eulenkönigin oder Minerva will auch in den PirelliKalender«, die der Lebenswelt einen kulturgeschichtl. Hallraum zu verleihen suchen. Ein ähnl. Verfahren grundiert auch S.s dritten Gedichtband Über Nacht ist es Winter (Ffm. 2007). Das Personal ihrer Gedichte sieht sich fortwährenden Veränderungen ausgesetzt, wie auch Fabelwesen u. unbelebte Dinge in immer zeichenhafte Handlungen verfallen. Im »Lied von der Veränderung« (in: Über Nacht ist es Winter) wird die sprachl. Ordnung der Welt als ein melancholisch gefärbtes Austarieren des eigenen Standpunktes sichtbar: »Wir hier // und alles im Gleichgewicht und die Weltläufigkeit / des Schmerzes bis in die Idyllen hinein«. S.s Lyrik schließt merkbar an den Bescheidenheitsgestus von Autoren wie Harald Hartung an, will das selbst aufgestellte poetische Ideal der »Selbstverständlichkeit« (»Die Art wie Gedichte arbeiten«, in: Über Nacht ist es Winter) aber nicht
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immer erfüllen. Vorbilder sind zudem Inger Christensen u. Ingeborg Bachmann. Parallel tritt S. auch mit Prosa in Erscheinung. Die paratextuelle Sexualisierung ihres Erzählungsbandes Reiche Mädchen (Ffm. 2005) ist eigenen Angaben zufolge dem Wunsch geschuldet »ein Buch mal so richtig gut zu verkaufen« (Literaturen). Volker Weidermann quittiert diesen Versuch mit dem Etikett »Fräulein-Plunder«; auch andere Rezensionen monieren die »Frau-zu-Frau-Prosa« (Müller). Die literarhistor. Brücke zum »Fräuleinwunder« der späten 1990er Jahre ist damit gelegt. Offen bleibt jedoch, ob S. in eine Reihe mit Autorinnen wie Judith Hermann, Juli Zeh oder Zoë Jenny zu stellen ist. Statt Generationsporträts liefern ihre Kurzgeschichten eine Problematisierung individueller Deutungsmacht. In der Erzählung »Lisa und der himmlische Körper« erschießt die Protagonistin Lisa einen Junkie, nachdem ein One-night-stand ihre Hoffnung auf eine auch emotionale Bindung enttäuscht hat. In »Die Umgebung von Blitzen« glaubt Rentner Carl an einen Austausch von Fähigkeiten zwischen sich u. seiner Frau Sofie; das Wissen um diese Gemeinsamkeit ist ihm Glück. Mit Wittgenstein ist Wirklichkeit hier als Sprachspiel zu begreifen. Die mitunter kontroverse Diskussion ihrer Werke zeigt, dass S. seit Beginn ihrer Karriere zur Spitzengruppe der dt. Gegenwartsautoren zählt. Diese Feldposition bestimmt auch die Aufnahme ihrer beiden Romane Die Stunde zwischen Wolf und Hund (Ffm. 2007) u. Shanghai Performance (Ffm. 2011), denen in allen Fällen erzählerische Disziplin u. atmosphär. Stimmigkeit attestiert wird. Die Stunde zwischen Wolf und Hund schildert die Begegnung zweier ungleicher Schwestern, die ihren unsicheren Platz in der Gesellschaft durch die Spiegelung im verwandten Gegenüber finden. S. bedient sich hier einer lyrikhaften Poetik der Auslassung, die auf auktoriale Bewertungen weitgehend verzichtet u. das Gelingen von Kommunikation an ein intuitives Verstehen koppelt. Shanghai Performance wählt die Sphäre der bildenden Kunst, um eine ganz ähnl. Konstellation durchzuspielen. Die an der realen Performancekünstlerin Vanessa Beecroft orientierte Figur
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Margot Winkraft nimmt die Einladung einer kleinen Galerie in Shanghai an, weil sie glaubt, dort ihre (allerdings von ihr selbst) verstoßene Tochter wiederzutreffen. Das zunehmend seltsame Verhalten Winkrafts bringt ihre Assistentin Luisa, aus deren Sicht der Roman erzählt ist, gegen sich auf. Der Konflikt entspinnt sich subkutan zwischen den Trägern eines geistigen u. biolog. Erbes. 2010 veröffentlichte S. zusammen mit der Illustratorin Franziska Harvey das Kinderbuch Emma James und die Zukunft der Schmetterlinge (Ffm. 2010). Sie unterhält außerdem die Kolumne Lyrischer Moment in der Literaturzeitschrift »Volltext«; sie war 2006 Mitherausgeberin des Jahrbuchs der Lyrik 2007 u. gab 2010 Liebesgedichte von Helga M. Novak (Ffm.) heraus. S. wurde mit zahlreichen Stipendien u. Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Georg-Konell-Preis der Stadt Wiesbaden (2008), dem Stipendium der Villa Massimo (2009) u. dem Droste-Literaturförderpreis der Stadt Meersburg (2009). Literatur: Jörg Drews: Die Invasion der Wünsche. S. S. u. die Suche nach dem Gedicht. In: SZ, 27.9.2004. – Nikola Roßbach: Bildwandlerinnen. Die Lyrikerinnen Tanja Dückers, Sabine Scho u. S. S. In: Fräuleinwunder literarisch. Lit. v. Frauen zu Beginn des 21. Jh. Hg. Christiane Caemmerer, Walter Delabar u. Helga Meise. Ffm. 2005, S. 191–212. – Volker Weidermann: Fräulein-Plunder. Immer mehr junge Frauen langweilen sich, haben Sex u. schreiben darüber. Warum nur? In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 13.2.2005. – Burkhard Müller: Hirschkäfer in braunen Stiefeln. S. S. erzählt v. blöden Jungs u. blöden Mädchen. In: SZ, 7.3.2005. – Frauke MeyerGosau: Weibl. Kippfigur. In: Literaturen. April 2007, S. 98–105. – Christian Schlösser: Gespräch mit S. S. In: Dt. Bücher. Forum für Lit. 2008, H. 1, S. 5–16. – Uwe Wittstock: Die Fesselspiele des Ich: S. S. In: Ders.: Nach der Moderne. Essay zur dt. Gegenwartslit. in zwölf Kapiteln über elf Autoren. Gött. 2009, S. 172–185. Ole Petras
Scheurmann, Erich, * 29.11.1878 Hamburg, † 9.5.1957 Armsfeld bei Bad Wildungen. – Erzähler. Nach Kunststudien in Hamburg, Nürnberg u. München schloss sich S. der WandervogelBewegung an. 1914/15 hielt er sich in der
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damaligen dt. Kolonie Samoa auf; anschließend reiste er durch die USA. Nach seiner Rückkehr 1918 publizierte er nicht nur erbaul. Traktate (z.B. Lob der Dummheit. Buchenbach 1922), sondern reüssierte auch mit Tropenprosa. In der Gegenüberstellung von dekadenter europ. Zivilisation u. verklärter Südseeromantik geraten »Rasse«, »Blut«, »Natur« zu zentralen ideolog. Begriffen, etwa in dem Roman Paitea und Ilse (Bln. 1919. Verändert u. d. T. Zweierlei Blut. Mchn. 1936). Diese Geisteshaltung – die bei S. später in offener Bewunderung für Hitler kulminierte – spiegelt sich auch in seinem bekanntesten Werk wider, der Satire Der Papalagi. Die Reden des Südseehäuptlings Tuiavii aus Tiavea (Buchenbach 1920. Zürich 1977 ff. Zuletzt 2007), die in den 1980er Jahren weite Verbreitung fand. S. posiert im Vorwort als Herausgeber der Reden eines angebl. samoan. Häuptlings, der darin seine Eindrücke von Europa festhält. Tatsächlich ist jedoch S. der Verfasser; er aktualisiert damit in enger Anlehnung an Hans Paasches Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland (1912 ff.) das seit Montesquieus Lettres persanes (1721) populär gewordene Stilmittel, in fiktiven Briefen, Gesprächen oder Reden aus dem Blickwinkel eines Exoten abendländ. Kulturkritik zu betreiben. Erweist sich der fremde Blick in der frz. aufklärerischen Literatur des 18. Jh. als Genre voller Witz u. Esprit, so gerinnt er in S.s Version inhaltlich u. sprachlich zum Klischee. Verfälschte ethnografische Details u. abgedroschene Südseestereotype werden in einer Sprache präsentiert, die durch Pseudo-Primitivismen u. Innerlichkeit Authentizität suggerieren soll. Literatur: Horst Cain: Persische Briefe auf samoanisch. In: Anthropos 70 (1975), S. 617–626. – Der Spiegel, 26.5.1980, S. 222–228. – Bernd Thum u. Elizabeth Lawn-Thum: Die Südsee in der dt. Lit. In: Jb. Deutsch als Fremdsprache 8 (1982), S. 1–38. – Hans Ritz: Die Sehnsucht nach der Südsee. Gött. 1983, S. 117–148. – Gerd Stein (Hg.): Exoten durchschauen Europa. Ffm. 1984, S. 14–22, Bibliogr. S. 239 f. – Ursula Wolkers: Samoa oder die Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies. Aus dem Leben des Malers u. Schriftstellers E. S. In: Waldeck. Landeskalender 264 (1991), S. 83–91. – Manfred Bosch: Der Südseehäuptling vom Bodensee. E. S.: Der Papalagi auf der Höri. In: Bohème am
327 Bodensee. Literar. Leben am See v. 1900 bis 1950. Hg. ders. Lengwil am Bodensee 1997. 32007, S. 17–21. Eckard Schuster / Red.
Scheyb, Franz Christoph von, * 26.2.1704 Tengen/Schwaben, † 2.10.1777 Wien. – Epiker, Kunsttheoretiker, Herausgeber.
Schibli Michal Johanna Scheriau: F. C. v. S. u. die klassizist. Kunstlit. Wiens im späten 18. Jh. In: Unsere Heimat 57 (1986), S. 238–247. – Axel Christoph Gampp: Die Geburt des Kunstwerks durch den Geist der Proportion. Franz Xaver Messerschmidt u. seine Charakterköpfe. In: Spirits Unseen. The Representation of Subtle Bodies in Early Modern European Culture. Hg. Christine Göttler u. Wolfgang Neuber. Leiden 2008, S. 331–354.
Der einer alten Patrizierfamilie entstamWynfrid Kriegleder / Red. mende S. kam nach dem Tod des Vaters als Jugendlicher nach Wien, wo er Jura studierte Schibli, Emil, * 6.2.1891 Zürich, † 12.5. u. in den Staatsdienst trat. Reisen in diplo- 1958 Lengnau/Kt. Bern. – Erzähler, Lyrimatischer Mission, z.B. nach Neapel, Leiden ker. u. Rom, brachten ihm eine erhebl. Erweiterung seines Horizonts, die Aufnahme in ver- Aus ärml. Verhältnissen im Zürcher Arbeischiedene Akademien u. Kontakte zu Litera- terquartier stammend, wuchs S. als sog. ten u. Gelehrten ein (so stand er in Brief- »Verdingkind« im aargauischen Fislisbach wechsel mit Rousseau u. Voltaire). Ab 1739 auf, absolvierte nach einer prägenden Zeit als wieder als Beamter in Österreich, widmete Buchhändler in Zürich u. Bern das Berner sich S. vor allem gelehrten Tätigkeiten: Er Lehrerseminar u. war dann Primarlehrer in gab die Tabula Peutingeriana (Wien 1753. Lpz. Lengnau/Kt. Bern. Zunächst Lyriker ohne ei1824. Paris 1965) sowie eine Festschrift zur genständige Kraft (Die erste Ernte. Bern 1916. Wiedereröffnung der Universität Wien (Musae Die zweite Ernte. Ebd. 1919), fand er in der Francisco ac Theresiae augustis congratulantur. Krisenzeit der späten 1920er u. 1930er Jahre Wien 1756) heraus u. beschäftigte sich zudem mit Büchern wie Kleines Schicksal (Bln. 1929; mit Kunsttheorie (Natur und Kunst in Gemäl- E.en) u. Wir wollen leben (Zürich/Wien/Prag den, Bildhauereyen, Gebäuden und Kupferstichen. 1936) zu einem eigenen Ton als proletar. Schriftsteller u. unprätentiöser Gestalter des Wien 1770). S.s literar. Bedeutung liegt v. a. in seiner Schicksals sozial benachteiligter Menschen. Verbindung mit Gottsched, dessen wichtigs- Am überzeugendsten war dabei sein urspr. ter Wiener Parteigänger er war. S. versuchte, als Wettbewerbsbeitrag konzipierter Roman nicht nur Gottscheds literar., sondern auch Wer ohne Schuld ist (Zürich 1942): die beweseine sprachl. Normen (das Sächsisch-Meiß- gende, streng naturalistisch erzählte Genische) in Österreich verbindlich zu machen. schichte einer Proletarierin, die an den geFrucht dieses Bemühens ist neben der um- sellschaftl. Realitäten u. Zwängen seelisch u. fangreichen Lobrede auf weiland Se. Hochgräfliche physisch zugrundegeht. Weitere Werke: Ein Mann aus dem Volk. Das Excellenz Herrn Friedrich des Heil. Röm. R. Grafen von Harrach zu Rohrau (Lpz. 1750) das Alex- Leben Gottfried Kellers. Zürich 1949. – David. Die andrinerepos Theresiade (Wien 1746), in dem Gesch. einer Kindheit. Aarau 1950. – Reife u. Abschied. Texte aus dem Nachl. Bern 1963. S. die zeitgenöss. Ereignisse des österr. ErbLiteratur: Gottfried Wyß-Jäggi: E. S. In: Ders.: folgekriegs mit einer Huldigung an die KaiWeggefährten. Ein Blick in die soziale Schweizer serin verband. Das stark allegor. Werk (die Dichtung unserer Tage. Olten 1963, S. 56–64. – Tugenden Maria Theresias treten als Perso- Toni Brechbühl: E. S. Lehrer u. Schriftsteller. nen auf) ist ganz der normativen Poetik Grenchen 2007. Charles Linsmayer Gottscheds verpflichtet u. fand auch dessen Beifall. Ausgabe: Theresiade (1746). Internet-Ed. in: Dt. Lit. des 18. Jh. Online. Hg. Paul Raabe. Mchn. 2007. Literatur: Theodor Wilhelm Danzel: Gottsched u. seine Zeit. Lpz. 1848. – Irene Tuma: F. C. v. S. (1704–77). Leben u. Werk [...]. Diss. Wien 1975. –
Schick
Schick, (Christian) Gottlieb, * 15.8.1776 Stuttgart, † 7.5.1812 Stuttgart. – Klassizistischer Maler, Briefschreiber.
328 G. S. Dresden 1984. – Felix Berner: Söhne der Hohen Karlsschule. Johann Heinrich Dannecker, 1758–1841, u. G. S., 1776–1812. In: Ders.: Badenwürttemberg. Portraits [...]. Stgt. 1985, S. 225–231. – Andrea Tietze: G. S. In: NDB. – C. v. Holst: G. S. in Paris [...]. In: Denken in Bildern. 31 Positionen zu Kunst, Museum u. Wiss. Hg. Günther Schauerte. Ostfildern 2008, S. 84–91. – Ders.: Ein Schwabe in Paris u. zwei in Rom: G. S. u. Jakob Linckh. Stgt. 2009. – Pamela Currie: Classical colour harmony: Goethe and Heinrich Meyer on J.-L. David and his pupil G. S., an ›emporstrebenden jungen Maler‹ in Rome. In: Oxford German studies 39 (2010), 1, S. 16–29. Ingrid Sattel Bernardini / Red.
1787–1794 besuchte der vierte Sohn eines Schneidermeisters u. Schankwirts die Hohe Karlsschule. Nach einer ersten künstlerischen Ausbildung durch den Klassizisten Philipp Friedrich Hetsch wechselte S. in das Atelier des mit Schiller befreundeten Bildhauers Dannecker, der den jungen S. formte u. zeitlebens mit ihm befreundet blieb. Seit 1798 in Paris bei Jacques-Louis David, dessen Lieblingsschüler er wurde, knüpfte S. die für seine menschl. u. intellektuelle Entwicklung folgenreiche Beziehung zu Wilhelm u. Caroline Schickard, Schickart, Schickhart u. ä., Wilvon Humboldt. Vor seiner Romreise 1802 helm, * 22.4.1592 Herrenberg/Württemschloss er in Stuttgart mit Cotta einen Vertrag berg, † 23.10.1635 Tübingen. – Astroüber Illustrationszeichnungen für das »Ta- nom, Geograf, Orientalist. schenbuch für Damen« ab. S. entstammt väterlicherseits einer aus Siegen S.s Briefe aus Rom, die Stadt, die er erst eingewanderten Bildschnitzer- u. Baumeiskurz vor seinem Tod wieder verließ, enthal- terfamilie, von Mutterseite der Gelehrtenfaten Berichte über sein Leben u. Schaffen dort, milie Gmelin. Nach dem frühen Tod des Vaüber Künstlerkollegen, sein freundschaftl. ters zum Gelehrten bestimmt, hatte er doch Verhältnis zur Familie Humboldt u. über die auch künstlerische Fähigkeiten, die er seiner soziale u. polit. Situation in Rom (viele der astronomischen u. geografischen Tätigkeit Briefe in: Adolf Haakh: Beiträge aus Württem- dienstbar machte. 1610 kam er nach Tübinberg [...]. Stgt. 1863). Während er sich bes. gen u. studierte zunächst an der PhilosophiJoseph Anton Koch, Johann Christian Rein- schen Fakultät, dann ab 1611 Theologie; ab hart, Thorwaldsen, Friedrich Müller, Pietro 1614 war er Repetent für Hebräisch am TüBenvenuti u. Vincenzo Camuccini anschloss, binger Stift. Er stand zu dieser Zeit Christoph errang er mit öffentl. Ausstellungen u. der Besold, Matthias Hafenreffer u. Johann VaTeilnahme an künstlerischen Wettbewerben lentin Andreae nahe. Im selben Jahr wurde S. bald den Ruf des ersten Historienmalers in Diakon (2. Geistlicher) in Nürtingen, wo ihn Rom. So hält man sein Gemälde Apoll unter den 1617 Kepler besuchte, der von S. sehr beeinHirten für das bedeutendste Bild der dt. His- druckt war u. ihn sofort zur Illustration torienmalerei seiner Zeit. Es versinnbildlicht zweier Werke heranzog. S.s Interesse an madie göttl. Abkunft der Poesie. Mit seinem themat. u. astronomischen Fragen wurde Landsmann Schiller teilte S. die idealistische dadurch neu belebt; so schrieb er 1619 (im Kunstauffassung u. den Anspruch morali- Vorjahr waren drei Kometen erschienen, mit scher Wirksamkeit der Kunst. Großen Ein- denen der Kriegsausbruch in Verbindung fluss auf sein Schaffen hatte auch sein Ver- gebracht wurde) für Herzog Johann Friedrich kehr mit August Wilhelm Schlegel u. den von Württemberg eine populäre Darstellung Brüdern Tieck. Etwa seit 1807 weisen seine über Kometen (Cometen Beschreibung. Hs. Landesbibl. Stuttgart), die durch ihren pralWerke denn auch romant. Züge auf. len dt. Stil u. ihr didakt. Geschick auch heute Literatur: Ernst Platner: Über S.s Laufhahn u. Charakter als Künstler. In: Dt. Museum. Bd. 4, noch überzeugt. 1619 wurde er jedoch auf Wien 1813. – Karl Simon: G. S. Ein Beitr. zur den Hebräisch-Lehrstuhl der Universität TüGesch. der dt. Malerei um 1800. Lpz. 1914. – Ulrike bingen berufen; erst nach Michael Mästlins Gauss u. Christian v. Holst: G. S. Ein Maler des Tod erhielt er 1632 zusätzlich den LehraufKlassizismus. Stgt. 1976 (Kat.). – Gisold Lammel: trag für Astronomie, hatte allerdings von
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Anfang an Privatvorlesungen auf verschiedenen Gebieten der angewandten Mathematik gehalten. 1630 war er auch zum Visitator der Lateinschulen der südl. Landeshälfte bestimmt worden; die dazu erforderl. Visitationsreisen nutzte er zu kartografischen Landesaufnahmen. Beginnend mit Kepler in Linz u. Bernegger in Straßburg, hatte S. ein sich ständig erweiterndes Netz meist briefl. Beziehungen aufgebaut; in den letzten Jahren sind Pierre Gassendi u. Nicolas-Claude Fabri de Peiresc bemerkenswert. Eine Pestepedemie setzte S.s Leben ein vorzeitiges Ende. Aus S.s Lehrtätigkeit ging 1623 das Lehrbuch Horologium Hebraeum (Tüb. 1623) hervor, so benannt, weil es die hebräische Sprache in 24 Unterrichtsstunden lehrt. Es erschien bis 1731 in nahezu 50 Ausgaben u. Bearbeitungen u. ist damit S.s erfolgreichstes Werk. Auch das Astroscopium (Tüb. 1623), im Wesentlichen eine erläuterte kegelförmige Sternkarte als Ersatz für einen Himmelsglobus, erlebte mehrere Neuauflagen u. Nachahmungen. Zeigte sich in diesen Werken S.s pädagog. Ader, so betrat er mit der Entwicklung der ersten Rechenmaschine, ebenfalls 1623, völliges Neuland. Allerdings hatte sie keine erkennbare Wirkung (ob Pascal oder Leibniz von ihr wussten, ist ungewiss). Im Jus regium Hebraeorum (Straßb. 1625. Neuausg. von Benedikt Carpzov. Lpz. 1674) stellt er das jüd. Königsrecht nach dem AT u. den rabbin. Schriften dar. Der zuerst in Tübingen 1627 erschienene Hebraische Trächter [spätere Ausgaben: Trichter], die Spraach leucht einzugiessen / das ist / Unterweisung / wie ein teutscher Leser / [...] / die H. Sprach behend erlernen möge (Lpz. 41633) fand wegen der amüsanten deutschsprachigen Darstellung auch in Hof- u. Adelskreisen Anklang. Im folgenden Jahr erschien der von den Zeitgenossen bewunderte u. auch von Lessing noch rühmlich erwähnte Tarich, h. e. series regum Persiae (Tüb. 1628), der Anfang einer kommentierten Edition einer türk. Handschrift über die Genealogie pers. Dynastien, dessen Fortsetzung S. nie in Angriff nahm. Mit der Kurtzen Anweisung, wie künstliche Landtafeln auß rechtem Grund zumachen (Tüb. 1629. Neudr. 1669. Lat. 1674) schuf er eine knappe Instruktion für die geodätische Vermessung mit einfachsten Mitteln u. ihre
Schickard
Auswertung. Danach wandte er sich anderen astronomischen u. geografischen Arbeiten zu, unter denen bes. seine die Merkurtheorie behandelnde Antwort an Gassendi (Pars responsi ad epistolas P. Gassendi [...] de Mercurio sub Sole viso, & alijs novitatibus Uranicis. Tüb. 1632) zu nennen ist. Eine zum Druck bestimmte Sammlung astronomischer Beobachtungen aller Zeiten, die aus S.s Arbeiten zum Merkur hervorgegangen war u. zu der bes. Gassendi durch briefl. Mitteilungen beigesteuert hatte, blieb unvollendet. Weitere Werke (Auswahl): Biur haophan; hoc est, declaratio rotae, pro conjugationibus Hebraeis noviter excogitatae. Tüb. 1621. – Bechinath Happeruschim; hoc est examen commentationum Rabbinicarum in Mosen [...]. Ebd. 1624. – Liechtkugel: Darinn auß Anleitung deß newlich erschienen Wunderliechts / nicht allein v. demselbigen in specie: sonder zumal v. dergleichen Meteoris in genere [...] gehandelt: Also gleichsam ein Teutsche optica beschrieben. Ebd. 1624. – Eclogae Sacrae Veteris Testamenti, Hebraeo-Latinae, commodo discentium ita seorsim excusae. Ebd. 1633. 41663. – Purim sive bacchanalia Judaeorum. Ebd. 1634. – Sa’adı¯ : Gulistan: das ist / Königl. Rosengart. [...] in das Frantzösisch gebracht / u. [...] in die Teutsche Sprach übergesetzt. Ebd. 1636 (darin: W. S.s [...] Newe Vorred [...]). – Briefe: W. S.: Briefw. Hg. Friedrich Seck. 2 Bde., Stgt.-Bad Cannstatt 2002 (mit Bibliogr.). Literatur: Zacharias Schäffer: W. S.i [...] memoria, & eulogium. Tüb. 1636 (akadem. Leichenrede). – Christian Friedrich Schnurrer: Biogr. u. litterar. Nachrichten v. ehmaligen Lehrern der hebr. Litteratur in Tübingen. Ulm 1792. – Friedrich Seck (Hg.): W. S. [...]. Tüb. 1978. – Ders. (Hg.): Wissenschaftsgesch. um W. S. [...]. Ebd. 1981. – Bruno Baron v. Freytag Löringhoff u. Matthias Schramm: Computus. Die astronom. Rechenstäbchen v. W. S. Tüb. 1989. – Zum 400. Geburtstag v. W. S. Zweites Tübinger S.-Symposion, 25.-27. Juni 1992. Hg. F. Seck. Sigmaringen 1995. – Benigna v. Krusenstjern: Gelehrtenexistenz im Dreißigjährigen Krieg. W. S. in seinen Briefen. In: Gelehrtenleben. Wissenschaftspraxis in der Neuzeit. Hg. Alf Lüdtke u. Reiner Prass. Köln/Weimar/Wien 2008, S. 33–45. Friedrich Seck
Schickele
Schickele, (Marie Armand Maurice) René, auch: Sascha, Paul Savreux, Eugène de la Poudroie, H. Daul, Paul Merkel, * 4.8. 1883 Oberehnheim/Elsass (heute: Obernai), † 31.1.1940 Vence/Südfrankreich. – Erzähler, Lyriker, Dramatiker, Journalist, Übersetzer. S., Sohn eines deutschstämmigen Polizeikommissars u. Weingutbesitzers u. einer frz. Mutter, wurde früh durch die Sonderstellung des Elsass zwischen Deutschland u. Frankreich geprägt. Er studierte seit 1901 in Straßburg, München, Paris u. Berlin Literaturgeschichte, Naturwissenschaften u. Philosophie. Bereits als Student u. auch später war er, z. T. zusammen mit seinem Jugendfreund Flake, Mitarbeiter u. Herausgeber verschiedener Zeitschriften (»Literarische Warte«, »Der Stürmer«, »Das literarische Echo«, »Das Leben«) u. veröffentlichte mehrere Gedichtbände. Reisen führten ihn nach Italien, Griechenland, Ägypten u. Indien. Seit 1909 lebte S. als Korrespondent der Zeitschrift »Nord und Süd« sowie der »Straßburger Neuen Zeitung« in Paris u. war 1911–1913 deren Chefredakteur. Im Dez. 1914 wurde S. Herausgeber der pazifistischen »Weissen Blätter«. Unter seiner Ägide publizierten bedeutende Autoren (u. a. Max Brod, Kasimir Edschmid, Franz Blei, Annette Kolb, Robert Musil, Franz Werfel) u. machten »Die weissen Blätter« zu einem führenden Organ der expressionistischen Bewegung. Im Sept. 1915 verlegte S. wegen des polit. Drucks der dt. Reichsregierung die Redaktion ins Schweizer Exil. Im Ersten Weltkrieg trat er entschieden für den Ausgleich zwischen Deutschland u. Frankreich ein u. begründete die Reihe »Europäische Bücher« bei Max Rascher (Zürich), in der u. a. Werke von Henri Barbusse u. Romain Rolland erschienen. Die Novemberrevolution erlebte S. 1918 in Berlin u. »warf den Gedanken auf, das Elsass durch Matrosen zu revolutionieren; als rote Republik auszurufen und so für das deutsche Volk zu retten« (vgl. Harry Graf Kessler in seinem Tagebuch 1880–1937 sowie S.s Beitrag Revolution, Bolschewismus und das Ideal, 1918); ebenfalls 1918 wirkte er an der Reorganisation des (sozia-
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listisch-pazifistischen) Bundes Neues Vaterland mit. Nach dem Krieg lebte S. kurze Zeit im schweizerischen Uttwil am Bodensee, nach 1922 in Badenweiler. 1926 wurde er in die Preußische Dichterakademie aufgenommen. Im Nov. 1932 emigrierte er in die Provence. Aus dieser Zeit stammt sein Briefwechsel mit Annette Kolb. 1935–1945 waren seine Bücher in Deutschland indiziert. Pantheistische Naturseligkeit, hymn. Einschwingen in den großen Entwurf der Schöpfung, christl. u. nichtchristl. Mythologie u. Themen wie Liebe, Leidenschaft, Einsamkeit u. Kunst dominieren S.s frühe Lyrik (Sommernächte. Straßb. 1902. Pan. Sonnenopfer der Jugend. Ebd. 1902). S. feiert den Künstler emphatisch als »Naturphänomen«, »Anarchist der Gesellschaft« u. gottgleichen »Schöpfer«; er verteidigt sein Recht auf »unverfälschtes Dasein« u. das Elsass als »Paradies« u. »himmlischen Garten«. Der Roman Der Fremde (Bln. 1907) verbindet, wie später Symphonie für Jazz (Bln. 1929), das tradierte Modell des Bildungsromans mit einer von »Instinkt« geleiteten Triebhaftigkeit sowie mit expressiver Stilgestik. Erzählt wird die erotisch anstößige Initiation u. Befreiung Paul Merkels, der sich während seiner Studienjahre von einer starken Mutterbindung zu lösen sucht; zugleich stigmatisiert ihn die polit. Zerrissenheit des Grenzlandes. Rasch wechselnde Liebesverhältnisse werden hier ebenso wie in dem heiter-iron. Roman Meine Freundin Lo (Bln. 1911. Erw. 1931) dargestellt. Die Essays u. Feuilletons dieser Jahre (Schreie auf dem Boulevard. Bln. 1913) u. der gemäßigt unter dem Einfluss des Expressionismus stehende Roman Benkal der Frauentröster (Lpz. 1914) haben Ironie u. Esprit u. bezeugen S.s Gespür für kommende künstlerische Bewegungen. Erotik, Kunst u. Politik bilden das Erzähltableau seiner Prosawerke. Hauptfigur des Künstlerromans Symphonie für Jazz ist der Musiker John von Maray, der auf Konzert-, Bildungs- u. Initiationsreise geht u. ohne Tabuschranken homo- u. heterosexuelle Erfahrungen sammelt. Durch seine Kompositionen reich u. berühmt geworden, aber vom Alkohol zerstört, flüchtet er sich in eine bürgerl. Existenz. Der Roman ist stilistisch
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meisterhaft erzählt, Jazzliedverse u. Lautmalerei dienen ihm als Leitmotive. In S.s späteren dramat. u. erzählerischen Schriften fällt auf, dass existenzielle u. weltanschaul. Gegensätze (Mann/Frau, Kunst/ Natur, Tradition/Moderne, Judentum/Christentum etc.) durch konträre Figuren dargestellt werden. So erzählt S. in seinem Hauptwerk, der Romantrilogie Das Erbe am Rhein (Maria Capponi. 1925. Blick auf die Vogesen. 1927. Der Wolf in der Hürde. 1931; alle Mchn.), von der Liebe eines Deutschen (Claus von Breuschheim) zu einer Italienerin (Maria Capponi) nach dem Einzug der Franzosen ins Elsass (1918). S.s Generalthema, der dt.-frz. Gegensatz am Beispiel des Elsass, spiegelt sich hier in einem feindl. Brüderpaar. Während Claus eine »Indianerreservation« für das Grenzland befürwortet, steht sein Stiefbruder Ernst, ehemals dt. Offizier, für eine harte Linie in der frz. »Anschluss«-Politik ein. Die Überwindung von Nationalismus u. Opportunismus durch die pazifistische Idee wird als europ. Utopie formuliert. Gedämpftere Töne haben den expressionistischen Gestus abgelöst. S.s letzter großer Roman, Die Witwe Bosca (Bln. 1933), thematisiert in der Titelfigur die Folgen des Versailler Friedensvertrags: die Kriegerwitwe versucht hier, aus der Lust am Tod u. aus götzenhafter Besitzverehrung Gewinn zu ziehen. Dem steht das heftige Glücksverlangen ihrer Tochter Sibylle gegenüber, deren Liebesbeziehung von Todesängsten überschattet ist. Der »Kinderroman« Grand’maman schließlich, der vom »Schrecken« erzählt, der durch die Erwachsenen »auf der Welt der Kinder lastet und sie langsam, aber sicher korrumpiert«, blieb 1935 unvollendet liegen u. wurde postum veröffentlicht. Im selben Jahr schloss S. sein »Bekenntnisbuch« Le Retour ab (Paris 1938). 1936 erschien sein Exil-Roman Die Flaschenpost; er erzählt von einem vermögenden Amerikaner, der sich, als angeblich Irrer, in einer Welt der Normalen seine schöpferische Kreativität bewahrt. S. gilt als der bedeutendste Schriftsteller des Elsass, obgleich seine Rezeption nach 1945 zurückgegangen ist. Heinrich Manns entschiedene Fürsprache (»unvergesslich wahre Blitze des Geistes«) u. Hermann Kes-
Schickele
tens Auswahledition konnten dies nicht verhindern. Weitere Werke: Werkausgaben: Werke in 3 Bdn. Hg. Hermann Kesten unter Mitarbeit v. Anna Schickele. Köln/Bln. 1959. – Romane u. Erzählungen. Vorw. v. Wolfdietrich Rasch. 2 Bde., Köln 1983. – Die blauen Hefte. Hg. u. komm. v. Annemarie Post-Martens. Ffm. u. a. 2002. – Briefausgaben: Annette Kolb – R. S. Briefe im Exil 1933–40. In Zus. mit Heidemarie Gruppe hg. v. Hans Bender. Mainz 1987. – Jahre des Unmuts. Thomas Manns Briefw. mit R. S. 1930–1940. Hg. Hans Wysling. Ffm. 1992. – Einzeltitel: Mon Repos. Bln./Lpz. 1905 (L.). – Voltaire u. seine Zeit. Ebd. o. J. [1905] (Ess.). – Der Ritt ins Leben. Stgt./Bln./Lpz. o. J. [1906] (L.). – Weiß u. Rot. Bln. 1910 (L.). – Die Leibwache. Lpz. 1914 (L.). – Mein Herz mein Land. Lpz. 1915 (L.). – (Hg.): Menschl. Gedichte im Krieg. Zürich 1918 (Anth.). – Die Genfer Reise. Bln. 1919. – Der neunte November. Bln. 1919 (Ess.). – Am Glockenturm. Bln. 1920 (Schausp.). – Wir wollen nicht sterben! Mchn. 1922 (Ess.). – Sœur Ignace. Ein elsäß. Vergißmeinnicht aus der Kongregation der Niederbronner Schwestern. Mülhausen 1928. – Elsäss. Fioretti aus den Missionen. Weimar 1930 (Ess.). – Überwindung der Grenze. Ess.s zur dt.-frz. Verständigung. Hg. Adrien Finck. Kehl/Straßb./Basel 1987. Literatur: Bibliografie in: Werke. Bd. 3, S. 1275–1297. – Maryse Staiber: Zum Stand der Ed. u. Forsch. Auswahlbibliogr. In: R. S. aus neuer Sicht 1991, S. 277–283. – Weitere Titel: Friedrich Bentmann (Hg.): R. S. Leben u. Werk in Dokumenten. Nürnb. 1974. – Julie Meyer: Vom elsäss. Kunstfrühling zur utop. Civitas hominum. Jugendstil u. Expressionismus bei R. S. (1900–1920). Mchn 1981. – Adrien Finck: Introduction à l’œuvre de R. S. Straßb. 1982. – Ders. u. M. Staiber (Hg.): Elsässer, Europäer, Pazifist. Studien zu R. S. Kehl/ Straßb./Basel 1984. – Michael Ertz: Friedrich Lienhard u. R. S. Elsäss. Literaten zwischen Dtschld. u. Frankreich. Hildesh./Zürich/New York 1990. – R. S. aus neuer Sicht. Beiträge zur dt.-frz. Kultur. Hg. A. Finck. Hildesh. u. a. 1991. – Holger Seubert: Dt.-frz. Verständigung: R. S. Mit einem Geleitw. v. A. Finck. Mchn. 1993. – Eric Robertson: Writing between the lines. R. S., ›Citoyen français, dt. Dichter‹ (1883–1940). Amsterd. u.a. 1995. – Jean-Marie Gall: R. S. Environnement familial, social et culturel (1883–1904). 2 Bde., Lille/Strasbourg 1995/96. – M. Staiber: L’œuvre poétique de R. S. Contribution à l’étude du lyrisme à l’époque du ›Jugendstil‹ et de l’expressionnisme. Strasbourg 1998. – A. Finck: R. S. Ebd. 1999. – Stefan Woltersdorff: Chronik einer Traumlandschaft. Elsaßmodelle in Prosatexten v. R. S. (1899–1932). Bern
Schiebeler u.a. 2000. – Hans Wagener: R. S. Europäer in neun Monaten. Gerlingen 2000. – Elena Nährlich-Slateva: Das Paris-Zeitbuch v. R. S. ›Schreie auf dem Boulevard‹. In: Paris? Paris! Bilder der frz. Metropole in der nicht-fiktionalen deutschsprachigen Prosa zwischen Hermann Bahr u. Joseph Roth. Hg. Gerhard R. Kaiser u. Erika Tunner. Heidelb. 2002, S. 117–170. – Annemarie Post-Martens: PAN-Logismus. R. S.s Poetik im Jahr der ›Wende‹ 1933. Ffm. u.a. 2002. – Albert M. Debrunner: Freunde, es war eine elende Zeit! R. S. in der Schweiz 1915–1919. Frauenfeld u. a. 2004. – H. Wagener: R. S. In: NDB. – Harry Graf Kessler: Das Tagebuch. Sechster Band. 1916–1918. Hg. Günter Riederer. Stgt. 2006. – Anne Kraume: Garten: Eugeni d’Ors u. R. S. In: Dies.: Europa der Lit. Schriftsteller blicken auf den Kontinent 1815–1945. Bln. u.a. 2010, 193–250. Lutz Hagestedt
Schiebeler, Daniel, * 25.3.1741 Hamburg, † 19.8.1771 Hamburg. – Lyriker, Dramatiker.
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Vorbilder für galante, für den Vortrag bestimmte Arien u. Libretti, deren Themen mit Vorliebe um antike Handlungen kreisten oder literar. Vorlagen aufnahmen (Basilio und Quiteria. In: Musikalische Gedichte. Hbg. 1770. Die Großmuth des Scipio. Lpz. 1767). Ersterwähntes Stück nach einer Vorlage von Cervantes wurde von Telemann, dem S. es vorlegte, verändert u. angepasst u. unter dem Titel Don Quichotte auf der Hochzeit des Comacho 1761 in Hamburg aufgeführt. Carl Philipp Emanuel Bach setzte S.s Oratorium Die Israeliten in der Wüste in Musik (Hbg. 1769). S.s empfindsam-idyllische Gedichte, vielfach mit denen von Gleim, Hagedorn u. Johann Georg Jacobi verglichen, wurden in Zeitschriften gedruckt (»Hamburgische Unterhaltungen«, »Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und freyen Künste«) u. fanden Eingang in diverse Anthologien (Eschenburgs Beispielsammlung zur Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften, Ramlers Lyrische Bluhmenlese, Matthissons Lyrische Anthologie). Die zeitgenöss. Kritik sprach S. trotz des Lobs für sprachl. Finesse »Originalität« u. »Fülle der Gedanken« ab. Mehrere öffentl. Gesangbücher nahmen seine geistl. Lieder auf.
Nach Privatunterricht u. Gymnasialbildung in seiner Vaterstadt studierte der Kaufmannssohn Jura in Göttingen, dann in Leipzig, wo er 1768 promoviert wurde. Noch im selben Jahr erhielt er in Hamburg eine Anstellung als juristischer Kanoniker am Domkapitel. Seit frühester Jugend war S. literaturWeitere Werke: Clemens an seinen Sohn u. theaterbegeistert, v. a. las er aufgrund der Theodorus. Gött. 1764. – Auserlesene Gedichte. Anregungen eines Privatlehrers zahlreiche Hbg. 1773 (mit biogr. Vorw. des Hg. Eschenburg). Romane, was auch zu seinen Kenntnissen des Literatur: Erich Schmidt: D. S. In: ADB. – Englischen, Französischen, Spanischen u. Gottfried Schmidtmann: D. S. Diss. Gött. 1909. – Italienischen beitrug. Seiner »Lesesucht« Gudrun Busch: D. S., Schikaneder u. Mozarts Berschrieb man, zeittypisch, auch seine zuneh- lin-Besuch 1789, oder: ›kein Ende‹ der Quellen des mende Kränklichkeit zu. 30-jährig erlag ›Zauberflöten‹-Librettos? In: Mozart-Jb. des Zentralinstitutes für Mozartforsch. der Internat. Stifer, als »Hypochonder« klassifiziert, der tung Mozarteum Salzburg (1991), S. 963–968. Schwindsucht. Dominica Volkert / Red. S.s schriftstellerische Tätigkeit setzte bereits vor seinem Studium ein. 1761/62 schrieb er Vor- u. Nachspiele in Versen (in: TheatraliSchiebelhuth, Hans (Heinrich Hieronysche Gedichte. Lpz. 1776) für die Koch’sche mus), auch: Geron, * 11.10.1895 DarmTheatergesellschaft, die auch 1766 sein Singstadt, † 14.1.1944 East Hampton/New spiel Lisuart und Dariolette (nach Charles SiYork; Grabstätte: Darmstadt, Waldfriedmon Favart. In: Hamburgische Unterhaltunhof. – Lyriker, Essayist u. Übersetzer. gen 1,15, 1766, S. 377–412) uraufführte. Die dreiaktige Fassung von 1768 vertonte Johann Der Sohn eines Wachtmeisters u. späteren Adam Hiller. Dieser zeichnete auch für die Postbeamten schrieb schon als Schüler GeKompositionen zu zahlreichen Romanzen S.s dichte in der Nachfolge Stefan Georges, die er verantwortlich (Lpz. 1767. Erw. Hbg. 1768. 1912 auf eigene Kosten u. d. T. Die Klänge des Erw. 1771). Metastasio u. Telemann waren S.s Morgens in Darmstadt drucken ließ. Gefördert
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Schieber
Ausgaben: H. S. Bd. 1: Gedichte 1916–36. Bd. 2: von Karl Wolfskehl, begann er 1913 ein Philosophiestudium in München, meldete sich Prosa, Briefe, Theaterkritiken. Hg. u. komm. v. aber bereits 1914 als Kriegsfreiwilliger. 1919 Manfred Schlösser. Darmst./Zürich 1966/67 (mit nahm er sein Studium zunächst wieder auf u. ausführl. Bibliogr. u. wiss. Anhang.). – H. S. Eine Einf. in sein Werk u. eine Ausw. v. Fritz Usinger. schrieb für verschiedene Zeitschriften, v. a. Wiesb. 1967. für das von Carlo Mierendorff herausgegeLiteratur: Ferdinand Barth: H. S. 1895–1944. bene Darmstädter »Tribunal«. Er fand An- Ein Dichter aus Darmstadt. Darmst. 1985. – Carl schluss an den Kreis um den Verlag »Die Zuckmayer: Briefe an H. S. 1921–1936 u. andere Dachstube«, in dem seine Lyriksammlung Beiträge zur Zuckmayer-Forsch. Hg. Gunther NiDer kleine Kalender (Darmst. 1919) u. vor allem ckel u. Ulrike Weiß. Gött. 2003. – Fritz Deppert: H. die »neo-dadaistischen Ungedichte« Der Ha- S. (1895–1944). Ein Lyriker aus Darmstadt. Darmst. kenkreuzzug (ebd. 1920) erschienen. Im Titel- 2008. Hans Sarkowicz / Red. gedicht nahm er fast prophetisch die nationalsozialistischen Judenpogrome vorweg. Schieber, Anna, * 12.12.1867 Esslingen, Trotzdem blieb er weitgehend unpolitisch; † 7.7.1945 Tübingen. – Erzählerin u. Juzwischenmenschl. Beziehungen u. das Eingendbuchautorin. gebundensein des Menschen in die Natur sind die dominierenden Themen seiner Lyrik. Nach dem Besuch einer Mädchenschule u. Der Band Wegstern (Weimar 1921) spiegelt Tätigkeit als (Kunst-)Buchhändlerin debüzudem S.s Kriegserfahrungen wider. In die- tierte S. mit den Erzählungen Warme Herzen sen Gedichten verbindet sich expressionisti- (Stgt. 1899). In rascher Folge legte sie über 50 sche Emphase mit liedhaften u. hymn. Tö- weitere Erzählbände u. Romane vor. Nahezu nen, die an Hölderlin erinnern. Nach kurzen ihr gesamtes Werk ist der schwäb. Heimat u. berufl. Zwischenspielen als Redakteur der Sprache verpflichtet; humorvoll u. ausgevon Kurt Schwitters gegründeten Zeitschrift sprochen gefühlsbetont schildert sie das oft »Zweemann« in Hannover, als Theaterkriti- unkomplizierte Miteinander der Kinder u. ker in Darmstadt u. als Pressereferent im Erwachsenen in ländl. Umgebung. Einer Auswärtigen Amt in Berlin ging S. 1923 als überwiegend sozialen u. religiösen Thematik Deutschlehrer nach Florenz, wo er seine spä- sind ihre Romane, Erzählungen u. Jugendtere Frau, die Amerikanerin Alice Trew Wil- bücher verpflichtet, die sie nach 1918 schrieb. liams, kennen lernte. Mit ihr reiste er 1926 in In dieser Zeit arbeitete sie engagiert in der die USA, musste aber 1929 als Folge der württembergischen Jugend- u. Volksbildung. Weltwirtschaftskrise, bei der seine Frau ihr 1930 schloss S. sich dem aus einem evang. Vermögen eingebüßt hatte, nach Deutsch- Bibelkreis hervorgegangenen »Bund der land zurückkehren. Im Auftrag von Ernst Köngener« an. Ihre Kindheitserinnerungen Doch immer behalten die Quellen das Wort (HeilRowohlt übersetzte er die Werke von Thomas br. 1932) u. der von nationalsozialistischen Wolfe, darunter Schau heimwärts, Engel! (Bln. Untertönen nicht freie Lebensbericht Wachs1932. Zuletzt Reinb. 1994), ins Deutsche. tum und Wandlung (Tüb. 1935) bieten in 1933 ließ er im Darmstädter Verlag Pepy dichterischer Form, ohne die äußere BiograWürths drei der Romantik verpflichtete Balfie zu erwähnen, Einblick in ihre schriftstelladen erscheinen (Schalmei von Schelmenried), lerische u. religiöse Entwicklung. 1945 schied die Alfred Kubin mit 22 Zeichnungen illusS. durch Freitod aus dem Leben. trierte. Als sich seine Herzkrankheit verWeitere Werke: Ges. Immergrün-Gesch.n. schlimmerte, ging S. 1937 endgültig in die Stgt. 1910. U. d. T. Immergrüne Gesch.n. Ebd. USA u. ließ sich mit seiner Frau auf Long Is- 1987. – ... u. hätte der Liebe nicht. Heilbr. 1912. land nieder. 1947 wurde ihm postum der 501987. Georg-Büchner-Preis für 1945 verliehen. Literatur: Jeannine Puel: A. S. Eine schwäb. Weiteres Werk: Wir sind nicht des Ufers. Gedichte aus dem Nachl. Hg. Fritz Usinger. Darmst. 1957.
Dichterin. Diss. Paris 1956. – Christel Köhle-Hezinger: Versuch einer Spurensicherung. A. S. In: Esslinger Studien 1979, S. 187–205. – Gabriele
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Lautenschläger: A. S. In: Bautz. – Sybil Gräfin Schönfeldt: A. S.: Autorin meiner Kindheit. Stgt. 1995. – Anne-Gabriele Michaelis: Die Welt der Poesie für neugierige Leser. Lpz. 2006 ff. Reinhard Tenberg / Red.
Schielen, Schiele, Schüelin, Schülin, Schielin, Johann Georg, getauft 9.2.1633 Ulm, † 16.1.1684 Ulm. – Verfasser einer Simpliziade u. anderer Prosawerke. Wegen seiner Schulden verließ der »Studiosus Hans Jerg Schüelin« 1652 seine Heimatstadt. Er konvertierte u. trat in das Benediktinerkloster Elchingen ein (Ordensgelübde 1654). Seit 1664 Pfarrer in Tomerdingen, kehrte er im März 1668 nach Ulm zurück. Er wurde in seinen Bürgerrechten bestätigt u., nun wieder evangelisch, zunächst aushilfsweise in der Stadtbibliothek beschäftigt. 1671 erhielt er die Stelle eines Bibliotheksadjunkten. Im Lauf des Jahres 1683 wurde er entlassen – möglicherweise, weil er Drucke u. Handschriften veruntreut hatte. Am 19.12.1683 ernannte ihn der Rat zum Oberinspektor im Ulmer Seuchenlazarett, ein Amt, das zu seinem raschen Tod führte. S.s schriftstellerische Tätigkeit entsprang der Notwendigkeit, sein kärgl. Gehalt aufzubessern. Auf die Sensationslust des Publikums spekulierte die Europäische- Schand- und Laster-Cronic (1. Tl., Ulm 1674), Hilfe für den Alltag bot sein Practicierter Blumen-Gart (Ulm 1678). An den Erfolg von Grimmelshausens Simplicissimus suchte S., erst von Koschlig als Verfasser identifiziert, mit einer eigenen, anonym erschienenen Simpliziade anzuknüpfen: Deß frantzösischen Kriegs-Simplicissimi, hochverwunderlicher Lebens-Lauff (3 Tle., Freyburg, recte Ulm 1682/83. Internet-Ed. des 1. Teils [= Buch 1–2]: HAB Wolfenbüttel [dünnhaupt digital]). Der Ich-Erzähler, ein leibl. Vetter des Simplicius, berichtet in traditioneller Reihungstechnik von den Stationen seines Lebens: bewegte Jugendzeit, Studium in Straßburg, erfolgreiche Kaufmannslehre u. -praxis in Paris, Verführung durch schlechte Gesellschaft zu geschäftl. Manipulationen, Flucht u. Teilnahme als »Frey-Reuter« am frz.-holländ. Krieg (wobei dann die Handlung nur noch als Rahmen für die breite, aus
Zeitungen u. Flugblättern geschöpfte Darstellung geschichtl. u. militärischer Ereignisse dient). Die Schilderung des Kaufmannsmilieus u. seine positive Wertung, angeregt durch den Simplicianischen Jan. Perus (o. O. 1672), eine Übersetzung der ersten beiden Bücher des English Rogue (1665–71) von Richard Head u. Francis Kirkman, verweist auf die allmähl. Abkehr des Pikaroromans von seinen theolog. Prämissen u. seine Hinwendung zu diesseitsorientierter Lebenspraxis. Weitere Werke: Bibliotheca enucleata. Seu artifodina artium ac scientiarum omnium [...]. Wien/ Ulm 1679. – Histor., polit. u. philosoph. Krieg- u. Friedens-Gespräch [...]. o. O. [Ulm] 1683 (belegt sind Lfg.en der Monatsschr. v. Jan. bis Aug.). Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Hubert Rausse: Zur Gesch. der Simpliziaden. In: Ztschr. für Bücherfreunde N. F. 4 (1912/13), S. 195–215. – Arnold Hirsch: Bürgertum u. Barock im dt. Roman. Ffm. 1934. Köln/Graz 21957. – Manfred Koschlig: Der ›Frantzösische Kriegs-Simplicissimus‹. In: JbDSG 18 (1974), S. 148–220, 760–762. – Hans Gerd Rötzer: Der Schelmenroman u. seine Nachfolge. In: Hdb. des dt. Romans. Hg. Helmut Koopmann. Düsseld. 1983, S. 131–150. – Maria C. Roth: Der Schelm als Soldat [...]. In: Der dt. Schelmenroman im europ. Kontext. Hg. Gerhart Hoffmeister. Amsterd. 1987, S. 173–192. – S. Katalin Németh: Fiktiv német beszélgetések Magyarországról (J. G. S. írásai, 1683). In: Irodalomtörténeti Közlemények 98 (1994), S. 1–18. – Edith Parzefall: Das Fortwirken des ›Simplicissimus‹ v. Grimmelshausen in der dt. Lit. Bln. 2001. – Peter Heßelmann: Das Bauernlied bei Grimmelshausen u. in J. G. S.s Ztschr. ›Historische politische u. philosophische Krieg- u. Friedens-Gespräch‹. In: Simpliciana 25 (2003), S. 379–389. – Ders.: Schelmenroman u. Journalismus. J. G. S.s ›Deß Frantzösischen Kriegs-Simplicissimi Hoch-verwunderlicher Lebens-Lauff‹ (1682/83) im mediengeschichtl. Kontext des 17. Jh. In: Das Ungarnbild in der dt. Lit. der frühen Neuzeit [...]. Hg. Dieter Breuer u. a. Bern 2005, S. 161–181. Volker Meid / Red.
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Schießler, Sebastian Willibald, auch: Gustav Borgmann, Freymuth, Justus Hilarius, Renatus Münster u. a., * 6.7. 1790 / 17.7.1791 (ungeklärt) Prag, † 15.3. 1867 Graz. – Dramatiker, Sachbuchautor, Verfasser von Kinder- u. Jugendbüchern, Militär.
Schiff
Erzählformen in Buchform u. in Zeitungen zu; ferner entstand Realienkundiges zur Heimat (Prag und seine Umgebungen. 2 Bde., Prag 1812/13. Neues Gemälde der Königlichen Hauptstadt Prag und ihrer Umgebungen. Ebd. 1833) u. zum Militär (Handbuch aller bisher erschienenen, in Kraft, und Wirksamkeit stehenden Gesetze, Normalien [...] und sonstigen Vorschriften in Bezug auf Uniformirung, Adjustirung, Montur ... des [sic] K. K. Österreich. Armee. Ebd. 1834). Als religiöser Laienschriftsteller wurde S. schließlich unter Pseudonym tätig (z.B. Die Glocke wahrer Andacht. Ein Gebet und Erbauungsbuch für gebildete Christen. Wien [1830]. Seraphsklänge. Ein Gebet- und Erbauungsbuch. Augsb. 1848).
Als Sohn wohlhabender Eltern erhielt S. eine sorgfältige Erziehung wie auch musikal. Ausbildung (Klavier, Komposition) u. bezog die Prager Universität. Seit 1909 im Staatsdienst, avancierte er im Feldkriegskommissariat seiner Heimatstadt (bis 1833) sowie über die Stationen Pilsen (bis 1835; Ehrenbürger), Lemberg (bis 1843; Ehrenbürger) u. Graz (bis 1848) zum Oberkriegskommissär. Weitere Werke (Auswahl): Vollständige Biogr. Den Mitbürgern war er vorrangig als Wohl- des ehemaligen frz. Obergenerals Moreau [...]. Prag täter bekannt – u. a. eine Armenanstalt, ein 1813. – Der erfahrene u. wohlunterrichtete RathKinderheim u. einen Humanitätsverein ver- geber für Domestiken u. Dienstherrschaften [...]. dankte Böhmen seiner Initiative. Wien 1854. Seit 1810 verfasste S. neben zahlreichen Literatur: Ignaz Jeitteles [Julius Seidlitz]: Die Rezensionen u. Kunstkritiken auch belletris- Poesie u. die Poeten in Oesterreich im Jahre 1836. tische u. sachdienl. Schriften aller Gattungen: Bd. 2, Grimma 1837, S. 63 ff. – Wurzbach. – Franz Er war Lyriker (Hirlanda. Legende in 11 Roman- Brümmer: S. W. S. In: ADB. – Aladar Guido Przezen. Prag 1819. Gedichte. 3 Bde., ebd. 1826/27. dak: Vergessene Söhne Prags. Prag 1906, S. 67 ff. – Kathrin Klohs Mikrofiche-Ausg. Mchn. u. a. 1990–94) u. Kurt Adel: S. W. S. In: ÖBL. Dramatiker (Thalia. Almanach dramatischer Spiele. Prag 1826 u. 1827. Der Jahrmarkt zu Gimpelfingen. Dramatisches Fresko-Gemälde [...]. Schiff, Hermann, bis 1841 David Bär S., Ebd. 1828. Heldensinn und Vaterlandsliebe, oder auch: Isaak Bernays, Heinrich Freese, die Bestürmung Prags im Jahre 1648. Historisch- * 23.4.1801 Hamburg, † 1.4.1867 Hamromantisches Drama [...]. Ebd. 1835) sowie – burg. – Erzähler, Dramatiker, (Theater-) mit weitaus größerem Erfolg – Sammler u. Kritiker, Journalist, Übersetzer. Herausgeber zeitgenöss. Dramen (Neues deut- S., Sohn eines aufgeklärten jüd. Kaufmanns, sches Original-Theater. 6 Bde., ebd. 1829. Mi- schloss sein 1822 in Berlin begonnenes Stukrofiche-Ausg. Mchn. u. a. 1990–94). Als dium 1825 in Jena mit der Promotion zum Prosaschriftsteller ist S. vor allem durch seine Dr. phil. ab. Das freie Schriftstellerleben Kinder- u. Jugendbücher in Erinnerung ge- führte nur im ersten Jahrzehnt (v. a. Berlin blieben (u. a. Der Weihnachtsbaum. Wien 1831. 1830–1835) zu einer auskömml. Existenz, Vater Freudenreichs moralisch-gesellige Unterhal- bald waren Nebentätigkeiten als Übersetzer tungen mit seinen Kindern [...]. Meißen 1832. aus dem Französischen, Musiker, Tänzer, Moralische Lebensbilder, oder Gallerie kleiner Ju- Notenschreiber u. Schauspieler nötig; um gend-Gemälde aus Vater Freudenreichs Familienle- 1846 aus Leipzig wegen »Subsistenzlosigben [...]. Ebd. 1832. Christlicher Jugend-Spiegel. keit« ausgewiesen, wurde er zu einer von Augsb. 1834); »seine aus warmem Herzen Alkoholismus gefährdeten Erscheinung in geschriebenen Kinderschriften [zählen] zu Hamburg u. Altona; seit 1862 unterstützte den besten Erzeugnissen dieser Gattung« ihn die Schillerstiftung. 1841 wurde S. Pro(Franz Brümmer). testant; seine Ehe mit einer 19-jährigen Romanfragmente aus der Studentenzeit Schauspielerin zerbrach direkt nach der verwarf S. u. wandte sich stattdessen kleinen Trauung.
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Zu den Bemühungen, eine Lebensbasis zu Schiffer, Wolfgang, * 5.5.1946 Nettetalfinden, gehören kurzlebige literar. u. Lobberich. – Hörspielautor, Lyriker, Er(früh-)sozialdemokratische Zeitschriften zähler. (»Dichterspiegel«, 1826, »Eisenbahn«, 1839/ 40; beide mit Wilhelm Bernhardi. »Beob- S. wuchs am Niederrhein auf u. studierte achter an der Leine«, 1849, »Krakehler«, 1967–1972 Philosophie, Germanistik u. 1849, »Vetter Michel«, 1851, »Der freie Theaterwissenschaften in Köln. Seit 1972 lebt Hamburger«, 1854/55, u., zusammen mit er, zunächst als freier Autor, in Köln. 1974 Bernhardi, »Nordstern«, 1860). Versuche, am erschien sein erster Roman, Die Befragung des Theater Fuß zu fassen, liegen mit Heinrich III. Otto B. (Düsseld.), der sich mit Problemen der und sein Hof (1830; nach Dumas), Agnes Ber- 68er-Generation auseinandersetzt. 1976 benauerin (Urauff. Bln. 1831) u. dem Lustspiel gann S. seine Tätigkeit als Hörspieldramaturg beim WDR Köln. Hier leitete er April-Mährchen (1832) vor. In S.s krit. Beiträgen (v. a. 1823–1833), 1991–2000 die Hörspielabteilung u. später mehr noch in seinen zahlreichen Erzählun- die Programmgruppe Wort des WDR3. Seit gen in Journalen, (auch selbst herausgegebe- 2008 steht er der Abteilung Hörspiel u. Feanen) Almanachen u. Novellensammlungen ture vor. (wie Höllenbreughel, Lpz. 1826, u. Israelitische In seinen ersten dokumentarischen HörNovellen, Hbg. 1866) zeigt sich ein Stil von spielen thematisierte S. zusammen mit gefühlvoller Biedermeierlichkeit, verbunden Charles Dürr gesellschaftl. u. soziale Missmit einem geistreichen Reflexionston u. ro- stände: die Diskriminierung von Angehörimant. Requisiten wie Rittern, Eremiten, gen Inhaftierter in Verurteilt. Christa Palms Marmorbildern, Gespenstern, histor. u. exo- Briefe in den Knast (WDR 1976); Schwierigkeitischen Welten u. Gestalten. Der parodisti- ten eines arbeitslosen Jungakademikers in sche Zug wird im Nachlaß des Katers Murr (Lpz. Überschuß oder Fünf Tage im Leben des Akademi1826) oder in Die Waise von Tamaris (Hbg. kers Peter Bachmann (WDR 1978); Kritik an der 1855; nach Heines Doktor Faust) sichtbar. psychiatr. Praxis in Der andere geigt, der nächste Seine größte Bedeutung hat er, wie Hundert frißt Gras – Gertrud (WDR 1978). In späteren und ein Sabbat (Lpz. 1842), in der Gestaltung Radiostücken rücken philosophisch-sozialjüd. Lebens (»E. T. A. Hoffmann des Ghetto«, krit. Aspekte gegenüber den dokumentariGottschall). Heine, der befreundete Großnefschen Elementen in den Vordergrund (z.B. fe, bescheinigte werbend der »plastischen Kronstadts Bericht. WDR 1983). Darstellungsgabe« in dem kom. Roman Auch in seinen Prosawerken bringt S. seine Schief-Levinchen mit seiner Kalle oder Polnische krit. Haltung gegenüber konventionellen, Wirtschaft (Hbg. 1848. Hbg. 1919. Ffm./New starren Denkweisen zum Ausdruck. Der RoYork 1996): »tiefsinnig, voll sprudelnden man Der Kotflügel (Würzb. 1990) schildert die Witzes, wahrhaft künstlerisch.« Beziehung junger Heranwachsender zu ihren Weiteres Werk: Heinrich Heine u. der NeuEltern. Als Herausgeber verwandte sich S. israelitismus. Hbg./Lpz. 1866. bes. für dt. Nachwuchslyriker (Heimat und Literatur: Mamiko Ikenaga: Die Ghettogesch.n v. H. S. u. Hermann Blumenthal. Ffm. 2001. – Geschwindigkeit. Mchn. 1986) wie auch für isMaria Erdmann: Ferdinand Dugués Melodrama länd. Lyriker (z.B. Island: Wenn das Eisherz ›Salvator Rosa‹ (1851) u. H. S.s dt. Adaptation. In: schlägt. Anthologie. In: die horen 31, 1986, Salvator Rosa in Dtschld. Hg. Achim Aurnheimer, H. 143). Aufgrund seiner Verdienste um den Günter Schnitzler u. Mario Zanucchi. Freib. i. Br. isländisch-dt. Kulturaustausch erhielt er 2008, S. 351–356. Volkmar Hansen 1991 das Ritterkreuz des Isländischen Falkenordens. Seit 1992 tritt S. zusammen mit Franz Gíslason auch als Übersetzer isländ. Literatur in Erscheinung, z.B. von Snorri Hjartarsons Brunnin flygur alft / Brennend fliegt ein Schwan (Münster 1997).
337 Weitere Werke: Adrian oder Arten der Liebe. SWF 1980 (Hörsp.). – Gestörtes Leben. Urauff. Dortm. 1983 (D.). – Kalt steht die Sonne. Düsseld. 1983 (L.). – Stellungskrieg. Urauff. Köln 1986 (Groteske). – Das Meer kennt keine Stille. Würzb. 1988 (N.). Der Bericht. Köln 1993 (L.). Literatur: Franz Norbert Mennemeier: Berührung der Generationen. In: Neues Rheinland 1 (1984), S. 37. – Uwe Michael Gutzschhahn: Die einfachen Wünsche. In: die horen 28 (1984), H. 134, S. 165. – Walter Fabian, Karl H. Karst u. Johann P. Tammen: W. S. In: LiK – Lit. in Köln 17 (1985). Rosemarie Inge Prüfer / Christian Walter
Schikaneder, Emanuel, * 1.9.1751 Straubing, † 21.9.1812 Wien. – Schauspieler, Theaterdirektor, Dramatiker. Als Sohn des Bedienten Joseph Schickeneder u. seiner Frau Juliana verlebte S. eine armselige Kindheit. Er begann seine Karriere als wandernder Musikant, trat verschiedenen Schauspielertruppen bei u. errang den ersten großen Erfolg 1776 in Augsburg mit seiner kom. Oper Die Lyranten (Wien 1778). Er gründete 1778 eine eigene Truppe, die ein erfolgreiches Wanderleben führte u. bes. das dt. Singspiel pflegte. Mit Werken von Lessing, Goethe, Schiller, Gluck, Mozart u. Haydn reiste S. durch Bayern, Franken, Steiermark, Kärnten, Salzburg – wo er sich 1780 mit Mozart befreundete –, Wien, Pest u. Preßburg. 1784/85 leitete er in Wien das Kärntnertortheater. Nach der Auflösung seiner Truppe u. der Trennung von seiner Frau, der Schauspielerin Eleonore Arthin, war S. 1785/86 Mitgl. des Wiener Nationaltheaters. 1786 bereiste er wieder mit einer eigenen Truppe Salzburg u. Augsburg. Anschließend leitete er bis 1789 das Theater in Regensburg. Nach der Aussöhnung mit seiner Frau übernahm er 1789 das Freihaustheater in Wien (später: Theater an der Wieden) u. errang mit seinen Aufführungen (v. a. Lustspiele, Ritterstücke, Singspiele, Zauberopern) große Erfolge. 1801 wurde er Direktor des neu erbauten Theaters an der Wien, erlitt seit 1806 jedoch nur mehr Misserfolge. 1807–1809 konnte er noch das Theater in Brünn leiten, dann verfiel er langsam dem Wahnsinn. S. war eine unruhige, großzügige Persönlichkeit, voller Begeisterung für das mär-
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chenhafte, bilderreiche Theater. Sein erstes Stück, Die Lyranten oder das lustige Elend (auch die Musik stammt von ihm), in dem er in den Abenteuern dreier wandernder Musikanten persönl. Erlebnisse verarbeitet hatte, zeichnet sich durch lebendige Situationskomik aus. Literarisches Vorbild für das Lustspiel Das Regensburger Schiff (Salzb. 1780) sowie für das Schauspiel Die Raubvögel (Augsb. 1783) war Lessings Minna von Barnhelm. S. hat die Motive vergröbert, kom. Rollen eingeführt; der Reformeifer der Aufklärung u. ein starkes nationales Pathos sind für seine frühen Stücke charakteristisch. Besonders krasse Effekte (Brutalität/Rührseligkeit) zeichnen das Soldatenstück Der Grandprofoß (Regensb. 1787) aus. Von höherem literar. Wert u. sehr erfolgreich war das Ritterstück Philippine Welserin die schöne Herzogin von Tirol (Wien 1792) nach dem Vorbild von Törrings Agnes Bernauer. S.s Begeisterung galt in erster Linie dem dt. Singspiel u. der dt. Oper. Aus der Tradition der Singspielkasperliade u. dem märchenhaften Zauberspiel entwickelte sich die Wiener Zauberoper. 1790 wurde seine Oper Der Stein der Weisen oder die Zauberinsel, 1791 Die Zauberflöte mit der Musik von Mozart aufgeführt – S.s Ruhm u. nachhaltiger Erfolg waren begründet. S. verwendete Motive aus dem Schauspiel Thamos, König in Egypten von Tobias von Gebler, aus der Märchenoper Oberon, König der Elfen (Text: Friederike Sophie Seyler) u. aus Wielands Märchensammlung Dschinnistan. Die Zauberflöte ist der Tradition der Volkskomödie u. des märchenhaften Singspiels verpflichtet – dies zeigt sich v. a. in der Gestaltung der kom. Figur Papageno u. der Verwendung mytholog. Figuren u. Allegorien. Das traditionelle Figurenarsenal erhält jedoch einen neuen Stellenwert: Im Mittelpunkt steht der Weg des Menschen zur Selbstverwirklichung, das Erreichen der Glückseligkeit im Diesseits. In der Zauberflöte werden aufklärerische Tendenzen verherrlicht, vor der Instanz des Herzens u. des Geistes wird ein Ausgleich von Empfindung u. Vernunft erreicht, der Mensch wird nach den Ideen des Freimaurertums auf dem Weg der Bildung zu Gerechtigkeit u. wahrer Humanität geführt. Im krassen Gegensatz von
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Gut u. Böse werden dem Publikum der Weg nolka: Papageno [...]. Salzb./Wien 1984. – Hugo der Überwindung, die Erziehung des Men- Aust: E. S.s ›Kreis der Schöpfung‹. In: Autoren schengeschlechts gezeigt. In dem idealen damals u. heute: literaturgeschichtl. Beispiele verGesellschaftsbild herrscht Balance zwischen änderter Wirkungshorizonte. Hg. Gerhard P. Knapp. Amsterd. u. a. 1991, S. 59–89. – Friedrich Bürgertum u. Adel. Weisheit u. Toleranz leiDieckmann: Eine Zauberflöte aus Dschinnistan: ten die Figuren. Mit der Zauberflöte ist ein Wielands Slg. u. S.s Text. In: NDL 39 (1991), 12, Höhepunkt des dt. Singspiels erreicht. Sie S. 135–145. – Nathali Jückstock: Die Welten der wird Vorbild für die dt. romant. Oper; neben ›Zauberflöte‹ oder Das Libretto als ars combinatoder unmittelbaren Wirkung auf Hensler u. ria. In: Aurora 57 (1997), S. 175–194. – Ulrich Perinet beeinflusste sie nachhaltig Raimunds Müller: S., Mozart u. das Wiener Zauberspiel [...]. In: Krit. Fragen an die Tradition. FS Claus Träger. Schaffen. S.s weitere Zauberopern waren zu ihrer Hg. Marion Marquardt. Stgt. 1997, S. 551–578. – Zeit sehr erfolgreich: Der Spiegel von Arkadien Anke Sonnek: E. S.: Theaterprinzipal, Schauspieler (Wien 1794), Der Höllenberg (Wien 1798), Das u. Stückeschreiber. Kassel u. a. 1999. – Heide Hollmer u. Albert Meier: Saul unter den PropheLabyrinth oder der Kampf mit den Elementen ten? Überlegungen zur log. Pünktlichkeit v. E. S.s (Wien 1798; Tl. 2 der Zauberflöte); mit großem ›Zauberflöten‹-Libretto. In: Resonanzen. FS Hans Bühnenaufwand schuf S. ein märchenhaftes, Joachim Kreutzer. Hg. Sabine Doering. Würzb. idyllisches Weltbild: Das Gute besiegt das 2000, S. 99–107. – Günter Meinhold: Zauberflöte Böse, die Menschen werden geläutert. Neben u. Zauberflöten-Rezeption: Studien zu E. S.s LiOpern verfasste S. auch populäre Volksstücke, bretto Die Zauberflöte u. seiner literar. Rezeption. die sich v. a. durch treffende Milieuschilde- Ffm. u. a. 2001. – David J. Buch: Newly-identified rungen auszeichnen: Die Fiaker in Wien (ebd. engravings of scenes from E. S.’s Theater auf der 1792), Die Fiaker in Baden (ebd. 1793). Bekannt Wieden, 1789–1790, in the ›Allmanach für Theaterfreunde‹. In: Theater am Hof u. für das Volk. wurde die kom. Figur aus dem gleichnamiBeiträge zur vergleichenden Theater- u. Kulturgen Stück Der Tiroler Wastl (ebd. 1796); hier gesch. FS Otto G. Schindler. Hg. Brigitte Marschall. zeichnete S. im Gegensatz Stadt/Land ein Wien u. a. 2002, S. 351–376. – Anke Sonnek: E: S. krit. Bild der Wiener Gesellschaft u. zeigte In: NDB. – Werner Wunderlich (Hg.): Mozarts humorvoll Fehler u. Schwächen des »feinen« Zauberflöte u. ihre Dichter: S., Vulpius, Goethe, Kleinbürgertums auf. S.s Bedeutung be- Zuccalmaglio [...]. Anif u. a. 2007. schränkt sich nicht auf die Textdichtung der Cornelia Fritsch / Red. Zauberflöte; auch zur Entwicklung des Volksstücks trug er wesentlich bei. Mit dem Thea- Schill, Johannn Heinrich, auch: Chorion, ter an der Wien schuf er die erste moderne * um 1615 Durlach/Baden, † Herbst 1645 Bühne. Straßburg. – Jurist; Sprachhistoriker. Weitere Werke: Das Laster kommt an den Tag. Salzb. 1783 (Schausp.). – Die beiden Antone [...]. Wien 1793 (kom. Oper). – Der wohltätige Derwisch [...]. Ebd. 1794 (Zaubersp.). – Der redl. Landmann. Ebd. 1795 (ländl. Gemälde). – Der Königssohn aus Ithaka. Ebd. 1797 (Oper). – Babylons Pyramiden. o. O. 1800 (Oper). Literatur: Otto Rommel: Die Maschinenkomödie. Lpz. 1935. – Egon Komorzynski: Der Vater der Zauberflöte. E. S. Wien 1948. – Ders.: E. S. Ein Beitr. zur Gesch. des dt. Theaters. Ebd. 1951. – O. Rommel: Die Alt-Wiener Volkskomödie. Ebd. 1952. – Reinhard Urbach: Die Wiener Komödie u. ihr Publikum [...]. Wien/Mchn. 1973. – Herbert Zeman: Aber ich hörte viel v. Pamina [...]. In: Das dt. Singsp. im 18. Jh. Colloquium der Arbeitsstelle 18. Jh. Gesamthochschule Wuppertal. Univ. Münster. Heidelb. 1981, S. 139–169. – Kurt Ho-
Nur wenige biogr. Daten sind bekannt: S. immatrikulierte sich 1632 in Straßburg, um Jura zu studieren, u. gehörte mit dem Beinamen »Chorion« zum Kreis der 1633 gegründeten Tannengesellschaft. Nach der Promotion zum Dr. jur. (1638) trat er 1641 als Hofrat in den Dienst Friedrichs V. von BadenDurlach, blieb aber auch nach der Übersiedlung des Hofes nach Basel in Straßburg, wo er, um 1641, Salome Dürr heiratete. Seine zahlreichen Gelegenheitsgedichte (in Bibliotheken, darunter der HAB Wolfenbüttel, zerstreut, noch unerschlossen), vornehmlich für Angehörige des Straßburger Patriziats, weisen auf Verbindungen zur Reformorthodoxie. Aufsehen erregte seine anonym er-
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schienene umfangreiche Schrift Der Teutschen Schiller, (Johann Christoph) Friedrich, Sprach Ehren-Krantz (Straßb. 1644; Auszüge * 10.11.1759 Marbach/Neckar, † 9.5.1805 daraus bei Jones 1995), eine Abhandlung u. Weimar; Grabstätte: ebd., zuerst KassenKompilation zur Geschichte u. Etymologie gewölbe auf dem St.-Jacobs-Friedhof, seit des Deutschen, die gegen Überfremdung 16.12.1827 Fürstengruft. durch die Alamodekultur gerichtet ist. Sie wurde wohl durch Moscherosch angeregt, LEBEN Vater, Johann Kaspar Schiller enthält u. a. Kritik an Christoph Schorers Der ähnlich gearteter Schrift Der Unartig Teutscher (1723–1796), stammte aus einem alten Sprach-Verderber (1643) u. zitiert zahlreiche schwäb. Geschlecht von Handwerkern u. Autoren des Jahrhunderts (u. a. Opitz’ Aris- Weinbauern. Er war 1749–1753 Wundarzt in tarchus). – S.s Teutsches Stamm-Buch / Darinnen Marbach. Dort heiratete er am 22.7.1749 Außerlesene weltliche Poemata und Politische Sen- Elisabeth Dorothea Kodweiß (1732–1802), tenz, Lehren und Sprüche zusammengetragen (o. O. einziges Kind eines Gastwirts. Als der 1647) präsentiert sich, anders als der Titel Schwiegervater sein Vermögen verlor, trat vermuten läßt, nicht als eigentl. ›Stamm- Johann Kaspar Schiller Anfang 1753 als Rebuch‹ (mit durchgeschossenen leeren Blättern gimentsfurier in die Dienste des württemfür Eintragungen), sondern als eine weitläu- bergischen Herzogs Karl Eugen u. brachte es fige, für Stammbucheintragungen auszu- bis zum Hauptmann (1761). S.s Vater war wertende Anthologie dt. Epigramme u. ehrgeizig u. geistig interessiert, verspürte Kurzgedichte (darunter auch derjenigen von durchaus Neigung, sich »auf die Literatur zu Friedrich von Logau). Es wurde über ver- legen«. 1767/68 erschienen bei Cotta seine schiedene literar. Kanäle bis hin zu Hoffmann Betrachtungen über landwirtschaftliche Dinge in von Fallersleben rezipiert. dem Herzogthum Würtemberg. Seine Frau schilWeiteres Werke: Omnigenae felicitatis satoris derte ihn 1796 allerdings als rechthaberisch, & datoris Dei [...] auxilio [...]. Diss. jur. Straßb. eigensinnig u. gleichgültig den Seinigen ge1638. genüber, v. a. darauf bedacht, »seine LeidenLiteratur: Hans Schultz: Die Bestrebungen der schafften und Begierden durch zu treiben«. Sprachgesellsch.en des 17. Jh. Gött. 1888. – Alex- Wird bei der Mutter S.s von den Zeitgenossen ander Weber: Johann Matthias Schneuber [...]. In: v. a. die »Lebhaftigkeit und Zärtlichkeit des Daphnis 15 (1986), S. 119. – Walter E. Schäfer: J. H. Gefühls« hervorgehoben, so beim Vater der S., zwei kleine Funde. In: WBN 17 (1990), H. 1, bewegl. Verstand u. sein Pflichtbewusstsein. S. 12 f. Abgedruckt auch in Kühlmann/Schäfer Mit der Tochter Christophine (1757–1847) u. (2001), S. 133 f. – William Jervis Jones: Sprachheldem kränkl. Fritz verließ die Mutter mehrden u. Sprachverderber. Dokumente zur Erforschung des Fremdwortpurismus im Deutschen mals das heimatl. Marbach, um dem Vater (1478–1750). Bln./New York 1995, S. 355–375. – nachzuziehen: nach Würzburg, Cannstatt, Monika Bopp: Die ›Tannengesellschaft‹: Studien Schwäbisch-Gmünd u. nach Lorch. Dort trat zu einer Straßburger Sprachgesellsch. v. 1633 bis S. in die Dorfschule ein; seit 1765 erhielt er um 1670. Ffm. 1998, S. 191 f. – Andreas Palme: Privatstunden in Latein beim Pfarrer Philipp ›Bücher haben auch jhr Glücke‹. Die Sinngedichte Ulrich Moser (1720–1792), dem er in den Friedrich v. Logaus u. ihre Rezeptionsgesch. Er- Räubern ein Denkmal setzte. Oft soll S. mit langen/Jena 1998, S. 98–105. – W. E. Schäfer: J. H. einer schwarzen Schürze als Umhang auf eiS. In: NDBA, Lfg. 33 (1999), S. 3436. nen Stuhl gestiegen sein u. gepredigt haben. Walter E. Schäfer / Wilhelm Kühlmann Sein religiöser Enthusiasmus zeigte früh Tendenz zur Übersteigerung, die zu seinem Psychogramm ebenso gehört wie die hypochondrischen, konvulsivischen u. die manisch-depressiven Züge. Er hat diese Merkmale selbst diagnostiziert: »Ich hatte die halbe Welt mit der glühendsten Empfindung umfasst, und am Ende fand ich, daß ich einen
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kalten Eisklumpen in den Armen hatte« (an Henriette von Wolzogen, 4.1.1783). Ende 1766 zog die Familie von Lorch nach Ludwigsburg, wo S. zum erstenmal eine Theatervorstellung sah, die »ihm eine neue Welt« eröffnete. Anfang 1767 trat er in die Lateinschule ein, in der er bald zu den Besten gehörte. Er wird als »ein verschüchterter ungewandter Knabe« beschrieben, »der wegen seines linkischen Wesens von seinen Eltern und Lehrern Püffe und Ohrfeigen die Menge bekam«. Da er Geistlicher werden wollte, absolvierte S. bis 1772 regelmäßig die Landesexamen, die ihm den Weg zum Tübinger Stift u. zum kostenfreien Theologiestudium eröffnen sollten. Wenn auch zuweilen von dem Übermut des jungen S. die Rede ist, die »geist- und herzlose Erziehung« durch die pedantischen Lehrer u. den autoritären Vater hat ihn oft bedrückt. Am 16.1.1773 musste er auf Befehl Karl Eugens in die eben gegründete Militärakademie eintreten. Der Tageslauf der Zöglinge war reglementiert. Urlaub gab es nur in Ausnahmefällen, auch Besuche wurden nur selten gestattet. Die Eleven mussten Perücke u. Uniform tragen, wurden überwacht u. zur gegenseitigen Spitzelei angehalten. Mag S. der Erziehung in der Karlsschule auch wichtige Anregungen (z. B. durch Jakob Friedrich Abel) verdanken, sie hat in ihm als Antidot einen bes. Freiheitsdrang ausgelöst. Nach einer eher humanistischen Ausbildung im ersten Jahr steckte ihn der Herzog Anfang 1774 zuerst in die Juristische Fakultät. Die Leistungen des Eleven S. ließen in der Karlsschule jedoch bald zu wünschen übrig. Erst mit dem Eintritt in die Medizinische Fakultät Anfang 1776 begann ein allg. Aufschwung. Er las ältere u. neueste Belletristik, Shakespeares Dramen, Albrecht von Haller, Ewald von Kleist, Lessing, Wieland, Leisewitz, Klinger u. Maler Müller, u. beschäftigte sich mit philosophischer Literatur (u. a. Garve, Ferguson, Mendelssohn, Sulzer, Herder). Seine vielen Schreibversuche, die er selbst später »konvulsivisch« nannte, gipfelten im dramat. Erstling Die Räuber, der 1781 (Ffm./Lpz., recte Stgt.) im Selbstverlag erschien. S.s rhetorische Begabung demonstrieren die beiden Karlsschulreden am 10.1.1779 u.
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10.1.1780, die er zur Geburtstagsfeier Franziskas von Hohenheim hielt. Weil er in seiner ersten Dissertation von 1779 (Philosophie der Physiologie. Überliefert nur eine fragmentar. dt. Fassung) zu energisch mit den medizinischen Autoritäten ins Gericht gegangen war, wurde S. erst am 15.12.1780, nach Vorlage einer zweiten Dissertation (Versuch über den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen. Stgt. 1780), aus der Karlsschule entlassen. Das schmale Gehalt als Regimentsmedikus hielt ihn nicht davon ab, in Stuttgart ein jugendgenialisches Leben zu führen. Der Erfolg der Räuber bei der Erstaufführung in Mannheim (13.1.1782), bei der S. ohne Genehmigung des Herzogs zugegen war, u. verschiedene literar. Unternehmungen, zu denen auch die Publikation der Anthologie auf das Jahr 1782 (Tobolsko, recte Stgt. 1782) mit den Oden an Laura (seine Zimmerwirtin Luise Dorothea Vischer) gehört, bestärkten den Wunsch nach Entlassung aus dem Dienst des Herzogs, an den jedoch sein Vater gebunden blieb, der 1775 zum Vorgesetzten der herzogl. Hofgärtnerei ernannt worden war. Als S. nach einer weiteren Mannheimreise vom Herzog zu 14 Tagen Arrest verurteilt wurde u. bald darauf Schreibverbot erhielt, verließ er mit seinem Freund Andreas Streicher am 22.9.1782 Stuttgart. Nach einem Aufenthalt in Mannheim, wo S. aus dem Manuskript des Fiesco im Kreis der Theaterleute vorlas u. sie mit seinem schwäb. Tonfall u. der übertriebenen Deklamation nicht für sein neues Stück einzunehmen verstand, reisten die Freunde, weil sie um die Sicherheit S.s fürchteten, nach Frankfurt/M. weiter. Im Dez. 1782 zog er sich vorerst unter Pseud. auf das Gut der mütterl. Freundin Henriette von Wolzogen nach Bauerbach zurück. Dort lernte er seinen späteren Schwager, den Meininger Bibliothekar Wilhelm Friedrich Hermann Reinwald, kennen, der ihn mit Büchern versorgte. S. arbeitete an Fiesco, Luise Millerin u. plante bereits Don Karlos u. Maria Stuart. Die Idylle, die er mit aller Intensität für seine Projekte nutzte, zeigte aber bald ihre Schattenseite. S. sehnte sich nach Menschen u. einer »mitfühlenden Seele« (an Henriette von Wolzogen, 10.1.1783).
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Ende Aug. 1783 stellte ihn Wolfgang Heribert von Dalberg auf ein Jahr als Theaterdichter in Mannheim an, mit der Auflage, vor Jahresfrist außer Fiesco u. Luise Millerin noch ein drittes Stück zu liefern. Einen Anfall von »kaltem Fieber« bekämpfte S. mit einer Radikalkur, die dazu beitrug, seine ohnedies schwache Gesundheit noch weiter zu untergraben. Zwar kam es Jan. 1784 in Mannheim zur Aufführung des Fiesco, der allerdings kein Erfolg beschieden war, im April von Kabale und Liebe (= Luise Millerin), die stürmisch gefeiert wurde, u. zur ehrenvollen Aufnahme in die Deutsche Gesellschaft, aber die Schuldenlast u. eine Reihe persönl. Enttäuschungen bedrückten ihn dergestalt, dass er erleichtert die Einladung von vier unbekannten Verehrern (Christian Gottfried Körner, den Schwestern Minna u. Dora Stock u. Ludwig Ferdinand Huber) annahm. Mit den neuen Freunden verlebte S. von März 1785 bis Juli 1787 in Leipzig u. Dresden eine sorgenfreie Zeit. Der drei Jahre ältere Körner war vor Goethe u. Wilhelm von Humboldt sein erster kongenialer Gesprächspartner. In Sachsen entstanden das Lied An die Freude u. die Novelle Verbrecher aus Infamie (später Der Verbrecher aus verlorener Ehre). S. arbeitete an dem Trauerspiel Der versöhnte Menschenfeind (unvollendet. In: Thalia, H. 11, 1790) u. an Don Karlos. Im Juni 1787 erschien die erste Buchausgabe bei Göschen in Leipzig. Dieser löste S.s Mannheimer Verleger Schwan ab, der Die Räuber (Theaterausg. 1782), Fiesco (1783) u. Kabale und Liebe (1784) verlegt hatte. Das Quellenstudium für Don Karlos regte S. zu einer intensiveren Beschäftigung mit der Geschichte an, sodass er sich wünschte, er hätte »zehn Jahre hintereinander nichts als Geschichte studiert«. Diese Neigung sollte bald Wieland zu fördern suchen, während Körner die Interessen des Freundes zur dichterischen Produktion zurückzulenken suchte. Am 21.7.1787 traf S. in Weimar ein, wo er urspr. nur Station machen u. Charlotte von Kalb besuchen wollte. Dort, bzw. in Jena, verbrachte er, von den kurzen Aufenthalten in Volkstedt u. Rudolstadt (1788) u. einer längeren Reise ins heimatl. Schwaben abgesehen, den Rest seines Lebens. Dabei verlief sein Einzug in Weimar eher enttäuschend.
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Goethe weilte in Italien u. der Herzog, der ihm bereits am 27.12.1784 in Darmstadt den Titel eines Weimarischen Rats verliehen hatte, in Potsdam. Dafür wurde S. sowohl von Wieland als auch von Herder freundlich empfangen. Wieland begleitete ihn sogar zur Herzogin Anna Amalia nach Tiefurt u. ermunterte ihn durch Lob u. offene Kritik (an Körner, 28.7.1787). Durch seinen ehemaligen Mitschüler Wilhelm von Wolzogen lernte S. im Dez. 1787 die beiden Schwestern von Lengefeld kennen: Karoline von Beulwitz, die Wolzogen später heiraten sollte, u. Charlotte von Lengefeld, seine zukünftige Frau. Bei den Lengefelds in Rudolstadt traf er 1788 auf den aus Italien zurückgekehrten Goethe u. notierte Unterschiede in der »Wesensart«. Da Goethe gegen S.s literar. Produktion nichts als Abneigung verspürte, lebten die beiden bis zum Sommer 1794 nebeneinander her. Am 11.5.1789 übersiedelte S. nach Jena, wohin ihn der Weimarer Hof als Professor für Geschichte berufen hatte. Mit seiner Antrittsvorlesung Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? am 26.5.1789 hatte er »einen ganz außerordentlichen Beifall«. Am 1.1.1790 bewilligte ihm Karl August ein jährl. Gehalt von 200 Talern, u. vom Meininger Hof erhielt S. das erbetene Hofratsdiplom, womit die äußeren Bedingungen für die Heirat am 22. Febr. mit Charlotte von Lengefeld erfüllt waren. Im Jan. 1791, nach einer feierl. Sitzung der Kurfürstlichen Akademie nützlicher Wissenschaften in Erfurt, deren Mitgl. S. war, kam es zu einem plötzlichen, fast tödl. Krankheitsausbruch (»kruppöse Pneumonie, begleitet von trockener Rippenfellentzündung«), der vorläufig seine akadem. Karriere beendete. Von Herzog Friedrich Christian von Schleswig-Holstein-Augustenburg u. dessen Finanzminister Graf Ernst von Schimmelmann erhielt er ein Dreijahresstipendium (danach um zwei Jahre verlängert) von jährlich 1000 Talern. Ende Dez. 1791 begann S. mit dem Kantstudium, zu dem ihm schon früh Körner u. der Kantianer Karl Leonhard Reinhold geraten hatten. Das führte in den nächsten Jahren zu einer deutl. Interessenverlagerung von der Geschichte auf die Philosophie. In
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Briefen an Körner entwickelte sich 1793 Kallias oder über die Schönheit, die Vorstufe zu S.s erster großer Schrift, Ueber Anmut und Würde (Lpz. 1793. Zgl. in: Neue Thalia III, 2). Aus den (überarbeiteten) Briefen an seinen Gönner Friedrich Christian, mit denen er 1793 begann, stellte er dann 1794 seine zweite große Schrift, Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, zusammen. Sie erschien wie die letzte Schrift, Ueber naive und sentimentalische Dichtung (1795/96), in den »Horen«, die S. unter Mitwirkung Goethes vom 15.1.1795 bis Anfang Juni 1798 herausgab. Verfolgte S. noch im Nov. 1792 mit Interesse u. Sympathie die revolutionären Vorgänge in Frankreich, so wandte er sich wenig später mit Ekel von den »elenden Schindersknechten« ab (an Körner, 8.2.1793). Er betrachtete nun »den Versuch des französischen Volks, sich in seine heiligen Menschenrechte einzusetzen, und eine politische Freiheit zu erringen«, nicht nur für gescheitert, sondern befürchtete, dass dieses »unglückliche Volk [...] ein ganzes Jahrhundert, in Barbarey und Knechtschaft zurückgeschleudert« habe (an Herzog Friedrich Christian, 13.7.1793). Im Aug. 1793 unternahm S. mit seiner schwangeren Frau eine längere Reise in die schwäb. Heimat, wo dann auch sein erster Sohn geboren wurde. Er sah viele der alten Freunde, seine Eltern u. Geschwister wieder u. trat mit dem jungen Verleger Cotta in nähere Geschäftsbeziehung. Mit neuen Plänen u. bei leidl. Gesundheit kehrte er am 14.5.1794 nach Jena zurück. Entscheidend wurde im Juli 1794 eine Begegnung mit Goethe anlässlich einer Tagung der Naturforschenden Gesellschaft in Jena, der beide als Ehrenmitglieder angehörten. Ihre Unterhaltung im Anschluss daran über die Arten der Naturbetrachtung u. über Kunst sowie zwei Briefe S.s an Goethe vom 23. u. 31. Aug., in denen jener einsichtig die Summe von Goethes Existenz zog u. ihre verschiedenen Anlagen charakterisierte, bewirkten eine Annäherung, die eine fruchtbare Zusammenarbeit einleitete u. die Epoche der Weimarer Klassik begründete. Der Freundschaftsbund wurde bald durch eine Einladung in Goethes Haus nach Weimar besie-
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gelt, wo S. trotz seines wechselnden Gesundheitszustands zwei Wochen in ständigem Dialog mit dem verständnisvollen Gesprächspartner blieb. Im Herbst 1796 schloss er endlich seine »philosophische Bude« u. begann mit der Wallenstein-Trilogie, die ihn fast drei Jahre beschäftigte. So wie S. an Goethes dichterischen Arbeiten ständig Anteil nahm, so tauschte sich Goethe mit ihm über den Wallenstein u. ästhetische Grundsatzfragen aus. Anfang 1796 hatten Goethe u. S. mit ihrer gemeinsamen Arbeit an den Xenien begonnen, Epigrammen in Distichen in der Nachfolge Martials, die sie als grundsätzl. Abrechnung mit dem zeitgenöss. literar. Leben in Deutschland verstanden. 1797 schrieben die beiden im freundschaftl. Wettstreit auch eine Reihe von Balladen. Der »Balladenalmanach« (Musen-Almanach für das Jahr 1798) enthält von S. unter anderem Der Ring des Polykrates, Der Handschuh, Der Taucher, Die Kraniche des Ibykus u. Der Gang nach dem Eisenhammer. Am 3.12.1799 übersiedelte S. nach Weimar, um Goethe u. dem Hoftheater näher zu sein. Nach Abschluss des Wallenstein (Tüb.: Cotta 1800) rang er sich in den wenigen Jahren, die ihm noch verblieben, weitere Dramen ab: Maria Stuart (ebd. 1801), Die Jungfrau von Orleans (in: Kalender auf das Jahr 1802. Bln. 1801), Die Braut von Messina (Tüb.: Cotta 1803) u. Wilhelm Tell (ebd. 1804). Bis zu seinem Tod arbeitete er an seinem letzten dramat. Projekt, dem Demetrius. Neben den Dramen entstanden in den letzten Jahren Balladen u. Gedichte (1798: Die Bürgschaft u. Die Worte des Glaubens; 1799: Das Lied von der Glocke, Nänie u. Die Worte des Wahns; 1801: Der Antritt des neuen Jahrhunderts), verschiedene Übersetzungen (1803: Der Parasit u. Der Neffe als Onkel nach Picard; 1804/1805: Racines Phädra) u. Bearbeitungen (1796: Goethes Egmont; 1800: Shakespeares Macbeth; 1801: Gozzis Turandot). Am 16.11.1802 erhielt S. aus Wien ein Adelsdiplom, wodurch v. a. seine Frau in ihre alten »Rechte restituiert« werde, während für ihn selbst damit »nicht viel gewonnen« sei (an Körner, 29.11.1802). In der Folge klagte er, dass es ihm in Weimar »mit jedem Tag schlechter« gefalle u. er »nicht Willens« sei,
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dort zu sterben. Er trug sich mit dem Gedanken, den »so engen kleinen Verhältnissen« den Rücken zu kehren (an Wolzogen, 20.3. u. 16.6.1804). Aber in einem Brief vom 8.6.1804 an den Herzog, der S.s jährl. Einkommen aufgrund eines Berliner Angebots auf zunächst 800 Taler angehoben hatte, entsagte er mit »frohem Herzen« jeder Versuchung zu einer Veränderung. Noch am 25.4.1805 hoffte er, nicht zuletzt seiner vier Kinder wegen, dass ihm »Leben und leidliche Gesundheit« wenigstens »bis zum 50. Jahr aushält« (an Körner). Aber wie der Sektionsbefund zeigte, waren S.s innere Organe dergestalt geschädigt, dass Leibarzt Huschke anmerkte: »Bei diesen Umständen muß man sich wundern, wie der arme Mann so lange hat leben können.«
JUGENDDRAMEN Mit den Räubern übertraf S. an Wirkung die kraftgenialischen Dramen seiner Vorgänger (Lenz, Klinger, Leisewitz, Wagner). In seiner Affektregie drückt sich nicht nur jugendl. Protest gegen Despotismus, moralische Korruption u. »Schneckengang im Denken« aus, sondern auch der Hang zu »colossalischer Größe« (Goethe) u. zum extremen Individualismus. Leidet Karl Moor am »Überschwang des Herzens«, der ihn zum Opfer der Intrige seines Bruders macht, so zeigt Franz Moor alle negativen Symptome einer Herrschsucht, die auf Egoismus u. entzogener Liebe beruht. In Karl u. Franz Moor stehen sich idealistische u. materialistische Weltsicht gegenüber, wobei die Fehler der ersten sich als korrigierbar erweisen, die der zweiten jedoch nicht. Wenn Karl Moor am Schluss die Räuberbande aus freien Stücken verlässt, demonstriert er jene Autonomie der Person, auf die es S. beim Konzept der »pathetischen« Darstellung ankommt. Außerdem widerruft er zuletzt die anarchistische Freiheit u. ordnet sich dem Ganzen unter; denn menschl. Freiheit stiftet nicht nur eine bessere Ordnung, sie kann auch egoistisch für eigennützige Zwecke missbraucht werden. S. wollte mit seinen Jugenddramen von den Räubern bis Don Karlos im Zuschauer oder Leser das Interesse für Freiheit durch die ästhetische Vorstellung der Kraft entwickeln u.
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die »moralische Independenz von Naturgesetzen im Zustand des Affekts« demonstrieren (Ueber das Pathetische). Aber er unterlegte dem Gang der dramat. Handlung bereits Kriterien, welche die Charaktere u. ihre Aktionen bewerten. In allen jugendl. Helden, Karl Moor, Ferdinand von Walter, Don Karlos u. Marquis Posa, empört sich nicht nur positiv das »Herz« gegen die Kabalen des »Kabinetts«, die menschl. Empfindung gegen polit. Kalkül, die aufrichtige Seele gegen Täuschung u. Manipulation, sondern in ihnen zeigt sich ebenso ein verhängnisvoller »wütender Durst nach Gewalt und Vergötterung« (Fiesco. Mannheimer Bühnenfassung, IV,15), ein idealistischer Überschwang. Wie sich das psycholog. Schema von Liebe u. Hass in die polit. Verhaltensweisen von Liberalität u. Despotismus umsetzt, hat S. in seinen Philosophischen Briefen (Thalia, 1786, H. 3. 1789, H. 7) erläutert u. in seinem Revolutionsstück Die Verschwörung des Fiesco zu Genua (Urauff. Bonn, 20.7.1783) v. a. in IV,14 u. V,16 dargestellt. Leonore u. Verrina versuchen, Fiesco von seiner »Herrschsucht« u. seinem Größenwahn, dem »fürstlichen Schelmenstück«, abzubringen u. ihn zu den positiven Werten der Menschenliebe (Leonore) u. der Republik (Verrina) zurückzuführen. Von der Natur mit allen Fähigkeiten zum republikan. Revolutionsführer ausgestattet, enthüllt er sich am Ende als »Genuas gefährlichster Tyrann« (III,1). Bei Fiesco hat in der Tat »E in Augenblick Fü rst [...] das Mark des ganzen Daseins verschlungen« (III,2). Auf dem Höhepunkt seiner Selbstfeier (II,17,18), an dem er seine polit. Maschine enthüllt u. schließlich absolute »Subordination« (III,5) verlangt, ist er schon nicht mehr Subjekt, sondern bereits Objekt der Geschichte. Das polit. Rollenspiel symbolisiert in S.s Jugenddramen (ähnlich wie im Barockdrama) die falsche Existenzweise, das sog. »Kronenspiel«, die kalte Staatsaktion u. den Herrschaftsegoismus, während die positive Wertskala durch die Stichworte Liebe, Herz u. Empfindung angedeutet wird. In Kabale und Liebe (Urauff. Ffm., 13.4.1784) geißelte S. die despotische höf. Welt u. die Mätressenwirtschaft seiner Zeit u. stellte mit Ferdinand ein »Ideal von Glück«, das »sich genügsamer in
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[sich] selbst« zurückzieht (I,7), den politischen »Begriffen von Größe und Glück« gegenüber, die dessen Vater, Präsident von Walter, verkörpert. Nichtsdestoweniger charakterisierte S. in Ferdinand auch einen Despoten der Liebe, denn fürchtet Ferdinand nur »die Grenzen« von Luisens »Liebe« (I,4), so wehrt sich Luise gegen eine Verabsolutierung dieses Gefühls (I,3,4) u. Loslösung jeder gesellschaftl. Verantwortung. In seinem dramat. Gedicht Don Karlos (Urauff. Hbg., 29.8.1787) hat die lange Entstehungszeit die Interessen mehrmals verlagert. Das Familiendrama mit dem Generations- u. Persönlichkeitskonflikt zwischen Philipp II. von Spanien u. seinem Sohn Don Karlos steht ebenso wie die Liebe Don Karlos’ zu Elisabeth von Valois, die nun seine Stiefmutter geworden ist, oder die schwärmerische idealistische Freundschaft zu Marquis Posa in einem größeren polit. Zusammenhang. Für den schönen Traum einer Republik Flandern u. einer Realisierung der Freiheitsidee (Posas Plädoyer in III,10), den Don Karlos u. Marquis Posa mit der Königin teilen, soll eben auch die private Liebe eingesetzt werden. Doch am Ende hebt sich über dem kleineren polit. Spiel zwischen idealistischer »neuer Tugend« (II,10) u. der intriganten Staatskunst eines Alba u. Domingo u. der despotischen Herrschaft Philipps der Vorhang zu dem größeren Theater, in dem mit der Gestalt des Menschen verachtenden Großinquisitors die Inhumanität des ganzen Zeitalters an den Pranger gestellt wird. Obwohl Don Karlos am Ende von S.s Jugenddramen steht, markiert das Stück mit seiner gemäßigten Affektregie u. der geformten Verssprache (Shakespeares Blankvers) einen Übergang. Im Hinblick auf die Geschichte deutet sich bereits eine Veränderung der Einstellung an. Geschichte ist nicht mehr bloß dramat. Mittel, sondern wird als objektive Macht zum Prüfstein des Menschen.
GESCHICHTE Wie seine philosophischen gehen auch S.s histor. Interessen auf die Karlsschulzeit zurück. Doch beschäftigte sich S. erst seit 1786 systematischer mit Geschichte. Neben seinen beiden Hauptwerken, der Geschichte des Abfalls
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der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung (1. u. einziger Tl., Lpz. 1788) u. der Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs (in: Historischer Calender für Damen. Lpz. 1790–93), stehen eine Reihe von geschichtsphilosophischen Essays wie die Jenaer Antrittsvorlesung Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? (in: Teutscher Merkur, 1789), Die Sendung Moses, Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der mosaischen Urkunde u. Die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon (alle in: Thalia, H.e 10 u. 11, 1790) sowie histor. Sammelwerke, die er anregte u. teilweise selbst edierte (Geschichte der merkwürdigsten Rebellionen und Verschwörungen. Lpz. 1788. Allgemeine Sammlung Historischer Memoires. Jena 1790). Gleich der dramat. Produktion u. den ästhetischen Schriften dient auch S.s Historiografie dem Ziel, dem Menschen allen widrigen Umständen zum Trotz zur Selbstverwirklichung, d. h. zur »Behauptung seiner Persönlichkeit«, zu verhelfen. So wie die Individualgeschichte über verschiedene Stufen von der Natur zur geistigen Kultur u. Würde führt (Über den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen), durchläuft nach S. auch das Menschengeschlecht in seiner Geschichte spezif. Phasen. Sie führen vom Hordendasein des Naturmenschen über die Untertanenexistenz in Despotien bis zum Staat der freien Bürger. Nur dasjenige Volk ist aber fähig, den »Staat der Noth« mit dem »Staat der Freyheit zu vertauschen«, das »Totalität des Charakters« besitzt (Ueber die ästhetische Erziehung, 4. Brief). Allerdings meinte er in der Gesetzgebung des Lykurgus und Solon nicht gerade optimistisch, dass sich die Gesetzgeber »noch lange in rohen Versuchen üben« müssten, »bis sich ihnen endlich das glückliche Gleichgewicht der gesellschaftlichen Kräfte von selbst darbietet«. Noch in seiner Antrittsvorlesung interpretierte S. die Weltgeschichte wie eine Bühne, auf der sich das Welttheater vor Zuschauern abspielt, ja er sprach hier der Geschichte sogar Funktionen zu, mit denen er sonst nur die menschl. Person charakterisierte. »Der Mensch verwandelt sich und flieht von der Bühne«, wird hier erklärt, »seine Meinungen fliehen und verwandeln sich mit ihm: die Geschichte allein
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bleibt unausgesetzt auf dem Schauplatz, eine unsterbliche Bürgerin aller Nationen und Zeiten«. Nicht die Person ist also das Bleibende (Ueber die ästhetische Erziehung, 11. Brief), sondern die Geschichte, während der Mensch der Zeit, der Veränderung anheimfällt. S. hat hier den Autonomiebegriff der menschl. Person auf die Geschichte übertragen u. ihr gewissermaßen einen transzendenten Charakter verliehen. In der Einleitung zum Abfall der vereinigten Niederlande hat er sogar die »Geschichte der Welt« mit den »Gesetzen der Natur« u. der »Seele des Menschen« parallelisiert u. die These aufgestellt, dass »dieselben Bedingungen« auch »dieselben Erscheinungen« zurückbringen. Mit der Schrift Ueber das Erhabene (in: Kleinere prosaische Schriften. Tl. 3, Lpz. 1801) erfolgte jedoch eine Neuorientierung. »Nähert man sich [...] der Geschichte mit großen Erwartungen von Licht und Erkenntniß«, so heißt es hier, »wie sehr findet man sich da getäuscht«. S. machte jetzt die »Unbegreiflichkeit selbst zum Standpunkt der Beurtheilung« von Geschichte, die »das Wichtige wie das Geringe, das Edle wie das Gemeine in einem Untergang mit sich fortreißt«.
PHILOSOPHIE UND ÄSTHETIK Zwar änderten sich mit S.s Kantlektüre (seit Febr. 1791) Begriffsfeld u. Argumentationsweise seiner philosophischen Versuche, aber sein anthropologisch orientiertes Grundkonzept entwickelte er bereits in der Karlsschule. Gewiss verdankt er der Popularphilosophie der europ. Aufklärung u. der Triadenlehre der Rhetorik manche Anregung, aber viele Einzelheiten gehen auf die Physiologie zurück, auf die sog. »Philosophie der Ärzte«, die er während seines Studiums rezipierte. Diese Tradition der psychophys. Menschenkenntnis u. anthropolog. Medizin, die seit der Spätaufklärung auf den ganzen Menschen zielt, hat sich auch in S.s Dissertationen niedergeschlagen, in denen er vor den ästhetischen Schriften einen eigenen Weg zwischen den herrschenden materialistischen (La Mettrie) u. idealistischen Anschauungen (Leibniz, Albrecht von Haller) suchte. In seiner ersten Dissertation, Philosophie der Physiologie von 1779, definierte S. die »Be-
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stimmung des Menschen« als »Gottgleichheit«, allerdings in dem Bewusstsein, dass dies ein unerreichbares Ideal bleibt. Dahinter wird bereits eine Intention sichtbar, die seit dem Sturm und Drang für das 18. Jh. bezeichnend ist: den Menschen zu einer optimalen Erweiterung seiner Vermögen anzuregen. Alles, was diese Erweiterung bedroht, dogmat. Ideologien wie Materialismus u. Idealismus (Philosophie der Physiologie), repressive polit. u. gesellschaftl. Systeme (Philosophische Briefe), lehnte S. deshalb ebenso ab wie eine einseitige Kulturentwicklung, in der entweder die Gefühle über Grundsätze oder Grundsätze über die Gefühle herrschen (Ueber die ästhetische Erziehung). Die negativen Elemente der kulturhistor. u. gesellschaftl. Entwicklung haben ihre Korrelate in der psycholog. Individualgeschichte. Gefühlswerte u. Verhaltensweisen wie Liebe u. Hass, Altruismus u. Egoismus bedeuten deshalb (Philosophische Briefe) nicht nur Icherweiterung (Annäherung an das Totalitätsideal) oder Ichverkleinerung (Entfernung vom Totalitätsideal), sondern auch einen »blühenden Freistaat« (Republik) oder eine »verwüstete Schöpfung« (Despotismus). In seinen philosophischen Spekulationen von der Karlsschulzeit bis zu den großen ästhetischen Schriften formulierte S. drei Fundamental-Gesetze. Mit dem »FundamentalGesetz der gemischten Natur« (Ueber den Zusammenhang [...], § 12), dem Gesetz des psychosomat. Zusammenhangs, begründete er dann auch »die beiden Fundamental-Gesetze aller tragischen Kunst« (Vom Erhabenen. Ueber das Pathetische. In: Neue Thalia, 1793, 3. u. 4. Stück), das Prinzip der pathet. Darstellung. Sie »sind ers tl ic h : Darstellung der leidenden Natur; zw ey ten s : Darstellung der moralischen Selbstständigkeit im Leiden«. Diese Selbständigkeit, die im Begriff des Pathetisch-Erhabenen steckt (Vom Erhabenen), weist bei S. gezielt auf die Autonomie der Person, auf den »Gott in uns« (Ueber Anmut und Würde), das »Übersinnliche« im Menschen (Ueber das Pathetische). Unter dem Aspekt einer geradezu existenzialistischen Definition der »gemischten Natur« des Menschen mit der Dialektik von Person u. Zustand, Sein u. Zeit erläutert er dann die »zwey Fundamentalge-
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setze der sinnlich-vernünftigen Natur« folgendermaßen: »Das erste dringt auf absolute Rea l it ä t : er [der Mensch] soll alles zur Welt machen, was bloß Form ist, und alle seine Anlagen zur Erscheinung bringen: das zweyte dringt auf absolute Fo rm al it ä t : er soll alles in sich vertilgen, was bloß Welt ist, und Uebereinstimmung in alle seine Veränderungen bringen; mit andern Worten: er soll alles innre veräußern und alles äussere formen. Beyde Aufgaben in ihrer höchsten Erfüllung gedacht, führen zu dem Begriff der Gottheit zurücke, von dem ich ausgegangen bin« (Ueber die ästhetische Erziehung, 11. Brief). Diesen höchsten Begriff, das »Ideal menschlicher Natur«, die »Gottgleichheit«, machte S. in seiner letzten großen Schrift, Ueber naive und sentimentalische Dichtung, durch die dualistische Typologie der »inneren Gemütsform«, den »psychologischen Antagonism« vom Realisten u. Idealisten, naiven u. sentimentalischen Dichter insofern sichtbar, als eben die Aufhebung dieses Dualismus oder »Antagonism« die Realisierung des Menschheitsideals bedeuten würde. So wie die Kindheit u. die Griechen von der ein en ehemaligen wirklichen, aber n a ive n Einheit u. Totalität zeugen, hat für S. moderne Poesie die Aufgabe, i dea li sc h den einstigen Zustand, die »Übereinstimmung zwischen Empfinden und Denken«, vorzustellen u. in der dichterischen Darstellung »der Menschheit ihren möglichst vollständigen Ausdruck zu geben«. Die Analyse der Schwundstufen des modernen Menschen löste aber bei S. nicht die Sehnsucht nach einem rousseauischen Naturzustand aus. Im Gegenteil: Er hoffte auf eine dritte Kulturstufe, auf der die Nachteile der ersten (Griechenland) u. der zweiten (Rationalismus) überwunden sind. Wenn er von dem zeitgenöss. Dichter »Idealisierkunst« (Rezension von Bürgers Gedichten), die sentimentalische Operation (Ueber naive und sentimentalische Dichtung) forderte u. als mögliche dichterische Gattungen »Satyre, Idylle, Elegie« aufstellte, die bestimmten Empfindungsweisen entsprechen, so weist die sentimentalische Stufe sowohl in der Dichtung als auch in der Menschheitsentwicklung auf eine dritte voraus: »Hat sich die sentimentalische Kultur oder Menschheit
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vo ll en det [...] so ist sie nicht mehr sentimentalisch, sondern ide a lis ch « (an Wilhelm von Humboldt, 25.12.1795).
PROSA UND LYRIK S.s drei Erzählungen, Eine großmütige Handlung (in: Wirtembergisches Repertorium der Literatur, 1782, 1. Stück), Verbrecher aus Infamie (in: Thalia 1, H. 2, 1786. U. d. T. Der Verbrecher aus verlorener Ehre in: Kleinere prosaische Schriften. Tl. 1, Lpz. 1792) u. das Spiel des Schicksals (in: Teutscher Merkur, 1789), beschreiben wirkl. Ereignisse, die sein psycholog. Interesse erregten. Eine großmütige Handlung reicht noch in die Karlsschulzeit zurück u. verfolgt ein Thema, das auch in der Dissertation u. in dem Gedicht An einen Moralisten aus der Anthologie auf das Jahr 1782 auftaucht, nämlich, ob man über den beiden landläufigen Extremen der empfindsamen Moralität (Engel u. Teufel) am Ende nicht die Mitte, den Menschen, vergisst. Auch im Verbrecher aus Infamie betonte S. den Wahrheits- u. Wirklichkeitsgehalt des erzählten Falls. Es geht hier wie in S.s erstem Drama um die gemeinsame Keimzelle von Tugend u. Laster, um die »unveränderliche Struktur der menschlichen Seele« u. die »veränderlichen Bedingungen«. S. zeigte die äußeren Motive einer kriminellen Verstrickung auf, aus der sich die Hauptfigur ähnlich wie Räuber Moor in einem pathetisch-erhabenen Akt (er stellt sich am Ende freiwillig dem Gericht) löst. Die Arbeit am Geisterseher (in: Thalia 1/2, H.e 4–8, 1787–89) fiel in die Phase einer allg. Neuorientierung, die mit seinen historiografischen Studien begann, sich auch in mehreren Gedichten niederschlug u. erst mit seinen philosophischen Schriften abgeschlossen war. Während die narrative Technik seiner Kurzprosa Nähe zum historiografischen Erzählen verrät, steht in dem Romanfragment der Fiktionscharakter im Vordergrund, obwohl auch hier toposhaft der Wahrheitsanspruch des Erzählten behauptet wird. Held dieser spannend zu lesenden Kolportage, der Prinz von **, ist ein früher Typ des ›Manns ohne Eigenschaften‹. Er erscheint als Opfer einer falschen Erziehung, aber v. a. einer bestimmten psych. Verfassung, die für sein Handeln verantwortlich ist u. die zu Anfang
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des Romans beschrieben wird. »Tiefer Ernst und eine schwärmerische Melancholie herrschten in seiner Gemütsart«, heißt es von dem Prinzen. »Seine Neigungen waren still, aber hartnäckig bis zum Übermaß [...]. Mitten in einem geräuschvollen Gewühle von Menschen ging er einsam; in seine Phantasiewelt verschlossen, war er oft ein Fremdling in der wirklichen. Niemand war mehr dazu geboren, sich beherrschen zu lassen, ohne schwach zu sein.« In seinen Jugendgedichten, von denen S. 48 Texte in seiner Anthologie auf das Jahr 1782 publizierte u. die v. a. den Einfluss Klopstocks, aber auch Bürgers, Schubarts u. Höltys verraten, überwiegt eine Art »Gemütserregungskunst«, mit der er auf die Elysiumssekunde, die Beschwörung eines transzendenten Augenblicks, zielte. Bereits in der Selbstbesprechung (1782) rügte er an seinen Gedichten pathet. »Überspannung« u. »Verletzung der Regeln des Geschmacks« u. empfahl den jungen Dichtern ganz im Sinne Wielands, »zu den alten Griechen und Römern wieder in die Schule« zu gehen. In dem Gedicht Klopstock und Wieland hatte er bereits einen Positionswechsel von der pathet. Schreibweise Klopstocks zu der anmutigen Wielands, vom Pathos zum Ethos angekündigt. Das erste prakt. Ergebnis dieser Veränderung stellen Die Götter Griechenlands (erste Fassung in: Teutscher Merkur, 1788) dar, von Friedrich Leopold von Stolberg bald als »atheistisch« denunziert. Diese eleg. Idylle beschwört die vergangene schöne Welt der Antike, in der »die Götter menschlicher noch waren« u. »Menschen göttlicher«. In der zweiten Fassung, vermutlich 1793 entstanden, aber erst 1800 im ersten Teil der Gedichte (2 Tle., Lpz. 1800 u. 1803) gedruckt, klingt das Gedicht am Ende an das letzte Distichon der Nänie an: »Was unsterblich im Gesang soll leben, / Muß im Leben untergehn.« Programmatisch wie seine Kritik an Bürger (Allgemeine Literaturzeitung, 15. u. 17.1.1791), in der vom Dichter die Wiederherstellung des »ganzen Menschen« durch »reife und gebildete Hände« verlangt wird, stellt das philosophische Gedicht Die Künstler (Umarbeitung von 1789; 1. Fassung von 1788 nicht erhalten) nicht nur eine »V er hü ll u ng de r
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Wahr he it und Si tt l ic hk ei t in di e Sc h ö nh ei t « (an Körner, 9.2.1789) dar, sondern auch (unter dem Einfluss Wielands) den Künstler als Bewahrer der »Menschheit Würde«, als entscheidendes Vollzugsorgan eines »Weltenplanes«. Das Gedicht steht im Zusammenhang der »Idealisierkunst«, die ausführlich in der Bürger-Kritik erörtert wird. Es demonstriert S.s sentimentalische Begabung für »philosophische Poesie«, die bei ihm trotz didakt. Tendenz oft eleg. Charakter hat. Zu dieser Gattung gehören u. a. Die Teilung der Erde (1795), Die Taten der Philosophen (1795; überarbeitet u. d. T. Die Weltweisen), Das verschleierte Bild zu Sais (1795), Poesie des Lebens (1795), Würde der Frauen (1796), Die Ideale (1796), Die Macht des Gesanges (1796), Klage der Ceres (1797) u. Das Eleusische Fest (1799). Einen Höhepunkt setzt Das Ideal und das Leben, das S. zuerst 1795 u. d. T. Das Reich der Schatten veröffentlichte. In diesem Gedicht stellte er Grundelemente seiner philosophischen Anschauung dar. In antithet. Bewegung zeichnen die 15 Strophen zwei gegensätzl. Existenzformen nach, die heroische (erhabene) u. die schöne (anmutige), u. führen zu den »heiteren Regionen, / Wo die reinen Formen wohnen«, zur Darstellung des Ideals, dem »Uebertritt des Menschen in den Gott« (an Wilhelm von Humboldt, 30.11.1795). Die »sentimentalische Operation« des modernen Dichters (Ueber naive und sentimentalische Dichtung) bildet auch den Hintergrund der Gedichte Die Worte des Glaubens (1798) u. Die Worte des Wahns (1800). Sie sprechen von moralischer Skepsis ebenso wie von Erkenntnis- u. Sprachzweifel, um am Ende zu demonstrieren, dass die Worte des Glaubens nicht draußen existieren, sondern im Menschen, wo sie auch ständig hervorgebracht werden. Obwohl die Lyrikproduktion nach der Arbeit am Wallenstein zugunsten der dramat. Gattung zurücktrat, entstanden noch Gedichte wie Thekla (1802), Sehnsucht (1803), Der Pilgrim (1803) u. Das Siegesfest (1804). S.s Gedichte sind Mischformen, in denen sich nicht nur wie in den Balladen auf engstem Raum epische, lyr. u. dramat. Elemente verbinden, sondern die sinnl. Rede immer auch gnomische, gedankl. Funktion besitzt.
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KLASSISCHE DRAMEN Selbst während seiner intensiven Beschäftigung mit Geschichte u. Philosophie drängte es S. immer wieder zur Dichtung zurück. Bereits am 25.5.1792 berichtete er Körner: »Ich bin voller Ungeduld, etwas poetisches vor die Hand zu nehmen, besonders juckt mir die Feder nach dem Wallenstein.« Bis ins Detail finden sich Charaktereigenschaften Wallensteins (Großzügigkeit, Prunksucht, Glauben an Astrologie, Lärmempfindlichkeit) aus seiner Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs im Drama wieder. Allerdings werden hier die finsteren saturnischen Züge der Historiografie nicht zuletzt durch die erfundene Figur des Max Piccolomini aufgehellt, den Wallenstein später als die Verkörperung seiner Jugend, als das Schöne in seinem Leben (Wallensteins Tod, V,3) preist. Von der Basis der Soldateska aus wird im Lager u. in den Piccolomini Wallensteins Macht beschrieben. Die Abhängigkeit der Soldaten u. Offiziere von ihm ist stark, aber im Spektrum der Meinungen werden auch Gegenpositionen sichtbar (Lager: Bauern, erster Arkebusier, Kapuzinerpater; Piccolomini: v. a. Octavio, auch Max, Thekla, die Herzogin): Die Welt des Kriegs verhindert die Heimkehr ins Leben, »in die Menschlichkeit« (Piccolomini, I,4), der Wehrstand wird zur Bedrohung des Nährstandes, der Bauern u. Bürger. S. problematisiert die Alternative von »Gewalt ausüben oder leiden«, von militärischer u. bürgerl. Existenzform, Krieg u. Frieden, traditionaler u. charismat. Herrschaft. Das Urteil aus der Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs trifft auch für die Trilogie zu: »so fiel Wallenstein, nicht weil er Rebell war, sondern er rebellierte, weil er fiel.« Bis zuletzt zögert er mit dem offenen Abfall vom Kaiser, was S. durch die Traditionsgebundenheit Wallensteins u. seine durch die Regensburger Absetzung bedingte Unsicherheit motiviert (Tod, I,4; III,3). Erst Gräfin Terzky gelingt es, Wallenstein seine Skrupel in Sachen »Pflicht und Recht« auszureden. Als er schließlich handelt, haben die Ereignisse (von seinem vermeintl. Freund Octavio u. seiner Nemesis, dem General Buttler, befördert) bereits gegen ihn entschieden. Die Nebenpersonen signalisieren die vielen potentiellen Rollen u. Ei-
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genschaften Wallensteins: sein Machtstreben u. seine Herrschaftsträume (Illo, Terzky, Gräfin Terzky), die Loyalität zur traditionalen Herrschaft (Gordon, Herzogin), die idealen Aspekte des Daseins u. die nationalen Friedens- u. Einheitswünsche (Max). Erscheint Wallenstein im Lager noch ausschließlich als Held der Fortuna, in Piccolomini u. Tod wird ein anderer sichtbar, einer, der außerdem Sicherheit vor der »Fremde des Lebens« sucht. Als er den verlorenen Kampf aufnimmt, nähert er sich bewusst oder unbewusst Max an, der, bevor er den Tod in der Schlacht sucht, verkündet: »Nicht / Das Große, nur das Menschliche geschehe« (Tod, V. 2327 f.). Deshalb meinte wohl auch Goethe am 18.3.1799 in einem Brief, dass im letzten Teil der Trilogie »das Historische selbst [...] nur ein leichter Schleier« sei, »wodurch das Reinmenschliche durchblicke«. Gegen das Diktum Hegels, dass am Ende »das Reich des Nichts, des Todes [...] den Sieg« behalte, lässt sich sagen, dass S. bei aller Komplexität des Historisch-Faktischen am Ende die Geschichte bewusst idealisiert, d. h. ihr einen »Ideenschwung« gegeben hat. An seinem dramat. Meisterwerk arbeitete S. 1796–1799 (Urauff. in Weimar: Lager, 12.10.1798. Piccolomini, 30.1.1799. Tod, 20.4.1799). Spiegelte S. im Wallenstein die histor. Wirklichkeit u. den Charakter der polit. Akteure differenziert u. realitätsgetreu, verstärkte er in seinen nächsten Dramen den poetisch-fiktionalen Einsatz. Der Weg führte »vom historischen zum poetischen Drama« (Storz, Koopmann), zu »Tragödie und Festspiel« (Benno von Wiese), zu einer neuen Form, in der er nicht nur die »Euripideische Methode« fortsetzen, sondern »der Phantasie eine Freiheit über die Geschichte« verschaffen wollte (an Goethe, 19.7.1799). Er griff 1799 den alten Plan einer Maria Stuart auf u. beendete das Trauerspiel bereits am 9.6.1800 (Urauff. Weimar, 14.6.1800). Im Gegensatz zu Wallenstein ist die dramat. Handlung streng gegliedert. Der Akzent liegt nach dem klass. Bauprinzip auf den Akten, die jeweils den beiden Kontrahentinnen Maria (I,V) u. Elisabeth (II, IV) zugeordnet sind, wobei die entscheidende Konfrontation mit der Peripetie im mittleren Akt (III) stattfindet. Nicht
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nur verlegte S. im Streit der Königinnen das Politische in das Private u. Persönliche, sondern das Private u. Persönliche schlägt auch wieder in das Politische um. Wie schon im Wallenstein u. später in dem Fragment Demetrius interessierten S. in Maria Stuart die Problematik von legitimer u. charismat. Herrschaft u. das Verhältnis von Amt u. Charakter. Je mehr Maria im Lauf der Handlung an innerer Freiheit gewinnt (V,7,8), desto mehr verliert Elisabeth in moralischer u. menschl. Hinsicht (V,14,15). Mit der »romantischen Tragödie« Die Jungfrau von Orleans (Urauff. Lpz., 11.9.1801) setzte S. die Stücke »von einer hohen rührenden Gattung« (über Goethes Natürliche Tochter an Iffland, 22.4.1803) fort. Die Idealisierung oder Poetisierung des Historischen zeigt sich in der Verstärkung der legendären, metaphys. Elemente des Stoffs, worin auch das Missverhältnis von Idee u. Wirklichkeit Ausdruck findet. Während Thibaut an seiner Tochter Johanna die Herzenskälte rügt (Prolog, 2), wird ihr gerade das Gefühl, die Liebe zu Lionel, zum Verhängnis. Ihr hoher Auftrag, die göttl. Sendung zur polit. Rettung Frankreichs, wird in ihrem Bewusstsein durch »dieses einzige Gefühl« (IV,2) der Liebe verdrängt. Zwar schweigt sie, als sie der eigene Vater öffentlich der Zauberei verdächtigt (IV,11), aber sie zerreißt ihre äußeren u. inneren Ketten (V,11), sobald sie hört, dass der König in Gefahr ist. Sie überwindet ihre privaten Gefühle u. opfert sich für den höheren Auftrag (Prolog, 4), an den von Anfang an das Liebesverbot geknüpft war (v. 411 ff.). Mit der Braut von Messina (Urauff. Weimar, 19.3.1803), dem »Trauerspiel mit Chören«, das S. 1802 begann, entfernte er sich ganz von der Geschichte u. erfand seinen eigenen Stoff. Er legte ihn allerdings so an, dass er der intendierten klass. tragischen Dramaturgie (Sophokles) entgegenkam. Von der dramaturgischen Komposition her muss aber der behauptete »kleine Wettstreit mit den alten Tragikern« (an Iffland, 22.3.1803) dahin ergänzt werden, dass in den »Streit der feindlichen Brüder«, Don Manuel u. Don Cesar, um Beatrice (die in Wirklichkeit beider Schwester ist) durchaus von Shakespeare inspirierte zeitgenöss. Elemente der Schick-
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salstragödie eingegangen sind. Auch in der Behandlung des Chors hob S. sein Stück deutlich von der alten Tragödie ab. Folgte dort der Chor »aus der poetischen Gestalt des wirklichen Lebens«, so wird er in der »neuen Tragödie [...] zu einem Kunstorgan; er hilft die Poesie h er vo rb rin gen « (Vorwort: Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie). Trotz der stilisierenden »Idealisierkunst« u. der Kampfansage an den »Naturalism in der Kunst« weisen Handlung u. die maßgebl. Charaktere auf die geografischen u. histor. Gegebenheiten des mittelalterl. Messina zurück. Hier kam es auch zu einer natürl. Vermischung der drei »Mythologien« (antiker, christlicher u. mohammedanischer). S. benutzte sie gewissermaßen als »Kostüme« (an Körner, 10.3.1803) für die sinnl. Darstellung der »Idee eines Göttlichen« (Über den Gebrauch des Chors). Don Cesar, der den Mord an seinem Bruder am Ende sühnt, will damit den Fluch, der über dem Haus lastet (v. 2796 ff.), lösen. Der Tod wird hier als ein »mächtiger Vermittler« apostrophiert, der Hass versöhnt u. »schönes Mitleid« erzeugt (v. 2702 ff.). Ob freilich die angedeutete Problematik in den beiden Schlussversen des Chors eine gültige Maxime (»Das Leben ist der Güter höchstes n ic ht , / Der Übel größtes aber ist die Sc h u ld«) findet, mag bezweifelt werden. S.s letztes Werk, das er abschließen konnte, führte wieder, allerdings vor dem Hintergrund von Legende u. Idylle, in die Geschichte zurück. War in der Wallenstein-Trilogie (wie im zeitgenöss. Beispiel der Französischen Revolution) die polit. Regeneration nur ein »schöner philosophischer Traum« (an Herzog Friedrich Christian, 13.7.1793) geblieben, im Wilhelm Tell (Urauff. Weimar, 17.3.1804) vergegenwärtigte ihn S. in der Idylle. Deshalb geht es im Tell weniger um die Darstellung von Charakteren als von Denkungsarten. Die patriotisch gesinnte Berta von Bruneck bemüht sich um die »Veredlung« der Denkungsart von Rudenz; aus einem »unfreien« Fürstenknecht wird ein Parteigänger der Schweizer Freiheit. Auch der Selbsthelfer Tell, dem schließlich der polit. Aufstand den Sieg verdankt, muss seine Denkungsart, die naive Empfindungsweise aufgeben. Mit diesem »Mangel an Besin-
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nung« (Ueber naive und sentimentalische Dichtung) kann er in der »verderbten Welt« nicht bestehen. Geßlers unmenschl. »Wagstück« (III,3) macht aus dem Träumer einen Besonnenen. Führt er bereits den Apfelschuss erst nach längerem Überlegen aus, im Monolog vor der Ermordung des Tyrannen (IV,3) reflektiert er sogar über die Veränderung der Denkungsart. Aus dem unschuldigen Sohn der Natur ist ein »gewitzter« u. »listiger« Selbsthelfer geworden. Er tötet nicht im Affekt, sondern im vollen Bewusstsein der Notwendigkeit seiner Tat. Das unterscheidet ihn auch vom Kaisermörder Johannes Parricida. Tells Schluss führt zu einer idyllischen Harmonie, in der sich die Stände in der Idee menschl. Freiheit ebenso vereinigen wie der individuelle Held u. die Gesamtheit der Nation. Von den vielen Dramenprojekten u. -fragmenten, mit denen sich S. von 1786 bis zu seinem Tod beschäftigt hat (z. B. Der versöhnte Menschenfeind, Warbeck, Die Malteser, Die Polizei, Die Kinder des Hauses, Die Prinzessin von Celle), hätte er gewiss den Demetrius vollendet. An dieser »Tragödie einer historischen Krisenzeit« (Martini) mit einer vermutlich neuen geschichtsphilosophischen Konzeption hat er bis zuletzt gearbeitet. Das Verhältnis von Legitimität u. Herrschaft sollte auf psychologisch differenzierte Weise an den histor. Gestalten des falschen (Demetrius) u. des echten Zaren (Romanow) dargestellt werden.
WIRKUNG Mit S.s Tod war für Goethe eine Epoche abgeschlossen, die »nicht wiederkommt«, aber dennoch »fortwirkt« (an Knebel, 24.12.1824). Wurde S., sieht man von Novalis u. Zacharias Werner einmal ab, von den Romantikern reserviert bis kritisch beurteilt, seine Wirkung u. Popularität begann sich in demselben Ausmaß zu verbreiten, wie die Goethes abnahm. Mit Resignation äußerte dieser gegenüber Eckermann (4.1.1824), dass S., der weit mehr ein Aristokrat war als er, im Gegensatz zu ihm »als besonderer Freund des Volkes« gelte. Riemer bemerkte gar 1841: »Schiller [...] ist der Abgott der Jugend, der Liebling der Frauen, das Orakel der Alten, die Begeisterung des Kriegers in Schlachten und
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Erstürmungen, die Devise und der Weltspruch der debattierenden Republikaner.« Trotz krit. Ansätze bei Tieck, Friedrich Schlegel (»Schiller ist ein rhetorischer Sentimentalist voll polemischer Heftigkeit, aber ohne Selbständigkeit«) u. bei den Jungdeutschen Börne, Wienbarg u. Gutzkow wurde die S.-Rezeption immer mehr zu einem Politikum, zu einem nationalen Fetisch. Bereits während der Befreiungskriege diente S., wie auch Grabbes Napoleon oder die Hundert Tage dokumentiert (IV,5), als Kronzeuge der nationalen Begeisterung. Höhepunkte dieser Inbesitznahme S.s waren im 19. Jh. das Stuttgarter Schillerfest 1839 u. die vielen Schillerfeiern 1859. Wolfgang Menzels Literaturgeschichte (1828) u. Paul Pfizers Briefwechsel zweier Deutschen (1831) stimmten bereits den hymn. Ton an, der sich in vielen Darstellungen u. Reden von Robert Blum, Laube bis hin zu Gutzkows Festspruch (am 9.11.1859 zum Dresdener Schillerfest vorgetragen) stereotyp wiederholte. Wenn Berthold Auerbach erklärte: »Schiller ist und bleibt der Fahnenruf zur schönen Menschlichkeit, zur deutschen Brüderlichkeit und nationalen Kraft«, so warnte Grillparzer davor, S. als Vorwand zu missbrauchen »für weiß Gott! was für politische und staatliche Ideen«. Die polit. Ideologisierung S.s reicht vom 19. ins 20. Jh. Ihre Höhepunkte sind durch die nationalistischen Bewegungen von 1815, 1849 u. 1933 markiert, was nicht ausschließt, dass S. im 19. wie im 20. Jh. gleichermaßen von Konservativen u. Liberalen, Monarchisten u. Republikanern, Reaktionären u. Sozialisten, Weltbürgern u. Chauvinisten als Kronzeuge reklamiert wurde. Im »Dritten Reich« zeigte nicht zuletzt das Aufführungsverbot des Tell (am 3.6.1941), dass sich S.s Werk gegenüber der dogmat. Ideologie auch als widerspenstig erwies. Nach 1945 gab es zeitweilig einen zweigeteilten S. (einen bürgerlichen u. einen marxistischen), der aber seit 1959 durch gediegene literaturwissenschaftl. Bemühungen in West u. Ost langsam wieder vereinigt wurde. In seinem Versuch über Schiller (1955) sprach Thomas Mann von S.s »persönlichem Theateridiom«, dem »glänzendsten, rhetorisch
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packendsten, das im Deutschen und vielleicht in der Welt je erfunden worden, eine Mischung von Reflexion und Affekt, des dramatischen Geistes so voll, dass es schwer ist seither, von der Bühne zu reden, ohne zu ›schillerisieren‹«. Nicht umsonst galt das »Schillerisieren« schon im 19. Jh. von Büchner, Hebbel, Otto Ludwig bis hin zu Lassalle, Marx u. Engels als eine der beiden dramat. Hauptstilarten (die andere wurde mit Shakespeare u. Goethe signalisiert), der man sich je nach der ideologisch-ästhetischen Einstellung entweder verschrieb (wie Lassalle mit Franz von Sickingen im 19. u. Hochhuth mit dem Stellvertreter im 20. Jh.) oder von der man sich abwandte (wie Büchner im 19. u. Brecht im 20. Jh.). Als Dramatiker hat S. nie aufgehört, Regisseure u. Schauspieler herauszufordern. Seine Dichtung strahlte nicht nur auf andere Länder (England, Frankreich, Italien u. vor allem Russland), sondern auch auf die anderen Künste (Oper, Lied, Malerei, Skulptur) aus. Mit seinen philosophischen Arbeiten beeinflusste er (u. sei es auch im krit. Widerspruch) von Wilhelm von Humboldt, Hegel, Hölderlin, Novalis, Friedrich Schlegel, Nietzsche über Brecht, Lukács u. Marcuse bis in unsere Tage die ästhetische Diskussion. Ausgaben: Sämtl. Schr.en. Hist.-krit. Ausg. Hg. Karl Goedeke. 15 Bde. in 17 Tln., Stgt. 1867–76. – Briefe. Krit. Gesamtausg. Hg. Fritz Jonas. 7 Bde., Stgt./Lpz./Bln./Wien 1892–96. – Werke. Hg. Ludwig Bellermann. Kritisch durchges. u. erläuterte Ausg. 14 Bde., Lpz. 1895–97. 15 Bde., 21919–22. – Sämtl. Werke. Säkular-Ausg. Hg. Eduard v. der Hellen. 16 Bde., Stgt. 1904/1905. – Werke. Nationalausg. Begr. v. Julius Petersen, fortgeführt v. Lieselotte Blumenthal u. Benno v. Wiese. Hg. Norbert Oellers u. Siegfried Seidel. Bde. 1 ff., Weimar 1943 ff. – Sämtl. Werke. Hg. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert. 5 Bde., Mchn. 1958/59. – Sämtl. Werke. Textredaktion Jost Perfahl. Einl. B. v. Wiese. Kommentar Helmut Koopmann. 5 Bde., Mchn. 1968. – Sämtl. Werke. Hg. Hans G. Thalheim u. a. 10 Bde., Bln./DDR 1980 ff. – Werke u. Briefe in zwölf Bdn. Hg. Otto Dann, Heinz Gerd Ingenkamp u. a. Ffm. 1988–2004. – Sämtl. Werke. Auf Grund der Texted. v. Herbert G. Göpfert u. a. hg. v. Peter-André Alt, Albert Meier u. Wolfgang Riedel. 5 Bde., Mchn. 2004. Literatur: Bibliografien: S.-Bibliogr. Unter Benutzung der Trömelschen S.-Bibl. (1865). Hg.
Schiller Herbert Marcuse. Bln. 1925. Neudr. Hildesh. 1971. – S.-Bibliogr. 1781–1892. Bearb. Max Koch. In: Goedeke, Bd. 5, S. 97–237. – S.-Bibliogr. 1893–1958: Bearb. Wolfgang Vulpius. Weimar 1959. 1959–63: Bearb. ders. Bln./DDR 1967. 1964–74: Bearb. Peter Wersig. Ebd. 1977. 1975–85: Bearb. Roland Bärwinkel u. a. Ebd. 1989. – S.-Bibliogr. [...] im JbDSG. Bis 1962 v. Paul Raabe u. Ingrid Bode, seit 1974 v. I. Hannich-Bode, 1962–1998 in JbDSG, Bde. 10, 14, 18, 23, 27, 31, 35, 39, 43; seit 2000 v. Eva Dambacher (teilweise unter Mitwirkung v. Hermann Moens), 1999–2006: Bde. 44, 45, 46, 47, 48, 49, 50; seit 2007 v. Nicolai Riedel (teilweise unter Mitwirkung v. H. Moens), 2007–2009: Bde. 51, 52, 53, 54. – Forschungsberichte: Walter Müller-Seidel: Zum gegenwärtigen Stand der S.-Forsch. In: DU 4 (1952), H. 5, S. 97–115. – B. v. Wiese: S.-Forsch. u. S.Deutung v. 1937–53. In: DVjs 27 (1953), S. 452–483. – Kurt Vancsa: Die Ernte der S.-Jahre 1955–59. Ein Literaturber. In: ZfdPh 79 (1961), S. 422–442. – Wolfgang Paulsen: F. S. 1955–59. Ein Literaturber. In: JbDSG 6 (1962), S. 369–464. – Wolfgang Wittkowski: F. S. 1962–65. Ein Literaturber. In: ebd. 10 (1966), S. 414–464. – Helmut Koopmann: F. S. 2 Bde., Stgt. 1966. 21977. – Klaus L. Berghahn: Ästhetik u. Politik im Werk S.s. Zur jüngsten Forsch. In: Monatshefte 66 (1974), S. 401–421. – H. Koopmann: S.-Forsch. 1970–80. Marbach 1982. – H. Koopmann: Forschungsgesch. In: S.-Hdb. Hg. ders. Stgt. 1998, S. 809–932. – Dokumentationen und Sammelwerke: Julius W. Braun (Hg.): S. u. Goethe im Urtheile ihrer Zeitgenossen. Abt. 1: S. 3 Bde., Lpz. 1882. – S.s Persönlichkeit. Urtheile der Zeitgenossen u. Documente. Ges. v. Max Hecker u. J. Petersen. Weimar 1904–1909. – Bernhard Zeller (Hg.): S. Reden im Gedenkjahr 1955. Stgt. 1955. – Oscar Fambach (Hg.): S. u. sein Kreis in der Kritik ihrer Zeit. Bln./DDR 1957. – Gero v. Wilpert: S.-Chronik. Stgt. 1958. – B. Zeller (Hg.): S. Reden im Gedenkjahr 1959. Stgt. 1961. – Flodoard Frhr. v. Biedermann (Hg.): S.s Gespräche. Mchn. 1961. 21974. – Bodo Lecke (Hg.): Dichter über Dichtungen. F. S. 2 Bde., Mchn. 1969/70. – Norbert Oellers (Hg.): S. [...]. Dokumente zur Wirkungsgesch. S.s in Dtschld. Bd. 1, Ffm. 1970. Bd. 2, Mchn. 1976. – K. L. Berghahn u. Reinhold Grimm (Hg.): S. Zur Theorie u. Praxis der Dramen. Darmst. 1972. – S. Leben u. Werk in Daten u. Bildern. Ausgew. u. erl. v. B. Zeller u. Walter Scheffler. Ffm. 1977. – Walter Hinderer (Hg.): S.s Dramen. Neue Interpr.en. Stgt. 1979. 21983 (mit ausführl. Bibliogr.). 1992 (stark veränderte Neuaufl.). – W. Wittkowski (Hg.): F. S. Kunst, Humanität u. Politik in der späten Aufklärung. Tüb. 1982. – HansDietrich Dahnke u. Bernd Leistner (Hg.): S. Das
Schiller dramat. Werk in Einzelinterpr.en. Lpz. 1982. – Schau-Bühne. S.s Dramen 1945–84. Ausstellungskat. Bearb. Hans-Dieter Mück u. Helmut Grosse. Marbach 1984. – Helmut Brandt (Hg.): F. S. Angebot u. Diskurs [...]. Bln./Weimar 1987. – Achim Aurnhammer, Klaus Manger u. Friedrich Strack (Hg.): S. u. die höf. Welt. Tüb. 1990. – N. Oellers (Hg.): S. Aspekte neuer Forsch. Bln. 1990. – Otto Dann, N. Oellers u. Ernst Osterkamp (Hg.): S. als Historiker. Stgt./Weimar 1995. – N. Oellers: F. S. Zur Modernität eines Klassikers. Ffm./Lpz. 1996. – Hans-Jörg Knobloch u. H. Koopmann (Hg.): S. heute. Tüb. 1996. – N. Oellers (Hg.): Gedichte v. F. S. Interpr.en. Stgt. 1996. – H. Koopmann (Hg.): S.Hdb. Stgt. 1998. – Axel Gellhaus u. N. Oellers (Hg.): S. Bilder u. Texte zu seinem Leben. Köln/Weimar/ Wien 1999. – Steven D. Martinson (Hg.): A Companion to the Works of F. S. Rochester/Woodbridge 2005. – Günter Saße (Hg.): S. Werk-Interpr.en. Heidelb. 2005. – W. Hinderer (Hg.): F. S u. der Weg in die Moderne. Würzb. 2006. – K. Manger (Hg.): Der ganze S. – Programmästhet. Erziehung. Heidelb. 2006. – Paolo Chiarini u. W. Hinderer (Hg.): S. u. die Antike. Würzb. 2008. – Einführungen: Friedrich Burschell: S. [...]. Reinb. 1958 u. ö. – H. Koopmann: S. Eine Einf. Mchn./Zürich 1988. – Gert Ueding: F. S. Mchn. 1990. – Peter-André Alt: F. S. Mchn. 2004. – Kurt Wölfel: F. S. Mchn. 2004. – Gesamtdarstellungen und Monographien: Jakob Minor: S. 2 Bde., Bln. 1890. – Kurt Berger: S. 2 Bde., Mchn. 1905. – Fritz Strich: S. Lpz. 1912. Bln. 1928. – Paul Böckmann: S.s Geisteshaltung als Bedingung seines dramat. Schaffens. Dortm. 1925. – Hermann Schneider: Vom Wallenstein zum Demetrius. Stgt. 1933. – Herbert Cysarz: S. Halle 1934. – Reinhard Buchwald: S. 2 Bde., Lpz. 1937. Ffm. 1966. – Ernst Ludwig Stahl: F. S.s Drama. Oxford 1945. – Kurt May: S. Idee u. Wirklichkeit im Drama. Gött. 1948. – Melitta Gerhard: S. Bern 1950. – B. v. Wiese: S. Stgt. 1959 u. ö. – Gerhard Storz: Der Dichter F. S. Stgt. 1959. – Ronald D. Miller: The Drama of S. Harrogate 1963. – Werner Keller: Das Pathos in S.s Jugendlyrik. Bln. 1964. – Gerhard Kaiser: Vergötterung u. Tod. Stgt. 1967. – N. Oellers: S. Gesch. seiner Wirkung bis zu Goethes Tod, 1805–32. Bonn 1967. – Emil Staiger: S. Zürich 1967. – Henry B. Garland: S. The Dramatic Writer. Oxford 1969. – K. L. Berghahn: Formen der Dialogführung in S.s klass. Dramen. Münster 1970. – Gert Sautermeister: Idyllik u. Dramatik im Werk F. S.s. Stgt. u. a. 1971. – G. Ueding: S.s Rhetorik. Tüb. 1971. – Dieter Borchmeyer: Tragödie u. Öffentlichkeit. S.s Dramaturgie [...]. Mchn. 1973. – Ilse Graham: S., ein Meister der trag. Form. Darmst. 1974. – Victor Hell: S.s Théories esthétiques et structures dramatiques. Paris 1974. – Paul Steck: S. u. Shakespeare.
352 Ffm. 1977. – Herbert Kraft: Um S. betrogen. Pfullingen 1978. – Georg Ruppelt: S. im nationalsozialist. Dtschld. Stgt. 1979. – Matthijs Jolles: Dichtkunst u. Lebenskunst. Studien zum Problem der Sprache bei F. S. Hg. Arthur Groos. Bonn 1980. – Eike Middell: F. S. Leben u. Werk. Lpz. 1980. – Jürgen Bolten: F. S. Poesie, Reflexion u. gesellschaftl. Selbstdeutung. Mchn. 1985. – Wolfgang Riedel: Die Anthropologie des jungen S. Würzb. 1985. – K. Berghahn: S. Ansichten eines Idealisten. Ffm. 1986. – D. Borchmeyer: Macht u. Melancholie. S.s ›Wallenstein‹. Ffm. 1988. – W. Riedel: ›Der Spaziergang‹. Ästhetik der Landschaft u. Geschichtsphilosophie der Natur bei S. Würzb. 1989. – Terence J. Reed: S. Oxford/New York 1991. – Lesley Sharpe: F. S. Drama, Thought, and Politics. Cambridge/New York 1991. – Karl S. Guthke: S.s Dramen. Idealismus u. Skepsis. Tüb./Basel 1994. – Steven D. Martinson: Harmonious Tensions. The Writing of F. S. Newark/London 1996. – HansJürgen Schings: Die Brüder des Marquis Posa. S. u. der Geheimbund der Illuminaten. Tüb. 1996. – W. Hinderer: Von der Idee des Menschen. Über F. S. Würzb. 1998. – P.-A. Alt: S. Leben – Werk – Zeit. 2 Bde., Mchn. 2000. – David Pugh: S.’s early dramas. A critical history. Rochester/Woodbridge 2000. – Götz-Lothar Darsow: F. S. Stgt./Weimar 2000. – Rüdiger Zymner: F. S. Dramen. Bln. 2002. – Michael Hofmann: S. Epoche – Werke – Wirkung. Mchn. 2003. – Lothar Pikulik: Der Dramatiker als Psychologe. Figur u. Zuschauer in S.s Dramen u. Dramentheorie. Paderb. 2004. – Rüdiger Safranski: S. oder Die Erfindung des Dt. Idealismus. Mchn./ Wien 2004. – Jeffrey L. High: S.s Revolutionskonzept u. die Frz. Revolution. Lewiston/Queenston/ Lampeter 2004. – N. Oellers: S. Elend der Gesch., Glanz der Kunst. Stgt. 2005. – Volker C. Dörr: S. Ffm. 2005. – W. Hinderer: S. u. kein Ende. Metamorphosen u. kreative Aneignungen. Würzb. 2009. – Walter Müller-Seidel: F. S. u. die Politik. Mchn. 2009. Walter Hinderer
Schiller, Jörg. – Zwischen 1452 u. 1463 in Augsburg bezeugter Verfasser von Meistertönen u. -liedern. S. dichtete wohl seit der Mitte des 15. Jh., spätestens seit 1470. Er war (vielleicht nur zeitweise) Fahrender, jedenfalls nicht wie viele Meistersinger ausschließlich sesshafter Handwerker im Hauptberuf u. daneben Gelegenheitsdichter, sondern wohl (auch dies vielleicht nur zeitweise) umherziehender Berufsdichter. In den Augsburger Steuerbü-
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chern ist 1452–1463 mehrfach eine gleichnamige Person belegt, einmal auch mit einem nur geringen Steuerbetrag. Zur Augsburger Heimat passen der ostschwäb. Sprachstand seiner Lieder u. die Nähe vieler Textzeugen zur Reichsstadt. Das Profil des literar. Werks entspricht der vermuteten sozialen Zwischenstellung S.s. So verwendet er im Unterschied zu vielen Gelegenheitsdichtern unter den sesshaften Meistersingern keine fremden Töne, sondern hebt sich durch das Erfinden eigener Töne als »Artist«/Berufsmeister ab. Sechs der Töne sind vorreformatorisch, einer (Süßer Ton) erst später bezeugt, aber alle gelten als echt. Nach Formtypus u. Verwendung lassen sich zwei für die Aufnahme mehrerer Lieder konzipierte Repertoiretöne (Hofton, Maienweise) von mindestens zwei (Reihen, Parat) u. eventuell noch zwei weiteren (Sanfter Ton, Thronweise) Sondertönen unterscheiden, von denen S. nur eingeschränkten Gebrauch gemacht hat. Das Melodieœuvre präsentiert sich somit markant zweigeteilt. Ein Dutzend der in diesen Tönen überlieferten Lieder kann sicher dem Tonautor S. zugewiesen werden, der in diesen seine Textautorschaft nahezu durchweg mit einer Autorsignatur gesichert hat. Hinzu kommen weitere 26 anonyme Lieder, deren fehlende Autorsignatur jedoch nicht »Unechtheit« bedeuten muss. Diese 38 Lieder sind zeittypisch mehrstrophig u. weisen fünf bis siebzehn, meist zwischen neun u. elf Strophen, einmal eine atypisch gerade Strophenzahl auf, nirgends die inzwischen wohl als veraltet betrachtete Dreizahl. Im Unterschied zur im engeren Sinne meistersingerischen Lieddichtung seiner Zeitgenossen sind anspruchsvoll geistl. u. repräsentative kunsttheoret./poetolog. Themen bei S. unterrepräsentiert. Weltliche Themen dominieren, wobei auffallend oft an die Erfahrungswelt des Stadtbürgers angeknüpft wird. Belege für eine städt. Indienststellung S.s fehlen jedoch wie überhaupt Zeugnisse gelungener Patronisierung bei einem Dienstherren. Die Texte zeigen eine von Untergangsstimmung geprägte Wahrnehmung der eigenen Gegenwart, die aus den Fugen zu geraten droht: Zeitklage überwiegt. Seine Aufgabe als Liederdichter hat S. vor allem
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darin gesehen, Missständen kritisch entgegen zu wirken. An der Funktion breitenwirksamen Mahnens wirkt seine dezidiert herausgestellte Selbstbeschreibung als Ungelehrter mit, dem artistisch hochstehende »kunst« nicht zweckdienlich erscheint. S.s Töne wurden häufig von anderen Autoren für eigene Texte benutzt; bereits vorreformatorisch sind ca. 20 Lieder von etwa einem Dutzend namentlich bekannter Dichter zu verzeichnen. Namhafteste Tonverwender sind die Nürnberger Hans Folz u. nachreformatorisch Hans Sachs, der mehrere Töne für Schwankerzählungen, selten für geistl. Themen heranzog. Die übrigen Verfasser stehen dem städt. Meistergesang eher fern. An ihren u. einigen weiteren anonymen Liedern fällt der häufigere chronolog. Bezug auf histor. Ereignisse u. topografische auf einzelne Städte (Ulm, Straßburg) auf, was die Texte erneut von der Liedproduktion für das Meistersinger-Gemerk absetzt. Neben das histor. Ereignislied u. das Städtelob treten insbes. Schwanklieder. Zusätzliche Distanz zum Gemerk schafft die weite Verbreitung von Liedern in S.-Tönen in über einem halben Hundert Drucken, dies zweifellos Nachhall einer auf städt. »Publizität« ausgerichteten Autorpoetik. Die Identifizierung S.s mit einem in Meistersingerkatalogen genannten »Haincz Schüler« ist fraglich. Ausgaben: Eine krit. Ausgabe fehlt. Nahezu alle Lieder von gesicherter Autorschaft sind jedoch abgedruckt bei Thomas Cramer: Die kleineren Liederdichter. Bd. 3, S. 189–253 (App. S. 555–560). Alles Weitere ist nur verstreut ediert. Vgl. dazu die Übersicht in Bd. 2 von Schanze (s. u.) u. die Einzelnachweise im RSM (s. u.) sowie für die namentlich bekannten Fremdtonverwender die entsprechenden Artikel im RSM. Literatur: Hans-Martin Junghans: Studien zum Meistersinger J. S. Diss. Greifsw. 1931. – Frieder Schanze: Meisterliche Liedkunst zwischen Heinrich v. Mügeln u. Hans Sachs. Mchn. 1983/84, Bd. 1, S. 246–60, Bd. 2, S. 23–26. – Ders.: J. S. In: VL. – J. S. In: RSM, Bd. 5 (1991). Michael Baldzuhn
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Schiller, Josef, gen. Schiller-Seff, * 29.6. Schilling, Diebold, d.Ä., * um 1435/40 1846 Reichenberg, † 16.8.1897 Germania/ Hagenau, † 1485/86 Bern. – Verfasser von Pennsylvania; Grabstätte: ebd. – Arbei- Chroniken. terdichter u. Politiker. Nach dem frühen Tod des Vaters, eines armen Textilarbeiters, musste S. schon als Neunjähriger zum Familienunterhalt beitragen. Die hautnah erlebte Not der nordböhm. Industriearbeiter führte zu frühem polit. Engagement als Redner u. Vortragender (häufig eigener Gedichte, von denen Sklavenjoch eines der bekanntesten wurde). Mitbegründer u. Funktionär von Arbeitervereinen sowie Herausgeber bzw. Redakteur von Zeitschriften (u. a. »Die Brennessel«, »Sozial-politische Rundschau«, später »Der Radikale«, »Freigeist« etc.), geriet S. immer wieder in berufl. Schwierigkeiten u. wirtschaftl. Not. In den 1880er Jahren war er mehrfach inhaftiert (vgl. seine Bilder aus der Gefangenschaft. Reichenberg 1890). 1874 trat S. beim Gründungsparteitag der österr. Sozialdemokraten in Neudörfl u. 1879/80 in deren Zentralleitung (damals in Reichenberg) bes. hervor. 1882/83 schloss er sich dem radikalen Flügel der nordböhm. Arbeiterpartei an. Nach Konflikten mit der Reichenberger Parteileitung wanderte er 1896 in die USA aus. Die Prosa des frühen Vorkämpfers der Sozialdemokratie in Österreich-Ungarn, häufig autobiografisch, steht zwischen Erzählung u. Reportage; seine äußerst populären Gedichte sind mitunter lehrhaft-sentenzenartig, nicht ohne Humor, oft aufrüttelnd-kämpferisch, mit balladenhaften Zügen (Der Weichensteller), das Elend des Arbeiterlebens in dichten Bildern widerspiegelnd. Ausgaben: Ges. Werke. Hg. Paul Reimann. Reichenberg 1928 (mit biogr. Vorw.). – Schiller Seff: Gedichte u. ausgew. Texte v. J. S. (1846–1897), genannt Schiller Seff, nordböhm. Arbeiterdichter, Freidenker u. libertärer Sozialist. Hg. Heiner Jestrabek. Heidenheim 2002. Literatur: Emil Strauß: Die Entstehung der dt.böhm. Arbeiterbewegung. Prag 1925. – Paul Reimann: S. Seff u. die Anfänge der dt.-böhm. Arbeiterbewegung. In: Ders.: Von Herder zu Kisch. Bln. 1961, S. 53 ff. – Jirˇí Korˇ alka: J. S. ÖBL. Elisabeth Lebensaft / Red.
In seinen Darstellungen der bernischen Geschichte bemüht sich S. darum, neben der Vergangenheit u. Gegenwart des Stadtstaats Bern auch die übrige Eidgenossenschaft ins Auge zu fassen; Abschriften u. Kompilationen seiner Chroniken haben denn auch Geschichtsinteresse u. Geschichtsbild eidgenöss. Eliten bis weit ins 16. Jh. hinein geprägt. S. entstammte einer Familie, die urspr. in Biel, später in Solothurn das Bürgerrecht besaß. Er erwarb um 1454/55 in der Werkstätte Diebold Laubers in Hagenau Kenntnisse der Buchproduktion, gelangte 1456 als KanzleiSubstitut nach Luzern, wo er mit dem Chronisten Hans Fründ zusammentraf, u. wirkte seit 1460 in der Berner Kanzlei, seit 1473 als Unter-, seit 1476 als Säckel- u. seit 1481 als Gerichtsschreiber. 1468 wurde er Mitgl. des bernischen Großen Rats; 1480 heiratete er Katharina, die Tochter des Venners Peter Baumgartner, gelangte zu bescheidenem Wohlstand (Hausbesitz) u. wurde mehrfach mit kleineren auswärtigen Missionen betraut. Als Mitgl. der adligen »Gesellschaft zum Narren und Distelzwang« (mehrmals Stubenschreiber, Seckel- u. Stubenmeister) nahm er nicht nur an den Feldzügen der Jahre 1468–76 teil (Waldshuterzug, Burgunderkriege), sondern wurde auch mit dem regen Geschichtsinteresse der adlig-patriz. Geschlechter des Stadtstaats konfrontiert. S.s außerhalb seiner Amtstätigkeit verfasstes chronikal. Schaffen umfasst fünf aufeinander bezogene Arbeiten: Am Anfang steht eine Berner Stadtchronik, die um 1468 in enger Zusammenarbeit mit Bendicht Tschachtlan (um 1470 selbst Initiator einer Bilderchronik) entstanden ist u. die von den Anfängen der Stadt bis zum Sundgauer- u. Waldshuterzug reicht. Bei seiner Arbeit stützte sich S. auf Konrad Justingers Berner Chronik, Hans Fründs Darstellung des Toggenburger Erbschaftskrieges u. eigene Erlebnisse. Das Original dieser Chronik ist verschollen; erhalten geblieben sind lediglich zwei Ausschreibungen, die sog. Obersimmentaler Chronik u. der Liebenau-Codex in Luzern. Als Fortsetzung
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seines Erstlings stellte S. in einer zweiten Chronik die Geschichte der Burgunderkriege dar (1468–1477), die sog. Kleine Burgunderchronik, deren Original ebenfalls verschollen ist, die aber Peter Molsheim als Vorlage zu seiner Freiburger Chronik über die Burgunderkriege diente. Als Überarbeitung u. Erweiterung dieser Zeitgeschichte verfasste S. in den Jahren 1481–84 als drittes Werk die sog. Große Burgunderchronik, in die er Aktenstücke, Volkslieder u. (anonyme) Illustrationen einfügte. Diese Fassung gelangte nach S.s Tod nach Zürich – sehr zum Missfallen der Berner Obrigkeit. Wahrscheinlich von den historisch interessierten Ratsmitgliedern in der »Gesellschaft zum Narren und Distelzwang« angeregt, finanziert u. wohl auch diskutiert wurde S.s viertes Werk, die dreibändige, reich illustrierte, auf Pergament geschriebene u. am 26.12.1483 dem Rat von Bern überreichte sog. Amtliche Chronik, bei der die Umstände der abschließenden Textredaktion, die Herkunft der Illustrationen u. die Auftragsverhältnisse bisher nicht restlos geklärt werden konnten. Bei S.s letzter Chronik, dem sog. Spiezer Schilling (nach dem langjährigen Aufbewahrungsort benannt) handelt es sich um eine reich illustrierte Stadtgeschichte, die als Auftragsarbeit für den Altschultheißen Rudolf von Erlach 1484/ 85 entstanden ist; sie stützt sich v. a. auf Justinger, Fründ u. Tschachtlan, stellt die Geschichte Berns von den Anfängen an dar u. endet abrupt 1460/65, vermutlich wegen S.s Tod. S.s Werk steht in der von Konrad Justinger geprägten bernischen Geschichtstradition u. damit im Umfeld der eidgenöss. u. oberrheinischen Chronistik des 14./15. Jh. Von Justinger, Fründ u. Tschachtlan übernimmt S. die Praxis, Aktenstücke u. Volkslieder im Wortlaut in den Chroniktext einzufügen; er verarbeitet eigene Erfahrungen u. Erlebnisse u. zieht die ihm in Rathaus u. Kanzlei zugängl. Informationen u. Archivalien in reichem Maße heran. Obwohl S. keine höheren Studien betrieben hat, sind seine Texte wegen ihrer Nähe zum Alltag ansprechend u. interessant. Mehrfach betont er in seinen Vorreden, sein Ziel sei es, mit der Darstellung des Vergangenen zur Belehrung künftiger Gene-
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rationen beizutragen; die Erinnerung solle helfen, Zukunft zu gestalten. Oft fügt er denn auch am Ende seiner Kapitel kurze moralische Sentenzen an. In den zeitgeschichtl. Partien seiner Chroniken bemüht sich S. immer wieder um eine Rechtfertigung der Politik des bernischen Rats u. ihrer Protagonisten (z.B. Niklaus von Diesbach); polit. Gegner (Karl der Kühne, Yolanda von Savoyen, Peter Hagenbach u. a.) werden zu Tyrannen u. Bösewichtern stilisiert. Obwohl ihm die Fähigkeit fehlt, komplexes Zeitgeschehen analytisch u. in einer Gesamtschau zu fassen (Darstellung des Twingherrenstreits oder Einschätzung der Rolle Ludwigs XI. im Krieg der Eidgenossen gegen Karl den Kühnen), ist S. als Zeitzeuge einer der wichtigsten Chronisten der Burgunderkriege, dessen Nachrichten sich größtenteils als zuverlässig erweisen. Ausgaben: Berner Chronik v. 1424–68. Hg. Theodor v. Liebenau u. Wolfgang Friedrich v. Mülinen. Bern 1893. – Freiburger Chronik der Burgunderkriege. Hg. Albert Büchi. Bern 1914. – Die Berner Chronik des D. S. 1468–84. Hg. Gustav Tobler. 2 Bde., Bern 1897 u. 1901. – Die grosse Burgunderchronik des D. S. v. Bern. Hg. Alfred A. Schmid (Faks. u. Komm.). Luzern 1985. – Berner Chronik. Hg. Hans Bloesch u. Paul Hilber (Faks.). 4 Bde., Bern 1943–45. – Spiezer Bilderchronik. Hg. Hans A. Haeberli u. Christoph v. Steiger (Faks. u. Komm.). Luzern 1990. Literatur: Richard Feller u. Edgar Bonjour: Geschichtsschreibung der Schweiz. Vom SpätMA zur Neuzeit. Bd. 1, Basel/Stgt. 21979, S. 21–26. – Ernst Walder: ›Von raeten u. burgern verhoert u. corrigiert‹. D. S.s drei Redaktionen der Berner Chronik der Burgunderkriege. in: Berner Ztschr. für Gesch. u. Heimatkunde 48 (1986), H. 3, S. 87–117. – Wilhelm Baum: D. S. d.Ä. In: VL. – Gerrit Himmelsbach: Die Renaissance des Krieges. Zürich 1999. – Urs Martin Zahnd: ›zu ewigen zitten angedenck‹. Einige Bemerkungen zu den bern. Stadtchroniken aus dem 15. Jh. In: Berns grosse Zeit. Das 15. Jh. neu entdeckt. Hg. Ellen J. Beer u. a. Bern 2003. – Norbert H. Ott: D. S. In: NDB. – Regula Schmid Keeling: Gesch. im Dienst der Stadt. Amtl. Historie u. Politik im SpätMA. Zürich 2009. Urs Martin Zahnd
Schilling
Schilling, Florentius, * 1602 Châtenois (Kestenholz/Elsass), † 4.5.1670 Wien. – Prediger des Barnabitenordens.
356 Ausgaben: Die erschröckliche Schlacht (1681). In: Predigten der Barockzeit. Texte u. Komm. Hg. Werner Welzig. Wien 1995, S. 27–38 (Text) u. 536–541 (Komm.). – Oesterreichischer Marggraff (1653). In: Ebd., S. 121–146 (Text) u. 566–582 (Komm.). – Minister inculpatus. Das ist: Schuldigste Leich- u. Ehren-Rede uber [...] Johann Frantzen Trauthson, Graffen zu Falckenstein [...]. Wien 1663. Internet-Ed.: HAB Wolfenbüttel. – Widerholt, u. vermehrte Amaradulcis. Oder Je länger, Je lieber, der Leich- u. Ehren-Predigten. Mchn./ Wien 1663. Internet-Ed.: Ebd.
S. war möglicherweise – 1617 als Syntaxschüler des Jesuitenkollegs Molsheim genannt – Kommilitone des gleichzeitig dort studierenden Jacob Balde SJ. Das Noviziat absolvierte S. in Rom, wo er nach der Profess 1629 als Prediger wirkte; auch Neapel ist als eine der frühen Wirkungsstätten bekannt. 1633 wurde er nach Wien berufen u. stellte Literatur: Bibliografien: Kat. gedr. deutschsprafortan in der der Habsburgerresidenz gegen- chiger kath. Predigtslg.en. Hg. W. Welzig. Bd. 1, über liegenden Stadtpfarrkirche zu St. Mi- Wien 1984, S. 75, 83, 108–110, 117 f., 131, 135 f., chael seine von den Zeitgenossen gerühmte 142 f., 149–151, 153; Bd. 2, ebd. 1987, S. 764. – VD Eloquenz unter Beweis. Der Zulauf war of- 17. – Weitere Titel: Franz M. Eybl: Predigt, Slg., fensichtlich lebhaft. S. hatte es nach eigener Literaturprogramm. Zu F. S.s Predigtslg. ›AmaraAussage mit »vil hochadeliche Cavalieri / dulcis‹ (1658). In: Gegenreformation u. Lit. [...]. Frawen unnd Fräulein / Graffen / Freyherrn / Hg. Jean-Marie Valentin. Amsterd. 1979, S. 299–346. – Elfriede Moser-Rath: Kleine Schr.en Ritter / Edelleuth / Doctorn / Soldaten / zur populären Lit. des Barock. Hg. Ulrich Marzolph Kauffleuth / Burger / Handtwercker / Reich u. a. Gött. 1994, Register. – Oratio Funebris: Die unnd Arm / Jung und Alt [...]« zu tun. kath. Leichenpredigt der frühen Neuzeit [...]. Hg. Außer zahlreichen Einzelpredigten brachte Birgit Boge u. a. Amsterd. u. a. 1999, Register (Tl. S. die Sammlung Amaradulcis oder Je länger, Je B). – Die Michaeler Gruft in Wien [...]. Hg. Alexlieber: Das ist: Lob-Predigten etlicher Heiligen andra Rainer. Wien 2005, S. 37–49. Elfriede Moser-Rath † / Red. (Wien 1658) zum Druck, bestehend aus Kanzelreden zu Ehren der Heiligen u. Leichpredigten »uber unterschiedliche Adels-PersoSchilling, Friedrich Gustav, auch: Zebenen«, vermehrt u. d. T. Catholisch Todten-Gerist däus Kuckuck, * 25.11.1766 Dresden, (Wien 1668); auch verstorbene Bürger waren † 30.7.1839 Dresden. – Romanautor, Erdarin angesprochen. Der letzte von S. selbst zähler. edierte Band erschien u. d. T. Geistliche Ehrnporten Mariae (Wien 1668). Um die Herausga- S. entstammte einer sächs. Beamtenfamilie, be weiterer Sammlungen von Sonn- u. Feier- besuchte die Fürstenschule zu Meißen, trat tagspredigten bemühte sich postum der Or- mit 15 Jahren in die sächs. Artillerie ein, erdensbruder Constantius Arzonni. Er konnte reichte den Hauptmannsrang u. nahm 1809 sich auf die Erfolge der zu Lebzeiten des seinen Abschied. Als Offizier beteiligte er sich an der Rückeroberung von Mainz (1793), Verfassers publizierten Konvolute berufen. S. gehört, wie etwa Michael Staudacher SJ, worüber er anschaulich u. kritisch-distanziert zu den Wegbereitern der kath. Kanzelbered- berichtet hat (Bagatellen aus dem zweiten Feldzug samkeit, die das Gedankengut der Gegenre- am Mittelrhein von Zebedäus Kuckuck [...]. Pirna formation populär machen sollte. Der von 1799). S. veröffentlichte etwa 200 Romane u. ErJosef Nadler angestellte Vergleich mit dem späteren, an Sprachgewalt u. Wortwitz un- zählungen. Sein erster großer Erfolg, der übertroffenen Abraham a Sancta Clara ist nur Liebes- u. Abenteuerroman Guido von Sohnsdom (4 Bde., Freiberg 1791–96), enthält schon bedingt berechtigt. Weitere Werke: Vorder-oesterreichische Landts- viele Themen u. Motive, die sein Gesamtwerk manschafft [...]. Wien 1655. – Gesegneter Mann. durchziehen: komplizierte LiebesbeziehunDas ist: Schuldige Lob-Rede uber das [...] Leben deß gen, zumeist mit glückl. Ende; Verklärung glorwürdigsten Patriarchen, u. Ordens-Stiffters weibl. Figuren durch Leidensweg u. Tod; Hofintrigen; Waisen, Findlinge u. VerwechsSanct Benedict [...]. Wien 1657.
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lungen; Doppelgänger; Standesunterschiede u. -konflikte. S.s Romane spiegeln ein weniger selbstbewusstes Bürgertum wider als die Werke seines Freundes Friedrich Laun. Einige Werke um die Jahrhundertwende (Die Reise nach dem Tode. Pirna 1800. Das Leben im Fegefeuer. Ebd. 1801) lassen S.s scharfes satir. Talent erkennen. Der zuweilen stark erotisch gefärbte satir. Ton verschwindet aber bald nach 1800, u. Texte dieser Art werden in der Ausgabe letzter Hand (Sämmtliche Schriften. 80 Bde., Dresden, Lpz. 1828–39) durch Auslassungen u. Veränderungen verharmlost (wie Die Reise nach dem Tode. Bd. 39, 1832). Trotz seiner anspruchslosen Thematik war sich S. der Rolle des Schriftstellers u. der Wechselwirkungen zwischen Publikum u. Autor bewusst, was er auf differenzierte Weise zum Ausdruck brachte, so z. B. in dem 1802 in Pirna erschienenen Werk Der Roman der Romane (2 Bde.) u. in Fehlschlüsse (in: Sämmtliche Schriften. Bd. 16, 1828). Von einer Wirkungsgeschichte dieses seinerzeit höchst erfolgreichen Schriftstellers kann keine Rede sein. Literatur: Robert Boxberger: F. G. S. In: ADB. – Manfred Heiderich: The German Novel of 1800. Bern 1982, S. 153–156, 208–211. – Werner Lauterbach. F. G. S. In: Mitt.en des Freiberger Altertumsvereins 85 (2000), S. 83–85.
trivialeren Produkten der sog. Ritterromantik ab. Mehrfach, wie im Beitrag Ueber das Predigen in Plattteutscher MundArt [...] (in: Allgemeiner litterarischer Anzeiger, 1800, Nr. 21), plädierte S. mit Nachdruck für eine Intensivierung der volkspädagog. Bemühungen auch zu Lasten öffentlich-repräsentativer Ausgaben. Gründliche literarhistor. Kenntnisse bewies er in der krit. Replik Suum cuique. Ist Friedr. Gli. Klopstock der erste Teutsche, welcher Teutsche Hexameter nach den Mustern der Alten machte? (ebd., Nr. 38), in der er mehrere Vorläufer namhaft machte. Von Talent zu subtiler Polemik zeugt sein fingiertes Sendschreiben eines alten Landpredigers [...] über symbolische Bücher in Bezug auf Menschen- und Staatsrecht (Ffm./Lpz. 1790). Darin wandte er sich gegen eine »scholastische«, doktrinär erstarrte Auslegung religiöser u. staatsrechtl. Texte. Nicolais Rezensionsorgane belieferte er regelmäßig, v. a. in den Sparten Belletristik u. Philologie. Weitere Werke: Versuch einer Übers. des Briefes Pauli an die Galater [...]. Ffm./Lpz. 1792. – Ueber den Zweck u. die Methode beym Lesen der griech. u. röm. Classiker. 2 Abschnitte, Hbg./Kiel 1795 u. 1797. – Ueber Verbesserung der Schulanstalten [...]. Stade 1800. Josef Morlo
Schilling-Ruckteschel, Rosina Dorothea, * 1.4.1670 Leupoldsgrün, † 1.12.1744 Stübach. – Moralpädagogische SchriftSchilling, Johann Georg, * 16.4.1759 Ru- stellerin, Dichterin, Herausgeberin. dolstadt, † 12.1.1838 Stade. – EvangeliDie Grundlagen ihrer autodidaktischen Bilscher Theologe, Philologe; Verfasser eines dung empfing S. im heimischen oberfränk. Ritterromans. Manfred Heiderich / Red.
Nach theolog. Studium in Jena u. Göttingen, Hauslehrertätigkeit in Rudolstadt u. Stade wurde S. 1786 Lehrer an der Königlichen Domschule in Bremen. 1794 wechselte er als Rektor an das Lyzeum in Verden. Nach 1815 auch Garnisonsprediger, war er zuletzt Konsistorialrat in Stade. Ein literar. Debüt gab S. mit dem histor. Roman Berthold von Urach. Eine wahre, deutsche, tragische Rittergeschichte aus den Zeiten des Mittelalters [...] (2 Bde., Lpz. 1787 u. 1789). Mit breiten Exkursen über die mittelalterl. Lebensverhältnisse u. einem umfängl. Anhang Ueber die Kreuzzüge [...] sticht das Werk von den
Pfarrhauszirkel. Kontrovers geschult – der Vater Georg Schilling (1636–1703) lutherisch-orthodox, die Mutter, Johanna Maria geb. Heim (1636–1722), reformiert – führte ihre Wahrheitssuche zum Pietismus. Auch S.s späterer Ehemann Johann Ruckteschel (1674–1722) war Pietist. Dieser nahm 1702, im Jahr seiner Ordination in Bayreuth, die Stelle eines Adjunkts im Pfarrhaus der Familie S. in Zell an. Im Folgejahr beugte sich das Paar den gesellschaftl. Zwängen u. trat in den Ehestand. Trotzdem blieb Keuschheit im Leben beider weiterhin ein zentrales Thema. Seit 1703 war Ruckteschel Diakon in Burgbernheim, 1714–1722 Pfarrer in Stübach.
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Nach ihres Mannes Tod lebte S.-R. fortan als Witwe. Ihre Loslösung von der Institution Kirche wurde von den Zeitgenossen u. der Pietismusforschung mit dem Etikett ›Separatismus‹ bestraft, was die Rezeption ihrer Texte stark beeinträchtigte. Seit 1925 werden überwiegend archival. Funde gehoben, hauptsächlich Briefe. Das gedruckte Werk der Moralpädagogin u. Dichterin ist wohl nur bruchstückhaft überliefert. Mit ihrer Verteidigungsschrift Das Weib auch ein wahrer Mensch gegen die unmenschlichen Lästerer weibl. Geschlechts (Hof 1697) greift die 27-jährige literar. Debütantin in eine fast ausschließlich von Männern in Schriftform geführte Debatte um Beschaffenheit, Wert u. Vorrang der Geschlechter ein. Sie erkennt bei Frauen die Gottebenbildlichkeit an, spricht ihnen aber moralische Gleichwertigkeit ab u. erinnert die Männer an die aus dem NT abgeleitete Pflicht, dem weibl. Geschlecht Ehre zu erweisen. Zu der von S. aufgeworfenen Frage des Menschseins von Frauen lag bis dahin nach heutigem Kenntnisstand keine selbstständige deutschsprachige Publikation einer anderen Autorin vor. S.s Widerspruchsgeist, ihr sendungsbewusstes Auftreten u. ihre unverblümte Ausdrucksweise mussten in einer Gesellschaft, die streng vorschrieb, ob überhaupt u. wann bürgerl. Frauen öffentlich reden u. lehren dürfen, Verblüffung u. Abwehr auslösen. Ehrlich u. lebensnah berichtet die Autorin von männl. Lästerzungen in Wort u. Schrift. In ihrer Gegenreaktion machte sie sich zum Sprachrohr verärgerter Frauen. Quellen, die im Kontext der frühneuzeitl. Querelle des sexes detaillierte Einblicke in Konfliktsituationen u. weibl. Problemlösungen ermöglichen, sind selten. Erst 2004 konnte der entstellt überlieferte Titel der Schrift bibliografisch verifiziert u. diese durch einen Reprint im »Archiv für philosophie- und theologiegeschichtliche Frauenforschung« besser bekannt gemacht werden. S.-R.s Hauptwerk ist die Eröffnete Correspondenz, eine in drei Folgen untergliederte Sammlung von größtenteils eigenen Briefen an zumeist anonymisierte Adressaten. Die Herausgeberin hat die Briefe für den Druck wohl nur minimal bearbeitet. Nach Ausweis
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des Vorworts zur Ausgabe von 1730 erschien der Band erstmals 1718 in Amsterdam u. wurde danach – zensiert – in Berlin u. Frankfurt (am Main?) nachgedruckt; Exemplare der früheren Ausgaben sind derzeit nicht ermittelbar. Die zutiefst spirituelle u. von ihrer Auserwähltheit überzeugte fränk. Pfarrerswitwe legt in den »Send-Schreiben« anlassbezogen Zeugnis davon ab, welche Glaubensinhalte für sie maßgebend sind. Der an Töchter u. Ehefrauen von Pfarrern herangetragenen Erwartung, moralisches Vorbild zu sein, entsprach S.-R. mit ihrer Moralkritik. Diese war gegen das Verhalten der breiten Masse u. die Gesetze u. Gepflogenheiten der Kirche gerichtet, womit sie gesellschaftl. u. kirchl. Toleranzgrenzen überschritt. Nur ein kleiner Teil der Gelegenheitsschriften von S.-R. ist heute noch auffindbar. Mutige Originalität beweist die Wahrheitsrigoristin mit der auf sich selbst verfassten Leichenpredigt. Damit protestiert sie gegen die kirchliche Heuchelei bei der Würdigung Verstorbener und verstößt hierdurch erneut gegen Konventionen. S.-R. artikuliert als eine der wenigen Autorinnen der Frühen Neuzeit punktuell Kritik am kirchl. System. Sie unterläuft in ihrer Autorinnenrolle das für ihr Geschlecht geltende Rollenschema u. weist damit Frauen einen Weg zu einem selbstbestimmteren Leben. Dank ihrer analyt. Fähigkeiten u. emotionalen Intelligenz erscheint S.-R. als eloquente Meinungsbildnerin, die über erstaunl. Literaturkenntnisse verfügt. Ihre biogr. Äußerungen lassen sie wiederum als praktisch veranlagte Frau aufscheinen. Da sie in einen Freundschaftskreis eingebunden ist u. an bedeutenden Verlagsorten publizieren kann, hat ihr Werk überregionale Ausstrahlung. S.-R. war nicht nur eine intellektuell eigenständige Pietistin u. eine religiös verfolgte Non-Konformistin, sondern auch eine wichtige Zeitzeugin. Daher sollten ihre Briefe u. Briefwechsel (August Hermann Francke, Johann Georg Gichtel, Johann Heinrich Hassel u. a.) so vollständig wie möglich ediert werden. Weitere Werke: Von der Hindin, die früh gejaget wird; Aus dem 22. Psalm zu einem AnbindCarmen durch ein Send-Schreiben übermachet an
359 Herrn Johann Ruckteschel. o. O [1705]. – Die sich selbst untereinander verurtheilende Gedancken bey Veranlassung des [...] Todes-Falls [...] Justinen Theodoren Reinelin. o. O. 1711. – Betrachtung der Zeit [...] bey Gelegenheit des seel. Hintritts Frauen Johanna Maria Schillingin [...]. o. O. [1715]. – Eröffnete Correspondenz derer Send-Schreiben. Frankf./Lpz. 1730 [Erscheinungsorte u. -jahr bibliografisch erschlossen] (Brief 1–5; Forts.: Brief 6–8). – Nach 1730 erschienene Sendschreiben sind z. T. als Separatdrucke überliefert; ein Sendschreiben ist derzeit nicht auffindbar. – Selbst gehaltene Leichen-Predigt [...] samt dem darzu gehörigen Send-Schreiben. o. O. [ca. 1734] (Andere Forts.: Brief 1). – Eröffnete Correspondenz derer SendSchreiben. Frankf./Lpz. [ca. 1734] (Andere Forts.: Brief 2–6). – Eröffnete Correspondenz derer SendSchreiben. Frankf./Lpz. 1738 (Andere Forts.: Brief 7–8). Literatur: Johann Caspar Wetzel: Analecta hymnica, das ist: Merckwürdige Nachlesen zur Lieder-Historie. Bd. 2, Gotha 1756, S. 761. – Georg Wolfgang Augustin Fikenscher: Gelehrtes Fürstenthum Baireut oder biogr. u. literar. Nachrichten v. allen Schriftstellern, welche in dem Fürstenthum Baireut geboren sind u. in oder ausser demselben gelebet haben u. noch leben in alphabet. Ordnung. Bd. 8, Nürnberg 1804, S. 53 f. – Paul Schaudig: Der Pietismus u. Separatismus im Aischgrund. Schwäbisch Gmünd 1925, S. XIII f., 72–79, 90–93, 102, 112 f. – Matthias Simon: Bayreuthisches Pfarrerbuch. Die evang.-luth. Geistlichkeit des Fürstentums Kulmbach-Bayreuth (1528/29–1810). Mchn. 1930/31, S. 269, 284. – Elisabeth Friedrichs: Literar. Lokalgrößen 1700–1900. Verz. der in regionalen Lexika u. Sammelwerken aufgeführten Schriftsteller. Stgt. 1967, S. 271. – Friedrich Wilhelm Kantzenbach: Die Schr.en der Pfarrfrau R. D. Ruckteschel als Quelle für die Gesch. des Pietismus. In: Archiv für Gesch. v. Oberfranken 57/58 (1978), S. 273–292 (Wiederabdruck in: Ders.: Theologie in Franken. 1988, S. 158–189). – E. Friedrichs: Die deutschsprachigen Schriftstellerinnen des 18. u. 19. Jh. Ein Lexikon. Stgt. 1981, S. 248. – Jean Muir Woods u. Maria Fürstenwald: Schriftstellerinnen, Künstlerinnen u. gelehrte Frauen des dt. Barock. Ein Lexikon. Stgt. 1984, S. 101. – Gertraud Zaepernick: Johann Georg Gichtels u. seiner Nachfolger Briefw. mit den Halleschen Pietisten, besonders mit A. M. Francke. In: PuN 8 (1982), S. 74–118, hier S. 117, Nr. 60, 63. – Horst Weigelt: Gesch. des Pietismus in Bayern. Anfänge – Entwicklung – Bedeutung. Gött. 2001, S. 39, 70, 162–166, 173–174, 226, 367–368. – R. D. S.-R. (1670–1744), vorgestellt anhand ihres Werkes ›Das Weib auch ein
Schiltberger wahrer Mensch gegen die unmenschlichen Lästerer Weibl. Geschlechts‹ (1697). Einf. zum Text v. Sabine Koloch, Komm. (mit einem Blick auf das 7. Sendschreiben) v. Elisabeth Gössmann (mit Reproduktionen aus den Werken). In: Weisheit – eine schöne Rose auf dem Dornenstrauche. Hg. E. Gössmann. Mchn. 2004, S. 291–456. – Dietrich Blaufuß: R. D. S.-R. Eine Separatistin im Pietismus? In: Der radikale Pietismus. Perspektiven der Forsch. Hg. Wolfgang Breul, Marcus Meier u. Lothar Vogel. Gött. 2010, S. 105–128 (darin im Anhang S. 123–128 die überschriftartigen Inhaltsangaben der Autorin zu den sechzehn Sendschreiben der ›Eröffneten Correspondenz‹, ausgenommen das nicht gefundene Sendschreiben Nr. 4 der Folge III). Sabine Koloch
Schiltberger, Hans, * um 1380. – Autor eines Reisebuchs. Die spärl. Nachrichten über S. entstammen fast ausschließlich seinem Bericht über seine Gefangenschaft. Spross eines bayerischen Adelsgeschlechts bei Freising, ließ sich S. 15jährig für den Zug König Sigmunds von Ungarn gegen die Türken anwerben, geriet in der Schlacht bei Nikopolis (25.9.1396), »kaum XVI jar alt«, in türk. Gefangenschaft u. fristete 31 Jahre lang sein Leben zunächst in türk. Diensten bei dem Sultan Bayezid I. (Kap. 2–14), später bei den Mongolen unter Timur, Khan von Kiptschak, u. seinen Nachfolgern (Kap. 14–29). Als S. beim dritten Versuch 1427 die Flucht über Konstantinopel gelang u. er etwa 49-jährig zurückkehrte, wurde er »ain Diener« bei Herzog Albrecht III., folgte diesem jedoch bei Regierungsantritt (1438) wohl nicht mehr nach München. S.s Bericht gehört zu den außerordentl. u. frühen deutschsprachigen »Erlebnisberichten« über den Nahen u. Mittleren Osten. Das Vorwort nennt Umstände der Entstehung: Abfassung nach der Rückkehr, Auswahl (»wann ich alles nicht indechtig pin«) u. Ergänzungen (»so hab ich kürzlich die land und die hauptstett und die wasser gesetzt [...] nach der sprach der lande«); damit werden Zusätze aus »Buchwissen« oder von zurückliegenden Ereignissen (z.B. Timurs Eroberung von Isfahan 1387) mit dem »Erlebnisbericht« als vereinbar angesehen. S. bestätigt so das schon von Mandeville verfolgte Dar-
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stellungsmodell: Die erste Hälfte (Kap. 1–30 S. 105 f. – Hans-Jochen Schiewer: H. S. In: VL. – u. 67) enthält das »Itinerar«, die zweite Hälfte Ders.: Leben unter Heiden. H. S.s türk. u. tartar. (Kap. 31–66) vermittelt systematisch geord- Erfahrungen. In: Daphnis 21 (1992), S. 159–179. – netes Wissen (über Geschichte, Geografie, Michael W. Weithmann: Ein Baier unter ›Türcken u. Tataren‹. H. S.s unfreiwillige Reise in den Orient. Religion, Fantastisches u. v. a.) mit gelegentl. In: Lit. in Bayern 81 (2005), S. 2–15. – Markus Hinweisen auf den Autopsieanteil. Geografi- Tremmel: H. S. In: NDB. – Marija Javor Briski: sche Fixpunkte bestimmen auch hier die Kulturkonflikte als Machtkonflikte am Beispiel Reihung: Balkan, Türkei in Europa u. in spätmittelalterl. Reiseberichte. In: Acta neoKleinasien, Kaiserreich Trapezunt am philologica 39 (2006), S. 99–108. Schwarzen Meer (Sperber-Abenteuer aus dem Dietrich Huschenbett / Red. Melusine-Stoff), Armenien, Mesopotamien, Persien, Irak, »Tatarei« (Kap. 31–38); ein mit Schilter, Johann, * 29.8.1632 Pegau, Ägypten verbundener »Wissenskomplex«, † 14.5.1705 Straßburg. – Jurist, Historibei dem S. auch das Spezialwissen für Paläs- ker u. Philologe. tinapilger unterbringt: Sinai (»pin ich nit gewesen, aber ich han es wol gehört von Als Vollwaise wurde S. von einem Onkel in frembden leutten«), Jerusalem u. seine Pil- Leipzig erzogen. Er studierte ab dem Wingerstationen (kriegshalber hatte er »die hei- tersemester 1651 Philosophie u. Jura in Jena; ligen stet nicht wol gar [...] gesehen«), die in Leipzig (pro forma Immatrikulation im Paradiesesflüsse u. der Priesterkönig Johan- Sommer 1640, Eidesleistung 1653) erwarb er nes (Kap. 38–47); darauf folgt ein aus der am 15.4.1654 das Bakkalaureat u. am Pilgerliteratur geläufiges »Wissenskapitel« 25.1.1655 die Magisterwürde. Ab 1659 war er über Mohammed u. den Islam (Kap. 48–59); in Naumburg, Zeitz u. Ruhla im Gerichtsden Schluss bilden, dem dritten Fluchtweg dienst tätig. 1671 wurde er in Jena zum Dr. entsprechend, Sprachen, Gebräuche u. Reli- iur. utr. promoviert u. an den Hof des Hergionen bei Griechen, Georgiern u. Armeniern zogs von Sachsen-Weimar berufen; 1678 quittierte er den Dienst. Ab 1686 städt. Con(Kap. 60–66). siliarius u. Ehrenprofessor in Straßburg, S.s Bericht ist in acht Handschriften u. drei nahm er dort ab 1687 zunächst eine HonoInkunabeln sowie weiteren Drucken des 16. rarprofessur u. ab 1699 ein Ordinariat an der u. 17. Jh. überliefert (dazu grundlegend Juristischen Fakultät wahr. Langmantel, S. 148–159); von den HandS. behandelte fast alle Gebiete der Jurisschriften ist die Münchner (früher Nürnberprudenz; sein juristisches Hauptwerk ist die ger) Sammelhandschrift von Bedeutung, weil Praxis juris romani in foro germanico (Lpz./Jena sie im Auftrag von S.s Herrn Albrecht III. von 1675 u. ö.), in der er unter Verwendung dt. dem Münchner Arzt Matheus Brätzl geRechtsquellen die Entwicklung des röm. schrieben wurde u. weitere Reiseberichte Rechts nachzeichnet. Besondere Verdienste enthält (Marco Polo, Brandans Meerfahrt, Naerwarb er sich mit der Erforschung des dt. vigatio, Mandeville, Odorico de Pordenone). Lehnsrechts; er würdigte erstmals die UnAusgaben: H. S.s Reisebuch nach der Nürnber- terschiedlichkeit der german. bzw. dt. Stamger Hs. Hg. Valentin Langmantel. Tüb. 1985. – H. mesrechte (Ad jus feudale utrumque germanicum S.s Reisebuch. Faks. des Drucks v. Anton Sorg. et longobardicum introductio [...]. Straßb. 1695) Augsb. um 1476. Hg. Elisabeth Geck. Wiesb. 1969. u. veröffentlichte maßgebl. Quellen wie den – Übersetzung: Johann S.s Irrfahrt durch den Orient. Der aufsehenerregende Bericht einer Reise, die Schwaben- u. den Sachsenspiegel (Codex juris ale1394 begann u. erst nach über 30 Jahren ein Ende mannici feudalis [...]. Ebd. 1696). Aus der Arfand. Übers. Markus Tremmel. Taufkirchen 2000. beit mit altdt. Rechtsquellen ergab sich S.s Literatur: Norbert Ohler: Reisen im MA. Interesse an älteren dt. Sprachdenkmälern Mchn. 1986, S. 72 f. – Gerhard Wolf: Die deutsch- überhaupt. Er gab das Ludwigslied (Epinikion sprachigen Reiseberichte des SpätMA. In: Der Rei- rhythmo teutonico Ludovico regi acclamatum [...]. sebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der dt. Ebd. 1696) u. die Weltchronik Jakob TwinLit. Hg. Peter J. Brenner. Ffm. 1989, S. 81–116, hier gers von Königshofen (Die alteste teutsche [...]
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Chronicke [...]. Ebd. 1698) heraus. Der monu- antiquitatum Teutonicarum‹ (Ulm 1726–1728). In: mentale Thesaurus Antiquitatum Teutonicarum LiLi 38 (2008), S. 32–51. Dietmar Peil / Red. (3 Bde., Ulm 1726–28), der zahlreiche alt- u. mittelhochdt. Texte u. ein Glossar bietet, Schimmang, Jochen, * 14.3.1948 Nortwurde erst von S.s Schüler Johann Georg heim/Niedersachsen. – Erzähler, HörScherz u. weiteren Bearbeitern vollendet u. spielautor, Lyriker, Übersetzer. von Johann Frick herausgegeben; gerade mit diesem Werk hat S. sich ein hohes Ansehen in S. wuchs in Leer (Ostfriesland) auf, studierte der Geschichte der Altgermanistik gesichert. 1969–1974 Politische Wissenschaften u. PhiWeitere Werke: Analysis vitae T. Pomponii losophie an der FU Berlin u. unterrichtete seit Attici, a C. Nepote descriptae [...] in disputationem 1977 Deutsch als Fremdsprache, zuerst an der proposita. Präses: Friedrich Rappolt; Respondent: Volkshochschule Balingen (Baden-WürttemJ. S. Lpz. 1654. Internet-Ed.: ULB Sachsen-Anhalt. berg), danach am Sprachzentrum Waldbröl – De cursu publico et angariis et parangariis deque (Nordrhein-Westfalen) u. seit 1984 an der temonario onere [...] pro licentia [...]. Präs.: Chris- Bergischen Universität Wuppertal. Seit 1993 toph Philipp Richter; Resp.: J. S. Jena 1671. – Maist er als freier Schriftsteller tätig. S. lebte nuductio philosophiae moralis ad veram, non si1978–1998 in Köln, danach ein Jahr in Paris mulatam jurisprudentiam. Jena 1676. – Institutio2 nes iuris canonici [...]. Jena 1681. Straßb. 1688. – u. kehrte dann nach Leer zurück; seit 2005 De libertate ecclesiarum Germaniae libri septem. lebt er in Oldenburg. 1996/97 war er Poet in Jena 1683. – Institutiones juris ex principiis juris Residence an der Universität-Gesamthochnaturae, gentium et civilis [...]. Lpz. 1685. – Dis- schule Essen u. nahm 2000/2001 eine Gastputatio publica, de natura et origine juris publici. professur am Deutschen Literaturinstitut Präs.: J. S. ; Resp.: Johann Ernst Lamprecht. Straßb. Leipzig wahr. S. wurde u. a. mit dem Rhei1694. Internet-Ed.: ULB Sachsen-Anhalt. – Epito- nischen Literaturpreis Siegburg (1996) u. dem me juris privati [...]. Ebd. 1696. – De pace religiosa Rheingau Literatur Preis (2010) ausgezeich[...]. Ebd. 1700. – De paragio et apanagio, succincta net. expositio [...]. Ebd. 1701. – De S. R. G. Imperii Autobiografisches war für mehrere Werke comitum praerogativa [...]. Ebd. 1702. – De conS.s bestimmend. So nannte er seine erste dominio circa sacra dissertatio [...]. Ebd. 1704. Buchveröffentlichung, Der schöne Vogel Phönix Literatur: Charles Joseph Barthélémy Giraud: Eloge de Jean S. Straßb. 1845 (Bibliogr. S. 20–26). – (Ffm. 1979), »Erinnerungen eines DreißigRudolf v. Raumer: Gesch. der German. Philologie. jährigen«. Dieser Bericht über das AufwachMchn. 1870, S. 176–181. – August Ritter v. Eisen- sen Murnaus in Ostfriesland, die Wehrhart: J. S. In: ADB. – Ernst Landsberg: Gesch. der dienstzeit, die Studienjahre, die Mitarbeit in dt. Rechtswiss. 3. Abt., 1. Halbbd., Mchn./Lpz. K-Gruppen u. die Schwierigkeiten beim 1898. Nachdr. Aalen 1957, S. 55–62. – Hermann Übergang ins Berufsleben endet mit dem Schüling: Verz. der Briefe an J. S. (1632–1705) in bezeichnenden Satz: »Überleben ist schwieder Universitätsbibl. Gießen (Cod. Giess. 140, 141 riger geworden.« Die Suche nach Glück u. u. 142). Nach Vorarbeiten v. Ortwin Zillgen. Gießen Aufhebung des Zustands individueller Ent1979. – Stefan Sonderegger: Schatzkammer dt. fremdung findet sich wieder in der ErzähSprachdenkmäler. St. Gallen/Sigmaringen 1982, S. 47–54. – DBA I, 1103, S. 7–68 (komm. Bibliogr. lung vom Wissenschaftler Jülich (Das Ende der S. 16–45). – Estermann/Bürger, Tl. 1, S. 1109 f.; Berührbarkeit. Ffm. 1981), der mit den UnsiTl. 2, S. 1252. – Jean-Yves Mariotte u. Marcel Tho- cherheiten in seinem Privatleben umzugehen mann: J. S. In: NDBA. – Ulrich Seelbach: Mittel- lernen möchte, jedoch scheitert; was ihm alterl. Lit. in der Frühen Neuzeit. In: Das Berliner bleibt, ist – wie vielen S.schen ›Helden‹ – Modell der mittleren dt. Lit. Hg. Jörg Jungmayr seine »Reiselust«. Mit ihren Ausbruchsveru. a. Amsterd. 2000, S. 89–115. – Klaus Luig: J. S. suchen aus gewohnter gesellschaftl. Realität In: NDB. – Norbert Kössinger: Die Anfänge der wollen die Protagonisten der acht ErzählunMittelalterphilologie. Zur Wiederentdeckung u. gen in Das Vergnügen der Könige (Ffm. 1989) die Ed. deutschsprachiger Texte des MA in der frühen Lösungsmöglichkeiten des Konflikts zwiNeuzeit. Mit einer Fallstudie zu J. S.s ›Thesaurus schen den Forderungen der Vernunft u. der »Logik des Gefühls« ausloten. Um Solipsis-
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mus, Alleinsein, Glücksvorstellungen, Sehn- für Staatssicherheit der DDR enttarnt wird. süchte, kalkulierte Beziehungsexperimente Zu scheitern droht auch Verfassungsschützer u. zwischenmenschl. Beziehungslosigkeit Leo, als er den Archivar Carl Schelling, einen geht es auch – von S. nicht ohne iron. Un- gemeinsamen Freund aus der Berliner Stuterton geschildert – in den Romanen Die dentenzeit, der ein Germania-Denkmal in die Geistesgegenwart (Ffm. 1990), Carmen (Ffm. Luft sprengen will, zu decken versucht. S. verfasst auch Hörspiele, z.T. in plattdt. 1992) u. Ein kurzes Buch über die Liebe (Ffm. 1997) sowie in dem Erzählband Königswege Sprache (u. a. Biller von tohus. 2004. Een Füerpüster. 2009; beide Radio Bremen) u. über(Ffm. 1995). S., für den der Schriftsteller »die ganz we- setzt aus dem Englischen (u. a. Josephine Tey: sentliche Aufgabe hat, Untergehendes oder Warten auf den Tod. Köln 2003. Gilbert Adair: schon Untergegangenes zu retten, zu be- Ein stilvoller Mord in Elstree. Mchn. 2007. Gawahren«, geht von der »Beschreibbarkeit der briel Josipovici: Moo Pak. Bln. 2010). Welt«, u. von der Notwendigkeit der RefleWeitere Werke: J. S. u. Christel Göbelsmann xion der eigenen Existenz für Erkenntnis u. (Hg.): Liebesgesch.n. Verständigungstexte. Ffm. Kommunikation aus. Der Roman Die Mur- 1982. – Der Norden leuchtet. Ffm. 1984 (E.en). – nausche Lücke (Heidelb. 2002) handelt von dem Das verschämte Lächeln der Vernunft. In: Heimat aus Ostfriesland stammenden Murnau, der u. Geschwindigkeit. Junge Lyrik. Hg. Wolfgang sich in jungen Jahren seine nächtl. Schlaflo- Schiffer. Mchn. 1986, S. 55–67. – Vertrautes Gelände, besetzte Stadt. Ffm. 1998. – Vier Jahreszeisigkeit durch die Beschäftigung mit matheten. Mit Vignetten v. Thomas Müller. Gött. 2002. – mat. Fragen vertrieben hat, es zum renom- (Hg.): Zentrale Randlage. Lesebuch für Städtebemierten Wissenschaftler brachte, in Cam- wohner. Köln 2002. – Auf Wiedersehen, Dr. Winter. bridge lehrte u. an der Lösung des Fer- Köln 2005 (E.en). – Altes Gelände. Bln. 2009. – mat’schen Problems arbeitete, sich dann je- Hörspiele: Untiefen. WDR 1994. – Die Stimmen von doch in seine ostfries. Heimat zurückzog, um Nienbeck. WDR 1999. – Een Maler kummt na eine kleine Geschichte der Mathematik zu Huus. Radio Bremen. 2005. – Dood in’t Watt. Radio schreiben. Von den Treffen mit Gleichge- Bremen. 2007. – Alte Grenze. WDR 2007. – De sinnten wie dem an seinem mathemat. Talent Huusmeister. Radio Bremen. 2007. Literatur: Thomas Köster: ›Die jungen Damen scheiternden Schüler Enno oder dem Anästhesisten Dr. Winter, der eines Tages ver- sind schon lange fort‹. Zum Erzählwerk J. S.s. In: schwand, in dem unweit seines Domizils am Merkur 51 (1997), S.1039–1044. – Heribert Hoven: J. S. In: LGL. – Matthias Keidel: Die Wiederkehr der Deich gelegenen Restaurant »Insomnia«, das Flaneure. Literar. Flanerie u. flanierendes Denken nächtens den Schlaflosen gute Küche bietet, zwischen Wahrnehmung u. Reflexion. Würzb. erzählt Murnau der ehemaligen Geigenvir- 2006, S. 149–168. – Martin Bruch u. a.: Archivar tuosin Katharina, die jetzt dort als Kellnerin der verschwindenden Dinge. Ein Werkstattgearbeitet. An die Erzählstruktur von Die Mur- spräch mit J. S. Mit Fotos v. Teja Sauer. Hildesh. nausche Lücke anknüpfend, Motive u. Figuren 2008. – H. Hoven: J. S. In: KLG. Bruno Jahn aufgreifend, erzählt der vielschichtige, melancholische Roman Das Beste, was wir hatten Schimmelpfennig, Roland, * 19.9.1967 (Hbg. 2009) die Geschichte von Gregor Korff Göttingen. – Dramatiker, Regisseur u. u. Leo Münks. Als Berater eines CDU-PolitiHörspielautor. kers in Bonn erlebt Gregor, »der immer das Loblied des Zufalls gesungen und Wörter wie S. studierte Regie an der Otto-FalckenbergVorsehung oder Schicksal verabscheut hatte« Schule in München, war 1992–1995 Regieden – von ihm mit Skepsis betrachteten – assistent von Dieter Dorn an den Münchner Prozess der Vereinigung der beiden dt. Staa- Kammerspielen u. wurde dort anschließend ten intensiv mit; zu einer Fortsetzung seiner Mitarbeiter der künstlerischen Leitung. Arbeit in der neuen Hauptstadt Berlin 1999–2001 arbeitete er als Dramaturg u. kommt es jedoch nicht mehr, als seine frü- Hausautor der Schaubühne am Lehniner here Geliebte Sonja, der er in Bonn wieder Platz in Berlin. Die ewige Maria, sein Erstling begegnet, als Mitarbeiterin des Ministeriums als Dramatiker, wurde 1996 am Theater
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Oberhausen uraufgeführt. Seitdem hat S. Urauff. Berlin 2000 (D.). – MEZ. Urauff. Berlin mehr als 30 Theaterstücke verfasst. Im ersten 2000 (D.). – Krieg der Wellen. HR 2000 (Hörsp.). – Jahrzehnt nach der Jahrtausendwende war er Die arab. Nacht. Urauff. Stuttgart 2001 (D.). – der meistgespielte zeitgenöss. Dramatiker im Vorher/Nachher. Hörsp. HR/TAT 2001. Urauff. Hamburg 2002 (D.). – Alice im Wunderland nach deutschsprachigen Raum. Lewis Carroll. Musik v. Mousse T. Urauff. HannoS.s Figuren u. Stoffe haben ihr Vorbild zu- ver 2003 (D.). – Für eine bessere Welt. Urauff. Zümeist in der Gegenwart. So sind die Prot- rich 2003 (D.). – Das Gesicht im Spiegel. Urauff. agonisten in dem Stück Push Up 1–3 (Urauff. München 2003 (Libr.). – Ende u. Anfang. Urauff. Berlin 2001) sämtl. Angestellte eines Groß- Wien 2006 (D.). – Besuch bei dem Vater. Urauff. konzerns, die miteinander ihre Positions- Bochum 2007 (D.). – Start Up. Urauff. Mannheim kämpfe austragen; Angebot und Nachfrage 2007 (D.). – Alice im Wunderland. Urauff. Hanno(Urauff. Bochum 2005 ) thematisiert die Fol- ver 2008 (D.). – Calypso. Urauff. Hamburg 2008 (D.). – Hier u. Jetzt. Urauff. Zürich 2008 (D.). – gen der Arbeitslosigkeit in einer von Medien Idomeneus. Urauff. München 2008 (D.). – Krimu. Medienkonsum geprägten Welt; Auf der Krieg in Wiesbaden (Radio-Tatort). HR 2008 Greifswalder Straße (Urauff. Berlin 2006) zeigt (Hörsp.). – Der Goldene Drache. Urauff. Wien 2009 63 Momentaufnahmen, die ein Panorama (D.). – Der elfte Gesang. Urauff. Bochum 2010 (D.). gegenwärtigen Großstadtlebens ergeben. S. – Das weiße Album (nach: The Beatles). Urauff. verfolgt jedoch kein konventionelles Realis- Frankfurt 2010 (D.). – Buchausgaben: Die Frau von muskonzept. Zunächst ganz alltäglich an- früher. Stücke 1994–2004. Ffm. 2004. – Trilogie mutende Szenarien entpuppen sich bei ihm der Tiere. Ffm. 2007. Literatur: Stefan Keim: R. S. In: LGL. – Peter alsbald voller irrationaler Momente u. Verbindungslinien, die den Betroffenen nie be- Michalzik: Vorw. In: R. S.: Die Frau von früher, wusst werden. Ein für ihn charakterist. Mit- a. a. O., S. 7–16. – Ulrich Fischer: R. S. In: KLG. Gunther Nickel tel, um sie für den Zuschauer freizulegen, besteht darin, die Figuren vollständig aussprechen zu lassen, was sie denken u. fühlen, Schimper, Karl (Carl) Friedrich, auch: Karl während für die anderen Akteure nur ihr Heiter, * 15.2.1803 Mannheim, † 21.12. strateg. (Sprach-)Handeln wahrnehmbar 1867 Schwetzingen. – Naturforscher, Lybleibt. Durch harte szen. Schnitte oder durch riker u. Verfasser epischer Lehrdichtunein achronolog. Erzählen mit zahlreichen gen. Repititionen (so v. a. in seinem BeziehungsNach dem Schulbesuch in Mannheim widdrama Die Frau von früher. Urauff. Wien 2004) mete sich S., Sohn eines Geometers und Maspiegelt S. Realität immer verfremdet, was thematiklehrers, in Heidelberg, ein Theoloseinen Texten zuweilen »magische« Züge giestudium abbrechend, der Medizin u. den verleiht. Unverkennbar sind daneben zum Naturwissenschaften. Seit 1828 lebte er in einen die Tendenz, Gegenwart unter RückMünchen, wo er Vorlesungen u. Vorträge griff auf die antike Mythologie zu deuten hielt. Schon früh trat er mit eigenen botan. (etwa in seinem Satyrspiel Ambrosia. Urauff. Theorien u. Entdeckungen hervor (u. a. zur Essen 2005), zum anderen eine deutl. VorlieTheorie der Blattstellung). In Abwesenheit be für Tierparabeln (Das Reich der Tiere. wurde ihm dafür in Tübingen 1829 die Urauff. Berlin 2007). Doktorwürde verliehen. Neben der Botanik Weitere Werke: Keine Arbeit für die junge Frau widmete er sich, auch in weitläufigen Exim Frühlingskleid. Urauff. München 1996 (D.). – kursionen (Frankreich, Schweiz), der GeoloDie Zwiefachen. Urauff. München 1997 (D.). – Die gie u. Geomorphologie. S. gilt mittlerweile Aufzeichnung. SWF 1998 (Hörsp.). – Ipanema. aufgrund eines 1837 auf der Schweizer Ver1998 (D.). – Fisch um Fisch. Urauff. Mainz 1999 (D.). – Aus den Städten in die Wälder, aus den sammlung der Naturforscher gehaltenen Wäldern in die Städte. Urauff. Mainz 1998 (D.). – Vortrags, dessen Ertrag er in einem kleinen Fisch um Fisch. Urauff. Mainz 1999 (D.). – Die Lehrgedicht (Die Eiszeit. Neuchâtel 1837) zuTaxiterroristin. Drei Filme für den Preis von einem. sammenfasste, als Entdecker der Eiszeit. GeSWR 1999 (Hörsp.). – Vor langer Zeit im Mai. gen erhebl. Widerstände verfocht er auch die
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Theorie der Alpenfaltung. Nachdem er die schen Revolution. Literar. Leben in Baden zwischen Förderung durch den bayerischen Kronprin- 1800 u. 1850. Hg. Achim Aurnhammer, W. Kühlzen Maximilian verloren hatte, lebte der mann u. Hansgeorg Schmidt-Bergmann. Freib. i. bahnbrechende Naturforscher, stellungslos Br. u. a. 2010, S. 535–554. – Erika Greber: Ordnungsmuster ›ohne Muster‹. Die Erfindung der u. zeitweise vollkommen verarmt, seit 1843 Meta-Sestine. In: Figuren der Ordnung. Beiträge zu wieder in Mannheim, seit 1858 in Schwet- Theorie u. Gesch. literar. Dispositionsmuster. Hg. zingen, wo er durch ein Salär des badischen Susanne Gramatzki u. Rüdiger Zymner. Köln u. a. Großherzogs unterstützt wurde. 2009, S. 113–126. Wilhelm Kühlmann Sein erst neuerdings wiederentdecktes literar. Werk umfasst mehrere Gedichtbände, daneben zahlreiche poetische Zeitungsbei- Schindel, Robert, * 4.4.1944 Bad Hall/ träge u. Einzeldrucke, in denen er eine vir- Oberösterreich. – Lyriker, Erzähler u. Estuose, oft spielerische Beherrschung sämtli- sayist. cher lyr. Formen, vergleichbar dem Œuvre eines Platen oder Rückert, demonstrierte. S. überlebte als Kind jüd. Kommunisten, die Seine Lyrik wird oft gespeist von Sprachwitz eine Widerstandsgruppe in Oberösterreich u. den Verfahren einer seriellen Kombinato- aufbauen wollten, den Holocaust. Seine Elrik u. überraschenden Klangmagie: Humo- tern wurden verhaftet u. nach Auschwitz deristische, oft satir. Färbungen prägen seine portiert; der Vater wurde im März 1945 in überbordende Kreativität, die der iron. Dachau ermordet, die Mutter überlebte u. Selbstinszenierung, dem geselligen Dialog u. fand S. (unter dem Namen Robert Soël) im dem oft sarkast. Zeitkommentar dient. Seine Aug. 1945 in einem Wiener Kinderheim Lehrepik verrät eine faszinierende Assoziati- wieder. Darüber hinaus überlebte nur ein onsfantasie, etwa in Goldlack. Ein poetischer Bruder der Mutter die Shoah, die in S.s liteBrief über Zahlen und Dinge (Zweibrücken rar. Werk immer wieder thematisiert wird. Nach der Volksschule besuchte S. seit 1954 1842), in sensiblen Dichtungen über die Eigenart der Versfüsse oder über die Lehre vom ein Realgymnasium in Wien, aus dem er 1959 Fließen der Gewässer. Wissenschaftshistori- wegen »schlechter Führung« entlassen wurschen Indizwert besitzen eine bissige Ab- de. Eine Buchhändlerlehre beim kommunisrechnung mit Goethe (Göthe in der Naturwis- tischen Globus-Verlag brach er ab u. ging auf senschaft) u. das großangelegte Lehrepos Blick Reisen; nach der 1967 nachgeholten Matura studierte er vorübergehend Jura u. bis 1974 auf die Naturwissenschaften. Philosophie an der Universität Wien. Auf Werke: Neue Auswahlausgabe: Lyrik u. Lehrgedichte. Hg. Wilhelm Kühlmann u. Hermann kommunistische Kinder- u. Jugendverbände Wiegand. Heidelb. u. a. 2005. – Weitere Werke: Ge- folgte 1961–1967 die aktive Mitgliedschaft in dichte. Erlangen 1840. – Poetische Schneeschmelze der KPÖ sowie das Engagement in maoistisammt Märzenstaub v. 1842. Zweibrücken 1842. – schen Kreisen u. der Studentenbewegung. S. Praeludien. Sonettengruß u. Fragen. Ebd. 1842. – war Mitbegründer der Wiener Kommune u. Laub u. Blüten aus einem erot. Sonettenwald. Ebd. der Gruppe »Hundsblume«, in deren Litera1842. – Ueber Witterungsphasen der Vorwelt. turzeitschrift er frühe lyr. Texte veröffentMannh. 1843. – Gedichte 1840–1846. Mannh. lichte. Hier erschien seine Sammlung mit 1847. Stgt. 1850. – Natur-Sonette. Jena 1854. Gedichten von 1968 bis 1970 Zwischen den Literatur: Hans Götz: Kindheit u. Jugend der Maulschellen des Erklärens (Wien 1970), der Brüder K. u. Wilhelm S. K. S.s Heidelberger Zeit. Prosaband Brockt sie frisch von den Weibern Schwetzingen 1980. – Ders.: K. F. S. Naturforscher (Wien 1971) sowie sein erster umfassenderer in Schwetzingen. Ebd. 1980. 21983 . – Ders.: K. F. S. Prosatext, der komplexe fragmentarisierte 2 in München. 3 Bde., ebd. 1981/82. 1991. – Ders.: K. F. S.s Rückkehr nach Mannheim. Ebd. 1985. – »(Roman)« Kassandra (1970. Neuausg. Innsbr. Willi Schäfer: K. F. S. Geschichte u. Gedichte eines 2004). 1986 erschien S.s erster Gedichtband Naturforschers. Ebd. 2003. – Ilse Jahn: C. F. S. In: im Suhrkamp Verlag, Ohneland. Gedichte vom NDB. – Einl. zur Auswahlausg., 2005, a. a. O. Ge- Holz der Paradeiserbäume 1979–1984 (Ffm. kürzt auch in: Von der Spätaufklärung zur Badi- 1986), was nach verschiedenen Anstellungen
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u. a. als Bibliothekar der Wiener Hauptbücherei (1975–1980), Nachtredakteur bei Agence France Press (1981–1983) u. Gruppentrainer für Arbeitslose (1983–1986) den Beginn seiner Tätigkeit als freier Schriftsteller bedeutete. Es folgte eine Reihe von Lyrikbänden, die den Kern von S.s Œuvre darstellen u. Motive zyklisch wiederaufnehmen: Geier sind pünktliche Tiere (Ffm. 1987), Im Herzen die Krätze (Ffm. 1988) u. Ein Feuerchen im Hintennach (Ffm. 1992), der mit den Themen Judentum u. Shoah oft parallel zum Roman Gebürtig gelesen wird. Zu den Themen Liebe u. Sprache kommen hier wie im späteren Band Immernie. Gedichte vom Moos der Neunzigerhöhlen (Ffm. 2000) zunehmend Reisegedichte, zur Vergangenheit als Thema kommt Aktuelles u. beides verbindet sich zur ambivalenten Haltung der folgenden Bände Nervös der Meridian (Ffm. 2003) u. Wundwurzel (Ffm. 2005) sowie – bezeichnend schon im Titel zwischen Vergangenem u. Zukunft – Mein mausklickendes Saeculum (Ffm. 2008), dessen Hinweis auf gegenwärtige Zusammenhänge der Dichtung S.s Fortarbeit an dieser Gattung zeigen. Die enge Verbindung von Biografie u. literar. Werk sowie S.s prägende Themen, die v. a. nach den polit. Entwicklungen Österreichs Ende der 1980er Jahre schlagend werden (verdrängte NS-Vergangenheit, Waldheim-Affäre 1986), nämlich das Zusammenleben von Juden u. Nicht-Juden in der »Vergessenshauptstadt« Wien, zeigen sich besonders in dem trotz gespaltener Kritiken sehr erfolgreichen Roman Gebürtig (Ffm. 1992. Verfilmung 2001). Sowohl Handlung als auch Erzählung sind vielfältig u. komplex: Drei Erzähler entwerfen nicht nur Wiener Gesellschafts- u. Alltagsbilder, sondern schildern v. a. den Prozess gegen einen Nazi u. KZAufseher, der den Zeugen Hermann Gebirtig dazu zwingt, aus New York in seine verhasste Heimat zurückzukehren, u. einen Journalisten zur öffentl. Beschäftigung mit den NSVerbrechen seines Vaters in Polen bringt. Diese doppelte Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit, den Österreich-Ressentiments des Exilanten u. den verständnislosen bis anbiedernden Reaktionen der Wiener Gesellschaft zeigt Identitätsprobleme u. his-
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tor. Last auf allen Seiten, die erzählerisch durch dezenten Humor kompensiert werden. Fragen der jüd. Identität u. der gesellschaftl. Verhältnisse nach der Shoah, der österr. Politik u. ihres Antisemitismus sowie der Stellung der eigenen Biografie in der Poetik prägen zunehmend S.s Essays u. Vorträge. Der Band Gott schütz uns vor den guten Menschen (Ffm. 1995) versammelt Kritiken u. Reden der 1990er Jahre zur vermeintl. Vergangenheitsbewältigung in Österreich ebenso wie zur Rolle Israels u. der Ideologie im eigenen Schreiben u. die Wiener Poetik-Vorlesungen »Literatur – Auskunftsbüro der Angst« (1992–95). S.s fortgesetztes Engagement zeigt sein Essayband Mein liebster Feind (Ffm. 2004) ebenso beispielhaft wie das zum Jahrestag der NS-Novemberpogrome verfasste, als »Realfarce« untertitelte Drama Dunkelstein (Innsbr. 2010) rund um Überlebende als Komparsen eines Hollywoodfilms zur Massenvernichtung u. die an den Rabbiner Benjamin Murmelstein erinnernde Figur Saul Dunkelstein. S., ausgezeichnet mit zahlreichen Literaturpreisen, ist als Drehbuchautor u. Dozent an verschiedenen Literaturkursen tätig, war Vorsitzender der Jury des Ingeborg-Bachmann-Literaturwettbewerbs (1999–2002) u. ist seit 2009 Professor am Institut für Sprachkunst der Universität für Angewandte Kunst Wien. Weitere Werke: Die Nacht der Harlekine. Ffm. 1994 (E.en). – Zwischen dir u. mir wächst tief das Paradies. Ffm. 2003 (Liebesged.). – Fremd bei mir selbst. Ffm. 2004 (L.). – Der Krieg der Wörter gegen die Kehlkopfschreie. Innsbr. 2008 (P.). Literatur: Neva Sˇlibar: Anschreiben gegen das Schweigen. R. S., Ruth Klüger, die Postmoderne u. Vergangenheitsbewältigung. In: Jenseits des Diskurses. Lit. u. Sprache in der Postmoderne. Hg. Albert Berger u. Gerda E. Moser. Wien 1994, S. 337–356. – Thomas Kraft: R. S. In: LGL. – Hartmut Steinecke: R. S. Gedächtnis der ›Vergessenshauptstadt‹. In: Shoah in der deutschsprachigen Lit. Hg. Norbert Otto Eke. Bln. 2006, S. 293–301. – Volker Kaukoreit: R. S. In: KLG. – R. S. Mchn. 2007 (Text + Kritik. H. 174). – Iris Hermann: Möchte ich ein schwimmender Schreiber sein. Von der ›Wortsucht‹ in R. S.s Gedichtband ›Wundwurzel‹. In: ZfdPh 127 (2008), S. 269–284. – Matthias Beilein: 86 u. die Folgen. R. S., Robert
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Menasse u. Doron Rabinovici im literar. Feld Österreichs. Bln. 2008. – Andrea Kunne: Verschwinden. Zwischen den Wörtern. Sprache als Heimat im Werk R. S.s. Innsbr. 2009. Stefan Alker
Schink, Johann Friedrich, * 29.4.1755 Magdeburg, † 10.2.1835 Sagan. – Verfasser von Dramen u. dramaturgischen Schriften. In Halle studierte S. von 1773 bis etwa 1776 Theologie u. ging nach dem Abschluss nach Berlin, wo er sich der Schriftstellerei zuwandte. Mit seinen dramat. Erstlingsarbeiten, den Tragödien Adelstan und Röschen (Bln. 1776) u. Gianetta Montaldi (Hbg. 1777), hatte er Erfolg. 1779 hielt er sich als Theaterdichter in Hannover auf, kam 1780 nach Wien u. zog nach einer Auseinandersetzung mit dem Klassizisten u. Shakespeare-Gegner Ayrenhoff nach Graz. 1789 berief ihn Friedrich Ludwig Schröder als Dramaturgen u. Theaterdichter nach Hamburg; 1797 ließ sich S. in Ratzeburg nieder. Nochmals ging er nach Berlin, wo er die erhoffte Anstellung beim Nationaltheater nicht erhielt, aber seine Freundschaft mit Goeckingk, Christoph August Tiedge u. Elisa von der Recke erneuerte. Über ihre Vermittlung fand er 1819 eine Anstellung bei der Herzogin Dorothea von Kurland in Löbichau. Deren Tochter, Herzogin Wilhelmine, berief ihn 1821 als Bibliothekar nach Sagan. Bereits als Student veröffentlichte S. im »Leipziger Musenalmanach« u. im »Göttinger Musenalmanach« poetische Werke. Neben den erwähnten Tragödien stand am Beginn seiner literar. Laufbahn die Farce Hanswurst von Salzburg mit dem hölzernen Gat [d. i. Gesäß]. Historisch Schauspiel in drei Aufzügen (Wien/Bln./Weimar 1778). Darin verspottete er die Nachahmer der Genie-Ästhetik eines Goethe, Lenz oder Heinrich Leopold Wagner. Das Werk orientiert sich an Shakespeare, Voltaire, Wieland u. in polem. Weise am Götz; S. moniert v. a. den Mangel eines sprachl. wie mimet. Dekorums in der neueren dt. Dramatik. Ganz dem ästhetischen u. philosophischen Programm der Berliner Aufklärung verpflichtet, bildete sich S. vor allem an
Shakespeare, Wieland u. Lessing, der ihm lebenslang ein ästhetisches u. humanes Vorbild blieb. S. widmete ihm eine umfangreiche Studie mit dem Titel Charakteristik Gotthold Ephraim Lessings (Lpz. 1795), die er noch im Alter erweiterte u. als 31. Teil der Sämmtlichen Schriften Lessings erscheinen ließ (Gotthold Ephraim Lessings Leben [...]. Bln. 1825). Diese Ausrichtung gilt für seine dramat. Werke ebenso wie für seine zahlreichen theatergeschichtl. u. theoret. Schriften, die nicht zuletzt wegen ihrer Synthese von Dramaturgie u. Schauspielpraxis von histor. Bedeutung sind (Über Brockmanns Hamlet. Bln. 1778). Noch in der 1827 erschienenen Schrift Friedrich Schillers Don Karlos, Wallenstein, Maria Stuart, die Jungfrau von Orleans, die Braut von Messina und Wilhelm Tell, ästhetisch, kritisch und psychologisch entwickelt (Dresden/Lpz.) wird kenntlich, wie S. bis weit ins 19. Jh. hinein ein poetisches Ideal verfolgte, das den Zusammenhalt eines (bes. eines dramatischen) Textes in der Geschlossenheit der Figurenpsychologie sucht. Dieser muss eine adäquate psycholog. Darstellungskunst korrespondieren. S. erlebte nahezu den ganzen Josephinismus in Österreich, was sich in seinen Arbeiten widerspiegelt. 1781–1784 erschienen seine Dramaturgischen Fragmente (4 Bde., Graz), 1783 die Grätzer Theaterchronik (Graz) u. Dramatische und andere Skizzen [...] (Wien). Seine theatertheoret. u. -geschichtl. Beschäftigung schlug sich auch in fiktionaler Literatur nieder. Das Theater zu Abdera (4 Tle. in 2 Bdn., Bln./Liebau 1787–89) ist ein Schlüsselroman über das Wiener u. das Grazer Theater, seine Geschichte u. seine Bildung an der dt. Aufklärung. Er nimmt nur äußerlich Bezug auf Wielands Abderiten, da »Zweck und Ton in beiden Werken zu verschieden sind« (Vorrede); S. bezweckt eine Realsatire auf den örtl. Theaterbetrieb: auf lokale Stücke, Publikumsgeschmack u. Schauspielertum. Als Maß dienen Lessings dramat. u. theoret. Werke sowie Johann Jakob Engels psycholog. Darstellungstheorie Ideen zu einer Mimik. Ähnlich wie Johann Heinrich Friedrich Müller nahm sich S. der Ausbildung der Wiener Kinder zu Schauspielern an, indem er für die Müller’sche »Pflanzschule« kleine dramat.
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Texte, sog. »Kinderkomödien«, verfasste, Häublein: ›La mégère apprivoisée‹ de J. F. S.: darunter den Einakter Schakespear in der Shakespeare, s’il avait été Allemand. In: ShakeKlemme (Wien 1780), worin er die »natürli- speare vu d’Allemagne et de France des lumières au che« Darstellungskunst vor der »gekünstel- Romantisme. Hg. Christine Roger. Paris 2007, S. 69–89. Wolfgang Neuber ten« französischen verteidigte. Das Stück diente als Vorspiel zu einer Hamlet-Aufführung durch die Schüler. Schinkel, André, * 27.4.1972 Eilenburg. – Nicht zufällig widmete sich S. während Lyriker, Essayist, Verfasser von Kurzproseiner österr. Zeit Shakespeare, wodurch er zu sa, Nachdichter. einem weiteren Bindeglied zwischen der dt. u. der österr. Aufklärung wurde. Denn schon S. wuchs in Bad Düben u. Holzweißig bei Franz von Heufeld hatte in Wien in den Bitterfeld in Sachsen auf. Er erlernte den Be1760er u. 1770er Jahren Werke nach Shake- ruf des Rinderzüchters, machte Abitur u. speare auf das Theater gebracht. S. folgte ihm studierte in Wernigerode an einer Fachhochdarin in den 1780er Jahren mit den (heute schule zwei Semester Umweltschutztechnik verlorenen) Bearbeitungen von Der Sturm u. u. seit 1992 in Halle Kunstgeschichte, GerMacbeth (beide 1780), mit dem Lustspiel Gas- manistik u. Prähistorische Archäologie. Die ner der zweite oder die bezähmte Widerbellerin beiden letzten Fächer schloss er 2001 mit dem (Mchn. 1783) nach The Taming of the Shrew u. M.A. ab. Ein Promotionsprojekt zur »literarischen Archäologie-Rezeption« brach er einem Koriolan (Graz 1790). Auch in seinem poetischen Alterswerk 2005 ab. S. lebt in Halle u. Holzweißig u. verband S. psycholog. Ästhetik u. Moralität arbeitet als Lektor u. Redakteur mehrerer der Aufklärung. Das epische Feenmärchen Zeitschriften. S.s umfangreiche lyr. Produktion vermitEigenkraft oder der Schwärmer für Wahrheit und Recht (Ratzeburg 1797) u. die Erzählungen telt zu Beginn den Eindruck eines eruptiven, Wahrheit in Dichtung (Bln. 1820) erweisen diese leidenschaftl. Vorgangs. Seine Sprache weist Kontinuität: Das seel. Glück des Menschen zunächst viele Merkmale der Avantgarde auf: auf der Grundlage der vernünftigen Züge- häufige Kleinschreibung, keine Zeichensetlung seiner Leidenschaften ist Voraussetzung zung, Ein-Wort-Zeilen, Sprachzertrümmerung, absolute Metaphern, Neologismen, für sein äußeres Glück als soziales Wesen. Reimlosigkeit, insg. das deutl. Bestreben, an Weitere Werke: Lina v. Waller. Bln. 1778 den expressionistischen u. surrealistischen (Trag.). – Die Komödienprobe. Wien 1783 (Kom.). – Die Opferer, oder das Fest der Musen. Graz 1783 Sprachduktus anzuknüpfen. Die Übernahme (D.). – Statira. Wien 1790 (Trag.). – Dramaturgische typisch expressionistischer Techniken in Monate. 4 Bde., Schwerin 1790 f. – Empfindsame Versen wie »Eifernd klammerten Giebel sich Reise durch Italien, die Schweiz u. Frankreich. an befensterte Hänge« oder »unsere erHbg. 1794. – Johann Faust. 2 Bde., Bln. 1804 krankten Körper aufschleppen noch einmal« (dramat. Phantasie). – Gesänge der Religion. Neu- (aus: Verwolfung der Herzen. Handzeichnungen brandenburg 1811. – Fügungen. Bln. 1818 (di- Gerald Titius. Bln. 1997) wirken dabei als daktisch-romantisch-dramat. Dichtung). Manieriertheiten, die S. aber bald abstreift. Literatur: Richard Bitterling: J. F. S. Ein Schon der Debütband durch ödland nachts Schüler Diderots u. Lessings [...]. Lpz./Hbg. 1911. (Halle/Zürich 1994. Vorzugsausg. mit 6 LiNeudr. Nendeln 1978. – Hans Klöpfer: J. F. S. u. das thografien von Dieter Goltzsche), von S. Grazer Theater. Diss. Graz 1928. – Margret Diet- selbst in einer Zeile als »buch der unsteten rich: S.s ›Faust‹ u. der Josephinismus. In: Anzeiger lyrik« charakterisiert, lässt einen eigenen Ton der Philosoph.-histor. Klasse der österr. Akademie erkennen, der durch die spezif. Kombination der Wiss. Wien/Köln/Graz 1971, S. 18–33. – Edward P. Harris: J. F. S. in seiner Beziehung zu von zoolog., medizinischen, paläontolog. u. Lessing. In: Lessing u. der Kreis seiner Freunde. mytholog. Termini mit Szenen aus der PrivatHg. Günter Schulz. Heidelb. 1985, S. 259–270. – u. Intimsphäre gekennzeichnet ist. Dass S. Horst Kötz: J. F. S. In: Sachsen-Anhalt. Beiträge zur dabei nicht selten auch auf skatolog. oder Landesgesch. 14 (1999), S. 95–112. – Renata obszönes Vokabular zurückgreift, gehört zu
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den provokanten Posen, in denen sich das lyr. wort des Gedichtbands Löwenpanneau (Halle Ich gefällt. So renommiert es etwa im zweiten 2007) einen selbstkrit. Rückblick auf die Gedichtband tage in wirrschraffur (Halle 1996) Phase einer »glücklichen Blindnis« des eigein Baal-Attitüde: »ficken und Gedichte nen Schreibzwangs u. betont die Hinwenschreiben / mit einem Schlag, wie Drachen- dung zum Gedanklichen. Wenn nun auch kämpfer / Schwert und Jungfer halten.« Autoren wie Hölderlin u. Pindar als Vorbilder Gleichzeitig ringt S. um einen intertextuellen ins Spiel kommen, bleibt doch das krud MaBezug zu Rimbaud, Lautréamont u. Celan, terielle weiterhin konstitutiv für S.s Dichder die symbolistisch-surrealistische Bild- tung. In einem autobiogr. Text des Sammelbands Nachricht vom Fleisch der Götter. Bekenntlichkeit aktualisiert. Als zentrale Metapher seiner Dichtung nisse und Geschichten (Halle 2003), der Reden, fungiert das Fleisch. In dem Prosaband Sog Aufsätze, Prosa u. Traumprotokolle enthält, (Halle 1997) heißt es, das »Finden von Wor- charakterisiert S. seine poetische Arbeit als ten« diene dazu, »Fleisch zu erforschen«. S.s »Waidwerk am Selbst« (S. 115), das gleicherProsa besitzt einen atemlosen, drängenden, maßen das eigene Fleisch wie das Gehirn dynam. Stil. Die Sprechhaltung ist monolo- ausbeute. S. hat mehrere Förderpreise u. Stipendien, gisch, erwächst aus Verzweiflung, Angst u. Schmerz. Der autobiogr. Text Nachhall (Frag- u. a. 2009 für Schloss Wiepersdorf, erhalten u. mente) deutet an, dass diese emotionalen war 2006/2007 Stadtschreiber der Burgstadt Prägungen mit dem Suizid des Vaters 1992 zu Ranis. Er schreibt auch Nachdichtungen tun haben. In ihren dichtesten Passagen er- bosn., serb. u. kroat. Literatur. innert S.s Prosa mit ihren Interjektionen, Weitere Werke: pathetischer morgen. Halle surrealen u. Traumbildern manchmal an die 1998 (L.). – Karawane des Schlafs. Serigraphien Prosa Trakls (»O Verwelkte, von den Äthern Pontus Carle. Bln. 1998. – Herzmondlegenden. beherbergt, Verblichene, die mir im Traum Texte A. S. Holzschnitte Ulrich Tarlatt. Bernburg/ singt mit ihren ruhenden Bildern!«). S. Dobis 1999 (Pr.). – Sommerserife. Ein Gedicht u. schreibt sowohl lyrisch-rhythmisierte, gera- ein Nachsatz. Halle/Saale 2000. – Apfel u. Szepter. Klingenberg 2010 (L.). dezu selbstvergessen wirkende als auch agLiteratur: Ralf Meyer: Der archäolog. Blick des gressive, verletzende Prosa. Posen der MegaAusgeschlossenen. In: A. S.: Die Spur der Vogellomanie kontrastieren krass mit der Selbstmenschen. 46 Gedichte. Halle/Saale, S. 78–80. kritik an der »Inszenierung des UnfähigJürgen Egyptien seins.« Die hekt. Produktivität steht zgl. unter dem Verdacht der Vergeblichkeit: »Aber kein Wort mehr, das bleibt. Zeichen, / in Schinkel, Karl Friedrich, * 13.3.1781 Steine gegrabne Gesänge, die sich hinter / den Neuruppin, † 9.10.1841 Berlin; Grabblauschwarzen Föhren verschweigen.« (Die stätte: ebd., Dorotheenstädtischer FriedSpur der Vogelmenschen. Halle 1998, S. 45) hof. – Architekt, Maler, Bühnenbildner, Um 2000 wandelt sich S.s Lyrik. Das zuArchitekturtheoretiker. weilen forciert Wirkende tritt zurück, häufiger greift S. nun auch auf den Reim u. me- 1797 verließ der Sohn eines Superintendentrisch gebändigte Formen zurück. Die An- ten († 1787) das Gymnasium in Berlin. ordnung der Gedichtbände in Zyklen bzw. als Friedrich Gillys Entwurf für ein FriedrichEinzelzyklus, zuletzt in Gedächtnisschutt Denkmal bewog ihn, Architekt zu werden; (Aschersleben 2008), wird zugunsten der im Atelier der Gillys u. in der 1799 eröffneten Emanzipation des Einzeltextes aufgehoben. Bauakademie bildete er sich aus. 1803–1805 S. veröffentlichte in der Folge mehrere Bände, reiste S. nach Italien (bis Sizilien) u. kehrte in denen Prosagedichte, lyr. u. essayistische über Paris zurück. Während der frz. BesetTexte durchmischt waren (Abgesteckte Paradie- zung Preußens 1806 wandte er sich der Mase. Halle 2000. Unwetterwarnung. Pößneck lerei zu (Landschaften mit bedeutungsvollen 2007. 2009), wobei der selbstreflexive Cha- Architekturen; Panoramen u. Dioramen): rakter zunahm. S. wirft im poetolog. Nach- Vorstufe zu den Dekorationen für 42 Schau-
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spiele u. Opern, die er 1815–1830 für Berliner Hermann G. Pundt: S.s Berlin. Cambridge/Mass. Bühnen gestaltete. S. verkehrte in den intel- 1972. Bln. 1981. – K. F. S. Ausstellungskat.e. Bln./ lektuellen Kreisen Berlins (u. a. bei den Ar- DDR 1980, Bln. 1981. – Hanno-Walter 2Kruft: nims) u. hörte Vorlesungen Fichtes. 1810 er- Gesch. der Architekturtheorie. Mchn. 1985. 1986, S. 339–344. – Erik Forssman u. Peter Iwers: K. F. S.: nannte ihn Friedrich Wilhelm III. zum Geseine Bauten heute. Dortm. 1990. – Mario Zadow: heimen Oberbauassessor an der Oberbaude- K. F. S. Stgt. 1991. – Mitt.en der K. F. S.-Gesellsch. putation, deren Leitung er 1830 übernahm. e. V. Neuruppin 1 [1993]-8 [2002]. 2003–2006 nicht An der regen Bautätigkeit nach der end- ersch. Forts.: Palmette. Mitt.en der K. F. S.-Gesellgültigen Vertreibung Napoleons war S. sch. e. V. 1 [2007] ff. – Barry Bergdoll: K. F. S.: maßgeblich – oft initiierend – u. prägend Preußens berühmtester Baumeister. Mchn. 1994. – beteiligt. Für das Stadtzentrum Berlins ent- Wolfgang Büchel: K. F. S. Reinb. 1994. – Peter warf er 1817 einen Bebauungsplan u. führte Kränzle: K. F. S. In: Bautz. – Elke Katharina Witbis 1836 u. a. die Neue Wache, das Schau- tich: Gelenkte Blicke. Kunstbetrachtung als klassispielhaus, die Schlossbrücke u. die Bauaka- zist. Haltung bei K. F. S. Hbg. 1996. – Heinz Ohff: K. F. S. oder die Schönheit in Preußen. Mchn. u. a. demie aus, wobei er auch Entwürfe für Bild1997. – Hillert Ibbeken (Hg.): K. F. S. Das archihauer u. Kunsthandwerker lieferte. Groß- tekton. Werk heute. Stgt. u. a. 2001. – Andreas projekte – ein Königspalast auf der Akropolis Haus: K. F. S. als Künstler: Annäherung u. Komu. das Schloss Orianda (Krim) – blieben un- mentar. Mchn. u. a. 2001. – Susan M. Peik (Hg.): K. ausgeführt. Auch denkmalpflegerische Fra- F. S.: aspects of his work. Stgt. u. a. 2001. – Mario gen (Renovierung der Marienburg u. der Alexander Zadow: K. F. S. – ein Sohn der SpätaufBurg Stolzenfels) beschäftigten ihn. 1824 klärung: die Grundlagen seiner Erziehung u. Bilreiste er mit Waagen nach Italien, 1826 mit dung. Stgt. u. a. 2001. – H. Ohff: K. F. S. Bln. 2003. Beuth nach Paris u. England (S.s vorwiegend – Christoph Werner: Schloss am Strom. Die Gesch. vom Leben u. Sterben des Baumeisters K. F. S. kurze, nüchterne Notizen enthaltende ReiseWeimar 2004. – Andreas Haus: K. F. S. In: NDB. – tagebücher erschienen, herausgegeben von Hannelore Rüger: K. F. S. Eine Auswahlbibliogr. Gottfried Riemann, in Berlin 1979 bzw. 1986) Potsdam 2006. – K. F. S.: guide to his buildings. u. informierte sich v. a. über Museumsbauten Hg. Andreas Bernhard. Mchn. 2007. – Anne Patricia u. über die neuen industriellen Entwicklun- Simpson: Visions of the nation: Goethe, K. F. S., gen. and Ernst Moritz Arndt. In: The enlightened eye: S.s künstlerische Entwicklung verlief nicht Goethe and visual culture. Hg. Evelyn K. Moore u. eindeutig von einem romant., got. Stil zu ei- A. P. Simpson. Amsterd. u. a. 2007, S. 128–162. – nem klassizistischen, vielmehr wurden die Felix-Johannes Saure: K. F. S.: ein dt. Idealist zwiStilformen vorrangig der jeweiligen Aufgabe schen ›Klassik‹ u. ›Gotik‹. Hann. 2010. – Dietmar Schings: Schauplatz Gendarmenmarkt 1800–1848: entsprechend gewählt. 1819–1840 gab S. Heinrich von Kleist – K. F. S. – E. T. A. Hoffmann – Hefte seiner Sammlung architektonischer Ent- Sören Kierkegaard – Adolph Menzel. Bln. 2010. würfe heraus, in denen einzelne Bauwerke u. Jörg Martin Merz / Red. Projekte mit Stichen u. Erläuterungen dargestellt sind (Bln. Neuaufl. Potsdam 1841–43. Hg. Kenneth S. Hazlett u. a. Chicago 1981. Schinz, Hans (Johann) Rudolf, * 30.5.1745 Zuletzt Nördlingen 2006). Sein seit 1804 ge- Zürich, † 12.1.1790 Uetikon. – Verfasser plantes architekton. Lehrbuch kam nicht von landwirtschaftlichen Anleitungen u. über eine Sammlung von Notizen hinaus, in von Reisebeschreibungen. denen sich der Wandel seiner vorrangigen Als Sohn eines Kaufmanns u. Amtmanns Interessen spiegelt. Ausgaben: Alfred v. Wolzogen: Aus S.s Nachl. wuchs S. in einer bedeutenden Zürcher FaReisetagebücher, Briefe u. Aphorismen. 4 Bde. Bln. milie auf. Nach dem Theologiestudium u. im 1862–64. Neudr. Mittenwald 1981. – Paul Ortwin Anschluss an mehrere Reisen wurde er 1778 Rave (Hg.; ab 1968 Margarete Kühn): K. F. S. Le- Pfarrer in Uetikon, wo er sich bes. um das benswerk. (Bisher) 20 Bde., Mchn. 1939–2007. weltl. Wohl seiner Gemeinde bemühte. Dem Literatur: Paul Ortwin Rave: K. F. S. Mchn. selben Ziel u. aufklärerischer Einflussnahme 1953. Bearb. v. Eva Börsch-Supan. Darmst. 1981. – dienten landwirtschaftl. Anleitungen, deren
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Autor oder Mitautor S. war u. die von der Schinz, Heinrich, * 31.8.1726 Zürich, Naturforschenden Gesellschaft im Kt. Zürich † 18.1.1788 Altstetten (heute zu Zürich). – an die bäuerl. Bevölkerung verteilt wurden. Briefpartner von Johann Jacob Bodmer. Als Mitglied der Helvetischen Gesellschaft S. stammte aus einer alteingesessenen Zürseit 1777 erwarb er sich Verdienste um den cher Familie – sein Vater war Kaufmann –, Abbau von konfessionellen Schranken. Bestudierte Theologie, wurde 1747 in Zürich reits seit 1768 gehörte S. der Vereinigung ordiniert u. war 1754–1788 Pfarrer in Altaufklärerisch denkender Geistlicher, der Asstetten. Er verfasste theolog. u. philosophiketischen Gesellschaft, an; 1775 wurde er sche Werke u. nahm, wie aus seinen weitgeMitglied der Naturforschenden Gesellschaft hend unpublizierten Korrespondenzen, die in Zürich, als deren Sekretär er von 1778 bis in der Zentralbibliothek Zürich aufbewahrt zu seinem Tod wirkte. 1778 redigierte er die werden, hervorgeht, regen Anteil an der lite»Monatlichen Nachrichten einicher Merkrar. Diskussion im Zürich der Spätaufkläwürdigkeiten«, 1779 die »Schweyzerischen rung. Vor allem im Briefwechsel mit Bodmer Nachrichten«. erweist S. sich als kompetenter GesprächsBekannt wurde S. bes. durch seine Reisepartner u. Berater, der zudem die Mühe auf beschreibungen. Entsprechend den in der sich nahm, Bodmers Werke u. Editionen zu Helvetischen Gesellschaft diskutierten Überkopieren. Bodmer fand, dass seine Briefe an S. legungen, wie Reisen durch die Schweiz für »öfters die mi[e]nen des tagebuches« hätten die Jugenderziehung nutzbar gemacht u. (Leibrock, S. 7). Diese Korrespondenzen sind »desto nützlichere Männer für das liebe, geder wissenschaftl. Beachtung wert, da sie ein meinschaftliche Vaterland« gebildet werden vielseitiges Bild vom literar. Leben im Zürich könnten, leitete u. beschrieb er 1773 Die verder Spätaufklärung vermitteln. gnügte Schweizerreise (Erstdr. von Tl. 1 hg. von Literatur: Historisch-biogr. Lexikon der James Schwarzenbach. Zürich 1952), an der Schweiz. Bd. 6, S. 186. – Felix Leibrock: AufkläZürcher Bürgersöhne teilnahmen. In seinen rung u. MA. Bodmer, Gottsched u. die mittelalterl. Beyträgen zur nähern Kenntniss des Schweizerlan- dt. Lit. Ffm. u. a. 1988. – Karin Marti-Weissenbach: des (H.e 1–5, Zürich 1783–87. H. 6 sowie die H. S. In: HLS. Felix Leibrock / Red. 2. Aufl. der H.e 1–5 bearb. von H[einrich] von Orell, 1791) schilderte er als Erster das polit. u. wirtschaftl. Leben der bereisten Gebiete. Schirach, Baldur (Benedikt) von, * 9.5. Weitere Werke: Was Bodmer seinem Zürich gewesen. Zürich 1783. – Anton Gälli (Hg.): Slg. H. R. S. (1745–1790). Mchn. 2005 ff. Literatur: R. S. v. Zürich. In: Monatl. Nachrichten. Zürich 1790 (Biogr. u. Lit.). – Neujahrsblatt der naturforschenden Gesellsch. Ebd. 1801. – Otto Markwart: Eine Schweizerreise aus dem Jahre 1773. In: Zürcher Tb. (1892). – Theodor v. Liebenau: Briefe des Pfarrers R. S. über den Hingerichteten Gelehrten Heinrich Waser. In: Vjs. der naturforschenden Gesellsch. Zürich 1 (1896). – Ulrich Im Hof u. François de Capitani: Die Helvet. Gesellsch. Bd. 1, Frauenfeld 1983. – Roland Inauen: H. R. S. (1745–1790): ein bedeutender Vertreter der frühen schweizer. Volkskunde. Basel 1989. Holger Böning / Red.
1907 Berlin, † 8.8.1974 Kröv/Mosel. – Reichsjugendführer; Reichsstatthalter in Wien.
Der Sohn des Weimarer Theaterintendanten trat bereits 1925 in die NSDAP ein, als er in München sein Studium der Deutschen Volkskunde u. der Geschichte aufnahm. Aufgrund seiner organisatorischen u. propagandistischen Fähigkeiten wurde er 1929 zum Führer des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes ernannt. 1931 avancierte er zum Reichsjugendführer der NSDAP. Durch seine Heirat mit Henriette Hoffmann, der Tochter von Hitlers Leibfotografen, stieß S. 1932 in den engsten Kreis um den NSDAP-Führer vor. Nach der Machtübernahme erhielt er den Titel eines Jugendführers des Deutschen Reichs.
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In seinen Reden, die u. d. T. Revolution der Das Gesicht des Dritten Reiches. Mchn. u. a. 2002, Erziehung (Mchn. 1938) gesammelt erschie- S. 300–318. – Alexander Shuk: B. v. S. u. der nen, seinen Büchern, v. a. Die Hitler-Jugend. volksgemeinschaftl. Erziehungsstaat. In: Ders.: Idee und Gestalt (Bln. 1934), u. als Herausgeber Das nationalsozialist. Weltbild in der Bildungsarbeit v. Hitlerjugend u. Bund Dt. Mädel. Ffm. u. a. der NS-Jugendführerzeitschrift »Wille und 2002, S. 51–62. – Richard v. Schirach: Der Schatten Macht« forderte S. von den ihm unterstellten meines Vaters. Mchn./Wien 2005. – Ralf Georg jungen Deutschen unbedingten Gehorsam Czapla: Erlösung im Zeichen des Hakenkreuzes. gegenüber Adolf Hitler u. der nationalsozia- Bibel-Usurpationen in der Lyrik Joseph Goebbels’ listischen »Bewegung«. Jugendarbeit war für u. B. v. S.s. In: Gotteswort u. Menschenrede. Hg. ihn Vorbereitung auf den Dienst für die Partei ders. u. Ulrike Rembold. Bern u. a. 2006, u. den Staat. In diesem Konzept nahm seine S. 283–326. – Michael Buddrus: B. v. S. In: NDB. Hans Sarkowicz / Red. eigene Lyrik einen bes. Stellenwert ein. Die kurzen, fast formelhaften Gedichte, die in den Bänden Die Feier der neuen Front (Mchn. 1929) u. Die Fahne der Verfolgten (Bln. 1933) Schirmbeck, Heinrich (Wilhelm), * 23.2. zusammengefasst sind, wirken wie Parolen 1915 Recklinghausen, † 4.7.2005 Darmeiner verschworenen Gemeinschaft. Sie soll- stadt. – Erzähler, Kultur- u. Wissenten in einer einfachen, eingängigen Sprache schaftsphilosoph, Journalist u. Essayist. Traditionslinien begründen u. damit den Nach dem Abitur (1934) von den NationalStolz auf die kurze Geschichte der NSDAP u. sozialisten politisch verfolgt u. vom Studium ihren Führer wecken. Das Vorbild der sog. ausgeschlossen, machte der Sohn eines Kampfzeit diente S. immer wieder dazu, zu Reichsbahnangestellten zunächst eine BuchTapferkeit, Opferbereitschaft u. Gefolghändlerlehre. 1939 wurde er Werbeleiter u. schaftstreue aufzurufen. Mit seinen z.T. sehr Mitarbeiter des Feuilletons der »Frankfurter populären Gedichten u. Liedern (wie Unsere Zeitung«. Sein Freund, Peter Suhrkamp, Fahne flattert uns voran) konnte S. schon früh brachte seinen ersten Erzählungsband, Die seinen Ruf als »Sänger der Bewegung« beFechtbrüder (Bln. 1944. Neuausg. Mainz 1995), gründen, der ihm bei seinem steilen polit. heraus; die von Suhrkamp abgelehnte roAufstieg hilfreich war. mantisierende Erzählung Der Kris erschien 1940 wurde S. als Reichsjugendführer aberst 2005 (Wiesb.). 1940–1945 war S. Soldat, gelöst u. zum Gauleiter u. Reichsstatthalter nach dem Krieg Mitarbeiter verschiedener in Wien ernannt. Formell blieb er aber Tageszeitungen. Er schrieb rund 250 – teils »Reichsleiter für die Jugenderziehung der viel diskutierte – Funkessays. Seit 1967 lebte NSDAP«. In den Nürnberger Prozessen gegen er in Darmstadt. die Hauptkriegsverbrecher wurde S. 1948 zu Im Zentrum von S.s literar. Werk steht die 20 Jahren Haft verurteilt, die er in Spandau Konfrontation von begriffl. Rationalität der verbüßte. Wissenschaften mit archaischen DenkforWeitere Werke: Ich glaube an Hitler. Hbg. men, von Naturgesetz u. Erlebnis. S. betont 1967 (Autobiogr.). – Herausgeber: Das Lied der Ge- die Unverwechselbarkeit des Individuums u. treuen. Verse ungenannter österr. Hitler-Jugend des Kreatürlichen u. weist die Naturwissen[...] 1933–37. Lpz. 1938. schaften auf ihre ethische Verantwortung hin. Literatur: Michael Wortmann: B. v. S. Hitlers Dies ist auch Thema seines 1957 erschienenen Jugendführer. Köln 1982 (mit Bibliogr.). – Jochen v. Hauptwerks, des Ideenromans Ärgert dich dein Lang: Der Hitler-Junge. B. v. S. Der Mann, der rechtes Auge. Aus den Bekenntnissen des Thomas Deutschlands Jugend erzog. Hbg. 1988. Mchn. Grey (Darmst. 21958). Es geht um die Aus1991. – Lex. ns. Dichter. – Thomas Mathieu: Kunstauffassungen u. Kulturpolitik im NS. Studien wirkungen des abstrakt-begriffl., mathemat. zu Adolf Hitler, Joseph Goebbels, Alfred Rosen- Denkens auf Politik u. Gesellschaft, um berg, B. v. S., Heinrich Himmler, Albert Speer, Atomphysik, Selbstvernichtungsmöglichkeit Wilhelm Frick. Saarbr. 1997. – Joachim Fest: B. v. S. des Menschen, Ökologie, Wissenschaft u. u. die ›Sendung der jungen Generation‹. In: Ders.: Ethik.
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Als Erzähler ist S. der klass. Novellistik u. der Erzähltradition Stifters verpflichtet, insofern er alltägl. Ereignisse aufgreift u. mystisch vertieft (Die Pirouette des Elektrons. Düsseld. 1980. Neuaufl. Wiesb. 2005). In seinen Essays plädiert er für eine Literatur, die zum ethisch humanen Einspruch gegen den Weltlauf wird u. sich den Herausforderungen der Naturwissenschaften stellt, indem sie deren Sprache versinnlicht u. damit begreiflich macht (Die Formel und die Sinnlichkeit. Bausteine zu einer Poetik im Atomzeitalter. Mchn. 1964. Ihr werdet sein wie Götter. Der Mensch in der biologischen Revolution. Düsseld./Köln 1966. Schönheit und Schrecken. Zum Humanismusproblem in der modernen Literatur. Mainz 1977. Für eine Welt der Hoffnung. Darmst. 1988. Die Angst des Ödipus. Zum sozial-ethischen Defizit der Moderne. Ffm. u. a. 1996. Gestalten und Perspektiven. Essays, Porträts und Reflexionen aus fünf Jahrzehnten. Darmst. 2000). S. engagierte sich folgerichtig gegen Nachrüstung u. Atomkraft. Weitere Werke: Erzählungen: Gefährl. Täuschungen. Bln. 1947. Erw. u.d.T. Der junge Leutnant Nikolai. Darmst. 1958. Neuaufl. Düsseld./ Hbg. 1969 (R.). – Das Spiegellabyrinth. Freib. i. Br. 1948. – Die Nacht vor dem Duell. Ffm./Hbg. 1964. – Träume u. Kristalle. Ffm. 1968. – Aurora. Gött. 1968. Literatur: Karl August Horst u. Fritz Usinger (Hg.): Lit. u. Wiss. Das Werk H. S.s. Düsseld./Hbg. 1968. – Joseph Dolezal: Phantastik, Wiss. u. Science Fiction im Werk H. S.s. In: Quarber Merkur 24, Nr. 66 (1986), S. 19–25. – Rolf Stolz (Hg.): Orpheus im Laboratorium. Weilerswist [1995]. – Gerald Funk: Die Formel u. die Sinnlichkeit. Das Werk H. S.s. Mit Personalbibliogr. Paderb. 1997. – Cynthia L. Appl: H. S. and the Two Cultures. A Post-War German Writer’s Approach to Science and Literature. New York u. a. 1998. – G. Funk: Im Labyrinth der Spiegelungen. H. S. als phantast. Erzähler. Wetzlar 2001. – Petra Ernst: H. S. In: LGL. – G. Funk: H. S. In: NDB. Franz Rottensteiner
Schirmer, David, auch: Der Beschirmende, * 29.5.1623 Pappendorf bei Freiberg, beerdigt 12.8.1687 Dresden. – Lyriker, Ballett- u. Singspielautor. Der aus einem Pfarrhaus stammende S. absolvierte seine Gymnasialzeit in Freiberg u.
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ab 1640 in Halle. Unter Christian Gueintz’ Rektorat lernte er hier die neue dt. Kunstdichtung kennen. 1641 immatrikulierte sich S. in Leipzig, 1645 in Wittenberg; dort fand er in August Buchner einen wichtigen Förderer. 1650 berief ihn Kurfürst Johann Georg I. als »Hofdichter« nach Dresden, zunächst ohne, ab 1653 mit fester Besoldung. Auf Vorschlag seines Gönners u. Freundes Christian Brehme erhielt S. zusätzlich ab 1655 dessen Stelle als Hofbibliothekar. Mit Gueintz u. Buchner waren zwei bedeutende Theoretiker der neuen dt. Kunst- u. Sprachauffassung die Lehrer S.s. Souverän ging er als Repräsentant der zweiten Generation der gelehrten deutschsprachigen Kunstpoesie in Deutschland mit dem Formu. Sprachmaterial um u. wurde selbst alsbald zum Musterautor nachfolgender Dichter (bes. seines Freundes Johann Georg Schoch). Anders als die frühen Leipziger Lyriker um Paul Fleming, deren Dichtung ihm sichtlich vertraut war, konnte S. bereits auf eine eigene dt. Kanonbildung zurückgreifen. In seiner ersten Gedichtsammlung markierte er diese dt. Traditionslinie durch Namen wie Gottfried Finckelthaus, Andreas Hartmann, Georg Philipp Harsdörffer, Zacharias Lund, Johann Rist u. Caspar Ziegler. Schon 1647 wurde S. als »Der Beschirmende« Mitgl. der Deutschgesinneten Genossenschaft Philipp Zesens. 1650 gab S. u. d. T. Poetische Rosen Gepüsche (Halle) seine erste Lyriksammlung heraus. Die Rosen Gepüsche sind die Früchte der 1640er Jahre u. versammeln ausschließlich Liebeslyrik. Vier nur lose geordnete Bücher bieten schäferlich-petrarkistische Liebeslyrik – z.T. mit den für den Leipziger Lyrikerkreis typischen autobiogr. Andeutungen –, einen Zyklus Marnia Sonnette u. etliche Epigramme. Zitat, Imitation u. Parodie dt. Vorlagen sind S. dabei wichtiger als formale Experimente. Es ist die traditionsreiche, auf das ganze Reich wirkende sächs. Sprachpflege, die S.s Poesie nachhaltiger als zeitgleiche Dichtung anderer Regionen prägt. Weder folgt S. Zesens extremer Eindeutschungspraxis noch der extremen Klangmalerei der Nürnberger. Wegen seiner poetischen Naturbilder wird er als einer der ersten Vorläufer der anakreont. Dichtung in Deutschland genannt. Daneben
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können seine Freudenlieder an die Liebe fast hymn. Töne erklingen lassen. Trotzdem verkörpert S.s Sprache nur einen bestimmten regionalen Sprachzustand u. Entwicklungsgrad u. nicht etwa ausdrucksästhetische Subjektivität. Aber als solider Durchschnittsautor in der Mitte des 17. Jh. spiegelt er in seiner Lyrik beispielhaft das erreichte Sprachniveau der Zeit wider. Ein 1653 in Leipzig erfolgter unautorisierter Nachdruck der Rosen Gepüsche darf als Beleg für das Interesse an seiner Dichtung gelten. Die starke musikal. Ausrichtung des Dresdener Hofes mag der äußere Anlass dafür gewesen sein, dass S. 1654 in Dresden die Liedersammlung Singende Rosen herausgab (Internet-Ed.: HAB Wolfenbüttel [dünnhaupt digital]). Der Dresdener Hofmusiker Philipp Stolle lieferte die Melodien. Hauptthema der 68 Lieder ist die Verknüpfung von Liebe u. Tugend. Die Sammlung ist in zweifacher Hinsicht von bes. Reiz: Zum einen verleiht ihr die themat. Beschränkung im Gegensatz zu den Rosen Gepüschen einen relativ geschlossenen Charakter, zum anderen gebietet die Gattung Lied eine sehr schlichte u. einfache Sprache. Die Begrenzung des Strophenumfangs u. die Beachtung der Sangbarkeit bewirken einmal mehr, dass S.s Sprachkraft frisch u. unverbraucht zur Geltung kommt. Nach der 1657 besorgten erweiterten Fassung der Rosen-Gepüsche (Dresden. InternetEd.: HAB Wolfenbüttel [dünnhaupt digital]) fasst ein letzter Sammelband von 1663 S.s poetisches Schaffen am Dresdener Hof zusammen: Die Poetischen Rauten-Gepüsche enthalten neben der höf. Gelegenheitsdichtung seine Ballette, Singspiele u. Dramen. Es sind für den Hof geschriebene Werke, die ihre literar. Qualität in der panegyr. Funktionalisierung antiker Stoffe bewahren. Weiterhin betätigte sich S. als Herausgeber der Arien Kriegers (1667) u. als Übersetzer poetischer wie histor. Werke. – S. hat nicht als Kirchendichter gewirkt. Die in den Singenden Rosen versprochenen geistl. Arien sind entweder verschollen oder (wahrscheinlicher) nicht gedichtet worden. Umso bemerkenswerter ist, dass der Lyriker S. zumindest in größeren Anthologien zum 17. Jh. einen
Schirmer
Platz behaupten konnte. Gänzlich vergessen ist seine Leistung als Dichter der Ballette u. Singspiele. Aber noch Gottsched rühmt in seinem Nöthigen Vorrat, dass S.s Ballett Paris und Helena nach Opitzens Daphne die erste dt. Oper ist, die »gleichsam das Signal zu allen deutschen Opern gegeben hat«. Weitere Werke: Jesu Christi Triumph: So den Römischen ubertroffen, denen Freybergern aber geholffen. Freiberg (ca. 1643). Internet-Ed.: ULB Sachsen-Anhalt. – Übersetzer: Heinrich Freder: Lustige Frage: Ob ein Mann sein Ehe-Weib zu schlagen berechtiget sey. Aus dem Lateinischen ins Teutsche gebracht durch D. S. Dresden 1652. Internet-Ed.: HAB Wolfenbüttel (dünnhaupt digital). – Verwundeter u. wiedergeheileter Loewe. Drama. Dresden 1658. Internet-Ed.: ULB Sachsen-Anhalt. Ausgaben: Neukirch, Tl. 2, S. 18 f.; Tl. 4, S. 112–116. – Auserlesene Gedichte v. Zacharias Lund, D. S. u. Philipp Zesen. Hg. Karl Förster. Lpz. 1837. – Ausw. in: Das dt. Gedicht. 1600–1700. Hg. Christian Wagenknecht. Bd. 4, Gütersloh 1969. – Ausw. in: Wir vergehn wie Rauch v. starken Winden. Dt. Gedichte des 17. Jh. Hg. Eberhard Haufe. 2 Bde., Bln. 1985, Register. – Singende Rosen oder Liebes- u. Tugend-Lieder (Dresden 1654) u. Poetische Rosen-Gepüsche (Dresden 1657). Nachdr. hg. u. mit einem editor. Anhang vers. v. Anthony J. Harper. Tüb. 2003. – Ausw. in: Gedichte des Barock. Hg. Ulrich Maché u. Volker Meid. Stgt. 2005, S. 219–223. – Internet-Ed. etlicher Gelegenheitsschriften in: VD 17. Literatur: Bibliografien: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 5, S. 3608–3638. – Schmidt, Quellenlexikon, Bd. 27, S. 434 f. – VD 17. – Weitere Titel: Max v. Waldberg: D. S. In: ADB. – Reinhard Kade: D. S. In: Neues Archiv für sächs. Gesch. u. Altertumskunde 13 (1892), S. 117–131. – Erwin Kunath: D. S. [...]. Diss. Lpz. 1922. – Helmut Lischner: Die Anakreontik in der dt. weltl. Lyrik des 17. Jh. Diss. Breslau 1932. – Werner Sonnenberg: Studien zur Lyrik D. S.s. Diss. Gött. 1932. – Klaus Garber: Der locus amoenus u. der locus terribilis. Köln 1974, passim. – Anthony J. Harper: In the Nürnberg Manner? Reflections on a 17th Century Parody. In: Neoph. 58 (1974), S. 52–65. – Ders.: The Lyrik Poetry of D. S. Edinburgh 1975. – Ders.: D. S. Stgt. 1977 (mit Bibliogr.). – Heiduk/Neumeister, S. 94 f., 234–236, 462 f., 548 f. – A. J. Harper: D. S. In: German Baroque Writers, 1580–1660. Hg. James Hardin. Detroit/London 1996 (DLB, Bd. 164), S. 289–292. – Judith P. Aikin: The musicaldramatic works of D. S. In: Daphnis 26 (1997), S. 401–435. – A. J. Harper: Zum literar. Leben
Schirmer Leipzigs in der Mitte des 17. Jh. In: Stadt u. Lit. im dt. Sprachraum der Frühen Neuzeit. Hg. Klaus Garber. 2 Bde., Tüb. 1998, Bd. 2, S. 549–571. – J. P. Aikin: A Language for German Opera [...]. Wiesb. 2002, passim. – A. J. Harper: German secular songbooks of the mid-seventeenth century. Aldershot 2003. – Werner Braun: Thöne u. Melodeyen, Arien u. Canzonetten [...]. Tüb. 2004, Register. – Elisabeth Rothmund: Heinrich Schütz (1585–1672). Kulturpatriotismus u. dt. weltl. Vokalmusik [...]. Bern 2004, passim. – Achim Aurnhammer: Martin Opitz’ petrarkist. Mustersonett ›Francisci Petrarchae‹ (›Canzoniere‹ 132), seine Vorläufer u. Wirkung. In: Francesco Petrarca in Dtschld. [...]. Hg. ders. Tüb. 2006, S. 189–210. – William A. Kelly: Neugefundene Gedichte J. L. Praschs u. D. S.s. In: Daphnis 35 (2006), S. 335–336. – Jörg-Ulrich Fechner: D. S. In: NDB. Bernd Prätorius / Red.
Schirmer, Michael, getauft 18.7.1606 Leipzig, † 4.(8.?)5.1673 Berlin. – Schulmann, Verfasser geistlicher Lieder, Übersetzer.
374 Constantinopel [...] nach Anleitung warhafftiger Geschichtschreibung, in alexandrin. Reimzeilen poetisch [...] fürgestellet. Bln. 1669. Internet-Ed.: HAB Wolfenbüttel (dünnhaupt digital). Ausgaben: Fischer/Tümpel 3, S. 457–462. – Internet-Ed. mehrerer Gelegenheitsschriften in: VD 17. Literatur: Bibliografien: Goedeke 3, S. 180 f., 221. – Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 5, S. 3639–3660. – Noack/Splett. – VD 17. – Weitere Titel: Johann Friedrich Bachmann: Magister M. S. [...]. Bln. 1859. – Julius Heidemann: Gesch. des Grauen Klosters zu Berlin. Bln. 1874. – Koch 3, S. 333–341. – Fritz Jonas: M. S. In: ADB. – Lebensbilder der Liederdichter u. Melodisten. Bearb. v. Wilhelm Lueken. (Hdb. zum Evang. Kirchengesangsbuch, Bd. II, 1). Bln. (auch Gött.) 1957, S. 194 f. – Heiduk/ Neumeister, S. 95 f., 236 f., 463, 549, 551. – Sigrid Fillies-Reuter: M. S. In: Bautz. – Noack/Splett, Bd. 1, S. 373–395 (Werkverz. u. Lit.). – Gustav A. Krieg: M. S. In: Komponisten u. Liederdichter des Evang. Gesangbuchs. Hg. Wolfgang Herbst. Gött. 1999 (22001), S. 274 f. – Flood, Poets Laureate, Bd. 4, S. 1845–1847. Michael Behnen / Red.
Nach Schulbesuch u. Studium (Immatrikulation im Sommer 1619 ohne Eidesleistung) in Leipzig (Bacc. art. 22.3.1628, Magister art. Schirnding, Albert Frhr. von, * 9.4.1935 27.1.1630) wirkte S. zunächst als Subrektor Regensburg. – Lyriker, Erzähler, Essayist, (1636), dann als Konrektor (seit 1651) am Übersetzer, Herausgeber, Klassischer Gymnasium Zum Grauen Kloster in Berlin. Philologe. Schon früh kränklich, trat der gekrönte kaiS. stammt aus einer altadligen Familie. Sein serl. Poet (1637) wegen einer GemütskrankVater Ottokarl Freiherr Schirndinger von heit 1668 in den Ruhestand. Neben einer Schirnding war nach dem Ersten Weltkrieg in großen Zahl von Leichengedichten u. einer die Dienste des Hauses Thurn u. Taxis geVergilübersetzung verfasste S. vor allem relitreten. Zunächst Prinzenerzieher, wurde er giös-erbaul. Lieder u. Dichtungen, u. a. Bibli1931 Hofmarschall u. schließlich Dirigierensche Lieder und Lehrsprüche (Bln. 1650), Das Buch der Geheimer Rat der fürstl. GesamtverwalJesu Sirach in allerhand Reim-Arten [...] abgefasset tung. S. schilderte die ihn prägende Atmo(Bln. 1655), Trost- und Lehr-Sprüche, genommen sphäre der engen familiären Verbindung mit aus göttlicher H. Schrifft (Bln. 1656). Einige dem Fürstenhaus in zahlreichen autobiogr. seiner Kirchenlieder – z.B. Nun Jauchtzet, all Erzählungen u. Memorabilien (z. B. Herkomihr Frommen u. O Heiliger Geist, kehr bey uns ein – men. Ebenhausen 1987. Posthorn-Serenade. Rewurden in Johann Crügers Newes vollkömliches gensb. 1992. Alphabet meines Lebens. Mchn. Gesangbuch (Bln. 1640) aufgenommen. An2000). Seit 1942 lebt S. auf Schloss Harmating klänge an die Lieddichtung Johann Heernahe Wolfratshausen. Seit 1946 besuchte er manns sind unverkennbar. das Alte Gymnasium in Regensburg. S. stuWeitere Werke: Frage von der Kraft u. Wirdierte 1953–1958 Klassische Philologie u. ckung der Sternen, wie weit sich dieselbe erstrecke Germanistik in München u. Tübingen, u. a. [...]. Bln. 1654. – Der verfolgte David, das ist: Trauer-Spiel, aus dem ersten Buch Samuelis ge- bei Walter Jens. Seit 1955 arbeitete er in den nommen [...]. Bln. 1660. – Eigentlicher Abriß eines Semester- bzw. Schulferien bis 1961 als Severständigen, tapfferen u. frommen Fürsten [...]. kretär bei Ernst Jünger in Wilflingen. ErinCölln 1668. 21672 (Versübertr. v. Vergils ›Äneis‹). – nerungen an diese Zeit u. Rezensionen zu
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Jüngers Werken aus den Jahren 1974–2000 hat S. in seiner kleinen Schrift Begegnungen mit Ernst Jünger (Ebenhausen 1990. Erw. Neuausg. Tüb. 2002) gesammelt. Nach dem Staatsexamen machte er sein Referendariat in Weiden/Oberpfalz u. war Gymnasiallehrer in Ingolstadt, von 1965 bis 1998 in München. Als Pädagoge wie als Dichter war es immer S.s Bestreben, die klass. Antike u. die humanistische Bildungsidee als lebendiges Erbe zu vermitteln. S. verfasste daher eine ganze Reihe von einführenden Schriften zur griech. Philosophie u. Literatur. Den Vorsokratikern ist der aus Rundfunkvorträgen hervorgegangene Band Am Anfang war das Staunen. Über den Ursprung der Philosophie bei den Griechen (Mchn. 1978. Neuausg. 2008) gewidmet, für den S. selbst die Quellentexte übersetzt hat. Die Weisheit der Bilder. Erfahrungen mit dem griechischen Mythos (Mchn. 1979) demonstriert die Aktualität exemplarischer Mythen (z. B. Prometheus, Narziss, Ariadne). In Maske und Mythos (Düsseld. 1991) wandte sich S. – wie der Untertitel lautet – der »Welt der griechischen Tragödie« zu. Aufsätze zur griech. Literatur u. Nekrologe verdienter Gräzisten versammelt der Band Menschwerdung (Hg. Franz Peter Waiblinger. Ebenhausen 2005). Von S. gibt es auch Hörbücher über Philosophie von der Antike bis zur Gegenwart. Seit 1970 arbeitet er als Kritiker, vorwiegend für die »Süddeutsche Zeitung« u. den »Merkur«, wobei er nicht nur literar., sondern auch psycholog. u. philosoph. Werke rezensiert. Durchs Labyrinth der Zeit. Aufsätze, Essays, Reflexionen (Mchn. 1979) enthält vorwiegend Texte zu pädagog. u. psycholog. Themen, Linien des Lesens (Ebenhausen 1982) bietet eher literar. Lektüreerfahrungen von Boethius über das Nibelungenlied bis zu Joyce. 1982 wurde S. mit dem Johann-Heinrich-MerckPreis für literarische Kritik und Essay der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung u. 2000 mit dem Kritikerpreis des Kulturkreises der Deutschen Wirtschaft ausgezeichnet. Schon mit zwölf Jahren war S. entschlossen, Schriftsteller zu werden. Bereits als Jugendlicher korrespondierte er mit Ina Seidel. S. kam durch Vermittlung Georg Brittings früh in Verbindung mit dem Hanser-Verlag.
Schirnding
Seine Gedichtbände Falterzug (Mchn. 1956) u. Blüte und Verhängnis (Mchn. o. J. [1958]) stehen neben Britting dem lyr. Stil von Hans Carossa, Werner Bergengruen u. Friedrich Georg Jünger nahe. Thematisch überwiegen stimmungsvolle Natur- u. Liebesgedichte von einem gezügelten Pathos. Die Sprache ist geschmeidig, mit einer erkennbaren Neigung zu antiquierten, betont »poetischen« Worten. Die allzu eingängigen melodiösen Schwünge seiner frühen Lyrik wurden S. bald problematisch u. durch einen spröderen, auch rhythmisch gebrochenen Ton abgelöst. Es ist symptomatisch, dass S. aus dem schmalen Band Aug in Aug (Würzb. 1962), der noch dem Ton der 1950er Jahre verhaftet ist, einzig das Titelgedicht, das dort wie ein Fremdkörper wirkte, in den Band Bedenkzeit. Gedichte und Prosa (Ebenhausen 1977) übernommen hat, dessen Gedichte die Wende in seinem lyr. Schaffen markieren. Nun dominiert eine freirhythmische, parlandonahe Form. Die Verse sind häufig auf ein Wort reduziert, was sowohl die Brüchigkeit als auch die Schärfung des Blicks unterstreicht. S.s Gedichte öffnen sich nun auch gesellschaftl. Sujets (»Jeden Tag / verzeichnet ein / unparteiisches / Beobachterauge / ganz unwahrscheinliche / Fortschritte / Die Toten / bis auf wenige Trotzköpfe / verbrannt«). Der humanistische Aufklärer u. engagierte Zeitgenosse S. bewahrt jedoch immer Abstand. Der Schneemann dient S. in seinen Schneemanngedichten (Ebenhausen 1992) als Metapher der notwendigen Distanz: »Jedesmal ein winziger / Substanzverlust / Umarmungen / sind tödlich«. Die späte Lyrik S.s in War ich da? (Hauzenberg 2010) wendet sich stärker der Selbstreflexion zu u. schlägt im Zeichen eines »Ich werde gewesen sein« eleg. Töne an. S.s Prosa kann man als eine Porträt-Galerie charakterisieren. Zum einen zeichnet er mit großer Sensibilität Porträts histor. Personen, wobei er diejenigen, die im Schatten der Geistesheroen stehen, wie den Bruder von Fichte oder Goethes Gesprächspartner Eckermann, bevorzugt (in Halbkreise. Ebenhausen 1997. 1998). Zum anderen enthalten etliche von S.s Prosawerken – neben den bereits genannten vor allem Nach dem Erwachen. Aufzeichnungen. Ebenhausen 2003. 2004) zahl-
Schirokauer
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reiche Selbstporträts, die – wie im zuletzt u. den Friedrich-Baur-Preis für Literatur genannten – die Form literar. Medaillons (2008). haben. Der Stil von S.s Prosa ist durchweg von Weitere Werke: Mit anderen Augen. Ges. Ged. einer distinguierten Vornehmheit. Er ver- Ebenhausen 1986. – Recht u. Richter im Spiegel der körpert auf klass. Weise den Typ des poeta Lit. Stgt. u. a. 1990. – Literar. Landschaften. Ffm./ doctus, ohne dass seine elegante Prosa jemals Lpz. 1998. – Hamlet auf der Akropolis. Erinnepreziös oder bildungsstolz wäre. Mit seinem rungen an die Schule. Regensb. 2000. – Unter dem Roman Vorläufige Ankunft (Ebenhausen 2010) Namenbaum. Ebenhausen 2000 (L.). – Übergabe. Achtzig Gedichte. Ebenhausen 2005. – Herausgaben: hat S. sich erstmals als Erzähler einer fiktiven Reise Textbuch München. Mchn. 1988. – Der ewige Handlung versucht, wenngleich die Kulisse Brunnen der Freundschaft. Mchn. 2007 (mit unschwer das Regensburg der 1950er Jahre Nachw.). – Der ewige Brunnen der Liebe. Mchn. erkennen lässt. Im Mittelpunkt steht der 17- 2007 (mit Nachw.). – Der ewige Brunnen des jährige Miro, der von einem geheimnisvollen Trostes. Mchn. 2007 (mit Nachw.). »Meister« in ein Internat mit zwölf Eleven Literatur: Bibliografie: Franz Peter Waiblinger: aufgenommen wird, in dem sich eine Le- A. v. S. – Bibliogr. 1951–1995. Mchn. 1995. – Weibensführung im Dienste der Kunst mit dem tere Titel: Andreas Heider: Gedichte um Zeit u. Erfordernis strenger Disziplin verbindet. Das Ewigkeit. In: SZ, 19.11.1992. – Eberhard DünninModell des George-Kreises dürfte hier Pate ger: A. v. S. – ein Schriftsteller aus Regensburg. In: gestanden haben. Miros Zimmerkamerad Regensburger Almanach 1994, S. 104–110. – Petra Toni ist Solist bei den Regensburger Dom- Neuberger: ›Es ist halt eine musische Gegend.‹ A. v. S. u. Regensburg. In: ›Der Weg führt durch Gassen spatzen. Bei einem Konzert vor dem Papst in ...‹. Aus Regensburgs Lit. u. Gesch. FS Eberhard Rom ereilt ihn der Stimmbruch, der Meister Dünninger. Hg. Thilo Bauer u. Peter Styra. Restirbt. Miro sieht sich aus der behüteten Welt gensb. 1999, S. 158–168. – Wieland Schmied: Die der Kindheit vertrieben u. steht vor der Not- fünf Kreise eines Lebens. Über A. v. S. In: Lit. in wendigkeit einer Neuorientierung. Der Blick Bayern. 2000, Nr. 60, S. 46–48 u. 59. – Gerd Holzzurück zeigt die Kindheit als »ein weltenfern heimer: A. v. S. In: LGL. – Hans-Rüdiger Schwab: fremdes, über keine Brücke mehr zugängli- A. v. S. In: KLG. Jürgen Egyptien ches Land«. S. ist auch als Herausgeber u. Übersetzer Schirokauer, Arno(ld) (Fritz Kurt), * 20.7. tätig. Neben den erwähnten Vorsokratikern 1899 Cottbus, † 24.5.1954 Baltimore. – übersetzte er Lukian u. Hesiod. Als HerausGermanist, Literaturkritiker, Hörspielgeber machte er sich besonders um den autor, Erzähler. nachgelassenen Teil von Peter de Mendelssohns monumentaler Thomas Mann-Biogra- S. wuchs als sechstes Kind einer jüd. Landfie Der Zauberer verdient. Er hat sich selbst arztfamilie in Cottbus auf. Nach dem Abitur immer wieder mit Thomas Mann beschäftigt ging er 1917 zur Luftwaffe; infolge einer (Thomas Mann. Die 101 wichtigsten Fragen. o. O. Kriegsverletzung verlor er ein Auge. Ein [Mchn.] 2008) u. war an der Edition seiner dreijähriges Philologiestudium schloss er Gesammelten Werke in Einzelausgaben beteiligt. 1921 in München mit der Dissertation Studien Außerdem war S. für die Edition der kunst- zur mittelhochdeutschen Reimgrammatik (Halle theoret. Schriften Lessings in der Hanser- 1923) ab. Nachdem ein HabilitationsstipenAusgabe verantwortlich. Neben einer Aus- dium der Inflation zum Opfer gefallen war, wahl von Gedichten Georges gab er Erzäh- arbeitete S. unter anderem als Hauslehrer u. lungen von Siegfried Lenz u. Dichtungen aus Bibliothekar. Nach seiner Heirat 1926 lebte er dem Nachlass von Rainer Malkowski heraus. als freier Journalist u. Schriftsteller in LeipS. ist Mitgl. der Bayerischen Akademie der zig. In zahlreichen Zeitschriften- u. RundSchönen Künste, deren Literaturabteilung er funkbeiträgen profilierte er sich als sprach1991–2004 leitete, u. der Akademie der Wis- gewandter u. scharfzüngiger Literaturkritisenschaften und der Literatur in Mainz. Er ker. Ab 1929 leitete er beim Mitteldeutschen erhielt u. a. den Schwabinger Kunstpreis Rundfunk in Leipzig das Referat Buchbe(1982), den Regensburger Kulturpreis (2006) sprechungen u. war Mitarbeiter der literar.
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Schlabrendorf
Abteilung. Mit seiner Biografie Lassalle. Die Frühneuhochdeutschen zu den bedeutendsMacht der Illusion. Die Illusion der Macht (Lpz. ten amerikan. Germanisten. 1928) u. Hörspielen wie Der Kampf um den Weitere Werke: Germanist. Studien. Ausgew. Himmel (Urauff. Lpz. 1930) wurde S. auch als u. eingel. v. Fritz Strich. Hbg. 1957 (mit Bibliogr.). – Frühe Hörsp.e. Hg. u. mit einem Nachw. vers. v. Autor erfolgreich. 1933 aus polit. Gründen entlassen, lebte S. Wolfgang Paulsen. Kronberg/Taunus 1976. – Stuabwechselnd im ital. Exil, in Leipzig u. in der dien zur frühneuhochdt. Lexikologie u. zur Lexikographie des 16. Jh. Hg. Klaus Peter Wegera. Schweiz, wo er gelegentlich als Dramaturg u. Heidelb. 1987. – Akihiko Fujii: Buchdruck u. als Autor bei Radio Bern arbeiten konnte. Buchdrucker in der frühnhd. Periode. Probleme Aufgrund einer Denunziation wurde er 1937 um das ›Erbe‹ v. A. S. In: Doitsu-bungaku 84 in Berlin verhaftet u. 13 Monate in Dachau u. (1990), S. 22–38. – Helmut Heinze: Faktographie Buchenwald interniert. 1939 konnte er über romancée, ein erster Blick auf das literar. Werk A. Kuba in die USA emigrieren, wo er sich unter S.s (1899–1954). In: Autoren damals u. heute. Lischwersten gesundheitl. u. wirtschaftl. Be- teraturgeschichtl. Beispiele veränderter Wirkungsdingungen wieder der Germanistik zuwand- horizonte. Hg. Gerhard P. Knapp. Amsterd./Atlanta 1991, S. 713–729. – Helmut Kreutzer: Erfinte. Nach Lehraufträgen an verschiedenen dung u. Wirklichkeit, Individualität u. Kollektiv. Universitäten wurde S. 1946 als o. Prof. an die Streiflichter auf dt. Hörsp.e um 1930 (Günter Eich, Johns Hopkins University in Baltimore be- Bertolt Brecht, A. S.). In: Ders.: Deutschsprachige rufen. Im Jahr vor seinem Tod nahm er eine Hörsp.e 1924–33. Ffm. u. a. 2003, S. 39–56. Gastprofessur in Frankfurt/M. wahr. Theresia Wittenbrink / Red. In Anlehnung an Brechts Theorie des epischen Theaters sah S. im Hörspiel eine stilisierte, entpersonalisierte Form des Berichts. Schlabrendorf, Gustav Graf von, * 22.3. Seine Rundfunkdichtungen verwenden mu- 1750 Stettin, † 21.8.1824 Batignolles bei sikal. Muster wie den Wechsel von Solostim- Paris. – Autor politischer Schriften; Linmen u. Chor u. haben die Struktur zykl. guist. Szenenfolgen. S. bevorzugte in seinem Der in Breslau aufgewachsene Abkomme alFrühwerk einen dynamisch-expressiven, z.T. ten preuß. Adels, Sohn eines der fähigsten pathet. Sprachstil sowie variierende WiederMinister Friedrichs II., studierte Jura in holungen u. Kontrastierungen. Thematisch Frankfurt/Oder u. Halle, als ihm mit der lassen sich seine Hörspiele u. das im Exil Erbschaft (schles. Güter, Domherrenpfründe vollendete Buch Der Weg zum Pol. Sehnsucht, in Magdeburg) völlige Sorgenfreiheit garanOpfer und Eroberung (Hg. Karl-Heinz Christ u. tiert wurde. S. nutzte sie ganz für seine NeiHelmut Heinze. Heidelb. 1989) der Neuen gungen: ausgedehnte Reisen, gründl. StudiSachlichkeit zuordnen; sie behandeln zeitty- en, großzügigstes Mäzenatentum. Nach einer pische Motive wie Großstadt, Technik u. Fußreise in die Schweiz hielt er sich seit 1785 Forschungsabenteuer. in England auf, wobei ihn dortiger RechtsWie sein schriftstellerisches Werk kreiste sinn u. Republikanismus stark beeinflussten. auch S.s sprach- u. literaturwissenschaftl. Die Revolution u. die Republik zogen ihn Forschung um die Ausdrucksmöglichkeiten 1790 nach Paris – gleich anderen dt. Idealisvon Wort, Klang u. Rhythmus. Unter dem ten, wie von der Trenck, Jean Baptiste Cloots, Aspekt des Wandels u. Aufbrechens von se- Adam Lux, deren Schicksal, auf der Guillotimant. u. ästhetischen Konventionen unter- ne zu enden, er nur knapp entrann. Die Gesuchte er u. a. mittelalterl. u. frühneuzeitl. rüchte aus seiner 17-monatigen Haft sind Sprachentwicklungen, setzte sich aber auch wohl größtenteils erfunden, freilich bezeichbereits 1924 u. nochmals 1954 mit der ex- nend für seinen Charakter: etwa dass er den pressionistischen Lyrik auseinander. S. war, Mitgefangenen große Geldgeschenke machnicht zuletzt wegen seiner glänzenden Red- te, oder wie er der Guillotine entging, weil er nergabe, ein sehr geschätzter Lehrer u. zählt sich standhaft weigerte, ohne die vermissten mit seinen Arbeiten zur Entstehung des Stiefel zur Hinrichtung zu gehen – es hat nie
Schlabrendorf
ein Verfahren gegen ihn gegeben u. also auch kein Urteil. Seine Haft fügte dem ungebrochenen Glauben an die Revolution, die er den Deutschen weder zutraute noch wünschte, nur die Abneigung gegen die Revolutionäre hinzu. Seine Liebe zur Republik veranlasste ihn, ein einziges Mal vors Publikum zu treten (doch nur anonym: Kapellmeister Reichardt, der Sansculotte, übernahm vermutlich Redaktion, Herausgabe u. Korrektur): mit der antinapoleonischen Schrift Napoleon Bonaparte und das französische Volk unter seinem Konsulat (Germanien 1804). Weitere Pamphlete, die ihm zugeschrieben wurden, enthalten allenfalls S.s Ideen. In Paris lebte S. außer während seiner Haftzeit nur im »Hotel des deux Siciles«, Rue Richelieu, in einem unaufgeräumten, schmutzigen Zimmer; den Wagen 20 Jahre lang im Hof bereit, aber nie ernsthaft entschlossen abzureisen; nicht einmal, als der Verlust des Erbes drohte: Fünf Jahre blieben seine Güter konfisziert, weil er Preußen ohne Erlaubnis verlassen habe. In Paris trug er eine bald nach seinem Tod verstreute Sammlung seltenster Flugschriften der Revolutionszeit für eine geplante Darstellung ihrer Geschichte zusammen, ließ eine Sprechmaschine bauen u. erfand »feste«, d.h. stereotypierte Lettern, empfing Besucher, die, Frauen wie Männer, von der Anmut seines Wesens u. seiner Erscheinung, von seiner gelassenen Lebhaftigkeit u. der Größe dessen, was er wusste, dachte u. sagte, allesamt tief beeindruckt waren. Varnhagens Paradox »amtlos Staatsmann, heimatfremd Bürger, begütert arm« charakterisiert ihn treffend, könnte gar von ihm selbst stammen, der sich die Grabschrift verfasste »Civis civitatem quaerens obiit octogenarius« (ein Bürger auf der Suche nach dem Gemeinwesen, starb er 80-jährig). Ein ungeheurer Bart aus den Tagen der Haft, über dessen Wert u. Rechtfertigung er Bartsloken schrieb (ungedr.), u. wie ihn allenfalls zeitgenöss. Außenseiter wie Jahn oder studentische Freikorpskämpfer trugen, ohne Strümpfe u. Hemd u. in verschlissenem seidenen Schlafrock, der wohl monatelang nicht gewechselt wurde – dies waren die äußeren Merkmale eines Mannes, dessen geistige
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Unabhängigkeit u. Vornehmheit der Gesinnungen bei fast absurder Schrulligkeit einmalig in der Geschichte dt. Geistes dastehen. So freigebig wie mit Geld war er mit Worten u. Gedanken, ein fesselnder Gesprächspartner u. dabei abgesagter Feind aller Publikation. Es ist daher an der Zeit, die Überreste zu sammeln: die Briefe (»er schreibt wie er spricht«), die umfangreichen Entwürfe (u. a. für ein Buch über die Sprache) u. Aphorismen, deren Prosarhythmik u. eigenwilliger Stil ein außergewöhnl. Exempel darstellen (ein druckfertiges Manuskript, betitelt Umblicke, fand sich im heute verschollenen Nachlass). Nicht Ästhetik, sondern Gemeinsinn ist Triebfeder seines Denkens gewesen: Darauf gründet die Suche nach einer dt. Ursprache, geläutert von allem Überflüssigen u. vom für S. Verderblichen der Schrift, gleich der Kunstprosa berühmter antiker Rhetoren mündlich wirkend. Ihrer Einführung hätte eine Orthografiereform ganz auf phonet. Basis voranzugehen, die auch der Länge u. Schwere der Silben Rechnung tragen sollte. Zuletzt scheint S. die sprachl. Vollkommenheit im 14-Silbler gesehen zu haben, den er meist dichtete (oder richtiger, zu dichten suchte – es gibt auch 13- oder 15-Silbler). – Zu seinen materiellen Nutznießern zählten Claudius, der alte Friedemann Bach u. zeitweilig wohl auch Friedrich Schlegel; zu den erotischen Mary Wollstonecraft Godwin, Caroline von Humboldt u. Caroline von Wolzogen; zu den intellektuellen, v. a. hinsichtlich polit. Anregung, Sieyès, Reichardt, Karl August von Hardenberg, der Freiherr vom Stein u. Wilhelm von Humboldt, fürs Literarische u. Linguistische der Letztgenannte, vielleicht auch Konrad Engelbert Oelsner u. vor allem Carl Gustav Jochmann, der sein 1828 in Heidelberg erschienenes Buch Über die Sprache mit Fragmenten eines Gesprächs mit S. Über den Rhythmus eröffnete. Weitere Werke: Karl August Varnhagen v. Ense, s. u., S. 173–197, u. Bertha Badt, s. u., S. 225/ 26, enthalten Kostproben aus dem Nachl. Dieser befand sich 1918 noch im SA Breslau. – Jochmanns Gesprächserinnerungen mit S. in: Prometheus für Licht u. Recht 1 (1832), S. 148–204. – Briefe v. S. an Varnhagen in: Wilhelm Dorow: Denkschr.en u.
Schlaf
379 Briefe. Bd. 2, Bln. 1838, S. 8–21. Bd. 3, 1839, S. 191–203. Literatur: Karl August Varnhagen v. Ense: Denkwürdigkeiten. Bd. 1, Mannh. 1837, S. 142–197. – Bertha Badt: Graf G. v. S., der dt. Einsiedler in Paris. In: Ztschr. für Bücherfreunde N. F. 10, 2. Hälfte (1918), S. 211–226. – Theodor Heuss: Der Diogenes v. Paris. In: Ders.: Schattenbeschwörungen. Stgt. 1947, S. 81–90. – Jürgen Schiewe: Rhythmus u. Revolution. Graf G. v. S. u. die Sprache. In: LiLi 18 (1988), 72, S. 44–59. – Ders.: ›Mir ist’s als stünd ich in Deiner Gegenwart‹. Die Beziehung zwischen Caroline v. Wolzogen u. Graf G. v. S. In: Caroline v. Wolzogen: 1763–1847. Hg. Jochen Golz. Marbach 1998, S. 51–61. – Hartmut Scheible: Civis Civitatem Quaerens – G. Graf v. S. u. die Sprache der Republik. In: Wirklichkeitssinn u. Allegorese. FS Hubert Ivo. Hg. Susanne Gölitzer u. Jürgen Roth. Münster 2007, S. 115–138. Ulrich Joost / Red.
Schlaf, Johannes, * 21.6.1862 Querfurt/ Sachsen, † 2.2.1941 Querfurt/Sachsen; Grabstätte: ebd., Städtischer Friedhof. – Dramatiker, Erzähler, Essayist, Übersetzer. Der Kaufmannssohn S., schon als Gymnasiast in Magdeburg mit Hermann Conradi befreundet, studierte 1884 in Halle, danach in Berlin Altphilologie u. Germanistik. In Berlin schloss er Freundschaft mit Arno Holz, dessen revolutionäre Kunstauffassung seinen unter elterl. Einfluss zurückgehaltenen literar. Ehrgeiz wachrief. Ihre enge Zusammenarbeit, v. a. 1888/89 in der gemeinsam bewohnten Kammer in Pankow, brachte Werke hervor, die als erste Beispiele des »konsequenten Naturalismus« gelten können. Namentlich der unter dem Pseud. Bjarne P. Holmsen erschienene Prosaband Papa Hamlet (Lpz./Bln. 1889) u. das Drama Die Familie Selicke (Bln. 1890) schufen – so Fontane – künstlerisches Neuland. Mit mehreren eigenen Werken erbrachte S. dann zwar den Beweis für seine künstlerische Unabhängigkeit, fühlte sich aber wohl schon damals vom begabteren, aggressiveren Holz überschattet. 1893–1897 hielt er sich wegen eines schweren Nervenleidens, das z. T. auf den Kampf um ein eigenes Profil zurückgehen dürfte, in Heilanstalten auf. 1898 kam es zum Bruch,
als S. in einer Reihe von Schriften Holz den größeren Anteil an den gemeinsamen Arbeiten abstritt. Es folgte ein mehrjähriger Broschürenkrieg zwischen den beiden, deren schwieriges Verhältnis in mehreren Romanen von S. Spuren hinterließ, z. B. in Das Dritte Reich (Bln. 1900), Der Kleine (Stgt. 1904), Der Prinz (Mchn. 1908). Seit 1904 lebte S. als freier Schriftsteller in Weimar, wo er u. a. mit Paul Ernst befreundet war. Er wandte sich weitgehend vom Naturalismus ab u. gab sich einer Art Naturschwärmerei hin, die später in mystisch-religiöse Weltanschauung mündete. Er befürwortete eine grundlegende Wandlung des polit. u. religiösen Lebens, stand auch eine Zeitlang dem Nationalsozialismus nahe, zog sich aber 1937 nach Querfurt zurück. Durch Conradi wurde S. früh mit dem frz. Naturalismus vertraut, v. a. mit den Werken Zolas, von denen er später mehrere übersetzte. Holz’ Kunsttheorien fielen so auf fruchtbaren Boden. In enger, in den Anteilen wohl nicht mehr ganz zu entwirrender Zusammenarbeit schufen die beiden eine neue Kunst der minuziösen Wiedergabe, der Sekundenaufnahme, die soziales Elend schonungslos preisgab, aber v. a. im Sprachlichen neue Akzente setzte u. das Untersprachliche aufdeckte. Damit wurden vielen jungen Talenten (u. a. Halbe u. Hauptmann) neue Möglichkeiten eröffnet. Obwohl Holz die größere Kreativität einbrachte (vgl. S.s Vorstudie Ein Dachstubenidyll. In: Die Gesellschaft, Nr. 2, 1890, S. 637–651 [mit dem gemeinsamen Drama Die Familie Selicke]), gelang S. doch in seinem an Zolas Thérèse Raquin anklingenden Drama Meister Oelze (Bln. 1892) ein beeindruckendes, oft unterschätztes Kunstwerk. Die düstere Geschichte von Verbrechen u. Erbschleicherei gab die geistige Enge einer verfeindeten Familie mit naturalistischen Stilmitteln ungeschminkt wieder; jedoch warfen die Figuren des seine Schuldgefühle bis zuletzt niederkämpfenden Tischlers Oelze u. seiner verarmten, halb rachsüchtig, halb gerechtigkeitsbesessen agierenden Schwester tiefenpsycholog. wie religiöse Fragen auf, die S. später weit über den Naturalismus hinausführen sollten.
Schlag
Schon um diese Zeit entstanden Werke mit völlig anderem Grundton. Einige der gemeinsam veröffentlichten Prosastücke Neue Gleise (Bln. 1892) wiesen lyr. Züge auf; jetzt zeigte sich S. in den tagebuchähnl. – u. sehr erfolgreichen – Prosatexten In Dingsda (Bln. 1892) u. Frühling (Lpz. 1896) als naturbegeistertes, impressionistisches Talent. Er pries das einfache Landleben u. die selige All-Einheit der Natur. Unverkennbar die Anklänge an den Monismus Walt Whitmans, dessen Gedichte S. übersetzte (Lpz. 1897). Bald wich diese Idyllik düsteren Ahnungen. S. beschäftigte sich immer mehr mit Zeichen der Dekadenz u. suchte ihnen Visionen einer neuen, gesunden Welt entgegenzuhalten. Es entstanden mehrere Novellenbände sowie impressionistische Dramen wie Die Feindlichen (Minden 1899), in denen die Intensität des Fühlens vorrangig ist. Nach der Jahrhundertwende nahm S.s Suche nach dem »neuen Menschen« myst. Dimensionen an. Neben Romanen wie Der Prinz u. Am toten Punkt (Bln. 1922), die aus den Ergebnissen der exakten Wissenschaften neue Gefühlswerte destillieren wollten, schrieb er Abhandlungen u. Essays über Whitman, Verhaeren u. Maeterlinck (Bln. 1904–1906) u. über sein Ziel der »religiösen Individualität«. Dieses Ideal des starken Menschentums versuchte er auch philosophisch-wissenschaftlich zu begründen, indem er an die Stelle des kopernikan. Weltsystems aufgrund eigener Sonnenfleckenbeobachtungen ein geozentr. Weltbild setzte. Nur der Mensch verkörpere den Geist Gottes u. wisse um die letzten Dinge. Größere Resonanz war unter S.s Spätwerk aber nur den eher naturalistischen Erzählungen Miele (Lpz. 1920) u. Neues aus Dingsda (Querfurt 1933) beschieden. Weitere Werke: Junge Leute (zus. mit Arno Holz). Bln./Lpz. 1890 (R.). – Gertrud. Bln. 1898 (D.). – Helldunkel. Minden 1899 (L.). – Novellen. 3 Bde., Bln. 1899–1901. – Stille Welten. Bln. 1899 (E.). – Die Suchenden. Bln. 1902 (R.). – Peter Boies Freite. Lpz./Bln. 1903 (R.). – Das absolute Individuum u. die Vollendung der Religion. Bln. 1910. – Religion u. Kosmos. Bln. 1911. – Mieze. Mchn. 1912 (R.). – Das Gottlied. Weimar 1922. – Ausgew. Werke. 2 Bde., Querfurt 1934 u. 1940. – Aus meinem Leben. Halle 1941.
380 Literatur: Ludwig Bäte: J. S. Querfurt 1933. – Stegwart Berthold: Der sog. ›konsequente Naturalismus‹ v. Arno Holz u. J. S. Diss. Bonn 1966. – Lothar Jegensdorf: Die spekulative Deutung u. poet. Darstellung der Natur im Werk von J. S. Diss. Bochum 1969. – Gerfried Sperl: Die erste Romantrilogie J. S.s. Diss. Graz 1969. – Heinz-Georg Brands: Theorie u. Stil des sog. ›Konsequenten Naturalismus‹ v. Arno Holz u. J. S. Bonn 1978. – Hartmut Marhold: Impressionismus in der dt. Dichtung. Bern 1985, S. 270–281. – Susanne Arnold u. Elke Mohr: Über die Dekadenz zum neuen Menschen in den frühen Romanen v. J. S. In: Dekadenz in Dtschld. Hg. Dieter Kafitz. Bern 1987, S. 125–141. – Ingolf Schnittka: Der Nachl. J. S.s: Biogr., Bibliogr. u. Komm. 2 Bde. Diss. Halle 1989. – Gaston Scheidweiler: Gestaltung u. Überwindung der Dekadenz bei J. S.: eine Interpr. seines Romanwerks. Ffm. u. a. 1990. – D. Kafitz: J. S. – weltanschaul. Totalität u. Wirklichkeitsblindheit [...]. Tüb. 1992. – Christa Jansohn: ›Verse, die zeitlos, ewig sich erhalten‹. J. S.s Übers. der Shakespeare-Sonette. In: Shakespeare-Jb. 131 (1995), S. 154–165. – Wolfgang Riedel: ›Homo natura‹. Literar. Anthropologie um 1900. Bln./New York 1996. – Ulrich Erdmann: Vom Naturalismus zum Nationalsozialismus? Zeitgeschichtlich-biogr. Studien [...]. Ffm. u. a. 1997. – Jens Stüben: Zur Ed. der v. J. S. u. Arno Holz gemeinsam verfaßten Werke u. ihrer Vorlagen. In: Quelle – Text – Edition [...]. Hg. Anton Schwob. Tüb. 1997, S. 291–300. – Raleigh Whitinger: J. S. and German naturalist drama. Columbia 1997. – Rüdiger Bernhardt: Novalis im Denken J. S.s. In: Studia niemcoznawcze 29 (2005), S. 431–454. – U. Erdmann: Rundgang in Dingsda: Querfurt auf den Spuren v. J. S. Halle/ S. 2006. – Thomas Diecks: J. S. In: NDB. – Gesine Lenore Schiewer: Über Gewalt sprechen: Darstellungsperspektiven sexuellen Missbrauchs in Lit. u. Justiz. In: IASL 32 (2007), 1, S. 153–168. – Ingo Stöckmann: Das innere Jenseits des Dialogs [...]. In: DVjs 81 (2007), S. 584–617. – Florian Gelzer: ›Ein einziges grosses Experiment‹: zu Arno Holz’ u. J. S.s ›Neue Gleise‹ (1892). In: Sprachkunst 39 (2008), 1, S. 37–57. Mary E. Stewart / Red.
Schlag, Evelyn, * 22.12.1952 Waidhofen/ Ybbs (Niederösterreich). – Erzählerin, Lyrikerin. Als S. fünf Jahre alt war u. ihre Eltern acht Monate in den USA verbrachten, lernte S. das Schreiben, um die große Entfernung zwischen sich u. den Eltern zu überbrücken. Dieses Vertrauen an die Macht des »Herbei-
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schreibens« ist stark in ihr geblieben. In der Schule pflegte S. intensive Brieffreundschaften; diese festigten bei ihr die Überzeugung, »daß das, was innerlich in einem vorgeht, wert ist, diskutiert zu werden und beim Notieren in eine Richtung geformt zu werden« (Sibylle Schlesier: »Ein Gramm Ewigkeit«. Ein Gespräch mit E. S. In: MAL 29, 1996, 2, S. 127–149, hier S. 136). Erst als Studentin an der Universität Wien fing S. an, Lyrik zu schreiben. Nachdem sie einen Preis für ein dadaistisches Gedicht gewonnen hatte, brach sie ihre akadem. Karriere ab, um sich ihren literar. Arbeiten zu widmen. Sie unterrichtete drei Jahre in Wien, kehrte dann nach Waidhofen zurück, wo sie noch heute als freie Autorin u. Lehrerin lebt. Weil viele Protagonist(inn)en in S.s Prosawerken sich einsam fühlen, machen sie Reisen u. vertiefen sich in Kunst u. Literatur. Oft suchen sie Verständigung innerhalb eines Liebesverhältnisses. Reisen stellen den Übergang von Normalität u. Geborgenheit zu Aufregung u. größerer Selbsterkenntnis dar. Sie hängen oft mit einer Krise zusammen, seien es Krisen der Identität (Nachhilfe. Mchn. 1981. Brandstetters Reise. Ffm. 1985), der Liebe (Beim Hüter des Schattens. Ffm. 1984. Touché. Ffm. 1994) oder des Berufs (Die göttliche Ordnung der Begierden. Salzb./Wien 1998. Architektur einer Liebe. Wien 2006). In manchen Werken spielen bekannte Schriftsteller eine mitbestimmende Rolle. In Rilkes Lieblingsgedicht (in: Unsichtbare Frauen. Drei Erzählungen. Salzb./Wien 1995) träumt die Protagonistin, dass sie Marina Zwetajewa sei; in Die Kränkung (Ffm. 1987) führt die Protagonistin Gespräche mit Katherine Mansfield; in Die lustwählende Schäferin wird die Barockdichterin Catharina Regina von Greiffenberg dargestellt. Auffallend an S.s Frauenfiguren ist ihre Intelligenz; Gespräche dienen als erot. Vorspiel. Der Liebesakt funktioniert wie der Briefverkehr, indem zwei ebenbürtige Partner versuchen, den Raum zwischen ihnen für einige Minuten zu überbrücken. S. zählt zu den bedeutendsten Lyrikerinnen der Gegenwart. In ihrer Lyrik achtet sie auf Schlichtheit u. Genauigkeit in der Sprache, u. sie spielt mit verschiedenen Formen u. Blickpunkten. Manche Gedichte nehmen eine
Schlag
männl. Perspektive ein (Das Talent meiner Frau. Gedichte 1992–1999. Salzb./Wien 1999), manche stoßen das Männliche um (z. B. Orpheus, weiblich in: Ortswechsel des Herzens. Gedichte. Ffm. 1989), manche formulieren eine weibl. Perspektive zu Männerthemen (Das Gedicht im Krieg in: Das Talent meiner Frau). Solche Gruppierungen erlauben eine vielseitige Untersuchung eines einzelnen Themas. Die Gedichte behandeln die gleichen Themen, die in S.s Prosawerken vorkommen: Liebe, Landschaft, Reisen, Kunst. Der Lyrikband Brauchst du den Schlaf dieser Nacht (Wien 2002) dient z.T. als Paralleltext zu dem Roman Das L in Laura (Wien 2003) u. enthält einige von »Lauras Songs«. S. übersetzte Gedichte von Douglas Dunn, Mark Doty u. Gwyneth Lewis. Ihr Essayband Keiner fragt mich je, wozu ich diese Krankheit denn brauche (Graz/Wien 1993; Grazer Poetikvorlesungen) zeigt, wie sie, als Tochter eines Chirurgen, Ehefrau eines Arztes u. Tuberkulosepatientin, sich für die Zusammenhänge zwischen Kunst u. Medizin interessiert. Weitere Werke: Einflüsterung nahe seinem Ohr. Wien 1984 (L.). – Der Schnabelberg. Ffm. 1992 (L.). – Bring all the pet names. Über Dichter u. Übersetzer, die Domestizierung v. Wünschen u. die Begegnung mit Tigern. In: LuK 38 (2003), H. 373/ 374, S. 64–71. – Introduction. In: E. S.: Selected Poems. Translated by Karen Leeder. Manchester 2004. – Sprache von einem anderen Holz. Wien 2008 (L.). Literatur: Gudrun Magele: Die Prosa v. E. S. im Kontext der zeitgenöss. deutschsprachigen Frauenliteratur. Diplomarbeit Graz 1998. – Susanne Schaber: Von der Geschichte, die eine Treppe hinunterläuft. Laudatio für E. S. In: LuK 34 (1999), H. 331/332, S. 16–18. – Charlotte Ennser: Die Lyrik E. S.s. Diss. Wien 2001. – Petra Ernst: E. S. In: LGL. – Klaus Zeyringer: Das Lieben u. das Dichten. E. S.s poet. Netz. In: LuK 38 (2003), H. 375/376, S. 41–46. – Beverley Driver Eddy (Hg.): E. S. Readings of Text. New York 2004. – Dies.: E. S.s Prosa u. Gedichte. Lebensentwürfe u. Detailzeichnungen. In: ÖGL 51 (2007), H. 1/2, S. 57–67. – Ralf Georg Czapla: E. S. In: KLG. Beverley Driver Eddy
Schlattner
Schlattner, Eginald (Norbert), * 13.7.1933 Arad/Rumänien. – Romanautor. S. kam in einer bürgerl. Familie Siebenbürgens zur Welt, die Kindheit verbrachte er aber in dem von Ungarn bewohnten Dorf Szentkeresztbánya (rumän. Vla˘ht¸ a) sowie in der mehrsprachigen Stadt Fogarasch (rumän. Fa˘ga˘ras¸ ), die später zum Schauplatz seiner autobiografisch inspirierten Texte wurde. S. besuchte ein rumänischsprachiges Gymnasium in Hermannstadt (rumän. Sibiu), lernte aber Deutsch weiter u. maturierte 1952 am Honterus-Gymnasium in Kronstadt (rumän. Bras¸ ov). Sein Leben wurde von der Enteignung der Deutschen während des Krieges, von der Deportation des Vaters in ein sowjetisches Lager (1945) u. von der Enteignung der wohlhabenden Bürger nach der kommunistischen Machtübernahme (1947) bestimmt. Ein Jahr lang, bis zu seiner Relegation, studierte S. evang. Theologie, die er marxistisch umformen wollte. Es folgte 1953–1957 ein Studium der Hydrologie in Klausenburg (rumän. Cluj-Napoca), wo er den dt. Literaturkreis leitete. Unmittelbar vor dem Staatsexamen wurde S. inhaftiert: Die Geheimpolizei Securitate nutzte seinen Nervenzusammenbruch aus u. erreichte, dass S. der Kronzeuge des »Prozesses gegen die deutsche Schriftstellergruppe« wurde. Fünf dt. Schriftsteller (Wolf von Aichelburg, Hans Bergel, Andreas Birkner, Georg Scherg u. Harald Siegmund), aber auch der Bruder Kurt-Felix wurden wegen Hochverrats zu langen Haftstrafen verurteilt. S. selber bekam zwei Jahre wegen »Nichtanzeige von Hochverrat«. Nach der Entlassung bekam S. nur die Stelle eines Hilfsarbeiters, konnte aber die Tauwetterperiode der Endsechziger nutzen u. legte 1969 die Staatsprüfung in Hydrologie ab. Nach einigen Jahren als Ingenieur nahm er 1973 das Theologiestudium wieder auf u. wurde 1978 Pfarrer in Rothberg (rumän. Ros¸ ia) bei Hermannstadt. 1990 setzte S. seine schriftstellerische Tätigkeit fort: Die ersten zwei Bände seiner Romantrilogie wurden auch deswegen ein Erfolg, weil er in diesen mit der nationalsozialistischen Verstrickung der siebenbürgisch-sächs. Geschichte sowie
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mit seinem Verrat an den Freunden u. dem Bruder schonungslos umging. Nach der Rückwanderung der Rumäniendeutschen nach Deutschland in der unmittelbaren Nachwendeperiode verließ S. seine Pfarrerstelle trotz schrumpfender Gemeinde nicht, wirkte auch als Gefängnispfarrer in den Orten seines Leidens weiter u. war in dt. Medien mit Berichten über Rumänien präsent. Der erste Band der Romantrilogie, Der geköpfte Hahn (Wien 1998), erzählt die Geschichte eines einzigen Tages, die des 23.8.1944, als die rumän. Armee die Waffen gegen Deutschland wandte u. die dt. Bevölkerung Rumäniens plötzlich zum Feind wurde – aus der Sicht einer Abiturientenklasse. Durch zahlreiche Einblenden auf frühere Ereignisse des Krieges werden die persönl. Schuld u. Unschuld der Akteure sowie die Verstrickung der Rumäniendeutschen in die Kriegsmaschinerie Hitlers sichtbar. Die offene Stimme des Autors u. die schonungslose Selbstkritik wurden von vielen Rezensenten hervorgehoben. Rote Handschuhe (Wien 2001) erzählt von der kommunistischen Willkür u. der eigenen Haftzeit 1957–1960. Der Verrat von S. an den Schriftstellerkollegen wird in leicht fiktionalisierter Form wiedergegeben, der Autor Hans Bergel, der auch wegen S. zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt wurde, erscheint als Hugo Hügel. Die Bloßlegung der eigenen Schwäche wurde von der Kritik wegen des spannenden Erzählstils als künstlerische Leistung anerkannt, allerdings unter heftigen Protesten der von S. Verratenen. Beide Romane wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Der dritte Roman, Das Klavier im Nebel (Wien 2005), füllt die zeitl. Lücke zwischen den beiden Vorgängertexten u. behandelt die Zeit der Deportationen der Deutschen 1944–1951. Das wache Interesse des Publikums ebbte aber bei diesem Text ab. Die rumän. Regierung verlieh S. 2002 den Titel »Kulturbotschafter Rumäniens«; 2004 wurde er mit dem Österreichischen Ehrenkreuz »artibus et litteris« ausgezeichnet. Literatur: Worte als Gefahr u. Gefährdung. Fünf dt. Schriftsteller vor Gericht (15. September 1959 – Kronstadt/Rumänien). Hg. Peter Motzan u. Stefan Sienerth unter Mitwirkung v. Andreas
383 Heuberger. Mchn. 1993. – Edith Konrad: ›... auch vor dem, was war, fürchte man sich‹. Die Auseinandersetzung mit dem ›Dritten Reich‹ in drei ausgewählten Romanen v. Dieter Schlesak, Hans Bergel u. E. S. In: Dt. Lit. in Rumänien u. das ›Dritte Reich‹. Vereinnahmung, Verstrickung, Ausgrenzung. Hg. Michael Markel u. P. Motzan. Mchn. 2003, S. 269–297. – Ernest Wichner: E. S. In: LGL. – Sven Robert Arnold: E. S. In: KLG. – Grazziella Predoiu: Diktatur u. Verrat in E. S.s Roman ›Rote Handschuhe‹. In: ›Erliegst du der Götter Abgeschiedenheit‹. Exil u. Fremdheitserfahrung in der dt. Lit. Hg. András F. Balogh u. Harald Vogel. ClujNapoca 2007, S. 179–199. – Rolf Willaredt (Hg.): Lit. u. Landschaft am Beispiel der Romantrilogie ›Versunkene Gesichter‹ v. E. S. Timis¸oara 2008. – A. F. Balogh: Exil- u. Fremderfahrung im zeitgenöss. dt. Roman aus Südosteuropa. In: Ders.: Studien zur dt. Lit. Südosteuropas. Cluj-Napoca/Heidelb. 2010, S. 189–204. András F. Balogh
Schlayer, Clotilde, * 18.12.1900 Barcelona, † 18.11.2004 Durham/USA; Grabstätte: Minusio (bei Locarno). – Lyrikerin, Übersetzerin. S. wurde als Tochter des in Spanien tätigen Geschäftsmanns Felix Schlayer in Barcelona geboren. Ihre Mutter war die span. Sängerin Rosa Albagés y Gallego. Bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs wuchs sie in der Nähe von Madrid auf, dann zog die Familie nach Berlin um. Durch Walter Kempner, den Bruder einer Schulkameradin, mit dem sie bis zu dessen Tod (1997) zusammen blieb, erhielt sie Anschluss an den George-Kreis. 1921 kehren ihre Eltern nach Spanien zurück, u. S. begann das Studium der Germanistik u. Hispanistik in München. Seit 1922 studierte sie bei Friedrich Gundolf u. Leonardo Olschki in Heidelberg. 1928 schloss sie das Studium mit der Promotion in Hispanistik ab (Spuren Lukans in der spanischen Dichtung. Heidelb. 1928). George wohnte seit 1928 häufig in S.s Haus in Berlin, ohne dass es zu einer persönl. Begegnung kam. S. übertrug Georges Gedichtband Der Siebente Ring ins Spanische u. ließ 1930 einige wenige Exemplare privat drucken. Die Lesung aus diesem Band (El cerco septimo) wurde im Frühjahr 1931 Anlass für den direkten Kontakt mit George. Seit Herbst 1931 lebte George mit nur kurzzeitigen Unterbre-
Schlayer
chungen gemeinsam mit S. in einem Haus, dem sog. Molino dell’Orso, in Minusio am Lago Maggiore. S. berichtete ihrem in Berlin verbliebenen Partner Walter Kempner in ausführl. Briefen über die Gespräche mit dem »Man« genannten »Meister« u. seinem Adlatus Frank Mehnert (Minusio. Chronik aus den letzten Lebensjahren Stefan Georges. Hg. u. mit Erläuterungen vers. von Maik Bozza u. Ute Oelmann. Gött. 2010). Nach Georges Tod (4.12.1933) lebte S. wieder in Berlin, bis Walter Kempner, der Jude war, sie im April 1935 als medizinische Assistentin zu sich nach Durham (USA) ins Exil holen konnte. Bis zu ihrem Tod blieb sie mit dem erfolgreichen Zellphysiologen u. Erfinder der »Reisdiät« Kempner in Durham u. schuf dort die Atmosphäre eines »New Dahlem«, einer auf die geistige Welt Georges verpflichteten Gruppe von Exilanten u. neuen Freunden. Erst 1981 trat S., die seit 1920 Gedichte schrieb, mit einer selbstständigen Publikation an eine gleichwohl begrenzte Öffentlichkeit, als die Stefan George Stiftung ihre Gedichte (Stgt.) in 300 Exemplaren herstellen ließ. S.s Dichtung verrät formal u. motivisch die enge Bindung an das große Vorbild George. Das frühe titellose Gedicht, das mit der Zeile »Des königs finger spielten mit dem dolche« beginnt u. mit dem »schmalen roten Mal« auf der Brust der »pardelschlanken Tänzerin« endet, ist ein deutl. Echo von Georges Algabal-Zyklus, edle Knaben u. marmorne Tempel sollen eine Atmosphäre des Erhabenen erzeugen. Gleichwohl hat S. in ihren späteren Gedichten zu einem eigenen Ton gefunden. S. hat auch auf englisch, französisch u. spanisch gedichtet u. Georges dichterisches Werk ins Spanische übertragen. Literatur: Maik Bozza: Meisters ›Zuckerne‹. C. S., Stefan George u. das verhaltene Gespräch übers Weibliche. In: Frauen um Stefan George. Hg. Ute Oelmann u. Ulrich Raulff. Gött. 2010, S. 273–288. Jürgen Egyptien
Schlechta von Wssehrd
Schlechta von Wssehrd, Wschehrd, Franz Frhr., * 20.10.1796 Písek/Böhmen (nach anderen Angaben: Wien), † 24.3.1875 Wien. – Lyriker, Dramatiker. S. ist ein typischer Vertreter der altösterr. »Beamtenpoesie«. Der Sohn eines 1819 baronisierten Militärs trat als studierter Jurist in den Staatsdienst ein u. durchlief bis zu seiner Pensionierung im Rang eines Sektionschefs die übl. Laufbahn eines Ministerialbeamten. In seiner Jugend dilettierte S. als Unterhaltungsschriftsteller; seine konventionelle Lyrik – Geselligkeitslieder, anmutig-scherzhafte oder melanchol. Reimgedichte, gemüthafte Naturpoesie – entsprach der Leseerwartung des biedermeierl. Almanach- u. Zeitschriftenpublikums; einigen seiner Gedichte wurde durch Vertonungen Schuberts ein langes Nachleben zuteil (u. a. Auf einen Kirchhof, Widerschein, Fischerweise). Dem aktuellen literar. Geschmack kam S. auch mit der kath.-romant. Idyllendichtung Das Christusbild (Wien 1819) u. seiner nur mäßig erfolgreichen Trivialdramatik im Stil Claurens u. der Ritterromantik entgegen (Der Grünmantel von Venedig. 1820. Wien 1825. Cimburga von Masovien. 1825. Wien 1826). In späteren Jahren ist S. kaum mehr als Schriftsteller hervorgetreten. Ausgaben: Dichtungen. Wien 1824. Neudr. u. d. T. Ephemeren. Mit Vorw. v. Heinrich Laube. Wien u. a. 1876. Mikrofilm Weimar 2009. – Kurt Adel: F. X. S. v. W. In: ÖBL. Cornelia Fischer / Red.
Schleebusch, Anna Elisabeth Freifrau von, geb. von Eick, verw. de Londi, * 23.1. 1626 Schlesien, † 20.3.1706 Polwitz bei Liegnitz. – Geistliche Dichterin.
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Die verschiedenen Andachtssammlungen S.s stellen Lieder, Erörterungen in Prosa u. Gebete unter bestimmten Themenkreisen zusammen. Erbaulich im Ton u. orthodox lutherisch in der Ausrichtung bespricht sie u. a. die Erschaffung der Tiere u. Menschen, die Liebe Gottes, die Himmelfahrt Christi u. die christl. Kirche. Stilistisch sind diese Stücke für die Zeit um 1700 typisch; diejenigen in gebundener Rede ahmen oft bekannte Kirchenlieder nach. Wie für diese Literaturgattung damals üblich, fasst S. sowohl Werke fremder Autoren wie auch ihre eigenen zusammen, ohne die Autorschaft anzugeben. Den Auszügen aus der Bibel fügte sie auch eine Auswahl aus Luthers Vorreden zum AT u. NT bei. Gerade zu der Zeit, als sich der Pietismus größter Beliebtheit erfreute, fanden auch die streng orthodoxen Werke S.s großen Anklang. Werke: Geistl. Ehren-Pforte, zu fleissiger Ubung eines wahren u. reinen Christenthumbs [...]. Ffm. 1677. 21705. – Geist-häußl. Seelen-Apotheken [...]. Ffm. u. a. 1689. – Anmuthiger Seel-erquickender Würtz-Garten, oder Auserlesenes Gebet-Buch [...]. Lpz. 1702. – Bibl. Extract oder Außzug der gantzen Heiligen Schrifft [...]. Lpz. 1703. – Hl. Ubung Gottliebender Seelen, oder geistliche Andachten, auff die fürnehmsten Fest- u. Feyer-Tage [...]. Lpz. 1703. Literatur: Der wayl. hoch- u. wohl-gebohrnen Frauen [...] v. S. [...] Ehren Gedächtnis [1706]. Leichenpredigt: Stolberg No. 8788. – DBA. – Jean M. Woods u. Maria Fürstenwald: Schriftstellerinnen, Künstlerinnen u. gelehrte Frauen des dt. Barock. Ein Lexikon. Stgt. 1984, S. 109. – Elisabeth Gössmann: A. E. v. S. (1626–1706), ›Anmuthiger Seel-erquickender Würtz-Garten‹ (1702) u. ›Geistliche Ehren-Pforte‹ (1677/1705). In: Weisheit, eine schöne Rose auf dem Dornenstrauche. Hg. dies. Mchn. 2004, S. 197–206. – Mirosl/awa Czarnecka: Das wohlgelehrte Frauenzimmer aus dem Liegnitzischen, A. E. v. S. (1626–1706) u. ihre Erbauungstexte. In: Literar. Liegnitz. Hg. Edward Bial/ek. Dresden 2008, S. 29–40. Jean M. Woods / Red.
Obgleich Tochter einer adligen Familie – der Vater Adam von Eick war Ritter u. Herr aus dem Stammhaus Groß-Polwitz u. Heidenberg, die Mutter eine geb. von Schindel –, litt S. während des Dreißigjährigen Kriegs Hunger u. Not. Durch die Barmherzigkeit von Schleef, Einar (Wilhelm Heinrich), * 17.1. Verwandten u. Freundinnen gerettet, heira1944 Sangerhausen, † 21.7.2001 Berlin. – tete sie am 9.4.1645 den in schwed. Diensten Erzähler, Dramatiker; Regisseur, Bühstehenden Oberstleutnant Jakob Freiherr de nenbildner, Fotograf, Maler. Londi, nach dessen Tod den kaiserl. GeneralWachtmeister Jakob Freiherr von Schlee- S., Sohn eines Bauleiters u. Architekten – die busch (am 9.6.1661). dominierende Person im Elternhaus war die
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Mutter, eine Näherin u. ehemalige dt. Jugendmeisterin im Kurzstreckenlauf –, besuchte seit 1958 den Malzirkel des Kunstmalers Wilhelm Schmied in Sangerhausen u. wurde an der Geschwister-Scholl-Oberschule von seinem Kunstlehrer Dietrich Reeg gefördert, der 1961 eine Ausstellung von S.s Bildern in der Schule organisierte. 1962 gestaltete S. sein erstes Bühnenbild zu einer Szene aus Bertolt Brechts Die Mutter, die von der Schultheatergruppe unter der Regie des Intendanten des Thomas-Müntzer-Theaters Eisleben, Herbert Keller, aufgeführt wurde. Im selben Jahr beschloss S., das einige Jahre zuvor begonnene Tagebuchschreiben von nun an gewissenhafter zu verfolgen u. dabei nicht nur äußere Ereignisse, sondern auch seine Gefühle zu notieren. 1963 verfasste er den ersten, von ihm selbst auch später noch anerkannten Prosatext Traum. Ab 1964 studierte S. an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee zunächst Malerei. 1965 musste er die Hochschule wegen der Beleidigung eines Professors für zweieinhalb Jahre verlassen. In dieser Zeit absolvierte er erste Bühnenbildassistenzen am Maxim Gorki Theater u. am Berliner Ensemble. 1967 kehrte er an die Kunsthochschule zurück u. studierte Bühnenbild bei Heinrich Kilger. Nach seinem Diplom 1971 war er bis 1973 Meisterschüler von Karl von Appen. Gleichzeitig entwarf er die von der »Berliner Zeitung« preisgekrönte Ausstattung für Tirso de Molinas Don Gil von den grünen Hosen an der Berliner Volksbühne (Regie: Brigitte Soubeyran). Ebenfalls 1972 begann die erfolgreiche Zusammenarbeit mit dem Regisseur Bernd Klaus Tragelehn, in der S. bald auch als Co-Regisseur fungierte. Sie inszenierten am Berliner Ensemble Erwin Strittmatters Katzgraben; 1974 folgte Frank Wedekinds Frühlings Erwachen u. 1975 August Strindbergs Fräulein Julie. Letztere wurde trotz ausverkaufter Vorstellungen auf Druck der SEDFührung aus dem Spielplan genommen. In der Folge sah sich S. bei seinen Theaterarbeiten so großen Schwierigkeiten ausgesetzt, dass er 1976 von einer Einladung an das Wiener Burgtheater nicht in die DDR zurückkehrte.
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Im Westen gelang S. jedoch zunächst kein Einstieg ins Theater. Mangelnde Arbeitsmöglichkeiten, die Inhaftierung seiner Freundin Gabriele Gerecke nach einem Fluchtversuch aus der DDR u. die schlechte finanzielle Lage stürzten ihn in eine Krise. Er orientierte sich um, studierte Regie an der Deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin (1978–1982) u. begann zu schreiben: Erzählungen, Theaterstücke u. vor allem der zweibändige Roman Gertrud (Ffm. 1980 u. 1984) entstanden, der das Leben seiner Mutter in der DDR in Form von Briefmontagen, Tagebucheinträgen, Inneren Monologen u. Gesprächen erzählt u. dabei ein Panorama der dt. Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jh. skizziert. Gegliedert lediglich durch Jahreszahlen, folgt der Text einer sprunghaften, assoziativen Logik. Dies, die oftmals stark reduzierte Syntax u. das durch regionale Sprache verfremdete Vokabular machen den Roman zu einem experimentellen Text, der von der Kritik »ziemlich genau in der Mitte zwischen Uwe Johnson und Samuel Beckett« (Martin Lüdke, Der Spiegel, 25.2.1985) verortet wurde. Es folgten 1981 der Fotoband Zuhause (Ffm.) mit Texten u. Fotos aus Sangerhausen sowie 1982 der Erzählungsband Die Bande (Ffm.), aus dem einige Erzählungen von S. zuvor als Hörspiel bearbeitet worden waren (Republikflucht. HR 1978. Die Bande. ORF 1978. Tod des Lehrers. HR 1980. Abschlußfeier HR 1983. Wittenbergplatz. SFB 1987). Diese Zehn Geschichten von deutscher Gegenwart protokollieren ein trostloses Alltagsleben, das, zwischen frustrierten Hoffnungen, erdrückender Langeweile u. sinnloser Aggression schwankend, keinen Ausweg aus einer resignativen Gegenwartsdiagnose erkennen lässt. 1983 erschien das erste Theaterstück S.s als Buch: das Schauspiel Wezel (Ffm.). Es handelt von dem Dichter Johann Karl Wezel (1747–1819), der in seinem Heimatort Sangerhausen ein Leben als vermeintlich Wahnsinniger fristet. Anhand dieser Figur, deren Schicksal viele Ähnlichkeiten mit dem Leben Hölderlins aufweist, thematisiert das Stück die Untiefen der dt. Klassik u. ihre Ausgrenzungs- u. Stigmatisierungsverfahren gegenüber subversiver Genialität. Als Schriftsteller genoss S. im Westen rasch
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große Anerkennung, wie nicht nur seine Aufnahme in die Reihe der Suhrkamp-Autoren, sondern auch angesehene Preise zeigen, z.B. 1981 der Förderungspreis der Jürgen Ponto-Stiftung für Gertrud (nach Fürsprache Golo Manns, mit dem S. in engem Kontakt stand) u. 1982 der dritte Preis beim IngeborgBachmann-Wettbewerb für die Erzählung Wittenbergplatz. 1985 holte ihn der neue Intendant des Frankfurter Schauspiels, Günther Rühle, als Regisseur an sein Haus. Schon S.s erste Inszenierung 1986 (Mütter, eine Antikenadaption nach Aischylos) wurde zum Theaterskandal, weil S. gegen die damaligen Trends im Regietheater auf »Überwältigungsästhetik, Antipsychologismus, Chormassen, Rhythmus, Sinnenrausch, Rituale, quälende und ungeschützte Erfahrung« (Behrens, S. 102) setzte. Die Formen, die er dafür fand, blieben auch für die folgenden Inszenierungen prägend, wie z.B. rhythmisiertes Schreien u. Sprechen, Beschränkung auf wenige Requisiten u. typisierende Kostüme, ein fast leerer, schwarz-weiß ausgekleideter Bühnenraum, der durch einen den Zuschauerraum durchquerenden Steg erweitert wird. Auf Mütter folgten in Frankfurt 1987 Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenaufgang, 1988 S.s eigenes Stück Die Schauspieler, 1989 Geschichte Gottfriedens von Berlichingen mit der eisernen Hand dramatisiert, 1990 das von S. wiederentdeckte Stück Lion Feuchtwangers Neunzehnhundertachtzehn oder Sklavenkrieg u. im selben Jahr Goethes Faust in einer Collage des Gesamttextes. Schon mit Vor Sonnenaufgang wurde S. zum Berliner Theatertreffen eingeladen; spätestens seit der Geschichte Gottfriedens von Berlichingen aber hatte er mit seinen Inszenierungen auch beim Frankfurter Publikum großen Erfolg, weiterhin jedoch nicht bei den Kritikern. Nach dem Weggang von Rühle konnte S. aufgrund seiner Radikalität u. Kompromisslosigkeit nur zwei Regiearbeiten erfolgreich abschließen, beide am Berliner Ensemble: 1993 Wessis in Weimar, dessen Autor Rolf Hochhuth die Aufführung allerdings gerichtlich verbieten lassen wollte, weil S. zu sehr in den Text eingegriffen habe; 1996 Brechts Herr Puntila und sein Knecht Matti,
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dessen Wiederaufnahme jedoch platzte, weil S. als Hauptdarsteller nicht zur ersten Vorstellung erschien u. er daraufhin fristlos entlassen wurde. Zu den nicht vollendeten Projekten dieser Jahre gehörten ein Heine-Abend am Bochumer Tanztheater (1991), Faust für das Schiller-Theater in Berlin (1993) u. Richard Wagners Parsifal an der Oper Nürnberg (1994). Viel Material für die beiden zuletzt genannten Projekte ging aber in den Großessay Droge Faust Parsifal (Ffm. 1997) ein, in dem S. seine theatertheoret. Überlegungen niederlegte u. für den er 1998 den Bremer Literaturpreis erhielt. Im Zentrum seiner Überlegungen, die er anhand von z.T. sehr detaillierten dramaturgischen Analysen seines Stückekanons (von Aischylos bis Müller) darlegt, steht dabei der Kampf zwischen Chor u. Individuum, aus dem für S. die eigentl. Energie des Dramatischen erwächst. Um die Jahrtausendwende feierte S. seine größten Theatererfolge, v. a. am Wiener Burgtheater, wo er 1998 Elfriede Jelineks Sportstück, 1999 seine Goldoni-Adaption Wilder Sommer u. im selben Jahr Ulla Berkéwicz’ Der Golem in Bayreuth inszenierte. In seiner letzten Regiearbeit Verratenes Volk (Deutsches Theater Berlin, 2000) – ein mehrstündiges Revolutionsepos, basierend auf Milton, Nietzsche, Döblin u. Dwinger – trug S. selbst einen langen Monolog aus Nietzsches Ecce Homo vor, für den ihm sogar seine Kritiker höchsten Respekt zollten. Neben seinen Theaterprojekten arbeitete S. in den letzten Lebensjahren daran, die Einträge aus seinen Tagebüchern, die er seit 1953 geführt hatte, mit Überlegungen u. Dokumenten späterer Jahre sowie mit Bildern u. Fotos kontrastierend zu ergänzen. Diese Tagebuchcollagen sind postum in fünf Bänden erschienen (Ffm. 2004–2009). Sie geben umfassende Einblicke in S.s Theaterarbeit, in Ost-West-Geschichte u. in Leitmotive der Biografie S.s. Zugleich weisen sie in ihrer doppelgleisigen Komposition, im Ringen um eine »Sprache für das Leiden« (Windrich, S. 482) u. in motivisch-themat. Zusammenhängen einen literar. Charakter auf, der sie (neben Gertrud u. Droge Faust Parsifal) zum dritten Hauptwerk des Schriftstellers S. macht.
387 Weitere Werke: Schlangen. Die Gesch. der Stadt Theben (zus. mit Hans-Ulrich MüllerSchwefe). Ffm. 1986. – Arthur. Bln. 1986. – Waffenruhe. Fotografien v. Michael Schmidt. Bln. 1987. – Republikflucht [Enthält auch: Waffenstillstand; Heimkehr]. Ausstellungskat. Bln. 1992. – Heimkehr (zus. mit dem Berliner Ensemble). Bln. 1993. – Zigaretten. Ffm. 1998. – Vom Leichtfuß. Bln. 1998. – Totentrompeten 1–4. Stücke u. Materialien. Ffm. 2002. – Nietzsche-Trilogie. Lange Nacht. Stücke u. Materialien. Ffm. 2003. – Mooskammer. Ffm. 2003. – Kontaktbögen. Fotografie 1965–2001. Hg. Harald Müller u. Wolfgang Behrens im Auftrag der Akademie der Künste, Berlin. Bln. 2006. – Gertrud Schleef – E. S. Briefw. 1. 1963–1976. Hg. Susan Todd u. H.-U. MüllerSchwefe. Bln. 2009. Literatur: Hans-Thies Lehmann: Theater des Konflikts. Versuch über den Regisseur E. S. In: NR 101 (1990), H. 3, 87–97. – Miriam Dreysse Passos de Carvalho: Szene vor dem Palast. Die Theatralisierung des Chors im Theater E. S.s. Ffm. 1999. – Ulrike Haß: Im Körper des Chores. Zur Uraufführung v. Elfriede Jelineks ›Ein Sportstück‹ am Burgtheater durch E. S. In: Transformationen. Theater der neunziger Jahre. Hg. Erika FischerLichte, Doris Kolesch u. Christel Weiler. Bln. 1999, S. 71–81. – Gabriele Gerecke, Harald Müller u. Hans-Ulrich Müller-Schwefe (Hg.): E. S. Arbeitsbuch. Bln. 2002. – Wolfgang Behrens: E. S. Werk u. Person. Bln. 2003. – Alexander Kluge: Facts & Fakes. Bd. 5: E. S. – der Feuerkopf spricht. FernsehNachschriften. Hg. Christian Schulte u. Reinald Gußmann. Bln. 2003. – David Roesner: Theater als Musik. Verfahren der Musikalisierung in chor. Theaterformen bei Christoph Marthaler, E. S. u. Robert Wilson. Tüb. 2003. – Ernest Wichner: E. S. In: LGL. – Alexander Kosˇ enina: ›Wez ist Feuer, El ist Licht‹. E. S.s Schauspiel ›Wezel‹ (1983). In: Wezel-Jb. 6/7 (2005), S. 329–349. – Nikolaus MüllerSchöll: Entstaltung der moral. Anstalt. Zur Ausstellung der Sprachbildung im Trailer v. E. S.s Inszenierung ›Wessis in Weimar‹. In: Spieltrieb – was bringt die Klassik auf die Bühne? Schillers Ästhetik heute. Hg. Felix Ensslin. Bln. 2006, S. 252–267. – U. Haß: Entortung u. Sprache. Zu einem Kapitel aus ›Droge Faust Parsifal‹ v. E. S. In: Weiterlesen. Lit. u. Wissen. FS Marianne Schuller. Hg. Ulrike Bergermann u. Elisabeth Strowick. Bielef. 2007, S. 65–76. – Ulrike Krone-Balcke: E. S. In: NDB. – Michael Freitag u. Katja Schneider (Hg.): E. S. Der Maler. Köln 2008. – Johannes Windrich. Nachw. In: E. S. Tagebuch 1999–2001. Berlin, Wien. Hg. Winfried Menninghaus, Sandra Janßen u. J.
Schlegel Windrich. Ffm. 2009, S. 473–491. – Martin Laska: E. S. In: KLG. Nicola Gess
Schlegel, August Wilhelm von (seit 1815), * 8.9.1767 Hannover, † 12.5.1845 Bonn; Grabstätte: ebd., Alter Friedhof. – Kritiker, Philologe, Übersetzer, Lyriker u. Dramatiker. Aufgewachsen im evang.-luth. Milieu der Residenzstadt Hannover – sein Vater Johann Adolf Schlegel, jüngerer Bruder des ÄsthetikTheoretikers Johann Elias Schlegel, wirkte dort seit 1759 als Pastor u. seit 1775 als Konsistorialrat u. Superintendent –, nahm S. 1786 in Göttingen ein Studium der Theologie u. Philologie auf. Eine Arbeit über homerische Geographie (De geographia Homerica commentatio. Hann. 1788. Wiederabdruck in: Opuscula, S. 1–114), angeregt durch Christian Gottlieb Heyne, seinem neben Gottfried August Bürger wichtigsten akadem. Mentor, wurde 1787 von der Universität ausgezeichnet. 1791 erhielt S. auf Vermittlung Johann Joachim Eschenburgs eine Anstellung als Erzieher im Haus des Amsterdamer Bankiers Henry Muilman, 1795 schloss er sich dem Kreis der Frühromantiker in Jena an. Dort gab er gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder Friedrich 1798–1800 deren programmat. Zeitschrift »Athenaeum« (Bln.; Nachdrucke: hg. Ernst Behler, Stgt. 1960; hg. Bernhard Sorg, Dortmund 1989) heraus. Am Rezensionswesen der Zeit, dem er allerdings zunehmend kritisch gegenüberstand, beteiligte sich S. durch Beiträge für die in Jena erscheinende »Allgemeine Literatur-Zeitung«. Von seinen ca. 300 Besprechungen haben vor allem diejenigen zu Johann Heinrich Voß’ HomerÜbersetzung, zu Goethes Versepos Hermann und Dorothea (beide 1796) u. zu Herders Sammlung Terpsichore (1797) Bedeutung erlangt. In ihnen spiegelt sich nicht nur die ästhetische Diskussion der Zeit wider, sondern sie stehen mit ihrer philolog. Akribie, ihrer literarhistor. Orientiertheit u. ihrem zuweilen beträchtl. Umfang an der Schwelle zur akadem. Abhandlung. Auch an Schillers »Horen« u. »Musenalmanach« arbeitete S. mit, ehe es Ende Mai 1797 zwischen beiden zum Bruch kam. Der Philologieprofessur in
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Jena (seit 1798) folgte 1801 eine zweite in Berlin. S.s Vorlesungen Über schöne Litteratur und Kunst (Hg. Jacob Minor. 3 Bde., Heilbr. 1884), die neben der Kunstlehre einen Abriss der Geschichte der klassischen u. der romant. Literatur enthalten, verhalfen ihm im In- u. Ausland (z. B. bei den engl. Romantikern Samuel Taylor Coleridge u. William Hazlitt) zu hohem Ansehen u. sicherten ihm die Aufmerksamkeit der frz. Schriftstellerin Anne Louise Germaine de Staël. Seine am 1.7.1796 mit Caroline Böhmer (seit 26.6.1803 Schelling) geschlossene Ehe scheiterte u. wurde am 17.5.1803 aufgelöst. 1804 verließ S. Berlin. Bis 1817 reiste er mit Madame de Staël durch Italien, Frankreich, England u. Skandinavien oder verbrachte mit ihr die Tage auf ihrem Landsitz zu Coppet. Mit seiner 1807 in Paris veröffentlichten Studie Comparaison entre la Phèdre de Racine et celle d’Euripide schuf S. die Grundlagen für die vergleichende Literaturwissenschaft, die sich im Unterschied zu den Nationalphilologien anderen Künsten öffnete, die Übersetzung literar. Texte zu einem wichtigen Arbeitsfeld erhob u. histor. Textkenntnisse für die Theoriebildung fruchtbar machte. Bezugsebene blieb für S. stets die antike Literatur, so z.B. auch in seiner in den Berliner Vorlesungen unternommenen Interpretation des Nibelungenliedes, in der er das mhd. Heldenepos mit der Ilias Homers verglich. Die 1808 in Wien gehaltenen Vorlesungen Über dramatische Kunst und Litteratur (3 Bde., Heidelb. 1809–1811. Lpz. 31846. Nachdr. Hildesh./ New York 1971) u. der als Abschluss seiner Shakespeare-Übersetzung (9 Tle., Bln. 1797–1810) erschienene Richard III. krönten seine Tätigkeit als romant. Literat. S. unterscheidet in seinen Vorlesungen zwei Phasen der dramat. Kunst: Der »klassischen«, die im Drama der Griechen ihren Höhepunkt erreicht u. das Schauspiel der Römer, Italiener u. Franzosen nachhaltig beeinflusst habe, stehe die »romantische« gegenüber, die sich in den Stücken des Spaniers Calderón u. vor allem denen des Engländers Shakespeare manifestiere. Beide Phasen seien charakterisiert durch die unterschiedl. Erfahrung von Wirklichkeit. Während den Griechen die Dissoziation von Phantasie u. Verstand fremd
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gewesen sei u. sie die Welt als ganzheitlich u. harmonisch wahrgenommen hätten, träten in der Neuzeit Empfindung u. Reflexion auseinander. Der romant. Poesie wachse somit die Aufgabe zu, den myth. Seinszustand künstlich-künstlerisch wiederherzustellen. Nach dem Tod Germaine de Staëls folgte S. 1818 einem Ruf auf den Lehrstuhl für Kunst- u. Literaturgeschichte an der neu gegründeten Universität Bonn, wo er sich v. a. als Wissenschaftstheoretiker u. Textphilologe profilierte. Zu seinen Schülern gehörte u. a. Heinrich Heine, der mit seinen iron. Erinnerungen allerdings wesentlich zur Etablierung eines skurrilen S.bildes beitrug. Mit den Observations sur la langue et la littérature provençales (Paris 1818; Sämtliche Werke, Bd. 14, 1846/ 1972, S. 149–250) brach S. der romanistischen Forschung die Bahn, mit seiner Zeitschrift »Indische Bibliothek« (3 Bde., Bonn 1823–30) avancierte er zum Begründer der Indologie in Deutschland. Programmatischen Charakter gewann sein Aufsatz Ueber den gegenwärtigen Zustand der indischen Philologie (Jahrbuch der Preußischen Rhein-Universität 1, 1819, S. 224–250), in dem er die Methodik der Klassischen Philologie als verbindlich für die Beschäftigung mit dem Sanskrit festschrieb. S. verteidigte nicht nur vehement das Lateinische als Sprache des internat. wissenschaftl. Dialogs, sondern entdeckte im Unterschied zu Friedrich Rückert oder Franz Bopp darin auch die Zielsprache schlechthin für Übersetzungen aus dem Sanskrit, da sich die Wortstellung des Altindischen im Lateinischen besser nachahmen lasse als in jeder Volkssprache. Mit zweisprachigen Textausgaben der Bhagavad-Gita (Bonn 1823), des Ramayana (4 Bde., Bonn 1829–45) u. des Hitopadesa (zus. mit seinem Schüler u. Nachfolger auf dem Bonner Lehrstuhl Christian Lassen, Bonn 1829–31) erschloss er der wissenschaftl. Öffentlichkeit zentrale Texte der ind. Literatur. Vorausgegangen war die Erarbeitung einer neuen ind. Typografie, für die S. die Unterstützung des preuß. Staatsministers Karl August Fürst von Hardenberg u. des Kultusministers Karl Sigmund Freiherr von Altenstein erhalten hatte (Specimen novae typographiae Indicae. Paris 1821).
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Obwohl S. in Bürgers Zeitschrift »Akademie der schönen Redekünste« u. dem ebenfalls von Bürger redigierten Göttinger Musenalmanach erste Gedichte hatte veröffentlichen können, kam es, bedingt durch seinen philolog. Zugang zur Literatur, zu keiner weiteren poetischen Entfaltung seines Talents. Während sein Bruder Friedrich durch Intellektualität bestach, blieben S. nur die formale Meisterschaft u. ein krit. Stilbewusstsein, das fantasievollen »Witz« allerdings nicht zuließ. Dichtungen wie die Madame de Staël gewidmete Elegie Rom (Bln. 1805; Sämtliche Werke, Bd. 2, 1846/1971, S. 21–31) wirken konstruiert, gedanklich überfrachtet u. akademisch. Das Drama Ion (Hbg. 1803), mit dem S. das gleichnamige Stück des griech. Tragikers Euripides zu romantisieren suchte, indem es zgl. Kritik der Vorlage u. Originaldichtung sein sollte, fiel ungeachtet mancher wohlwollender Rezension beim breiten Publikum durch. Virtuos zeigt sich S. hingegen in der kleinen Form, insbes. in den Sinn- u. Spottgedichten epigrammat. Zuschnitts, deren größerer Teil Eduard Böcking aus dem Nachlass veröffentlichte. In ihnen zieht er nicht nur ein spött. Spiel mit dem Namen seines jeweiligen Kontrahenten auf, sondern steigert die Wirkung noch, indem er dessen Stil u. individuellen sprachl. Ausdruck parodiert. Nicht nur Schiller sah sich S.s Invektiven ausgesetzt, sondern auch gegen Goethe u. Zelter, Fichte u. Schleiermacher, Rückert, Uhland u. Arndt, Grillparzer u. Raupach sowie Gelehrte u. Universitätskollegen wie Bopp, Niebuhr u. David Friedrich Strauß richtete sich dessen Hohn. S.s zuweilen kongeniale Übersetzungen haben zweifellos als Gründungsdokumente romant. Kulturtransfers zu gelten. Während die Blumensträuße italienischer, spanischer und portugiesischer Poesie (Bln. 1804. Nachdr. hg. von Jochen Strobel. Dresden 2007) vor allem lyr. Texte vom 14. bis zum Beginn des 17. Jh. enthalten, die das gesamte Spektrum romanischen Formenreichtums erfassen, stellt Spanisches Theater (5 Bde., Bln. 1803–1809) die Dramen Calderóns vor. Am nachhaltigsten aber wirkte S.s Übersetzung von 14 Stücken William Shakespeares (Bln. 1797–1810). Sie
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wurde von Ludwig Tieck redigiert u. von Wolf Graf v. Baudissin u. Dorothea Tieck fortgesetzt u. vollendet (Bln. 1825–33. 4 Bde., Heidelb. 1953). Obwohl S. die Prosaübersetzungen Wielands u. Eschenburgs kannte, emanzipiert er sich sprachlich weitgehend von ihnen, indem er, dem Ideal des »objektiven poetischen Übersetzens« folgend u. nach »wahrem Dichten« u. »neuer Schöpfung« strebend, den Inhalt u. sogar den Wortlaut des Originals so getreu wie möglich wiederzugeben u. damit dessen poetische Schönheit zu bewahren suchte, wie er in seinem 1796 in Schillers »Horen« erschienenen Aufsatz Etwas über William Shakespeare bei Gelegenheit Wilhelm Meisters (Sämtliche Werke, Bd. 7, 1846/1971, S. 24–70) programmatisch formulierte. Zwar gelingt es S. Shakespeares kunstfertige Wortspiele adäquat wiederzugeben, indem sich der Rhythmus seiner Übertragung aber nicht am engl. Jambus, sondern am dt. Blankvers orientiert, läuft er dem Original zuweilen zuwider u. nivelliert die gewollten dramat. Spannungen durch klassizistische Glätte. S.s vorrangiges Verdienst um die dt. Romantik besteht in der Vermittlung der von ihm vorgetragenen Ideen, die er im Kern zwar von den Stürmern u. Drängern oder von anderen Romantikern übernahm, aber so auf aphoristisch-prägnante Formeln zu reduzieren verstand, dass sie dem Leser unmittelbar eingängig u. verständlich waren, etwa wenn es in der ersten Vorlesung Über dramatische Kunst und Litteratur heisst: »Die Poesie der Alten ist die des Besitzes, die unsrige ist die der Sehnsucht«. S. vertritt in seinen Schriften die radikalsten Positionen der Frühromantik: Er befürwortet die »Spekulation«, d. h. den krit. Idealismus, räumt der Fantasie den Primat vor dem Verstand ein u. zeigt eine Vorliebe für das »Dunkle« u. »Chaotische«; er verherrlicht das MA u. polemisiert schonungslos gegen die Aufklärung (v. a. in der Klassischen Litteratur), insbes. gegen Wieland, den er des Plagiats an nahezu allen von den Frühromantikern als klassisch erachteten Autoren verdächtigt u. den er als »negativen Klassiker« zu »annihilieren« sucht. Wenngleich sich Schlegel affirmativ zu Dante, Cervantes, Calderón u. Shakespeare als den
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Modellen organischer, fantasievoller u. damit romant. Poesie stellt, steht er aufgrund seines Formbewusstseins u. seines Bestrebens zu systematisieren den Klassikern um Goethe u. Wilhelm von Humboldt zuweilen näher als den Romantikern. Ausgaben: Sämtl. Werke. Hg. Eduard Böcking. 12 Bde., Lpz. 1846/47. Nachdr. Hildesh./New York 1971/72. – Opuscula, quae [...] Latine scripta reliquit. Hg. E. Böcking. Lpz. 1848. Nachdr. Hildesh./ New York 1972. – Gesch. der dt. Sprache u. Poesie. Hg. Josef Körner. Bln. 1913. – Krit. Schr.en u. Briefe. Hg. Edgar Lohner. 7 Bde., Stgt. 1962–74. – Bonner Vorlesungen. Hg. Frank Jolles. Heidelb. 1971 ff. – Krit. Ausg. der Vorlesungen. Hg. Ernst Behler. Paderb. u. a. 1989 ff. – Briefwechsel: Briefw. zwischen Wilhelm v. Humboldt u. A. W. S. Hg. Albert Leitzmann. Halle 1908. – A. W. u. F. S. im Briefw. mit Schiller u. Goethe. Hg. Josef Körner u. Ernst Wilhelm Wieneke. Lpz. 1926. – Briefe v. u. an A. W. S. Hg. J. Körner. 2 Bde., Zürich u. a. 1930. – Ludwig Tieck u. die Brüder S. Hg. Henry Lüdecke. Ffm. 1930. – Krisenjahre der Frühromantik. Hg. J. Körner. 2 Bde., Brünn u. a. 1936, Kommentarbd. Bern 1958. – Lieselotte E. Kurth-Voigt u. William H. MacClain: Three unpublished A. W. S. letters in the Kurrelmeyer Collection. In: MLN 101 (1986), S. 592–608. – Peter Heßelmann: Unveröff. Briefe v. A. W. S. In: Athenäum 5 (1995), S. 345–350. – A. W. S. Der Briefw. mit Friedrich Schiller. Hg. Norbert Oellers. Köln 2005. Literatur: Kat. der v. A. W. v. S. [...] nachgelaßenen Büchersammlung [...]. Nebst einem chronolog. Verzeichnisse sämmtl. v. dem verstorbenen Prof. A. W. v. S. verfaßten u. hg. Druckschriften. Köln/Bonn 1845. – Pauline de Pange: A. W. S. u. Frau v. Staël. Eine schicksalhafte Begegnung. Nach unveröff. Briefen erzählt. Hbg. 1940. 61949. – Bernard v. Brentano: A. W. S. Gesch. eines romant. Geistes. Stgt. 1943. Nachdr. Ffm. 1986. – Margaret E. Atkinson: A. W. S. as a Translator of Shakespeare. A Comparison of Three Plays with the Original. Oxford 1958. – René Wellek: A. W. S. In: Ders.: Gesch. der Literaturkritik 1750–1830. Das späte 18. Jh. – Das Zeitalter der Romantik. Neuwied 1959 (Nachdr. Bln. 1978), S. 294–329. – Chetana Nagavajara: A. W. S. in Frankreich. Sein Anteil an der frz. Literaturkritik. Tüb. 1966. – Frank Jolles: A. W. S.s Sommernachtstraum in der ersten Fassung vom Jahre 1789. Gött. 1967. – Peter Gebhardt: A. W. S.s Shakespeare-Übers. Untersuchungen zu seinem Übersetzungsverfahren am Beispiel des ›Hamlet‹. Gött. 1970. – Ralph W. Ewton: The Literary Theories of A. W. S. The Hague u. a. 1972. – Silke Agnes Reavis: A. W. S.s Auffassung der Tragödie im Zu-
390 sammenhang mit seiner Poetik u. ästhet. Theorien seiner Zeit. Bern u. a. 1978. – Annelen GroßeBrockhoff: Das Konzept des Klassischen bei Friedrich u. A. W. S. Köln u. a. 1981. – Ernst Behler: Das Wieland-Bild der Brüder S. In: Christoph Martin Wieland. Nordamerikan. Forschungsbeiträge zur 250. Wiederkehr seines Geburtstags 1983. Hg. Hansjörg Schelle. Tüb. 1984, S. 349–391. – Gerhard A. Schulz: Literaturkritik als Form der ästhet. Erfahrung. Eine Untersuchung am Beispiel der literaturkrit. Versuche von Samuel Taylor Coleridge u. A. W. S. über das Shakespeare-Drama ›Romeo u. Julia‹. Ffm. u. a. 1984. – Hilde Marianne Paulini: A. W. S. u. die Vergleichende Literaturwiss. Ffm. u. a. 1985. – Ruth Schirmer: A. W. S. u. seine Zeit. Bonn 1986. – Georg Reichard: A. W. S.s ›Ion‹. Das Schauspiel u. die Aufführungen unter der Leitung v. Goethe u. Iffland. Bonn 1987. – Ulrike SchenkLenzen: Das ungleiche Verhältnis v. Kunst u. Kritik. Zur Literaturkritik A. W. S.s. Würzb. 1991. – Roger Paulin: Antikisierende Dichtung der Romantik. Zu A. W. S.s Elegien in klass. Metren. In: Athenäum 3 (1993), S. 55–81. – Ernst Behler: Die ital. Renaissance in der Literaturtheorie der Brüder S. In: Romantik u. Renaissance. Die Rezeption der ital. Renaissance in der dt. Romantik. Hg. Silvio Vietta. Stgt. u. a. 1994, S. 176–195. – Claudia Becker: ›Naturgeschichte der Kunst‹. A. W. S.s ästhet. Ansatz im Schnittpunkt zwischen Aufklärung, Klassik u. Frühromantik. Mchn. 1998. – Ralf Georg Czapla: Die Apologie des Lateinischen als Wissenschaftssprache. Anmerkungen zu A. W. S.s letzter öffentl. Rede als Bonner Professor. In: Jb. Int. Germ. 30 (1998), 1, S. 28–49. – Edith Höltenschmidt: Die MA-Rezeption der Brüder S. Paderb. u. a. 2000. – Jochen A. Bär: A. W. S.s Unterscheidung des ›synthetischen‹ u. des ›analytischen‹ Sprachbaus: Pionierleistung der Sprachtypologie oder sprachphilosophisch-literaturkrit. Reminiszenz? In: Historiographia linguistica 29 (2002), S. 71–94. – Susanne Holmes: Synthesis der Vielheit. Die Begründung der Gattungstheorie bei A. W. S. Paderb. u. a. 2006. – R. G. Czapla: Annäherungen an das ferne Fremde. A. W. S.s Kontroverse mit Friedrich Rückert u. Franz Bopp über die Vermittlung v. ind. Religion u. Mythologie. In: RückertStudien 17 (2006/2007), S. 131–151. – Johannes John: A. W. v. S. In: NDB. – Karl August Neuhausen: Das Bild der Antike in den Bonner lat. Schr.en A. W. S.s. In: Bilder der Antike. Hg. Astrid Steiner-Weber u. a. Gött. 2007, S. 199–248. – YorkGothart Mix u. Jochen Strobel (Hg.): Der Europäer A. W. S. Romant. Kulturtransfer – romant. Wissenswelten. Bln. u. a. 2010. Ralf Georg Czapla
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Schlegel, Dorothea (seit 1798), geb. Brendel Mendelssohn, * 24.10.1764 Berlin, † 3.8.1839 Frankfurt/M.; Grabstätte: ebd., Hauptfriedhof. – Übersetzerin u. Romanautorin. Die zweite Tochter Moses Mendelssohns erhielt eine traditionelle jüd. Erziehung. 1783 verheiratete sie Mendelssohn an einen ehemaligen Schüler, den Geschäftsmann u. Bankier Simon Veit; von ihren vier Söhnen überlebten nur Jonas (später Johannes) u. Feibisch (später Philipp) das frühe Knabenalter. S. veranstaltete eine Lesegesellschaft u. besuchte die Tee-Gesellschaften von Rahel Levin u. Henriette Herz. Dort traf sie 1797 den acht Jahre jüngeren Friedrich Schlegel. S. verließ Veit, zog in eine eigene Wohnung u. wurde 1799 geschieden. Bedingung für S.s Sorgerecht für Philipp war, dass sie den Glauben nicht wechsle. 1799 zog S. nach Jena u. lebte kurze Zeit mit Friedrich, August Wilhelm u. Caroline Schlegel in einem Haus. Friedrichs Lucinde von 1799 wurde vielfach als Schlüsselroman ihrer Beziehung zu ihm aufgefasst. S.s Briefe an Schleiermacher geben ein detailliertes Bild dieser Zeit, die von häusl. Spannungen, aber auch finanziellen Sorgen geprägt war. Um diesen abzuhelfen, griff S., die sich als »Handwerkerin« sah, zur Feder (bereits vorher Übersetzungsarbeiten aus dem Französischen). 1801 erschien anonym, herausgegeben von Friedrich, ihrem »Sohn«, der Roman Florentin (Lübeck. Neudr. hg. von Liliane Weissberg. Ffm. 1987; weiterer Neudr. hg. von Wolfgang Nehring. Stgt. 1993). Er lehnt sich an die Struktur des Bildungsromans an, wie er vom Wilhelm Meister geprägt ist, u. schildert die Abenteuer eines wahrscheinlich aristokratischen jungen Mannes, der Deutschland, England u. Italien bereist u. versucht, Aufschluss über seine Herkunft u. Bestimmung zu finden. Die darin enthaltenen Gedichte verleiteten F. Schlegel zu seiner »Stanzenwut«. Der Roman zeigt stilistische Unsicherheit, war dennoch erfolgreich, erfuhr aber auch scharfe Kritik, bes. als die Autorschaft S.s bekannt wurde. Eichendorffs 1815 in Nürnberg erschienener Roman Ahnung und Gegenwart ist von ihm beeinflusst. S.
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selbst plante einen zweiten Band, zu dem jedoch nur Skizzen erhalten sind (Hans Eichner [Hg.]: ›Camilla‹. Eine unbekannte Fortsetzung von Dorothea Schlegels ›Florentin‹. In: JbFDH 1965, S. 314–368). Ebenfalls in die Jenaer Zeit fallen S.s Rezensionen für das »Athenaeum«. S. u. Friedrich waren häufig durch Reisen getrennt. 1802 zogen sie gemeinsam nach Paris. Dort arbeitete S. an Rezensionen für Friedrichs »Europa« u. übersetzte die Geschichte des Zauberers Merlin, die er in die Sammlung romantischer Dichtungen des Mittelalters (Lpz. 1804. Neudr. hg. von Klaus Günzel. Bln. 1984) integrierte. In Paris ließ sich S. evangelisch taufen u. heiratete Friedrich. Beide zogen 1804 nach Köln. Dort konvertierten sie zum Katholizismus u. erneuerten ihre Ehe. In Köln übersetzte S. die Rittergeschichte Loher und Maller (Ffm. 1805); sie wurde ebenso wie ihre Übersetzung von Mme. de Staëls Corinne (4 Bde., Bln. 1807) von Friedrich herausgegeben u. lange ihm zugeschrieben (vgl. seine erste Gesamtausgabe). 1808 folgte S. ihrem Mann nach Wien, 1816 nach Frankfurt/M. Sie gab die Schriftstellerei auf, beschränkte sich aufs Briefeschreiben u. widmete sich verstärkt der Kirche. 1818–1820 besuchte sie ihre dem Künstlerbund der Nazarener zugehörigen Söhne in Rom u. kehrte dann nach Wien zurück, wohin Friedrich berufen worden war. Nach seinem Tod 1829 zog S. zu ihrem Sohn Philipp, nunmehr Leiter des Städel’schen Kunstinstituts, u. dessen Familie nach Frankfurt/M. Weitere Werke: Briefwechsel: D. S. u. deren Söhne Johannes u. Philipp Veit. Hg. Johann M. Raich. Mainz 1881. – Briefe v. D. u. Friedrich Schlegel an die Familie Paulus. Hg. Rudolf Unger. Bln. 1913. – Caroline u. D. S. in Briefen. Hg. Ernst Wienecke. Weimar 1914. – Der Briefw. Friedrichs u. D. S.s 1818–20 [...]. Hg. Heinrich Finke. Mchn. 1923. – Briefe v. u. an D. S. Hg. Josef Körner. Bln. 1926. – Krit. Friedrich Schlegel-Ausg. Hg. Ernst Behler. 3. Abt.: Briefe v. u. an Friedrich u. D. S. Paderb. 1980 ff. Literatur: Franz Deibel: D. S. als Schriftstellerin [...]. Bln. 1905. – Heinrich Finke: Über Friedrich u. D. S. Köln 1918. – Heike Frank: ›... die Disharmonie, die mit mir geboren ward, u. mich nie verlassen wird ...‹. Das Leben der Brendel/D.
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Mendelssohn-Veit-S. (1764–1839). Ffm. 1988. – Carola Stern: ›Ich möchte mir Flügel wünschen.‹ Das Leben der D. S. Reinb. 1990. – Liliane Weissberg: Schreiben als Selbstentwurf: Zu den Schr.en Rahel Varnhagens u. D. S.s. In: Ztschr. für Religions- u. Geistesgesch. 47 (1995), S. 231–253. – Martha Helfer: D. Veit-S.’s Florentin: Constructing a Feminist Romantic Aesthetic. In: GQ 69 (1996), 2, S. 144–160. – Barbara Becker-Cantarino: D. Veit-S. als Schriftstellerin u. die Berliner Romantik. In: Schr.en der Internat. Arnim-Gesellsch. 3 (2001), S. 123–134. – Carola Stern: D. S. In: NDB. Liliane Weissberg
Schlegel, (Carl Wilhelm) Friedrich von (seit 1815), * 10.3.1772 Hannover, † 12.1. 1829 Dresden; Grabstätte: ebd., Alter katholischer Friedhof. – Kritiker, Philosoph, Literaturtheoretiker, Aphoristiker, Erzähler, Dramatiker, Herausgeber. In einem Brief vom 18.8.1793 macht Novalis S. ein bemerkenswertes Kompliment: »Für mich bist Du der Oberpriester von Eleusis gewesen. Ich habe durch Dich Himmel und Hölle kennen gelernt – durch Dich von dem Baum der Erkenntnis gekostet.« Vier Jahre später aber kritisiert er »den gewöhnlichen Fehler Deiner Schriften. Sie reizen, ohne zu befriedigen – Sie brechen da ab, wo wir nun gerade aufs Beste gefasst sind – Andeutungen – Versprechungen ohne Zahl.« Das Urteil über S. schwankt bis heute zwischen solchen Extremen. Das ist kaum zu verwundern. Denn S. ist ein Extreme auslotender Kopf gewesen: produktiv u. zerrissen wie die frühromant. Gruppe, deren führender Theoretiker er war – unduldsam u. restaurativ wie Metternich, dessen Ideologe er, der berühmteste unter den romant. Konvertiten, später werden sollte. Das jüngste von sieben Kindern wurde in eine traditionsbewusste, entschieden protestantische u. kulturell ambitionierte Familie hineingeboren. S.s Vorfahren waren bedeutende Pastoren, hohe Beamte u. Gelehrte; sein Vater Johann Adolf war Generalsuperintendent u. Nebenstundendichter; sein Onkel Johann Elias gilt als bedeutendster dt. Kritiker vor Lessing. Von seinen Geschwistern schlug Carl August (* 1761) aus der Art, der nach abenteuerl., S.s Fantasie lebhaft bewe-
gendem Leben 1789 in Ostindien als Vermessungsingenieur in engl. Militärdiensten starb. Besonders eng war die Bindung an den brillanten u. früh erfolgreichen Bruder August Wilhelm. S. galt hingegen als Sorgenkind der Familie. Er verbrachte lange Jahre seiner schwermütigen, von Selbstmordgedanken begleiteten Jugend bei Verwandten, bevor ihn sein Vater 1788 zu einer Lehre beim Leipziger Bankhaus Schlemm nötigte. Mit wahrer »Lesewut«, in deren Zentrum Platons Dialoge standen, bereitete sich S., der keine abgeschlossene Gymnasialausbildung hatte, im Revolutionsjahr 1789 auf sein breit angelegtes Studium vor (gemeinsam mit August Wilhelm Jura, Philologie, Geschichte, Philosophie 1790/91 in Göttingen). 1791–1793 setzte er sein Studium in Leipzig allein fort. Dort schloss er enge Freundschaft mit Novalis. Aus Geldnot zog er im Jan. 1794 (u. erneut im Sommer 1798) zur Schwester Charlotte nach Dresden. Die Kunstschätze der Gemäldegalerie beeindruckten ihn tief. Mit ersten Veröffentlichungen (darunter Über das Studium der griechischen Poesie. Neustrelitz 1797) erwarb er sich frühen Ruhm als ästhetischer u. geschichtsphilosophischer Theoretiker. Um S.s Versuche, die Funktion des ästhetischen Mediums nach der Französischen Revolution neu zu bestimmen, kreisten häufig auch die Diskussionen der frühromant. Gruppe, die sich in den Jahren bis 1800 in Jena zusammenfand (u. a. die Brüder Schlegel, Schelling, Novalis, Tieck, Schleiermacher, Caroline u. Dorothea Schlegel). Im Sommer 1796 war S. seinem Bruder in diese durch Goethes Berufungspolitik (u. a. Fichte, Schiller, Schelling) geprägte Universitätsstadt gefolgt. Als Mitarbeiter von Reichardts der Berliner Aufklärung verpflichteten Zeitschriften »Deutschland« u. »Lyceum« hatte S. eine Reihe viel beachteter Fragmente, Aufsätze (u. a. Über den Begriff des Republikanismus. 1796) u. Charakteristiken (u. a. über Jacobi, Georg Forster u. Lessing) veröffentlicht. 1797 lernte S. in den Berliner Salons von Henriette Herz u. Rahel Levin seine spätere Frau Dorothea Veit, geb. Mendelssohn, kennen (Heirat 1804 in Köln). Nicht zuletzt wegen der wachsenden Distanz zu Reichardt drängte S. auf eine eigene Zeitschrift. Mit
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Erfolg: Im Mai 1798 erschien das erste Heft des später legendären, geistreichen, frühromantisch-witzigen u. – so das allgemeine Urteil – »frechen« »Athenaeum« (sechs Hefte bis Aug. 1800 [Bln. Neudr. Darmst. 1960 u. ö.]; von S. darin u. a. zahlreiche Fragmente, die Rezension von Goethes Wilhelm Meister, das Gespräch über die Poesie). Einen Skandal, der fast S.s Habilitation in Jena (Sommer 1800) hätte scheitern lassen, löste sein einziger, deutlich autobiografisch geprägter, ebenso bemüht intellektueller wie erotisch emanzipierter Roman aus: Lucinde (Bln. 1799), ein bemerkenswertes Plädoyer für einen »Rollentausch« zwischen den Geschlechtern u. ein androgynes Verständnis von Liebe. Schleiermacher hat in seinen Vertrauten Briefen (1800) S.s Feier universaler Erotik pantheistisch verstanden u. gerechtfertigt. S.s akadem. Pläne in Jena verwirklichten sich nicht. Seine Vorlesung im Wintersemester 1800/1801 über Transzendentalphilosophie (S.s späterer Antipode Hegel zählte zu den Hörern) konnte er nicht fortsetzen. Schon 1801 löste sich der frühromant. Kreis auf. Dorothea u. S. zogen über Berlin, Dresden u. Leipzig nach Paris, wo S. über dt. Literatur u. Philosophie las u. seine Sanskritstudien (bei Alexander Hamilton) aufnahm, deren für die vergleichende Sprachwissenschaft bedeutungsvolle Resultate er 1808 u. d. T. Über die Sprache und Weisheit der Indier (Heidelb.) veröffentlichte. Ebenfalls 1808 erfolgte die vieldiskutierte Konversion von Dorothea u. S. zum Katholizismus im Kölner Dom. Vorausgegangen waren ästhetische u. theoret. Neuorientierungen des ehemaligen intellektuellen Provokateurs. Überdeutlich an Calderóns theolog. Ästhetik ird. Unheils orientiert war S.s Trauerspiel Alarcos (Bln. 1802), das den tödl. Antagonismus zwischen Liebe u. höf. Ehre gestaltet. Goethe, an S.s assonanten Reimexperimenten u. an der Gegenführung von Trauerspiel u. Tragödie formal interessiert, ließ das Stück 1802 in Weimar uraufführen – ohne Erfolg: Es wurde vom Publikum verlacht. Auf umfassende Integration europ. Kulturtradition zielten auch die Kölner Privatvorlesungen, die S. für die Brüder Boisserée hielt, die er u. Dorothea 1804 auf einer Frankreichreise be-
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gleitet hatten. Mit seiner zweiten Zeitschrift »Europa« (Ffm. 1803–1805) bemühte sich S. programmatisch um eine neue europ. Kulturidentität, die auch für oriental. Weisheiten offen sein sollte. 1809 erhielt S. endlich seine erste feste Stelle. Er wurde Hofsekretär in Wien (Umzug im Juni 1808) u. Herausgeber einer Armeezeitung im Stab des Erzherzogs Karl. Ähnlich wie August Wilhelm 1808 Über dramatische Kunst und Litteratur hielt S. in Wien mit großem Erfolg Vorlesungen vor meist adligem Publikum. 1810 las er Über die neuere Geschichte (Wien 1811); 1812 hörte u. a. Eichendorff die Vorträge über Geschichte der alten und neuen Litteratur (2 Bde., Wien 1815; mit Widmung an Metternich); 1827 u. 1828 folgten schließlich die dreifaltig angelegten Vorlesungen über Philosophie des Lebens, der Geschichte sowie der Sprache und des Wortes (Wien 1828–30). Als weitere Zeitschrift erschien 1812/13 S.s kulturkonservativ ausgerichtetes »Deutsches Museum« (Wien. Neudr. Darmst. 1967), zu deren Beiträgern neben dem Bruder u. a. Adam Müller, die Brüder Grimm, Zacharias Werner u. Görres zählten. Zur Mitarbeit an S.s letzter, militant konservativer Zeitschrift »Concordia« (Wien 1820–23. Neudr. Darmst. 1975; mit Beiträgen u. a. von Müller, Baader u. Werner) war August Wilhelm nicht mehr bereit. »Als ich die Concordia las, fiel ich wie aus den Wolken; vieles darin erfüllt mich mit der höchsten Indignation«, schrieb er, der liberal gebliebene Ästhet, 1828 an S., von dem er sich auch öffentlich abwandte (Berichtigung einiger Mißdeutungen. Bln. 1828). S. hatte sich inzwischen, wie u. a. sein mystisch-spiritistischer Briefwechsel (seit 1821) mit der Wundmale tragenden Christine von Stransky (1785–1865) zeigt, zu einem manchmal selbst seinen Anhängern obskur erscheinenden Reaktionär entwickelt. 1815 verlieh ihm der Papst für sein Engagement zugunsten der Rückgabe des 1803 säkularisierten Kirchenbesitzes den Christusorden; 1814 nahm er (wegen seiner Kontakte zum hohen Klerus zeitweise von Metternichs Polizei überwacht) am Wiener Kongress diplomatisch u. publizistisch teil; 1815–1818 arbeitete er als Österreichischer Legationsrat
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am Frankfurter Bundestag mit; 1819 begleitete er als Kunstsachverständiger den Kaiser u. Metternich auf einer Italienreise. Doch die Hoffnung auf weitere höhere Staatsämter erfüllte sich nicht. Nach seiner frühen Abberufung aus österr. Diensten arbeitete S. in Wien an der Gesamtausgabe seiner Werke u. an seiner mystisch geprägten Spätphilosophie. An frühere Denkimpulse mögen ihn die Wiederbegegnung mit Schelling u. das Treffen mit Jacobi in München 1818 erinnert haben. Der junge Kritiker S. hat eine neue literar. Gattung begründet: die von allen normativen Wertungen freie »Charakteristik« von Gesamtwerken (z. B. Lessings u. Jacobis) u. ihres unverwechselbaren »Geistes«. Sein eigenes Werk als einheitl. Gesamtwerk zu charakterisieren, ist jedoch unmöglich. Berühmt geworden ist S. nicht ohne Grund als Aphoristiker, als Meister der kleinen Form, die weiß, dass Ansprüche auf systemat. Geschlossenheit in der Neuzeit scheitern müssen. Begründet sah S. diese fragmentar. Form in der Offenheit des histor. Prozesses seit der Französischen Revolution. Sein berühmtestes »Athenaeum«-Fragment (Nr. 216) lautet denn auch: »Die Französische Revolution, Fichtes Wissenschaftslehre und Goethes Meister sind die größten Tendenzen des Zeitalters.« Diesen drei Tendenzen (der politischen, der philosophischen u. der ästhetischen) ist gemeinsam, dass sie auf metaphys. Grundlosigkeit als auf das Grunddatum der Neuzeit reagieren. Schon in seiner frühen Abhandlung über die griech. Poesie hatte S. die Antike (u. verhalten auch das MA) als Zeitalter der sinnfälligen »Objektivität« des Sinns charakterisiert. Ihm steht das neuzeitlich »Interessante«, also das krisengeschüttelte Sinnsuchen u. -machen, gegenüber (ein ähnl. Gegensatzpaar hatte zur selben Zeit Schiller in den Komplementärbegriffen des Naiven u. des Sentimentalischen ausgebildet). S. begriff die Transzendentalphilosophie (bes. die von Fichte) als den scheiternden Versuch, nach dem Verlust des göttl. Offenbarungssinns ein neues Letztfundament auszuweisen: das der Ich-Ich-Gewissheit des Subjekts. In vielen klugen Beweisgängen
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seiner Philosophischen Lehrjahre (diese monumentale Notizsammlung erschien erst 1963 bzw. 1971 im Rahmen der Kritischen Ausgabe) zeigte S., dass sich das selbstbezügl. Ich Fichtes in unlösbare Widerspruchsstrukturen verwickelt. Letztbegründende Leistungen kann allein das ästhetische Medium übernehmen – freilich nur im iron. Modus des »als ob«. Die romant., unabschließbare u. spezifisch grundlose »progressive Universalpoesie«, so heißt es im 116. »Athenaeum«Fragment, könne »zwischen dem Dargestellten und dem Darstellenden, frei von allem realen und idealen Interesse, auf den Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben«. Ironisch ist auch die im Gespräch über die Poesie erhobene Forderung nach einer »Neuen Mythologie« zu verstehen: Neue Mythen u. also poetische, d. h. künstlich gemachte Geschichten, die keinen Anspruch auf Wahrheit erheben, sollen in postdogmat. Zeiten den neuzeitlich fehlenden Sinn-»Mittelpunkt« ironisch nachtragen u. veränderlich gestalten. Ironie hatte S. schon im 42. »Lyceum«-Fragment mit einer ebenso witzigen wie tiefsinnigen Wendung als »transzendentale Buffonerie« begriffen – die Verbindung des Realen u. Idealen (sie ist das Thema transzendentaler Theorie) lässt sich nur in der Weise der kom. Oper behandeln. Denn diese Verbindung ist nicht nach Prinzipien erschließbar. Das vermeintlich Transzendentale ist vielmehr selbst historisch. Dieser intellektuellen Einsicht in das »historisch-Transzendentale« entspricht auch Ironie als lebensweltl. Habitus: als Bereitschaft zur »permanenten Parekbase«, zur ständigen Überschreitung u. Korrektur. S.s Theorie der Ironie ist gewiss der wirkungsmächtigste Teil seiner Poetologie; ihr ist noch die Romankunst Musils u. Thomas Manns verpflichtet. S.s radikal-ästhetischem Programm entspricht seine frühe polit. Philosophie: Nur der demokratische Republikanismus, so lautet das Argument gegen Kants Plädoyer für eine aufgeklärte Monarchie, kann den falschen Schein unumstößl. Autorität vermeiden u. in unendl. »Kommunikation« u. »Mitteilung« dem Stand der unabschließbaren Neuzeit entsprechen. Analogen Einsich-
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ten ist auch S.s erstaunlich moderne Hermeneutik verpflichtet. Ihren dekonstruktiven Grundsatz hat S. in seiner berühmten Rezension von Wilhelm Meisters Lehrjahre dargelegt. Danach gilt, »daß jedes vortreffliche Werk, von welcher Art es auch sei, mehr weiß als es sagt, und mehr will als es weiß«. S.s frühromant. Kunst der Kritik beruht in der Entdeckung, dass Sein u. Sinn, Wille u. Wissen, Bewusstsein u. Aussage nie zur Deckung kommen können. Erst diese Einsicht ermöglicht eine rechte »Lebenskunst«, als deren Manifest S. Goethes Bildungsroman versteht. Seine avancierten Denkmodelle hat S. in seinen Kölner Jahren ausdrücklich verworfen. »Diese ästhetische Träumerei, dieser unmännliche pantheistische Schwindel, diese Formenspielerei müssen aufhören; sie sind der großen Zeit unwürdig und nicht mehr angemessen.« So schreibt S. 1808 in einer Selbstkritik. Bemerkenswert ist sie auch deshalb, weil S. an seinem Anspruch festhält: mit seiner Zeit zu denken. Und die hat sich seit seinen ersten Publikationen gewiss verändert. So kann man (mit u. ironisch gegen verbreitete Tendenzen der älteren Forschung) S.s Denkweg natürlich auch als einen kontinuierlichen begreifen – der Wendehals geht immer mit der Zeit! In den Jahren nach 1789 ist S. Jakobiner; um 1800 übt er ironischliberale Distanzierungen ein; um 1815 hat er sich zum Konservativen entwickelt. Im Interesse der Betonung einer so verstandenen Kontinuität revidiert der spätere S. auch offensiv sein Verständnis dessen, was eigentlich »romantisch« sei. »Das eigentümliche Wesen des Romantischen« bestimmt er in der zwölften Vorlesung über die Geschichte der alten und neuen Litteratur nunmehr als das poetische Gefühl für die Liebe Gottes. Auch in seinen geschichtsphilosophischen u. polit. Schriften betont S. nun die Notwendigkeit fester, u. das heißt theologisch sanktionierter, Autoritäten u. Institutionen (so in dem programmat. Aufsatz Signatur des Zeitalters von 1820). Den Irrtum der Neuzeit kann nur die Rückkehr zum kirchlich gefestigten Ständestaat tilgen. Dass dessen eigene Brüche die Neuzeit erst ermöglicht haben, mag S. (anders als Novalis in seiner Europa-Rede) nicht wahrhaben. S.s späte Vorlesungen bemühen
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sich nicht länger um subtile Argumente. Vielmehr nehmen sie – häufig in predigthaftem Ton – ihren Ausgang von der Bibel u. dogmat. Texten. Andere Texte nämlich sind bereits Folgen des Zwiespalts, der seit dem Sündenfall u. Kains Brudermord die gesamte Gattungsgeschichte bestimmt. Nach der potenzierten Sünde der Französischen Revolution aber ist die »Rückkehr zu dem göttlichen oder Gott gemäßen Willen« geboten. Ja, die Gegenwart ist so sündhaft, dass sie Gottes Erbarmen geradezu provozieren muss. Denn nur Gottes neue Erlösungstat kann die übermütigen Menschen von dem »Zwiespalt des Bewußtseins« befreien, den der frühe S. noch als ästhetische Produktivkraft positiv verstanden hatte. S.s spätes Werk bot (anders als das von Görres oder Müller) philosophisch u. ästhetisch kaum wirkungsmächtige Anknüpfungsmöglichkeiten. Die frühromant. Reflexionskunst S.s hat hingegen eine lebhafte Wirkung gerade auf avancierte Theorien ausgeübt. Der ästhetische Neomarxismus (Benjamin, Lukács, Adorno), die philosophische Hermeneutik Diltheys u. Gadamers, Szondis Literaturtheorie, der Dekonstruktivismus u. auch der Feminismus haben Denkmotive des frühen S. aufgegriffen. Ausgaben: Sämmtl. Werke. 10 Bde., Wien 1820–25. 15 Bde., 1846. – Krit. F. S.-Ausg. (inkl. Briefe). Hg. Ernst Behler u. a. 35 Bde. geplant. Paderb. u. a. 1958 ff. – Studienausg. in 6 Bdn. Hg. E. Behler. Ebd. 1988. Literatur: Forschungsberichte: Ernst Behler: Der Stand der F. S.-Forsch. In: JbDSG 1 (1957), S. 253–289. – Volker Deubel: Die F. S.-Forsch. 1945–72. In: DVjs 47 (1973), S. 48–181. – Klaus Peter: F. S. Stgt. 1978. – Gesamtdarstellungen: Benno v. Wiese: F. S. Ein Beitr. zur Gesch. der romant. Konversionen. Bln. 1927. – E. Behler: F. S. Reinb. 1966. 72004. – Hans Eichner: F. S. New York 1970. – Berbeli Wanning: F. S. Eine Einf. Hbg. 1999. – Jure Zovko: F. v. S. In: NDB. – Harro Zimmermann: F. S. oder die Sehnsucht nach Dtschld. Paderb. u. a. 2009. – Philosophie: Manfred Frank: Das Problem ›Zeit‹ in der dt. Romantik. Mchn. 1972. – Hermann Timm: Die hl. Revolution – Schleiermacher, Novalis, F. S. Ffm. 1978. – E. Behler: Unendl. Perfektibilität – Europ. Romantik u. Frz. Revolution. Paderb. 1989. – Ulrike Zeuch: Das Unendliche – ›höchste Fülle‹ oder Nichts? Zur Problematik von
Schlegel F. S.s Geist-Begriff u. dessen geistesgeschichtl. Voraussetzungen. Würzb. 1991. – Friederike Rese: Republikanismus, Geselligkeit u. Bildung. Zu F. S.s ›Versuch über den Begriff des Republikanismus‹. In: Athenäum. Jb. für Romantik 7 (1997), S. 37–71. – Bärbel Frischmann: Von transzendentalen zum frühromant. Idealismus: J. G. Fichte u. F. Schlegel. Paderb. 2005. – J. Zovko: F. S. als Philosoph. Paderb. 2010. – Peter L. Oesterreich: Spielarten der Selbsterfindung. Die Kunst des romant. Philosophierens bei Fichte, F. S. u. Schelling. Bln./New York 2011. – Ästhetik: Bernhard Lypp: Ästhet. Absolutismus u. polit. Vernunft. Ffm. 1972. – Jochen Hörisch: Die fröhl. Wiss. der Poesie – Der Universalitätsanspruch v. Dichtungen der frühromant. Poetologie. Ffm. 1976. – Helmut Schanze (Hg.): F. S. u. die Kunsttheorie seiner Zeit. Darmst. 1985. – Bernd Bräutigam: Leben wie im Roman – Untersuchungen zum ästhet. Imperativ im Frühwerk F. S.s. Paderb. 1986. – Winfried Menninghaus: Unendl. Verdoppelung – Die frühromant. Grundlegung der Kunsttheorie. Ffm. 1987. – M. Frank: Einf. in die frühromant. Ästhetik. Ffm. 1989. – Manuel Bauer: S. u. Schleiermacher. Frühromant. Kunstkritik u. Hermeneutik. Paderb. u. a. 2011. – Literaturtheorie: Karl Konrad Polheim: Die Arabeske – Ansichten u. Ideen aus F. S.s Poetik. Mchn. 1966. – Franz N. Mennemeier: F. S.s Poesiebegriff. Mchn. 1971. – Heinz D. Weber: F. S.s ›Transzendentalpoesie‹. Mchn. 1973. – Peter Szondi: (Zwei F. S.Abhandlungen in:) Schr.en I. Ffm. 1978. – Hans Dierkes: Literaturgesch. als Kritik – Untersuchungen [...] zu F. S. Tüb. 1980. – J. Hörisch: ›Ein höherer Grad v. Folter‹ – Die Weimarer Klassik im Lichte frühromant. Kritik. In: Lit. Klassik. Hg. Hans J. Simm. Ffm. 1988. – Peter Schnyder: Die Magie der Rhetorik. Poesie, Philosophie u. Politik in F. S.s Frühwerk. Paderb u.a. 1999. – Alain Muzelle: L’ arabesque. La théorie romantique de F. S. à l’époque de l’Athenäum. Paris 2006. – Franz-Josef Deiters: ›Die Poesie ist eine republikanische Rede‹. F. S.s Konzept einer selbstreferentiellen Dichtung als Vollendung der Polit. Philosophie der europ. Aufklärung. In: DVjs 81 (2007), 1, S. 3–20. – Franz Norbert Mennemeier: Die romant. Konzeption einer objektiven Poesie. F. S.s Poesiebegriff dargestellt anhand der literaturkrit. Schriften. 2., verb. Aufl. Bln. 2007. – Dorit Messlin: Antike u. Moderne. F. S.s Poetik, Philosophie u. Lebenskunst. Bln./New York 2011. – Ironie: Beda Allemann: Ironie u. Dichtung. Pfullingen 21966. – Ingrid Strohschneider-Kohrs: Die romant. Ironie in Theorie u. Gestaltung. Tüb. 21977. – Uwe Japp: Theorie der Ironie. Ffm. 1983. – Eckhard Schumacher: Die Ironie der Unverständlichkeit. Johann Georg Hamann, F. S., Jacques Derrida, Paul DeMan. Ffm.
396 2000. – Ute Maack: Ironie u. Autorschaft. F. S.s Charakteristiken. Paderb. u. a. 2002. – Matthias Schöning: Ironieverzicht. F. S.s theoret. Konzepte zwischen Athenäum u. Philosophie des Lebens. Ebd. 2002. – Neue Mythologie: M. Frank: Der kommende Gott [...]. Ffm. 1982. – Jochen Fried: Die Symbolik des Realen – Über alte u. neue Mythologie in der Frühromantik. Mchn. 1985. – Dirk v. Petersdorff: Mysterienrede. Zum Selbstverständnis romant. Intellektueller. Tüb. 1996. Jochen Hörisch / Red.
Schlegel, Johann Adolf, auch: Nisus, Hanns Görge, * 18.9.1721 Meißen, † 16.9. 1793 Hannover. – Theologe, Fabeldichter, religiöser Lyriker, Übersetzer, Ästhetiker. Als zweiter Sohn (von 13 Kindern) des Appellationsrats u. Stiftssyndikus Johann Friedrich Schlegel u. Ulrike Rebekkas, der Tochter des meißenischen Superintendenten Wilkens, genoss S. wie sein zwei Jahre älterer Bruder Johann Elias eine vorzügl. Erziehung. 1735 folgte er dem bewunderten Bruder auf die Eliteanstalt Schulpforta, 1741 (zum Theologiestudium) nach Leipzig, wo Elias ihn bei älteren u. jüngeren Schriftstellern einführte, von denen viele zu lebenslangen Freunden wurden (Gärtner, Rabener, Gellert, Cramer, Ebert, Giseke). Seine Kandidatenjahre (1745–1751) verbrachte S. teils als Hofmeister in Strehla, teils in Leipzig, teils bei Cramer in Kröllwitz. In dieser Zeit entstanden seine wichtigsten Beiträge zur dt. Literatur u. viele andere Werke, die seinen Ruhm begründeten. So vollendete S. 1748 einen umfangreichen Registerband zu Gottscheds Ausgabe von Bayles historisch-krit. Wörterbuch; er übersetzte zusammen mit Cramer Bossuets Histoire universelle (Hbg. 1748 ff.), half diesem bei der Herausgabe der Schriften des hl. Johannes Chrysostomus (Lpz. 1748 ff.) u. lieferte zahlreiche Beiträge zu Cramers Zeitschrift »Sammlung zur Kirchengeschichte und Theologischen Gelehrsamkeit« (Lpz. 1748–52); er übersetzte Batteux’ Les beaux arts réduits à un même principe (s. u.) u. begann mit der Übersetzung von Antoine Baniers nicht weniger berühmten Mythologie (Lpz. 1754 ff.), was Lessing dazu veranlasste, ein gleiches Vorhaben aufzugeben. – Nach der ersten Anstellung als Diakon in Schulpforta (1751),
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wo er die Tochter des Mathematikers Hübsch heiratete, wurde S. 1754 als Pastor u. Professor an das Gymnasium in Zerbst berufen. War schon der Student als Vorleser u. Rhetor gesucht, so verbreitete sich jetzt sein Ruf als Prediger. 1759 lehnte er eine Berufung nach Göttingen ab, ließ sich aber vom Minister Gerlach Adolf Frhr. von Münchhausen, dem Begründer der Göttinger Universität, als Pastor Primarius nach Hannover ziehen, wo er rasch Karriere machte u. 1782 das höchste geistl. Amt eines Generalsuperintendenten für die Grafschaft Hoya, 1787 für das Fürstentum Calenberg erreichte. Im selben Jahr verlieh ihm Göttingen in Anerkennung seiner theolog. Schriften zum 50. Universitätsjubiläum die Ehrendoktorwürde. – In Hannover wurden seine Söhne August Wilhelm u. Friedrich geboren. Der wirkl. Umfang von S.s Dichtung ist nicht bekannt. In Johann Joachim Schwabes »Belustigungen des Verstandes und des Witzes« erschienen 1743–1745 nur zehn Gedichte unter seinem Namen. In den von S. mitbegründeten »Bremer Beiträgen« (1744–48) u. der von ihm mitherausgegebenen »Sammlung vermischter Schriften von den Verfassern der Bremischen Beyträge« (Lpz. 1748 ff.) wurden ihm zwar, wie in den »Belustigungen«, viele Dichtungen zugeschrieben; wirklich gesichert sind aber nur die Stücke, die er selbst in spätere Sammlungen aufnahm. S. war auch als Herausgeber, Mitherausgeber oder Mitarbeiter mehrerer anderer Sammlungen oder Zeitschriften bekannt (z. B. Buch ohne Titel. [Hbg.] 1746. Gisekes Sammlung einiger Schriften zum Zeitvertreibe des Geschmacks. Lpz. 1746. Cramers berühmte Wochenschrift »Der Jüngling«. Lpz. 1747/48); doch seine Autorenschaft einzelner Stücke ist umstritten oder völlig ungeklärt. Wie viele seiner Zeitgenossen hatte S. einen unterscheidbaren eigenen Stil in seinen didaktischen, religiösen oder rokokohaften Dichtungen nicht entwickelt, wahrscheinlich nicht einmal erstrebt; nur selten hat er seine Vorbilder oder die Höhen anderer Bremer Beiträger (Rabener, Gellert, Klopstock, Zachariae) ganz erreicht. Eine Ausnahme bildet jedoch die übermütige u. treffsichere Satire auf das Schäferspiel der Gottschedschule, Vom
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Natürlichen in Schäfergedichten, die Bodmer 1746 anonym in Zürich drucken ließ. S.s alleinige Verfasserschaft konnte erst 96 Jahre nach seinem Tod eindeutig nachgewiesen werden. Seit 1754 beschränkte sich S. im Wesentlichen auf theolog. Schriften (darunter über 15 Bände Predigten, 1754–85, die er für den Druck überarbeitete u. mit gelehrten Anmerkungen versah) u. geistl. Dichtungen. Beliebt war seine Sammlung Geistlicher Gesänge (3 Tle., Lpz. 1766–69), in der er Gellert u. Klopstock folgte; dass er (wie diese u. Cramer) es auch gewagt hatte, viele alte Kirchenlieder im Stil der Aufklärung zu verbessern, wurde vom jungen Goethe u. von Herder scharf verurteilt z. T. zu Unrecht, denn mancher barocke Text mit ehrwürdiger Melodie verdiente u. berechtigte eine Überarbeitung. – Seine weltl. Gedichte hatte S. schon für die Neuauflagen der »Bremer Beiträge« (1751–56) stets sorgfältig verbessert. Die besten moralischen Verserzählungen überarbeitete er in den 1760er Jahren noch einmal u. ließ sie u. d. T. Fabeln und Erzählungen von Gärtner zum Druck befördern (Lpz. 1769. Neudr. hg. von Alfred Anger. Stgt. 1965). Wie hier wurden auch in den späten Vermischten Gedichten (2 Bde., Hann. 1787–89) die meisten Rokokodichtungen der Leipziger Zeit nicht aufgenommen. Alte u. neue religiöse, didakt. u. biogr. Lob- u. Gelegenheitsdichtungen stehen im Vordergrund. Den zweiten Band füllt fast ganz ein episches Lehrgedicht in Alexandrinern über den Typ des ewig »Unzufriednen«, die umgearbeitete u. erheblich erweiterte Fassung eines Jugendwerks aus den »Bremer Beiträgen« (1745) mit gleichem Titel (Einzeldruck Hann. 1789). – Als Herausgeber besorgte S. unter anderem Gellerts Moralische Vorlesungen (Lpz. 1770) u. Briefe (Lpz. 1774). Obwohl von den älteren Zeitgenossen sehr gelobt u. in manche führende Anthologie (v. a. Ramlers) aufgenommen, waren S.s Dichtungen bald vergessen. Bis in die Gegenwart erhalten hat sich sein Name nur als Übersetzer u. Kommentator der Bibel des frz. Neoklassizismus: Batteux’ Einschränkung der Schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz. Dieses Werk erlebte in kurzer Zeit drei Auf-
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lagen (Lpz. 1751. 21759. 2 Bde., 31770), wobei sich Länge u. Anzahl von S.s erläuternden u. berichtigenden Anmerkungen zum Text u. die Zahl seiner eigenen, in Anhängen beigefügten, krit. Abhandlungen mit jeder Auflage vermehrten. Als man auf der Höhe der Geniebewegung die Theorie der Nachahmung der »schönen Natur« verwarf u. an ihre Stelle das entfesselte Künstlergenie als neuen Prometheus setzte, der Welten nach seinem Bilde schafft, traf die volle Verachtung nicht nur Batteux sondern bes. auch seinen dt. Kommentator – ein Urteil, das bis weit ins 20. Jh. nachwirkte. Erst in jüngerer Zeit hat man S. als ersten dt. Batteux-Kritiker wiederentdeckt, seine eigenen ästhetischen Lehren neu gewürdigt u. ihn unter die Vorläufer der Geniebewegung eingereiht. Der sichtbare Beweis für diese Neueinschätzung ist der Neudruck der dritten Auflage der Einschränkung der Schönen Künste (Hildesh./New York 1976). Weitere Werke: Briefw. mit C. F. Gellert in: C. F. Gellerts Briefw. Hg. John F. Reynolds. Bd. 1 ff., Bln./New York 1983 ff. Literatur: Oscar Netoliczka: Schäferdichtung u. Poetik im 18. Jh. In: Vjs. für Litteraturgesch. 2 (1889), S. 1–89. – Eugen Wolff: Das Buch ohne Titel. In: ebd. 4 (1891), S. 384–406. – Franz Ulbrich: Die Belustigungen des Verstandes u. des Witzes. Lpz. 1911. – Hugo Bieber: J. A. S.s poet. Theorie. Bln. 1912 (Nachdr. New York/London 1967). – Christel Matthias Schröder: Die ›Bremer Beiträge‹. Vorgesch. u. Gesch. einer dt. Ztschr. des 18. Jh. Bremen 1956. – Klaus R. Scherpe: Gattungspoetik im 18. Jh. Stgt. 1968. – Joyce S. Rutledge: J. A. S. German Studies in Amerika. No. 18, Bern/Ffm. 1974. – Irmela v. der Lühe: Natur u. Nachahmung. Untersuchungen zur Batteux-Rezeption in Dtschld. Bonn 1979. – Wolfdietrich v. Kloeden: J. A. S. In: NDB. Alfred Anger
Schlegel, Johann Elias, * 17.1.1719 Meißen, † 13.8.1749 Sorø/Dänemark. – Dramatiker u. Dichtungstheoretiker. S. besuchte 1733–1739 die renommierte Fürstenschule Pforta (ab 1735 gemeinsam mit seinem Bruder Johann Adolf) u. studierte 1739–1742 Jura in Leipzig. Ohne Vermögen u. ohne konkrete berufl. Aussichten nahm er 1743 die Stelle eines Privatsekretärs beim sächs. Gesandten in Dänemark an u. über-
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siedelte nach Kopenhagen. Er wurde Gesandtschaftssekretär u. erlangte auf Fürsprache u. a. Ludvig Holbergs 1748 eine a. o. Professur für Neuere Geschichte, Staatsrecht u. Kommerzwesen an der Ritterakademie in Sorø. Während seiner Leipziger Zeit gehörte S. zum Kreis um Gottsched. Danach befreite er sich jedoch von der Bevormundung durch die zunehmend dogmatisch vertretenen poetolog. Doktrinen u. stand mit den ähnlich gesonnenen Autoren der »Bremer Beiträge« in Verbindung. Von Kopenhagen aus korrespondierte er auch mit Bodmer, ohne indessen in das Schweizer Lager überzuwechseln oder sich in dessen poetolog. Streit mit Gottsched weiter einzumischen. S. gilt als der bedeutendste Dramatiker des 18. Jh. vor Lessing. Dabei hat er der Dramatik nicht regelrecht neue Bahnen gewiesen; vielmehr gehören seine Stücke – durchaus noch im Rahmen der Alexandrinertragödie bzw. des Typenlustspiels – zu den künstlerisch überzeugendsten der Epoche. Das gilt für die sprachl. Form, für die an Differenzierung zunehmende Personengestaltung u. zum Teil auch für die Handlungsführung. – Verlangte Gottsched, dass die zu erneuernde Dramatik sich »nach den Regeln und Mustern der Alten« richten solle, so war es S., der tatsächlich auch in der Praxis einen bemerkenswerten Beitrag zu der (dann in der Klassik gipfelnden) schöpferischen Rezeption der Antike lieferte. Schon in der Schulzeit bearbeitete er, anknüpfend an Euripides u. Seneca, verschiedene mytholog. Stoffe in der Form des Trauerspiels (Die Trojanerinnen, Orest und Pylades, Dido) u. übersetzte die sophokleische Elektra (in: Theatralische Werke. Kopenhagen 1747). Nach den antiken Stoffen griff er dann in seinen Trauerspielen histor. Gegenstände auf u. veröffentlichte 1743 seinen Herrmann, mit dem 1766 »sehr trocken« (so der Zuschauer Goethe) das Leipziger Theater neu eröffnet wurde. Immerhin erschloss das Drama mit seinem nationalgeschichtl. Stoff einen neuen Themenbereich für die sonst eher auf das Universale gerichtete Dramatik der Aufklärung. Vergleichsweise lebendiger wirkt das Trauerspiel Canut (Kopenhagen 1746), das auf die dän. Geschichte zurückgreift (Ca-
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nut ist Knut der Große, 11. Jh.) u. damit erneut den Bereich der dramatisierbaren Stoffe erweitert. Das Stück personifiziert im Titelhelden das Herrscherideal des aufgeklärten Absolutismus u. hatte (wie vorher der Herrmann) mit dem (für die Titelfigur) nicht trag. Ausgang Anteil an der Etablierung der neuen Gattung des »Schauspiels« im 18. Jh. als eines ernsten Dramas mit versöhnl. Ende. Auch aufgrund dieser Anlage wurde es von Nicolai in dessen Abhandlung vom Trauerspiele (1757) u. im Briefwechsel über das Trauerspiel aus den Jahren 1756/57 mit Lessing u. Mendelssohn als ein wichtiges dramat. Beispiel in die Diskussion eingeführt. Auch als Verfasser von Lustspielen sticht S. unter seinen Zeitgenossen hervor, so mit dem fünfaktigen Triumph der guten Frauen (eingebunden in S.s Beyträgen zum Dänischen Theater. Kopenhagen 1748) u. vor allem mit dem Lustspiel Die stumme Schönheit (Kopenhagen 1747, eingebunden ebd. Hg. Wolfgang Hecht. Bln. 1962), einem Einakter, der nicht ohne den nötigen Witz mit seiner eleganteren Sprache in einer leicht gehobenen Form (Verse) auch erhöhte Ansprüche im Gehaltlichen verbindet u. so die übl. Bloßstellung abseitiger Typen mit subtileren Überlegungen zum Problem der Erziehung, zur Kultur des Gesprächs, zum bürgerl. Frauenideal usw. verknüpft. Sehr bemerkenswert ist daneben S.s Beitrag zur Poetik u. zur Dramentheorie. In mehreren Abhandlungen stellte er die gottschedische Lehre von der »Nachahmung«, also die Wirklichkeitstreue (»Ähnlichkeit mit der Natur«), als eine uneingeschränkt gültige ästhetische Norm in Frage, indem er die Grenzen ihrer Realisierbarkeit hervorhob. Freilich ging er nicht so weit, die neu entdeckte Differenz zwischen realem Urbild u. künstlerischem Abbild, mithin die »Unähnlichkeit in der Nachahmung der Natur«, als Indiz für eine grundsätzl. Autonomie der Kunst überhaupt zu deuten. Hinsichtlich der Dramentheorie u. der Beurteilung der Dramengeschichte plädierte er für eine angemessene Bewertung Shakespeares (Vergleichung Shakespears und Andreas Gryphs) u. gab damit der Shakespeare-Rezeption des 18. Jh. einen wichtigen Anstoß. – Darüber hinaus setzte S. vor allem in seinen Gedanken zur Aufnahme des
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dänischen Theaters von 1747 eigene Akzente. Er betonte die nationalen Bedingungen u. Eigentümlichkeiten der Literatur überhaupt u. insbes. des Theaters (dies noch im Hinblick auf Shakespeare u. das spezifisch »Englische« u. in Konfrontation mit der literar. Situation in Dänemark). Er erhob entgegen der gottschedischen Maxime das Vergnügen anstelle der Belehrung zur ersten (freilich nicht zur einzigen) zu erstrebenden theatral. Wirkung, wie er auch in Detailfragen (drei Einheiten) für Liberalität plädierte u. hinsichtlich des Systems der dramat. Gattungen lieber eine Mehrzahl von Unterarten zuließ (z.B. vier verschiedene Arten von Komödien), als auf einer strengen Norm zu bestehen. Und er entwickelte nicht zuletzt ein Konzept abgestufter poetischer Niveaus, das dem Theater gemäß dem aufklärerischen Bildungsprogramm einen Zugang zu allen Publikumsschichten verschaffen sollte. S.s übriges Werk umfasst Lyrisches (Oden, Episteln), epische Versuche (Heinrich der Löwe), eine von ihm allein verfasste Wochenschrift (Der Fremde. Kopenhagen 1745/46), die auf nationale dän. Gegebenheiten eingeht, weiterhin Übersetzungen u. ein gemeinsam mit dem Bruder Johann Adolf verfasstes Buch ohne Titel (o. O. 1746; anonym), das als ein literar. Scherz im Geiste der Anakreontik eine kleine Serie ähnlicher titelloser Publikationen auslöste. Weiteres Werk: Coniectura pro conciliando veteris Danorum historiae cum Germanorum rebus gestis consensu. Kopenhagen [1749]. Ausgaben: Werke. Hg. Johann Heinrich Schlegel. 5 Bde., Kopenhagen/Lpz. 1761–70. Neudr. Ffm. 1971. – Ästhet. u. dramaturg. Schr.en. Hg. Johann v. Antoniewicz. Stgt. 1887. Neudr. Darmst. 1970. – Theoret. Texte. Hg. Rainer Baasner. Hann. 2000. – Internet-Ed. mehrerer Werke in: Dt. Lit. des 18. Jh. Online. Hg. Paul Raabe. Mchn. 2007. Literatur: Eugen Wolff: J. E. S. Bln. 1889. – Johannes Rentsch: J. E. S. als Trauerspieldichter [...]. Diss. Lpz. 1890. – Fritz Martini: J. E. S.: ›Die Stumme Schönheit‹ [...]. In: DU 15 (1963), H. 6, S. 7–32. – Peter Wolf: Die Dramen J. E. S.s [...]. Zürich 1964. – Elizabeth M. Wilkinson: J. E. S. A German Pioneer in Aesthetics Darmst. 21973. – Wolfgang Paulsen: J. E. S. u. die Komödie. Bern/ Mchn. 1977. – Georg-Michael Schulz: Die Überwindung der Barbarei. J. E. S.s Trauersp.e. Tüb.
Schlegel-Schelling 1980. – Dieter Borchmeyer: Staatsraison u. Empfindsamkeit. J. E. S.s ›Canut‹ u. die Krise des heroischen Trauerspiels. In: JbDSG 27 (1983), S. 154–171. – Gerlinde Bretzigheimer: J. E. S.s poet. Theorie im Rahmen der Tradition. Mchn. 1986. – Lena Kühne: J. E. S.s Bedeutung für Dänemark [...]. In: Text & Kontext 20 (1997), S. 255–290. – Albert Meier: J. E. S.: ›Canut‹. In: Dramen vom Barock bis zur Aufklärung. Interpr.en. Stgt. 2000, S. 251–274. – Sibylle Plassmann: Die humane Gesellsch. u. ihre Gegner in den Dramen v. J. E. S. Münster 2000. – Julia Jerosch: J. E. S. In: NDB. – Edward T. Potter: The Clothes Make the Man: [...] J. E. S.’s ›Der Triumph der guten Frauen‹. In: GQ 81 (2008), S. 261–282. Georg-Michael Schulz
Schlegel-Schelling, (Dorothea) Caroline (Albertina), * 2.9.1763 Göttingen, † 7.9. 1809 Maulbronn; Grabstätte: ebd., an der Klosterkirche. – Literatur- u. Theaterkritikerin, passionierte Briefeschreiberin. Schon im Hause ihres Vaters, des Göttinger Orientalisten Johann David Michaelis, fiel die heranwachsende Caroline durch außergewöhnl. Begabung, Bildung u. Belesenheit auf. Nachdem sie 1784 den Arzt Johann Franz Wilhelm Böhmer, einen Jugendfreund, geheiratet hatte u. zu ihm nach Clausthal gezogen war, entbehrte sie in der abgeschiedenen Berggegend das intellektuelle Umfeld der Göttinger Universitätsgesellschaft. 1788 starb ihr Ehemann, u. Caroline kehrte nach Göttingen zurück, wo sie sich mit Gottfried August Bürger u. August Wilhelm Schlegel anfreundete. Nach wechselnden Aufenthalten in Marburg u. Göttingen zog sie 1792 mit der 1785 geborenen Tochter Auguste (zwei Kinder waren gestorben) nach Mainz zu ihrer Freundin Therese Forster (vgl. Therese Huber). Als die Stadt im Okt. 1792 durch die frz. Rheinarmee eingenommen worden war, schloss sich Caroline, bestärkt durch Georg Forster, der republikan. Bewegung an u. trat der »Gesellschaft der Freunde der Freiheit und Gleichheit« bei. Eine Schwangerschaft, Folge der Liaison mit dem frz. Leutnant JeanBaptiste Dubois de Crancé, konnte sie weitgehend verborgen halten, doch machte sie sich durch ihre Sympathie mit den Franzosen, ihre Freundschaft mit dem mittlerweile
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von Therese verlassenen Forster u. dadurch verdächtig, dass ihr Schwager Georg Wilhelm Böhmer General Custine als Sekretär diente. Anfang April 1793 wurde sie von den dt. Truppen vor Mainz gefangengenommen u. auf der Festung Königstein, später in Kronberg/Taunus für Monate inhaftiert. Die dadurch bewirkte gesellschaftl. Ausgrenzung sollte zeitlebens wirksam bleiben: In Lucka bei Leipzig brachte sie im Nov. 1793 einen Sohn zur Welt, der jedoch schon nach 17 Monaten in der Obhut von Pflegeeltern, bei denen sie diesen zurückgelassen hatte, starb. Mittlerweile mit Friedrich Schlegel, der sie glühend verehrte, befreundet u. zusammen arbeitend, zog sie sich zuerst nach Gotha zurück zu ihrer Freundin Luise Gotter u. deren Ehemann Johann Friedrich. Später wurde sie aufgrund ihrer polit. Gesinnung u. der Inhaftierung erst aus Göttingen u. dann aus Dresden ausgewiesen. In Braunschweig schließlich, wo ihre mittlerweile verwitwete Mutter lebte, heiratete sie 1796, voller Hoffnung auf den Rückgewinn sozialer Reputation, August Wilhelm Schlegel. Die folgenden Jahre verbrachte S. in Jena mit Schlegel, den man 1798 zum a. o. Prof. ernannte, u. wo ihr Haus zum maßgebl. Zentrum der Jenaer Romantik wurde. Mehrere Veröffentlichungen sprechen von einer intensiven u. äußerst produktiven Zusammenarbeit nun auch mit A. W. Schlegel. Es entstanden zahlreiche Aufsätze u. Rezensionen, Essays u. Abhandlungen – darunter der allein unter Schlegels Namen veröffentlichte Aufsatz Ueber Shakespeare’s Romeo und Julia (in den »Horen«, 1797) u. das Gespräch über Die Gemählde (im »Athenaeum«, 1799). Für die Jenaische »Allgemeine Literatur-Zeitung« u. das »Athenaeum« schrieb Caroline weitere Rezensionen; nachweislich groß war auch ihr Anteil an Schlegels Shakespeare-Übersetzungen. Eine lebensgeschichtl. Zäsur stellte der Tod ihrer Tochter Auguste in Bocklet (1800) dar; zudem war sie selbst durch Krankheiten geschwächt. 1803 wurde ihre längst brüchig gewordene Ehe geschieden; diese Trennung erfuhr Caroline zgl. aber auch als eine Befreiung, die es ihr ermöglichte, den 23-jährigen Philosophen Friedrich Wilhelm Joseph Schelling zu heiraten, der Ende 1798 als a. o.
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Prof. nach Jena gekommen war. Eine zum 1968. – Irma Brandes: Caroline. Bln. 1970. – EliZerwürfnis führende Distanz zu Schlegels sabeth Mangold: Caroline. Ihr Leben, ihre Zeit, ihre Bruder Friedrich u. Dorothea Veit (vgl. Do- Briefe. Kassel 1973. – Rudolf Murtfeld: C. S.-S. rothea Schlegel) war bereits zuvor spürbar Bonn 1973. – Eckart Kleßmann: Caroline. Mchn. 1975. – Gisela Dischner: Caroline u. der Jenaer geworden. Nach der Trauung in Murrhardt Kreis. Ein Leben zwischen bürgerl. Vereinzelung u. im Juni 1803 zogen Caroline u. Schelling romant. Geselligkeit. Bln. 1979. – Norbert Oellers: nach Würzburg, wohin dieser zum Professor C. S. In: Dt. Dichter der Romantik. Hg. Benno v. berufen worden war, u. 1806 nach München, Wiese. Bln. 21983, S. 168–196. – Franziska Meyer: wo er Mitgl. der Akademie u. 1808 General- Avantgarde im Hinterland. C. S.-S. in der DDR-Lit. sekretär der Akademie der bildenden Künste New York u.a. 1999. – Volker Ebersbach: C. Schelwurde. Auf einer Reise nach Maulbronn 1809 ling. In: NDB. – Brigitte Roßbeck: Zum Trotz glücklich. C. S.-S. u. die romant. Lebenskunst. starb Caroline an der Ruhr. Von ihren vielfältigen Ideen u. ihrer Ur- Mchn. 2008. – Martin Reulecke: C. S.-S. Virtuosin teilsfähigkeit, von rhetorischem Talent, An- der Freiheit. Eine kommentierte Bibliogr. Würzb. 2010. Günter Häntzschel / Susanna Brogi spruch u. Witz zeugen ungebrochen ihre (teilweise zensierten) Briefe. Oft tagebuchartig, sind sie Dokument eines außerordentl. Schleich, Carl Ludwig, * 19.7.1859 Stettin, Frauenlebens in der Romantik, dessen literar. † 7.3.1922 Saarow bei Berlin. – Romanu. kulturhistor. Bedeutung bereits im 19. Jh. autor, Essayist, Autobiograf. außer Zweifel stand. Politische wie ästhetische Begebenheiten der Zeit (Mainz, Jena) Der Sohn eines Augenarztes studierte an den erfahren hier souveräne Bewertung; gesell- Universitäten in Zürich, Greifswald u. Berlin schaftl. u. privates Unglück (Clausthal, Göt- Medizin (u. a. bei Rudolf Virchow), promotingen, Marburg, Bocklet/Bamberg) wird vierte 1886 u. wurde 1889 Inhaber einer selbstanalytisch, privates Glück (Liebesbriefe chirurgischen Privatklinik in Berlin. In der an Schelling) voller Leidenschaft formuliert. medizinischen Fachwelt machte er sich einen Carolines Anteil an Schlegels Werk ist be- Namen durch die Entwicklung der Infiltradeutend, wiewohl noch nicht abschließend tionsanästhesie, einer bestimmten Form der untersucht. Wurde sie bereits zu Lebzeiten Lokalanästhesie (Schmerzlose Operationen. Oertaufgrund der Festungshaft zu einer Art öf- liche Betäubung mit indifferenten Flüssigkeiten. fentl. Person u. Gegenstand der Satire ge- Psychophysik des natürlichen und künstlichen macht, reizten ihr Leben u. Schicksal vom 19. Schlafes. Bln. 1894. 51906). Sie stieß zunächst Jh. bis in die Gegenwart zu romanhafter Be- auf Widerstand, weil man damals trotz des handlung u. provozierten ebenso vehemente höheren Risikos auch für kleinere OperatioAblehnung wie polit. Vereinnahmung u. nen die Vollnarkose bevorzugte. Schon im Elternhaus vielfältig musisch Identifikation. Weitere Werke: Briefe: Caroline. Briefe an ihre angeregt, bewegte sich S. zeit seines Lebens in Geschwister, ihre Tochter Auguste, die Familie Künstlerkreisen. In Berlin war er u. a. mit Gotter, F. L. W. Meyer, A. W. u. F. Schlegel, Schel- Richard Dehmel, Otto Erich Hartleben, Frank ling u. a. Hg. Georg Waitz. 2 Bde., Lpz. 1871. – Wedekind u. Knut Hamsun bekannt u. erCaroline. Briefe aus der Frühromantik. Hg. Erich lebte so die Berliner literar. Moderne aus Schmidt. Vermehrt: 2 Bde., Lpz. 1913. Neudr. Bern nächster Nähe. Seine eigene formenreiche, 1970. – Carolines Leben in ihren Briefen. Hg. stark an Goethe orientierte literar. ProduktiReinhard Buchwald. Eingel. v. Ricarda Huch. Lpz. on (bestehend aus Gedankenlyrik, Balladen, 1914. – Begegnung mit Caroline. Briefe v. C. S.-S. Novellen, Aphorismen u. TagebuchaufzeichHg. Sigrid Damm. Lpz. 1979. nungen) fand jedoch wenig Beachtung. Eine Literatur: Franz Muncker: C. v. Schelling. In: lebenslange Freundschaft verband ihn mit ADB 31. – Maria Schauer: C. S.-S. Greifsw. 1922. – Gerda Mielke: C. S. nach ihren Briefen. Diss. Ebd. dem naturphilosophisch interessierten Au1925. – Carmen Kahn-Wallerstein: Schellings gust Strindberg. Mit ihm führte er, orientiert Frauen: Caroline u. Pauline. Bern 1959. – Gisela F. an Goethes Farbenlehre, Farbexperimente Ritchie: C. S.-S. in Wahrheit u. Dichtung. Bonn durch, die in seinen 1912 in Berlin erschie-
Schleicher
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nenen philosophisch-fantastischen Roman Es 1859–1919. Bln. 1920 u. ö.). Sie erreichte eine läuten die Glocken. Phantasien über den Sinn des Auflage von über einer Million Exemplare u. eröffnet interessante u. farbenfrohe Einblicke Lebens Eingang fanden. Eine ideale Verbindung von Arztberuf u. in die Kulturgeschichte des wilhelmin. Kailiterar. Neigung fand S. als Autor lesenswer- serreichs. ter populärwissenschaftl. Aufsätze, die in Weitere Werke: Aus Asklepios Werkstatt. Stgt./ Zeitschriften wie der »Zukunft«, der »Neuen Bln. 1916. – Ewige Alltäglichkeiten. Bln. 1922. – Rundschau«, aber auch in der »Gartenlaube« Dichtungen. Bln. 1924. – Aus dem Nachl. Bln. u. »Über Land und Meer« erschienen. Darin 1924. Literatur: Paul Massler: Die Forschungen v. C. bemühte er sich, nach dem Vorbild der bedeutenden populärwissenschaftl. Werke L. S. u. das religiöse Erleben des modernen MenErnst Haeckels u. Wilhelm Bölsches, die schen. Bln. 1921. – Herbert Ewe: C. L. S. In: Ders.: neuesten medizinisch-wissenschaftl. Er- Bedeutende Persönlichkeiten Vorpommerns. Weimar 2001, S. 131–136. – DBE. – Volker Hess: C. L. kenntnisse weltanschaulich auszudeuten u. S. In: NDB. Thomas Pekar / Björn Spiekermann in einer unterhaltsam-erbaulichen, zumeist aufs Lebenspraktische zielenden Weise vorzutragen (gesammelt in dem Band Die Weis- Schleicher, August, * 19.2.1821 Meininheit der Freude und andere ausgewählte Schriften. gen, † 6.12.1868 Jena. – SprachwissenStgt./Bln. 1920 u. ö.). Sein besonderes Inter- schaftler. esse galt der Funktion der Nerven, wie sie die Der Arztsohn studierte an den Universitäten gerade entstehende Neurophysiologie unter- in Leipzig u. Tübingen Theologie u. semitisuchte, u. ihrer Bedeutung für seel. Vorgänge sche Sprachen, von 1843 an in Bonn Klassi(Von der Seele. Bln. 1910. Vom Schaltwerk der sche Philologie. 1846 wurde er dort promoGedanken. Neue Einsichten und Betrachtungen viert u. habilitiert. 1850 erhielt S. einen Ruf über die Seele. Bln. 1916. 531928). Ausgespro- als a. o. Prof. für Klassische Philologie u. Lichen modern wirken seine Überlegungen zu teratur an die Universität Prag; 1853 folgte Fragen der Psychosomatik (z.B. Freude verlän- die Ernennung zum o. Prof. für dt. u. vergert das Leben. In: ebd., S. 110–122. Die Haut gleichende Sprachwissenschaft sowie Sanals ein Organ der Seele. In: Von der Seele, skrit. Die konfessionellen u. nationalen VorS. 326–334), in denen sich wissenschaftl. In- behalte, die seine Umgebung ihm als dt. teresse mit dem therapeutischen Anspruch Protestanten entgegenbrachte, ließen ihn der Lebensreform verbindet. 1857 auf eine schlechter bezahlte HonorarS. entwickelte eine eigene, spekulative professur nach Jena ausweichen. Weltanschauung, den »idealistischen MeS. gehört zu den Wegbereitern der Indochanismus«, dem die Vorstellung zugrunde germanistik, leistete bei der Erforschung des lag, dass die »Idee« die Fähigkeit habe, Ma- Litauischen Pionierarbeit u. beschäftigte sich terie zu gestalten. Davon ausgehend, ver- mit Sprachvergleichung. Dabei verband er suchte er eine naturwissenschaftlich abgesi- einen empirisch-naturwissenschaftl. Ansatz cherte Unsterblichkeitstheorie zu formulie- mit philosophischen Überlegungen zur ren, die den Gedanken der Seelenwanderung Sprachgeschichte, die einerseits unter dem aufnahm. Er konnte diese spätidealistisch- Eindruck von Hegels Zuordnung der myst. Gedanken durch zahlreiche Aufsätze u. Sprachbildung zur Vor-Geschichte standen, öffentl. Vorträge in Berlin verbreiten. Mit andererseits die Entwicklung der Naturwiszunehmendem Alter wandte sich S. immer senschaft für das eigene Fach reflektierten mehr seinen philosophischen Arbeiten zu. (Die Darwinsche Theorie und die SprachwissenKurz vor seinem Tod fasste er eine Reihe von schaft. Weimar 1863). biogr. Skizzen, die er im Laufe der Jahre Weitere Werke: Die dt. Sprache. Stgt. 1860. – veröffentlicht hatte (u. a. über sein Verhältnis Compendium der vergleichenden Grammatik der zu Rudolf Virchow, Paul Ehrlich, Richard indogerman. Sprachen. 2 Bde., Weimar 1861/62. Dehmel), zu einer Autobiografie zusammen (Besonnte Vergangenheit. Lebenserinnerungen
403 Literatur: Harry Spitzbart (Hg.): Synchron. u. diachron. Sprachvergleich. Ber. [...] zu Ehren des 150. Geburtstags v. A. S. Jena 1972. – Theodora Bynon: A. S.: Indo-europeanist and general linguist. In: Studies in the history of Western Linguistics. Hg. ders. u. F. R. Palmer. Cambridge u. a. 1986, S. 129–149. – Konrad Koerner: A. S. and Linguistic Science in the Second Half of the 19th Century. In: Ders.: Practicing linguistic historiography: selected essays. Amsterd. u. a. 1989, S. 325–375. – Peter Jaritz: A. S. u. Hegel, der viel geschmähte Meister. In: Beiträge zur Gesch. der Sprachwiss. 2 (1992), 1, S. 57–76. – Gertrud Bense (Hg.): Dt.-litauische Kulturbeziehungen. Kolloquium zu Ehren v. A. S. [...]. Jena 1995. – Theodor Syllaba: A. S. u. Böhmen. Prag 1995. – Die Liedersammlung des Johann Georg Steiner aus Sonneberg in der Überlieferung durch A. S. [...]. Rudolstadt 1996. – G. Bense: A. S. In: NDB. – Christiane Gante: A. S. u. die indogerman. Ursprache [...]. [Elektron. Ressource]. Mchn. 2008. Günther Lottes / Red.
Schleiermacher, Friedrich (Daniel Ernst), auch: Pacificus Sincerus, * 21.11.1768 Breslau, † 12.2.1834 Berlin; Grabstätte: ebd., Friedhof der Dreifaltigkeitsgemeinde. – Evangelischer Theologe u. Philosoph. Die Erziehung des Sohns eines reformierten Feldpredigers war durch den Pietismus bestimmt: S. besuchte 1783–1787 das Pädagogium der Herrnhuter Brüdergemeine in Niesky u. das theolog. Seminar der Brüdergemeine in Barby. Wegen religiöser Konflikte brach er die Ausbildung dort ab u. studierte 1787–1789 Theologie, Philosophie u. Philologie in Halle, wo er durch Eberhard zur intensiven Auseinandersetzung mit der antiken u. mit der durch Kant im Umbruch befindl. Philosophie seiner Zeit geführt wurde. Nach dem ersten theolog. Examen in Berlin (1790) war er bis 1793 Hauslehrer bei der Familie des Grafen Dohna in Schlobitten/Ostpreußen, nach dem zweiten Examen 1794–1796 Hilfsprediger in Landsberg/Warthe u. schließlich 1796–1802 Prediger an der Charité in Berlin. Hier fand er Aufnahme in den Kreis der Frühromantiker u. schloss enge Freundschaft mit Henriette Herz u. Friedrich Schlegel, an dessen »Athenaeum« er mitarbeitete u. dessen umstrittenen Roman er verteidigte (Vertraute Briefe über Friedrich Schle-
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gels Lucinde. Bln. 1800). Nach einer Zeit als Hofprediger in Stolp/Pommern wurde S. 1804 als a. o. Prof. der Theologie an die Universität Halle berufen. Wegen deren Schließung durch Napoleon ging er 1807 nach Berlin u. trat dort mit den führenden Köpfen der preuß. Reformbewegung in Kontakt. Politisch engagierte er sich in der Patriotenpartei, die auf einen Volksaufstand gegen Napoleon hinarbeitete, u. wurde Mitgl. des Berliner Landsturms. Wissenschaftspolitisch war er an der Neugründung der Berliner Universität beteiligt (in diesem Zusammenhang entstand die Schrift Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn. Bln. 1808). Er wurde durch Humboldt an das Unterrichtsministerium berufen, wo er für die Reform des preuß. Schulwesens tätig war. Auch bei der Neuorganisation der Berliner Akademie der Wissenschaften wirkte S. mit; seit 1810 Mitgl., hatte er seit 1814 die leitende Stellung eines Sekretärs (Vorsitzenden) inne. Kirchenpolitisch arbeitete er bei der Neuordnung der Kirchen in Preußen mit, betrieb die Union der luth. u. reformierten Kirche u. kämpfte für eine weit gehende Selbstständigkeit der Kirche in inneren Angelegenheiten gegenüber dem Staat (»Synodalverfassung«). Als Theologe wirkte er nicht nur an der Berliner Universität, an die er 1810 berufen wurde, sondern auch als berühmter Prediger an der Dreifaltigkeitskirche (seit 1809). S. stand bei dieser Wirksamkeit oft in heftigem Konflikt mit konservativen Kreisen u. dem Königshaus (bes. im »Agendenstreit«). – 1809 heiratete S. Henriette von Willich (geb. von Mühlenfels), deren Gatte – ein Freund S.s – 1807 verstorben war. Mit ihr hatte S. – neben den beiden Kindern aus erster Ehe – drei Töchter u. einen Sohn, der allerdings mit neun Jahren starb. S.s berühmtestes Buch, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (Bln. 1799), gilt mit Recht als das Grunddokument der romant. Religionsphilosophie: Orthodoxie u. Vernunfttheologie zurücklassend, wird Religion als »Sinn und Geschmack fürs Unendliche« u. »Anschauung des Universums« bestimmt. Als »Gefühl und Anschauung« hat Religion ihr eigenes Recht u.
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ihre »eigne Provinz im Gemüte«, abgegrenzt vom Wissen (Metaphysik) u. vom Handeln (Moral), aber in neuer enger Nachbarschaft zur Kunst. Die Religion ist damit der aufklärerischen Religionskritik entzogen; ja, diese wird fortgeführt: Auch die Vernunftwahrheiten des Deismus – Gott, Tugend, Unsterblichkeit – gelten nicht mehr als verbindl. Religionswahrheiten (der Gottesbegriff ist nur eine der mögl. Anschauungsformen des Universums). S. hat sich mit diesem Buch früh dem Verdacht ausgesetzt, Spinozist zu sein, u. die Kunstprosa der Reden ist ebenso umstritten wie die der Weihnachtsfeier (Halle 1806), einer viel gelesenen, in platonisierender Dialogform verfassten Schrift zur Christologie. Aber S.s neue Basierung der Religion u. die Anerkennung des Positiven in ihr übt bis in die Gegenwart große Wirkung aus. In seinem theolog. Hauptwerk Der christliche Glaube (2 Bde., Bln. 1821/22. 2., umgearb. Ausg. 1830/31) hat S. gezeigt, dass sein Ansatz nach der Aufklärung in neuer Weise theolog. Dogmatik möglich macht: Sie ist die Auslegung des christlich frommen Selbstbewusstseins, wie es sich in einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Kirche findet, mithin: Dogmatik ist eine »historische Wissenschaft«, die sich auf die Erfahrung gründet. Religion wird auch hier als Gefühl aufgefasst, aber nun als »Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit« von Gott – bis heute einer der geläufigsten Begriffe von Religion. Da S. den unversöhnl. Gegensatz von Rationalismus u. Supranaturalismus überwand u. seine Dogmatik nirgends die Grenze des im Selbstbewusstsein Gegebenen überschreitet, nannte Dilthey ihn den »Kant der Theologie«. Auch S.s theolog. Ethik, Die christliche Sitte, postum ediert (SW 2/XII), gilt als bahnbrechende Leistung: Methodisch gesehen eine »Beschreibung«, die allerdings für den Christen Verpflichtungscharakter hat, bietet diese Ethik eine Theologie der Kultur, in der Christentum u. Humanität versöhnt sind. Bereits in der Kurzen Darstellung des theologischen Studiums (Bln. 1811) hatte S. alle theolog. Disziplinen so vorgestellt, dass ihre Begründung u. ihr Zusammenhang dem neuen, nach Systematik verlangenden Geist seiner Zeit Genüge taten. Theologie insg.
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wird bestimmt als »positive Wissenschaft«, gegründet nicht im Erkenntnistrieb, sondern in einem »äußeren Geschäft«, der Kirchenleitung. S. hat in seiner Theologie christl. Frömmigkeit u. moderne Wissenschaft, Theologie u. Philosophie nicht wie Hegel u. Schelling im Bereich der Spekulation zur Einheit bringen wollen; vielmehr hat er die Bereiche deutlich getrennt – gleichwohl suchte er ihre Vereinbarkeit zu erreichen. Wurde seine Leistung schon im 19. u. erst recht im 20. Jh. – bes. von der dialektischen Theologie – kritisiert, da er zu viel theolog. Substanz preisgegeben habe, so blieb doch die von ihm in Angriff genommene Aufgabe bestehen u. deshalb sein Lösungsversuch Maßstab auch für die heutige Theologie. Sein Denken prägte jedenfalls die Theologie des 19. Jh., das nach Karl Barth »sein Jahrhundert« geworden ist. Seine Philosophie hat S. vornehmlich in seinen Vorlesungen vorgetragen. Er las über Dialektik, Ethik, Hermeneutik, Staatslehre, Pädagogik, Psychologie u. Geschichte der Philosophie – gewichtige Entwürfe, die allerdings erst durch die postume Edition der Sämmtlichen Werke (= SW. 31 Bde., 1834–64) breite Beachtung fanden. S. hatte für jene Disziplinen einen Systemrahmen vor Augen, der von der antiken Wissenseinteilung in Dialektik, Physik u. Ethik ausgeht. Die Dialektik, die Basiswissenschaft, ist bei S. im Anschluss an Platon eine Theorie u. Anweisung des (dialogischen) Denkens u. Wissens, eine Einheit von Logik u. Metaphysik; alles Wissen wird im absoluten Grund verankert, der selbst kein Wissensgegenstand, sondern ein Grenzbegriff ist. Weil zur Wissensproduktion der Dialog u. deshalb das Verstehen gehört, hat S. der Hermeneutik eine wichtige Stellung gegeben; er wollte sie erstmals als »Wissenschaft« ausbilden. Heute gilt S. in der Philosophie vornehmlich als »Hermeneutiker«. Doch war der Schwerpunkt seiner philosophischen Arbeit die Ethik. Ihr galten schon seine ersten Jugendschriften, die erst heute in der Kritischen Gesamtausgabe (= KGA, 1980 ff.) vollständig zugänglich sind (z. B. Über das höchste Gut, Über die Freiheit, Über den Wert des Lebens. 1789–93), ebenso die anonym er-
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schienene Theorie des geselligen Betragens (1799. KGA I.2) sowie die berühmten Monologen (Bln. 1800), eine Ethik der individuellen Selbstverwirklichung, v. a. aber S.s einziges zum Druck gebrachtes im engeren Sinne philosophisches Buch, die Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (Bln. 1803), die wichtigste Vorarbeit für sein späteres ethisches System. In diesem verknüpft S. Güter-, Tugend- u. Pflichtenlehre zu einem originären Ganzen. Das Zentrum bildet die Güterlehre, die zgl. auch eine Kultur- u. Sozialtheorie ist: Die vier Güter, Inbegriff des »höchsten Gutes«, nämlich Wissenschaft, Religion/Kunst, freie Geselligkeit/Freundschaft/Liebe, Arbeit/Recht, führen zu vier eth. Gemeinschaften u. Institutionen: wissenschaftl. Verein – Kirche – Familie/Haus – Staat. In allen vier Sphären sind die Ansprüche der Gemeinschaft mit den Interessen des Einzelnen vermittelt. S. hat damit eine Ethik entworfen, welche die Differenzierung der Kultur als Fortschritt begreift u. den Kantischen Zwiespalt zwischen allg. Vernunftnorm u. individueller Natur ausgleicht. Ethisch ist eine Gemeinschaft dann, wenn sie ihren Kompetenzbereich nicht überschreitet u. dem Einzelnen Entfaltungsraum gewährt; u. ethisch ist der Einzelne, wenn er mit seiner entfalteten Individualität die Gemeinschaft fördert. Beide Seiten gehören zusammen. Die Kerngedanken seiner Ethik hat S. in einigen Akademieabhandlungen publiziert (Über die wissenschaftliche Behandlung des Tugendbegriffes. 1819. Versuch über die wissenschaftliche Behandlung des Pflichtbegriffs. 1824. Über den Unterschied zwischen Naturgesetz und Sittengesetz. 1825. Über den Begriff des Erlaubten. 1826. Über den Begriff des höchsten Gutes. 1827 u. 1830. KGA I.11). Die Ethik ist bei S. unter anderem die Basis für die Staatslehre, die Ästhetik u. bes. auch für die Pädagogik, die S. in den Dienst der Bildung zur Individualität wie zur Gemeinschaftsfähigkeit u. so einer werdenden sittl. Kultur stellt. S. wird als wichtiger Mitbegründer der »Pädagogik als Wissenschaft« anerkannt. Nicht nur auf die Philosophie, sondern auch auf die Philologie übten S.s eindringl. Untersuchungen zur antiken Philosophie großen Einfluss aus. Seine Abhandlung Herakleitos der dunkle, von Ephesos (1807. KGA I.6)
Schleiermacher
stellt den Beginn der Heraklitforschung dar. Und mit seinem Übersetzungswerk der Platonischen Dialoge (6 Bde., Bln. 1804–28) – bis heute die am meisten verbreitete dt. Platonübersetzung – wurde er zum »Winckelmann der griechischen Philosophie« (Werner Jaeger). Er lenkte erstmals den Blick auf die Form der Philosophie Platons u. begriff diese als wesentlich für ihren Inhalt. Seine Ablehnung einer ungeschriebenen Lehre Platons wird bis heute diskutiert. In der Philologie finden ebenso seine Methodenreflexionen starke Resonanz, so v. a. seine Hermeneutik (SW 2/VII, KGA I.11), die den Text bzw. die Rede als jeweils durch zwei Komponenten, die allg. Sprache u. den individuellen Autor bzw. Sprecher, bestimmt sieht, aber etwa auch seine noch immer bedenkenswerte Abhandlung Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens (1813. KGA I.11). Ausgaben: F. S.s Sämmtl. Werke. 3 Abt.en, 31 Bde., Bln. 1834–64. – S.s Leben. In Briefen. Hg. Ludwig Jonas u. Wilhelm Dilthey. 4 Bde., Bln. 1858–63. Bde. 1 u. 2 21860. Neudr. Bln./New York 1974. – Werke. Hg. Otto Braun u. Johannes Bauer. 4 Bde., Lpz. 1910–13. 21927/28. Neudr. Aalen 1967. – Kleine Schr.en u. Predigten. Hg. Hayo Gerdes u. Emanuel Hirsch. 3 Bde., Bln. 1969/70. – F. D. E. S. Krit. Gesamtausg. Hg. Hans-Joachim Birkner u.a. Bln./New York 1980 ff. (5 Abt.en geplant, nicht abgeschlossen). – F. D. E. S.: Über die Philosophie Platons. Gesch. der Philosophie. Vorlesungen über Sokrates u. Platon (zwischen 1819 u. 1823). Die Einl.en zur Übers. des Platon (1804–1828). Hg. u. eingel. v. Peter M. Steiner. Hbg. 1996. Literatur: Bibliografie: Terence N. Tice: S. Bibliography. Princeton/New Jersey 1966. – Ders.: S. Bibliography (1784–1984). Ebd. 1985. – Wichmann v. Meding: Bibliogr. der Schr.en S.s. Bln./New York 1992. – Weitere Titel: Wilhelm Dilthey: Leben S.s. Bd. 1, Bln. 1870. 31970. Bd. 2: S.s System als Philosophie u. Theologie. Hg. Martin Redeker. Bln. 1966. – Heinrich Scholz: Christentum u. Wiss. in S.s Glaubenslehre. Lpz. 21911. – Karl Barth: Die Theologie S.s (1923/24). Hg. Dietrich Ritschl. Zürich 1978. – Albert Reble: S.s Kulturphilosophie. Erfurt 1935. – Hans-Joachim Birkner: S.s Christl. Sittenlehre [...]. Bln. 1964. – Friedrich Wilhelm Kantzenbach: F. D. E. S. Reinb. 1967 u. ö. – Robert Stalder: Grundlinien der Theologie S.s. Wiesb. 1969. – H.-J. Birkner: Theologie u. Philosophie. Einf. in Probleme der S.-Interpretation. Mchn. 1974. – Eilert Herms: Herkunft, Entfaltung u. erste
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Gestalt des Systems der Wiss.en bei S. Gütersloh 1974. – Johannes Schurr: S.s Theorie der Erziehung. Düsseld. 1975. – Manfred Frank: Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung u. -interpretation nach S. Ffm. 1977. – Robert R. Williams: S. the theologian. Philadelphia 1978. – Giovanni Moretto: Etica e storia in S. Neapel 1979. – HansRichard Reuter: Die Einheit der Dialektik F. S.s. Mchn. 1979. – Wilhelm Gräb: Humanität u. Christentumsgesch. Eine Untersuchung zum Geschichtsbegriff im Spätwerk S.s. Gött. 1980. – Erich Schrofner: Theologie als positive Wiss. Prinzipien u. Methoden der Dogmatik bei S. Ffm. 1980. – Gunter Scholtz: S.s Musikphilosophie. Gött. 1981. – Ders.: Die Philosophie S.s. Darmst. 1984. – Kurt Nowak: S. u. die Frühromantik. Weimar 1986. – Thomas Lehnerer: Die Kunsttheorie F. S.s. Stgt. 1987. – Günter Meckenstock: Determinist. Ethik u. krit. Theologie. Die Auseinandersetzung des frühen S. mit Kant u. Spinoza 1789–94. Bln./New York 1988. – Christian Albrecht: S.s Theorie der Frömmigkeit. Ihr wiss. Ort u. ihr systemat. Gehalt in den Reden, in der Glaubenslehre u. in der Dialektik. Bln./New York 1994. – Martin Rössler: S.s Programm der Philosophischen Theologie. Bln./New York 1994. – Christian Berner: La Philosophie de S. ›Hermeneutique‹, ›Dialectique‹, ›Éthique‹. Bln. 1995. – Bernd Oberdorfer: Geselligkeit u. Realisierung v. Sittlichkeit. Die Theorieentwicklung F. S.s bis 1799. Bln./New York 1995. – G. Scholtz: Ethik u. Hermeneutik. S.s. Grundlegung der Geisteswiss.en. Ffm. 1995. – Inken Mädler: Kirche u. bildende Kunst der Moderne. Ein an F. D. E. S. orientierter Beitr. zur theolog. Urteilsbildung. Tüb. 1997. – Ingolf Hübner: Wissenschaftsbegriff u. Theologieverständnis. Eine Untersuchung zu S.s Dialektik. Bln./New York 1997. – K. Nowak: S. Leben, Werk u. Wirkung. Gött. 2001. 22002. – Hermann Fischer: F. S. Mchn. 2001. – Johannes Michael Dittmer: S.s Wissenschaftslehre als Entwurf einer prozessualen Metaphysik in semiot. Perspektive. Bln./New York 2001. – Eilert Herms: Menschsein im Werden. Studien zu S. Tüb. 2003. Gunter Scholtz
Schleifer, Mathias Leopold, auch: Klein, * 10.3.1771 Wildendürnbach/Niederösterreich, † 26.9.1842 Gmunden/Oberösterreich. – Lyriker. Der Sohn eines Gastwirts wuchs in dürftigen Verhältnissen in Wien auf. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften an der dortigen Universität (1789–1793) wurde er 1794 Amtsschreiber in Velm, 1814 Pfleger (Ver-
waltungsbeamter) u. Distriktkommissär der obderennsischen Staatsherrschaft Sirning, 1826 landesfürstl. Pfleger der Herrschaften Spital am Pyhrn u. Klaus, 1829 Pfleger der kaiserl. Salinenherrschaft Ort am Traunsee u. 1837 wirkl. Bergrat des k. k. Salinen-Oberamts in Gmunden. Das schmale Werk S.s umfasst, abgesehen von dem gemeinsam mit Franz Bernhard Engelbert Gruber u. Benedikt von Auffenberg herausgegebenen Jugendwerk Denkmal unserer Freundschaft (Wien 1792), lediglich zwei spät erschienene Sammlungen: Poetische Versuche (ebd. 1830) u. Gedichte (ebd. 1841). Balladen, Naturgedichte, Epigramme, patriotische Lieder, Fabeln u. lehrhafte Dichtungen bilden den Grundstock dieses Werks, dem die zeitgenöss. Kritik »glühende Vaterlandsliebe« u. »thatkräftige Religiosität« (Ludwig Gottfried Neumann) bescheinigte. S.s vaterländ. Dichtung gewann während der Rheinkrise von 1840 Auftrieb u. machte den weitab von den literar. Zentren lebenden Schriftsteller, der nur sporadisch in Zeitschriften u. Almanachen veröffentlicht hatte, erstmals einem größeren Publikum bekannt. In den späten Gedichten tendiert S. zum Allegorischen u. Dialogischen. So vertritt in dem 1838 in der »Wiener Zeitschrift« erstveröffentlichten dramat. Fragment Hannibal und Scipio (neben dem S. zugeschriebenen, verschollenen Lustspiel So handeln Freunde sein einziger dramat. Versuch) Rom die Tyrannei, gegen die Hannibal im Namen einer allg. Freiheit zu Felde zieht; er scheitert an den Intrigen im eigenen Land. S. war befreundet u. a. mit Anastasius Grün, Eduard von Bauernfeld, Johann Nepomuk Vogl, Anton Xaver Schurz u. Lenau, der 1841 die Drucklegung der Gedichte überwachte. Die Aufmerksamkeit, die S.s patriotischer Dichtung zu Beginn des 20. Jh. noch einmal zuteil wurde, war nicht von Dauer. Ausgaben: Gedichte. Hg. K. A. Kaltenbrunner. Wien 1847. – Sämtl. Werke. Mit einer Biogr. hg. v. Hubert Badstüber. Wien 1911. Literatur: Wurzbach 30. – Anton Schlossar: M. L. S. In: ADB. – Goedeke 6.11, 2. – Hubert Badstüber: M. L. S. u. seine Beziehungen zu Lenau. In: Jb. Grillparzer-Gesellsch. 19 (1910), S. 151–163. – Anton Laban: S. u. Lenau. In: Ungarische Rund-
407 schau für histor. u. soziale Wiss.en 2 (1913), S. 930–936. – Karl Wache: Jahrmarkt der Wiener Lit. Wien 1966, S. 38–42. – Kurt Adel: M. L. S. In: ÖBL. – Dorothee Höfert: M. S. [Ausstellungskat.]. Karlsr. 1999. Norbert Eke / Red.
Schlenkert, Friedrich Christian, * 8.2. 1757 Dresden, † 16.6.1826 Tharandt bei Dresden. – Romanautor, Dramatiker, Historiker.
Schlenther
Historischen Almanach auf das Jahr 1794 (u. 1795. Braunschw.), enthaltend ein »historisches Gemälde« Deutschlands, publizierte er den Almanach für die Geschichte der Menschheit auf das Jahr 1795 (Lpz.; bis 1798), der allerdings nur bis zur Geschichte der Römer u. Perser reicht, Tharand. Ein historisch-romantisches Gemälde, nach der Natur, Urkunden und Sagen bearbeitet (Bd. 1, mehr nicht ersch., Selbstverlag 1797. Neuausg. Dresden 1804) sowie Moriz, Kurfürst von Sachsen. Ein historisches Gemählde (2 Tle., Zürich/Lpz. 1798).
Nach dem Besuch der Kreuzschule in Dresden u. der Fürstenschule in Pforta studierte S., Literatur: Wilhelm Lindner: S. In: NND (mit Sohn eines Lohnkutschers, in Leipzig Theo- vollst. Bibliogr.). – Friedrich Laun: Memoiren. logie u. Geschichte, brach das Studium aber Bd. 3, Breslau 1837. – Johann Wilhelm Appell: Die ab. Von 1782 an war er in Dresden als Ak- Ritter-, Räuber- u. Schauerromantik. Lpz. 1859. – zessist, später als Sekretär im Finanzkollegi- Gustav Sichelschmidt: Liebe, Mord u. Abenteuer. um beschäftigt, wurde jedoch wegen Unzu- Eine Gesch. der dt. Unterhaltungslit. Bln. 1969. – Markus Reisenleitner: Die Produktion histor. Sinverlässigkeit 1791 entlassen. Fortan lebte er nes. Mittelalterrezeption im deutschsprachigen als Journalist u. freier Schriftsteller. 1815 histor. Trivialroman vor 1848. Ffm. u.a. 1992. – wurde er Lehrer der dt. Sprache an der Florian Gelzer: Ion – Herakles – Agathon. Eine Forstakademie Tharandt. unbekannte Dramatisierung v. Wielands ›Agathon‹ Bekannt wurde S., der mit Elegien (Erfurt in der Gesch. des dt. Singspiels. In: EG 60 (2005), 1780) u. dem an Wielands Agathon-Roman S. 443–468. Wilhelm Haefs angelehnten Singspiel Agaton und Psiche. Ein Drama mit Gesang (Lpz. 1780) debütiert hatte, Schlenther, Paul, * 20.7.1854 Insterburg/ mit umfangreichen, oft dialogisierten RitterOstpreußen, † 30.4.1916 Berlin; Grabu. Abenteuerromanen über Persönlichkeiten stätte: ebd., Städtischer Friedhof, Geder älteren, zumeist mittelalterl. Geschichte: richtstraße (Wedding). – Kritiker u. neben dem Hauptwerk Friedrich mit der gebißTheaterleiter. nen Wange (4 Bde., Lpz. 1785–88) u. a. Kaiser Heinrich der Vierte (5 Bde., Dresden/Lpz. S. entstammte einer ostpreuß. Gutsbesitzer1788–95) u. Rudolph von Habsburg (4 Bde., Lpz. u. Beamtenfamilie. Nach dem Besuch des 1792–94). In S.s Unterhaltungsromanen, die Königsberger Kneiphöfischen Gymnasiums, in der Forschung noch kaum Beachtung fan- wo Lovis Corinth sein Mitschüler war, studen, freilich in ihrer Zeit »Epoche machten« dierte S. in Leipzig, Heidelberg u. Berlin (Lindner), spiegelt sich in aufschlussreicher Germanistik. 1880 promovierte er in TübinWeise der Publikumsgeschmack im ausge- gen. Nach Veröffentlichung seiner erweiterhenden 18. Jh. Freilich war S. mit seinen ten Dissertation, Frau Gottsched und die bürgerRomanen nicht so erfolgreich wie A. Lafon- liche Komödie (Bln. 1886), wurde er neben taine, C. F. Cramer, Chr. H. Spieß, Chr. A. Fontane u. als Nachfolger Otto Brahms Vulpius oder Benedikte Naubert, die durch- Theaterkritiker an der »Vossischen Zeitung« weg häufiger in den Leihbibliotheken ver- in Berlin (1886–1898). Zusammen mit treten waren. Brahm, der schon aus Scherers Berliner SeS. schrieb ferner histor. Dramen wie Kein minar mit ihm befreundet war, setzte er sich Faustrecht mehr. Ein reichsstädtisches Schauspiel als Kritiker für das neue naturalistische Dra(Regensb. 1798) u. Die Bürgertreue der Vorzeit ma u. namentlich für das Werk Ibsens u. oder die Bergknappen von Freiberg (Wien 1801), Hauptmanns ein. 1889 wurde er Mitbegrüneine Bearbeitung des Romans Friedrich mit der der der von Brahm geleiteten Freien Bühne; gebißnen Wange, u. er versuchte sich im po- anders als sein Kampfgenosse, der 1894 das pulär-historiografischen Genre: Neben einem Deutsche Theater übernahm, fuhr S. zu-
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nächst fort, sich ausschließlich der Kritik u. Schlesak, Dieter, * 7.8.1934 Schäßburg der Herausgebertätigkeit zu widmen. Zu- (Sighis¸ oara)/Rumänien. – Lyriker, Essaysammen mit Julius Elias u. Georg Brandes ist, Roman- u. Hörspielautor, Übersetzer. war er an der dt. Ausgabe der Werke Ibsens beteiligt (10 Bde., Bln. 1898–1904); zusam- Nach dem Abitur unterrichtete S. zwei Jahre men mit Otto Pniower verwaltete er den li- an der Volksschule in Denndorf u. studierte terar. Nachlass Fontanes; 1898 veröffentlich- 1954–1959 Germanistik in Bukarest, wo er te er die erste ausführl. Würdigung Gerhart anschließend bis zu seiner Übersiedlung in Hauptmanns (Bln. Neuausg. umgearbeitet die BR Deutschland 1969 Redakteur der deutschsprachigen Zeitschrift des rumän. von Arthur Eloesser. Bln. 1922). Erst 1898 wechselte auch S. zur prakt. Schriftstellerverbands »Neue Literatur« in Theaterarbeit, als er zum Direktor des Wiener Bukarest war. Berichte über S. an den rumän. Burgtheaters ernannt wurde: Die beiden Geheimdienst Securitate lieferte u. a. der mit führenden deutschsprachigen Theater waren S. befreundete Dichter Oskar Pastior (IM nunmehr in den Händen überzeugter Er- »Otto Stein«). Seit 1973 lebt S. als freier neuerer. S. fiel es jedoch nicht so leicht, der Schriftsteller in Stuttgart u. in der Nähe von Tradition der Hofbühne entgegenzuwirken, Lucca (Italien). Er erhielt u. a. den Schubartzumal er anders als Brahm selbst nicht die Preis der Stadt Aalen (1989), den NikolausInszenierungskunst beherrschte. An der Burg Lenau-Preis (1993), den Hauptpreis Prosa der konnte er aber den Spielplan modernisieren Stiftung Ostdeutscher Kulturrat (1994), die u. die Dramen von Hauptmann u. dessen Ehrengabe der Schillerstiftung Weimar Zeitgenossen einführen. Er war verheiratet (2001) u. den Maria-Ensle-Preis der Kunstmit der Schauspielerin Paula Conrad, die stiftung Baden-Württemberg (2007). Die Erfahrung der Grenze zwischen ver1900 das Deutsche Theater verließ u. S. nach Wien folgte. Als er 1910 die Leitung des schiedenen Einflusssphären, zwischen StaaBurgtheaters aufgab, kehrte er als Theater- ten, Epochen, polit. Ideen u. subjektiven Bekritiker des »Berliner Tageblatts« zum Jour- findlichkeiten, versucht S. von Beginn seines literar. Schaffens an aufzuarbeiten, sowohl in nalismus zurück. Weitere Werke: Botho v. Hülsen u. seine Leute. lyr. Form (Grenzstreifen. Bukarest 1968. Briefe Bln. 1883. – Wozu der Lärm? Genesis der Freien über die Grenze. Zus. mit Magdalena ConstanBühne. Bln. 1889. – Theater im 19. Jh. Hg. Hans tinescu. Gött. 1978) als auch in seinen Essays u. Prosastücken, z. B. in Visa. Ost West LektioKnudsen. Bln. 1930. Literatur: Friedrich Rosenthal: P. S. Bonn nen (Ffm. 1970), wo er u. a. in dem Text To1927. – Eduard Frank: Das Burgtheater unter der talitäre Seelen »eine gegängelte, sich gängeln Direktion S.s. 1858–1910. Diss. Wien 1931. – Karl lassende apolitische, [...] eine unglückliche Bohla: P. S. als Theaterkritiker. Dresden 1935. – Generation« beschreibt, »die das Gefühl mit Hans Ester: Theodor Fontane u. P. S.: ein Kapitel sich herumschleppt, immer zu spät zu komWirkungsgesch. In: Theodor Fontane im literar. men, verspätet zu sein«. Als eine Fortsetzung Leben seiner Zeit. Bln. 1987, S. 216–246. – Unvervon Visa kann der Essay Wenn die Dinge aus dem öffentlichte u. wenig bekannte Briefe Theodor Fontanes an P. u. Paula S. Hg. Frederick Betz u. H. Namen fallen (Reinb. 1991) gelten, der den im Ester. In: Fontane-Bl. 57 (1994), S. 7–47. – Klaus rumän. Aufstand von 1989 gipfelnden ZuHildebrandt: Weggefährten Gerhart Hauptmanns. sammenbruch fester Weltbilder u. ideolog. Förderer, Biographen, Interpreten. Würzb. 2002. – Sicherheiten thematisiert. Ralph-Günther Patocka: P. S. In: NDB. Den Roman Vaterlandstage und die Kunst des John Osborne / Red. Verschwindens (Zürich/Köln 1986), in dem sich der Autor in der Gestalt des im Exil lebenden Protagonisten Michael T. seiner Biografie als der eines Fremden vergewissert, nennt S. einen »Monolog unter dem Druck der Angst«. Der den »inneren Druck des Lebensvakuums« (Analyse meiner Selbstbiographie. In:
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Nachruf auf die rumäniendeutsche Literatur. Hg. Wilhelm Solms. Marburg 1990, S. 163) nicht mehr ertragende T. kehrt, einem »falsche[n] Heimweh« folgend, wie er später erkennt, nach Siebenbürgen zurück. Von der Sicherheitspolizei festgenommen, träumt er in der Zelle seine eigene Hinrichtung – u. wird wieder ins »Aus-Land« abgeschoben. Die Verknüpfung von Erinnerung an die Vergangenheit mit der Symbolik der Kabbala u. die Überlegung, dass nur die Sprache dem Fremden Heimat geben kann, liegt auch den Gedichten des Bandes Aufbäumen (Reinb. 1990) zugrunde: »Anstatt Schöpfung – die Erschöpfung der Welt«. Als sich mit dem »Zwischensinn« beschäftigender, nur in der Sprache beheimateter Schriftsteller (»Schreiben, um am Leben zu bleiben«) erweist sich S. besonders auch in den Gedichtbänden Landsehn (Mit Zeichnungen von Ladislav Pros. Bln. 1997), Tunneleffekt (Mit einem Essay ›Fragmente zu einer posthumen Poetik‹. Ebd. 2000) u. Heimleuchten (Ludwigsburg 2009). (Traum-)Erinnerungen, Todeserfahrungen u. a. werden – auch im Gedenken an Paul Celan, Ernst Meister u. Walter Benjamin – zu Bausteinen einer »posthumen Poetik« angesichts des allgemeinen Zustands der Absenz (»Das Fehlende [...] zielt ins Herz des Wirklichen, nähert sich ›Gott‹«); Höffnung könne es nur in den »Zwischenräumen des ›Realen‹« geben. In S.s zweitem Roman Der Verweser (Mchn. 2002) setzt der Arzt u. Schriftsteller Nicolao Granucci, die Hauptfigur einer Luccheser Liebes- u. Mordgeschichte des 16. Jh., dem Ich-Erzähler, einem in der Toskana lebenden Autor, so zu, dass dieser zur Überzeugung gelangt, Granucci gewesen zu sein. Der dokumentarische Roman Capesius, der Auschwitzapotheker (Bonn 2006, in zahlreiche Sprachen übersetzt) zeichnet neben der Schilderung des Lagerlebens die Denkweise des Schäßburgers Viktor Capesius nach, der als Leiter der Apotheke in Auschwitz das tödl. Gas Zyklon B aufbewahrte u. auch selbst Gas in die Kammer geleitet haben soll. Capesius’ Aufzeichnungen aus der Haft fügte S. in den Roman ein. Mit dem wahrscheinlich 1431 in Schäßburg geborenen Vlad, einem Kriegsherrn im
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Kampf gegen die Vorherrschaft der Türken, beschäftigt sich S. in Vlad. Die Dracula-Korrektur (Ludwigburg 2007. 2., neu bearb. u. erg. Aufl. 2009). In einem literar. Porträt räumt er mit den u. a. im Zusammenhang mit Bram Stokers Dracula-Roman (1897) u. dessen zahlreichen Verfilmungen entstandenen Verfälschungen auf u. korrigiert tendenziöse Deutungen (vgl. auch Der Tod und der Teufel. Materialien zu Vlad, der Todesfürst. Die DraculaKorrektur. Ebd. 2009). S. ist auch als Publizist (Zusammenstellung u. Einleitung des Bandes Sozialisation der Ausgeschlossenen. Praxis einer neuen Psychiatrie. Hg. Agostino Pirella. Reinb. 1975) u. als Übersetzer aus dem Rumänischen tätig (u. a. Nichita Sta˘nescu: 11 Elegien. Bukarest 1968. Ludwigsburg 2005). Weitere Werke: Geschäfte mit Odysseus. Zwischen Tourismus u. engagiertem Reisen. Bern/Stgt. 1972 (P.). – Königin, die Welt ist narr. Kunstkopfhörsp. aus einer Heilanstalt. HR/NDR/WDR 1980. – Weiße Gegend. Fühlt die Gewalt in diesem Traum. Reinb. 1981. Mchn. 2000 (L.). – Stehendes Ich in laufender Zeit. Lpz. 1994. – So nah, so fremd. Heimatlegenden. Prosa u. Essay. Dinklage bei Vechta 1995. – Gefährl. Serpentinen. Rumän. Lyrik der Gegenwart. Ausgew., hg. u. mit einem Nachw. vers. v. D. S. Mit Zeichnungen v. Pomona Zipser. Bln. 1998. – Lippe Lust. Poesia Erotica. Mchn. 2000. – LOS. Reisegedichte. Ebd. 2000. – Eine transsylvan. Reise. Ost-West-Passagen am Beispiel Rumäniens. Köln 2004. – Romans Netz. Ein Liebesroman. Köln 2004. – Zeugen an der Grenze unserer Vorstellung. Studien, Essays, Portraits. Mchn. 2005. – Herbst Zeit Lose. Liebesgedichte. Mchn. 2006. – Namen Los. Liebes- u. Todesgedichte. Ludwigsburg 2007. – Ich liebe, also bin ich. Klingenberg 2009 (L.). – Transilvania mon amour. Siebenbürg. Elegien. Und Übers.en aus der Lyrik siebenbürg. Kollegen. Unter Mitarb. v. Cosmin Dargoste. Hermannstadt/Sibiu 2009. – Der Tod ist nicht bei Trost. Liebes- u. Todesgedichte. Mchn. 2010. – Zwischen Himmel u. Erde. Gibt es ein Leben nach dem Tod. Norderstedt 2010. Literatur: Werner Söllner: D. S. In: KLG. – Edith Konradt: ›... auch vor dem, was war, fürchte man sich‹. Die Auseinandersetzung mit dem ›Dritten Reich‹ in drei ausgewählten Romanen v. D. S., Hans Bergel u. Eginald Schlattner. In: Dt. Lit. in Rumänien u. das ›Dritte Reich‹. Vereinnahmung – Verstrickung – Ausgrenzung. Hg. Michael Markel u. Peter Motzan. Mchn. 2003, S. 269–297. – Dies.:
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D. S. In: LGL. – Jürgen Egyptien u. a. (Hg.): Sprachheimat. Zum Werk v. D. S. in Zeiten v. Diktatur u. Exil. Bucures¸ti/Ludwigsburg 2009. – Maria Irod: Die negative Poetik u. die Mitteilbarkeit des Grauens. Überlegungen zu D. S.s Dokumentarroman ›Capesius, der Auschwitzapotheker‹ (2006). In: Wahrnehmung der deutsch(sprachig)en Lit. aus Ostmittel- u. Südosteuropa – ein Paradigmenwechsel? Neue Lesarten u. Fallbeispiele. Hg. P. Motzan u. Stefan Sienerth. Mchn. 2009, S. 193–205. – András F. Balogh: Migration u. Perspektivenwechsel. In: Ders.: Studien zur dt. Lit. Südosteuropas. Cluj-Napoca/Heidelb. 2010, S. 205–222, bes. S. 217–222. – Rodica Ba˘lut¸ : Intertextualität u. Polyphonie in D. S.s ›Vlad. Die Dracula-Korrektur‹. In: Germanistische Beiträge 26 (2010), S. 126–140. – M. Irod: D. S.s Ost- u. Westkonzeptionen im Zusammenhang mit dem Begriff ›Zwischenschaft‹. In: Gedächtnis der Lit. Erinnerungskulturen in den südosteurop. Ländern nach 1989. Rumänien im Blickfeld. Hg. Edda BinderIijima u. a. Ludwigsburg 2010, S. 504–520. Bruno Jahn
Schlesinger, Klaus, * 9.1.1937 Berlin, † 11.5.2001 Berlin. – Erzähler, Film- u. Fernsehautor. Nach einer Tätigkeit als Chemielaborant studierte S. einige Semester Chemie u. arbeitete dann wieder in Forschungs- u. Industrielabors. Seit 1963 schrieb er als freier Journalist Reportagen. Seit 1969 lebte S. als freier Schriftsteller in Ost-Berlin; 1980 übersiedelte er (nach dem Ausschluss aus dem DDR-Schriftstellerverband im Juni 1979) nach West-Berlin. S. war bis 1982 mit der Liedermacherin Bettina Wegner verheiratet. Nach dem Mauerfall wohnte er seit 1991 wieder im Ostteil der Stadt. In seinem ersten Roman, Michael (Rostock 1971. U. d. T. Capellos Trommel. Zürich/Köln 1972), wagte sich S. an eine für die DDR neue Thematik: das Verhalten der Vätergeneration in der NS-Zeit. Nach der Reportage über ein neues Rostocker Krankenhaus (Hotel oder Hospital. Bln./DDR 1973, Zürich/Köln 1974) beschrieb S. detailgenau – in epischen Kurzformen u. mit sparsamer Metaphorik – Ausbrüche aus dem Alltagstrott u. Rückkehr ins Gewohnte, die Atmosphäre des DDR-Kleinbürgertums im geteilten Berlin, die Entfremdung, die aufgezwungene Schizophre-
nie, den Lebenshunger u. die Langeweile im DDR-Alltag (vgl. auch Berliner Traum. Fünf Geschichten. Rostock u. Ffm. 1977). Die BerlinErzählung Leben im Winter (Ffm. 1980, Rostock 1989) erschien zunächst nur im Westen. In der Erzählung Matulla und Busch (Ffm. 1984, Rostock 1985) beschrieb S. auch Westberliner Zustände. Zwei Aspekte scheinen charakteristisch für das Werk: inhaltlich die Stadt als Raum identitätsstiftender Nischen, ästhetisch die Arbeit an einem krit. Realismuskonzept. Nach der Publikation von Matulla und Busch 1984 stand zunächst die Reflexion der eigenen biogr. Situation im Vordergrund, nach dem Mauerfall waren es bilanzierende Rückblicke auf das Leben u. Schreiben in der DDR (vgl. Fliegender Wechsel. Eine persönliche Chronik. Ffm. u. Rostock 1990. Von der Schwierigkeit, Westler zu werden. Bln. 1998). Der Roman Die Sache mit Randow (Bln. 1996) liefert eine Studie des proletarischen u. kleinbürgerl. Milieus im Prenzlauer Berg in den Nachkriegsjahren u. der jungen DDR. S. variiert den histor. Stoff um die so genannte Gladow-Bande, beschreibt den Schwarzhandel, das Lebensgefühl der rivalisierenden Jugendbanden, den Niedergang des privatwirtschaftl. Kleinhandels u. das Aufeinandertreffen einer historisch gewachsenen (Sub-)Kultur mit dem verordneten neuen Staatssystem u. seiner Ordnung. Damit wird der Text zur Milieustudie u. zu einem Beitrag zur Justizgeschichte der DDR. Erzählt wird rückblickend aus der Wendezeit, deren Ereignisse für den Protagonisten Thomale, Fotograf u. Journalist, aber weit weniger einschneidend sind als die Sozialisation in der Jugend. Was als journalistisches Projekt beginnt, wird schließlich zur Frage nach der eigenen Schuld an der Verhaftung des Bandenchefs Randow u. seiner Verurteilung zum Tode. S. entwickelt hier sein Realismuskonzept durch Techniken der Retardierung weiter. Das Erzählen als fixierter Erinnerungsprozess wird problematisch, da der Konstruktionscharakter des Gedächtnisses zu einem offenen, mehrdeutigen Erzählen zwingt. Der letzte publizierte Roman, Trug (Bln. 2000), wurde von der Kritik als raffiniertes Vexierspiel gelobt, das intertextuell auf frühere Texte S.s verweist.
411 Weitere Werke: Ikarus. Filmszenarium. Bln./ DDR 1975. – Alte Filme. Rostock 1975, Ffm. 1976. Neuausg. mit einem Nachw. v. Günther Drommer. Lpz. 1997. Verfilmt ZDF 1979 (E.). – Kotte (Regie: Horst Flick). ZDF 1979. – Der Niedergang des Kleinhandels. Urauff. Halle 1979 (D.). – Leben im Winter. Ffm. 1980, Rostock 1989 (E.). Verfilmt ZDF 1982. Hörsp. SDR 1986. – Ikarus (Regie: Heiner Carow). DEFA 1980. – Felgentreu. SFB 1986 (Hörsp.). – Marco mit c. Wie Marco Polo. SDR 1987 (Hörsp.). – Die Frosch-Intrige (Regie: Hartmut Griesmayr). ZDF 1987 (Fernsehfilm). – Matulla u. Busch (Regie: Matti Geschonneck). ORB/SFB/MDR 1995 (Fernsehfilm). – Die Seele der Männer. Bln. 2003 (E.en). Literatur: Edith Toegel: Terrible alternatives. Dilemma and character in K. S.’s works. In: Colloquia Germanica (1990), H. 1, S. 17–32. – Berliner Gesch.n. ›Operativer Schwerpunkt Selbstverlag‹ [...]. Hg. Ulrich Plenzdorf u. a. Ffm. 1995. – Andreas Erb u. Christof Hamann: ›Ich rede nicht über eine beliebige Zeit‹. Erinnerungsdiskurse in K. S.s Roman ›Die Sache mit Randow‹. In: Runa 27 (1997/ 98), S. 227–244. – Christine Cosentino: ›Meditativer Halbschlaf‹: Kafkaeske Paradoxien in K.S.s Roman ›Trug‹. In: An der Jahrtausendwende. Schlaglichter auf die dt. Lit. Hg. dies. u. a. Ffm. u. a. 2003, S. 29–38. – Thorsten Dönges: K. S. In: LGL. – Manfred Jäger u. Olav Krämer: K. S. In: KLG. – Astrid Köhler: ›Die Liebe in den Zeiten volkseigener Betriebe‹. K. S.s postsozialist. Realismus. In: Weiterschreiben. Zur DDR-Lit. nach dem Ende der DDR. Hg. Holger Helbig u. a. Bln. 2007, S. 55–65. Konrad Franke / Stefan Wieczorek
Schlettwein, Johann August, * 1731 Weimar, † 24.4.1802 Dahlen/Mecklenburg. – Agrarökonom; aufklärerischer Publizist. Nach dem Studium der Rechts- u. Kameralwissenschaften in Jena hatte S. zunächst eine Professur in Karlsruhe inne, ging 1773 nach Wien, 1776 nach Basel, bis ihn 1777 Landgraf Ludwig IX. zum Professor für Cameral- u. Finanzwissenschaften an der neu gegründeten Ökonomischen Fakultät der Universität Gießen ernannte. Seit 1785 lebte S. als privatisierender Gelehrter auf den Gütern seiner Frau in Mecklenburg. S. galt als einer der führenden Ökonomen der Zeit u. vertrat als Erster in Deutschland das physiokratische System, dem auch die meisten seiner Publikationen dienten. Auf literar. Felde trat er mit nur zwei (anonymen)
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Schriften in Erscheinung, die beide durch das Wertherfieber angeregt waren. In den Briefen an eine Freundinn über die Leiden des jungen Werthers (Karlsr. 1775) benutzte er das Genre der fingierten Brieffolge, um Goethes Bestseller von der Position des Staatsökonomen u. überzeugten Aufklärers aus anzugreifen, denn er sah durch den Roman »das ganze Fundament von der Glückseligkeit der Gesellschaft« (S. 8) untergraben. Dem setzte S. die Forderung nach der »harmonischen Stimmung unsers ganzen Wesens mit Gott« (S. 12) entgegen. Diese Wertvorstellung vertrat er auch mit Des jungen Werthers Zuruf aus der Ewigkeit an die noch lebende Menschen auf der Erde (ebd. 1775), einem fiktiven Appell des im Fegefeuer Höllenqualen leidenden Werther an seine Jünger, aus seinem abschreckenden Beispiel zu lernen. In endlosen rhapsod. Klagesequenzen stellt sich S.s Werther als in Reue zerfließender Sünder dar, der in einem Exerzitium der Selbstdemütigung alle früheren (Goethe’schen) Positionen widerruft u. als »tierisches Ungeheuer in menschlicher Gestalt« (S. 27) seine vermeintlich wahre Natur offenbart. Literatur: Carl Schlettwein: Verz. der Schr.en von J. A. S. 1731–1802. Basel 1970. – Klaus R. Scherpe: Werther u. Wertherwirkung. Wiesb. 3 1980. – Klaus Gerteis: Bürgerl. Absolutismuskritik im Südwesten des alten Reiches vor der Französischen Revolution. Trier 1983, S. 170–181 u. ö. – Dieter Janke: J. A. S. In: Ökonomenlexikon. Hg. Werner Krause. Bln. 1989, S. 488 f. – Theophil Gerber: J. A. S. In: Ders.: Persönlichkeiten aus Land- u. Forstwirtschaft, Gartenbau u. Veterinärmedizin. Bd. 2, Bln. 2004, S. 664 f. – Diethelm Klippel: J. A. S.: Wiss. wird praktisch – die Ökonomische Fakultät der Ludoviciana. In: Panorama 400 Jahre Universität Giessen: Akteure, Schauplätze, Erinnerungskultur. Hg. Horst Carl. Ffm. 2007, S. 52–57. – Ders. u. Ulrike Andersch: J. A. S. In: NDB. – Thomas Pester: ›Der nützl. Gelehrte‹: J. A. S. (1731–1802). In: Ketzer, Käuze, Querulanten: Außenseiter im universitären Milieu. Hg. Matthias Steinbach. Jena u. a. 2008, S. 66–101. Wolfgang Schimpf / Red.
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Schlez, Johann Ferdinand, * 27.6.1759 Ippesheim/Franken, † 7.9.1839 Schlitz/ Hessen; Grabstätte: ebd., an der Friedhofskirche. – Pfarrer, Pädagoge, Volksschriftsteller.
412 Weitere Werke: Vorlesungen gegen Irrtümer, Aberglauben [...]. Nürnb. 1786. – Landwirthschaftspredigten. Ebd. 1788. Heilbr. 21794. – Kurze Autobiografien in: Johann Philipp Moser (Hg.): Deutschlands jetztlebende Volksschriftsteller. H. 1, [Nürnb.] 1795. – Heinrich Eduard Scriba: Biogr.literar. Lexikon [...] Hessen. Abtheilung 1, Darmst. 1831, S. 350–361. Literatur: Ludwig Christian Dieffenbach: J. F. S. [...]. Gießen 1840. – Binder: J. F. S. In: ADB. – Georg Christian Dieffenbach: J. F. S. Gießen 1893. – Karl Unverzagt: Unterricht u. Erziehung bei J. F. S. Diss. Erlangen 1913. – B. E. Hermsdorf: J. F. S. [...]. Lpz. 1914. – Heinrich Bechtolsheimer: J. F. S. In: Hess. Biogr.n 1. Darmst. 1918, S. 209–216. – Friedrich Wilhelm Kantzenbach: Der fränk. Rochow [...]. In: Jb. für Fränk. Landesforsch. 34/35 (1975), S. 565–575. – Volker Dohrmann: Retuschierte Volksaufklärung. Die Genese der ›Gesch. des Dörfleins Traubenheim‹ v. J. F. S. In: Vom Wert der Arbeit. Zur literar. Konstitution des Wertkomplexes ›Arbeit‹ in der dt. Lit. (1770–1930). Hg. Harro Segeberg. Tüb. 1991, S. 137–144. – Helmut Schatz: Vor 250 Jahren in Ippesheim geboren: J. F. S. (1759–1839). Ein kleiner Beitr. zur kirchl. Aufklärung in Franken. In: Frankenland N.F. 61 (2009), 3, S. 186–193. Reinhart Siegert / Red.
S., Sohn eines Landpfarrers, erfuhr während des Studiums der Theologie, Philosophie u. Literaturgeschichte in Jena (1778–1781, u. a. bei Johann Gottfried Eichhorn), dass »der Vernunft auch in Glaubenssachen Sitz und Stimme gebühre«. Er kehrte als dezidierter Aufklärer nach Ippesheim zurück, wo er Amtsnachfolger seines Vaters wurde. Erste Versuche, die an der Universität erworbene Geisteshaltung in prakt. Pfarrtätigkeit umzusetzen, führten zu Misstrauen der Gemeinde u. der Amtsbrüder, die Nachforschungen über den »Semi-Bahrdt« anstellten. S.’ pädagog. Reformschrift Gregorius Schlaghart und Lorenz Richard oder die Dorfschulen zu Langenhausen und Traubenheim (Nürnb. 1795) bewog den Grafen Karl von Görtz, ihn 1799 als Ersten Pfarrer, Kirchen- u. Schulinspektor u. Konsistorialrat in die Grafschaft Schlitz zu rufen. In diesem Amt verwirklichte S. bis zu seinem Lebensende eine Fülle von Reformen Schlick, (Friedrich Albert) Moritz, * 14.4. in Kirche u. Schule u. wurde insbes. einer der 1882 Berlin, † 22.6.1936 Wien. – PhysiGestalter der modernen Volksschule (1831 ker, Philosoph. Ehrendoktor der Theologischen Fakultät der S. studierte Physik in Heidelberg, Lausanne Universität Gießen). u. Berlin, wo er 1904 bei Max Planck proS. verlegte seine literar. Tätigkeit von poemoviert wurde. 1910 habilitierte er sich in tischen Versuchen (u. a. Gedichte. Ansbach Rostock mit der philosophischen Arbeit Das 1784. Nürnb. 21793) weitgehend auf den päWesen der Wahrheit nach der modernen Logik dagog. u. volksschriftstellerischen Bereich (wiederabgedr. in: Philosophische Logik. Ffm. (über 40 Titel in meist mehreren Auflagen). 1986). 1911–1921 war er zunächst PrivatdoSeine an Rochow anschließenden Schulbü- zent, dann Professor für Philosophie in Roscher (z. B. Bearbeitungen von dessen Kinder- tock; 1921/22 erhielt er einen Ruf nach Kiel. freund, 1789 ff., oder Der Denkfreund, Gießen Während seiner Lehrtätigkeit in Deutschland 1811, 221860) u. Lehrerhandreichungen profilierte sich S. als philosophischer Inter(Handbuch für Volksschullehrer. 5 Bde., Gießen pret der Relativitätstheorie, wobei er sich der 1815–21. 21830–32) wurden zu Klassikern Zustimmung Albert Einsteins versichern auf ihrem Gebiet, während seine romanhafte konnte. Walter Rathenau bezeichnete S. zu Geschichte des Dörfleins Traubenheim (2 Bde., Recht als ›Evangelisten der RelativitätstheoNürnb. 1791/92. Gießen 31817) zu den be- rie‹. 1922 wurde S. auf die 1895 für Ernst deutendsten Schriften der Volksaufklärung Mach eingerichtete Lehrkanzel für die Philozählt. Mit seinen Fliegenden Volksblättern sophie der induktiven Wissenschaften in (Bayreuth 1797 ff.) war S. in Deutschland der Wien berufen. Dort sammelte sich um ihn erste, der mit Erfolg auf dem Weg der Kol- bald eine regelmäßig zusammenkommende Diskussionsgruppe, der sog. Wiener Kreis, portage Volksbildung betrieb.
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den er maßgeblich initiierte u. beförderte. 1926 traf S. zum ersten Mal Wittgenstein, dessen Tractatus im Wiener Kreis intensiv rezipiert worden war. Durch zahlreiche Gespräche mit Wittgenstein wurde die Richtung von S.s Denken in den folgenden Jahren entscheidend modifiziert; 1930 verdichtete sich diese Entwicklung in dem berühmten Aufsatz Die Wende der Philosophie. Schon früh hatte S. sich zu eth. Problemen geäußert (vgl. Lebensweisheit. Mchn. 1908; MSGA I.3, Bln./ New York 2006); 1930 veröffentlichte er die einflussreichen Fragen zur Ethik (Neudr. Ffm. 1986), die jede normative Moraltheorie für unmöglich erklären. 1928 wurde S. Obmann des Vereins Ernst Mach, durch den der Wiener Kreis eine größere Öffentlichkeit zu erreichen suchte. 1929 las er in Stanford, 1931 in Berkeley u. 1932 in London. Im Treppenhaus der Wiener Universität wurde S. 1936 von einem ehemaligen Schüler erschossen; der Täter wurde zwei Jahre später von den Nationalsozialisten begnadigt. S.s umfangreichste Arbeit ist die Allgemeine Erkenntnislehre (1918. Revidiert Bln. 21925. Neudr. Ffm. 1979; MSGA I.1, Bln./New York 2009). Darin verwarf er sowohl Kants Konzeption des synthet. Apriori als auch John Stuart Mills empiristische Auffassung der Mathematik. Nach S. ist die Geltung synthet. Sätze stets a posteriori; die Geltung mathemat. Sätze ist zwar a priori, aber nur deshalb, weil sie analytisch sind. Beide Thesen gehörten später zu jenen Grundüberzeugungen, die selbst die Kontrahenten im Wiener Kreis miteinander teilten. Ein zentrales Lehrstück des Buchs ist darüber hinaus ein Vorschlag zur (Auf-)Lösung des Leib-Seele-Problems, der als Zwei-Sprachen-Theorie bezeichnet werden kann (2. Aufl., Kap. 31–35). Mit Nachdruck weist S. darauf hin, dass er das Verhältnis des Psychischen zum Physischen für eines der zentralen Probleme der neuzeitl. Philosophie erachte. Grundsätzlich unterschied S. zwei Wege der Erkenntnis: »Der erste Weg scheidet alles Bezweifelbare aus, der zweite nur alles Unhaltbare. Die Oberfläche des Reichs unserer Erkenntnis wird zwischen die Minimalgrenze der ersten Methode und die Maximalgrenze der zweiten Methode eingeschlossen« (S. 215 f.). S. plä-
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dierte für den zweiten Weg. Doch im Unterschied zu Otto Neurath, seinem Antipoden im Wiener Kreis, hielt S. stets daran fest, dass es auch innerhalb der ersten (cartesischen) Methode wahre synthet. Sätze gebe. In späteren Arbeiten modifizierte er diese These: Mit synthet. Sätzen werden entweder »Hypothesen« oder »Konstatierungen« formuliert. Alle Sätze der empir. Wissenschaften sind Hypothesen. Eine Hypothese kann deshalb falsch sein, weil ihr Produzent sich irrt; eine Konstatierung hingegen kann nur deshalb falsch sein, weil ihr Produzent lügt (Über das Fundament der Erkenntnis. 1934. Wiederabdruck in: Gesammelte Aufsätze. Wien 1938. Über Konstatierungen. 1935. Wiederabdruck in: Philosophische Logik. a. a. O.). Diese Konzeption S.s stand im Mittelpunkt der berühmten Protokollsatz-Debatte des Wiener Kreises. S.s bedeutungstheoret. Grundsatz war: »Der Sinn eines Satzes ist die Methode seiner Verifikation.« Er entfaltete ihn in den Aufsätzen Positivismus und Realismus (1932) u. Meaning and Verification (1936. Beide wiederabgedr. in: Gesammelte Aufsätze. a. a. O.). Wie Wittgenstein verwandte ihn S. nicht nur als Kriterium der Signifikanz, sondern auch als Prinzip der Sinnbestimmung. Die Geschichte der Philosophie des Wiener Kreises ist zu einem wesentl. Teil die Geschichte der Interpretation, Modifikation u. Kritik dieses Grundsatzes. Seit den 1980er Jahren werden die philosophischen Positionen u. Leistungen S.s erneut intensiv debattiert, u. zwar unter histor. wie systemat. Gesichtspunkten. Hierbei besteht ein deutl. Schwerpunkt auf der Erkenntnistheorie u. Wissenschaftsphilosophie. Die Einsichten S.s zur Ethik, aber auch zur Ästhetik gelangen erst allmählich in den Blick. Besonders verdienstvoll sind im Zusammenhang dieser Erarbeitung von S.s Leben u. Werk die Forschungen der von Hans Jürgen Wendel geleiteten M.-S.-Forschungsstelle in Rostock. Seit 2006 erscheinen die dort erarbeitete Kritische Gesamtausgabe (Abt. I: Veröffentlichte Schriften, Abt II: Nachlass; Abt III: Briefe; Abt. IV: Varia, Register) sowie ergänzende Studien zur intellektuellen Biografie S.s.
Schliemann Weitere Werke: Raum u. Zeit in der gegenwärtigen Physik. Bln. 1917. Erw. 41922. – Naturphilosophie. In: Die Philosophie in ihren Einzelgebieten. Bd. 2. Hg. Max Dessoir. Bln. 1925. – Vom Sinn des Lebens. In: Symposion 1 (1927). – Fragen der Ethik. Wien 1930. Neudr. Ffm. 1984. – Die Probleme der Philosophie in ihrem Zusammenhang. Vorlesung aus dem Wintersemester 1933/34. Ffm. 1986 (mit Bibliogr.). – Krit. Gesamtausg. Hg. Friedrich Stadler u. Hans Jürgen Wendel. Wien/ New York 2006 ff. Literatur: Herbert Feigl: M. S. In: Erkenntnis 7 (1937/38). – Victor Kraft: Der Wiener Kreis. [...]. Ein Kapitel der jüngsten Philosophiegesch. Wien 1950. Erw. 1968. – Rudolf Haller (Hg.): S. u. Neurath – Ein Symposion. Grazer Philosophische Studien 16/17 (1982). – Ludwig Wittgenstein u. der Wiener Kreis. Gespräche, aufgezeichnet v. Friedrich Waismann. Ffm. 1984. – Brian McGuinness (Hg.): Zurück zu S. Wien 1985. – Barry Grower: Cassirer, S. and ›Structural‹ Realism. The Philosophy of the Exact Sciences in the Backround to Early Logical Positivism. In: British Journal for the History of philosophy 8 (2000), S. 71–106. – Wiener Kreis. Texte zur wiss. Weltauffassung. Hg. Michael Stölzner u. Thomas Uebel. Hbg. 2006. – Matthias Neuber: M. S. In: NDB. – Stationen. MoritzSchlick-Studien 1 (2008) ff. – Fynn Ole Engler u. Matthias Iven (Hg.): M. S. Leben, Werk u. Wirkung. Bln. 2008. – F. O. Engler u. M. Iven (Hg.): M. S. Ursprünge u. Entwicklungen seines Denkens. Bln. 2010. Wolfgang Künne / Gideon Stiening
Schliemann, (Johann Ludwig) Heinrich, * 6.1.1822 Neubuckow/Mecklenburg, † 26.12.1890 Neapel; Grabstätte: Athen, Erster Friedhof. – Archäologe. S. wuchs mit sieben Geschwistern als Pfarrerssohn in Ankershagen/Mecklenburg auf. Früher Tod der Mutter u. Amtsverlust des Vaters zwangen zum Abbruch der Schulbildung des Hochbegabten; 1836 trat er eine Lehre in einem Krämerladen an. 1841 verlor er die Stelle infolge eines Unfalls, heuerte als Schiffsjunge an, erlitt vor der Insel Texel Schiffbruch u. ging nach Amsterdam. Der in äußerste Not Geratene gelangte aufgrund kaufmänn. Befähigung u. eminenter Sprachbegabung – er beherrschte bald mehr als ein Dutzend Sprachen – rasch zu geschäftl. Ansehen. 1846 ließ er sich als Handelsagent in St. Petersburg nieder, wo er ein beträchtl.
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Vermögen erwarb. 1863 löste er sein Handelshaus auf, um sich fortan den »Traum meines ganzen Lebens«, die Welt Homers zu erforschen u. »dereinst Troja aus[zu]graben« (Selbstbiographie. 1869/81), zu erfüllen. Die ihm eigene Tatkraft u. Entdeckerfreude zeigen sich zunächst in seinem »unwiderstehlichen Drang zu reisen und die Welt zu sehen« (Tagebuch um 1850). So besuchte er Amerika, Kuba, Spanien u. den Orient u. trat 1864 eine zweijährige Weltreise an. 1866 ließ er sich in Paris nieder u. studierte Archäologie. 1868 unternahm er die erste große Reise nach Griechenland u. in die Troas mit Grabungen in Ithaka; mit Ithaka, der Peloponnes und Troja. Archäologische Forschungen (Lpz. 1869. Neudr. Darmst. 1963. Online-Ausg. Heidelb. 2006) promovierte er in Rostock zum Dr. phil. 1870–1873 reiste er mit seiner zweiten Frau u. Mitarbeiterin, Sophie Engastromenos, erneut nach Troja, wo er das »Skäische Tor« u. den von ihm so genannten »Schatz des Priamos« entdeckte; 1878/79, 1882 u. 1890 setzte er dort seine Forschungen fort. Nicht minder erfolgreich waren Grabungen 1880 in Orchomenos, 1884 in Tiryns u. vor allem die 1874 u. 1876 in Mykene vorgenommenen, die zur Entdeckung der mit einzigartigen Goldmasken ausgestatteten Schachtgräber führten. 1885/86 reiste er nach Mittelamerika, 1886/87 u. 1888 nach Ägypten, wo er in Alexandrien grub. S., der über eine vorzügl. Erzählgabe verfügte, veröffentlichte zahlreiche Bücher über seine Forschungsreisen, für ihn »eine Art Tagebuch meiner Ausgrabungen« (Trojanische Alterthümer. Lpz. 1874. Neudr. Zürich 1990. Online-Ausg. Heidelb. 2006), die er z. T. aus nachträgl. Kompilierung von urspr. u. a. für die Augsburger »Allgemeine Zeitung« oder die »Times« geschriebenen Reiseberichten gewann. Die Skizzen beeindrucken durch spontane Unmittelbarkeit, spekulative Kühnheit u. Enthusiasmus für das homerische Troja. In Ilios (Lpz. 1881) verzichtet S. erstmals auf die Wiedergabe der vor Ort geschriebenen Grabungstagebücher u. ist um Versachlichung u. größere wissenschaftl. Systematik bemüht, vornehmlich um sich der teilweise unqualifizierten Kritik etwa eines Ernst Curtius zu entziehen. Dabei stand ihm
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Literatur: Carl Schuchhardt: S.s AusgrabunWilhelm Dörpfeld zur Seite, seit 1882 sein gen. Lpz. 1890. – Wilhelm Dörpfeld u. a.: Troja u. enger Mitarbeiter. Eindrucksvoll spiegeln die Publikationen Ilion. Ergebnisse der Ausgrabungen 1870–94. Bln. S.s seine überwiegend autodidaktisch erwor- 1902. – Heinrich A. Stoll (Hg.): H. S. Selbstzeugnisse. Lpz. 1958. – Ernst Meyer: H. S. Zürich u. a. bene universelle Bildung wie auch seine 1969. – Joachim Herrmann: H. S. Wegbereiter einer Entwicklung als Wissenschaftler wider, der neuen Wiss. Bln. 1974. – Leo Deul: H. S. New York mit einer »naiven Geschichts- und Homer- 1977. Dt. Mchn./Wien 1979. – Hartmut Döhl: H. S. gläubigkeit« begonnen u. sich über seinen Mythos u. Ärgernis. Mchn./Luzern 1981. – Wieland Forschungen »zu einem distanzierten Gra- Schmied: H. S. Troja u. Homer. Ffm. 1990. – Über bungsarchäologen« (Döhl) gewandelt hatte, Griechenland u. Troja, alte u. junge Gelehrte, der um die Erhellung der geschichtl. Wahr- Ehefrauen u. Kinder: Briefe v. Rudolf Virchow u. H. heit bemüht war. Um so unverständlicher S. aus den Jahren 1877–1885. Hg. Christian Anderscheint es, dass S., dem im Ausland hohe ree. Köln/Wien 1991. – Karl Rolf Seufert: Unter den Ehrungen zuteil wurden (1883 Ehrendoktor Hügeln das Gold: H. S. findet Troja u. Mykene. Würzb. 1991. – Joachim Herrmann (Hg.): H. S.: der Universität Oxford), im eigenen Land von Grundlagen u. Ergebnisse moderner Archäologie der universitären Archäologie neidvoll als 100 Jahre nach S.s Tod. Bln. 1992. – Wolfgang unwissenschaftlicher »Schatzgräber« diffa- Richter: H. S.: Dokumente seines Lebens. Lpz. miert wurde. Tatsächlich aber fand S. zu 1992. – Justus Cobet (Hg.): Archäologie u. histor. Methoden u. Techniken einer »komparativen Erinnerung: nach 100 Jahren H. S. Essen 1992. – Archäologie« (an Virchow, Mai 1880), welche Leo Deuel: H. S. Eine Biogr. Reinb. 1993. – Hans der zeitgenöss. Grabungsarchäologie erst ihre Einsle u. Wilfried Bölke: Das H.-S.-Lexikon. Bremen u. a. 1996. – Irina Danilova: Der Schatz aus moderne Dimension verlieh. Virchows entschiedenes Eintreten für S. – Troja: die Ausgrabungen v. H. S. [Ausstellungssie reisten 1879 u. 1890 gemeinsam nach kat.]. Mailand 1996. – J. Cobet: H. S. Archäologe u. Abenteurer. Mchn. 1997. – Martin Emele: H. S. u. Troja, 1888 nach Ägypten – trug zu seiner Troia. Neue u. alte Mythen in den dt. Medien. Diss. allmähl. Anerkennung bei. Doch obwohl ihm Tüb. 1997. – W. Bölke (Hg.): Vorträge anläßlich des von Kaiser Wilhelm I. die Bewahrung seiner internat. Kolloquiums H. S. zum 175. Geburtstag Sammlungen »für immer« zugesichert war, [...]. Ankershagen 1997. – Gudrun Brigitta Nöh u. wurde schon bald nach seinem Tod mit deren Klaus Freese: H. S. u. kein Ende [Filmporträt]. partieller Auflösung begonnen u. auf die 1997. – Curtis Runnels: The archaeology of H. S.: Publikation seiner nichttrojan. Funde ver- an annotated bibliographic handlist. Boston 2002. zichtet. Teile seines Materials, darunter der – Irving Stone: Der griech. Schatz: der Lebensrolegendäre »Schatz des Priamos«, gingen im man von Sophia u. H. S. Reinb. 2004. – J. Cobet: H. S. In: NDB. – Tobias Mühlenbruch: H. S.: ein ItiZweiten Weltkrieg verloren. nerar. Marburg 2008. – Belinda Rodik: Der Fluch v. S. ist zweifellos den genialen Forschern des Troja: ein Ratekrimi um H. S. Bindlach 2010. 19. Jh. zuzurechnen. Seine Verdienste beruRüdiger Frommholz / Red. hen v. a. auf der Wiederentdeckung der myken. Kultur, der Lokalisierung Trojas u. dessen Ausgrabung u. dem Erkennen der Rele- Schlierbacher Altes Testament ! vanz der Keramik, deren Erforschung er er- Österreichischer Bibelübersetzer schloss, für die Altertumswissenschaft. Weitere Werke: Mykenae. Lpz. 1878. Neudr. Darmst. 1966. – Orchomenos. Lpz. 1881. – Selbstbiogr. In: Ilios. Lpz. 1881. Separat hg. v. Sophie Schliemann 1892. Neu bearb. u. hg. v. Ernst Meyer. Wiesb. 121979. – Troja. Lpz. 1884. – Tiryns. Lpz. 1886. – Ber. über die Ausgrabungen in Troja im Jahre 1890. Lpz. 1891. – Briefe: Briefe. Hg. Ernst Meyer. Bln./Lpz. 1936. – Briefw. Hg. ders. 2 Bde., Bln. 1953 u. 1958.
Schlierf, Werner, * 17.5.1936 München, † 1.3.2007 München. – Romancier, Dramatiker u. Lyriker; Verleger. Nach einer Handwerkerlehre betrieb S. in München/Giesing seit 1960 einen Augenoptikerladen, begann nebenher zu schreiben, besuchte Künstlerkreise in Schwabing u. trug dort Kurzprosa u. Lyrik vor (z.B. in der »Katakombe« u. im »Seerosenkreis«). Themen
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Literatur: Kurt Wilhelm: Die wahrhaftige u. entnahm S. bevorzugt der vorstädt. Umgebung seiner Jugendzeit, den Erfahrungen, die ausführl. Chronik der hochlöbl. Autorengruppe er in der Zeit nach 1945 bis in die späten Turmschreiber zu München. Pfaffenhofen 1994, 1950er Jahre in der Welt der »kleinen Leute« S. 160–165. August Kühn † / Philipp Kluwe machte. 1967 erschien sein Gedichtband Münchner Randstein-Notizen (Dachau 1967). Schlingensief, Christoph, * 24.10.1960 Rachmann (Mchn. 1969), sein erstes Drama, Oberhausen, † 21.8.2010 Berlin. – Regisbeschäftigt sich mit der menschl. Unduldseur. samkeit u. der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit. 1980 gab S. seinen Beruf auf, um als S. wuchs als Sohn eines Apothekers u. einer freier Schriftsteller tätig sein zu können. 1988 Kinderkrankenschwester in Oberhausen auf. gründete er mit Bernhard Ganter den Seine kath. Prägung zeigt sich in zahlreichen Künstlerkreis »Kaleidoskop«. Motivzitaten, die sich durch viele seiner Der Roman Isartränen (Starnberg 1972), in Werke ziehen. Nach dem Abitur am Heinrichüberarbeiteter Fassung u. d. T. Mein Name Heine-Gymnasium Oberhausen studierte er steht im Sand (Pfaffenhofen 1983), brachte ihm seit 1981 in München Germanistik, Philosoin Form des Bayerischen Roman-Preises 1983 phie u. Kunstgeschichte. 2009 wurde S. auf öffentl. Anerkennung. 1985 wurden vier die Professur »Kunst in Aktion« der HochStücke von S. in München inszeniert: Chewing schule für Bildende Künste Braunschweig Gum und Chesterfield (Mchn. 1985), Hallo Mister berufen; im selben Jahr heiratete er seine Einstein! (ebd. 1985), Kehrum-Serum (ebd. langjährige Lebenspartnerin, die Kostüm1982) u. Joe und Marianne (ebd. 1985), das im bildnerin Aino Laberenz. selben Jahr auch in New York Erfolg hatte. Bis in die frühen 1990er Jahre war S. als Unter seinen zahlreichen Gedichtbänden, Filmemacher tätig: Schon als Schüler drehte zumeist im Münchner Vorstadtdialekt ge- er Kurzfilme; von 1986 bis 1987 war er Aufschrieben, ragen die Gedichte des Bandes nahmeleiter der Fernsehserie »LindenstraNirgends gehts so zua wia auf der Welt, sagt der ße«. Sein erster Langfilm war Tunguska – Die Lenz ... (Mchn. 1987) bes. heraus. 1986 erhielt Kisten sind da (1983/84); es folgten u. a. 100 S. den Bayerischen Poetentaler, 2006 den Jahre Adolf Hitler (1988/89), Das deutsche KetFriedl Brehm-Preis; im selben Jahr wurde tensägenmassaker (1991/92) u. Terror 2000 ihm die Ehrendoktorwürde der University of (1991). Zunehmende Bekanntheit erlangte S., Yorkshire verliehen. S. war Mitherausgeber als er als Regisseur für das Theater zu arbeides Lesebuchs Bayern 2000 (Mchn. 1991) u. ten begann, zunächst an der Berliner VolksInhaber des Kirchheimer Lorgnon-Verlags. bühne, wo er u. a. 100 Jahre CDU (1993) u. Sein Engagement gegen die Todesstrafe wird Rocky Dutschke ’68 (1996) inszenierte. Später beispielswiese in Vom Fressen und vom Sterben war S. u. a. am Schauspielhaus Zürich u. am (Friedland 2004) deutlich. Wiener Burgtheater tätig, wo er auch 2003 Weitere Werke: Gesch.n aus einer schadhaften Elfriede Jelineks Bambiland uraufführte. Mit Zeit. Mchn. 1980 (E.en). – Herzkini. Pfaffenhofen der 2003 ausgerufenen, einer Glaubensge1981 (L.). – Traumfetzn. Mchn. 1982 (Hörsp.). – meinschaft ähnl. Bewegung »Church of Herzog Tassilo III., Schausp. in 14 Bildern. Pfaf- Fear«, die u. a. in Venedig auf der Biennale fenhofen 1986. – Xaver Spöttl. Münchner Szenen. 2003 vertreten war, begann S. sein Schaffen in Ebd. 1987. – Im Laufe der Jahre. Gedichte aus 30 den Bereich der Bildenden Kunst auszudehJahren. Ebd. 1988. – Man darf das Maul nicht halnen, mit seiner Parsifal-Inszenierung bei den ten. Mchn. 1989 (Glossen). – Am Kaminfeuer. Bayreuther Festspielen 2004 auf den Bereich Dachau 1993 (E.en, L.). – Jenseits von Giesing. Pfaffenhofen 1996 (R.). – Poesie der Hinterhöfe. der Oper. In den letzten Jahren seines Lebens Rosenheim 2000 (E.en). – Ohrenschmaus. Pliening/ engagierte sich S. für die Errichtung des Landsham 2004 (Hörbuch) – Bizarre Morde. »Operndorfes Afrika« in der Nähe von Ouagadougou. Kirchheim 2006 (R.). Kennzeichnend für S. sind seine die Sparten Film, Theater, Oper, Bildende Kunst u.
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Massenmedien verknüpfende Schaffensbreite Frank Kaspar: C. S. In: LGL. – Catherina Gilles: u. sein Credo, dass zwischen Leben, Kunst u. Kunst u. Nichtkunst. Das Theater v. C. S. Würzb. Werk keine Grenzen aufrechtzuerhalten sei- 2009. – Tara Forrest u. Anna Teresa Scheer (Hg.): C. en. Neben seiner eigenen Person integrierte S. S. Art without borders. Foreword by Alexander Kluge. Bristol, UK 2010. – Susanne Gaensheimer auch die Lebensbereiche Politik (z.B. 1998 (Hg.): C. S. Dt. Pavillon 2011. 54. Internat. Kunstdurch die Gründung der Partei »Chance ausstellung La Biennale di Venezia. [Köln] 2011. – 2000«), Soziales (z.B. durch Debatten um www.schlingensief.com (Werkübersicht u. MateBehinderung, Integration u. Migration) u. rialien). Toni Bernhart Religion in sein Lebenswerk, das sich als ein Gesamtkunstwerk umreißen lässt. Professioneller Dilettantismus, eine fast kindl. Naivi- Schlink, Bernhard, * 6.7.1944 Großdorntät u. eine selten gekannte Beharrlichkeit sind berg bei Bielefeld. – Erzähler, Jurist. Züge, die aus vielen seiner Arbeiten sprechen. S. gilt als einer der irritierendsten u. be- S. kommt aus einer Akademikerfamilie. Seine deutendsten Regisseure der letzten zwei Kindheit verbrachte er in Heidelberg. Nach Jahrzehnte. Sein literar. Werk bildet im dem Studium der Rechtswissenschaften in Rahmen seines umfangreichen u. wirkmäch- Heidelberg u. Berlin wurde er 1975 mit einer tigen Lebenswerks ein Segment, das sich verfassungsrechtl. Arbeit promoviert; 1981 kaum aus seinem überbordenden Schaffen habilitierte er sich. 1982–1991 lehrte er als herauslösen u. isoliert betrachten lässt. S.s Professor für Öffentliches Recht an der RheiTextproduktion schöpft wesentlich aus sei- nischen Friedrich-Wilhelm-Universität Bonn, nem eigenen Sprechen u. aus mündl. u. szen. 1991/92 an der Johann Wolfgang GoetheErzählen. So sind seine Texte oft Transkripte Universität Frankfurt/M. 1988–2005 war er von Gesprächen oder Protokolle szen. Ver- Richter des Verfassungsgerichtshof für suchsanordnungen. Für die Hörspielfassung Nordrhein-Westfalen; von 1992 bis zu seiner Emeritierung 2009 hatte er den Lehrstuhl für seines Stückes Rosebud erhielt S. 2003 den Öffentliches Recht u. Rechtsphilosophie an Hörspielpreis der Kriegsblinden. der Humboldt-Universität zu Berlin inne. Weitere Werke: Bühnenstücke, Musiktheater, Ak1993 war er als Gastprofessor an der Yeshivationen: Mein Filz, mein Fett, mein Hase (Kassel University New York. Er lebt in New York u. 1997). – 7 Tage Entsorgung für Graz (Graz 1998). – Berlin. Die Berliner Republik (Berlin 1999). – Bitte liebt S. erhielt u. a. 1989 den Friedrich-GlauserÖsterreich! (Wien 2000). – Rosebud (Berlin 2001). – ATTA ATTA. Die Kunst ist ausgebrochen (Berlin Preis, 1993 den Deutschen Krimipreis, 1997 2003). – Area 7. Matthäusexpedition (Wien 2006). – den Prix Laure Bataillon, 1999 den WELTEine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir Literaturpreis, 2000 die Ehrengabe der (Recklinghausen 2008). – Mea Culpa (Wien 2009). – Heinrich-Heine-Gesellschaft, Düsseldorf u. Sterben lernen! (Zürich 2009). – Via Intolleranza II den Evangelischen Buchpreis, 2001 den Eeva(Brüssel 2010). – Filme: Menu Total (1985/86). – Joenpelto-Preis (Finnland) u. 2003 das BunEgomania (1986/87). – Mutters Maske (1987/88). – desverdienstkreuz. Die 120 Tage von Bottrop (zus. mit Oskar Roehler, S. debütierte mit dem Kriminalroman Selbs 1997). – Freakstars 3000 (2002–2004). – Bücher: Justiz (zus. mit Walter Popp. Zürich 1987). Chance 2000. Wähle Dich selbst (zus. mit Carl HeDessen Protagonist ist der 68 Jahre alte Prigemann). Köln 1998. – Rosebud. Das Original. Köln vatdetektiv Gerhard Selb. Bemerkenswert an 2002. – So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein! Tagebuch einer Krebserkrankung. Köln diesem Krimi ist der komplizierte Charakter 2009. – Nachlass: Archiv der Akademie der Künste, des Protagonisten, der sich mit seiner Vergangenheit als Staatsanwalt im »Dritten Berlin. Literatur: Julia Lochte u. Wilfried Schulz (Hg.): Reich« auseinandersetzen muss. Durch dieS.! Notruf für Dtschld. Über die Mission, das sen histor. Aspekt erfährt das Thema ›Schuld‹ Theater u. die Welt des C. S. Hbg. 1998. – S.s Aus- einen hohen Grad an Komplexität. 1991 länder raus. Bitte liebt Österr. Dokumentation v. wurde die literar. Vorlage u. d. T. Der Tod kam Matthias Lilienthal u. Claus Philipp. Ffm. 2000. – als Freund für das ZDF verfilmt. In der glei-
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chen Reihe folgten 1992 Selbs Betrug (ebd. Tb. 1994) u. 2001 Selbs Mord (ebd. Tb. 2003). Zu S.s Krimiproduktion zählt ferner Die gordische Schleife (ebd. 1988). Georg Polger, ein freiberufl. Übersetzer, wird Opfer eines Spionagefalls, den er selbst aufdeckt u. der ihn sowohl körperlich als auch psychisch in Gefahr bringt. In den Themenbereich Verbrechen u. Schuld gehört auch der Roman Das Wochenende (Zürich 2008. Tb. 2010). Jörg, ein Terrorist, wird begnadigt u. verbringt sein erstes Wochenende in Freiheit mit seinen alten Freunden. Die zentrale Frage ist, ob sich der Haftentlassene in die bestehende Gesellschaft integrieren will. Jeder der alten Weggefährten hat bereits einen Lebensentwurf für den Haftentlassenen vorbereitet. Zudem werden Fragen wie Schuld, RAF u. Krieg diskutiert. Deutlich wird, dass der Terrorismus keine histor. Größe ist. Seine Aktualität findet Einlass in einen Roman, den die Lehrerin Ilse an diesem Wochenende zu schreiben beginnt u. in dem auf die Ereignisse des 11. Sept. 2001 Bezug genommen wird. Zudem versucht ein Gesinnungsgenosse Jörg zur Ikone des aktuellen religiösen Terrorismus zu stilisieren. Im Roman Der Vorleser (ebd. 1995. Tb. 1997. 69 2011) wird die Liebesgeschichte eines fünfzehnjährigen Jungen u. einer erwachsenen Frau erzählt. Ein besonderes Faible von Hanna Schmitz ist, dass sie sich gerne vorlesen lässt. Erst Jahre später sieht Michael Berg, jetzt Jurastudent, die Frau vor Gericht wieder. Sie war KZ-Wärterin, die ihre jüd. Opfer dazu missbrauchte, ihr vorzulesen, bevor sie sie in den Tod schickte. Während der Gerichtsverhandlung wird Berg deutlich, dass Hanna Analphabetin ist. Um dieses Defizit zu verheimlichen, übernimmt sie die Verantwortung für den Tod einer Gruppe Frauen u. Kinder. Hier ist ein komplexer Schuldkonflikt angelegt. Der Protagonist quält sich mit der Frage, ob er in den Verlauf des Prozesses hätte eingreifen müssen. Die Frage nach der Schuld ist in diesem Roman vielfach gebrochen: »Also blieb ich schuldig. Und wenn ich nicht schuldig war, weil der Verrat einer Verbrecherin nicht schuldig machen kann, war ich schuldig, weil ich eine Verbrecherin geliebt hatte.«
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Dieser Roman war zuerst im Ausland, später auch in Deutschland ein großer Erfolg. Er gilt als das erste dt. Buch, das den Sprung auf Platz 1 der Bestsellerliste der »New York Times« schaffte. Die Verfilmung des Stoffes erfolgte 2007/2008 unter der Regie von Stephen Daldry. Die Weltpremiere war 2008; 2009 kam der Film in die dt. Kinos. Die Erzählungen Liebesfluchten (ebd. 2000. Tb. 2001) versammeln sieben Geschichten vom Scheitern der Liebe. Die Erzählung Der Andere wurde 2008 unter der Regie von Richard Eyre verfilmt. Auch hier kehren die zentralen Themen S.s wieder. Das Mädchen mit der Eidechse konfrontiert einen Jungen mit der NS-Vergangenheit des Vaters; weitere Themen sind Schuld, Unrecht, Verrat u. Verantwortung. In diesen Themenkontext gehört auch der Erzählungenband Sommerlügen (ebd. 2010). Die Erzählung Nachsaison wird dem Titel des Buches besonders gerecht. Als Richard u. Susan sich kennen lernen, beschließen sie zusammenzuziehen. Wieder zu Hause merkt der Protagonist, dass er zu einem Ortswechsel schon zu alt ist. Man hat sich im Urlaub in die Tasche gelogen, um zumindest noch einmal einen (Nach-)Sommer u. die Liebe erleben zu dürfen. Auch schwierige Verhältnisse, in denen moderne Beziehungen zu überleben versuchen, werden z. B. in Die Nacht in Baden-Baden thematisiert. In der Erzählung Der letzte Sommer – sie handelt vom Umgang mit einer unheilbaren Krankheit – beschließt der Protagonist, sein Leben zu beenden, doch seine Frau u. seine Familie verweigern sich dieser Entscheidung. Den Subtext für Die Heimkehr (ebd. 2006. Tb. 2008) bildet Homers Odyssee. Peter Debauer verbringt die Sommerferien seiner Kindheit bei den Großeltern väterlicherseits, die aus Geldmangel Groschenromane redigieren. Einer, der dem Jungen zufällig in die Hände gerät, handelt von der Heimkehr eines Soldaten. Schnell wird deutlich, dass hier das Schicksal von Peters eigenem Vater erzählt wird, der auch der Verfasser des Romans ist. Peter macht sich auf die Suche, u. subtil wird diese Irrfahrt aus der Perspektive von Telemach u. Penelope erzählt. Peter Debauer findet seinen Vater in den USA, wo er als Rechtswissenschaftler tätig ist u. in seiner
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aktuellen Vorlesung die Odyssee behandelt. Hier erhält der Roman einen weiteren Subtext. John de Baurs Vita ist dem Lebenslauf des Germanisten Paul de Man nachgeschrieben. De Man war genau wie Debauers Vater nach seiner Tätigkeit für die Nationalsozialisten in die USA ausgewandert. Er war bekennender Dekonstruktivist; in S.s Roman übertragen auf die Rechtswissenschaft, gewinnt dieser Tatbestand noch an Brisanz, unterstellt er doch, dass nicht der Handelnde für sein Tun verantwortlich ist, sondern der Interpret der Handlungen. Weitere Werke: Grundrechte. Staatsrecht II. Zus. mit Bruno Pieroth. Heidelb. 1985. 262010. – Polizei- u. Ordnungsrecht mit Versammlungsrecht (zus. mit Michael Kniesel u. B. Pieroth). Mchn. 2002. 62010. – Heimat als Utopie. Ffm. 2000. – Vergewisserungen. Über Politik, Recht, Schreiben u. Glauben. Zürich 2005. – Vergangenheitsschuld. Beiträge zu einem dt. Thema. Zürich 2007. – Gedanken über das Schreiben. Heidelberger Poetikvorlesungen. Zürich 2011. Literatur: Juliane Köster: B. S. ›Der Vorleser‹ (1995). Eine Interpr. für die Schule. In: DU 51 (1999), H. 4, S. 70–81. – David Dwan: Empathy and the ethics of reading in Primo Levi, Jorge Semprun and B. S. In: The Journal of Holocaust Education 8 (1999), S. 85–99. – Eleanor Wachtel: B. S. interviewed. In: Queen’s Quarterly 106 (1999), Nr. 4, S. 545–557. – Carlotta v. Maltzan: ›Die Angst davor, dass es rauskommt‹. Über das Schweigen v. Opfern u. Tätern bei Katja Behrens u. B. S. In: Jews in German Literature since 1945. German-Jewish Literature. Hg. Pol O’Dochartaigh. Amsterd. 2000, S. 463–476. – Tilman Krause: Laudatio auf B. S. In: Heine-Jb. 39 (2000), S. 238–246. – Manfred Durzak: Opfer u. Täter im Nationalsozialismus. B. S.s ›Der Vorleser‹ u. Stephan Hermlins ›Die Kommandeuse‹. In: Lit. für Leser 23 (2000), H. 4, S. 203–213. – Carl Wiemer: Dichter u. Richter. B. S. überwältigt die Vergangenheit. In: Tribüne 42 (2003), H. 167, S. 162–178. – Stephan Brockmann: Virgin father and prodigal son. In: Philosophy and Literature 27 (2003), H. 2, S. 341–363. – Martin Ebel: B. S. In: LGL. – Micha Ostermann: Aporien des Erinnerns. B. S.s Roman ›Der Vorleser‹. Bochum 2004. – Kathrin Schödel: Jenseits der ›political correctness‹. NS-Vergangenheit in B. S., ›Der Vorleser‹ u. Martin Walser, ›Ein springender Brunnen‹. In: Seelenarbeit an Dtschld. Martin Walser in Perspective. Hg. Stuart Parkes u. Fritz Wefelmeyer. Amsterd./New York 2004, S. 307–322. – Lynn Wolff: ›The Mare of Majdanek‹ – Intersections of
Schlögl history and fiction in B. S. ›Der Vorleser‹. In: IASL 29 (2004), H. 1, S. 84–117. – Jane Alison: The third victim in B. S.s ›Der Vorleser‹. In: GR 81 (2006), H. 2, S. 163–178. – S¸ener Bag˘ : ›Der Vorleser‹ v. B. S. als Medium der dt. Erinnerungskultur. In: Ege (Forsch.en zur dt. Sprach- u. Literaturwiss.) 8 (2006), S. 17–41. – Alison Lewis: Das Phantasma des Masochisten u. die Liebe zu Hanna. Schuldige Liebe u. intergenerationelle Schuld in B. S.s ›Der Vorleser‹. In: WB 52 (2006), H. 4, S. 554–573. – Katharina Hall: The Author, the Novel, the Reader and the Perils of ›Neue Lesbarkeit‹. A Comparative Analysis of B. S.s ›Selbs Justiz‹ and ›Der Vorleser‹. In: GLL 59 (2006), H. 3, S. 446–467. – Agnes C. Mueller: Forgiving the Jews for Auschwitz? Guilt and Gender in B. S.’s ›Liebesfluchten‹. In: GQ 80 (2007) H. 4, S. 511–530. – Walter Hinck: Wahrnehmung des Lebens. Vom Schreiben im Nebenberuf. Die Erzähler Erwin Wickert, Hans Graf v. der Goltz u. B. S. Bonn 2008. – Klaus Köhler: Alles in Butter. Wie Walter Kempowski, B. S. u. Martin Walser den Zivilisationsbruch unter den Teppich kehren. Würzb. 2009, S. 251–337. – K. Schödel: ›Secondary Suffering‹ and victimhood. The ›other‹ of German identity in B. S.’s ›Die Beschneidung‹ u. Maxim Biller’s ›Harlem Holocaust‹. In: Germans as victims in the literary fiction of the Berlin republic. Hg. Stuart Taberner. Rochester 2009, S. 219–232. – Sandro Moraldo. B. S. In: KLG. – Jochen Hörisch: Nazis, Sex u. Religion: Unkorrekte Konstellationen in B. S.s ›Der Vorleser‹ u. Jonathan Littells ›Die Wohlgesinnten‹. In: Merkur 64 (2010), H. 7, S. 593–602. – Karin Tebben: Der Vorleser. Zur ästhet. Dimension rechtsphilosoph. Fragestellungen. In: Euph. 104 (2010), H. 4, S. 455–474. Elke Kasper
Schlögl, Friedrich, * 7.12.1821 Mariahilf (heute zu Wien), † 7.10.1892 Wien; Grabstätte: ebd., Perkersdorfer Friedhof. – Feuilletonist. S. war das erste von 14 Kindern eines Hutmachers u. Billeteurs am Kärntnertortheater. Aus finanziellen Gründen musste der Theaterbegeisterte das Gymnasium vorzeitig verlassen u. wurde Militärrechnungsbeamter. Als Ausgleich für den als geisttötend empfundenen Beruf begann er, für Zeitungen u. a. Humoresken u. topografische Schilderungen zu schreiben. Die Lektüre von Heine, Lenau u. Freiligrath machte ihn mit freiheitl. Gedanken bekannt. 1848 heiratete er seine Jugendfreundin Anna Wild; die Ehe war unglücklich. Ein Beitrag zu dem von seinem
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Freund Karl Sittner herausgegebenen »Figa- Schlözer, August Ludwig von (seit 1803), ro« brachte 1857 den Durchbruch, in rascher auch: Johann Joseph Haigold, * 5.7.1735 Folge publizierte S. fortan in satir. Blättern, Gaggstadt bei Kirchberg/Jagst, † 9.9.1809 schließlich im angesehenen »Neuen Wiener Göttingen. – Historiker u. Publizist. Tagblatt«. Hieraus erwuchsen seine Schilderungen Wiener Typen in den »kleinen Cul- Der Familientradition gemäß studierte u. turbilder[n] aus dem Volksleben der alten promovierte der bescheidenen Verhältnissen Kaiserstadt« Wiener Blut (Wien 1873. 41875) u. entstammende S. an der Theologischen der Universität Wittenberg Wiener Luft (ebd. 1875). Neben Anerkennung Fakultät (1751–1754). Dem Pfarrdienst abgeneigt u. – etwa durch Anzengruber u. Glaßbrenner – mit dem Plan einer Orientreise befasst, den er erfuhr S. auch öffentl. Angriffe, bes. weil er nie verwirklichen konnte, widmete er sich sich heftig gegen die aufkommende antisemitische Publizistik wandte. 1870 ließ er sich anschließend nicht nur krit. Textphilologie pensionieren. Seit 1883 quälte ihn Asthma. In u. histor. Bibelkunde bei Johann David Miseinen späteren Beiträgen finden sich auch chaelis in Göttingen (1754/55); auch polynörgelnde Züge, während seine besten historische Studien in Uppsala (1756/57) u. Feuilletons der 1870er Jahre die von Kürn- Göttingen (1759–1761) sowie Tätigkeiten als berger gerühmte »Ausgeglichenheit von Lie- Hauslehrer (1755 u. 1758), als Erwerbsbe und Satyre« aufweisen u. wichtige Quellen schriftsteller (u. a. Neueste Geschichte der Gelehrsamkeit in Schweden. 5 Tle., Rostock zur Wiener Kulturgeschichte darstellen. 1756–60) u. als Skandinavien-Korrespondent Weitere Werke: Aus Alt- u. Neu-Wien. Nebst einem Stück Autobiogr. Wien 1882. – Wieneri- des Altonaer »Reichspost-Reuthers« (1755 bis sches. Ebd. 1883. – Über Ferdinand Sauter. Ebd. 1761) sollten dieses Projekt befördern. 1761 ging S. als Hauslehrer nach Peters1884. – Vom Wiener Volkstheater. Ebd. 1884. – Wien. Zürich 1886. – Von den besten Büchern. Ebd. burg, wo er nach persönl. Intervention Ka1889. – Ges. Werke. Hg. Fritz Lemmermeyer. 3 tharinas II. eine Geschichtsprofessur an der Bde., ebd. 1893. Wissenschaftsakademie (1765–1769) erhielt. Literatur: Fritz Negrini: F. S. als Tagesschrift- Historisch u. philologisch unermüdlich tätig, steller. Diss. Wien 1957. – L. H. Bailey: Ferdinand legte S. mit den Publikationen dieser Jahre Kürnberger, F. S. and the feuilleton [...]. In: Forum (u. a. Neuverändertes Rußland [...]. 2 Tle., Riga/ for modern language studies 13 (1977), S. 155–167. Lpz. 1767 u. 1772) den Grundstein für die – Dieter Schmutzer: F. S. In: ÖBL. – Jo Ann Mitchell Berufung nach Göttingen (1769) u. seinen Fuess: The crisis of lower middle class Vienna, 1848–1892. A study of the works of F. S. New York Aufstieg zum führenden Slavisten der Zeit u.a. 1997. – Karlheinz Rossbacher: F. S.: Beamter mit bleibenden Verdiensten um Editionsim ›Biedermeier‹ u. Feuilletonist im ›Beyond‹. In: techniken, die Klassifikation der slaw. SpraThe Biedermeier and beyond. Selected papers from chen u. die frühe Verbreitung russ. Literatur the symposium held at St. Peter’s College, Oxford, im deutschsprachigen Raum. from 19–21 September 1997. Hg. Ian F. Roe u.a. Literarische Fehden, v. a. mit Heyne, HerBern u.a. 1999, S. 193–214. – Ulrike Tanzer: Von der u. Basedow, bestimmten die ersten Götalten ›Achtundvierzigern‹, ›Gutgesinnten‹ u. Wietinger Jahre. Dabei eskalierte S.s Kampf gener Hetären. 1848 u. die Folgen im journalist. Werk gen die pädagog. Methoden Basedows (u. a. F. S.s. In: Bewegung im Reich der Immobilität. Revolutionen in der Habsburgermonarchie Beylage zum Versuch über den Kinder-Unterricht 1848–1849. Literarisch-publizist. Auseinanderset- [...]. Gött./Gotha 1771) zum allenthalben gezungen. Hg. Hubert Lengauer u. Primus Heinz rügten Erziehungsexperiment an seiner 1787 Kucher. Wien u.a. 2001, S. 458–471. zur Doktorin promovierten Tochter DoroHans-Albrecht Koch thea. Seinem Ruf als Lehrer taten solche Konflikte keinen Abbruch: S.s Vorlesungen zu Statistik, Geschichte u. Staatstheorie wurden wegen ihres aktuell-polit. u. neuartigkulturgeschichtl. Inhalts lange Jahre stark besucht. Gleichzeitig avancierten seine Jour-
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nale (»Briefwechsel meist historischen und politischen Inhalts«. 10 Bde., Gött. 1776–82. »StatsAnzeigen«. 18 Bde., ebd. 1782–93) zum weit verbreiteten, geschätzten wie gefürchteten Diskussionsforum der gebildeten Öffentlichkeit. Lukrative Berufungsangebote (1778 Halle, 1780/81 Wien) lehnte der 1782 zum Hofrat u. 1787 zum Professor für Politik ernannte S. ab. Erst Auseinandersetzungen um S.s ambivalente Bewertung der Französischen Revolution brachen die meinungsbildende Kraft seiner Zeitschriften (Verbot der »StatsAnzeigen« 1794). Seine wissenschaftlich bilanzierenden Publikationen (u. a. Nestor. Russische Annalen [...]. 5 Bde., Gött. 1802–1809. Theorie der Statistik. Ebd. 1804) riefen seither respektvollen, aber geringen Widerhall hervor. Nicht nur Heynes Beurteilung des vereinsamenden S. schwankte nun zwischen Anerkennung (»bête noire der Großen«) u. Spott (»politischer Pausback«). In seinem wissenschaftl. u. publizistischen Werk erscheint S. als Bewahrer wie Erneuerer. Schon Herder kritisierte die quälende Systematik der histor. u. statistischen Veröffentlichungen (u. a. Allgemeine Nordische Geschichte. Halle 1771. August Ludwig Schlözers Vorstellung seiner Universal-Historie. 2 Tle., Gött. 1772/73. 2 1775) mit ihrer häufig unkommentierten Reihung barer Fakten (Nachrichten) u. unterschiedlichster »Raissonements« (Kommentare) ohne entwicklungsgeschichtl. (diachrone) Durchdringung des Stoffs. Dieselben Publikationen brachen jedoch erstmals mit der Zeitrechnung »seit Erschaffung der Welt« zugunsten des epochemachenden Einteilungsschemas »vor« u. »nach Christi Geburt«. – Für Kinder verfasste S. neben eher konventionell-erbaul. Schriften (u. a. Vorbereitung zur Weltgeschichte für Kinder. 2 Tle., Gött. 1779 u. 1806) mit seinem NeuJahrs-Geschenk aus Westfalen für einen deutschen Knaben (ebd. 1784) einen durchaus auf politisch opportunes Verhalten hin angelegten, aber von schrill-nationalen Tönen durchsetzten, derbumgangssprachlich gehaltenen Text, der bemerkenswerterweise mit der Täuferrevolte in Münster 1535 ein Revolutionsthema anschlägt. – In seinem polit. Hauptwerk (Allgemeines StatsRecht und StatsVerfassungsLere [...].
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Ebd. 1793) propagierte S. radikale Reformen in überkommenen Bahnen: Sozialtheoretische, geschichtsphilosophische u. verwaltungstechn. Reformideen nach dem Vorbild Montesquieus u. der engl. Staatsverfassung verquicken sich zu einer emanzipativen Theorie der rechtsstaatl. Monarchie, deren Administration vom bürgerlich-aristokratischen, elitär-gebildeten »Beamtenadel« getragen wird. Ihr assistiert ein Kontrollorgan »Öffentlichkeit« (»Informative«), das Missstände (»odiosa«) anklagen, polit. Bewusstseinsbildung begründen u. gemeinsam mit »cultivierte[n] Souveräns« zur allmähl. Wandlung drückender Verhältnisse u. effektloser Kleinstaaterei (»Republiquetten«) beitragen soll. Neuere Arbeiten suchen von daher die Schwellenposition S.s, eines vermutl. »Erzvaters des deutschen Liberalismus« (Fritz Valjavec), aufzuhellen. Weitere Werke: Probe russ. Annalen. Bremen/ Gött. 1768. – NeuJahrs-Geschenk aus Jamaika. Gött. 1780. – A. L. S.’s öffentl. u. privat-Leben. Ebd. 1802. Literatur: Christian v. Schlözer: S.s öffentl. u. Privatleben. 2 Bde., Lpz. 1826. – Ferdinand Frensdorff: Von u. über S. Bln. 1909. – Eduard Winter (Hg.): S. u. Rußland. Bln./DDR 1961. – Otto Brinken: Der Prof. aus Göttingen [...]. In: Die Schiefertafel 4 (1981), S. 25–47. – Werner Hennies: Die polit. Theorie S.s zwischen Aufklärung u. Liberalismus. Mchn. 1985 (Nachl.-, Werk- u. Literaturverz., S. 264–301). – Hans Erich Bödeker: ›Ein Schriftsteller [...]‹. In: Photorin 11/12 (1987), S. 3–18. – Jürgen Voss: S. u. Frankreich. In: Germanistik in interkultureller Perspektive. Hg. Gonthier-Louis Fink. Straßb. 1988, S. 93–105 (Lit.). – Martin Peters: A. L. S. u. das Verständnis v. Staat u. Gesellsch. In: Souveränitätskonzeptionen. Beiträge zur Analyse polit. Ordnungsvorstellungen im 17. bis zum 20. Jh. Hg. ders. Bln. 2000, S. 109–130. – Ders.: Altes Reich u. Europa. Der Historiker, Statistiker u. Publizist A. L. (v.) S. (1735–1809). Münster 2003. – Ders.: A. L. (v.) S. (1735–1809). In: Europa-Historiker. Ein biogr. Hdb. Hg. Heinz Duchhardt. Gött. 2006, S. 79–105. – Dirk Fleischer: A. L. S. In: NDB. – Reinhard Lauer: A. L. S. zwischen Petersburg u. Göttingen. In: Jb. der Akademie der Wiss.en zu Göttingen 2009, S. 272–281. – Helmut Keipert: A. L. S. als Sprachforscher. In: ebd., S. 282–304. Adrian Hummel / Red.
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Schlözer, Kurd von, * 5.1.1822 Lübeck, † 13.5.1894 Berlin. – Historiker u. Diplomat. Der Enkel August Ludwig von Schlözers studierte in Göttingen oriental. Sprachen (Promotion) u. war mit Ernst Curtius befreundet, durch dessen Vermittlung er 1850 ohne juristisches Examen in den preuß. auswärtigen Dienst eintreten konnte. Als Diplomat von Bismarck gefördert, war er in Petersburg, Kopenhagen u. Rom tätig, vertrat Preußen auch in Mexiko u. den USA. Wegen ihrer präzisen u. anschaul. Art fanden seine histor. Darstellungen große Beachtung (Les premiers habitants de la Russie. Paris 1846). Besonders seine von Leopold von Schlözer herausgegebenen Briefsammlungen (St. Petersburger Briefe. Bln. 1921. Amerikanische Briefe. Bln. 1927. Letzte Römische Briefe. Bln. 1924) gelten als wichtige histor. Quelle u. werden wegen ihres literar. Charakters geschätzt. Weitere Werke: Choiseul u. seine Zeit. Bln. 1848. – Hansa u. der dt. Ritterorden in den Ostseeländern. 3 Bde., Bln. 1850–53. – Friedrich der Große u. Katharina II. Bln. 1859. – Briefe eines Diplomaten: Paris, Petersburg, Rom, Mexiko, Washington. Ausgewählt u. hg. v. Heinz Flügel. Stuttgart 1957. Literatur: Paul Curtius: K. v. S. Bln. 1912. – Rainer Postel: Grundlegungen u. Anstöße für die Hanseforschung: Johann Martin Lappenberg u. K. v. S. In: Hansische Geschichtsbl. 114 (1996), S. 105–121. Wolfgang Weismantel / Red.
Schlosser, Friedrich Christoph, * 17.11. 1776 Jever, † 23.9.1861 Heidelberg; Grabstätte: ebd., Bergfriedhof. – Historiker. Der Sohn eines heruntergekommenen Advokaten studierte nach dem Besuch der Provinzialschule in Jever 1794–1797 in Göttingen Theologie für das Pfarramt u. hörte nebenbei u. a. bei Spittler, Schlözer u. Eichhorn. Danach schlug sich S. als Pfarrverweser, Lehrer (1808/1809 in Jever) u. bes. als Hauslehrer (1800–1812 bei einem Frankfurter Kaufmann) durch. 1819 erhielt er in Gießen den Doktortitel. S.s Jahre als Lehrer waren Bildungsjahre, während derer er sich durch umfassende Lektüre der Aufklärungsliteratur
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u. der klass. Texte breite histor. u. literar. Kenntnisse erwarb. Seine schriftstellerische Tätigkeit begann mit drei Arbeiten zur Kirchengeschichte, von denen die zuletzt erschienene Geschichte der bilderstürmenden Kaiser des oströmischen Reiches (Ffm. 1812) die bekannteste wurde. 1812–1815 unterrichtete S. an dem nach frz. Vorbild eingerichteten Frankfurter Lyzeum Geschichte u. Philosophie u. publizierte 1815 die hieraus hervorgegangene Weltgeschichte in zusammenhängender Erzählung (Ffm.). Nach der Auflösung des Lyzeums war S. Frankfurter Stadtbibliothekar, bis ihn 1817 der Ruf auf den Heidelberger Lehrstuhl für Geschichte erreichte, der, bis S. 1825 von diesem Amt zurücktrat, mit der Leitung der Universitätsbibliothek verbunden war. S.s Interesse verlagerte sich zunehmend von der Universalgeschichte auf die neueste Geschichte. Zwar führte er seine Weltgeschichte bis zum 13. Jh. fort (insg. 9 Bde. bis 1824) u. legte mit der Universalhistorischen Übersicht der Geschichte der alten Welt und ihrer Cultur (9 Tle., Ffm. 1826–34) eine umfassende u. für seine method. Entwicklung bedeutsame Überarbeitung des ersten Bandes vor. Doch das Hauptwerk seiner frühen Heidelberger Jahre war die Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts [...] mit steter Beziehung auf die völlige Veränderung der Denk- und Regierungsweise am Ende desselben (2 Bde., Heidelb. 1823). 1836–1848 besorgte S. eine Neuauflage, welche die Darstellung bis zum Sturz des frz. Kaiserreichs weiterführte. Bis zu seinem letzten Kolleg 1852, Über neuere Geschichte seit 1815, blieb S. unter anderem als Rezensent für die »Heidelberger Jahrbücher für Literatur« der Zeitgeschichte treu. Gleichwohl verfasste er für die von seinem Schüler Georg Ludwig Kriegk aus seinen Werken zusammengestellte Weltgeschichte für das deutsche Volk (19 Bde., Ffm. 1844–57), die sich das ganze 19. Jh. über großer Popularität erfreute, die fehlenden Bände (Bd. 9 ff.). Im Zeitalter Rankes hielt S. an den Traditionen der Aufklärungshistoriografie fest. Zwar forderte auch er gründl. Quellenarbeit, doch schien ihm die Beschäftigung mit Geschichte ganz im Sinne der historia magistra vitae-Tradition nur in moralischer u. prakt. Absicht nützlich. Diese machte seine Dar-
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stellung der jüngsten Vergangenheit mit ihrer klaren Parteinahme für die Kräfte der neuen Zeit u. der daraus ableitbaren Zeitkritik zu einem »Lieblingsbuch des liberalen Deutschlands«, obgleich S. sich über seine akademisch-publizistische Tätigkeit hinaus nicht politisch engagierte u. auch die nationale Stimmung des 19. Jh. nicht traf. S.s eigentüml. historiografische Konzeption liegt in der Verschränkung von »äußerer« u. »innerer« Geschichte, von Ereignis- u. Bewusstseinsgeschichte, wobei er die Letztere vornehmlich über die Geschichte der Literatur einer Zeit zu fassen meinte. Die Geschichte der polit. Verhältnisse löste sich so bei S. statt zur Staats- zur Kultur- u. Zeitgeistgeschichte hin auf. Weitere Werke: Abälard u. Dulcin [...]. Gotha 1807. – Leben des Theodor Beza u. des Peter Martyr Vermili. Ein Beytrag zur Gesch. der Kirchen-Reformation. Heidelb. 1809. – Vincent v. Beauvais, Hand- u. Lehrbuch für kgl. Prinzen u. ihre Lehrer [...]. Ffm. 1819. – Selbstbiogr. In: Zeitgenossen. Biogr.n u. Charakteristiken. Neue Reihe. Lpz./Altenburg 1826. – Dante. Studien. Heidelb./Lpz. 1855. Literatur: Georg Weber: F. C. S. der Historiker. Lpz. 1876 (mit kleineren Schr.en, Rez.en u. Briefen). – Karl-Heinz Haar: Die Bibl. [...] F. C. S. [...]. In: Bibl. u. Wiss. 8 (1972), S. 1–92. – Eike Wolgast: Polit. Geschichtsschreibung in Heidelberg. S., Gervinus, Häusser, Treitschke. In: Semper Aperta. 600 Jahre Univ. Heidelberg 1386–1986. Bd. 2. Hg. Wilhelm Doerr. Bln. 1985, S. 158–196. – Michael Gottlob: Geschichtsschreibung zwischen Aufklärung u. Historismus. Johannes v. Müller u. F. C. S. Ffm. 1989. – Ellen-Charlotte Sellier-Bauer: F. C. S. Ein dt. Gelehrtenleben im neunzehnten Jh. Gött. 2004. – Michael Gottlob: F. C. S. In: NDB. Günther Lottes / Red.
Schlosser, Johann Georg, * 7.12.1739 Frankfurt/M., † 17.10.1799 Frankfurt/M. – Jurist, Popularphilosoph, Übersetzer, Herausgeber, politischer, philosophischer u. religiöser Schriftsteller. S. wuchs als fünftes Kind einer politisch einflussreichen Familie des Frankfurter Bürgertums auf. Seine Mutter Susanna Maria (1703–1789) stammte aus der Kaufmannsfamilie Orth, die vom Augsburger Patrizier- u. Kaufmannsgeschlecht der Welser abstammte.
S.s Vater Carl Erasmus (1696–1773) war Jurist bzw. Ratsmitglied der Stadt Frankfurt u. stand dieser zweimal (1736, 1743) als jüngerer u. zweimal (1757, 1764) als älterer Bürgermeister vor. Nach dem Besuch des humanistischen Gymnasiums seiner Heimatstadt studierte S. in Jena (1758–1760) u. in Altdorf (1760–1762) Rechtswissenschaft, wo er 1762 mit einer Dissertation über das Frankfurter Vormundschaftsrecht (De officio tutorum et curatorum circa lites pupillorum et minorum) zum Doktor beider Rechte promoviert wurde. Im selben Jahr nach Frankfurt zurückgekehrt, legte er seinen Amtseid ab u. arbeitete bis 1766 gemeinsam mit seinem Bruder Hieronymus Peter (1735–1797) in einer Anwaltskanzlei. 1766 trat S., dessen persönl. Interessen u. a. für die schönen Künste, die klass. u. zeitgenöss. Literatur, die alten u. neuen Sprachen sich nicht mit der trockenen Advokatentätigkeit vereinbaren ließen, als Geheimsekretär u. Erzieher in die Dienste Herzog Friedrich Eugens von Württemberg im hinterpommerschen Treptow an der Rega. Dort konnte er sich als Ausgleich zu seiner Verwaltungstätigkeit seinen individuellen Interessen zuwenden. Es entstanden erste literar. Schriften, u. a. eine engl. Übersetzung der Idyllen Gessners sowie eine engl. Fassung seines Anti-Pope oder Versuch über den natürlichen Menschen (Lpz./Bern 1776; in dt., um einen fünften Brief ergänzter Fassung veröffentlicht), eine krit. Auseinandersetzung mit Alexander Popes Essay on man u. der darin vertretenen optimistischen Theodizee-Formel »Whatever is, is right«. Außerdem verfasste er das Drama Die Horazier u. legte Übersetzungen der Schriften Platons sowie von Teilen der Ilias ins Deutsche vor. Obwohl S. 1769 nach seiner Rückkehr nach Frankfurt die ihm widerstrebende Anwaltstätigkeit wieder aufgenommen hatte, blieb er literarisch produktiv. Seine 1771 veröffentlichte volksaufklärerische Reformschrift Katechismus der Sittenlehre für das Landvolk (Ffm. 1771. Neudr. Stgt.-Bad Cannstatt 1998), die mehrere Auflagen erfuhr u. anderen volkspädagog. Schriftstellern (u. a. Campe) als Vorlage diente, machte S. überregional bekannt. Darüber hinaus förderte die Mitarbeit an den »Frankfurter Gelehrten Anzeigen«,
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die er gemeinsam mit Goethe, Herder u. Merck herausgab, sein Renommee. Gemeinsam mit Goethe verteidigte S. dieses Rezensionsorgan, dessen Jahrgang 1772 wegen seiner überwiegend literarisch-künstlerischen Ausrichtung bes. für die Programmatik des Sturm und Drang relevant ist, gegen juristische Klagen, so z.B. auch im Fall der fälschlich dem Hamburger Hauptpastor Goeze zugeschriebenen, tatsächlich jedoch vom Rat der Stadt Frankfurt veranlassten Rechtsklage gegen die vernichtende Kritik S.s. von Goezes Betrachtungen über das Leben Jesu auf Erden. Nicht allein S.s religionskrit. Rezensionen gegen die Dogmatik der lutherisch-orthodoxen Geistlichkeit sorgten für kontroverse Diskussionen unter seinen Zeitgenossen, sondern auch sein Katechismus der Sittenlehre für das Landvolk, der eine ebenso breite wie konfliktgeladene Rezeptionsgeschichte besitzt (vgl. dazu Siegert, 1998). Während die einen die Aktualität u. die Thematisierung der vernachlässigten Landbevölkerung (u. a. Campe, Wieland, von Rochow) begrüßten, zweifelten andere an S.s christl. Überzeugung (u. a. Hamann, Schlettwein), da mit den »verwirrten Ideen des Schlosserischen Catechismus [...] Christus, und mit ihm aller Seegen von dem Erdboden verbannt [würde]« (Schlettwein an Iselin, Emmendingen 25.7.1776). Der Konflikt mit der lutherisch-orthodoxen Geistlichkeit kulminierte 1772 in der Auflage, theolog. Rezensionen in den »Frankfurter Gelehrten Anzeigen« nur nach vorheriger Genehmigung durch das Predigerministerium zu veröffentlichen, sowie 1776 in der Konfiskation seines religionsdidaktisch ausgerichteten Katechismus der christlichen Religion für das Landvolk (Lpz. 1776). In Letzterem trat S. für einen gefühlsbetonten u. dogmenfreien christl. Glauben ein, der sich auf die reine Lehre Christi beruft u. nahezu ohne Bibel auskommt. Nachdem S. 1773 zum Hof- u. Kirchenrat des Markgrafen Karl Friedrich von Baden ernannt worden war, der neben Friedrich II. von Preußen u. Joseph II. von Österreich als Prototyp des aufgeklärt-absolutistischen Monarchen galt, heiratete er am 1.11.1773 Goethes Schwester Cornelia, siedelte mit ihr zunächst nach Karlsruhe u. 1774
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nach seiner Ernennung zum Landschreiber u. Oberamtsverweser der Markgrafschaft Hochberg nach Emmendingen um. Aus S.s erster Ehe, deretwegen seine histor. Bedeutung insbes. von der literarhistor. Forschung oft auf die Rolle als Goethes Schwager reduziert wurde, gingen die Töchter Maria Anna Louise (1774–1811), die 1795 den preuß. Ministerialdirektor Georg Heinrich Ludwig Nicolovius heiratete, u. die früh verstorbene Elisabeth Katharina Julia (1777–1793) hervor. Nach dem Tod seiner ersten Frau Cornelia 1777 heiratete S. am 24.9.1778 Johanna Katharina Sybilla Fahlmer (1744–1821), die Jugendfreundin Goethes u. Tante Johann Georg u. Friedrich Heinrich Jacobis. Sie schenkte S. zwei weitere Kinder, Cornelia Henriette Franziska (1781–1850), die 1809 den Kaufmann David Hasenclever (1778–1857) heiratete, u. Georg Eduard (1784–1807), der später als preuß. Militärarzt fungierte. Aus der durch Henriettes Ehe mit David Hasenclever begründeten Linie stammen u. a. die Schriftstellerin Julia Jobst, geb. Hasenclever (1853–1935) sowie der expressionistische Schriftsteller Walter Hasenclever (1890 bis 1940). In seinem Verwaltungsbezirk mit Amtssitz in Emmendingen trug S. durch wohlfahrtspolit. Reformen auf ökonomischem, sozialem u. agrarpolit. Sektor zur Verbesserung der Situation der verarmten Landbevölkerung bei. Er regelte u. a. den Zehnten u. das Marktwesen neu, ließ Sümpfe u. Ödland kultivieren u. eine Fabrikschule für Baumwollspinnerei einrichten. Da dem Volksaufklärer S. die Jugendfürsorge bes. am Herzen lag, gründete er 1776 die Hochberger Amalienstiftung, kümmerte sich um Schulen u. Krankenhäuser u. richtete 1778 das Hochberger Waisenhaus ein. Neben seinen amtl. Verpflichtungen nahm er mit zahlreichen religiösen, pädagogischen, ökonomischen, juristischen, moralisch-philosophischen sowie aufklärerischen Schriften u. Aufsätzen an den Diskursen der dt. Spätaufklärung teil. In reger Korrespondenz u. a. mit Forster, Goethe, Isaak Iselin, den Brüdern Jacobi, Lavater, Lenz, Merck, Pfeffel, Salzmann sowie Friedrich Leopold Graf zu Stolberg diskutierte S. die moralisch-philosophischen Grundfragen
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der Aufklärung. 1777 erschien sein Traktat Vorschlag und Versuch einer Verbesserung des deutschen bürgerlichen Rechts ohne Abschaffung des römischen Gesetzbuchs (Lpz. 1777. Neudr. Glashütten/Ts. 1973), der einige Rechtsgelehrte auf den Emmendinger Oberamtmann aufmerksam werden ließ. 1780 versuchte der preuß. Staatsminister Svarez S. für eine Reform des Allgemeinen preuß. Landrechts zu gewinnen. Den 1784 u. 1788 veröffentlichten Reformentwurf des preuß. Landrechts kritisierte S., nachdem eine Mitwirkung seinerseits aufgrund seiner überhöhten Forderungen nicht zustande gekommen war, in seiner Schrift Briefe über die Gesetzgebung überhaupt und den Entwurf des preußischen Gesetzbuchs insbesondere (Ffm. 1789. Nachdr. Glashütten/Ts. 1970) scharf. 1783/84 war S. in Wien am Hof des österr. Kaisers Joseph II. an einer Gesetzesreform beteiligt. In seiner Goethe gewidmeten ökonomischen Schrift Xenokrates oder über die Abgaben (1784. Neudr. Marburg 2000) kritisierte er nicht nur die physiokratische Lehre Schlettweins, der die alleinige Produktivität des Bodens betont, sondern auch die Smith’sche Arbeitsteilungslehre, d.h. die Trennung zwischen produktiver u. unproduktiver Arbeit. Ein wiederkehrendes Motiv in S.s über hundert Einzeltitel umfassendem Werk ist die Frage nach der Eudämonie, d.h., wie menschl. Glück bzw. Glückseligkeit zu erreichen sei. Sie führt 1784 zu S.s Eintritt in die Freiburger Freimaurer Loge »Zur edlen Aussicht«, zu deren Gründungsmitgliedern er nicht nur zählte, sondern der er bis zu seinem Austritt 1785 auch als erster Meister vom Stuhl vorstand. Nach zunehmenden Konflikten mit den Behörden der Markgrafschaft Hochberg wurde S. 1787 als Mitgl. des Geheimen Rats nach Karlsruhe versetzt. 1790 trat er als Wirklicher Geheimer Rat in die Baden-Durlachsche Regierung ein u. wurde im selben Jahr zum Direktor des neu eingerichteten unabhängigen Hofgerichts ernannt. 1794 reichte S. aufgrund einer Unstimmigkeit mit dem Markgrafen Karl Friedrich erneut ein Rücktrittsgesuch ein. Dieser hatte seine Position als absolutistischer Herrscher benutzt, um den Sohn seines physiokratischen Lehrers Vicomte Mirabeau-Tonneau
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von einem Urteil des Hofgerichts freizusprechen, u. damit die Autorität des Hofgerichts als unabhängige Rechtsprechungsinstanz untergraben (vgl. van der Zande, 1989, S. 34). 1794–1796 lebte S. zunächst in Ansbach, ehe er 1796 zu seiner Tochter Maria Anna Louise nach Eutin übersiedelte, wo er bis 1798 im Kreis seiner Freunde Voß, des Grafen zu Stolberg, Nicolovius u. zeitweise Jacobi weilte u. sich der Schriftstellerei u. seiner Übersetzertätigkeit (u. a. Aristoteles, Platon, Xenophon, Longin, Aristophanes) widmete. Als erster übersetzte er die Politik u. Ökonomik des Aristoteles (Aristoteles Politik und Fragment der Oeconomik. 3 Bde., Lübeck/Lpz. 1798) sowie die Briefe Platons (Plato’s Briefe nebst einer historischen Einleitung und Anmerkungen. Gießen 1793. Jena 1794) ins Deutsche. Dabei löste eine Anmerkung S.s in seiner Schrift Plato’s Briefe eine von den Zeitgenossen mit Spannung verfolgte öffentlich ausgetragene Debatte zwischen S. u. Kant über die dominierenden geistesgeschichtl. Pole der dt. Spätaufklärung (Empirismus u. Kritizismus) aus. S. lehnte eine krit. Philosophie ab, die nur aus a priori gesetzten Grundsätzen u. Begriffen besteht u. für sich in Anspruch nimmt, als einzige die Wahrheit zu verkünden, u. innerhalb derer für empirisch-sensualistische Erfahrungen, welche die Vernunft ebenfalls in ihren Handlungsmaximen beeinflusst, kein Platz sei. In Folge dieses literar. Schlagabtauschs, für den er v. a. von Anhängern Kants wie Schlegel u. Schiller scharf kritisiert wurde, verfasste S. seine beiden Schreiben an einen jungen Mann, der die kritische Philosophie studiren wollte (Lübeck/Lpz. 1797/98). Nach dem Tod seines Bruders Hieronymus Peter 1797 wurde S. 1798 als Syndikus in seine Heimatstadt Frankfurt berufen, wo er ein Jahr später an einer Lungenentzündung starb u. auf dem St.-PetriKirchhof beerdigt wurde. Sein Grab hat sich nicht erhalten. Weitere Werke: J. G. S.’s Kleine Schr.en. 6 Bde., Basel 1779–93. Nachdr. New York/London 1972. – Hero u. Leander. Ffm. 1771. – Prinz Tandi an den Verf. des neuen Menoza. Naumburg 1775. Nachdr. Heidelb. 1993. – Polit. Fragmente. Lpz. 1777. – Longin vom Erhabenen. Lpz. 1781. – Über die Seelen-Wanderung. Erstes Gespräch. Basel 1781.
Schlosser Zweites Gespräch. Basel 1782. – Die Frösche. Basel 1783. – Rede auf Isaac Iselin. Basel 1783. – Prometheus in Fesseln. Basel 1784. – Ueber die Duldung der Deisten. Basel 1784. – Fragmente über die Aufklärung. In: Magazin für Wiss.en u. Lit. Bd. 1, Tl. 1, Wien 1784. – Ueber Shaftesbury v. der Tugend. Basel 1785. – Die Wudbianer. Basel 1785. – Euthyphron II. Basel 1787. – Ueber Pedanterie u. Pedanten, als eine Wahrnung für die Gelehrten des XVIII. Jh. Basel 1787. Neudr. Hann. 1996. – Seuthes oder der Monarch. Straßb. 1788. – Ueber die Apologie des Predigtamtes des Deismus. Ffm. 1789. – Das Gastmahl. Königsb. 1794. – Fortsetzung des Platonischen Gesprächs über die Liebe. Hann. 1796. – Homer u. die Homeriden. Hbg. 1798. Literatur: Immanuel Kant: Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie. In: Berlinische Monatsschrift 1 (1796), S. 387–425. – Ders.: Verkündigung des nahen Abschlusses eines Traktats zum ewigen Frieden in der Philosophie. In: ebd. 2 (1796), S. 485–504. – Friedrich Schlegel: Der dt. Orpheus. Ein Beitr. zur neuesten Kirchengesch. In: Dtschld. 4, St. 10 (1796), Nr. V, S. 49–66. – Ders.: Rez. von J. G. S.s Schreiben an einen jungen Mann, der die krit. Philosophie studieren wollte. In: Philosophisches Journal einer Gesellsch. Teutscher Gelehrten 5 (1797), S. 184–192. – Alfred Nicolovius: J. G. S.s Leben u. literar. Wirken. Bonn 1844. Nachdr. Bern/ Ffm. 1973. – Karl Rudolf Hagenbach: Jakob Sarasin u. seine Freunde. Ein Beitr. zur Literaturgesch. Basel 1850. – Hugo Ficke: Gesch. der Freimaurerloge Zur edlen Aussicht in Freiburg in Baden. Freib. i. Br. 1874. – Friedrich v. Sivers: J. G. S. u. Schlettwein. Ein Beitr. zur Gesch. der Physiokratie in Dtschld. In: Jbb. für Nationalökonomie u. Statistik 24 (1875), S. 1–15. – Hugo Göring (Hg.): Isaak Iselins pädagog. Schr.en nebst seinem pädagog. Briefw. mit Johann Caspar Lavater u. J. G. S. Langensalza 1882. Nachdr. Königst./Ts. 1979. – Hermann Dechent: Die Streitigkeiten der Frankfurter Geistlichkeit mit den ›Frankfurter Gelehrten Anzeigen‹ im Jahre 1772. In: GoetheJb 10 (1889), S. 169–195. – Eberhard Gothein: J. G. S. als badischer Beamter. Heidelb. 1899. – Rudolf Otto: Ein Beispiel zu Schleiermachers Reden über die Religion bei J. G. S. In: Theolog. Studien u. Kritiken 76 (1903), S. 470–481. – E. Gothein: Beiträge zur Verwaltungsgesch. der Markgrafschaft Baden unter Karl Friedrich. In: Ztschr. für die Gesch. des Oberrheins, N. F. 26 (1911), S. 377–414. – Rudolf Blume: J. G. S.: Goethes Schwager in Treptow an der Rega. Pyritz in Pommern 1930. – Erich Löwenthal: J. G. S. Seine religiösen Überzeugungen u. der Sturm u. Drang. Dortm. 1935. – Ernst Beutler:
426 J. G. S. In: Ders.: Essays um Goethe. Lpz. 1941, S. 115–124 (s. a. weitere Aufl.n). – Ingegrete Kreienbrink: J. G. S. u. die geistigen Strömungen des 18. Jh. Greifsw. 1948. – Detlev W. Schumann: Eine polit. Zirkularkorrespondenz J. G. S.s u. seiner oberrhein. Freunde. In: GoetheJb N. F. 22 (1960), S. 240–268. – Hermann Bräuning-Oktavio: Neues zur Biogr. J. G. S.s. In: JbFDH (1963), S. 19–99. – Manfred Riedel: Aristoteles-Tradition am Ausgang des 18. Jh. Zur ersten dt. Übers. der ›Politik‹ durch J. G. S. In: Alteuropa u. die moderne Gesellschaft. FS Otto Brunner. Hg. Alexander Bergengruen. Gött. 1963, S. 278–315. U.d.T. ›Aristoteles-Tradition u. Frz. Revolution‹ auch in: M. Riedel: Metaphysik u. Metapolitik. Studien zu Aristoteles u. zur polit. Sprache der neuzeitl. Philosophie. Ffm. 1975, S. 129–168. – Otto Weiner: Goethes Schwager u. sein Schaffhauser Freund. Die Korrespondenz J. G. Müllers mit den beiden S. Beiträge zur Schaffhauser Gelehrtengesch. III. In: Bodenseebuch 39/40 (1964–1965), S. 197–200. – H. Bräuning-Oktavio: Hg. u. Mitarbeiter der Frankfurter Gelehrten Anzeigen 1772. Tüb. 1966. – I. Kreienbrink: J. G. S.s Streit mit Kant. In: FS Detlev W. Schumann. Hg. Albert Richard Schmitt. Mchn. 1970, S. 246–255. – Johan van der Zande: Bürger u. Beamter. J. G. S. Wiesb./Stgt. 1986. – Heinz Ischreyt: Die beiden Nicolai. Briefwechsel zwischen Ludwig Heinrich Nicolay in St. Petersburg u. Friedrich Nicolai in Berlin (1776–1811). Lüneb. 1989. – J. G. S. (1739–1799). Eine Ausstellung der Badischen Landesbibl. u. des Generallandesarchivs Karlsruhe. Ausstellungskatalog. Karlsr. 1989. – Brigitte Rehle: Aufklärung u. Moral in der Kinder- u. Jugendlit. des 18. Jh. Philosophische u. poetolog. Grundlagen, untersucht an ausgewählten Beispielen [u. a. an S.s ›Katechismus der Sittenlehre für das Landvolk‹]. Ffm. u. a. 1989. – Walter Ernst Schäfer: Cornelias Mann. Bericht über einen badischen Beamten. In: Allmende 28/29 (1990), S. 131–140. – Petra Maisak: J. G. S., Goethes Schwester Cornelia u. ihre Freunde in Emmendingen. Marbach a. Neckar 1992. – Christian Baldus (mit Horst Mühleisen): Der Briefw. zwischen Carl Gottlieb Svarez u. J. G. S. über die Redaktion zum Entwurf eines Allg. Gesetzbuchs für die Preuß. Staaten. In: Staatsschutz. Hg. Dietmar Willoweit. Hbg. 1994, S. 103–129. – Matthias Luserke (Hg.): Jakob Michael Reinhold Lenz im Spiegel der Forschung. Hildesh. 1995, S. 269–300. – Carsten Zelle: Zwischen Rhetorik u. Spätaufklärung. Zum histor. Ort der Sturm-undDrang-Ästhetik mit Blick auf J. G. S.s ›Versuch über das Erhabene‹ v. 1781. Mit einem unveröffentlichten Brief S.s im Anhang. In: Lenz-Jb. 6 (1996), S. 160–181. – Annegret Völpel: Der Literarisierungsprozeß der Volksaufklärung des späten 18. u.
427 frühen 19. Jh. Dargestellt anhand der Volksschriften v. S., Rochow, Becker, Salzmann u. Hebel. Mit einer aktualisierten Bibliogr. der Volksaufklärungsschriften. Ffm. 1996. – M. Luserke: Mutmaßung IV oder S.s ›Anti-Pope‹. In: Ders.: Lenz-Studien. Literaturgesch. – Werke – Themen. St. Ingbert 2001, S. 261–271. – Barbara Beßlich: Trauer um Joseph II.? Aufklärungskonzepte bei Jacobi, S. u. Rotteck. In: Zwischen Josephinismus u. Frühliberalismus. Literarisches Leben in Südbaden um 1800. Hg. Achim Aurnhammer u. Wilhelm Kühlmann. Freib. i. Br. 2002, S. 593–613. – Carsten Behle: ›Ich will Euch jetzt nicht betrüben mit meinen Nachrichten aus der Welt.‹ J. G. S. u. die Helvet. Gesellschaft. In: ebd., S. 395–413. – Friedrich Vollhardt: Selbstreflexive Aufklärung. J. G. S. in den literar. Kontroversen des späten 18. Jh. In: ebd., S. 367–394. – Detlev Fischer: Karlsruher Juristenportraits aus der Vorzeit der Residenz des Rechts. Karlsr. 2004, S. 7–12. – Hans-Werner Holub: J. G. S. (1739–1799). In: Physiokraten u. Klassiker. Wien 2006, S. 85–92. – Hans-Christof Kraus: J. G. S. In: NDB. – W. Kühlmann (mit Volker Hartmann): Kreuzwege der Spätaufklärung am Oberrhein – J. G. S. im Briefgespräch mit Elisabeth Gräfin v. Solms-Laubach. In: Aufklärung. Stationen – Konflikte – Prozesse. Hg. Ulrich Kronauer u. W. Kühlmann. Eutin 2007, S. 191–231. Franca Victoria Schankweiler
Schlott, Nathanael, * 13.2.1666 Danzig, † 23.3.1703 Lübeck. – Lehrer, Lyriker. S. besuchte das Gymnasium in Danzig, studierte ab 1689 in Leipzig, ab Mai 1691 in Jena u. wurde 1699 Präzeptor am Waisenhaus zu St. Annen in Lübeck, wo er Religionsunterricht erteilte, Betstunden abhielt u. die Vormittagsgottesdienste an Sonn- u. Feiertagen versah. In S.s Gelegenheitsgedichten findet sich, maßvoll u. elegant eingesetzt, die gelehrte Rhetorik der Zeit. Die Thematik ist keineswegs innovatorisch, der Ton auffallend persönlich gehalten, suggestiv, den Leser immer wieder einbeziehend. Noch heute lesenswert ist S.s aus vierzeiligen Alexandriner-Strophen bestehender Lübeckischer Todten-Tantz, wie selbiger, an den Wänden der Kinder-Capelle in der Marien-Kirche, durch den Pinsel des Kunst-mahlers, A. 1701, ist repariret, und von ihm mit neuen hochdeutschen Reimen außgezieret (Lübeck 1702).
Schlüsselfelder Weitere Werke: Probabilismus moralis, circa alapam caede vindicandam, succinctus examinatus. Präses: Johann Christoph Rosteuscher; Autor: N. S. Danzig 1689. – Eine Hand-voll poetischer Blätter, [...] denen Liebhabern der reinen u. ungezwungenen Dicht-Kunst zu geziemender Gemüths-Belustigung überreichet. Lübeck 1702. 21706. Ausgaben: Neukirch, Tl. 3, S. 181–185, 241–246, 336–340. – Der Todtentanz in der sogenannten Todtenkapelle der St. Marienkirche zu Lübeck. Lübeck ca. 1840. Internet-Ed.: UB Kiel. – Ausw. in: Wir vergehn wie Rauch v. starken Winden. Dt. Gedichte des 17. Jh. Hg. Eberhard Haufe. 2 Bde., Bln. 1985, Register. – Der Totentanz der Marienkirche in Lübeck u. der Nikolaikirche in Reval (Tallinn). Ed., Komm., Interpr., Rezeption. Hg. Hartmut Freytag. Köln u. a. 1993. Literatur: Nova literaria maris Balthici et septentrionis. Lübeck 1703, S. 96. – C. F. Weichmanns Poesie der Nieder-Sachsen (1721–38). Nachweise u. Register. Hg. Christoph Perels, Jürgen Rathje u. Jürgen Stenzel. Wolfenb. 1983, S. 158 f. – H. Freytag: N. S. In: BLSHL, Bd. 9, S. 340–342 (Lit.). – H. Freytag: N. S. In: Altpr. Biogr., Bd. 5, S. 1686 f. Jürgen Rathje / Red.
Schlüsselfelder, Heinrich ! Arigo. – Frühhumanistischer Übersetzer. Der dt. Übersetzer von Boccaccios Decameron (Hg. Adelbert von Keller. Stgt. 1860), der sich im 15. Jh. hinter dem Pseudonym »Arigo«, der ital. Form für ›Heinrich‹, verbirgt, wurde lange mit dem Nürnberger H. S. identifiziert, der sich 1468 am Schluss einer Handschrift (St. Gallen, Vad. Ms. 484) der Blumen der Tugend nennt. Diese Zuweisung, die Gustav Baeseke (Arigo, ZfdA 47 [1904], 191) ins Spiel brachte, ist mittlerweile überholt. Weder sprachlich noch stilistisch ist ein Zusammenhang zwischen der Prosabearbeitung der Fiore di Virtù u. dem dt. Decameron zu erkennen. Ebenso wenig haben sich aus der Biografie S.s, der einem aus Bamberg nach Nürnberg übergesiedelten ratsfähigen Geschlecht angehörte, Hinweise zum DecameronÜbersetzer »Arigo« ergeben. Da es sich bei dem Eintrag in der St. Galler Handschrift eher um einen Schreibervermerk handelt, bleibt S. zudem als Verfasser der Blumen der Tugend fragwürdig. Schon ältere Identifizierungen wie etwa Karl Dreschers Versuch, den Decameron-Über-
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Aufgrund der hohen Druckkosten erzielte setzer mit Heinrich Leubing, dem Pfarrer von St. Sebald in Nürnberg, gleichzusetzen, oder die umfangreiche Übersetzung, die im Ulmer die Annahme des Herausgebers A. von Keller, Erstdruck 1476 noch an die 400 Folioblätter der Ulmer Frühhumanist Heinrich Steinhö- füllte, bis 1500 nur zwei Auflagen; mit dem wel sei der Verfasser des Decameron gewesen, Fall der Bücherpreise im 16. Jh. wurde die erwiesen sich als falsch. Welchen Anteil Novellensammlung jedoch zum Bestseller u. Steinhöwel an der Ulmer Drucklegung 1476 bis 1646 mindestens achtzehnmal verlegt. bei Johann Zainer hatte, bleibt unklar. Je- Vor allem protestantische Dichter haben die denfalls reiht sich die Übersetzung »nahtlos Novellen ausgiebig als Vorlage genutzt. So in das von ihm initiierte humanistische Ver- hat allein Hans Sachs für seine Meisterlieder, lagsprogramm Zainers ein» (Amelung, 1979, Fastnachtsspiele u. Dramen mehr als hundertmal auf die dt. Übersetzung des DecameS. 18). Was wir über den Decameron-Übersetzer ron zurückgegriffen. Arigo gebührt damit – »Arigo« wissen, basiert auf dialektgeografi- neben den frühhumanistischen Übersetzern schen, stilkrit. u. literatursoziolog. Analysen Albrecht von Eyb, Heinrich Steinhöwel u. (Bertelsmeier-Kierst, 1988). Arigos Sprache Niklas von Wyle – ein wichtiger Platz in der verweist auf den bair.-österr. Raum südlich dt. Lit. des 15. u.16. Jh. Literatur: Karl Drescher: Arigo. Straßb. 1900. – der Donau, am ehesten nach Tirol. Hierauf Peter Amelung.: Der Frühdruck im dt. Südwesten deuten v. a. der Wortschatz, aber auch gele1473–1500. Stgt. 1979. – Jan-Dirk Müller: Boccacgentl. Abweichungen von Boccaccios Text – cio u. Arigos ›schöne Gesellschaft‹. In: Fifteenth so z.B. Arigos Anspielung auf »Poczen an der Century Studies 7 (1983), S. 281–297. – Christa Etsche« (Keller 484,13). Sein Stil, der Hang Bertelsmeier-Kierst: ›Griseldis‹ in Dtschld. Heizur syntakt. Mehrgliedrigkeit, insbes. die delb. 1988. – J.-D. Müller: H. S. In: VL. – Joachim Neigung zu Doppelformeln, scheint von der Theisen: Arigos ›Decameron‹. Tüb. u.a. 1996 [Rez.: Kanzlei beeinflusst; seine Rhetorik lässt eine Bertelsmeier-Kierst, in: ZfdA 1997, S. 476–488]. – geistl. Ausbildung vermuten. Sein Publikum C. Bertelsmeier-Kierst: Wer rezipiert Boccaccio? In: dürfte in der »erberen« Gesellschaft zu su- ZfdA 127 (1998), S. 410–426. – J.-D. Müller: Arigo. In: VL (Nachträge u. Korrekturen). – Ursula Kochen sein, den »edelen frowen und mannen«, cher: Boccaccio u. die dt. Novellistik. Amsterd. u.a. die Arigo in der »lieta brigata« der Rahmen- 2005. – Lorenz Böninger: Die dt. Einwanderung erzählung Boccaccios vorgebildet sah u. in nach Florenz im SpätMA. Leiden 2006. – Marburderen Kreis er sich – unter Nennung seines ger Repertorium zur Übersetzungslit. im dt. Pseudonyms – selbstbewusst als neuer »no- Frühhumanismus (digital): http://mrfh.de/0004. vellatore« gesellt, um seine eigene Vorrede zu Christa Bertelsmeier-Kierst beschließen. Dies setzt literar. Kennerschaft beim Autor wie seinem Publikum voraus. Neuerdings hat Lorenz Böninger Henricus Schlüter, Andreas, * 23.5.1958 Hamburg. Martellus, den er mit dem in Florenz leben- – Verfasser von Kinder- u. Jugendliteratur den Deutschen Arrigho di Federigho della u. Drehbüchern. Magna im Umfeld des berühmten Astronom S., der nach dem Abitur eine kaufmänn. Nicolaus Germanus identifiziert, als Autor Lehre absolvierte u. anschließend u. a. als des dt. Decameron ins Spiel gebracht. Die Redakteur bei einem privaten Fernsehsender biogr. Daten u. Lebensumstände widerspre- tätig war, hatte mit seiner ersten Buchveröfchen jedoch dem bisherigen Autorprofil. fentlichung durchschlagenden Erfolg: Level 4 Weder ist für den in den Diensten des Nico- – Die Stadt der Kinder (Bln./Mchn. 1994) machte laus Germanus nachgewiesenen Hausange- das Genre der Discworld- oder Cyberspacestellten eine literar. Tätigkeit bekannt noch Novel in der deutschsprachigen Literatur für lässt sich der von Böninger angeführte Ar- Kinder populär u. verschaffte dem Autor chiveintrag von 1480 zeitlich mit der Ent- Anerkennung u. Bekanntheit. Der Junge Ben stehung u. Drucklegung des Werks in Ein- findet sich unversehens in die Welt seines klang bringen. Computerspiels versetzt, in der er sich zu-
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sammen mit seinen Freunden den Heraus- Irene Margil). Hbg. 2008 (R.). – Die fünf Asse. forderungen einer Gesellschaft ohne Er- Startschuss. Sport-Krimi. Mit einem Daumenkino wachsene stellen muss. Mit Mut, Einfalls- v. Karoline Kehr (zus. mit I. Margil). Mchn. 2008 reichtum, Verantwortungsbereitschaft u. Ge- (R.). – Pangea. Der achte Tag (zus. mit Mario Giordano). Mchn. 2008 (R.). meinschaftssinn gelingt es den Kindern, die Literatur: Peter Conrady (Hg.): A. S. für den auftretenden Probleme zu bewältigen u. in Unterricht. Würzb. 2005. – Sabine Keiner: Gedie Alltagsrealität zurückzukehren. Der Ro- heimgang ins Medici-Florenz. ›Achtung, Zeitfalle!‹ man wurde zum Auftakt einer mehrteiligen – Eine ›Discworld-Novel‹ als Cyberspace-Krimi. In: Reihe, deren Bände zunehmend Elemente des Praxis Deutsch, H. 150 (1998), S. 45–47. Krimis, der Science-Fiction u. der fantastiPeter Langemeyer schen Literatur integrierten. Zu den von S. bevorzugten Genres gehört Schlüter, Christoph Bernhard, * 27.3.1801 der Krimi, der, je nach Leserzielgruppe, in Warendorf/Westfalen, † 4.2.1884 Münseinem fantastischen Milieu unter sprechen- ter. – Philosophieprofessor, geistlicher den Tieren (Heiße Spur aus Afrika. Bln./Mchn. Berater, Übersetzer und Publizist. 1995) oder in der Alltagsrealität der Großstadt Berlin (Die Rollschuhräuber. Kurierdienst Der Sohn eines Advokaten u. Stadtrichters Rattenzahn. Bln./Mchn. 1996) spielt. In dem besuchte das Gymnasium in Münster u. stuRoman Verliebt, na und wie! (Bln./Mchn. 1999) dierte dort trotz fortschreitender, schließlich greift S. das Thema der Adoleszenz auf, des- völliger Erblindung (1828 infolge eines Jusen geschlechtsspezif. Dimensionen er auch gendunfalls) Philologie u. Philosophie. Seit in der Erzählform reflektiert. Derselbe Stoff – 1826 wirkte er als Dozent, seit 1848 als Prodie Entstehung u. Entwicklung einer Liebes- fessor für Philosophie an der Akademie beziehung – wird in zwei verschiedenen Va- (zeitweise Universität) Münster. Sein philorianten erzählt: aus der Perspektive eines sophiegeschichtliches, auch um eine christl. Naturphilosophie bemühtes Werk (Aufsätze Jungen u. aus der eines Mädchens. in der von ihm gegründeten Zeitschrift »NaIn S.s Texten drückt sich das Vertrauen aus, tur und Offenbarung«) galt Aristoteles, Audass zwischenmenschl. Konflikte unter Kingustinus, Scotus Eriugena u. Spinoza, danedern u. Jugendlichen durch diskursive Verben dem spätromantischen, von J. Böhme ständigung u. solidar. Handeln selbstständig beeinflussten Theosophen Franz von Baader, u. ohne fremde Hilfe gelöst werden können. an dessen Werkausgabe (Bd. 14. Lpz. 1851. Obwohl S. die Perspektive seiner ProtagonisNachdr. Aalen 1988) er beteiligt war. ten einnimmt, verzichtet er nicht auf Kritik Für die Literaturgeschichte von bes. Bean gesellschaftl. Fehlentwicklungen, wie den deutung wurde S.s Wirken als geistl. Berater zyn. Vermarktungsstrategien privater TVeines Schülerkreises, zu dem sich seit 1834 Medien in Die Fernsehgeisel (Bln./Mchn. 1997), auch Annette von Droste-Hülshoff gesellte. S. dem Rechtsradikalismus in Die Mega-Stars. beriet sie bei ihren Epen u. GedichtsammKurierdienst Rattenzahn (Bln. 1998) oder der lungen, bes. bei der Vollendung des PerioRaserei auf dt. Straßen in Crash! Kurierdienst chenzyklus Das Geistliche Jahr, das er 1851 Rattenzahn (Bln. 1999). herausgab (Briefwechsel in: A. v. DrosteWeitere Werke: Achtung, Zeitfalle! Bln./Mchn. Hülshoff: Historisch-kritische Ausgabe. Hg. 1996 (R.). – Geisterhand. Bln./Mchn. 1998 (R.). – Winfried Woesler. Bd. 8 ff. Tüb. 1987 ff. VerDer Schnappschuss. Bln./Mchn. 2000 (R.). – Verzeichnis ebd. Bd. 14. Droste-Bibliographie. liebt, immer wieder! Bln./Mchn. 2000 (R.). – Mörfi. Bearb. Aloys Haverbusch. Ebd. 1983, Falsch, falscher, fabelhaft! Mit Bildern v. Karoline S. 386–388 u. ö.). Zudem vermittelte er ihr Kehr. Bln./Mchn. 2002 (R.). – Machtspiel. Bln./ Mchn. 2003 (R.). – Wie Hund u. Katz. Moderne viele Lektüreanregungen, die sich in manFabeln. Mit Bildern v. Reinhard Michl. Hildesh. cherlei Gedichten niedergeschlagen haben. 2005. – Heiße Spur in die Manege. Mit Zeichn. v. S.s Kampf gegen den »Materialismus« u. Karoline Kehr. Mchn. 2006 (R.). – Fussball u. sonst seine durchaus katholisch-konservative Halgar nichts! Mit Bildern v. Markus Grolik (zus. mit tung, die er auch in Erinnerungen an den sog.
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Kreis von Münster kultivierte (Ausgabe der sowie der Forschungslit. in: Westfäl. Autorenlex. 2 Briefwechsel u. Tagebücher der Fürstin (1994), S. 354–363. – J. Nettesheim: C. B. S. Eine Amalie von Gallitzin. 3 Bde., Münster Gestalt des dt. Biedermeier. Bln. 1960. – Bernd 1874–76), äußerten sich nicht zuletzt in den Kortländer u. Axel Marquardt: Poetische Kontaktstellen. Die Anregungen C. B. S.s zu Gedichten der epochengeschichtlich signifikanten BriefDroste. In: Droste-Forsch.en 4 (1976/77), S. 22–52. wechseln mit Wilhelm Junkmann u. Luise – Winfried Woesler: Modellfall der RezeptionsHensel, der früheren Freundin Clemens forsch. Droste-Rezeption im 19. Jh. DokumentatiBrentanos. Auch um ihre Gedichte kümmerte on, Analysen, Bibliogr. Erstellt in Zus. mit Aloys sich S. als Herausgeber (Lieder. Paderb. 1869). Haverbusch u. Lothar Jordan. 2 in 3 Bdn., Ffm. u. a. Während S.s eigene, manchmal zunächst in 1980 (Register). – Walter Gödden: Die andere AnZeitungen unter dem Pseudonym »Jacob« nette. A. v. Droste-Hülshoff als Briefschreiberin. veröffentlichten Sonette (Welt und Glauben. Paderb. 1991, S. 120–130. – Ders.: A. v. DrosteMünster 1844. Späteres gesammelt u. d. T. Hülshoff. Leben u. Werk. Eine Dichterchronik. Bern u. a. 1994 (Register). – Walter Troxler: C. B. S. Schwert und Palme. Ein Sonettenkranz aus den In: Bautz 9 (1995), Sp. 316 f. Wilhelm Kühlmann Jahren 1847–60. Steyl 1886) eher episod. Charakter besitzen, nehmen Übersetzungen einen bedeutenden Rang in seinem Œuvre ein. Schlüter, Herbert, * 16.5.1906 Berlin, In diesem eifrig gepflegten Arbeitsfeld wid- 15.2.2004 München. – Erzähler, Übersetmete sich S. mittelalterl. u. nlat. Autoren zer. (Bonaventura, Münster 1836; Jacopone da Der Kaufmannssohn absolvierte 1922–1924 Todi, ebd. 1864; Marcus Antonius Flaminius, eine Banklehre. Nach ersten VeröffentliMainz 1847; Angelinus Gazaeus, Münster chungen u. a. im »Berliner Tageblatt«, der 1847; Jacob Balde, Paderb. 1857), außerdem »Frankfurter Zeitung« u. der »Neuen Rundder iber. Literatur (Ponce de León, Münster schau« debütierte S. 1927 mit dem stilistisch 1853; Luís de Camões, ebd. 1869) u. dem vom Fin de siècle beeinflussten Erzählungsengl. Schrifttum (Adelaide Anne Procter, band Das späte Fest (Bln.). Bis 1933 gehörte er Köln 1867, 1877 mit einer Einleitung von zum Kreis um Klaus Mann. Nach einem Charles Dickens; Frederic William Faber, Aufenthalt in Frankreich (1933) emigrierte Münster 1870; Dinah Maria McMulock, ebd. S. 1935 über Spanien u. Jugoslawien (1936) 1873). nach Italien (1938). Dort wurde er 1941 von Weitere Werke: Die Lehre des Spinoza. In ihren der Deutschen Wehrmacht als Dolmetscher Hauptmomenten geprüft u. dargestellt. Münster eingezogen. Nach Kriegsgefangenschaft 1836. – Acht philosoph. Abh.en über Franz v. kehrte S. 1947 nach Deutschland zurück u. Baader u. seine Werke. Lpz. 1857. – Marienbilder. war 1948–1950 Redakteur der LiteraturzeitHg. Franz Hipler. Steyl 1894. – Freiheit u. schrift »Die Fähre« (später »Literarische ReKnechtschaft. Vorlesung 1837. Hg. Josefine vue«). In seinem 1934 entstandenen, aber erst Nettesheim. Münster 1971. – Herausgeber: Blu1947 veröffentlichten Roman Nach fünf Jahren menkranz religiöser Poesien aus Sprachen des Sü(Mchn. Neuausg. Düsseld. 2008) schildert S. dens. Uebersetzt im Versmaß des Originals. Paderb. 1855. – Neuer Blumenkranz religiöser Poesien aus in subtil psycholog. Erzählweise den ReifeSprachen des Südens nebst einem Anhang ver- prozess einer romantisch-idealistischen Jumischter Gedichte. Aachen 1861. – Walhalla dt. gendliebe. Seit den 1950er Jahren trat S. hauptsächlich Materialisten. Münster 1861. – Briefe u. Gedichte v. Benedict Waldeck. Paderb. 1883. – Briefe: C. B. S. an als Literaturkritiker u. Übersetzer aus dem Wilhelm Junkmann. Briefe aus dem dt. Bieder- Englischen u. Italienischen hervor. meier 1834–1883. Hg. dies. Münster 1876. – Die Briefe C. B. S.s an Professor Braun. In: Jb. der Droste-Gesellsch. 1948/50, S. 148–166. – Luise Hensel u. C. B. S. Briefe aus dem dt. Biedermeier 1832–1876. Hg. J. Nettesheim. Münster 1962. Literatur: Komplettes Verz. der Werke einschließlich der unselbstständigen Publikationen
Weitere Werke: Die Rückkehr der verlorenen Tochter. Bln. 1932 (R.). – Im Schatten der Liebe. Mchn. 1948 (N.n). – Signor Anselmo. Diessen 1957 (E.en). – Nacht über Italien. Gütersloh 1960 (E.en). – Ein Gartenfest. Mchn. 1986 (E.en.).
431 Literatur: Reinhard Andress: H. S. Der Anfang vom Ende einer Schriftstellerkarriere. In: Ders.: ›Der Inselgarten‹ – das Exil deutschsprachiger Schriftsteller auf Mallorca, 1931–1936. Amsterd./ Atlanta 2001, S. 146–158. – Klaus Täubert: Zum Tode v. H. S. In: Europäische Ideen 129 (2004), S. 37–39. Mechthild Hellmig / Red.
Schlüter, Wolfgang, * 11.12.1948 Königslutter. – Musikwissenschaftler, Übersetzer, Essayist, Romanautor.
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prosaischen Gegenwart kontrastierend die Vergangenheit, in der »noch Das Ganze anders« (Dufays Requiem) war, gegenüber. Ihre Handlung vollzieht sich auf verschiedenen Zeitebenen, von denen S. mittels erläuternder Exkurse u. einer der zeitgenöss. Ausdrucksweise angepassten Sprache ein umfassendes Bild zeichnet. Die Handlungsstränge werden jeweils von einem in der Gegenwart lebenden Ich-Erzähler zusammengeführt, der sich auch reflektierend über Sprache u. Aufbau der Romane äußert. Gruß, Greenaway! (Bln. 2010) vordergründig ein Liebes- u. Freundschaftsroman, handelt tatsächlich vom Übersetzen, S.s zentralem Thema. S.s Übersetzung der engl. Literatur kennzeichnet, dass sie keine wörtl. Übertragungen darstellen, sondern Zeitbezug, Rhythmus u. Klang der Originale aufgreifen. S. wurde u. a. mit dem Mörike-Förderpreis (1997), dem Dedalus-Preis (1999) u. von der Schillerstiftung (2011) ausgezeichnet.
Nach seinem Abitur am Johanneum in Lüneburg studierte S. Musikwissenschaft, Kunstgeschichte u. Philosophie in Hamburg, Wien u. Berlin. 1982 wurde er bei Carl Dahlhaus mit einer Arbeit über Gustav Mahler promoviert. 1977 begann S. eigene experimentelle u. essayistische Texte zu veröffentlichen; seine erste Übersetzung erschien 1982. Von 1984 bis 1993 war S. Redakteur der von der Arno-Schmidt-Stiftung herausgegeben Bargfelder Ausgabe. Seit 1994 lebte er als Weitere Werke: Studien zur Rezeptionsgesch. freier Schriftsteller zunächst in Irland u. der Symphonik Gustav Mahlers. Diss. Bln. 1983. – Walter Benjamin. Der Sammler & das geschlossene Wien; seit 2004 ist er in Berlin ansässig. S.s experimenteller Roman Eines Fensters Kästchen. Darmst. 1993 (Ess.). – Anmut u. Gnade. Schatten oder Mercurius’ Hochzeit mit der Philolo- Ffm. 2007 (R.). – Übersetzungen: My second self gie (Bln. 1984), der die Idee des in seinem Bild when I am gone. Hbg. 1991 (Lyrikanth.). – John Aubrey: Lebens-Entwürfe. Ffm. 1994 (P.). – Brenverschwindenden Malers aufgreift, besteht dans Inseln. Wien 1997 (auch Hg.). – Christopher aus einer Montage verschiedener Erzählwei- Marlowe: Sämtl. Dramen. Ffm. 1999. – D. H. sen, Sprachstilen u. Gattungen. Inhaltlich Lawrence: Vögel, Blumen u. wilde Tiere. Gedichte. wird eine an Benjamin u. Adorno angelehnte Bonn 2000. – James Thomson: Die Jahreszeiten. Modernekritik mit der Frage verbunden, wie Weil am Rhein u. a. 2003 (L.). sich »das alte im gegenwärtigen aufheben Literatur: Gregor Wittkop: Die Dichter u. ihr lässt«. Nach S. gelingt dies u. a. über Schrift, Fälscher. Notizen aus der Unterwelt. In: SuF die eine Übersetzung des Lebendigen in un- (1995), H. 3, S. 439–443. – W. G. Sebald: Laudatio belebte Zeichen darstellt. Mittels des rück- auf W. S. In: Mörike-Preis der Stadt Fellbach übersetzenden Lesens wird so Vergangenes in 1991–2000, Wolf Biermann, Sigrid Damm, W. G. der Gegenwart lebendig. Sowohl formal als Sebald u.a. Fellbach 2000, S. 148–154. – Michael auch inhaltlich verweist der Roman auf S.s Schmitt: W. S. In: LGL. Yara Staets spätere Werke. In John Field und die Himmels=Electricität, Skizzen (Ffm. 1998) zeichnet Schmatz, Ferdinand, * 3.2.1953 KorneuS. mit authent. Zitaten u. fiktiven Berichten burg/Niederösterreich. – Lyriker, EssayLeben u. Werk des Komponisten u. Klavierist, Prosaist. spielers (1782–1837) nach u. verbindet es mit histor. Gewitterbeobachtungen. Kunstvoll S., promovierter Germanist, setzt konsequent konstruiert sind der von mittelalterl. Musik die von der Wiener Gruppe initiierte Richhandelnde Roman Dufays Requiem (Ffm. 2001) tung experimenteller Literatur fort. Neben u. der Roman Die englischen Schwestern (Ffm. seiner schriftstellerischen Tätigkeit ist S. auch 2011), in dem S. die Geschichte der Glashar- als Lehrer u. Vermittler von Poetik, Literatur monika erzählt. In den Romanen stellt S. der u. Kunst tätig. 1983–1985 war er Dozent für
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dt. Sprache u. Literatur an der Nihon Uni- öffentlicht, die als verdeckte poetische Autoversität Tokyo, 1985–1987 Lehrbeauftragter biografie gelesen werden können. Während für Gegenwartsliteratur an der Universität er in Portierisch (Innsbr. 2001) erzählend u. für künstlerische und industrielle Gestaltung reflektierend eine Gesellschaft in einem steiLinz. Seit 1988 ist er Lehrbeauftragter für rischen Bergtal schildert, ist Durchleuchtung. »Kunst und Poetik im 20. Jahrhundert« an Ein wilder Roman aus Danja und Franz (Innsbr./ der Universität für angewandte Kunst Wien Wien 2007) als multiperspektivischer u. seit 1999 Tutor beim Klagenfurter Litera- Künstlerroman konzipiert, der zwischen roturkurs. Seine die dichterische Arbeit beglei- mant. Romanmustern u. streng kalkulierten tenden Reflexionen hat S. u. a. in den Essay- experimentellen Formen ein hintergründiges bänden Sinn & Sinne. Wiener Gruppe, Wiener Spiel um Sein u. Schein, Bild u. Idee, Sprache Aktionismus und andere Wegbereiter (Wien 1992) u. Kunst treibt. Für S.’ Schaffen ist es auch kennzeichnend, u. Radikale Interpretation. Aufsätze zur Dichtung (Wien 1998) niedergelegt. S. ist auch Her- dass er im Grenzbereich zwischen bildender ausgeber der Werke von Reinhard Priessnitz, Kunst u. Literatur agiert u. dabei eigene der die Brücke vom radikalen Experiment der Genres erfindet, welche die Bereiche vermitWiener Gruppe zu einer posthermeneut. teln. So in Farbenlehre (zus. mit Heimo Auffassung von Dichtung schlug u. damit Zobernig. Wien/New York 1995) oder maler als stifter. Poetische Texte zur Bildenden Kunst auch die Arbeit von S. beeinflusste. Der Beginn von S.’ literar. Arbeit liegt im (Innsbr. 1997). Einflussbereich des Wiener Aktionismus, was Weitere Werke: die wolke u. die uhr. gedicht. sich im Text als das Sprachsystem sprengen- Linz/Wien 1986. – Die Reisen. In achtzig Gedichten des Experiment mit der Schreibhaltung nie- um die ganze Welt (zus. mit Franz Josef Czernin). derschlägt (der (ge)dichte lauf. Linz 1981). Auch Salzb./Wien 1987 (L., Ess.). – Die Kunst der Enzyfür die seither entstandenen Gedichtbände ist klopädie (zus. mit Heimo Zobernig). Wien/Graz/ das Aufbrechen bzw. Vermeiden von kon- Mchn. 1988. – ganganbuch 6. jahrbuch 1989 für zeitgenöss. literatur. Hg. zus. mit F. J. Czernin. ventionellen Mustern, Schreib- u. SprechhalGraz/Wien 1988. – TELLER UND SCHWEISS (zus. tungen kennzeichnend, wenngleich mit er- mit F. J. Czernin). Wien 1991. – Stück für Küweiterten literar. Verfahren. Die speise gedichte chenradio. 1991 (Hörsp.). – Lexikon der Kunst 1992 (Graz/Wien 1992) führen u. a. vor, wie mit (zus. mit H. Zobernig). Stgt. 1992. – balibi (oder: sprachl. Mitteln Sinnlichkeit erzeugt werden kau der welsch). Graz/Ffm. 1992 (L.). – SPRACHE kann, während dschungel allfach. prosa gedicht MACHT GEWALT. Stich-Wörter zu einem Frag(Innsbr. 1996) ein Textgewebe ausbreitet, in ment des Gemeinen. Wien 1994 (Pr.). – Froschködem die Grenzen von Genres aufgehoben nig oder derjenige, der mich auffindet. Ein runder sind. In den Lyrikbänden das grosse babel,n Tisch v. F. S. 1995 (Hörsp.). – ›Lieber Herr Fuchs, (Innsbr. 1999) u. tokyo, echo oder wir bauen den lieber Herr Schmatz!‹ Eine Korrespondenz zwischen Dichtung u. Systemtheorie (zus. mit Peter schacht zu babel, weiter (Innsbr./Wien 2004) hat Fuchs). Opladen 1997. – Tod oder Leben oder die S. Echokammern geschaffen, in denen große Katze im Bauch des Fliegers. 1998 (Hörsp.). – LiciTexte der Weltliteratur widerhallen. Ist es im tas Leitner klärt einen Mord im Schnee. 2001 einen Band die Bibel, an deren Poesie sich (Hörsp.). – quellen. Innsbr./Wien 2010 (L.). sein Schreiben entzündet, so sind es im anLiteratur: Thomas Eder: F. S. In: LGL. – Ders.: deren Dichter von Sophokles bis Kafka u. F. S. In: KLG. Walter Ruprechter Celan. Dass S. zu den repräsentativen Lyrikern im dt. Sprachraum gehört, zeigen schon seine zahlreichen Auszeichnungen mit wichtiSchmaus, Michael (Raphael), * 17.7.1897 gen Lyrikpreisen: 1999 Christine-Lavant-Preis, Oberbaar bei Ingolstadt, † 8.12.1993 2002 Anton-Wildgans-Preis, 2004 GeorgGauting/Obb. – Katholischer Theologe. Trakl-Preis, 2006 H. C. Artmann-Preis, 2009 Ernst-Jandl-Preis. Nach dem Studium in München war S. OrSeit 2000 hat sich S. auch verstärkt der dinarius in Prag, Münster u. seit 1946 in Prosa gewidmet u. bisher zwei Romane ver- München. Dort gründete er 1954 das Martin-
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Grabmann-Institut zur Erforschung der mit- Zentrum der Heilsgeschichte. Trinitarische Struktelalterl. Philosophie u. Theologie. Für das turen der mariolog. Konzeption des Theologen M. Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) S. In: Forum kath. Theologie 18 (2002) S. 29–46. – Leo Scheffczyk: M. S. In: NDB. wurde er als Peritus (Ratgeber) berufen. Matthias Jung / Red. 1938 erschien der erste Band von S.’ Hauptwerk, der Katholischen Dogmatik (4 Bde., Mchn. 1937–41. Erw. 8 Teilbde., Mchn. Schmeltzl, Schmältzl, Wolfgang, * nach 6 1960–65), die erhebl. Einfluss auf die jün- 1500 Kemnath/Oberpfalz, † vor April gere Theologengeneration ausübte. Die 1564 St. Lorenzen am Steinfeld/NiederTraktate der scholast. Systematik werden dort österreich. – Schuldramatiker, Epiker, einer behutsamen Modernisierung unterzo- Herausgeber eines Liederbuches. gen, wobei S. – von Peter Wust u. Romano S., Sohn eines Handwerkers, führte ein beGuardini beeinflusst – auch begriffl. Anlei- wegtes Leben, das sich allerdings nur in hen bei der Lebens- u. Existenzphilosophie Umrissen u. bisweilen hypothetisch rekonmachte. Spätere Auflagen berücksichtigen struieren lässt. Im Okt. 1523 wurde er an der stärker die bibl. Begründung der Dogmatik, Universität Wien immatrikuliert, wo er verden ökumen. Gesichtspunkt u. die Ausein- mutlich den Magistergrad erwarb. Den Stuandersetzung mit den Naturwissenschaften. dienjahren, die durch die Erfahrung konfesS., der mit seiner Dogmatik der vorkonzi- sioneller Differenz gekennzeichnet waren, liaren Theologie wesentl. Anregungen ver- folgten Reisen in eine Reihe von dt. Städten. mittelt hatte, reagierte auf das Zweite Vati- Die Suche nach einem berufl. Auskommen kanische Konzil mit merkl. Zurückhaltung. führte ihn später in das Benediktinerkloster 1968 begann er mit der Ausarbeitung des Kastl (um 1535) u. nach Weiden (1536/37), wo umfangreichen Werks Der Glaube der Kirche er eine Anstellung als Kantor fand; ein Auf(erw. 6 Bde., St. Ottilien 21979–82), in dem er enthalt in Amberg, den die Notiz eines Zeitden theolog. Neuansatz des Konzils zwar genossen nahelegt, ist hingegen nicht belegt. aufgriff, ihn aber weitgehend in die Konti- Spätestens 1538 dürfte S. nach Wien zurücknuität der neuscholast. Tradition zurück- gekehrt sein. Unklar bleibt, ob sich eine Bestellte. – In der zeitgenöss. kath. Theologie merkung in der Vorrede zu seinem Bibeldrasteht S. beispielhaft für das traditionelle, ma Judith (Wien 1542) auf einen neuen Besuch gleichwohl um vorsichtige Modernisierung der Universität bezieht. Zumindest zwischen 1542 (vielleicht schon 1540) u. 1550 wirkte er bemühte Denken. Literatur: Peter Kollmannsberger: Die schöp- als Schulmeister u. Musikpräzeptor am Wiefungstheolog. Frage nach dem Personsein des ner Schottenstift. Als Sänger an der SalvatorMenschen in den Dogmatiken v. M. S. u. Johann Kapelle des Rathauses stand er daneben im Auer. Weiden 1992. – Roland Maurer: Lumen Sold der Stadt; 1543 erhielt er das BürgerGentium. Die Idee v. der Kirche als dem Volk Gottes recht. 1554 ist er als »caplan« bezeugt u. nur bei M. S. u. die Rezeption dieser Idee im Zweiten wenig später dürfte er als Pfarrer von St. LoVatikanum. Tüb. 1992. – Theodor Maas-Ewerd: M. renzen installiert worden sein. Im Herbst S. (1897–1993) über die liturg. Bewegung. In: Fo- 1556 nahm S., wie er seine Leser glauben rum kath. Theologie 11 (1995), S. 208–224. – Peter lässt, (wohl als Feldgeistlicher) am Feldzug Poonoly: The Christian image of human person. An Erzherzog Ferdinands I. gegen die Türken elaborative-existential study of the theological anteil, worüber er einen epischen Augenzeuthropology of M. S. Diss. Rom 1995. – Innocent Okwudili Uwakwe: The notion of divine provid- genbericht (Der Christlich vnd Gewaltig zug in ence and salvation in the ›Kath. Dogmatik‹ of M. S. das Hungerland. Wien 1556) lieferte. Der UnDiss. Rom 2000. – Lydia Bendel-Maidl: Theologie bedingtheit seiner altkirchl. Glaubenstreue, der Gesch. u. Eschatologie nach 1945. M. S.’ Ant- von der u. a. sein Pasquillus Germanico latinus wortversuch auf Leid u. Schuld. In: Kirche der (o. O. 1557) Zeugnis ablegt, verdankte er seine Sünder – sündige Kirche? Beispiele für den Um- Beförderung zum Dechanten von St. Lorengang mit Schuld nach 1945. Hg. Rainer Bendel. Münster u. a. 2002, S. 163–181. – Gerda Riedl: Im
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zen sowie die Einsetzung als Pfarrkurator (1560) im nahen Neunkirchen. S.s deutschsprachige Spiele, die zwischen 1540 u. 1551 auf der Schulbühne, bisweilen sogar vor dem kaiserl. Hof aufgeführt u. zum Teil gedruckt wurden, stellten in der Wiener Theatertradition ein Novum dar. Während die österr. Haupt- u. Residenzstadt wie auch das Schottenkloster bislang nur das lat. Humanistendrama (Konrad Celtis, Benediktus Chelidonius) als gelehrte Institution, als öffentlichen, festlich inszenierten Lobpreis der Wissenschaften u. Künste mit polit. Tendenz oder als offensichtl. Panegyrik kannten, verfolgte S. in den (sieben erhaltenen) Stücken nach bibl. Stoffen v. a. lehrhafte, oft auch konfessionspolit. Ziele. Als Vorlagen dienten ihm mehrfach Bibeldramen protestantischer Autoren (Georg Binder, Paul Rebhun), wobei er allerdings deren »Vnnütz geschwetz«, also die protestantischen Standpunkte, tilgte, um stattdessen neue Szenen, Figuren u. Dialoge einzufügen, die dezidiert kath. Positionen zur Anschauung brachten. Die Comedia des verlornen Sons (aufgeführt 1540; Druck: Wien 1545) wie die Comedj von dem plintgeboren Sonn (Wien 1543) gerieten so zu einem Plädoyer für die kath. Rechtfertigungslehre; in der Comoedia der hochzeit Cana Galilee (1543) erfuhr das Eheverständnis der alten Kirche, d.h. der sakramentale Charakter des Ehestandes, eine entschiedene Verteidigung. Mit dem Eintreten für ein Friedensreich unter habsburgischer Führung, das im Exempel des künigs Samuelis vnd Saulis (Wien 1551) propagiert wird, setzte S. schließlich zu einer direkten polit. Stellungnahme an. Im Wissen um die Wirksamkeit des Theaters stellte er das dt. Schuldrama damit bewusst in den Dienst der Gegenreformation. Die von S. herausgegebene Kollektion zeitgenöss. Vokalkompositionen mit dem Titel Guter seltzamer vnd kunstreicher teutscher Gesang (Nürnb. 1544), u. a. eine wichtige Quelle für die Geschichte des Quodlibets u. der Priamel, weist ihn als kenntnisreichen Sammler u. Editor aus; mit einiger Sicherheit sind ihm auch einige Liedtexte u. Kompositionen zuzuschreiben. Über den Zweck der heiteren u. harmlosen Belustigung für gesellige Runden hinaus verfolgt die Sammlung
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mit der Anprangerung moralischer Missstände (z.B. in den Sauf- u. Fressliedern Schlemmer vnd Prasser, Da truncken sie) oder dem Bekenntnis zum kath. Glauben (Mariam die reine maid) durchaus ernsthafte Anliegen. Die nachhaltigste Wirkung erreichte der viel zitierte Lobspruch der hochlöblichen vnd weitberümbten Khüniglichen Stat Wienn (Wien 1547. 2 1548. Neuausg. u. Faks.-Drucke bis ins 20. Jh.), der weithin dem klass. Modell des Städtelobs entspricht, mit der Einführung eines wahrnehmenden Subjekts aber gängige Gattungskonventionen durchstößt. In 1600 paarweise gereimten Knittelversen entwirft S. ein farbenfrohes Tableau des bürgerl. Alltagslebens in der Residenzstadt, die als christl. Bollwerk gleichzeitig zum symbolischen Bild einer durch Kaiser u. Papstkirche repräsentierten Reichsidee gerät. Weitere Werke: Aussendunng der Zwelffpoten vnd die frag des Reichen jünglings. Wien 1542. – Ein schöne tröstl. hystoria von dem Jüngling Dauid vnnd dem mutwilligen Goliath. Wien 1545. – (Hg.) Johannes Prasch: Philaemus Tragaedia nova non minus pia quàm erudita. Wien 1548. – Ain new Lied Gemacht zu Ehren dem Durchleuchtigisten [...] Herrn Ferdinand Ertzhertzogen zu Osterreych als General Veldhauptman dises Zugs in Hungern. o. O. 1556 (Anhang zu: Der Christlich vnd Gewaltig zug in das Hungerland). Ausgaben: Rudolf Flotzinger (Hg.): W. S.: Guter seltzamer u. kunstreicher teutscher Gesang. Graz 1990. – Cora Dietl u. Manfred Knedlik (Hg.): W. S.: Ges. Schr.en in zwei Bdn. Bd. 1: Das dramat. Werk. Münster u. a. 2009. Literatur: Franz Spengler. W. S. In: ADB. – Ders.: W. S. Zur Gesch. der dt. Lit. im XVI. Jh. Wien 1883. – Theodor Wiedemann: Gesch. der Reformation u. Gegenreformation im Lande unter der Enns. Bd. 4, Prag u. a. 1884, S. 336–342. – Walter Salmen: Die literar- u. musikhistor. Bedeutung v. W. S. In: Die österr. Lit. Ihr Profil v. den Anfängen im MA bis ins 18. Jh. Hg. Herbert Zeman. Bd. 2, Graz 1986, S. 845–850. – Rudolf Flotzinger: W. S. u. sein ›Teutscher Gesang‹ v. 1544. In: Studien zur Musikwiss. 39 (1988), S. 7–36. – Wolfgang Neuber: Die Mauern, die Wendeltreppe, der Dom u. der Überblick. Raumwahrnehmung u. stadtbürgerl. Identitätskonstruktion bei Isidor v. Sevilla, Leon Battista Alberti u. W. S. In: Zeitsprünge 2 (1998), S. 89–103. – Cora Dietl: W. S. u. die Anfänge des kath. Schultheaters am Wiener Schottenstift. In: ÖGL 46 (2002), S. 287–294. – Manfred Knedlik. W.
Schmettow
435 S. In: NDB. – Wolfram Washof: Die Bibel auf der Bühne. Exempelfiguren u. protestant. Theologie im lat. u. dt. Bibeldrama der Reformationszeit. Münster 2007, Register. – M. Knedlik: W. S. – engagierter Katholik u. Literat. In: Kemnath. 1000 Jahre ... u. mehr. Hg. Michael Neubauer u. a. Pressath 2008, S. 189–194. – Albrecht Classen u. Lukas Richter: Lied u. Liederbuch in der Frühen Neuzeit. Münster u. a. 2010, S. 178–184. Manfred Knedlik
Schmelzkopf, Smelzkop, Eduard, auch: E. Texicephalus u. a., * 23.6.1814 Saalsdorf bei Helmstedt, † 18.5.1896 Bevern bei Holzminden. – Lyriker, Journalist u. Publizist.
festgehalten. Auf die Ereignisse von 1866 u. 1871, auf die enttäuschende Rückwendung des Bürgertums zur Monarchie, auf die sich festigende, von ihm verurteilte Allianz von Thron u. Altar reagierte S. mit bitteren, nicht mehr publizierten Gedichten. Seit 1878 war er mit Groth befreundet u. gehörte in den 1880er Jahren locker zum Freundeskreis Raabes. Die postume Lyriksammlung Kinder des Herzens (Hg. Friedrich Cunze. 2 Bde., Helmstedt 1897/98) bringt fast nur Unpolitisches. S.s engagierte Lyrik hat in der niederdt. Literatur nicht schulbildend gewirkt. Literatur: Herbert Blume: Für ein einiges, freies Gesamtvaterland! E. S., plattdt. Vormärzliterat in Braunschweig. In: 100. Jahrgang der Ztschr. ›Quickborn‹. Festschrift. Hg. Wolfgang Müns. Hbg. 2010 (mit Werkbibliogr.). Herbert Blume
Nach dem Studium der philolog. Fächer in Göttingen (u. a. bei den Brüdern Grimm), seit dem Weggang der Göttinger Sieben in Leipzig, u. nach erfolgreicher Vorbereitung auf das Gymnasiallehramt in Braunschweig ent- Schmerlin, Georg ! Vigilantius, Publius sagte der Pastorensohn S. 1840 freiwillig dem Lehrerberuf, weil er sich nicht in den geistiSchmettow, Schmettau, Woldemar Friedgen Zwang des staatl. Schulwesens der Zeit rich Graf von, * 25.2.1749 Celle, † 7.7. begeben, vielmehr als »Schriftsteller für ein 1794 Plön. – Diplomat u. Publizist. freies, einiges Gesamtvaterland« wirken wollte. Auf ein nur angefangenes Medizin- Der Sohn des Grafen Woldemar von Schmetstudium in Berlin (seit 1840) u. vergebl. Be- tow-von Holtdorp war 1767–1769 Gesandtmühungen um eine Privatlehrerstelle in der schaftssekretär im Auftrag des dän. Königs in Schweiz folgten Jahre journalistischer Tätig- Madrid u. Warschau u. wurde 1771 Gekeit in Braunschweig. Um 1846 veröffent- schäftsträger der Gesandtschaft in Dresden. lichte er mehrere Bände vormärzl. Lyrik in 1773 wechselte er in die Dienste des kurpfälz. altgriech., lat., niederdt. u. hochdt. Sprache Hofs, den er nach einem Jahr verließ. Mehr (u. a. Nuces amarae. Braunschw. 1846. Immen. als drei Jahre verbrachte S. nun auf Reisen. In Ebd. 1846. Cypressenkranz auf das Grab Karl Paris verkehrte er in den Kreisen um den Steinackers. Lpz. 1847) sowie volksaufkläreri- Kardinal von Rohan. Jetzt erschien seine erste sche Traktate (u. a. Ower de kunst jesunt te sin. Publikation, eine Vorrede zur frz. WertherBraunschw. 1846). Seine niederdt. Gedichte Übersetzung Lettre à Mons. Aubri sur la littérasind großenteils in antiken Formen (Disti- ture allemande (Paris 1777). Seit 1778 lebte er chen, Oden) verfasst. In Braunschweig war S. in Plön, wo er Mitgl. von Landgericht u. als Volksredner, Journalist u. Textdichter von Konsistorium war. Revolutionshymnen einer der wichtigsten S.s Abhandlungen u. Monografien sind Agitatoren während der Märzrevolution staatswissenschaftl. u. staatsrechtl. Themen 1848. Nach ihrem Scheitern begab er sich, gewidmet. Die Königliche Societät der Wisden Lebensunterhalt meist als Privatlehrer senschaften in Göttingen zeichnete 1788 seibestreitend, auf eine jahrzehntelange Wan- ne Schrift Beantwortung der Frage: Welches sind derschaft durch halb Europa, mit längeren die sichersten Mittel, die Heerstraßen wider RäuAufenthalten in Zürich, Rom, Schweden. bereyen und Gewaltthätigkeiten zu sichern? (Gött. 1860 trat er in Coburg auf der Tagung des 1789) mit dem ersten Preis aus. Im selben Deutschen Nationalvereins als Redner auf; Jahr wurde S. Mitgl. der Societät der WisRaabe hat dies in Gutmanns Reisen (1891) senschaften in Trondheim. Er war Fürspre-
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cher der bürgerl. Rechte, bes. der Pressefreiheit. Die Französische Revolution mit ihren »Schröckensszenen« deutete er als Folge unterlassener Reformen, »und sind demnach der Hof, der Adel und die Clerisey allein Schuld an allen vergangenen wie an allen vielleicht noch zu erwartenden Greueln« (Patriotische Gedanken eines Dänen, über stehende Heere, politisches Gleichgewicht und Staatsrevolutionen. Altona 1792, S. 137). Weitere Werke: Abrégé du Droit Public d’Allemagne. Amsterd. 1778. – Ein kleiner Beytrag zur Kenntnis des Frz. Staats, v. einem Nordteutschen [...]. o. O. 1784. – Des Grafen W. F. v. S. kleine Schr.en. 2 Bde., Altona 1795. Literatur: Bernd Kordes: Lexikon der jetztlebenden Schleswig-Hosteinischen u. Eutinischen Schriftsteller. Schleswig 1797. – Meusel 12. – Friedrich Carl Gottlob Hirsching: Histor.-litterar. Hdb. Bd. 11, 1. Abt., Lpz. 1808. – B. Poten: W. F. Graf v. S. In: ADB. Gesa Dane
Schmid, Carlo, eigentl.: Charles Jean Martin Henri S., * 3.12.1896 Perpignan, † 11.12.1979 Bad Honnef. – Politiker; Essayist, Übersetzer.
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derung der dt.-frz. Zusammenarbeit. Der gewandte polit. Essayist übersetzte Baudelaire, Malraux, Calderón, Valéry u. war Goethe-Preisträger. Weitere Werke: Die Forderung des Tages. Stgt. 1946 (Reden). – Röm. Tagebuch. Tüb. 1947. – Politik u. Geist. Stgt. 1961 (Aufsätze). – Tätiger Geist. Hann. 1964 (Aufsätze). – Der Weg des dt. Volkes nach 1945. Bln. 1967. – Ges. Werke. Bern 1973. – Reden u. Aufsätze v. u. über C. S., 1896–1979. Eine Kostprobe zum 100. Geburtstag. Hg. Wilfried Setzler. Tüb. 1996. – Wegmarken der Freiheit. Ess.s zu Lit. u. Politik. Hg. u. eingel. v. Gert Ueding. Tüb. 2001. – Herausgeber: Niccolò Machiavelli: Werke. Ffm. 1956. Literatur: Festg. für C. S. zu seinem 65. Geburtstag. Hg. Theodor Eschenburg, Theodor Heuss u. Georg-August Zinn. Tüb. 1962. – Konkretionen polit. Theorie u. Praxis. FS zu C. S.s 75. Geburtstag. Hg. Adolf Arndt, Horst Ehmke u. a. Ffm. 1971. – Zeugen des Jahrhunderts. Porträts aus Politik u. polit. Wiss. Ffm. 1982. – Gerhard Hirschler: C. S. u. die Gründung der Bundesrepublik. Eine polit. Biogr. Bochum 1986. – Petra Weber: C. S. (1896–1979). Eine Biogr. Mchn. 1996. – FriedrichEbert-Stiftung (Hg.): Europa u. die Macht des Geistes. Gedanken über C. S. (1896–1979). Bonn 1997. – Regina Krane (Hg.): C. S. u. seine Politik. Bln. 1997. – Gerhard Taddey (Hg.): C. S. – Mitgestalter der Nachkriegsentwicklung im dt. Südwesten. Stgt. 1997. – Olivier Duchatelle: C. S. Intellectuel et homme d’État. E´ tude du parcours intellectuel et politique d’un social-de´ mocrate allemand (1896–1979). Diss. Straßb. 2001. – P. Weber: C. S. In: NDB. – Stine Harm: C. S. Der polit. Star u. das sozialdemokrat. Sternchen. In: Seiteneinsteiger. Unkonventionelle Politiker-Karrieren in der Parteiendemokratie. Hg. Robert Lorenz u. Matthias Micus. Wiesb. 2009, S. 363–389. Michael Behnen / Red.
Der Sohn eines dt. Privatgelehrten u. einer frz. Mutter war 1914 Kriegsfreiwilliger, danach Richter u. Dozent für Völkerrecht in Tübingen, arbeitete im Zweiten Weltkrieg in der Militärverwaltung in Frankreich, wurde anschließend Ordinarius in Tübingen u. lehrte 1953–1964 als Professor für Politische Wissenschaften in Frankfurt/M. Dank seines auf Ausgleich bedachten Naturells gewann der Sozialdemokrat (seit 1945) beim Aufbau des Landes Württemberg-Hohenzollern u. als Vorsitzender des Hauptausschusses des ParSchmid, Christian Heinrich, * 24.11.1746 lamentarischen Rats in Bonn über ParteiEisleben, † 21.7.1800 Gießen. – Literagrenzen hinweg großes Ansehen. S.s Verturkritiker, Übersetzer, Bibliothekar. dienste um die Gestaltung des Grundgesetzes sind unbestritten. Sein Ziel war die Verwirk- S. war das älteste Kind des Kurfürstlich lichung einer freiheitl. Gesellschaft, orien- Sächsischen Bergkommissionsrats u. Bergtiert am Erbe des Humanismus u. der Sozi- vogts in Thüringen u. Mansfeld Johann aldemokratie. Noch vor Beendigung seiner Christian Schmid. Nach dem frühen Tod der Tätigkeit in Bonn (zuletzt bis 1972 Erster Mutter, Tochter des Stadtvogts von Eisleben, Vizepräsident des Bundestags) übernahm der erhielt S. Unterricht vom Vater u. von Hauszeitlebens der frz. Kultur- u. Geisteswelt eng lehrern. 1762 begann er in Leipzig philosoverbundene S. 1969 das Amt eines Sonder- phische u. philolog. Studien, wandte sich jebeauftragten der Bundesregierung zur För- doch auf Wunsch des Vaters auch den
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Rechtswissenschaften zu. 1766 wurde er zum Magister, 1769 zum Doktor der Rechte promoviert u. erhielt im selben Jahr eine unbesoldete Professur iuris elegantioris ordinis an der Universität Erfurt. Mit Goethe, der gleichzeitig in Leipzig weilte, scheint er keinen näheren Umgang gehabt zu haben. Schon in der Studienzeit begann S. sein literarhistor. u. krit. Wirken, ebenso seine der engl. u. frz. Literatur gewidmete übersetzerische Tätigkeit. Er veröffentlichte eine Theorie der Poesie nach den neuesten Grundsätzen, und Nachricht von den besten Dichtern nach den angenommenen Urtheilen (Lpz. 1767. Zusätze Lpz. 1767–69), Biographien der Dichter: Kleist, Cronegk, Brawe; Chaulieu, Plautus, Racine (2 Tle., Lpz. 1769/70) u. Übersetzungen (Steele’s Lustspiele aus dem Englischen. Lpz. 1767. Sir Phantast, oder: Es kann nicht seyn. Ein Lustspiel aus dem Englischen des J. Crown. Lpz. 1767). In Konkurrenz zu Boie, von dessen Plänen zum Göttinger Musenalmanach er vorzeitig erfahren hatte, gab S. einen »Almanach der teutschen Musen [...]« (Lpz. 1770–81) heraus. Im ersten Teil seiner Anthologie der Teutschen (3 Tle., Lpz. 1770–72) druckte er u. a. Lessings Lustspiele Damon u. Die alte Jungfer ab. 1771 ging S. als Ordinarius der Beredsamkeit u. Poesie nach Gießen. Dort heiratete er 1774 die Tochter eines Pfarrers. 1778 gründete er zusammen mit Laukhard ein Studententheater. Seine Vorlesungen in Gießen erstreckten sich v. a. auf Enzyklopädie, Ästhetik u. die Antike. Sie wurden beifällig aufgenommen, bes. auch seine Erläuterungen zu antiken Autoren (u. a. Kommentar über Horazen’s Oden. Lpz. 1789). 1787 wurde S. zweiter Bibliothekar der Universität, rückte 1790 an die erste Stelle in der Philosophischen Fakultät u. erhielt die Leitung der Bibliothek. Er nahm jedoch nicht die von Göttingen u. Halle ausgegangenen Anregungen für eine moderne Bibliotheksverwaltung auf. S.s Kritik an den Gedichten Johann Gottwerth Müllers veranlassten diesen, S. in dem Roman Siegfried von Lindenberg (Hbg. 1779) als »Lumpensammler am Parnasse« zu karikieren. Durch seine »dramaturgische Abhandlung« Über Götz von Berlichingen (Lpz. 1774) zog S. Goethes Ärger auf sich, der ihn in
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Dichtung und Wahrheit (Buch 12 u. 13) verspottete. S. wurde schon von den Zeitgenossen meist als unselbstständiger Kompilator u. Vielschreiber eingestuft. »Die harschen Urteile über ihn erklären sich zum Teil auch aus den heftigen martialischen Literaturpolemiken der Zeit, an denen Schmid hemmungs-, manchmal auch gewissenlos teilnahm [...]. Mal eiferte er mit der Partei um Klotz gegen die Neuerer um Lessing, Goethe und Herder, dann wieder mit den Neuerern gegen die alte Partei« (G. Kurz). Der Kritik ist seine Leistung der übersetzerischen Vermittlung ebenso entgangen wie sein Anteil an der Herausbildung einer wissenschaftl. Literaturgeschichte. In einer 1780–1789 in der Zeitschrift »Olla Potrida« erschienenen Serie von Skizzen einer Geschichte der teutschen Dichtkunst entwickelte S. ein Modell der Literaturgeschichtsschreibung, das – zeitgenöss. Strömungen in Frankreich u. Deutschland aufnehmend – die traditionelle, lediglich sammelnde Litterärgeschichte mit der neuen Theorie der schönen Künste verbinden u. »Epochen als zeitlich-kulturelle Sinneinheiten« (G. Kurz) begreifen sollte. In den Einzeldarstellungen fiel S. jedoch meist hinter den eigenen programmat. Anspruch zurück. S. war Beiträger vieler Zeitschriften (»Jenaische allgemeine Literaturzeitung«, »Teutscher Merkur«, »Theaterkalender«, »Teutsche Monatsschrift« u. andere). Bedeutung als Quelle haben S.s Beiträge zur Theatergeschichte (Chronologie des deutschen Theaters. Lpz. 1775. Kritisch hg. von Paul Legband. Bln. 1902). Weitere Werke: Simonides, seu de theologia poetarum. Lpz. 1767. – Die Parodie. Lpz. 1769 (L.). – Brittisches Museum oder Beyträge zur angenehmen Lectüre aus dem Englischen. Tl. 1–3, Lpz. 1770/71. – Über einige Schönheiten der Emilia Galotti. Lpz. 1773. – Richardson über Shakespeare’s Charaktere. Aus dem Engl. Lpz. 1775. – Preis der Gerechtigkeit. Aus dem Frz. des Voltaire. Ffm. 1776. – Anweisung der vornehmsten Bücher in allen Theilen der Dichtkunst. Lpz. 1781. – Abriß der Gelehrsamkeit für enzyclopäd. Vorlesungen. Bln. 1784. – Autobiografie in: Friedrich Wilhelm Strieder: Grundlage zu einer hess. Gelehrten- u. Schriftstellergesch. Bd. 13, Gött./Kassel 1802,
Schmid S. 61–66. – Neuausgabe: Über den gegenwärtigen Zustand des dt. Parnasses. Mit Zusätzen und Anmerkungen v. Christoph Martin Wieland. Mit einem Nachw. hg. v. Robert Seidel. St. Ingbert 1998. Literatur: Hamberger/Meusel 7. – Meusel 12. – Eva-Marie Felschow: Die Gießener Universitätsbibl. im 17. u. 18. Jh. In: Gesch. der Universitätsbibl. Gießen. Gießen 1991. – Peter Heßelmann: Unveröffentlichte Briefe des Publizisten, Literaturkritikers u. Theaterhistorikers C. H. S. an Mathias Sprickmann. In. Lit. in Westfalen. Beiträge zur Forsch. 3. Hg. Walter Gödden. Paderb. u. a. 1995, S. 7–21. – Gerhard Kurz: Lumpensammler am Parnaß: C. H. S. u. die Anfänge der dt. Literaturgesch. In: Raum, Zeit, Medium. FS Hans Ramge. Hg. Gerd Richter, Jörg Riecke u. Britt-Marie Schuster. Darmst. 2000, S. 909–928. – Eckhard Ehlers: ›Wir klagen den Verlust, wir zürnen nicht!‹ Die Gießener Theater-Enttäuschungen des C. H. S. In: Mitt.en des Oberhess. Geschichtsvereins Gießen 94 (2009), S. 25–44. Hans-Albrecht Koch
Schmid, Christoph (Johannes Nepomuk Friedrich) von (geadelt 1828), * 15.8.1768 Dinkelsbühl, † 3.9.1854 Augsburg; Grabstätte: ebd., Hermannsfriedhof. – Jugendschriftsteller, Liederdichter. S., Sohn eines angesehenen Beamten, studierte in Dillingen, wo seine lebenslange u. für seinen Werdegang entscheidende Freundschaft mit Johann Michael Sailer begann, u. wurde 1791 zum Priester geweiht. Nach Seelsorgejahren in Nassenbeuren, Seeg, Thannhausen u. Oberstadion ernannte ihn König Ludwig I. (auf Betreiben Sailers) 1827 zum Domkapitular in Augsburg. Er starb an der Cholera. S. begann seine schriftstellerische Tätigkeit mit einer Nacherzählung der Biblischen Geschichte für Kinder (1801–1807), die um die 200 Nachdrucke erfuhr. Zu seinen Erzählungen kam er über das Volksbuch: Am Anfang steht Genovefa. Eine der schönsten und rührendsten Geschichten des Alterthums, neu erzählt für alle guten Menschen, besonders für Mütter und ihre Kinder (Augsb. 1810). In den folgenden Jahrzehnten erschien mit großem, auch internat. Erfolg (Übersetzungen in insg. 24 Sprachen) ein halbes Hundert solcher Bücher u. kleinerer Geschichten. Die klare, durchsichtige Anlage, Elemente der Spannung,
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große Gefühle geweckt durch rührende u. bewegende Ereignisse, eine verständl. Sprache – er wolle »in der Sprache der Kinder« schreiben –, dies alles kam den Erwartungen seiner jungen Leserschaft entgegen u. vermochte trotz der langen lehrhaften Exkurse ein Jahrhundert lang zu gefallen. Zu den bekanntesten Titeln gehören Die Ostereier (Landshut 1816), Wie Heinrich von Eichenfels zur Erkenntnis Gottes kam (ebd. 1817), Der Weihnachtsabend (ebd. 1825), Rosa von Tannenburg (Augsb. 1823) u. Lehrreiche kleine Erzählungen für Kinder (Mchn. 1824–27). Einige seiner Erzählungen wurden dramatisiert u. wiederholt von Liebhaberbühnen aufgeführt (Endorf, Kiefersfelden). Von seinen Gedichten u. Liedtexten, z.T. erschienen in Blüthen dem blühenden Alter gewidmet (Landshut 1819), sind die bekanntesten Ihr Kinderlein kommet, Beim letzten Abendmahle u. Wie lieblich schallt durch Busch und Wald des Waldhorns süßer Klang; das zweite Lied der Sammlung trägt den Titel Gott macht alles wohl, ein Gedanke, der allen Geschichten S.s zugrunde liegt. Man hat S. dem Biedermeier zugerechnet, doch ist der Einfluss der Aufklärung (Sailer) wie der Romantik (Stoffe aus dem MA, Volksbuch, Element der Rührung) unübersehbar. Die Erzählungen u. viele seiner Gedichte haben ein pädagog. Anliegen, sind eine Art Exempelkatechese, nicht selten zum Nachteil der literar. Qualität. Dennoch zollten ihm Zeitgenossen wie Brentano, Ludwig I., Rückert, Schelling, Stifter u. Wessenberg Anerkennung. Aufmerksamkeit verdienen, nicht nur wegen ihres kulturhistor. Werts, die noch erhaltenen Briefe S.s u. seine Erinnerungen aus meinem Leben (4 Bde., Augsb. 1853–57), deren Kern eine Würdigung Sailers bildet. Weitere Werke: Eustachius. Eine Gesch. der christl. Vorzeit. Augsb. 1828. – Der gute Fridolin u. der böse Dietrich. Ebd. 1830. – Kleine Schauspiele für Familienkreise. Ebd. 1833. – Originalausg. v. letzter Hand. 24 Bde., ebd. 1841–46. Mchn. 1858–61. – Erinnerungen u. Briefe. Hg. Hans Pörnbacher. Mchn. 1968. Literatur: Joseph Bernhart: C. v. S. In: Lebensbilder aus dem Bayer. Schwaben. Bd. 5. Hg. Götz Frhr. v. Pölnitz. Mchn. 1956, S. 307–343. – Hans Pörnbacher (Hg.): C. v. S. u. seine Zeit. Weißenhorn 1968 (mit Bibliogr.). – Sengle 2. – Alfred
439 Clemens Baumgärtner: C. v. S. Grund u. Hintergrund seines Werks. In: Ders. (Hg.): Ansätze histor. Kinder- u. Jugendbuchforsch. Baltmannsweiler 1980, S. 57–80. – Uto J. Maier: C. v. S. Katechese zwischen Aufklärung u. Biedermeier [...]. St. Ottilien 1991. – Hans Albrecht Oehler: C. v. S. in Oberstadion. Marbach/N. 1999. – Ursula Creutz: C. v. S. 1768–1854. Leben, Werk u. Zeitgenossen. Weißenhorn 2004 (mit Werkverz., S. 327–333). – Hans Pörnbacher: ›So ward Thannhausen Deines Ruhmes Wiege‹. Die Anfänge von C. S.s schriftsteller. Tätigkeit. In: Bayerische Geschichte. Landesgeschichte in Bayern. FS Alois Schmid. Hg. Konrad Ackermann u. Hermann Rumschöttel. Tl. 2, Mchn. 2005, S. 1041–1058. – Klaus Dieter Füller: Erfolgreiche Kinderbuchautoren des Biedermeier. Ffm. u. a. 2006, S. 25–60. – Uto Meier: C. v. S. In: NDB. Hans Pörnbacher / Red.
Schmid, Ferdinand ! Dranmor Schmid, Hermann von (seit 1876), * 30.3. 1815 Waizenkirchen/Innviertel, † 19.10. 1880 München. – Romancier, Erzähler.
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Erzählungen aus dem bayerischen Hochland (Das Schwalberl. Mchn. 1861. Almenrausch und Edelweiß. Lpz. 1864). Sie erschienen meist nach dem Zeitschriftenabdruck überarbeitet in Buchform u. haben auf die Heimatkunstbewegung gewirkt (Ganghofer), aber auch das Bayernklischee wesentlich mitgeprägt. S. hat sie teilweise als Volksstücke dramatisiert (Der Tatzelwurm. Stgt. 1873. Die Z’widerwurz’n. Lpz. 1878), daneben aber auch Zauberstücke (Vineta oder Die versunkene Stadt. Stgt. 1875), Festspiele, Operntexte u. Trauerspiele (Columbus. Lpz. 1875) verfasst. Weitere Werke: Dramat. Schr.en. 2 Bde., Lpz. 1853. – Alte u. Neue Gesch.n aus Bayern. Mchn. 1861. – Der Kanzler in Tirol. 3 Bde., Mchn. 1862. – Friedel u. Oswald. 3 Bde., Lpz. 1866. – Ges. Schr.en. 32 Bde., Lpz. 1867–74. N. F. 18 Bde., 1882–84. – Mütze u. Krone. 5 Bde., Lpz. 1869. – Aus dt. Bergen (zus. mit Karl Stieler). Stgt. 1872. Literatur: Hyacinth Holland: H. v. S. In: ADB. – Ingrun Klagges: Die geschichtl. Romane H. v. S.s. Diss. Würzb. 1944. Reinhard Wittmann
Der Sohn eines Juristen studierte nach GymSchmid, Karl (Georg), * 31.3.1907 Zürich, nasialjahren in Straubing u. Amberg seit † 14.8.1974 Zürich. – Germanist, Essayist. 1835 in München die Rechte u. promovierte 1840. Wegen zweier Jugenddramen (Camoens Nach dem Germanistikstudium in Zürich u. u. Bratislav. Beide 1843) von König Ludwig I. Berlin promovierte S. 1935 mit einer Arbeit von Bayern protegiert, erhielt er 1843 eine über Schiller zum Dr. phil. 1938–1947 war er Stelle am Münchner Stadtgericht u. wirkte Lehrer am Zürcher Gymnasium u. ab 1943 zgl. als dramaturgischer Beirat am Hofthea- Professor für dt. Literatur u. Sprache an der ter. Als Anhänger von Ronges »Deutschem Eidgenössischen TH Zürich, der er Christentum« 1850 entlassen, war S. als An- 1953–1957 als Rektor vorstand. In dieser walt tätig, v. a. aber als ungemein produktiver Position wuchs S. in die Rolle einer weithin Theaterautor u. Mitarbeiter von Familien- respektierten staatspolit. Instanz hinein u. blättern (u. a. »Gartenlaube« u. »Heimgar- erlangte damit nicht zuletzt auch eine lange ten«), schließlich 1870–1872 u. erneut 1877 mit Bravour ausgeübte Mittlerfunktion zwials Direktor des Volks- u. Aktientheaters am schen Staat u. Literatur. Diese Stellung wurde Gärtnerplatz, wo seine Stücke große Erfolge jedoch um so schwieriger, je weiter die Zeit erzielten. König Ludwig II., der S. auch als der »geistigen Landesverteidigung« zurückHofdichter für seine Separatvorstellungen lag u. je stärker sich auch in der Schweiz eine schätzte, verlieh ihm den persönl. Adel. Literatur Gehör verschaffte, die sich dem Zu den beliebtesten Unterhaltungsautoren bürgerl. Staat verweigerte u. jede nationale der Gründerzeit zählte S. mit umfängl. his- Zuordnung als Einengung ablehnte – eine tor. Romanen, meist aus der bayerischen Ge- Haltung, die der überzeugte Verfechter der schichte des 18. Jh. (Mein Eden. Mchn. 1862. »Willensnation Schweiz« u. ranghohe OffiIm Morgenroth. 2 Bde., Lpz. 1864. Die Türken in zier der Schweizer Milizarmee zwar diaMünchen. 2 Bde., Lpz. 1872. Concordia. 5 Bde., gnostizieren, nicht aber nachvollziehen Lpz. 1874), mehr noch mit einer Vielzahl von konnte. Charakteristisch dafür ist sein Esfolkloristisch-ethnografischen Romanen u. sayband Unbehagen im Kleinstaat. Untersuchun-
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gen über Conrad Ferdinand Meyer, Henri-Fre´de´ric Zürich 1997. – Nicole Rosenberger: K. S. In: IGL. – Amiel, Jakob Schaffner, Max Frisch, Jakob Burck- Das Unbehagen im Kleinstaat Schweiz. Der Gerhardt (Zürich/Stgt. 1963. 3., komm. Aufl. manist u. polit. Denker K. S. (1907–1974). Hg. Zürich/Mchn. 1977), der bei aller Differen- Bruno Meier. Zürich 2007. Charles Linsmayer ziertheit der Argumentation die Gründe für das schwierige Verhältnis zwischen der Schweiz u. ihren Schriftstellern letztlich eben Schmid, Konrad Arnold, * 23.2.1716 Lüdoch einseitig bei diesen selbst sucht u. fin- neburg, † 16.11.1789 Braunschweig. – det. Frisch, der sich zunächst geschmeichelt Philologe, evangelischer Theologe, Überfühlte, distanzierte sich in der Folge immer setzer, Lyriker. deutlicher von S.s Befund u. wies ihn in der Schiller-Preisrede vom 14.1.1974 zuletzt ve- Das Studium der Theologie u. Philologie in hement zurück: »So gefällig sie auch ist, die Kiel, Göttingen u. Leipzig schloss S. 1737 mit These, Unbehagen an der heutigen Schweiz dem philosophischen Doktorgrad ab. 1746 können nur Psychopathen haben, sie beweist übernahm er die Stelle seines Vaters als Reknoch nicht die gesellschaftliche Gesundheit tor an der Johannisschule in Lüneburg, 1760 folgte er dem Ruf auf einen Lehrstuhl für der Schweiz.« Seit 1992 führt die K.-S.-Stiftung Tagun- Theologie u. Römische Literatur ans Collegigen zu sicherheitspolit. u. militärhistor. um Carolinum in Braunschweig. 1777 erhielt Themen durch. Seit 2000 wird der Karl- er dort das Kanonikat des St. Cyriakusstifts, Schmid-Preis für herausragende Beiträge 1786 den Titel eines Konsistorialrats. Seit der zum Verständnis grundlegender Fragen in Leipziger Studienzeit u. erneut in BraunLiteratur, Geschichte u. Gegenwart verliehen. schweig stand er in engem Kontakt mit den Weitere Werke: Der Soldat u. der Tod. Zürich Bremer Beiträgern, v. a. mit Carl Christian 1942. – Aufsätze u. Reden. Ebd. 1957. – Europa Gärtner. Familiäre Beziehungen ergaben sich zwischen Ideologie u. Verwirklichung. Ebd. 1966. – zu Eschenburg, der seit 1777 mit S.s Tochter Zeitspuren. Aufsätze u. Reden 2. Ebd. 1967. – Marie Dorothea verheiratet war. Schwierigkeiten mit der Kunst. Ebd. 1969. – S.s Publikationen stehen im Zeichen aufStandortmeldungen. Ebd. 1973. – Fortschritt u. klärerischer Bildungstradition. Besonders Dauer. Aufsätze u. Reden 3. Ebd. 1975. – Das Ge- widmete er sich der Herausgabe u. Übersetnaue u. das Mächtige. Aufsätze u. Reden 4. Ebd. zung antiker Autoren mit dem Anspruch, 1977. – Europa zwischen Ideologie u. Verwirklideren gedankl. Schärfe u. sprachl. Prägnanz chung. Psychologische Aspekte der europ. Integration. Nachgelassene Schr.en 1. Stäfa 1990. – Die philologisch genau zu erfassen. Er überarSchweiz zwischen Tradition u. Zukunft. Anspra- beitete u. erweiterte die Arrian-Übersetzung chen u. Aufsätze aus 25 Jahren. Nachgelassene seines Schwiegervaters Georg Raphel von Schr.en 2. Stäfa 1991. – Geblüt, Herrschaft, Ge- 1710 (Arrians Indische Merkwürdigkeiten [...]. schlechterbewusstsein. Grundfragen zum Ver- Braunschw./Wolfenb. 1764), gab eine zweiständnis des Adels im MA. Aus dem Nachl. hg. u. sprachige Ausgabe des Aetna des Cornelius eingel. v. Dieter Mertens u. Thomas Zotz. Sigma- Severus heraus (Braunschw. 1769) u. veröfringen 1998. – Ges. Briefe (1918–1974). Hg. Sylvia fentlichte u. übersetzte die Erklärungen der Rüdin. 2 Bde., Zürich [2000]. Gemüthsbewegungen (Lüneb. 1751) eines anAusgaben: Ges. Schr.en in 6 Bdn. Zürich/Mchn. onymen griech. Autors (Andronicus Rhodi1977. – Werkausg. in Einzelbdn. Stäfa/Schaffh. us). Nach der Entdeckung eines Briefs des 1990 ff. – Ges. Werke in 6 Bdn. Hg. im Auftrag der Bischofs Adelmann an den Häretiker BerenKarl-Schmid-Stiftung v. Thomas Sprecher u. Judith gar in der Wolfenbütteler Bibliothek (AdelNiederberger. Zürich 1998. manni Brixiae episcopi de veritate corporis et sanLiteratur: Peter v. Matt, Hermann Burger u. a.: guinis domini ad Berengarium epistola [...]. Lit. vermitteln. Erinnerungen an K. S. In: NZZ, 14./ 15.6.1975. – Elsie Attenhofer: Réserve du Patron. Braunschw. 1770) setzte ein reger Austausch Im Gespräch mit S. Stäfa 1989. – Kurt-R. Spillmann mit Lessing ein, der seinen Berengarius Tuu. Hans Künzi (Hg.): K. S. als strateg. Denker. Be- ronenis (1770) als Folge von Briefen an S. geurteilungen aus histor. u. aktueller Perspektive. staltete.
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Seine erst als Gelegenheitsgedichte konzipierten Kantilenen gab S. unter dem Titel Lieder auf die Geburth des Erlösers (Lüneb. 1761) heraus. Zehn der 15 Lieder umfassenden Sammlung sind geistl. Inhalts, fünf behandeln die aktuelle Situation des Siebenjährigen Kriegs. Lateinische Paraphrasen ergänzen die Texte. Weitere Werke: Gedichte an die Kunstrichter. In: Beyträge zur crit. Historie der dt. Sprache, Poesie u. Beredsamkeit. Bd. 8 (1743), St. 30, S. 323–26. – Silen, nach der sechsten Ekloge Virgils. In: Neue Beyträge zum Vergnügen des Verstandes u. Witzes. Bd. 1 (1744), St. 3, S. 253–57. – Des hl. Blasius Jugendgesch. u. Visionen [...]. In: Dt. Museum. Bd. 2 (1784), St. 8, S. 97–136 (auch: Bln./ Stettin 1786). Literatur: Bibliografien: Meyen 1962, S. 165–172 (Werkverz.). – Schmidt, Quellenlexikon, Bd. 28, S. 75 f. – Weitere Titel: Paul Zimmermann: K. A. S. In: ADB. – Fritz Meyen: K. A. S. (1716–1789), Professor am Collegium Carolinum zu Braunschweig. Ein Freund u. Mitarbeiter Lessings. In: Aus der Welt des Bibliothekars. FS Rudolf Juchhoff. Hg. Kurt Ohly u. a. Köln 1961, S. 333–354 (auch Sonderdr. Köln 1961. Internet-Ed.: UB Braunschweig). – Ders.: Bremer Beiträger am Collegium Carolinum in Braunschweig [...]. Braunschw. 1962. Internet-Ed.: UB Braunschweig. – Annett Lütteken: K. A. S. In: Braunschweigisches Biogr. Lexikon 8. bis 18. Jh. Hg. Horst-Rüdiger Jarck u. a. Braunschw. 2006, S. 621 f. Dominica Volkert / Red.
unterbringen. 1808–1819 diente S. wieder als Leutnant in einem österr. Regiment. Danach lebte er in Ungarn u. in Wien. S. gehörte zum Freundeskreis um Hölderlin, den er 1797 kennenlernte. Seine ersten Gedichte erschienen 1798 in Schillers »Musenalmanach«. Für Schiller, der anfangs den »Halbwilden« protegierte, u. Goethe, der S. in einem Brief an Schiller vom 9.8.1797 als patholog. Figur porträtierte, waren Hölderlin u. S. Beispiele für eine junge, »überspannte«, daher hochgefährdete Dichtergeneration. S.s Werke verraten ihre Abhängigkeit von den literar. Mustern der Zeit. Von seinem Schauspiel Die Heroine, oder Vatersinn und Heldenstärke (Ffm. 1801) schrieb Hölderlin eine bedeutende (damals ungedruckte) Rezension. Viele Manuskripte S.s sind verschollen. Weitere Werke: Phantasien. Erlangen 1802 (darin auch der Briefroman: Lothar oder Liebe löst den Widerstreit). – Dramat. Werke. 2 Bde., Lpz. 1842/43. Literatur: Christian Waas: S. S. [...], der Freund Hölderlins. Darmst. 1928. – Michael Franz u. Heinz Menzner: S. S.s philosoph. Definitionen. In: Le pauvre Holterling 6 (1983), S. 54–67. – Johannes Weber: Goethe u. die Jungen. Tüb. 1989. – Herfried Münkler: Prätendierte Genialität in kleinstädt. Enge: der Friedberger Dichter S. S., ein Freund Friedrich Hölderlins. In: Die Wetterau 1990, S. 373–389. – Elisabeth Lebensaft: S. S. In: ÖBL. – Ursula Brauer: S. S. In: Bautz, Bd. 27 (2007), Sp. 1342–1347. Gerhard Kurz / Red.
Schmid, Schmidt, (Philipp) Siegfried, * 16.12.1774 Friedberg, † 10.4.1859 Schmid Noerr, Friedrich Alfred, * 30.7. Wien. – Dramatiker, Lyriker, Romancier. 1877 Durlach (heute zu Karlsruhe), † 12.6. 1969 Percha (heute zu Starnberg). – DraEiner Honoratiorenfamilie entstammend, matiker, Erzähler, Essayist. studierte S. 1792–1795 in Gießen u. Jena Theologie, Philosophie u. Jurisprudenz, u. a. bei Fichte. In Auseinandersetzung mit Fichte entstanden 1794 seine originellen Philosophischen Definitionen. 1797–1800 war er Hofmeister in Basel, dann Kadett in einem österr. Regiment, gegen die »Lumperei des menschlichen Lebens« das »Erhebende des Krieges« suchend. Nachdem sich Pläne für eine Professur in Gießen zerschlagen hatten, lebte S. – wieder als Hofmeister – in Erlangen. Nach einem psych. Zusammenbruch ließ ihn der Vater inhaftieren, entmündigen u. schließlich im Hospital in Haina (1805/1806)
S., Sohn eines Landwirtschaftslehrers, fügte den Mädchennamen seiner Mutter später seinem Namen hinzu. In Heidelberg, Freiburg i. Br., Straßburg u. Berlin studierte er u. a. Germanistik, Philosophie, Jurisprudenz u. Naturwissenschaften. 1904 in Freiburg i. Br. promoviert, habilitierte er sich 1906 in Heidelberg für Philosophie u. Ästhetik; ab 1918 war er ausschließlich literarisch tätig. S.s erste Erzählung, Der Stein des Anstoßes, erschien 1904 in der Zeitschrift »Hochland«. 1916 wurde in Mannheim die Tragikomödie Die Gefangenen (Bln. 1908) aufgeführt, deren
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Stoff dem Buch der Makkabäer entnommen ist. Der Barbarenkönig u. der zwar geistig überlegene, aber irdisch besiegte Hohepriester tragen den Kampf zwischen weltl. u. geistl. Herrschaftsanspruch aus. Nach einem religiös geprägten Gedichtband, Straßen und Horizonte (Lpz. 1917), geriet S. immer mehr in den Bann des Mythischen u. des Märchens, v. a. in den umfangreichen Romanen Frau Perchtas Auszug (Bln./Lpz. 1928) u. Unserer guten Frauen Einzug (Lpz. 1936), in denen er die german. Tier-, Menschen- u. Götterwelt in Symbolen u. Bildern zeigt u. dem Christentum gegenüberstellt. Drei Märchen vereinigt der Band Der Drache über der Welt (Weimar 1932): Die drei Küsse des Sebaldus, Drachenzahnweh u. Zwiewelewick, barock verschnörkelte, groteske u. humorvolle Erzählungen, die auf Volksüberlieferungen zurückgreifen. Weitere Werke: Ecce homo. Lpz. 1918. – Wie St. Antonii Altar zu Isenheim durch Meister Matthis Grünewald errichtet ward. Lpz. 1921. – Das Leuchterweibchen. Eine Dürernovelle. Bln.-Grunewald 1928. – Dämonen, Götter u. Gewissen. Bln. 1938. – Das Licht der Gefangenen. Myth. E.en. Mchn./Lpz. 1947. – Der Mystiker. Wesensbeschreibung eines menschl. Urbildes. Mchn.-Pasing 1967. – Perchta u. Karl. Ein myth. Liebeskrimi vom Starnberger See. Hg. Ingrid Zimmermann. Pöcking 2002. Literatur: M. König: F. A. S. N. In: Die schöne Lit. 31 (1930), S. 69–77. – Rosa Maria Pauer: Die myth. Romane v. F. A. S. N. Diss. Wien 1944. – Wilhelm Zentner: Zum Tode v. F. A. S. N. In: Ruperto Carola 21 (1969), Bd. 47, S. 57–61. – Elfriede Horn: Weltweiser u. Gelehrter. F. A. S. N. In: Dies.: Geehrt – geliebt – vergessen? Begegnungen mit 38 Dichtern. Melsungen 1985, S. 143–146. – Bettina Stummeyer: Wie ein rätselhaftes Fabelwesen. Der Schriftsteller u. Mystiker F. A. S. N. Mchn. 2002. Franz Rottensteiner / Red.
Schmidl, Schmi(e)del, Schmidt, Ulrich, auch: Ulricus Faber, * zwischen 1500 u. 1510 Straubing, † zwischen 1579 u. 1581 Regensburg. – Landsknecht; Autor eines Reiseberichts. Aus einer begüterten Straubinger Patrizierfamilie stammend, ließ sich S. 1534 für eine span. Expedition in das Gebiet des La Plata-
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Stroms als Landsknecht anwerben. Auf 14 Schiffen erreichten die 2500 Spanier u. ungefähr 150 Deutschen u. Niederländer 1536 ihr Ziel. Während seines 19-jährigen Aufenthalts beteiligte sich S. an verschiedenen Eroberungszügen ins Landesinnere, erlebte die schwierigen Anfänge von Buenos Aires sowie die Gründung Asuncións. Einem Ruf seines Halbbruders Thomas folgend, kehrte S. nach einem Marsch quer durch Südamerika u. einer strapaziösen Seereise 1554 nach Straubing zurück. 1562 war er infolge seines Übertritts zum Protestantismus gezwungen, nach Regensburg umzusiedeln. Kurz nach seiner Rückkehr schrieb S. einen Bericht über seine Erlebnisse in Südamerika (Erstdr. 1567 in der Sammlung Neuwe Welt), der heute als früheste Quelle zur Geschichte Argentiniens u. benachbarter Gebiete v. a. für Historiker u. Ethnologen bedeutsam ist. Die Zeitgenossen schätzten hingegen bes. den Unterhaltungswert dieses im 16. u. 17. Jh. mehrfach aufgelegten Reiseberichts. Übersetzungen ins Lateinische (1599), Spanische, Französische, Englische u. Niederländische machten S.s Werk international bekannt. Ausgaben: Warhafftige u. liebliche Beschreibung etlicher fürnemen indianischen Landschafften u. Insulen [...]. In: Neuwe Welt: Das ist, Warhafftige Beschreibunge aller schönen Historien von erfindung viler unbekanten Königreichen, Landschafften, Jnsulen u. Stedten [...]. Ffm.: Sigmund Feyerabend 1567. – Vierte Schiffart. Warhafftige Historien einer wunderbaren Schiffahrt [...]. Hg. Levinus Hulsius. Nürnb. 1599. 21602. Nachdr. mit Einl. v. Hans Plischke. Graz 1962. – U. S.s Reise nach Süd-Amerika in den Jahren 1534 bis 1554. Nach der Münchener Hs. hg. v. Valentin Langmantel. Tüb. 1889. – Dass. Nach der Stuttgarter Hs. hg. v. Johannes Mondschein. Straubing 1893. – Die Reisebeschreibung U. S.s nach der Hamburger Hs. hg. v. Werner Friedrich. In: Jahresber. des Histor. Vereins für Straubing u. Umgebung 103 (2001 [2003]), S. 119–212. – Reise in die La Plata-Gegend (1534–1554) / Viaje al Río de la Plata y Paraguay. Krit. Ausg. Hg. Franz Obermeier. Kiel 2008. – Reise in die La Plata-Gegend 1534–1554. Das Stuttgarter Autograph in moderner Fassung. Bearb. u. Komm. v. F. Obermeier. Straubing. 2008. Literatur: Bibliografien: VD 16. – VD 17. – Weitere Titel: J. Mondschein: U. S. In: ADB. – Paul Adolf
443 Robert Lehmann-Nitsche: U. S., der erste Geschichtsschreiber der La Plata-Länder. Buenos Aires 1909. Mchn. 21912. – Marion Lois Huffines: The original manuscript of U. S. In: The Americas 34 (1977), S. 202–206. – Wolfgang Neuber: Fremde Welt im europ. Horizont. Zur Topik der dt. Amerika-Reiseberichte der frühen Neuzeit. Bln. 1991. – Albrecht Classen: U. S. in the Brazilian jungle. A sixteenth-century travel account. In: Archiv 230 (1993), S. 241–260. – Bernhard Jahn: Raumkonzepte in der frühen Neuzeit. Zur Konstruktion v. Wirklichkeit in Pilgerberichten, Amerikareisebeschreibungen u. Prosaerzählungen. Ffm. 1993. – Annerose Menninger: Die Macht der Augenzeugen. Neue Welt u. Kannibalen-Mythos, 1492–1600. Stgt. 1995. – Georg Bremer: Unter Kannibalen. Die unerhörten Abenteuer der dt. Konquistadoren Hans Staden u. U. S. Zürich 1996. – Carlo Ross: Abenteurer u. Rebell. U. S. u. die Entdeckung Lateinamerikas. Regensb. 1996 (Romanbiogr.). – F. Obermeier: Die Rezeptionsgesch. v. U. S.s ›Wahrhaftige Beschreibung‹ von 1567 bis heute. In: Jahresber. des Histor. Vereins für Straubing u. Umgebung 103 (2001 [2003]), S. 213–255 (mit. Lit.). – Alvaro Félix Bolaños: The requirements of a memoir: U. S.’s account of the conquest of the River Plate (1536–54). In: Colonial Latin American Review 11 (2002), S. 231–250. – Ulises Muschietti: La crónica de Ulrico S., el relato de un lansquenete. In: Cuadernos Hispanoamericanos 673/674 (2006), S. 155–167. – Mark Häberlein: U. S. In: NDB (Lit.). – Eva-Maria Siegel: Topographie des Krieges in der Frühen Neuzeit. U. S.s ›Reise nach Südamerika‹. In: Germanistik im Konflikt der Kulturen. Bd. 9: Divergente Kulturräume in der Lit. [...]. Hg. JeanMarie Valentin u. a. Bern 2007, S. 287–295. Iris Gareis / Red.
Schmidli, Werner, * 30.9.1939 Basel, † 14.11.2005 Basel. – Romancier, Hörspielautor. S. entstammte einer Chemiearbeiterfamilie u. machte nach der Schule eine Ausbildung zum Chemielaboranten. Von 1960 bis 1962 unternahm er eine Weltreise u. war längere Zeit Industriearbeiter in Melbourne. Zurück in der Schweiz, lebte S. erst im Aargau, seit 1967 wieder in Basel, u. begann zu schreiben. Mit Christoph Geiser gab er 1968–1978 die Zeitschrift »drehpunkt« heraus, die in die etwas biedere Schweizer Literatur progressiv-experimentelle u. sozialkrit. Schreibweisen einbrachte.
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S. debütierte noch zuvor mit dem Erzählband Der Junge und die toten Fische (1966), der wie die folgenden zusammengehörigen Romane Meinetwegen soll es doch schneien (1967) u. Das Schattenhaus (1969, alle: Zürich/Einsiedeln/Köln) auf autobiogr. Grundlage eine dokumentarische Darstellung des Kleinbasler Arbeitermilieus liefert. Der jugendl. Protagonist ist einer Rollenerwartung u. sozialen Disziplinierung unterworfen, gegen die er mit Ausbruchsversuchen u. Introversion rebelliert. S. entwickelte für die Schilderung der Monotonie der Arbeitswelt eine gleichsam entleerte Sprache, deren Austauschbarkeit er in seinen, teils in Basler Mundart abgefassten Hörspielen in Reinform vorführte. Der Roman Fundplätze (Zürich/Köln 1974. Bln./DDR 1975) ist S.s erzählerisch ambitioniertestes Werk. Der Ich-Erzähler findet auf einer Mülldeponie einen Koffer mit Lebenszeugnissen eines Wolfgang Schuck, dessen Spur er aufnimmt. Je zäher er der Existenz Schucks nachforscht, desto widersprüchlicher wird das entstehende Bild. Die sich ergebende irritierende Offenheit lässt sich als Falsifikation der dokumentarischen Schreibart deuten, da trotz scheinbar günstiger Voraussetzungen zur Anwendung dieser Methode das wirkl. Leben des Wolfgang Schuck hinter den nackten Daten verschwindet. In dem Erzählband Gustavs Untaten (Zürich/Köln 1976) nimmt S. die Ausgrenzung von körperlich Benachteiligten durch die Normalen aufs Korn. Das entrüstete Gespräch über die Perversität von Frauen, die mit einem Einbeinigen schlafen, entlarvt in der Erzählung Trachsels Kundschaft das pervertierte Denken der Gesunden. Nach Gustavs Untaten tritt das gesellschaftskrit. Element in S.s Schreiben zurück. Der Roman Zellers Geflecht (Zürich/Köln 1979) ist das Dokument einer Schreib- u. Ehekrise, dessen Qualität in dem Versuch besteht, die Krisenerfahrungen des Ich-Erzählers in ein Geflecht von Traumsequenzen zu übersetzen. Die folgenden Romane Ganz gewöhnliche Tage (Zürich/Köln 1981) u. Warum werden Bäume im Alter schön (Zürich/Köln 1984) erschöpfen sich in der Larmoyanz über verloren gegangene Empfindungsfähigkeit u. das Gefühl der Leere. Einen Neuansatz seines
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Schreibens fand S. durch die Erfindung der Figur Gunten, einen gallenkranken Pensionär, der sich als Privatdetektiv betätigt. Mit dem ersten Gunten-Roman Der Mann am See (1985), dem noch Guntens stolzer Fall (1989), Der Mann aus Amsterdam (1993, alle: Zürich/ Frauenfeld) u. Teufel und Beelzebub (Muri 2002) folgten, erschloss sich S. die Gattung des Kriminalromans, in der er in seinem Spätwerk am ehesten überzeugen konnte. S. erhielt u. a. den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung (1968) u. den Literaturpreis der Stadt Basel (1985). Weitere Werke: ›Einen schöpferischen Beruf ausüben, um der Umwelt mit einer eigenständigen Antwort zu begegnen.‹ Interview. In: Schweizer Schriftsteller im Gespräch. Bd. 1. Hg. Werner Bucher u. Georges Ammann. Basel 1970, S. 169–198. – Der alte Mann, das Bier, die Uhr u. andere Gesch.n. Bern 1968. – Margot’s Leiden. Basel 1970 (E.). – Sagen Sie nicht: beim Geld hört der Spaß auf. Zürich, Köln 1971 (Pr.). – Mir hört keiner zu. Basel 1971 (Dr.). – Die Freiheiten eines Reisenden. Basel 1980 (E.). – Hasenfratz. Zürich/Frauenfeld 1987 (R.). – Von Sommer zu Sommer in meiner Nähe. Zürich 1990. – Kythera oder Das blaue Zimmer. Zürich/Frauenfeld 1991 (R.). – Der Seidenrosenbaum. Ebd. 1996 (R.). – Schlitzohr. Ebd. 1997 (Kriminal-R.). – Schabernack. Kriminalgesch.n. Muri 2001. – Bergfest. Muri 2004 (Kriminal-R.). – Oswalds Kater. Muri 2005. – Hörspiele (alle Radio DRS): Gespräch um nichts, 7.9.1964. – Redensarten, 3.2.1969. – Von Mensch zu Mensch, 3.1.1972. – Mir müend halt au luege, 22.1.1981. – Was me het, het me, 15.9.1983. Literatur: Christoph Geiser: Die Wirklichkeit als Mosaik. In: drehpunkt 6 (1974), Nr. 23, S. 35–43. – Herbert M. Waidson: W. S. Precision and Concern. In: Erfahrung u. Überlieferung. FS C. P. Magill. Hg. Hinrich Siefken. Cardiff 1974, S. 197–205. – Jürgen Egyptien: W. S. In: KLG. Jürgen Egyptien
Schmidt, Alfred Paul, eigentl.: A. Schmidt, * 31.3.1941 Wien. – Erzähler, Dramatiker, Verfasser von Hörspielen u. Fernsehdrehbüchern. S. wuchs bei verschiedenen Zieheltern in dörfl. Umgebung auf. 1957 verließ er das Gymnasium, brach später eine Ausbildung zum Agraringenieur ab u. legte 1967 in Graz die Matura ab. Er studierte für kurze Zeit am
Grazer Konversatorium Baßgeige; ein anschließendes Studium der Soziologie u. Pädagogik in Wien u. Göteborg brach er nach kurzer Zeit ab. S., Mitgl. der Grazer Autorenversammlung, arbeitet seit 1974 als freier Schriftsteller. Über 22 Jahre veröffentlichte er wöchentl. Aphorismen »Zur Lage« in der »Kleinen Zeitung«. In bester jagt spengler (Ffm. 1971), der ersten Publikation S.s, ist »die darstellung ein bestandteil des dargestellten selbst«. In assoziativ-manieristischem Stil (in Anlehnung an die Improvisationen des Free Jazz) verzichtet S. auf einen linearen Erzählverlauf. Auch für die nachfolgenden Werke kennzeichnend sind Parodie u. humoristische Verkehrung, die bis zur Selbstaufhebung reichen. In den 1970er Jahren folgte S. der Entwicklung der Grazer Gruppe: Die experimentellen Erzählperspektiven werden zugunsten von traditionelleren aufgegeben. Charakteristisch bleiben aber Protagonisten, die witzig oder gewitzt auf die Integrität ihrer Autonomie vertrauen. Der autobiografisch gefärbte Entwicklungsroman Der Sonntagsvogel (Salzb./ Wien 1982. Ffm. 1985) entwickelt daneben eine Kritik an bürgerl. Figuren. Deren Hilflosigkeit zeigt S. an ihrem am Bürokratendeutsch eingeübten subjektlosen Sprechen, freilich ohne moralisch selbstgefällig zu sein. S.s Interesse an psychologisch genauen Figurenzeichnungen führte ihn zu Beginn der 1980er Jahre über Theaterstücke u. Hörspiele zum Kriminalroman. Seit den 1980er Jahren schreibt er Drehbücher für Fernsehkrimiserien (»Tatort«, »Peter Strohm«, »Eurocops«, »Stockinger«, »Soko Kitzbühel«). In Das andere Gestern (Graz 2010) greift S. wieder verstärkt auf experimentelle Schreibanlässe zurück: Der »Gesprächsroman« besteht ohne kommentierende Einmischung eines Erzählers aus Schilderungen u. Dialogen, welche die Tradition aphoristischen Sprechens aufrufen. S. erhielt 1992 den Literaturpreis des Landes Steiermark, 1992 u. 2002 den Fernsehpreis der österreichischen Volksbildung für das Drehbuch zur Verfilmung des Romans Die Wasserfälle von Slunj von Heimito von Doderer.
445 Weitere Werke: Als die Sprache noch stumm war. Wien 1974 (P.). – Das Kommen des Johnnie Ray. Wien 1976 (R.). – Geschäfte mit Charlie. Wien/ Mchn./Zürich 1977 (E.en). – Mit beiden Füßen in der Luft. Stgt./Salzb./Zürich 1977 (R.). – Fünf Finger im Wind. Wien/Mchn./Zürich 1978 (R.). – Doppelte Totgeburt. Wien 1982 (R.). – Der wüste Atem. Wien/Bln. 1984 (Kriminalr.). – Just a Gigolo. Klagenf. 1989 (E.en). – Vor dem zweiten Satz. Graz/ Wien/Köln 1992 (R.). – Hinter der Haut lauert der Tod. Ein seismograph. Kriminalroman. Wien/Ffm. 1993. – Beograd-Poker. Wien 1994. (Kriminalr.). – Hiob zweiter Klasse. Wien 1995 (R.). – In der Stille der Nacht. Wien 1995 (P.). – Eine leichte Brise. Wien 1999 (Kriminalr.). – Die Spur der Sonne. Ein Hund als Denker u. Detektiv. Graz 2008 (Kriminalr.). Literatur: Reinhard Urbach: Verstand im Blut. Über A. P. S. In: Wie die Grazer auszogen, die Lit. zu erobern. Hg. Peter Laemmle u. Jörg Drews. Mchn. 1979, S. 238–244. – Melitta Becker: A. P. S. In: KLG. Waldemar Fromm
Schmidt, Arno (Otto), * 18.1.1914 Hamburg, † 3.6.1979 Celle; Grabstätte: Bargfeld, Garten des letzten Wohnhauses. – Erzähler, Essayist, Übersetzer, Biograf. S. wuchs als Sohn eines schles. Polizeioberwachtmeisters zunächst in Hamburg-Hamm u. nach dem Tod des Vaters 1928 in Lauban, der Heimatstadt der Mutter, auf. Dem als eintönig empfundenen Alltag an der Oberrealschule in Görlitz versuchte er durch die intensive Beschäftigung mit der Geschichte, der Literatur u. der Mathematik zu entkommen. Sein Interesse für den Expressionismus stieß bei den Lehrern auf Abwehr u. Unverständnis. Mit den ersten Gedichten reifte in ihm der Wunsch, Schriftsteller zu werden. Zunächst absolvierte S. jedoch eine kaufmänn. Lehre (1934–1937) u. arbeitete anschließend als Lagerbuchhalter in den GreiffWerken, einer Fabrik für Berufsbekleidung. 1937 heiratete er seine Kollegin Alice Murawski. In der Freizeit entstandene Erzählungen, die erst nach S.s Tod veröffentlicht wurden, zeigen bei aller Epigonalität Motive, die konstitutiv für seine spätere Prosa werden sollten. So handelt die 1937 entstandene Erzählung Die Insel (BA I/4) vom Rückzug des Geistesmenschen in einen utop.
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Wunschraum, der ihm die Bewahrung des kulturellen Erbes ermöglicht. Erkennbar ist zudem der Einfluss der Lektüre von Schnabels Insel Felsenburg u. Holbergs Niels Klim. Parallel zu den Erzählungen arbeitete S. an einer sieben- u. zehnstelligen Logarithmentafel. 1940 wurde S. nach Hirschberg zur Artillerie einberufen; 1941 war er in Hagenau im Elsass, 1942–1945 im norweg. Romsdalsfjord stationiert. In dieser Zeit entstanden zunächst die Dichtergespräche im Elysium (BA I/4), fingierte Dialoge zwischen Dichtern, Schriftstellern u. Historikern aus jeweils unterschiedl. Epochen, später die Erzählung Pharos oder von der Macht der Dichter (BA I/4), die sprachlich, erzählerisch u. konzeptionell auf die Erzählungen von Leviathan (Hbg. 1949) voraus weist. Pharos, den S. 1975 in überarbeiteter Form in das Typoskript Abend mit Goldrand montierte, erzählt die Geschichte eines schiffbrüchigen jungen Mannes, der auf eine Insel verschlagen wird, auf der in einem Leuchtturm ein Mann mit ungeheurer Körperkraft u. profunden literaturgeschichtl. Wissen lebt. Zwischen beiden entsteht ein Herr-Knecht-Verhältnis, von dem sich der Schiffbrüchige in einer Suada des Hasses gegen Gott u. den Vater zu befreien sucht. Aus brit. Kriegsgefangenschaft entlassen, wohnte S. in Cordingen u. arbeitete zunächst als Dolmetscher an der Hilfspolizeischule Benefeld, ehe er sich Ende 1946 entschloss, als freier Schriftsteller zu leben. 1949 erschien bei Rowohlt der Erzählband Leviathan. Mehr noch als die beiden im antiken Milieu angesiedelten Erzählungen Enthymesis u. Gadir fand die autobiografisch grundierte Titelerzählung, in der S. Erlebnisse während der Flucht aus Schlesien im Febr. 1945 verarbeitet, die Anerkennung der Literaturkritik. 1951 erhielt S. den Großen Literaturpreis der Akademie der Wissenschaft u. Literatur in Mainz. Leviathan oder Die Beste der Welten steht am Beginn der literarisch-publizistischen Aufarbeitung von Nationalsozialismus u. Zweitem Weltkrieg, an der in den 1950er Jahren u. a. auch Heinrich Böll, Günter Grass u. Alfred Andersch teilhatten: Auf der Flucht in einem Eisenbahnwaggon zeichnet der IchErzähler, ein dt. Soldat, in Form eines Tage-
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buchs Erlebnisse u. Beobachtungen auf. Er entwirft weltanschaul. Profile der Menschen, die mit ihm fliehen, u. mimt zuweilen – ohne jeden Anflug von Selbstkritik – die Rolle des Anklägers. Als der Zug schließlich auf dem Pfeiler einer zerbombten Brücke zum Stehen kommt, wirft er in auswegloser Lage seine Aufzeichnungen von sich u. stürzt sich in die Tiefe. Sein Freitod gerät zu einem Akt der Emanzipation von der Allmacht des Leviathan, einer in der Kontinuität alttestamentl. Vorstellungen dämonisch gedachten, als sozio-polit. Konstruktion insbes. auf Thomas Hobbes rekurrierenden Gewalt, die »außer uns und in uns« existiert u. der zu entrinnen allenfalls in einem vom Autor nicht weiter spezifizierten »Aufstand der Guten« gelingt. Die negative Theodizee, in welcher der Erzähler recht kühn Schopenhauers Willensmetaphysik mit Versatzstücken der Relativitätstheorie verbindet, bestimmt bis ins Spätwerk hinein das Weltbild von S.s literar. Figuren. Da S.s Bücher nur geringen Absatz fanden, sicherten ihm bis Ende der 1960er Jahre Brotarbeiten in Form von Übersetzungen (Edward Bulwer-Lytton, Wilkie Collins, James Fenimoore Cooper, Stanley Ellin, Evan Hunter u. a.) u. Radioessays das finanzielle Auskommen. Alfred Andersch hatte für S. 1952 den Kontakt zum SDR hergestellt, sodass in der Folge literaturgeschichtl. Funkdialoge über Barthold Hinrich Brockes, Christoph Martin Wieland, Karl May, Ludwig Tieck u. a. entstanden. Unter großen Entbehrungen nahm S. Anfang der 1950er Jahre die schon in den 1930er Jahren begonnene Arbeit an einer Biografie des vergessenen romant. Dichters Friedrich de la Motte Fouqué (Darmst. 1958) wieder auf. Seine literar. Produktion blieb davon nicht unberührt. Vor allem Brand’s Haide (Hbg. 1951) zeichnet sich durch ein dichtes Netz intertextueller Bezugnahmen auf das Werk Fouqués aus, vom Zitat über die Anspielung bis hin zur diskursiv-narrativen Analogie. Das literar. Ich ist hier wie auch in dem wenig später veröffentlichten »Kurzroman« Aus dem Leben eines Fauns (Hbg. 1953) vom empirischen des Autors allenfalls graduell unterschieden. Heimgekehrt aus der Kriegsgefangenschaft, be-
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müht es sich um Orientierung in der Gesellschaft der Nachkriegszeit. Zusammen mit Brand’s Haide erschien die Erzählung Schwarze Spiegel, die S. als Anhänger einer geschichtsphilosophischen Deszendenztheorie ausweist: Als vermeintlich einziger Überlebender einer atomaren Katastrophe erkundet der Erzähler, fortwährend seinem Hass auf Politik u. Militär Luft machend, die entvölkerte Landschaft, ehe er auf eine ihm ebenbürtige Frau trifft. Doch die an die Schöpfungsgeschichte gemahnende Konstellation setzt keinen Neubeginn. Kaum scheint das anfängl. Misstrauen überwunden, da verlässt die Frau bei Nacht die gemeinsame Unterkunft u. geht davon. Mit seiner Zeitschrift »Texte und Zeichen« bot Andersch S. ein willkommenes Publikationsforum. Dort erschienen nicht nur die »Berechnungen«, zwei poetolog. Texte, in denen S. sich mit dem Verhältnis von Bewusstseins- u. Prosaformen auseinandersetzt u. eine Abbildung der diskontinuierl. Erfahrung der Wirklichkeit durch die spezif. Anordnung von Prosaelementen postuliert, sondern 1955 auch die Erzählung Seelandschaft mit Pocahontas (1955, H. 1, S. 9–53). Die subtile Art u. Weise, mit der S. darin Sexualität zur Darstellung bringt, führte zu einer Anklage wegen »Gotteslästerung und Pornographie« – für den Autor ein neuerl. Beweis für die von ihm inkriminierte Doppelmoral im Adenauer-Staat. Zwar wurde das Verfahren 1956 eingestellt, doch S.s existenzielle Verunsicherung schwand erst, als Ernst Krawehl ihn in den Stahlberg Verlag holte, wo bis zur Übernahme durch den S. Fischer Verlag seine Bücher aufgelegt wurden. 1956 veröffentlichte S. den virtuosen Roman Das steinerne Herz (Karlsr.), in dem er die Geschichte des Büchersammlers Walter Eggers erzählt, der, um an den Nachlass des hannoverschen Statistikers Curt Heinrich Conrad Friedrich Jansen zu gelangen, eine erot. Liaison mit dessen Enkelin Frieda Thumann beginnt. Da Frieda Thumann Eggers Ansinnen jedoch durchschaut, händigt sie ihm die begehrten Bände nur einzeln aus. In der Staatsbibliothek in Ost-Berlin tauscht Eggers seine Dublette der zweiten gegen die ihm fehlende dritte Auflage von Heinrich Ring-
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klibs Statistische Uebersicht der Eintheilung des Königreichs Hannover nach Verwaltungs- und Gerichtsbezirken aus. Als er schließlich aus Ahlden verschwinden will, entdeckt er in der Zimmerdecke zufällig einen Schatz u. entschließt sich, nun doch zu bleiben, weil ihm der Erlös die erträumte Existenz eines Privatgelehrten sichert. Erzählerisch geschickt verknüpft S., der Walter Eggers bewusst als sein ›alter ego‹ gestaltet hat, die Handlung des »historischen Romans aus dem Jahre 1954« mit der Geschichte der Prinzessin Sophie Dorothea von Ahlden, in deren Schicksal von Ehebruch u. Gefangenschaft sich dasjenige der Romanfiguren spiegelt. Zugleich ist Das steinerne Herz der erste in der Bundesrepublik erschienene literar. Text, der in beiden Teilen Deutschlands spielt u. auf beide gleichermaßen kritisch blickt. Zu der von S. in den Berechnungen inaugurierten u. schon in den übrigen Texten des Frühwerks erprobten Rastertechnik tritt in Das steinerne Herz die Vermischung der Ebenen von Dialekt, Jargon u. Hochsprache. Der zwischen 1959 u. 1960 verfasste Roman Kaff auch Mare Crisium (Karlsr. 1960) u. die Erzählungen aus Kühe in Halbtrauer (Karlsr. 1964) stehen mit ihren Schreibweisen am Übergang zu den Typoskripten des Spätwerks. Ende Nov. 1958 hatte sich S. in das Heidedorf Bargfeld zurückgezogen, in dessen Abgeschiedenheit er die ihm gemäßen Lebens- u. Arbeitsbedingungen fand u. das er nur noch sporadisch verließ. Kaff auch Mare Crisium weist zwei, auch drucktechnisch voneinander unterschiedene Erlebnisebenen auf. Handelt die erste vom Besuch des Liebespaares Karl Richter u. Hertha Theunert bei einer Tante in der Heide, so geht es bei der zweiten, einem Gedankenspiel Karl Richters für Hertha, um die Lebensumstände auf dem amerikan. Mondsektor nach der atomaren Zerstörung der Erde. Darin verwoben sind mit der amerikanisierten Fassung des Nibelungenliedes u. der russisierten von Herders Cid-Übersetzung zwei Heldenepen. Entschiedener noch als in Kaff experimentiert S. in den zehn Erzählungen aus Kühe in Halbtrauer, die als literar. Umsetzung der von S. zum Ende der Berechnungen II angekündigten »Versuchsreihe IV (Traum)« gelten, mit der
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Mehrdeutigkeit von Sprache. Mehrstimmigkeit ergibt sich hier aus der Grundierung der Oberflächenhandlung durch eine myth. Erzählung german., ägypt. oder griechischröm. Provenienz, durch den Bezug auf Freuds Psychoanalyse, von deren Valenz sich S. in seiner umstrittenen Karl-May-Studie Sitara und der Weg dorthin (Karlsr. 1963) überzeugt gezeigt hatte, sowie durch intertextuelle Bezugnahmen insbes. auf James Joyces Romane Ulysses u. Finnegans Wake. Aus der Perspektive des seit Mitte der 1960er Jahre von ihm in Angriff genommenen Buchs Zettels Traum (Stgt. 1970) wirken die ländl. Erzählungen wie Präludien, in denen der Einfluss des Unbewussten auf die Sprache belegt wird, der zur Basis der in Zettels Traum an Edgar Allan Poe – S. arbeitete seit 1963 gemeinsam mit Hans Wollschläger an einer Übersetzung des amerikan. Schriftstellers – exemplifizierten Etymtheorie wird. In diesem 1334 DIN A3-Seiten umfassenden Text steht ein weiteres Mal ein Doppelgänger des Autors im Blickpunkt: An einem Tag im Juli erhält der alternde Schriftsteller Dän Pagenstecher in seinem Haus in der Heide Besuch von dem Übersetzerehepaar Jacobi u. deren Tochter Franziska. Das Ehepaar arbeitet an einer Übersetzung der Werke Poes u. erhofft sich von Pagenstecher Hilfe. Handlung, Poe-Exegese u. Erzählerkommentar werden auf drei Spalten verteilt, die zuweilen ineinander übergehen. Von der Handlungsebene, die sich im Wesentlichen auf die Beziehung zwischen dem Eremiten Pagenstecher u. der 16-jährigen Franziska beschränkt, greift der Text ein ums andere Mal in mytholog. u. surreale Welten aus. Mit Zettels Traum wollte S. traditionelle Schreibweisen hinter sich lassen u. zur Metaliteratur vorstoßen. Freilich zeugt die Monumentalität dieses Werks auch von dem Beweis-, Rechtfertigungs- u. Produktionszwang, unter dem der Autor zeitlebens stand u. der zu exzessiven Arbeitsschüben führte. Selbstinszenierung u. Selbststilisierung treten bei S. immer deutlicher in den Vordergrund u. zeigen ein Ich, das den altersbedingten Verfallsprozessen entsetzt gegenübersteht, sie zgl. aber in fantastischen künstlerischen Konstruktionen wie z. B. der Theorie der
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Vierten Instanz zu überwinden versucht. Diese Theorie erweitert das Freud’sche Strukturmodell der Psyche um die Instanz des impotenten Genies, das, weil es über die Etyms, den Wortschatz des Unbewussten, verfügt, dem Ich zur Seite steht bei seiner Emanzipation von den Triebforderungen des Es einerseits u. den Moralvorstellungen des Über-Ichs andererseits. In den in der Folge entstandenen Werken Die Schule der Atheisten (Ffm. 1972), Abend mit Goldrand (Ffm. 1975) u. dem Fragment gebliebene Text Julia, oder die Gemälde (Zürich 1983) scheint sich dieser Zug sogar noch zu verstärken. Analog zum individuellen Untergang prophezeit S. nun den Untergang der Kultur u. den Verfall der Gesellschaft durch die Preisgabe des Leistungsprinzips u. das Entstehen von sozialen Randgruppen. Die Wirklichkeit stellt sich dem desillusionierten Schriftsteller dar als die »Karikatur unsrer Großn Romane«. Die Verleihung des Goethe-Preises der Stadt Frankfurt nahm S. 1973 zum Anlass, in einer Dankadresse eine Generalkritik an der Nachkriegsgesellschaft u. insbes. an der faulen Arbeiterschaft zu formulieren u. darauf zu verweisen, wie sehr ihn seine Herkunft am Fortkommen gehindert u. wie sehr er durch Krieg u. Gefangenschaft um die besten, weil produktivsten Jahre seines Lebens gebracht worden sei. Großveranstaltungen wie die Marbacher Ausstellung »A. S.? – Allerdings!« (2006) haben die S.-Philologie nach der Jahrtausendwende vom Makel des Sektiererischen befreit, der ihr lange Zeit nicht zuletzt deshalb anhaftete, weil es ihren Vertretern an krit. Distanz zum Untersuchungsgegenstand fehlte. So wurde nicht nur S.s dogmat. Blick auf die Literaturgeschichte u. auf vergessene Autoren u. Werke verabsolutiert, sondern auch sein bisweilen fragwürdiger Umgang mit missliebigen Autoren zum Kommunikationsstil erhoben. Vorbehalte gegenüber dem Autor u. seinen Jüngern, wie sie der Soziologe Martin Henkel 1992 formulierte, wurden zurückgewiesen. Auch zwischen den akadem. Schulen blieben Grenzziehungen unübersehbar: Auf die Gründung der »Gesellschaft der A.-S.Leser« 1986, die zunächst nicht als wissenschaftl. Gesellschaft gedacht war, reagierte
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der aus dem Arno-Schmidt-Dechiffrier-Syndikat hervorgegangene »Bargfelder Bote« mit seinem Herausgeber Jörg Drews, der offenkundig sein Monopol in der S.-Exegese gefährdet sah, mit Abwehr, ja zuweilen sogar mit Annihilation. Als richtungsweisend für die Forschung erwies sich dagegen trotz zahlreicher handwerkl. Mängel gerade in den ersten Bänden die von der A. S. Stiftung besorgte Bargfelder Ausgabe. 1981 von S.s Witwe u. Jan Philipp Reemtsma, Mäzen des Autors seit 1977, gegründet, verwaltet die Stiftung seitdem das Erbe des Schriftstellers. Weitere Werke: Ausgabe: Bargfelder Ausg. (BA). Werkgruppe 1: Romane. Erzählungen. Gedichte. Juvenilia. 4 Bde., Zürich 1986–88; Werkgruppe II: Dialoge. 3 Bde., Zürich 1990/91; Werkgruppe III: Essays u. Biographisches. 4 Bde., Zürich 1993–95; Werkgruppe IV: Das Spätwerk. 4 Bde., Zürich (später Bln.) 1992–2010; Supplemente. 2 Bde., Ffm. 2003–2006. – Briefe: Der Briefw. mit Alfred Andersch. Hg. Bernd Rauschenbach. Zürich 1985. – Der Briefw. mit Wilhelm Michels. Hg. B. Rauschenbach. Zürich 1987. – Der Briefw. mit Eberhard Schlotter. Hg. B. Rauschenbach. Zürich 1991. – Der Briefw. mit Kollegen. Hg. Gregor Strick. Ffm. 2007. – Fotografien: Vier mal vier. Fotografien aus Bargfeld. Hg. Janos Frecot. Ffm. 2003. – SchwarzWeißAufnahme. Fotografien aus drei Jahrzehnten. Hg. J. Frecot. Ffm. 2009. Literatur: Periodika: Bargfelder Bote. Materialien zum Werk A. S.s 1 ff. (1972 ff.). – Zettelkasten. Aufsätze u. Arbeiten zum Werk A. S.s. Jb. der Gesellsch. der A.-S.-Leser 1 ff. (1984 ff.; Bd. 2 nicht ersch.). – Schauerfeld. Mitt.en der Gesellsch. der A.S.-Leser 1 ff. (1988). – Bibliografien: Karl-Heinz Müther: Bibliogr. A. S. 1949–1991. Bielef. 1992 (regelmäßige Nachlfg.; CD-ROM-Ed. Bielef. 1995). – Robert Weninger: A.-S.-Auswahlbibliogr. Wissenschaftliche Sekundärlit. nach Titeln u. Themen. Mchn. 22006. – Gesamtdarstellungen und Biografisches: Ernst Krawehl (Hg.): Porträt einer Klasse. A. S. zum Gedenken. Ffm. 1982. – Jan Philipp Reemtsma u. Bernd Rauschenbach (Hg.): ›Wu Hi?‹ A. S. in Görlitz Lauban Greiffenberg. Zürich 1986. – Axel Dunker (Hg.): A. S. 1914–1979. Kat. zu Leben u. Werk. Mchn. 1990. – Michael Matthias Schardt u. Hartmut Vollmer (Hg.): A. S. Leben – Werk – Wirkung. Reinb. 1990. – Wolfgang Martynkewicz: Selbstinszenierung. Untersuchungen zum psychosozialen Habitus A. S.s. Mchn. 1991. – Wolfgang Albrecht: A. S. Stgt./Weimar 1998. – Susanne Fischer (Hg.): A. S.? – Allerdings! Eine Ausstellung der Arno-Schmidt-Stiftung, Bargfeld, im Schiller-
449 Nationalmuseum, Marbach am Neckar, 30. März bis 27. August 2006. Marbach 2006. – Lenz Prütting: A. S. In: KLG. – B. Rauschenbach: A. S. In: NDB. – Studien: Reimer Bull: Bauformen des Erzählens bei A. S. Ein Beitr. zur Poetik der Erzählkunst. Bonn 1970. – Jörg Drews u. Hans-Michael Bock (Hg.): Der Solipsist in der Heide. Materialien zum Werk A. S.s. Mchn. 1974. – Dieter Stündel: Register zu Zettels Traum. Eine Annäherung. Mchn. 1974 (Nachlfg. Mchn. 1980). – Leibl Rosenberg: Das Hausgespenst. Ein begleitendes Hdb. zu A. S.s ›Die Schule der Atheisten‹. 2 Bde., Mchn. 1977 u. 1979. – Josef Huerkamp: Materialien u. Komm. zu A. S.s ›Das steinerne Herz‹. Mchn. 1979. – Ders.: Erläuterungen, Materialien & Register zu A. S.s ›Sitara u. der Weg dorthin‹. Mchn. 1979. – Wolfgang Proß: A. S. Mchn. 1980. – J. Huerkamp: ›Gekettet an Daten & Namen‹. Drei Studien zum authent. Erzählen in der Prosa A. S.s. Mchn. 1981. – Horst Thomé: Natur u. Gesch. im Frühwerk A. S.s. Mchn. 1981. – Reinhard Finke: ›Der Herr ist Autor‹. Die Zusammenhänge zwischen literar. u. empir. Ich bei A. S. Mchn. 1982. – J. Drews (Hg.): Gebirgslandschaft mit A. S. Grazer Symposion 1980. Mchn. 1982. – Dieter Kuhn: Das Mißverständnis. Polem. Überlegungen zum polit. Standort A. S.s. Mchn. 1982. – Werner Morlang: Die Problematik der Wirklichkeitsdarstellung in den Literaturessays v. A. S. Bern u.a. 1982. – Heiko Postma: Aufarbeitung u. Vermittlung literar. Traditionen. A. S. u. seine Arbeiten zur Lit. Ffm. 21982. – Robert Weninger: A. S.s Joyce-Rezeption 1957–1970. Ein Beitr. zur Poetik A. S.s. Ffm. u.a. 1982. – J. Drews u. Heinrich Schwier (Hg.): ›Lilienthal oder die Astronomen‹. Histor. Materialien zu einem Projekt A. S.s. Mchn. 1984. – Dieter H. Stündel: A. S., Zettels Traum. Ffm. 1984. – Rainer Barczaitis: ›Kein simpel-biedrer Sprachferge‹. A. S. als Übersetzer. Ffm. 1985. – Irmtraud u. Dietmar Noering: Der Knopf im Rosengarten. Anregungen u. Hilfen zu einer . Interpr. v. A. S.s Erzahlung ›Seelandschaft mit Pocahontas‹. Ffm. 1985. – Stefan Gradmann: Das Ungetym. Mythologie, Psychoanalyse u. Zeichensynthesis in A. S.s Joyce-Rezeption. Mchn. 1986. – . Boy Hinrichs: Utop. Prosa als langeres Gedankenspiel. Untersuchungen zu A. S.s Theorie der modernen Lit. u. ihrer Konkretisierung in ›Schwarze Spiegel‹, ›Die Gelehrtenrepublik‹ u. ›Kaff auch Mare Crisium‹. Tüb. 1986. – Dieter Kuhn: Kommentierendes Hdb. zu A. S.s Roman ›Aus dem Leben eines Fauns‹. Mchn. 1986. – Michael Matthias Schardt (Hg.): A. S. Das Frühwerk. Interpr.en. 3 Bde., Aachen 1987–89. – Friedhelm Rathjen: ›... schlechte Augen‹. James Joyce bei A. S. vor ›Zettels Traum‹. Ein annotierender Komm. Mchn. 1988. – Lothar Meyer (Hg.): In christl. Nacht. Ein
Schmidt Hdb. zu A. S.s ›Kosmas‹. Mchn. 1989. – Roland Burmeister: Die MusikStellen bei A. S. Chronolog. Stellenverz. zum Gesamtwerk v. A. S. Darmst. 1991. – Gregor Eisenhauer: ›Die Rache Yorix‹. A. S.s Poetik des gelehrten Witzes u. der humorist. Gerichtsbarkeit. Tüb. 1992. – Martin Henkel: BLUFF auch mare ignorantiae oder: Des king!s neue Kleider. Eine Studie zu Wesen, Werk u. Wirkung A. S.s. Hbg. 1992. – Marc Koch: ›Müde vom Durchwandern öder Letternwüsten‹. Zur Methode der literaturhistor. Arbeiten v. A. S. Bielef. 1992. – Ralf Georg Czapla: Mythos, Sexus u. Traumspiel. A. S.s Prosazyklus ›Kühe in Halbtrauer‹. Paderb. 1993. – Gregor Strick: ›An den Grenzen der Sprache‹. Poetik, poet. Praxis u. Psychoanalyse in ›Zettel’s Traum‹. Zu A. S.s Freud-Rezeption. Mchn. 1993. – W. Martynkewicz: Bilder u. EinBILDungen. A. S.s Arbeit mit Photographien u. Fernsehbildern. Mchn. 1994. – Joachim Klein: A. S. als polit. Schriftsteller. Tüb. u.a 1995. – F. Rathjen: ›... in fremden Zungen‹. James Joyce bei A. S. ab ›Zettels Traum‹. Mit Nachträgen zu S.s Werk bis 1965. Ein annotierender Komm. Mchn. 1995. – Alexis Eideneier: ›... das endlos=gezierte Zeug‹. Die ProustRezeption bei A. S. Paderb. 1996. – Ralf Stiftel: Die Rezensenten u. A. S. Ffm. u.a. 1996. – Thomas Körber: A. S.s Romantik-Rezeption. Heidelb. 1998. – H. Schwier: Lore, Grete & S. Ein kommentierendes Hdb. zu A. S.s Roman ›Brand’s Haide‹. Mchn. 2000. – J. Drews u. Doris Plöschberger (Hg.): ›Des Dichters Aug’ in feinem Wahnwitz rollend ...‹. Dokumente u. Studien zu ›Zettel’s Traum‹. Mchn. 2001. – Ingo Leiß: Wielands Verserzählungen im Werk A. S.s. Umriss eines Kommentars. Mchn. 2007. – H. Schwier: Niemand. Ein kommentierendes Hdb. zu A. S.s ›Schwarze Spiegel‹. Mchn. 2009. . – A. Eideneier: Die Aufhebung des Korpers im Werk. Das Thema Alter(n) bei A. S. Bielef. 2010. – Stefan Jurczyk: Symbolwelten. Studien zu ›Caliban über Setebos‹ v. A. S. Hbg. 22010. – Janos Frecot (Hg.): A. S. als Fotograf. Entwicklung eines Bildbewusstseins. Ostfildern 2011. – Ulrich Goerdten: A. S.s ›Ländliche Erzählungen‹. Sechs Interpr.en. Ffm. u.a. 2010. – J. Huerkamp: ›Die große Kartei‹. Enzyklopädie zu A. S.: Das steinerne Herz. Mchn. 2011. Ralf Georg Czapla
Schmidt, (Franz) Erich, * 20.6.1853 Jena, † 30.4.1913 Berlin. – Germanist. Der Sohn eines Zoologen studierte in Graz, Jena u. Straßburg, wo er bei Wilhelm Scherer promoviert wurde. Nach der Habilitation 1875 in Würzburg (Heinrich Leopold Wagner, Goethes Jugendgenosse. Jena 1875) wurde
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S. 1877 Extraordinarius in Straßburg u. – erst regte S. 1887, als er die einzige erhaltene 27-jährig – 1880 Ordinarius in Wien. 1885 Abschrift des Urfaust (der Name stammt von ging er als Direktor des Goethe-Archivs nach S.) im Nachlass der Weimarer Hofdame Luise Weimar, 1887 als Nachfolger Scherers nach von Göchhausen entdeckte (Goethes Faust in Berlin, wo er Rektor der Universität bei deren ursprünglicher Gestalt. Weimar 1887). An der Hundertjahrfeier u. 1906 Präsident der Goe- Weimarer Goetheausgabe hatte er als Herausgethe-Gesellschaft wurde. ber u. als Organisator maßgebl. Anteil, auch S. verdankte seine brillante Karriere neben an der Jubiläumsausgabe wirkte er mit. herausragenden wissenschaftl. Fähigkeiten In späteren Jahren widmete sich S. repräauch seiner engen Zusammenarbeit mit sentativen Aufgaben. Seine gesellschaftl. BeScherer. Beide waren wissenschaftsgeschichtl. ziehungen reichten bis in die Umgebung des Schlüsselfiguren in der ersten Phase der uni- Kaisers. Zugleich pflegte er Kontakte mit den versitären Neugermanistik, deren Einfluss Schriftstellern der Zeit (Storm, Keller) u. trat auf Methoden u. Organisation ihres Fachs für zunächst umstrittene Autoren wie kaum überschätzt werden kann, was der von Hauptmann u. Wedekind ein. Nach S.s Tod Eberhard Lämmert u. Werner Richter her- setzten heftige Auseinandersetzungen um ausgegebene Briefwechsel (Bln. 1963) beider seine Nachfolge ein, die das Ende der so geWissenschaftler dokumentiert. Als Ober- nannten positivistischen Germanistik signahaupt der Scherer-Schule versuchte S., die lisierten. überwiegend textphilologisch orientierte Weitere Werke: Charakteristiken 2. Bln. 1901. Germanistik um psychologisch-milieutheo- Erw. 21912. – H. v. Kleists Werke (zus. mit Georg ret. Momente zu erweitern. Das Programm Minde-Pouet u. a.). 5 Bde., Lpz. 1904/1905. – findet sich in S.s Wiener Antrittsvorlesung Theodor Storm – E. S. Briefw. Hg. Karl Ernst Laage. Wege und Ziele der deutschen Literaturgeschichte 2 Bde., Bln. 1972, 1976. – Briefw. Konrad Burdach (wiederabgedr. in: Charakteristiken 1. Bln. – E. S. 1884–1912. Hg. Agnes Ziegengeist. Stgt. u. a. 1998. 1886). Dichtung sollte danach, in der TradiLiteratur: Karl Otto Conrady: Germanistik in tion Scherers, auf der Suche nach dem »ErWilhelmin. Zeit. In: Lit. u. Theater im Wilhelmin. erbten, Erlernten und Erlebten« aus den LeZeitalter. Hg. Hans-Peter Bayerdörfer. Tüb. 1978, bensbedingungen der Autoren erklärt wer- S. 370–398. – Wolfgang Höppner: E. S. In: Wisden. Dies trug S. den Vorwurf des Positivis- senschaftsgesch. der Germanistik in Porträts. Hg. mus u. Materialismus ein, der die ästheti- Christoph König, Hans-Harald Müller u. Werner schen Grundlagen der Kunst vernachlässige. Röcke. Bln./New York 2000, S. 107–114. – Volker Sein vergleichsweise flüssiger Stil wurde von Ufertinger: E. S. In: IGL. – Wolfgang Höppner: E. konservativen Kollegen als Essayismus kriti- S. In: NDB. – Rainer Rosenberg: Die dt. Germasiert, entsprach aber seinem Ziel einer öf- nisten. Ein Versuch über den Habitus. Bielef. 2009, S. 31–34. fentlichkeitswirksamen Wissenschaft. Hans-Martin Kruckis Schwerpunkte von S.s Forschungen waren Lessing u. Goethe. Schon der frühe Vergleich Schmidt, Friedrich Ludwig, * 5.8.1772 der Romantechniken von Richardson, Rousseau Hannover, † 13.4.1841 Hamburg. – Lustund Goethe (Jena 1875) stieß bei der Fachwisspielautor, Schauspieler, Schauspieldisenschaft auf großes Interesse. Sein Hauptrektor. werk wurde die zweibändige Lessing-Bio2 grafie (Bln. 1884 u. 1892. Revidiert 1899), S., viertes von zwölf Kindern eines Zolleinlange Zeit ein Standardwerk, an dem sich das nehmers, war Schnittwarenlehrling u. aus heutiger Sicht eher unausgewogene Ver- Wundarzt, ehe er 1792 der zeittyp. Theatrohältnis zwischen Faktenpräsentation u. äs- manie erlag. Die ersten Engagements als thetischer Analyse in der Scherer-Schule ab- Schauspieler bei der Tilly’schen u. der Döblesen lässt. Die Monografien ergänzte S. belin’schen Truppe waren recht erfolglos. durch zahlreiche kleinere Aufsätze u. Rezen- 1796 wurde er Regisseur am neu erbauten sionen (im Scherer-S.-Briefwechsel verzeich- Magdeburger Schauspielhaus. In seinen amnet). Außerordentliches öffentl. Aufsehen er- bitionierten Klassikerinszenierungen (Shake-
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speare, Lessing, Schiller) spielte S. meist selbst die Hauptrollen; der Nathan erfuhr hier die erste glückl. Bühnenrealisierung. Nach Missstimmigkeiten mit dem Direktorium ging S. 1806 nach Hamburg, wo er durch seine Freundschaft mit dem greisen Prinzipal Friedrich Ludwig Schröder Einfluss gewann: Von der Requisite über die Regie gelangte S. 1815 ins Direktorium, das er zunächst mit Jacob Herzfeld, seit 1827 mit Karl August Lebrun teilte. Mit Konversationsstücken (u. a. Kotzebue, Iffland) u. seinen eigenen anspruchslosen, aber solide gebauten Typenkomödien u. moralischen Rührstücken bediente S. immer willfähriger den Geschmack des breiten Publikums. Er wurde zum erfolgreichen Theatermacher der Hamburger Restauration. Seine berüchtigten Bearbeitungen von Dramen der Hochliteratur trugen ihm den Namen »die unbarmherzige Theaterscheere« ein, verschafften aber manchen Stücken (z. B. Kleists Zerbrochnem Krug) erstmals überhaupt öffentl. Anerkennung. Weitere Werke: Die Kette des Edelmuthes. Altona, recte Lpz. 1792. – Der Sturm v. Magdeburg. Magdeb. 1799. – Mathilde v. Heideck. Brandenburg 1801. – Der leichtsinnige Lügner. Stgt./Tüb. 1813. – Dramaturg. Aphorismen. Bde. 1 u. 2, Hbg. 1820–28. Bd. 3 u.d.T. Dramaturg. Berichte. Ebd. 1834. – Denkwürdigkeiten des [...] F. L. S. Hg. Hermann Uhde. 2 Bde., ebd. 1875. Literatur: Paul Schlenther: F. L. S. In: ADB. – Horst Denkler: Restauration u. Revolution. Mchn. 1973, S. 30 ff. – Heiko Borchardt: F. L. S. In: Magdeburger biogr. Lexikon [...]. Hg. Guido Heinrich u. Gunter Schandera. Magdeb. 2002, S. 636. Ulrike Leuschner / Red.
Schmidt, Friedrich Wilhelm August, gen. Schmidt von Werneuchen, * 23.3.1764 Fahrland bei Potsdam, † 26.4.1838 Werneuchen; Grabstätte: ebd., Kirchhof. – Lyriker. S. gilt wegen seiner Begeisterung für das ländl. Leben als skurriler Außenseiter unter den Schriftstellern des späten 18. Jh. Geboren wurde er als Sohn eines evang. Dorfpfarrers, der früh starb, so dass die Mutter die fünf Kinder allein aufziehen musste. Der Elfjährige kam als Zögling des Schindler’schen
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Waisenhauses nach Berlin. 1781–1783 besuchte er dort das Gymnasium Zum Grauen Kloster, wo u. a. Karl Philipp Moritz sein Lehrer war. 1783–1786 studierte S. Theologie in Halle. Anschließend wurde er Prediger am Berliner Invalidenhaus. Seit 1787 veröffentlichte S. Gedichte in Almanachen u. Zeitschriften. Seit 1792 ließ er sie v. a. im »Neuen Berlinischen Musenalmanach« drucken, den er bis 1796 gemeinsam mit Ernst Christoph Bindemann herausgab. Weitere Gedichte publizierte er im ebenfalls mit Bindemann herausgegebenen »Calender der Musen und Grazien« (Bln. 1794–96). Zugleich erschienen sie in drei Einzelausgaben u. d. T. Gedichte (Bln. 1795. Ffm./Lpz. 1796. Bln. 1797). Die aufwändige Ausstattung der Bände (mit Noten u. Kupfern), die schon zeitgenöss. Rezensenten erstaunte, lässt auf ein zahlungskräftiges, an repräsentativen Büchern interessiertes Publikum schließen. Die Gedichte selbst sind formal ohne Ambitionen u. oft unbeholfen, was S. jedoch selbstbewusst als ihre Qualität hervorgehoben hat. Ihre Themen sind der StadtLand-Gegensatz, der dörfl. Alltag u. das Glück ehel. Liebe, die ohne Engagement oder Gedankentiefe behandelt werden. Allerdings hat S. die wirklichkeitsbezogene Darstellung der ländl. Natur, deren Tradition ihm unbekannt oder gleichgültig war, als seinen bes. Beitrag zur Poesie aufgefasst, wie der Vorbericht zur Ausgabe der Gedichte von 1796 zeigt. Mit Spott, aber auch mit Achtung haben zeitgenöss. Autoren auf diese Beschränkung poetischer Praxis reagiert. Vor allem durch Goethes lyr. Parodie Musen und Grazien in der Mark (1796), Indikator für S.s Bekanntheit, sind Leben u. Werk des Autors in der Literaturgeschichte gegenwärtig geblieben. 1795 hatte S. sein Lebensziel erreicht. Er wurde Pfarrer im ländl. Werneuchen nordöstlich von Berlin u. blieb es 43 Jahre lang bis zu seinem Tod. Hier ging seine dichterische Produktivität nach u. nach zurück. Nachdem seine Frau Henriette, die er 1790 geheiratet u. seither immer wieder angedichtet hatte, 1809 gestorben war, wurde sein Leben offenbar freudlos. Zwar heiratete er 1811 erneut, doch starb 1813 von den fünf Kindern aus erster Ehe sein Lieblingssohn. S.s letzter Lyrikband,
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Neueste Gedichte (Bln. 1815), ist von Tod u. Trauer geprägt. – Fontane hat in seinem Roman Vor dem Sturm u. im vierten Band seiner Wanderungen durch die Mark Bandenburg (1882) den Ort Werneuchen u. seinen Autor erstmals ausführlicher gewürdigt. Ausgaben: Musen u. Grazien in der Mark. Hg. u. Nachw. v. Ludwig Geiger. Bln. 1889. – Einfalt u. Natur. Gedichte. Hg. u. Nachw. v. Günter de Bruyn. Bln./DDR 1981. Ffm. 1982 (mit Dokumenten zur Wirkungsgesch. u. Bibliogr.). Literatur: Georg Betke: Der Dichterpastor F. W. A. S. In: Jb. für Brandenburgische Gesch. 15 (1964), S. 141–156. – Bettina Plett: Die Kunst der Allusion [...]. Köln/Wien 1986, S. 212–222 (zu Fontanes S.-Darstellung). – Alfred Molzan: F. W. A. S. – Sandpoet u. Volksdichter. In: WB 34 (1988), H. 12, S. 1962–1978. Detlev Schöttker
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Tragödie von Thomas Decker [...]. Mit einem Anhang ähnlicher Märchen dieses Kreises [...]. Bln. 1819). Eine an Goethes Kunstbegriff orientierte, um Dante u. Shakespeare gruppierte Literaturgeschichte der europ. Romantik (Beiträge zur Geschichte der romantischen Poesie. Bln. 1881) blieb aufgrund des frühen Choleratodes des Autors ebenso unvollendet wie die Auswertung langjähriger Forschungen über Calderón (Calderon de la Barca: Ueber die Kirchentrennung von England [...]. Bln. 1819. Die Schauspiele Calderon’s. Aus gedr. u. ungedr. Papieren des Verf. hg. von Leopold Schmidt. Elberfeld 1857). Literatur: Goedeke 14 (1959), S. 764–767 (Werkverz.). – Werner Brüggemann: Zur dt. Calderón-Forsch. des 19. Jh.: F. W. V. S., Leopold Schmidt u. Johann Abert. In: Span. Forsch.en der Görresgesellsch. 25 (1970), S. 176–272. Adrian Hummel / Red.
Schmidt, Friedrich Wilhelm Valentin, * 16.9.1787 Berlin, † 12.10.1831 Berlin. – Literarhistoriker u. Übersetzer. Schmidt, Georg Philipp, gen. Schmidt von Lübeck, * 1.1.1766 Lübeck, † 28.10.1849 S. besuchte das Köllnische Gymnasium, an Altona (heute zu Hamburg); Grabstätte: das er nach Universitätsstudien 1809 zuebd., Ottenser Friedhof. – Lyriker. rückkehrte; 1812 avancierte er dort zum Oberlehrer u. 1818 zum Gymnasialprofessor. Nach der Habilitation 1819 wurde S. 1821 a. o. Prof. für Literatur u. neuere Sprachen an der Universität Berlin u. gleichzeitig Kustos der kgl. Bibliothek, ein Amt, das er bis an sein Lebensende versah. Die Edition P. Terentius Afer: Comediae (Bln. 1820) u. die Beiträge zur lexikal. Ergänzung einiger Wörterbücher (Tausend griechische Wörter [...]. Bln. 1817) entsprangen den Bedürfnissen des Schulunterrichts. S.s Hauptinteresse galt jedoch Leitbildern u. Sujets der Jenaer u. Berliner Romantik. So übersetzte er Benedikt von Spinoza’s Ethik (Bln./Stettin 1812); die von S. herausgegebenen Märchenübersetzungen seiner Frau Marie Wilhelmine (Märchen-Saal. Bd. 1, Bln. 1817. Rolands Abentheuer in hundert romantischen Bildern. Nach dem Italiænischen des Grafen Bojardo. 3 Tle., Bln./Lpz. 1819/20) lenkten seine Aufmerksamkeit zudem auf die gesamteurop. Literaturtradition. Gestützt auf die umfangreiche Bibliothek Clemens Brentanos, widmete er sich nun der Quellenforschung u. Komparatistik (Fortunatus und seine Söhne, eine Zauber-
S., dem Lübecker Kaufmannspatriziat entstammend, studierte 1786–1790 Rechts- u. Finanzwissenschaft an den Universitäten in Jena u. Göttingen, danach kurz Theologie, nach dem Tod der Eltern Medizin in Jena. Nach einem Aufenthalt in Kopenhagen, wo er Umgang mit der Familie Ludwig Graf Reventlows u. mit Christian Graf Stolberg hatte, u. einer Schwedenreise promovierte er 1797 an der Universität Kiel zum Dr. med. u. war als prakt. Arzt u. a. in Warschau tätig, seit 1799 als Lehrer auf Fünen an einem der Reventlow’schen philanthropischen Institute, seit 1802 als Sekretär des dän. Handels- u. Finanzministers Schimmelmann in Kopenhagen. Bis S. 1829 in den Ruhestand trat, hatte er, zuletzt in Altona ansässig, seit 1806 diverse leitende Stellungen im Bank- u. Handelsgewerbe inne. S.s poetische Nebentätigkeit stand unter dem Eindruck seines Umgangs mit Persönlichkeiten wie Gerstenberg in Lübeck, Sophie Mereau, Herder, Wieland, Goethe u. Schiller in Jena sowie mit Kopenhagens intellektueller Elite. Als Lyriker vom Vorbild des Göt-
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tinger Hainbunds u. der Bardenmode be- verschiedentlich dramat. Bearbeitungen, am stimmt, verfasste er Gelegenheitsgedichte, bekanntesten ist Hebbels Tragödie Gyges und zum großen Teil in Liedform; einige davon sein Ring (1856). Matthias Luserke wurden wegen ihres natürl., häufig national gefärbten Tons populär u. erfuhren zahlreiSchmidt, Harald, * 18.8.1957 Neu-Ulm. – che Vertonungen, u. a. auch durch Schubert Kabarettist, Kolumnist, Entertainer, Mo(Ich komme vom Gebirge her). Als Heimatforderator u. Schauspieler. scher beschäftigte sich S. mit schleswig-holsteinischer Provinzialgeschichte (Historische Aufgewachsen in Nürtingen, legte S. nach Studien. Altona 1827); er kann als Wieder- dem Abitur zunächst eine Prüfung zum neentdecker Liscows gelten. benamtl. Kirchenmusiker ab u. besuchte Ausgabe: Lieder. Hg. Heinrich Christian Schu- 1978–1981 die Staatliche Schauspielschule macher. Altona 1821. 3., (von S.) verm. u. verb. Stuttgart. Nach einem dreijährigen EngageAufl. 1847. ment bei den Städtischen Bühnen Augsburg Literatur: Johannes Hackenberg: G. P. S. v. wechselte er an das Kabarett »Düsseldorfer Lübeck. Hildesh. 1911. – Alken Bruns: G. P. S. In: Kom(m)ödchen«. Seine Fernsehlaufbahn beBLSHL 7 (1985). Christian Schwarz / Red. gann mit der Moderation von Unterhaltungssendungen (»MAZ ab!«, SFB; »Psst...«, WDR3/ARD; »Schmidteinander«, WDR 3/ Schmidt, Georg Wilhelm. – Verfasser eiARD; »Verstehen Sie Spaß?«, ARD). Seit 1995 nes 1758 erschienenen Dramas. moderiert S. das von ihm geschaffene LateÜber S. ist lediglich bekannt, dass er Pfarrer Night-Format »Harald Schmidt Show« (zuin Vörstätten im Badischen war. – Candaules, nächst SAT1, von 2004 bis 2011 u. d. T. »Haein Trauerspiel (Ffm./Lpz. 1758) ist S.s einzige rald Schmidt« in der ARD, zwischen 2007 u. nachweisbare Veröffentlichung. Der Stoff 2009 gemeinsam mit Oliver Pocher u. d. T. entstammt einer Erzählung aus Herodots »Schmidt und Pocher«; seit 2011 wieder Historien: Gyges soll Thamyris, die Frau seines SAT1). Zudem wirkt S. immer wieder als Freundes Candaules, König der Lydier u. Schauspieler an Kino- u. Fernsehfilmen mit letzter Heraklidenkönig, auf dessen aus- u. ist am Theater tätig. S.s Show ist durch einen ironisch-satir. Stil drückl. Wunsch hin »nackend sehen«. Candaules macht die Schönheit der Frau zur geprägt, mit dem er Gesellschaft, Politik, Ware, deren Unveräußerlichkeit den Wert Medien u. Kultur der Gegenwart den Spiegel steigert, die Frau aber zum Objekt von Besitz beißenden Spottes entgegenhält. Gleiches u. Begehren erniedrigt. Als einziger Ausweg gilt für seine Kolumnen, die in der Zeitschrift aus dem patriarchalen Kraftfeld nach der »Focus« sowie in Buchform erscheinen. S. Enttabuisierung ihrer Intimität – Candaules betrachtet sein Wirken in erster Linie als u. Gyges gelingt ihr Bubenstück – bleibt Unterhaltung, verfolgt jedoch explizit einen Thamyris als äußerste Form der Verweige- kulturellen Bildungsauftrag. Seine Sendung rung der Tod. – Die Auftritte des Stücks ste- habe »eine Botschaft, nämlich [...], dass es hen oft unvermittelt nebeneinander, eine unglaublich viel zu entdecken gibt. Man dramat. Struktur ist nicht erkennbar. Die kann zum Beispiel mal ein Buch lesen oder Darstellung ist ein eigenartiges Amalgam aus ins Museum gehen oder Blockflöte spielen« barocker Metaphorik, pathet. Stil u. aufklä- (Weltwoche, 13.7.2005). Dabei ist der bilrerisch-moralischer Absicht. Entgegen der dungsbürgerl. Wissenskanon immer wieder Inhaltsangabe zu Beginn des Stücks (S. 2) Gegenstand iron. Reflexion – etwa mit dem wird Candaules nicht umgebracht u. Gyges Auftritt eines »Nietzsche-Entchens« zum heiratet nicht Thamyris, sondern Gyges u. 100. Todestag des Philosophen oder einer Thamyris wählen den Freitod, u. das Stück Blechtrommel-Reminiszenz zum 50. Jahresendet mit der pastoralen Botschaft des Can- tag der Erstveröffentlichung des Romans von daules: »Dann [!] was der Himmel will, das Günter Grass. Ohne selbst im engeren Sinne muß gewiß geschehen.« Der Stoff erfuhr literarisch tätig zu sein (außer etwa in dem als
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fiktive Autobiografie konzipierten Anfangsteil von Mulatten in gelben Sesseln. Köln 2005), beteiligt sich S. immer wieder an literar. Debatten: Ende der 1990er Jahre bekundete er große Sympathie für die »Pop-Literaten« Christian Kracht, Rainald Goetz u. Benjamin von Stuckrad-Barre, später etwa gegenüber Daniel Kehlmann. S. stellt sich in die Tradition der Satiren Thomas Bernhards u. des Nihilismus Samuel Becketts u. ist beeinflusst vom Regietheater Claus Peymanns, den er für seinen wichtigsten Entdecker hält. Weitere Werke: Avenue Montaigne. Roman, tre` s nouveau. Köln 2004 (Kolumnen). – Sex ist dem Jakobsweg sein Genitiv. Eine Vermessung. Köln 2007 (Kolumnen). – Ich hatte 3000 Frauen. Deutschlands größter TV-Star packt aus. Köln 2009 (Kolumnen). – Fleischlos schwanger mit Pilates. Erfolgreiche Frauen sagen, wie es geht. Zusammengestellt v. Ulrike v. den Laien. Köln 2011 (Kolumnen). Leonhard Herrmann
Schmidt, Jochen, * 9.11.1970 Berlin/DDR. – Schriftsteller, Kolumnist u. Übersetzer.
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ähnl. Manier verfährt er auch in seinem Kurzgeschichtenband Meine wichtigsten Körperfunktionen (Mchn. 2007), worin er in tragikom. Selbstbeschreibungen die eigenen Schwächen u. Neurosen feiert. Ein weiteres wichtiges Merkmal seiner Literatur sind die vielfältigen autobiogr. Elemente. In dem Roman Müller haut uns raus (Mchn. 2002) erzählt er retrospektiv den problemat. Vorgang des Erwachsenwerdens bzw. der Identitätsfindung in der Nachwendezeit aus der Sicht seines Protagonisten Jochen Schmitt. Schon die fast vollkommene Namensgleichheit zwischen Autor u. Erzähler verweist auf die autobiogr. Struktur des Romans. Auch die verschiedenen Auslandsstationen der Hauptfigur finden ihre Entsprechung in S.s Biografie. Wie in seinen Erzählungen ist es auch hier v. a. die Dichotomie zwischen Selbstironie u. Melancholie, die den Roman prägt. Neben dem stoischen Erzähltempo u. der fehlenden Dramaturgie kennzeichnet S.s Werk auch die weitgehende Abstinenz gesellschaftspolit. Themen. Einen neuen Weg der Literaturvermittlung beschreitet S. in Schmidt liest Proust (Dresden/ Lpz. 2008), in dem er Tagebucheinträge mit literarisierten Leseeindrücken verbindet u. so eine neue Art der Proust-Interpretation vorschlägt. Diese Selbstreferentialität ist neben Performanz u. Ironie das dritte Merkmal, das den postmodernen Autor S. kennzeichnet.
S., Sohn zweier Sprachwissenschaftler, studierte in Berlin ohne Abschluss Informatik, Germanistik u. Romanistik. 1999 war er Mitbegründer der Berliner Lesebühne »Chaussee der Enthusiasten«, wo er seitdem regelmäßig Kurzprosa vorträgt. Außer als Autor solcher performativen Literatur ist S. auch als Kolumnist verschiedener Zeitungen, Weitere Werke: Seine großen Erfolge. Mchn. als Übersetzer, Reiseführerautor u. Blog- 2003 (E.). – Gebrauchsanweisung für die Bretagne. Schreiber tätig. Insbesondere seine Lesebüh- Mchn./Zürich 2004. Überarb. u. erw. Neuausg. nentexte sind durch eine Ambivalenz von Ebd. 2009 Literatur: Thomas Kraft: J. S. In: LGL. pointierter Komik u. existenzieller Traurigkeit geprägt. Sein erster Erzählungsband Michael Weise Triumphgemüse (Mchn. 2000) ist eine Auswahl dieser Texte, in denen S. zum einen das Leben Schmidt, Johann, * 20.6.1594 Bautzen/ des Jungschriftstellers Jürgen Reip im Berlin Lausitz, † 27.8.1658 Straßburg. – Luthenach der Wende beschreibt, zum anderen die rischer Theologe. Oderbruch-Landschaft als einen Ort des Stillstands thematisiert, deren Charaktere Der unbemittelte Sohn eines Tuchmachers wie aus der Zeit gefallen zu sein scheinen. studierte in Halle (1608–1610) u. kam nach Sprachwitz wie auch eleg. Töne sind zentrale einem Aufenthalt in Speyer 1612 nach Merkmale dieser Texte, in denen die Erinne- Straßburg, um die Humaniora u. Theologie rung an den Alltag in der DDR eine wichtige zu studieren (Magister 1617, Dr. theol. 1623). Rolle spielt. Überhaupt widmet sich S. vor- Seine Studien waren durch Reisen unterbrowiegend alltägl. Themen, deren Skurrilität er chen: 1617 als Informator eines Sohnes des aufspürt u. mit Ironie zu beschreiben weiß. In Colmarer Stettmeisters Buob nach Frank-
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reich, den Niederlanden u. England, 1620–1623 als Begleiter Straßburger Studenten an die Universitäten Tübingen (Theodor Thumm), Jena (Johann Gerhard) u. Wittenberg (Balthasar Meisner). Schon 1619 war ihm die Aufsicht über die Schüler des Predigerkollegiums in Straßburg übertragen worden. 1623 erreichte ihn in Wittenberg der Ruf auf eine theolog. Professur in Straßburg. Er heiratete 1623 die Tochter seines theolog. Lehrers in Straßburg. Als Theologe an der 1623 zur Universität erhobenen Akademie u. als Kirchenpräsident (1629) prägte S. in 35jähriger Amtszeit durch seine oft bis zum phys. Zusammenbruch gehende Arbeit das soziale u. geistige Leben Straßburgs u. der zugehörigen Gebiete. Auf dem Lehrstuhl vertrat S. die strenge luth. Orthodoxie. Doch war seine Frömmigkeit durch die von Arndt ausgehenden Impulse zur Verinnerlichung des Glaubens u. myst. Glaubenspraxis (Selbstprüfung, Abwendung von der Welt, Meditation) geprägt, so dass sich die Akzente von der Rechtfertigungslehre auf die Forderung nach Erbauung des »inneren Menschen« u. »Wiedergeburt« verlagerten. Dieser Haltung, die frühpietistische Frömmigkeit vorwegnimmt, entspricht die Zurückhaltung in Kontroversfragen. Sie trug S. Verdächtigungen als Calixtiner u. Differenzen mit seinem Kollegen Johann Konrad Dannhauer ein. Das wissenschaftl. Werk des Theologen, der sich v. a. der prakt. Gemeindearbeit widmete, ist schmal (Liste der Disputationen bei Zedler). Im Zentrum der Tätigkeit des Kirchenpräsidenten stehen die ungefähr 1635 einsetzenden Maßnahmen zur Reform des Gemeindelebens u. der Hausfrömmigkeit. Dazu gehören Neuerungen wie die Beobachtung u. Registrierung des »inneren Wachstums« der Gläubigen durch die Pfarrer, detaillierte Anweisungen für Hausandachten u. Kinderlehre u.s.w. Ein wohl planmäßiges Programm für den Druck vereinfachter Katechismen (Justus Gesenius: Kleine Catechismus Schule. 1636. Friedrich Heuppel: Christliche Hauss-Schul. 1641), für Bilderbibeln, bibl. Erzählungen, Gesangbücher usw. kam hinzu. Zum ersten Mal fanden anglikan. Meditationsbücher u. Bußspiegel (Emanuel Sonthom [eigentl.: Ro-
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bert Persons]: Güldenes Kleinot der Kinder Gottes. 1612. Lewis Bayly: Praxis Pietatis. 1628) offiziellen Eingang in die luth. Kirche. S. selbst wirkte v. a. als Prediger. Die ungefähr 35 gedruckten Predigtsammlungen, zumeist Bußu. Gewissenspredigten (Hauende Axt des göttlichen Zorns. 1638. Libellus repudii, schrecklicher Scheid Brief des eyfrigen Gottes an alle Heuchler. 1640. Conscients oder Gewissens-Predigten.1654) deuten die Nöte u. Schrecken der Zeit als Strafgerichte göttl. Vorsehung. Schon während des schwed. Kriegs rief die verschärfte Sittenzucht den Widerstand der Flüchtlinge in Straßburg, sowohl der vertriebenen Bauern als des auf Standesrepräsentation (Alamodekultur) bedachten Adels, hervor. Einzelne humanistisch-tolerant gesonnene Professoren, so Matthias Bernegger, gerieten in Konflikte mit S. Nach 1648 gab es mehrfach Auflehnung adliger Studenten, Pasquillen gegen S., selbst ein Attentat, wodurch seine letzten Lebensjahre verdüstert wurden. Durch seinen Briefwechsel, z.B. mit Johann Saubert u. Johann Valentin Andreae, sowie durch theolog. Gutachten wirkte S. im Sinn der Reformorthodoxie über Straßburg hinaus. Er übte starken Einfluss auf Spener u. auf Moscherosch aus, der als Fiskal am Straßburger Zuchtgericht (ab 1645) die Reformmaßnahmen mittrug u. seine S. gewidmete Hausvaterschrift Insomnis Cura Parentum als Beitrag zum Reformprogramm verstand. Literatur: Bibliografien: Zedler 35, S. 378 f. – Wilhelm Horning: Lebensbild v. Dr. J. S. In: Beiträge zur Kirchengesch. des Elsasses vom 16.-18. Jh. 1 (1881), S. 90 ff. – Weitere Titel: Georg Christoph Algeier: Christl. Leich-Sermon. Straßb. 1658. – Sebastian Schmidt: Memoria annua domini J. S. Ebd. 1659. – Theophil Spitzel: Templum honoris reseratum. Augsb. 1673. – August Tholuck: Lebenszeugen der luth. Kirche. Bln. 1859. – Wilhelm Kühlmann u. Walter E. Schäfer: Frühbarocke Stadtkultur am Oberrhein. Bln. 1983. – Johannes Wallmann: Philipp Jakob Spener u. die Anfänge des Pietismus. Tüb. 21986. – Jean-Pierre Kintz: J. S. In: NDBA. Walter E. Schäfer / Red.
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Schmidt, Johann Lorenz, auch: Johann Ludwig Schroed(t)er, * 30.11.1702 Zell bei Schweinfurt, † 19./20.12.1749 Wolfenbüttel. – Lutherischer Theologe; Übersetzer theologischer u. philosophischer Werke.
456 Kritik. Gött. 1983, S. 92–123 (Lit.). – Paul S. Spalding: Seize the Book, Jail the Author. J. L. S. and Censorship in Eighteenth-Century Germany. West Lafayette, Ind. 1998. – Ders.: Im Untergrund der Aufklärung: J. L. S. auf der Flucht. In: Europa in der Frühen Neuzeit. Hg. Erich Donnert. Bd. 4, Weimar/Köln/Wien 1997, S. 135–154. – Ursula Goldenbaum: Der Skandal der ›Wertheimer Bibel‹. Die philosophisch-theolog. Entscheidungsschlacht zwischen Pietisten u. Wolffianern. In: Dies.: Appell an das Publikum. Die öffentl. Debatte in der dt. Aufklärung 1687–1796. Tl. 1, Bln. 2004, S. 175–508. – Werner Raupp: J. L. S. In: NDB. Winfried Schröder
Der Pfarrerssohn studierte 1720–1724 Theologie in Jena, v. a. bei Franz Buddeus, widmete sich daneben der Mathematik u. wurde 1725 Erzieher im Haus der verwitweten Gräfin Amöne Sophie Friederike zu Löwenstein-Wertheim-Virneburg in Wertheim/ Main. S.s Hauptwerk ist eine freie u. im Geist des wolffian. Rationalismus kommentierte Bibelübersetzung, von der nur der erste, den Schmidt, (Heinrich) Julian (Aurel), * 7.3. Pentateuch enthaltende Teil gedruckt wurde: 1818 Marienwerder/Ostpreußen, † 27.3. Die Göttlichen Schriften vor den Zeiten des Messie 1886 Berlin. – Kritiker, Literarhistoriker. Jesus. Der erste Theil (Wertheim 1735). S.s na- S., Sohn eines Kalkulators, studierte Philoloturalistische Deutung der Wunderberichte u. gie in Königsberg (Promotion 1840). Nach seine dem Wortsinn der Bibel verpflichtete bestandener Oberlehrerprüfung u. der ProExegese, die das traditionelle (typolog.) Ver- bezeit in Marienwerder wechselte er 1843 ständnis alttestamentar. Stellen als Weissa- nach Berlin. Ignaz Kuranda, Herausgeber der gungen auf Christus u. das NT ausschloss, »Grenzboten«, zog ihn 1847 nach Leipzig, zogen eine der großen theolog. Kontroversen wo er zuerst als Redakteur, seit 1848 – zudes 18. Jh. nach sich. S. wurde 1737 verhaftet, sammen mit Freytag als Herausgeber die seine Übersetzung reichsrechtlich verboten. Entwicklung der einflussreichen politisch1738 konnte er fliehen u. kam über die Nie- literar. Zeitschrift zu einem Propagandablatt derlande nach Altona u. Hamburg. Ende für Preußen u. die kleindt. Lösung maßgeb1746 wurde er Mathematiklehrer u. Pagen- lich vorantrieb. 1862–1864 war er verantmeister am herzogl. Hof in Wolfenbüttel. wortlich für den Inhalt der »Berliner AllgeEntscheidende Impulse gab S. der dt. Phi- meinen Zeitung«, des Parteiorgans der sog. losophie des 18. Jh. durch seine Übersetzung Altliberalen, danach war er Beiträger u. a. für der Ethik Spinozas (B. v. S. Sittenlehre widerleget die »Preußischen Jahrbücher«. S.s literaturkrit. Artikel, oft »Charakterisvon dem berühmten Weltweisen unserer Zeit Herrn Christian Wolf. Ffm./Lpz. 1744) u. durch die tiken« im Sinne Friedrich Schlegels, fanden erste Übersetzung eines deistischen Textes immer mehrfach Verwendung, entweder in ins Deutsche (Matthew Tindal: Beweis, daß das literaturgeschichtl. Arbeiten (u. a. die popuChristenthum so alt als die Welt sey, nebst Herrn läre u. mehrfach aufgelegte Geschichte der Jacob Fosters Widerlegung desselben. Ffm./Lpz. deutschen Nationalliteratur im 19. Jahrhundert. 2 1741). Der Vorbericht zu S.s Tindal-Überset- Bde., Lpz. 1853; später eingegangen in die zung, eine eigenständige Abhandlung, ist ein umfassende Geschichte der deutschen Literatur wichtiger Beitrag zur Debatte über die von Leibniz bis auf unsere Zeit. 5 Bde., Bln. 1886–96) oder auch in den Essays Bilder aus Denkfreiheit in der dt. Aufklärung. Weitere Werke: Samlung derienigen Schr.en dem geistigen Leben (4 Bde., Lpz. 1870–74). welche bey Gelegenheit des wertheimischen Bibel- Weitreichende Wirkung hatte seine Theorie werks für oder gegen dasselbe zum Vorschein ge- des bürgerl. Realismus, zu dessen Parolenkommen sind. Ffm./Lpz. 1738. – Handschriftl. geber er wurde. Schon 1850 forderte er die Nachl. in der Hzg. August Bibl., Wolfenbüttel. »Ausbreitung und Vertiefung der sittlichen Literatur: Paul Friedrich Schattenmann: J. L. S. Ideen in das Detail des wirklichen Lebens« als Schweinfurt 1878. – Peter Stemmer: Weissagung u. »einzige Grundlage einer echten und großen
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Poesie« (Die Märzpoeten. In: Die Grenzboten 9, ner Hahl: Reflexion u. Erzählung [...]. Stgt. u. a. H. 1, S. 12). Die Maxime von S.s Program- 1971. – Helmut Widhammer: Realismus u. klassimatik war, kein abstraktes Kunstideal auf- zist. Tradition [...]. Tüb. 1972. – Hermann Kinder: zustellen, sondern es aus den sittlich »ge- Poesie als Synthese [...]. Ffm. 1973. – Ulla Schirmeyer-Klein: Realismus – Literaturprogramm für sunden« Teilbereichen des gegenwärtigen einen bürgerl. Staat. Diss. Mchn. 1974 (zu den Lebens zu entwickeln, nämlich aus dem Ar- ›Grenzboten‹). – Franz Rhöse: Konflikt u. Versöhbeits- u. Familienleben des nach der geschei- nung [...]. Stgt. 1978. – Ingo Stöckmann: J. S. – für terten 48er-Revolution staatsprägenden Bür- eine Rhetorik der Vernichtung. In: Diagonal 1997, gertums. S. hat die vormärzlich junghegelian. 1, S. 129–136. – Marcus Hahn: Die Poesie u. die Strategie, man müsse die Verhältnisse än- Scholastik. J. S., Karl Rosenkranz u. die Epigonen dern, um eine »gesunde« Kunst zu ermögli- der Literaturtheorie. In: Theorie – Politik. Selbstchen (Gervinus, Vischer), in gemäßigter Form reflexion u. Politisierung kulturwiss. Theorien. Hg. ders. Tüb. 2002, S. 107–117. – Sebastian Susteck: J. übernommen. S. In: NDB. Reinhold Hülsewiesche / Red. Das ganze dt. Bildungsleben war für S. von »bestimmungsloser Reflexion« angekränkelt. Seiner Aufsehen erregend scharfen Kri- Schmidt, Kathrin, * 12.3.1958 Gotha/ tik an naturwidrigem »subjektivem Idealis- Thüringen. – Lyrikerin, Romanautorin. mus« verfallen neben der Romantik, die Verrat sei an Bürgertum u. Nation schlecht- Nach dem Studium der Sozialpsychologie trat hin, das Liebäugeln subjektiver Nihilisten S. zunächst als Lyrikerin hervor. Dem Demit der abgestorbenen Welt der polit. u. bütband in der renommierten Ostberliner kirchl. Aristokraten, auch die als patholo- Reihe Poesiealbum (Nr. 179, 1982) folgten Ein gisch gelangweilte Snobs präsentierten Engel fliegt durch die Tapetenfabrik (Bln./DDR Jungdeutschen, deren Reflexionsnovellistik 1988), Flußbild mit Engel (Ffm. 1995), GO-IN mangelnde Verklärung u. die Tendenz zum DER BELLADONNEN (Köln 2000) u. Totentänze Trivialen u. Hässlichen aufweise. S. kritisiert (Lpz. 2001). S. war als Kinderpsychologin täaber auch Schiller u. Goethe, in dessen Wil- tig, ehe sie sich zur Wendezeit für die Vereihelm Meister er das Treiben von Komödianten nigte Linke am Runden Tisch Berlins engau. Aristokraten dargestellt findet, »das wich- gierte. Zuvor stand sie als SED-Mitgl. der tigste Moment des deutschen Volkslebens, Partei zunehmend kritisch gegenüber. Obdas Bürgertum« (Wilhelm Meister im Verhältnis wohl von Klang u. Metrum geleitet u. in hozu unserer Zeit. In: Die Grenzboten 14, H. 1/2, hem Maß sprachreflexiv u. wortschöpferisch, 1855, S. 452) aber vermisst; als Gegenbeispiel lassen ihre Zeitgedichte diesen sozialpsycholobt S. Freytags Soll und Haben, aber auch etwa logischen, polit. Blick erkennen. Indem sie Scotts abgerundete Romankompositionen, alte Formen wie den Sonettkranz aufgreift u. die für S. immer Bezugspunkte seiner Lite- Bezüge u. a. zu Hölderlin herstellt, ordnet sich S. in die Tradition ein u. grenzt sich zgl. raturkritik blieben. S.s intensive Beschäftigung mit Literatur von ihr ab. Das Romanschaffen setzte mit dem matrihat bei den Zeitgenossen Wirkung gezeitigt. Dilthey etwa räumte ihm als Literarhistoriker archalen Generationenroman Die Gunnar-Leneine maßgebl. Stellung ein u. hob bes. die nefsen-Expedition (Köln 1998) ein. Alternierend zwischen DDR-Provinz u. »Expeditionen« neuartige synchronist. Form hervor. ins Familiengedächtnis, wird er in die Nähe Weitere Werke: Gesch. der Romantik im Zeitdes lateinamerikan. Realismo mágico u. alter der Reformation u. Revolution. 2 Bde., Lpz. 1848. – Gesch. der frz. Lit. seit der Revolution. 2 Grass’ Blechtrommel gestellt; S. verweist zuTle., Lpz. 1858. 21873/74. – Charakterbilder aus der dem auf den Einfluss Irmtraud Morgners. In zeitgenöss. Lit. Lpz. 1875. – Portraits aus dem 19. opulenter Fabulierkunst, der eine barocke Fülle z.T. aberwitzig-grotesker Bilder ihren Jh. Bln. 1878. Literatur: Gustav Freytag: Erinnerungen aus besondere Tönung verleiht, dekonstruiert meinem Leben. Lpz. 1887. – Alex Köster: J. S. als S. die patriarchale, homogenisierende Geliterar. Kritiker. Bochum 1933. – Sengle 1. – Wer- schichte des 20. Jh. u. setzt an ihre Stelle hy-
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bride Entwürfe ethnischer u. nationaler u. Register durch den »Wortspielwolf« (RolfIdentitäten. Stets sind dabei Erinnerungs- Bernhard Essig, FR, 24.2.2010) u. produziert prozess u. Geschichte aufs Engste mit einer z.T. verwirrend schillernde Bedeutungen. Für ihre Werke, zu denen auch Kurzprosa allgegenwärtigen Körperlichkeit u. Sexualität jenseits bürgerl. Glücksversprechen ver- (u. a. bei der Berliner Handpresse), eine Sciknüpft. Ein solches »libidinöses Erzählen« ence-Fiction-Novelle (Sticky Ends. Bln. 2000) (Helmut Böttiger, Die Zeit, 4.6.2009) kenn- u. Kinderhörspiele (v. a. für rbb) zählen, zeichnet auch die Milieustudie Koenigs Kinder wurde S. mit zahlreichen Auszeichnungen (Köln 2002), in der erneut Zeitgeschichte in (u. a. Leonce-und-Lena-Preis, 1993) bedacht. Außenseiterbiografien aufleuchtet, während Weiteres Werk: Finito. Schwamm drüber. Köln das Magische zugunsten des Blicks der Psy- 2011 (E.en.). chologin auf Familienstrukturen u. KindLiteratur: Dorothea v. Törne: Weibsmauser. heitsmuster ganz zurückgenommen ist. Körpergedichte mit Witz: ›GO-IN der Belladonnen‹ Der entscheidende biogr. u. zgl. werkge- v. K. S. In: NDL 49 (2001), H. 536, S. 180–183. – net. Einschnitt ereignete sich, als S. mit 44 Friederike Eigler: (Familien-)Gesch. als subversive Jahren eine Hirnblutung erlitt u. in deren Genealogie: K. S.s ›Gunnar-Lennefsen-Expedition‹. Folge den Verlust der motorischen Fähigkei- In: Gegenwartslit. 2 (2003), S. 262–282. – Frauke Meyer-Gosau: K. S. In: LGL. – Kathrin Krause: K. S. ten, des Erinnerungsvermögens u. der SpraIn: KLG. Svenja Frank che. Wichtiger Bestandteil der Genesung war der von S. als »schwach« eingeschätzte »StasiPsychothriller« (Katrin Hillgruber, Bayern 2) Schmidt, Klamer Eberhard Karl, * 29.12. Seebachs schwarze Katzen (Köln 2005), mit dem 1746 Halberstadt, † 12.11.1824 Halbersie sich aus dem »Sumpf der Sprachlosigkeit» stadt. – Lyriker, Übersetzer, Herausgeber. (S.) schrieb. Den ästhetischen Neubeginn markiert die Krankheitsgeschichte Du stirbst S., dessen Vater zur niederen Beamtenschaft nicht (Köln 2009; Deutscher Buchpreis, Preis der Halberstädter Domverwaltung gehörte, der SWR-Bestenliste), in der die überborden- absolvierte das heimische Gymnasium u. de Metaphorik der früheren Texte totaler studierte 1764–1767 Rechtswissenschaft in Reduktion weicht. An die Stelle von Multi- Halle, wo er Gottfried August Bürger kennen perspektivität u. Figurenvielzahl rückt ein lernte. Nach Abschluss des Studiums kehrte in Krankheitsverlauf u. äußeren Lebensum- er nach Halberstadt zurück u. verließ es, abständen autobiogr. Kammerspiel. Waren gesehen von wenigen Reisen, nicht mehr. Fragen der Identitätskonstruktion im ge- Beruflich ohne Ehrgeiz, gelangte S. über samten Werk virulent, werden sie nun zum subalterne Positionen in der Verwaltung zentralen Thema: Der Entwicklungsroman nicht hinaus, war zunächst (unbesoldet) als im Zeitraffer zeigt, indem er mit subtilem Sekretär bei der Kriegs- u. Domänenkammer, Humor das Wiedererlangen von Ichbewusst- später durch Vermittlung einflussreicher sein, Erinnerung u. Sprache schildert, deren Gönner als Domkommissar tätig. Die mit wechselseitige Bedingtheit. Dabei korre- diesem Amt verbundenen spärlichen, aber spondiert die Erzählstrategie der Rückge- sicheren Einkünfte ermöglichten 1781 die winnung der geistigen Kräfte: kürzeste, die Heirat mit der Arzttochter Luise Abel. Bedeutung der Wörter erst erprobende AbVon Gleim, zu dessen engsten Freunden er schnitte werden zunehmend komplexer, trotz des Altersunterschiedes von fast 27 während die analyt. Struktur zurück zum Jahren bald zählte, wurde S. früh gefördert. Anfangspunkt, dem Platzen des Aneurysmas, In engem Kontakt mit Heinse, Johann Georg führt. Dieses Wort- u. Bedeutungsertasten Jacobi, Johann Benjamin Michaelis, Ludwig der aphasischen Heldin sowie die Themen August Unzer, Lorenz Benzler u. Goeckingk Krankheit u. Tod klingen nach, als es S. mit stehend, entfaltete S. in den wenigen Jahren BLINDE BIENEN (Köln 2010) gelingt, wieder von 1769 bis 1776, also im dritten LebensGedichte zu schreiben. Noch virtuoser dreht jahrzehnt, eine lebhafte poetische Tätigkeit, S. nun Redewendungen, Lyrik-Versatzstücke die sich v. a. in zehn Gedichtbänden nieder-
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Weitere Werke: Ausgabe: Leben u. auserlesene schlug (u. a. Fröhliche Gedichte. Halberst. 1769; anonym. Vermischte Gedichte. Erste Sammlung. Werke. Hg. Wilhelm Werner Johann Schmidt u. Halberst./Lemgo 1772. Zwote Sammlung. Ebd. Friedrich Lautsch. 3 Bde., Stgt./Tüb. 1826–28. – 1774. Gesänge für Christen. Lemgo 1773). S. Einzeltitel: Poet. Briefe. Dessau 1782. – Neue poet. Briefe. Bln. 1790. – Komische u. humorist. Dichzeigt sich hier ganz der von Gleim u. im tungen. Bln. 1802. – Übersetzungen: Nachrichten zu Gleim-Kreis gepflegten Anakreontik u. Ro- dem Leben des Franz Petrarka [...] (zus. mit Lorenz kokopoesie verpflichtet, die der heiter-naiven Benzler u. Wilhelm Heinse). 3 Bde., Lemgo Weltfreude, dem (bürgerlich-maßvollen) 1774–78 (aus dem Frz. des Jacques François-Paulsinnl. Lebensgenuss u. dem Glück des flüch- Alfonse de Sade). – Herausgeber: Idyllen der Deuttigen Augenblicks Ausdruck verlieh. Auf schen. 2 Tle., Ffm., Lpz. 1774/75. – Elegieen der preußisch-patriotische Töne, wie sie Gleim in Deutschen. 2 Tle., Lemgo 1776. Literatur: Friedrich Lautsch: K. S.s Leben. In: seinen 1758 erschienenen Preußischen Kriegsliedern angeschlagen hatte, verzichtete er. Ei- Leben u. auserlesene Werke. a. a. O. Bd. 1, S. 5–304 (S. 5–27 ein bis 1774 reichender autobiogr. Ber. gene Akzente setzte S. durch die NeuaufS.s). – Heinrich Pröhle: Clamor E. K. S. In: ADB. – nahme petrarkist. Poesie (Phantasien nach Theodor Feigel: Vom Wesen der Anakreontik u. Petrarka’s Manier. Halberst./Lemgo 1772. Ele- ihrem Verlauf im Halberstädt. Dichterkreis mit bes. gien an meine Minna. Lemgo 1773) – wie er Berücksichtigung K. S.s. Diss. Marburg 1909. – überhaupt Talent besaß, Autoren nachzu- Alfred Anger: Literar. Rokoko. Stgt. 21968. – Herempfinden, denen er sich wesensverwandt bert Zeman: Die dt. anakreont. Dichtung. Stgt. fühlte (neben Petrarca v. a. Horaz u. Catull: 1972. – Horst Scholke: Der Freundschaftstempel Katullische Lieder. Bln. 1774). Einige seiner im Gleimhaus zu Halberstadt: Porträts des 18. Jh. (auch formal) volkstümlicheren Lieder, wie [Ausstellungskat.]. Halberst./Lpz. 2000. – Katrin Korch: Der zweite Petrarkismus. Francesco Petrarca Als der Großvater die Großmutter nahm u. Da lieg’ in der dt. Dichtung des 18. u. 19. Jh. Mainz 2000, ich auf Rasen (eine Nachdichtung des vierten S. 95–120. – Gerlinde Wappler: K. E. K. S. Lyriker, Anakreon zugeschriebenen Gedichts), blie- Übersetzer, Herausgeber [...]. In: Dies.: Menschen ben bis weit ins 19. Jh. hinein populär. um Gleim. Bd. 2: ›Leben Sie wohl, geliebter Vater‹. Nach 1776 veröffentlichte S. nur noch we- Oschersleben 2000, S. 16–27. – Jörg-Ulrich Fechnig, darunter eine Horaz-Übersetzung (Hora- ner: ›Claudius in Halberstadt‹: zu einer poet. zens Sämmtliche Lyrische Dichtungen [...]. Hal- Epistel von K. E. K. S. In: Neuer Familienkundl. berst. 1820). Aus Gleims Nachlass gab er die Abend 14 (2005), S. 5–43. Matthias Richter / Red. Briefsammlung Klopstock und seine Freunde (2 Bde., ebd. 1810) heraus, die infolge seiner Bearbeitung den Aspekt des Freundschafts- Schmidt, Maximilian, gen. Waldschmidt, * 25.2.1832 Eschlkam/Bayerischer Wald, kults über Gebühr hervortreten lässt. Das Versiegen seiner poetischen Produkti- † 3.12.1919 München; Grabstätte: ebd., on ist nicht nur individuell als Ausdruck von Alter Südlicher Friedhof. – Erzähler, S.s latent depressiver Persönlichkeit zu in- Dramatiker. terpretieren. Ebenso spiegelt sich darin die Der Sohn eines Oberzollverwalters studierte Tatsache, dass die im Halberstädter Kreis seit 1848 am Polytechnikum München u. gepflegte Rokokopoesie, auf die S. zeit seines schlug 1850 die militärische Laufbahn ein. Lebens festgelegt war, in der ästhetischen Als Hauptmann nahm er 1874, von König Diskussion seit Mitte der 1770er Jahre als Ludwig II. mit dem Hofratstitel ausgezeichüberholt abgetan wurde. Auch der neuere, net, wegen eines chron. »Nervenleidens« den unbefangenere Blick (bes. Alfred Angers) auf Abschied u. lebte als freier Schriftsteller in diese Dichtkunst hat zu keiner günstigeren München. Nach Lust- u. Singspielen für das Beurteilung von S.s Dichtungen geführt. Laientheater (u. a. Der Knopf im Sacktuch, 1862 Treffend bleibt die Charakterisierung durch vom Münchner Hoftheater übernommen) Heinse, für den S. der »melancholische, [...] fand S. sein Thema in der erzählenden Darzärtliche, der ganz rosenherzige Minnasän- stellung der »schönen Waldheimat, die man ger« (an S., 16.7.1773) war. vollständig verkannte und als bayerisches Si-
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birien verschrie« (Selbstbiographie, 1913). An Ebd. 1882. – Kulturbilder aus dem Bayerischen Stifters Beschreibung des Böhmerwaldes ori- Walde. Ebd. 1885. – König Ludwigs I. Walhallaentiert, wollte er den Bayerischen Wald (spä- fahrt. Ebd. 1888 (Festsp.). – Meine Wanderung ter auch das Voralpenland) in »landschaftli- durch 70 Jahre. 2 Bde., Reutl. (Autobiogr.). – Selbstbiographie. In: Geistiges u. künstler. Müncher, kultureller und ethnographischer Hinchen in Selbstbiographien. Hg. Wilhelm Zils. sicht bekannt machen«. In seinen über 50 Mchn. 1913, S. 322–324. Volkserzählungen, zahlreichen Humoresken, Literatur: Ludwig Stockinger: M. S. gen. Dialektgedichten u. Theaterstücken bemühte Waldschmidt. Annäherung an einen vergessenen sich S., z.T. nach genauen Spezialstudien, ›Volksschriftsteller‹. In: Ostbair. Grenzmarken 25 Zeugnisse der Volkspoesie u. -frömmigkeit, (1983), S. 224–257. – Rolf Schmidt: Der WaldschSagen, Märchen u. Sittenbilder einzuflech- midt u. der Märchenkönig. In: Der Bayerwald 87 ten. Bei aller Detailtreue, wie z.B. der Ver- (1995), S. 19–25. – Helmut Kreutzer: Ein Maler mit wendung des Dialekts (dessen Fehlen er an der Feder. Zu Leben u. Werk des Bestsellerautors der zeitgenöss. Dorfgeschichte monierte) be- M. S., der vor 100 Jahren als Dichter des Bayer. wegten ihn seine letztlich moraldidakt. In- Waldes den Ehrennamen ›genannt Waldschmidt‹ tentionen zu einer versöhnlich-idealisieren- erhielt. In: Lit. in Bayern 52 (1998), S. 2–9, 26–29. – Große Bayer. Biogr. Enzyklopädie. Hg. v. Hansden Darstellung ländl. Verhältnisse, die er Michael Körner unter Mitarb. v. Bruno Jahn. Mchn. gegen Kritik aus der naturalistischen Rich- 2005, Bd. 3, S. 1746. – Manfred Knedlik: M. S. In: tung verteidigte. Am bekanntesten wurden NDB. – Anton Lichtenstern: Ein vergessener Heidie Volkserzählungen aus dem Bayerischen Walde matroman. ›’s Liserl vom Ammersee‹ v. M. S. ge(4 Bde., Mchn. 1863–68), für die sich die Be- nannt Waldschmidt. In: Landsberger Geschichtsbl. zeichnung »Waldgeschichten« einbürgerte u. 107 (2008), S. 62–68. an denen die zeitgenöss. Kritik die oft huChristian Schwarz / Björn Spiekermann morige, derbe Originalität der Landleute lobte, daneben die Hochwaldgeschichten aus dem Schmidt, Michael Ignaz, * 30.1.1736 Arnbayerisch-böhmischen Grenzgebiet (ebd. 1891). stein/Unterfranken, † 1.11.1794 Wien. – Als Hausautor des Münchener Volkstheaters Historiker, (Religions-)Pädagoge. u. des Theaters am Gärtnerplatz war S. zudem mit Bauernstücken (insg. 30, bes. Das Nach dem Besuch des Julianäums in WürzAustragsstüberl. 1882) erfolgreich; er galt, vom burg absolvierte der Sohn eines kleinen BeKönig persönlich hochgeschätzt, als belieb- amten seit 1748 das dortige Jesuitengymnatester bayerischer Volksschriftsteller seiner sium u. wechselte 1753 auf das bischöfl. Weltpriesterseminar über. Nach der PriesterZeit. Neben der schriftstellerischen Arbeit setzte weihe 1759 wirkte S. als Kaplan in Haßfurt u. sich S. für die Pflege der bayerischen Kultur u. wurde 1761 Hofmeister bei dem protestantiLandschaft ein. 1890 gründete er den baye- schen Grafen Rotenhan in Bamberg. Hier u. rischen Fremdenverkehrsverband; 1895 or- später als Benefiziat auf einer Rotenganisierte er in München das große Trach- han’schen Stelle in Neuhausen auf den Filtenfest, das bis heute im Oktoberfestzug dern widmete er sich der frz. u. engl. Auffortbesteht. Hatte schon König Ludwig II. klärungsphilosophie sowie dem Studium der seine Erzählungen geschätzt, so verlieh ihm theoret. Psychologie, wobei er – wie seine Prinzregent Luitpold 1898 für seine Ver- Geschichte des Selbstgefühls (Ffm./Lpz./[Würzb.] dienste den erbl. Namenszusatz »Der Wald- 1772) belegt – von den engl. Sensualisten schmidt«. Der 1984 gegründete Wald- beeinflusst war. 1766 als Verweser des adlischmidt-Verein vergibt jährlich den Wald- gen Seminars nach Würzburg geholt, erhielt schmidt-Preis an Künstler, die sich in ihrem S. 1771 die Stelle des UniversitätsbibliotheWerk dem bayerischen Wald gewidmet ha- kars; 1773 wurde er zum Professor für dt. Reichsgeschichte, 1774 zum Geistl. Rat erben. Weitere Werke: Ges. Werke. 34 Bde., Reutl. nannt. Als Mitgl. der Schulkommission trug 1898–1910. – Einzeltitel: Der vergangene Auditor. S. maßgeblich zur Reform des Schulwesens u. Mchn. 1880 (Humoreske). – Der Herrgottsmantel. zur Reorganisation der Universität bei. Er
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wirkte auch an den von dem Banzer Bene- In: Bautz. – Peter Baumgart: M. I. S. (1736–1794) in diktiner Placidus Sprenger herausgegebenen seiner Zeit. Der aufgeklärte Theologe, Bildungsre»Fränkischen Zuschauern« (Ffm./Lpz. 1772/ former u. ›Historiker der Deutschen‹ aus Franken 73) mit, der ersten krit. Zeitschrift des kath. in neuer Sicht. Neustadt 1996. – Andreas Kraus: Persönlichkeit u. Geschichte. Beobachtungen zur Deutschland. ›Gesch. der Deutschen‹ (1778–1783) v. M. I. S. 1780 folgte S. dem Ruf Maria Theresias als Würzb. 1998. – Edgar Michael Wenz: I. M. S. als Direktor des Haus-, Hof- u. Staatsarchivs nach ›erster dt. Geschichtsschreiber‹. In: Rechtsforsch., Wien. Hier widmete er sich vornehmlich der Rechtspolitik u. Unternehmertum. FS E. M. W. Hg. Fortführung seiner in der Würzburger Zeit Ulrich Karpen. Bln. 1999, S. 325–332. – Uwe bis ins Zeitalter Karls V. gediehenen Geschichte Puschner: M. I. S. In: NDB. Uwe Puschner / Red. der Deutschen (Tle. 1–5, Ulm 1778–83. Tle. 6–11, Wien 1785–93. Tle. 12–22 von Joseph Milbiller. Ulm/Wien 1797–1808. Frz. u. Schmidt, Nikolaus, auch: Georg Hakenniederländ. Übersetzungen), dem Hauptwerk schmid, Klaus Hammerschmidt, * 25.9. der aufgeklärt kath. Geschichtsschreibung im 1874 Sigmundshausen bei Arad/Banat (heute: Rumänien), † 21.9.1930 Budapest. 18. Jh., das unter S. bis zum Tod Ferdinands – Lyriker, Dramatiker. III. (1657) gelangte. Quellennah gearbeitet, innerhalb der Epochendarstellung der von S., Sohn eines Müllergesellen, erlernte den Voltaire u. Robertson vorgeführten Methode Schreinerberuf, arbeitete 1892–1896 in einer einer systemat. Fächerordnung folgend u. Fabrik in Arad, lebte in Österreich, England, dabei nach dem Grad der »Nationalglückse- Frankreich u. Deutschland, wo er sich für die ligkeit« einer jeden Epoche fragend, fand die SPD politisch betätigte, u. war nach der dem Reichspatriotismus verpflichtete dt. Ge- Rückkehr in seine Heimatstadt Wirt u. Kräschichte – u. a. aufgrund eines meist über- mer. 1912 wurde er Mitarbeiter in der Rekonfessionellen Standpunkts u. des nationa- daktion des konservativen »Budapester Taglen Ansatzes – überwiegend positive Auf- blatts«. S. ist als einer der ersten deutschsprachigen nahme beim gebildeten Publikum. Weitere Werke: Leben u. Sitten der hl. Jung- Arbeiterdichter Rumäniens bemerkenswert. frau Maria. Bamberg 1765. – Methodus tradendi Bereits seine ersten dt. Gedichte (Sturmboten. prima elementa religionis, sive catechizandi [...]. 1908) zeigen seine christlich-soziale, soziaBamberg/Würzb. 1769 (= Der Catechist nach seinen listische Einstellung. Sein Hauptwerk sind Eigenschaften u. Pflichten [...]. Übers. v. Benedikt die Dudelsacklieder eines Schreinergesellen (Lpz. Strauch. Bamberg/Würzb. 1772 u. ö.). – Entwurf 1909), in denen er die Erfahrungen seiner der Würzburger Schulen-Einrichtung. Würzb. Wanderzeit in einfacher lyr. Sprache formu1774. – Vorstellung einiger Erwägungs- u. liert. Ihnen folgten in deutschsprachigen Übungswahrheiten zur Beförderung der Religion. Zeitschriften veröffentlichte Gedichte, HuSchwabach 1774. – Prüfung u. Ursachen einer Asmoresken u. Theatermanuskripte, wie z.B. soziazion zu Erhaltung des Reichssistems welche in Der Bär. Komisches Volksstück (1910). Mit der der Erklärung Sr. Königl. Maj. v. Preussen [...] sind Tätigkeit als Redakteur nahm S.s Schaffen vorgelegt. Wien 1785. eine Wendung zum Mystischen u. NationaLiteratur: Franz Oberthür: M. I. S.s [...] Lelistischen. Seine Schriften verloren sprachlich bens-Gesch. Hann. 1802. – Wilhelm Büttner: M. I. S. als Katechet [...]. Paderb. 1921. – Arnold Berney: an Eigenständigkeit (Satan. Komödie der Idee. M. I. S. Ein Beitr. zur Gesch. der dt. Historiographie Budapest 1922). im Zeitalter der Aufklärung. In: Histor. Jb. 44 (1924), S. 211–239. – Gertrud Degenhard: Das Bild der dt. Gesch. bei M. I. S. Diss. Gött. 1954. – Karl Josef Lesch: Neuorientierung der Theologie im 18. Jh. in Würzburg u. Bamberg. Würzb. 1978. – Ottmar Seuffert: M. I. S. 1736–1794: Theologe, Bildungsreformer, Historiker u. Archivar [Ausstellungskat.]. Arnstein 1986. – Silvia Wimmer: M. I. S.
Weitere Werke: Die braven Bauern. Dorfpolit. Komödie. Bln. 1910. – Weltenbrand u. Vaterland. Patriot. Gedichte. Budapest 1915. Literatur: Egon Dörner u. Heinz Stanescu: N. S. Sein Leben u. Werk im Bild. Bukarest 1974. – Kaspar Hügel: Der Banater Arbeiterdichter N. S. bei Anton Valentin, Nikolaus Britz u. Walter Engel. In: Südostdt. Vierteljahresblätter 33 (1984), H. 3,
Schmidt S. 189–192. – János Szabó: Ein dt. Arbeiterdichter in Ungarn. N. S. In: Germanist. Jb. DDR – Republik Ungarn 3 (1984), S. 135–47. – H. Stanescu: N. S. In: ÖBL. – Johann Adam Stupp: Wie N. S. (1874–1930) ein deutschsprachiger Arbeiterdichter wurde. In: Schriftsteller zwischen (zwei) Sprachen u. Kulturen. Hg. Antal Mádl u. Peter Motzan. Mchn. 1999, S. 161–170. Christian Schwarz / Red.
Schmidt, Siegfried J(osef), auch: Sibi Kanz, * 28.10.1940 Jülich. – Literaturtheoretiker, Essayist, Verfasser experimenteller Texte.
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tivismus«, für den »Wirklichkeiten« Konstrukte der Erkenntnis sind. Folgerichtig befasste er sich in den 1990er Jahren mit den Veränderungen der sozialen u. individuellen Wirklichkeitskonstruktionen durch die Medien. S.s theoret. Ansatz berücksichtigt dabei gesellschaftliche Entwicklungen, Werbung, Emotionen sowie die natürl. Sprache. Dass die poetische Sprache hier nicht zu kurz kommt, zeigt der vergnügl. Textparcour alles was sie schon immer über poesie wissen wollten mit 30 sog. Zustandsberichten (Klagenf. 1996). Zu den jüngsten Arbeiten gehört die Frage nach der Wirklichkeit der Wirklichkeit in Die Endgültigkeit der Vorläufigkeit (Weilerswist 2010), dem ein Beobachtungsmanagement mit Audio-CD (Köln 2007) voranging. S.s Publikationsliste verzeichnet über 750 Titel, zu denen auch zahlreiche literar. Beiträge in Zeitschriften u. Anthologien gehören.
S. studierte 1960–1965 Philosophie, Kunstgeschichte, Linguistik u. Geschichte an den Universitäten Freiburg i. Br., Göttingen u. Münster. 1968 habilitierte er sich an der Universität Karlsruhe. Von 1979 bis 2005 war er als Professor für Texttheorie, Theorie der Literatur u. Germanistik an den UniversitäWeitere Werke: traktat über das wort natürten Bielefeld, Siegen u. Münster tätig. Be- lich. Bielef. 1972. – einsal oder die stammrolle. einflusst von den Arbeiten der konkreten Münster 1980. – sechs & schatten. Siegen 1986. – Poesie u. der Konzeptkunst, verfasste S. lite- schreibwerke & kopfstücke. Bochum 1987. – ganz rar. Texte, in denen er versuchte, Theorie u. einfach. hörspiel. In: Fest-Schrift. Zum 65. GeKunst in ihren Erkenntnispotentialen auf- burtstag v. Winfried Pielow. Hg. Jürgen Hein. Münster 1989. – LATE-MAR. Bochum 1990. – von einander zu beziehen. So exemplifiziert in anbeginn. Gedichte (zus. mit Luciano Civettini). Visuelle Poesie. Thesen Textzyklus (Andernach Bielef. 2001. – latemar nachlass 2. Bln. 2004. – An 1970) der typografisch gestaltete Text The- den Windstillen vorbei. Bielef. 2010. sen, die ihn theoretisch fundieren. Bis Mitte Olaf Nicolai / Günter Baumann der 1970er Jahre blieb S. dem Konzept der konkreten Poesie verpflichtet. Neben Eugen Schmidt, Uve, * 14.11.1939 Wittenberg. – Gomringer u. Max Bense zählt er zu deren Lyriker, Erzähler, Essayist, Hörspielautor, wichtigsten Theoretikern. Literarisches Übersetzer. Hauptwerk dieser Periode ist das Textkonvolut volumina (Bde. 1–4, Bielef. 1975/76. Der Sohn eines Kaufmanns ging zunächst in Bd. 5, Breitenbrunn 1976), in dem bereits der DDR u. dann in West-Berlin zur Schule. eine Erweiterung des strengen Textbegriffs Zwischen 1957 u. 1959 studierte S. Freie demonstriert wird. Eine zunehmend krit. Grafik an der Hochschule für Bildende Haltung gegenüber den einseitig rationalis- Künste in West-Berlin u. trat danach tischen Prämissen der konkreten Poesie führt (1960–1963) eine Hospitantenstelle beim zur Einbeziehung metaphor. u. assoziativer Dichter u. Drucker V. O. Stomps in Stierstadt/ Sprechweisen sowie zu einer Auseinander- Taunus an. Mit Unterbrechung durch Tätigsetzung mit tradierten literar. Formen. In keiten in der Werbung sowie im Presse- u. Luftschiffahrt. Eine Briefpartitur (Bielef./Linz/ Verlagswesen lebt S. seit 1967 als freier Wien 1989) konstruiert S. mit Hilfe der Gat- Schriftsteller u. Publizist in Frankfurt/M. tung Briefroman den Dialog zweier LiebenS.s Lyrik u. Prosa zeichnen sich durch der, wobei Identität als Konstrukt einer scharfe Beobachtungsgabe aus u. werfen eisprachl. Totalität vorgestellt wird. Dem ent- nen oft schonungslosen Blick auf den kultuspricht die von S. in den 1980er Jahren ent- rellen Lebensstil der westdt. Nachkriegsgewickelte Theorie eines »Radikalen Konstruk- sellschaft. S., der in Schöne Gegend mit Figuren
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(Neuwied/Bln. 1965) Lebensbilder mit poetischer Distanz, aber in kräftiger, sinnlichporöser Sprache zeichnet, wurde in den Romanen Ende einer Ehe (Jossa 1978), Danach/ Kinder einer Ehe (ebd. 1979) u. insbes. in Die Russen kommen (Zürich 1982) immer scharfzüngiger, sarkastischer u. zynischer. In Die Russen kommen entwirft S., in einer Sprache, die sich des Berliner u. Frankfurter Dialekts u. des berufs- u. szenetypischen Jargons bedient, das Szenario eines Geisterkrieges. Ein verschleierter Reaktorunfall, Manöver der NATO u. des Warschauer Pakts sowie eine offizielle Nachrichtensperre bilden den Hintergrund für das plötzl. Entstehen eines Gerüchts vom Dritten Weltkrieg u. einer bevorstehenden russ. Aggression. Es entwickeln sich hyster. u. bisweilen karnevaleske Situationen, die Mentalität u. Zeitgefühl der frühen 1980er Jahre zeigen. Was hier u. an anderen Texten S.s auffällt, ist die beabsichtigte Anstößigkeit gegenüber sozialen Konventionen u. dem offiziellen Kulturbetrieb. Weitere Werke: Mit Rattenflöten. Stierstadt 1960 (L.). – Die Eier. Ebd. 1961 (Kurzroman). – Spielgebeine. Bad Homburg 1963 (P.). – Frankfurter Buchmessbuch. Oberursel 1977 (L.). – Holunderblüten. Ffm. 1984 (Sagen). – Ei häwwe dream. Düsseld. 1984 (P.). – U. S. u. Claudia Gehrke (Hg.): Mein heiml. Auge II. Tüb. 1985. – Dt. Mädels. Augsb. 1987 (L., P.). – Liebe u. Tod. Erzählgedichte. Ffm. 1991. – Maskerade. Neu-Isenburg 1993 (L.). – Freudsland. Psychopoema. Gifkendorf 1994. – Sex ist dof. Tüb. 1996 (Reden u. Aufsätze). – Hitler im Himmel. Gedichte u. Episteln. Bln. 1998. – Kehraus Karhundert. Der Kode des Kaim MCMXCIX. Eine Katamnese des 20. Jh. Mit Kryptographien v. Lienemeyer. Gifkendorf 1999. – Abendlanddämmerung. Bln. 2001 (L.). – Unterm Halbmond. Bln. 2003 (E.). – Kunst aus Stellung. Mainz 2005 (Ess.). – Credo. Bln. 2006 (L.). Wolfgang Martynkewicz / Red.
Schmidt-Barrien, Heinrich (Adolf), eigentl.: H. A. Schmidt, * 19.1.1902 Uthlede bei Geestemünde, 9.12.1996 Lilienthal bei Bremen. – Erzähler, Dramatiker. Der Sohn eines Pastors besuchte das humanistische Gymnasium in Bremen, absolvierte anschließend eine Großhandelslehre u. arbeitete danach als Kaufmann in Bremen u. in
Schlesien. In den 1920er Jahren war S. einige Zeit als Buchhändler in Breslau tätig. 1932 wurde er zum Leiter der Kulturabteilung der Bremer Böttcherstraße ernannt. Zwischen 1941 u. 1945 war er Soldat u. a. in der Sowjetunion u. in Norwegen. Nach dem Krieg siedelte sich S. in der Nähe von Bremen an u. lebte dort als freier Schriftsteller. Daneben war er mehr als 25 Jahre Dramaturg am Bremer Niederdeutschen Theater. Bereits vor dem Krieg veröffentlichte S. kürzere hochdt. u. niederdt. Erzähltexte. Sein umfangreiches Werk umfasst neben wenigen Romanen v. a. hoch- u. niederdt. Erzählungen, Novellen, Theaterstücke u. Hörspiele. S.s hochdt. Arbeiten greifen häufig polit. Themen auf, so die Novelle Lessing im Walde (Gött. 1964), welche die Gefangennahme einer dt. Schauspieltruppe durch russ. Partisanen im Zweiten Weltkrieg behandelt. Große Aufmerksamkeit fand sein plattdt. Werk, hier v. a. die Novellen De frömde Fro (Hbg.-Wellingsbüttel 1952) über das Schicksal einer Flüchtlingsfrau im Westen u. De Sommerdeern (Bremen 1977) über die Liebe eines alten Mannes zu einer jungen Frau. S.s Werke spielen fast sämtlich in Norddeutschland, ohne jedoch den »niederdeutschen Menschen« zu heroisieren. – S. erhielt zahlreiche Literaturpreise, u. a. 1954 den Rudolf-Alexander-Schröder-Preis seiner Heimatstadt Bremen; 1965 war er Ehrengast der Villa Massimo in Rom. Weitere Werke: H. S. Ges. Werke. 5 Bde., Bremen 1975. – H. S. Werkausg. Bde. 4, 8, 10, 13, Gött. 1984/85. – Gesch.n u. Döntjes. Op Platt vertellt. Ebd. 1984. – Not oder Brot. Roman aus dem Teufelsmoor. Heide 1987. – Strandgut. Ebd. 1989 (R.). – Worpsweder Begegnungen. Aus meinem Skizzenbuch. Osterholz-Scharnbeck 1989. 21990. – Aus dem alten Bremen. Kulturgeschichtl. Streifzüge. Ebd. 1989. – De Vagelfänger. Plattdt. N. mit hochdt. Übertragung. Heide 1990. – Ut de ole Tied. Geschichten un Döntjes. Osterholz-Scharnbeck 1991. – Aus meinen Jungensjahren. In Uthlede, Hamelwörden u. Barrien (1902–1917). Heide 1992. – Geliebte Biene. Ein Tgb. Für Rose. Ebd. 1993. – Jann Kiewitt. Plattdt. Gesch.n. Lilienthal 1994. – Aus dunklen Tagen. Bremische N.n u. Memoiren. Bremen 1994. – Water över Weyerdamm. Sowat as’n N.n v. Ehrgistern (1666–1756). OsterholzScharmbeck 1995.
Schmidt von Werneuchen Literatur: Heinrich Wesche: H. S. In: Jahresgabe der Klaus-Groth-Gesellsch. 1966, S. 54–62. – Ulf Bichel: De Moorkeerl. Eine Interpr. In: ebd. 1970, S. 78–85. – H. S. In: niedersachsen literarisch. 65 Autorenporträts. Hg. Dieter P. Meier-Lenz u. Kurt Morawietz. Bremerhaven 1978, S. 238–241. – Fritz Westphal: Die fünf plattdt. Novellen des H. S. In: Quickborn 77 (1987), S. 103–112. – Irene Grotefend: H. S.-B. (1902–1996). Texte u. Bilder zu Leben u. Werk. Lilienthal 1999. Jörg Schilling / Red.
Schmidt von Werneuchen, Friedrich Wilhelm August ! Schmidt, Friedrich Wilhelm August Schmidtbonn, Wilhelm, eigentl.: W. Schmidt, * 6.2.1876 Bonn, † 3.7.1952 Bad Godesberg; Grabstätte: Bonn, Alter Friedhof. – Dramatiker, Erzähler, Lyriker. Nach Studien in Bonn, Berlin u. Göttingen (v. a. Literatur) führte der Sohn eines Pelzhändlers ein Wanderleben in der Schweiz u. in Tirol. Dort nahm er seine, im Weiteren dann umfangreiche, vielseitige literar. Produktion auf. S.s erstes veröffentlichtes Drama, Mutter Landstraße. Das Ende einer Jugend (Bln. 1901), das in den bayerischen Bergen spielt, machte ihn 1904 mit der zweiten Aufführung in Berlin durch Max Reinhardt bekannt. S.s Debüt als Erzähler zur gleichen Zeit zeigt ihn als realistischen u. unromant. Schilderer von Menschenschicksalen aus seiner Heimat, der seine Figuren im Dialekt sprechen lässt: Uferleute. Geschichten vom untern Rhein (Bln. 1903), Raben. Neue Geschichten vom untern Rhein (Bln. 1904). Überhaupt bildet S.s rheinische Heimat ein themat. Zentrum, etwa in Die goldene Tür. Ein rheinisches Kleinstadtdrama (Bln. 1904) oder in seinen freilich darüber hinausgehenden, aus episodenhaften Einzeltexten bestehenden Lebenserinnerungen An einem Strom geboren (Ffm. 1936), bes. aber im Roman Der dreieckige Marktplatz (Bln. 1935. Neuausg. Bonn 1989. 2004), der eine Bonner Handwerkerfamilie der Jahre 1870–1900 beschreibt. Daneben werden S.s Werke immer wieder von Märchenhaftem, Legendenhaftem u. Mythisch-Religiösem geprägt; symboli-
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sche Einzelschicksale u. Allgemeinmenschliches stehen im Mittelpunkt. 1906–1908 war S. Dramaturg in Düsseldorf, danach freier Schriftsteller, der u. a. nach dem Ersten Weltkrieg, den er als Kriegsberichterstatter erlebte, einige Jahre am Tegernsee lebte, ehe er sich endgültig in Bad Godesberg niederließ. Zu Lebzeiten war S. durchaus bekannt, u. einige seiner Dramen waren relativ erfolgreich; heute ist er weitgehend vergessen. Weitere Werke: Der Heilsbringer. Eine Legende v. heute. Bln. 1906. – Der Graf v. Gleichen. Bln. 1908 (D.). – Der Zorn des Achilles. Bln. 1909 (Trag.). – Der spielende Eros. Vier Schwänke. Bln. 1911. – Lobgesang des Lebens. Bln. 1911 (Rhapsodien). – Der Wunderbaum. 23 Legenden. Bln. 1914. – Menschen u. Städte im Kriege. Bln. 1915. – Die Stadt der Besessenen. Ein Wiedertäufersp. Bln. 1915. – Der Geschlagene. Mchn. 1919 (D.). – Die Schauspieler. Ebd. 1920 (Lustsp.). – Die Fahrt nach Orplid. Ein Drama unter Auswanderern. Bln. 1922. – Garten der Erde. Märchen aus allen Zonen. Nacherzählt v. W. S. Lpz. 1922. – Der Verzauberte. Seltsame Gesch. eines Pelzhändlers. Lpz. 1924 (R.). – Maruf, der tolle Lügner. Märchenkom. aus 1001 Nacht. Stgt. 1925. – Die Gesch.n v. den unberührten Frauen. Ebd. 1926. – Mein Freund Dei. Gesch. einer unterbrochenen Weltreise. Stgt. 1928 (R.). – HüLü. Potsdam 1937 (R.). – Anna Brand. Bln. 1939 (R.). – Albertuslegende. Köln 1948. Neuausg. u. d. T. Albertus Magnus. Pilger des Herzens. Ffm. 2008 (biogr. R.). Literatur: Trudis Reber: W. S. auf der deutschsprachigen Bühne. Diss. Emsdetten 1969 (mit Bibliogr.). – Verein August-Macke-Haus e. V. (Hg.): W. S. u. August Macke. Die Faszination des neuen Theaters. Bonn 1994. – Gertrude CeplKaufmann: W. S. (1876–1952). In: Lit. v. nebenan. 1900–1945. 60 Portraits v. Autoren aus dem Gebiet des heutigen Nordrhein-Westfalen. Hg. Bernd Kortländer. Bielef. 1995, S. 311–317. – Pia Heckes: ›Über die Notwendigkeit, die Welt sozial zu erneuern ...‹. W. S. (1876–1952) u. der ›Magier v. Köln‹. Die Albertuslegende, ein literar. Vermächtnis. In: Bonner Geschichtsbl. 55/56 (2006), S. 233–256. Walter Olma
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Schmieder, Schmider, Heinrich Gottlieb, * 3.6.1763 Dresden, † nicht vor 1811 St. Petersburg. – Theaterschriftsteller, Erzähler, Herausgeber.
Schmieher Literatur: Otto Beneke: H. G. S. In: ADB. Andreas Meier
Schon während des Jurastudiums veröffent- Schmieher, Schmiecher, Schmier, Smieher, lichte S. kleinere prosaische u. dramat. Wer- Peter, urk. 1424–30 in Augsburg. – Verke, unter denen die Satire auf das zeitgenöss. fasser von erzählenden u. lehrhaften Werther-Fieber, Kronhelm, oder Gleich ist der Reimpaardichtungen. Werther fertig (Lpz. 1783; D.), bekannter wur- P. S. signiert die Gedichte Der Neihart, Die de. Eine 1786 begonnene militärische Lauf- Nonne im Bade, Der Student von Prag, Die Wolfsbahn gab er 1788 wegen einer Anstellung als klage, Vom Würfelspiel mit seinem Namen. Ein Theaterdichter in Mainz auf, wo er sein sechster Text, Von der Kuh, lässt aufgrund des Lustspiel Gestorben und Entführt (Ffm. 1789) u. Überlieferungskontextes u. einer denkbaren die Scenen aus der Geschichte König Heinrichs IV. Verschreibung des Namens (»der Schuber«) P. von Castilien (3 Bde., Gotha 1786–88) vollen- S. als Redaktor erscheinen. Seine Versdichdete. S., der auch als Bearbeiter u. Übersetzer tungen, die recht breit überliefert sind, umvon Singspielen (Die beiden Savoyarden. fassen somit zwei Schwankerzählungen, eine Mannh. 1795) u. Opern (Raoul Blaubart, heroi- Tierfabel, zwei didakt. Reden u. evtl. die kosche Oper in 3 Aufzügen. Altona 1802; nach Jean mische Lobrede auf eine Kuh. Michel Sedaine) sowie als Herausgeber von Mehrfach u. besonders breit überliefert ist Theaterjournalen (u. a. »Allgemeines Thea- die schwankhafte Geschichte Der Student von terjournal«. Mainz 1792) hervortrat, begab Prag. Sie handelt von der überlegenen List sich nach Aufenthalten in Mannheim u. einer ehebrecherischen Frau, die den listigen Stuttgart 1795 nach Altona, wo er bis zum Ehemann übertrifft. Während der Mann zu1.9.1798 Regisseur u. Direktor am National- nächst den Liebhaber seine Frau entdeckt u. theater war. Obwohl seit dem 22.5.1799 einsperrt, gelingt es der Frau anschließend, Hamburger Bürger, konnte er dort als Buch- den Liebhaber zu befreien u. gegen einen Esel händler u. Verleger eigener Werke nicht re- auszutauschen. Das Sujet ist des öfteren üssieren. Nach weiteren erfolglosen Theater- schwankhaft gestaltet worden, am bekannunternehmungen in Hamburg ging S. 1804 testen ist wohl das Märe vom Pfaffen mit der als Übersetzer u. Restaurateur an das Deut- Schnur des Schweizer Anonymus. Die zweite sche Theater nach St. Petersburg, schied aber Schwankerzählung, Die Nonne im Bade, gehört bereits 1805 wieder aus u. trat nur noch als dem Themenkreis »Verführung und erotiRomancier hervor (Der Seelenverkäufer. Lpz. sche Naivität« (Fischer) an. Die Tierfabel Die 1807). Nach 1811 verliert sich seine Spur. Wolfsklage ist breit rezipiert u. in weltl. u. Weitere Werke: Der Seelenverkäufer. Dresden, geistl. Auslegung realisiert worden. Vom Lpz. 1784 (D.). – Scenen aus der neuesten Welt. Würfelspiel u. Der Neidhart sind weltl. LehrreHalle 1785. – Ueber Reisenachbetereyen u. Naturden, wobei Neidhart hier nicht der Liederauftritte; Bemerkungen auf einer Reise [...]. Ebd. 1786. – Das Erdbeben zu Messina. Ebd. 1786. – Die dichter u. Schwankheld ist, sondern die PerWilden. Singsp. aus dem Frz. Ffm. 1791. Neuaufl. sonifikation des Neides, die als Grundlaster 1805. – Gedichte u. Skizzen [...]. Mainz 1791. – der Menschheit in beiden Geschlechtern u. Dramat. Beiträge für die dt. Bühne. 2 Bde., Hbg./ allen Ständen zuhause ist. Mit dem Würfelspiel Altona 1799/1800. – Das Nixenreich [...]. Zwi- reiht P. S. sich in eine Reihe der zeitgenössischenspiel zum ›Donauweibchen‹. Lpz. 1806. – schen moraldidakt. Lehren gegen dieses Folgen der Eifersucht. Ebd. 1811 (R.). – Herausgeber: teuflische u. verdammungswürdige GlücksRheinische Musen oder Ztg. fürs Theater [...]. spiel ein. Die Lobrede auf die Kuh geht auf ein 6 Bde., Mannh. 1794–97. – Journal für Theater [...]. Gedicht des Königs vom Odenwald zurück, 5 Bde., Hbg. 1797/98. – Neues Journal für Theater dessen Œuvre – im Hausbuch des Michael de [...]. 3 Bde., ebd. 1799–1801. Leone überliefert – mehrere belustigende Reden über den Nutzen der Haustiere enthält.
Schmit
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Ausgaben: John E. Tailby: Der Reimpaardichter P. S.: Texte u. Untersuchungen. Göpp. 1978. – Walter Tauber: Das Würfelspiel im MA u. in der frühen Neuzeit. Eine kultur- u. sprachgeschichtl. Darstellung. Ffm. u.a. 1987, S. 110–104, 212–215. Literatur: Hanns Fischer: Studien zur dt. Märendichtung. Tüb. 21983, S. 171–174, 394 f. – Johannes Janota: P. S. In: VL (mit Lit.). – Sarah Westphal-Wihl: ›Vergesellschaftung‹ in ›Mären‹ Transmission: P. S.’s ›Der Student von Prag‹. In: MLN 101 (1986), S. 670–694. – W. Tauber (s. Ausgaben), S. 54. – Klaus Grubmüller: Die Ordnung, der Witz u. das Chaos. Tüb. 2006, S. 137, 144. Karina Kellermann
Schmit, Schmid, Schmidt, Schmitt, (Johann Christoph) Friedrich, * 4.4.1744 Nürnberg, † 6.11.1814 Liegnitz. – Übersetzer. S., dessen Vater promovierter Advokat war, bezog 1761 die Universität Altdorf; 1765 studierte er in Leipzig. Anschließend war er Sekretär von General von Seckendorf, danach kurze Zeit Hofmeister in Göttingen. 1771 zog S. zu Samuel Gotthold Lange nach Laublingen. 1772–1774 war er Lehrer im Kloster Bergen bei Magdeburg, kehrte dann nach Nürnberg zurück, bis er 1775 zum Professor der schönen Wissenschaften an die Ritterakademie in Liegnitz berufen wurde. 1779 heiratete er Charlotte Friederica Ravestein; das einzige Kind verstarb früh. S. Werk u. Wirkung sind bislang kaum erforscht. Seine Gedichte (Nürnberg 1779) zeigen eine deutl. Orientierung an der lat., engl. u. ital. Dichtung. So verhalf er dem Sonett zu neuer Geltung u. war durch seine Nachahmung »Petrarchischer Oden« ein namhafter Repräsentant des ›Zweiten Petrarkismus‹. In seinen versifizierten Erzählungen, Fabeln und Romanzen (Lpz. 1781) mischt er mit Vorliebe Scherz u. Ernst u. travestiert gerne heroische Stoffe wie in seiner Ariost nachgedichteten Romanze Roger und Alcina (ebd., S. 67–80). Literarhistorisch bedeutsamer als die eigenen Gedichte sind S.s Übersetzungen engl., ital. u. frz. Autoren. Neben Henry Fieldings Geschichte des Tom Jones eines Fündlings (4 Bde., Nürnb. 1780) propagierte S. vor allem eine ästhetische Orientierung am ital. Geschmack: Diesem Zweck diente seine Italienische Anthologie aus prosaischen und poetischen Schriftstellern
in deutschen Übersetzungen (Liegnitz 1778–81) als auch seine Übersetzung zweier bedeutender Muster des heroisch-komischen Epos aus dem Italienischen: Er verdeutschte, »aufgemuntert von einem Bode«, u. d. T. Der geraubte Eimer (Hbg. 1781) Alessandro Tassonis Secchia rapita in Stanzen (Inc.: »Von einem merkwürdigen Zorn, ertöne meine Leyer, | Der in der Sterblichen Brust ob einem Eimer entstand«) sowie Niccolò Fortiguerras Ricciardetto (Liegnitz/Lpz. 1783/84). Ernteten diese Übersetzungen bei den Zeitgenossen wegen ihrer Reimspielereien mehrheitlich Zustimmung, so gerieten sie durch spätere Übertragungen in Vergessenheit. Für den »Wandsbecker Bothen« u. etliche Musenalmanache schrieb S. zahlreiche Beiträge, so z. B. in Göttinger Musenalmanachen u. im »Taschenbuch für Dichter und Dichterfreunde«. S. selbst gab die Zeitschrift »Das Wochenblatt ohne Titel« (4 Bde., Nürnb. 1770/71) heraus, desgleichen betätigte er sich als Herausgeber der Geschichte des Burlesken (Lpz. 1794) von Karl Friedrich Flögel, zu der er auch die Vorrede schrieb u. eigene Übersetzungen burlesker Gedichte inserierte. Literarisch war S. außerdem für die Wochenschrift »Der Kranke oder die Geschichte einer guten Familie« (4 Bde., Nürnb. 1775) tätig; für die »Schlesischen Provinzialblätter« schrieb er Rezensionen. Weitere Werke: Pamela, oder die belohnte Tugend eines Frauenzimmers. Aus dem Engl. Liegnitz 1772. – Lesebuch fürs Frauenzimmer. 3 Tle., Flensburg 1774–77. – Das Leben [...] des Robinson Crusoe v. York, v. ihm selbst beschrieben. Aus dem Engl. der 15. Ausg. neu übers. 2 Bde., Nürnb. 1782. – Ausw. zur nützl. Lektüre für Frauenzimmer. Flensburg/Lpz. 1785. – Lolotte u. Fanfan, oder die Begebenheiten zweier auf eine wüste Insel ausgesetzter Kinder. Aus dem Frz. Liegnitz 1789/90. – Alexis, oder das Häuschen im Walde; eine Hs. [...]. 2 Tle., Lpz. 1792. Literatur: Carl Christian Redlich: Die poet. Beiträge zum Wandsbecker Bothen, ges. u. ihren Verfassern zugewiesen. Hbg. 1871, bes. S. 17. – Goedeke 5/1, S. 97. Matthias Luserke / Achim Aurnhammer
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Schmitt, Carl, * 11.7.1888 Plettenberg/ Westfalen, † 7.4.1985 Plettenberg. – Staats- u. Verfassungsrechtler. Der kath. Kaufmannssohn habilitierte sich nach dem Studium in Berlin u. München 1916 in Straßburg. Nach einer Dozentur in Straßburg war S. 1921 Ordinarius in Greifswald, 1922–1928 in Bonn, dann an der Berliner Handelshochschule, 1933 in Köln u. bis 1945 an der Universität Berlin. In den 1920er Jahren wurde S. bekannt als schärfster Kritiker des in Deutschland vorherrschenden staatsrechtl. Positivismus. S. versuchte, die Legitimität der Staatsgewalt rechtsphilosophisch zu erhellen, ohne dabei auf naturrechtl. Kategorien zurückzugreifen (Legalität und Legitimität. Mchn. 1932. Bln. 6 1998). Zweck des Staatsrechts müsse es sein, aus dem konkreten Zustand einer Gesellschaftsordnung ein Legitimitätsprinzip begrifflich abzuleiten, das die Verwandlung der empir. Wirklichkeit in einen Rechtszustand aufgrund einer effektiven polit. Entscheidung zeige. Diese bewähre sich v. a. in Krisensituationen; denn der normale Fall der Rechtsgebung u. -verwirklichung »lebt überhaupt nur von der Ausnahme« (Politische Theologie. Mchn. 1922. 41985. 2. Tl., Bln. 1970). In der Krise der Weimarer Republik u. des Parlamentarismus wirkten S.s Theorien weit über das akademisch oder politisch beteiligte Publikum hinaus. Mit seinen häufig stark vereinfachenden Definitionen zentraler Begriffe wie Diktatur, Demokratie, Souveränität u. Ausnahmezustand verzichtete S. auf die Beschreibung verbindl. Normen in konkreten Entscheidungssituationen staatl. Organe (Stellung der Reichspräsidenten, Notverordnungsrecht). Unter Berufung auf Denker der kath. Gegenrevolution (de Maistre, Donoso Cortés) verwarf S. generell den polit. Liberalismus als einen verlässl. Ordnungsentwurf. Das war die Ausgangsposition für seine prinzipielle Ablehnung des gesellschaftl. Pluralismus u. die Befürwortung des homogenen, totalen Staates. Sein Begriff des Politischen ([1927] Mchn. 1932. Neudr. Bln. 1963. Ebd. 31991) mit seiner Freund-Feind-Polarität, der völlig verzerrenden Darstellung des
»Parteienbundesstaates« u. grundsätzl. Ablehnung von Diskussion u. Kompromiss als Merkmalen der Entscheidungsfindung ermangelte einer mehr als nur summarischen histor. u. polit. Analyse. Seit dem 1.5.1933 Mitgl. der NSDAP, beteiligte sich der Preußische Staatsrat, Leiter der Gruppe Hochschullehrer im NS-Juristenbund (bis 1936) u. Präsidiumsmitgl. der Akademie für Deutsches Recht aktiv an der sog. Gleichschaltung. Er verfasste den Kommentar zum Reichsstatthaltergesetz (Bln. 1935) u. verteidigte Hitlers Mordaktion vom Sommer 1934 (sog. Röhm-Putsch) mit dem berüchtigten Satz Der Führer schützt das Recht (wiederabgedr. in: Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar, Genf, Versailles. Hbg. 1940, S. 199–203). Ferner tat sich S. durch antisemitische Schriften hervor (in: Die deutsche Staatslehre im Kampf gegen den jüdischen Geist. Bln. o. J. [1936], S. 14–17, 28–34) u. begrüßte die Nürnberger Gesetze als Verfassung der Freiheit (in: Deutsche Juristenzeitung 40, 1938, Sp. 1133–1135). Nach 1945 ohne Lehrstuhl oder Lehrbefugnis, wandte sich S. wiederum völkerrechtl. Studien zu (Der Nomos der Erde. Köln 1950. Bln. 31988), in denen er lediglich auf den vor 1945 erhobenen Anspruch auf dt. Hegemonie in Europa verzichtete. S.s Furcht vor der Massengesellschaft u. seine Betonung des starken Staates wurden auch in den romanischen Ländern, v. a. in Spanien u. Frankreich, aufgegriffen. Seine Verantwortung für das »entartete Recht« wurde nach 1945 vielfach beschönigt oder verdrängt. Zeitlebens pflegte S. einen intensiven Gedankenaustausch mit Kollegen u. Freunden, der sich in einem ausgedehnten Briefwechsel niederschlug. Weitere Werke: Polit. Romantik. Mchn. 1919. 1925. – Die Diktatur. Mchn. 1921. Erw. 1928. 3 1964. – Die geistesgeschichtl. Lage des heutigen Parlamentarismus. Mchn. 1923. Bln. 71991. – Verfassungslehre. Mchn. 1928. Bln. 81993. – Der Hüter der Verfassung. Tüb. 1931. – Staat, Bewegung, Volk. Hbg. 1933. – Über die drei Arten des rechtswiss. Denkens. Hbg. 1934. – Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Hbg. 1938. 21982. – Völkerrechtl. Großraumordnung, mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte. Erw. Bln. 2
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1941. – Land u. Meer. Lpz. 1942. 31981. – Verfassungsrechtl. Aufsätze. Bln. 1958. 31985. – Theorie des Partisanen. Bln. 62006. – ›Solange das Imperium da ist‹. C. S. im Gespräch mit Klaus Figge u. Dieter Groh 1971. Hg., komm. u. eingel. v. Frank Hertweck u. Dimitrios Kisoudis in Zus. mit Gerd Giesler. Mit einem Nachw. v. D. Groh. Bln. 2010. – C. S. Tagebücher 1930–1934. Hg. Wolfgang Schuller in Zus. mit G. Giesler. Bln. 2010. – Briefwechsel: Franz Blei: Briefe an C. S. 1917–1933. Hg. Angela Reinthal. Heidelb. 1995. – Ernst Jünger, C. S.: Briefe 1930–1983. Hg., komm. u. mit einem Nachw. v. Helmuth Kiesel. Stgt. 1999. – Briefw. Ernst Forsthoff – C. S. 1926–1974. Hg. Dorothee Mußgnug, Reinhard Mußgnug u. Angela Reintal. Bln. 2007. – Hans Blumenberg, C. S.: Briefw. 1971–1978 u. weitere Materialien. Hg. u. mit einem Nachw. v. Alexander Schmitz u. Marcel Lepper. Ffm. 2007. – C. S., Ludwig Feuchtwanger: Briefw. 1918–1935. Hg. Rolf Rieß. Mit einem Vorw. v. Edgar J. Feuchtwanger. Bln. 2007. – ›Auf der gefahrenvollen Straße des öffentlichen Rechts‹. Briefw. C. S. – Rudolf Smend 1921–1961. Mit ergänzenden Materialien. Hg. Reinhard Mehring. Bln. 2010. Literatur: Bibliografien in: FS C. S. zum 70. Geburtstag. Hg. Hans Barion u. a. Bln. 1959, S. 273–330. – In: Epirrhosis. FS C. S. zum 80. Geburtstag. Hg. H. Barion, Ernst-Wolfgang Böckenförde u. a. 2. Teilbd., Bln. 1968, S. 739 ff. – Alain de Benoist: C. S. Bibliogr. seiner Schr.en u. Korrespondenzen. Bln. 2003. – Weitere Titel: Jürgen Fijalkowski: Die Wendung zum Führerstaat. Ideologische Komponenten in der polit. Philosophie C. S.s. Köln 1958. – Hasso Hofmann: Legitimität gegen Legalität. Der Weg der polit. Philosophie C. S.s. Neuwied 1964. 2., erg. Aufl. Bln. 1992 (mit Bibliogr.). – Matthias Schmitz: Die Freund-FeindTheorie C. S.s. Köln 1965. – Joseph W. Bendersky: C. S. Theorist for the Reich. Princeton 1983. – Klaus Hansen u. Hans Lietzmann (Hg.): C. S. u. die Liberalismuskritik. Opladen 1988. – Reinhard Mehring: C. S. Aufstieg u. Fall. Eine Biogr. Mchn. 2009. – Joachim Schickel: Gespräche mit C. S. Bln. 1993. – Heinrich Meier: Die Lehre C. S.s. Vier Kapitel zur Unterscheidung polit. Theologie u. polit. Philosophie. Stgt./Weimar 1994. – Susanne Heil: ›Gefährl. Beziehungen‹. Walter Benjamin u. C. S. Stgt. u. a. 1996. – Dan Diner u. Michael Stolleis (Hg.): Hans Kelsen and C. S.: A juxtaposition. Gerlingen 1999. – Marcus Twellmann: Das Drama der Souveränität. Hugo v. Hofmannsthal u. C. S. Mchn. 2004. – R. Mehring: C. S. In: NDB. – Martin Tielke: Der stille Bürgerkrieg. Ernst Jünger u. C. S. im Dritten Reich. Bln. 2007. – Wilhelm Kühlmann: Im Schatten des
468 Leviathan (1933). C. S. u. Konrad Weiß. In: Moderne u. Antimoderne [...]. Hg. W. Kühlmann u. Roman Luckscheiter. Freib. i. Br. u. a. 2008, S. 257–306. Michael Behnen
Schmitt, Oliver Maria, * 27.4.1966 Heilbronn. – Roman- u. Sachbuchautor, Satiriker, Journalist. S., der in Tübingen u. Leeds Rhetorik sowie Kunstgeschichte studierte u. von 1995 bis 2000 Chefredakteur der Satirezeitschrift »Titanic« war, legte 2006 mit Anarchoshnitzel schrieen sie. Ein Punkroman für bessere Kreise (Bln.) seine erste literar. Veröffentlichung vor. In diesem »überdreht-randautobiographischen« Werk (S. Maelck) schildert der IchErzähler Peter Hein, wie die in den 1980er Jahren gegründete u. erfolglose Punkband »Gruppe Senf« 2005 ein Comeback versucht. Dabei treffen sich die auf unterschiedl. Weise gescheiterten Musiker mit ihrem Manager im satirisch radikal überzeichneten Osten der Republik. Die Erzählung, die sich selbst der »eklektizistische[n], plagiatorische[n] Montage-Ästhetik des Punk« bedient, wurde als eine »mehrfach gebrochene Parodie, die ironische Simulation eines Romans« (F. Schäfer) verstanden. Während die Kritik Anarchoschnitzel fast ausnahmslos begeistert aufnahm u. unter anderem als »zwar windschiefes, aber wetterfestes Denkmal« des Punk feierte (E. Reents, FAZ, 4.11.2006), fielen die Reaktionen auf S.s zweites Werk Der beste Roman aller Zeiten (Bln. 2009) zurückhaltender aus. In diesem satir. »Daumenkino über den Literaturbetrieb« (O. Jungen, FAZ, 24.1.2009) wird die Geschichte um den »Coach, Mediator & Dipl.-Entschleuniger« Rademann sowie den vermeintl. Erfolgsschriftsteller Dr. Hollenbach erzählt, der eine Literatur schaffen will, die sich mit der »Cut-up-Technik« – sprich: mit Plagiieren u. Collagieren – abgrenzen soll von dem »blutleeren Mist, wie er in Leipzig gelehrt wird«. Der Roman, dessen Handlung sich mit einer wilden Odyssee durch Albanien ins Absurd-Komische steigert, wurde zwar als »hinterhältiger Kommentar zum Phantasma zäpfchengleicher Gegenwartsroman« (ders.) gelesen, doch wurde er ebenso als »ziellos
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schweifende Groteske« (B. Müller, SZ, 9.2.2009) kritisiert. Auch als Journalist war S. erfolgreich; 2009 erhielt er für seine Reportage Ich bin dann mal Ertugrul. Der Weg zum Erfolgsbuch (2008) den Henri-Nannen-Preis in der Kategorie Humor. Weitere Werke: Gute Güte, Göthe! Bizarres u. Behämmertes aus 250 Jahren dt. Goethetums (mit Jürgen Jonas). Zürich 1999. – (Hg.): Euch werd ich’s zeigen. Das Lebensbilderbuch mit Text (mit/zu Chlodwig Poth). Bln. 2001. – Die schärfsten Kritiker der Elche. Die Neue Frankfurter Schule in Wort u. Strich u. Bild. Bln. 2001. – Erotik Pur mit FlirtFaktor. Worte der Woche u. Verwandtes (mit Eckhard Henscheid). Ffm. 2002. – Hit me with your Klapperstock. Ein Vademekum für Dtschld. Bln. 2005. – (Mithg.): Titanic – das endgültige Satirebuch. Das Erstbeste aus 30 Jahren. Bln. 2009. – Das Urknall-Komplott (mit Rudi Hurzlmeier). Hbg. 2009. Sascha Feuchert
Schmitter, Elke, * 25.1.1961 Krefeld. – Lyrikerin, Erzählerin.
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metafiktionale Weiterführung des erfolgreichen Debütromans. Eine junge Frau liest in einem Magazin unter der Überschrift »Madame Bovary von heute« eine Kurzrezension zu Elke Schmitters Roman Frau Sartoris u. erkennt darin die Geschichte ihrer eigenen Mutter wieder. Pikanterweise erzählt die Literaturkritikerin Elke Schmitter in Veras Tochter die Geschichte der Tochter weiter, die von Marcel Reich-Ranicki sowohl im Buch als auch im realen »Literarischen Quartett« als redundant kritisiert wurde. Literatur: Joachim Sartorius: Ganz kurz nur der Bewegung mächtig. Zu neuen Gedichten v. E. S. In: Sprache im techn. Zeitalter 34 (1996), S. 447 f. – Anna K. Kuhn: E. S.: ›Frau Sartoris‹ [Rez.]. In: World Literature Today 76 (2002), 1, S. 185 f. – Gunther Nickel: E. S. In: LGL. – Wolfgang Schneider: Das Jämmerliche an der Liebe. E. S. kehrt mit dem Roman ›Veras Tochter‹ zu ihrem Erstling zurück. In: Neue Zürcher Zeitung, 9.8.2006. J. Alexander Bareis
S. war nach dem Studium der Philosophie als Schmitthenner, Adolf, * 24.5.1854 NeJournalistin tätig (u. a. freie Mitarbeit für ckarbischofsheim, † 22.1.1907 Heidel»Die Zeit« u. die »Süddeutsche Zeitung», berg. – Pfarrer, Erzähler u. HochschulChefredakteurin der »taz«, seit 2001 Mitarlehrer. beiterin der Kulturredaktion des »Spiegel«). Ihr literar. Debüt ist der Gedichtband Wind- Der Pfarrersohn besuchte das Gymnasium in schatten im Konjunktiv (Siegen 1981); weitaus Karlsruhe (seit 1869), studierte Theologie erfolgreicher war allerdings ihr erster Roman in Tübingen, Leipzig u. Heidelberg Frau Sartoris (Bln. 2000), für den sie im selben (1872–1876), amtierte zwei Jahre lang als ViJahr mit dem Niederrheinischen Literatur- kar in Brötzingen u. Kippenheim u. ließ sich preis ausgezeichnet wurde u. der mittlerweile dann für einen Studienaufenthalt in England in über 16 Sprachen übersetzt vorliegt. Der beurlauben (1878/79). Nach Tätigkeiten als Liebesroman klass. Zuschnitts, mit deutl. Stadtvikar in Heidelberg bzw. Karlsruhe Referenzen zu Flauberts Madame Bovary, ver- (1880–1893) u. Pfarrer in Neckarbischofslegt in die nachkriegsdt. Provinz, erzählt die heim (1883–1893) wirkte er bis zu seinem Geschichte einer jahrzehntelang treuen Gat- Tod als Pfarrer in Heidelberg u. als angesetin u. Mutter, die eine Affäre mit einem ver- hener Lehrer am praktisch-theologischen Seheirateten Mann beginnt, was schließlich in minar der Universität. einem Mord kulminiert. 2002 folgte der RoS.s Predigten sind in der Anlage sehr vaman Leichte Verfehlungen (Bln.), für den S. das riabel, rhetorisch durchgeformt, bekunden Arbeitstipendium des Deutschen Literatur- literar. Ehrgeiz, auch in Zitaten (von Dante fonds erhielt. Der Gesellschaftsroman, situ- bis Mörike), u. basieren auf der Harmonie iert im Intellektuellenmilieu Berlins in den eines aufgeklärten Bibelglaubens mit den 1990er Jahren u. gespickt mit literaturtheo- moralischen Imperativen des Deutschen ret. Referenzen, wurde in der Kritik jedoch Idealismus (Reden zum Schiller-Gedenken). nur bedingt positiv aufgenommen. 2005 Fast durchweg sind seine Erzählungen im folgte der Lyrikband Kein Spaniel (Bln.), 2006 regionalen Lebenskreis angesiedelt, manchein weiterer Roman – Veras Tochter (Bln.), eine mal von den Erfahrungen als Seelsorger in-
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spiriert. Sie beweisen psycholog. Sensibilität Tüb. 1908. – Die sieben Wochentage u. andere E.en. 2 (etwa in Psyche, der Geschichte einer armen Stgt./Lpz. 1909. – Vergessene Kinder. Ebd. 1910 (E.n). – Aus Dichters Werkstatt. Stgt. 1911 (AufBalletttänzerin, oder Leonie, einem Eherosätze u. Vorträge). – Brunnenrast. Hg. Rudolf man) sowie eine auffällige Neigung zu den Günther. Stgt. 1911 (66 Predigten). – Treuherzige Schicksalen von Sonderlingen u. AußenseiGesch.n. Hbg. 1912. – Hinauf! Worte v. A. S. für tern (Handwerksburschen, Juden, Behinder- Orgel u. Klavier, vertont v. Karl Hasse. Stgt. 1924. – te, Straffällige, einsame Kinder). In humoris- Heidelberger E.en. Stgt./Bln. 1936. – Schicksale tischen Rückblicken verarbeitete S. gern Mo- zwischen Berg u. Strom. Mit einem biogr. Nachw. mente der eigenen Biografie u. die mentalen v. Hermann Maas. Heidelb. 1956 (E.en). – Hg. und Bizarrerien des Kleinstadtlebens seiner Ju- Kommentator: Das Tgb. meines Urgroßvaters. Biegend. Bis auf wenige Ausnahmen (etwa einer lef./Freib. i. Br. 1908. Literatur: Karl Hesselbacher: Silhouetten Novelle um den Dichter J. W. L. Gleim, abgedruckt in Vergessene Kinder) bilden die neuerer bad. Dichter. Heilbr. 1910, S. 163–173, Landschaft u. die Geschichte des Kraichgaus, 424 f. – Heinrich Schmitthenner: Erinnerungen an die Jugendzeit meines Bruders A. NeckarbischofsHeidelbergs u. der Pfalz den Hintergrund heim 1924. – W[ilhelm] E[ngelbert] Oeftering: A. S. auch für seine histor. Erzählungen (etwa Tilly In: Bad. Biogr.n. Bd. 6 (1935), S. 143–149. – Ders.: in Heidelberg), nicht zuletzt für seinen kurz vor Gesch. der Lit. in Baden. Tl. 3. Karlsr. 1939, dem Tod beendeten Roman Das Deutsche Herz S. 125–127. – Christoph Schmitt: A. S. In: Bautz 26 (1908). (2006), Sp. 1351–1354. – Peter Beisel: A. S. In: LeIn diesem vielgelesenen Roman werden die bensbilder aus der evang. Kirche in Baden im 19. u. in verrätselte Geschicke eingebundenen letz- 20. Jh. Heidelb. u. a. 2007, S. 123–144. Wilhelm Kühlmann ten Sprösslinge zweier regionaler Adelsgeschlechter (Hirschhorn, Handschuhsheim) nicht nur mit den Mächten des Dreißigjäh- Schmitthenner, Hansjörg, * 20.11.1908 rigen Kriegs, sondern auch mit den Famili- Colmar/Elsass, 26.5.1993 München. – enverbrechen der Vergangenheit konfron- Hörspielautor u. Romancier. tiert. Es entsteht ein tiefgestaffeltes kulturgeschichtl. Panorama, in dem S. Motive u. Der Sohn eines Architekten arbeitete nach Techniken des Schauerromans einsetzt (die Abschluss seines Studiums der Naturwissenvermauerte Leiche der Mutter), weite Span- schaften u. Medizin 1932–1937 als Schauspieler in Berlin u. München. Während des nungsbögen aufrecht erhält, Ver- u. EnthülKriegs war S. als Feldunterarzt tätig. Nach lungsformen des Erzählens erprobt u. das dem Krieg u. einem Zwischenspiel als Verhistorisch farbig exponierte Personentableau lagslektor u. Dramaturg wurde er Hörspieleffektvoll mit kolportagehaft gezeichneten leiter des BR. Im Mittelpunkt seines literar. Randfiguren u. Aussteigern anreichert. So Werks steht die Auseinandersetzung mit der repräsentiert dieser Roman um den Junker Frage, wie sich Wirklichkeit erfassen u. darvon Hirschhorn, der zwischen den religiösen stellen lässt. In seinen Hörspielen Nepal hören u. polit. Parteien seine ›deutsche Freiheit‹ (HR 1984) u. Welthören (1–3) (HR 1988) verbewahren möchte, den seit der Romantik folgt S. den Gedanken, die unmittelbarste weit verbreiteten Romantypus eines regional Form der Beschreibung eines Landes sei seine interessierten literar. Historismus. akust. Selbstdarstellung durch Musik, GeWerke: Psyche. Bielef./Lpz. 1891 (E.). – Novel- räusche u. Sprache. Die Multidimensionalität len. Lpz. 1896. – Was wir wollen. Freib. i. Br. 1896 der Wirklichkeit ist Thema des Romans Na(Vortrag). – Leonie. Lpz. 1899. Braunschw./Hbg. gelfluh (Mchn. 1986). Wie schon der Titel an1922 (R.). – Neue Novellen. Lpz. 1901. – Schillers deutet (»ein durch kalkhaltigen Sandstein Stellung zur Religion. Bln. 1905. – Herr, bist du’s? 3 Gött. 1906. 1911 (Predigten). – Aus Geschichte u. verkittetes Konglomerat, das aus verschieLeben. Lpz. 1907 (E.n). – Das dt. Herz. Stgt./Lpz. denartigsten Gesteinen zusammengesetzt 1908. Heidelb. u.a. 1952, 1960, 1965, 1972, 1979, ist«), ist der Roman aus unterschiedl. Mate1988 (R.). – Die Seligpreisungen unseres Herrn, rialien (Briefen, Tagebüchern, Erinnerungen, praktisch ausgelegt. Hg. Heinrich Bassermann. Erzählungen, Berichten, Arbeitsnotizen u.
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Fotografien) montiert, die sich z.T. durch verschiedene Schrifttypen voneinander abheben. S. verfasste auch zahlreiche Sachbücher, u. a. über die Ballonfahrt (Die Luftfahrer. Bergen/Obb. 1956) u. die Romantik (Blume der Nacht – Traum und Wirklichkeit der Romantik. Mchn. 1968).
gewählten Erzählhaltung sucht er als Angriffspunkt für seine Attacken die Welt des Kleinbürgers im Industriezeitalter. Seine Protagonisten mit ihren sinnentleerten Genüssen, ihrem Technikfetischismus, ihren Statusproblemen, aber auch Fluchtbewegungen wie Reisewut oder falsch verstandenem Naturkult enden zumeist tödlich.
Weitere Werke: Ein jeder von uns. Bergen/Obb. 1947 (D.). – Zwischen Dom u. Moschee. Ebd. 1948 (R.). – Wildgewordene Lokomotive rast durch Milwaukee. Gütersloh 1955 (E.). Peter König / Red.
Weitere Werke: Buch der Katastrophen. Hg. Victor M. Mai. Lpz. 1916–18. Mchn. 1922–29. Bearb. Fassung 1940–43. – Professor Mauzfies u. a. Trag.n (zus. mit V. M. Mai). Ebd. 1941. – Sämtl. Werke in 3 Bdn.: Die Bluse u. a. Grotesken. Reisen u. a. Katastrophen. Der Aesthet u. a. Tragikom.n. Hg. Bruno Kehrein u. Michael Matzigkeit. Zürich 1988. Düsseld. 1996. – Ich bin der drittgrößte Mann des Jahrhunderts. Hg. Bernd Kortländer. Düsseld. 2000. Literatur: Michael Matzigkeit: Bibliogr. in: Der Aesthet [...], a. a. O., S. 223–230. – Weitere Titel: Victor M. Mai: H. H. S. In: Pempelfort, H. 8 [1925]. – Guido K. Brand: Werden u. Wandlung. Bln. 1933, S. 221 f. – Fernand Hoffmann: H. H. S., ein dt. Vorläufer des Surrealismus. In: RG 8 (1978), S. 50–69. – M. Matzigkeit u. a.: Der Schriftsteller H. H. S. Gemälde, Graphik, Dokumente. Düsseld. 1983. – Michael Kohtes: Porträt des Künstlers als kom. Nummer. H. H. S. In: Literar. Abenteurer. Ffm. 1996, S. 24–34. – M. Matzigkeit: H. H. S. – Der Dandy vom Rhein. Düsseld. 2005 (darin Bibliogr. S. 208–235). Michael Matzigkeit
Schmitz, Hermann (Harry), * 12.7.1880 Düsseldorf, † 8.8.1913 Bad Münster am Stein; Grabstätte: Düsseldorf, Nordfriedhof. – Verfasser grotesker Erzählungen u. Einakter.
Als Sohn eines Fabrikdirektors wuchs S. in Düsseldorf auf. Das Realgymnasium verließ er ohne Abschluss, um 1897/98 eine ausbrechende Tuberkulose auf Korsika auszukurieren. Nach dem Einjährigen in Kassel zwang der Vater den Militäruntauglichen zur kaufmänn. Laufbahn. Seit 1906 publizierte S. Grotesken. Nach dem Debüt im »Simplicissimus« (1906) schrieb er ab 1907 für den »Düsseldorfer General-Anzeiger«. Nebenher verfasste er skurrile, zeitkrit. Einakter für den Künstlerverein »A. V. Laetitia« oder trat in dandyhafter Aufmachung als Conferencier Schmitz, Oskar A(dolf) H(ermann), * 16.4. bei Wohltätigkeitsveranstaltungen in Düs1873 Homburg v. d. H., † 17.12.1931 seldorf auf. Beim literar. Stammtisch im Frankfurt/M. – Erzähler, Essayist, Dra»Rosenkränzchen« schloss er Freundschaft matiker, Philosoph. mit Hanns Heinz Ewers u. Herbert Eulenberg, die seine Arbeit förderten. Nach dem S., Sohn eines Eisenbahndirektors, studierte Erfolg seiner ersten Buchveröffentlichung, nach der Gymnasialzeit in Frankfurt/M. u. Der Säugling und andere Tragikomödien (Lpz. Weilburg seit 1892 zunächst die Rechte, dann 1911–18. Mchn. 1921–43), bei Ernst Ro- Nationalökonomie u. Geisteswissenschaften wohlt, später Kurt Wolff (zuletzt in ver- in Heidelberg, Leipzig u. München. Während fälschter Fassung im Verlag Richard Pille, des Studiums, das er nach zwei gescheiterten München), entschloss er sich zum Leben als Dissertationsversuchen abbrach, führten ihn freier Schriftsteller. Als zahlreiche Aufent- zahlreiche Reisen nach Italien. Durch Karl halte in Sanatorien u. Krankenhäusern ohne Wolfskehl kam S. in München mit dem GeHoffnung auf Heilung blieben, erschoss orge-Kreis u. den sog. Kosmikern Alfred sich S. Schuler u. Ludwig Klages in Verbindung. Durch die radikal-surreale Gestaltung sei- 1896/97 gehörte S. zu den Beiträgern der ner Grotesken nimmt S. innerhalb dieses in »Blätter für die Kunst«. Er befasste sich mit Deutschland wenig entwickelten Genres eine Schulers lebensphilosophischer SubstanzenSonderstellung ein. In seiner bewusst naiv lehre, die unkritisch aus dem Werk Bachofens
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geschöpfte gnost. Vorstellungen u. Rassen- mannsthal, Keyserling, Thomas Mann, Stefan lehre verband. Enge Kontakte bestanden zu Zweig u. a.). – Klaus Bohdal: O. A. H. S. Diss. Graz Schwabinger Autoren wie Franziska zu Re- 1969. – Carl-Ludwig Reichert: O. A. H. S. In: NDB. Hans-Albrecht Koch ventlow, Franz Hessel u. Roderich Huch. Enttäuscht von den Auseinandersetzungen zwischen George-Kreis u. Kosmikern wandte Schmitz, Paul ! Müller, Dominik S. sich Fragen der Politik u. Gesellschaft zu, denen er auf zahlreichen Reisen in Europa Schmohl, Johann Christian, * 12.8.1756 nachging (Französische Gesellschaftsprobleme. Pülzig/Anhalt-Zerbst, † 1783 Bermudas. Bln. 1907. Brevier für Weltleute. Mchn. 1911. – Pädagoge, ökonomischer u. politischer Kunst der Politik. Bln. 1911. 3. Aufl. u. d. T. Schriftsteller. Englands politisches Vermächtnis an Deutschland. Mchn. 1916). Die eigene Entwicklung im Das Leben des Bauernsohns S. ist nur lüErsten Weltkrieg reflektiert S. in dem Roman ckenhaft bekannt. Nach dem Studium in Das dionysische Geheimnis. Erlebnisse und Er- Wittenberg war er 1777 am Dessauer Philkenntnisse eines Fahnenflüchtigen (Mchn. 1921), anthropin tätig. Die von ihm herausgegebeden Hesse als Bestätigung des Demian ansah. nen Schriften Johann Jakob Mochels (ReliStatt des öffentl. Lebens wurde zeitweise der quien verschiedener Aufsätze. Halle 1781) sind Einzelne Thema seiner Bücher Brevier für Un- wichtige Quellen für die Geschichte des politische (ebd. 1920) u. Brevier für Einsame (ebd. Philanthropins u. für die Biografie Christoph 1921). S. verstand sich zunehmend selbst als Kaufmanns. Danach war S. in Halle u. lehrte »Weiser«, trat nachhaltig für das Werk C. G. vermutlich an der Universität. Er veröffentJungs ein u. knüpfte Kontakte zur Weis- lichte Aufsätze, insbes. zu ökonomischen u. heitsschule des Grafen Hermann Keyserling polit. Fragen, u. auch Gedichte. Ein scharfer in Darmstadt sowie zur Paneuropa-Bewe- Angriff auf absolutistische Willkür in Anhaltgung Karl Anton Rohans. Enge Zusammen- Zerbst in der Sammlung von Aufsätzen verschiearbeit verband ihn mit seinem Schwager Al- dener Verfasser, besonders für Freunde der Kamefred Kubin. In der Sprache der Märchen aus ralwissenschaften und der Staatswirtschaft (Lpz. dem Unbewußten (ebd. 1932) gelang es S., sich 1781; die Beiträge sind vermutlich alle von S.) über kulturkrit. Journalismus zu erheben u. führte zum Verbot der Schrift; dem drohenfür sein von Polarität, Antirationalismus u. den Prozess konnte sich S. durch Flucht – Psychologie bestimmtes Denken eine poeti- wahrscheinlich nach England – entziehen. Anfang 1782 war er in Begleitung Johann sche Gestaltung zu finden. Weitere Werke: Haschisch. Ffm. 1902. Mit 13 Friedrich Reichardts in Königsberg, wo er Zeichnungen v. Alfred Kubin. Mchn./Lpz. 41913. auch in näheren Kontakt mit Johann Georg Neuausg., hg. u. mit einem einleitenden Ess. v. Hamann kam. In Königsberg veröffentlichte Wilhelm W. Hemecker. Graz 2002 (E.en). – Lothar er 1782 anonym u. mit der fingierten Ortsoder der Untergang der Kindheit. Stgt. 1904 (R.). – angabe Kopenhagen Ueber Nordamerika und Wenn wir Frauen erwachen. Mchn./Lpz. 1913. Ab Demokratie. Ein Brief aus England (Neudr. mit der 7. Aufl. u. d. T. Bürgerl. Bohème. Neuausg., hg. einem Nachw. hg. v. Reiner Wild. St. Ingbert u. mit einem Nachw. v. Monika Dimpfl. Bonn 1998 1992). Diese entschiedene Parteinahme für (R.). – Ein dt. Don Juan. Ebd. 1918 (D.). – Psycho- die amerikan. Revolution ist in ihren naturanalyse u. Yoga. Darmst. 1923. – Melusine. Mchn. rechtl. Überlegungen zu Völkerrecht, Volks1927 (R.). – Tagebücher. Hg. Wolfgang Martynsouveränität u. Widerstandsrecht eines der kewicz. Bd. 1: Das wilde Leben der Boheme. 1896–1906. Bln. 2006. Bd. 2: Ein Dandy auf Reisen. fortschrittlichsten demokratischen Zeugnisse 1907–1912. Ebd. 2007. Bd. 3: Durch das Land der in Deutschland vor der Französischen RevoDämonen. 1912–1918. Ebd. 2007. – Autobiografien: lution; in der Debatte über die amerikan. Die Geister des Hauses. Mchn. 1926. – Dämon Unabhängigkeit fand die Schrift einige, weWelt. Ebd. 1926. – Ergo Sum. Ebd. 1926. gen ihrer Radikalität allerdings eher reserLiteratur: O. A. H. S. zum 50. Geburtstag. vierte Beachtung. Während der Überfahrt Mchn. 1923 (mit Beiträgen v. Bahr, Hesse, Hof- nach Amerika – er wollte am Unabhängig-
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keitskrieg teilnehmen – ist S. bei einem Aufenthalt auf den Bermudas 1783 ertrunken. Weitere Werke: Einiger vom Dessauischen Philanthropin abgegangenen Lehrer Gedanken (zus. mit Johann Friedrich Simon u. Johann Schweighäuser). Lpz. 1779. – Urne Johann Jakob Mochels. Lpz. 1780. – Von dem Ursprunge der Knechtschaft in der bürgerl. Gesellsch. In: Berlin. Monatsschr. 1783, S. 336–348 (postum). Literatur: Philip Merlan: Parva Hamanniana (II). Hamann and S. In: Journal of the History of Ideas 10 (1949), S. 567–574. – Horst Dippel: Dtschld. u. die amerikan. Revolution. Diss. Köln 1972, passim. – Waltraud Hagen: Ein unbekannter Brief Wielands an J. C. S. vom 18. November 1780. In: Wieland-Studien 2 (1994), S. 249–253. – Michael Niedermeier: Der anhalt. Philantrop, Schriftsteller u. Aufrührer J. C. S. u. seine spektakuläre Flucht aus Halle im Jahre 1781. In: Europa in der Frühen Neuzeit. FS Günter Mühlpfordt. Bd. 4: Dt. Aufklärung. Hg. Erich Donnert. Weimar u.a. 1997, S. 229–247. Reiner Wild / Red.
Schmolck, Schmolcke, Benjamin, * 21.12. 1672 Brauchitschdorf bei Liegnitz, † 12.2. 1737 Schweidnitz. – Dichter geistlicher Lieder. Die Hilfe begüterter Gönner ermöglichte dem Sohn eines schles. Pfarrers eine umfassende Ausbildung am Gymnasium in Lauban u. 1693–1697 an der Universität Leipzig, wo er sich neben der Medizin bes. für die Poesie interessierte, die um diese Zeit von den Dichtern der Galanten Schule geprägt wurde. S. schrieb zahlreiche Gelegenheitsgedichte u. erwarb den Titel eines Poeta laureatus. Dem Wunsch des Vaters folgend, studierte er Theologie u. mag sehr wohl auch mit Vertretern des Pietismus in Berührung gekommen sein. 1697 kehrte S. in die Heimat zurück, um dem Vater als Adjunkt im Amt auszuhelfen. Er wurde 1701 in Liegnitz ordiniert u. nach seiner Eheschließung 1702 als Diakon an die Friedenskirche in Schweidnitz berufen; 1714 wurde er Pastor Primarius u. Inspektor der Schulen. S. zählte lange zu den »gefeiertsten und beliebtesten Dichtern der evangelischen Kirche« (Koch). Seine erste Liedsammlung, Heilige Flammen der himmlisch-gesinnten Seele (Striegau 1704), wurde mehrfach erweitert u.
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neu aufgelegt. Es folgten etwa ein Dutzend weitere Sammlungen von Liedern, gereimten Gebeten u. Andachten, die alle mehrere Auflagen erlebten. Ein Zyklus von »Sonn- und Festtäglichen Cantaten« erschien u. d. T. Saitenspiel des Hertzens am Tage des Herrn (Breslau/ Liegnitz 1720). S. schrieb an die 1200 Lieder, die, wie er selbst bekannte, »meist aus einer eilenden Feder geflossen« sind: »Wenn die Bäume oft gerüttelt werden, lassen sie auch unreife Früchte fallen.« Mit seiner Vorliebe für Bildlichkeit steht S. den späten Schlesiern nahe, doch seine Bilder sind dem religiösen Bereich entnommen u. bei seiner großen Bibelkundigkeit manchmal etwas gesucht u. dunkel. S.s Dichtungen, die sich vielfach an bekannte Kirchenlieder anlehnen, sind anschaulich, schlicht u. waren für die häusl. Andacht u. persönl. Erbauung bestimmt. Von den besseren darunter sind noch am Anfang unseres Jahrhunderts etwa 50 in den Gesangbüchern vertreten; einen bleibenden Platz konnten sich Tut mir auf die schöne Pforte, Schmückt das Fest mit Maien u. Hirte deiner Schafe sichern. Von 1710 an war S. zeitweise Lehrer u. Förderer Johann Christian Günthers, der von ihm Anregungen für seine geistl. Gedichte empfing. Später kam es jedoch zu Zerwürfnissen zwischen dem strenggläubigen Lehrer u. dem begabten Schüler. – S. stand fest in der luth. Lehre, doch beteiligte er sich nicht an der heftigen Polemik gegen die Pietisten; er war versöhnl. Natur u. erwies sich den kath. Behörden gegenüber als anpassungsfähig. Ausgaben: Herrn B. S.s [...] Sämtl. Trost- u. Geistreiche Schrifften [...]. 2 Bde., Tüb. 1740 u. 1744. – Ludwig Grote: B. S. Lieder u. Gebete. Lpz. 1855. 21860. – Karl Friedrich Ledderhose: B. S. Geistl. Lieder. Halle 1857 (Ausw. mit Biogr.). Literatur: Bibliografien: Goedeke 3 (1887), S. 306–309. – Dünnhaupt, Bd. 5, S. 3661–3685. – Weitere Titel: Zedler 35, Sp. 466–468. – Koch 5, S. 463–489. – Hoffmann v. Fallersleben: Bartholomäus Ringwald u. B. S. Breslau 1833. – D. Erdmann: B. S. In: ADB. – John Julian (Hg.): A Dictionary of Hymnology. New York 1892, Sp. 1011–1014. – Karl Kobe: B. S., der schles. Liederdichter. Stgt. 1907. – Rudolf Nicolai: B. S. Liegnitz 1909. – Hdb. zum EKG 2,1, S. 228–231. – Hans Dahlke: Johann Christian Günther. Bln. 1960, S. 24 ff. – Jörg Erb: Dichter u. Sänger des Kirchen-
Schmückle lieds. Bd. 4, Lahr 1978, S. 78–84. – Wilhelm Krämer: Das Leben des schles. Dichters J. C. Günther. Stgt. 21980, S. 85 ff. – Alwin Binder u. Heinrich Richartz: Lyrikanalyse. Anleitung u. Demonstration an Gedichten v. B. S., Frank Wedekind u. Günther Eich. Ffm. 1984. – Georg Braungart: Erbaul. Zweck u. poet. Anspruch. B. S.s Vorreden-Apologetik. In: Religion u. Religiosität im Zeitalter des Barocks. Hg. Dieter Breuer. Wiesb. 1995, S. 487–502. – Sigrid Fillies-Reuter: B. S. In: Bautz. – Magdalena Lipin´ska: B. S.s dichter. Tätigkeit. In: Lit. u. Linguistik. Hg. Norbert Honsza. Wrocl/aw 1996, S. 101–105. – Christoph Albrecht: B. S. In: Komponisten u. Liederdichter des Evang. Gesangbuchs. Hg. Wolfgang Herbst. Gött. 1999 (22001), S. 277 f. – Flood, Poets Laureate, Bd. 4, S. 1859–1864. Helmut K. Krausse / Red.
Schmückle, Georg, * 18.8.1880 Esslingen, † 8.9.1948 Stötten/Württemberg. – Erzähler, Dramatiker, Lyriker. S. entstammte einem großbürgerl. Elternhaus, wuchs in San Remo, Silvaplana u. Esslingen auf u. studierte Jura. Nach mehrjähriger Tätigkeit als Richter u. Staatsanwalt bekleidete er hohe Positionen in der NS-Kulturarbeit für Württemberg; er war auch Direktor des Schiller-Nationalmuseums in Marbach/Neckar. Nach Gedichtpublikationen seit 1915 hatte S. 1929/30 seinen ersten großen Erfolg mit dem histor. Roman Engel Hiltensperger (Stgt.), einem Bauernkriegsfries, reich an Details u. Kolorit – in der Zeit der wachsenden Erfolge der NSDAP als Ankündigung einer Führerfigur gewertet. Eindeutiger ergriff S. in Gedichten Partei für die neuen Machthaber, wofür ihm 1935, gemeinsam mit Gerhard Schumann, der Schwäbische Dichterpreis zuerkannt wurde. Dem Kulturbeauftragten des Reichsstatthalters standen die Bühnen offen, was zu einer umfangreichen Dramenproduktion führte: Dämonen über uns (Bln. 1933), Heinrich IV. (Stgt. 1940) u. andere. Literarisch ist S. als Erzähler bedeutender. In Novellen u. Anekdoten sind oft auch regionale Elemente eingearbeitet. Weitere Werke: Die rote Maske. Stgt. 1933 (N.). – Mein Leben. Bln. 1936 (Autobiogr.). – Vittoria Accorombona. Stgt. 1938 (N.). – Das Rätsel des Anton Brück. Ebd. 1940 (histor. N.). – Kulturelle
474 Betrachtungen eines Dichters. Stgt. 1940. – Ges. Werke. 6 Bde., Stgt. 1940. – Nero u. Agrippina. Ebd. 1941 (Schausp.). Literatur: Helmut Vallery: Führer, Volk u. Charisma. Der nationalsozialist. histor. Roman. Köln 1980, S. 109–115. – Frank Westenfelder: Genese, Problematik u. Wirkung nationalsozial. Lit. am Beispiel des histor. Romans zwischen 1890 u. 1945. Ffm. u. a. 1989, passim, bes. S. 301–305. – Von Weimar bis Bonn. Esslingen 1919–1949. Esslingen 1991, S. 475–477. – Lex. ns. Dichter. Hermann Schreiber / Red.
Schnaase, Carl (Julius Ferdinand), * 7.9. 1798 Danzig, † 20.5.1875 Wiesbaden; Grabstätte: ebd., Alter Friedhof. – Kunsthistoriker. Nach unsteter Kindheit u. Jugend absolvierte S. 1816–1819 an den Universitäten in Heidelberg u. Berlin ein Jurastudium, um dann in den preuß. Staatsdienst einzutreten. Von 1929 an lebte S. in Düsseldorf, seit 1848 in Berlin, bis er 1867 aus gesundheitl. Gründen nach Wiesbaden übersiedelte. Seine Freizeit widmete der angesehene Jurist der Beschäftigung mit den bildenden Künsten u. zeichnete sich bald als Historiograf u. Kritiker aus. Von Savigny wie Hegel beeinflusst, versuchte er, die Kunst in ihrer Wechselbeziehung zur Kulturgeschichte bis in die eigene Gegenwart darzustellen. Sein Hauptaugenmerk galt dabei dem Verhältnis der Kunst zur Religion. S. unterscheidet sich damit von der empiristischen Methode Franz Kuglers, die er als Ergänzung zur eigenen Arbeit schätzte. Als Kunsthistoriker war S. Autodidakt, der seine Materialkenntnis auf Bildungsreisen u. durch Lektüre der noch spärl. Fachliteratur erworben hatte. Seine Veröffentlichungen waren populärwissenschaftlich angelegt. So suchte er in den Niederländischen Briefen (Stgt. 1834) bewusst den Dialog mit dem Leser, um ihm den eigenen Kunstbegriff anhand der Beschreibung der Monumente zu entwickeln. Seine imposante Geschichte der bildenden Künste (7 Hauptbde., Düsseld. 1843–64) umfasst die gesamte damals bekannte Weltkunstgeschichte von der Antike bis in das 15. Jh., die S. nach einem gleichbleibenden Ordnungsschema behandelte: Einer kulturhistor. Einführung folgt eine allg. Stilcharakteristik, der
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die Künstler u. Monumente in Listenform nachgestellt sind. Neben dieser method. Schwäche der Zusammenhanglosigkeit der Teile waren auch S.s kunsthistor. Resultate bald überholt. Vor der Unmöglichkeit, allein das gesamte Forschungsgebiet seiner Disziplin zu übersehen, musste er kapitulieren u. sich für die folgende verbesserte u. vermehrte Auflage (Düsseld. 1866–79) der Mithilfe jüngerer Fachgenossen bedienen. Dennoch war S.s Lebenswerk durch die rasante, auf Detailforschung ausgerichtete Entwicklung der Kunstgeschichte rasch veraltet. Fruchtbar waren S.s Anregungen für die damalige Kunst. Sein Einfluss im Düsseldorfer Freundeskreis um Carl Immermann u. Friedrich von Uechtritz auf die Entwicklung der dortigen Malerschule u. seine Arbeit für den Kunstverein für die Rheinlande u. Westfalen verdienen eine eigene Würdigung. Auch die Aktivitäten in Berlin für die Vereine für die Kunst des MA u. die christl. Kunst in der evang. Kirche sowie die zahlreichen Beiträge für die damals entstehenden kunsthistor. Fachzeitschriften sind noch unbearbeitet. Weitere Werke: Der Kreuzzug Kaiser Friedrichs I. Histor. Erläuterungen des Frieses v. Ludwig Schwanthaler. Düsseld. 1840. – Über das Verhältnis der Kunst zum Christenthume [...]. Bln. 1852. – Bildung u. Christenthum. Ebd. 1861. Literatur: Gregor Stemmrich: C. S. Rezeption u. Transformation berlinischen Geistes in der kunsthistor. Forsch. In: Kunsterfahrung u. Kulturpolitik im Berlin Hegels. Bonn 1983, S. 263–282. – Wolfgang Beyrodt: Ansichten vom Niederrhein. Zum Verhältnis v. C. S.s ›Niederländ. Briefen‹ zu Georg Forster. In: Welt u. Wirkung v. Hegels Ästhetik. Bonn 1985. – Gabriele Bickendorf: Die ›Berliner Schule‹: Carl Friedrich v. Rumohr (1785–1843), Gustav Friedrich Waagen (1794–1868), K. S. (1798–1875) u. Franz Kugler (1808–1858). In: Klassiker der Kunstgeschichte. Hg. Ulrich Pfisterer. Bd. 1, Mchn. 2007, S. 46–61. – Peter Betthausen: K. S. In: MKunsthistL. Wolfgang Beyrodt / Red.
Schnabel, Ernst, * 26.9.1913 Zittau/Sachsen, † 25.1.1986 West-Berlin. – Prosaist, Rundfunkautor, Übersetzer. Nach abgebrochenem Besuch der Meißner Fürstenschule St. Afra fuhr S. zwölf Jahre zur
See, im Zweiten Weltkrieg als Offizier der Kriegsmarine. 1946–1949 war er Chefdramaturg u. Leiter der Gruppe Wort, 1951–1955 Intendant des NWDR in Hamburg, 1961–1965 Leiter der dritten Hörfunkprogramme von NDR u. SFB; 1965–1968 produzierte er die »Literarische Illustrierte« im dritten Fernsehprogramm von NDR, RB u. SFB u. war ab 1963 Direktor der Abteilung Dichtung der Akademie der Künste in Berlin. 1957 erhielt er den FontanePreis, 1958 den Heinrich-Stahl-Preis der Jüdischen Gemeinde Berlin sowie den Prix droits de l’homme der UNESCO. S. lebte, mit Unterbrechung durch Reisen, bis zu seinem Tod in Berlin. Die drei während des »Dritten Reichs« in Hamburg veröffentlichten Romane Die Reise nach Savannah (1939), Nachtwind (1941) u. Schiffe und Sterne (1943), Männergeschichten von Rivalität, Liebe, Unglück u. Bewährung, basieren auf Erfahrungen aus der Seefahrt u. erinnern thematisch wie stilistisch an die Prosa Joseph Conrads. Seefahrt, Abenteuer unterwegs zu fremden Ländern, prägt seine weitere Prosa, häufig mythisiert, wie in den Erzählungen von Fremde ohne Souvenir (Ffm. 1961) oder im »modernisierten« Mythos Der sechste Gesang (Ffm. 1956), der Begegnung des Odysseus mit Nausikaa, sowie in Ich und die Könige (Ffm. 1958), worin der Ingenieur Dädalus von den »Stationen seiner Lebensreise« ums Mittelmeer berichtet. Ähnlich Die Erde hat viele Namen (Hbg. 1955), eine Sammlung von Arbeiten über das »Fliegen in unserer Welt«. S.s Texte, die Mythos – als Wahrnehmung von Zeitlosigkeit – u. Moderne – als reisende Verfügbarkeit der Welt – ineinanderblenden, zeichnen sich nicht nur in ihren Themen als betont »männliche« Texte aus. Auch ihr literar. Duktus von präziser Lakonik u. verhaltener Melancholie steht in der Tradition »männlicher« Literatur, etwa von Thomas Wolfe, dem er eine Monografie widmete (Hbg. 1947), oder Hemingway, den er übersetzte. Zugleich ist die Prosa durch die urspr. Bestimmung als Rundfunk-Feature geprägt. Mit seinen Features, an denen Andersch die »Verwandlung von Nachricht in Reflexion« rühmte, gilt S. einhellig als Pionier u. Vorbild
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des Genres. Am bekanntesten wurden seine Ders.: Ein Blatt vom Machandelbaum. Gött. 2008, Querschnitts-Features Der 29. Januar 47 (1947) S. 122–133. Erhard Schütz / Red. u. Ein Tag wie morgen (1950. Ffm. 1952), Montagen aus 30.000 bzw. 80.000 HörereinSchnabel, Johann Gottfried, auch: Gisansendungen. Noch größeren Erfolg hatte sein der, E. v. H., * 7.11.1692 (nach dem GreBericht Anne Frank. Spur eines Kindes (1958. gorianischen Kalender 17.11.) SandersFfm. 1958. Überarb. Neuausg. 1997), für den dorf bei Bitterfeld, † wohl zwischen 1751 er mehrfach ausgezeichnet wurde. u. 1758. – Romanautor, Journalist. Unter S.s wenigen späteren Publikationen sind Hurricane (Bln. 1972), zgl. eine Reflexion S.s Roman Wunderliche Fata einiger See-Fahrer über »Schwierigkeiten mit der Fiktion«, u. [...] von Gisandern (4 Bde., Nordhausen 1731, die zwei Bruchstücke eines unvollendeten 1732, 1736, 1743. Repr. Hildesh./New York Romans, Auf der Höhe der Messingstadt (Köln [auch Ffm.] 1973. Neudr. 3 Bde., Ffm. 1997. 2 1997. Zahlreiche Teilausgaben) hat lange in 1979), bes. hervorzuheben. Beide fassen noch einmal alle Themen von S.s Werk zu einer einer nur am Höhenkamm interessierten Lisuggestiv-lakon. Synthese von Fiction u. Non- teraturgeschichtsschreibung die vermeintl. Lücke zwischen dem höfisch-histor. Roman Fiction zusammen. des Barock u. dem pragmatischen der AufWeitere Werke: In jenen Tagen. Drehbuch zum Film v. Helmut Käutner. Flensburg/Hbg. 1947. – klärung füllen müssen. Dieses Werk – beSie sehen den Marmor nicht. 13 Gesch.n. Hbg. kannter u. d. T. der Tieck’schen Bearbeitung, 2 1949. Ffm. 1961. – Großes Tamtam. Ansichten vom Die Insel Felsenburg (Breslau 1828. 1840) – galt Kongo. Hbg. 1952. – Das Floß der Medusa. Libretto wegen seines Realismus u. des Entwurfs einer zum Oratorium v. Hans Werner Henze. Mchn. bürgerl. Sozialutopie als »Vorbote der bür1969. – Übersetzung: Ernest Hemingway: 49 Depe- gerlichen Kultur« (Brüggemann). Es zählt zu schen (zus. mit Elisabeth Plessen). Reinb. 1969. den verbreitetsten Romanen des 18. Jh. Literatur: Ilse Aichinger: Die Sicht der Ent- (Bd. 1: 81768; Bd. 2: 101772; Bd. 3: 81772; fremdung. Über Ber.e u. Gesch.n v. E. S. In: Bd. 4: 81772; sprachl. Überarbeitungen der Frankfurter Hefte 9 (1954), H. 1, S. 46–50. – Alfred Auflagen seit 1749; s. Bibliogr. von DamAndersch: Die Geheimschreiber. In: Ders.: Öffentl. mann 1997, Bd. 3, S. 274–280), obgleich die Brief [...]. Zürich 1977, S. 174–181. – Rüdiger Sa- Robinsonade mit ihrer abenteuerhaften, vom reika: Die Dritte Welt in der westdt. Lit. der 60er Zufall gesteuerten u. in exotische Länder Jahre. Ffm. 1980, S. 95–112. – Elisabeth Plessen: E. führenden Handlung schon bald der Kritik S.s ›Hurricane‹ oder Der Nullfall als Ansatzpunkt anheimfiel. Lessing verurteilte S.s Roman als der Fiktion. In: Dies.: Fakten u. Erfindungen. Bln. 1981, S. 29–31. – Helmut Peitsch: Ästhet. Intro- ein »elendes Produkt« (Berliner privilegirte version u. Nationalsozialismus. Die Erzähler Mar- Zeitung, 4.7.1754) – was jedoch u. a. den tin Raschke, E. S. u. Alfred Andersch. In: Leid der jungen Goethe u. Karl Philipp Moritz nicht Worte. Panorama des literar. Nationalsozialismus. von der Lektüre abgehalten hat. Im Gegensatz zum Roman stieß der Autor Hg. Jörg Thunecke. Bonn 1987, S. 321–347. – Narumi Watanabe: Ein Feature. E. S.s ›Der 29. Januar lange Zeit auf wenig Interesse. Sein Pseud. 1947‹. In: Doitsu-bungaku 98 (1997), S. 74–83. – »Gisander« wurde zwar schon in der RezenDies.: E. S.s Eingriff in das Hörsp. ›Draußen vor der sion der Lebens-Geschicht des [...] Printzen von Tür‹. Eine krit. Betrachtung. In: Jahresheft der In- Savoyen im »Hamburgischen Correspondenternat. Wolfgang-Borchert-Gesellsch. 10 (1998), ten« vom 27.11.1736 (Nr. 185) aufgedeckt, S. S. 10–13. – Wolfram Wessels: E. S. In: Schriftsteller als Verfasser der Fata jedoch erst durch einen u. Rundfunk. Hg. Jörg Hucklenbroich u. a. KonArtikel im Gothaischen »Allgemeinen Anstanz 2002, S. 99–123. – Horst Ohde: Die Stimme zeiger« Nr. 50, 1812 allgemein bekannt. Bis des Erzählers: Die Funkarbeiten E. S.s. In: ›Uns selbst mussten wir misstrauen‹. Die ›junge Gene- heute weist seine Biografie erhebl. Lücken ration‹ in der deutschsprachigen Nachkriegslitera- auf. Der 1694 verwaiste Sohn eines Pfarrers tur. Hg. Hans-Gerd Winter. Hbg./Mchn. 2002, besuchte von Jan. 1702 an für etwa vier Jahre S. 80–94. – Helmut Kopetzky: E. S. In: NDB. – die von August Hermann Francke geleitete Hanjo Kesting: Seemann u. Schriftsteller. E. S. In: Lateinschule in Halle. Sein Weltbild ist je-
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doch weniger vom Pietismus als von der Theologie Luthers geprägt. Zwischen 1706 u. 1709 absolvierte S. wohl eine Barbierlehre. Die notwendige siebenjährige ›Servierzeit‹ bis zum Meister verbrachte er zwischen 1709 u. Mitte 1713 als Barbier u. Wundarzt bei den Wolfenbüttler Regimentern in der Armee des Prinz Eugen in den Niederlanden während des Spanischen Erbfolgekriegs, spätestens seit Anfang 1714 bis 1717 in gleicher Funktion in der Sächsischen Armee. Mit ihr nahm er an den Feldzügen Augusts II. in Polen teil. Seine Erlebnisse im Umkreis Prinz Eugens verarbeitete er in einer Biografie (Lebens-Helden- und Todes-Geschicht des [...] Printzen zu Savoyen und Piemont. Stolberg 1736; zwei unrechtmäßige Nachdrucke Magdeburg 1736). 1719 gründete er zusammen mit zwei Meistern die Barbierinnung in Querfurt, der er bis 1727 angehörte. Am 17.6.1721 heiratete er dort Johanna Sophia Dietrich u. avancierte bald zum »Sächsisch-Weißenfeldschen HoffChirurgus«. Am 4.8.1724 leistete S. den Bürgereid in Stolberg/Harz. 1729 wurde er »Herrschaftlicher Cammerdiener«, 1731 »Gräflicher Cammerdiener«. Die Einkünfte aus dem höf. Amt sowie jene aus dem Bücherkommissionsgeschäft, das S. 1737 den Titel eines (unbezahlten) »Hoff-Agenten« eintrug, reichten offenbar zum Unterhalt der 1733, im Todesjahr seiner Frau, siebenköpfigen Familie nicht aus. So versuchte S. durch Schriftstellerei Geld zu verdienen. Da in dieser Zeit das Honorar meist mit Büchern beglichen wurde, dürfte auch dies nur ein karges Zubrot gewesen sein. In der Wahl der Gattungen (Roman u. Zeitung) bewies er ein Gespür für den sich entfaltenden Markt. 1731–1744 gab er die »Stolbergische Sammlung Neuer und Merckwürdiger Welt-Geschichte« heraus, eine offiziöse, doch ohne finanzielle Unterstützung des Stolberg’schen Grafen gedruckte Zeitung. Dieses Blatt, das S. bescheidenen Gewinn einbrachte u. das er weitgehend allein schrieb, enthält amtl. Bekanntmachungen, Hofberichte, vermischte u. polit. Nachrichten vornehmlich aus dem »Hamburgischen Unpartheyischen Correspondenten«, der »Leipziger Zeitung« u. den »Kayserlichen (Reichs-) Post-Zeitungen« (Ffm.) sowie Rezensionen gelehrter Literatur.
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Von seinen Quellen unterscheidet er sich zum einen durch polit. Parteinahme für die Interessen von Kaiser u. sächs. Kurfürsten, zum andern durch die klare Trennung von Information u. Unterhaltung, wobei S. sich bemühte, Sachverhalte auch in ihrer Komplexität zu erfassen u. für ein breiteres Publikum verständlich zu vermitteln. Nach 1738 erschien die Zeitung nur noch unregelmäßig. S. zweiter Roman Der im Irr-Garten der Liebe herum taumelnde Cavalier (Warnungsstadt [Nordhausen] 1738. Weitere Auflagen: 1740, 1746, 1747, 1752, 1762. Neudrucke: Kyffhäuser [Lpz.] 1830. Mchn. 1907. Ebd. 1968. Lpz. 1973) scheint, was die Handlungsstruktur betrifft, ganz in der pikar. Tradition zu stehen. Er schildert die zahlreichen Amouren des Gratianus von Elbenstein – Stoffe u. Motive entnahm S. der ital. Novellistik –, deren Abfolge von kurzen Anfällen der Reue unterbrochen wird. Man konnte den Eindruck gewinnen, als diene das Sündenbewusstsein des ›Helden‹ der Rechtfertigung einer Geschichte, die für einen erotisch-galante Unterhaltung suchenden Leser geschrieben wurde. In diesem Sinne haben ihn Zeitgenossen rezipiert u. verworfen. Doch besitzt der Roman einen in der Romangeschichte einzigartigen Schluss, der nicht dem pikar. Muster entspricht. Trotz der endgültigen Abkehr von »seiner, zu weilen recht unbändigen Lebens-Art« (S. 565) führt Elbensteins Tugend nicht zu seiner zeitlichen ökonomischen u. sozialen Glückseligkeit. Er endet in Armut, Einsamkeit u. Verzweiflung. S. hat der Konzeption seines Romans »spezielle Gehalte der Theologie des Kreuzes im Sinne Luthers« zugrunde gelegt (Dammann 1997, Bd. 3, S. 153), vermittelt durch Valentin Wudrians Schola crucis (1639 u. ö.). Unglück wird als ein Akt der Barmherzigkeit Gottes begriffen (ira benignitatis), der Elbenstein vor der ewigen Verdammnis retten soll. S. schließt mit diesem Roman an eine Erzählform an, die sich in den Jahrzehnten zuvor herausgebildet hatte: Der Pikaro- u. der galante Cupido-Roman verbanden sich zu einem moralisch-galanten Erzählmuster, das sich in der Blütezeit moralischer Wochenschriften der Erbauungsliteratur näherte (s. Gelzer).
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Ob S. 1744/45 Stolberg verlassen hat, ist ebenso wenig bekannt wie Sterbedatum u. Sterbeort. Sein letzter, möglicherweise unvollendet gebliebener Roman Der aus dem Mond gefallene [...] Printz, Oder Sonderbare Geschichte des Christian Alexander Lunari, alias Mechmet Kirili erschien 1750 an den Messeplätzen Frankfurt/M. u. Leipzig. Entgegen dem Titelblatt wird nicht die Geschichte des vom Islam zum Christentum übergetretenen Mechmet erzählt, sondern die seines Sohnes Franciscus. Als Findelkind von Pflegeeltern großgezogen, ist sein Lebensweg, von der Mutter heimlich überwacht u. vom Geist der Ahnfrau begleitet – sie macht ihn u. a. auf verborgene Schätze aufmerksam –, teleologisch auf die Rückkehr in seine Ursprungsfamilie nach dem 20. Lebensjahr ausgerichtet. Die Welt des Wunderbaren u. die Aufklärung des Herkunftsrätsels korrespondieren miteinander. Vertrauen u. grundloses Misstrauen, Verschweigen u. Offenbaren kennzeichnen, wie im höfisch-histor. Roman, die Kommunikation der Figuren. Doch ist das Strukturmodell dieses Romans eher den frz. Feenmärchen verpflichtet, die selbst Teile des höfisch-histor. Romans in neue Kleinformen umgießen (Dammann 1997, Bd. 3, S. 111 ff.). Der Printz, der die zeitgenöss. Kritik der Aufklärer am im Roman um 1750 verbreiteten Aberglauben ignoriert, belegt, wie lebendig die Tradition des Barockromans noch war. Bestätigt wird dies nicht zuletzt durch die Romanvorrede. In ihr beruft sich S. auf Anselm von Ziegler, was die angebl. Faktizität von Geistererscheinungen betrifft. Man hat S. zwei weitere, unter den Pseudonymen Historicus bzw. Ignotus erschienene Romane zugeschrieben (Haas 1977): Die ungemein schöne und gelehrte Finnländerinn Salome (Ffm./Lpz. 1748) u. Der Sieg des Glücks (ebd. 1748). Dies lässt sich jedoch angesichts eines eklektizistischen Erzählens u. des Fehlens eines Individualstils nicht rechtfertigen. Auch die Zuschreibung (Schubert 1993) der beiden Werke Sonderbarer Bericht von [...] dem Wunder-Knaben (Erfurt 1747. 21768) u. Sonderbarer Bericht von dem [...] Wunder-Mädgen (Erfurt 1748. 1772 überarbeitet als Bewunderungswürdige Geschichte eines adelichen Findelkindes) aufgrund der im Verfasserpseudonym Histo-
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rIoGraphuS enthaltenen Chiffre IGS (bzw. HIGS) muss Spekulation bleiben, solange diese nicht mit Lebensdaten S.s eindeutig in Verbindung gebracht werden kann. Wunderliche Fata sind S.s bedeutendstes Werk. Die Lebensgeschichte des Albert Julius folgt in ihrer Struktur weniger dem mit Defoes Robinson Crusoe gegebenen, sich aus dem Pikaroroman herleitenden Modell. Dies bleibt mit seiner – auf ein glückl. Ende hin ausgerichteten u. von der Arbeit des Protagonisten an sich selbst angesichts schmerzl. Lebenserfahrungen bestimmten – Verlaufsstruktur auf die erzählten Lebensläufe beschränkt. S. verbindet vielmehr höfisch-histor. u. pikar. Romanstruktur zu einem vorbildlosen eigenständigen Romantypus (Dammann 1997). Indem er die Schiffbrüchigen alles vorfinden lässt, was sie brauchen, lenkt er den Blick ganz auf das sich entwickelnde Gemeinwesen. In seinem äußeren Erscheinungsbild entspricht es einem zentralisierten, zweckmäßig geordneten Staatskörper, dessen innerer Zusammenhalt jedoch nicht durch die übernommenen Gesetze, sondern allein durch ein aktiv ausgeübtes Christentum, durch Gottes- u. Nächstenliebe gewährleistet ist. Die Insel wird von ihren Bewohnern wiederholt als »Paradies« apostrophiert. Denn auf ihr, in einer theologisch fundierten Utopie (wie die ersten Christen lebt man in Gütergemeinschaft), gibt es kaum Unglück u. Krankheit; es herrscht reine Liebe ohne Triebhaftigkeit u. der Tod steht erst am Ende eines erfüllten Lebens. Diese Postfiguration des Paradieses steht im spannungsreichen Kontrast zur sozialen Realität Europas, die in den erzählten Lebensläufen der Ankömmlinge als eine Welt der Gewalt, des Betrugs u. der Habgier dargestellt wird: ein Akt bannender u. zugleich wertsetzender Vergegenwärtigung im Erzählen. S. greift zu ihrer Ausgestaltung auf gesellschaftl., histor. u. zeitgeschichtl. Sachverhalte zurück. Die Paradieskonzeption wird jedoch nur in den beiden ersten Bänden durchgehalten. Vom Ende des zweiten Bands an, parallel zur Ankunft von Eberhard Julius u. den »Europäern« sowie mit der Inbesitznahme von Klein-Felsenburg, beginnt sich die agrarischhandwerklich lebende Gemeinschaft zu
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wandeln. Ihre Mitglieder halten sich zwar an Gott, aber nicht mehr an die geistig-sittl. Normen des Albert Julius. Vor allem verstößt man gegen dessen Verbot der curiositas (der »eitlen Lüste«, II, 458). Dies illegale Erkenntnisstreben schlägt sich u. a. in dem steten Bemühen um zivilisator. Verbesserungen nieder. Mit manufakturähnl. Warenproduktion über den Bedarf hinaus, die in Zukunft zwangsläufig Handel mit der Außenwelt zur Folge haben muss – eine von Albert Julius II. erkannte potentielle Gefährdung der Staatsutopie (IV, 515) –, mit Krieg gegen das angreifende Portugal, mit Ungehorsam u. Verbrechen sowie dem Eindringen von Aberglauben u. Zauberei nimmt die Gemeinschaft nach u. nach Züge der ›Alten Welt‹ an. – In der Forschung ist strittig, wie die beiden letzten Bände der Fata zu beurteilen sind. Für Dammann (1997) fällt S. auf eine voraufklärerische Position zurück, wenn dieser – bei gleichzeitig ausführl. Präsentation der Geistlichen u. ihrer Predigten – die Vorgänge einschließlich ungewöhnl. Naturerscheinungen in orthodox-protestantischer Perspektive als Züchtigung Gottes für die curiositas der Felsenburger darstellt. Für Braungart (1989) hingegen, der den Roman als eine Allegorie der Menschheitsgeschichte versteht, verläuft die Heranführung der Utopie an die politisch-gesellschaftl. Verhältnisse der Zeit nur konsequent. S. sei – vom dargestellten Geisterglauben einmal abgesehen – ein Frühaufklärer, der die Heilsgeschichte durch eine aufklärerische Ideengeschichte ersetze. Er orientiere sich offenbar am Konzept eines kontinuierl. Fortschreitens im gesellschaftl. Prozess, innerhalb dessen die Geschlossenheit des insularen Raumes nur ein Durchgangsstadium verkörpere (246 f.). Die Vorrede zum ersten Band (Nachdr. Weber: Texte), in der S. in Abgrenzung zu den in Romanvorreden der Zeit übl. Wahrheitsbeteuerungen seine erzählerische Praxis reflektiert, lässt die Frage nach der Faktizität der »wunderlichen« Geschichte offen. Allein der Leser entscheidet, ob die Geschichte für wahr gehalten werden darf oder nicht. Für S. ist Dichtung weder Nachahmung der Natur, noch ist sie an ihrer Wahrscheinlichkeit zu messen. Fiktion ist dort legitim, wo sie – wie
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in bibl. Geschichten – der Erkenntnis einer höheren Wahrheit dient (s. auch Vorrede zum zweiten Band). Mit der Individualisierung des ästhetischen Urteils geht die Abwendung vom »prodesse«, der Rechtfertigung durch außerliterar. Zwecksetzungen, einher. Erzählen sei ein auf »Gemüths Vergnügen« gerichtetes »Lusus Ingenii«. Zum ersten Mal in der Geschichte der Romanpoetik wird hier die These vertreten, dass Dichtung sich selbst legitimiere. Trotz der Kritik der Aufklärer an dem »elenden Produkt«, das nur die Lesesucht befördere, hatten die Fata nicht nur zahlreiche Nachahmungen zur Folge, die Felsenburgiaden (z.B. [Joh. Fr. Bachstrohm]: Das Land [...] der Inquiraner. Ffm./Lpz. [Breslau] 1736/37. Nils Hammelmanns [...] Reisen. Erfurt 1747. Der Dänische Robinson. Lpz. 1750–53. Der [...] herumirrende Ritter Don Felix. Ffm./Lpz. 1754. Neue Fata einiger Seefahrer. Ulm 1769. Seltsame Fata einiger Seefahrer. Regensb. 1773. [Joh. Gottlob Benjamin Pfeil]: Die glückliche Insel. Lpz. 1781), sondern sie wurden noch gegen Ende des 18. Jh. von »einem sehr großen Theil des [...] Publikums mit großem Beyfall« gelesen (Christian Carl André: ›Felsenburg‹, ein sittlichunterhaltendes Lesebuch. Gotha 1788/89; Vorbericht: Neudr. in: Jb. der J.-G.-S.-Gesellsch. 2006/08, S. 183–189, hier S. 186). Wenngleich 1794 mit Der Jesuit auf dem Thron (Bln. [Görlitz]) noch eine Kontrafaktur mit antijüd. Tendenz erschien, welche das Illusionäre der Felsenburger Tugendgesellschaft vor Augen führte, zeichnete sich schon bald eine Neubewertung ab. Die Romantiker betrachteten den Roman als ein historisch u. ästhetisch interessantes Werk der dt. Literatur. Arnim verarbeitete die Albert-Concordia-Episode in seinem Wintergarten (Bln. 1809, zweiter Winterabend), Johann Christian Ludwig Haken brachte Auszüge in seiner Bibliothek der Robinsone (Bd. 4. u. 5, Bln. 1807/08) u. Karl Lappe (Die Insel Felsenburg. Eine Robinsonade. In: Der Gesellschafter. Hg. Friedr. Wilh. Gubitz, Nr. 70–75, Bln. 1820. Erw. Nürnb. 1823. Repr. der Ausgabe Pesth (Budapest) 1820 in: Jb. der J.-G.-S.-Gesellsch. 2004/05, S. 34–68) wie Ludwig Tieck gaben Neubearbeitungen heraus. In den 20er Jahren
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des 19. Jh. dienten die Fata als Vorlage für Jugendbücher. Literatur: Adolf Stern: Der Dichter der ›Insel Felsenburg‹. In: Histor. Tb. F 5, Jg. 10 (1880), S. 317–366. – Selmar Kleemann: Der Verf. der ›Insel Felsenburg‹ als Zeitungsschreiber. In: Vjs. für Litteraturgesch. 6 (1893), S. 337–371. – Hermann Ullrich: Robinson u. Robinsonaden. Bibliogr., Gesch., Kritik. Weimar 1898. – Fritz Brüggemann: Utopie u. Robinsonade. Untersuchungen zu S.s Insel Felsenburg (1731–1743). Weimar 1914. – Arno Schmidt: Herrn S.s Spur. In: Ders.: Dya Na Sore. Karlsr. 1958, S. 54–98. – Hans Mayer: Die alte u. die neue ep. Form. J. G. S.s Romane. In: Ders.: Von Lessing bis Thomas Mann. Pfullingen 1959, S. 35–78. – Rosemarie Haas: Die Landschaft auf der Insel Felsenburg. In: ZfdA 91 (1961/62), S. 63–84. – Wilhelm Voßkamp: Theorie u. Praxis der literar. Fiktion in J. G. S.s Roman ›Die Insel Felsenburg‹. In: GRM N. F. 18 (1968), S. 131–152. – Texte zur Romantheorie I. Hg. Ernst Weber. Mchn. 1974, S. 548–557. – Rolf Allerdissen: Die Reise als Flucht. Zu S.s ›Insel Felsenburg‹ u. Thümmels ›Reise in die mittägl. Provinzen v. Frankreich‹. Bern/Ffm. 1975. – Roland Haas: Lesend wird sich der Bürger seiner Welt bewußt. Der Schriftsteller J. G. S. u. die dt. Entwicklung des Bürgertums in der ersten Hälfte des 18. Jh. Ffm. u. a. 1977 (mit Werkverz.). – Jürgen Fohrmann: Abenteuer u. Bürgertum. Tüb. 1981. – Jan Knopf: Frühzeit des Bürgers. Stgt. 1978, S. 85–110. – Ludwig Stockinger: Ficta Respublica. Tüb. 1981, S. 60–94, 399–449. – E. Weber u. Christine Mithal: Die dt. Originalromane zwischen 1680 u. 1780. Eine Bibliogr. [...]. Bln. 1983. – Bernhard Fischer: Der moral. Naturzustand u. die Vernunft der Familie. Eine Studie zu S.s ›Wunderl. Fata‹. In: DVjs 61 (1987), S. 68–88. – Werner Frick: Providenz u. Kontingenz. Tüb. 1988, S. 186–197, 217–229. – Wolfgang Braungart: Die Kunst der Utopie. Stgt. 1989, S. 217–261. – Dietrich Grohnert: S.s ›Insel Felsenburg‹. Aufbau u. Verfall eines literar. sozial-utop. Modells. In: WB 35 (1989), S. 602–617. – Ruprecht Wimmer: Ins Paradies verschlagen. J. G. S.s ›geschickte Fiction‹. In: Paradeigmata. Hg. Franz Link. Tl. 1, Bln. 1989, S. 333–349. – Claudia v. Böhl: Die Quellen v. J. G. S.s Ztg. ›Stolbergische Sammlung‹. In: Jb. der J.-G.S.-Gesellsch. 1992/95, S. 61–91. – Gert Schubert: Wunderl. Slg. einiger Werke des J. G. S. Eine Übersicht der Werkzuschreibungen. In: Daphnis 22 (1993), S. 413–442. – Bettina Recker: J. G. S. ›Die Insel Felsenburg‹. In: Interpr.en. Romane des 17. u. 18. Jh. Stgt. 1996, S. 78–111. – Günter Dammann: Über J. G. S.: Spurensuche, die Plots der Romane u. die Arbeit am Sinn. In: J. G. S.: Insel Felsenburg.
480 Neudr. Ffm. 1997, Bd. 3, S. 7–272 (Bibliogr. S. 273–286; Lit. zu J. G. S. S. 286–298 [bis 1995]; Marcus Czerwionka: Editionsbericht, S. 300–313). – Dietrich Grohnert: Aufbau u. Selbstzerstörung einer literar. Utopie. St. Ingbert 1997 (überarb. Diss. 1975). – Gert Schubert: Die ›Insel Felsenburg‹ im 20. Jh.: eine komm. Bibliogr. In: Jb. der J.-G.-S.Gesellsch. 1997/99, S. 121–151 (fortgesetzt: ebd. 2000/01, S. 165–173; 2002/03, S. 123–126). – Katrin Striegel: Die ›Insel Felsenburg‹ als pietist. Utopie? In: ebd., S. 57–72. – Uli Wunderlich: Die ›Felsenburgiaden‹ nach S.s ›Insel Felsenburg‹. In: ebd. 2000/01, S. 149–163. – G. Dammann u. Dirk Sangmeister (Hg.): Das Werk J. G. S.s u. die Romane u. Diskurse des frühen 18. Jh. Tüb. 2004 (darin: G. Dammann: Liebe u. Ehe im dt. Roman um 1730, S. 35–90; W. Braungart: R. C., Rose Croix, Robinson Crusoe. Rosenkreuzerisches bei Defoe u. S., S. 113–126; Jan Roidner: ›Vorsehung Gottes‹ u. ›Klugheit‹ in J. G. S.s Romanwerk ›Wunderliche Fata‹, S. 143–160; Frieder Sondermann: Alle Gärten sind grün. Natur u. Landschaft in J. G. S.s ›Insel Felsenburg‹ u. ›Cavalier‹, S. 189–207; Georg Objartel: Erzählprosa im Kanzleistil? J. G. S. Syntaxstil im Kontext der Zeit, S. 209–224; Florian Gelzer: ›Don Felix‹ u. die ›Insel Felsenburg‹, S. 237–256; Urszula Bonter: Die Konsequenz der Inkonsequenz. Anmerkungen zu J. G. S.s Roman ›Der aus dem Mond gefallene [...] Printz‹, S. 273–280; Thomas Rahn: Fingiertes Interesse. Zu J. G. S.s ›Das höchst-erfreute Stolberg‹, S. 281–294). – Stefan Höppner: Neuland. J. G. S.s ›Insel Felsenburg‹ u. die Tradition der utop. Insel. In: Jb. der J.-G.-S.-Gesellsch. 2006/08, S. 9–36. – Robert Stockhammer: Kartierung der Erde. Mchn. 2007, S. 313–335. – Florian Gelzer: Konversation, Galanterie u. Abenteuer. Tüb. 2007, S. 345–373. – Gerd Schubert: J. G. S. In: NDB. – Michael Dominik Hagen: ›Republic‹ u. ›Capital-Vestung‹. Aufzeichnungen zu Wirtschaft u. Gesellsch. in J. G. S.s ›Wunderliche Fata‹. In: KulturPoetik 9 (2009), S. 1–22. Ernst Weber
Schnack, Anton, * 21.7.1892 Rieneck/Unterfranken, † 26.9.1973 Kahl/Main. – Journalist, Lyriker, Romanautor. Nach dem Gymnasialabschluss war S., der Bruder von Friedrich Schnack, als Journalist u. Feuilletonredakteur in Darmstadt, Mannheim u. Frankfurt/M. tätig. An beiden Weltkriegen nahm er als Soldat teil. Nach der Rückkehr aus amerikan. Gefangenschaft 1945 ließ er sich als freier Schriftsteller in
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Kahl nieder. Er war Mitgl. der Deutschen Schnack, Elisabeth, geb. Schüler, * 23.12. Akademie für Sprache und Dichtung (seit 1899 Joachimsthal/Uckermark, 14.2.1992 1950) sowie des Schriftstellerverbands (seit Zürich. – Übersetzerin, Erzählerin, Lyri1964) u. erhielt verschiedene Auszeichnun- kerin. gen. Nach ihrer Ausbildung ging S. 1925 als LehS. debütierte bereits früh mit Gedichten rerin nach China, wo sie jedoch bald heiratete (Strophen der Gier. Dresden 1917. Die Tausend u. ihren Beruf aufgab. 1938 kehrte sie nach Gelächter. Hann. 1919. Der Abenteurer. Darmst. Europa zurück u. studierte in der Schweiz 1920). Dominante Thematik der im expresengl. Literatur. Seit 1950 war S. als Übersetsionistisch metaphor. Sprachduktus gehaltezerin u. Herausgeberin tätig. nen Texte ist eine gesellschaftl. Normen In ihren Texten werden S.s ausgeprägte durchbrechende Erotik u. Sexualität, deren Liebe zur Natur u. ihre botan. Kenntnisse Ziel das Einswerden mit Natur u. Landschaft deutlich. In Die Zauberlaterne. Erinnerungsbilder ist, die aber auch die Gefahr von Gewalt u. (Zürich 1983. 1986. Mit einer Bibliografie der Zerstörung in sich birgt. Die Koppelung von bis dahin erschienenen Übersetzungen u. eiEnthusiasmus u. Vernichtung liegt ebenfalls ner Liste der von ihr in Ostasien gesammelten den Kriegsgedichten Tier rang gewaltig mit Tier Pflanzen) zeigt S. Stationen ihres Lebens in (Bln. 1920) u. dem Roman Der finstere Franz China u. ihre Anfänge als Übersetzerin. Der (Lpz. 1937) zugrunde. Das Seeräuberwesen an Band Spiegelungen (ebd. 1984. 1989) erzählt den Küsten der span. Kolonien im 17. Jh. von Begegnungen mit Autoren u. von den bietet hier den inhaltl. Rahmen, das Kämpfen Schauplätzen ihres Lebens u. ihrer Dichtun»aus edler Gesinnung« mit dem Verheeren gen, die S. auf vielen Reisen besuchte. Das aus »unerbittlicher Habgier« zu konfrontie- aufmerksame Aufspüren der Welt der Dichter ren. Die histor. Gestalten Guy de Montbars u. in Fantasie u. Wirklichkeit ist für S.s ÜberFrançois l’Olonois stehen dabei im Mittel- setzertätigkeit programmatisch (Die Welt punkt. meiner Autoren. Ebd. 1975). Sie übersetzte Nach dem Zweiten Weltkrieg verfasste S. William Faulkner, D. H. Lawrence, Katherine vor allem feuilletonistische Betrachtungen Mansfield, William Makepeace Thackeray u. über alltägl. Gegenstände, Namen, Weine, die v. a. Heimat (Mädchenmedaillons. Bln. 1946. Das Eigene Erlebnisse verarbeitete S. auch zu fränkische Jahr. Aschaffenburg 1952. Weinfahrt kurzen Prosastücken (Grotesken, Komödchen & durch Franken. Mchn. 1964). Sammelbände Tragödchen. Ebd. o. J.). In ihren Gedichten (Annoncenleser. Ebd. 1947. Arabesken um das (Blick aus dem Zug. 42 Gedichte. Ebd. 1977) wird ABC. Ebd. 1946. U. d. T. Buchstabenspiel. 1954) die Natur zur Metapher für Seelenzustände. u. Rundfunksendungen (Mainfränkisches KaWeitere Werke: Bittersüsser Nachtschatten. lendarium. 1960. Aus einem Völkerkatalog. 1965) Boshafte u. sentimentale Gesch.n. Zürich 1988. – waren dafür die bevorzugte Publikations- Müssen Künstler einsam sein? Leben u. Werk v. F. Scott Fitzgerald, Sean O’Faolain, Liam O’Flaherty, form. Weitere Werke: Die Flaschenpost. Lpz. 1936 (L.). – Zugvögel der Liebe. Ebd. 1936 (R.). – Die bunte Hauspostille. Ebd. 1938 (E.en). – Mittagswein. Hbg. 1948 (L.). – Flirt mit dem Alltag. Anweisungen zum Glücklichsein. Ffm. 1956. Würzb. 1994.
Francis Stuart, Katherine Mansfield, Frank O’Connor, George Moore. Zürich 1991. Literatur: FS E. S. zum 90. Geburtstag. Zürich 1989 (mit Biogr. u. Bibliogr. der Übers.en). – Daniela Beuren: Das Konstrukt Frau in der Translation. E. S. übers. Carson McCullers. Graz 2005.
Literatur: Karl Krolow: Gedenkwort für A. S. In: Jb. der Dt. Akademie für Sprache u. Dichtung (1973), S. 231–233. – Walter Höllerer: Der Dichter A. S. In: Weltstimmen 22 (1953), S. 99–104. – Heinz Scheid: Friedrich u. A. S., die Dichterbrüder aus Rieneck. In: Spessart (1992), H. 4, S. 3, 6–12.
Ulrike Pichler / Red.
Dominica Volkert / Red.
Schnack
Schnack, Friedrich, auch: Charles Ferdinand, * 5.3.1888 Rieneck/Unterfranken, † 6.3.1977 München; Grabstätte: ebd., Waldfriedhof, Neuer Teil. – Lyriker, Erzähler, Essayist, Verfasser von Sach- u. Jugendbüchern, Hörspielautor, Übersetzer. S., dessen Vater Kommandant eines Gendarmeriepostens war, arbeitete nach einer kaufmänn. Lehre im Büro eines Berchtesgadener Handelshauses u. einer Breslauer Genossenschaft. Während des Ersten Weltkriegs in Istanbul stationiert, wurde er nach dem Waffenstillstand bis zum Frühjahr 1919 auf der Insel Prikipo im Marmarameer gefangen gehalten. Nach Deutschland entlassen, kehrte er zunächst in das Angestelltenverhältnis zurück, bevor er 1923–1926 Feuilletonredakteur der »Dresdner Neuesten Nachrichten«, danach der »Neuen Badischen Landeszeitung« in Mannheim wurde u. sich schließlich für die Lebensform des freien Schriftstellers entschied. 1930 unternahm er eine längere Reise nach seiner »Wunschinsel« Madagaskar. S. wechselte häufig seinen Wohnort. Von Überlingen/Bodensee übersiedelte er 1953 ins Tessin u. von dort nach Baden-Baden. Zuletzt lebte er in München. Nahezu ausschließl. Thema seines weit über 100 Bücher umfassenden Werks ist die Natur u. ihre Wechselbeziehung mit dem Menschen. Dabei wird die auf profunder Sachkenntnis gründende sinnl. Wahrnehmung stets durchlässig auf einen geheimnisvollen, transzendenten Sinn der Natur. Seine Gedichtbände, die seit Anfang der 1920er Jahre im Hellerauer Verlag Jakob Hegners erschienen, begründeten S.s eigenständigen Beitrag zur neueren Naturlyrik. Ihren Versen eignet eine Vorliebe für »traumverzauberte« Zwischenzustände der Ich-Auflösung, in denen der Realität eine bisher unbekannte Wertigkeit zuwächst. Während der 1920 erschienene Band Das kommende Reich mit hymn. Einschlag die Faszination der fremden Welt des Orients beschwört, der S. die Freisetzung seiner »eigentlichen dichterischen Stimme« verdankte, bildet bei Vogel Zeitvorbei (1922) u. Das blaue Geisterhaus (1924) die heimatliche mainfränk.
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Landschaft den themat. Hintergrund. Der Zyklus Palisander (Chemnitz 1933) evoziert mit suggestiver Bildlichkeit die trop. Landschaft Afrikas. In beruhigterem Ton behalten auch die späteren Gedichte S.s das Gepräge sensualistischer »Weltfestlichkeit« bei. Erfolgreicher als mit seiner Lyrik war der Dichter, der die Aufgabe der Literatur als »eine helfende und heilende« ansah, mit Prosaarbeiten. Nach frühen märchenhaftfantastischen Erzählungen u. Romanen (u. a. Klingsor. Hellerau 1922. Die Hochzeit zu Nobis. Ebd. 1924) wandte er sich in einer »Romantrilogie der drei Lebens-Alter« (Sebastian im Wald. Ebd. 1926. Beatus und Sabine. Ebd. 1927. Die Orgel des Himmels. Ebd. 1927. Überarb. u. zusammengefasst u. d. T. Die brennende Liebe. Lpz. 1935) der »Schönheit und Wahrheit des einfachen Lebens« zu. Vor der Kulisse süddt. Landschaften bieten sie in schmucklosem, leitmotivisch strukturiertem Stil nur ein Minimum an Handlung, die gegenüber der Darstellung des zeitlosen Kreislaufs der Natur zurücktritt. Die Zeichnung der Figuren verzichtet zugunsten des »Sinnbilds« auf psycholog. Realismus. Diesen Romantypus hat S. in der Folge weiter variiert (Das Zauberauto. Hellerau 1928. Der erfrorene Engel. Lpz. 1934. Das Waldkind. Ebd. 1939). Als Mischform von Poesie, Information u. Didaktik entstanden daneben zahlreiche »Naturdichtungen«, unter denen (von Maeterlincks Leben der Bienen inspiriert) das 1928 in Hellerau erschienene Leben der Schmetterlinge auch internat. Verbreitung fand. Nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmten überwiegend naturkundlich-poetische Sachbücher die Produktion des vielfach geehrten Autors »für das große und kleine Volk«, der bereits feinfühlig auf die Umweltzerstörung reagierte, als diese literarisch noch kaum wahrgenommen wurde (z.B. Du bist betrogen. In: Traumvogelruf. Gedichte aus fünfzig Jahren. Mchn. 1973). Ausgaben: Gesamtausg. des poet. Werks. 7 Bde., Mchn. 1948–54. – Ges. Werke. 2 Bde., Hbg. 1961. Literatur: Felix Wittmer: Leitmotive u. themat. Gestaltung in den Heimatromanen F. S.s. In: GR 4 (1929), S. 260–276. – Elisabeth-Hedwig Frank: F. S.s Kunst der Prosa. Diss. Wien 1940. – Augustine Hölzl: Die Kindergesch.n v. F. S. Diss. Wien 1942. –
483 F. S. Festg. des Arbeitskreises für dt. Dichtung zu seinem 70. Geburtstage. Gött. 1958. – Ruth J. Kilchenmann: Traum u. Wirklichkeit in den Werken F. S.s. In: GQ 34 (1961), S. 257–263. – Dittker Slark: F. S. Im Gedenken an seinen 100. Geburtstag (5. März 1988). Gött. 1992. – Heinz Scheid: F. u. Anton S., die Dichterbrüder aus Rieneck. In: Spessart (1992), H. 4, S. 3, 6–12. – Manfred Bosch: Der Sekretär des Ewigen. F. S. u. seine Überlinger Jahre. In: Ders.: Bohème am Bodensee. Literar. Leben am See v. 1900 bis 1950. Lengwil 1997. 32007, S. 207–211. Hans-Rüdiger Schwab / Red.
Schnauffer, Carl Heinrich, * 8.7.1823 Heimsheim/Kraichgau, † 4.9.1854 Baltimore (USA). – Schriftsteller der badischen Revolution u. deutsch-amerikanischer Publizist.
Schneckenburger
den USA exemplarisch den literar. Typus der dt. demokratischen »Forty-Eighters«. Weitere Werke: Gedichte. Mannheim 1846. – Dt. Soldatenlieder. Mannheim o. J. – Todtenkränze. Baltimore 1851. – König Carl I. oder Cromwell u. die engl. Revolution. Trauerspiel. Baltimore 1852. – Lieder u. Gedichte aus dem Nachl. Baltimore 1879. – Neuere Teilausgaben: Lieder u. Gedichte. Bearb. Hartmut Harfensteller. Heimsheim 1986. – 1848. Lit. u. Revolution in Baden. Eine Anth. Hg. Ute Faath u. Hansgeorg Schmidt-Bergmann. Karlsr. 1997, S. 23, 54–57. Literatur: Dieter Cunz: C. H. S.s literar. Versuche. In: PMLA 59 (1944), S. 524–539. – Adolphe Eduard Zucker: The Forty-Eighters. Political Refugees of the German Revolution of 1848. New York 1950, S. 338 f. – Hans-Joachim Hirsch: S., C. H. In: Der Rhein-Neckar-Raum u. die Revolution v. 1848/49. Hg. Arbeitskreis der Archive im RheinNeckar-Dreieck. Ubstadt-Weiher 1998, S. 272–274. Wilhelm Kühlmann
Der Sohn eines Färbers durchlief eine kaufmänn. Ausbildung (»Commis«) u. wirkte seit 1842 als Journalist u. Gebrauchslyriker im engsten Umkreis der badischen RevolutionäSchneckenburger, Max, * 17.2.1819 Talre Gustav Struve u. Friedrich Hecker. Seit heim bei Tuttlingen, † 3.5.1849 Burgdorf 1847 zählte er zu den wichtigsten Mitarbeibei Bern; Grabstätte: Talheim. – Lyriker. tern der radikalen »Mannheimer Abendzeitung« unter der Leitung Struves. Hecker Nach der Lateinschule wurde S. Kaufmann entwarf in einem Vorwort zu S.s Lyrikband wie sein Vater; seit 1841 lebte er in Burgdorf, Neue Lieder für das deutsche Volk (Rheinfelden wo er Teilhaber einer Eisengießerei war. Zu 1848) eine wegweisende sozialpsycholog. nationaler Berühmtheit gelangte er mit Poetologie der polit. Lieddichtung. Manche postumer Verspätung aufgrund des Liedes von S.s Gedichten wurden auch als Flugblät- Die Wacht am Rhein (in der Vertonung Karl ter vertrieben. Seine polit. Lyrik u. Publizistik Wilhelms), entstanden wie Nikolaus Beckers deckte, ganz auf Breitenwirkung angelegt, Der deutsche Rhein 1840 zur Zeit der Rheindas Themenspektrum des radikaldemokrati- krise u. den frz. Gebietsansprüchen auf das schen Revolutionsflügels ab (Polenlieder, linke Rheinufer trotzig entgegengereckt. Agitation gegen die »Despoten«, Aufruf an Während des 1870/71er Krieges hatte es, jetzt das »deutsche Volk« zum Kampf, Weber- als poetisches Marschgepäck für den Einelend, Auswandererproblematik). Unter dem marsch nach Frankreich (u. im 20. Jh. dann Revolutionsgeneral Franz Sigel kämpfte S. in wieder als revanchistisches Sammellied), laut einem badischen Freikorps (März 1848) u. Bismarck »den tatsächlichen Wert von mehwar bald darauf maßgeblich am Umsturz in reren Armeekorps«. S.s in Form wie Aussage Mannheim beteiligt (1849). Nach den Nie- konventionellen poetischen Nachlass edierte derlagen der Revolution musste er in die Karl Gerok u. d. T. Deutsche Lieder (Stgt. 1870). Schweiz bzw. nach England ins Exil gehen; Vom Nachruhm u. der polit. Indienstnahme 1851 wanderte er in die USA aus. In Balti- S.s zeugt u. a. das S.-Denkmal von Fritz von more gründete er die deutschsprachige re- Graevenitz (1937) in Tuttlingen an der Stelle publikan. Tageszeitung »Baltimore Wecker«, des 1892 errichteten, 1918 als »Metallspenkritisierte die Sklaverei u. gedachte immer de« eingeforderten Germania-Denkmals. wieder auch der reaktionären Entwicklung in Eine Dauerausstellung im M.-S.-Zimmer im Deutschland. S. gehörte zu den Begründern Fruchtkasten in Tuttlingen informiert über der »Society of Free Man«; er repräsentiert in Leben u. Werk.
Schnee Literatur: Max Friedländer: Die Wacht am Rhein. In: Dt. Rundschau 195 (1923), S. 205–210. – Karl Hofmann: M. S. u. seine ›Wacht am Rhein‹. Gesch. eines dt. Volks- u. Vaterlandsliedes. Tuttlingen 1940. – Stefan Jordan: M. S. In: NDB. Arno Matschiner / Red.
484 Literatur: C[arl] Leisewitz: G. H. S. In: ADB 32. – Max Güntz: Hdb. der Landwirtschaftl. Lit. 2. Lpz. 1897, S. 245 f. – Paul Nüchterlein: G. H. S. In: Magdeburger Biogr. Lexikon. 19. u. 20. Jh. Hg. Guido Heinrich u. Gunter Schandera. Magdeb. 2002, S. 640. Reinhart Siegert / Red.
Schnee, Gotthilf Heinrich, * 6.8.1761 Schneegans, Ludwig, * 16.12.1842 StraßSiersleben bei Mansfeld, † 12.1.1830 burg, † 12.8.1922 Wien. – Dramatiker, Schartau bei Magdeburg. – Pfarrer; land- Übersetzer. wirtschaftlicher Schriftsteller. Der Sohn des gleichnamigen liberalen StraßDer Sohn eines Gutsbesitzers u. Gastwirts burger Juristen u. späteren Stadtarchivars besuchte die Gymnasien in Eisleben u. studierte Literatur u. Philologie in seiner Braunschweig sowie für zwei Jahre das Wai- Heimatstadt, in Jena u. Berlin u. arbeitete senhausinstitut in Halle. Dort (1778–1780) u. zunächst als Lehrer für dt. Sprache in Le Mans in Leipzig (1780/81) studierte S. Theologie. u. Rennes. In München lernte S. 1865 Heyse Nach Abschluss des Pfarrerexamens verfasste kennen, in Wien (1867–1869) Saar u. Ebnerer während einer Wartezeit als Hauslehrer Eschenbach. 1870 wurde er Hofdichter LudRomane (Eduard Willmann, Karl und Elise, Jakob wigs II. von Bayern in dessen Münchener Urban. Alle in: Neue Original-Romane der Deut- Residenz mit der Verpflichtung, »Übersetschen. Bde. 1 u. 2, Lpz. 1782) u. Gedichte zungen und Bearbeitungen für den Ge(Gedichte. Ffm. 1786; darin in Prosa die Wer- schmack des Königs vorzunehmen« u. der theriade Edwin, eine Szene aus W*** Leben. Ge- Hofbühne Stücke zu liefern (meist für Sepadichte. Herausgegeben u. mit einer Vorrede ratvorstellungen). 1888 zog er nach Wien. von Aloys Wilhelm Schreiber. Ffm. 1790). Von S.’ rund 30 literar. Arbeiten wurden 1790 erhielt S. die Pfarrei Groß-Oerner bei nur zwei veröffentlicht: das Trauerspiel TrisMansfeld, 1809 die in Schartau, Niegripp u. tan (Lpz. 1865) u. die Hugo-Übersetzung Heinrichsberg bei Magdeburg. Neben seiner Meine Söhne (Straßb. 1874); die anderen bliegeistl. Tätigkeit wirkte er aus aufkläreri- ben ungedruckt oder wurden als Bühnenschem Sendungsbewusstsein auch als land- manuskript publiziert. S. selbst sah die wirtschaftl. Neuerer; seine schriftstellerische Volkstragödie Terror (1910, ungedr.) als sein Tätigkeit verlegte er mehr u. mehr auf dieses wichtigstes Werk an. Nach Ansicht seiner Gebiet. Anders als seine belletristischen Pro- Freunde übertraf es sogar Büchners Revoludukte wurden S.s Fachbücher, wie Der ange- tionsdrama. hende Pachter (Halle 1817. 81892) oder NaturLiteratur: Karl Walter: L. S. (1812–1858) der historisch-Oekonomisch-Technologisches Handwör- Strassburger Archivar u. der Dramatiker L. S. terbuch [...] (ebd. 1819. Neuausg. u. d. T. En- (1842–1922). Colmar 1941. – Gerhard Heldt: L. S. zyklopädie der Landwirthschaft. Braunschw. In: ÖBL. Jan-Christoph Hauschild 1860), erfolgreich. Bis 1829 war S. Herausgeber der »Landwirthschaftlichen Zeitung« (Halle 1803–40). Seine Verdienste wurden Das Schneekind. – Mittelalterliche Kurzdurch Ehrenmitgliedschaften in landwirt- erzählung, 13. Jh. schaftl. Vereinen u. durch Orden gewürdigt. Die in zwei ähnl. Fassungen (mitteldt. u. Weitere Werke: Betrachtungen über einige süddt.) anonym in insges. sechs Handschrifausgew. Stellen der hl. Schrift. Ffm. 1788. – Casuten überlieferte Kurzerzählung (90 Verse) alreden. Halle 1800. – Tägl. Tb. für Landwirthe u. bietet einen Stoff, der erstmalig in einem lat. Wirthschaftsverwalter. Ebd., später Lpz. 1811–25. – Lehrbuch des Ackerbaues u. der Viehzucht für Versschwank aus dem 11. Jh. greifbar wird Landschulen. Ebd. 1815. – Hdb. für angehende (Modus liebinc) u. bis ins 19. Jh. verbreitet ist. Hausmütter in der Stadt u. auf dem Lande. Ebd. Der narrative Kern beider Fassungen besteht in der Geschichte eines Kaufmannes, den 1825.
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Schneider
seine Frau bei seiner Rückkehr von einer Hg. Mark Chinca, Timo Reuvekamp-Felber u. langen Handelsreise mit einem Kind über- Christopher Young. Bln. 2006, S. 48–75. Corinna Laude rascht. Laut ihrer eigenen Auskunft habe sie es empfangen, als sie, von Sehnsucht nach ihrem Gatten umgetrieben, im Garten spa- Schneevogel, Paul ! Niavis, Paul zieren gegangen sei u. Schnee gegessen habe. Der Mann lässt das Kind sorgfältig erziehen, Schneider, Eulogius, eigentl.: Johann nimmt den herangewachsenen Jungen auf Georg S., * 20.10.1756 Wipfeld bei eine neuerl. Handelsfahrt mit u. verkauft ihn Schweinfurt, † 1.4.1794 Paris. – Dichtenin der Fremde. Seiner Frau erzählt er ander Mönch, revolutionärer Politiker, Proschließend, dass der Schnee-Knabe auf dem fessor u. Publizist. Meer nass geworden u. zerschmolzen (Fassung A) bzw. im Wüstensand Ägyptens zer- Der Sohn eines Weinbauern besuchte das Jeflossen (Fassung B) sei. Das Erzählmuster der suitengymnasium in Würzburg u. trat, inüberbietenden Revanche wird im Epimyth- zwischen mittellos, nach einem bald abgeion beider Fassungen pointiert, indem die brochenen Universitätsstudium 1777 als NoErzählinstanz das Vergelten von »list« durch vize in das Bamberger Franziskanerkloster »list« (Fassung A, V. 86) bzw. »lüg mit lüg« ein. Er nahm den Mönchsnamen Eulogius an, (Fassung B, V. 90) als kluges Verhalten her- machte sich mit altkirchl. Sprachen u. Texten ausstellt. vertraut (später Chrysostomus-ÜbersetzunFassung B bietet dem Rezipienten durch gen zus. mit Johann Michael Feder. 2 Bde., Eingangssentenzen, kausale Erklärungen 1786–88), wurde 1780 in Salzburg zum (z.B. des Ehebruchs) u. den häufigeren Ein- Priester geweiht, wo er weiter studierte satz der Personenrede mehr Orientierung. (1780–1783), u. war ab 1784 Lektor der PhiDemgegenüber betont Fassung A das kon- losophie in Augsburg. Von Widerwillen gefrontative Listhandeln beider Protagonisten gen den Zölibat u. die Asketenmoral der sowie die kostenintensive – durch den Ver- Kirche erfüllt, verfasste er in seiner Zelle kauf aber letztlich Profit einbringende – hö- anakreont. Gedichte. Nachdem er in einer fische Erziehung des Schneekindes. Die Fas- Predigt (1785) den »fanatischen Pfaffengeist« sung A ist in der Wiener Stricker-Handschrift im Geiste einer vorurteilslosen Toleranz u. tradiert, die Frage nach der Autorschaft ist einer vernünftigen Überprüfung des eigenen allerdings offen. Gleiches gilt für die nur Glaubens verurteilt hatte, durfte er das Klosunikal überlieferte, jüngere Fassung B. Man ter verlassen. Zum Prediger am württembervermutet, u. a. aufgrund der Nähe zum lat. gischen Hof in Stuttgart unter Herzog Karl Modus liebinc u. einem altfrz. Fabliau, auch für Eugen ernannt (1786), machte er sich wegen beide dt. Versionen ein klerikales Umfeld. seines Eintretens für die Rechte der UntertaAusgabe: Klaus Grubmüller (Hg.): Novellistik nen unbeliebt. Im Frühjahr 1789 vom Kölner des MA. Märendichung. Ffm. 1996, S. 82–93 (mit Erzbischof Max Franz als Professor für schönhd. Übers.). ne Wissenschaften an die Bonner Universität Literatur: Volker Schupp: D. S. In: VL. – K. berufen u. weiterhin von Kräften der kath. Grubmüller 1996 (s. o.), S. 1055–1063 (Überliefe- Aufklärung unterstützt, glaubte S. offenbar rung, literarhistor. Informationen, Bibliogr., zunächst an eine menschenfreundl. Reform Komm.). – K. Grubmüller: Die Ordnung, der Witz ›von oben‹. Dafür sprechen die in pathet. u. das Chaos. Eine Gesch. der europ. Novellistik im Tönen Klopstocks gehaltenen Hymnen auf MA: Fabliau – Märe – Novelle. Tüb. 2006, Leopold von Braunschweig, Friedrich d. Gr. S. 107–110. – Udo Friedrich: Trieb u. Ökonomie. u. Kaiser Joseph II. in seinem Band Gedichte Serialität u. Kombinatorik in mittelalterl. Kurzer3 4 zählungen. In: Mittelalterl. Novellistik im europ. (Ffm. 1790. 1798. 1801. Zu den SubskriKontext. Kulturwissenschaftliche Perspektiven. benten gehörte auch L. van Beethoven) sowie seine Bonner Antrittsvorlesung Rede über den gegenwärtigen Zustand, und die Hindernisse der schönen Literatur im katholischen Deutschland
Schneider
(abgedruckt im Anhang der Gedichte). Größere Beachtung als die hier eingestreute erot. Lyrik verdienen S.s autobiogr. Poeme (z.B. »Abschied an die Theologie«) u. polit. Verswerke (z.B. »Hymnus auf die Publicität«, »Die wahre Aufklärung«, »Auf die Zerstörung der Bastille«). Diese Haltungen wie auch ein freisinniger Katechismus (Katechetischer Untericht in den allgemeinsten Grundsätzen des praktischen Christenthums. Bonn 1790) machten S.s Stellung in Bonn unhaltbar. Angefeindet u. des Landes verwiesen, bewarb sich S. 1791 um eine der im Elsass frei gewordenen Positionen. Zum Theologieprofessor (1791) u. Vikar des konstitutionellen Bischofs Straßburgs ernannt, stieg er bald zum Haupt der deutschsprachigen Jakobiner im Elsass auf. Seit Juli 1792 erschien zweimal wöchentlich sein Journal »Argos, oder der Mann mit hundert Augen« (1792–95; ab 1794 hg. von Friedrich Butenschön. Nachdr. Nendeln 1976. Auswahl bei Haasis 1988), das als eine der wichtigsten Tribünen des dt. Jakobinertums anzusehen ist u. in dem er sich bes. der Prosafabel als polit. Lehrdichtung bediente. Er war der erste Übersetzer der Marseillaise ins Deutsche. Sein Journal verkündete beim Vorstoß der Revolutionstruppen ins Rheinland jauchzend »die Sterbestunde des Despotismus« u. »die Morgenröte der Freiheit«. S. gab sein Vikariat auf, als man ihn 1793 zum öffentl. Ankläger beim niederelsäss. Departement ernannte, eine Funktion, die er dann mittels einer fahrbaren Guillotine im Umkreis Straßburgs erfüllte (ca. 33 Hinrichtungen neben Geldstrafen u. Deportationen in die frz. Kolonien). S. begrüßte das »Gesetz über die Verdächtigen«, das den Terror auf die Tagesordnung setzte, u. befürwortete die Entchristlichungskampagne in dem Sinne, dass die wahre Botschaft des Christentums in den revolutionären Idealen ihre Erfüllung finde. Wegen seiner Parteinahme für die Sansculotten, aber auch im Zuge nationaler Spannungen geriet der »hergelaufene Priester« in Opposition zur robespierristischen Staatsführung (federführend bes. St. Just); im Dez. 1793 wurde er verhaftet. Vom Pariser Kerker aus versuchte er vergeblich, Robespierre von seiner Unschuld zu überzeugen: Groteskerweise als
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konterrevolutionärer Verschwörer u. österr. »Spion« denunziert, wurde er vom Revolutionstribunal zum Tod verurteilt u. auf dem Schafott hingerichtet. Auf Friedhöfen in der Umgebung Straßburgs findet man noch Grabsteine der von S. Hingerichteten. – Eine Gesamtausgabe der Werke, darunter auch der Gedichte u. Briefe S.s unter Einschluss erhaltener Handschriften, bleibt ein dringl. Desiderat. Als Protagonist fiktional-literar. Werke fand S.s umstrittene Gestalt weite Resonanz, nicht nur in Bühnenstücken, sondern auch in erzählenden Werken wie Friedrich Lienhards Oberlin-Roman (Stgt. 1910) u. zuletzt in einer dichten Romanbiografie von Michael Schneider (Der Traum der Vernunft. Roman eines deutschen Jakobiners. Köln 22007). Weitere Werke und Teildrucke: Jesus als Sohn Gottes u. als Lehrer der Menschheit (zus. mit Thaddäus Dereser). Bonn 1790. – Predigten für gebildete Menschen u. denkende Christen. Ffm./ Lpz. 1790. – Die Uebereinstimmung des Evangeliums mit der neuen Staats-Verfassung der Franken. Eine Rede bey Ablegung des feyerl. Bürgereides, in der Domkirche zu Straßburg gehalten. Straßb. o. J. [1790]. – Polit. Glaubensbekenntnis, der Gesellsch. der Konstitutionsfreunde vorgelegt. Straßb. 1792. – Teildrucke in: Hans-Werner Engels: Gedichte u. Lieder dt. Jakobiner. Stgt. 1971, Nr. 6 u. ö. – Dtschld. u. die Frz. Revolution 1789–1806. Hg. Theodor Stammen u. Friedrich Eberle. Darmst. 1988, S. 125–128, 225 f. – Bayer. Bibl. Bd. 3. Hg. Hans Pörnbacher. Mchn. 1990, S. 244–249 (kleine Ausw. v. Gedichten). Literatur: Andreas Sebastian Stumpf: E. S.s Leben u. Schicksale im Vaterlande. Ffm. 1792. Neudr. hg. v. Christoph Prignitz. Hbg. 1978. – Friedrich Christoph Cotta: E. S.s Schicksale in Frankreich. Straßb. 1797. Neudr. hg. v. C. Prignitz. Hbg. 1979. – Léon Ehrhard: E. S. Sein Leben u. seine Schriften. Straßb. 1894. – Oliger Livarius: E. S. als Franziskaner. In: Franziskan. Studien 4 (1917), S. 368–394. – Ders.: E. S. als Hofprediger in Stuttgart nach der Korrespondenz seines Kollegen P. Firmus Bleibinhaus. In: ebd. 8 (1921), S. 292–297. – Pierre Paulin: Der humanist. u. philosophisch-theolog. Bildungsgang E. S.s 1768–1789. Ein geistesgeschichtl. Beitr. zur Kath. Aufklärung. In: Archiv für elsäss. Kirchengesch. 9 (1934), S. 287–336. – Max Braubach: Die erste Bonner Hochschule. Bonn 1966, S. 204–225, 311 ff. (mit Werkverz.). – Roland Oberlé: L’explosion
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487 révolutionnaire et ses consequences (1781–1798). In: Histoire de Strasbourg. Hg. Georges Livet/ Francis Rapp. Straßb. 1981, S. 549–566. – Walter Grab: E. S. Ein Weltbürger zwischen Mönchszelle u. Guillotine. In: Ders.: Ein Volk muß seine Freiheit selbst erobern. Zur Gesch. der dt. Jakobiner. Ffm. 1984, S. 109–166, 544–552 (Lit.). Auch in: Demokratisch-revolutionäre Lit. in Dtschld. Hg. Gert Mattenklott u. Klaus Scherpe. Kronberg/Ts. 1975, S. 61–138. – Jürgen Voss: E. S.s Briefw. mit Karl Friedrich v. Baden (1789/1790). In: Jb. des Instituts für Dt. Gesch. 13 (1984), S. 342–346. – Hellmut G. Haasis: Gebt der Freiheit Flügel. Die Zeit der dt. Jakobiner 1789–1805. 2 Bde., Reinb. 1988, bes. Bd. 1, S. 383–415 (Auszüge aus ›Argos‹ mit Erläuterungen), Bd. 2, S. 791–806 (zu Marianne S., der Schwester von E. S.). – Silvia Wimmer. E. S. In: Bautz (Werkverz.). – Claude Betzinger: Vie et mort d’E. S., ci-devant fransciscain: des lumières á la terreur 1756–1794. Straßb. 1997. – Ders.: E. S. In: NDBA. – Daniel Schönpflug: Der Weg in die Terreur. Radikalisierung u. Konflikte im Straßburger Jakobinerclub (1790–1795). Mchn. 2002. – Klaus Fitschen: Kath. Aufklärung u. Lit. im Umkreis der Frz. Revolution. E. S. In: Religion u. Aufklärung. Hg. Albrecht Beutel. Lpz. 2004, S. 147–159. – Georg Seiderer: E. S. In: NDB. Walter Grab † / Wilhelm Kühlmann
Vorbilder waren für S. Oskar Loerke u. Wilhelm Lehmann, auf dessen Formulierung, Gedichte seien die Bestimmung »der Wesen Signaturen«, der Titel des Gedichtbands Signaturen (Dülmen 1962) anspielt. Nach seinen religiösen Vorstellungen sucht S. die Bilderschrift der Natur zu entziffern bzw. zu chiffrieren. In dem Gedichtband Nur wer in Flammen steht (Coburg 1946) umkreisen die Sonette die Unaussprechlichkeit Gottes bzw. seine Ferne. In seinem Werk lassen sich auch Einflüsse Rückerts feststellen: In Anlehnung an dessen Ritornelle entstand ein Ritornellenkranz (Das Blumengärtlein. Aschaffenburg 1949). S. übersetzte engl., frz. u. chines. Autoren. Daneben besorgte er Werkausgaben von Jean Paul, Rückert u. Georg F. Daumer. Weitere Werke: Die Fensterrose. Hbg. 1946 (L.). – Sieben Töne. Düsseld. 1953 (L.). – Atem der Jahre. Mchn. 1960 (L.). – Am Grenzstein. Mchn./ Wien 1965 (L.). – Mirabell Prünelle. Stgt. 1966 (R.). – Nach verschollenen Noten. Mchn./Wien 1968 (L.). – Einladung nach Südtirol. Ebd. 1969 (P.). Literatur: Emil Staiger: Vorrede. In: G. S.: Am Grenzstein, a. a. O., S. 7–9. – Karl Krolow: Der Erde Bitterkeit u. Süße. In: Die Welt der Lit. 21 (1965), S. 512. – Frank-Rutger Hausmann: Der Dichter u. Schriftsteller G. S. als Valéry-Übersetzer. In: Lendemains 34 (2009), H. 133, S. 85–93.
Schneider, Georg, auch: Erno R. ScheidWaldemar Fromm / Red. egg, * 15.4.1902 Coburg, † 23.11.1972 München. – Lyriker, Erzähler, Übersetzer. Schneider, Hans, * um 1450, † 1514/15. – Herold, Sprecher u. Verfasser von ReimS., Sohn eines Gastwirts, wuchs in Coburg reden. auf. Nach dem Studium arbeitete er dort als Lehrer. 1933 belegten ihn die Nationalsozialisten mit Publikationsverbot, 1939 wurde er zum Kriegsdienst eingezogen, 1944 geriet er in Gefangenschaft. Nach dem Krieg war S. Mitgl. der Verfassunggebenden Landesversammlung u. der FDP-Fraktion des ersten Bayerischen Landtags. 1955 wurde er Rektor einer Schwabinger Schule. S.s Werk lässt sich einer »Modernen Klassik« zuordnen. Bekannt wurde er in den 1950er Jahren im Kontext der modernen Naturlyrik. Max Rychner, Friedrich Schnack u. Emil Staiger haben sich für ihn verwendet. Hervorgehoben wurde insbes. sein Bestreben, traditionelle Formen der Lyrik (u. a. Ode, Hymne, Sonett) eigenständig u. zeitgemäß zu verwenden.
H. S. lebte nach Auskunft archival. Zeugnisse (1488–1511) in Augsburg u. Nürnberg, wo er 1501 das Bürgerrecht erhielt. Er übte seinen Beruf als Herold u. Sprecher Herzog Christophs von Bayern, Kaiser Friedrichs III. u. Maximilians I. aus u. bezeichnet sich selbst als »der k. majestat sprecher« oder auch »der künigklich mayestat poet«. Seine einundzwanzig Reimreden u. ein Lied signiert H. S. mit seinem Namen; im Zentrum seiner Reimsprecherkunst steht die polit. Publizistik, viele Texte handeln über aktuelle Ereignisse. Eine seiner ersten Reimreden ist die durch Mündlichkeitsformeln auf die Vortragssituation verweisende Polemik auf eine politisch exponierte Person, den 1478 hingerichteten Augsburger Bürger-
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Kulturgeschichtlich interessant ist H. S. als meister Ulrich Schwarz. Chronologisch folgt die Reimrede auf die Gefangenschaft Maxi- leidenschaftlicher u. detailversessener Übermilians in Brügge (1488). Ansonsten über- mittler von Informationen u. früher Publizist wiegen ereignisnahe u. nüchterne Berichte zwischen Mündlichkeit u. Druck. H. S.s über Kriege, Heerfahrten u. Schlachten. Ge- Schriften sind in der Regel primär im Druck genstand dieser parteil. Schilderungen sind erschienen, nicht selten sekundär noch der Landshuter Erbfolgekrieg (1504/05), die handschriftlich aufgeschrieben worden. OfAuseinandersetzungen der Nürnberger mit fenbar nutzte H. S. die publizistischen Mögbenachbarten Raubrittern (1512) u. der lichkeiten durch das neue Medium gezielt. Kampf um Regensburg (1492). Auch von Vielleicht ist es kein Zufall, dass der Druck polit. Geschehnissen außerhalb seiner Region der mit den aufständ. Kölner Zünften symmacht H. S. Meldung, wenn er über schriftl. pathisierenden Rede H. S.s verboten, der oder mündl. Nachrichtenträger verfügt, so Drucker mit Gefängnis belegt wurde u. seitüber den Aufruhr der Zünfte in Köln (1513), dem von H. S. nichts mehr zu hören u. zu die Niederlage Venedigs in der Schlacht bei lesen war. Ausgaben: Rochus v. Liliencron (Hg.): Die hisAgnadello (1509) u. den Einfall des Herzogs von Geldern mit frz. Unterstützung in Bra- tor. Volkslieder der Deutschen vom 13. bis 16. Jh. Bd. 2, Lpz. 1866. Nachdr. Hildesh. 1966, Nr. 167, bant (1507). Hier positioniert sich der Ver181, 235, 244, 250. Bd. 3, Lpz. 1867. Nachdr. Hilfasser immer auf Seiten des Reiches, wenn desh. 1967, Nr. 255, 259, 270, 271, 279. – (Weitere möglich in Verbindung mit der Reichsstadt Editionen s. VL). – Gesamtkatalog der WiegendruNürnberg, deren Interesse er vertritt. Nicht cke (GW): 2031. – VD 16: S 3225–30; ZV 27299. – selten münden die Reden in Mahnungen u. www.handschriftencensus.de/5499. – www.handAppelle an Maximilian ein. Andere Texte schriftencensus.de/11496. werden zwar von einem Ereignis wie dem Literatur: Eberhard Isermann: Politik u. ÖfTod des Bayernherzogs Christoph auf der fentlichkeit im Zeitalter Friedrichs III. u. MaximiPilgerfahrt (1493), dem Augsburger (1500) lians I. In: Europ. Hofkultur im 16. u. 17. Jh. Hg. oder Konstanzer Reichstag (1507) veranlasst, August Buck u. a. Bd. 3, Hbg. 1981, S. 583–587. – Stephan Füssel: Dichtung u. Politik um 1500. Das partizipieren aber auch am panegyrischen ›Haus Österreich‹ in Selbstdarstellung, Volkslied u. Genre des Fürstenlobs. Vereinzelt finden sich panegyr. Carmina. In: Die Österr. Lit. 1050–1750. auch Dichtungen ohne Ereignisnähe, die so- Hg. Fritz Peter Knapp u. Herbert Zeman. Bd. 2, mit auch nicht sicher zu datieren sind: ein Graz 1986, S. 803–831. – Frieder Schanze: H. S. In: Städtelob auf Annaberg in Sachsen, eine VL u. VL (Nachträge u. Korrekturen) (mit Lit.). – Minnetraum-Rede, eine Ehelehre, eine Frau- RSM. – S. Füssel: Maximilian I. In: Dt. Dichter der enschelte, ein moralisch-didaktisches Märe u. frühen Neuzeit (1450–1600). Hg. ders. Bln. 1993, S. 200–216. – Sonja Kerth: ›Der landsfrid ist zerein Gebet. brochen.‹ Wiesb. 1997 (Register). – Karina KellerH. S. dokumentiert einen krit. Empirismus mann: Abschied vom ›historischen Volkslied‹. Tüb. im Umgang mit Augenschein, Gewährsleu- 2000 (Register). – F. Schanze: H. S. In: NDB. ten u. Quellen. Da er in seinen Texten auf Karina Kellermann aktuelle Ereignisse reagiert, ist er an rezenten Informationen interessiert, die er propagandistisch aufbereitet. Dazu verwendet er offi- Schneider, Hansjörg, auch: Peter Fischzielle Verlautbarungen u. Mandate, die von wanz, * 27.3.1938 Aarau. – Dramatiker, der Kanzlei Maximilians in großer Zahl in Erzähler, Lyriker. Umlauf gebracht wurden, um die polit. Er- S., Sohn eines Gewerbeschullehrers, studierte folge des Herrschers allgemein bekannt zu Germanistik, Geschichte u. Psychologie in machen. Der Zusammenhang zwischen offi- Basel. 1966 wurde er mit der Dissertation Jaziösen Meldungen u. H. S.s Reden wird im- kob van Hoddis. Ein Beitrag zur Erforschung des mer dann sichtbar, wenn dieser seinen Be- Expressionismus (Bern 1967) promoviert. Daricht abbricht, weil er keine Nachrichten über nach arbeitete er als Lehrer u. Journalist, seit die weitere Ereignisfolge hat. 1968 als Regieassistent u. Chargendarsteller
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am Basler Theater. Seit 1972 ist S. freier Schriftsteller; er lebt in Basel. S. debütierte in den 1960er Jahren in der Schweizer Presse unter dem Pseudonym Peter Fischwanz. Zwar liegen die Anfänge seines Schaffens in kurzen Prosaformen u. lyr. Texten (Geschichten und Gedichte. Binningen 1965), Anerkennung fand er jedoch erst mit seinen Dramen. In dem in Mundart u. Hochdeutsch abgefassten Volksstück Sennentuntschi (Urauff. Zürich 1972; nach S.s Text eine gleichnamige Oper von Jost Meier, 1982), mit dem S. der Durchbruch zur Theaterbühne gelungen ist, verwendet er einen sagenhaften, in den Alpen verorteten Stoff. Der Verkehr der Sennen mit einer von ihnen als Sexualgegenstand gebastelten Strohpuppe entzaubert sich bald, denn das vermeintlich tote Requisit erwacht zum Leben u. rächt sich an einem der leichtfertig Handelnden für dessen Männlichkeitswahn; die Puppe zieht dem Täter die Haut vom Leib ab. Kennzeichnend für Der Erfinder (Urauff. Zürich 1973. Verfilmt von Kurt Gloor 1980), S.s zweitem bedeutenden Schauspiel, ist die Einwirkung des radikalen, im Nov. 1917 situierten Zeitgeschehens u. bewegten Lebens auf ein Individuum seltsamer seel. Konstitution, einen in die Enge Getriebenen, der zum Zwecke mechanisierter Landarbeit ein Raupenfahrzeug baut. Als ihm jedoch bewusst wird, dass seine Maschine als Kriegsgerät benutzt werden kann, begeht er Selbstmord – S.s dramaturgischer Poetik zufolge eine Demonstrationsgeste eines enttäuschten Subjekts. Mit seinem weiteren gewichtigen Stück Der Schütze Tell. Schauspiel in zwölf Bildern (Urauff. Krems/Niederösterreich 1975) lässt sich der Autor in die parodistische Betrachtung schweizerischer Nationalmythologie einreihen. Sein Tell, ein leidenschaftl. Bogenschütze, ist gegen die Kultivierung des Heldenhaften, er erhebt keinen Anspruch auf Ruhm u. scheut die Öffentlichkeit, die ihm falsches Ansehen entgegenbringt. Diese drei erfolgreichen, S.s Bühnenkonzeption voll u. ganz genügenden Theaterstücke erschienen später im Band Stücke I (Basel 1980). Ein Exponent der Schweizer Thematik bleibt S. auch im Schauspiel Der Tag des Jammers. Helvetische Szenen aus Nidwalden 1798 (Stans 1998; dt. u. schweizerdt. Text), das an
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den Einmarsch der frz. Truppen von 1798 anknüpft, in heroischer Ferne nach Ideen u. Standards sucht, die den Protagonisten dazu verhelfen, ihrer eigenen Beziehung zur Schweiz nachzuspüren. Eine besondere Bedeutung kommt dem anderen Dialektstück, Jesus und die drei Mareien. Nach den vier Evangelien (Zürich 2007. Urauff. in der MariahilfKirche in Luzern 2007), zu. Unter besonderer Berücksichtigung der Golgatha-Szenerie wird das Porträt von Jesus u. den drei Marien als Opponent von alttestamentl. Lehren wirkungsvoll gezeigt. S. bearbeitete auch vorhandene literar. Vorlagen frei für das Theater – u. a. nach Jeremias Gotthelf, Gottfried Keller, Henrik Ibsen u. Carl Zuckmayer. In seinen Prosawerken erschließt S. verschiedene Wege zur Behauptung der eigenen literar. Identität. In die Atmosphäre nach der Studentenrevolte 1968 lässt sich die Erzählung Die Ansichtskarte (Zürich/Köln 1972) als eine Absage radikal gesinnter Intellektueller an die Stadt, deren Enttäuschung u. Flucht in eine Wohn- u. Liebeskommune auf dem Land mühelos einstufen. Der Kurzroman Der Bub (Basel 1976) ist Autobiografie, ein Abbild ganz intimer Lebensgeschichte mit einem Mindestmaß an textästhetischer Codierung. Im Roman Lieber Leo (Zürich/Köln 1980) wird hingegen die persönl., durch den Herzinfarkt seines Freundes u. die Trennung von seiner Lebensgefährtin mitgeprägte Krise eines Schriftstellers dargestellt. In Der Wels (Zürich/ Frauenfeld 1988) sieht sich S.s Protagonist in einem fremden Haus einem sintflutartigen, gleichsam jenseits aller Zeit fallenden Regens ausgesetzt. Seine Lage ist die eines Menschen in der Sackgasse, ein Zustand zwischen Traum, Erinnerung u. Gegenwart. In Der Wels macht sich auch die Skepsis gegenüber dem idealistischen Kunstverständnis mit der Form als Ausdruck des Wahren, Guten u. Schönen geltend. Ein ganz besonderes Interesse verdient der Roman Das Wasserzeichen (Zürich 1997), eine Hommage für den Schriftsteller Hermann Burger. Das Werk stellt einen Mann dar, dessen auffallendes Merkmal Kiemenatmung, eine persönl. Verbundenheit mit der Magie des Wassers ist; seine absonderl. Position kollidiert mit dem Leben auf dem Trockenen. Das Wasserzeichen, S.s originellste
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Prosaleistung, ist zgl. ein Bild realer reizvoller Naturlandschaften in der aargauischen Region. Aus seiner Feder kam auch eine Krimireihe über den in der Tradition von Glausers Wachtmeister Studer u. Dürrenmatts Kommissar Bärlach stehenden Fahnder Peter Hunkeler. Innerhalb dieses Zyklus sei hier auf zwei Texte hingewiesen, auf Hunkeler macht Sachen (Zürich 2004) sowie auf Hunkeler und die goldene Hand (Zürich 2008). Bei aller sensationellen, für die Gattung typischen Handlung (Untaten eines Serienmörders u. seine Konfrontation mit dem Kommissar im ersteren, Kunstdiebstähle in Schweizer Museen im zweiten Werk) ist in S.s Kriminalromanen das literar- u. kulturgeschichtl. Klima ein prägendes Element der Darstellung. In Hunkeler macht Sachen kommen als Textagierende Jürg Federspiel u. Werner Lutz zu Wort, Gegenwartsschriftsteller aus der Schweiz, u. äußern sich zu ihrem eigenen Schaffen. In Hunkeler und die goldene Hand wird überdies der Gehalt um soziale Bezüge zur Basler Außenseiterszene erweitert. Unter S.s Werken neueren Datums gilt ein Augenmerk auch einer Art Tagebuch, dem Gedenktext für seine verstorbene Frau u. d. T. Nachtbuch für Astrid (Zürich 2000). In der Anrufung persönl. Erlebnisse sucht S. die literar. Wahrheit im einfühlsamen Selbstporträt. S. erhielt den Welti-Preis (1976), den Aargauer Literaturpreis (1986), den Literaturpreis der Stadt Basel (1986), den PhantastikPreis der Stadt Wetzlar (1998), den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung (2003) u. den Friedrich-Glauser-Preis (2005). Weitere Werke: Leköb. Stgt. 1970 (E.n). – Die Schlummermutter. Das Leben u. die Ansichten einer alten Frau aufgezeichnet v. H. S. Basel 1973. Urauff. Basel 1976. – Rotkäppchen spielen. Kinderstück. Urauff. Heidelberg 1977. – Robinson lernt tanzen. Kinderstück. In: 3 mal Kindertheater. Bd. 5, Mchn. 1976, S. 67–105. Neuausg. Stgt. 1982. Urauff. Basel 1974. – Ein anderes Land. Gesch.n. Zürich 1982. – Lysistrate. Urauff. Bern 1982 (D.). – Züglete. Urauff. Zürich 1982 (D.). – Der liebe Augustin. Schauspiel in sechs Bildern. Zürich 1983. Urauff. Zürich 1979. – Wüstenwind. Notizen Nov. 1982 bis April 1983. Zürich 1984. – Alpenrosentango. Urauff. in schweizerdt. Fassung als ›Altwiibersommer‹. Bern 1984. – Stücke II: Brod u. Wein
490 [Urauff. Zürich 1973]. Das Kalbsfell [Urauff. Malakoff bei Paris 1978]. Der Brand v. Uster. Stück nach Jakob Stutz [Urauff. Köln 1975]. Zürich 1985. – Orpheus. Szenen aus dem Hades. Urauff. Zürich 1985. – Heimkehr in die Fremde. Reportagen. Zürich 1986. – Die Schöne u. das Tier. Urauff. Winterthur 1986. – Die Theaterfalle. Urauff. Basel 1988. – Das kalte Herz. Stück für Kinder. Urauff. Zürich 1988. – Der Prinz v. Abessinien. Urauff. Aarau 1989. – Herz u. Leber, Hund u. Schwein. Urauff. Zürich 1990. – Der Kranich. Musical. Musik v. Urs Blöchlinger. Urauff. Bern 1991. – Silberkiesel. Zürich 1993 (R.). – Flattermann. Zürich 1995 (R.). – Der Irrläufer. Schauspiel in drei Akten. Ffm. 1995. Urauff. Basel 1995. – Jesus auf dem Hüninger-Riff. Eine Adventserzählung. Mit Farbholzschnitten v. Hanns Studer. Basel 1998. – Das Paar im Kahn. Zürich 1999 (R.). – Erwin u. Philomene. Urauff. St. Gallen 2005. – Tod einer Ärztin. Zürich 2001 (R.). – Im Café u. auf der Straße. Gesch.n. Mit einem Nachw. v. Beatrice v. Matt. Zürich 2002. – Bauernkrieg 1653. Urauff. Escholzmatt 2003. – Der heilige Burkard u. die bösen Weiber v. Muri. Urauff. Muri 2003. – Hunkeler u. der Fall Livius. Zürich 2007 (R.). Literatur: Anton Krättli: H. S. ›Ein anderes Land‹. In: Beatrice v. Matt (Hg.): Antworten. Die Lit. der deutschsprachigen Schweiz in den achtziger Jahren. Zürich 1991, S. 58–60. – Angela Schader: H. S. ›Der Wels‹. In: ebd., S. 220–223. – Marc Aeschbacher: Vom Stummsein zur Vielsprachigkeit. Vierzig Jahre Lit. aus der dt. Schweiz (1958–1998). 2., überarb. Aufl. Bern u. a. 1998. – Markus Bundi: H. S. In: LGL. – Corina Lanfranchi u. Matthyas Jenny (Hg.): Literaturführer Basel. Personen u. Schauplätze. Basel 2003. – Eckhard Franke u. Oliver Ruf: H. S. In: KLG. – Peter Rusterholz: Die Öffnung der Grenzen im Deutschschweizer Kriminalroman. H. S.s ›Hunkeler macht Sachen‹. In: ›Es gibt kein größeres Verbrechen als die Unschuld‹. Zu den Kriminalromanen v. Glauser, Dürrenmatt, Highsmith u. S. Hg. Peter Gasser, Elio Pellin u. Ulrich Weber. Gött./Zürich 2009, S. 77–90. Zygmunt Mielczarek
Schneider, Hermann, * 24.7.1901 Basel, † 31.1.1973 Basel. – Erzähler, Dramatiker, Lyriker. Nach der Matura studierte S. fünf Semester Germanistik in Basel, wurde dann freier Schriftsteller u. war ab 1940 Redakteur der Zeitschrift »Schweizerischer Beobachter«. Als Autor debütierte er mit dem »Totentanz« in
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Basler Mundart, Dr Bammert (Basel 1937), der vom Basler »Quodlibet« 1924 uraufgeführt wurde. Danach schrieb S. eine lange Reihe von teils in Dialekt, teils in Hochdeutsch gehaltenen Theaterstücken u. Hörspielen spezifisch baslerischen Zuschnitts, aber ohne lokalpatriotische Einengung: Buchhalter Müller (Basel 1937; D.), Ueli, der ewige Lacher (ebd. 1939; Kom.), Rhygass Ballade. Ein Totentanzspiel (ebd. 1939), Die neue Stadt (ebd. 1946) u. andere. Unter seinen Romanen sind v. a. die beiden ersten, Wenn die Stadt dunkel wird (Zürich 1942) u. Schiffe fahren nach dem Meer (ebd. 1944), bedeutsam, weil in ihnen die durch die unmittelbare Bedrohung gekennzeichnete dunkle, ja bisweilen verzweifelte Atmosphäre im Basel des Zweiten Weltkriegs auf eindringl. Weise dokumentiert ist. Weitere Werke: Das Feuer im Dornbusch. Zürich 1947 (R.). – Basler Gschichte. Basel 1962. – Das Wenkenroß. Zwölf Gesch.n durchs Riehener Jahr. Ebd. 1972. Charles Linsmayer
Schneider, Klaus F., * 2.12.1958 Mediasch/Medias¸ (Rumänien). – Lyriker.
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siedelte 1987 in die BR Deutschland u. lebt seither in Stuttgart. Die paradoxe Schwellenerfahrung der Ausreise in eine wohl überraschend fremde Heimat u. detaillierte Beobachtungen von Alltag, Gesellschaft, Selbst oder Landschaft sind Themen seiner Lyrik. Mit scharfem Spott seziert er den westl. Konformismus. S. schätzt Zitatmontagen u. das Experiment mit Sprache, Form, Metrum u. Laut. Seine Lyrik entzieht sich jeder raschen Einordnung, verlangt eine aktive Lektüre u. verdient mehr Aufmerksamkeit, als sie bislang erfahren hat. Weitere Werke: Windbruch. Gedichte. Stgt 1992. – Eine Kunstpartie. Gedichte. Stgt. 1999. – Umgehung der Anhaltspunkte. Gedichte. Innsbr. 2008. Literatur: Peter Motzan: Die rumäniendt. Lyrik nach 1944. Problemaufriß u. histor. Überblick. Cluj-Napoca 1980. – Ders.: Rumäniendt. Lyrik der 70er bis 90er Jahre. In: Deutschsprachige Lyriker des 20. Jh. Hg. Ursula Heukenkamp u. Peter Geist. Bln 2007, S. 732–746. – Dieter Schlesak: Schreiben als posthumes Leben. Rumäniendt. Lyrik der neunziger Jahre. In: Ders.: Zeugen an der Grenze unserer Vorstellung. Studien, Essays, Portraits. Mchn. 2005, S. 257–267. – Eduard Schneider: Das Wort im Visier. Zur Internationalen Münchner Tagung ›Dt. Lit. in Rumänien im Spiegel u. Zerrspiegel der Securitate-Akten‹. In: Spiegelungen 59 (2010), S. 3–8. Marie Wokalek
Während seines Germanistikstudiums in Klausenburg/Cluj kam S. in Berührung mit einer Generation »rumäniendeutscher« Intellektueller, die in der Lyrik ihr maßgebl. Ausdrucksmittel fand (P. Motzan, F. Hodjak, W. Söllner, die »Aktionsgruppe Banat«, u. a.). Nicht die »sozialistische AffirmationshymSchneider, Michael, * 20.9.1612 Bitternik«, sondern eine an der europ. Moderne feld, † 18.4.1639 Wittenberg. – Theologe, geschulte »Poesie der Verweigerung, die sich Moralphilosoph, Lyriker, Übersetzer. nicht in den Dienst einer Ideologie nehmen ließ« (Peter Motzan: »Denn bleiben ist nir- S. erlangte nach guter häusl. Erziehung u. gends«. Der Lyriker Werner Söllner im Kon- privatem Studium bereits im 17. Lebensjahr text seiner Generation. In: Zeitschrift der den Grad des Magister artium an der UniGemanisten Rumäniens 13/14, 2005, versität Wittenberg. Anschließend wechselte S. 440–455), lag im Interesse dieser Literaten. er nach Jena, um bei Johann Gerhard TheoDie gattungsspezif. Merkmale der Lyrik ka- logie zu studieren. Nach erfolgreichen akamen diesem subjektiven Ausdrucksverlangen dem. Disputationen (u. a. Angelologia sacra. entgegen. S.s frühe Gedichte zeugen davon, Jena 1933) trat S. eine akadem. Reise an, die wie mit den Mitteln der Lyrik auch »inmitten ihn durch die Niederlande, England u. erfrorener Symbole« (Gedicht am Morgen. In: Frankreich führte. Nach Wittenberg zurückEin Morgen im Eisberg. Ffm. 1990) die Mög- gekehrt, erteilte der polyglotte Gelehrte, Adlichkeit eines anderen Lebens verteidigt wer- junkt der Philosophischen Fakultät, Privatden kann. unterricht in modernen Fremdsprachen; S., der nach seinem Studium zunächst als 1638 wurde er Professor der MoralphilosoLehrer in seiner Heimatstadt arbeitete, über- phie, starb jedoch schon ein Jahr später. Sein
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Lehrer u. Förderer Buchner hielt die akadem. quato Tasso im dt. Barock. Tüb. 1994, bes. S. 174–193. Gedächtnisrede. Achim Aurnhammer Das schriftstellerische Werk des BuchnerSchülers umfasst neben theolog. u. philosoSchneider, Michael, * 4.4.1943 Königsphischen Schriften in lat. Sprache auch dt. berg. – Erzähler, Dramatiker u. Publizist. Dichtungen. Er verfasste mehrere geistl. Hymnen in Alexandrinern: Die Histori des Nach dem Abitur studierte der Sohn eines Leidens und Sterbens, unsers einigen Erlösers (Lpz. Komponisten u. Dirigenten zunächst Natur1629. Internet-Ed. in: SUB Gött.), Aurelij wissenschaften, dann Philosophie, Soziologie Prudentij Lobgesang deß, den Weisen aus Morgen- u. Religionswissenschaften in Freiburg i. Br., land durch den Wunder Stern geoffenbarten newen Berlin u. Paris. Wie sein älterer Bruder Peter Koniges in Deutsch versetzet durch M[agister]. M. S. engagierte sich S. in der Studentenbewegung. (Jena 1632) u. der Lobgesang Jesu Christi (Wit- 1974 wurde er mit einer Arbeit über Marx u. tenb. 1636). Literaturhistorische Bedeutung Freud promoviert, Neurose und Klassenkampf verdankt S. vor allem seinen Übersetzungen (Reinb.). S. war, neben seiner Tätigkeit als moderner europ. Dichtung. Die Tafel der Ver- Literaturkritiker u. literar. Publizist (u. a. für leumbdung / Aus dem Frantzösischem des Freyherrn »konkret« u. »kursbuch«), Lektor im Verlag von Hervault (Wittenb. 1637; nach Lukian) Klaus Wagenbach, 1975–1978 Schauspielenthält einen Anhang metr. Übertragungen, dramaturg am Hessischen Staatstheater u. a. Ronsard, Du Moulin, d’Urfé u. Heinsius. Wiesbaden u. seit 1981 Autor für die ZDFMatinee. Seit 1991 ist er Dozent, seit 1995 Für den Vorrang der modernen vor den klass. Professor an der Filmakademie Baden-WürtSprachen plädiert S. in der Vorrede zu seiner temberg für Text, Dramaturgie u. Stoffentprosaischen Übersetzung von Torquato Taswicklung. S. ist Mitgl. des P.E.N.-Clubs u. des sos Amintas oder Waldt-Gedichte (Wittenb. 1639. Magischen Zirkels u. lebt als freier SchriftTitelaufl. Hbg. 1642, ohne Vorrede, dafür mit steller u. Amateur-Zauberer in Berlin u. Lobgedicht von J[ohann] E[rich] O[sterHünfelden, nahe Limburg. mann]). Dieses Plädoyer für die NationalSeine polit. Aufsätze über die Studentensprache ist wegweisend für die Universitätsbewegung veröffentlichte S. 1975 in dem reform des 17. Jh. u. nimmt in mancher Band Die lange Wut zum langen Marsch (Reinb.). Hinsicht das Bildungsprogramm von Chris- Seither hat er sich immer wieder kritisch mit tian Thomasius vorweg. S.s Aminta-Überset- den Linken auseinandergesetzt, mit ihrem zung, die August Buchner zumindest als Be- Dogmatismus u. ihrer Unfähigkeit, Theorie rater gefördert hat, wurde von Philipp von u. Praxis, »Vernunft und Sinnlichkeit« mitZesen in seiner Roselieb (1646) sprachpuris- einander zu verbinden, v. a. aber mit ihrer tisch eingedeutscht. »masochistischen Tendenz, sich selbst zu Weitere Werke: De temperantia ex philosophia negieren«. Als scharfsinniger u. scharfzüngimorali. Präs.: M. S.; Resp.: Gottfried Schneider. ger Essayist u. Polemiker von Rang kritisierte Ebd. 1636. – [...] [Hebr.] Id est Grammatica seu er in der Aufsatzsammlung Den Kopf verkehrt simplex explicatio cantici centesimi trigesimi sep- aufgesetzt oder Die melancholische Linke timi in libro psalmorum [...]. Präses: M. S.; Re(Darmst./Neuwied 1981) die irrationalen spondent: Johannes Schneider. Wittenb. 1636. – Strömungen der 1970er Jahre, die neue InDiatribe politica, de morbis nonnullis [...]. Präs.: nerlichkeit u. den Rückzug in larmoyante M. S.; Resp.: Jakob Hackmann. Ebd. 1638. Selbstbespiegelung. Drei Jahre später verLiteratur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: suchte er in dem Essayband Nur tote Fische Augustus Buchner: Dissertationes academicae. Ffm./Lpz. 1679, S. 417–420. – Johannes Bolte: M. schwimmen mit dem Strom (Köln), seine FordeS. In: ADB. – Wolfgang Adam: ›Amintas oder rung nach einem »Re-Engagement« der InWaldt-Gedichte‹. Bemerkungen zu Klaus Garber: tellektuellen gegen den »Ausverkauf« der ›Der locus amoenus u. der locus terribilis‹. In: einstigen Utopien an ein apokalypt. Denken Euph. 70 (1976), S. 296–314. – Heiduk/Neumeis- u. eine lustvoll propagierte Weltuntergangster, S. 97, 238, 464 f. – Achim Aurnhammer: Tor- stimmung zu setzen.
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In seinem erzählerischen u. dramat. Werk orientiert sich S. an klass. Formen: etwa in der Novelle Das Spiegelkabinett (Mchn. 1980. Neuausg. Köln 1995), einer mit dem »aspekte«-Literaturpreis ausgezeichneten Geschichte zweier zaubernder Brüder, die zgl. eine Antwort auf die Erzählung Der große und der kleine Bruder seines Bruders Peter war. Das elisabethan. Drama nahm er zum Vorbild in Die Wiedergutmachung oder Wie man einen verlorenen Krieg gewinnt (Köln 1985), einem bereits 1977 aufgeführten u. dann infolge der FlickAffäre aktualisierten Stück über den Wiederaufstieg der Wirtschafts- u. Finanzgewaltigen des »Dritten Reichs« in den Anfangsjahren der BR Deutschland. Die Frage nach der Verantwortung des Künstlers u. seinem schwierigen Verhältnis zur Wirklichkeit griff S. wieder auf in dem Novellenband Die Traumfalle (ebd. 1987); im selben Jahr reiste er mit dem Schriftsteller Rady Fish durch die Sowjetunion, u. 1989 erschien ihr gemeinsames Werk Iwan der Deutsche. Eine deutsch-sowjetische Reise aus der Vergangenheit in die Gegenwart (Ffm.) über das Verhältnis der Deutschen u. der Sowjetbürger zu ihrer Geschichte. Mit dem Essay Die abgetriebene Revolution. Von der Staatsfirma in die DM-Kolonie (Bln. 1990) setzte sich S. mit dem Zusammenbruch der DDR auseinander u. deren – seiner krit. Analyse nach – zu raschem Beitritt zur BR Deutschland. Auch in der von Brecht inspirierten Farce Völker, leert die Regale! (Urauff. Münster 1993) machte S. die Wiedervereinigung zum Thema. Zwei Narren, eine OstNärrin u. ein West-Narr ziehen durch das jüngst vereinigte Deutschland u. erarbeiten desillusioniert einen Bericht zur Lage der Nation. Ausgehend vom Niedergang des Staatssozialismus in den Ostblockstaaten, zog S. in der Studie Das Ende eines Jahrhundertmythos (Köln 1992) eine »Bilanz des Sozialismus«. Sein histor. Blick zeigt, dass der reale Sozialismus etwas anderes war, als er zu sein vorgab. Da die Idee der sozialen Gerechtigkeit nach wie vor von großer gesellschaftl. Bedeutung sei, fordert S. eine Neuorientierung des Kapitalismus. Der Traum der Vernunft (Köln 2001) handelt von der Lebensgeschichte des dt. Jakobiners
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Eulogius Schneider, Vorkämpfer der Freiheits- u. Gleichheitsideale, der als öffentl. Ankläger des elsäss. Revolutionstribunals in die Geschichte als »Blutsäufer der Revolution« einging, um dann selbst der Guillotine zum Opfer zu fallen. Anhand dieser Vita ging S. der Frage der Legitimität von Gewalt zur Durchsetzung von Idealen nach. Ein histor. Stoff diente auch dem Schelmenroman Das Geheimnis des Cagliostro (Köln 2007) als Vorlage; beeinflusst ist der Roman auch von Thomas Manns Figur Felix Krull. Erzählt wird die Geschichte des Giuseppe Balsamo alias Graf Cagliostro, der als armer Junge auf die Welt kommt u. als Gaukler, Wunderheiler u. Magier, Hellseher u. Logenvorsteher ganz Europa in seinen Bann zieht, verfolgt wird u. schließlich in den Kerkern der Inquisition den Tod findet. Weitere Werke: Die Freiheit stirbt zentimeterweise. Urauff. Wiesb. 1976 (D.). – Eine glatte Million. Urauff. Wiesb. 1978. – Theaterstücke zum Radikalenerlaß. Offenbach 1978. – Luftschloß unter Tage. Urauff. Tüb. 1982 (D.). – Das Gespenst der Apokalypse u. die Lebemänner des Untergangs. Ffm. u. a. 1984 (Ess.). – Das Beil v. Wandsbek. Urauff. Darmst. 1988 (Drama nach dem Roman v. Arnold Zweig). – Das Unternehmen Barbarossa. Die verdrängte Erblast v. 1941 u. die Folgen für das dt.sowjet. Verhältnis. Ffm. 1989 (Ess.). – M. S. In: Karoline von Oppen: The Role of the Writer and the Press in the Unification of Germany, 1989–1990. New York u. a. 2000, S. 201–220. – Vor dem Dreh kommt das Buch. Ein Leitfaden für das film. Erzählen mit den wichtigsten Dramaturgien, vielen Filmanalysen u. originellen Texten v. Studenten der Filmakademie Baden-Württemberg. Gerlingen 2001. 2., vollst. überarb. Aufl. mit dem Untertitel: Die hohe Schule des filmischen Erzählens. Konstanz 2007. Literatur: Klaus Wagenbach: Kopf u. Fuß. Ein Gespräch. In: Freibeuter, H. 10 (1981), S. 49–58. – Lothar Baier: Die Wurzeln unserer Depressionen. In: Lit. konkret, H. 6 (1981/82), S. 78 f. (zu ›Den Kopf verkehrt aufgesetzt [...]‹). – Ruth Spietschka: M. S. In: LGL. – Stephan Reinhardt u. Stefan Rasche: M. S. In: KLG. Annette Meyhöfer / Anastasia Manola
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Schneider, Peter, * 21.4.1940 Lübeck. – Erzähler, Publizist, Dramatiker. Der Sohn eines Komponisten u. Dirigenten, aufgewachsen in Grainau bei Garmisch-Partenkirchen u. in Freiburg i. Br., studierte Germanistik, Geschichte u. Philosophie in Freiburg u. München, seit 1962 an der FU Berlin. S. war einer der Wortführer der Studentenbewegung, Initiator zahlreicher Aktionen u. Mitorganisator des Springer-Tribunals 1967. Als ihm 1969 für seine frühen Essays der Berliner Kunstpreis der jungen Generation für Literatur verliehen wurde, beschimpfte er den damaligen Regierenden Bürgermeister als »Arbeiterverräter«. S. war zeitweise Hilfsarbeiter bei Bosch, Lehrer an einer Privatschule u. freier Mitarbeiter einiger Rundfunkanstalten. 1973 wurde seine Bewerbung um eine Referendarstelle von der Schulbehörde mit der Begründung abgewiesen, es bestünden Zweifel an seiner Verfassungstreue. Erst zwei Jahre später wurde der Ablehnungsbescheid aufgehoben, doch zu diesem Zeitpunkt verzichtete S. auf eine Stelle, da er inzwischen als freier Schriftsteller erfolgreich war. Seit 1985 hielt er sich u. a. als writer in residence u. als Gastprofessor an verschiedenen amerikan. Universitäten wie Stanford, Princeton u. Harvard auf. 1996/97 war er als Fellow des Woodrow Wilson Center in Washington, 2000/2006 als Roth Distinguished Writer in Residence an der Georgetown University, Washington, D.C. Seine frühen literar. u. publizistischen Arbeiten erschienen 1970 in dem Band Ansprachen, Reden, Notizen, Gedichte (Bln.). Die Auseinandersetzung mit der inzwischen gescheiterten Studentenbewegung u. der eigenen polit. Vergangenheit waren Themen der rasch zum Bestseller gewordenen Erzählung Lenz (Bln. 1973), die, sprachlich u. inhaltlich an Büchners gleichnamiges Fragment anknüpfend, das Lebensgefühl der Generation, die psych. Verunsicherungen u. die Identitätssuche eines jungen Intellektuellen beschreibt, sein Leiden an der Kopflastigkeit u. dem Dogmatismus sowie sein Bedürfnis nach Freundschaft u. einer Möglichkeit zu handeln. Lenz wurde von einem Teil der Kritik als Dokument einer neuen Empfindsamkeit
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ausgelegt, von anderen, v. a. linken Kritikern, wurde der Autor, zu Unrecht, der Resignation gescholten. Persönliche Erfahrungen prägten auch S.s nächste Erzählung ... schon bist du ein Verfassungsfeind. Das unerwartete Anschwellen der Personalakte des Lehrers Kleff (Bln. 1975), die Geschichte des Lehrers Kleff, der, ein Opfer des Radikalenerlasses, am Ende so weit demoralisiert ist, dass er das wird, wozu die Behörden ihn stempeln: ein Verfassungsfeind. S. gelang es in diesem Buch, polit. Aufklärung mit Witz u. Ironie, manchmal auch Sarkasmus, zu vermitteln. International bekannt wurde S. mit seiner in 15 Sprachen übersetzten, in den USA u. in Frankreich viel beachteten Erzählung Der Mauerspringer (Darmst./Neuwied 1982), einer melancholisch präzisen Beschreibung Berlins, in deren Mittelpunkt die fast surrealistische Geschichte eines Mannes steht, der immer wieder von hüben nach drüben über die Mauer springt. In Paarungen (Bln. 1992. Tb. Reinb. 1994) diagnostizieren Eduard, Molekularbiologe von Beruf, u. seine beiden Freunde André u. Theo in der geteilten Stadt einen Trennungsvirus, den sie mit einem Experiment zu bekämpfen suchen. Jeder soll eine Strategie finden, um ein weiteres Jahr mit seiner Partnerin zusammenzubleiben. Das Experiment scheitert. Im Roman finden sich subtile Anspielungen auf Goethes Wahlverwandtschaften. So heißt die Versuchsmaus, an der Eduard genet. Experimente durchführt, Lotte. Zerstört wird das Labor von radikalen Tierschützern. In Eduards Heimkehr (Bln. 1999. Tb. Reinb. 2000) wird der Protagonist von militanten Hausbesetzern empfangen. Er hat von seinem Großvater ein Mietshaus geerbt, das er nach dem Mauerfall in Besitz nehmen kann. Die Gegenwart erscheint im Gewand der Wendeprofiteure, u. auch die dt. Vergangenheit ist in der Frage präsent, ob der Großvater als Mitgl. der NSDAP das Haus von seinem jüd. Besitzer rechtmäßig erworben hat. Die Rettung des Musikers Konrad Latte vor dem nationalsozialistischen Vernichtungslager rekonstruiert S. in »Und wenn wir nur eine Stunde gewinnen ...« (Bln. 2001). In diesem Lebenslauf geht er der schwierigen Frage
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Weitere Werke: Atempause. Versuch, meine nach dem gerechten Deutschen nach. S. will zeigen, dass es auch unter dem nationalso- Gedanken über Lit. u. Kunst zu ordnen. Reinb. zialistischen Terrorapparat die Möglichkeit 1977. – Die Wette. Bln. 1978 (E.en). – Die Botschaft zu menschl. Handeln gab, um so den Recht- des Pferdekopfs u. a. Ess.s aus einem friedl. Jahrzehnt. Darmst./Neuwied 1981. – Dt. Ängste. fertigungsmythos der Kriegsgeneration zu Darmst. 1988 (Ess.). – Vom Ende der Gewißheit. erschüttern, »dass jenseits des Gehorsams Bln. 1994 (Ess.). – Das Fest der Missverständnisse. keine Option übrig blieb«. Reinb. 2003 (Erz.). – Skylla. Bln. 2005 (R.). In seiner »autobiographischen Erzählung« Literatur: Italo Michele Battafarano: Zweimal Rebellion und Wahn. Mein 68 (Köln 2008) schil- Italien: P. S.s ›Lenz‹ (1973) u. Günter Herburgers dert S. seinen Lebensweg aus dem beschaul. ›Capri‹ (1984). In: Literaturszene Bundesrepublik – Freiburg i. Br. der frühen in das politisch ein Blick nach draußen. Hg. Ferdinand van Ingen u. aufgewühlte Berlin der späten 1960er Jahre. S. Gerd Labroisse. Amsterd. 1988, S. 235–259. – Peter gehörte in der heißen Phase der Studenten- Pütz: P. S.s ›Lenz‹. Von der Agitation zur Reflexion. bewegung zum innersten Kern um Rudi In: Bild-Sprache. Texte zwischen Dichten u. DenDutschke, Wolfgang Lefévre, Bernd Rabehl u. ken. FS Ludo Verbeek. Hg. Luc Lamberechts u. JoChristian Semler. Im Juli 1968 geht S. zuerst han Nowé. Leuven. 1990, S. 195–207. – Alois Prinz: Der poet. Mensch im Schatten der Utopie. Würzb. nach Rom, trifft anschließend Dutschke in der 1990. – Gordon Burgess: Büchner, S. and Lenz: Villa von Hans Werner Henze in Marino u. Two Authors in Search of a Character. In: Georg beteiligt sich dann an dem Aufbau einer Kri- Büchner – Tradition and Innovation. Fourteen Estischen Universität im oberital. Trento, bis er says. Hg. Ken Mills u. Brian Keith-Smith. Bristol als politisch unerwünschte Person im Febr. 1990, S. 207–226. – Susan C. Anderson: Walls and 1969 nach Deutschland abgeschoben wird. Other Obstacles. P. S.’s Critique of Unity in ›Der Der Reiz von S.s Reflexionen über seine polit. Mauerspringer‹. In: GQ 66 (1993), S. 362–371. – Karriere in der Studentenbewegung besteht Peter Morgan: The Sins of the Fathers. A Reapdarin, dass der Text zwischen Tagebuchpas- praisal of the Controversy about P. S.’s ›Vati‹. In: sagen, Erinnerungen u. dem 40 Jahre späteren GLL 47 (1994), S. 104–133. – Colin Riordan (Hg.): P. S. Cardiff 1995. – Markus Meik: P. S.s Erzählung Kommentar wechselt. ›Lenz‹. Siegen 1997. – Elizabeth Snyder Hook: FaS. schrieb auch die Drehbücher für Rein- mily secrets and the contemporary German novel. hard Hauffs Filme Messer im Kopf (1978) u. Der Rochester, N.Y. 2001. – Gundula M. Sharman: Mann auf der Mauer (1982). Nachdem er 1987 Twentieth century reworkings of German literaeiniges Aufsehen erregt hatte mit der Erzäh- ture. Rochester, N.Y. 2002. – Claus-Ulrich Bielelung Vati (Darmst./Neuwied; verfilmt unter feld: P. S. In: LGL. – Michael Buselmeier u. Chrisder Regie von Egidio Eronico, Urauff. Berli- tian Schulte: P. S. In: KLG. – Paul Michael Lützeler nale 2004), in der er – von der Kritik zu Un- (Hg.): Phantasie u. Kritik. P. S. zum 65. Geburtstag. recht des Plagiats verdächtigt – Passagen aus Eine FS. Bln. 2005. – Petra Platen: Zwischen Daeiner Illustriertenserie über Rolf Mengele, bleiben u. Verschwinden. Zur Kontinuität im Werk von P. S. Mchn. 2006. den Sohn des berüchtigten Lagerarztes von Annette Meyhöfer / Elke Kasper Auschwitz, aufgegriffen hatte, wandte sich S. in den letzten Jahren verstärkt dt.-dt. Themen zu. Dabei erwies sich der sensible Stilist Schneider, Reinhold, * 13.5.1903 Badenv. a. in Extreme Mittellage. Eine Reise durch das Baden, † 6.4.1958 Freiburg i. Br.; Grabdeutsche Nationalgefühl (Reinb. 1990), einer stätte: Baden-Baden, Friedhof. – Dichter, Sammlung von Reportagen, als genauer BeKulturkritiker, Geschichtsphilosoph. obachter dt. u. europ. Zustände u. selbstkrit. Analytiker polit. Entwicklungen u. Ideologi- Geboren als Sohn eines Hoteliers u. aufgeen. S. hat auch ein Historiendrama geschrie- wachsen in dem weltstädt. Kurort Baden-Baben, Totoloque (Darmst./Neuwied 1985. den in dem von seinem Großvater erbauten, Urauff. Bayerisches Staatsschauspiel, Mün- 1957 abgerissenen Hotel »Messmer«, hat S. chen 1985), das den Konflikt zwischen Alter schon als Kind das Gefühl der Geborgenheit u. Neuer Welt am Beispiel der Eroberung vermisst. Nach dem Abitur (an der ungeliebMexikos durch Cortéz darstellt. ten Oberrealschule in Baden-Baden 1921) u.
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berufl. Fehlentscheidungen hat S. versucht, sich 1922, im Jahr des Todes seines durch die Inflation verarmten Vaters, das Leben zu nehmen. Auch wenn die innere Verwundung, die dieser Versuch hinterlassen hat, nie geheilt ist, fand S. doch nach dem Selbstmordversuch Zuflucht bei Anna Maria Baumgarten (1881–1960), die nun zur »Gefährtin seines Lebens« wurde. Durch die Lektüre Miguel de Unamunos (1926), dessen Werk seinem tragischen Lebensgefühl ebenso entgegenkam wie das Schopenhauers, Kierkegaards u. Nietzsches, entdeckte S. Portugal als »die Landschaft seiner Seele« u. Camões als den Dichter seines Lebens, da dieser dem Untergang des portugies. Weltreichs durch eine Grabschrift Sinn gegeben habe (Das Leiden des Camões oder Untergang und Vollendung der portugiesischen Macht. Hellerau 1930). 1928 entschloss sich S., als freier Journalist zu leben. Er begann ein ausgedehntes Reiseleben, da er Stimmung u. Atmosphäre seiner geschichtskrit. Bücher vor Ort recherchieren wollte. Seine Reisen führten u. a. 1928–1930 mehrfach nach Portugal u. Spanien, 1930 nach Frankreich, 1931, 1936, 1939, 1941 nach Italien, 1934 u. 1935 nach England, 1955 u. 1956 nach Skandinavien u. Finnland, 1956 erneut nach Portugal u. 1957/58 nach Wien. 1932 übersiedelte S. nach Potsdam, wo er für kurze Zeit zum Anhänger der »Papen-Partei« wurde, sich aber schon 1933, nach wenigen Wochen des Zwiespalts, gegen den siegreichen Nationalsozialismus wandte. 1937 nach Hinterzarten u. 1938 nach Freiburg i. Br. übergesiedelt, wurde S. zur zentralen Gestalt des christl. Widerstands gegen Hitler in Deutschland, nachdem sich 1937 sein (seit 1928 zu beobachtender) Rückweg zum Glauben seiner Kindheit vollendet hatte. S.s Schriften wurden 1941 mit Druckverbot belegt, kursierten aber in unzähligen Abschriften, als Hektogramme u. in undatierten Kleindrucken (meist aus dem Alsatia Verlag, Colmar) unter den Soldaten der Deutschen Wehrmacht, in Lazaretten, Krankenhäusern, Widerstandszirkeln u. selbst in Gefangenen- u. Konzentrationslagern. Wegen der 1944 von dem Wehrmachtspfarrer Johannes Kessels herausgegebenen Broschüre Das Gottesreich in der Zeit.
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Sonette und Aufsätze von Reinhold Schneider (Reichshof) wurde ein Hochverratsprozess gegen S. eingeleitet, aber nicht mehr durchgeführt. S. hat nach 1945 den Kalten Krieg mit der gleichen Rigorosität bekämpft wie vorher Hitlers Gewaltherrschaft. Sein in Ost u. West ansetzendes Friedensengagement entfremdete ihn, allen Ehrungen zum Trotz (Ehrendoktorate der Universitäten Freiburg i. Br. u. Münster 1946, Mitgl. der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz 1949, der Bayerischen Akademie der Schönen Künste 1951, der Friedensklasse des Ordens Pour le mérite 1952, der Akademie der Künste Berlin 1955, Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1956), der westdt. Öffentlichkeit u. brachte ihn in schroffen Gegensatz zur kath. Moraltheologie u. ihrer Lehre vom »gerechten Krieg«. Der »Wandel der Welt, der sich mit der Katastrophe des Jahres 1914 vollzogen hat«, ist das bewegende Element im Werk S.s. Gefangen im epochalen Bewusstsein des 19. Jh., sah er Geschichte als Verfall u. den Menschen in ihr als Opfer u. Vollstrecker dieses unaufhaltsam voranschreitenden Prozesses. Die Agonie, das Sterben der Mächtigen, u. das heißt die freiwillige Annahme des Notwendigen, bestimmte seine geschichtstragischen Darstellungen, seit er aus der ästhetischen Sinngebung der Geschichte, aus der Faszination durch Nietzsche, Thomas Mann u. die Nationalmystik Fichtes (Fichte. Der Weg zur Nation. Mchn. 1932) zur heilsgeschichtl. Antwort schuldhaften Handelns auf die Fragen der Zeit vorzudringen begann. Die myst. Erfahrung des Heimwehs nach dem Schöpfungsgrund suchte S., schon als er mit Philipp der Zweite oder Religion und Macht (Lpz. 1932) dem unter dem Einfluss Schillers verzerrten Bild des kath. Herrschers das Bild des für ihn »heiligen Königs« gegenüberstellte u. mit Die Hohenzollern. Tragik und Königtum (ebd. 1933) die nach histor. Legitimation gierende Bewegung des Nationalsozialismus provozierte. Das gegen die Vergötzung des Blutes geschriebene Buch bezeichnete den preuß. Gegensatz von Macht u. Geist als unversöhnt u. erklärte, dass das Leben in seiner ganzen Schwere nur möglich sei »als Auftrag Got-
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tes«. Als S. diesen Satz in Kaiser Lothars Krone. Leben und Herrschaft Lothars von Supplinburg (ebd. 1937) wiederholte, geriet er in offenen Konflikt mit dem »Völkischen Beobachter«, der S. den Rat gab, »lieber in Demut ›der stille Diener‹ seines Gottes« zu bleiben. S., der 1936 in Das Inselreich. Gesetz und Größe der britischen Macht (ebd.) die Schuld als »die Bewegerin aller Geschichte« benannte, hat sich an diesen Rat nicht gehalten. Sein offen gegen die Verfolgung der Juden opponierendes Buch Las Casas vor Karl V. Szenen aus der Konquistadorenzeit (ebd. 1938) bezeugt, wie es das Calderón-Motto des Buches besagt, »vor künftigen Geschlechtern« die Rechtlichkeit auch seines Autors. In der Essaysammlung Macht und Gnade. Gestalten, Bilder und Werte in der Geschichte (ebd. 1941), die nachweislich auf die Mitglieder des studentischen Widerstands der »Weißen Rose« wirkte, ist diese Oppositionshaltung nochmals verschärft, zumal S. 1941 in Berlin an den vorbereitenden Gesprächen zur Gründung des »Kreisauer Kreises« teilgenommen hat. Zum »geistigen Sanitätsdienst« fühlte sich der Autor in den Jahren des nationalsozialistischen Kriegs verpflichtet; seine u. a. von den Priestern u. den Theologen des dt. Heeres verbreiteten Broschüren, Gedichte u. Meditationstexte (z. B. Das Vaterunser. Colmar 1941. Der Kreuzweg. Ebd. o. J. Jetzt ist des Heiligen Zeit. Ebd. o. J. Stimme des Abendlandes. Reflexionen zur abendländischen Geschichte. Ebd. o. J.) lösten eine unübersehbare Flut von Briefen aus. Die Tausende von Antwortbriefen sind S.s ungedrucktes Lebenswerk, das nicht mehr rekonstruiert werden kann, ihn aber im Gedächtnis der Mitlebenden als Tröster in Todes- u. Gewissensnot verankerte. In den Sonetten Der Meteorenschwarm u. Der Antichrist hat die Gestapo, in richtiger Auslegung der Widerstandshaltung, den Tatbestand »hochverräterischer Wehrkraftzersetzung« gesehen. In dieser Zeit größten polit. Engagements eignet S.s Erzählungen (u. a. Der Abschied der Frau von Chantal. Ebd. 1941. Der Überwinder. Ebd. 1941. Nach dem großen Kriege. Ebd. 1941. Die Dunkle Nacht. Sieben Erzählungen. Ebd. o. J.) ein myst. Grundzug, der in der Nacht scheinbarer Gottferne den höchsten Trost im Anteil
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des Menschen an »Jesu kosmischer und geschichtlicher Verlassenheit« erblickt. Der kurzlebige Erfolg von S.s Dramen (u. a. Der große Verzicht. Wiesb. 1950. Die Tarnkappe. Ebd. 1951. Innozenz und Franziskus. Ebd. 1952) ist eher der restaurativen Atmosphäre im Deutschland Konrad Adenauers zuzuschreiben als der wenig bühnenwirksamen Abstraktheit ihrer Sprache; auch erreichen diese Texte an keiner Stelle Dichte u. Radikalität von S.s Friedensschriften (gesammelt in: Der Friede der Welt. Ffm. 1983), die als einzige Macht gegen das Denken des Todes die Herstellung von Vertrauen im Bewusstsein des Gegners proklamierten. In den Jahren seit Gründung der BR Deutschland, in denen sich S. wieder der Landschaft seiner Jugend näherte, entstand ein wertbeständiges autobiogr. Werk, dessen erinnernd-legitimator. u. heiter-melanchol. Teile (Verhüllter Tag. Köln/Olten 1954. Der Balkon. Aufzeichnungen eines Müßiggängers in Baden-Baden. Wiesb. 1957) die Erfahrung von Untergängen in das »Glück der Abschiede« zu bannen suchten, dessen tragischer Teil aber (Winter in Wien. Aus meinen Notizbüchern 1957/58. Freib. i. Br./Basel/Wien 1958) in apokalypt. Dunkel gehüllt ist. In Fragmentarität, Zitatmontage, intertextuellen Bezügen u. existenzieller Geschichtsdeutung sind S.s Wiener Notizbücher eine große Metapher des zu Ende gehenden Zeitalters bürgerl. Kultur in Europa am Übergang zu einer Zeit, deren Aufgabe es sein wird, »ein Gleichgewicht anzustreben zwischen unserer Wissenschaft und unserer Sittlichkeit; es ist das kühnste Unternehmen, dem die Menschheit sich unterziehen könnte«. Weitere Werke: Ausgaben: Ausgew. Werke in 4 Bdn. Köln/Olten 1953. – Ges. Werke in 10 Bdn. Hg. Edwin Maria Landau. Ffm. 1977–81. – Tagebücher 1930–35. Redaktion u. Nachw. v. Josef Rast. Ffm. 1983. – Briefwechsel mit: Leopold Ziegler. Mchn. 1960. – Otto Heuschele. Köln/Olten 1961. – Erich Przywara. Zürich 1963. – Bernt v. Heiseler. Stgt. 1965. – Werner Bergengruen. Freib. i. Br./Basel/ Wien 1966. – Paul Mahnert. Essen 1970. – Jochen Klepper. In: J. Klepper: Briefw. 1925–42. Hg. Ernst G. Riemschneider. Stgt. 1973. – Georg D. Heidingsfelder. In: R.-S.-Stiftung Hamburg, H. 26 (Febr. 1984), S. 29–85. – Nachl. in der Badischen Landesbibl. Karlsruhe.
Schneider Literatur: Bibliografien: Gerhard Küntzel: Schriftenverz. v. R. S. In: Jb. der Akademie der Wiss.en u. der Lit. in Mainz 1958, S. 49–94. – Bruno Scherer: R.-S.-Bibliogr. In: Ders.: R. S. Seine Geisteswelt u. Literaturbetrachtung. Diss. masch. Freib./Schweiz 1964, S. 508–696 (um Vollständigkeit bemühte Bibliogr.). – Franz A. Schmitt u. B. Scherer (Hg.): R. S. Leben u. Werk in Dokumenten. Karlsr. 21973. – Periodica: Mitt.en der R.-S.-Gesellsch. Freiburg i. Br. (seit 1970). [Mitt.en der] R.-S.Stiftung Hamburg (1973–88; in unregelmäßiger Folge). – Weitere Titel: Edwin Maria Landau, Maria van Look, Leni Mahnert-Lueg u. Bruno Stephan Scherer: R. S. Leben u. Werk im Bild. Ffm. 1977. – Rita Meile: Der Friede als Grundmotiv in R. S.s Werk. Bern/Stgt. 1977. – Hermann Kurzke: Der ausgeträumte Traum vom Reich. R. S. u. die konservative Revolution. In: NR 90 (1979), S. 215–233. – Carsten Peter Thiede (Hg.): Über R. S. Ffm. 1980. – Heinrich Ludewig (Hg.): Widerruf oder Vollendung. R. S.s ›Winter in Wien‹ in der Diskussion. Freib. i. Br./Basel/Wien 1981. – Ingo Zimmermann: R. S. Weg eines Schriftstellers. Bln. 1982. – Johannes Kessels: R. S. u. die Herausgabe der Slg. ›Das Gottesreich in der Zeit‹. In: Caritas 83. Jb. des Dt. Caritasverbandes, S. 305–342. – Wolfgang Frühwald: Die ›innere Befreiung‹. R. S. u. der innerdt. Widerstand gegen Hitler u. den Nationalsozialismus. In: Mitt.en der R.-S.-Stiftung 35 (1988), S. 66–77. – Richard Faber: Der späte R. S. Abendl. Christentum versus Christl. Abendland. Eine Metakritik. In: Berliner Theolog. Ztschr. N. F. 6 (1989), S. 89–105. – Ekkehard Blattmann u. Klaus Mönig (Hg): Über den ›Fall R. S.‹. Mchn./Zürich 1990. – Claus Ensberg: Die Orientierungsproblematik der Moderne im Spiegel abendländ. Gesch. Das literar.Werk R. S.s. Tüb. 1995. – Ralf Schuster: Antwort in der Gesch. Zu den Übergängen zwischen den Werkphasen bei R. S. Tüb. 2001. – E. Blattmann: R. S. im Roten Netz. Der ›Fall R. S.‹ im krpytokommunist. Umfeld. Ffm. 2001. – Cordula Koepcke: R. S. In: NDB. – Theodor Verweyen: Literar. Menschenrechtsproklamationen in finsterer Zeit ... R. S.s ›Las Casas vor Karl V.‹ u. Heinrich Manns ›Die Vollendung des Königs Henri Quatre‹ im Vergleich. In: Moderne u. Antimoderne. Der Renouveau catholique u. die dt. Lit. Hg. Wilhelm Kühlmann u. Roman Luckscheiter. Freib. i. Br. 2008, S. 511–542. – Burckhard Dücker. ›... das Erdengeschehen zu Gott zu führen‹. Religiöse Programmatik am Beispiel R. S.s. In: ebd., S. 543–568. Wolfgang Frühwald / Red.
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Schneider, Robert, * 16.6.1961 Bregenz/ Vorarlberg. – Prosaautor u. Dramatiker. Aufgewachsen bei Adoptiveltern im Bergdorf Meschach/Vorarlberg, begann S. 1981 das Studium der Komposition, 1983 das der Kunstgeschichte u. Theaterwissenschaft in Wien. Nach dem Studienabbruch 1986 kehrte er nach Vorarlberg zurück u. konzentrierte sich auf seine schriftstellerische Tätigkeit. S.s Name wird v. a. mit dem überwältigenden Erfolg seines Debütromans Schlafes Bruder (Lpz. 1992) verbunden. Nachdem das Manuskript zuvor von zahlreichen Verlagen abgelehnt worden war, erschien der Roman bei Reclam Leipzig, wurde rasch als ›Geheimtipp‹ gehandelt u. vom Feuilleton fast durchweg äußerst positiv aufgenommen. Die Mischung aus Elementen der Dorfgeschichte, des Künstler- u. Liebesromans mit narrativen Versatzstücken der Heiligenlegende stellte eine Neuerung dar. Das fiktive, im Vorarlberg des frühen 19. Jh. situierte Bergdorf Eschberg fungiert im Sinne einer »Negativexotik« (Landa) als Folie, von der sich der geniale Musiker Johannes Elias Alder abhebt. Elias’ außergewöhnl. Hörvermögen, das in seiner erzählerischen Ausgestaltung frappierend an Jean-Baptiste Grenouilles wundersam ausgeprägten Geruchssinn in Patrick Süskinds Das Parfum (Zürich 1985) erinnert, stellt sich im Alter von fünf Jahren bei einer im Stile epiphan. Erlebens gestalteten Erweckungsszene ein – er hört ›das Universum tönen‹. Im Roman treffen Aspekte des Mystischen auf allgemeine myth. bzw. mythosanaloge Strukturen: So steht das Geschehen in engem Bezug zu einem grausamen Walten Gottes in der Welt u. ist in einen vormodernen, von Aberglauben geprägten Deutungszusammenhang eingespannt, wobei sich für die Erzählerstimme auch die Theodizeefrage stellt (Gottwald). In der mit numinosen Elementen gestalteten Welt des Bergdorfs sind archaische Formen der Bewährung (Märtyrertum) u. der myth. Kommunikation (Inszenierung Elias’ als Orpheus) möglich. Der myth. Chronotopos funktioniert mittels klar definierter Rollenschemata: Der Roman ist als Kontrastwelt von Kunst u. echter Liebe auf der einen Seite sowie Dumpfheit u. roher
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Archaik auf der anderen Seite strukturiert. Diese schlägt sich in einer bisweilen biologistisch anmutenden Abwertung der Dorfbevölkerung durch den Erzähler nieder. Die Darstellung religiöser Innerlichkeit korreliert hier mit scharfer Kritik am kath. Klerus. Die Stilisierung der erzählten Welt erinnert nicht zuletzt auch an die narrativen Strategien des magischen Realismus – S. selbst nennt Gabriel García Márquez als Referenzautor. Besondere Beachtung verdient im Roman die Figur des schwer festzulegenden Erzählers: Der mit den Rezipienten kokettierende Chronistenduktus wurde in seiner Vermischung von archaisch-myth. Weltverständnis u. ironisierenden, widerständigen Partikeln als durchaus ›postmodern‹ verstanden. In diesem distanziert-spielerischen Ton wird auch die Darstellung großen Gefühls wieder möglich, das »Herz« zur zentralen Vokabel des Textes, die das Geschehen tendenziell vom Bereich des Verstandes abkoppelt. Dabei wird der Topos des an seiner Umwelt leidenden Genies aufgerufen: Auswege aus der dörfl., kunst- u. lebensfeindl. Enge versprechen lediglich die Liebe zur Cousine Elsbeth u. die ästhetisch überformte Kraft der Musik. Elias’ Weg führt nach tagelangem Schlafentzug zum Beweis seiner Liebe dennoch unweigerlich in den Tod. Den auch ökonomisch durchschlagenden Erfolg des Romans beförderten nicht zuletzt die Transformierungen des Sujets in andere Medien. Unter der Regie von Joseph Vilsmaier wurde Schlafes Bruder 1995 mit André Eisermann u. Dana Vávrová in den Hauptrollen verfilmt; außerdem adaptierte Herbert Willi den Text für die Oper, u. Dramatisierungen wurden auf zahlreichen Bühnen aufgeführt. Die literaturwissenschaftl. Rezeption von Schlafes Bruder jedoch war stets eine skeptische: S.s Roman wurde eine Nähe zum Kitsch u. eine beachtl. Zahl an Stilblüten u. -brüchen attestiert (Zeyringer, Jablkowska), was freilich auch mit dem Unbehagen an dem überwältigenden Verkaufserfolg zusammenhängen mag. Nicht zuletzt kann S. damit als Phänomen des Literaturbetriebs interpretiert werden: Zum einen lässt sich am Beispiel von S.s Debüt die Dynamik feuilletonistischer Positionsnahmen ablesen, zum anderen kann
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auf die geschickte ›doppelte Strategie‹ des Textes hingewiesen werden, der sowohl eine postmodern-spielerische als auch eine identifikatorische Lesart für ein breiteres Publikum anzubieten vermag. Auf Schlafes Bruder folgten in einigem Abstand zwei weitere Romane, die mit dem Debüt die Rheintalische Trilogie konstituieren. Alle Werke fokussieren auf geniale oder übersinnlich begabte u. damit von ihrer boshaft-einfältig gezeichneten Umgebung sich abhebende Figuren, von denen erst die Protagonistin Antonia im dritten Teil, Die Unberührten (Mchn. 2000), den wirkl. Ausbruch aus dem beengenden ländl. Milieu in eine moderne Lebenswelt (New York) schafft – freilich um den Preis, dort ebenfalls in Abhängigkeits- u. Machtkonstellationen eingespannt zu sein. Die Luftgängerin (Mchn. 1998), die Geschichte vom »Wirken einer Magierin in entzauberter Zeit« (Die Luftgängerin, S. 10), wurde vom deutschsprachigen Feuilleton fast ausnahmslos negativ aufgenommen. Grund dafür war v. a. der Umstand, dass Figuren u. Motive oft nur lose in die Narration eingebunden erscheinen u. forciert sozial- u. medienkrit. Passagen mitunter schroff neben märchenhaften u. wiederum myth. Elementen zu finden sind (vgl. die Stilisierung der Hauptfigur zur Pythia). Für viele Rezensenten erweckte der Roman den Eindruck eines formal unfertigen Werks. Im Gefolge von Schlafes Bruder wurden Anfang der 1990er Jahre einige Dramen S.s, die z. T. bereits früher entstanden waren, aufgeführt. S.s Stücke präsentieren sich deutlich forcierter politisch als die Prosaarbeiten. Im Einpersonenstück Dreck (Lpz. 1993; Urauff. Hamburg 1993) übernimmt die Figur des Migranten Sad den xenophobisch-rassistischen Diskurs seiner Umgebung u. wendet ihn gegen sich selbst – die rhetorische Autoaggression gipfelt im grotesken Aufruf zum Pogrom. Dabei greift S. das Thema der Marginalisierung von Randgruppen auf, das – freilich ästhetisch stärker verfremdet – auch in den Romanen eine wichtige Rolle spielt: verkörpert etwa in den Beispielen der jungen Nationalsozialisten in der »Engelsschlacht« am Ende der Luftgängerin u. des revisionisti-
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Weitere Werke: Gegengebet. Gedichte. Hg. schen Vaters des Protagonisten in dem RoRichard Pils. Weitra 1995 (L.). – Der Papst u. das man Die Offenbarung (Bln. 2007). Während für S.s frühe Werke die Über- Mädchen. Mit Illustrationen v. Helga Genser. Lpz. schreitung von Genregrenzen u. mitunter 2001. Literatur: Mirjam Schaub: Phantombilder der befremdende Stilmischungen kennzeichnend Kritik. Ein Blick in die Kartei für junge deutschsind, zeigt sich das folgende Œuvre narratosprachige Lit. In: Deutschsprachige Gegenwartslit. logisch ›beruhigt‹. Schatten (Lpz. 2002) ist ein Wider ihre Verächter. Hg. Christian Döring. Ffm. fast vollständig in Dialogform verfasster Ro- 1995, S. 170–214. – Über ›Schlafes Bruder‹. Mateman, der zwei gealterte Freundinnen über rialien zu R. S.s Roman. Hg. Rainer Moritz. Lpz. Leben, Maßlosigkeit u. Verzicht räsonieren 1996. – Herwig Gottwald: Mythos u. Mythisches in lässt; wie in Schlafes Bruder ist es die Macht der der Gegenwartslit. Studien zu Christoph Ranseinen unergründl. Liebe, welche die Men- mayr, Peter Handke, Botho Strauß, George Steiner, schen umtreibt u. in (hier beinahe) tödl. Ab- Patrick Roth u. R. S. Stgt. 1996, S. 157–169. – Ulrich Klingmann: Sprache u. Sprachlosigkeit: Zur hängigkeit u. Unterwerfung schlittern lässt. Deutung v. Welt, Schicksal u. Liebe in R. S.s Kristus (Bln. 2004) erzählt die Geschichte der ›Schlafes Bruder‹. In: Deutschsprachige Gegenhistor. Gestalt des Jan Beukels (eigentlich: Jan wartslit. Hg. Hans-Jörg Knobloch u. Helmut Kovan Leiden), in der ersten Hälfte des 16. Jh. opmann. Tüb. 1997, S. 205–221. – Jutta Landa: R. eine zentrale Figur der Wiedertäufer. Der S.s ›Schlafes Bruder‹: Dorfchronik aus Kalkül? In: Roman lässt sich sowohl als überzeitl. Refle- MAL 29 (1996), H. 3/4, S. 157–168. – Angelika xion über die Verführbarkeit der Massen als Steets: R. S. ›Schlafes Bruder‹. Interpr.en. Mchn. auch – darin anderen Werken S.s ähnlich – im 1999. – R. S.: Schlafes Bruder. Erläuterungen u. Hg. R. Moritz. Stgt. 1999. – Joanna Sinne einer literar. Analyse religiösen Eifers Dokumente. Jabl/kowska: Auf der Suche nach der Ästhetik der lesen. S.s Erzählweise zeigt sich im Gegensatz Glücksdarstellung in der Gegenwartslit. Kitsch als zu früheren Werken formal konsistenter u. Lösung oder als Zitat. Am Beispiel R. S.s. In: Das souveräner, was den Text freilich auch dem glückl. Leben – u. die Schwierigkeit, es darzustel(trivialen) Historienroman annähert. In ähnl. len. Glückskonzeptionen in der österr. Lit. Hg. Weise scheint Die Offenbarung das populäre Ulrike Tanzer u. a. Wien 2002, S. 161–172. – Muster der histor. Detektivgeschichte zu Christine Aquatias: Kein ›Hinauswachsen aus dem verfolgen. In Analogie zu wesentl. Vertretern engstirnigen Rheintal!‹ Ein satir. Porträt der österr. dieses Genres steht das Auffinden eines rät- Provinz in ›Die Luftgängerin‹ v. R. S. In: Österr. (1945–2000). Das Land der Satire. Hg. Jeanne Benay selhaften Dokuments (ein verschollenes Bachu.a. Bern u.a. 2002, S. 269–281. – Martin Halter: R. Autograf) im Zentrum. Dabei werden die für S. In: LGL. – Holger Gehle: R. S. In: KLG. – Lars S.s Werk typischen Topoi der metaphys. Schmeink: Hypnos u. Thanatos: Das Bild des Todes Qualität von Musik u. des Ausgeliefertseins in R. S.s ›Schlafes Bruder‹. In: MAL 37 (2004), H. 3/ des einzelnen, fühlenden Menschen an eine 4, S. 47–64. – Holger Mosebach: Endzeiterwartung bedrohl. Um- u. Außenwelt wieder aufgeru- u. Selbstverwirklichung: R. S.s Roman ›Kristus‹ fen. Wie den vorherigen Romanen wurde (2004). In: Lit. für Leser 28 (2005), H. 2, S. 113–125. auch der Offenbarung nie jene Aufmerksam- – Klaus Zeyringer: Versuch der Autopsie eines Bestsellers – Zu R. S.s ›Schlafes Bruder‹. In: Ders.: keit zuteil, die einst Schlafes Bruder erregt Österr. Lit. seit 1945. Überblicke, Einschnitte, hatte. Wegmarken. Innsbr. u.a. 2008, S. 361–374. Neben Auszeichnungen u. Stipendien für Harald Gschwandtner sein Prosawerk – u. a. Robert-Musil-Stipendium der Stadt Wien (1993), Marieluise-Fleißer-Preis der Stadt Ingolstadt (1995) – erhielt Schneider, Rolf, * 17.4.1932 Chemnitz. – S. mehrere Theaterpreise, etwa den Preis für Romancier, Erzähler, Essayist, Publizist, Verfasser von Hörspielen, Dramen, SachVolkstheaterstücke des Landes Baden-Würtu. Reisebüchern. temberg (1990) oder den Dramatikerpreis der Potsdamer Theatertage (1993). 2008 wurde Nach Abschluss des Germanistikstudiums in ihm der Phantastik-Preises der Stadt Wetzlar Halle wurde der Sohn eines Metallarbeiters u. verliehen. einer Textilarbeiterin Redakteur bei der kul-
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turpolit. Zeitschrift »Aufbau« (1955–1958), gnadenlosen Kritik bald fallengelassen wird dann freier Schriftsteller; seit 1965 nahm er u. an der dt.-dt. Grenze als Opfer einer an den Treffen der Gruppe 47 teil. S.s erste Selbstschussanlage den Tod findet. Seit den literar. Versuche galten neben beachtenswer- 1960er Jahren beschäftigte sich S. auch mit ten Parodien (Aus zweiter Hand. Bln./Weimar präfaschistischen Gesellschaftserscheinungen 1958) vorwiegend dem Hörspiel (Hörspiel- in Deutschland (z.B. im Prosawerk Levi oder preis der Kriegsblinden 1966). Als Dramati- Die Reise zu Richard Wagner Rostock 1988. ker wechselnd erfolgreich, trat er schließlich U. d. T. Die Reise zu Richard Wagner. Wien v. a. als Prosaschriftsteller hervor. S.s Reisen 1989). Nach dem Fall der Berliner Mauer durch Länder Ost- u. Westeuropas finden in 1989 setzte sich S. für eine krit. Auseinanseinen Reisebüchern wie auch in seinen Ro- dersetzung mit Vergangenheit u. Post-DDRmanwerken ihren Niederschlag. Seine unge- Gegenwart ein, beispielsweise in den Bänden wöhnlich rasche u. vielseitige Produktion Frühling im Herbst. Notizen vom Untergang der sowie seine Neigung, vorgegebene Themen DDR (Gött. 1991) u. Volk ohne Trauer (Gött. zu adaptieren bzw. zu parodieren, lassen sich 1992). In den folgenden Jahren machte er v. a. einerseits als Beweis für einfallsreichen Um- als Publizist, Sachbuch- u. Hörspielautor auf gang mit den verschiedensten Gattungen, sich aufmerksam, legte aber 2009 mit MariStilen u. Inhalten, andererseits als Zeichen enbrücke (Bln. 2009) einen Roman vor, in dem eines Epigonentums deuten. Den themat. die Folgen von Faschismus u. Diktatur für das Schwerpunkt des Frühwerks – seiner ersten Leben in Deutschland u. Österreich im 20. Jh. Romane Die Tage in W. (Mchn. 1965) u. Der Tod erneut im Vordergrund stehen. des Nibelungen (Rostock u. Mchn. 1970), aber Weitere Werke: Stimmen danach. Rostock auch des in der Tradition des Dokumentar- 1970 (Hörsp.e). – Nekrolog. Unernste Gesch.n. theaters stehenden Schauspiels Prozeß in Ebd. 1973. – Von Paris nach Frankreich. ReisenoNürnberg (Ffm. 1968) – bildet die krit. tizen. Ebd. 1975. – Unerwartete Veränderung. Ebd. Auseinandersetzung mit der Geschichte 1980. – Stücke. Ebd. 1988. – Theater in einem beDeutschlands. In den 70er Jahren wandte sich setzten Land. Ffm./Bln. 1989. – Der alte Mann u. die junge Frau. Drei Stücke. Bln. 1990. – Ich bin ein S. zunehmend der DDR-Realität zu. Der RoNarr u. weiß es. Bln. 2001. man Die Reise nach Jarosl/aw (Rostock 1974, Literatur: Fritz J. Raddatz: Traditionen u. Neuwied 1975) ist als schnelle literar. ReakTendenzen. Materialien zur Lit. der DDR. Ffm. tion auf Plenzdorfs Publikumserfolg Die neu- 1972, S. 317–326. – Konrad Franke: R. S. In: LGL. – en Leiden des jungen W. (1972) zu verstehen. Im Peter Bekes: R. S. In: KLG. Ian Wallace Roman Das Glück (Neuwied u. Rostock 1976) schildert S. den Versuch eines in asozialen Verhältnissen in Ost-Berlin aufwachsenden Schneider, Simone, * 26.7.1962 Duisburg. Mädchens, sich trotz privater u. berufl. – Dramatikerin, Drehbuch- u. HörspielSchwierigkeiten ein besseres Leben aufzuautorin. bauen. Hintergrund des Romans November (Hbg. 1979. Rostock 1990) bilden die Aus- Aufgewachsen in Geldern/Niederrhein, nahm bürgerung Biermanns 1976 u. der Protest- S. nach dem Abitur ein Studium der Germabrief von Intellektuellen gegen diese Aktion. nistik, Theaterwissenschaften u. Philosophie Im Juni 1979 wurde S. aus dem DDR- in München auf. Weitere Stationen waren Schriftstellerverband ausgeschlossen. Trotz Köln u. Berlin, wo sie erste Berufserfahrunweiterer Schikanen konnte er in den folgen- gen am Theater u. bei Zeitungen sammelte. den Jahren dank eines Reisevisums sowohl in Seit 1989 ist sie als freie Autorin in Berlin der BR Deutschland (Hausautor an Theatern tätig. in Nürnberg u. Mainz) als auch in der DDR Erste nationale u. internat. Aufmerksamarbeiten. Zentralthema des satir. Romans Jede keit erzielte S. durch Hörspiele. Gleich die Seele auf Erden (Rostock 1988. Wien 1990) ist zweite Veröffentlichung, Roter Stern (BR, Kodie zyn. Vermarktung eines exilierten DDR- produzent SFB), wurde Hörspiel des Monats Autors, der aber von der so willkürl. wie März 1992, gewann den »Lautsprecher«-Preis
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der Publikumsjury der Akademie der Künste kleiner Lord. DRadio 1998. – Sichtbar vom All. u. den 3. Preis des New York Festival of Radio NDR 1999. – Daniel u. die Zauberin v. Zaubabel. Drama. An diesen Erfolg knüpfte das Hör- DRadio 2001. – Finnische Philosophinnen. BR spiel Alex (BR, DeutschlandRadio Berlin 1995) 2005. – Dramen: Malaria. Ms. Bln. 1997. Urauff. Hbg. 1998. – Ein kleiner Lord. Ms. Bln. 1998. an, das Hörspiel des Monats Dez. 1995 war u. Urauff. Dortm. 1999. – Ägypter. Ms. Bln. 1999. 1996 für den Prix Italia nominiert wurde. Urauff. Lpz. 1999. – Kameliendame. Bln. 2000. Seit Mitte der 1990er-Jahre schrieb S. auch Urauff. Ffm. 2000. – Springerin. Ms. Bln. 2000. Bühnenstücke, die in erster Linie die Identi- Urauff. Duisburg 2000. – Drehbücher (Auswahl): täts- u. Sinnkrise der Nachwende-BR Schattenfrau. WDR 2002. – Fünfzehn Jahre. Bln. Deutschland zum Thema haben. Sie doku- 2006. – Tatort ›Todesschütze‹ (AT). MDR 2009. mentieren Entfremdungserfahrungen des Literatur: Franz Wille: Realitäten u. andere sinnsuchenden Individuums in der postmo- Einbildungen. In: Theater heute 35 (1994), H. 12, dernen, posthistor. Welt, für die das West- S. 20–25. – Sabine Wollowski: S. S. In: LGL. berlin der Nachwendezeit Vorlage ist. Franz Robert Lewetzky Wille betont den »Ich-Verlust durch gesteigerte Einbildung und dramatischen Realitätsmangel« im Zentrum in S.s erstem Thea- Schneider-Lengyel, Ilse (Maria), * 10.1. terstück Die Nationalgaleristen (Urauff. 1903 München, † 3.12.1972 Reichenau/ Münchner Kammerspiele 1994). Ihre Stücke Bodensee. – Lyrikerin, Kunstkritikerin, beleuchten die umfassenden Herausforde- Fotografin. rungen, welche die Abwesenheit von Realität u. das Zusammenbrechen fester Beziehungs- Die Tochter eines hohen Forstbeamten hielt punkte an den Einzelnen sowie das gesell- sich ab 1920 wiederholt für längere Zeit in schaftl. Miteinander stellen. S.s phrasenhafte, Paris auf, wo sie vom Surrealismus geprägt nahezu leere Sprache ist Zeugnis u. Aus- wurde. Als Kunstkritikerin u. Fotografin dedrucksmittel dieser paradoxen u. überfor- bütierte sie mit dem Band Die Welt der Maske dernden Situation. Thematisch u. sprachlich (Mchn. 1934), in dem sie u. a. Carl Einsteins erinnert S.s Bühnenwerk an das von Botho Schrift Negerplastik rezipierte. In ihrem Haus am Bannwaldsee bei Füssen fand auf ihre Strauß. Bedeutend war die Uraufführung von Or- Anregung hin die erste Tagung der Gruppe well. Ein Stück (Nationaltheater Mannheim 47 statt, der sie bis 1950 angehörte. Sie war 1996), einer unmissverständl. Adaption von v. a. befreundet mit Wolfdietrich Schnurre. S. George Orwells totalitaristischer Vision Nine- veröffentlichte die Gedichtbände Spielplatz teen Eighty-Four am Nationaltheater Mann- und Wüste (Baden-Baden 1949) u. Septemberheim. Die direkte Art der Zusammenarbeit phase (Ffm. 1952). Ihre Lyrik verbindet ethzwischen der Dramatikerin u. Regisseur Ar- nografische Motive, die S. durch ihre Studien min Petras greift Ansätze der Berliner Auto- zur primitiven, insbes. zur präkolumb. Kunst reninitiative Theater Neuen Typs (TNT) vor, vertraut waren, u. die kühne Bildlichkeit des der S. seit 1997 angehörte. In der Spielzeit Surrealismus. Sie war Mitarbeiterin an Zeit1997/98 war sie Hausautorin am National- schriften im Wirkungskreis der frühen Gruppe 47, wie z.B. »Der Ruf«, »Der Skortheater Mannheim. Nach 2000 schrieb S. keine neuen Büh- pion« u. »Neues Europa«, publizierte jedoch nenstücke, sondern verlagerte sich auf das nach 1952 keine literar. Texte mehr. 1968 Verfassen von Drehbüchern für Film und verschwunden, tauchte S. Anfang 1969 in Fernsehen. So arbeitete sie an der ersten dt. verwirrtem Zustand in Konstanz auf u. wurde Telenovela (Bianca – Wege zum Glück) mit u. in das Landeskrankenhaus Reichenau eingeverfasste Drehbücher für die Reihen Tatort u. wiesen. Für die literar. Öffentlichkeit blieb sie verschollen. Gerhard Köpf, der mit S. bePolizeiruf 110. Weitere Werke: Hörspiele: Vogel Kleist. RIAS freundet war, hat sie in seinem 1983 er1990. – Das Gebet der Stunde. BR 1993. – Die schienenen Roman Innerfern unter dem NaSchöne u. das Tier. DRadio Berlin 1994. – Ein men Karlina Piloti porträtiert.
503 Weitere Werke: Das Gesicht des dt. MA. Mchn. 1935. – Griech. Terrakotten. Ebd. 1936. – Masques primitifs. Paris 1956. Literatur: Gerhard Köpf: Fischwinter. In: Sprache im techn. Zeitalter 87 (1983). Suppl., S. 83–95. – Ders.: Eine Asphodele. Über I. S.-L. In: Lit. für Leser 1 (1996), S. 32–45. – Kulturamt der Stadt Füssen (Hg.): I. S.-L. Kunsthistorikerin, Ethnologin, Fotografin u. Dichterin. Füssen 1997. – Bernhard Setzwein: Die George Sand vom Bannwaldsee. Ein Porträt der I. S.-L. Mchn. 1997. – Rosmarie Mair: Zu Gast bei I. S.-L. Das erste Treffen der Gruppe 47 am Bannwaldsee bei Füssen. In: Der Schwabenspiegel 3 (2002), S. 191–199. – Eva Chrambach: I. S.-L. In: NDB. Wilfried Ihrig / Red.
Schneider-Schelde, Rudolf, * 8.3.1890 Antwerpen, † 18.5.1956 München. – Verfasser von Erzählungen, Romanen u. Komödien. S. veröffentlichte seit 1921 eine große Zahl von Novellenbänden u. Komödien, deren Themen Liebe, Ehe u. Freundschaft sind (Zweierlei Liebe. Wien 1936). Bekannt wurde der Roman In jenen Jahren (ebd. 1935), der vor dem Hintergrund von Wirtschaftskrise u. Arbeitslosigkeit die Münchner Schriftstellerwelt schildert. Während des »Dritten Reichs« galt S. als unerwünscht, u. sein Name stand 1933 auf der Liste der Schund- u. Schmutzliteraten. 1945–1947 war er Präsident des Schutzverbands Deutscher Schriftsteller in München, 1949–1951 stellvertretender Intendant u. Programmdirektor des BR. 1945–1947 gab S. die bedeutende Reihe Europäische Dokumente heraus, in der u. a. Ernst Wiecherts Rede an die deutsche Jugend 1945 (H. 1, 1945) u. Gerhard Szczesnys Europa und die Anarchie der Seele (H. 6, 1946) erschienen. Weitere Werke: Kaber. Mchn. 1921 (N.). – Jagd auf Toren. Ludwigsburg 1922 (E.). – Die Straße des Gelächters. Stgt. 1924 (E.). – Ring mit rotem Stein. Lpz. 1924 (N.). – Der Frauenzüchter. Mchn. 1927 (R.). – Alexander der Arme. 1928 (Kom.). – Kies bekennt Farbe. Stgt. 1930 (R.). – Offenes Fenster. Hbg. 1944 (R.). – Ein Mann im schönsten Alter. Hbg. 1955 (R.). Literatur: Joachim Moras: R. S.-S. zu seinem dritten Todestage. In: Merkur 13 (1959), S. 479–482. Joachim Dyck
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Schnell, Robert Wolfgang, * 8.3.1916 Barmen, † 1.8.1986 Berlin. – Erzähler, Lyriker, Hörspiel- u. Drehbuchautor. S., Sohn eines Prokuristen, brach die Schulausbildung ab, wandte sich der Musik, dann der Malerei zu u. interessierte sich für das Theater. Er verdiente seinen Lebensunterhalt in verschiedenen Berufen. Im Zweiten Weltkrieg war er kurze Zeit Soldat. 1946 gründete S. mit Freunden die Ruhr-Kammerspiele in Witten u. wechselte von dort an das Deutsche Theater in Berlin. Nach 1949 arbeitete er für die Presse, malte u. zeichnete viel. Der ersten Ausstellung 1950 folgten weitere. 1959 gründete S. mit Günter Bruno Fuchs u. dem Bildhauer Günter Anlauf die Galerie im Hinterhof »zinke«. Er trat wiederholt als Schauspieler auf. Als Prosaautor fand er Beachtung, konnte von seinen Büchern jedoch nicht leben. Obwohl in vielen Künsten zu Hause, verabscheute S. den offiziellen Kulturbetrieb. Sein Ziel war es, in der Tradition der Boheme, von Dada u. Expressionismus, Kunst u. Leben in Einklang zu bringen, die »Kunst aus den ästhetischen Zirkeln herauszuholen und sozial fruchtbar zu machen« (in: zinke. Bln. 1979). Die antibürgerl. Haltung drückt sich auch in den Buchtiteln aus: Mief (Neuwied/ Bln. 1963), Geisterbahn. Ein Nachschlüssel zum Berliner Leben (ebd. 1964), Erziehung durch Dienstmädchen (ebd. 1968. Bln. 2005. Verfilmt 1975), Der Weg einer Pastorin ins Bordell (ebd. 1984). In seinen Erzählungen u. in den Romanen erzählt S. skurrile Lebensgeschichten von Aussteigern u. Abgestiegenen, welche »die Welt nach der Einsicht ihres Herzens« zu ordnen versuchen (in: Erziehung durch Dienstmädchen), oder von erbärmlich angepassten Spießern. Schildert S. im Roman Geisterbahn das Künstler- u. Kneipenmilieu Kreuzbergs in den 1950er u. 1960er Jahren, so greift er im Roman Erziehung durch Dienstmädchen einen histor. Stoff, die Revolution von 1918, auf. In diesem seinem wichtigsten Buch erzählt er aus der Perspektive eines Jungen vom Ende einer proletar. Tradition, die Revolution u. Poesie zu vereinen versprach. Die wehmütige Darstellung der Ereignisse ist in der dt. Literatur selten. S.s Erzählweise erinnert an
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Volksbuch u. Moritat; er kompiliert Episode, Anekdote, Skizze, Dialog, Gedicht, er typisiert seine Figuren u. stattet sie mit märchenhaften Zügen aus. Weitere Werke: Muzes Flöte. Neuwied/Bln. 1966 (E.). – Junggesellen-Weihnacht. Ebd. 1970 (E.). – Eine Tüte Himbeerbonbons. Darmst./Neuwied 1976 (E.). – Triangel des Fleischers. Bln. 1981 (L.). – Erschließung der Wirklichkeit. Gedichte. Hg. u. mit einem editor. Anhang vers. v. Michael Fisch. Bln. 2006. – Das Leben des Heiligen Hermann Katz. Hg. Michael Fisch. Bln. 2006 (R.). Literatur: Kurt Batt: Muzes Flöte u. Liebknechts Reden. R. W. S. als Erzähler. In: Ders.: Revolte intern. Betrachtungen zur Lit. in der BR Dtschld. Mchn. 1975, S. 181–192. – R. W. S. zum Siebzigsten. Hg. v. seinen Freunden. Barmen/Bayreuth/Bln. 1986. – Michael Koetzle: R. W. S. In: KLG. – Michael Fisch: Bibliogr. R. W. S. Bielef. 1999. – Gerd Holzheimer u. Michael Fisch: R. W. S. In: LGL. Agnes Hüfner / Red.
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Ebd. 1905). Epochemachend war jedoch das Werk Die romanischen Volksmundarten in Südtirol (Gera 1870. Neudr. Wiesb. 1970. Mikrofiche Erlangen 2001), in dem S. »die wesentlichen Grundgedanken für die Konstituierung des ›Rätoromanischen‹ oder ›ladino‹ vorgab« (Kramer). Weitere Werke: Am Alpsee. Innsbr. 1860 (Ep.). – Märchen u. Sagen aus Wälschtirol. Ebd. 1867. Neudr. Hildesh./New York 1976. – Der Knappe v. Schwaz. Innsbr. 1880 (D.). – Blüthen u. Garben. Lpz. 1897 (L.). – Südtirol. Landschaften. 2 Bde., Innsbr. 1899/90. Literatur: Simon Marian Prem: C. S. Halle 1913. – Johannes Kramer: C. S. u. das Dolomitenladinische. In: Der Schlern 48 (1974), S. 639–643 (mit Werkverz.). – Viktor Malfér: C. S. In: ebd. 55 (1981), S. 626–631. – Hubert Reitterer: C. S. In: ÖBL. Hubert Reitterer / Red.
Schneller, Franz, * 18.1.1889 Freiburg i. Br., † 23.11.1968 Freiburg i. Br. – DraSchneller, Christian, * 5.11.1831 Holz- maturg, Regisseur, Romancier. gau/Tirol, † 5.8.1908 Gut Cornacalda bei Rovereto; Grabstätte: Rovereto, Friedhof. Nach einer Tätigkeit als Dramaturg am Stadttheater war S. Direktor der Stadtbüche– Lyriker, Epiker; Volkskundler. Der Sohn eines Müllers u. späteren Färbers unterrichtete nach seinem Studium in Innsbruck u. Wien u. der Lehramtsprüfung (1855 für Deutsch u. Italienisch, 1857 für Naturgeschichte) seit 1856 in Rovereto. 1868 wurde S. Gymnasialprofessor in Innsbruck, 1869 Landesschulinspektor für die dt. Volksschulen, 1874 für die dt. (1891 für sämtl.) Mittelschulen Tirols (Ruhestand 1897). 1902 ernannte ihn die Universität Innsbruck zum Dr. phil. h. c. S.s früh einsetzende, fruchtbare literar. Produktion – in der Lyrik wie zunächst auch in der Epik von der Romantik geprägt, in seinen besten Werken (Sankt Valentin. Innsbr. 1880. Der Einsiedler von Fleims. Ebd. 1893; beide Epen in der für ihn charakterist. Form der »Vision«) aber den Übergang zum Realismus vollziehend – ist vergessen. Von Bedeutung sind die landeskundl. Arbeiten (z. B. Landeskunde von Tirol. Ebd. 1872), die Schilderungen aus der Tiroler Kulturgeschichte u. die Beiträge zur Orts- u. Personennamenkunde (z. B. Beiträge zur Ortsnamenkunde Tirols. 3 H.e, ebd. 1893–96. Innsbrucker Namenbuch.
rei in Freiburg i. Br., wo er bis zu seinem Tod lebte. Auch in seinem schriftstellerischen Werk blieb er seiner Heimat verbunden. Sein bes. Interesse galt dabei der Landschaft u. der Literatur von Schwarzwald u. Hochrhein. Er verstand »Heimat«, frei von Chauvinismus oder Blut-und-Boden-Romantik, als Ensemble von spezif. Landschaft u. deren Bewohnern (z.B. im Roman Segel vor Wind. Freib. i. Br. 1934). Auch in den Bänden Land am Oberrhein (ebd. 1925), Der Schwarzwald (ebd. 1949) oder Brevier einer Landschaft (ebd. 1947. Neudr. 1984) zeigt sich seine Heimatverbundenheit.
Weitere Werke: Im Vorhof der Hölle. Freib. i. Br. 1920 (N.). – Unter Indianern im Missourigebiet. Ebd. 1922 (E.). – Barbara Iselin. Ebd. 1924 (R.). – Die Jahreszeiten eines Einsamen. Ebd. 1925 (R.). – Freiburg gestern u. heute. Ebd. 1949. – Schönes Baden. Ffm. 1964 (Bildbd.). – Zu Tisch zwischen Schwarzwald u. Vogesen. Karlsr. 1965. Literatur: Kulturamt der Stadt Freiburg i. Br. (Hg.): F. S. (1889–1968). Freib. i. Br. 1989 (Ausstellungskat.). Georg Patzer / Red.
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Schneuber, Johannes Matthias, * 2.2.1614 Müllheim/Baden, † 26.12.1665 Straßburg. – Astronomischer Fachschriftsteller, Gelegenheitsdichter.
Schneyder Conermann u. Günther Hoppe: Die Fruchtbringende Gesellsch. Bd. 3, Weinheim 1985, S. 623 f. – Alexander Weber: J. M. S.: Der Ich-Erzähler in G. Grass’ ›Das Treffen in Telgte‹ [...]. In: Daphnis 15 (1986), S. 95–122 – Monika Bopp: Die ›Tannengesellschaft‹. Studien zu einer Straßburger Sprachgesellsch. v. 1633 bis um 1670. Ffm. 1998, bes. S. 39–53, 396–442. – Walter E. Schäfer: J. M. S. In: NDBA, Lfg. 34, S. 3513. – Peter Heßelmann: Unbeachtete oberrhein. Bäder-Lyrik aus dem 17. Jh. Elias Schads Gedicht über Peterstal u. Griesbach (1607) u. J. M. S.s ›Uber die Saurbronnen mißbräuch‹ (1655/56). In: Die Ortenau 85 (2005), S. 345–360. – Flood, Poets Laureate, Bd. 4, S. 1864–1866. Wilhelm Kühlmann
Von mütterl. Seite Enkel eines luth. Superintendenten, besuchte S. die Gymnasien im seinerzeit württembergischen Mömpelgard/ Montbéliard (1626) u. im badischen Durlach (1630), anschließend die Universität Straßburg (Immatrikulation 1634). Zudem übernahm er Tätigkeiten als Hauslehrer bei adligen Herrschaften. Neben der Würde eines Poeta laureatus erwarb er 1635 auch den Magistertitel. Seine berufl. Ziele fand S. im Rahmen des Straßburger Schulwesens: als Lehrer am Gymnasium (seit 1637), als Schneyder, Werner, * 25.1.1937 Graz. – Schulinspektor u. Gymnasiarch, seit 1642 Kabarettist, Dramaturg, Regisseur, Werauch als Professor an der Universität. Er gab betexter, Schriftsteller u. Journalist. mathemat. Lektionen, was auf seine astrono- S. wuchs als Sohn eines Kaufmanns in Klamischen Interessen hindeutet, u. las über genfurt auf, wo er das Realgymnasium beLogik, Rhetorik u. Poetik. Sein lyr. Werk suchte. Bereits während seiner Schulzeit war umfasst überwiegend lat. u. dt. Kasualge- er als Sport- u. Lokaljournalist bei der Grazer dichte. S. fühlte sich trotz keineswegs ma- Tageszeitung »Kleine Zeitung« tätig. 1954 kelloser Verskünste als Statthalter der von begann er ein Studium der Publizistik u. Opitz repräsentierten Stileleganz u. als An- Kunstgeschichte an der Universität Wien, das hänger der vom Humanismus gepflegten er 1959 mit einer Dissertation zum Thema Formensprache. Er war Mitgl. der 1633 von Die Wechselwirkung von Herausgeberprogramm Rompler von Löwenhalt gegründeten Tan- und publizistischem Erfolg abschloss. Nach dem nengesellschaft u. pflegte Kontakte zu Mosc- Studium arbeitete S. zunächst drei Jahre als herosch, zu dem Arzt Johannes Küffer, dem Werbetexter, ehe er 1962 als Dramaturg für Vater des späteren Dienstherrn Grimmels- die Landestheater Salzburg u. Linz engagiert hausens, u. zu Johann Heinrich Schill. Auf wurde. 1963 wurde sein erstes Theaterstück Vermittlung Harsdörffers erreichte der ehr- Till bevor er hing (Reinb. 1963) am Landesgeizige S. die Aufnahme in die Fruchtbrin- theater in Linz uraufgeführt, 1965 sein gende Gesellschaft (1648), in der er den Bei- zweites Unsinn bei leiser Musik am Wiener namen »Der Riechende« trug. Grass hat ihm Theater in der Josefstadt gespielt. 1965 ließ in seiner Novelle Das Treffen in Telgte (1979) sich S. als freier Autor u. Regisseur in Salzeine auffällige Rolle zugewiesen. burg nieder, wo er u. a. als Theaterkritiker Werke (Auswahl. Erscheinungsort jeweils arbeitete u. mit seiner krit. Rezension über Straßb.): Gedichte. 1644. – Fasciculus Poematum die Premiere Der Schwierige von Hugo von Latinorum. 1646. – Teutscher Gedichten Anderer Hofmannsthal bei den Salzburger Festspielen Theyl. 1656. – Fasciculus Poematum Latinorum. für einen Skandal sorgte (vgl. Ich, Werner 1656. – Epigramma de portentoso Cometa [...]. Schneyder. Meine Zwölf Leben. Wien 2006, 1664. – Umständl. Beschreibung Deß grossen Cometen [...]. 1665. – Convivium Cometicum [...]. S. 15 f.). 1974 erhielt S. zusammen mit Sigrid Löffler u. Paul Lendvai als Anerkennung sei1665. Literatur: Werkverzeichnisse: Dünnhaupt, Bd. 5 ner journalistischen Tätigkeit den Karl-Ren(1991), S. 3696–3723. – Bopp (s. u.). – Weitere Titel: ner-Preis für Publizistik des Österreichischen Johannes Rebhan: Programma Funebre. Stadtar- Journalisten-Clubs. Im selben Jahr begann S.s Karriere als Kachiv Straßb. – Richard Gosche: J. M. S. In: Archiv für Litteraturgesch. 2 (1872), S. 234–244. – Klaus barettist an der Seite Dieter Hildebrandts in
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der »Münchner Lach- und Schießgesellschaft«, in der das Duo, das durch Vermittlung Kurt Weinzierls zusammengefunden hatte, mit dem Programm Talk täglich debütierte. Es folgten weitere politisch-literar. Kabarettprogramme, darunter Lametta & Co. (1975), Wie abgerissen (1977) u. Keine Fragen mehr (1979). Nach achtjähriger Zusammenarbeit traten S. u. Hildebrandt im März 1982 das letzte Mal mit dem Kabarettprogramm Ende der Spielzeit als Duo auf. Nachdem S. mit seinem Programm Solo mit Trio (1981) bereits ein Jahr zuvor seine Premiere als Solokabarettist gefeiert hatte, wurde er im selben Jahr mit dem Nestroy-Ring der Stadt Wien für seine satirisch-krit. Leistung ausgezeichnet. Sein Auftritt 1982 als erster nichtkommunistischer Kabarettist mit seinem Programm Zwischentöne in der »Leipziger Pfeffermühle«, dem weitere drei Auftritte in Leipzig folgten, führte 1985 mit Zugabe Leipzig zu einem kurzen Revival des Kabarett-Duos Hildebrandt/ S., das eine Auswahl aus ihren gemeinsamen Kabarettprogrammen präsentierte. In seinem Erzählband Abschied vom Karpfen (Mchn. 1986) lässt S. sein Gastspiel in der DDR literarisch Revue passieren. 1980 erschien in Folge seiner langjährigen freien Mitarbeit als Kolumnist verschiedener Zeitungen (u. a. »Express«/»Kronen Zeitung«, »Wiener Zeitung«) sein erster Gedichtband Gelächter vor dem Aus (Mchn. 1980), der neben polit. Lyrik Aphorismen u. Epigramme enthält, die Themen u. a. aus Natur, Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Kriegs- u. Kriegerhass behandeln. Weitere Gedichtbände (u. a. Wut und Liebe. Mchn. 1985. Reimzeit. Wien 1995) folgten. In Erich Kästner. Ein brauchbarer Autor (Mchn. 1982) zeichnet S. nicht nur ein Porträt des polit. Autors Erich Kästner, sondern sucht zgl. den Reimzwang als Stilmittel zu retten. In den 1980er Jahren schlossen sich weitere Engagements außerhalb der Kabarettszene an, u. a. als Talkshow-Moderator beim Bayerischen Rundfunk (Meine Gäste und ich. 1982), als ZDF-Sportkommentator von Boxwettkämpfen (1982, seit 1995 als Boxkommentator für RTL) u. fünf Jahre lang als Autor der wöchentlich erscheinenden Kolumne »Gastspiel« bei der Münchner Boulevardzeitung
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»tz«. 1983–1984 folgten weitere Solo- (u. a. Solo mit Quartett. 1983. Satz für Satz. 1984) u. Duoprogramme (u. a. präsentierte S. gemeinsam mit Lore Lorentz in Zeitgenossen haufenweise [1984] Lieder u. Texte Erich Kästners). Diese Programme trugen wegen ihrer musikal. Untermalung zur Etablierung des Liederkabaretts bei. Nach Doppelt besetzt (1986), Schon wieder nüchtern (1989) u. Absage und/oder Momente (1991) verließ S. mit Abschiedsabend (1994) die Kabarettbühne u. arbeitete seit 1995 überwiegend als Schriftsteller, Journalist, Theater- u. Operettenregisseur. Zuvor hatte er bereits 1987 das Angebot des Intendanten des Münchner Staatstheaters am Gärtnerplatz, Hellmuth Matiasek, die Regie für die Operette Im weißen Rössl zu übernehmen, angenommen. Es folgten weitere Inszenierungen, u. a. in München, Graz u. Wien (Die letzten Tage der Journaille. 1995; nach Karl Kraus). Nach der Veröffentlichung der Ketzereien zur Zeitenwende (zusammen mit Hans Riehl. Mchn. 1997), einem iron. Rückblick auf das 20. u. einer Prognose für das 21. Jh., inszenierte S. die Tragikomödie Das weite Land von Arthur Schnitzler 1998 in Meiningen. Im Jahr 2000 kehrte S. gemeinsam mit Dieter Hildebrandt in Neil Simons Erfolgskomödie Sonny Boys, gespielt am Cuvilliétheater München, erstmals als Schauspieler auf die Bühne zurück. Seit Mitte der 1990er Jahre konzentrierte sich S. verstärkt auf das Schreiben von Büchern. Neben Gedichtbänden entstanden weitere Auswahlbände mit Kabarett-Texten, Glossen u. Polemiken (u. a. Schreibzeit. Wien 1996. Zeitspiel. Wien 1997), Essays (Ansichten eines Solisten. Wien 2002) oder Erzählungen (Karrieren oder Das letzte Drittel entscheidet. Wien 2000. Die Socken des Kritikers. Mchn. 2009. Manchmal gehen mir meine Meinungen auf die Nerven. Aber ich habe keine anderen. Mchn. 2011). In Krebs. Eine Nacherzählung (Mchn. 2008) reflektiert S. den Krebstod seiner Frau Ilse (1942–2004), mit der er 43 Jahre verheiratet war u. einen 1966 geborenen Sohn hat, sowie das Verhältnis zwischen Arzt u. Patient. Mit dem Programm Ich bin konservativ kehrte S., begleitet von Christoph Pauli am Piano, 2008 auf die Kabarettbühne zurück.
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Im selben Jahr erhielt er im Rahmen des Bayerischen Kabarettpreises den Ehrenpreis sowie den Stern der Satire des Deutschen Kabarettarchivs. Am 8.5.2010 wurde S. beim Internationalen Radio-Kabarettpreis »Salzburger Stier« für sein Lebenswerk mit dem Ehrenstier ausgezeichnet. Weitere Werke: Kabarett-Programme: Schlafen Sie gut, Herr Tucholsky! Mchn. 1983. – Lyrik: Empfehlung der einfachen Schläge. Wien 1973. – Die Vermeidung v. Rückschlägen. Wien 1976. – Vom Nachlassen der Schlagkraft. Wien/Mchn./Zürich 1979. – Herz im Hirn. Bln. 1988. – Nachschlagewerke/Lexika: Das Drogenlexikon. Ein Nachschlagewerk für Eltern, Erzieher, Lehrer, Ärzte, Polizisten, Politiker u. alle, die in Drogenfragen Bescheid wissen wollen. Rudolstadt 1993. – Essays, Erzählungen, Romane: Die Unternehmungen des Herrn Hans. Wien 1976. – ... über Sport. Dabeisein ist gar nichts. Ffm. 1982. – Ende der Sommerpause. Mchn. 1988. – Das Gefährliche an der Kunst. Mchn. 1991. – Selberdenken ist auch eine Möglichkeit. Im Gespräch mit Gunna Wendt. Freib. i. Br. 1995. – Meiningen oder Die Liebe u. das Theater. Wien 1998. – Ansichten eines Solisten. Wortmeldungen u. Nachreden. Wien 2002. – Hörbucher: Markus Spiegel (Regie): Karl Kraus. Vorgestellt v. W. S. Köln/Hbg. 2006. – Krebs. Eine Nacherzählung. Gelesen v. Jörg Hube. Mchn. 2008. – Sentimental. Meine Lieder. Wien 2008. – Die Socken des Kritikers u. a. Erzählungen. Autorenlesung. Mchn. 2009. – Franz R. Reiter (Hg.): 100 Vorschläge für ein besseres Österreich. Mit Äußerungen v. W. S., Peter Turrini, Doron Rabinovici, André Heller, Gerhard Ruiss, Elfriede Hammerl. Wien 2006. – Bildtonträger: Volker Weicker (Regie): ›Abschiedsabend‹ v. u. mit W. S. ZDF/3sat 1996. – Gottfried Schwarz (Regie): Absage u./oder Momente v. u. mit W. S. Kurier Edition 2008 (Best of Kabarett 16). Franca Victoria Schankweiler
Schnezler, August, * 4.8.1809 Freiburg i. Br., † 11.4.1853 München – Lyriker, Novellist u. Sagensammler. Der Sohn des Freiburger Stadtdirektors u. Redakteurs der »Freiburger Zeitung«, der mit Johann Georg Jacobi, Johann Peter Hebel u. Gottlieb Konrad Pfeffel befreundet war, genoss eine sorgfältige Erziehung im geselligen Elternhaus. Auch sein Vetter J. Adolf Henne förderte S.s literar. Interessen. Nach dem Studium der Philosophie u. Philologie in Freiburg u. München (dort vornehmlich bei
Lorenz Oken) arbeitete S. 1833–1838 als Postbeamter; er musste jedoch wegen »Unterschlagung und Dienst-Eidesbruch« den badischen Staatsdienst quittieren u. versuchte sich als freier Schriftsteller u. Journalist. Gemeinsam mit Ferdinand Freiligrath u. Ignaz Hub gab er den Musenalmanach »Rheinisches Odeon« heraus (Düsseld./Koblenz 1836–42, ab Jg. 3 allein mit Hub). Zudem arbeitete er maßgeblich mit an der Mainzer Faschingszeitung »Narhalla« u. gab 1842–1848 in Darmstadt das Unterhaltungsblatt »Gutenberg« heraus. Nachdem ihm seine Sympathie für die 48er-Revolution (u. a. Nachruf auf Robert Blum [»Seinen Manen«. Ffm. 1848]) die Leitung des »Badischen Merkur« in Mannheim, aber auch eine Haftstrafe eingebracht hatte, versuchte er sich als Redakteur weiterer Zeitungen in Landau (»Pfälzer Zeitung«) u. München (»Münchener Tagblatt«), wo er starb. S.s aufgeklärter Katholizismus, seine Heimatliebe u. seine journalistische Begabung prägen sein Werk. Populär war vor allem S.s Lyrik, wie die Aufnahme in »Meyer’s Groschen-Bibliothek der Deutschen Classiker« (Bd. 264 [um 1850]) zeigt. Unter den Gedichten (Mchn. 1833. Karlsr. 1846. 1852) des GoetheVerehrers (»Zu Göthes Totenfeier. Den Freunden August und Adolf Stöber gewidmet«) ragen neben den magisch-myth. Balladen Ortsgedichte heraus wie »An den Rheinfall zu Schaffhausen (1829)« oder der Johann Peter Hebel huldigende Kleinzyklus »Feldberger-Rosen«. Sie sind eng verbunden mit S.s Sammlungen von Orts- u. Landschaftssagen. Das Badische Sagen-Buch (2 Bde., Karlsr. 1846), das Prosa-Anekdoten u. Verssagen, Altbekanntes u. »Original-Mittheilungen«, Minderdichter u. namhafte Dichter wie Hebel, Heinrich Schreiber, Tieck u. Wessenberg vereint, soll, wie die Widmung an Großherzog Leopold I. von Baden zeigt, die regionale Identität stärken. Aurelia’s Zauber-Kreis (Karlsr. [1846]) enthält »die schönsten Geschichten, Sagen und Legenden der Stadt Baden und ihrer nachbarlichen Thäler und Bergschlösser«. Zu den Beiträgern der nach Landschaften um Baden-Baden geordneten Abteilungen zählen Aloys u. Hyppolit Schreiber, Eduard Brauer, Ignaz Hub u. S. selbst, dessen
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»Romanzen vom Mummelsee« (S. 259–281) einen Höhepunkt der Sammlung darstellen. S.s unselbstständig erschienene Erzählungen u. frühe Schauspiele (u. a. Quentin Messis. In: Henne: Schweizerblätter 1, 1832) sind bis heute nicht einmal bibliografisch erfasst. Weitere Werke: Anton Schlude, nach und nach Gänsehirt, Spielmann, Maulwurfsfänger u. Nachtwächter, halbblind, taub u. – Dichter. Eine biogr. Skizze nebst einer Auswal von dessen Gedichten [Schlude: Gedichte], zum Besten des Unglücklichen. Straßb. 1839. – Neunzehnhundertneunundneunzig. In: Mitternachtsztg. für gebildete Leser. Braunschw. 1840 (Lustsp.). – Die Badische Kammer. Eine Slg. der gediegensten Reden u. Vorträge aus den Verhandlungen der Badischen Landstände der Ersten u. Zweiten Kammer. Von 1819 bis auf die Gegenwart. Karlsr. 1847. Literatur: Joseph Kehrein: Biogr.-literar. Lexikon der kath. dt. Dichter, Volks- u. Jugendschriftsteller im 19. Jh. Bd. 2, Zürich u. a. 1871. – Franz Brümmer: A. S. In: ADB. Achim Aurnhammer
Schnitzler, Arthur, * 15.5.1862 Wien, † 21.10.1931 Wien; Grabstätte: ebd., Zentralfriedhof, Israelitische Abteilung. – Erzähler, Dramatiker. S. war das erste von vier Kindern (der zweitgeborene Sohn starb bereits zwei Monate nach der Geburt) des Kehlkopfspezialisten Johann Schnitzler. Dieser, ein Kind aus jüd. Handwerkerfamilie, war als Student aus einer ungarischen Kleinstadt nach Wien gekommen u. hatte es zu hohem gesellschaftl. Ansehen gebracht. S.s Mutter Louise, geb. Markbreiter, war die Tochter eines prakt. Arztes. In seiner Fragment gebliebenen Autobiografie (postum u. d. T. Jugend in Wien. Hg. Therese Nickl u. Heinrich Schnitzler. Wien/Mchn./Zürich 1968) beschreibt S., wie ihm durch die Wohnung seiner Großeltern mütterlicherseits im Gebäude des Carltheaters die allerfrühesten Eindrücke aus der Theaterwelt vermittelt wurden. S. besuchte 1871–1879 das Akademische Gymnasium u. entschied sich dann für das Medizinstudium (Promotion 1885). 1885–1888 war er Assistent u. Sekundararzt im Wiener Allgemeinen Krankenhaus (u. a. bei Theodor Meynert, einem Lehrer Sigmund Freuds), 1888–1893 Assistent des Vaters an
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der Poliklinik. Nach dem Tod des Vaters 1893 unterhielt er eine Privatpraxis, die mit zunehmender literar. Tätigkeit immer mehr eingeschränkt wurde. Allerdings: »Wer je Mediziner war, kann nie aufhören, es zu sein. Denn Medizin ist eine Weltanschauung« (zitiert nach Olga Schnitzler: Spiegelbild der Freundschaft. Salzb. 1962, S. 53). Als Redakteur der medizinischen Wochenschrift seines Vaters, »Internationale Klinische Rundschau«, verfasste S. eine Vielzahl von Beiträgen, in der Hauptsache Rezensionen u. Kongressberichte (Die medizinischen Schriften. Hg. Horst Thomé. Wien/Darmst. 1988). Seine erste literar. Veröffentlichung war Liebeslied der Ballerine in der Zeitschrift »Der freie Landesbote« (Mchn. 1880). Seit 1886 publizierte er regelmäßig Gedichte, Prosaskizzen u. Aphorismen in literar. Zeitschriften (»Deutsche Wochenschrift«, »An der schönen blauen Donau«, »Moderne Dichtung«). 1892 (vordatiert auf 1893) erschien in Berlin S.s Einakterreihe Anatol mit einem Prolog Hofmannsthals. In ihr waren sowohl Schwankelemente nach frz. Mustern verarbeitet (Abschiedssouper, Anatols Hochzeitsmorgen) als auch S.s intensive Erfahrungen mit Hypnose u. Suggestion (Die Frage an das Schicksal). In dem bereits in der Weihnachtsausgabe 1891 der »Frankfurter Zeitung« erstmals abgedruckten Dialog Weihnachtseinkäufe ist die Charakterisierung Anatols als eines »leichtsinnigen Melancholikers« bes. deutlich. 1895 wurde am Hofburgtheater Wien S.s Schauspiel Liebelei uraufgeführt, das einerseits die Tradition des bürgerl. Trauerspiels fortführte, andererseits aber damit Skandal erregte, dass erstmals eine leidenschaftl. Liebesgeschichte zwischen einem »süßen Mädel« aus der Wiener Vorstadt u. einem wohlhabenden jungen Herrn auf die Bühne gebracht wurde. Im selben Jahr erschien S.s Novelle Sterben als erstes seiner Bücher im S. Fischer Verlag Berlin, dem er von da an bis auf wenige Ausnahmen mit seinem Gesamtwerk treu blieb. In seiner 1901 in Berlin erschienenen Novelle Lieutenant Gustl wandte S. erstmals konsequent das Stilmittel des inneren Mo-
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nologs an. Der ungehemmte Assoziationsfluss enthüllt dabei die Zweifelhaftigkeit des militärischen Ehrenkodex. Die Publikation hatte eine öffentl. Diskussion zur Folge, was schließlich dazu führte, dass ein Ehrengericht S. seinen Rang als Reserveoffizier aberkannte. 1903 erschien in Wien die 1896/97 entstandene Szenenreihe Reigen über Egoismus u. Kälte in sexuellen Beziehungen. Bis dahin lag lediglich ein Privatdruck vor, das Buch wurde bereits kurz darauf in Deutschland verboten. Lange widersetzte sich S. allen Anfragen um das Aufführungsrecht des Stückes, die Uraufführung kam erst 1920 in Berlin zustande. Nach Saalschlachten u. organisierten Skandalen in Berlin u. Wien sowie nach einem Prozess, in dem sich Schauspieler u. Direktion des Kleinen Schauspielhauses Berlin wegen Erregung öffentl. Ärgernisses verantworten mussten, sperrte der Autor das Stück für jede weitere Aufführung, eine Sperre, die bis 1981 aufrecht blieb u. in dieser Zeit nur durch Verfilmungen, eine Schallplattenaufnahme u. szen. Lesungen umgangen wurde. Mit dem 1904 in Berlin erschienenen Schauspiel Der einsame Weg u. der am 14.10.1911 zgl. an neun namhaften Bühnen des dt. Sprachraums uraufgeführten Tragikomödie Das weite Land (Bln. 1911) stand S. auf dem Zenit seines öffentl. Ansehens. In beiden Stücken wird die Komplexität von Gefühlen u. Beziehungen in den Mittelpunkt gerückt; der Dialog zeichnet sich durch einen Reichtum an Zwischentönen aus, der bisweilen mit Tschechow verglichen wurde (bemerkenswert, dass man 1903, neun Jahre vor Erscheinen einer dt. Gesamtausgabe von S.s Werken, bereits eine russ. Werkausgabe begann). In den 1890er Jahren hatte S. Kontakt zu Theodor Herzl, stand aber dem Zionismus ablehnend gegenüber. In seinem Künstler- u. Gesellschaftsroman Der Weg ins Freie (Bln. 1908) gestaltete er auch das Dilemma des assimilierten österr. Juden, dem von seiner nichtjüd. Umwelt das volle Heimatrecht verweigert wird. 1912 fand in Berlin die Uraufführung von Professor Bernhardi statt. Als Anregung zu diesem Stück, das antisemitische Intrigen u. parteipolit. Machenschaften rund
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um den Leiter einer Krankenanstalt behandelt, hatten S. Erfahrungen seines Vaters als Gründer u. Leiter der Allgemeinen Wiener Poliklinik gedient. In Österreich konnte das von S. als Komödie bezeichnete Stück erst 1918 aufgeführt werden, da die Zensurbehörden der österr. Monarchie ihre Bewilligung stets verweigert hatten. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs zählte S. zu den wenigen Schriftstellern, die sich nicht von der Welle der Kriegsbegeisterung mitreißen ließen. Er sah vielmehr in der Fantasielosigkeit der Verantwortlichen, die sich das Ausmaß der Leiden nicht vorzustellen vermochten, eine der Hauptursachen des Kriegs. Viele seiner scharfen Verurteilungen von Politikern u. Diplomaten sind in jenen Aufzeichnungen formuliert, die postum u. d. T. Über Krieg und Frieden (Stockholm 1939) erschienen. In den 1920er Jahren galt S. vielfach als Dichter einer versunkenen Welt, wurde eher als histor. Figur denn als Zeitgenosse angesehen, wenngleich es an äußeren Ehrungen nicht mangelte. Seine Dramen wurden weniger aufgeführt, u. der einzige größere Bucherfolg war die ähnlich wie Lieutenant Gustl als durchgehender innerer Monolog gestaltete Erzählung Fräulein Else (Bln./Wien/Lpz. 1924). In der Inflationszeit nach 1921 war das Interesse internat. Filmfirmen an seinen Stoffen für S. wichtig (schon 1914 war in Dänemark Liebelei verfilmt worden, nun kamen sechs weitere Verfilmungen seiner Werke zustande). S.s Interesse an dem neuen Medium war so stark, dass er selbst Drehbuchentwürfe verfasste u. dabei weitestgehenden Verzicht auf die bei Stummfilmen übl. Zwischentitel anstrebte. Der Roman Therese. Chronik eines Frauenlebens (Bln. 1928) nimmt einen Stoff wieder auf, der 1899 in der Novelle Der Sohn verarbeitet worden war. In trocken berichtendem Tonfall wird der Leidensweg einer vom Leben benachteiligten Frau geschildert, u. S.s Augenmerk richtet sich dabei auf die sozialen Bedingungen dieser Biografie. 1931 erschien die bereits 14 Jahre zuvor abgeschlossene Erzählung Flucht in die Finsternis (Bln.). Diese letzte zu Lebzeiten publizierte Arbeit hat ebenso wie S.s erstes Novellenbuch (Sterben. Bln.
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1895) eine Krankengeschichte zum Inhalt; hier wird der allmähl. Verlauf eines Verfolgungswahns bis zur psychot. Reaktion beschrieben. Die 1927 nach einem zehn Jahre zuvor notierten Einfall entstandene Erzählung Ich (erstmals in: Almanach des S. Fischer Verlags. Ffm. 1968) handelt ebenfalls von einer psych. Einengung: Einem ordentl. Handelsangestellten kommt das Zutrauen in die Verlässlichkeit aller Bezeichnungen immer mehr abhanden. Von seinem 17. Lebensjahr bis zu seinem Tod führte S. ein ausführl. Tagebuch, dessen Geschlossenheit u. Kontinuität über mehr als 50 Jahre herausragend sind. Das etwa 8000 Seiten umfassende Manuskript in S.s schwer zu entziffernder Handschrift, das im Testament mit detaillierten Verfügungen bedacht worden war, wurde 1981–2000 in zehn Bänden ediert. Es zeigt S. als unbestechl. Beobachter histor. u. kultureller Entwicklungen, ist Werkstattbericht u. Chronik zahlloser Begegnungen, Reisebuch u. Dokumentation der Träume. S.s lebenslange starke Beziehung zur Musik ist festgehalten, die Fatalität einer Ohrenerkrankung, die mit dem 34. Lebensjahr einsetzte u. zu zunehmender Schwerhörigkeit führte, seine Lektüre u. die Vielzahl von Theater- u. Kinobesuchen. Es ist der mit aller Energie betriebene Versuch, das eigene Leben zu protokollieren u. für eine Nachwelt aufzubewahren (»als könnt es mich von der quälenden innern Einsamkeit befreien, wenn ich – jenseits meines Grabs Freunde wüßte«, Tagebuch, 22.8.1918). Das Interesse für S. war in den 60 Jahren seit seinem Tod mehrfachem Wandel unterworfen. Geriet er zunächst immer mehr in Vergessenheit (was mit dem Verbot seiner Werke durch die Nationalsozialisten noch beschleunigt wurde), so wurde er nach dem Zweiten Weltkrieg neu entdeckt. Er war Gegenstand wissenschaftl. Symposien in Italien u. Frankreich; neben der neuen dt. Werkausgabe erschien auch eine italienische. In den letzten Jahren nehmen sich engagierte jüngere Theaterleute in steigendem Maß seiner Stücke an, sein präziser psycholog. Blick, sein Skeptizismus u. seine Sprachmeisterschaft finden Beachtung. Jean Améry hat auf S. als großen Moralisten hingewiesen,
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dessen Werk als Komplement zu Robert Musil u. Karl Kraus gelesen werden sollte, u. S.s Maxime »Tiefsinn hat nie ein Ding erhellt, Klarsinn schaut tiefer in die Welt« (Motto des Buchs der Sprüche und Bedenken. Wien 1927) hervorgehoben. S.s Stimme ist in einem Phonogramm von 1907 erhalten, veröffentlicht auf der CD A. S. und Schriftsteller seiner Zeit (ÖAW PHA CD 4, Wien 1997). Die einzige erhaltene Filmaufnahme zeigt S. bei der Ankunft auf dem Stockholmer Bahnhof anlässlich einer Lesereise 1923 (http://www.youtube.com/ watch?v=Yl7r1nwmK0k). Eine von S.s Kompositionen, der Liebelei-Walzer, wurde von S.s Enkel, dem Violinisten Michael Schnitzler, in Trio-Besetzung auf CD eingespielt (Encores from Vienna. Arabesque Recordings New York 1995). Weitere Werke: Ausgaben: Ges. Werke in zwei Abt.en. Bln. 1912. – Die erzählenden Schr.en. 2 Bde., Ffm. 1961. – Die dramat. Werke. 2 Bde., Ffm. 1962. – Aphorismen u. Betrachtungen. Hg. Robert O. Weiss. Ffm. 1967. – Frühe Gedichte. Hg. Herbert Lederer. Bln. 1969. – Einzeltitel: Das Märchen. Dresden/Lpz. 1894 (D.). – Freiwild. Bln. 1898 (D.). – Die Frau des Weisen. Bln. 1898 (E.en). – Das Vermächtnis. Bln. 1899 (D.). – Der grüne Kakadu, Paracelsus, Die Gefährtin. Bln. 1899 (Dramen). – Der Schleier der Beatrice. Bln. 1901 (D.). – Frau Berta Garlan. Bln. 1901 (E.). – Lebendige Stunden. Bln. 1902 (Dramen). – Die griech. Tänzerin. Wien 1905 (E.en). – Zwischenspiel. Bln. 1906 (D.). – Der Ruf des Lebens. Bln. 1906 (D.). – Marionetten. Bln. 1906 (Dramen). – Dämmerseelen. Bln. 1907 (E.en). – Komtesse Mizzi oder Der Familientag. Bln. 1909 (D.). – Der tapfere Kassian. Lpz./Wien 1909 (Singsp.). – Der junge Medardus. Bln. 1910 (D.). – Der Schleier der Pierrette. Wien/Lpz. 1910 (Pantomime). – Masken u. Wunder. Bln. 1912 (E.en). – Frau Beate u. ihr Sohn. Bln. 1913 (E.). – Komödie der Worte. Bln. 1915 (Dramen). – Doktor Gräsler, Badearzt. Bln. 1917 (E.). – Fink u. Fliederbusch. Bln. 1917 (D.). – Casanovas Heimfahrt. Bln. 1918 (E.). – Die Schwestern oder Casanova in Spa. Bln. 1919 (D.). – Komödie der Verführung. Bln. 1924 (D.). – Die dreifache Warnung. Lpz. 1924 (E.en). – Die Frau des Richters. Bln. 1925 (E.). – Der Gang zum Weiher. Bln. 1926 (D.). – Die Traumnovelle. Bln. 1926. – Spiel im Morgengrauen. Bln. 1927 (E.). – Der Geist im Wort u. Der Geist in der Tat. Bln. 1927 (philosoph. Diagramme). – Im Spiel der Sommerlüfte. Bln. 1930 (D.). – Das Wort. Hg. Kurt
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Bergel. Ffm. 1966 (D.). – Zug der Schatten. Hg. Françoise Derré. Ffm. 1970 (D.). – Ritterlichkeit. Hg. Rena R. Schlein. Bonn 1975 (dramat. Fragment). – Entworfenes u. Verworfenes. Hg. Reinhard Urbach. Ffm. 1977. – Ein Liebesreigen. Die Urfassung des ›Reigen‹. Hg. Gabriella Rovagnati. Ffm. 2004. – Tagebuch: Hg. Kommission für literar. Gebrauchsformen der Österr. Akademie der Wiss.en. Tgb. 1909–12. Wien 1981. – Tgb. 1913–16. Wien 1983. – Tgb. 1917–19. Wien 1985. – Tgb. 1879–92. Wien 1987. – Tgb. 1893–1902. Wien 1989. – Tgb. 1903–08. Wien 1991. – Tgb. 1920–22. Wien 1993. – Tgb. 1923–26. Wien 1995. – Tgb. 1927–30. Wien 1997. – Tgb. 1931, Gesamtverzeichnisse 1879–1931. Wien 2000. – Briefausgaben: Briefe 1875–1912. Hg. Therese Nickl u. Heinrich Schnitzler. Ffm. 1981. – Briefe 1913–31. Hg. Peter Michael Braunwarth, Richard Miklin, Susanne Pertlik u. H. Schnitzler. Ffm. 1984. – Briefwechsel mit: Otto Brahm. Hg. Oskar Seidlin. Bln. 1953. – Georg Brandes. Hg. Kurt Bergel. Bern 1956. – Hugo v. Hofmannsthal. Hg. T. Nickl u. H. Schnitzler. Ffm. 1964. – Olga Waissnix: Liebe, die starb vor der Zeit. Hg. dies.n. Wien/Mchn./Zürich 1970. – Max Reinhardt u. dessen Mitarbeitern. Hg. Renate Wagner. Salzb. 1971. – The Correspondence of A. S. and Raoul Auernheimer with Raoul Auernheimer’s Aphorisms. Hg. Donald G. Daviau u. Jorun B. Johns. Chapel Hill 1972. – Adele Sandrock: Dilly. Gesch. einer Liebe in Briefen, Bildern u. Dokumenten. Hg. R. Wagner. Wien/Mchn. 1975. – The Letters of A. S. to Hermann Bahr. Hg. D. G. Daviau. Chapel Hill 1978. – Hedy Kempny: Das Mädchen mit den dreizehn Seelen. Briefe u. Tagebuchbl. Hg. Heinz P. Adamek. Reinb. 1984. – Stefan Zweig: Briefw. mit Hermann Bahr, Sigmund Freud, Rainer Maria Rilke u. A. S. Hg. Jeffrey B. Berlin, HansUlrich Lindken u. Donald A. Prater. Ffm. 1987. – Richard Beer-Hofmann. Hg. Konstanze Fliedl. Wien/Zürich 1992.
ner: A. S. Eine Biogr. Wien u. a. 1981. – Heinrich Schnitzler, Christian Brandstätter u. Reinhard Urbach (Hg.): A. S. Sein Leben. Sein Werk. Seine Zeit. Ffm. 1981. – Ulrich Weinzierl: A. S. Lieben. Träumen. Sterben. Ffm. 1994. – Giuseppe Farese: A. S. Ein Leben in Wien 1862–1931. Mchn. 1999. – R. Wagner: Wie ein weites Land. A. S. u. seine Zeit. Wien 2006. – Konstanze Fliedl: A. S. In: NDB. – Weitere Titel: Theodor Reik: A. S. als Psycholog. Minden 1913. – Josef Körner: A. S.s Gestalten u. Probleme. Zürich/Lpz./Wien 1921. – Richard Specht: A. S. Der Dichter u. sein Werk. Berlin 1922. – Ernst Jandl: Die Novellen A. S.s. Diss. Wien 1950. – Martin Swales: A. S. A critical study. Oxford 1971. – R. Urbach: S.-Komm. zu den erzählenden Schr.en u. dramat. Werken. Mchn. 1974. – Rolf-Peter Janz u. Klaus Laermann: A. S. Zur Diagnose des Wiener Bürgertums im Fin de siècle. Stgt. 1977. – Barbara Gutt: Emanzipation bei A. S. Bln. 1978. – A. S. in neuer Sicht. Hg. H. Scheible. Mchn. 1981. – HansUlrich Lindken: A. S. Aspekte u. Akzente. Ffm. u. a. 1984. – Valeria Hinck: Träume bei A. S. Köln. 1986. – Irène Lindgren: A. S. im Lichte seiner Briefe u. Tagebücher. Heidelb. 1993. – K. Fliedl: A. S. Poetik der Erinnerung. Wien/Köln/Weimar 1997. – Bettina Riedmann: ›Ich bin Jude, Österreicher, Deutscher‹. Judentum in A. S.s Tagebüchern u. Briefen. Tüb. 2002. – A. S. Zeitgenossenschaften/Contemporaneities. Hg. Ian Foster u. Florian Krobb. Bern u. a. 2002. – I. Lindgren: ›Seh’n Sie, das Berühmtwerden ist doch nicht so leicht!‹ A. S. über sein literar. Schaffen. Ffm. u. a. 2002. – A. S. im zwanzigsten Jh. Hg. K. Fliedl. Wien 2003. – K. Fliedl: A. S. Stgt. 2005. – Die Tatsachen der Seele. A. S. u. der Film. Hg. Thomas Ballhausen, Barbara Eichinger, Karin Moser u. Frank Stern. Wien 2006. – Nikolaj Beier: ›Vor allem bin ich ich ...‹. Judentum, Akkulturation u. Antisemitismus in A. S.s Leben u. Werk. Gött. 2008. Peter Michael Braunwarth
Literatur: Bibliografien: Richard H. Allen: An annotated A. S. Bibliography. Editions and Criticism in German, French and English. 1897–1965. Chapel Hill 1966. – Gerhard Neumann u. Jutta Müller: Der Nachl. A. S.s. Mchn. 1969. – Giuseppe Farese: A. S. alla luce della critica recente (1966–1970). In: Studi Germanici 9 (1971), H. 1–2, S. 234–268. – Herbert Seidler: Die Forsch. zu A. S. seit 1945. In: ZfdPh 95 (1976), H. 4, S. 567–595. – Jeffrey B. Berlin: An annotated A. S. Bibliography 1965–77. Mchn. 1978. – Ders.: A. S. Bibliography for 1977–1981. In: MAL 15 (1982), Nr. 1, S. 61–83. – Michaela L. Perlmann: A. S. Stgt. 1987. – Biografisches: Hartmut Scheible: A. S. in Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten. Reinb. 1976. – Renate Wag-
Schnog, Karl, auch: Carl Coblentz, Anton Emerenzer, Ernst Huth, Kornschlag, Tom Palmer, Charlie vom Thurm, * 14.6.1897 Köln, † 23.8.1964 Berlin. – Lyriker, Dramatiker, Hörspielautor, Erzähler, Publizist, Kabarettist. Der Sohn eines Handwerkers war nach einer kaufmänn. Lehre Soldat im Ersten Weltkrieg. Danach nahm er Sprach- u. Schauspielunterricht u. war in den 1920er Jahren sechs Jahre als Schauspieler u. Regisseur an literar. Kabaretts in Berlin u. in der Provinz (z.T. zusammen mit Erich Weinert), ab 1927 am
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Rundfunk u. als Mitarbeiter der satir., SPD- Schnurr, Balthasar, auch (anagrammanahen Zeitschrift »Lachen links« tätig. S. tisch): Lazarus Sandrub, * 25.2.1572 musste 1933 in die Schweiz u. nach Luxem- Lendsiedel/Württemberg, † Nov. 1644 burg emigrieren, wo er 1940 verhaftet u. Hengstfeld bei Crailsheim. – Schriftsteller dann fünf Jahre in den Konzentrationslagern u. Übersetzer. Dachau, Sachsenhausen u. Buchenwald festgehalten wurde. Nach 1945 war er zunächst Der Pfarrerssohn besuchte die Schule in Mitarbeiter am UNO-Sender in Luxemburg, Schwäbisch-Hall, die Universitäten in Tü1946 Chefredakteur der satir. Zeitschrift bingen (?) u. Jena (1589) u. wirkte dann als »Ulenspiegel« in Berlin, 1948–1951 Rund- Pfarrer in Fröhstockheim bei Kitzingen, in funkredakteur, danach freier Schriftsteller. S. Hornberg, seit 1604 in Amlishagen/Hohenengagierte sich publizistisch u. kabarettis- lohe u. Hengstfeld (seit 1619). Neben Kasutisch für die polit. Linke, kritisierte in witzi- algedichten u. Kirchenliedern schrieb er gen u. satir. Gedichten die polit. Verhältnisse lehrhafte Dramen, z.T. in Übersetzungen von der Weimarer Republik, thematisierte die Stücken des Niederländers Cornelius SchonExistenz im Exil u. griff den Nationalsozia- aeus. Das verbreitete Interesse an anekdot. u. lismus an (Gezumbel. Bln. 1925. Zeitgedichte – fabulöser Unterhaltungsliteratur befriedigte Zeitgeschichte 1925–1950. Mit Vorw. von Arnold S. mit den pseudonym herausgegebenen DeZweig. Bln. 1946). Er gehörte zu den Pionie- litiae historicae et poeticae, das ist: Historische ren des Hörspiels in den 1920er Jahren u. unnd Poetische Kurtzweil (Ffm. 1618. Hg. Gusbeeinflusste die Entwicklung des satirisch- tav Milchsack. Halle 1878). Nach einer älteren humorvollen modernen Volksstücks, bes. in Bearbeitung von Hans Christoph Fuchs Zusammenarbeit mit Hans Reimann (So geht (1580) übertrug S. ein namhaftes Werk der es bei wilden Völkern zu. Hörsp. 1928. Das Ge- makkaron. Literatur ins Deutsche: Theofilo witter. Hörsp. 1930. Die Perle von Savoyen. Folengos Moscheis u. d. T. Ein schönes Gedicht Volksstück-Parodie 1929. Minna Priesnitz. Der Ameisen unnd Mucken-Krieg (Straßb. 1612. 1930). S. verfasste einen utop. Roman in frz. Hg. Johann Gustav Büsching. Lpz. 1806). Sprache (La Grande Compagnie de Colonisation. Probleme der alltägl. Lebenspraxis behanLuxemburg 1939), eine von Paul Hindemith delten S.s meistgedruckte Werke, die zum vertonte Kantate (Sechs Knaben-Chorlieder. Typus der sog. Hausbücher gehörten: Kunst 1930), einen autobiogr. Bericht (Unbekanntes und Wunderbüchlein Darinnen allerhand nützliche KZ. Luxemburg 1945) u. eine Charlie-Chap/ und zu einer wolbestellten Haushaltung [...] gelin-Biografie (Bln. 1960). hörige Sachen [...] begriffen (Ffm. 1614. ZahlreiWeitere Werke: Die Kehrseite. 1929 (Hörsp.). – che, teilweise überarb. Neudrucke bis 1690) Herr Keinezeit. 1930 (Hörsp.). – Kinnhaken. Lusowie dazu als Ergänzung: Calendariolum xemburg 1934 (L.). – Der Friede siegt. Basel 1938 Oeconomicum et perpetuum: Das ist / Ein immer(Hörsp.). – Weltwochenschau. Ebd. 1939 (L.). währendes / sehr nützliches / auch nötiges CalenLiteratur: Carlo Sowa: K. S. Ein dt. Satiriker in Luxemburg. In: Galerie 7(1989), H. 1, S. 109–122. – derlein und Haußbuch (Hanau 1619). Marc Hessel: Ein dt. Exilautor in Luxemburg. In: Les Cahiers Luxembourgeois 36 (1989), H. 2, S. 27–34. – Volker Kühn: K. S. In: NDB. – Christiane Nowak: ›Das Wichtigste ist aber wohl das Erfassen der Aktualität, der Witz des Tages‹. K. S. (1897 bis 1964) u. die Berliner Zerstreuungskultur der zwanziger Jahre. In: Dt. Lied. Tl. 1: Von den Hymnen bis zum Baum der Schmerzen. Hg. Gregor Ackermann. Bielef. 2007, S. 137–151. Christian Schwarz / Red.
Weitere Werke: Ein schönes Lehr- u. Trostreich Spil. Darinnen v. dem Zustand unserer ersten Eltern [...] gehandelt wird. Nürnb. 1597. – Schatzkammer menschl. Gesundheit. Ffm. 1611. – Reimen Gebetlein. Straßb. 1615. – Geistl. Schatzkämmerlein. Ffm. 1619. – Odarum Sacrarum Decas Prima. Rothenburg/T. 1621. – Acrosticha Sacra. Ebd. 1625. – Hortuli Amoeni [...] floridis Historicis et Poeticis conspicuis et redolentibus referti. Ebd. 1636. – Dass. Centuria Secunda. Ebd. 1637. – Übersetzungen: C. Schonaeus: Terentius Christianus [...]. o. O. u. J. [um 1600]. – Ders: Triumphus Christi [...]. Ffm. 1607. – Ders.: Pseudostratiotae,
513 Das ist: Die vermeynten Landtsknecht [...]. Ffm. 1607. Literatur: Bibliografien: VD 16. – VD 17. – Weitere Titiel: v. Waldberg: B. S. In: ADB. – Kurt Schreinert: Wer war Lazarus Sandrub? In: Gedenkschr. für Ferdinand Josef Schneider. Hg. Karl Bischoff. Weimar 1956, S. 6–23. – Ute Merkel: Pharmazie im frühneuzeitl. Hausbuch. Studien zu B. S. Diss. rer. nat. (masch.). Heidelb. 2000 ( mit komplettem Verz. der Werke u. Briefe). – Thorsten Unger: Von der Heilkraft des Lachens u. vom antiklerikalen Galgenhumor in Lazarus Sandrubs Schwanksammlung ›Delitiae Historicae et poeticae‹ (1618). In: Anthropologie u. Medialität des Komischen im 17. Jh. (1580–1730). Hg. Stefanie Arend, Thomas Borgstedt u. a. Amsterd./New York 2008, S. 273- 293. – Flood, Poets Laureate, Bd. 4, S. 1867–1869. Wilhelm Kühlmann
Schnurre, Wolfdietrich, * 22.8.1920 Frankfurt/M., † 9.6.1989 Kiel; Grabstätte: Berlin, Waldfriedhof. – Erzähler, Lyriker, Hörspiel-, Drehbuch- u. Kinderbuchautor. S., Sohn eines Bibliothekars u. Naturwissenschaftlers, wuchs in Berlin auf. Die Stadt u. ihr Dialekt prägten sein Werk. Nach dem Abitur wurde S. Soldat, war mehrfach inhaftiert u. wurde zuletzt, wegen eines Fluchtversuchs, in eine Strafkompanie versetzt. Nach dem Krieg arbeitete S. zunächst als Redaktionsvolontär, dann als fester Mitarbeiter für Zeitschriften, schrieb Buchrezensionen, Film- u. Theaterkritiken. Seit 1950 lebte er als freier Schriftsteller u. war journalistisch für Printmedien u. Funk tätig. Seine höchste Auszeichnung war der Georg-Büchner-Preis (1983). S. begann mit Kurzgeschichten. Er war Mitbegründer der Gruppe 47 u. eröffnete deren erste Lesung mit seiner Erzählung Das Begräbnis (in: Man sollte dagegen sein. Olten/ Freib. i. Br. 1960). Von Anfang an griff er mit Streitschriften u. Polemiken in literar. u. polit. Debatten ein. Aus Protest gegen den Bau der Mauer u. die abwartende Haltung des bundesrepublikan. P.E.N.-Zentrums trat er 1962 aus dem P.E.N. aus, im selben Jahr veröffentlichte er zwei Dokumentationen über die Teilung Berlins. 1963 wurde ihm die Mitarbeit als Kommentator beim WDR un-
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tersagt. 1964 erkrankte S. an Polyneuritis. Nach langsamer Genesung nahm er das Schreiben wieder auf u. verfasste Kinderbücher; die journalistische Arbeit trat in den Hintergrund. Seit Anfang der 1980er Jahre lebte S. auf dem Land in Norddeutschland. Zwischen 1945 u. 1972 hat er mehr Bücher veröffentlicht als jeder andere deutschsprachige Schriftsteller. Positives Echo wechselte mit Kritik an dem Unterhaltungsschriftsteller S. Seine letzten Bücher wurden unterschätzt. Stilbildend wirkte S. in den Nachkriegsjahren ähnlich wie Heinrich Böll, Wolfgang Borchert oder Wolfgang Weyrauch an der Erneuerung der Sprache mit: »Zerbrecht eure Reime / zerreißt eure Verse / sagt nackt was ihr müßt.« S. hat in vielen literar. Genres gearbeitet u. sich nach angelsächs. Vorbild bewusst auch der Gebrauchsliteratur in Texten wie Schnurre heiter (Olten/Freib. i. Br. 1970) zugewandt u. für verschiedene Medien gearbeitet. Die größte Bedeutung kommt seiner Prosa zu. Er ist ein Meister der kleinen Form, von Kurzgeschichte, Erzählung, Parabel, Satire, Aphorismus. Das beherrschende Thema ist: »die Endlichkeit. Und: Was sich abspielt vor ihr« (in: Schattenfotograf. Mchn. 1978. Neuausg. Mchn. 1994. Bln. 2010). Ausgangspunkte seines Schreibens sind die Erfahrungen der Kindheit im halbproletar. Milieu Berlins u. die erzwungene Teilnahme am Krieg. Hinzu kommt eine andauernde Beunruhigung über die Schuld bes. gegenüber Juden u. die Unfähigkeit zur Sühne. S. nannte sich selbst einen engagierten Autor nicht aus parteipolit., sondern aus moralischen Gründen. Lakonie, eine genaue, alltagsnahe Sprache u. Verzicht auf Aussage kennzeichnen die ersten Kurzgeschichten, veröffentlicht in den Bänden Die Rohrdommel ruft jeden Tag (Witten/ Bln. 1950), Eine Rechnung, die nicht aufgeht (Olten/Freib. i. Br. 1958) u. Man sollte dagegen sein. S. schildert vom Krieg Gezeichnete, schuldlos schuldig Gewordene u. Verweigerer. Setzte er sich in Man sollte dagegen sein auch satirisch mit der Nachkriegsgesellschaft auseinander, so rechnete er in der Aphorismensammlung Sternstaub und Sänfte. Aufzeichnungen des Pudels Ali (Mchn. 1953. Neuaufl. u. d. T. Die Aufzeichnungen des Pudels Ali. Olten/
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Freib. i. Br. 1962. Ffm. 1993) ironisch mit dem nichtengagierten Künstler, der Arroganz des Literaturbetriebs u. den Verdrängungen der Adenauerzeit ab. Das Buch war auch bei der Kritik sehr erfolgreich. Mit dem »Roman in Geschichten« Als Vaters Bart noch rot war (Zürich 1958. Neuausg. Bln. 1996. 2008) greift S. Begebenheiten aus der Zeit seiner Kindheit auf. Komische u. skurrile Geschichten von Vater u. Sohn aus dem Berliner Kleine-Leute-Milieu u. Naturbeobachtungen wechseln einander ab. Ein Höhepunkt im literar. Schaffen S.s ist das Buch Der Schattenfotograf. Thematisch kann es als Summe des bis dahin Veröffentlichten angesehen werden. S. notiert im Duktus des Tagebuchs, in Aphorismen, Reflexionen u. Geschichten Kindheits- u. Kriegserinnerungen, »Anmerkungen über das Sterben«, Leseeindrücke, Gedanken über die jüd. Religion, Thesen über das Schreiben, literar. Entwürfe. Die Selbstbefragung des Autors bildet das Zentrum dieser Aufzeichnungen. Nach vielen Vorarbeiten veröffentlichte S. seinen einzigen Roman, Ein Unglücksfall (Mchn. 1981). Beim Wiederaufbau einer Berliner Synagoge begegnen sich der nichtjüd. Glaser Karl Goschnik u. ein Rabbiner; Goschnik stürzt vom Baugerüst. Auf zwei Ebenen, in den Erinnerungen des Glasers an die Zeit des Nationalsozialismus u. im Bericht des Rabbiners über Goschniks Unfall u. Tod, entwickelt S. in eindrucksvollen Szenen u. Dialogen ein Memento von Schuld u. Verantwortung. S.s Gedichtbände fanden beim Publikum mehr Anklang als in der Kritik. Seine Hörspiele u. Drehbücher nehmen Stoffe u. Motive der Prosa auf. Weitere Werke: Die Blumen des Herrn Albin. Ffm. 1955 (L. u. P.). – Kassiber. Ffm. 1956 (L.). – Steppenkopp. Stierstadt 1958 (E.). – Das Los unserer Stadt. Olten/Freib. i. Br. 1959 (P.). – Funke im Reisig. Ebd. 1963 (E.en). – Schreibtisch unter freiem Himmel. Ebd. 1964 (Aufs.). – Die Zwengel. Baden-Baden 1967 (Kinderbuch). – Schnurren u. Murren. Recklinghausen 1967 (Kinderbuch). – Spreezimmer möbliert. Mchn. 1967 (Hörsp.). – Richard kehrt zurück. Zürich 1970 (E.). – Ich frag ja bloß. Großstadtkinder-Dialoge. Mchn. 1973. Ffm. 1992 (L.). – Klopfzeichen. Gütersloh 1978 (E.). – Kassiber u. neue Gedichte. Mchn. 1979. – Gelernt ist gelernt. Ffm./Bln./Wien 1984 (P.). – Die Zigeu-
514 nerballade. Mchn. 1988 (P.). – Als Vater sich den Bart abnahm. Aus dem Nachl. hg. v. Marina Schnurre. Bln. 1995. 2008 (E.en). – Die Prinzessin kommt um vier. Eine Liebesgesch. Hg. Ute Blaich. Bln. 2000. – Kasimir hat einen Vogel. Hg. U. Blaich. Bln. 2000. – Doddlmoddl. Hg. U. Blaich. Bln. 2003. – Die Maus im Porzellanladen. Hg. U. Blaich. Bln. 2003. – Dreimal zur Welt gekommen. Hg. M. Schnurre u. Fritz Bremer. Neumünster 2008 (E.en). – Ein Leben. Eine Bildergesch. mit Aufgaben. Hg. Marina Schnurre. Bln. 2010. Literatur: Bibliografie: Katharina Blencke: W. S.s Nachl. Katalogisierung, Systematisierung u. Darstellung der Werkgesch. Mit einer Bibliogr. der Primär- u. Sekundarlit. Paderb. 1993. – Weitere Titel: Marcel Reich-Ranicki: Nachw. in: W. S.: Die Erzählungen. Olten/Freib. i. Br. 1966, S. 427–442. – Karl-Gert Kribben: W. S. In: Dt. Lit. seit 1945 in Einzeldarstellungen. Hg. Dietrich Weber. Stgt. 1968, S. 279–296. – Rainer Lambrecht: W. S.s ›Kassiber‹. Bonn 1978. – Manfred Durzak: Die dt. Kurzgesch. der Gegenwart. Stgt. 1980. – Walter Hinck: Aphorismus statt Roman. W. S.s Kehrtwendung. In: Ders.: Germanistik als Literaturkritik. Ffm. 1983, S. 179–186. – M. Durzak: Lit. auf dem Bildschirm. Analysen u. Gespräche mit Leopold Ahlsen, Rainer Erler, Dieter Forte, Walter Kempowski, Heinar Kipphardt, W. S. u. Dieter Wellershoff. Tüb. 1989. – Mathias Adelhoefer: W. S. – ein dt. Nachkriegsautor. Pfaffenweiler 1990. – Ilse-Rose Warg: Ein verstümmelter, aber unsterbl. Till. Zu einem Gedicht v. W. S. In: Eulenspiegel-Jb. 32 (1992), S. 103–115. – Dies.: ›Doch ich krümm mich um alles, was lebt‹. W. S.s lyr. Schaffen. New York u. a. 1993. – Dies. (Hg.): Er bleibt dabei. S. zum 75. Erinnerungen u. Studien. Paderb. 1995. – Holger Gehle: Juden u. Deutsche in W. S.s R. ›Ein Unglücksfall‹. In: Vom Umgang mit der Schoah in der dt. Nachkriegslit. Hg. Norbert Oellers. Bln. 1995, S. 113–128. – Iris Bauer: ›Ein schuldloses Leben gibt es nicht‹. Das Thema ›Schuld‹ im Werk v. W. S. Paderb. 1996. – Jürgen Engler: Die ›Schizophrenie‹ des Anfangs. W. S. – ein Autor der ›Trümmerlit.‹. In: Unterm Notdach. Nachkriegslit. in Berlin 1945–1949. Hg. Ursula Heukenkamp. Bln. 1996, S. 387–438. – Artur Nickel: Zwischen literar. Tradition u. existentiellem Neubeginn. W. S.s Kontroversen mit Manfred Hausmann u. Walter Kolbenhoff. In: Zwei Wendezeiten. Blicke auf die dt. Lit. 1945 u. 1989. Hg. Walter Erhart u. a. Tüb. 1997, S. 71–92. – Ian Roberts: ›Eine Rechnung, die nicht aufgeht‹. Identity and Ideology in the Fiction of W. S. With Previously Unpublished Material. Ffm. u. a. 1997. – Susanne Niemuth-Engelmann: Alltag u. Aufzeichnung. Untersuchungen zu Ca-
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515 netti, Bender, Handke u. S. Würzb. 1998. – Daniela Schwardt: ›Fabelnd denken‹. Zur Schreib- u. Wirkungsabsicht v. W. S. Oldenb. 1999. – Heinz-Jürgen Kiewer: ›Jenö war mein Freund‹. Zur Wirkungsgesch. einer Erzählung v. W. S. In: Zigeunerbilder in der Kinder- u. Jugendlit. Hg. Anita Awosusi. Heidelb. 2000, S. 47–59. – Annelen Kranefuss: W. S. In: KLG. – K. Blencke: W. S. Eine Werkgesch. Ffm. u. a. 2003. – Heidi Rehn: W. S. In: LGL. – Ian Roberts: Perpetrators and Victims: W. S. and the ›Bombenkrieg‹ over Germany. In: Forum for Modern Language Studies 41 (2005), S. 200–212. – K. Blencke-Dörr: W. S. In: NDB. – Hans Richard Brittnacher: ›Zigeunergeschichten müssen wandelbar sein ...‹. Die Tragik der Assimilation in W. S.s ›Zigeunerballade‹. In: literatur für leser 31 (2008), H. 1, S. 29–42. Agnes Hüfner / Red.
Schober, Franz von, * 17.5.1798 Schloss Torup bei Malmö/Schweden, † 13.9.1882 Dresden. – Lyriker, Librettist.
S.s literar. Werk charakterisiert ein biedermeiertypischer kunstfertiger Dilettantismus. In seinen empfindsamen Zügen u. seinem aufgeklärt-philanthrop. Menschenideal wurzelt es im Ethos des 18. Jh.; in Spannung dazu steht die epigonale Meisterschaft, die v. a. in der Gedankenlyrik eng dem Vorbild Goethes verpflichtet ist. Weiters bevorzugte S. Rollenlieder, Romanzen u. empfindsam-religiöse Sonette. S.s eigentl. Bedeutung liegt in seiner Funktion als künstlerischer Mentor im Schubertkreis. Weitere Werke: Palingenesien aus den hl. Büchern des Alten Bundes. Breslau 1826 (L.). – Gedichte. Stgt. 1842. Literatur: Wurzbach. – Hyacinth Holland: F. v. S. In: ADB. – Goedeke 12. – Anton Weiss: F. v. S., das Lebensbild eines Freundes Schuberts. Wien 1907. – Herbert Zeman: Franz Schuberts Teilhabe an der österr. literar. Kultur seiner Zeit. In: Schubert-Kongreß 1978. Bericht. Hg. Otto Brusatti. Graz 1979, S. 285–304. – Mária Eckhardt: Schubert’s and Liszt’s friend and poet: F. v. S. In: Liszt the progressive. Hg. Hans Kagebeck. Lewiston, NY u. a. 2001, S. 15–30. – Till Gerrit Waidelich: ›Torupson‹ u. F. v. S. Leben u. Wirken des v. Frauen, Freunden u. Biographen umworbenen Schubert- u. Schwind-Freundes. Stgt. 2008.
Nach dem frühen Tod des als Güterverwalter tätigen Vaters verbrachte S. seine Kindheit zunächst in Altona, wo seine Mutter, eine gebürtige Wienerin, noch Kontakte zu Klopstock u. Claudius pflegte; er wurde Zögling an Salzmanns Erziehungsinstitut in Cornelia Fischer / Red. Schnepfenthal u. lebte seit etwa 1808 in Wien, wo er ein Jurastudium begann. Sein Talent für die bildenden Künste u. seine Schoch, Johann Georg, * 28.2.1627 Leippoetische Begabung führten S. in den Kreis zig, † um 1690. – Jurist, Lyriker, Komödes »Silbernen Kaffeehauses«, dem u. a. diendichter, Geschichtsschreiber, ÜberSchubert, Schwind u. Bauernfeld angehörten. setzer. Schubert vertonte manche seiner in Zeitschriften u. Almanachen publizierten Ge- Der Juwelierssohn, der seit 1644 in Leipzig dichte; auch die Oper Alfonso und Estrella Jura studierte, folgte zwei Jahre später seinem (1823) entstammt dieser Künstlerfreund- Freund u. literar. Vorbild David Schirmer schaft. Nach empfindl. Vermögensverlusten nach Wittenberg (dort Immatrikulation am führte S. einen unsteten Lebenswandel als 12.6.1646), um den für die zweite Generation Schauspieler, Erzieher, Wirtschafter des Fa- der Leipziger Lyriker geradezu obligator. miliengutes u., nach dessen Verkauf, als Rei- Pflichtbesuch bei August Buchner zu absolsender. 1839–1847 war er Liszts Privatsekre- vieren. Seit 1655 war S. Advokat in Naumtär; als Berater des Weimarer Erbgroßherzogs burg, seit 1660 Amtmann in Westerburg, u. Karl Alexander vermittelte er seinem Ju- 1678 lässt er sich in Cölln an der Spree gendfreund Schwind den Auftrag zur Ge- nachweisen. 1688 trat er in den Dienst des staltung des Freskenzyklus auf der Wartburg. Herzogs von Braunschweig-Lüneburg. Bescheidenen Nachruhm sicherte sich S. Nach kurzer Ehe mit Thekla von Gumpert lebte er als Privatier in Wien, Prag, Weimar u. mit der Comoedia vom Studenten-Leben (Lpz. 1657 u. ö.). Das auch im 17. Jh. bereits Dresden. mehrfach neu aufgelegte Stück galt später als Einblick in das zeitgenöss. studentische Le-
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ben (Pennalismus). Doch verfehlt die Frage ›Lieb- Lob u. Ehren-Sonnette‹ of J. G. S. Diss. Innach dem Realitätsgrad die moralisierende diana Univ. 1978 (Mikrofilm Ann Arbor 1979). – Intention des Albert Wichgrevius’ Cornelius Anthony J. Harper: Schr.en zur Lyrik Leipzigs relegatus (Urauff. Rostock 1600) folgenden 1620–1670. Stgt. 1985. – Ferdinand van Ingen: Ovid in Leipzig. Zu J. G. S.s ›Weyrauch-Baum‹. In: Stücks. Respublica Guelpherbytana [...]. FS Paul Raabe. Das eigentl. Interesse der Zeitgenossen galt Hg. August Buck. Amsterd. 1987, S. 457–482. – dem Band Neu-erbaueter poetischer Lust- u. Blu- HKJL, Bd. 1, Sp. 523 f.; Bd. 2, Sp. 1961. – Manuel men-Garten, von hundert Schäffer- Hirten- Liebes- Montesinos Caperos: J. G. S. y su ›Comoedia vom und Tugend-Liedern, wie auch zwey hundert Lieb- Studenten-Leben‹. In: Dt.-span. Lit.- u. KulturbeLob- und Ehren-Sonnetten [...]. Nebenst vier hun- ziehungen [...]. Hg. Margit Raders u. a. Madrid dert Denck-Sprüchen (Lpz. 1660). Diese Samm- 1995, S. 89–101. – Thomas Borgstedt: Gezielte lung von S.s älterer lyr. Produktion ist ein Anstößigkeit. Geschlechterverhältnisse eines ›gawichtiges Zeugnis der neuen dt. Kunstdich- lanten‹ Petrarkismus bei S. u. Hoffmannswaldau. tung: Zum einen findet sich die epigrammat. In: Francesco Petrarca in Dtschld. [...]. Hg. Achim Aurnhammer. Tüb. 2006, S. 243–255. Zuspitzung des Sonetts weit vorangetrieben; Bernd Prätorius / Red. als Praktiker führt S. so die dt. Sonett-Theorie literarisch weiter. In den 100 schäferlichpetrarkistischen Liebesliedern zeigt sich zum Schoch, Julia, * 17.5.1974 Bad Saarow/ anderen die Wandlung des Liedes zur Arie. Brandenburg. – Romanautorin, ErzähleVon dem ihm vornehmlich über Schirmer rin, Essayistin u. Übersetzerin. vermittelten Leipziger Liedtypus sind S.s szenisch angelegte Lieder daher am weitesten S. wuchs als Tochter einer Buchhändlerin u. eines NVA-Offiziers in Eggesin am Oderhaff entfernt. Weitere Werke: Trost-Zeilen an die erbare viel- auf. Sie besuchte eine Kinder- u. Jugendtugendsame Fr: Catharinen gebohrne Öhmin, bey sportschule in Potsdam, wo sie seit 1986 mit Entseelung ihres vielgeliebten Herrns [...] Hn. Unterbrechungen lebt. Nach dem Studium Caspar Dehnens [...]. Lpz. 1648. – Poetischer Wey- der Romanistik u. Germanistik in Potsdam, rauch-Baum u. Sonnen-Blume. Lpz. 1656. Internet- Paris u. Bukarest lehrte sie 2000–2003 frz. Ed. in: VD 17. – Neu-erfundene Philyrenische Literatur an der Universität Potsdam. SeitKrieg- u. Friedens-Schäfferey, das ist: Kurtze dem ist sie als freie Autorin u. Übersetzerin chronologische Verfassung aller vornehmsten Geaus dem Französischen (u. a. Fred Vargas) täschichte [...] der [...] Stadt Leipzig [...]. Jena 1663 tig. (anonym u. d. T.: Leipzigische Krieg- u. FriedensIhr literar. Debüt, der Erzählungsband Der Gesch. [...]. Lpz. 1684). – Übersetzer: Kurtze VerfasKörper des Salamanders (Mchn./Zürich 2001), sung Ovidianischer Verwandlungs-Beschreibungen. Lpz. 1650. Verb. Ausg. 1652. – Wunderbare fasst den biogr. Bruch der Wende 1989/90 in jedoch gründlich- u. warhaffte Geschichte u. Reise atmosphärisch dichte Bilder verschiedener Begebnisse in Africa, Asia, Ost- u. West-Indien v. Grenz- u. Zwischenräume. Ein hochreflekJan Mocquet aus Frankreich [...]. Lüneb. 1688. tierter, artifizieller Blick auf Grenzen u. geAusgaben: Comoedia vom Studenten-Leben. sellschaftl. Transformationsprozesse kennLpz. 1657. Nachdr. hg. v. Hugh Powell. Bern/Ffm. zeichnet auch die Romane Verabredungen mit 1976. – Dass. Lpz. 1658. Internet-Ed. in: VD 17. – Mattok (ebd. 2004) u. Mit der Geschwindigkeit Internet-Ed. mehrerer Texte in: dünnhaupt digital. des Sommers (ebd. 2009). Die kühle Distanz der Literatur: Bibliografien: Dünnhaupt 2. Aufl. Erzählerin zu Abläufen u. Figuren erinnert Bd. 5, S. 3724–3733. – Schmidt, Quellenlexikon, an den Nouveau Roman. Bd. 28, S. 259. – VD 17. – Weitere Titel: Max v. S. erhielt verschiedene Auszeichnungen u. Waldberg: J. G. S. In: ADB. – Abram Friesen: Das Stipendien, u. a. den Förderpreis zum FriedTheater Kormarts u. S.s. Diss. Mainz 1958. – Joseph Leigthon: Dt. Sonett-Theorie im 17. Jh. In: Europ. rich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg Tradition u. dt. Literaturbarock. Hg. Gerhart (2002), den Preis der Jury beim IngeborgHoffmeister. Bern/Mchn. 1973, S. 11–36. – Hei- Bachmann-Wettbewerb (2005) sowie den duk/Neumeister, S. 98, 239, 465 f. – Barbara A. Stefan-George-Preis für Übersetzer frz. LiteBopp: Experimentation with sonnet form in the ratur (2004) u. den André-Gide-Preis (2010).
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Sie war Stadtschreiberin von Dresden (2006) u. Rheinsberg (2007). Weitere Werke: Steltz & Brezoianu. Ein Mosaik für Leidenschaftliche. Mit Zeichnungen v. Sibylla Weisweiler. Nachw. v. Ilma Rakusa. Jena 2007 (Prosaminiaturen). – Kaliningrader Nacht. SWR 2008 (Hörsp.). Literatur: Anne Fleig: Osten als Himmelsrichtung. Grenzübergänge in J. S.s Erzählung ›Der Körper des Salamanders‹. In: Fräuleinwunder literarisch. Lit. v. Frauen zu Beginn des 21. Jh. Hg. Christiane Caemmerer, Walter Delabar u. Helga Meise. Ffm. 2005, S. 175–190. – Carola HähnelMesnard: La fiction comme mise à distance. L’expérience de la RDA dans les narrations de J. S. et d’Antje Rávic Strubel. In: Germanica 39 (2006), S. 181–193. Anne Fleig
Schöbel von Rosenfeld, Georg, auch: Der Fröhliche, Der Himmlisch Gesinnte, * 15.7.1640 Breslau, † 17.11.1680 Magdeburg. – Jurist, Geistlicher, Schriftsteller.
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Titels eines kaiserl. Rats (1671) bedankte S. sich mit zwei dt. Werken, die er dem Habsburger Kaiserhaus widmete: Sinn-reiche Reden und merckwürdige Thaten der funffzehen römischen Kayser (Breslau 1672) bieten eine mit Kupferstichen illustrierte Sammlung histor. Berichte u. Anekdoten; Himmlische Gedancken, Frucht-bringende erwogen (ebd. 1672) enthalten geistl. Lyrik u. Prosa. Viele Kasualgedichte, die ihm u. a. Zesen, Neumark u. Birken widmeten, zeugen von S.s großem Bekanntenkreis. Zu seinen engsten Freunden zählten die hervorragendsten Gelehrten u. Literaten Breslaus (u. a. Johann Fechner u. Heinrich Mühlpfort). Weiteres Werk: Flores ex C. Corn. Taciti horto nova methodo decerpti. Lpz. 1665. Ausgaben: Sinn-reiche Reden u. merckwürdige Thaten [...]. Breslau 1672. Internet-Ed.: SB Berlin. – Himmlische Gedancken [...]. Breslau 1672. Internet-Ed.: SUB Göttingen. Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Friedrich Friedensburg: Die Beziehungen Schlesiens zur Fruchtbringenden Gesellsch. In: Ztschr. des Vereins für Gesch. u. Alterthum Schlesiens 27 (1898), S. 124–126, 132 f. – Robert L. Beare: Quirinus Kuhlmann and the Fruchtbringende Gesellschaft. In: JEGPh 52 (1953), S. 346–371. – Walter Dietze: Quirinus Kuhlmann. Bln. 1963, S. 29 f. – Wilhelm Kühlmann: Der ›Sitsame‹ oder auch ›Leucofron‹. In: Daphnis 9 (1980), S. 505 f. – Die dt. Akademie des 17. Jh. Fruchtbringende Gesellschaft. Hg. Martin Bircher u. Klaus Conermann. Reihe I, Abt. C, Tüb. 1991, passim; Reihe II, Abt. C, Bd. 1, Tüb. 1997, Register. – Ewa Pietrzak: Schlesier in den dt. Sprachgesellsch.en des 17 Jh. In: Europ. Sozietätsbewegung u. demokrat. Tradition. Hg. Klaus Garber u. a. 2 Bde., Tüb. 1996, Bd. 2, S. 1286–1319. Ewa Pietrzak / Red.
Der aus bürgerl. Familie stammende S. besuchte das Elisabeth-, dann das MagdalenenGymnasium in Breslau u. absolvierte ein Philosophie- u. Jurastudium in Leipzig. Nach ausgedehnten Reisen durch Europa war er seit 1666 als Inspektor der städt. Bibliotheken in Breslau tätig, bis er 1672 als Domherr nach Magdeburg berufen wurde, wo er zum Schatzmeister u. schließlich Kanonikus zu St. Peter und Paul aufstieg. Sein bekanntestes Werk ist der Germanus Vratislaviae decor (Breslau 1667), der, in der Tradition des Städtelobs, lat. Verse auf öffentl. Gebäude sowie zu Bildnissen der Ratsherren Breslaus enthält. 1668 wurde S. in die Deutschgesinnte Genossenschaft, 1669 in die Fruchtbringende Gesellschaft (FG 817) aufSchödlbauer, Ulrich, * 27.5.1951 Bogenommen (vgl. dazu Christian Hoffmann: ckum-Hövel/Nordrhein-Westfalen. – RoAls [...] Herr George Schöbel [...] im 1669sten Heilmancier, Lyriker, Essayist, Herausgeber. Jahre, in der [...] Fruchtbringenden Gesellschafft den Bei-Namen des Himmlisch-gesinnten erlangete. S. stammt aus einer bayerisch-böhm. HandJena 1669). Zu diesem Anlass verfasste Kuhl- werkerfamilie. 1969–75 studierte er Germamann einen 1000 Alexandriner umfassenden nistik, Geschichte u. Philosophie in Erlangen Panegyrikus auf S. Kuhlmann – daraufhin u. Heidelberg, wurde dort 1982 zum Dr. phil. einige Jahre von S. gefördert – übersetzte promoviert (Kunsterfahrung als Weltverstehen. 1671 auch S.s lat. Gedicht Hermathena peregri- Die ästhetische Form von ›Wilhelm Meisters Lehrnantium (Padua 1665). Für seine Erhebung in jahre‹. Heidelb. 1984) u. habilitierte sich 1991 den Adelsstand (1670) u. die Verleihung des an der Universität Heidelberg. Er lehrt am
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Weitere Werke: Gegen Denken steht nur GeInstitut für Neuere deutsche u. europäische Literatur der FernUniversität Hagen. Seit walt. Von Denk-Maschinen u. Bewusstseins-Wel2001 gibt er »Iablis. Jahrbuch für europäische ten. Heidelb. 1999 (Ess.). – Notizen zur dt. Einheit. Ebd. 1994 (Ess.). – Das Land der Frösche. MiniaProzesse« heraus. turen. Ebd. 2001. – Rilkes Engel. Ebd. 2002 (Ess.). – Als Lyriker hat S. 2004 im Heidelberger Das Alphazet (zus. mit Paul Mersmann u. Anne Manutius Verlag den Gedichtzyklus Lektion Corvey). 2008 (http://www.iablis.de/grabbeau/aldes Ich vorgelegt, der drei Langgedichte – Ionas phazet/index.html). – Gesellschaftsdämmerung (2001), Organum Mortis (2003) u. PoliFem sat I–IV, Acta Litterarum (http://www.iablis.de/acta1–5 (2004) – umfasst. Hier werden assoziati- litterarum/us/daemmerung/index.html). – Mikroonsreich u. ironisch Sprach- u. Seelenlagen poetik, Acta Litterarum (http://www.actalitteraunserer Zeit, wie Schuld, Utopie, Idole, Ge- rum.de/us/mp/index.html). Steffen Dietzsch wissheiten, das Sakrale u. insbes. der Tod, in ungebundener Versform entfaltet. Die durchgehend stark rhythm. Verse loten teilSchöfer, Erasmus, * 4.6.1931 Altlandsberg weise die Grenze zur Prosa aus. bei Berlin. – Erzähler, Autor von Hör- u. Dabei fungiert – jeweils als Titel – ein anFernsehspielen. tiker Literaturtopos als Palimpsest, um im Sprung in die Zeit (Organon Mortis, 2. Teil) lite- S. studierte Germanistik, Sprachwissenschaft rarisch Historie u. Gegenwart miteinander im u. Philosophie u. wurde 1960 in Bonn mit Dialog zu halten. Diese Form des ›Über- einer Arbeit über Die Sprache Heideggers (Pfulschreibens‹ heutiger geistiger Realitäten auf lingen 1962) promoviert. Nach wechselnden antike Muster klärt die kulturell gewohnte Aufenthalten in Freiburg, München, Paris u. Unübersichtlichkeit auf. in Griechenland lebt er als freier Schriftsteller Auch als Erzähler (Die Ethik der Naßrasur. in Köln. Die frühen Texte, insbes. für Bühne Heidelb. 1997. Das anthropologische Experiment. u. Radio, haben noch experimentellen ChaEbd. 2005. Das Ungelebte. Ebd. 2007. Hiero. rakter. 1970 war der DKP-Aktivist in der Ebd. 2010) begleitet S. mit tief sitzender Iro- Nachfolge der »Gruppe 61« u. Max von der nie die massenmedialen bzw. kommunikati- Grüns Mitbegründer des »Werkkreises Liteven Verfremdungen in den Lebens- u. Denk- ratur der Arbeitswelt« (gleichnamige Taformen v. a. der gebildeten Mittelschichten. schenbuchreihe) u. übernahm bis 1978 orgaDas Ungelebte u. Hiero sind Teil des Großpro- nisatorische Aufgaben in dessen Sprecherrat jekts Die versiegelte Welt, in dem es u. a. um die sowie die Herausgabe mehrerer WerkkreisLebensbedingungen einer Generation, eine publikationen. In den von ihm selbst verForm der Zeitzeugenschaft geht. fassten Beiträgen steht die Dokumentation S. arbeitet am Paradoxon, nach dem Ende des Alltags u. der Probleme der arbeitenden der Kritik (so sein Großessay, gemeinsam mit Menschen sowie allg. der Arbeiterbewegung Joachim Vahland, Bln. 1997) eine literarisch- im Vordergrund: von Ein Baukran stürzt um. poetische Metakritik zu unternehmen. Berichte aus der Arbeitswelt (Mchn. 1970) bis Wir S. entwirft eine ganz neue Literaturform lassen uns nicht verschaukeln (Ffm. 1978). (»Offene Literatur«) für das Internet. Neben Dementsprechend spielen Gesellschaftskritik kurzen Texten, die in einer sinnlich medial u. polit. Engagement eine wesentl. Rolle in angemessenen Inszenierung die Grenze zwi- seinen Erzählungen, Hör- u. Fernsehspielen. schen Lyrik, Drama u. Prosa verwischen, In Bittere Pillen (1975; Fernsehsp. In: Machen entstehen die weiteren Texte des Großpro- wir heute, was morgen erst schön wird. 3 Stücke. jekts Die versiegelte Welt im Internet. Unter Fischerhude 1978) beschreibt S. die BemüAusnutzung aller medialen Möglichkeiten hungen eines Betriebsrats, seine Rechte zur Aufhebung des literarisch immer noch wahrzunehmen. Tod in Athen (Dortm. 1986), vorherrschend einsinnig gerichteten Erzäh- S.s erster Roman, thematisiert die Auseinanlens werden auch hier die Gattungsgrenzen dersetzung mit der polit. Situation Grie(zwischen Essay, Lyrik u. Roman) aufgeho- chenlands, dessen Kultur S. auch als Wahlben. grieche auf Patmos u. Ithaka u. als Übersetzer
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(Jannis Ritsos: Die Nachbarschaften der Welt. Gruppe 61. Hg. Gertrude Cepl-Kaufmann u. Jasmin Grande. Essen 2011, S. 273–279. Köln 1984) verinnerlichte. Irmgard Lindner / Günter Baumann Das Spätwerk ist geprägt von dem autobiografisch gefärbten, monumentalen Romanprojekt Die Kinder des Sisyfos (Bln. Schöfferlin, Bernhard, * 1436/38 Esslin2001–2008), welche eine kritische, letztlich gen am Neckar, † 22.9.(?)1501 (terminus resignative Bilanz der bundesrepublikan. ante quem: 16.12.1501) Esslingen am Gesellschaft von 1968 bis 1989 u. der Linken Neckar. – Jurist u. Humanist, Gein Europa zieht. »Ob und wie es danach schichtsschreiber. weiter geht, das wissen zur Zeit weder die Musen noch der Autor« (S. im Interview mit S. stammte aus einer Patrizierfamilie der der »Wiener Zeitung«, 8.11.2008). Zur über Reichsstadt Esslingen u. besuchte in jungen 2000-seitigen Tetralogie gehören Ein Frühling Jahren die dortige Lateinschule des humairrer Hoffnung (2001), Zwielicht (2004), Sonnen- nistischen Stadtschreibers Niklas von Wyle. flucht (2005) u. Winterdämmerung (2008), nach Seine Studienzeit verbrachte er in Heidelberg (Immatrikulation 1454, Baccalaureus artium deren Vollendung er den Gustav-Regler-Preis viae modernae 1456, Magister artium späder Stadt Merzig u. des Saarländischen testens 1461) u. in Italien, wo er RechtswisRundfunks erhielt. Protagonist ist der am senschaft studierte (1464 in Pavia; Promotion Ende berufslose Geschichtslehrer Viktor zum Dr. iur. civ. 1468 in Ferrara). 1466/67 Bliss, dem sich weitere erfundene (die begegnet S. als Kanzler des Grafen Heinrich Freundin, der Gewerkschafter Anklam, der von Württemberg, den er kurz darauf zwei linke Zeitungsredakteur Kolenda), imagi- Jahre lang auf einer Studienreise nach nierte (Jannis Ritsos) u. reale Personen (Peter Frankreich u. Italien begleitete. 1488 wurde Härtling, Horst-Eberhard Richter, Peter er von Graf Eberhard im Bart von WürttemWeiss) beigesellen. Neben der realistischen berg zum Rat auf Lebenszeit ernannt, nachErfassung verschiedener Industriezweige u. dem er bereits seit 1472 in den Diensten einer dialektischen Handlungsführung kehrt Eberhards sowie auch der Mutter des Grafen, S. hier zur Experimentierfreude seiner frü- Erzherzogin Mechthilds von Österreich, geheren Arbeiten (Monologe, parallele Gedan- standen hatte, um die auch frühhumanistikenstränge, versrhythm. Einlagen, Worter- sche Übersetzer wie Niklas von Wyle oder findungen) zurück. Heinrich Steinhöwel versammelt waren. Auf Weitere Werke: Die Bürger v. Weiler. Ffm. Wunsch des Grafen Eberhard im Bart ver1978. Neufassung 1980. – Erzählungen v. Kämp- fasste S. seit 1493 die erste umfassende röm. fen, Zärtlichkeit u. Hoffnung. Ffm. 1979. – Der Geschichte in dt. Sprache, die u. d. T. ROmiSturm. Mchn. 1981 (E.). – Flieg Vogel stirb. Köln sche historie vß Tito liuio gezogen 1505 postum 1987 (E.en.). – Ist die DKP noch zu retten? Ge- bei Johann Schöffer in Mainz erschien u. mit spräche mit krit. Kommunisten (zus. mit Paula über 400 Folio-Seiten als der »wohl umfangKeller). Hbg. 1989. – Wirklich, nichts. Eine Spureichste Band neben der Bibel« gilt, »der zu rensuche. SWR 1994 (Hörsp.). dieser Zeit in deutscher Sprache gedruckt Literatur: Werner Jung u. Alexandra Klein. E. worden ist« (Röll, S. 210). Es handelt sich um S. In: KLG. – Volker Dittrich (Hg.): Unsichtbar läeine im Druck mit mehr als 200 Holzschnitchelnd träumt er Befreiung. E. S. unterwegs mit ten aufwändig illustrierte Darstellung der Sisyfos. Bln. 2006. – W. Jung: Industrielandschaft frühen röm. Geschichte von den Anfängen bis mit Menschen. E. S. u. das Ruhrgebiet. In: Die zum Ende des Zweiten Punischen Krieges in Wörter u. ihr Ort. Von der (Un)gewissheit einer Heimat. Zusammengestellt v. Klaus Stadtmüller u. drei Teilen, die S. ursprünglich bis zu AuJohann P. Tammen. Bremerhaven 2009, gustus weiterführen wollte. Anders als der S. 153–162. – Ders.: Vom Frühling irrer Hoffnung Titel vermuten lassen könnte, beruht der zur Abenddämmerung der Desillusionierung. Der Text keineswegs allein auf der röm. GeSchriftsteller E. S. In: Schreibwelten – Erschriebene schichte des Livius, sondern ist von S. auf der Welten. Zum 50. Geburtstag der Dortmunder Grundlage des Livius u. einer lat. Überset-
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Werke: ROmische Historie vß Tito liuio gezozung der Römischen Altertumskunde des Dionysios von Halikarnassos unter Hinzuzie- gen. Mainz: Johann Schöffer 1505 (Ed. princ.). hung weiterer Schriftsteller aus Antike u. MA Abdruck der Vorrede u. a. bei Röll (1988), sowie auch humanistischer Literatur eigen- S. 221–223. Zu S.s Korrespondenz s. VL. Literatur: Walther Ludwig: Röm. Historie im ständig abgefasst worden; lediglich der dritte Teil, der von dem Mainzer Universitätspro- dt. Humanismus. Gött. 1987. W. Röll: B. S.s Vorrede zum ersten Teil der ›Röm. Historie‹. In: fessor Ivo Wittich stammt, enthält in ErgänZfdA 117 (1988), S. 210–223. Walter Röll: B. S. zung der Darstellung S.s eine Übersetzung In: VL. Carla Winter: Humanistische Historioder bis dahin bekannten Teile der vierten graphie in der Volkssprache. Stgt.-Bad Cannstatt Dekade des Livius. Wittich war wie der für 1999. Dies.: ›Weiplich brust manlich hertz‹. seine Übersetzungen antiker Autoren be- Lucretia in der ›Röm. Historie‹. In: PBB 122 (2000), kannte Heidelberger Rat Dietrich von Plie- S. 279–291. W. Ludwig: Erasmus u. S. In: Ders.: ningen zeitweise S.s Kollege am Reichskam- Miscella Neolatina. Bd. 2, Hildesh. u. a. 2004, mergericht, bei dem S. von 1496 bis 1499 S. 489–522 (zuerst 1991). W. Ludwig: B. S. In: Beisitzer war, bevor er 1499 als Rat Herzog NDB. Uta Goerlitz Ulrichs von Württemberg u. ein Jahr darauf als Richter beim Schwäbischen Bund tätig Schoeler, Heinrich von, * 18.12.1850 Perwurde. Auf Wittich geht die Besorgung der nau/Livland, † 30.1.1917 Nürnberg. – Editio princeps der Romischen Historie zurück, Verfasser philosophischer u. theologiund aus den Vorreden S.s u. Wittichs geht scher Schriften, historischer Erzählungen hervor, dass der Text sich v. a. an diejenigen u. Romane. richtete, die »land oder stett regieren« und »in burgerlichen sachen« tätig waren u. aus S. entstammte einer traditionsreichen Famider Kenntnis der röm. Geschichte Nutzen lie, die bis 1762 in Mecklenburg-Strelitz anziehen konnten. Parallel dazu plante S. eine sässig war, bevor sie nach Livland einwanGeschichte des Frankenreiches, die jedoch derte u. sich in der Ostseestadt Pernau nienicht zustande kam; außerdem sind Teile derließ, wo S.s Großvater das Amt des Bürseiner v. a. politisch-rechtl. Korrespondenz germeisters innehatte. Bereits 1851 starb S.s erhalten. S.s Romische Historie, bei der man die Vater, der als prakt. Arzt tätig gewesen war. Verbindung von kennzeichnender »Orientie- S.s Mutter blieb noch bis 1858 in Pernau u. rung an der Gegenwart« (Winter, 221) u. begleitete dann gemeinsam mit dem Sohn kommentierender sowie reflektierender his- ihren lungenkranken Bruder nach Italien, der tor. Darstellung hervorgehoben hat, blieb bis später in Rom verstarb. Dort lernte sie auch ins 18. Jh. ein wichtiges Referenzwerk zur den behandelnden Arzt ihres Bruders, Dr. frühen röm. Geschichte. Der Editio princeps Karl Küttner, kennen, mit dem sie sich wiefolgten bis in die zweite Hälfte des 16. Jh. derverheiratete u. dem sie in dessen Heimat weitere Auflagen zunächst in Mainz u. später nach St. Petersburg folgte, wo Heinrich das auch in Straßburg. Hervorzuheben sind die Wiedemann’sche Privatgymnasium besuchte. Mainzer Ausgaben der Jahre 1523 u. 1533, in Nach der Matura begann S. 1869 das Studium denen Nikolaus Karbach u. 1533 auch Jakob der Medizin in Dorpat, wechselte 1871 nach Micyllus das Werk in seinem dritten Teil um Berlin u. bald darauf nach Heidelberg, wohin die Übersetzung weiterer, inzwischen neu die Familie inzwischen übergesiedelt war. entdeckter Livius-Bücher ergänzten. Ihre Dort betrieb S. vorrangig kunsthistor. u. weitere Wirkung verdankte die Romische His- philosophische Studien, die er 1875 mit einer torie der weitgehenden Aufnahme in die Arbeit über den Kirchenvater Augustinus erstmals 1568 erschienene, verbreitete Ge- beschloss u. den Grad eines Dr. phil. erwarb schichte des Zacharias Müntzer Von Ankunfft (Augustins Verhaeltnis zu Plato in genetischer vnd Vrsprung deß Römischen Reichs sowie der Entwicklung. Jena 1897). Seit seinen StudienVerwendung für Übersetzungen des Livius in jahren unternahm S. Reisen nach Frankreich, das Spanische, Niederländische u. Schwedi- Belgien, England, in den Orient u. wiederholt sche. nach Italien. Nach einem Zwischenaufenthalt
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in Paris, wo er als Korrespondent für Cotta Geist, werde frei! (Lpz. 1915), der, insofern er tätig gewesen war u. seine medizinischen eine markante Periode des dt. MA literariStudien wiederaufgenommen hatte, siedelte siert, die Historie politisiert u. zum Träger S. bald nach 1875 ganz nach Italien über u. nationaler Implikationen gerät. blieb – mit Ausnahme eines Aufenthalts in Weitere Werke: Über das Dämonische bei München in den Jahren 1879/1880 – dort bis Goethe. Bln. u. a. 1901 (Ess.). – Rettung. Bln./Lpz. 1890. In Florenz, wo S. seinen ersten Wohn- 1904 (R.). – Die höchste Wahrheit. Ein philosoph. sitz nahm, hielt er Kontakt zum Kreis der Märchen. Bamberg 1905. – Erziehung zur freien Deutschflorentiner um Adolf von Hildebrand geistigen Individualität. In: Jbb. der Philosophie. (1847–1921) u. Isolde Kurz (1853–1944). Eine krit. Übersicht der Philosophie der Gegenwart 51 (1909), S. 333–345. Weitere Reisen innerhalb Italiens sowie nach Literatur: . Ritschl: H. v. S., Probleme. KritiGriechenland (1887, 1888/89), Spanien u. sche Studien über den Monismus. In: Theolog. Algier folgten. 1890 heiratete S. u. kehrte Litteraturzeitung 26, 22.12.1900 (Rez.). – Brümnach Deutschland zurück; in Dresden grün- mer, Bd. 6, 1913, S. 275 f. – Max Geißler: Führer dete das junge Paar seinen Hausstand. Nach durch die Lit. des 20. Jh. Weimar 1913, S. 545. – dem frühen Tod s. Frau (1894) kehrte S. nach OJohann Mader: Des Haeckelismus Totenschein u. Leipzig zurück u. schloss das Medizinstudi- Scheinleben. In: Schweizerische Rundschau. Moum ab. Im Anschluss daran nahm er die Ar- natsschrift für Geistesleben u. Kultur 1 (1900/01), beit an den philosophischen Schriften wieder S. 200 f. Julia Ilgner auf, die er in Florenz begonnen hatte. Seine Studien zur Erkenntnistheorie u. die AusSchöll, (Gustav) Adolf, * 2.9.1805 Brünn, einandersetzung mit Ernst Haeckel trugen † 26.5.1882 Jena. – Klassischer Philologe ihm Anerkennung vonseiten der modernu. Literarhistoriker. krit. Schule ein (Kritik der wissenschaftlichen Erkenntnis. Eine vorurteilsfreie Weltanschauung. Der Fabrikantensohn bezog 1819 das vom Lpz. 1898. Probleme. Kritische Studien über den Großvater geleitete Stuttgarter Gymnasium, Monismus. Lpz. 1900). wo Gustav Schwab sein Lehrer u. Freund Um die Jahrhundertwende machte sich S. wurde. 1823–1826, während des Tübinger einen Namen als Belletrist. Stofflich avan- Studiums zunächst der Theologie, dann der cierte vorrangig Italien zum dominierenden Klassischen Philologie, trat er mit Vischer, Sujet, sei es in novellistischer Form (Fremdes Mörike, Strauß (mit dem er zeitlebens intenGlück. Eine venetianische Novelle. Lpz. 1902) siv korrespondierte) u. seit 1826 in Stuttgart oder im histor. Roman. Vornehmlich in den mit Uhland in geistig fruchtbare Wechselbebiografisch-fiktiven Porträts verfolgt S. den ziehung. Die Richtung Welckers u. Karl Otpoetolog. Anspruch, seine längst von Dich- fried Müllers, bei dem er nach der Promotion tung u. Kunst okkupierten histor. Zentral- 1828 für ein Jahr in Göttingen seine Studien gestalten Tiberius bzw. Raffael aus einer de- fortsetzte, bestimmte S.s wissenschaftl. Inzidiert wissenschaftl. Perspektive in den Blick teressen. Seit 1832 in Berlin, habilitierte er zu nehmen (Kaiser Tiberius auf Capri. Lpz. sich 1833, wurde 1835 Lektor für Mythologie 1908. Rafael von Urbino. Lpz. 1911). Kunst- u. Kunstgeschichte an der Akademie der theorie u. Geschichtswissenschaften formen Künste u. unternahm 1839/40 mit Müller das Instrumentarium, mithilfe dessen S. den eine Griechenlandreise, deren Ergebnisse zu mythisch überformten Herrscher- u. Künst- publizieren nach dessen Tod S. zufiel. Viellerimaginationen vorangegangener Epochen seitig engagiert in der Literatur- u. Kunstauthentische, d.h. historisch verifizierbare szene der 1830er Jahre in Berlin, wurde er Schilderungen von Leben u. Werk der Figu- u. a. durch Hitzig Mitgl. der Mittwochsgeren gegenüberzustellen sucht. Die literar. sellschaft, stand Chamisso durch die MitarArbeit führte S. in Nürnberg fort, wohin er beit am »Musenalmanach« u. durch lang1909 seinen Wohnsitz verlegte. Dessen ge- jährigen intimen Umgang bes. Eichendorff schichtsträchtige Vergangenheit bildet die nahe, dessen Gedichtsammlung er 1837 reVorlage für seinen letzten Roman Deutscher digierte. Die Epistel über Ahnung und Gegenwart
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Weitere Werke: Dido. Stgt./Tüb. 1827 (D.). – an den Dichter (21.10.1832) u. die 100-seitige Abhandlung zu Eichendorffs Schriften in Die Tetralogien der attischen Tragiker. Bln. 1839. – 2 »Jahrbücher der Litteratur« (Bd. 75, Wien Sophokles. Ffm. 1842. Prag 1870. – Gedichte [...] 1836) sind das bedeutendste literaturkrit. 1823–39. Lpz. 1879. – Goethe in Hauptzügen [...]. Ges. Abh.en. Bln. 1882. – Ges. Aufsätze zur Klass. Zeugnis über Eichendorff im 19. Jh. Der Es- Lit. Hg. Fritz u. Rudolf Schöll. Bln. 1884. say, in dem S. sich als literaturkrit. TheoretiLiteratur: Fritz Schöll: A. S. In: Biogr. Jb. für ker u. Apologet der Romantik erweist, weitet Alterthumskunde. Hg. Conrad Bursian. 5. Jg. Bln. sich zu einer Literaturgeschichte der klas- 1883, S. 63–99. – Rudolf Schöll: G. A. S. In: ADB. – sisch-romant. Epoche. Die neuere Literatur Sibylle Ehringhaus: ›Mentzelino ist nun fertig ...‹: wäre seine eigentl. Domäne gewesen, das be- A. S., ein Freund Menzels in Weimar. In: Muselegen die besten Aufsätze S.s: zum Komi- umsjournal 11 (1997), S. 42 f. – Hubert Reitterer: A. schen in Shakespeares Sommernachtstraum, zur S. In: ÖBL. – S. Ehringhaus: Hinter den Kulissen antiken Komödie anhand der Frösche des Ari- [...]. In: Mitteldt. Jb. für Kultur u. Gesch. 13 (2006), S. 247–250. Ulfert Ricklefs / Red. stophanes, über Goethes Pandora, Hebbels Nibelungen u. die Abhandlungen Goethe in seinen Zeiten u. Goethe als Staats- und Geschäfts- Schölly, Karl, * 12.4.1902 St. Gallen, † 8.4. mann. Sie gehören mit der reifen Kunst der 1987 St. Gallen. – Erzähler, Lyriker. Interpretation, der Souveränität des ästhetischen Urteils u. dem Anspruch ihrer literar. Der Sohn eines St. Galler Kaufmanns machte Kultur zum Besten, was die Epoche bieten nach der Volksschule eine Lehre in einer Eikonnte. Obwohl S. in den Berliner Jahren senwarenhandlung u. arbeitete, nach verschiedenen Tätigkeiten, 1943–1967 als Pläne zu einer Urgeschichte der Griechen u. Kanzlist in seiner Vaterstadt. Im Gefolge eieiner Kritik der Mythologie bewegten, blieb ner Krankheit hatte der 16-Jährige durch die er in der Klassischen Philologie (neben Pindar intensive Beschäftigung mit Goethe zu eigeu. Aristophanes) v. a. bei der Tragödie, vornem literar. Ausdruck gefunden u. beschloszüglich des Sophokles, dessen Dramen er sen, jene geistige Welt, die sich für ihn in zwischen 1842 u. 1873 auch übersetzte. S. Goethes Weimar verkörperte, mit Hilfe von war als Philologe zgl. Ästhetiker. Solche VerGleichgesinnten wieder auferstehen zu lasbindung von philologisch-histor. u. ästhesen. Im urspr. für das Goethe-Jahr 1932 getisch-theoret. Sicht führte in der Klassischen schriebenen, autobiografisch geprägten RoPhilologie zu subtilen wie von Fachkollegen man Neuweimar (St. Gallen 1938. 21950) hat S. oft bestrittenen Ergebnissen, wohingegen er einen solchen idealistischen Freundeskreis sich der Zustimmung von Strauß u. Vischer aus jungen, für alles Schöne u. Gute begeisgewiss sein durfte. Vor allem seine Haupt- terten Menschen dargestellt, gleichzeitig aber these von der tetralog. Komposition der an- auch schon voller Wehmut das Unzeitgemäße tiken Tragödien blieb umstritten. der rückwärtsgewandten Utopie eingestanS. wurde 1842 a. o. Prof. der Archäologie in den: »Die Welt, die Goethe mir geschenkt, Halle, 1843 Hofrat u. Direktor der Kunst- versank unter der Sturmflut des Zweifels. [...] sammlungen in Weimar, 1861 Leiter der – Neuweimar lebte nur noch in der Erinnegroßherzogl. Bibliothek. Sein tatsächl. Wir- rung.« kungsbereich betraf die gesamte Pflege der Mitgerissen von der nationalen Begeisteklass. Tradition Weimars. Er wirkte für das rung der späten 1930er Jahre, gab S. seinem Museum u. die Gedenkstätten, für die Re- idealistischen Freundeskreis in Der Bund von stauration der Wartburg, in der Goethe- u. St. Martin. Ein Roman in Briefen (Bern 1941) ein der Schillerstiftung, war Gründungsmitgl. zweites Mal literar. Gestalt, diesmal aber in der Shakespeare-Gesellschaft u. schuf mit betont schweizerischer Ausprägung: Eine Goethe’s Briefen an Frau von Stein (3 Bde., Wei- Gruppe von Freunden, die Goethe u. Mörike mar 1848–51) u. den Briefen und Aufsätzen von ebenso verehren, wie sie die »Maschinenwelt Goethe aus den Jahren 1766 bis 1786 (ebd. 1846) Europas« verabscheuen, will nach dem profunde Werke früher Goethe-Philologie. Scheitern eines Auswanderungsprojekts »das
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Ideal im Vaterlande selbst verwirklichen« u. das entvölkerte Bergdorf St. Martin zu ihrem Utopia machen. Vergeblich warnt eine der seltsamen Gestalten des Buchs, der Herzog von Leuchtenberg, Herrscher über die imaginäre Welt einer selbstgebastelten Modellstadt, davor, »aus der Sehnsucht Wirklichkeit im materiellen Sinne zu machen«. Das Unternehmen St. Martin scheitert letztlich ebenso wie S.s Bemühen, über einen kleinen Kreis Eingeweihter hinaus ein Echo für seine quer zum Zeitgeist stehende, kompromisslos traditionalistische Schriftstellerei zu finden. Mit Ausnahme von Bildersäle. Eine Jugend in St. Gallen (Frauenfeld 1977) u. einer Reihe von kurzen, formvollendeten Erzählungen, die in limitierten Liebhaberausgaben erschienen (Der ewige Wächter. St. Gallen 1946. 1982. Stab und Stern. Ebd. 1960), blieb sein ganzes, Tausende von Typoskriptseiten umfassendes Werk nach 1945 praktisch ungedruckt u. liegt heute in der Kantonsbibliothek St. Gallen. Weiteres Werk: Schein u. Schicksal. Gedichte aus dem Nachlass. Hg. Christian Mägerle u. Peter Wegelin. St. Gallen 1992. Literatur: Eduard Stäuble: Liebe u. Freiheit als Lebensraum. K. S.s Botschaft an unsere Zeit. In: K. S.: Der ewige Wächter. St. Gallen 1982, S. 17–40 (mit Bibliogr., S. 41 f.). – Angela Holter: Der Nachlass des St. Galler Schriftstellers K. S. in der Vadiana. St. Gallen 1992. Charles Linsmayer
Schönaich, Christoph Otto Frhr. von, * 11.6.1725 Amtitz bei Guben/Niederlausitz (heute Gebice), † 13.11.1807 (nach anderen Angaben 13.9. oder 15.11.) Amtitz. – Epiker, Dramatiker. Der Sohn von Otto Albrecht und Charlotte Hermanne bildete sich weitgehend autodidaktisch. Von 1745 bis 1747 war er als Hauptmann im kurfürstlich-sächs. Heer tätig, um dann auf dem Familiengut Amtitz zu leben. S.s literar. Werke entstanden in Abhängigkeit von der Literaturtheorie Gottscheds, der in seiner Bedeutung für die dt. Literatur von S. geradezu verklärt wurde. Mit seinem ersten Werk, dem zwölf Gesänge umfassenden Versepos Hermann oder das befreyte Deutschland, ein Heldengedicht (Lpz. 1751 u. ö.), leistete S. in holpernden trochäischen
Schönaich
Tetrametern seinen Beitrag zur zeitgenöss. Aktualisierung des Arminius-Stoffes. Von Gottsched, der in S.s Hermann ein willkommenes Gegenstück zu Klopstocks Messias erblickte, herausgegeben, beginnt das Epos mit der röm. Expansion u. schließt mit der Varusschlacht, die zum Kampf der tugendhaften Germanen gegen die wollüstigen Feinde stilisiert wird. Gleichwohl musste der Nationalheld in der Wirklichkeit noch erschaffen werden: »Ach! wo lebt nun wohl ein Hermann? holder Himmel! schaff’ ihn doch! | Deutschland heget ja wohl Helden; aber keinen Hermann noch.« Von Gottsched am 18.7.1752 zum poeta laureatus gekrönt, war S. fortan Parteigänger des Leipziger Professors in den literar. Fehden mit Bodmer u. Breitinger. Allerdings waren es nur noch Nachhutgefechte: Der Streit Gottscheds mit den Schweizern – 1740 offen ausgebrochen – war bereits um die Mitte des Jahrhunderts durch das überlegene Auftreten Lessings zum literar. Nebenschauplatz degradiert worden. So wurde die Dichterkrönung zu einem der meistbespotteten Ereignisse der dt. Aufklärungszeit. In der Schrift Die ganze Aesthetik in einer Nuß, oder Neologisches Wörterbuch (o. O. 1754. Später verschiedene Ergänzungen. Neudr. hg. von Albert Köster. Bln./Lpz. 1899 [Repr. Nendeln 1968]) werden u. a. Gleim, Gellert, Lessing, Hallers Lyrik, Bodmers Patriarchendichtungen u. Klopstocks Messias im Sinne der Gottsched’schen Poetologie nach sprachlichmetr., stilistischen u. inhaltl. Kriterien attackiert. Eine ähnl. Literaturpolitik verfolgt S. auch in seiner Sammlung von Sinngedichten (o. O. 1755). 1757 versuchte sich S. erneut an einem – formal seinem Hermann gleichenden – heroischen Versepos (Heinrich der Vogler; oder: Die gedämpften Hunnen, Versuch eines Heldengedichtes. Bln.), in welchem Heinrich I. Sieger über die »Hunnen« ist u. welches – so Lessing – dazu angetan sei, »den Lesern lange Weile zu machen. [...] [D]erjenige muß gewiß sehr viel verbrochen haben, der verdammt ist, mehr als zwei Zeilen darin zu lesen.« In den letzten vier Jahrzehnten seines Lebens erlag S.s poetische Produktion; 1777 erblindete er, bevor
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mit seinem Tod dieser Seitenzweig des Geschlechts ausstarb. Weitere Werke: Versuche in der trag. Dichtkunst [...]. Breslau 1754 (vier Trauersp.e). – Versuch einer gefallenden Satire [...]. o. O. 1755. – Der Sieg des Mischmasches: ein episches Gedicht. Toßberg 1755. – Ragout à la Mode [...]. o. O. 1755. – Versuch einer gefallenden Satire; oder Etwas zum Lobe der Aesthetiker. o. O. 1755. – Trostschreiben an den Herrn Prof. Meier über seine Kriegserklärung an den Herrn Prof. Gottsched. o. O. 1756. – Ein Mischmasch v. allerley ernsthaften u. lustigen Possen. o. O. 1756. – Die Nuß, oder Gnißel: ein Heldengedicht. o. O. u. J. – Oden, Satyren, Briefe u. Nachahmungen. Lpz. 1761. – Crit. u. scherzhaftes Lehr-Gebäude eines Satzes vom schönen Geschmack der Teutschen. Sorau 1762. – Montezum. Königsb. 1763 (Trauersp.). Literatur: Adolf Stern: Ein gekrönter Dichter. In: Ders.: Beiträge zur Litteraturgesch. des 17. u. 18. Jh. Lpz. 1893, S. 95–128. – Otto Ladendorf: C. O. Frhr. v. S. Beiträge zur Kenntnis seines Lebens u. seiner Schr.en. Diss. Lpz. 1897. – Konrad Witzmann: Klassizismus u. Sturm u. Drang in den Hermannsdramen Klopstocks u. der Klassizisten Schlegel, Möser u. S. Diss. Jena 1924. – William A. Little: Lessing and S. In: Lessing Yearbook 1 (1969), S. 187–199. – Dieter Martin: Das dt. Versepos im 18. Jh. Bln./New York 1992. – Kosch. – Martin Jung: S. [Familienartikel]. In: NDB. – Bettina Brandt: Germania u. ihre Söhne. Repräsentationen v. Nation, Geschlecht u. Politik in der Moderne. Gött. 2010. Felix Leibrock / Hans Peter Buohler
Schönaich-Carolath, Emil Prinz von, * 8.4.1852 Breslau, † 30.4.1908 Haseldorf/ Holstein; Grabstätte: ebd., Alter Friedhof. – Lyriker, Epiker, Erzähler. S., einziger Sohn des Prinzen Karl von Schönaich-Carolath u. der Prinzessin Emilie (geb. von Oppen-Schilden), verbrachte seine Jugend in Schlesien, Italien u. Wiesbaden. Bis zum 15. Lebensjahr erhielt er Privatunterricht, bevor er ein Realgymnasium besuchte. In seinem kunstfreundl. Elternhaus verkehrten Karl von Holtei, Gustav Freytag, Prinz Georg von Preußen u. Friedrich Bodenstedt. Rastlosigkeit u. Unentschlossenheit charakterisieren S.s Jugend u. frühe Mannesjahre. 1870/71 studierte er an der Hochschule in Zürich; er hörte Vorlesungen bei Johannes Scherr u. Gottfried Kinkel u. besuchte einen
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literar. Kreis um Mathilde Wesendonck. 1872 trat er als Fahnenjunker in das Kurmärkische Dragonerregiment in Colmar ein, nahm aber schon bald seinen Abschied, um Italien, Griechenland, Spanien, den Balkan u. den Vorderen Orient zu bereisen; in Rom befreundete er sich mit dem Künstler Hans Makart u. dem kunstverständigen Grafen Karl Lanckoron´ski. Zu größerer Ruhe fand S. erst, nachdem er 1887 Catharina von Knorring geheiratet hatte. Er lebte fortan als Dichter u. Mäzen, so als Förderer Rilkes u. Liliencrons, auf seinen Schlössern Palsgaard/ Dänemark u. Haseldorf an der Unterelbe. S.s eklektizistisches Werk ist der klassizistischen Münchner Dichterschule verpflichtet, ähnelt in der impressionistischen Darstellungsweise Liliencron u. steht in der sozialen Thematik dem Naturalismus nahe. An seinen erklärten »Lieblingsdichtern Uhland, Eichendorff, Chamisso« orientiert, ist S. aber v. a. ein typischer Vertreter der ›Neuromantik‹: Dies zeigt sich in seiner Vorliebe für poetolog. Reflexionslyrik u. Schmerzdichtung. Weltanschaulich von Schopenhauers Pessimismus geprägt, gestaltet er in seinem Frühwerk mehrfach eine unglückl. Liebe, so in seinem lyr. Erstlingswerk Lieder an eine Verlorene (Stgt./Lpz. 1878) u. in den Versepen Angelina, Sphinx u. Don Juans Tod (in: Dichtungen. Stgt. 1883. Lpz. 91905). In den Liedern an eine Verlorene bekundet das lyr. Ich in der Form eines lockeren narrativen Zyklus, wie »[s]ein erstes Lieben« das spätere Leben prägt, das ganz im Zeichen des Verlusts steht (»Ich hatte wohl einen Frühling, | Der lag in zwei Augen voll Schimmer – | Doch ist er vorbeigegangen | Und hat mir gelächelt nimmer«, ebd., S. 34). In den späten formbewussten Gedichten (Lpz. 1903. 31906) verdrängt der christl. Glaube zunehmend die schwermütige Stimmung u. den egozentr. Weltschmerz. Den Umschlag von pessimistischer Resignation zu glaubensgewisser Hoffnung gestaltet S. in seinem Dramolett Philemon und Baucis (in: Nord und Süd, 1895), einer Mythenkorrektur mit intertextuellen Bezügen auf die Philemon u. Baucis-Episode in Goethes Faust II. Als das alte Ehepaar eine Verjüngung zum Dank für die Gastfreundschaft ablehnt, ist sich S.s »Wanderer« bewusst, dass eine Zei-
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Literatur: Leo Berg: Prinz E. z. S. In: Zwischen tenwende bevorsteht u. die »Griechenherrlichkeit« bald einem »Demutsgott« weichen zwei Jahrhunderten. Ges. Essays. Ffm. 1896, wird. Auch in seinem »dramatischen Ge- S. 130–178. – Hermann Friedrich: Prinz E. v. S. dicht« Tasso’s erste Liebe (Hbg. 1886) stellt sich Bln. 1903. – Victor Klemperer: Prinz E. v. S. Charlottenb. [1908]. – Lorenz Krapp: Prinz E. v. S. Ein S. in die klassisch-romant. Tradition. Er ge- dt. Lyriker. Lpz. [1908]. – Gustav Schüler: Prinz E. staltet in gereimten Versen die unglückl. v. S. als Mensch u. Dichter. Lpz. 1909. – Carsten Vorgeschichte von Goethes Schauspiel: S.s Dürkob: ›Der Nichterfüllung schattenvoller Tasso nimmt »von des Glückes Melodie | Auf Kranz‹. Leben, Werk u. literaturgeschichtl. Ort des ewig Abschied« (S. 28), indem er die in einem Prinzen E. v. S. Paderb. 1997. – Martin Jung: S. Dichterwettstreit gewonnene Jugendliebe an [Familienartikel]. In: NDB. Achim Aurnhammer den Rivalen abtritt u. den Ruf an den Ferrareser Hof annimmt. S.s Erzählwerk zeigt eine Schönberg, Schoenberg, Arnold, * 13.9. ähnl. Entwicklung. Nach anfängl. impres- 1874 Wien, † 13.7.1951 Los Angeles. – sionistischen Stimmungsskizzen (Geschichten Komponist, Musiktheoretiker, Lehrer u. aus Moll. Stgt. 1884), die wie die Präsenser- Maler. zählung Die Kerze eher an Prosagedichte erinnern, gewinnen eine christl. Mitleidsmoral S. war erstes von drei Kindern einer jüd. u. sozialkrit. Aspekte an Bedeutung. Am Schuhmacherfamilie, lernte autodidaktisch Violine u. komponierte früh erste Stücke. deutlichsten wird die von den zeitgenöss. Nach kurzer Tätigkeit als Bankangestellter Rezensenten kritisierte ›Tendenz‹ in der Nowidmete er sich hauptberuflich der Musik. S. velle Bürgerlicher Tod (Stgt. 1894. 1895), dem arbeitete als Komponist, Dirigent u. Lehrer in Pendant zum Adeligen Tod (Stgt. [1904]). Die Wien u. Berlin. 1933 emigrierte er in die USA Erzählung schildert das Los eines armen, aru. lebte bis zu seinem Tod in Los Angeles. beitslosen Proletariers, der in einer kalten, Wechselnde kompositionsästhetische Pazynisch-realistisch geschilderten Welt Selbstradigmen legen die Unterteilung von S.s mord begeht, um Mitleid für seine hungernmusikal. Werk in drei verschiedene Schafde Familie zu erwecken. Die späteren Novel- fensperioden nahe, die jedoch für sich gelen gestalten solche Passionen u. Krisen mehr nommen keine stilistisch homogene Werku. mehr als religiöse Wandlungen, die alle gruppen bilden: Die frühen Stücke (darunter Kreaturen einschließen. Dies gilt sowohl für Gurrelieder, 1900–11; Verklärte Nacht op. 4, die schmale allegor. Erzählung Die Wildgänse 1899; Lieder op. 2 und op. 6) orientierten sich (zusammen mit Die Lichtlein sind wir u. Die am Klangideal u. der erweiterten Dur-MollKiesgrube [Lpz. 1903]), in der ein Jäger die Harmonik der Spätromantik, auch wenn sich gefangenen Vögel wieder freigibt, als auch für Letztere in den sog. freitonalen Stücken die Kiesgrube, in der ein frz. General im (1. Kammersynphonie op. 9, 1906) bereits auf1870er-Stellungskrieg gegen Preußen sein zulösen begann. In den Werken von 1907 bis demoralisiertes Bataillon in den Tod schickt, 1919 (2. Streichquartett op. 10, 1907/1908; nachdem es ein Pferd zu Tode gequält hat. Klavierstücke op. 11, 1909; Das Buch der hänDie Liebe zur gequälten Kreatur bekundet genden Gärten op. 15, 1908/1909; Pierrot lunaire auch die letzte Novelle der Sammlung Der op. 21, 1912) wandte sich S. erstmals vollFreiherr. Regulus. Der Heiland der Tiere (Lpz. ständig von der Dur-Moll-Tonalität ab, von 1896). Darin opfert sich ein junger Bergbau- der die westl. Musik seit der frühen Neuzeit er, der mit den geschundenen Tieren leidet, bestimmt war. Diese mittlere Phase wird oft am Ende durch Selbstkreuzigung, um die als freie Atonalität oder als expressionistische kaltherzige Gesellschaft zur Umkehr zu be- Phase bezeichnet, weil S. seine neue Tonsprache ganz der Individualisierung des muwegen. Ausgaben: Ges. Werke. 7 Bde., Lpz. 1907. Bln./ sikal. Ausdrucks verschrieb u. sie als BefreiLpz. 21922. – Werke. Hg. Carsten Dürkob. 2 Bde. ung vom Zwang musikal. Konventionen ver(Bd. 1: Erzählungen 1884–1903, Bd. 2: Gedichte stand. Eine dritte Schaffensperiode setzte um 1921 mit der Entwicklung der Zwölfton1878–1908). Paderb. 1995.
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technik (Dodekaphonie) ein. Bei dieser »Methode der Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen« (Komposition mit Zwölf Tönen. In: Stil und Gedanke, S. 75) wird eine Abfolge aller zwölf Töne des chromat. Spektrums zu einer ›Reihe‹ formiert, aus der sich das gesamte musikal. Material der Komposition ableiten lässt. Zuvor legte bereits der österr. Komponist Josef Matthias Hauer einigen Kompositionen die Zwölftonreihe als Material zugrunde (Nomos op. 19, 1919); die Ableitung einer umfassenden Kompositionstechnik geht jedoch auf S. zurück. S. reagierte damit auf den Verlust der formbildenden Kraft der Tonalität, ohne die hierarchielose Organisation der freien Atonalität preiszugeben. Mitunter wird eine vierte Phase ausgemacht, die mit der Emigration ins amerikan. Exil 1933 einsetzte u. in der sich S. erneut dem tonalen Komponieren zuwandte. S.s umfassende Bedeutung für das kulturelle Leben des frühen 20. Jh. erwächst nicht allein aus seinen kompositorischen Errungenschaften, sondern geht auch auf seine große künstlerische Vielseitigkeit zurück. Von besonderem Einfluss war seine Tätigkeit als Kompositionslehrer. Mit seinen Schülern, zu denen Alban Berg u. Anton Webern zählen, formierte er die sog. Zweite Wiener Schule, einen Komponistenzirkel, der sich S.s kompositionsästhetischen Idealen verschrieb. Zudem ließ S. eine große Affinität für andere Kunstformen erkennen. Unter dem Einfluss Richard Gerstls u. Oskar Kokoschkas begann er 1907 autodidaktisch zu malen. 1910 nahm Wassily Kandinsky vier seiner Werke in die Ausstellung des »Blauen Reiters« auf. Eine enge Verbindung zu Kandinsky zeigte sich auch auf transmedialer Ebene: Beide leiteten innerhalb ihrer Kunstform einen für das 20. Jh. maßgebl. Paradigmenwechsel ein, S. durch den Übergang vom tonalen zum atonalen Komponieren, Kandinsky durch den Übergang von der gegenständl. zur abstrakten Malerei. Auf verschiedenen Ebenen ergeben sich Berührungspunkte mit Dichtung u. Literatur. In zahlreichen Liedern, sinfon. Dichtungen u. Bühnenwerken vertonte S. Texte von Richard Dehmel (Vier Lieder op. 2, 1899; Acht
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Lieder op. 6, 1903–1905; Streichsextett Verklärte Nacht op. 4, 1899), Stefan George (2. Streichquartett op. 10, 1907–1908; Zwei Lieder op. 14, 1908; Das Buch der hängenden Gärten op. 15, 1908/1909), Maurice Maeterlinck (Pelleas und Melisande op. 5, 1902/1903; Herzgewächse op. 20, 1911), Rainer Maria Rilke (Vier Lieder op. 22, 1913–16), Marie Pappenheim (Monodram Erwartung op. 17, 1909) u. a. Darüber hinaus wurde S. immer wieder selbst schreibend produktiv. Für mehrere musikdramat. Werke – Die glückliche Hand op. 18 (1908–13), Moses und Aron (1930–32), Die Jakobsleiter (1927, fragm.) – verfasste er die Textvorlagen. Von nach wie vor großer Bedeutung ist S.s musiktheoret. u. essayistisches Werk (Harmonielehre, Stil und Gedanke), darunter auch der Aufsatz Brahms, the Progressive (dt. in: Stil und Gedanke), der als Rehabilitierungsschrift der bislang als konservativ geltenden Kompositionstechniken von Johannes Brahms bekannt geworden ist. Prominente literar. Rezeption fand S.s Komponieren in Thomas Manns Roman Doktor Faustus (1947). Dessen Protagonist Adrian Leverkühn entwickelt eine Kompositionsmethode, die S.s Dodekaphonie entspricht. Sowohl S. als auch Mann lebten zur Zeit der Entstehung des Romans in Los Angeles u. standen in regem Kontakt, dennoch gingen die musiktheoretischen u. -ästhetischen Reflexionen sowie die detailgetreuen Schilderungen der Kompositionen Leverkühns hauptsächlich auf die Vermittlung durch einen dritten Exilanten, Theodor W. Adorno, zurück. Für Adorno, selbst ehemaliger Schüler Alban Bergs, verkörpert S.s Stilsuche paradigmatisch die Krise des modernen Künstlers. In S.s Vorstoß zur größtmögl. Freiheit der Atonalität u. dem folgenden Umschlag in die vermeintl. Unfreiheit des strengen ›Systems‹ der Dodekaphonie (S. selbst beharrt auf dem Begriff ›Methode‹) glaubte Adorno ein der Moderne unterlegtes dialektisches Modell zu erkennen, das er bereits in der Dialektik der Aufklärung (1944, mit Max Horkheimer) entwickelt u. in der Philosophie der Neuen Musik (1949) am Beispiel S.s expliziert. Mann, der als leidenschaftlicher, aber theoretisch wenig beschlagener Musikliebhaber Adornos ausführl. Beratung in An-
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spruch nahm, zeigte sich stark von dessen Aufsätze. 1930–1951. Hg. E. Randol Schoenberg. Schönbergbild beeinflusst. Den kompositor. Wien 2009. Literatur: Bibliografie in: Christian Martin Errungenschaften S.s weist er in seinem Faustus-Roman eine literar. Schlüsselfunkti- Schmidt: A. S. In MGG 2. Aufl. (Personenteil) on als gleichzeitig kulturgeschichtlich u. ge- Bd. 14 (2007), Sp. 1580–1646. – Weitere Titel: Carl schichtsphilosophisch kodierte Chiffre zu: Dahlhaus: Fiktive 12tonmusik. In: Musica 37 (1983). – Theodor W. Adorno: Philosophie der Die »Totalität der Zwölftontechnik« (AdorNeuen Musik. Ffm. 31967. – Manuel Gervink: A. S. no, Philosophie der Neuen Musik, S. 83) wird bei u. seine Zeit. Laaber 2000. – Alexander Ringer: A. S. Mann/Adorno zu einem kulturellen Korrelat Das Leben im Werk. Stgt./Weimar 2002. – Angelika des Faschismus. Ein auch medial ausgefoch- Abel: Musikästhetik der klass. Moderne. Mchn. tener Streit zwischen Mann u. S., der um sein 2003. – Hartmut Krones: A. S. Werk u. Leben. Wien geistiges Eigentum, aber auch die Assozia- 2005. – Gerold W. Gruber: A. S. In: NDB. – Jens tionen seiner Person mit dem in Teilen ne- Schmitz: Konstruktive Musik. Thomas Manns gativ besetzten Protagonisten Leverkühn ›Doktor Faustus‹ im Kontext der Moderne. Würzb. Anne Holzmüller fürchtete, führte dazu, dass der zweiten 2009. Auflage eine Erklärung angefügt wurde, die S. als Urheber der Zwölftontechnik heraus- Schoenberner, Franz, * 18.12.1892 Berstellt. lin, † 11.4.1970 Teaneck/New Jersey. – S.s kompositor. Wende zur Atonalität u. Essayist, Autobiograf. die Zwölftontechnik beeinflussten nachhaltig die musikal. Avantgarde des 20. Jh., insbes. Der Sohn eins Pfarrers studierte Literatur- u. die Vertreter der sog. seriellen Musik, die die Kunstgeschichte in Berlin u. München. Von Reihentechnik weiterführten u. sie auf wei- bes. Bedeutung war für ihn der Kontakt zu tere musikal. Parameter (Tondauer, Dynamik seiner Großcousine Lou Andreas-Salomé. u. Klangfarbe) übertrugen. Trotz der grund- Nach dem Ersten Weltkrieg arbeitete S. als legenden Neuerungen im materiellen Bereich Lektor beim Musarion Verlag u. als Redakblieb S. aber stets dem musikal. Ausdrucks- teur bei der Zeitschrift »Jugend«. 1929–1933 ideal der Romantik verpflichtet, weshalb die war er Chefredakteur des »Simplicissimus«. Komponisten des sog. Darmstädter Kreises Gegen den Widerstand der Verlagsinhaber (um Pierre Boulez, Karl-Heinz Stockhausen u. gab S. zusammen mit Thomas Theodor Heine Luigi Nono), welche die nötige Konsequenz der Zeitschrift eine stark antinationalsoziain der Durchführung der Reihentechnik ver- listische Ausrichtung. Nach dem Machtanmissten, S. als rückwärtsgewandten Tradi- tritt der Nationalsozialisten flüchtete S. mit tionalisten kritisierten. Die Polemik Hanns seiner Frau über die Schweiz u. Frankreich in Eislers (1898–1962), ehemals Mitgl. der die USA. Erst im amerikan. Exil begann S. zu ›Zweiten Wiener Schule‹, macht deutlich, in schreiben. Seine dreibändige Autobiografie welche Paradoxien man S. vorwarf sich verbehandelt die Zeit bis zur Machtergreifung strickt zu haben: »Er war der eigentliche durch die Nationalsozialisten (Confessions of an Konservative; er schuf sich sogar eine RevoEuropean Intellectual. New York 1946. Dt. lution, um Reaktionär sein zu können.« Mchn. 1964), die Jahre des Exils (The Inside (Musik und Politik. Schriften 1924–1948. Hg. G. Story of an Outsider. New York 1949. Dt. Mchn. Mayer. Lpz. 1973, S. 15). 1965) u. die »mehr psychologische als faktiSchriften, Briefe: Harmonielehre. Wien 1911. sche Geschichte eines schweren Unfalls«, als 3 4 2 1922. 1949. – Texte. Wien 1926. 2001. – Style dessen Folge S. seit seinem 59. Lebensjahr an and Idea. New York 1950. Dt. Ffm. 1976 (= Ges. den Rollstuhl gefesselt blieb (You Still Have Schr.en, Bd. 1: Stil u. Gedanke/Aufsätze zur Musik. Hg. Ivan Vojtech). – Briefe. Hg. Erwin Stein. Mainz Your Head. Excursions from Immobility. New 1958. – Schöpferische Konfessionen. Hg. Willi York 1957. Dt. Mchn. 1966). S.s ErinnerunReich. Zürich 1964. – Berliner Tgb. Hg. Josef Rufer. gen geben ein genaues Bild der Verhältnisse Ffm. 1974. – Apropos Doktor Faustus. Briefw. Ar- im München der Weimarer Republik, von nold Schönberg – Thomas Mann. Tagebücher u. den kulturellen Leitideen u. polit. Illusionen
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eines klassisch-humanistisch gebildeten dt. Intelektuellen dieser Zeit u. von den Schwierigkeiten des Exillebens. Weitere Werke: Der Weg der Vernunft u. a. Aufsätze. Mchn. 1970 (Ess.s). – Die Wahrheit ist oft unwahrscheinlich. Thomas Theodor Heines Briefe an F. S. aus dem Exil. Hg. Thomas Raff. Gött. 2002. – ›... tu Geld in deinen Beutel, Kesten!‹ Der Briefw. zwischen F. S. u. Hermann Kesten im Exil 1933–1945. Hg. Frank Berninger. Mchn. 2006. – F. S. – Hermann Kesten. Briefw. im Exil. 1933–1945. Hg. F. Berninger. Gött. 2008. Literatur: Hermann Kesten: Meine Freunde die Poeten. Mchn. 1959, S. 237–254. – Elsbeth Wolffheim: Abschied v. Europa. In: HeinrichMann-Jb. 1 (1983), S. 103–119. – Christoph Eykman: F. S. In: Dt. Exillit., Bd. 2.1, 1989, S. 855–863. – Gerhard Schoenberner: Anmerkungen zu einer Biogr. F. S. In: Lit. in Bayern 1996, Sonderh., S. 24–28. Peter König / Red.
Schönborn, Schoenborn, Gottlob Friedrich Ernst, * 15.9.1737 Stolberg/Harz, † 29.1. 1817 Emkendorf/Holstein. – Diplomat; Lyriker, Reiseschriftsteller.
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low, der die Gesandtschaft 1785–1787 leitete. Aus S.s Londoner Zeit existieren Aufzeichnungen zum polit. Geschehen. 1802 als Legationsrat pensioniert, kehrte S. nach Hamburg zurück, wo er bis 1806 im Haus des Verlegers Friedrich Perthes, des Schwiegersohns von Claudius, lebte. Seine letzten Jahre verbrachte er mit Katharina Stolberg, der Schwester der beiden Dichter Stolberg, in Emkendorf. Dort nahm er am Leben des geistigen Zirkels um die Gräfin Reventlow teil u. traf u. a. mit Lavater, der Fürstin Gallitzin, Reinhold u. Baggesen zusammen. S.s literar. Produktion beschränkt sich auf einige Gedichte, Reiseerinnerungen, Aufzeichnungen u. philosophische Studien, bes. zum Spinozismus. Ein ausgedehntes Brief-Œuvre zeugt jedoch von der anregenden u. vermittelnden Tätigkeit des im Alter zunehmend introvertierten S. Weiteres Werk: Aufzeichnungen über Erlebtes. Hg. K. Weinhold. In: Ztschr. der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 1 (1870), S. 129–220. Literatur: Johann Georg Rist: S. u. seine Zeitgenossen. In: Ders.: Lebenserinnerungen. Tl. 3, Gotha 1888, S. 274–358 (enthält auch Texte S.s). – Jürgen Behrens: G. F. E. S. In: Schleswig-Holsteinisches Biogr. Lexikon. Bd. 1, Neumünster 1970, S. 240–242. Hans-Albrecht Koch
S., Sohn eines evang. Geistlichen, besuchte, nachdem sein Vater Pastor in Bordelum/ Schleswig geworden war, die Schule des Klosters Bergen bei Magdeburg u. ging 1758 an die Universität Halle, wo er ein Studium der Theologie begann, bald jedoch zu Philosophie, Mathematik u. AltertumswissenSchönborn, Johann Philipp von, * 6.8. schaft wechselte. 1761 wurde er Hauslehrer 1605 Burg Eschbach/Taunus, † 12.2.1673 auf Gut Trenthorst bei Lübeck, wo er Würzburg. – Jurist, Theologe, Erzbischof, Freundschaft mit Claudius schloss. 1764 ging Kurfürst. er als Privatlehrer nach Kopenhagen. Dort gehörte er dem Kreis dt. Literaten um Klop- S. besuchte die Lateinschule in Weilburg/ stock, Gerstenberg u. andere an, die der dän. Lahn. 1619 wurde er in Mainz Kleriker, 1625 Staatsmann Graf Johann Hartwig Ernst Mitgl. des Mainzer Domkapitels. Sein StudiBernstorff um sich versammelte. Bernstorff um der Rechtswissenschaften begann er 1626 stellte S. 1768 als Hofmeister an. 1771 nach in Würzburg u. setzte es 1628 in Siena fort. Es der Entlassung Bernstorffs – siedelte S. zu- folgten (wohl bis 1629) Studien in Mainz, nächst nach Hamburg über. 1773 wurde er Orléans u. Weilburg. Dass er Schüler Friedzum dän. Konsulats-Sekretär in Algier er- rich Spees gewesen sein soll, ist wohl eine nannt. Auf der Reise dorthin schloss er in Legende. Ebenso lässt sich nicht mit SicherGöttingen mit den Mitgliedern des Hain- heit nachweisen, dass er den Autor der Cautio bundes Freundschaft, in Frankfurt/M. ver- Criminalis in Köln – während seines Exils dort kehrte er in Goethes Elternhaus. 1777 wurde 1631 – getroffen hat, wie dies von Leibniz S. an die dän. Gesandtschaft in London ver- behauptet wurde. Am 16.8.1642 zum Fürstsetzt. Dort begegnete er Friedrich Heinrich bischof von Würzburg gewählt, wurde er am Jacobi u. dem Grafen Friedrich Karl Revent- 18.11.1647 Erzbischof u. Kurfürst von Mainz
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u. damit Erzkanzler des Reichs. Seit dem 12.11.1663 war er auch Fürstbischof von Worms. S., der zu seiner Zeit »der deutsche Salomo« genannt wurde, war maßgeblich am Zustandekommen des Westfälischen Friedens u. an der Eindämmung des frz. Einflusses auf das Reich sowie an der Beseitigung der span. Hegemonie beteiligt, obwohl er zur Stärkung des Rheinbundes gegenüber dem Kaiser zeitweise auf Frankreich setzte. Die Gefahr, die hierdurch dem Reich drohte, erkennend, unterstützte er daraufhin die Politik Kaiser Leopolds I. – besonders bei der Türkenabwehr (1660–1664). S. suchte v. a. die Unabhängigkeit der kleineren Reichsstände gegenüber dem Kaiser u. dem frz. König zu wahren. Er wirkte auch mit an der Errichtung des Immerwährenden Reichstags. Als Erzkanzler des Römischen Reiches vertrat er auch gegenüber der Kurie in Rom die Interessen des dt. Episkopats – Meinungsverschiedenheiten gegenüber dem Papst (bes. gegenüber Alexander VII.) nicht scheuend. Unter dem Einfluss von Spees Cautio criminalis verbot er in seinen Herrschaftsgebieten als einer der ersten dt. Fürsten die Hexenprozesse. Protestanten u. Juden gegenüber zeigte er eine sonst im Reich nicht praktizierte Toleranz. An seinem Hof weilten bedeutende Gelehrte, wobei ihre Konfession nicht von Bedeutung war (vgl. z.B. Leibniz). Kirchenpolitisch sorgte er in seinen Bistümern für die Umsetzung der Beschlüsse des Trienter Konzils. S. ist v. a. auch als religiöser Autor bekannt. Für das Gesangbuch für das Bistum Würzburg (Würzb. 1649; Überarb. der Ausgabe von 1627/28) fungierte er zumindest als Herausgeber. Das Werk befriedigt die aufkommende Begeisterung für den dt. Kirchengesang, der auch in den kath. Fürstentümer gefördert wurde. Die hier enthaltenen Lieder widmen sich den Jahreszeitenfesten u. der Marienverehrung mit Anspielung auf fränk. Wallfahrtsorte. Eine Erbauungsschrift mit katechetischer Didaxe ist S.s ABC-Büchlein für die Jugend (Mainz 1665), das für jeden Buchstaben ein Leitwort mit einem dazugehörigen kleinen Gedicht enthält. Zu den wichtigsten Werken gehört die Perikopendichtung Catholische Sonn- und Feyertägliche Evangelia / und
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darauß gezogene Lehrstück (Würzb. 1653. 21656. Neudr. mit Nachw. von W. Gordon Marigold. Amsterd. 1981). In dreiteiligem Aufbau folgen auf die Evangeliengedichte ein gereimtes Lehrstück u. ein Prosagebet. Auch der Kaiser Leopold I. gewidmete Kayserliche Psalter daß ist Die Psalmen Davidß (Ffm. 1658. 21673. Neudr. mit Einl. von W. G. Marigold. New York/ London 1972) will den dt. Kirchengesang fördern, wie die Anweisungen an die »Organisten und Sänger« bekunden. Die Melodien stammen von Philipp Friedrich Buchner u. nehmen musikhistorisch eine bes. Stellung ein. Das Werk reiht sich ein in die Tradition der in Deutschland beliebten Psalmendichtung u. unterstützt die religösen Reformbestrebungen des Fürsten nach den Verordnungen des Trienter Konzils. Literatur: Karl Wild: J. P. v. S, genannt der dt. Salomo, ein Friedensfürst zur Zeit des dreißigjährigen Krieges. Heidelb. 1896. – Georg Mentz: J. P. v. S. 2 Tle., Jena 1896 u. 1899. – Max Domarus: Würzburger Kirchenfürsten aus dem Hause S. Wiesentheid 1951, S. 19–106. – Martin Göhring: Kaiserwahl u. Rheinbund v. 1658. In: Geschichtl. Kräfte u. Entscheidungen. FS Otto Becker. Hg. M. Göhring u. Alexander Scharff. Wiesb. 1954, S. 65–83. – Georg Paul Köllner: Die Bedeutung des J. P. v. S. für die Reform des liturg. Kirchengesanges. In: Kirchenmusikal. Jb. 39 (1955), S. 55–70. – Roman Schnur: Der Rheinbund v. 1658 in der dt. Verfassungsgesch. Bonn 1955. – Hubert Jedin: Die Reichskirche in der Schönbornzeit. In: Trierer theolog. Ztschr. 65 (1956), S. 202–216. – Paul Wiedeburg: Der junge Leibniz. Das Reich u. Europa. 1. Tl.: Mainz. Bd. 1, Wiesb. 1962, S. 94–104, 160–175, 206–211. – W. Gordon Marigold: Die ›Koniglichen Psalmen‹ des Kurfürsten J. P. v. S. In: Mainfränk. Jb. für Gesch. u. Kunst 22 (1970), S. 187–216. – Ders.: Sacerdos Magnus. Eine unbekannte Leichenrede für J. P. v. S. In: ebd. 23 (1971), S. 14–34. – Ders: Perikopendichtung after Opitz. In: Univ. of Dayton Review 10 (1973), 1, 49–58. – Ders.: ›Magna gloria domus Schonbornianae‹: Huldigungsschr.en an Mitgl.er des Hauses S. In: Jb. für fränk. Landesforsch. 33 (1973), S. 79–118. – Otto Meyer: J. P. v. S. Fürstbischof v. Würzburg, Erzbischof v. Mainz, Bischof v. Worms, 1605–1673. Ringen um den Frieden. Würzb. 1973. – W. G. Marigold: Kath. Evangelien- u. Episteldichtung. Die Schriften des Kurfürsten J. P. v. S. (1605–1673). In: Daphnis 3 (1974), S. 41–59. – Ders.: De Leone Schönbornico: Huldigungsgedichte an J. P. u. Lothar Franz v. S. In: Archiv für mittelrhein. Kir-
Schönemann chengesch. 26 (1974), S. 203–242. – Karl Otmar Frhr. v. Aretin (Hg.): Der Kurfürst v. Mainz u. die Kreisassoziationen 1648–1746. Wiesb. 1975. – Friedhelm Jürgensmeier: J. P. v. S. In: Fränk. Lebensbilder. Bd. 6. Hg. Gerhard Pfeiffer u. Alfred Wendehorst. Würzb.1975, S. 161–184. – Ders.: J. P. v. S. (1605–1673) u. die röm. Kurie. Mainz 1977. – Ernst Walter Zeeden: Ein landesherrl. Toleranzedikt aus dem 17. Jh. In: Histor. Jb. 103 (1983), S. 146–165. – W. G. Marigold: Beziehungen zwischen Friedrich v. Spee u. J. P. v. S. In: F. v. Spee. Hg. Italo Michele Battafarano. Gardolo di Trento 1988, S. 277–295. – Ders.: Regierungskunst u. Aufgeklärtheit bei einem Barockfürsten: J. P. v. S. In: Morgen-Glantz 3 (1993), S. 173–188. – Peter Claus Hartmann (Hg.): Die Mainzer Kurfürsten des Hauses S. als Reichskanzler u. Landesherren. Ffm. 2002. Franz Günter Sieveke
Schönemann, Daniel, * 16.2.1695 Greifswald, † 1737 Koppen bei Glogau. – Evangelischer Prediger, Kirchenlieddichter. Die Kunst, in Reimen so leicht wie andere in Prosa zu reden, hat den Lebensweg des Theologen S. bestimmt. Nach seinem Studium in Greifswald (Immatrikulation am 10.7.1708) u. Rostock (31.5.1714) u. einem Lehramt in Güstrow u. Strelitz wurde S. 1721 von Friedrich Wilhelm I. als Prediger nach Geltow bei Potsdam u. 1723 nach St. Georg in Berlin berufen, wo er Aufnahme in der Königlichen Akademie der Wissenschaften fand. Nach willkürl. Eingriffen des Herrschers in die luth. Liturgie schied S. 1735 wohl aus Gewissensgründen aus dem Amt aus. Noch vor seiner Berufung nach Berlin verfasste S. unter dem Namen des »Reinen« zwei Sammlungen v. a. weltl. Gedichte: Der grünenden Jugend erste Früchte (Rostock/Lpz. 1718) u. Poetische Ergötzlichkeiten (Rostock/Parchim 1718). Ab 1721 veröffentlichte er nur noch geistl. Lieder, die alle der Gattung der Liedpredigt zuzurechnen sind. Sie enthalten schriftgemäße Betrachtungen über Sarg u. Tod sowie die Passion Christi. Die Predigt, mit der sich S. von seiner Gemeinde in St. Georg verabschiedete, gilt mit ihren 724 Strophen als das längste geistl. Lied: Das so wichtige als heilsame Andencken des für aller Menschen Sünde leidenden und sterbenden Jesu,
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Preiset allen Christen durch die in gebundener Rede abgefaßte Leydens-Geschichte Jesu Christi wohlmeinend an (Bln. 1736). Ausgabe: Der grünenden Jugend erste Früchte (1718). Internet-Ed. in: Dt. Lit. des 18. Jh. Online. Hg. Paul Raabe. Mchn. 2007. Literatur: Nachricht v. dem teutschen Poeten D. S. Ffm./Lpz. 1721. – l. u.: D. S. In: ADB. – Goedeke, Bd. 3, S. 309 f. – Evang. Pfarrerbuch für die Mark Brandenburg seit der Reformation. Bearb. Otto Fischer. Bd. II/2, Bln. 1941, S. 778. Heimo Reinitzer / Red.
Schönherr, Karl, * 24.2.1867 Axams/Tirol, † 15.3.1943 Wien; Grabstätte: ebd., Zentralfriedhof (Ehrengrab). – Dramatiker, Lyriker, Erzähler. S. verlor im Alter von zehn Jahren seinen Vater, der Dorfschullehrer war, wuchs in dem im Vinschgau gelegenen Schlanders auf u. besuchte das Gymnasium in Brixen (Bressanone), Bozen (Bolzano) sowie Hall in Tirol. 1886 immatrikulierte sich S. in Innsbruck zunächst für Germanistik u. Klassische Philologie; seit dem darauffolgenden Jahr studierte er Medizin. 1891 setzte er sein Studium mit einem Stipendium an der Wiener Alma Mater fort, wo er 1896 zum Dr. med. promoviert wurde. Noch während seines Studiums schloss sich S. der Bewegung »Jung-Tirol« an, die dt.-nationale u. antiklerikale Ziele verfolgte, u. machte Bekanntschaft mit Adolf Pichler. Gleichzeitig veröffentlichte er mundartl. Gedichte u. Geschichten aus den Tiroler Alpen (Gedichtsammlung Innthaler Schnalzer. Lpz. 1895. 2 1896. Prosaband Allerhand Kreuzköpf. Lpz. 1895. Tiroler Marterln für abg’stürzte Bergkraxler. Lpz. 1896), in denen sich Eindrücke seiner Kindheit u. Jugend widerspiegeln u. die von Peter Rosegger anerkennend besprochen wurden. Zunächst als Aushilfsarzt in St. Pölten tätig, eröffnete er – wenngleich recht erfolglos – eine Praxis in Wien, die er schließlich 1905 aufgab, um sich fortan uneingeschränkt der Schriftstellerei zu widmen. Bis 1924 lebte S. sodann abwechselnd in Wien u. Telfs, wobei ihn die persönl. Erfahrungen als Arzt-Dichter weiter begleiteten.
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Brachte der dreiaktige, 1897 uraufgeführte Judas von Tirol (Lpz. 1927) noch keinen allzu großen Bühnenerfolg, so stellte sich dieser mit dem Einakter Die Bildschnitzer (Urauff. Wien 1900) ein. 1907 gelang S. mit der Komödie Erde – in Agram uraufgeführt u. mit dem Bauernfeld-Preis ausgezeichnet – einer seiner größten Erfolge. Der unverwüstl. alte Bauer Grutz, den bei der Aufführung am Wiener Hofburgtheater im folgenden Jahr Josef Kainz verkörperte, führt auf seinem Hof ein geradezu diktatorisches Regiment. Als Grutz einen schweren Unfall hat, glauben alle, dass er den Winter nicht überstehen wird, doch im Frühling feiert Grutz Auferstehung u. zertrümmert eigenhändig seinen Sarg; gleichsam an seiner Stelle stirbt der verträumte, junge Knecht. Trotz naturalistischer Details u. der idealtypischen Darstellung bleibt die bergbäuerl. Gesellschaft Modell: Der alte Grutz verkörpert den naturverbundenen Starken u. das Vital-Lebendige, dem alles Schwache – zu dem auch die junge Generation zählt, die Grutz’ schwächl. Sohn repräsentiert – u. nicht Erdgebundene weichen muss. Dieses biologistische Weltbild bestimmt Denken u. Sprache vieler Figuren S.s. Ähnlich wie Gerhart Hauptmann lässt auch S. die Figuren nicht ohne dramaturgischen Effet die Mundart seiner Heimat sprechen. Die Aufführungen seiner Stücke durch die Tiroler Volksschauspielertruppe der »ExlBühne« (seit 1910) wurden zum Maßstab einer »authentischen« S.-Interpretation. Die für S. zweite wichtige Bühne war das Wiener Burgtheater, in dessen Auftrag zahlreiche Werke entstanden u. wo er seine größten Erfolge feierte. Die Adaption der Stücke an diese so unterschiedl. Aufführungsbedingungen war – neben inhaltl. Gründen u. den Zwängen der Zensur – ein Movens für deren permanente Umarbeitung. Ebenso erfolgreich war das 1910 am Deutschen Volkstheater in Wien uraufgeführte histor. Schauspiel Glaube und Heimat (Lpz. 1910), das auf der Vertreibung der Zillertaler Protestanten aus Österreich 1837 basiert, jedoch im Zeitalter der Gegenreformation spielt. 1911 wurde S. hierfür mit dem Grillparzer-Preis ausgezeichnet, den er noch zwei weitere Male (1917
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u. 1920) zuerkannt bekam. Das Drama entfachte indes auch einen Literaturstreit, da Enrica von Handel-Mazzetti S. des Plagiats bezichtigte; der antikath. Impetus des Stücks dürfte hierbei jedoch entscheidender gewesen sein. Literarisches Vorbild von Der Weibsteufel (Lpz. 1914; Urauff. Wien 1915, als Stummfilm u. d. T. She Devil) sind die Ehedramen Ibsens u. Strindbergs sowie Gerhart Hauptmanns Fuhrmann Henschel. Im Gegensatz zu früheren, vom Naturalismus beeinflussten Dramen sind die Figuren stärker entpersonalisiert bzw. typisiert: Der »Jäger« vertritt das Starke, der kränkl. u. verschlagene »Mann« das Schwache, u. das starke, verführerische »Weib« steht für das triebhaft Böse. Die Dämonisierung der Frau überlagert u. neutralisiert schließlich den emanzipatorischen Ansatz des Stücks. 1922 heiratete S. Malvine, die Tochter seines Freundes Vinzenz Chiavacci. In den Dramen, die nach dem Ersten Weltkrieg entstanden, traten zunehmend expressionistische Züge stärker zum Vorschein; in Stücken wie Es (Lpz. 1923. Urauff. Wien 1922) bzw. Die Hungerblockade (Lpz. 1925. Umgearbeitet zu Der Armendoktor. Lpz. 1927. Urauff. Wien 1926) oder Herr Doktor, haben Sie zu essen? (Urauff. Wien 1930) spiegeln sich die sozialen Verhältnisse der Zwanziger, aber auch S.s eigene Erfahrung der existenzbedrohenden Armut während seiner Zeit als praktizierender Arzt (»Patienten, die zahlten, kamen nie zu mir«). Neben dem Judas von Tirol befassen sich auch die Dramen Volk in Not (Lpz. 1916. Urauff. Wien 1915) sowie S.s letztes Stück, Die Fahne weht (Lpz. 1937. Urauff. Graz 1937), mit den Tiroler Freiheitskämpfen der Jahre 1809/10. Die Fahne weht wurde nach dem Einmarsch der Hitlertruppen in Österreich als erstes Stück am Burgtheater unter der Direktion des nationalsozialistischen Schriftstellers Mirko Jelusich aufgeführt. Auch wenn der Widerstand der Tiroler Bauern gegen die frz. Besatzung mit der aktuellen polit. Situation hätte gleichgesetzt werden können, reagierte die zeitgenöss. Kritik genau umgekehrt: Die Premiere wurde als »nationales Fest« gewürdigt. S. verfolgte mit seiner Dra-
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matik keine unmittelbar polit. Ziele; Figu- Anzengruber. In: MAL 29 (1996), 3/4, S. 101–116. – renzeichnung u. Sprache rücken ihn aber in Walter Marinovic: Dt. Dichtung aus Österr.: S. – die Nähe der »Blut-und-Boden«-Literatur, Weinheber – Waggerl. Wien 1997. – Wendlin zumal S. mehrfach für die Politik Hitlers vo- Schmidt-Dengler: K. S. In: ÖBL. – P. S. Saur: Market forces and the dramas of K. S. In: Literature, tierte u. Goebbels ihm zum 75. Geburtstag film, and culture industry in contemporary Austria. gratulierte. Nach 1945 erschienen nur die Hg. Margarete Lamb-Faffelberger. New York u. a. bereits zu Lebzeiten des Autors erfolgreichen 2002, S. 119–129. Stücke auf den Spielplänen meist kleinerer Bernhard Fetz / Hans Peter Buohler Bühnen; eine Neuentdeckung oder Wiederbelebung des S.schen Volksstücks in der entSchönhuth, Ottmar Friedrich Heinrich, fernten Tradition Ludwig Anzengrubers erauch: Ottmar Heimlieb, F. H. Ottmar, folgte nicht. Weitere Werke: Ausgaben: Ges. Werke. 4 Bde., Wien 1927. – Ges. Werke. 2 Bde., ebd. 1948. – Gesamtausgabe. 3 Bde., ebd. 1967–74. – Einzeltitel: Aus meinem Merkbuch. Lpz. 1911. – Tiroler Bauernschwänke. Bln. 1913. – Schuldbuch. Lpz. 1913. – Die erste Beicht’ u. a. Novellen. Lpz. 1924. – Dramen: Die Bildschnitzer. Wien 1900. – Der Sonnwendtag. Wien 1902 (umgearbeitet Lpz. 1913). – Familie. Wien 1905. 2. Fassung u. d. T. Kindertragödie. Lpz. 1913. – Karrnerleut’. Wien/ Lpz. 1905. – Das Königreich. Lpz. 1917. – Narrenspiel des Lebens. Lpz. 1918. – Frau Suitner. Lpz. 1916. – Maitanz. Lpz. 1922. – Passionssp. Lpz. 1933. Literatur: Bibliografie in: Gesamtausg. Bd. 3, Wien 1974, S. 709–726. – Weitere Titel: Anton Bettelheim: K. S. u. das österr. Volksstück. Wien 1926. – Ders.: K. S. Leben u. Schaffen. Lpz. 1928. – Maria Scherr: K. S. als Erzähler. Diss. Wien 1937. – Karl Paulin: K. S. u. seine Dichtungen. Innsbr. 1950. – Toni Schuh: K. S. Sprache u. Sprachstil. Diss. Ebd. 1966. – Hans-Jürgen Weitschacher: Die Bedeutung der Gebärde in S.s Dramenkunst. Diss. Wien 1968. – Klaus Gillmann: Das dramat. Werk K. S.s u. seine Rezeption in Wien. Diss. Ebd. 1973. – Elisabeth Melichar-Lublasser: Phänomene der österr. Gesch. im Werk K. S.s. Diss. Innsbr. 1979. – Wilhelm Bortenschlager: Die drei großen Alten: Franz Kranewitter, K. S., Josef Wenter. In: Ders.: Tiroler Drama u. Dramatiker im 20. Jh. St. Michael 1982 (= Brennpunkte 17), S. 20–38. – Hans Weigel: Fragment über K. S. In: Ders.: Nach wie vor Wörter. Literarische Zustimmungen, Ablehnungen, Irrtümer. Graz u. a. 1985, S. 130–144. – Konstanze Fliedl: Künstl. Konkurrenzen. Schnitzler u. S. In: Metropole u. Provinz in der österr. Lit. des 19. u. 20. Jh. Hg. Arno Dusini u. a. Wien 1994, S. 115–127. – Susan C. Anderson: K. S. In: Major Figures of Austrian Literature: The Interwar Years 1918–1938. Hg. Donald G. Daviau. Riverside 1995, S. 393–420. – Pamela S. Saur: Naturalism versus ›Heimatliteratur‹ in the dramas of K. S. and Ludwig
* 6.4.1806 Sindelfingen, † 6.2.1864 Edelfingen. – Verfasser von Volksbüchern, historischer u. christlicher Literatur.
S. wurde als ältestes Kind des Rechtskonsulenten u. Universitätspflegers Heinrich Schönhuth geboren. Der frühe Tod des Vaters belastete die Familie nachhaltig u. erschwerte S.s Ausbildung an der städt. Lateinschule u. im evang. Seminar in Schönthal. Nach bestandenem Examen wechselte S. 1826 in das Tübinger Stift. Neben seinen theolog. Studien befasste er sich vermehrt mit der Geschichte seiner Heimat u. ihrer volksliterar. Tradierung. In diese Zeit fällt auch die Bekanntschaft mit Ludwig Uhland. Nach einjähriger Vikarszeit im schwäb. Pliezhausen bezog S. 1832 als Pfarrverweser den Hohentwiel, wodurch er Zugang zu dem Kreis um Joseph Freiherr von Laßberg erhielt. Als Mäzen u. Sammler stand Laßberg in engem Austausch mit der schwäb. Spät- u. Nachromantik, in den er mit der Herausgabe des von ihm gefundenen Nibelungenlieds (Hohenems-Laßbergische Handschrift) auch S. miteinbezog (Der Nibelunge Lied. Tüb. 1834). Auf die Kritik an seiner fragwürdigen Datierung ließ S. 1839 eine Ergänzung u. 1842 eine historisch-krit. Untersuchung folgen (Die Klage sammt Sigenot und Eggenliet. Tüb. Die Nibelungen-Sage und das Nibelungen-Lied. Tüb.). Sein Publikationseifer, der trotz mehrfacher Wechsel seiner Amtssitze (Dörzbach 1837, Wachbach 1842, Edelfingen 1854) bis zu seinem Lebensende anhielt, war durch ein universales konservatorisches u. archival. Interesse bestimmt, das oftmals über Fragen der Auswahl u. kompositor. Zusammenstellung hinwegging. Seine Anthologien, darunter eine große Zahl an Volksbüchern, umfassen
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ebenso Zeugnisse der geistl. Literatur (Luthers derrolle nehmen allenfalls seine lyr. Arbeiten geistliche Lieder und Psalmen. o. O. 1829) wie an, die autobiogr. fundiert sind u. zu einem Erzählungen aus dem Volksgut (Seerosen. melancholisch-tragischen Ton tendieren. Konstanz 1853). Um die LokalgeschichtsWeitere Werke: Wigalois der Ritter mit dem schreibung des Bodensee-Hochrheingebiets Rade. Reutl. 1846. – Fortunatus mit seinem Seckel machte sich S. in einer Reihe von Städte- u. Wünschhütlein. Ebd. 1849. – König Apollonius chroniken verdient, die er teils edierte (Jo- v. Tyrus. Ebd. 1850. – Der Finkenritter. Ebd. 1852. hann M. Herolt: Chronica. Zeit und Jahrbuch von – Jesu Christi Kinderbuch. Ebd. 1852. – Die Sage der Statt Hall. Schwäbisch Hall 1855), teils vom Nünny Glöckly oder das Deutschordens-Gelübde. Lpz. 1857. – Leben u. Thaten des weiland selbst zusammenstellte (Mergentheim mit seiwohledlen u. gestrengen Herrn Sebastian Schertlin nen Umgebungen. Mergentheim 1844), am be- v. Burtenbach, durch ihn selbst beschrieben. Nach kanntesten Die Burgen, Klöster, Kirchen und Ka- der eigenen Hs. des Ritters urkundlichtreu hg. v. O. pellen Württembergs und der Preußisch-Hohenzol- S. Münster 1858. – Die Sage vom Ritter von Rolern’schen Landestheile (Stgt. 1860). S.s eigene denstein u. Schnellert als Herold des Krieges u. chronikal. Arbeiten kennzeichnet ein kom- Friedens. Tüb. 1864. pilator. Verfahren, das die eigentl. Historie Literatur: G. A. Euler: Freundesandenken an im Zusammenspiel von Sagen, Märchen u. O. S. Heidelb. 1864. – E. Schneider: O. S. In: ADB. – Geschichten darbietet. Eine solche Mytho- R. Krauß: O. S. In: Schwäb. Literaturgesch. in zwei poetik prägt auch S.s. historiografische Ar- Bdn. Freib. i. Br./Lpz./Tüb. 1899, Bd. 2, S. 270 f. – beiten, wie den Graf Johann von Wirtenberg oder Brümmer: O. S. In: Ders.: Lexikon der dt. Dichter die Brautwerbung zu Stuttgarten (Schwäbisch u. Prosaisten des 19. Jh. 5. Aufl., Bd. 4, Lpz. 1911, S. 10–11, 433. – K. Wallrauch: Zur Erinnerung an Hall/Lpz. 1852) oder die Geschichte Rudolf’s von den Heimatforscher u. Dichter O. S. (1806–1864). Habsburg, Königs der Deutschen (Lpz. 1844), die In: Mergentheimer Heimatbl. 3 (1933), Nr. 1, vielmehr der zeitgenöss. modischen Verdich- S. 1–3. – Otto Borst: Eduard Mörike u. O. S. Eine tung von Populärgeschichte entspricht (His- fränk. Dichterfreundschaft. In: Der Frankenspiegel torie von König Wilhelm und seinen Söhnen. 1852. 1/2 (1951), S. 114 f. – Ders.: Ottilie Wildermuth u. Historie von Kaiser Oktavianus. Reutl. 1855). S.s O. S. (mit einem unveröffentl. Brief der Dichterin genuin erzählerisches Talent zeigt sich am an S.). In: Schwäb. Heimat 6 (1955), S. 225–227. – deutlichsten in seinen zahlreichen Nacher- Adolf Kastner u. Herbert Berner: Der Geschichtszählungen histor. u. myth. Stoffe für eine schreiber u. Volksschriftsteller O. F. H. S., Pfarrbreite Leserschaft ohne klass. Bildung, die ihn amtsverweser auf dem Hohentwiel (1830–1837). Konstanz 1957. – A. Kastner: O. F. H. S. Ein Epilog. literaturhistor. in die Nähe Gustav Schwabs In: Hegau 1959, S. 227–231. – O. Borst: O. F. H. S. rücken (Historie von Havelok dem Starken. Ebd. Historiker, Germanist, Volksschriftsteller, Pfarrer 1852. Historie von der geduldigen Königin Cre- 1806–1864. Stgt. 1960. – Ders.: O. S. Eine biogr. scentia. Ebd. 1852. Wilhelm Tell. Ebd. 1854). In Skizze. Tüb. 1968. – Wolfgang Burr: Die Familie S. der Wahl seiner Sujets wird S.s. pädagog. u. Sindelfingen. In: Sindelfinger Jb. 12 (1970), Anliegen erkennbar, das ihn an herausra- S. 323–338. – Christine Schmidt: O. F. H. S. genden Einzelschicksalen aus Vergangenheit (1806–1864) – Der Geschichtsschreiber, Volksu. Mythos christl. Tugenden wie Demut, schriftsteller, Mitbegründer des Histor. Vereins für Milde u. Duldsamkeit paradigmatisch illus- Württemberg. Franken u. Pfarrer u. seine Bezietrieren lässt (Hirlanda. Eine anmuthige und er- hungen zu Eduard Mörike. In: Württemberg. Franken 89 (2005), S. 221–235. Julia Ilgner bauliche Historie. Ebd. 1848. Historie von den sieben weisen Meistern. Ebd. 1849. Historie von der geduldigen Griseldis, gar rührend und erbaulich. Schönstedt, Walter, * 14.2.1909 Berlin. – Ebd. 1847. Historie von der edlen und schönen Romancier, Erzähler. Melusine, welche ein Meerwunder gewesen. Ebd. 1855). Mit seinen patriotischen Themen u. Nach einer Bildhauerlehre war S. als Land- u. seinem lebendigen Stil war S. einer der Bauarbeiter in Berlin tätig. Er schloss sich meistgelesenen Schriftsteller Württembergs; dem Kommunistischen Jugendverband sowie er hat das volkstüml. Geschichtsbewusstsein der Roten Jungfront an u. musste 1933 nach im Südwesten nachhaltig geprägt. Eine Son- Frankreich emigrieren. In Paris war S. im
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internat. Schriftstellerverband aktiv u. gehörte zu den Begründern des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller im Exil. Seit 1935 im US-amerikan. Exil, arbeitete er zunächst in antifaschistischen Emigrantenorganisationen, bevor er 1941 in die US-Armee eintrat. Nach dem Zweiten Weltkrieg war S. für eine Buchreihe zur Umerziehung dt. Kriegsgefangener verantwortlich u. an der Gründung der von Andersch u. Hans Werner Richter herausgegebenen Zeitschrift »Der Ruf« beteiligt. Seit einer Europareise, die S. 1950 unternahm, verlieren sich seine Spuren. S.s erste Kurzgeschichte erschien 1929 im Feuilletonteil der »Roten Fahne«. Nach dem Erscheinen des Romans Kämpfende Jugend (Bln. 1932 als Bd. 8 der Reihe »Der Rote EineMark-Roman«) galt S. als Begabung innerhalb der proletarisch-revolutionären Literaturbewegung. S.s letzte bekannte Publikation erschien 1940 u. d. T. The Cradle Builder (New York/Toronto). – S.s Werk steht in enger Verbindung mit Versuchen im Umfeld der KPD, eine zielbewusst wirkende »rote Kulturkampffront« zu schaffen. Stoff seiner Bücher sind Leben u. Kampf der Berliner Arbeiterjugend. Die Stoffverarbeitung hat S. in der sozialistischen Forschung jedoch den Vorwurf eingebracht, einer Identifizierung mit Deklassierten u. anarchistischem Einzelgängertum Vorschub zu leisten; letztlich sei S. auf Positionen der Bourgeoisie übergegangen. Weitere Werke: Jugend befreit sich (Pseud. Walter). Bln. 1931 (E.). – Jungarbeiter Fritz Stein. Charkow/Kiew 1933 (E.). – Motiv unbekannt. Bln. 1933. Paris 1934 (R.). – Auf der Flucht erschossen. Basel/Paris/Moskau 1934. Bln. 1981. – Das Lob des Lebens. New York/Zürich 1938 (R.). Literatur: Wulf Koepke: W. S. In: Dt. Exillit., Bd. 2.1, 1989, S. 864–878. Matthias Harder
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zum Theater. Als Schauspieler kam er über Dessau, Zerbst, Cöslin u. Wesel 1878 an das Residenztheater Berlin. Ersten Erfolg als Autor hatte S. mit dem Lustspiel Das Mädchen aus der Fremde (Urauff. Hbg. 1879). Vom Berliner Theaterdirektor Wallner daraufhin als Bühnendichter angestellt, reicherte er dessen Repertoire mit Militärlustspielen wie Krieg im Frieden u. Schwänken wie Der Zugvogel (beide zusammen mit Gustav von Moser. Bln. 1880) an. 1883/84 arbeitete S. als Oberregisseur am Stadttheater Wien. Seine Hoffnung, Leiter des Wiener Ringtheaters zu werden, erfüllte sich nicht. S. ließ sich als freier Schriftsteller nieder, zunächst in Berlin, dann 1888 in Blasewitz bei Dresden. 1896 kehrte er nach Wien zurück. Der Raub der Sabinerinnen (zusammen mit S.s Bruder Paul [1853–1905]. Bln. 1885; zuletzt Weinheim [2006]) liefert mit der Figur des Schmierentheaterdirektors Striese bis heute ein ungebrochen attraktives Hauptrollenstück für Komiker. Das Stück über die missglückte Aufführung eines Stücks gilt als der Schwank schlechthin: Ein Gymnasialprofessor hat als Student eine Römertragödie verfasst. Aus Geldmangel lässt er das Stück von Strieses Wandertruppe aufführen. Dessen Ehefrau verhindert geistesgegenwärtig einen Skandal, indem sie die Aufführung mit zwei Akten aus einem L’Arronge-Erfolgsstück beendet. Weitere Werke: Der Schwabenstreich. Bln. 1883 (Lustsp.). – Zum wohltätigen Zweck (zus. mit Franz Koppel-Ellfeld). Bln. 1895 (Schwank). – Circusleute. Bln. 1902 (Kom.). Literatur: Karl Holl: Gesch. des dt. Lustspiels. Lpz. 1923. – Bernd Wilms: Der Schwank. Diss. Bln. 1969. – Volker Klotz: Bürgerl. Lachtheater. Mchn. 1980. – Alain Michel: Der Militärschwank des kaiserl. Dtschld. Stgt. 1982. – Silvia Leskowa: F. v. S. In: ÖBL. Alain Michel / Red.
Schönthan, Franz von, Edler von Pernwald, * 20.6.1849 Wien, † 2.12.1913 Schönwiese, Ernst, * 6.1.1905 Wien, † 4.4. Wien; Grabstätte: ebd., Döblinger Fried- 1991 Wien. – Lyriker, Herausgeber, Eshof. – Schauspieler u. Regisseur, Lust- sayist. spiel- u. Schwankautor. Der Kaufmannssohn besuchte die Marineschule u. diente 1867–1871 als Berufsoffizier. Seine rhetorischen Fähigkeiten führten ihn
Nach dem Jurastudium arbeitete S. als Publizist u. Volkshochschuldozent. 1938–1945 in ungarischer Emigration, war S. 1954–1971 Programmdirektor für Literatur, Hörspiel u.
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Wissenschaft beim ORF. 1972–1978 präsi- literar. Freundschaften. Hg. Endre Kiss u. a. Tüb. dierte S. dem österr. P.E.N.-Club. Als 2008, S. 161–170. Ursula Weyrer / Red. Herausgeber (»das silberboot«, 1935/36, 1946–1952) u. Essayist (Literatur in Wien zwiSchöpfel, Johann Wolfgang Andreas, schen 1930 und 1980. Wien/Mchn. 1980) setzte auch: Jean Pierre, * 3.12.1752 Neustadt/ er sich für Autoren der klass. Moderne u. des Aisch, † um 1827 vermutlich in Bayreuth. Exils ein. Kulturphilosophische Thesen Her- – Erzähler u. Dramatiker. mann Brochs, das dialogische Denken Martin Bubers sowie Vorstellungen europ. u. östl. Der Sohn eines brandenburgischen Hofrats Mystik stehen hinter dem zentralen Anliegen studierte Jura in Erlangen (1769–1771) u. des Lyrikers S., die kognitive u. eth. Aufgabe Leipzig (1771–1773). Seine Beamtenlaufbahn der Dichtung sei es, den Menschen in einer begann S. als Regierungsadvokat in Neustadt. Zeit des allg. Werteverlustes in Sinnzusam- 1777 wurde er Sekretär beim Oberforstamt u. menhänge zu reintegrieren (Dichtung als Ur- ging 1784 als Fürstl. Brandenburgischer Jagwissen des Menschen. Poetik-Vorlesungen. Innsbr. drat nach Bayreuth; 1796 wurde er zum Kriegsrat ernannt. Seine berufl. Tätigkeit hat 1985). Klassizistische Formen wie Ode u. Sosich direkt nur in einem Werk niedergenett (Der siebenfarbige Bogen. Mchn. 1947) schlagen (Die zukünftige Witterung durch den wurden ab den 1960er Jahren von freien, wichtigen Einfluß der Tag- und Nachtgleiche daraphoristisch verdichteten, dem japanischen gestellt. Hof 1821). Haiku nachempfundenen Formen abgelöst In dichter Folge publizierte S. in den (Baum und Träne. Wiesb. 1962). 1770er Jahren anonym Lustspiele u. den Weitere Werke: Lyrik: Ausfahrt u. Wiederkehr. Zeitströmungen angepasste Romane. Martin Wien 1947. – Nacht u. Verheißung. Wien 1947. – Flachs, eine Geschichte des 18. Jahrhunderts (2 Das Bleibende. Thal/St. Gallen 1950. – Das unverTle., Lpz. 1775/76) schildert in einer an lorene Paradies. Wien/Linz/Mchn. 1951. – Ein ReSterne u. Fielding orientierten Sprache die quiem in Versen. Ebd. 1953. – Stufen des Herzens. Lebensgeschichte eines Taugenichts. Thomas Ebd. 1956. – Der alte u. der junge Chronos. Wien 1957. – Traum u. Verwandlung. Graz 1961 (Teils- Imgarten, eine wahre Geschichte (Lpz. 1777) lg.). – Geheimnisvolles Ballspiel. Wiesb. 1964. – lehnt sich an die empfindsamen WertheriaOdysseus u. der Alchimist. Ebd. 1968. – Versunken den an, u. Hirum Harum (Salem in Nordkaroin den Traum. Wiesb./Mchn. 1984. – Antworten in lina [Nürnb.] 1789) nimmt einen satirischder Vogelsprache. Ebd. 1987. Aachen 2005. – Alles kom. Erzählton auf, der ähnlich wie bei Joist nur ein Traum. Eine Ausw. aus seinen Gedich- hann Gottwerth Müller mehr der Unterhalten. Hg. Joseph P. Strelka. Innsbr./Wien 2006. tung als der Gesellschaftskritik dient. Im Literatur: Roman Rocˇek u. a. (Hg.): Weisheit Ruhestand erhöhte S., der vermutlich urspr. der Heiterkeit. Für E. S. Wien/Hbg. 1978 (mit Bi- eine Existenz als Schriftsteller angestrebt bliogr.). – Joseph P. Strelka (Hg.): E. S. Sein geisti- hatte, die Produktion seiner Romane u. Erges Profil u. seine literar. Bedeutung. Bern u. a. zählungen, welche die humoristisch-satir. 1986. – Eduard C. Heinisch: Über E. S. Variante des pragmat. Romans im Bieder(1905–1991). In: LuK 29 (1994), H. 289/290, meier fortführen (u. a. Jacob Schwänzlein und die S. 101–106. – Peter Goßens: ›Herr Basil ist sehr nett Seinen. Quedlinb. 1822. Der Seifensieder Achilles. zu mir‹. E. S., Otto Basil u. der ›Plan‹. In: ›DisLaunige Erzählungen. Ebd. 1827). placed‹. Paul Celan in Wien (1947–1948). Hg. ders. S. suchte – anders als sein Landsmann Jou. Marcus G. Patka. Ffm. 2001, S. 53–61. – Ders.: hann Paul Sattler – sein Publikum zunächst ›so etwas wie eine Bukowiner Dichterschule [...]‹. E. nicht im Fränkischen, wie aus dem Druckort S.s Briefw. mit Dichtern aus der Bukowina (1947/ 1948). In: Sichtungen 4/5 (2001/2002), S. 69–101. – der frühen Werke hervorgeht. Erst seine wohl J. P. Strelka: E. S. Werk u. Leben. Ffm. u. a. 2005. – auf fränk. Bühnen gespielten dramat. Werke Ders.: E. S. In: NDB. – Sonja Gindele: Hermann (u. a. Der Hauptmann von Breisach, ein Schauspiel. Broch u. E. S. Eine literar. Korrespondenz. Saarbr. Ansbach 1784. Die Putzmacherin, eine Operette. 2008. – Maria Grazia Nicolosi: Hermann Broch u. Bayreuth 1790) gab er hier in Druck. Daneben E. S. Dichtung, Ztschr., Radio. In: Hermann Brochs lieferte er lyr. wie krit. Beiträge zu Taschen-
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büchern u. Periodika (u. a. »Leipziger Almanach der deutschen Musen«, 1776/77; »Fränkischer Musenalmanach«, 1785; »Erlangische Litteratur-Zeitung«). Weitere Werke: Die Frühlingsnacht. Lpz. 1773 (Operette). – Palämon. Ffm./Lpz. 1774 (Schäfersp.). – Die Poschen. Ansbach 1784 (Lustsp.). – Eißig Schmul [...]. Quedlinb. 1823 (R.). Literatur: Reinhart Meyer: Bibliographia dramatica et dramaticorum 2, 29. Tüb. 2009, S.142 f. Ernst Weber
Schöpflin, Schoepflin, Johann Daniel, * 6.9. 1694 Sulzburg/Baden, † 7.8.1771 Straßburg; Grabstätte: ebd., St. Thomas-Kirche. – Historiker. Als Sohn eines badischen Beamten u. einer Elsässerin war S. schon von seiner Geburt her für seine spätere Mittlerrolle zwischen dt. u. frz. Kultur- u. Geisteswelt prädestiniert. Nach dem Besuch der Gymnasien in Durlach u. Basel nahm S. 1707 das Studium in Basel auf, wo er sich unter dem Einfluss Jakob Christoph Iselins v. a. der Geschichte zuwandte. Seit 1711 studierte er in Straßburg evang. Theologie u. übernahm dort 1720 die Professur für Geschichte u. Rhetorik. S. profilierte sich zunächst als Rhetor, u. a. bei den 1725 in Straßburg stattfindenden Feierlichkeiten aus Anlass der Hochzeit Ludwigs XV. Aus dieser Zeit rühren seine Kontakte zum frz. Königshof her, die ihm 1741 den Titel eines »Historiographe et Conseiller du Roy« eintrugen. Zutritt zur europ. Gelehrtenwelt verschaffte sich S. während ausgedehnter Reisen. 1726 hielt er sich in Paris auf, um anschließend nach Italien u. – in diplomatischer Mission – nach England weiterzureisen. Frucht der dabei hergestellten Kontakte waren Mitgliedschaften in der »Académie des Inscriptions et Belles Lettres« u. in der »Royal Society«. Weitere Reisen führten ihn 1731 in die Niederlande. 1738 besuchte er zahlreiche dt. Fürstenhöfe u. Universitäten, lernte u. a. Gottsched kennen u. hielt in der Folge Kontakt zu protestantischen wie kath. Gelehrten. Das intellektuelle Profil S.s weist ihn als eine Gestalt des Übergangs aus. Die Rezeption des Lehrsystems von Christian Wolff, mit dem er in persönl. Kontakt stand, die Wert-
schätzung der frz. Enzyklopädisten sowie die Propagierung der religiösen Toleranz stehen für seine Teilhabe an der europ. Aufklärung. Sein Polyhistorismus u. das zähe Festhalten am Latein als der internat. Gelehrtensprache stellen ihn gleichzeitig in die späthumanistische Gelehrtentradition. Seine wissenschaftl. Reputation, die sich u. a. in – von S. abgelehnten – Berufungen an die Universitäten Leiden u. Uppsala u. der Mitgliedschaft in den führenden europ. Akademien bekundete, gründete in erster Linie auf seiner Arbeit als Historiker, in der er die Aufbereitung des Quellenmaterials mit einem an der mathemat. Methode Wolffs orientierten Darstellungsstil kombinierte. Für die Epoche beispielhaften Ausdruck fand diese method. Exaktheit in der Alsatia illustrata (2 Bde., Colmar 1751 u. 1761) sowie in der Historia Zaringo-Badensis (7 Bde., Karlsr. 1763–66). Bedeutsames leistete S. ferner als Wissenschaftsorganisator. An der Straßburger Universität initiierte er nach 1752 eine von seinem Schüler Christoph Wilhelm Koch weitergeführte Diplomatenschule, die rasch zum Anziehungspunkt für den europ. Adel wurde. Maßgeblich auf Anregung u. organisatorische Mitwirkung von S. ging die 1763 erfolgte Gründung der Kurpfälzischen Akademie der Wissenschaften durch Kurfürst Karl Theodor in Mannheim zurück. Weitere Werke: Commentationes historicae et criticae. Basel 1741. – Vindiciae typographicae. Straßb. 1760. – Opera oratoria. 2 Bde., Augsb. 1769. Ausgabe: Wiss. u. diplomat. Korrespondenz. Hg. Jürgen Voss. Stgt. 2002. Literatur: Christian Pfister: Jean-D. S. Paris/ Nancy 1888. – Andreas Kraus: Vernunft u. Geschichte. Die Bedeutung der dt. Akademien für die Entwicklung der Geschichtswiss. im späten 18. Jh. Freib. i. Br. 1963. – Jürgen Voss: Univ., Geschichtswiss. u. Diplomatie im Zeitalter der Aufklärung: J. D. S. (1694–1771). Mchn. 1979. – Bernard Vogler u. J. Voss (Hg.): Strasbourg, Schoepflin et l’Europe au XVIIIe siècle. Bonn 1996. – J. Voss: J. D. S. In: NDBA, 34. Lfg. (1999), S. 3527 f. – Ders.: J. D. S. In: NDB. Winfried Müller
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Schoepp, Meta, verh. Zimmermann, verh. Leo, * 10.5.1868 Düsseldorf, † 12.5.1939 Waren/Müritz; Grabstätte: unbekannt. – Romanautorin.
Schoepper
heraus in schneller Folge Neuauflagen ihrer Werke sowie Romane, die sie zuvor, unerlaubter Weise, fertiggestellt hatte, z. T. als »Wehrmachtsausgaben«. Weitere Werke: Kleopatra. Philadelphia (USA)
S. wurde als Tochter einer Düsseldorfer Un1892 (R.). – Haus Schlüter. Bln. 1895. – Momentternehmerfamilie geboren. 1872 ging die Aufnahmen. Bilder aus dem Leben. Bln. 1897. – Familie nach Österreich. Von S. heißt es, sie Novellen u. Skizzen. Bln. 1899. – Wer ist schuld? sei 1890 nach Berlin gezogen, um sich histor. Breslau/Lpz./New York 1900 (E.). – Los von Berlin. Studien zu widmen. Dort machte sie sich als Bln./Lpz. 1903 (R.). – Auf roter Erde. Bln./Lpz. 1903 freie Schriftstellerin einen Namen. Bekannt (R.). – Couleur. Bln./Lpz. 1904 (R.). – Die Teufelswurde sie v. a. durch ihre zeitgeschichtlichen, pfarre. Bln./Lpz. 1904 (N.). – Die Leute auf Bödöla. präzise recherchierten Helgoland- u. Marine- Bln. 1908 (R.). – Das Weibchen. Bln. 1910 (R.). – Romane. Sie zeichnen sich durch »gute Cha- Mein Junge u. ich. Bln. 1910. – Blockade. Bln./Wien 1917 (R.). – Ehepaar. Bln. 1921 (E.). – Benjamin rakteristik und realistische MilieuschildeRaule. Hbg. 1934 (R.). – Der sterbende Kurfürst. rung« aus (Meyers Lexikon, 1929). Über sie Düsseld. 1944 (R.). – Danckelmann u. die Teufelin selbst ist nicht allzu viel bekannt. Sie war v. Berlin. Düsseld. 1944 (R.). zweimal verheiratet, in erster Ehe mit Dr. Literatur: Arno Bammé (Hg.): M. S. Helgoland, Zimmermann, vormals königlich-brit. Bade- die Marine u. das Leben. Mchn./Wien 2001 (mit arzt auf Helgoland. Skepp uhn Strunn (Bln ausführl. Bio- u. Bibliogr.). – Folke-Christine Möl1912), ihr erfolgreichster Roman, erlebte un- ler-Sahling: M. S.s literar. Veröffentlichungen in ter dem Titel Schiff auf Strand zahlreiche Amerika. In: ebd., S. 75–97. – A. Bammé: M. S. – Neuauflagen (zuletzt Husum 2009). In ihm eine dt. Tragödie. In: ebd., S. 43–60. – Ders.: M. S. schildert sie die Verhältnisse auf Helgoland – ein weibl. B. Traven? In: Ders.: Vergesst die unter engl. Besetzung. Ein weiterer Roman, Frauen nicht! Die Halligen, das Meer u. die Weiblichkeit des Schreibens. Neumünster 2007, Millionensegen (Bln 1920; letzte Neuausg. S. 187–206. Arno Bammé Husum 2007), wurde 1922 u. d. T. Das Testament des Ive Sievers mit Hans Albers in der Hauptrolle verfilmt (engl. Fassung: Testament of Joe Sivers). Eine breitere Öffentlichkeit er- Schoepper, Jakob, * um 1512–1516 Dortreichte S. mit histor. Beiträgen im Rundfunk mund, † 11.6.1554 Dortmund. – Kathou. in Tageszeitungen. S. führte ein unstetes lischer Theologe, Pädagoge u. DramatiWanderleben. Längere Zeit hält sie sich in den ker. USA auf. S.s Leben lässt sich aufgrund der schütteren 1928 meldet Kürschners Deutscher Literatur- Quellenlage nur rudimentär rekonstruieren; kalender fälschlicherweise ihr Ableben. Tat- urkundlich belegt ist lediglich sein Wirken sächlich war sie zu dieser Zeit in New York u. als Geistlicher, Notar u. Schriftsteller in veröffentlichte ihren englischsprachigen Ro- Dortmund. S. stammte aus dem Dortmunder man Scrapped. A novel of Post War Germany (New Patriziat. Sein Vater war der Priester u. RatsYork 1929). Anfang der 1930er Jahre kehrte sekretär Johann Schoepper. S. besuchte versie nach Deutschland zurück u. erhielt als mutlich die humanistische Schule zu Müns»Halbjüdin« mütterlicherseits Schreibverbot ter u. studierte u. a. in Löwen, wo er sich im durch die Reichsschrifttumskammer. Die Jan. 1542 als Jacobus de Tremonia immatriAdmirale Reader u. Batsch intervenierten zu kulierte, Rechte u. Theologie. Seit 1543 ihren Gunsten, woraufhin ihr eine einge- wirkte er als Seelsorger an dem von seinem schränkte Sondergenehmigung (»nur als Freund Johann Lambach gegründeten DortMarineschriftstellerin«) erteilt wurde. Zu- munder Gymnasium, seit 1544 zudem als gleich wurde ihr, weil »nicht arisch«, jegl. Prediger an St. Petri u. seit 1546 an St. MariUnterstützung durch die Schiller-Stiftung en. Seine Katechismus- (Institutio christiana. entzogen. Daraufhin nahm S. sich das Leben. Dortm. 1555) u. Kanzelpredigten (Conciones. Nach ihrem Tod erschienen aus dem Nachlass Dortm. 1557/58) wurden von Lambach pos-
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tum in den Druck gegeben. Zur christl. Unterweisung der Schüler veröffentlichte S. 1548 den Catechismus brevis et catholicus, der jedoch wegen seiner Annäherung an die protestantische Sakramenten- u. Rechtfertigungslehre von der vorgesetzten Behörde unter Johannes Gropper inkriminiert u. eingezogen wurde. 1549 erschien der Katechismus in Köln in einer revidierten, dogmenkonformen Fassung (dt. Übersetzung Köln 1562). Mit seiner auf der Basis oberdt. Quellen erarbeiteten Synonymik (Synonyma, d. i. mancherley gattungen Deutscher wörter. Dortm. 1550) suchte S. die Ausdrucksweise der Prediger, Schreiber u. Redner zu bereichern. Das Buch bietet neben einer Synopse hoch- u. niederdt. Wörter für 1400 nach Rubriken geordnete lat. Begriffe etwa 6000 dt. Entsprechungen. Für das nach dem pädagog. Programm Johannes Sturms eingerichtete Schultheater des Dortmunder Gymnasiums verfasste S. zwischen 1544 u. 1553 – in Abgrenzung gegen das populäre, bloßer Unterhaltung dienende Fastnachtsspiel – sechs moralisch-erbauliche, sprachlich sowohl an Plautus u. Terenz als auch an humanistischen Autoren (Georgius Macropedius, Jacobus Zovitius, Sixt Birck) orientierte lat. Bibeldramen. Sein deutschsprachiges Drama Joseph (1546), mit dem er offenbar in die zeitgenöss. Kontroverse um die theolog. Deutung des Josephlebens einzugreifen beabsichtigte, ist nicht erhalten. S. präsentiert sich in seinen Schriften als Vertreter eines reformorientierten Katholizismus, der Divergenzen zwischen den Konfessionen durch die religiöse Unterweisung nicht nur der Kleriker, sondern auch der Laien auszugleichen sucht. Sein pädagog. Programm zentriert sich um die Konzeption einer umfassenden Bildung, die gleichermaßen auf die Stärkung der Frömmigkeit wie auf die sittl. Formung u. soziale Disziplinierung der Gläubigen abzielt. Von der systemat. theologischen u. rhetorischen Schulung der Priester versprach S. sich v. a. eine Potenzierung der Glaubwürdigkeit u. Überzeugungskraft ihrer Verkündigung. Der moralische Anspruch von S.s Dramen lässt sich nicht zuletzt an der Favorisierung idealtypischer bibl. Figuren wie Joseph, David, Abraham,
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Jakob u. Johannes dem Täufer ablesen. Geht es in Ectrachelistes, sive Joannes decollatus (Köln 1546) u. in Tentatus Abrahamus (Dortm. 1551) um die Glaubensfestigkeit in Zeiten der Bedrohung u. Anfechtung, so werden in Euphemus seu felicitatus Iacob u. Ovis perdita (Basel 1553) bibl. Stoffe zu einer Familienlehre bzw. zu einer Tugendlehre für die Jugend aktualisiert. Doch auch kirchenkrit. Akzente fehlen in S.s Dramen nicht. Deuteten sich schon in S.s auflagenstärkstem Stück, der allegorischen Voluptatis ac virtutis pugna (Köln 1546), Vorbehalte gegenüber dem Lebensstil von Klerus u. Gesellschaft an, so geriet seine Monomachia Davidis et Goliae (Dortm. 1550. Antwerpen 1551) gar zu einem innerkath. Politikum. Wegen der Deutung des Zweikampfes Davids mit Goliaths als desjenigen Luthers mit dem Papst wurde sie im 16. Jh. auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt, während sie im 17. Jh. im protestantischen Nürnberg noch eine Neuauflage erfuhr. Trotz unübersehbarer dramaturgischer Schwächen war S.s Dramen eine beachtl. Wirkung beschieden. Sie wurden mehrmals nachgedruckt (Sammeledition u. d. T. Comoediae et tragoediae sacrae. Dortm. 1552), verschiedentlich übersetzt u. in einzelnen Szenen nachgeahmt bzw. ausgeschrieben. Literatur: N. N.: Über einen wenig bekannten kath. Katechismus aus der ersten Hälfte des 16. Jh. In: Der Katholik 41 (1861), S. 451–474. – H. Junghans: S. als theolog. u. dramat. Schriftsteller. In: A. Döring: Johann Lambach u. das Gymnasium zu Dortmund v. 1543–1582. Bln. 1875, S. 85–99. – Edward Schröder: J. S. in Dortmund. Marburg 1889. – Ders.: J. S. v. Dortmund u. seine dt. Synonymik. Marburg 1889. – Karl Schulte-Kemminghausen: Die ›Synonyma‹ J. S.s. Dortm. 1927. – Wolfgang F. Michael: Das dt. Drama der Reformationszeit. Bern u. a. 1984, bes. S. 248–253. – Ursula Olschewski: Erneuerung der Kirche durch Bildung u. Belehrung des Volkes. Der Beitr. des Dortmunder Humanisten J. S. zur Formung der Frömmigkeit in der frühen Neuzeit. Münster 1999. – Ralf Georg Czapla: Das Bibelepos in der Frühen Neuzeit. Zur dt. Gesch. einer europ. Gattung. Bln./ Boston (im Druck). Ralf Georg Czapla
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Schöttgen, Johann Christian, * 14.3.1687 Wurzen, † 16.12.1751 Dresden. – Historiker u. Lexikograf.
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mediae et infimae aetatis mit dem sechsten Band (Hbg. 1746) zu Ende. Weitere Werke: Rudimenta logices. Frankf./O. 1716. – Elementa theologiae moralis. Lpz. 1723. – Diplomatische u. curieuse Nachlese der Historie v. Obersachsen u. angrentzenden Ländern. Lpz./ Dresden 1730–33. – Gesch. des Durchlauchtigsten Fürsten, Herrn Conrad des Großen. Dresden/Lpz. 1745. – Opuscula minora, historiam Saxonicam illustrantia. Lpz. 1767. Literatur: Reinhardt Eigenwill: J. C. S. (1687–1751). In: Sächs. Lebensbilder. Bd. 6. Teilbd. 2. Hg. Gerald Wiemers. Dresden 2009, S. 697–705.
1702 trat S. in die Fürstenschule von Pforta ein u. entwickelte eine starke Neigung zur Geschichte u. zu den philolog. Fächern. 1707 begann er an der Universität Leipzig theologisch ausgerichtete Sprachstudien. Er verfasste Rezensionen für die von seinem Förderer Johann Burkhard Mencke herausgegebenen »Acta eruditorum«, aber auch für Jöchers »Teutsche Acta eruditorum«. 1709 erHanspeter Marti langte er den Magistergrad; 1715 wurde er Rektor des städt. Lyzeums in Frankfurt/O., drei Jahre darauf an der Stadtschule u. am Scholem, Gershom, Geburtsname: GerCollegium Groeningianum in Stargard. Von hard S., * 5.12.1897 Berlin, † 21.2.1982 1728 bis zu seinem Tod war er Rektor der Jerusalem; Grabstätte: ebd., SanhedriaFriedhof. – Religionshistoriker, ErforKreuzschule in Dresden. Eine Leipziger Dissertation S.s von 1710 scher jüdischer Mystik. wurde, ins Deutsche übersetzt u. durch Zu- S. begründete die moderne Wissenschaft der sätze ergänzt, u. d. T. Historie derer Buchhändler Kabbala. Er spürte entlegene Quellen der jüd. wie solche in Alten und Mitlern Zeiten gewesen Geschichte auf, gab Regeln zu ihrer Er(Nürnb./Altdorf 1722; Nachdr. München schließung an die Hand u. stellte zgl. Die jü1985) bekannt. S.s Interesse für das SpätMA dische Mystik in ihren Hauptströmungen – so der dokumentiert De secta flagellantium commenta- Titel seines zentralen Werks (engl. 1941. Dt. tio (Lpz. 1711), die Abhandlung über das 1957) – in den Stromkreis polit. u. sozialer Geißlerwesen, das er als Ausdruck größter Faktoren. S. löste die Erforschung religiöser Barbarei in einer Zeit allg. Verfalls beschrieb. Bewegungen u. ihrer unterschiedl. GlauWährend seiner Tätigkeit in Stargard gab S. bensformen aus jeder Partikularität; sein dort die Zeitschrift »Altes und Neues Pom- Werk ist ebenso philosophisch wie philolomerland« (1721–1727) heraus. Als Mediävist gisch, religions- wie sozialgeschichtlich mou. bedeutender sächs. Landeshistoriker ver- tiviert. In ihm verbindet sich die Distanz öffentlichte er ein Quellenrepertorium zur histor. Erkenntnis mit dem Impuls zu leobersächs. Geschichte, das Inventarium diplo- bendiger Umsetzung eines unabgegoltenen maticum historiae Saxoniae superioris (Halle Potentials jüd. Geschichte. »Wir haben«, so 1747), später zusammen mit dem Dresdner S. 1959, »abgesagt dem auf Flaschen GezoHistoriker Georg Christoph Kreysig eine genen, das in der Vergangenheit so oft WisQuellensammlung zur mittelalterl. dt. Ge- senschaft vom Judentum ausmachte. Wir haschichte unter Einbeziehung Sachsens u. ben uns dem Versuch verschrieben, das LeThüringens, die Diplomataria et scriptores his- bendige im Judentum zu ergründen, statt toriae Germanicae medii aevi (3 Bde., Altenburg einer antiquarisch-literarhistorischen eine 1753–60). Die Horae Hebraicae et Talmudicae in phänomenologisch durchdringende, sachliuniversum Novum Testamentum (2 Bde., Dres- che Betrachtung zu unternehmen« (Judaica 1. den/Lpz. 1733 u. 1742) bezeugen seine auch Ffm. 1963, S. 163 f.). durch persönl. Kontakte mit Juden erworbeS. wurde 1897 als vierter Sohn des Drunen Kenntnisse der hebräischen Sprache u. ckereibesitzers Arthur Scholem (1863–1925) der jüd. Tradition, deren Bedeutung für das u. dessen Frau Betty (1866–1946) geboren. genaue Verständnis der Hl. Schrift er her- Über die Spannungen zu seinem Vater, die vorhebt. Nach dem Tod von Johann Albert ganz unterschiedl. Lebenswege seiner Brüder Fabricius führte S. dessen Bibliotheca Latina u. die eigene Entwicklung hat S. in seiner
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1977 in Frankfurt/M. erschienenen Autobiografie Von Berlin nach Jerusalem (Erw. Fassung. Aus dem Hebr. [Tel Aviv 1982] von Michael Brocke u. Andrea Schatz. Ffm. 1994) berichtet; Zeugnis seines Lebens gibt darüber hinaus seine ausführl. Korrespondenz mit der Mutter (Mchn. 1989). S. studierte an den Universitäten Berlin (seit 1915), Jena (1917/ 18), Bern (1918/19) u. München (seit 1919) Mathematik, Philosophie u. Religionswissenschaft (Semitistik); in München wurde er 1922 zum Dr. phil. promoviert (Das Buch Bahir. Ein Schriftdenkmal aus der Frühzeit der Kabbala. Lpz. 1923. Nachdr. Darmst. 1970 u. ö). 1915 begegnete er Walter Benjamin, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verband, der S. ein eigenes Buch (Walter Benjamin – die Geschichte einer Freundschaft. Ffm. 1975) u. die Herausgabe seines Briefwechsels mit Benjamin (Ffm. 1980) gewidmet hat. Seit seiner Schulzeit begleitete S. – zunächst als Anhänger, später als Kritiker Martin Bubers – die Entwicklung des Zionismus kritisch u. engagiert. 1923 wanderte er ins damalige Palästina aus u. leitete bis 1927 die hebräische u. judaistische Abteilung der Nationalbibliothek in Jerusalem. 1925 wurde er Dozent am Institut für Judaistik der im selben Jahr eröffneten Hebräischen Universität, 1933 Professor für jüd. Mystik u. Kabbala. 1968–1974 nahm er das Amt des Präsidenten der Israelischen Akademie für Natur- und Geisteswissenschaften wahr. S. schrieb eine Fülle von Einzelstudien u. Kommentaren zur Kabbala u. ihrer Symbolik, zum Verständnis der messian. Idee im Judentum, zur kabbalistischen Sprachtheorie u. zur Sozialpsychologie der Juden in Deutschland. 1957 erschien die hebräische Ausgabe seiner umfangreichen Monografie über Sabbatai Zwi (hebr. 1957. Erw. u. überarb. engl. Ausg. 1973. Dt. Ffm. 1992), den »falschen« Messias u. seine Anhänger im 17. Jh. Auch hier stellt S. seine grundlegende Frage, wie sich jüd. Religiosität an der Schwelle zur Neuzeit u. unter Bedingungen der Moderne entfaltet u. behauptet. Nach 1960 reiste S. zu Vorträgen u. Seminaren nach Deutschland. In einer Sammlung seiner wichtigsten Aufsätze (Judaica. 6 Bde., Ffm. 1963–97) wird die dt.-jüd. Geschichte
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zu einem Schlüsselthema: am eindringlichsten in dem Vortrag Juden und Deutsche, in dem S. die histor. Illusionen einer dt.-jüd. Symbiose offenlegt u. zgl. diese Entmythologisierung, im vollen Bewusstsein des Geschehenen, mit der Hoffnung »auf Restitution der Sprache zwischen Deutschen und Juden, auf Versöhnung der Geschiedenen« verband. S.s Werk übt heute große Wirkung auf die Jewish Studies in Amerika aus, wird jedoch auch weit über den Kreis der Judaistik hinaus rezipiert, wozu zu einem nicht geringen Teil die Veröffentlichung seiner Briefe, Tagebuchaufzeichnungen u. Notizen beigetragen hat. An der Hebräischen Universität wurden nach seinem Tod 1982 das Gershom-Scholem-Zentrum zur Erforschung jüd. Mystik u. ein Lehrstuhl für Kabbala eingerichtet. Weitere Werke: Zur Kabbala u. ihrer Symbolik. Zürich 1960. – Über einige Grundbegriffe des Judentums. Ffm. 1970. – Devarîm be-gô [hebräisch]. Tel Aviv 1975. – Walter Benjamin u. sein Engel. 14 Aufsätze u. kleine Beiträge. Hg. Rolf Tiedemann. Ffm. 1983. – Tagebücher nebst Aufsätzen u. Entwürfen bis 1923. Hg. Karlfried Gründer u. a. 2 Halbbde., Ffm. 1995 u. 2000. – ›Es gibt ein Geheimnis in der Welt‹. Tradition u. Säkularisation. Ein Vortrag u. ein Gespräch. Hg. u. mit einem Nachw. v. Itta Shedletzky. Ffm. 2002. – Briefe: Briefe an Werner Kraft. Hg. W. Kraft. Mit einem Nachw. v. Jörg Drews. Ffm. 1986. – Briefe. Hg. I. Shedletzky. 3 Bde., Mchn. 1994–99. – A Life in Letters, 1914–1982. Edited and Translated by Anthony David Skinner. Cambridge, MA/London 2002. – Morton Smith and G. S., correspondence, 1945–1982. Ed. with an introduction by Guy G. Stroumsa. Leiden u.a. 2008. – Hanna Arendt, G. S.: Der Briefw. Hg. Marie Luise Knott. Unter Mitarb. v. David Heredia. Bln. 2010. Literatur: Bibliografie: Bibliography of the Writings of G. S. Jerusalem 1977. – Weitere Titel: Joseph Dan: G. S. and the Mystical Dimension of Jewish History. New York 1987. – G. S. (1897–1982). Commemorative Exhibition. Kat. der Jewish National and Univ. Library. Ebd. 1988. – Peter Schäfer u. J. Dan (Hg.): G. S.’s Major Trends in Jewish Mysticism 50 Years After. Proceedings of the Sixth International Conference on the History of Jewish Mysticism. Tüb. 1993. – Paul Mendes-Flohr: G. S. The Man and His Work. Albany u.a. 1994. – Willi Jasper: Der gemeinsame Engel. Walter Benjamin u. G. S. In: Dt. Freunde. Hg. Thomas Karlauf. Bln. 1995, S. 254–287. P. Schäfer u. Gary Smith (Hg.):
541 G. S. Zwischen den Disziplinen. Ffm. 1995. – Elisabeth Hamacher: G. S. u. die Allg. Religionsgesch. Bln./New York 1999. – Steven M. Wasserstrom: Religion after Religion. G. S., Mircea Eliade, and Henry Corbin at Eranos. Princeton, NJ 1999. – Stéphane Mosès u. Sigrid Weigel (Hg.): G. S. Lit. u. Rhetorik. Köln/Weimar/Wien 2000. – Steven E. Aschheim: S., Arendt, Klemperer. Intimate Chronicles in Turbulent Times. Bloomington/Indianapolis 2001. – Eric Jacobson: Metaphysics of the Profane. The Political Theology of Walter Benjamin and G. S. New York 2003. – Daniel Weidner: G. S. Polit., esoter. u. historiograph. Schreiben. Mchn. 2003. – Jacob Taubes: Der Preis des Messianismus. Briefe v. Jacob Taubes an G. S. u. andere Materialien. Mit einem Text v. Elettra Stimilli (aus dem Ital. v. Astrida Ment). Würzb. 2006. – Gabriele Guerra: Judentum zwischen Anarchie u. Theokratie. Eine religionspolit. Diskussion am Beispiel der Begegnung zwischen Walter Benjamin u. G. S. Bielef. 2007. – Herbert Kopp-Oberstebrink: G. S. In: NDB. Thomas Sparr / Bruno Jahn
Scholl, Albert Arnold, * 13.2.1926 Wetter/ Ruhr, † 29.2.2004 Erlangen. – Lyriker, Essayist, Hörspielautor.
Scholl
in seiner Betonung allein der Form, der neuzeitl. Vergleichgültigung aller Inhalte, Rechnung trägt. Ihm gilt S.s Definition der Poesie, die »beginnt, wo die Inhalte aufhören / [...] / im Brennpunkt dessen, / was sich nicht ereignet / [...] / ein Sternbild aus Weggelassenem.« Ausgleich für diesen Konflikt schafft S. in Gedichten, die der Sinnsuche des Subjekts eine sich verschlüsselnde Welt entgegenstellen, am beeindruckendsten in dem schlichten Gedicht Chiffren, dessen in sich kreisende Form in ihrem Mangel an Transzendenz die Verborgenheit Gottes zum Ausdruck bringt, oder in dem aus Gedichten montierten Hörspiel Der synthetische Traum (Teilabdruck in: Akzente, H. 4, 1954, S. 364 ff.). Weitere Werke: Mein Gedicht ist mein Messer. Hg. Hans Bender. Mchn. 1955, S. 117–129. – Unsichtbar betörendes Spiel. Über das dichter. Hörsp. Günther Eichs u. Ingeborg Bachmanns. In: Jahresring (1958/59), S. 353–360. – Möglichkeiten u. Grenzen des dichter. Hörspiels. In: ebd. (1959/60), S. 365–371. Literatur: Hans Egon Holthusen: S. In: Merkur 8 (1954), S. 378 f. – Georg Ried: A. A. S. ›Retrospektiv‹. In: Interpr.en Moderner Lyrik. Hg. Fachgruppe Deutsch-Gesch. im Bayer. Philologenverband. Ffm. u. a. 1968, S. 100–109. – Westf. Autorenlex. 4. Michael Geiger / Red.
Nach dem Krieg, den er seit 1943 als Infanterist miterlebte, arbeitete S. als Knecht auf einem Bauernhof, anschließend in verschiedenen Berufen in Bremen u. Erlangen. S.s in zahlreichen Zeitschriften (u. a. »Akzente«, »Das Gedicht«) verstreutes u. in den beiden Scholl, Sabine, * 28.3.1959 Grieskirchen/ Bänden Die gläserne Stadt (Düsseld. 1953) u. Oberösterreich. – Schriftstellerin, PubliKeiner zu Haus (Stierstadt 1960) gesammelt zistin. vorliegendes lyr. Werk genoss v. a. in den 1950er Jahren eine gewisse Beachtung, die S. studierte 1978–1987 Germanistik, Genicht zuletzt in der Aufnahme fünf seiner schichte u. Theaterwissenschaft an der UniGedichte in Höllerers, die Lyrik der Jahr- versität Wien. 1987 wurde sie mit der Arbeit hundertmitte repräsentierende Anthologie Fehler Fallen Kunst. Zur Wahrnehmung und Re/ Transit (Ffm. 1956) zum Ausdruck kam. Nach Produktion bei Unica Zürn (Ffm. 1990) promo1960 verstummt, findet er sich in den ein- viert. Danach arbeitete sie zwei Jahre schlägigen Literaturgeschichten nur noch er- (1988–1990) als Lektorin an der Universität wähnt. Aveiro in Portugal. Sie nahm verschiedene S.s lyr., in der Benn-Nachfolge stehendes Lehraufträge an Hochschulen an, z.B. 2003/ Werk ist geprägt von dem stark religiös mo- 04 eine Gastprofessur für Intercultural Stutivierten Konflikt zwischen der Hoffnung auf dies in Nagoya, Japan. 1996–2000 hielt sie eine Lyrik, die noch Glaubensinhalte zu ver- sich in Chicago u. 2000/2001 in New York mitteln vermag, wie in dem in eine Hymne an auf. Seitdem lebt S. in Berlin. 2007 gründete den erbarmenden Gott ausklingenden Ge- sie in Tokyo mit Lydia Mischkulnig »Tinterdicht Die größere Hoffnung, u. der v. a. an Hei- national Textunternehmen«, das für verdeggers Technikanalyse orientierten Einsicht netztes Denken u. Schreiben steht. S. verfasst in den Vorrang des »Strukturgedichts«, das Romane, Essays, Gedichte, Theaterstücke so-
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wie Hörspiele. Sie ist Mitgl. der Grazer Au- bonner Impressionen. Düsseld./Zürich 2005. – Sprachlos in Japan. Notizen zur globalen Seele. torenversammlung. S. debütierte 1991 mit Fette Rosen (Bln.) als Wien 2006. – Böhmische Bibel.Unheilige Schrift Autorin. In den fünf Erzählungen des Ban- für Puppen (zus. mit Lydia Mischkulnig). Klagenf. Bd. 1: Fiona. 2008. Bd. 2: Libusˇe. 2008. Bd. 3: des, für die sie 1992 den Rauriser LiteraturHerminator. 2009. Bd. 4: Salam. 2009. – Giftige preis erhielt, geht es um die Suche nach ei- Kleider. Wien 2010 (R). nem neuen Leben. Ihre Protagonisten flüchLiteratur: Jeanne Benay: S. S.s Poetik der ten vom Land in die Stadt; Drogen verspre- ›Mestiza‹. In: Schreibweisen. Poetologien. Die chen ihnen Erleichterung in dem unerträgl. Postmoderne in der österr. Lit. v. Frauen. Hg. HilSein, u. im Sexuellen hoffen sie den Sinn ihres degard Kernmayer u. Petra Ganglbauer. Wien 2003, Lebens zu finden. Mit Haut an Haut (Bln.) S. 135–149. – Claudia Kramatschek: S. S. In: LGL. – veröffentlichte S. 1993 ihren ersten Roman. Corina Caduff u. Ulrike Vedder (Hg.): Chiffre 2000 Dabei wird das Spiegelmotiv zum formalen – Neue Paradigmen der Gegenwartsliteratur. Prinzip u. zeigt die Unfähigkeit zur Kom- Mchn./Paderb. 2005. – Helga Kraft: Locating the munikation der Protagonisten, deren Bezie- other. ›... the stream of information, data, and stories will not stop‹. Interview with S. S. In: Wohungen sich als narzisstische Selbstinszeniemen in German Yearbook 21 (2005), S. 85–102. – rung enthüllen. Vor dem Hintergrund Ber- Françoise Lartillot: Epeler le monde. L’autre lecture lins nach dem Mauerfall thematisiert S. vor du voyage de Manfred Chobot et S. S. In: Austriaca allem psych. Grenzsituationen, z.B. der Ge- 31 (2007), H. 62, S. 197–220. – Svjetlan Lacko Vidwalt u. Sexualität, der Entfremdung u. der ulic´ : Lieben heute. Postromantische KonstellatioAusweglosigkeit, welche die existentielle Be- nen der Liebe in der österr. Prosa der 1990er Jahre. findlichkeit des intellektuellen Großstadt- Wien. 2007, bes. S. 97–110. Ingo Langenbach menschen zum Ausdruck bringt. S. schreibt ihre Romane überwiegend in der Ichform u. Schollak, Sigmar, * 2.5.1930 Berlin. – thematisiert das Problem der eigenen Iden- Autor von Kinder- u. Jugendbüchern, tität in der modernen Gesellschaft mittels Hörspielen u. Aphorismen; Erzähler. eines expressionistischen Schreibstils oder stakkatoartig aneinandergereihter Sätze. In S., Sohn eines jüd. Kaufmannsangestellten, ihren Werken setzt sie sich häufig mit dem der während des NS-Regimes zur Zwangsarmenschl. Körper auseinander, z.B. in Gut im beit verpflichtet wurde, u. einer Näherin, Bild (Klagenf. 1994), in dem sie ihrem literar. absolvierte nach der Volksschule eine Lehre in Stoff das Prinzip des Lexikonromans zu- der Bekleidungsindustrie. Anschließend stugrunde legt. Die in Wien u. Berlin entstan- dierte er, im Ostteil der Stadt lebend, an der denen Texte stehen stilistisch dem literar. Hochschule für Musik in West-Berlin u. arbeitete 1952–1962 als Musiker. Nebenher, Surrealismus nahe. S. erhielt eine Reihe von Auszeichnungen seit 1962 ausschließlich, war er als freier u. Stipendien, u. a. den Paula-von-Preradovic´- Mitarbeiter für Zeitschriften (»EulenspiePreis (1990), den Theodor-Körner-Förder- gel«) u. für Hörspiel- u. Feuilletonredaktiopreis (1992), das Stipendium der Stiftung nen des Rundfunks der DDR tätig. S. siedelte Akademie Schloss Solitude (1996), das Adal- 1982 mit seiner Familie nach West-Berlin bert-Stifter-Stipendium des Landes Ober- über, wo er seitdem als freier Schriftsteller u. österreich (2000), das Elias-Canetti-Stipendi- Rundfunkmitarbeiter lebt. Er gündete 1992 um der Stadt Wien (2006) u. das George-Sai- den »Autorenkreis der Bundesrepublik«, dessen Vorsitzender er bis 1997 war. ko-Reisestipendium (2010). S. verfasste heiter-turbulente Geschichten Weitere Werke: Wie komme ich dazu. Graz/ wie Thaddäus und der verhexte Tag (Bln./DDR Wien 1994 (Ess.). – Alle ihre Körper. Zwei E.en. Klagenf. 1996. – Die Welt als Ausland. Zur Lit. 1976, Bln./Mchn. 1989) u. auch Bücher, in zwischen den Kulturen. Wien 1999 (Ess.). – Die denen er seine jugendl. Leser mit polit. u. geheimen Aufzeichnungen Marinas. Bln. 2000 (R). gesellschaftl. Problemen konfrontiert. Die – Sehnsucht Manhattan. Literarische Streifzüge Joshua-Trilogie Joshua oder Der Mord in Detroit durch New York. Düsseld./Zürich 2004. – Lissa- (Bln./DDR 1969), Joshua oder Das Rattennest
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(ebd. 1971. U. d. T. Enkel der Sklaven. 1975), Joshua oder Der heiße Sommer (ebd. 1972. U. d. T. Der Gejagte. 1975) erzählt von der Freundschaft eines schwarzen u. eines weißen Jungen im Amerika der Bürgerrechtsbewegung; Das Mädchen aus Harrys Straße (ebd. 1978. Neuausg. Bln. 1992) ist die bedrückende Geschichte eines kleinen Jungen im Berlin des Jahres 1942, dessen Entschluss, einem jüd. Mädchen zu helfen, zu spät kommt, da es schon deportiert worden ist. Der 1989 in Berlin erschienene Erzählband für Erwachsene, Ausflug in Paradiese, ist eine satir., bisweilen auch bittere Abrechnung mit der DDR: Kritische Schlaglichter auf westdt. Verhältnisse nicht aussparend, schildert S. die kleinen Fluchten der Menschen aus dem grauen, von Partei u. Stasi beherrschten Alltag. Weitere Werke: Der gefürchtete Held. Bln./ DDR 1962 (E.en). – Der Neue aus der 106. Ebd. 1979 (Schülerroman). – Kallosch. Roman einer Autobiogr. Bln. 1995. – Tätowierungen. Aphorismen u. Epigramme. Eingel. v. Günter Kunert. Bln. 1997. – Der Kuss – ein Lippenbekenntnis. Aphorismen. Mit Zeichnungen u. einem Vorw. v. G. Kunert. Bremen 2007. – Kinderbücher: Der Davidsbündler. Bln./DDR 1971. Nachdr. Bln. 2003. – Sturm auf Harpers Ferry. Bln./DDR. 1975. – Das Fest des Teufels. Ebd. 1982. – Hörspiele: Die Jagd nach dem Einbrecher. 1967. – Der Musensohn. 1985. – Ankunft in Bali. 1987. – Ach dieser Abwasch. 1987. Literatur: Hans Ester: Gespräch mit S. In: Dt. Bücher 16 (1986), S. 165–175. – Joachim Garbe: Auf der Suche nach dem Idealdeutschen. Autobiogr.n dt. Schriftsteller am Ende des 20. Jh. (Günter de Bruyn, Ludwig Harig, S. S., Martin Walser). In: Autobiogr.n als Zeitzeugen. Hg. Manfred Misch. Tüb. 2001, S. 199–212. Michael Geiger / Red.
Scholtis, August, auch: Alexander Bogen, * 7.8.1901 Bolatitz/Schlesien, † 25.4.1969 Berlin; Ehrengrab auf dem Friedhof Berlin-Charlottenburg. – Erzähler, Dramatiker. S. wuchs im sog. Hultschiner Ländchen auf, einem preußisch-österr. Grenzgebiet, das von Tschechen, Polen, Deutschen u. Juden bewohnt wurde. S. stammte aus einer Bauernfamilie, bekam aber als Maurerlehrling 1915
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die Chance, als Schreiber in die Kanzlei des Fürsten Karl Max Lichnowsky in Kuchelna einzutreten, wo S. nicht nur dessen Frau, die Schriftstellerin Mechtilde von Lichnowsky, sondern auch Karl Kraus kennenlernte. Die antiwilhelministische Gesinnung des Fürsten übte einen bleibenden geistigen Einfluss auf S.’ polit. Denken aus. 1920 wurde das Hultschiner Ländchen der Tschechoslowakei zugeschlagen. S. arbeitete für verschiedene Güterverwaltungen u. wurde redaktioneller Mitarbeiter der von seinem ehemaligen Lehrer Karl Schodrok herausgegebenen Zeitschrift »Der schwarze Adler«. 1922 entschied sich S. für die Annahme der dt. Staatsangehörigkeit u. trat in den Dienst des Magistrats der schles. Stadt Zobten am Berg nahe Breslau. 1923–1926 nahm S. Verwaltungsämter in Waldenburg wahr, dann kehrte er nach Oberschlesien zurück, arbeitete in einem Eisenwerk in Hindenburg (Zabrze) u. bis 1929 in der Gleiwitzer Stadtverwaltung. In dieser Zeit publizierte er unter dem Pseud. Alexander Bogen Beiträge in der anarcho-syndikalistischen Breslauer Zeitschrift »Freiheit« u. besuchte 1927/28 Wien u. Prag. Der erste Preis in einem Novellenwettbewerb 1927 bestärkte ihn in der Absicht, Schriftsteller zu werden. Ende 1929 siedelte S. nach Berlin um, wo er Anschluss an Oskar Loerke, Lektor bei S. Fischer, u. an Max Tau, Lektor im Bruno Cassirer-Verlag, fand. Unter den Autoren seiner Generation hatte er den engsten Kontakt mit Wolfgang Koeppen, Peter Huchel, Bruno E. Werner u. Martin Kessel. Nach der Machtergreifung blieb S. in Berlin. Um schriftstellerisch aktiv sein zu können, trat er 1935 der Reichsschrifttumskammer bei. Als wehruntauglich eingestuft, wurde S. 1941/42 für ein Jahr zur Feuerschutzpolizei einberufen, bevor er den Auftrag erhielt, einen Tatsachenroman über die oberschles. Schwerindustrie zu schreiben. Das bereits abgeschlossene Werk, das »Kraftfeld O./S.« heißen sollte, fiel dem Untergang der Festung Breslau zum Opfer. Kurz vor Kriegsende geriet S. in Thüringen in amerikan. Kriegsgefangenschaft, wurde aber bereits im Juni 1945 entlassen u. ließ sich in Berlin nieder. In seinem Debütroman Ostwind (Bln. 1932. Neudr. Mchn./Bln./Wien 1970) rückte S. die
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»oberschlesische Katastrophe« in den Mittelpunkt. Er schildert die Grenzlandkämpfe nach dem Ersten Weltkrieg, als nationalistische Freikorps gegen die slaw. »Untermenschen« gewaltsam die Eindeutschungsmaßnahmen der preuß. Bürokratie durchzusetzen versuchen. Aber nicht nur auf ihre aggressive Haltung fällt ein krit. Licht, sondern ebenso auf die katholisch-nationalistische Agitation der tschech. u. poln. Kirche. S. sieht die ethn. u. polit. Konflikte aber zgl. in einem sozialen Kontext. Er attackiert die Rücksichtslosigkeit feudaler Herrschaftsverhältnisse u. die Ausbeutung durch die neuen Industriebarone. Seine Sympathie für die Opfer der Industrialisierung der Landwirtschaft u. die Proletarier im schles. Kohlenrevier lässt ihn allerdings nicht die Anfälligkeit der Unterdrückten für nationalistische Propaganda übersehen. In diese explosive Gemengelage führt S. wie eine Sonde seinen Protagonisten Kaschpar Theophil Kaczmarek ein, einen Lumpensammler, den die Bauern »Tyll« nennen. Damit ist seine Identität als Schelmenfigur, als ein moderner Till Eulenspiegel, benannt. Kaczmarek bewegt sich zwischen den Fronten, wird zum Zeugen von Massakern beider Seiten u. bewahrt sich unter der Narrenkappe vor einem Bekenntnis zur einen oder anderen Seite. Eine zusätzl. Dimension gewinnt der Roman noch durch Kaczmareks Begegnungen mit dem dämonischen Wesen Mora, das als Verkörperung der Volksseele zwischen Gott u. Teufel changiert u. mit den Akteuren des Romans seinen Schabernack treibt. S.’ radikal moderne Erzählweise, die expressionistischen Stil u. neusachl. Montage-Technik verbindet, operiert auf vielfältige Weise mit Visionen, Träumen, Allegorien u. Parabeln. In der sog. Parabel von der östl. Erde entwirft S. in einem allegor. Traum die Utopie einer Harmonie zwischen Böhmen, Schlesien u. Österreich, die sich im Medium der Musik vollzieht. Ostwind wurde 1985, nachdem Horst Bienek auf den Roman nachdrücklich hingewiesen hatte, in Fortsetzungen in der FAZ abgedruckt u. anschließend neu aufgelegt (Mchn. 1985. Tb.-Ausg. 1986). Es ist ein Schelmenroman, der den Vergleich mit dem Simplicissimus oder der
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Blechtrommel, die ihm wohl auch Anregungen verdankt, nicht zu scheuen braucht. Wies Ostwind eher eine lockere Episodenform auf, die nicht zuletzt durch die leitmotivisch fungierende Mora verknüpft war, wandte sich S. im zweiten Roman Baba und ihre Kinder (Bln. 1934. Neudr. Stgt. 1952) einem kontinuierl. Erzählen zu. Hier fungiert Tschamutschka, das Gespenst der menschl. Gefräßigkeit, als strukturierendes Element. Als Hüterin des Maßes ist es Derivat der von der Erde in einer allegor. Szene ausgesandten Vernunft. Erzählt wird die Geschichte der »Wasserpolackin« Baba u. ihrer dreizehn Kinder. S. konzipiert Baba als Urmutter im Sinne Bachofens. Sie verkörpert das unwandelbare Lebensprinzip, u. wegen dieser Funktion trägt die Erde ihrer Partialvernunft Tschamutschka auf, ihr beizustehen. Baba und ihre Kinder enthält eine konservative Utopie des Stillstands, eine myth. Beglaubigung elementarer Immer-Gleichheit, welche die Erde im Verein mit Tschamutschka hütet. Die Utopien beider Romane entwerfen Naturzustände u. tragen einen ausgesprochen antigeschichtl. Charakter. Die forcierte Spannung zwischen einer Stofffülle, die von geschichtl. Erfahrung gesättigt ist, u. der jenseits des Geschichtlichen liegenden dichterischen Vision ist der Erfahrung von Geschichte als Katastrophe geschuldet. Dieser Entrückung dienen Mora u. Tschamutschka. Der Roman Jas der Flieger (Bln. 1935. Ffm. 1987, mit einem Nachw. von Wolfgang Koeppen) setzt mit dem Ende des Ersten Weltkriegs ein, aus dem der Windmüller Tschort einzig eine Granate in das im Osten Deutschlands gelegene Huhlberg mitbringt. Sein Sohn Jas wird Zeuge der Notlandung eines Jagdfliegers u. ist sofort von der modernen Technik fasziniert. Die zurückgelassene Fliegerkappe wird ihm zum Anlass seines Aufbruchs nach Berlin, den er gegen den Willen seines Vaters 1922 gewaltsam durchsetzt. Die erste Zeit in Berlin steht im Zeichen des Hungers, aber zehn Jahre später hat Jas seinen Traum verwirklicht, Flieger zu werden. Mit seiner Maschine kreist er über Berlin u. über Huhlberg u. verschwindet am Ende »im unendlichen Äther.« Der Roman mündet in einen kosmogon. Epilog, der die Erde als
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Träne der Musik deutet, die über allem ird. Jammer »ihrer Träne das tröstende Zukunftslied« singt. Das utop. Finale steht in Korrespondenz zu dem mehrfach aufgerufenen Bild der apokalypt. Reiter. Die unaufgelöste Spannung fügt sich in die stilistische Heterogenität des Romans. Sowohl der Kampf zwischen Vater u. Sohn, in dem Jas die Granate als patriarchales Herrschaftsymbol an sich bringt, als auch die Schilderung Berlins als dynam. Metropole, die durch moderne Technik ebenso geprägt ist wie durch soziale Entwurzelung, verleihen dem Roman spätexpressionistische Züge. S. operiert sogar mit lyr. Techniken, die der Expressionismus kultivierte, wie Alliterationen u. Litaneien. Zugleich weist der Roman eine neusachl. Orientierung auf. Einen in metaphys. Spekulationen verstrickten Dichter fordert Jas auf: »Was brauchen Sie Kain und Abel zu bedichten, bedichten Sie Brücken, Hochbahn, U-Bahn.« Mit diesen der Großstadtschilderung dienenden Elementen geht die Sphäre von Märchen u. Dorfgespenstern eine reizvolle Verbindung ein. Die im selben Jahr erschienenen Dreiunddreißig Lieder aus Hultschin (Bln.) sind ein Denkmal für die verstorbene Mutter, der S. die Lieder abgelauscht hat u. die ausschließlich in den 33 Dörfern des Hultschiner Ländchens in der sog. wassermähr. Sprache gesungen wurden. In seinem Roman Das Eisenwerk (Bln. 1939. 1941) hat S. die schon zuvor gestreifte Thematik der Umwandlung feudaler Latifundien in schwerindustrielle Betriebe behandelt. Das Verhältnis zur techn. Modernisierung ist dabei durchaus ambivalent. Zwar begrüßt S. die Überwindung der Abhängigkeit von feudalen Strukturen, sieht aber zgl. die Schattenseiten der entstehenden sozialen u. räuml. Mobilität. In der Zeit des Zweiten Weltkriegs machte S. dem Zeitgeist Konzessionen. Der Roman Die mährische Hochzeit (Braunschw. 1940) verklärt den Bauernstand, die Erzählung Friedrich in Kamenz (Karlsbad-Drahowitz/Lpz. 1939) huldigt dem Preußenmythos u. Die Wache des Hauptmann D. (in: Die Begegnung. Darmst./Bln. 1940 [E.en]) legitimiert den Überfall auf Polen. S. versuchte diese ideolog. Verirrung nach 1945 durch eine Neugestal-
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tung derselben Sujets zu korrigieren. 1948 erschienen sowohl Die Fahnenflucht (Bln.), in der nun Friedrich der Große als »Vater allen deutschen Unheils« gedeutet wird, als auch Die Zauberkrücke (Bln.), eine antimilitaristische Heimkehrer-Geschichte. S. schwankte zwischen Selbstkritik u. Rechtfertigungsrhetorik. Von 1945 bis 1949 gehörte er dem ostdt. Kulturbund zur demokratischen Erneuerung an, optierte dann aber für die Bonner Republik. Als Erzähler fand S., der nach 1945 in Westberlin lebte u. sich als kulturell Exilierter fühlte (vgl. Ich lebe in den westlichen Sektoren von Berlin. In: Ich lebe in der Bundesrepublik. Fünfzehn Deutsche über Deutschland. Hg. Wolfgang Weyrauch. Mchn. o. J. [1960]), kaum noch Gehör. Einige Aufmerksamkeit konnte er einzig mit seiner anekdotenreichen, mit sprühendem Witz, aber auch nicht wenigen Beschönigungen erzählten Autobiografie Ein Herr aus Bolatitz (Mchn. 1959) erregen. Die unabhängige polit. Haltung, die sich S. im Ost-West-Konflikt zu bewahren wusste, dokumentiert auf eindrucksvolle Weise seine nur ein Jahr nach dem Mauerbau erfolgte Reise nach Polen (Mchn. 1962), auf der er u. a. die Schlachtfelder von Tannenberg, Auschwitz u. Warschau aufsuchte. Die Ideologisierung des Diskurses in der BR Deutschland der 1960er Jahre verschärfte die Marginalisierung des Einzelgängers. Aus dem Nachlass wurde der Roman Schloss Fürstenkron (Mit einem Vorw. vers. von Horst Bienek. Mchn./Bln. 1987) herausgegeben, der den Auftakt zu einem ambitionierten dreiteiligen Erzählprojekt bilden sollte. Die Handlung beginnt ein paar Jahre vor dem Ersten Weltkrieg u. reicht bis Mitte 1915. Ein Epilog erzählt in geraffter Form die Geschehnisse bis zur Volksabstimmung in Oberschlesien 1921. Die Anlage des Romans ist bipolar. Einen Pol bildet das titelgebende Schloss, wo vor Kriegsbeginn dem Thronfolger Franz Ferdinand ein wichtiges Portefeuille gestohlen wird u. wo sich nach dem 1. Aug. 1914 das dt. Hauptquartier einrichtet. Der andere Pol ist das Dorf Triglau zwischen Sudeten u. Beskiden, in dem S. einmal mehr die »verzwickten Verhältnisse« innerhalb einer multiethn. Bevölkerung schildert. Bei der Charakterisierung der polit. Situation ver-
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wendet S. dokumentarisches Material u. greift besonders auf die Denkschrift des Fürsten Lichnowsky zurück, die sehr zum Ärger des dt. Kaisers einen Ausgleich mit England anstrebte. Die empath. Vergegenwärtigung der wenn auch nicht konfliktfreien, so doch auf gegenseitiger Toleranz basierenden Kohabitation von Deutschen, Polen u. Tschechen versteht S. als Akt histor. Zeugenschaft. Seine poetische Evokation einer untergegangenen Kulturlandschaft mit ihrer ganz spezif. Sprachmischung rückt S. neben die Erinnerungsprojekte von Joseph Roth oder Johannes Weidenheim. S. arbeitete auch als Übersetzer aus dem Tschechischen (u. a. Havels Das Gartenfest). Er war Mitgl. der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt u. der Berliner Akademie der Künste. Sein Nachlass befindet sich in der Stadt- und Landesbibliothek Dortmund. Weitere Werke: Der müde Krieg in Borodin. Bln. 1932 (Dr.). – Wilhelm Doms. Ein ostdt. Leben für die Kunst. Bln. 1935. – Der Kürbis. Bln. 1936 (Dr.). – Glocken über dem Osten. Bln. 1936 (Dr.). – Klepitko trifft immer. Bln. 1936 (E.). – Schles. Totentanz. Lpz. 1938 (E.en). – Der heilige Jarmussek. Hbg. 1947 (E.en). – Die Katze im schles. Schrank. Augsb. 1958 (E.en). – Briefe. Tl. 1. 1945–1957. Hg. Joachim J. Scholz. Bln. 1991. – Briefe. Tl. 2. 1958–1969. Hg. J. J. Scholz. Bln. 1992. – Feuilletonistische Kurzprosa. Hg. J. J. Scholz. Bln. 1993. – Erzählungen, Dramen, Romane. Hg. J. J. Scholz. Bln. 1994. Literatur: Bibliografie: Hedwig Gunnemann, Joachim J. Scholz u. Hans Rudi Vitt: A. S. Werk- u. Nachlassverz. Dortm. 1993. – Weitere Titel: Arno Lubos: A. S. In: Ders.: Von Bezrucˇ bis Bienek. Darmst. 1977, S. 50–63. – Jürgen Matoni: Friedrich in Kamenz. Eine Erzählung v. A. S. In: Oberschles. Jb. 3 (1987), S. 215–224. – Hans Enden: A. S. Leben u. Werk. In: ebd., S. 235–253. – J. J. Scholz: A. S.’ ›Fürstenstein‹. Einiges über u. aus der bisher unbekannten Urfassung v. ›Schloss Fürstenkron‹. In: Schlesien 33 (1988), H. 2, S. 89–101. – Horst Bienek: Ein Schelm, ein Narr, ein Weiser. Über ›Ostwind‹ v. A. S. In: Romane v. gestern – heute gelesen. Bd. 2. Hg. Marcel Reich-Ranicki. Ffm. 1989, S. 359–365. – Ders.: Der Preußenmythos im Werk v. A. S. u. Hans Lipinsky-Gottersdorf. In: Oberschles. Jb. 10 (1994), S. 187–204. – Ders.: Die Wege des Grenzgängers A. S. In: Orbis Linguarum 1 (1994), S. 149–163. – Wojciech Kunicki: A. S. u. die
546 expressionist. Anklänge in ›Jas der Flieger‹. In: ›Die Großstadt rauscht gespenstisch fern u. nah‹. Literar. Expressionismus zwischen Neisse u. Berlin. Hg. Detlef Haberland. Bln. 1995, S. 77–93. – Ders.: ›Ostwind‹ v. A. S. In: Studien zur Kulturgesch. des dt. Polenbildes 1848–1939. Hg. Hendrik Feindt. Wiesb. 1995, S. 194–212. – Martin Hollender: Zwischen Anpassung u. Versöhnung. Zur Eichendorff-Rezeption des oberschles. Schriftstellers A. S. In: Joseph v. Eichendorff. Hg. Wilhelm Gössmann u. M. H. Paderb. 1995, S. 283–302. – Jens Stüben: Über ›preuß. Slawen‹ u. ›eigentl. Polen‹. VirchowZitate in Romanen v. A. S. u. Horst Bienek. In: Oberschles. Jb. 11 (1995), S. 255–275. – Erhard Schütz: Zwischen ›Kolonne‹ u. ›Ethos des bescheidenen Standhaltens‹. Zu den Romanen v. Horst Lange u. A. S. während des Dritten Reichs. In: Dichtung im Dritten Reich? Hg. Christiane Caemmerer u. Walter Delabar. Opladen 1996, S. 77–95. – Marek Zybura: A. S. 1901–1969. Untersuchungen zu Leben, Werk u. Wirkung. Paderb. u. a. 1997. – A. S. 1901–1969. Modernität u. Regionalität im Werk v. A. S. Hg. Bernd Witte u. Grazyna B. Szewczyk. Ffm. 2004 (poln. Katowice 2004). – Sonja Klein: A. S. In: NDB. Jürgen Egyptien
Scholz, Hans, * 20.2.1911 Berlin, † 29.11. 1988 Berlin. – Erzähler, Journalist u. Maler. S. war Sohn eines Rechtsanwalts. Schon als 17-Jähriger beteiligte er sich an Ausstellungen. S. studierte nach dem Abitur am Mommsen-Gymnasium in Berlin 1930–1935 Kunstgeschichte u. besuchte zgl. die Malklasse von Ferdinand Spiegel an der Kunsthochschule. Nebenbei spielte er in einer Tanzkapelle Saxophon, u. a. in der legendären »Jockey-Bar«. 1937–1939 war er Lehrer an einer privaten Kunstschule; dann nahm er am Zweiten Weltkrieg teil, zuerst als Kraftfahrer, später als Offizier in einer Gebirgsdivision. In dieser Funktion verfasste S. mehrere Schriften über das »motorisierte Versorgungswesen der deutschen Truppen«. Nach der Entlassung aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft Pfingsten 1946 setzte er seine Lehrtätigkeit an der privaten Kunstschule bis 1950 fort. Gleichzeitig war er Entwurfszeichner bei der »Bauleitung für sowjetische Befehlsbauten« und z. B. an der Planung der sowjetischen Botschaft in Ostberlin beteiligt. 1950–1954 war S. Dozent für Kunstge-
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schichte an einer Berliner Volkshochschule u. schrieb daneben Drehbücher für Werbe- u. Dokumentarfilme. Danach war er literarisch u. journalistisch tätig. 1963–1976 leitete er das Feuilleton des Berliner »Tagesspiegel«. Sein Debütroman Am grünen Strand der Spree (Hbg. 1955. 101978) mit dem Untertitel »So gut wie ein Roman« trug ihm 1956 den Theodor-Fontane-Preis u. den HeinrichStahl-Preis der Jüdischen Gemeinde ein. Noch im Erscheinungsjahr 1955 erreichte der bei Hoffmann & Campe erschienene Roman die siebte Auflage, zahlreiche Lizenz- u. Taschenbuchausgaben folgten bis in die 1980er Jahre (Ffm. 1958. Reinb. 1966. Mchn. 1980. 1983). Formal schließt der Roman an das novellistische Erzählmuster von Boccaccios Decamerone an. Anlässlich der Rückkehr des aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft entlassenen Majors Lepsius findet sich eine trinkfreudige Männerrunde in der Jockey-Bar zusammen, deren Teilnehmer rundum Geschichten erzählen. Sie reichen vom 18. Jh. bis in die unmittelbare Gegenwart dt. Zweistaatlichkeit. Von besonderem literaturhistor. wie medienästhetischem Interesse ist gleich die erste Geschichte, die der Rückkehrer selbst beiträgt. Allerdings erzählt Lepsius nicht von eigenen Erlebnissen, sondern liest aus dem nur fragmentarisch erhaltenen Tagebuch von Jürgen Wilms vor, einem Freund der Anwesenden, der noch in einem russ. Lager ist. Wilms hat von Beginn an am Ostfeldzug teilgenommen u. für den Zeitraum vom 5. Juni bis Okt. 1941 Tagebuch geführt u. ihm Fotografien beigefügt, die er oft trotz Verbots gemacht hat. In Notizen u. Fotos dokumentiert Wilms die unter SS-Aufsicht erfolgende Zwangsarbeit jüd. Frauen u. Männer. Als Wilms die Entsorgung der Leichen in einem Massengrab zu fotografieren versucht, wird sein Apparat von einem fanat. Jungnazi zerstört. Wilms wird bald darauf mit unbewaffnetem Auge Zeuge einer Massenhinrichtung, die ihm die Grenze der (eigenen) Wahrnehmungsfähigkeit bewusst macht (»Du vermagst deinen Augen nicht zu trauen. Wahrnehmungsgrenze! [...] Kann also nun von gewissen Ereignissen behaupten, ja, ich habe sie gesehen; und von eben diesen gewissen Ereignissen mit dem glei-
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chen Recht behaupten, nein, ich habe sie nicht gesehen. [...] Sogenannte Palmströmsche Elimination der Urteilskraft.«) Wilms verarbeitet seine erschütternde Beobachtung in einer symbolischen Ersatzhandlung. Während er der Massenerschießung zuschaut, zerreißt er das Foto seiner Verlobten Jutta, die in ihren Briefen naiv u. ahnungslos von den herrl. Zeiten des neuen Deutschland plappert. Der Flug der Fotofetzen mit Juttas Körperteilen erscheint als Parallele zu den in die Grube fliegenden Körpern der Erschossenen. Diese Episode in S.’ Roman fand große Beachtung. Nach einer Hörspielfassung von 1959 entstand 1960 mit der vierteiligen Fernsehserie Das Tagebuch des Jürgen Wilms (NWDR, Regie: Fritz Umgelter) einer der frühesten Dokumentarfilme über die Verbrechen an der jüd. Bevölkerung in Polen während des Zweiten Weltkriegs. Die anderen novellistischen Erzählungen des Romans spielen in der norweg. Etappe vor u. nach dem Attentat vom 20. Juli 1944, im faschistischen Italien, in der DDR u. zur Zeit des Siebenjährigen Kriegs u. sind motivisch auf raffinierte Weise verknüpft. In der Erzählgegenwart der feucht-fröhl. Runde gibt der Auftritt eines feisten Wirtschaftswundergewinnlers mit einschlägiger NS-Biografie Anlass zu einer ebenso scharfen wie genüssl. Satire. Dass man dem Roman von S. gelegentlich seinen frechen, teils zyn. ParlandoTon u. übermütigen »Berliner Schnauze«Jargon als dem Thema unangemessen vorgeworfen hat, zeugt nur von einem dogmatisch verengten Literaturbegriff, der sich Gesellschaftskritik allein in der Gestalt eines bierernsten Betroffenheits-Realismus vorstellen kann. Am grünen Strand der Spree blieb trotz seines immensen Erfolgs S.’ einziges, im engeren Sinne literar. Werk. Seit Ende der 1950er Jahre schrieb S. vornehmlich Sachbücher über Berlin u. seine Umgebung u. lieferte zahlreiche themenverwandte Beiträge für Zeitungen, Rundfunk u. Fernsehen. So schildert S. in »Berlin, jetzt freue dich!« Betrachtungen an und in den Grenzen der deutschen Hauptstadt (Hbg. 1960. Gekürzte Taschenbuchausg. Auswahl Hans Rauschning, ergänzt um den Beitrag
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Fünf Wanderungen längs der Mauer. Ffm. 1964) nach dreißig Jahren. Zu H. S.: ›Am grünen Strand Wanderungen durch Berlin, die gleichsam in der Spree‹. In: NDH 33 (1986), S. 93–100. – Ders.: konzentr. Kreisen angelegt sind. Der äußerste An Bord der Albatros. Auf den Spuren v. Theodor Ring ist der (in der Ausgabe der Fischer-Bü- Fontane u. H. S. Stendal 2003. Jürgen Egyptien cherei ergänzte) Bericht von einer Umkreisung Berlins entlang der Mauer, die S. im Scholz, Scholzius, Laurentius, 1596 geadelt Auftrag des »Spiegel« kurz nach ihrer Erals S. von Rosenau, * 20.9.1552 Breslau, richtung am 13.8.1961 unternahm. † 22.4.1599 Breslau. – SpäthumanistiIn der umfangreichen kulturgeschichtl. scher Arztbotaniker, Herausgeber mediStudie Der Prinz Kaspar Hauser. Protokoll einer zinischer u. naturkundlicher Werke. modernen Sage (Hbg. 1964) versuchte S., die Forschungen zu der mysteriösen Hauser-Ge- Der Sohn eines Arztes u. Apothekers besuchte stalt zu synthetisieren u. kritisch zu prüfen. das Breslauer Elisabethengymnasium, stuSein Interesse war nicht, eine neue Hypothese dierte seit 1572 in Wittenberg u. wandte sich über Kaspar Hausers Person aufzustellen, dann nach Italien (1576–79; Medizinstudium vielmehr durch zeitgeschichtl. u. interkultu- in Padua u. Bologna); den Titel eines Dr. med. relle Kontextualisierung am Fall Hauser die erwarb er 1579 in Frankreich (Valence). S. Genese einer archetypischen Legendenbil- praktizierte als Arzt zunächst in Freystadt u. Glogau, seit 1585 in Breslau, von wo aus er dung zu zeigen. 1972 begann S., sich mittels Wanderungen, intensive Kontakte zu Gelehrten u. Dichtern Schiffs-, Bahn- u. Autoreisen die Mark Bran- des grenzüberschreitenden Späthumanismus denburg systematisch zu erschließen. Die pflegte. S. gehörte seinerzeit zu den berühmtesten Visabestimmungen der DDR ließen das nur in Form von Tagesausflügen zu. So entstan- Herausgebern medizinischer Fachschriften, den von 1972 bis 1984 S.’ zehn Bände um- nicht nur durch Editionen ital. Verfasser, fassende Wanderungen und Fahrten in der Mark sondern auch durch gesammelte Exzerpte Brandenburg (Bln.; Taschenbuchausg. der Bde zum Gesamtgebiet der griech., arab. u. zeit1–8. Bln. 1981), die er mit eigenen Aquarellen genöss. Medizin (Aphorismorum medicinalium illustrierte. S. bewegte sich dabei oft auf den cum theoreticorum tum practicorum sectiones VIII. Spuren von Theodor Fontane, über den er in Breslau 1589. Ffm. 1598). Zu den heute noch dieser Zeit eine Biografie schrieb (Theodor beachtenswerten kulturgeschichtl. KompenFontane. Mchn. 1978). In seinen letzten Le- dien (deren genauer Textbestand u. sehr bensjahren widmete sich S., der 1981 zum weitläufige Druckgeschichte noch der ErforProf. h.c. ernannt wurde, wieder verstärkt der schung harrt) zählen seine Sammlungen nationaler u. internat. medizinischer ConsiliarMalerei. Weitere Werke: Schkola. Mchn. 1958. – An literatur, darunter eine fünfbändige Ausgabe Havel, Spree u. Oder. 5 Hörbilder. Hbg. 1962. – Aus von Briefen u. Schriften des kaiserl. Leibarzder braunen Periode. In: Spreewind. Berliner tes Johannes Crato von Kraftheim (Consiliorum Gesch.n. Bln. 1969, S. 101–120. – Süd-Ost, hin u. et epistolarum medicinalium Liber I-V. Ffm. zurück. Hbg. 1970. – Herausgaben: Berlin – Bilder 1591–94), der bald darauf eine titelgleiche einer großen Stadt (zus. mit Chargesheimer, i. e. zweibändige Sammlung (ebd. Bd. 1 1595, Karl Hargesheimer). Köln 1959. – Vöglein singe mir Bd. 2 1609) folgte. Ausgetauscht werden hier was Schönes vor. Dokumente aus Kindertagen (zus. diagnost., auch prognost. Überlegungen u. mit Heinz Ohff). Gütersloh 1965. – Eine Sprache – therapeutische bzw. pharmazeutische Anviele Zungen. Autoren der Gegenwart schreiben in dt. Mundarten (zus. mit H. Ohff). Gütersloh 1966. weisungen, wobei die Spannweite der Probleme von den nicht oder schwer heilbaren Literatur: Hellmut Jaesrich: Die Ritter der Tafelrunde. In: Der Monat 8 (1955/56), H. 90, Krankheiten bis hin zu Alltagsbeschwerden S. 55–58. – Joachim Kaiser: So gut wie ein Ufa- (z.B. Zahnleiden, Verstopfung, fiebrige ErFilm. In: Texte u. Zeichen 2 (1956), S. 536–542. – kältungen u. Kopfschmerzen) reicht. Die Helmut Kreuzer: Auf den zweiten Blick. In: FH 12 Briefe verdichten sich immer wieder zu (1957), S. 57–61. – Wolfgang Schuller: Hans Schott weitläufigen Erörterungen der Materia Me-
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dica, zu diätet. Empfehlungen, zu Abhand- 1931, S. 133–139. – Eleonore Schmidt-Herrling: lungen über Sonderfragen (etwa der Balneo- Die Briefslg. des Nürnberger Arztes Christoph Jalogie, aber auch zum Komplex des ›Liebes- cob Trew (1695–1769) in der UB Erlangen. Erlanzaubers‹), oft auch zu symptomatisch refe- gen 1949, S. 542 (zu Briefen an J. Camerarius d.J.). – Manfred P. Fleischer: Der Garten des L. S. In: Ders.: rierten Fallbeschreibungen der meist promiSpäthumanismus in Schlesien. Mchn. 1984, nenten Patienten. S. verstand diese Samm- S. 136–163. – Pjotr Oszcanowski: The Art Colleclung als patriotische Tat zum Ruhme der dt. tion in the Garden of L. Scholtz the Elder in Mediziner. In der Tat enthalten die Bände Wrocl/aw. In: Studia Rudolfina 6 (2006), S. 36–44. nicht nur Briefe Cratos, sondern auch die des Wilhelm Kühlmann mit Crato wohlbekannten schles. Arztes Petrus Monavius (Monau), darunter Teile der Scholz, Leander, * 16.4.1969 Aachen. – Korrespondenz mit ital. Ärzten wie z.B. Hie- Romanautor, Publizist, Kulturwissenronymus Mercurialis in Padua. Inseriert sind schaftler. daneben Schreiben mehrerer anderer dt. Mediziner, darunter Thomas Erastus (Hei- Nach dem Studium der Philosophie, Kunstdelberg), Theodor Zwinger (Basel), Adolf geschichte u. Germanistik in Bonn, Bochum Occo (Augsburg, in Bd. 2), nicht zuletzt Kor- u. Paris war S. 1999–2008 Wissenschaftlicher respondenzen von S. u. dem berühmten Mitarbeiter am Kölner Forschungskolleg Kräuterbuchverfasser Pietro Andrea Matthi- »Medien und kulturelle Kommunikation«. oli. In beiden Bänden sind gleich zu Beginn Seit 2008 ist er Wissenschaftlicher MitarbeiCratos Consiliarbriefe meist zu Gruppen zu- ter am Internationalen Kolleg für Kultursammengefasst. So etwa zum Podagra in technikforschung und Medienphilosophie Bd. 1, zur Melancholie in Bd. 2, beides viel der Bauhaus-Universität Weimar. Er ist Mitgenannte Themen auch der außermedizin. begründer des Kölner Tropen-Verlags sowie Literatur. In diesen Briefsammlungen kamen freier Mitarbeiter bei der Wochenzeitung auch die dogmat. Kontroversen zwischen den »Freitag« u. beim Deutschlandfunk. Unter seinen zahlreichen literar. Veröfmedizinischen Schulen zur Sprache. Gleichermaßen bekannt wurde der von S. fentlichungen konnte sein zweiter Roman, in Breslau nach Paduaner Vorbild angelegte Rosenfest (Mchn./Wien 2001), die größte öfsehr reichhaltige u. mit Kunstwerken ge- fentl. Aufmerksamkeit für sich verbuchen. In schmückte botan. Garten: nicht nur durch bemühter, stilistisch gespreizter FiktionaliKataloge (Breslau 1594. Ffm. 1598), sondern sierung erzählt das Buch die Urszene der auch durch eine Fülle rühmender Gedichte Roten Armee Fraktion (RAF) als Geschichte von Zeitgenossen, von denen 40 Autoren der leidenschaftl. Liebe zwischen Gudrun (darunter Valens Acidalius u. Andreas Cala- Ensslin u. Andreas Baader, als romaneskes gius) zu einem teils panegyrischen, teils be- road movie à la Bonnie and Clyde oder Natural Born Killers. Statt sich den Terror-›Stars‹ der schreibenden, auch die Geschichte der Bota1970er Jahre mit der altvertrauten Ästhetik nik entfaltenden Sammelband beitrugen (In des Schreckens zu nähern, beschreibt S. die Laurentii Scholzii [...] hortum epigrammata RAF als Effekt einer Medienästhetik, die von amicorum. Breslau 1594). den Tätern selbst u. von der medialen ÖfWeitere Werke: Consiliorum medicinalium fentlichkeit wechselweise ausgeht: Baader u. conscriptorum a praestantissimis atque exercitaEnsslin sind von vornherein Kunstfiguren, tissimis nostrorum temporum medicis liber singularis. Ffm. 1598. – Epistolarum philosophica- Subjekt u. Objekt massenmedialer Bilder. Bis rum, medicinalium, ac chymicarum a summis ins Einzelne wird die Intimität des Terrornostrae aetatis philosophis ac medicis exaratarum pärchens imaginiert, wobei die Präsenz der volumen. Ebd. 1598 (elektronisch lesbar in CA- Medien von Anfang an mitgedacht wird. Der Roman war im Feuilleton heftig umMENA, Abt. CERA). Literatur: Ferdinand Cohn: L. S. In: ADB. – VD stritten. Psychologisierung u. Intimisierung 16 u. 17. – Curt Gebauer: L. S. In: Schles. Lebens- wurden vielfach als popliterar. Affirmation bilder. Bd. 4. Hg. Friedrich Andreae u. a. Breslau der ›Marke‹ RAF u. damit als deren Entpoli-
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tisierung missverstanden. S. selbst gab vor, GLL 56 (2003), Nr. 1, S. 89–101. – Jochen Strobel: »den ästhetischen Kern d[es] Politischen Medienereignisse der 68er-Bewegung u. des Terfreilegen« zu wollen, als Schriftsteller »dann rorismus der 70er Jahre in der Gegenwartsliteratur erkennend und Partisan« zu sein, »wenn er (F. C. Delius, Ulrike Draesner, L. S., Uwe Timm). In: AugenBlick Nr. 42 (2008), S. 20–42. – Alexandra im kollektiven Gedächtnis wildert« (HyperTacke: Bilder v. BAADER. L. S. ›Rosenfest‹ (2001) & realität, S. 218, 220). Das Experiment einer Christopher Roth ›Baader‹ (2002). In: NachBilder provokativen, stets aber reflexiv gebrochenen der RAF. Hg. Inge Stephan u. A. Tacke. Köln/WeiMythenbildung übertrifft u. spiegelt dieje- mar/Wien 2008, S. 63–87. Jochen Strobel nige, welche die RAF selbst unternommen hatte. Zwei weitere Romane S.’ greifen das Motiv Scholz, Wilhelm von, * 15.7.1874 Berlin, der exzentrischen, prekären Paarbeziehung † 29.5.1969 Gut Seeheim bei Konstanz. – wieder auf: Windbraut (Mchn. 2002) fragt erLyriker, Dramatiker u. Romancier. neut nach der Vereinbarkeit von unbedingter, bis zur Gewalttätigkeit gesteigerter Liebe u. Der Sohn des letzten Finanzministers unter polit. Utopie, verrückt das Gleichgewicht Bismarck studierte in Berlin, Lausanne u. Kiel aber zu Ersterer hin. Indem auch hier die Literaturgeschichte sowie Philosophie u. beiden Protagonisten einer amour fou, wie promovierte 1897 in München mit einer ArBaader u. Ensslin, ein Kaufhaus anzünden, beit über Annette von Droste-Hülshoff. S. liegt der Vergleich mit Rosenfest nahe, doch lebte zunächst als freier Schriftsteller, diente verkörpert der Antiheld Lenz – dem Namen dann im Ersten Weltkrieg als Offizier u. arnach als Reminiszenz an Georg Büchners, beitete 1916–1922 als Erster Dramaturg soaber auch Peter Schneiders gleichnamige Fi- wie Spielleiter in Stuttgart; 1926 übernahm guren erkennbar – Resignation u. Politikver- er den Vorsitz der Sektion für Dichtung der druss der westdt. Friedensbewegung nach der Preußischen Akademie der Künste. Nach seiWiedervereinigung. Fünfzehn falsche Sekunden nem Rücktritt 1928 lebte er auf Gut Seeheim (Mchn./Wien 2005) erzählt die in romant. bis bei Konstanz. S. debütierte mit Rilke u. Liliencron versurrealistischer Tradition zwischen Traum u. Wahnsinn angesiedelte Geschichte Celestes, pflichteten Gedichten (Frühlingsfahrt. Mchn. einer dt. Austauschstudentin in San Francis- 1896), neigte aber bald schon zur Darstellung co, die auf der Suche nach ihrem verschwun- von mystisch-okkulten u. metaphys. Grenzdenen Freund einem zunehmenden Identi- erfahrungen. Die erste Sammlung dieser imtätsverlust erliegt. Sie beginnt sich für das mer wieder das »Dunkel« u. die »Schatten« Objekt eines medizinischen Experiments mit beschwörenden Gedichte erschien 1902 menschl. Wahrnehmung zu halten. Beiden u. d. T. Der Spiegel (Bln.). Unter dem Einfluss von Paul Ernst u. nach Romanen warf die Literaturkritik Theorieder eingehenden Analyse von Hebbels Bühlastigkeit vor. Als Kultur- u. Medienphilosoph befasst nenwerken (Hebbel. Bln. 1905) wandte sich S. sich S. u. a. mit der Wissens- u. Medienge- dem Neuklassizismus zu. In seinen formschichte seit der Frühen Neuzeit, insbes. mit strengen u. zum Teil historisierenden Draeiner medientheoretisch formulierbaren men orientierte er sich an den WertvorstelOrdnung der Sichtbarkeit in der polit. Phi- lungen der wilhelminisch-autoritären Gesellschaft. Sprachliche u. formale Experilosophie. mente waren ihm fremd. Weitere Werke: Jungfernpergament. Zürich Der Durchbruch als Dramatiker gelang S. 1995 (R.). – Zwei gegen Einen. Köln 1998 (P.). – mit der tragischen Lebensgeschichte eines Hyperrealität oder Das Traumbild der RAF. In: Akzente 48 (2001), S. 214–220. – Das Archiv der zum Christentum konvertierten Juden wähKlugheit. Strategien des Wissens um 1700. Tüb. rend der mittelalterl. Pogrome (Der Jude von 2002 (Diss.). Konstanz. Urauff. Dresden 1905). Zum WeltLiteratur: Ingo Cornils: Long Memories: The erfolg wurde die Tragödie Der Wettlauf mit German Student Movement in Recent Fiction. In: dem Schatten (Urauff. Ffm./Stgt. 1920), die die
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Begegnung eines Schriftstellers mit der von ihm erfundenen Hauptfigur seines neuesten Werks schildert. In seinem wichtigsten Roman, Perpetua (Lpz. 1926), der hohe Auflagen erzielte, wird die mit magischen Kräften ausgestattete Protagonistin durch das Selbstopfer ihrer Schwester vor dem Scheiterhaufen gerettet. Wegen seines engagierten Eintretens für den Nationalsozialismus, das auch antisemitische Äußerungen einschloss, geriet S. nach 1945 – trotz mehrerer Ehrungen – immer wieder in das Kreuzfeuer der Kritik. Ein nach ihm benannter Preis der Stadt Konstanz wurde 1989 abgeschafft. Seine Bücher fanden nur noch wenige Leser. Ausgaben: Ges. Werke. 5 Bde., Stgt./Bln. 1924. – Ausgew. Schausp.e. Bodman 1964. Literatur: Rudolf Gramich: Formprobleme der Erzählkunst: W. v. S. Diss. Mchn. 1958. – Bernd Peschken: Klassizist. u. ästhet. Tendenzen in der Lit. der faschist. Periode. In: Die dt. Lit. im Dritten Reich. Hg. Horst Denkler u. Karl Prümm. Stgt. 1976, S. 207–223. – Andreas Wöhrmann: Das Programm der Neuklassik. Die Konzeption einer modernen Tragödie bei Paul Ernst, W. v. S. u. Samuel Lublinski. Ffm. u. a. 1979. – Klaus Oettinger: ›Getrennt auf ewig, für alle Zeit Feinde!‹ W. v. S. u. die Juden. In: Allmende 24/25 (1989), S. 153–165. – Inge Jens: Dichter zwischen rechts u. links. Lpz. 2 1994, passim (Register). Hans Sarkowicz / Red.
Scholze, Johann Sigismund, auch: Sperontes, * 20.3.1705 Lobendau bei Liegnitz/Schlesien, † 28.9.1750 Leipzig. – Komponist, Dichter. Bis heute fehlt (neben Burgunder her u. Edle Freiheit) das heiter-satir. Blaustrumpf-Liedchen über u. gegen das Frauenstudium, Ihr Schönen höret an, in kaum einer Anthologie der Rokokodichtung – weniger, weil das Thema erst 180 Jahre später aktuell wurde, sondern eher wegen seiner Frechheit u. sprachl. wie musikal. Eingängigkeit. Hätte nicht das Leipziger Konsistorium am 3.1.1729 den Verfasser dieser u. anderer Studentenlieder gezwungen, seine Geliebte, Witwe eines Halleschen Speisewirts, zu heiraten, so fehlte jede Nachricht von persönl. Zügen jener gewinnenden poetischen Erscheinung eines geschickten Reimschmieds,
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die sich 150 Jahre unter dem Pseud. Sperontes verbarg – vermutlich nicht von lat. ›sperare‹ (hoffen) abgeleitet, sondern von griech. ›spei˜1on‹ (Hülle, Kleid). Als ältestes Kind eines Amtsschreibers besuchte S. 1720/21 die Schule im seiner Heimatstadt benachbarten Liegnitz u. studierte dann Jura in Leipzig, war allerdings, wohl um die Kosten zu sparen, nicht immatrikuliert. Er nannte sich später »juris Practicus« (also vielleicht Anwaltsgehilfe). Seine Zwangsangetraute starb 34-jährig 1738 im Kindbett; von den drei Töchtern lebte da nur noch eine. Eine Notiz zu seinem ärml. Begräbnis u. zwei Zahlungsvermerke des Verlegers (die S.s Identifikation ermöglichten) ergänzen die sicheren Nachrichten über sein Leben. – Berühmt wurde seine Liedsammlung Sperontes Singende Muse an der Pleisse, in 2 mal 50 Oden, der neuesten und besten musicalischen Stücke mit den darzu gehörigen Melodien zu beliebter ClavierÜbung und Gemüths-Ergötzung (Lpz. 1736). Deren Erfolg zeitigte neben vier Auflagen noch drei Fortsetzungen (Lpz. 1742. 1743. 1745). S. sammelte insg. 248 ältere Musikstücke u. verfasste zu ihnen (in dem damals üblichen sog. parodistischen Verfahren) Texte nach spätbarocken u. klassizistisch-galanten Mustern (Hoffmannswaldau, Corvinus u. a.). Von wem er v. a. abhängig war, mit wem er unsterblich sein wollte, artikuliert der erste Teil der Singenden Muse mit »einem Anhange aus J. C. Günthers [S.s Landsmann] Gedichten«. Weitere Werke (Sperontes:) Der Frühling. Komposition v. Johann Gottlieb August Fritzsch. Lpz. 1749 (Singsp.). – Der Winter. Lpz. o. J. (Verfasserschaft fraglich). – Schäferspiele: Die Kirms [...]. Lpz. 1746. – Das Strumpfband. Lpz. 1748. Ausgaben: Singende Muse an der Pleisse. Lpz. 1736. Nachdr. Wiesb. 1958. Lpz. 1964. – Dass. Internet-Ed. in: Dt. Lit. des 18. Jh. Online. Hg. Paul Raabe. Mchn. 2007. – Das Kätzgen, ein Schäferspiel [...]. Lpz. 1746. Internet-Ed. in: ebd. Literatur: Reinhard Kade: J. S. S. In: ADB. – Philipp Spitta: Musikgeschichtl. Aufsätze. Bln. 1894. – Klaus-Peter Koch: Sperontes u. Johann Christian Günther. Zu den musikalisch-rhetor. Figuren der Affektenlehre. In: Aufklärung in Schlesien im europ. Spannungsfeld. Hg. Wojciech Kunicki. 2 Bde., Wrocl/aw 1998, Bd. 2, S. 223–244. – Werner Braun: Thöne u. Melodeyen, Arien u. Canzonetten. Zur Musik des dt. Barockliedes. Tüb.
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2004. – Rainer Bayreuther: Sperontes: In: MGG, Personenteil, Bd. 15, Sp. 1174–1176 (Lit.). – Michael Mau: Barockoper in Leipzig (1693–1720). 2 Bde., Freiburg/Br. u. a. 2009, Register. Ulrich Joost / Red.
Schondoch. – Fahrender Dichter, letztes Drittel des 14. Jh.
Ausgaben: Manfred Caliebe: S.s ›rede‹ v. der Bekehrung des Litauers. In: FS Gerhard Cordes. Neumünster 1973, S. 23–52. – Jutta Strippel: S.s ›Königin v. Frankreich‹. Untersuchungen zur handschriftl. Überlieferung u. krit. Text. Göpp. 1978. – Sibylle Jefferis (Hg.): Das Meisterlied v. der K. v. F. (s.u.), S. 130–149. Literatur: Antonio Morassi: Un nuovo ciclo di pitture profane nel Trentino. In: Bollettino d’Arte 10 (1926), S. 449–467. – Udo Arnold: Beiträge zum Verfasserlexikon. In: PBB 88 (1966/67), S. 143–158, hier S. 157 f. – Fischer (21983), S. 168 f., 397–399, 515 f. u. ö. – Anna Rapp Buri u. Monica StuckySchürer: Zahm u. wild. Basler u. Straßburger Bildteppiche des 15. Jh. Nr. 112, Mainz 1990. – U. Arnold: S. In: VL. – Sibylle Jefferis: Die neuaufgefundene Heidelberger Hs. v. S.s ›Königin v. Frankreich u. der ungetreue Marschall‹. Ihre Einordnung in die übrige Handschriftenüberlieferung. In: New texts, methodologies, and interpretations in medieval German literature (Kalamazoo papers 1992–1995). Hg. dies. Göpp. 1999, S. 209–227. – Dies.: Das Bildprogramm für S.s Novelle ›Die Königin v. Frankreich u. der ungetreue Marschall‹ (c. 1400). In: Fifteenth-Century Studies 29 (2004), S. 111–132. – Dies.: Die Köngin v. Frankreich, Cronica. In: VL (Nachträge u. Korrekturen), Sp. 869 f. – Norbert H. Ott: S. In: NDB. – S. Jefferis: Das Meisterlied v. der ›Königin v. Frankreich‹. Ihre Gesch. in Text u. Bildern. In: Current Topics in Medieval German Literature: Texts and Analyses (Kalamazoo Papers 2000–2006). Hg. dies. Göpp. 2008, S. 117–149. – Dies.: Königinjunger Prinz-Beziehungen in der ›Königin v. Frankreich‹, in ›Parzival‹ u. dem ›Nibelungenlied‹. In: ebd., S. 71–82. Norbert H. Ott / Red.
Allein die Titelzeile in einer verlorenen Handschrift von 1402 weist das Märe Die Königin von Frankreich einem Fahrenden namens S. zu, der außerdem in einer Sammelhandschrift mit Texten aus dem Umkreis des Deutschen Ordens (Basel, Universitätsbibl. B VIII 27) als Autor des Litauers, einer nur dort überlieferten Mirakelerzählung von 324 Versen, erwähnt wird. Sprachliche Kriterien sprechen für die Nordostschweiz als Heimat des Dichters. Auf die im Litauer thematisierte Bekehrung eines heidn. Herrschers (Taufe des Litauerfürsten Butawt 1365) stützt sich die zeitl. Einordnung des Autors u. seiner demnach zwischen 1365 u. 1402 entstandenen Werke. Die Königin von Frankreich ist mit 21 erhaltenen Handschriften das am häufigsten überlieferte Märe überhaupt. Es variiert – in 690 bzw. 704 Versen – das Thema der treuen Minne im femme-chaste-Typ: In der Verbannung bei einem Köhler, wo sie sich ihren Unterhalt mit Wirkarbeiten verdient, gebiert die von einem abgewiesenen Hofmarschall des Ehebruchs beschuldigte Titelheldin einen Knaben u. wird nach langer Suche von ihrem reumütigen Gatten an den Hof zurückgeführt. Die betonte Vermittlerrolle des »hert- Schoon, Greta, * 11.7.1909 Spetzerfehn/ zog Lüpolt von [Oe]sterich«, für den wohl der Ostfriesland, † 7.3.1991 Leer. – Lyrikerin. 1386 bei Sempach gefallene Leopold III. Modell stand, legt nahe, dass der Text im Auftrag S.s Jugend wurde überschattet vom frühen Tod des Vaters, der im Ersten Weltkrieg fiel, österr. Adelskreise entstand. Eine schles. Prosafassung (Handschrift von einer komplizierten Beziehung zu Mutter u. 1465), ein Meisterlied im Langen Ton des Geschwistern sowie Gefühlen der sozialen Regenbogen (1498) u. eine »Comedi« des Deklassierung des zunächst nur Plattdeutsch Hans Sachs (1549) belegen die anhaltende sprechenden Dorfmädchens in der Höheren Attraktivität des Stoffs ebenso wie ein Fres- Schule Aurich. Nach dem Schulabschluss bekenzyklus im Gerichtssaal von Coredo/Tren- suchte sie das sozialpädagog. Seminar in tino (um 1460) u. ein elsäss. Wandbehang Bremen u. arbeitete dann bis zu ihrer Pen(1480–90; Nürnberg, Germanisches Natio- sionierung als Kindergärtnerin v. a. in Ostfriesland. Unterbrochen wurde diese Arbeit nalmuseum). durch einen Aufenthalt in einer brasilian. Missionsstation 1934–1936.
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Erst im Alter von fast 70 Jahren erschien ihre erste selbstständige Veröffentlichung, der niederdt. Gedichtband Kuckuckssömmer (Leer 1977); wenige Jahre später folgte die Anthologie Dat wi överleven (Gött. 1983. 2 1985). S.s ernste Lyrik beschreibt zumeist mit kargen Worten in reimlosen Versen Verlust- u. Bedrohungsängste, Gefühle des Verlassenseins u. der Melancholie. Der Einfluss Rose Ausländers wird von ihr als konstitutiv für die eigene Arbeit angesehen. S. zählt zu den wenigen niederdt. Gegenwartsschriftstellern, die über den engen Kreis der niederdt. Literaturszene hinaus Beachtung gefunden haben. Ihr Werk wurde mit verschiedenen Literaturpreisen ausgezeichnet. Weitere Werke: Van de runne Mann. Gött. 1987 (Prosa für Kinder in Hoch- u. Plattdt.). – Dat Bladenhuus. Gedichten un Prosa. Leer 1990. Literatur: Ulf Bichel: Harmonie im Widerspruch. G. S. zum 80. Geburtstag. In: Quickborn 79 (1989), S. 184–188. – Joachim Böger: Die Aktualität v. G. S. Eine Gedichtinterpr. In: ebd., S. 188–94. – Fokko Feldmann: Dialektlit. zwischen Tradition u. Erneuerung – die literar. Bedeutung v. G. S. Aurich 1994. – Christa Bruns: Was bleibt, ist ein Feuer. Annäherung an die ostfries. Dichterin G. S. Norden 2005. Jörg Schilling / Red.
Schopenhauer, (Luise) Adel(aid)e (Lavinia), auch: A. van der Venne, * 12.6.1797 Hamburg, † 25.8.1849 Bonn; Grabstätte: ebd., Alter Friedhof. – Erzählerin, Lyrikerin, Übersetzerin, Journalistin. Nach dem Selbstmord des Vaters 1805 zog die Mutter Johanna mit S. von Hamburg nach Weimar. Unter dem Einfluss der als Romanautorin immer erfolgreicheren Mutter begann sich S. schon früh mit Literatur u. Malerei zu beschäftigen. Ihre Tagebücher spiegeln die lebenslange Schwermut einer Frau, die weder durch Schönheit noch durch materielle Vorzüge konventionellen Vorstellungen für eine standesgemäße Ehe entsprach. Beziehungen zu Freunden scheiterten. Ihre wichtigsten gesellschaftl. Verbindungen unterhielt S. zu einem Kreis jüngerer Frauen, die wie sie Goethe verehrten: Ottilie von Pogwisch, Goethes spätere Schwiegertochter, Jenny von Pappenheim, Alwine Frommann.
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Weimar blieb für S. Mittelpunkt ihres künstlerischen Daseins bis zu Goethes Tod. In Goethes Haus nahm sie an allen wichtigen kulturellen Ereignissen teil; allgemein geschätzt waren auch ihre zarten kunstvollen Scherenschnitte. 1829 ließen sich Johanna u. S. im gastl. Haus von Sibylle MertensSchaaffhausen in Unkel/Rhein nieder, die Verbindungen zur Droste u. zu Immermann eröffnete. 1835 erschien im Frankfurter »Phoenix« S.s Novelle Die lothringischen Geschwister unter Pseudonym. Erst nach dem Tod der Mutter, 1838, publizierte sie unter eigenem Namen. 1839 gab sie Johannas Lebenserinnerungen u. d. T. Jugendleben und Wanderbilder (2 Bde., Braunschw.) heraus, 1844 ihre Haus-, Wald- und Feldmärchen (Lpz. Neudr. Hanau 1987) u. 1845 den Ottilie gewidmeten Roman Anna (2 Bde., Lpz.). Ihre letzten Lebensjahre verbrachte S. ab 1844 hauptsächlich in Italien. Schwerkrank fuhr sie 1849 zurück nach Deutschland. Von ihrem Bruder Arthur, dem sie ihr ganzes Leben in schwesterl. Liebe anhing, ohne auf ein bes. einfühlsames Gegenüber rechnen zu können, verabschiedete sie sich brieflich. Ihre Nachwirkung feiert Adele’s Erzählung im fünften Kapitel von Thomas Manns Lotte in Weimar. Weitere Werke: Tagebücher. Hg. Kurt Wolff. 2 Bde., Lpz. 1909. – Gedichte u. Scherenschnitte. Hg. Heinrich Hubert Houben u. Hans Wahl. 2 Bde., Lpz. 1920. – Tgb. einer Einsamen. Hg. H. H. Houben. Lpz. 1921. Neudr. hg. v. Rahel E. Feilchenfeldt-Steiner. Mchn. 1985. – Drei Briefe aus den Jahren 1819/20 an Louise v. Werthern. Hg. Angelika Hübscher u. Monika Radecki. In: Schopenhauer-Jb. 72 (1991), S. 7–16. Literatur: Anna Brandes: A. S. in den geistigen Beziehungen zu ihrer Zeit. Diss. Ffm. 1930. – Bodo Plachta: Johanna u. Adele S. Von der Weimarer Klassik zum Biedermeier in Weimar. In: Autorinnen in der Literaturgesch. Konsequenzen der Frauenforsch. für die Literaturgeschichtsschreibung u. Literaturdokumentation. Kongreßber. der 2. Bremer Tagung zu Fragen der Literaturwissenschaftl. Lexikographie, 30.9. bis 2.10.1998 in Bremen. Hg. Christiane Caemmerer. Osnabr. 1999, S. 157–176. – Gabriele Büch: Alles Leben ist Traum. A. S. Eine Biogr. Bln. 2002. – Waltraud Maierhofer: ›... dann mögt Ihr Andern mich verstehen lernen‹. A. S.s Tagebuch 1823–1826. In: Carl
Schopenhauer Leberecht Immermann u. die dt. Autobiogr. zwischen 1815 u. 1850. Hg. Wolfgang Adam, Peter Hasubek u. Gunter Schandera. Ffm. 2003, S. 99–115 (Immermann-Jb. 4/2003). – Domietta Seeliger: A. S. Nicht nur die Schwester des Philosophen. Analyse des Erzählwerks v. A. S. u. der dramat. Dichtung ›Erlinde‹ v. Wolfgang Maximiliam v. Goethe u. A. S. Ffm. 2004. – Dies.: A. A. In: NDB. – Anja Peters: ›Wir in Weimar‹. A. S. im Briefw. mit Johann Wolfgang v. Goethe. In: Colloquia Germanica. Internat. Ztschr. für german. Sprach- u. Literaturwiss. 39 (2008), H. 3–4, S. 291–315. Rahel E. Feilchenfeldt
Schopenhauer, Arthur, * 22.2.1788 Danzig, † 21.9.1860 Frankfurt/M.; Grabstätte: ebd., Hauptfriedhof. – Philosoph. S. entstammte einer patriz. Kaufmannsfamilie. Frühe literar. u. philosophische Neigungen ließen ihn die Kaufmannslehre, die er dem Vater zuliebe in Hamburg auf sich nahm, zur Qual werden. Das Lebensgefühl verdüsterte sich auch durch die Eindrücke während einer Europareise 1803/1804 mit den Eltern: »In meinem 17ten Jahr, ohne alle gelehrte Schulbildung, wurde ich vom Jammer des Lebens so ergriffen, wie Buddha in seiner Jugend, als er Krankheit, Alter, Schmerz und Tod erblickte. Die Wahrheit, welche laut und deutlich aus der Welt sprach, überwandt bald die auch mir eingeprägten Jüdischen Dogmen, und mein Resultat war, dass diese Welt kein Werk eines allgütigen Wesens seyn könnte, wohl aber das eines Teufels, der Geschöpfe ins Daseyn gerufen, um am Anblick ihrer Qual sich zu weiden.« Nach dem Tod des Vaters (1805), ermuntert durch das Vorbild u. den Ratschlag seiner selbst nach Unabhängigkeit strebenden Mutter, Johanna Schopenhauer, brach S. seine Lehre ab u. übersiedelte 1806 zu ihr nach Weimar, wo sie einen literar. Salon führte u. bald zur berühmten Schriftstellerin avancierte. Seit 1809 studierte S. in Göttingen Naturwissenschaften, widmete sich aber bald, seit 1811 in Berlin, ganz der Philosophie. Nach der Dissertation 1813, nach einer kurzen, fast freundschaftl. Zusammenarbeit mit Goethe (Winter 1813/14) über das Thema der Farbenlehre u. dem dramat. Zerwürfnis mit der Mutter u. der Schwester Adele über-
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siedelte S. nach Dresden, wo sein Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung (Lpz. 1819) entstand. Auf eine Italienreise folgte 1820 der Versuch einer Lehrtätigkeit an der Berliner Universität, die aber an mangelndem Interesse, das sich damals v. a. Hegel zuwandte, scheiterte. Von 1831 an lebte S. zurückgezogen u. junggesellisch in Frankfurt/M., als Privatgelehrter materiell gesichert durch das ererbte Vermögen des Vaters. Erst in den letzten Lebensjahren wurde er von der literar. u. philosophischen Öffentlichkeit entdeckt. Bis zum Jahrhundertende blieb S. dann der populärste Philosoph Deutschlands. Die pietistisch-myst. u. romant. Neigungen der Jugendzeit machten S. empfänglich für die welttranszendierende platonische Ideenlehre. Er will das Wesen der erscheinenden Wirklichkeit erfassen, ist aber, v. a. durch den Einfluss Kants, skeptisch, ob die Vernunft solche Wahrheitserkenntnis leisten könne. S.s Dissertation Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde (Rudolstadt 1813) steht noch ganz im Zeichen der Kant’schen Erkenntniskritik. Er vereinfacht sie, indem er den Mechanismus der Vorstellung auf ein einziges Prinzip reduziert: den Satz vom zureichenden Grund, was bedeutet: das Prinzip der Kausalität in seinen verschiedenen Ausformungen je nach Art der Objekte. In streng kantischem Sinne wird das Prinzip der Kausalität nicht der Wirklichkeit »an sich«, sondern lediglich dem menschl. Wahrnehmungs- u. Erkenntnisvermögen zugerechnet. Zugleich radikalisiert er Kant, indem er das Prinzip der Kausalität nicht erst im verstandesmäßigen Denken, sondern bereits in der physiolog. Sinneswahrnehmung am Werk sieht: Die Empfindungsdaten am eigenen Leib werden instinktiv als Wirkung einer Ursache im Raum wahrgenommen. Dadurch kommt auf elementarer Ebene die ganze Welt der Vorstellung zustande, beim Menschen wie auch bei den höheren Tieren. S. verkleinert, im Gegensatz zur idealistischen Philosophie seiner Zeit, die Bedeutung der menschl. Vernunft. Diese leiste nichts anderes, als die anschaul., sinnlich gewonnenen Vorstellungen in Begriffen (»Vorstellungen von Vorstellungen«) zusammenzufassen, im Gedächtnis aufzubewahren u. mit diesen Be-
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griffen wie mit Kürzeln Kombinationen anzustellen. Die Vernunft buchstabiert gewissermaßen mit dem Alphabet, das ihr die verständige Anschauung liefert. Nach S. eröffnet die Vernunft von sich aus keinen Zugang zur Wahrheit. In der zweiten Auflage (Ffm. 1847) beginnt S. von diesem Punkt aus eine heftige Polemik gegen die Annahmen einer Vernunftmetaphysik, die ein »völlig erlogenes Vermögen« hypostasiere, »ein Vermögen unmittelbarer, metaphysischer, d. h. über alle Möglichkeit der Erfahrung hinausgehender [...] Erkenntnisse«. Das richtet sich gegen Schelling, Fichte u. Hegel. Aber ebenso wie sie ist auch S. bemüht, das von Kant sogenannte »Ding an sich«, also die Welt so wie sie ist unabhängig von unserer Erkenntnisweise, zu erfassen. Die Dissertation soll zeigen, dass dieses »Ding an sich« mit Hilfe der Vernunft keinesfalls erfasst werden kann u. dass es dafür einer anderen Zugangsweise bedarf. Insofern bereitet sie das method. Fundament für S.s Hauptwerk, das zunächst unbeachtet blieb u. schließlich vom Verleger Brockhaus makuliert wurde. Erst 1844 kam eine zweite Auflage heraus, erweitert um einen Zusatzband mit Ergänzungen u. mit Vertiefungen zum ersten Band. In Die Welt als Wille und Vorstellung knüpft S. an seine Dissertation an: »Die Welt ist meine Vorstellung«, d. h., sie ist eine Welt der Erscheinung, wie sie die verstandesmäßige Anschauung nach dem Prinzip der Kausalität konstruiert. Soweit bleibt S. Kantianer. Anders als Kant aber lässt er das »Ding an sich« nicht auf sich beruhen. Es sei vielmehr positiv erfassbar als das am unmittelbarsten Gegebene: der am eigenen Leibe erfahrene blinde, impulsive, unbewusste »Wille«. Wille ist bei S. zunächst der Begriff für die unmittelbare Selbsterfahrung des eigenen Leibes. Nur er ist jene Realität, die der Mensch nicht nur als Vorstellung, als Objekt, hat, sondern die er selbst ist. Zwar könne auch der eigene Körper zum Objekt der Vorstellung gemacht werden, das ändere aber nichts daran, dass man an diesem Punkt, u. nur an diesem Punkt, einen unmittelbaren, nicht vorstellungsmäßigen Zugang zur Wirklichkeit hat. »Außer dem Willen und der Vorstellung ist uns gar nichts bekannt, noch denkbar.« Die Äußerung des
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Willens als des metaphys. Prinzips findet S. in allen Kräften der Natur, wie Gravitation, Magnetismus, den Wachstums- u. Lebenskräften von Pflanze, Tier u. Mensch. S. warnt davor, diesen »Weltwillen« mit einer Art vernünftiger Beseelung des ganzen Kosmos zu verwechseln, was in der antiken Philosophie, in der christl. Tradition u. in der idealistischen Vernunftphilosophie stets geschehe. Dieser »Weltwille« ist blind, ist kein »Logos«, ist von keiner höheren Absicht gelenkt – ein »sinnloser« Lebenswille. Aus der Sicht S.s müssen deshalb der Glaube an eine alles durchherrschende Weltvernunft u. an einen Fortschritt in der Geschichte, müssen überhaupt alle Systeme der Sinngebung des an sich Sinnlosen zusammenstürzen. S.s Pessimismus bezieht sich deshalb auch nicht auf ein mögl. schlechtes Ende der Welt, sondern darauf, dass diese Welt in sich selbst sinnlos ist. Darüber hinaus ist der Weltwille, da er sich in einzelnen Individuationen manifestiert, in sich zerrissen u. zerstritten: Die Verkörperungen des Willens werden sich wechselseitig zur Nahrung u. Beute; für die menschl. Gemeinschaft bedeutet dies: »homo homini lupus est.« Ausdrücklich widerspricht S. allen in der Nachfolge Kants entwickelten Theorien, die vom Staat eine Verbesserung, Versittlichung des Menschen erwarten (Fichte, Schiller, Hegel) oder im Staat, im romant. Sinne, einen höheren Menschenorganismus sehen (Novalis, Schleiermacher). Der Staat soll die Egoismen durch Gewalt- u. Strafdrohungen bändigen u. dem kollektiven Überlebensinteresse dienstbar machen. Ausgehend von der Dominanz des blinden, triebhaften Willens im Menschen kann S., anders als Kant u. seine idealistischen Nachfolger, der sittl. Vernunft nur eine geringe Lenkungskraft zubilligen. Kein »kategorischer Imperativ«, sondern nur Abschreckung halte vom Unrechttun ab. S. zeichnet ein düsteres Bild der Welt u. des Menschen: in der Natur das immer gleiche Werden u. Vergehen, Fressen u. Gefressenwerden, in der Menschenwelt Gewalt u. Verfeindung ohne moralischen Fortschritt, im einzelnen Menschen stets unbefriedigt bleibendes Streben, Gier, Verlangen. Glück sei in der Ordnung der Natur nicht vorgesehen.
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Und doch gibt es für S. so etwas wie eine »Erlösung«, die »Verneinung des Willens«: »der Wille wendet sich [...] vom Leben ab: ihm schaudert jetzt vor dessen Genüssen, in denen er die Bejahung desselben erkennt. Der Mensch gelangt zum Zustand der freiwilligen Entsagung, der Resignation, der wahren Gelassenheit und gänzlichen Willenslosigkeit.« Diese Verneinung des Willens dürfe mit Selbstmord nicht verwechselt werden, denn der Selbstmörder setze in der Regel seinem Leben ein Ende aus enttäuschtem u. gerade deshalb grundsätzlich bejahtem Willen zum Leben. Sie verwirklicht sich eher in der Haltung der Askese, der Kontemplation, der Hingabe; eine Haltung, die S. bei den großen Heiligen u. Asketen, bei Franziskus, Christus u. Buddha, entdeckt. In S.s Philosophie nimmt sie den Platz eines letztlich unerklärl. Mysteriums ein, da die Vernunft den Primat des Willens in der Regel nicht brechen könne. Deshalb beschreibt S. diese Verneinung als ein Geschehen in der Dimension des Willens, der sich selbst nicht mehr will, der sich »wendet«. Vor der Niederschrift des Hauptwerks hatte S. diesen kontemplativen, inspirierten, myst. Zustand als »besseres Bewußtsein« bezeichnet: »Ich aber sage, in dieser Zeitlichen, Sinnlichen Welt giebt es wohl Persönlichkeit und Kausalität, ja sie sind sogar nothwendig. Aber das bessre Bewußtsein in mir erhebt mich in eine Welt wo es weder Persönlichkeit noch Subjekt und Objekt mehr giebt« (Tagebuch 1813). S. beschreibt diesen Zustand in der Sprache der christl. Mystik, der pietistischen Bekehrung, der buddhistischen Selbstauflösung. Und, wie später Wittgenstein beschränkt er sich darauf, auf diesen myst. Zustand lediglich hinzuweisen mit der nachdrückl. Betonung, dass er weder begrifflich zureichend expliziert noch moralisch gefordert werden könne. Allerdings gibt es für S. Vorstufen dieser Ekstase der Willensverneinung: im Mitleid, in der Kunst u. eben auch in der Philosophie selbst. Mitleid ist für S. keine moralische Forderung, sondern eine jedermann zugängl. Erfahrung. Wer Mitleid empfindet, dem ist »der Schleier der Maja durchsichtig geworden, und die Täuschung des principii individuationis hat ihn verlassen. Sich, sein Selbst,
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seinen Willen erkennt er in jedem Wesen, folglich auch in dem Leidenden.« Der Mitleidende erlebt das fremde Leid wie sein eigenes, eine Unio mystica in der Solidarität des Leidens: Wer sich dieser Mitleidserfahrung öffnet, gewinnt ein starkes »Quietiv« gegen den eigenen triebhaften SelbstbehauptungsWillen. Seine Ethik gründet S. auf diese Erfahrung; sie ist deshalb auch keine Vernunftethik, sondern eine Ethik der Intuition. Mitleid könne man nicht predigen, man könne nur jene Manöver aufdecken, mit denen man stets versucht, sich dieser jedermann mögl. Mitleidserfahrung zu verschließen. Die anderen Vorstufen der Verneinung sind die Kunst u. die kontemplative Philosophie. Anknüpfend an Kants Konzeption der Kunst als Ausdruck »interesselosen Wohlgefallens« hebt S. an der Kunst die »Seligkeit des willenlosen Anschauens« hervor. Im Kunstgenuss sind wir des »schnöden Willensdranges entledigt, wir feiern den Sabbath der Zuchthausarbeit des Wollens, das Rad des Ixion steht still«. Kunst ist vom treibenden Willen befreite »reine Vorstellung«, die deshalb aus kontemplativ-ästhetischer Distanz das »Weltspiel« des Willens erfasst, ohne von ihm umgetrieben zu sein. In der Musik komme das am reinsten zum Ausdruck. Kunst ist für S. eine weltüberwindende Macht, die er in Anlehnung an die platonische Ideenlehre expliziert. S.s Hauptwerk ist durchzogen von einer romantisch u. buddhistisch gefärbten Sehnsucht nach dem Nichts, das aber keine absolute Negation bedeutet, sondern auf einen unsagbar bleibenden Zustand hinweist. S.s weitere Schriften vertiefen u. entwickeln die Grundgedanken seiner Philosophie u. beziehen sie auf die verschiedensten Gegenstände. Das gilt für Über den Willen in der Natur (Ffm. 1836) wie für die beiden Preisschriften Über die Freiheit des menschlichen Willens (1839) u. Über das Fundament der Moral (1840. Beide Ffm. 1841 u. d. T. Die beiden Grundprobleme der Ethik). In der Freiheitsschrift versucht S. zu zeigen, dass es keine Handlungsfreiheit gibt. Allerdings kann der Mensch »mittelst seines Denkvermögens die Motive, deren Einfluss auf seinen Willen er spürt, in beliebiger Ordnung abwechselnd und wiederholt sich vergegenwärtigen, um
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sie seinem Willen vorzuhalten, welches überlegen heißt«. Dieses »Überlegen«-Können ändert aber nichts daran, dass der Wille, ist er erst einmal von einem vorherrschenden Motiv angeregt, mit strenger Kausalität reagiert. Trotz des Bewusstseins der Determiniertheit des Handelns bleibt aber das Gefühl der Schuld u. der Verantwortlichkeit. Am Grunde dieses Gefühls entdeckt S. die »Schuld der Individuation«, d. h.: Der Einzelne ist eine bes. Manifestation des Willens u. setzt durch seine bloße Existenz den grausamen Streit zwischen den einzelnen Willensmanifestationen fort. Nicht um die »Schuld«, sondern um den »Schmerz der Individuation« geht es in der Abhandlung über die Moral. S. zeigt, wie dieser Schmerz im Mitleid zu einem gemeinsamen Schmerz u. damit zu einer Grundlage der Moral werden kann. Hier wird die Mitleidsphilosophie des Hauptwerks vertieft u. polemisch abgegrenzt gegen die verschiedenen Systeme der Vernunftmoral, wie sie v. a. in der Nachfolge Kants entworfen worden waren. S.s letztes Werk sind die Parerga und Paralipomena (Bln. 1851), eine Sammlung mit größeren u. kleineren Abhandlungen für ein breiteres Publikum, die S.s späten Ruhm begründete. Das gilt besonders für das bekannteste Stück der Parerga – die Aphorismen zur Lebensweisheit. Diese Schrift ist geleitet von der Reflexion auf seine eigene Lebenspraxis. S. weiß, dass er auf die Ekstase der Willensverneinung eher hingewiesen als sie gelebt hat; er weiß, dass auch in ihm, dem Philosophen des Weltschmerzes u. der Verneinung, der Wille zur egoistischen Selbstbehauptung immer wieder obsiegt. Und deshalb denkt er am Ende seines Lebens darüber nach, wie man, den obsiegenden Lebenswillen u. Egoismus einmal vorausgesetzt, sein Leben klugerweise einrichten sollte, damit das erreichbare Optimum an Glück, oder besser: das Minimum an Unglück, dabei herauskommt. Hier wird der grundierende Pessimismus, das große Unbehagen am Leben, zwar angedeutet, dann aber doch ausgeklammert, dem Leben zuliebe. S. bietet eine Lebenslehre an, die in der Tradition der Stoa u. der frz. Moralisten steht. Er empfiehlt Selbstbescheidung, innere Unabhängigkeit von Besitz u. Geltungssucht. Autarkie, Auto-
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nomie u. Ataraxie sind ihm die wichtigsten Tugenden. Gegenüber dem gesellschaftl. Leben empfiehlt er die Halbdistanz: Man soll die Gesellschaft gebrauchen, aber, soweit möglich, sich nicht von ihr gebrauchen lassen. Mit dem letzten Werk hebt die große Wirkungsgeschichte S.s im 19. Jh. an. S. trifft das skept. Lebensgefühl der von Fortschrittshoffnungen u. Vernunftidealismus ernüchterten bürgerl. Welt nach 1848. In dieser Situation konnte seine Lehre vom Primat des dunklen, treibenden Willens wirkungsmächtig werden. Mit S. beginnt jene antiidealistische Lebensphilosophie, die dann in Nietzsche u. Bergson kulminiert. Nietzsche knüpfte an die S.sche Willensmetaphysik an u. formulierte sie mit heroischem Pathos um zum »Willen zur Macht«. Auf den dunklen Triebgrund des Willens stößt auch Freud, mit ähnlich pessimistischer Grundstimmung wie S. Die Wirkungen S.s reichen bis in die Gegenwart: Jene philosophischen Ansätze, die auf die nichtvernünftigen Mächte in der Geschichte blicken, sind zumeist S. verpflichtet. Das gilt für Theodor Lessing, für Horkheimer, für Cioran. Wittgenstein ist von S.s Mystik der Verneinung berührt. Vor allem aber hat seine Philosophie auf die Künstler gewirkt. Wagner, Raabe, der junge Thomas Mann stehen unter dem Einfluss des auch als Stilist bedeutenden S., desgleichen Proust, Kafka, Beckett oder Thomas Bernhard. Ausgaben: Sämtl. Werke. Hg. Paul Deussen. 16 Bde., Mchn. 1911–42. – Der handschriftl. Nachl. Hg. Arthur Hübscher. 5 Bde. in 6, Ffm. 1966–75. – Sämtl. Werke. Hg. ders. 7 Bde., Wiesb. 31972 (11946–50). – Philosophische Vorlesungen. Hg. Volker Spierling. 4 Bde., Mchn. 1984–86. – Werke in 5 Bdn. nach der Ausg. letzter Hand. Hg. Ludger Lütkehaus. Zürich 1988. – Briefe: Ges. Briefe. Hg. A. Hübscher. Bonn 1978. – Das Buch als Wille und Vorstellung. A. S.s Briefw. mit Friedrich Arnold Brockhaus. Hg. L. Lütkehaus. Mchn. 1996. Literatur: Bibliografie: Arthur Hübscher: S.-Bibliogr. Stgt. 1981 (Ergänzungen regelmäßig im S.Jb.). – Biografien: Wilhelm Gwinner: S.s Leben. Lpz. 1878. – Rüdiger Safranski: S. u. die wilden Jahre der Philosophie. Mchn. 1987. – David E. Cartwright: S. A Biography. Cambridge/New York 2010. – Weitere Titel: Georg Simmel: S. u. Nietzsche. Lpz. 1907. – Heinrich Hasse: A. S. Mchn. 1926. –
Schopenhauer Max Horkheimer: S. u. die Gesellsch. In: S.-Jb. 36 (1955), S. 49–57. – Ders.: Die Aktualität S.s. In: ebd. 42 (1961), S. 12–25. – A. Hübscher: Denker gegen den Strom. Bonn 1973. – Ludger Lütkehaus: S. Metaphys. Pessimismus u. ›soziale Frage‹. Ebd. 1980. – Ulrich Pothast: Die eigentlich metaphys. Tätigkeit. Über S.s Ästhetik u. ihre Anwendung durch Samuel Beckett. Ffm. 1982. – Wolfgang Weimer: S. Darmst. 1982. – Bryan Magee: The Philosophy of S. Oxford/New York 1983. Rev. and enlarged ed. Oxford 1997. – Jörg Salaquarda (Hg.): S. Darmst. 1985. – Alfred Schmidt: Die Wahrheit im Gewande der Lüge. S.s Religionsphilosophie. Mchn. 1986. – Volker Spierling (Hg.): S. im Denken der Gegenwart. Ebd. 1987. – Yasuo Kamata: Der junge S. Ebd. 1987. – A. Schmidt: Idee u. Weltwille. S. als Kritiker Hegels. Ebd. 1988. – Wolfgang Korfmacher: S. zur Einf. Hbg. 1994. – Christopher Janaway: S. Oxford/New York 1994. – Karlheinz Muscheler: Die S.-Marquet-Prozesse u. das preuß. Recht. Tüb. 1996. – C. Janaway: Self and World in S.’s Philosophy. Oxford 1999. – Ders. (Hg.): The Cambridge Companion to S. Cambridge u. a. 1999. – Alfred Estermann: S.s Kampf um sein Werk. Der Philosoph u. seine Verleger. Ffm./Lpz. 2005. – Lore Hühn: A. S. In: NDB. Rüdiger Safranski
Schopenhauer, Johanna (Henriette), geb. Trosiener, * 9.7.1766 Danzig, † 16.4.1838 Jena; Grabstätte: ebd., Alter Friedhof. – Erzählerin u. Reiseschriftstellerin. Die Senatorentochter erhielt eine vielseitige Erziehung (u. a. bei Chodowieckis Mutter u. Schwester) u. heiratete 1785 19-jährig den doppelt so alten, reichen Handelsherrn Heinrich Floris Schopenhauer († 1805, Freitod). Sie machten 1787/88 – ihr Sohn Arthur wurde bald nach der Heimkehr geboren – u. 1803–1805 größere Europareisen; der zweiten widmete S. ihre häufig neu aufgelegten Erinnerungen von einer Reise in den Jahren 1803, 1804 und 1805 (3 Bde., Rudolstadt 1813–17). Als 1803 Danzig preußisch wurde, zog die Familie nach Hamburg; 1806–1829 lebte S. in Weimar, wo sie als erste warmherzig-vorurteilslos, wenn auch sicherlich nicht ganz ohne Berechnung, Christiane Goethe in ihren Salon einlud, der bald aufgrund häufiger Präsenz Goethes, aber auch etwa Wielands u. Fernows (dem sie 1810 eine Biografie widmete) zu einer Institution wurde. Nach weiteren Reisewerken wie dem über den 1816
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unternommenen Ausflug an den Rhein und dessen nächste Umgebungen (Lpz. 1818) sah sich S. 1819 durch Bankrott ihrer Bank auf die Erträge ihrer Schriftstellerei angewiesen. Erfolg stellte sich schon mit dem von Goethe wohlwollend rezensierten Frauenroman Gabriele (3 Bde. 1819/20. Neuausg. Mchn. 1985) ein. In diesem wie in Die Tante (2 Bde., Ffm. 1823) oder Sidonia (3 Bde., Ffm. 1827/28) wird in empfindsamer, dabei anschaulich präziser Sprachform mit sozialem Tiefblick die Berufung der Frau zur Selbstvervollkommnung durch Gehorsam gegenüber dem ungeliebten Ehemann bzw. durch entsagenden Verzicht auf Eheglück im Dienste der Familie geradezu zum Strukturprinzip erhoben. Bemerkenswert ist auch der Roman über die Dekabristenrevolte, Richard Wood (2 Bde., Lpz. 1837). Bleibenden Wert haben auch S.s Briefe u. vor allem die mit ungewöhnl. Anschauungskraft, einem ausgesprochenen Sinn für den histor. Wandel der Sitten u. einem in seltenem Grad entwickelten situativen Humor geschriebenen Lebenserinnerungen (bis 1789), Jugendleben und Wanderbilder (2 Bde., Braunschw. 1839), herausgegeben von ihrer Tochter Adele, mit der S. zuletzt in Bonn u. seit 1837 in Jena lebte (u. d. T.: Ihr glücklichen Augen. Jugenderinnerungen, Tagebücher, Briefe neu hg. v. Rolf Weber. Bln. 1978). Ausgaben: Sämmtl. Schr.en. 24 Bändchen, Lpz. 1830/31. – Damals in Weimar. Erinnerungen u. Briefe v. u. an J. S. Hg. H. H. Houben. Bln. 1924. 2 1929. – Im Wechsel der Zeiten, im Gedränge der Welt. Jugenderinnerungen, Tagebücher, Briefe. Hg. Rolf Weber. Mchn. 1986. Literatur: Werner Milch: J. S. Ihre Stellung in der Geistesgesch. In: Schopenhauer-Jb. 22 (1935), S. 201–238. – Stephan Koranyi: Nachw. zur Neuausg. v. ›Gabriele‹. a. a. O. – Lydia Schieth: Die Entwicklung des dt. Frauenromans im ausgehenden 18. Jh. Ffm. 1987, S. 149–152, 352–356. Christa Bürger: Leben Schreiben. Stgt. 1990, S. 57–59 u. 184–189. Effi Biedrzynski: Goethes Weimar. Zürich 31994, S. 393–396. Bodo Plachta: J. u. A. S. In: Autorinnen in der Literaturgesch. Hg. Christiane Caemmerer u. a. Osnabr. 1999, S. 157–176. Anke Gilleir: J. S. u. die Weimarer Klassik. Hildesh. 2000. Dies.: Der Schnee. Eine Erz. (1825), Gabriele. Ein Roman (1819/20), Sidonia (1827/28); Annegret Pelz: Jugendleben u. Wand-
559 erbilder (1839). In: Lexikon deutschsprachiger Epik u. Dramatik von Autorinnen (1730–1900). Hg. Gudrun Loster-Schneider u. Gaby Pailer. Tüb./Basel 2006, S. 394–399. Ulrike Bergmann: J. S. In: NDB. – Monika Schneikart: Von der Schwierigkeit für Frauen, aus dem Haus zu gehen. Raumsemantik u. Geschlechterordnung in J. S.s Autobiogr. In: Ostpreußen, Westpreußen, Danzig. Eine histor. Literaturlandschaft. Hg. Jens Stüben. Mchn. 2007, S. 353–378. Eda Sagarra
Schoppe, Amalie (Emma Sophie Katharina), geb. Weise, auch: Adalbert von Schonen, * 9.10.1791 Burg/Fehmarn, † 1.10.1859 Shenectady/New York. – Erzählerin, Redakteurin u. Autorin von Frauenratgebern.
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eine Schule für dt. Kinder einrichtete u. bis 1854 für das »Morgenblatt« aus New York berichtete. Literatur: Hans Schröder: Lexikon der hamburg. Schriftsteller. Bd. 7, Hbg. 1879. – Carstens: A. S. In: ADB. – Heinz Stolte: A. S. In: Hebbel-Jb. 1963, S. 149–178. – A. S. in Amerika. In: ebd. 1973, S. 127–136. – Kurt Schleucher: Das Leben der A. S. u. Johanna Schopenhauer. Darmst. 1978. – Ders: A. S. In: LKJL. – Hargen Thomsen: A. S. Anatomie einer biedermeierl. Literaturfabrik. In: Nordelbingen 63 (1994), S. [161]- 204. – Loreley French: A. S. (1791–1859). In: Vom Salon zur Barrikade. Frauen der Heine-Zeit. Hg. Irina Hundt. Stgt./Weimar 2002, S. 129–142. – Gudrun Loster-Schneider: Rehistorisierung des Geschlechterdiskurses im 19. Jh.? In: Europ. Realismus – le réalisme européen. Hg. Uwe Dethloff. Saarbr. 2002, S. 239–262. – Judith Wilson: Amalia S.’s ›Die Colonisten‹ and the ›menace of mimicry‹. In: Women in German Yearbook 18 (2002), S. 179–201. – Maria Teresa Cortez: Zwischen Gut u. Böse. Die Darstellung Brasiliens in der Erzählung ›Die Auswanderer nach Brasilien oder die Hütte am Gigitonhonha‹ von A. S. In: Hebbel-Jb. 61 (2006), S. 53–71. – G. Loster-Schneider, Marianne Henn u. Gisela Wilkending: A. S. In: Lexikon deutschsprachiger Epik u. Dramatik v. Autorinnen (1730–1900). Hg. G. Loster-Schneider u. Gaby Pailer. Tüb./Basel 2006, S. 399–403. – Nikolaus Gatter: A. S. In: NDB. – A. S.: ›... das wunderbarste Wesen, so ich je sah‹. Eine Schriftstellerin des Biedermeier (1791–1858) in Briefen u. Schr.en. Hg. Hargen Thomsen. Bielef. 2008. – Hargen Thomsen: ›Ich bin auf einen verlorenen Posten gestellt worden!‹ Amalia S. zum 150. Todestag. In: Hebbel-Jb. 63 (2008), S. 7–40. Eda Sagarra
Zum unerlässl. Requisit des gesellschaftlich gutsituierten dt. Haushalts in der zweiten Hälfte des 19. Jh. gehörte die Briefstellerin für Damen (Bln. 1834. 91895). Ihre Autorin, Arzttochter, Bekannte Varnhagens, Chamissos, Kerners, Gönnerin Hebbels, Leiterin (mit Fanny Tarnow) einer Hamburger Mädchenschule u. Mutter von drei Söhnen, hatte sich schon 1821 nach sieben unglückl. Ehejahren von ihrem Mann, einem Rechtsanwalt († 1829), getrennt; seit 1822 veröffentlichte sie fast jährlich Erzählungen u. Romane u. etablierte sich als Publizistin durch ihre Redaktion der »Pariser Modeblätter« (Hbg. 1827–46) u. der »Iduna. Zeitschrift für die Jugend beiderlei Geschlechts« (Altona 1831–39). S. besaß ein ausgeprägtes buchhändlerisches Talent; neben zahlreichen Schriften für Kinder u. Jugend wie den bes. Schoppe, Kaspar, Gaspar Scioppius, Gaserfolgreichen Christliche Erzählungen für die per(us) Schopp(ius); zahlreiche Anagramme Jugend (Hbg. 1839), Robinson in Australien. Ein u. Pseudonyme, u. a.: Pascasius GrosipLehr- und Lesebuch für gute Kinder (Heidelb. pus, Holofernes Krigsoederus, * 26.6. 1843) u. ihren histor. Romanen, die zgl. 1576 Raum Neumarkt-Amberg-Weiden, Zeitthemen behandelten (Marat. Braunschw. wahrscheinlich Pappenberg (bei Gra1838. Tycho Brahe. Lpz. 1839. Die Jüdin. Lpz. fenwöhr, Oberpfalz), † (ca.) 9.11.1649 Pa1844) kamen ihre anspruchsvoll illustrierten dua. – Philologe, Kritiker, Pädagoge, PoReise- u. Gedenkbücher den Anforderungen litiker, Kontroverstheologe u. Polemiker einer schenkfreudigen Zeit entgegen (so v. a. der Gegenreformation. Die Braut, Gattin und Mutter. Heidelb. 1839). Mehrere ihrer Werke wurden übersetzt. Ihren Der Vater Kaspar Schoppe (1542–1607), Sohn Werdegang reflektiert die autobiogr. Erzäh- eines luth. Diakons in Nürnberg, war zulung Clementine (in: Erinnerungen aus meinem nächst Soldat u. seit ca. 1580 in BurgtreswitzLeben und kleinen Bildern. Lpz. 1838). 1851 zog Tännesberg bei Moosbach im Oberpfälzer S. zu ihrem Sohn Alphons in die USA, wo sie Wald als Gerichtsschreiber u. Mühlenbesitzer
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tätig; seit 1592 amtierte er als Hauptmann der Garnison in Neumarkt, das seit den Darstellungen von S.s zahlreichen Gegnern häufig als sein Geburtsort genannt wird. Zwei Brüder des Vaters waren luth. Geistliche in Nürnberg. Sein wahrscheinlicher Geburtsort Pappenberg fiel 1937 dem Truppenübungsplatz bei Grafenwöhr zum Opfer. Nach dem Besuch der Lateinschule in Weiden (1584) u. des kurfürstl. kalvinistischen Paedagogiums in Amberg (seit 1585) begann er 1591 in Altdorf mit seinem Studium, das er im Sommer in Heidelberg fortsetzte, wo er erste Kontakte zu Gelehrten wie Marquard Freher u. dem Aristoteliker u. Mediziner Theophil Mader knüpfte u. sich bereits als nlat. Poet versuchte (viele biogr. Nachweise u. Dokumente aus der Frühzeit bei Hausmann, 1995). 1594 setzte er seine jurist. Studien in Altdorf fort, wo Konrad Rittershausen, dessen Lieblingsschüler er gewesen ist, ihn in die Institutionen des röm. Rechts, die antiken Poeten u. die modernen polit. Autoren einführte u. mit vielen, auch auswärtigen Gelehrten bes. aus den Niederlanden u. Frankreich bekannt machte. 1595 ging S. für ein Semester an die Universität Ingolstadt, wohnte im Konvikt der Jesuiten u. studierte v. a. bei dem Juristen u. Philologen Obertus Giphanius (Hubert van Giffen, † 1604), dem Lehrer Rittershausens, der 1590 zur kath. Konfession konvertierte u. aus dem protestantischen Altdorf in das von den Jesuiten dominierte Ingolstadt gegangen war. Dort ist auch seine erste philolog. Publikation entstanden, die Verisimilium libri quatuor. In quibus multa veterum scriptorum loca, Symmachi maxime [...] aliorum emendantur [...] (Nürnb. 1596. Amsterd. 1662), eine Sammlung textkrit. Konjekturen, die Aufsehen erregte u. seinen zunächst unbestrittenen Ruhm als ›criticus‹ in der Gelehrtenwelt begründet hat. Nach Altdorf zurückgekehrt, erwarb S., dem die krit. Philologie immer erheblich wichtiger war als die Jurisprudenz, bei Rittershausen mit der juristischen Magisterdisputation Theses de iniuriis (ebd. 1597; Widmung an den Vater in: Hausmann, 1995, S. 155–160) seinen Studienabschluss. Aus dieser Zeit datiert auch seine Bekanntschaft mit dem jungen Schweizer Melchior Goldast u. mit Christoph Pflug aus Meißen, der später (1603), wie S.
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selbst, im Umkreis des in Neapel gefangenen Tommaso Campanella zu finden ist. Ihm ist eine weitere philolog. Arbeit der frühen Jahre gewidmet: De arte critica, et praecipue de altera eius parte emendatrice [...] commentariolus (ebd. 1597. Amsterd. 1662), erschienen im selben Jahr wie die Suspectarum lectionum libri quinque (Nürnb.), mit Widmung an Jacques Bongars, den Gesandten des 1593 zum kath. Bekenntnis konvertierten Königs Henri IV. in Deutschland. Bemerkenswert in diesen ersten Büchern ist die große Zahl der Dedikationen an prominente Autoren der akadem. u. polit. Welt wie auch der Widmungspoeme berühmter Autoren an den Verfasser. Nach dem Altdorfer Abschluss führte ihn eine Studienreise über Augsburg, Innsbruck u. Trient nach Verona, Mantua, Vicenza, Padua u. Venedig. Auf dem Rückweg suchte er bei einem Besuch in Tübingen Anschluss an den dort studierenden Wolfenbütteler Herzog August d.J. Aber noch 1597 zog er nach Prag. Dort mag er seinen inzwischen konvertierten Lehrer Giphanius, jetzt juristischer Beisitzer am Reichshofrat, getroffen haben, der ihm aber aus dem Weg gegangen sein wird. Der Verdacht, das ehrgeizige junge Talent habe in Ingolstadt für seine eigene Textkritik (u. a. zu Symmachus-Briefen in den Verisimilium libri von 1596; die Briefausg. dann 1608) Arbeiten seines Lehrers heimlich plagiiert, hatte das Verhältnis zerrüttet. Auch Giphanius selbst war, vom berühmten Denis Lambin, des Plagiats beschuldigt worden (was Pierre Bayle in seinem Gifanius-Artikel aufgegriffen hat). Derlei Gerüchte waren in der Gelehrtenrepublik um 1600 keine Seltenheit (ausführlich Hausmann, 1995). Dagegen konnte er sich wohl durch die Vermittlung des Studienfreundes Tobias Scultetus an Johann Matthäus Wacker von Wackenfels anschließen, Mitgl. des Reichshofrats u. passionierter Philologe u. Humanist, der selbst fünf Jahre zuvor konvertiert u. vom Kaiser geadelt worden war. Im Milieu um Rudolf II. erlangte der Katholizismus eine große Anziehungskraft unter den Gelehrten, die natürlich nicht nur religiös motiviert war; wie zuvor Wacker u. wohl unter dessen Einfluss, aber auch nach der Lektüre der Annales ecclesiastici des Cesare Baronio, konvertierte S. im April 1598 in Prag
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(darüber die Epistola de sua ad Orthodoxos migratione an den Ingolstädter Studiengenossen Gundakar Frh. von Tannberg; Ingolst. 1600; dt. Übers. bei Räß, Convertiten, Bd. 3, S. 402–443). Im Gefolge einer von Wacker angeführten kaiserl. Gesandtschaft reiste er noch im selben Jahr nach Rom. Unterwegs in Ferrara traf man im Sommer den dort (Ferrara gehörte zum Kirchenstaat) zeitweise residierenden Hofstaat des Papstes Klemens VIII., dem auch der Kardinal Baronius angehörte u. der der im November gefeierten habsburgischen Doppelhochzeit beiwohnte. S. verfasste darüber einen eleganten Panegyricus Clementi VIII. Pont. Max. pro nuptijs (Ferrara 1598. Ingolst. 1599), der ihm die Aufmerksamkeit des Papstes verschaffte, sowie eine Narratio historica [...]. Conscripta stilo Gasparis Schoppii Franci (Ingolst. 1599) über das Hochzeitsfest. Zweck der Gesandtschaft Wackers war es, beim Papst eine Lösung im Konflikt um die Breslauer Bischofswahl von 1596 im Sinne des Kaisers herbeizuführen. Seit 1598 lebte S. zunächst für nicht ganz ein Jahrzehnt in Rom. Er wirkte u. schrieb im Dienste der Kurie u. Habsburgs u. kehrte fortan nicht mehr dauerhaft nach Deutschland zurück. Mit Unterbrechungen durch ›Dienstreisen‹ u. längere Aufenthalte in verschiedenen Ländern, darunter wiederholt auch in dt. Städten (bes. Regensburg, München, Ingolstadt, Augsburg, Dillingen) u. Klöstern (bes. Weingarten), in der Schweiz (Feldkirch, Rapperswil, Pfäfers, Bad Ragaz) u. Österreich (Graz), blieb er in Italien, wo ihn mit Johannes Faber aus Bamberg, der in Rom als Arzt u. Gelehrter lebte, eine lebenslange Freundschaft verband; wichtige Aufenthalte waren dort, neben Rom u. Venedig, Mailand, Mantua, Lucca, Genua, Neapel. Dass der »tedesco italianizzato« seinen Namen nicht nur latinisierte, sondern auch der ital. Zunge adaptierte, ist charakteristisch: S. war nun eine Art Humanist u. Inspekteur, beim Reichstag in Regensburg u. anderswo auch Bevollmächtigter der päpstl. Kurie u. der Habsburger (bes. Erzherzog Ferdinands III., des späteren Kaisers Ferdinand II.), meist gut bezahlt u. angesehen, aber als Diplomat sicherlich zu ungeduldig, scharfzüngig u. schroff. Bayle, der ihn eigentlich nicht ab-
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lehnte, wollte ihn darum später nicht zur Republik der Gelehrten zählen: S. habe nicht allein mit der Feder gekämpft, sondern sich auf die Macht verlassen. Bis heute ist das Haupthindernis für ein angemessenes Verständnis dieses seltsamen, nicht leicht einzuordnenden Typus die Denunziation u. Denigration durch eine ›schwarze Legende‹ von Seiten der jeweiligen tatsächl. oder vermeintl. Gegner u. ihrer Nachfahren, die bis ins 20. Jh. ein zähes Leben hatte: die einseitige Betonung des Apostaten, des »Glaubensverräters« u. Protestantenverfolgers, des »canis criticus« u. Thersites unter den Gelehrten, des Kontroversisten, Polemikers u. Provokateurs. Der erst neuerdings (von Jaitner, 1999, u. Ders.: Einleitung, 2004) herausgestellte Friedens- u. Reunionstheologe u. -politiker wurde kaum wahrgenommen, u. der Kämpfer gegen die Jesuiten hätte ja nicht in das Feindbild der protestantischen Ablehnungsfront gegenüber der ›ultramontanen‹ Hemisphäre gepasst. In seinen kirchenpolit. Positionen u. Kampagnen bewegte sich S. während der ersten dreieinhalb Jahrzehnte des 17. Jh., seiner aktivsten Epoche, immer nah an den Ereignissen u. Konflikten der Gegenwart, im Wesentlichen der Vorgeschichte u. des wechselvollen Verlaufs des Dreißigjährigen Krieges. Dabei bewies er meist die Fähigkeit zu weitsichtigen Urteilen, etwa in seiner scharfen Opposition gegen das kaiserl. Restitutionsedikt von 1629, als auf dem Höhepunkt der kath. Erfolge im Krieg (vor der Wende durch die Schweden) Klöster u. Kirchengüter von den Protestanten zurückgefordert wurden, wovon v. a. die Jesuiten zu profitieren gedachten. Auf dem Kurfürstentag in Regensburg 1630 u. in zwei Friedensschriften trat er für die Lösung des Problems der Glaubensspaltung durch Reunion u. eine Friedensordnung ein; gegen die Jesuiten u. für die ›alten Orden‹, bes. die Benediktiner. ›Gegenreformation‹ betonte er entschieden auf der zweiten Worthälfte, u. wie einst Luther forderte er ein nationales Konzil zur Klärung der theolog. Streitfragen u. die Reform der kath. Kirche als Bedingung für eine Rückführung der Protestanten, eine rigorose Klerusreform, die Infragestellung des Primats des Papstes;
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er war für den Vorrang der Bibel u. der Kirchenväter, die Ausschaltung des Jesuitenordens u. seine Entfernung aus dem Reich. Der Kontroverstheologe wurde zum Reunionstheologen, der sich den Jansenisten annäherte (vgl. Arnauld, 1689; Jaitner, S. 132 f.). In den Jesuiten dagegen sah S. nach 1630 den Hauptfeind, gegen den er in einem »publizistischen Amoklauf« vorging (Jaitner, S. 133). Schon früher war er unerschrocken für eine Rehabilitierung des Machiavellismus eingetreten (in ungedruckten Machiavellica von 1618/19 u. in der Paedia politices von 1623). Darin stand er im Widerspruch zu Campanella, den er 1607 in Neapel im Kerker besuchte (wohl ohne persönl. Begegnung) u. dessen endl. Freilassung er mit Hilfe Kaiser Ferdinands u. Papst Urbans VIII. mit bewirkte (1626). Aber die Vision des Dominikaners von einer kath. Weltmonarchie wird er geteilt haben, in der für Häretiker u. Protestantismen kein Platz sein sollte. S. teilte auch die Faszination für den religiös-polit. Utopismus in Europa um 1600. Nach 1632–1634 engagierte er sich für das Projekt des seit 1632 am Hof von Turin lebenden »Sultan Jahja« (Jachia), der »Impresa di Levante«: einer diplomatisch-finanziellen Hilfskampagne für die christl. Völker auf dem Balkan bei ihrer Befreiung von den Türken mit dem Ziel einer christl. Erneuerung des Osmanischen Reiches selbst. Eine große Propagandaschrift, Fatum Imperii Turcici, die 1634 in Basel erscheinen sollte, blieb ungedruckt; zwei kleinere Schriften erschienen 1634 in Mailand u. Turin. Seine Produktion ist überwältigend. Man hat weit mehr als 200 Texte genannt, von denen nicht ganz 100 im Druck erschienen sein sollen (wenige auf Deutsch). Viele z. T. mehrbändige Manuskripte sind unveröffentlicht – es fehlt noch immer an einer umfassenden u. zuverlässigen Bibliografie (vgl. Dünnhaupt; exuberant, aber unübersichtlich Altmann in: Bautz; Jaitner, 2004). Die Polygrafie hatte auch finanzielle Aspekte: Das Einkommen war meist ungesichert; abhängig von wechselnden, oft unzuverlässigen Patronen, führte er einen ständigen Kampf um finanzielle Zuwendungen u. Pensionen aus Pfründen; mehrere, auch umfangreiche
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Werke konnten wegen Einsprüchen von Seiten der protestantischen Kirchen oder später der Jesuiten u. Kurialen zu Lebzeiten nicht oder gar nicht gedruckt werden. Mit unterschiedl. Intensität arbeitete er auch nach 1600 weiter als Philologe. Die Observationes linguae latinae (Ffm. 1609, d. i. eine Auswertung der vollständig erst 1718 gedruckten Schrift des Johann Vorstius: De latinitate selecta et vulgo fere neglecta), die Grammatica philosophica (1628) u. andere Werke über Probleme der Grammatik u. Sprachdidaktik, die Schriften über Erziehung u. über die histor. Methode (erst in Infamia Famiani. Sorø 1658) stehen im Schatten seiner polem. Feldzüge gegen die schlechten Latinisten u. gegen die Häretiker. Dabei wurde er nicht müde, für die individuelle libertas loquendi auch der Protestanten einzutreten, u. zumal in den ersten röm. Jahren suchte er die Freunde unter ihnen für die kath. Kirche zurückzugewinnen. Er suchte Anschluss an die modernsten Theorien der Ethik u. der Politik, besucht Paolo Sarpi im antipäpstl. Venedig u. diskutierte den Neostoizismus des Justus Lipsius (Elementa philosophiae stoicae moralis [...]. Mainz 1606). Mit der Streitschrift Classicum belli sacri sive Heldus redivivus. Hoc est: Ad Carolum V. imperatorem augustum suasoria (Pavia 1619: ›Fanfare zum Heiligen Krieg‹) rief er den Papst u. die Orden zum Kampf gegen die Ketzer auf: Der Krieg sei das einzige Mittel zur Stiftung eines dauerhaften Friedens. Solche Militanz hatte er schon im Ecclesiasticus. Auctoritati [...] Iacobi Magnae Britanniae regis oppositus (Hartberg 1611) formuliert, einem höhn. Frontalangriff auf den engl. König James I., für den er in London öffentlich ›in effigie‹ gehängt u. das Buch verbrannt wurde. In diesen Jahren waren es noch nicht die Jesuiten, sondern bes. die Kalvinisten, gegen die S. den Furor seiner Polemik u. Schmährede richtete u. die er v. a. seit der schlimmen Auseinandersetzung mit Joseph Justus Scaliger (Scaliger hypobolimaeus. 1607: ›der untergeschobene Scaliger‹) gegen sich aufgebracht hatte; auch Daniel Heinsius, Gerhard J. Vossius, Isaac Casaubon u. Kaspar Barth stellten sich auf die Seite des Leidener Philologen u. Fürsten der weitgehend kalvinistisch gesinnten europ. Gelehrtenrepublik des späten 16. Jh. In den Amphotides Scioppi-
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anae (1611) nahm er Gelegenheit zu einer autobiogr. Selbstdarstellung. Die letzten Lebensjahre, 1635–1649, verbrachte S. in dem zur Republik Venedig gehörigen Padua, zurückgezogen aus Angst vor Attentätern aus allen Lagern. Ämter wie das eines offiziellen ›consultore‹ der Republik oder später einen Lehrstuhl an der Universität für »Philologia sacra« (Bibelphilologie) lehnte er ab. Außer einer kurzen Reise nach Mantua 1637 verließ er Padua nicht mehr. Doch auch in seinem Exil fern von Rom konnte er kaum eines seiner Manuskripte drucken lassen; er unterhielt Kontakte zu Elzevier u. wollte am liebsten (zu den Protestanten) nach Basel oder Deutschland gehen oder gar in Genf publizieren. Doch Venedig hielt ihn fest u. brachte ihn fast zum Schweigen, vielleicht aus Gefälligkeit der Kurie gegenüber (Jaitner, 2004). Das Thema seines Alters waren Endzeit-Prophetien u. Visionen (Ars prophetandi), auch im Zusammenhang mit seiner zunehmenden Kritik an der Kirche. Beziehungen unterhielt er jetzt bes. zu dem Philologen Pietro Vettori d.J. († 1653) u. zu Isaac Vossius, mit dem älteren Vossius, dem Philologen Paganino Gaudenzi in Pisa u. dem gelehrten Forscher, Sammler u. Mäzen Cassiano dal Pozzo im Rom Urbans VIII. wechselte er Briefe. Neben Faber stand ihm der Galilei-Schüler u. Jurist Giovanni Michele Pierucci († 1668) persönlich am nächsten: Er wohnte seit 1639 im selben Haus u. wurde als Gesamterbe eingesetzt. Der 9.11.1649 ist als Todesdatum nicht ganz sicher. Das Grab befindet sich in Padua in der Kirche S. Tommaso Apostolo. Weitere Werke: Libellus de sua ad Catholicos migratione. Rom 1599. Erw. u. d. T. Epistola de sua ad Orthodoxos migratione, et de veritate interpretationis et sententiae catholicae in ambiguis scripturarum locis, et controversis fidei capitibus [...]. Cum considerationibus aliquot de Pseudoprophetis nostri temporis. Itemque epistola ad [...] Cardinalem Caesarem Baronium. Ingolst. 1600. – Erga, anni iubilaei sive de indulgentijs commentarius [...]. Mchn. 1601. – Apologeticus adversus Aegidium Hunium pro gemino de indulgentijs libro [...] Cardinalis Bellarmini [...]. Mchn. 1601. – Symbola critica in L. Apuleii philosophi platonici opera. Augsb. 1605 u. ö. – Priapeia sive diversorum poetarum in priapum lusus, illustrati com-
Schoppe mentariis [...]. [Epistola dedicatoria, gez. Ingolst. 1596]. Ffm. 1506 (d. i. 1606). Padua 1664. – Nicodemus Macer sen. (Pseud.): Disceptatio de paraenesi Cardinalis Baronij ad [...] Rempublicam Venetam. Mchn. 1607. – Scaliger hypobolimaeus hoc est: Elenchus epistolae Iosephi Burdonis Pseudoscaligeri de vetustate et splendore gentis Scaligerae [...]. Mainz 1607 (enth.: Johannes Faber: De Nardo et Epithymo. Adversus Iosephum Scaligerum. Disputatio ad [...] Gasp. Scioppium). – (An.): Amuletum adversus Satanae fascinum [...]. Reinsberg [fingiert] 1608. – Q. A. Symmachus: Epistolarum nova editio. Hg. C. S. Mainz 1608. – Oporinus Grubinius (Pseud.): Denunciatio Amphotidum Scioppianarum [...]. o. O. 1608. Erw.: Amphotides Scioppianae. Hoc est: Responsio ad satyram menippaeam Iosephi Burdonis PseudoScaligeri pro vita et moribus Gasp. Scioppii [...]. Item responsio ad confutationem fabulae Burdoniae [...]. Paris 1611 (enth.: Pro Germaniae Protestantibus Romam venientibus libellus, 1599 [an Papst Klemens VIII.]). – (An.): Trewhertzige Warnung deß thewren Manns D. Martin Luthers an seine liebe Evangelischen, sich für den Sacramentschwermern das ist, Zwinglianern oder Calvinisten fleißig zuhüten [...]. Reinsberg 1608. – Drey hailsame Tractätlein [...]. Graz 1609. – Christoff v. Ungerßdorff (Pseud.): Christl. Gratulation oder Glückwünschung, an die evangelische Landtständt in Oesterreich, wegen behaupter u. erhaltener Augspurgischer Confession [...]. o. O. 1610. Erw. o. O. 1614. – Collyrium regium serenissimo D. Jacobo Magnae Britanniae regi [...]. o. O. [Ingolst.] 1611. – Alexipharmacum regium, felli draconum et veneno aspidum sub Philippi Mornaei de Pleßis nupera papatus historia abdito oppositum [...]. Mainz 1612. – Scorpiacum hoc est: Novum ac praesens adversus Protestantium haereses remedium ab ipsismet protestantibus scorpionibus petitum [...] adversus [...] Iacobum Magnae Britanniae regem [...]. Mainz 1612. – (An.): Turbatus Imperii Romani status, ejusque origo et causa [...]. o. O. [Bordeaux] 1613 u. ö. – O. Grubinius (Pseud.): Legatus latro, hoc est: Definitio legati calviniani [...]. Ingolst. 1614. – Holofernis Krigsoederus (Pseud.): Responsio, ad epistolam Isaaci Cazoboni [...]. Ingolst. 1615. 1625. – Isaaci Casauboni corona regia. Id est panegyricus cuiusdam vere aurei, quem Iacobo I. Magnae Britanniae, etc. regi, fidei defensori delinearat, fragmenta, ab Euphormione collecta [...]. [London] 1615. Internet-Ed. in: Early English Books Online. – (An.): Informatio de famoso negotio compositionis dissidentium inter se principum et statum S. R. Imperii [...]. Cosmopoli 1616. Dt.: C. v. Ungersdorff (Pseud.): Bedencken. Von nützlicher [...] Vorbereitung zu der von den Calvinisten so starck gesuchten Composition zwischen den strei-
Schoppe tigen Ständen deß H. Römischen Reichs. o. O. 1616. – Christian Gottlieb v. Friedberg (Pseud.): Newer calvinischer Modell deß heiligen Römischen Reichs [...]. o. O. 1616. – C. v. Ungersdorff (Pseud.): Erinnerung von der Calvinisten falschen betrüglichen Art u. Feindseligkeit gegen dem heiligen Römischen Reich. Item, Widerholung der cathol. Scribenten, sonderlich der Herren Jesuiter Lehr u. Meynung vom ReligionsFrieden, u. ob Ketzern, Trew u. Glauben zu halten sey [...]. o. O. 1616. 1617. – Consilium regium, in quo a duodecim regibus et imperatoribus catholico Hispaniarum regi demonstratur, quibus modis omnia bella feliciter profligare possit. Accessit stemma augustae domus Austriae [...]. Item Classicum belli sacri. Pavia 1619. Ffm. 1619. – Epistola, in qua haereticos iure infelicibus lignis cremari concludit. In: Petrus Alvinczi: Machiavellizatio. Oratio parresiastica [...]. Zaragoza 1621. – Fragmenta paedagogiae regiae sive manductionis ad artem imperandi pro regibus ac principibus catholicis. Mailand 1621 (Widmung an Papst Gregor XV.). – Paedia politices sive suppetiae logicae scriptoribus politicis latae adversus apaideusían [griech.] et acerbitatem plebeiorum quorundam iudiciorum [...]. Rom 1623. Mailand 1624. Erw. Ed. zus. mit Gabriel Naudés ›Bibliographia politica‹ u. a. Hg. Hermann Conring. Helmst. 1663. Internet-Ed. in: CAMENA (Abt. Historica & Politica). – Pascasius Grosippus (Pseud.): Duo auctaria logica [...]. Mailand 1628. – (Dass. Pseud.): De rhetoricarum exercitationum generibus [...] dissertatio [...]. Ebd. 1628. – (Dass. Pseud.): Paradoxa literaria in quibus multa de literis nove contra Ciceronis, Varronis, Quinctiliani, aliorumque literatorum hominum, tam veterum, quam recentiorum, sententiam disputantur. Ad D. Ferdinandum Henriquez a Rivera [...]. Ebd. 1628. Amsterd. 1659. – (Dass. Pseud.): Mercurius bilinguis hoc est nova facilisque ratio latinae vel italicae linguae intra vertentem annum addiscendae [...]. Accessit eiusdem Grammatica philosophica pro linguae latinae magistris et tironibus [...]. Ebd. 1628. Erw. u. d. T. Mercurius quadrilinguis. Id est: Linguarum, hebraeae, graecae, latinae, et italicae, nova et compendiaria discendi ratio [...]. [Basel] 1637. – Mariangelus a Fano Benedictus (Pseud.): Auctarium ad grammaticam philosophicam eiusque rudimenta [...]. Mailand 1629. – Consultatio de causis et modis componendi in Sacro Romano Imperio religionis dissidij. Augsb. 1631. – Theophilus Sanctafidius (Pseud.): Fundamenta pacis. In Sacro Romano Imperio annuente Urbano VIII. Pont. Max. et assentiente Ferdinando II. [...]. Accessit praefatio de causis et remediis publicarum Germaniae calamitatum. Ebd. 1631. – Philoxenus Melander (Pseud.): Actio perduellionis in Iesuitas iuratos Sacri Romani
564 Imperii hostes; oder trewmeinende u. unpartheyische Erinnerung [...]. o. O. 1632. Dass. u. d. T.: Flagellum jesuiticum, das ist: Jesuiter Geissel [...]. o. O. 1632. – (Dass. Pseud.): Anklag wider die Jesuiten, alß Fridensstörer u. geschworne Feinde de H. Römischen Reichs [...]. o. O. 1632. – (An.): Anatomia Societatis Jesu: Seu probatio spiritus Iesuitarum [...]. o. O. 1633. Erw. u. d. T. Sanctius Galindus e Societate Jesu (Pseud.): Anatomia Societatis Jesu, una cum aliis opusculis, ad salutem ejusdem Societatis, et ad excitandam regum et principum catholicorum attentionem utilissimis. Ffm. 1633. – Astrologia ecclesiastica, hoc est, disputatio de claritate ac multiplici virtute stellarum in ecclesiae firmamento fulgentium, id est, ordinum monasticorum. Accessit astrum inexstinctum id est, causae dictio ex divino humanoque iure pro veterum ordinum honore ac patrimoniis adversus famosum volumen Pauli Laimanni Iesuitae in monachos editum. o. O. [Basel] 1634. – Fundamenta sacrae et gloriosae in Turcos expeditionis. Mailand 1634. – (An.): Hypomnemata consultationis de expeditione in Turcos [...] christianissimi principis Sultani Iachiae Ottomanni. Turin 1634. – Arcana Societatis Iesu publico bono vulgata cum appendicibus [...]. o. O. [Genf] 1635 (enth.: Pro senatu Veneto apologia sive de justitia decreti, quo senatus Venetus adolescentes ditioni sua subditos ad Jesuitarum scholas accedere interdicit). – (An.): Iesuita exenteratus: Oder kurtze Prob einer recht-künstlichen Anatomiae u. Verlegung deß jesuitischen Geists: Neulich beschriben inn lateinischer Sprach, durch einen Gelehrten römisch-catholischen Anatomicum [...]. o. O. 1635. – Alphonsus de Vargas Toletanus (Pseud.): Relatio ad reges et principes christianos de stratagematis et sophismatis politicis Societatis Jesu ad monarchiam orbis terrarum sibi conficiendam. o. O. 1636 u. ö. Dt. 1675. – Consultationes de scholarum et studiorum ratione [...]. Padua 1636 u. ö. – De paedia humanarum ac divinarum literarum [...]. Padua 1636. Orléans 1647 u. ö. – In [...] Gerardi Johannis Vossii libro de vitiis sermonis animadversiones. Ravenna 1647. Amsterd. 1660. – Infamia Famiani, cui adjunctum est [...] de styli historici virtutibus ac vitiis judicium, ejusdemque de natura historiae et historici officio diatriba. Hg. J. Faber. Sorø 1658. Amsterd. 1663. – Minerva Sanctiana, hoc est Francisci Sanctii Brocensis de causis linguae latinae commentarius. Hg. K. S. Padua 1663. Amsterd. 1664. – (An.): Jesuitarum privilegia, disciplina, doctrina, magistri, discipuli, religio, politica negotia, opiniones, apophthegmata, miracula et mors [...]. Accedunt monita privata ejusdem Societatis. o. O. 1666. – Autobiografie und Briefe: Jacques Bongars u. Georg M. Lingelsheim: Epistolae. Straßb. 1660. Internet-Ed. in: CAMENA
565 (Abt. CERA). – Epistola ad C. Rittershusium, Roma, 17.2.1600 [über Verurteilung u. Hinrichtung Giordano Brunos]. In: Burkhard Gotthelf Struve: Acta litteraria [...]. Bd. 1, fasc. 5, Jena 1707, S. 64–74. Ed. auch in: Jaumann, 1998, Anhang S. 459–464. – Briefe Christoph Forstners u. Caspar Scioppius. In: Journal zur Kunstgesch. u. zur allgemeinen Litteratur. Erster Theil, Nürnb. 1775, Anhang III, S. 266–273. – In: Kowallek 1871. – In: d’Addio 1962, S. 727–787 (64 Briefe). – K. S.: Autobiogr. Texte u. Briefe. Bd. 1/1–2 (lat.-dt.): Philotheca Scioppiana. Eine frühneuzeitl. Autobiogr. 1576–1630. Bearb. v. Klaus Jaitner. Mchn. 2004 (enth. auch: De vita sua, Testament vom 2.9.1607), grundlegende Ed.; Ed. auch in: d’Addio, 1962, S. 609–670. – De vita sua. In: d’Addio, 1962, S. 671–684. – Symmartia Scioppiana [...]. Accessit catalogus librorum Scioppii, quos editiones paratos habet, cum professione fidei suae. Ms., im Nachl. (Florenz). – Nachlass: Biblioteca Medicea Laurenziana, Florenz (Fondo Scioppiano: mehr als 200 codici, d. i. der handschriftl. Nachlass aus dem Besitz von Prof. Giovanni Michele Pierucci, Jurist in Padova, dem von S. testamentarisch bestimmten Gesamterben). Ausgaben: Internet-Ed. vieler Werke in: VD 16, VD 17, BSB München u. HAB Wolfenbüttel. Literatur: Bibliografien: Kowallek, 1871. – d’Addio, 1962, S. 593–607 (gedr. u. ungedr. Schr.en, 277 Nummern) – Dünnhaupt 2. Aufl., Bd. 5, S. 3734–3792. – Joseph Scaliger. A bibliography 1850–1993. Hg. Anthony Grafton u. a. (Suppl. zu: Rijk Smitskamp: The Scaliger collection [...]). Leiden 21993. – Hausmann, 1995. – Jaumann, 1998, S. 482–492 (zur Rezeption: Lexikonartikel, Studien, Erwähnungen). – Bautz. – Jaitner, 2004 (Werkverz., S. 1153–1174, ausführlich ungedr. Mss.: S. 1167 ff.). – VD 16. – VD 17. – Zeitgenössische Kontroversen: (Daniel Heinsius): Vita et parentes Gasparis Scioppii. A Germano quodam contubernali eius conscripta. Leiden 1608. – (Ders.): Hercules tuam fidem sive Munsterus Hypobolimaeus, id est Satyra Menippaea de vita, origine et moribus Gasperis Scioppii Franci. Accessit huic accurata Fabulae Burdoniae confutatio. Ebd. 1608. – Janus Rutgersius Batavus (Pseud. v. Joseph Justus Scaliger): Confutatio fabulae Burdonum. Ebd. 1609. – (Kaspar Barth): Cave canem. De vita, moribus, rebus gestis, divinitate Gasparis Scioppii apostatae, satiricon. Hanau 1612. – Tarraeus Hebius Nobilis a Sperga (Pseud. v. Kaspar Barth): Scioppius excellens. In laudem eius et Sociorum pro Josepho Scaligero [...]. Epigrammatum libri III. Hanau 1612. – (An.): Classicum belli sacri. Der mächtige Alarm zum Religions-Krige, inn Teutschlande welchen unlangst der eifrig catholische hochgetrewe Raht
Schoppe des Hauses Oesterreich Caspar Scioppius gemacht, u. durch gantz Europam hören lassen [...]. o. O. 1619. – (An.): Schoppische Blumen, auß einem zu Ticin oder Pavia [...] in Druck außgegangenen Buche [...]. o. O. 1619. – (An.): Flores Scioppiani: Ex libro Ticini [...] cui titulus, Gasp. Scioppii [...] Classicum Belli Sacri: sive suasoria ad imperatorem [...] excerpti. o. O. [1619]. – Theodosius Berenicus (Pseud. v. Matthias Bernegger): Tuba pacis, occenta Scioppiano belli sacri classico [...]. Straßb. 1621. – (Andreas Rivetus): Mysteria patrum Iesuitarum. Ex ipsorum scriptis, cum fide, eruta [...]. Lampropolis (d. i. Leiden) 1631. Dt. 1632 (S. zugeschrieben). – Laurenz Forer SJ: Anti-Melander. Das ist: Warnungs-Schrifft, an die lieben Teutschen, warumb die dem, der sich Philoxenum Melandrum nennet, durchauß keinen glauben sollen zustellen, in seiner vermainten Actione Perduellionis, u. Flagello Jesuitico, wie auch Anklag wider die Jesuiter [...]. Mchn. 1633. – Ders.: Anatomia anatomiae Societatis Jesu. Sive antanatomia [...]. Innsbr. 1634. – Ders.: Grammaticus Proteus, arcanorum Societatis Iesu Daedalus [...]. Accessit auctarium animadversionum in Gasparis Scioppij ecclesiasticam astrologiam. Ingolst. 1636. – Ders.: Appendix ad grammaticum Proteum [...]. Ebd. 1636. – Paul Laymann SJ: Astrologiae ecclesiasticae, et astri inexstincti, a Casparo Scioppio in lucem editi, censura. Dillingen 1635. Köln 1639. – Johann Crusius SJ.: Astri inextincti a Gaspare Scioppio et F. Romano Hay Benedictino in orbem evulgati. Eclipsis seu deliquium [...]. Köln 1639. – Eugenius Lavanda (Pseud. v. Melchior Inchofer SJ): Grammaticus palaephatius sive nugivendus [...]. o. O. 1639. – Porträts: Ganzporträtstich v. Adriaen Claeßzon Grebber, Rom 1602 (Text: »Effigies Gasparis Scioppi Apostatae, suae Fidei Persecutoris et Hostis Acerrimi, Aetatis 26«). In: Kunstslg. der Veste Coburg (u. a. in: K. S.: Grammatica philosophica. Augsb. 1712; Porträtslg. HAB Wolfenb., Nr. 19540; d’Addio, 1962). – Farbiges Gemälde v. Rubens, Ganzporträt, Palazzo Pitti, Florenz (u. a. in: Hausmann, 1995). – Rötelzeichnung (um 1643). In: Biblioteca Medicea Laurenziana, Florenz Cod. 243, fol. V (in: d’Addio, 1962, neben S. 242; Jaitner, Abb. 4). – Weitere Titel: Antoine Arnauld: Morale pratique des Jésuites. Bd. 3, Köln 1689, S. 123–130. – Gottfried Arnold: Unparteyische Kirchen- u. Ketzer-Historie [...]. Ffm. 1699/1700. – Pierre Bayle: Dictionnaire historique et critique. 4 Bde., Amsterd. 41730. – Christian August Salig: Vollständige Historie der Augspurg. Confeßion [...]. Tl. 1, Halle 1730. – JeanPierre Niceron: Mémoires [...]. Bd. 35, Paris 1736, S. 165–230. – Zedler, Bd. 36 (1743), Sp. 595–601. – Jöcher, Bd. 4 (1751). – Michael Bernays: Joseph Justus Scaliger. Bln. 1855. Nachdr. Osnabr. 1965. –
Schopper Charles Nisard: Les gladiateurs de la République des lettres. Bd. 2, Paris 1860, S. 1–206. – Räß, Convertiten, Bd. 3, S. 395–443. – Hermann Kowallek: Über G. S. In: Forsch.en zur dt. Gesch. 11 (Gött. 1871), S. 403–482 (wichtig). – Luigi Amabile: Fra Tommaso Campanella. Neapel 1887, Bd. 1, S. 32–131; Bd. 2, S. 25–54 (Dokumente). – Paul Janet: Histoire de la Science Politique. Bd. 1, Paris 1887. – Richard Hoche: G. S. In: ADB. – Jan Kvacˇala: Zu des Scioppius Verbindung mit Ferdinand II. In: ZKG 33 (1912), S. 105–109. – Bernhard Duhr SJ: Gesch. der Jesuiten in den Ländern dt. Zunge. Bd. II/1–2, Freib. i. Br. 1913; Bd. IV/2, Mchn. 1928. – Carlo Morandi: Botero, Campanella, Scioppio e Bodin. In: Nuova Rivista Storica 13 (1929), S. 339–344. – Ders.: L’›Apologia‹ del Machiavelli di G. Scioppio. In: ebd. 7 (1933), S. 277–294. – Giuseppe Gabrieli: La ›Philoteca Scioppiana‹ in un manoscritto Laurenziano. In: Atti della Reale Accademia d’Italia, Classe di scienze morali e storiche, Ser. 7,1. Rom 1940, S. 228–239. – Camillo M. Gamba: Il poligrafo tedesco G. Scioppio. Bari 1950. – Waltraud Foitzik: ›Tuba pacis‹. Diss. Münster 1955. – Friedrich Meinecke: Die Idee der Staatsräson in der neueren Gesch. (1924). Hg. Walter Hofer. Mchn. 1957, S. 164 ff. – Mario d’Addio: Il pensiero politico di G. Scioppio. Mailand 1962 (Briefe, autobiogr. Texte, Verz. der Drucke u. ungedr. Mss., Bibliogr. u. Porträts; grundlegend). – Ulrich Helfenstein: C. Scioppius als Gesandter ›Sultan‹ Jahjas in der Eidgenossenschaft (1634/35). Zürich 1963. – Giuseppe Billanovich: Benedetto Bordon e Giulio Cesare Scaligero. In: Italia medioevale e umanistica 11 (1968), S. 187–256. – Franziska Neuer-Landfried: K. S. u. die Gründung der Kath. Liga 1609. In: Ztschr. für bayer. Landesgesch. 33 (1970), S. 424–438. – Robert J. W. Evans: Rudolf II and his world. Oxford 1973. – Frank-Rutger Hausmann: K. S., Joseph Justus Scaliger u. die ›Carmina Priapea‹ oder wie man mit Büchern Rufmord betreibt. FS Otto Herding. Stgt. 1977, S. 382–395. – Robert Bireley SJ: Religion and Politics in the Age of Counterreformation. Chapel Hill 1981. – Herfried Münkler: Staatsräson u. polit. Klugheitslehre. In: Pipers Hdb. der polit. Ideen. Hg. Iring Fetscher u. H. Münkler. Bd. 3, Mchn./Zürich 1985, S. 23–72. – Claire Lecointre: C. S. et les écoles pies. In: Archivum Scholarum Piarum 9 (1985), S. 275–306. – Wolfgang Schleiner: Scioppius’ pen against the English king’s sword. The political function of ambiguity and anonymity in early seventeenth century literature. In: Renaissance and Reformation 26 (1990), S. 271–284. – R. Bireley SJ: The Counter-Reformation Prince. Chapel Hill 1990. – Herbert Jaumann: Critica. Untersuchungen zur Gesch. der Literaturkritik zwischen Quintilian u.
566 Thomasius. Leiden 1995. – F.-R. Hausmann: Zwischen Autobiogr. u. Biogr. Jugend u. Ausbildung des Fränkisch-Oberpfälzer Philologen u. Kontroverstheologen K. S. (1576–1649). Würzb. 1995 (mit Briefen u. autobiogr. Dokumenten; wichtig). – Germana Ernst: Oscurato è il secolo. Il Proemio allo Scioppio del ritrovato ›Ateismo trionfato‹ italiano. In: Bruniana & Campanelliana 2 (1996), S. 1–32. – Ingrid A. R. De Smet: Mennipean satire and the Republic of Letters 1581–1655. Genf 1996. – H. Jaumann: Das Projekt des Universalismus. Zum Konzept der ›Respublica litteraria‹ in der frühen Neuzeit. In: FS Karl-Ludwig Selig. Hg. Peter-Eckhard Knabe u. a. Tüb. 1997, S. 149–163. – K. S. (1576–1649). Philologe im Dienste der Gegenreformation [...]. Hg. H. Jaumann. Ffm. 1998 (mit Bibliogr.; wichtig). – K. Jaitner: Friedensutopien während des Dreißigjährigen Krieges. Die Friedensvorstellungen K. S.s zwischen 1625 u. 1648. In: Morgen-Glantz 9 (1999), S. 31–52. – Ders.: Der Späthumanist K. S. (1576–1649) u. die Benediktiner. In: Studien u. Mitt.en des Benediktinerordens 111 (2000), S. 411–448. – Gilbert Tournoy: Ericius Puteanus, Isaac Casaubon and the author of the ›Corona Regia‹. In Humanistica Lovanensia 49 (2000), S. 377–390. – Hugo Altmann: K. S. In: Bautz. – Florian Neumann: Zwei furiose Philologen, Paganino Gaudenzio (1595–1649) u. K. S. In: Philologie u. Erkenntnis. Hg. Ralph Häfner. Tüb. 2001, S. 177–206. – K. Jaitner: Einl. In: K. S.: Autobiogr. Texte u. Briefe. Bd. 1, Mchn. 2004, S. 1–230 (grundlegend). – Jaumann Hdb., Bd. 1, S. 592. – K. Jaitner: K. S. In: NDB. – Christoph Becker: Giordano Bruno. Die Spuren des Ketzers. Ein Beitr. zur Lit.-, Wiss.- u. Gelehrtengesch. um 1600. 3 Bde., Stgt. 2007 (1: Spurensuche, 2: Bruno in Dtschld., 3: Schüler u. Gegner), zu S. ausführlich bes. Bd. 1 u. 3. – Ruth Kohlndorfer-Fries: Diplomatie u. Gelehrtenrepublik. Die Kontakte des frz. Gesandten Jacques Bongars (1554–1612). Tüb. 2009. – Jean Bollack: Ein Mensch zwischen zwei Welten. Der Philologe Jacob Bernays. Vorw. Renate Schlesier. Gött. 2009. Herbert Jaumann
Schopper, Schopperus, Scoperus, Hartmann, * 1542 Neumarkt/Oberpfalz, † nach 1595. – Verfasser neulateinischer u. deutscher Gedichte. Biografische Angaben zu S. sind nur seinem Werk zu entnehmen. Um 1563 kam er nach Frankfurt/M. u. trat in Beziehungen zu Sigismund Feyerabend, der in den folgenden Jahren S.s Werke druckte. Als Teilnehmer (seit Frühjahr 1566) am Krieg gegen die
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Schoppius
Türken in Ungarn wurde er Maximilian II. ADB. – Alfred Wolfsteiner: H. S., Poet des 16. Jh. u. bekannt. Lebensgefährlich erkrankt, kehrte S. Kaspar Schoppe, der ›grammatikalische Hund‹. In: im Spätherbst 1566 nach Frankfurt zurück. Die Oberpfalz 74 (1986), S. 239–242. – Christine Seine Gedichte bezeugen freundschaftl. Be- Mundhenk: Untersuchungen zu den ›Technae aulicae‹, einer ›Reineke-Fuchs‹-Ausg. des 16. Jh. In: ziehungen zu Petrus Lotichius Secundus u. Niederdt. Wort 29 (1989), S. 99–111. – Franz-DiePaulus Melissus Schede. ter Sauerborn: H. S., ein Poet des 16. Jh. In: Ztschr. S.s Leistung besteht neben eigenen Ge- des Breisgau-Geschichtsvereins Schau-ins-Land 112 dichten (Carminum liber unus [in: PANO- (1993), S. 55–64. – Wilfried Schouwink: Reinike PLIA, 1568) v. a. in der Übertragung dt. from the pen of a mercenary. H. S.’s Opus PoetiWerke in die Gelehrtensprache Latein. Zeit- cum. In: Reinardus. Yearbook of the International genossen galt S., der in seinen Werken sehr Reynard Society 7 (1994), S. 161–182. – Ders.: H. großes Selbstbewusstsein zeigt, als ausge- S.’s latin ›Reineke‹ of 1567. In: Reynard the fox. zeichneter Dichter. Im 17. Jh. wurde sein Social engagement and cultural metamorphoses in the beast epic from the middel ages to the present. Gesamtwerk auf den Index gesetzt. Hg. Kenneth Varty. New York u. a. 2000, Am bekanntesten ist S.s Opus poeticum de S. 175–189. – Ders.: ›Opus Marone Dignius‹. Auadmirabili fallacia et astutia vulpeculae Reinikes tobiographisches in H. S.s lat. Fuchs-Epos. In: (Ffm. 1567. Weitere Aufl.n u. d. T. Speculum Scripturus vitam. Lat. Biogr. v. der Antike bis in die vitae aulicae. Ffm. 1574/75. 1579. Internet-Ed. Gegenwart. FS Walter Berschin. Hg. Dorothea in: CAMENA [Abt. Poemata]. 1584. 1595), Walz. Heidelb. 2002, S. 1117–1133. eine lat. Fassung des Reinike Fuchs in vierheChristine Mundhenk / Red. bigen Jamben mit Kommentaren S.s, die u. a. moralische Betrachtungen u. scharfe Kritik Schoppius, Andreas, auch: A. Schoppe, an der kath. Kirche enthalten. S. widmete das * um 1538 Lebenstedt (heute: SalzgitterWerk dem protestantenfreundl. Kaiser MaLebenstedt), † 17.4.1614 Wernigerode. – ximilian II. Eine lat.-dt. Kurzfassung, die nur Lutherischer Theologe, ErbauungsS.s »Argumenta« enthält, erschien 1588 schriftsteller, Chronist. (Technae aulicae. Ffm.). Für die Ausgabe von 1595 erhielt S. ein zehnjähriges Privileg. Nach Schulbesuch in Braunschweig u. TheoGruters Delitiae poetarum Germanorum (Bd. 5, logiestudium in Wittenberg (seit 1555) kehrte Ffm. 1612) bieten den Text ohne Kommentar. S. 1558 als Lateinschullehrer zunächst nach Eine engl. Übertragung der S.schen Fassung Braunschweig (an das Martineum) zurück. erschien u. d. T. Reinard the Fox. The crafty 1561 nahm er in Rostock das Studium wieder Courtier noch 1706 in London. auf u. wurde zum Magister promoviert. Nach Weitere Werke: Liber proverbiorum Salomonis drei Jahren Schulrektorat in Güstrow wurde carmine redditus [...]. Dillingen 1565. – Aesopi er 1568 Pfarrer u. zgl. Verwalter der von AlPhrygis fabulae, elegantissimis iconibus veras ani- vensleben’schen Bibliothek in Erxleben. 1589 malium species ad vivum adumbrantes, Ioannis folgte er einem Ruf nach Wernigerode, wo er Posthij [...]. Cum [...] epigrammatibus Hartmanni seitdem als Pfarrer, Schulaufseher u. LateinSchopperi [...]. Ffm. 1566. – PANOPLIA omnium schullehrer wirkte. S. ist Verfasser zahlreicher illiberalium mechanicarum aut sedentariarum arorthodox-luth. theolog. sowie erbaul. Schriftium genera continens [...]. Ffm. 1568. Nachdr. ten. Literarisch bedeutend ist der Kurze Auszug 2 Tokyo 1990. 1574. der vornehmsten Historien und Geschichte der Stadt Ausgaben: Auswahl in: Lat. Gedichte dt. HuBraunschweig (1561, ungedr.), in dem S. Hermanisten. Lat. u. dt. Ausgew., übers. u. erl. v. Harry 2 C. Schnur. Stgt. 1967 ( 1987), S. 360–373, 470. – mann Botes Schichtbuch zu einer Stadtchronik Jost Amman: Das Ständebuch. 133 Holzschnitte aus- u. umbaute. Zudem sind Botes Lieder mit Versen v. Hans Sachs u. H. S. Hg. Manfred insbes. hier überliefert. Lemmer. Lpz. 1975. 91989. Ffm. 101988. – InternetEd. mehrerer Werke in: VD 16. Literatur: Bibliografien: Hubertus Menke: Bibliotheca Reinardiana. Tl. I [...]. Stgt. 1992, Register. – VD 16. – Weitere Titel: Richard Hoche: H. S. In:
Literatur: E. Jacobs: A. S. In: ADB (mit Bibliogr.). – Herbert Blume: Hermann Bote. Braunschweiger Stadtschreiber u. Literat. Studien zu seinem Leben u. Werk. Bielef. 2009. Herbert Blume
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Schorer, Christoph, auch: Otho Frischer, Schorn, Henriette von, auch: H. NordOmophrius, * 2.12.1618 Memmingen, heim, geb. Freiin von Stein zu Nord- und † 12.2.1671 Memmingen. – Arzt; Verfas- Ostheim, * 24.12.1807 Nordheim/Main, ser medizinischer, astronomischer, histo- † 17.5.1869 Weimar. – Erzählerin. rischer u. moraldidaktischer Schriften.
Das ehemalige Hoffräulein der Großherzogin Aus einer Memminger Patrizierfamilie ge- Maria Paulowna von Sachsen-Weimar, verbürtig, besuchte S. die dortige Lateinschule u. heiratet mit dem Kunsthistoriker Ludwig von studierte ab 1639 in Straßburg. Schon hier Schorn, war (unter Pseud.) als Autorin der verfasste er Traktate, z.B. zur Sonnenfinster- Lieder und Sprüche bekannt u. für ihre die nis 1643, v. a. aber Der Unartig Teutscher Sprach- fränk. Landschaft popularisierenden, stark Verderber (o. O. 1643. 21644), die im Tonfall an Auerbach orientierten Dorfgeschichten: schärfste der sprachkrit. Schriften gegen die Ländliche Skizzen aus Franken (beide Weimar Überfremdung des Deutschen. Während der 1854). S.s Geschichten aus Franken (2 Bde., Bln.) Tätigkeit als Hofmeister in Binningen wurden erst 1902 durch ihre Tochter Adele, 1643–1647 nahm er das Medizinstudium in Chronistin des »nachklassischen« Weimar, Basel auf. Als Hofmeister der Söhne des herausgegeben, die ihrer Mutter u. sich selbst Kanzlers der Herrschaft Württemberg-Möm- einen bescheidenen, aber verdienten Platz in pelgart, Christoph Forstner, gewann er die der dt. Literaturgeschichte sicherte. Gunst des regierenden Herzogs, dessen Rat er Literatur: Adele v. Schorn: Zwei Menschen1650 wurde, u. näherte sich der Reformor- alter. Erinnerungen u. Briefe. Bln. 1901. thodoxie, u. a. mit geistl. Lieddichtung (SäufEda Sagarra ftzer bey der Auffarth Christi. Mömpelgart 1653). 1654 in Padua zum Dr. med. promoviert, wurde S. in Memmingen als Stadtphy- Schosser, Johannes, * 11.10.1534 Amasikus bestellt. Er widmete sich der Kalender- lienruhe (oder Emleben?) bei Gotha, schriftstellerei, machte sich um das Musikle- † 3.7.1585 Frankfurt/Oder. – Neulateiniben u. die Stadtgeschichte (Memminger Chro- scher Dichter u. Hochschullehrer. nick. Ulm 1660) verdient u. schrieb AbhandS., nach seinem Geburtsland Thuringus, nach lungen über Hygiene auf Reisen, den Nutzen seinem Geburtsort Aemilianus genannt, studer Fontanellen u. die Pest. Seine sprachkrit. dierte an der jungen Universität Königsberg, Schriften u. den in der Tradition der Ehelehrte in Schmalkalden u. setzte seine Studien zuchtlehren stehenden Mann-Verderber (o. O. in Wittenberg fort, wo er den Magistergrad 1648) benutzte Grimmelshausen. erwarb. Zunächst Rektor in Schleusingen, Literatur: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 5, wurde er 1560 als Nachfolger seines Lehrers S. 3793–3809 (Werk- u. Literaturverz.). – Otto Georg Sabinus zum Professor der Rhetorik in Hartig: C. S. v. Memmingen [...]. Mchn. 1922. – Frankfurt/O. ernannt. Friedrich Braun: C. S. v. Memmingen. Ebd. 1926. – Sein poetisches Werk (gesammelt in elf Peter Heßelmann: Grimmelshausen u. der ›MannVerderber‹ [...]. In: Carleton Germanic Papers 18 Büchern Poemata. Als Anhang drei Bücher mit (1990), S. 89–102. – William Jervin Jones: Sprach- Briefen von u. an S. Frankf./O. 1585. 1598) helden u. Sprachverderber. Dokumente zur Er- umfasst Bibel- (Historia Pharaonis, Historia Isaforsch. des Fremdwortpurismus im Deutschen aci) u. Geschichtsepik (Marchias; über die An(1478–1750). Bln./New York 1995, S. 286–342 fänge der märk. Hohenzollern), eine Folge (Textauszüge u. weitere Literaturhinweise). von Versen auf die Wappen berühmter MänWalter E. Schäfer / Red. ner, Epithalamien brandenburgischer u. anderer Fürsten, Totenklagen auf die Literaten des protestantischen Deutschland (die auf Erasmus, Helius Eobanus Hessus, Melanchthon u. Paul Eber hat Nikolaus Reusner 1587 in seine Icones sive Imagines virorum literis illustrium aufgenommen) u. schöne Einzel-
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stücke wie An den Neckar (Ad Nicrum amnem) nach dem Tod des Micyllus oder auf die Weiber von Weinsberg. Gruter nahm Proben in die Delitiae poetarum Germanorum auf (Bd. 3, Ffm. 1612, S. 1–34; elektronisch lesbar in CAMENA). Literatur: Bibliografie: VL. – Weitere Titel: Georg Ellinger: J. S. In: ADB. – Ellinger 2, S. 290–292. – Harry C. Schnur: Lat. Gedichte dt. Humanisten. Stgt. 21978, S. 374–377 (nur drei Gedichte mit dt. Übers.). – Ursula Greiff: Dichter u. Herrscher in lat. Gedichten aus der Mark Brandenburg (16. u. 17. Jh.). Hildesh. 2006 (Register). – Walther Ludwig: Klass. Mythologie in Druckersigneten u. Dichterwappen. In: Ders.: Miscella Neolatina. Hg. Astrid Steiner-Weber. Bd. 1, Hildesh. u. a. 2004, S. 36–76, bes. S. 58–62, 67 f., 70 f. – Flood, Poets Laureate, Bd. 4, S. 1887–1890 (mit Werkverz.). Reinhard Düchting / Red.
Schott, Schottus, Kaspar, * 5.2.1608 Königshofen/Diözese Würzburg, † 22.5. 1666 Würzburg. – Jesuit; Polyhistor, Mathematiker u. Physiker. Der in Daniel Georg Morhofs Polyhistor (Lübeck 1688 u. ö.) mehrfach erwähnte S. trat am 30.10.1627 in den Jesuitenorden ein. Sein Philosophiestudium begann er in Würzburg. 1631 floh er nach dem Einmarsch der Schweden wie sein Lehrer Athanasius Kircher nach Italien. In Palermo wurde er nach Vollendung des Studiums Professor für Mathematik u. Moraltheologie. 1652–1655 war S. Mitarbeiter Kirchers in Rom; ab 1655 lehrte er zunächst in Mainz, später in Würzburg Mathematik u. Physik. Dort entfaltete er auch seine reiche schriftstellerische Tätigkeit, durch die er das Wissen seiner Zeit weitergab. Bekannt wurde S. auch durch seine Experimente mit Tieren, die er als einer der ersten zu seiner Zeit durchführte. Er korrespondierte mit zahlreichen Naturwissenschaftlern. In seinen Schriften, die v. a. didaktisch geschickt angelegt sind, nehmen die Beschreibung eigener Experimente wie auch solcher von anderen Wissenschaftlern, die er nicht unbedingt selbst überprüft hatte, breiten Raum ein. S. versuchte, moderne naturwissenschaftl. Erkenntnisse mit christl. Lehren in Einklang zu bringen. Er war mehr
Sammler u. Kompilator als Forscher; daher sind seine Werke wichtige Quellen für die Geschichte der Physik. So beschreibt er in seiner Mechanica Hydraulico-Pneumatica (Würzb. 1657) – gewidmet dem Kurfürsten Johann Philipp von Schönborn u. seinem Lehrer Athanasius Kircher, dessen Theorie der Hydraulik sowie deren prakt. Anwendungsmöglichkeiten er hier darlegt – die Entdeckung Guerickes. Eine Reverenz an Kircher stellt auch die Beschreibung des von diesem erfundenen geometr. Messinstruments, des Pantometer, dar: Pantometrum Kircherianum [...] (Ffm. 1660 u. 1669). Sein Hauptwerk zur Physik ist die vierbändige Magia universalis Naturae et Artis (Würzb. 1657. Bamberg 1677. Danach Teilausgaben dt. u. d. T. Magia Optica, das ist, Geheime doch Naturmässige Gesicht- und Augen-Lehr [...] übersetzt von M. F. H. M. Bamberg 1671. Ffm. 21677). Das Werk erörtert die Gesamtheit der im 17. Jh. bekannten physikal. Theorien, auch die kuriosen u. esoterischen. Einzelne hier vorgebrachte Themen behandeln die Physica curiosa (Würzb. 1662. Erw. 1667. 31697) – verknüpft mit Phantasmagorien aus der Fabelwelt – sowie die Johann Philipp von Schönborn gewidmete Technica curiosa (ebd. 1664. 21687. Nachdr. Hildesh./New York 1977), die v. a. der Theorie der Sonnenuhren gewidmet ist. Der gesamten Mathematik gilt der Kaiser Leopold I. gewidmete enzyklopäd. Cursus Mathematicus (Würzb. 1661. Ffm. 21674. Bamberg 31677). Dem damals beliebten Thema der Kryptografie widmet sich die Schola stenographica (Würzb. 1665. 1680). Weitere Werke: Anatomia physico-hydrostatica fontium ac fluminum. Würzb. 1663. – Arithmetica Practica generalis ac specialis. Ebd. 1669. 1721. 1749 u. ö. – Joco-seriorum naturae et artis, sive magiae naturalis centuriae tres. Ebd. 1666. Dt. [Ffm. 1672]. – K. S.s Rechenbüchlein. Faks. u. Übers. v. Günter Scheibel. Hg. u. komm. v. HansJoachim Vollrath u. G. Scheibel. Würzb. 2009. Literatur: Bibliografien: Backer/Sommervogel 7, S. 904–912. – Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 5, S. 3810–3823. – Weitere Titel: Friedrich Klemm: Technik. Freib. i. Br./Mchn. 1954, S. 212, 434. – Ernst Zinner: Dt. u. niederländ. astronom. Instrumente des 11. bis 18. Jh. Mchn. 1956. – Gerhard F. Strasser: Lingua Universalis. Kryptologie u. Theorie der Universalsprachen im 16. u. 17. Jh. Wiesb.
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1988, S. 134 ff. – Diana Trinkner: Gedankenflug u. Lichtmetaphysik. Zu Georg Philipp Harsdörffers u. K. S.s Erkenntnislehre. In: Morgen-Glantz 7 (1997), S. 311–346. – Dietrich Unverzagt: Philosophia, Historia, Technica. Caspar S.s ›Magia universalis‹. Bln. 2000. – Harald Siebert: Vom röm. ›Itinerarium‹ zum Würzburger ›Iter‹ – Kircher, S. u. die Chronologie der Ereignisse. In: Spurensuche. Wege zu Athanasius Kircher. Hg. Horst Beinlich, HansJoachim Vollrath u. Klaus Wittstat. Dettelbach 2002, S. 163–188. – Daniela Rota: ›Kircheri vestigijs insistens‹. Caspar S. e la ›Musica acustica‹. In: Ars magna musices – Athanasius Kircher u. die Universalität der Musik. Hg. Markus Engelhardt u. Michael Heinemann. Laaber 2007, S. 253–280. – H.-J. Vollrath (Hg): Wunderbar berechenbar. Die Welt des Würzburger Mathematikers K. S. 1608–1666. Ausstellungskat. Univ.-Bibl. Würzburg. Würzb. 2007. – Eckhard Kreeb: C. S.s Korrespondenz mit Johann Matthäus Faber. In Mainfränk. Jb. für Gesch. u. Kunst 60 (2008), S. 116–121. – H.-J. Vollrath: K. S. (1608–1666). In: Fränk. Lebensbilder. Bd. 22, Würzb. 2009, S. 141–164. – Nachlass: Univ.-Bibl. Würzburg. – Zur Digitalisierung seiner Werke s. Zentrales Verz. Digitalisierter Drucke. Franz Günter Sieveke
drei Bände der Werke Jean Gersons heraus (Prima [-tertia] pars operum [...]. Straßb. 1488 [Hain 7622]). In diesem Zusammenhang schrieb S. nicht Gerson, sondern Thomas von Kempen die Autorschaft der vier Bücher De imitatione Christi zu. Des Weiteren edierte er den Sentenzenkommentar des Augustiners Thomas von Straßburg (Scripta super quattuor libros sententiarum. Ebd.: Martin Flach 1490 [Cop. 603]). Mit humanistischen Zentren vorwiegend in Süddeutschland stand S. in enger Verbindung. Seine Briefe (u. a. an Biel, Gossembrot u. Lobkowicz und Hassenstein) zeigen ihn als Anreger u. Förderer klass. Studien. Er selbst verfasste Elegien, Epigramme u. ein Städtelob auf Straßburg in daktyl. Hexametern. Als Lucubraciunculae ornatissimae (Straßb. 1498 [Hain 14524]) veröffentlichte Jakob Wimpfeling fast das gesamte Werk S.s, das auch grammat., theolog. u. juristische Abhandlungen enthält. 1500 folgte die De mensuris syllabarum epithoma (Hg. Jakob Wimpfeling. Ebd. [Hain 14525]).
Schott, Peter, * 9.7.1460, † 12.9.1490 Straßburg; Grabstätte: ebd., Jung St. Peter. – Jurist, Humanist, Theologe.
Ausgaben: The works of P. S. Hg. Murray u. Marian Cowie. 2 Bde., Chapel Hill 1963–71. – Briefe an Wimpfeling in: Jakob Wimpfeling: Briefw. Hg. Otto Herding u. a. Bd. 1, Mchn. 1990, Nr. 9–14.
Der Sohn des gleichnamigen Straßburger Patriziers († 1504) besuchte ab 1465/66 die Schlettstädter Lateinschule unter Ludwig Dringenbergs Rektorat u. studierte ab Winter 1470/71 Philosophie bei Johann Heynlin in Paris (Bacc. art 1473), danach Rechtswissenschaft in Bologna (Sommer 1474), wo er sich mit dem böhm. Adligen Bohuslaus von Lobkowicz und Hassenstein befreundete; am 7.9.1480 wurde er dort zum Dr. iur. utr. promoviert. In Ferrara nahm S. im Winter 1480 das Studium der Theologie auf, kehrte aber Mitte 1481 in seine Heimatstadt zurück, wo er am 21.12.1482 zum Priester geweiht wurde u. bis zu seinem Tod – er erlag der Pest – an der Kirche Jung St. Peter wirkte. Der reformgesinnte Kleriker gilt als erster Vertreter des stark scholastisch geprägten Frühhumanismus im Elsass. S. u. Geiler von Kaysersberg, 1478 zum ersten Prediger am Straßburger Münster berufen, gaben nach langjähriger Handschriftensuche die ersten
Literatur: Bibliografien: Schmidt, Quellenlexikon, Bd. 28, S. 348. – Miriam Usher Chrisman: Bibliography of Strasbourg imprints, 1480–1599. New Haven/London 1982, Register. – Weitere Titel: Charles Schmidt: Histoire littéraire de l’Alsace [...]. 2 Bde., Paris 1879. Nachdr. Hildesh. 1966, Bd. 2, S. 3–35 u. Register. – Gustav Knod: P. S. In: ADB. – Dt. Studenten in Bologna (1289–1562). Biogr. Index zu den Acta nationis Germanicae universitatis Bononiensis. Bearb. ders. Bln. 1899. Nachdr. Aalen 1970, S. 507 f. – Maria Teresa Lurwig: Studies in the ›Lucubratiunculae‹ by P. S. Diss. Chicago 1946. – Wilhelm Hammer: P. S. u. sein Gedicht auf Straßburg (1486). In: ZfdPh 77 (1958), S. 361–371. – Otto Herding: Bemerkungen zu den Briefen des P. S. (1460–1490) anläßlich einer Neuausg. In: AKG 46 (1964), S. 113–126. – Franz Josef Worstbrock: P. S. In: VL, Bd. 8, Sp. 831–838 u. Register (mit Werkverz. u. Lit.). – Uwe Israel: Der Straßburger P. S. d.J. (1458–1490). Zu einem humanist. Lebensentwurf. In: Ztschr. für die Gesch. des Oberrheins 144 (1996), S. 241–258. – Marcel Mathis: P. S. In: NDBA. – Uwe Israel: P. S. In: NDB. Reinhard Tenberg / Red.
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Schottelius, Schottel, Justus Georg(ius), auch: Der Suchende, Fontano, * 23.6.1612 Einbeck, † 25.10.1676 Wolfenbüttel; Grabstätte: ebd., Hauptkirche Beatae Mariae Virginis. – Jurist, Dichter, bedeutendster deutscher Sprachgelehrter des Barock. S., Sohn eines luth. Pfarrers u. einer Kaufmannstochter, besuchte die Einbecker Ratsschule, das Hildesheimer Andreanum u. das Hamburger Akademische Gymnasium, ehe er 1635 als Jurastudent an der Universität Leiden aufgenommen wurde. 1636 setzte er das Studium an der Universität Wittenberg fort, musste aber 1638 wegen Kriegsunruhen fliehen u. kam nach Braunschweig, wo ihn Herzog August d.J. von Braunschweig-Lüneburg zum Hauslehrer berief. S., der den Herzogshof nie verlassen sollte, wurde 1642 zum Hofgerichtsassessor, 1645 zum Konsistorialrat u. 1653 zum Kammerrat ernannt. Der Hof kehrte 1644 in die wiedereroberte Wolfenbütteler Residenz zurück, die sich unter dem gelehrten Herzog zu einer Hochburg der dt. Gelehrsamkeit entwickelte. 1646 promovierte S. zum Dr. beider Rechte an der Landesuniversität Helmstedt. Im selben Jahr heiratete er, nach dem Tod seiner Frau 1649 ein zweites Mal. Aus den Ehen gingen sechs Kinder hervor. Vom dt. Kulturpatriotismus tief durchdrungen, machte seine erste Grammatik Teutsche Sprachkunst (Braunschw. 1641. 21651) S. gleich berühmt als Sprachgelehrten u. ermöglichte ihm 1642 die Aufnahme in die Fruchtbringende Gesellschaft als »Der Suchende«. Seine anschließend erschienene Poetik Teutsche Vers- oder ReimKunst (Wolfenb. 1645. Lüneb. 21656. Neudr. der 2. Aufl. Hildesh. 1976), eine der wichtigsten nach Martin Opitz, erfreute sich großer Beliebtheit unter den Dichtern des Pegnesischen Blumenordens (bes. Georg Philipp Harsdörffer, Sigmund von Birken), dem S. 1646 unter dem Schäfernamen »Fontano« beitrat. Sein Fruchtbringender Lustgarte (Lüneb. 1647. Neudr. Mchn. 1967), eine Sammlung geistl. u. weltl. Dichtung, folgte bald darauf. Auf der Höhe seiner Laufbahn veröffentlichte S. sein Herzog August gewidmetes
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Hauptwerk Ausführliche Arbeit von der Teutschen HaubtSprache (Braunschw. 1663. Hildesh. 2 1737. Neudr. Tüb. 1967. 21995), in dem seine früheren grammat. u. poetolog. Schriften aufgingen. Es enthält fünf Bücher: 1) zehn grammatisch-sprachpolitische »Lobreden«, 2) Wortartengrammatik, 3) Syntax, 4) Poetik u. 5) Darstellungen zu Namenkunde, Sprichwörtern, Literaturkritik, Übersetzung u. Stammwörtern als Grundlage für das dt. Wörterbuch (verwirklicht 1691 durch Caspar von Stieler). Den Abschluss bildet ein Abdruck der 1648 beim Ende des Dreißigjährigen Krieges entstandenen Acclamatio pro Pace inter Christianos firmâ & fidâ. Das Werk fasst alles damalige Wissen über die dt. Sprache zusammen u. trägt wesentlich Neues dazu bei, bes. die Darstellung der dt. Wortbildung, die zu den Hauptverdiensten der barocken Sprachforschung zählt. Es ist ganz dem Ziel untergeordnet, das Deutsche zu einer europ. Kultursprache zu erheben. Danach erschienen in rascher Abfolge kleinere Schriften, die S.’ Spätwerk bilden. Die meisten sind geistl. Art wie das Emblembuch Jesu Christi Nahmens-Ehr (Wolfenb. 1666), das von Streitigkeiten mit der luth. Orthodoxie zeugt, u. die größtenteils in gebundener Rede verfasste Evangelienharmonie Concordia seu Harmonia quatuor Evangelistarum (Braunschw. 1675. 21676), die einen Anhang enthält, in dem die auf »die alberne Meistersängerey und Knüttelversmacherey« hinauslaufende Reimdichtung getadelt wird. Vier andere geistl. Schriften legte S. als Reihe an: die Eigentliche und sonderbare Vorstellung des Jüngsten Tages (Braunschw. 1668. 21674. 3 1689. Dt.-dän. Auszug o. J.), die mit der Wortbildung experimentiert, um »die hohen Sachen« »mit nachdenklichen hohen Teutschen Worten und Red-Arten« darzustellen; die durch S.’ »angehaltene Krankheit« veranlasste Sonderbare Vorstellung von der ewigen Seeligkeit (Braunschw. 1673), die den VanitasGedanken aufgreift u. der auch eine »Sterbekunst« angehängt ist; die Sonderbare Vorstellung / wie es mit Leib und Seel des Menschen werde kurtz vor dem Tode / in dem Tode / und nach dem Tode bewandt seyn (Braunschw. 1674), die mit einer Auslegung des 119. Psalms endet u. die kurz vor S.’ Tod fertig gestellte Grausame
Schottelius
Beschreibung und Vorstellung der Hölle und der höllischen Qwal (Wolfenb. 1676), die den Typ des machiavellistischen »heimlichen Atheisten« anprangert. Die übrigen Spätwerke sind unterschiedl. Inhalts. Die pädagogisch motivierte Ethica (Wolfenb. 1669. Neudr. Hg. Jörg Jochen Berns. Bern/Mchn. 1980) mit ihren drei Büchern zu Glück, Seele u. Tugenden gilt als erste Moralphilosophie in dt. Sprache. Der Traktat De singularibus quibusdam & antiquis in Germania Juribus & Observatis (Wolfenb./ Braunschw. 1671. 2. Aufl. Ffm./Lpz. o. J. Fortgeführt durch Johann Werner Gericke: S. illustratus et continuatus. Lpz./Wolfenb. 1718) stellt eine Fundgrube dt. Rechtsaltertümer dar. Das Horrendum Bellum Grammaticale (Braunschw. 1673. Neudr. Lpz. 1991), ein allegor. Bericht über einen Krieg zwischen Nomina u. Verba, ermahnt kräftig zur dt. Einigkeit u. mag bes. auch an die zwieträchtigen Brüder Rudolf August u. Anton Ulrich gerichtet sein, die nach dem Tod Herzog Augusts 1666 gemeinsam regierten. Die in S.’ Todesjahr erschienene Brevis et fundamentalis Manuductio ad Orthographiam & Etymologiam in Lingua Germanica (Braunschw. 1676) ist eine Schulgrammatik, die einen erneuten Entwurf zum dt. Wörterbuch enthält. Wenn S.’ Spätwerke auch inhaltlich unterschiedlich sind, so verbindet sie, wie sein ganzes Schaffen, das stets vorhandene ethische Moment. Heute wird S. sogar als »Vater der dt. Grammatik« geehrt. Schon unter den Zeitgenossen galt der »Varro Teutonicus« als die wichtigste dt. Grammatikautorität u. wurde auch im Ausland (Holland, Schweden, Russland) rezipiert. Seine Grammatik, erst durch Gottsched u. Adelung endgültig verdrängt, wirkte lange im 18. Jh. nach. Bei Leibniz fanden seine sprachpolit. Bestrebungen einen namhaften Nachfolger. Weitere Werke: Die hertzliche Anschawunge unsers gecreutzigten Heylandes. Braunschw. 1640. – Lamentatio Germaniae exspirantis. Braunschw. 1640. – Der Teutschen Sprach Einleitung. Lübeck/ Lüneb. 1643. – Disputatio inauguralis iuridica. Helmstedt 1643. – Neu erfundenes FreudenSpiel genandt FriedensSieg. Wolfenb. 1648. – Gelegenheitsgedichte.
572 Literatur: Bibliografien: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 5, S. 3824–3846. – Claudine Moulin-Fankhänel: Bibliogr. der dt. Grammatiken u. Orthographielehren. 2 Bde., Heidelb. Bd. 2, 1997, S. 277–299. – Weitere Titel: Brandanus Daetrius: Grund-Lehre des Heyligthums v. der Väterlichen Fürsorge u. Regierung Gottes. Wolfenb. o. J. (Leichenpredigt auf S. mit Personalien). – Elias Caspar Reichard: Versuch einer Historie der dt. Sprachkunst. Hbg. 1747. Neudr. Hildesh./New York 1978. – Max Hermann Jellinek: Gesch. der nhd. Grammatik v. den Anfängen bis auf Adelung. 2 Bde., Heidelb. 1913/14. – Jörg Jochen Berns: J. G. S. Ausstellungskat. Wolfenb. 1976. – Stjepan Barbaric´ : Zur grammat. Terminologie v. J. G. S. u. K. Stieler. 2 Bde., Bern u. a. 1981. – Klaus Conermann: Die Mitglieder der Fruchtbringenden Gesellsch. 1617–1650 [...]. Lpz. 1985, S. 466–468. – Kathrin Gützlaff: Von der Fügung Teutscher Stammwörter. Die Wortbildung in J. G. S.’ ›Ausführlicher Arbeit von der Teutschen HaubtSprache‹. Hildesh. u. a. 1989. – Gisela M. Neuhaus: J. G. S.: Die Stammwörter der Teutschen Sprache [...]. Eine Untersuchung zur frühnhd. Lexikologie. Göpp. 1991. – Rolf Schneider: Der Einfluß v. J. G. S. auf die deutschsprachige Lexikographie des 17./18. Jh. Ffm. u. a. 1995. – Ralf Georg Czapla: ›Wie man recht verteutschen soll.‹ Der Traktat des J. G. S. als Paradigma einer Übersetzungstheorie in der Frühen Neuzeit. Mit einem Exkurs zur Vergil-Übers. im 16. bis 19. Jh. In: Morgen-Glantz 8 (1998), S. 197–226. – Hiroyuki Takada: Grammatik u. Sprachwirklichkeit v. 1640–1700. Zur Rolle dt. Grammatiker im schriftsprachl. Ausgleichsprozeß. Tüb. 1998. – Markus Hundt: ›Spracharbeit‹ im 17. Jh. Studien zu Georg Philipp Harsdörffer, J. G. S. u. Christian Gueintz. Bln./New York 2000. – William Jervis Jones: German lexicography in the european context. A descriptive bibliography [...]. Bln. u. a. 2000, Nr. 1009–1012. – Gijsbert Rutten: Lambert ten Kate and J.-G. S. Theoretical similarities between Dutch and German early modern Linguistics. In: Historiographia Linguistica 31 (2004), S. 277–296. – Tuomo Fonsén: ›Kunstlöbliche Sprachverfassung unter den Teutschen‹. Studien zum ›Horrendum Bellum Grammaticale‹ des J. G. S. Ffm. u. a. 2006. – Jürgensen, S. 178–181 u. Register. – M. Hundt: J. G. S. In: NDB. – Nicola McLelland: J.-G. S. and his influence on European vernacular grammatography outside Germany. In: Germanistik in Ireland 3 (2008), S. 71–84. – Dieter Cherubim: J. G. S. In: Lexicon grammaticorum. Hg. Harro Stammerjohann. 2., rev. u. erw. Aufl. 2 Bde., Tüb. 2009, Bd. 2, S. 1358–1360. Tuomo Fonsén
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Schottennius, Hermann, Beiname: Hessus, eigentl.: H. Ortmann, um 1503 vermutlich Schotten/Hessen, 1543 Köln. – Hochschullehrer, Dramatiker u. Autor didaktischer Schriften. Nur einige Lebensdaten S.’ sind bekannt: Er wurde 1517 an der Kölner Bursa Laurentiana immatrikuliert, an der er nach der Magisterpromotion 1520 eine Dozentur erhielt. 1530 wurde er zum Lektor ernannt u. erwarb 1532 den Titel des theolog. Baccalaureus. 1533/34 war er Dekan der Artistenfakultät der Universität Köln. In S.’ Kölner Zeit fallen die überlieferten Werke. Sein Schaffen als Verfasser von Prosadramen, dabei angeregt auch von dem Henno-Spiel Johannes Reuchlins, begann mit dem Ludus Grammaticus Latinae Linguae tramitem ostendens (Köln 1525). Das Spiel »stellt das hierarchische System der lateinischen Grammatik und Syntax auf der Bühne dar und soll der Unterhaltung, Sprachpraxis und Deklamationsfertigkeit der Schüler dienen« (Joachim Hamm), erwähnt auch bereits das aktuelle Geschehen des Bauernkrieges. Diesen vergegenwärtigt mit typisiertem Personal u. im Widerspiel der allegor. Figuren von Krieg (Bellona) u. Frieden (Pax), zgl. jedoch mit genauen histor. Kenntnissen der folgende Ludus Martius sive Bellicus (ebd. 1526). S. insistiert dabei auf den sozialen wie ökonomischen Ursachen des Krieges (Armut u. Knechtschaft) u. lässt die religiösen Argumentationen außer Acht. Bemerkenswert ist die Fürstenkritik wie das Fehlen antiluth. Polemik, wodurch er sich von dem ihm wohlbekannten Kollegen Johannes Cochlaeus absetzte. Wegweisend war für ihn offenbar die Friedenslehre des mehrfach erwähnten Erasmus von Rotterdam (Querela pacis. 1517). S. konnte seine Spiele einflussreichen Kölner Bürgern widmen: dem Kanonicus Georg Lauer (Erstausgabe des Ludus Martius) sowie den Patriziern Hermann (beide Spiele) u. Johann Rinck (Vita honesta, s.u.). In einem weiteren politisch-allegor. Drama, das als Zeitgemälde verstanden werden sollte (Ludus Imperatorius sive Caesarius, continens umbraticam imaginem, horum temporum, regnante Diuo Carolo quinto. Ebd. 1527), verherrlichte er den Kaiser
Schottennius
als Garanten der europ. Einheit u. Stabilität, setzte sich auch schon kritisch mit der reformatorischen Lehre auseinander. Weite Verbreitung erlangten seine von Erasmus von Rotterdam u. Petrus Mosellanus angeregten Schülergespräche (Confabulationes Tyronum Literariorum. Ebd. 1525. Mehr als 30 Ausgaben der 2. Auflage von 1529. Zweisprachige Edition 2007, s.u.). S. bietet darin in 123 Dialogen colloquiale lat. Formulare für das Zusammenleben in Schule u. Universität, oft in direktem Bezug auf örtl. u. regionale Gewohnheiten u. Anlässe. Manche dieser Dialoge beschäftigen sich mit kulturgeschichtlich höchst interessanten Themen u. Ereignissen (etwa: Weinlese, Frankfurter Buchmesse, Heimsuchung durch die Pest, städt. Bäder, kirchl. Feste, Getreidepreise, Fastnacht). Im Zusammenhang seiner didakt. Ziele u. Interessen publizierte S. in der Folge weitere, z.T. dialogische Werke bzw. Kompilationen: eine Centuria Epistolarum Proverbialium (ebd. 1629) sowie Colloquia moralia ex variis philosophorum dictis condita u. Colloquia philosophica, & consolatoria [...] iuxta Senecae et Francisci Petrarchae consilia (beide ebd. 1535). S.s Morallehre (Vita Honesta. Ebd. 1527. Zahlreiche Neudrucke bis 1631) wurde u. d. T. Von einem Ehrlichen und Tugendreichen Leben von Sebastian Leonhart ins Deutsche übersetzt (Lpz. 1592. Zerbst 1613). Weiteres Werk: Meta studii literarii, et quomodo in eam sint ducenda omnium scientiarum genera. Köln 1525. Ausgaben: Ludus Martius sive bellicus. Hg. u. übers. v. Hans-Gert Roloff. Bern u. a. 1990. – Teilübersetzung in: Der dt. Renaissance-Humanismus. Abriß u. Auswahl. Hg. Winfried Trillitzsch. Ffm. 1981, S. 249–292. – Confabulationes tironum litterariorum. Köln 1525. Ed. mit engl. Übers. u. Einf. v. Peter Macardle. Durham 2007. Literatur: VD 16, S 4002–4037. – Alois Bömer: Die lat. Schülergespräche der Humanisten. Texte u. Forsch.en zur Gesch. der Erziehung u. des Unterrichts in den Ländern dt. Zunge. Tl. 1, Bln. 1897. Nachdr. Amsterd. 1966, S. 128–145. – Dieter Kartschoke: Ludus Martius. Das Spiel vom Bauernkrieg des H. S. H. v. 1526. In: Dt. Bauernkrieg. Historische Analysen u. Studien zur Rezeption. Hg. Walter Raitz. Opladen 1976, S. 75–95. – Eckart Schäfer: Der dt. Bauernkrieg in der nlat. Lit. In. Daphnis 9 (1980), S. 121–151. – Peter Macardle:
Schrader
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Our Reading of an Early ›Documentary Drama‹: S.’s ›Ludus Martius‹. In: Daphnis 18 (1989), S. 391–420. – Ders.: Cologne Life and Cologne University Humanism: the ›Confabulationes Tyronum Literariorum‹ and their Author H. S. H. In: Humanistica Lovaniensia 42 (1993), S. 126–159. – Götz-Rüdiger Tewes: Die Bursen der Kölner Artisten-Fakultät bis zur Mitte des 16. Jh. Köln u. a. 1993, Register. – Joachim Hamm: ›Servilia Bella‹. Bilder vom dt. Bauernkrieg in nlat. Dichtungen des 16. Jh. Wiesb. 2001, S. 209–225. Wilhelm Kühlmann
Schrader, Karl Heinrich von, auch: F. Candide oder Kandide, * 1758 Luckau/ Niederlausitz, † Febr. 1806 Hamburg. – Erzähler, Journalist. S., über dessen Herkunft u. Bildung keine Zeugnisse vorliegen, war Offizier, quittierte 1802 den Dienst u. lebte abwechselnd in Hamburg u. Altona. Er erteilte Französischunterricht u. lieferte Beiträge für den zweiten Jahrgang des reaktionären Journals »Hamburg und Altona« (1803), die aber nicht namentlich gekennzeichnet sind. Mit seinen Romanen suchte S. den Geschmack des breiten Publikums zu treffen. In Manon la Rivière, das Mädchen ohne Zunge (Bremen 1799) bedient er sich zu diesem Zweck einer befremdlichen u. horrenden Fabel; die detaillierte Schilderung von Grausamkeiten rückt ihn in die Nähe de Sades. Fahrten Sebastians von Fahrmann (2 Bde., Altona 1803), ein Abenteuerroman mit Betonung der sexuellen Abenteuer des Helden, ist eine eher zufällige Aneinanderreihung weitschweifiger Szenen u. Charakterschilderungen in aufdringl. auktorialer Erzählmanier. Bisweilen gelingen einzelne Anekdoten u. Causerien, doch reicht S. an die großen Muster des humoristischen Bildungs- u. Erziehungsromans nicht heran. Unter dem Titel Wunderliche Streiche eines geborenen Barons, der zuerst studirte, dann Schulmeister, nachher gemeiner Soldat, und zuletzt geheimer Finanzrath ward (o. O. 1808) verbirgt sich ein Nachdruck dieses Werks. Weitere Werke: Sieben wunderbare Lebensjahre eines Kosmopoliten. 2 Bde., Hbg. 1797 (Bd. 2 v. S.). – Der seltsame Mann. Glogau o. J. – Kopien v. der Schiefertafel des hl. Dionysos. Hbg. 1800. Ulrike Leuschner
Schrätel und Wasserbär, auch: Kobold und Eisbär. – Mittelalterliche Schwankerzählung, Ende 13. Jh. In der nur in einer Handschrift des 14. Jh. überlieferten Reimpaarerzählung (anonym, 352 Verse) ist ein norweg. Bärenführer mit einem gezähmten Eisbären unterwegs, um ihn als Geschenk seines Königs an den König von Dänemark zu liefern. Er übernachtet im Backhaus eines Bauernhofs, obwohl sich der Bauer beklagt hat, ein Gespenst treibe auf dem Hof sein Unwesen. Nachts erscheint ein kleiner Kobold (Schrätel), brät sich ein Stück Fleisch am Feuer u. entdeckt den Bären. Der irritierte Kobold reizt ihn, bis ein heftiger Kampf entbrennt, in dem der Kobold schließlich die Flucht ergreifen muss. Morgens setzen die Gäste ihre Reise fort; der zerschundene Kobold aber fragt den Bauern, wie es der »großen Katze« gehe. Listig erwidert ihm der Bauer, es ginge ihr sehr gut, sie hätte in der Nacht noch fünf Junge geworfen, die der Kobold besichtigen könnte. Entsetzt verlässt dieser für immer den Hof. Die Erzählung, die nach Aussage des Dichters ausschließlich zum Lachen anreizen soll, ist durch ihre dichterische Qualität u. ihre für Schwankdichtung untypischen märchenhaften Elemente bemerkenswert. Als unhaltbar hat sich die These von der Verfasserschaft Heinrichs von Freiberg erwiesen. Obwohl der Stoff in ganz Europa verbreitet war, dürfte die mhd. Erzählung (Schauplatz, nordischer »Wasserbär«) wohl skandinav. Ursprungs sein. Ausgaben: Alois Bernt: Heinrich v. Freiberg. Halle 1906, S. 249–258. – Lutz Röhrich: Erzählungen des späten MA [...]. Bd. 1, Bern/Mchn. 1962, S. 11–15. – Novellistik des MA. Märendichtung. Hg., übers. u. komm. v. Klaus Grubmüller. Ffm. 1996, S. 698–717, 1261–1268. Literatur: Röhrich, a. a. O., S. 235–243 (Stoffgesch.). – Stephen L. Wailes: Social Humor in Middle High German Mären. In: ABäG 10 (1976), S. 119–148, hier S. 144–148. – L. Röhrich: Bärenführer. In: EM. – Hanns Fischer: Studien zur dt. Märendichtung. Tüb. 21983, S. 362 f. (Bibliogr.). – U. Williams: K. u. E. In: VL. – Martin Todtenhaupt: ›Kobold u. Eisbär‹. Ein höf. Märe ohne den höf. Adel. In: Kleine Beiträge zur Germanistik. FS John
575 Evert Härd. Hg. Bo Andersson u. Gernot Müller. Uppsala 1997, S. 301–309. Ulla Williams / Red.
Schram, Franz, * um 1765 vermutlich in der Steiermark, † um 1825. – Lyriker. Über S.s Lebensumstände ist wenig bekannt. Eine Reise in die Schweiz 1786 ist verbürgt. S. war mit Johann Ritter von Kalchberg befreundet, dem er nach Graz folgte. Im ersten Band von dessen Musenalmanach »Früchte vaterländischer Musen« (Graz 1789) veröffentlichte S. einige Gedichte. Weitere – allerdings nicht eindeutig als autobiografisch identifizierbare – Hinweise enthält S.s Lyriksammlung Gedichte (Wien/Lpz. 1792). Versteht man das Gedicht Seiner unehelichen Tochter zum Geburtstage. Am 6ten Mai 1787 (ebd., S. 101–104) nicht ausschließlich als poetische Fiktion, so handelt es sich um ein sozialgeschichtlich bemerkenswertes dichterisches Dokument, worin sich der Autor als »Ziliens Verfasser« (S. 104) bezeichnet u. sich damit öffentlich zu seinem Kind bekennt, dessen Mutter bei der Geburt gestorben war. Auch für den »Wiener Musenalmanach« schrieb S. Beiträge; das übrige Œuvre umfasst hauptsächlich Widmungs- u. Huldigungsgedichte; allein die zahlreichen erot. Gedichte verraten einen aufgeschlossenen Autor. Weitere Werke: Gedichte. Graz 1790. – Feyergesang am Krönungstage Hungariens [...]. Ofen 1792. – Sein [Leopolds II.] Tod am 1. März 1792. Wien 1792. – Ode, dem Herrn Ritter v. Zimmermann in Hannover gesungen. In: Wiener Ztschr. 9 (1792), S. 354–358. – An meinen Kopf. Wien 1793. – Ges. Geistesblumen. o. O. 1793 (L.). Literatur: Johann Willibald Nagl u. a.: Dt.Österr. Literaturgesch. Bd. 2, Wien 1914, S. 368. Matthias Luserke
Schramm, Godehard, * 24.12.1943 Konstanz. – Reiseschriftsteller, Erzähler, Lyriker. Der Enkel des Bildhauers Paul Diesch u. Sohn eines Lehrers wuchs in Thalmässing auf u. begann bereits als Abiturient zu publizieren (Lieber rot als rot. Mchn. 1970). Mit Gerd Scherm gab er in den 1970er Jahren die Zeitschrift »UmDruck« heraus. 1975 wurde er mit dem Gedichtband Meine Lust ist größer
Schramm
als mein Schmerz (Mchn.) bundesweit bekannt. S. studierte Slawistik in Erlangen u. Moskau (1971) u. wurde mit einer Arbeit über Jewtuschenko (Der russische Dichter Jewgeni J. Sein lyrisches Werk 1952–1982. Erlangen 1986) promoviert, den er auch übersetzte. Ebenso übersetzte er Nadeschda Mandelstam u. aus dem Polnischen Jan Twardowski. S. arbeitet als Reiseschriftsteller (Italien, Holland, Sowjetunion, Ukraine) u. schrieb mehrfach über sein seit 1974 jährlich aufgesuchtes Ferienziel Gardasee (Mein Gardasee. Mchn. 1999. Zweite Heimat Gardasee. Schweinfurt 2009). Seit langem in Nürnberg lebend, hat S. eine große Anzahl von Büchern über Franken (Fränkische Heimat. Hof 1987) bzw. fränkische Städte wie Regensburg (DonauVenedig. Amberg 1995), Neustadt a. d. Aisch (Reisen nach NEA-polis. Neustadt a. d. Aisch 2000) oder Nürnberg (888 Meter Heimat. Nürnb. 2007) verfasst. Gelegentlich benutzt er in seinen Büchern auch die fränk. oder alemann. Mundart. Es wäre jedoch irreführend, S. als »Heimatschriftsteller« zu bezeichnen. Seine Texte, die man z. T. in die Nähe von Horst Krügers Reiseerzählungen rücken könnte, sind subjektiv geprägte, stilsicher komponierte Entdeckungsreisen. S.s Stärke ist die Verquickung von Authentizität u. Fremde durch die Beschreibung prozessualer Wahrnehmungsvorgänge (bes. in der Erzählung Schuld. In: Heimweh nach Deutschland. Ein Lesebuch. Mchn. 1981). Unübersehbar ist jedoch auch seine, teils kritisch rezipierte, Tendenz zur Stilisierung ins Auratisch-Religiöse. Dem spezifisch Christlichen in der Literatur ist S. in seiner Studie Auch Kometen sind Köpfe (Mchn. 1998) nachgegangen. Der Glauben spielt auch eine wichtige Rolle in S.s autobiogr. Romanen Mein Königreich war ein Apfelbaum (Mchn. 2005) u. Ein Weltreich: Mein Dorf (Mchn. 2007) über seine Kindheit u. Jugend. S. schreibt Drehbücher für das ZDF, Features für den BR u. hat ein Opernlibretto verfasst. Er erhielt u. a. den Friedrich-BaurPreis (1990), das Bundesverdienstkreuz am Bande (1996) u. den Wolfram-von-Eschenbach-Preis (2003). Weitere Werke: Nachts durch die Biscaya. Ffm. 1978. – Ein Dorf. Mchn. 1981. – Holland. Ebd. 1981. – Der Traumpilot. Ebd. 1983 (R.). – Allee
Schramm nach Königsberg. Nürnb. 1987. – Fränk. Orientexpress. Ebd. 1989. – Die Sonnenrose. Würzb. 1995 (R.). – Einladungen nach Polen. Schweinfurt 2008. 2009. Reinhard Knodt / Jürgen Egyptien
576 the Past: East German Identity in the Work of I. S. In: Seminar 40 (2004), 1, S, 35–49. – Sebastian Domsch: I. S. In: KLG. Andreas Grünes
Schrank, Franz von Paula von (geadelt 1808), * 21.8.1747 Vornbach/Inn, † 12.12. 1835 München; Grabstätte: ebd., Alter Südlicher Friedhof. – Verfasser naturwisS. wuchs ab 1966 in Ost-Berlin auf, wo er nach senschaftlicher Schriften.
Schramm, Ingo, * 25.10.1962 Leipzig. – Verfasser von Romanen, Gedichten u. Hörspielen, Essayist.
einer Ausbildung zum Buchhändler seit 1990 als freier Schriftsteller lebt. Nach ersten Veröffentlichungen u. a. in der Literaturzeitschrift »Torso« erschien 1996 sein weit beachteter Debütroman Fitchers Blau (Bln.). Der Untertitel poetischer Roman ist programmatisch für die ersten Werke, die sich sprachlich durch die Vermeidung prosaischer Formulierungen zugunsten kunstvoller Wendungen, teils auch pathet. Überladungen, auszeichnen u. durch die Lektüre Elfriede Jelineks beeinflusst sind. Der Roman verbindet das Motiv der Geschwisterliebe mit der sozialkritisch geschilderten Umbruchsituation des Wendejahres 1990. Die Identitätssuche der Protagonisten ist die spezif. Krise ostdt. Identitätsfindung zwischen DDR-Vergangenheit u. Wiedervereinigung, ein Thema, das sich auch in den Romanen Aprilmechanik (Bln. 1997) u. Entzweigesperrt (Bln. 1998) fortsetzt. Der 2000 erschienene Roman Die Feigheit der Fische (Bln.) stellt eine Zäsur im Werk dar; der poetische Stil, von S. in der Tradition der klass. Moderne verortet, verschwindet zugunsten einer Fokussierung auf Figurenkonstellation u. Handlung. Der Politthriller behält den sozialkrit. Ansatz, ist aber zgl. ein Abschied von der Wendethematik. Der Roman ist das letzte größere Werk S.s. Seitdem erschienen nur kurze Arbeiten, insbes. Essays u. Lyrik auf der Website des Autors. Weitere Werke (Hörspiele): Danach. ORB 1991. – Unta de Dächa. ORB 1995. – Vom Bäcker u. vom Meer. RB 1997. – Der Schal, das Herz, die Uhr. Ein Gedankenspiel. ORB 1997. Literatur: Robert Simanowski: Poesie der großen Worte oder die Sprache des Hammers. I. S.: ›Fitchers Blau‹. In: NDL 44 (1996), H. 4, S. 177–182. – Mark Tanner: Werkstattgespräch mit I. S. In: Torso 10 (2000), S. 16. – Elmar Krekeler: I. S. In: LGL. – Paul Cooke: Escaping the Burden of
Der Sohn eines Juristen erhielt vom Vater den ersten Unterricht in Latein. 1762–1773 gehörte S. dem Jesuitenorden an; 1774 wurde er in Wien zum Priester geweiht u. in Theologie promoviert. S. verlegte sich bald auf die Naturwissenschaften; 1776 veröffentlichte er Beyträge zur Naturgeschichte (Augsb.) u. wurde Professor für Physik u. Mathematik in Amberg, zwei Jahre später Mitgl. der Bayerischen Akademie der Wissenschaften u. 1784 Professor für Landwirtschaft, Berg- u. Forstwirtschaft an der Universität Ingolstadt. In den 1780er Jahren unternahm er Studienreisen durch Bayern u. beschrieb sie in ausführl. Berichten, die sich nicht auf die naturwissenschaftl. Beobachtungen beschränken u. bis heute eine wichtige kulturgeschichtl. Quelle wie auch ein Beispiel von S.s gepflegter Sprache sind. Dies gilt auch für sein Standardwerk Baiersche Flora (2 Bde., Mchn. 1789). Mehr als 200 naturwissenschaftl. Schriften veröffentlichte S. neben seinen Reisebeschreibungen, vornehmlich zur Geologie, Botanik u. Zoologie, ferner theolog. Abhandlungen u. biogr. Skizzen. 1809 wurde er Direktor des Botanischen Gartens in München, der unter seiner Leitung »bald zu einem der reichsten Institute dieser Art in Deutschland« wurde (Martius). Weitere Werke: Gedanken über die Erziehung der Bauernjugend. Burghausen 1779. – Baiersche Reise. Mchn. 1786. – Akadem. Reise. Ebd. 1793. Auch u.d.T. Reise nach den südl. Gebirgen v. Baiern in Hinsicht auf botan., mineralog. u. ökonom. Gegenstände, nebst Nachrichten v. den Sitten, der Kleidung u. anderen Merkwürdigkeiten der Bewohner dieser Gegend [...]. Ebd. 1793. – Fauna Boica [...]. 3 Bde., Nürnb. u. a. 1798–1803. – Dem Andenken Paul Hupfauers. Landshut 1808. – Ueber das Uebermaß in geistigen Arbeiten [...]. Mchn. 1819. – Flora Monacensis [...]. 4 Bde., ebd. 1811–18. – Die Feste des Herrn. Landshut 1811. –
577 Commentarius literalis in Genesin. Sulzbach 1835. – Bayer. Bibl. Bd. 3. Hg. Hans Pörnbacher. Mchn. 1990, S. 199–207. Literatur: Carl Friedrich Philipp v. Martius: Denkrede auf F. v. P. v. S. Mchn. 1836. – Andreas Kraus: Die naturwiss. Forsch.en an der Bayer. Akademie der Wiss.en im Zeitalter der Aufklärung. Mchn. 1978. – Annette Zimmermann: F. v. P. S. Naturforscher zwischen Aufklärung u. Romantik. Mchn. 1981 (Schriftenverz. S. 121–147). – Ludwig Hammermayer: Gesch. der Bayer. Akademie der Wiss.en. Bd. 2, ebd. 1983. – Hdb. der bayer. Gesch. Begr. v. Max Spindler. Bd. 2. Hg. A. Kraus. Mchn. 2 1988, S. 1019 (Register). – Hans Göttler: Von umfassender Gelehrsamkeit. Eine Erinnerung an F. v. P. S., den genialen Naturforscher, Theologen u. Schriftsteller, der vor 250 Jahren, am 21. August 1747 geboren wurde. In: Charivari 23 (1997), 7/8, S. 98–100. – Ludwig Hammermayer: F. v. P. S. In: Biogr. Lex. LMU. – Franz Josef Schötz: F. v. P. S. Professor in Ingolstadt, Landshut u. München, 1784–1835. In: Ders.: Zur Gesch. der Botanik an der Univ. Ingolstadt 1472–1800, der heutigen Ludwig-Maximilians-Univ. München. Die Botanik als Teil der Medizin. Mchn. 2005, S. 146–170. – Thomas Sperling: F. v. P. S. In: NDB. – Manfred Knedlik: ›Dem Andenken Paul Hupfauer’s ...‹. Die Landshuter Gedächtnisrede (1808) v. F. v. P. S. In: Verhandlungen des Histor. Vereins für Niederbayern (2008), S. 27–40. Hans Pörnbacher
Schreger, Odilo, Taufname: Franz Jakob, getauft 3.11.1697 Schwandorf, † 21.9. 1774 Ensdorf/Oberpfalz; Grabstätte: ebd., ehem. Klosterkirche St. Jakobus d.Ä. – Benediktiner, Verfasser u. Kompilator populärer Unterhaltungs-, Erbauungs- u. Ratgeberliteratur. Der Sohn einer alteingesessenen Metzgerfamilie besuchte 1710–1716 das Jesuitengymnasium in Amberg, danach vermutlich das Lyzeum in München u. trat 1719 in das Benediktinerkloster Ensdorf ein. Dem ordenseigenen Philosophie- u. Theologiestudium in der Reichsabtei St. Emmeram u. in Michelfeld folgte 1723 die Priesterweihe. S. hatte verschiedene Klosterämter inne (u. a. 1749 Prior), wirkte lange Zeit als Seelsorger in den Klosterpfarreien u. unterrichtete als »magister fratrum« im Rahmen des theolog. Hausstudiums den Ordensnachwuchs.
Schreger
Neben den klösterl. Aufgaben entfaltete S., seit 1752 Mitgl. der »Societas Literaria Germano-Benedictina«, eine reiche literar. Produktivität. Bis zu seinem Tod brachte er mehr als ein Dutzend zumeist vielfach aufgelegte Schriften mit erbaulichen, praktisch-lehrhaften u. kurzweiligen Inhalten zum Druck. An den Welt- u. Ordensklerus richteten sich mehrere Meditations- u. Exerzitienbücher wie das Diurnale asceticum religiosorum (Sulzbach 1734). In erster Linie nahm S. jedoch die ländl. Bevölkerung in den Blick, wobei er mit Geschick religiöse u. sittl. Unterweisung, praxisbezogene Wissensvermittlung u. »ehrbare« Unterhaltung zu vereinen wusste. In der Betonung des Nützlichen machte sich der Geist der Aufklärung bemerkbar, der in vielen Klöstern des oberdt. Raumes herrschte. Zukunftweisende Impulse sind von S. allerdings kaum ausgegangen. Sein Haus-Büchlein (Mariazell 1736; bis 1873 oftmals nachgedruckt) leistet keinen eigenständigen Beitrag zur Agraraufklärung, sondern bleibt in der Verknüpfung von christl. Ökonomik u. prakt. Hauswirtschaftslehre der herkömml. Hausväterliteratur verhaftet. Auch der Speiß-Meister (Mchn. 1766. Kommentierter Neudr. hg. von M. Knedlik u. A. Wolfsteiner. Kallmünz 2007), der im Sinne eines aufklärerischen Pragmatismus die »gemeine[n] Leut« mit ernährungsphysiolog. Grundwissen versorgt, überschreitet nie den Rahmen der traditionellen Klostermedizin. Die nachhaltige Popularität des Paters gründete auf den umfassenden Kompendien Lustig- Und Nutzlicher Zeit-Vertreiber (Stadt am Hof 1753 u. ö.) u. Zu nutzlicher Zeit-Anwendung Zusamm getragener Auszug der Merckwürdigsten Sachen (ebd. 1755 u. ö.), die im Stil der Kuriositätenliteratur vielfältiges Bildungsgut histor., geografischer u. naturkundl. Art neben Sprichwörtern, Devisen, Rätseln u. Scherzfragen, Schwänken, Anekdoten, Lügen- u. Sensationsgeschichten versammelten. Noch im 19. Jh. wurde das Erzählgut in volkstüml. Sammlungen (z.B. Ludwig Aurbacher: Ein Volksbüchlein. Tl. 1. Mchn. 1827) u. zum Teil auch als Kalendergeschichte tradiert.
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Weitere Werke: Ascetico-biblicum calendarium. Regensb. 1730. – Studiosus Jovialis. Mchn. 1749 u. ö. (zuletzt Wien 1846). – Reis-Büchlein. o. O. 1753 u. ö. (zuletzt Landshut 1810). – Diurnale neo-curati. Passau 1762. – Kleines Wörter-Lexicon. Mchn. 1768. – Eine Gute Nacht. Das ist: Nächtl. gute Gedanken, vor dem Schlafengehen wohl zu überlegen. Mchn. 1772 u. ö. (zuletzt Mchn. 1870). – Kleine Haus-Apothecke. Augsb. 1774 u. ö. (zuletzt Augsb. 1790). Literatur: Bibliografie: Knedlik/Wolfsteiner 1997, S. 33–56. – Weitere Titel: Georg Westermayer: O. S. In: ADB. – Elfriede Moser-Rath: ›Lustige Gesellschaft‹. Schwank u. Witz des 17. u. 18. Jh. in kultur- u. sozialgeschichtl. Kontext. Stgt. 1984. – Dies.: Kleine Schr.en zur populären Lit. des Barock. Hg. Ulrich Marzolph u. Ingrid Tomkowiak. Gött. 1994 (Reg.). – Manfred Knedlik u. Alfred Wolfsteiner (Hg.): Literar. Klosterkultur in der Oberpfalz. FS zum 300. Geburtstag von O. S. Kallmünz 1997. – Heidrun Alzheimer-Haller: Hdb. zur narrativen Volksaufklärung. Bln./New York 2004, S. 630 f. (Lit.). – M. Knedlik: O. S. In: EM (Verz. der Erzähltypen u. -motive). – Ders.: O. S. In: NDB. Manfred Knedlik
Schreiber, Aloys Wilhelm, auch: W. G. H. Gotthardt, * 12.10.1761 Bühl/Baden, † 21.10.1841 Baden-Baden. – Erzähler, Lyriker u. Reiseschriftsteller; Journalist u. Herausgeber. S., Sohn eines Kaufmanns u. ältestes von neun Kindern, war für den geistl. Beruf bestimmt. Doch schon auf dem kath. Gymnasium in Baden-Baden stand er, angeregt durch aufklärerische u. empfindsame Schriften von Haller, Gessner, Uz, Claudius, Gleim, Ewald von Kleist, Bürger u. Klopstock, dem Mönchstum u. Jesuitismus kritisch gegenüber. Sein 1781 in Freiburg i. Br. begonnenes Theologiestudium schloss er nicht ab. Seit 1784 war er am Gymnasium in Baden-Baden Lehrer der Ästhetik u. Verwalter der Bibliothek. 1788 siedelte er nach Mainz über, wirkte dort als Kritiker u. Theaterschriftsteller, gründete einige kurzlebige Theaterzeitschriften (»Tagebuch der Mainzer Schaubühne«. Ffm. 1788. »Dramaturgische Blätter«. Ffm. 1788/89) u. verfasste Theaterstücke, musste aber zum Lebensunterhalt eine Hofmeisterstelle annehmen.
Angeregt durch die freiheitl. Ideen der Französischen Revolution, die er zunächst begrüsst hatte, der er aber seit 1793 kritischer gegenüberstand, u. begeistert auch durch die Schriften Lessings u. Goethes, den er verehrte, verfasste er im letzten Jahrzehnt des 18. Jh. eine große Zahl von Erzählungen, Novellen, poetischen Gemälden (Romantische Erzählungen. 2 Bde., Ffm. 1795), einen Roman (Wollmar. Bremen 1794) u. mehrere kulturgeschichtl. Schriften (Die Verfassung von Rom zur Zeit der Republik. Ffm. 1794). Daneben erschienen die Gedichtsammlungen Rhapsodieen (Ffm. 1791) u. Gedichte (Düsseld. 1801), die, wie seine übrigen Schriften Produkte der Aufklärung, den Ideen Rousseaus verpflichtet sind. Bekannt wurde S. mit seinen Reiseschilderungen u. Reisehandbüchern. Die anonym erschienenen Bemerkungen auf einer Reise von Strasburg bis an die Ostsee (2 Tle., o. O. 1793/94) vermischen Reiseeindrücke mit ablehnenden Urteilen über die Revolution in Straßburg u. die Schreckensherrschaft; die Streifereien durch einige Gegenden Deutschlands (Lpz. 1795) enthalten polit., wirtschaftl., kulturelle u. sittl. Notizen u. Beobachtungen im Stil Nicolais u. gelten als Vorläufer von S.s späteren historisch-topografischen Beschreibungen für Reisende: Baaden in der Markgrafschaft (Karlsr. 1805. Veränderte Ausg. Heidelb. 1811), Anleitung den Rhein von Schaffhausen bis Holland zu bereisen (Heidelb. 1812), Topographischer Nomenclator der ganzen Rheinküste (ebd. 1813), Handbuch für Reisende am Rhein von Schaffhausen bis Holland (ebd. 1816. 5. Aufl. u. d. T. Der Rhein. Ebd. 1841). 1797 siedelte S. nach Rastatt über, wo er als polit. Journalist die Schriftleitung des »Rastatter Congreß-Blattes« (Rastatt 1797/98) übernahm u. gemeinsam mit Joachim von Schwarzkopf das Handbuch des Congresses zu Rastatt (1. bis 3. Forts., Rastatt, Basel 1798. Lpz. 1799) herausgab. Nach einigen Jahren erneuter Lehrtätigkeit am Baden-Badener Gymnasium erhielt er 1805 an der 1803 reorganisierten Heidelberger Universität eine Professur für Ästhetik u. Geschichte, die er bis 1813 wahrnahm. Zeitweilig lehrte er dort auch Naturrecht u. natürl. Strafrecht. 1806 gründete er die »Badische Wochenschrift zur
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Belehrung und Unterhaltung für alle Stände« 18. – Alemann. Lieder u. Sagen. Tüb. 1817. – Sagen (Heidelb. 1806–1808), die bis zum Erschei- aus den Rheingegenden. 2 Bde., Heidelb. 1819 u. nen der sehr viel anspruchsvolleren Heidel- 1839. Literatur: Franz Schneider: Gesch. der Univ. berger Jahrbücher (1808) ein Sammelbecken der Veröffentlichungen für die in Heidelberg Heidelberg im ersten Jahrzehnt u. der Reorganisawirkenden Dichter u. Gelehrten bildete. So tion durch Karl Friedrich (1803–13). Heidelb. 1813. – Herbert Levin: Die Heidelberger Romantik. kontroverse Geister wie Brentano u. Voß puMchn. 1922. – Otto Biehler: A. S. als Heimatdichter blizierten hier im ersten Jahrgang gemein- u. Weggenosse Johann Peter Hebels. In: Die Orsam. Im Kampf der Romantiker Arnim, tenau 13 (1926), S. 1–20. – Ders.: A. S. Sein Leben u. Brentano, Görres u. Creuzer gegen die ratio- seine Werke. In: Ztschr. für die Gesch. des Obernalistische Richtung stand S. auf Voß’ Seite. rheins N. F. 55 (1942), S. 598–675 (ausführl. BiEr war der Verfasser der gegen Görres ge- bliogr.). – Claudia Rink (Hg.): ›weder Kosmopolit richteten polem. Satire Comoedia divina mit drei noch Spießbürger‹ – Der bad. Dichter u. HeidelVorreden von Peter Hammer, Jean Paul und dem berger Professor der Ästhetik A. S. (1761–1841). Herausgeber ([Heidelb.] 1808). Sein Lehrbuch der Heidelb. u. a. 2006. – Günter Häntzschel: Die ReiAesthetik (Heidelb. 1809) ist eine Kompilation sebücher v. A. S. In: Von der Spätaufklärung bis zur Bad. Revolution. Literar. Leben in Baden zwischen ästhetischer Ansichten des 18. Jh., in der zu 1800 u. 1850. Hg. Achim Aurnhammer, Wilhelm Vorlesungszwecken Beispiele aus Literatur- Kühlmann u. Hansgeorg Schmidt-Bergmann. u. Kunstgeschichte zusammengestellt sind. Freib. i. Br. u. a. 2010, S. 313–325. Infolge von Streitigkeiten mit seinen akaGünter Häntzschel dem. Kollegen u. aus finanziellen Erwägungen verließ S. 1813 die Universität u. wurde Schreiber, Schreyber, Heinrich, auch: in Karlsruhe Hofhistoriograf mit dem Titel Grammateus, * zwischen 1492 u. 1496 eines Hofrats. Neben Arbeiten über die Ge- Erfurt, † 1525 Wien. – Mathematiker. schichte des Großherzogtums Baden, am bekanntesten die Badische Geschichte (Karlsr. S. studierte seit dem 19.8.1507 in Wien (u. a. 1817), hielt er im Kunst- u. Industrieverein bei Andreas Stiborius u. Georg Tannstetter, Karlsruhe öffentl. Vorlesungen über Ge- gen. Collimitius) u. 1514–1517 in Krakau. In schichte, Ästhetik u. Kunstgeschichte. Wien erscheint er im Mai 1518 als Magister Gleichzeitig, u. verstärkt nach seiner Pensio- Grammateus. Als die Wiener Universität nierung 1826, setzte er seine publizistische 1521 wegen der Pest geschlossen wurde, ging Arbeit fort, stellte Sagen-Sammlungen zu- er nach Nürnberg, später nach Erfurt u. von sammen (Auswahl der interessantesten Sagen aus dort zurück nach Wien. S. war ein typischer Vertreter der Wiener den Gegenden des Rheins und des Schwarzwaldes. Heidelb. 1819), verfasste histor., kulturhis- mathemat. Schule. Er betrieb intensive Stutor. u. weitere topografische Werke. Seit 1816 dien wichtiger Handschriften u. ital. Werke gab er das viel gelesene »Taschenbuch für (Lucas Paccioli). Seine mathemat. Abhanddeutsche Frauen«, Cornelia (Heidelb.), heraus, lungen wurden in dt. Sprache verfasst u. gedas nach seinem Tod noch bis 1873 fortge- druckt. In allg. verständl. Form behandelte er quadratische Gleichungen u. Binome. Die führt wurde. S.s vielseitiges Werk ist für die weit ver- von ihm eingeführten Symbole für Potenzen breitete Unterhaltungsliteratur der Goethe- von Unbekannten bereiteten die heute übl. zeit aufschlussreich. Der rezeptive Charakter Exponentendarstellung vor. Bei Rechenopeüberwiegt. Mit der literar. Verarbeitung em- rationen verwandte er durchgehend die Zeipirischer Fakten verlieh S. seinen Veröffent- chen Plus u. Minus u. ersetzte die Zahlenkoeffizienten durch die allg. Buchstabenzahl. – lichungen kulturgeschichtl. Wert. S.s Arbeiten fanden v. a. durch seinen Schüler Weitere Werke: Launen, Erzählungen u. Gemälde. Ffm. 1793. – Launen u. Träume eines Christoph Rudolff Verbreitung u. beeinMannes, der weder Kosmopolit noch Spießbürger flussten u. a. Adam Ries. ist. Ffm. 1796. U. d. T. Stunden meiner Einsamkeit. Altona 1799. – Poetische Werke. 3 Bde., Tüb. 1817/
Weitere Werke: Libellus de compositione regularum pro vasorum mensuratione [...]. Wien
Schreiber 1518. – Behend u. khunstlich Rechnung nach der Regel u. welhisch practic, mit sambt zuberaittung der Visier ym quadrat u. triangel [...]. Nürnb. 1521. Internet-Ed. in: VD 16. – Ein kunstreich u. behendt Instrument zuwissen am tag bey der Sonnen u. in der nacht durch die Stern mancherley nutzperkeit u. auf gab in allen orten u. endt der welt. Ebd. 1522. – Eynn kurtz newe Rechenn u. Visyr buechleynn [...]. Erfurt 1523. Internet-Ed. in: VD 16. – Hoc in libello hec continentur [...] Algorismus de integris [...]. Ebd. 1523. Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: Moritz Cantor: Grammateus. In: ADB. – Christian Friedrich Müller: Henricus Grammateus u. sein Algorismus de integris. Zwickau 1896. – Ernst Zinner: Die fränk. Sternkunde im 11. bis 16. Jh. Bamberg 1934. – Ders.: Gesch. u. Bibliogr. der astronom. Lit. in Dtschld. z. Zt. der Renaissance. Lpz. 1941. – Kurt Vogel: Grammateus. In: NDB. – Johannes Tropfke: Gesch. der Elementarmathematik. Bd. 1, Bln./New York 41980. – Sabine Heimann: Die Kosmographie des H. S. v. Erfurt. Ein Beitr. zur humanist. Arteslit. In: JOWG 6 (1990–91), S. 225–233. – H. Schreyber aus Erfurt, genannt Grammateus. FS zum 500. Geb. Hg. Manfred Weidauer. Mchn. 1996 (mit Lit., passim, u. Werkverz. S. 143–165). Monika Maruska / Red.
Schreiber, Hermann, auch: Lujo Bassermann, Ludwig Berneck, Ludwig Bühnau, * 4.5.1920 Wiener Neustadt. – Erzähler, Sach-, Reise- u. Jugendbuchautor, Übersetzer. Der Sohn eines Buchhändlers studierte in Wien Germanistik bei Josef Nadler u. schloss sein Studium 1944 mit einer Dissertation über Gerhart Hauptmann ab. Unmittelbar nach dem Krieg begann S. zu publizieren, trat zunächst als Essayist, Literaturkritiker u. Übersetzer (vornehmlich aus dem Französischen) in Erscheinung u. war einige Jahre lang Chefredakteur der Wochenschrift »Geistiges Frankreich«. 1951 erschien sein Debütroman Sturz in die Nacht (Innsbr.), ein Politthriller, der großes Aufsehen erregte u. sogleich in mehrere Sprachen übertragen wurde. Es folgten Die Glut im Rücken (Wien 1952), ein detailgenaues Porträt der Wiener Nachkriegsgesellschaft, Einbruch ins Paradies (Wien/Bln./Stgt. 1954), ein an der Riviera angesiedelter Liebesroman, u. die histor. Romane Ein Schloß in der Touraine (Salzb. 1952) u.
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Auf den Flügeln des Windes (Wien/Bln./Stgt. 1958). Hinter allen diesen Arbeiten stand die ehrgeizige Ambition, unter Anwendung moderner Erzähltechniken zu einer grundlegenden Erneuerung des deutschsprachigen Unterhaltungsromans zu gelangen. Da das Echo darauf unter seinen Erwartungen blieb, verlegte S. sich Ende der 1950er Jahre auf das Schreiben von Sachbüchern. Mit weit über 100 Titeln zählt er zu den fruchtbarsten u. vielseitigsten Sachbuchautoren seiner Generation. Sein Hauptinteresse galt u. gilt dabei kultur- u. sittengeschichtl. Themen. Sein formales Spektrum reicht von der klass. Biografie histor. Persönlichkeiten (zuletzt Ritter, Tod und Teufel. Kaiser Maximilian I. und seine Zeit. Gernsbach 2008) über historisch fundierte Städteporträts (die beiden bekanntesten: Paris – Biographie einer Weltstadt. Mchn. 1967 u. Das Schiff aus Stein. Venedig und die Venezianer. Mchn. 1979) u. Völkerbiografien (u. a. Die Hunnen. Wien/Düsseld. 1976. Auf den Spuren der Goten. Mchn. 1977. Die Vandalen. Siegeszug und Untergang eines germanischen Volkes. Bern/Mchn. 1979) bis hin zu Landschaftsu. Reisebüchern mit unverkennbarem Frankreich-Schwerpunkt (Die Bretagne – Keltenland am Atlantik. Mchn. 1978. Land um Paris. Mchn. 1985. Das Elsaß und seine Geschichte. Eine Kulturlandschaft im Spannungsfeld zweier Völker. Gernsbach 1988). Parallel zur Sachbucharbeit verfasste S. zahlreiche Jugendromane, hauptsächlich auf der Basis histor. Quellentexte (Die weißen Indianer. Wien 1960. Schwarzer Herrscher auf goldenem Thron. Wien 1961. Marco Polo – Karawanen nach Peking. Wien/Heidelb. 1974. Magellan und die Meere der Welt. Ebd. 1978). Im Laufe der 1970er Jahren kehrte er neben der routinierten Sachbuchproduktion wiederholt zur historisierenden Belletristik zurück. Aus dieser Zeit stammen sein Seefahrer- u. Piratenroman Captain Carpfanger (Mchn 1973) sowie sein sechsteiliger Versailles-Zyklus (Ebd. 1977–83). Seit den 1990er Jahren betätigt S. sich verstärkt auch wieder als Essayist u. Literaturkritiker für verschiedene österr. u. dt. Periodika. Ein wertvolles u. aufschlussreiches Zeitdokument ist seine zweibändige Autobiografie (Ein kühler Morgen. Mchn. 1995. Bücher Frauen Bücher. Ebd. 2000).
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581 Weitere Werke: An den Quellen der Nacht. Einl. v. Werner Riemerschmid. Graz/Wien 1964. – Mein Sarg bleibt leer. Nachw. v. Wolfgang Leppmann. Mchn. 1980 (E.en; Bibliogr. S. 269–287). – Marie Antoinette. Die unglückl. Königin. Mchn. 1988. – Die Belle Epoque. Paris 1871–1900. Mchn. 1990. – Die neue Welt. Die Gesch. der Entdeckung Amerikas. Gernsbach 1991. – Preußen u. Baltikum unter den Kreuzrittern. Die Gesch. des dt. Ordens. Ebd. 2003. – Gesch. der Alchemie. Mchn. 2006. – Liebe, Macht, Verbannung. Frauenschicksale im Zarenreich. Gernsbach 2009.
Nord-Süd-Fahrt. Köln 1982 (L.). – Gesch. der Dt. Lit. (zus. mit Gerhard Fricke). Neuaufl. Paderb. 1988. – Faszination des Bauens. Mainz 1990. – Was von uns bleibt. Über die Unsterblichkeit der Seele. Mchn. 2008. – Das Gold in der Seele. Die Lehren vom Glück. Ebd. 2009 (auch als Hörbuch). – Die Zehn Gebote. Eine Ethik für heute. Ebd. 2010.
Literatur: Karin Steinberger: Der Allroundschreiber. Romancier, Sachbuchautor, Übersetzer. Wer ist eigentlich der Auflagen-Millionär H. S.? In: SZ, 20.5.1995, S. VII. – Karl-Markus Gauß: H. S. In: LuK 45 (2010), H. 443/444, S. 3 f. – Daniela Strigl: Das Glück des Imkers. H. S. zum 90. Geburtstag. In: Zwischenwelt 27 (2010), H. 1–2, S. 8.
Schreiber, tugendhafter ! Der Tugendhafte Schreiber
Christian Teissl
Aufgewachsen in Linz, studierte S. ohne Abschluss 1971–1977 Germanistik u. Psychologie in Salzburg u. hielt sich 1977–1980 in Japan auf. Seit 1983 ist sie als freie Schriftstellerin tätig. Nach Aufenthalten in Salzburg, Paris, Berlin u. Italien lebt sie seit 2000 wieder in Linz. Handelt es sich bei S.s Debüt Die Rosen des Heiligen Benedikt (Zürich 1989) noch um eine lose Sammlung von Erzählungen, wird die Struktur beim Nachfolgeband Mein Erster Neger (Zürich 1990) deutlich komplexer. Die Erzählungen sind z. T. miteinander verwoben, Afrika zieht sich als roter Faden durch die Handlung. Bereits in ihren ersten Veröffentlichungen werden die Schwerpunkte von S.s Schreibens sichtbar. Häufig aus der IchPerspektive wird Alltägliches geschildert: zwischenmenschl. Beziehungen, Trennungen, Kindheit u. Erwachsenwerden. In Die Unterdrückung der Frau, die Virilität der Männer, der Katholizismus und der Dreck (Zürich 1995. Neuaufl. u. d. T. Die Eskimorolle. Ffm. 2004) stehen die Erzählungen noch deutlicher miteinander in Verbindung; der Untertitel lautet: Roman in Geschichten. Mit Nackte Väter (Zürich 1997) folgte S. erster Roman. Die IchErzählerin beschreibt ihr Vater-Tochter-Verhältnis; dabei werden Erinnerungen aus der Kindheit u. die Gegenwart miteinander verwoben. Das Sterben des Vaters bildet den Rahmen der Handlung. S.s Ich-Erzähler weisen häufig eine monologische Struktur
Schreiber, Mathias, auch: Philipp Rehbiersch, * 19.2.1943 Berlin. – Journalist, Essayist, Lyriker. Nach dem Abitur 1962 studierte S. Literaturwissenschaft u. Philosophie. Im Anschluss an die Promotion arbeitete er als Redakteur u. a. beim »Kölner Stadtanzeiger«; seit 1982 als Feuilletonredakteur bei der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«. In seiner Dissertation Die unvorstellbare Kunst (Ffm. 1970) plädiert S. für eine phänomenologisch orientierte Literaturästhetik. Er sucht dabei einen paradoxen Ansatz plausibel zu machen. Demnach ist die Schwäche der Kunst ihre Stärke, da sie mit jedem gelungenen Text ihre eigene Unvorstellbarkeit vorstellt u. somit gegen die »Verfügbarmachung des Menschen« ankämpft. Hier schließt S.s Lyrik an, welche die Gegenwart reflektiert u. Unvorhergesehenes zur Sprache bringt. Seit den neunziger Jahren legte S. vor allem Sachbücher vor, darunter ein »biographisches Porträt« von Marcel Reich-Ranicki (zus. mit Volker Hage. Mchn. 1995) u. diverse Anleitungen zu einer gelungenen Lebensführung, in denen moralische u. metaphys. Reflexionen vorwiegen. Weitere Werke: Ein Steinbock steht im Zimmer. Neuwied 1967 (L.). – Kunst zwischen Askese u. Exhibitionismus. Köln 1974. – Der Maulschellenbaum. Kremsberg 1974 (L.). – Gänseblume auf der
Literatur: Jürgen P. Wallmann: Realitäten. In: Der Monat 19 (1967), S. 61–65. – Anton J. Gail: ›Die unvorstellbare Kunst‹. In: WW 22 (1972), S. 143 f. Waldemar Fromm / Red.
Schreiner, Margit, * 22.12.1953 Linz/ Österreich. – Verfasserin von Romanen, Erzählungen, Hörspielen u. Essays.
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auf. Diese Erzählform wendet S. in Haus, auseinander. Die Hörspiele verfasste S. im Frauen, Sex (Zürich 2001) konsequent an, in- oberösterr. Dialekt. S. erhielt u. a. 1986 den Theodor-Körnerdem sie einen verlassenen Ehemann seine gescheiterte Ehe im Dauermonolog Revue Förderungspreis, 1990 das Österreichische passieren lässt. Dabei rechnet der Protagonist Staatsstipendium, 2005 den OberösterreichiFranz nicht nur mit den Frauen ab, sondern schen Landeskulturpreis u. 2009 den Österunbewusst auch mit sich selbst. Der Roman reichischen Würdigungspreis für Literatur. liegt auch in dramat. Form vor (Urauff. Literatur: Monika v. Aufschnaiter: M. S. In: Stuttgart 2003). Den Abschluss der »Trilogie LGL. – Christa Gürtler (Hg.): M. S. Linz 2008 (Die der Trennungen«, wie S. ihre ersten drei Ro- Rampe 3/2008). – Markus Kreuzwieser: ›Wir mane nennt, bildet Heißt lieben (Ffm. 2003). zeichnen unser Leben ein, ohne zu zögern‹. M. S.s Ausgangspunkt ist das Sterben der Mutter. präzise Erinnerungs- u. Erzählkunst. In: Lynkeus 7 Erneut aus der Sicht einer Ich-Erzählerin (2006), S. 110–117. Katja Moses wird ein komplexes Mutter-Tochter-Verhältnis geschildert; der Roman ist in drei Teile Schrettinger, Martin, Ordensname: Wiluntergliedert. Die Motive haben häufig aulibald, * 17.6.1772 Neumarkt/Oberpfalz, tobiogr. Züge, die S. in ihrem Werk immer † 12.4.1851 München. – Benediktiner, wieder aufgreift. Durch Perspektivwechsel Bibliothekar, Verfasser bibliothekstheoder Erzähler sowie durch Ironie erzeugt S. retischer Schriften u. Übersetzer. Distanz zu ihrem eigenen Leben. Mit Bruno und ich. 52 Geschichten (Linz/Wien Der Sohn eines Hutmachermeisters besuchte 2005) legte S. einen Band mit Kolumnen über die Gymnasien in Burghausen u. Amberg, Linz vor. Das Buch der Enttäuschungen (Ffm. trat 1790 in das Benediktinerkloster Wei2005) bezeichnet sie als Zusammenfassung ßenohe ein, wo er 1793 die Profess ablegte, u. der »Trilogie der Trennungen«: Eine Ich-Er- wurde 1795 zum Priester geweiht. Seit 1800 zählerin berichtet aus dem Jenseits von ihrem versah er das Amt des Klosterbibliothekars. Leben; Themen sind wieder Alltäglichkeiten. Seine ersten Veröffentlichungen sind dem In Haus, Friedens, Bruch (Ffm. 2007) schildert Geist der Spätaufklärung verpflichtet. Mit eine Ich-Erzählerin ihren Alltag als Schrift- dem praxisbezogenen Aufsatz Die Obstkultur stellerin u. allein erziehende Mutter. Zentrale in dem oberpfälzischen Stifte Weißenohe (in: Themen sind Veränderungen u. Trennungen Baierisches Wochenblatt 1, 1800, Nr. 33), der wie die Pubertät der Tochter oder die Wech- sich v. a. an die ländl. Bevölkerung richtete, seljahre der Erzählerin. Auch die Mutter aus öffnete er sich der Agraraufklärung, während Heißt Lieben tritt wieder in Erscheinung u. die Übersetzung einer Abhandlung des engl. verfolgt die Protagonistin im Schlaf. Der Ro- Aufklärers Philip Dormer Stanhope of Chesman wurde 2009 u. d. T. CUMULUS oder terfield (Die Kunst, unter Menschen glücklich zu Haus.Friedens.Bruch in Linz als Theaterstück leben. Sulzbach 1801. Digitalisat der Bayeriinszeniert. In Schreibt Thomas Bernhard Frau- schen Staatsbibliothek: http://www.digitaleenliteratur? Über Literatur, das Leben und andere sammlungen.de) als Beitrag zur Beförderung Täuschungen (Ffm. 2008) ist ein Großteil von der diesseitigen Glückseligkeit der Menschen S.s Reden, Essays, Beiträgen in Zeitschriften eine allgemeinere, philanthropische u. pädau. Vorworte vereint. gog. Zielsetzung verfolgte. Als Hörspielautorin (Da gehen Schiffe unter Die intensive Lektüre aufklärerischer mitten in der Wüste. Funkhaus Berlin 1991. Die Schriften (u. a. Kant, Knigge) entfremdete S. Bohrmaschine oder Warten auf Berlin. WDR/SFB zunehmend von der klösterl. Lebensweise u. 1992. Gefühle. ORF/DLR 2000. Zu Fuß über die führte zu einer immer schärferen Kritik an Alpen. ORF/MDR 2002. Die Überquerung des den geistl. Vorgesetzten u. schließlich zur Kvarner. ORF 2006) setzt sich S., ähnlich wie Ablegung des Habits. Noch vor der Säkulariin ihren Erzählungen u. Romanen, mit zwi- sation des Klosters ging S. 1802 nach Münschenmenschl. Beziehungen, insbes. zwi- chen, wo er – zunächst ohne Besoldung – eine schen Mann u. Frau in einer Partnerschaft Beschäftigung an der Kgl. Hofbibliothek
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fand. Ab 1806 Kustos, 1823 Unterbibliothe- Schreyer, Isaac, auch: Herbert Urfahr, kar, wurde er 1844 als stellvertretender Leiter * 20.10.1890 Wiznitz/Bukowina, † 14.1. in den Ruhestand versetzt. Als seine Haupt- 1948 New York. – Lyriker u. Übersetzer. leistung darf die Inventarisierung u. KataloS. stammte aus einer strenggläubigen jüd. gisierung monast. Büchersammlungen, die Familie, studierte in Czernowitz u. lebte in der Hofbibliothek nach der Aufhebung der Leipzig u. Berlin. Im Ersten Weltkrieg Soldat, altbayerischen u. schwäb. Klöster bis 1815 ging er 1918 nach Wien, wo er unter ärml. zuströmten, sowie die Erschließung der BeBedingungen als freier Schriftsteller u. stände in einem Schlagwortkatalog (»RealBuchhalter lebte. 1939 floh S. über England katalog«) gelten. Neben der prakt. Arbeit in die USA. Gedichte mit neoromant. Anstand die theoret. Auseinandersetzung mit klängen erschienen ab 1911 in »Der Merker«, bibliothekarischen Fragen in mehreren Pu»Die Schaubühne«, »Menorah« u. »Prager blikationen. Drei Heften eines Versuchs eines Presse«, postum eine Sammlung lied- u. gevollständigen Lehrbuches der Bibliothek-Wissenbethafter Lyrik in resignativem Ton (Psalm schaft (Mchn. 1808–10) ließ er 1829 unter eines einfachen Mannes. Nachw. von Ernst demselben Titel, aber eigentlich als selbstWaldinger. New York/Wien 1950). Wiederständige Schrift, ein viertes Heft des »Lehrkehrende Themen wie Vergangenheitssehnbuchs« folgen, das eine streckenweise Revisucht, mythisierte Landschaft u. die »innere sion früherer Positionen darstellte. VorWelt« als Fluchtort spiegeln die Identitätsnehmlich an private Sammler richtete sich problematik der deutschsprachigen jüd. das Handbuch der Bibliothek-Wissenschaft (Wien Minderheit in der multikulturellen Land1834. Neudr. hg. v. Holger Nitzschner u. a. schaft der Bukowina. S. übersetzte auch aus Hildesh. 2003). Mit systematisch entwickeldem Jiddischen u. Hebräischen. ten Prinzipien wie der Trennung von Katalog Weiteres Werk: Das Gold der Väter. Mit einem u. Buchaufstellung oder der Ordnung nach Nachw. v. Ernst Schönwiese. Wien 1969 (L.). Fachgruppen wurde S. zu einem der BeLiteratur: Klaus Weissenberger: I. S. In: Dt. gründer der modernen BibliothekswissenExillit., Bd. 2.1, 1989, S. 879–887. – Silvia Leskoschaft. Weitere Werke: Uebersicht der verschiedenen Meinungen über den Ursprung der Buchdruckerkunst, aufgeschrieben von Bürger Daunon. Aus dem Französischen übers. u. berichtet v. M. S. In: Beyträge zur Gesch. u. Lit. 5 (1805), S. 161–237. – Das Wiederaufleben des bair. Nationalgeistes. Ein histor. Gedicht. Mchn. 1806. Literatur: Bibliografie: M. S.: Hdb. der Bibliothek-Wiss. 2003 (s.o.), S. 39–44. – Weitere Titel: Wilhelm Bäumker: M. S. In: ADB. – Alois Schmid: M. S. aus Neumarkt in der Oberpfalz. Ein Bibliothekarsleben an der Schwelle v. Alten Reich zur Moderne. In: Jahresbericht des Histor. Vereins für Neumarkt in der Oberpfalz u. Umgebung 22 (1999), S. 139–162. – Sandro Uhlmann: M. S. – Wegbereiter der modernen Bibliothekswiss. In: M. S.: Hdb. der Bibliothek-Wiss. 2003 (s.o.), S. 3–37. – Stephan Kellner: M. S. In: NDB. – Manfred Knedlik: M. S. In: Bautz 32 (Lit.). – Nachlass: Bayer. Staatsbibl., München. Manfred Knedlik
wa: I. S. In: ÖBL.
Ursula Weyrer / Red.
Schreyer, Lothar, auch: Angelus Pauper, * 19.8.1886 Blasewitz (heute zu Dresden), † 18.6.1966 Hamburg. – Dramatiker, Erzähler, Lyriker, Essayist; Maler. Nach dem Abitur studierte der aus einer Künstlerfamilie stammende S. Jura in Heidelberg, Berlin u. Leipzig, arbeitete nach der Promotion 1911–1918 als Dramaturg am Schauspielhaus Hamburg, war 1916–1918 Schriftleiter des »Sturm«, begründete u. leitete 1918–1921 die »Sturmbühne« in Berlin bzw. ab 1919 die »Kampfbühne« in Hamburg u. wurde 1921 an das Bauhaus in Weimar berufen, wo er als Formmeister der Bühnenwerkstatt bis 1923 lehrte. Anschließend als Lehrer u. Redakteur tätig, lebte er ab 1932 als freier Schriftsteller u. Maler bei Hamburg. Nach seiner Konversion zum Katholizismus 1933 verfasste er legendenhafte Erzählungen u. histor. Romane sowie zahl-
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reiche Studien zur christl. Kunst v. a. des Mittelalters. In seinen wichtigen theatertheoret. Schriften (u. a. Das Drama, das Bühnenkunstwerk. In: Der Sturm 7, 1916/17), in seinen expressionistischen Dramen in der Nachfolge August Stramms (Jungfrau. Bln. 1917. Kreuzigung. Hbg. 1920. Mondspiel. In: Der Sturm 14, 1923) u. in seiner Aufführungspraxis (genaue Notation der »Spielgänge«, »Klangsprechen«) konzipierte S. ein dem »Wortkunstwerk« des Sturm-Kreises entsprechendes, abstraktes »Bühnenkunstwerk«. Formstrenge Verknappung der theatral. Mittel sollte zu einem kultischen, mystisch läuternden Gemeinschaftserlebnis führen. Weitere Werke: L.-S.-Ed. Mit einer Einl. v. Brian Keith-Smith. 14 Bde., Lewiston/Queenston/ Lampeter 1992–2004. – Erinnerungen an Sturm u. Bauhaus. Mchn. 1956 (Ess.). – Zwischen Sturm u. Bauhaus. Das expressionist. Werk v. L. S. Hg. B. Keith-Smith. Stgt. 1985. – Unveröffentlichte Aufsätze. Mit einer Einl. v. B. Keith-Smith. Lewiston/ Queenston/Lampeter 2006. – Texte des Glaubens. Mit einer Einl. v. B. Keith-Smith. Ebd. 2006. – Persönliches. Dokumente u. Briefe. Mit einer Einl. v. B. Keith-Smith. Ebd. 2006. Literatur: Kurt Möser: Lit. u. die ›Große Abstraktion‹. Kunsttheorien, Politik u. ›abstrakte Dichtung‹ im Sturm 1910–30. Erlangen 1983. – Brian Keith-Smith: Unknown Works by L. S. In: New German Studies 14 (1986/1987), H. 2, S. 143–157. – Ders.: L. S. Ein vergessener Expressionist. Achtzehn Aufsätze über Leben u. Werk. Mit unveröffentlichten Texten u. einer Bibliogr. Stgt. 1990. – Bernd Vogelsang: L. S. u. das Scheitern der Weimarer Bauhausbühne. In: Das frühe Bauhaus u. Johannes Itten. Hg. Rolf Bothe u. a. Ostfildern-Ruit 1994, S. 321–363. – Sigrid Pawelke: Le théâtre expressionniste de L. S. Diss. Paris 1997. – B. KeithSmith: Active and Passive Reception: Goethe and L. S. In: ›Nachdenklicher Leichtsinn‹ – Essays on Goethe and Goethe Reception. Hg. Heike Bartel u. B. Keith-Smith. Lewiston/Queenston/Lampeter 2000, S. 257–267. Bernadette Ott / Red.
Schreyer, Wolfgang, * 20.11.1927 Magdeburg. – Erzähler, Film-, Fernseh- u. Hörspielautor. Der Sohn eines Drogisten war im Zweiten Weltkrieg Luftwaffenhelfer u. Soldat, geriet in amerikan. Kriegsgefangenschaft, befand
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sich danach in achtwöchiger sowjetischer Haft (bis 1947) u. arbeitete nach dem Schulabschluss 1947 als Drogist (1948–1952); zuletzt war er Geschäftsführer in einem Pharmawerk. Danach lebte S. als freier Schriftsteller in Magdeburg; seit Anfang der 1970er Jahre ist er in Ahrenshoop ansässig. Er war lange mit Brigitte Reimann befreundet, deren Anwerbungsversuch durch das Ministerium für Staatssicherheit 1958 er öffentlich machte. Reisen führten ihn in Länder, die später Handlungsräume seiner Romane wurden; u. a. war er in den USA u. mehrfach in Kuba. S. wurde einer der produktivsten u. erfolgreichsten Autoren spannender u. unterhaltender Literatur in der DDR (ca. sechs Millionen Auflage, übersetzt in neun Sprachen). Seit 1952 war er Mitgl. des Schriftstellerverbandes der DDR, seit 1972 des P.E.N.-Zentrums der DDR. 1956 erhielt S. den HeinrichMann-Preis. Nach 1989 verlor er den größten Teil seines Publikums. S.s Romane, oft verfilmt oder dramatisiert, mischen Fiktives u. Dokumentarisches; sie gehören zumeist zur Abenteuerliteratur u. erschließen ferne Länder u. zeitgeschichtl. Vorgänge. Sie sind äußerst akribisch recherchiert u. detailgetreu geschrieben. Nach dem Kriminalroman Großgarage Südwest (Bln./DDR 1952. Erw. 1958), dem ersten Kriminalroman der DDR, hatte S. Erfolg mit Unternehmen ›Thunderstorm‹ (ebd. 1954), einem Tatsachenroman über den Warschauer Aufstand von 1944. Er nannte ihn – damit seine Romane auch grundsätzlich charakterisierend – einen »mit Aktionsmitteln geschriebenen Gesellschaftsroman«. Der 1956 in Ost-Berlin erschienene Roman Der Traum des Hauptmann Loy (verfilmt 1961) beschreibt Flug u. Abschuss eines amerikan. Aufklärungsflugzeugs über der Sowjetunion. In einem Erkenntnisu. Wandlungsprozess wird die Hauptfigur zur Abkehr vom Kalten Krieg geführt. Vor allem der mittelamerikan. Raum ist Schauplatz für S.s Romane, von denen sich Der Adjutant (Halle 1971), Der Resident (ebd. 1973) u. Der Reporter (ebd. 1980) zur Trilogie Die dominikanische Tragödie fügen. Die Ebenen der Politik, Diplomatie u. der Massenmedien werden genutzt, um insbes. amerikan. Großmachtpolitik kritisch darzustellen. Der
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»Zukunftsroman« Der sechste Sinn (ebd. 1987), Bln./DDR 1969 (R.). – Schwarzer Dezember. Halle der wie auch andere Romane S.s ein lang- 1977 (R.). – Die Entführung. Ebd. 1979 (E.). – Eiswieriges Genehmigungsverfahren durchlau- kalt im Paradies. Ebd. 1982 (R.). – A propos Kolfen musste, beschreibt eine Erfindung, die es portage. In: NDL 37 (1989), H. 2, S. 97–105. – Alpträume. Dreizehn erot. Gesch.n mit kriminelermöglicht, durch ein Messgerät den richtilem Hauch. Oschersleben 1991. gen Liebespartner zu finden. In der DDR anLiteratur: Bibliografie: W. S. In: Bibliogr. Kagesiedelt, gibt der Roman im Schriftsteller lenderbl. der Berliner Stadtbibl. 19 (1977), F. 11, Woelk ein ironisch gebrochenes Selbstbildnis S. 54–63. – Weitere Titel: Günter Ebert: Zu neuen des Autors. Mit Unabwendbar (Bln./DDR 1988) Grenzen. Gespräch mit W. S. In: WB 16 (1970), H. kehrte S. zum Kriminalroman zurück: Der 2, S. 108–119. – Rüdiger Bernhardt: Die Suche ermittelnde Kriminalist behindert die eigene nach dem Guerillero. In: NDL 26 (1978), H. 3, Arbeit durch die Liebe zur Täterin u. opfert S. 152–156 (zu ›Schwarzer Dezember‹). – Arwed dieser Liebe schließlich den Beruf. Der Mann Bouvier: W. S. In: Lit. der DDR. Hg. Hans Jürgen auf den Klippen (ebd. 1987) – seine Veröffent- Geerdts. Bd. 2, Bln./DDR 1979. – R. Bernhardt: Der Abschluß der ›Dominikan. Tragödie‹. In: NDL 28 lichung verzögerte sich durch das Druckge(1980), H. 5, S. 150–155. – Richard Albrecht: W. S.s nehmigungsverfahren – ist ein Aktionsroman Abenteuerromane. Aspekte zeitgenöss. Unterhalüber den Überfall auf die Inselrepublik Gre- tungslit. in der DDR. In: L’80, H. 35 (1985), nada, Die Beute (Rostock 1989) ein histor. S. 132–144. Rüdiger Bernhardt Spannungsroman, der die dt. Marine im Ersten Weltkrieg zum Gegenstand hat. 1991 Schreyvogel, Joseph, auch: Thomas bzw. erschien Nebel (Bln.), ein Kriminalroman (er Karl August West, * 27.3.1768 Wien, wurde für die Auszeichnung mit dem Fried† 28.7.1832 Wien; Grabstätte: ebd., Zenrich-Glauser-Preis nominiert), den S. als seitralfriedhof. – Dramatiker, Theaterleiter, nen »Wenderoman« bezeichnet u. der ebenPublizist, Erzähler. falls lange auf Veröffentlichung warten musste, weil der Verlag blockierte. 1994 er- S. war der Sohn eines wohlhabenden Tischschien Das Quartett, Fortsetzung von Nebel, lerholzhändlers. Nach Beendigung seiner ju2000 der Lebensbericht Der zweite Mann. ristischen Studien wandte er sich der PubliDarin u. in Ahrenshooper Begegnungen. Ein Haus zistik zu; Beiträge von ihm erschienen 1792 am Meer und seine Gäste (Rostock 2008) sind in Leopold Alois Hoffmanns »Wiener Zeitzahlreiche bemerkenswerte Begegnungen, schrift«, 1793/94 dann in Alxingers »ÖsterHoffnungen u. Enttäuschungen niederge- reichischer Monatsschrift«, worauf er in den schrieben, auch die »Trauer um den Verlust Verdacht des Jakobinismus geriet (vgl. seine von so Bewahrenswertem wie Gleichheit und Flugschrift Meine Rechtfertigung gegen die Versozialer Gerechtigkeit«. 2006 erschien, ge- leumdungen [...] als ein Vorbericht zu einem künfmeinsam mit dem Sohn Paul Schreyer ge- tigen Anti-Hofstätter. Wien 1794). Aus Furcht schrieben, der Thriller Die Legende. Was am 11. vor Verfolgung ging S. im Herbst 1794 nach September geschah, von den Verlagen abge- Jena, wo er an der »Allgemeinen Literaturlehnt, weil das Buch nach den Hintergünden Zeitung« mitwirkte. Hier u. später in Weimar der Ereignisse am 11.9.2001 fragte, u. des- bestärkte ihn der Umgang mit Herder, Goethe u. Schiller, v. a. aber die Freundschaft mit halb eigenfinanziert. Wieland in seiner literar. Tätigkeit. Nach dem Weitere Werke: Mit Kräuterschnaps u. GottTod seiner Mutter (1797) kehrte S. nach Wien vertrauen. Bln./DDR 1953 (Kriminalroman). – Die Banknote. Ebd. 1955 (Kriminalroman). – Das grüne zurück, nunmehr Erbe eines beträchtl. FaUngeheuer. Ebd. 1959. 2. Fassung u.d.T. Der grüne milienvermögens. 1802 beteiligte er sich an Papst. 1961 (R.). – Tempel des Satans. Ebd. 1960. dem von Studienkollegen u. seinem SchwaHalle 1964. Als Fernsehfilm 1962. – Preludio 11. ger (zgl. Grillparzers Onkel) Joseph SonnBln./DDR 1963. Erw. 1968. Verfilmt 1964 (R.). – leithner geführten »Kunst- und IndustrieFremder im Paradies. Halle 1966 (R.). Als Schausp. Comptoir«. Der ökonomische Ruin 1813 be1967. – Plädoyer für den Spannungsroman. In: NDL 14 (1966), H. 8, S. 68–89. – Der gelbe Hai.
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wirkte bei S. seel. Zerrüttungszustände (kurzzeitiger Sanatoriumsaufenthalt). 1807/1808 war »Das Sonntagsblatt oder Unterhaltungen von Thomas West« erschienen, das S. herausgab. In der Tradition der Moralischen Wochenschriften (mit einer fiktiven »stillen Gesellschaft« als Gesprächsrunde) stehend u. dem Gedankengut der Aufklärung verpflichtet, trat das »Sonntagsblatt« entschieden gegen die damals in Wien weilenden Brüder Schlegel u. deren romant. Schule auf. 1814 trat S. seine zweite Amtszeit (nach 1802–1804, als er Kotzebue nachfolgte) als Hoftheatersekretär u. Dramaturg der vereinigten k. k. Hoftheater an. Er führte das Burgtheater, von Joseph II. 1776 zum dt. »Nationaltheater« erhoben, zu einer ersten künstlerischen Blüte. Die Werke Schillers u. Goethes erhielten einen festen Platz im Repertoire, mit seinen Bearbeitungen Shakespeares u. der span. Klassiker setzte er neue Maßstäbe. Nicht zuletzt führte er auch die Dramen seines Freundes Grillparzer auf u. förderte u. a. den jungen Bauernfeld. S. formte das Burgtheater u. sein Publikum zu jener legendären Einheit, die zum Ideal einer jeden Theaterarbeit werden sollte. Seit S. bildete das Burgtheater die kulturelle Identifikationsbasis der geistigen Elite Österreichs. – Aufgrund von Meinungsverschiedenheiten mit dem Obersthofmeister Graf Czernin kam es im Mai 1832 zum Eklat u. zur Pensionierung S.s; erst die Direktion Laube (seit 1849) konnte den Verlust kompensieren. Die ersten literar. Werke S.s erschienen bereits während seines Aufenthalts in Jena u. Weimar: Das z. T. noch in Wien entstandene zweiaktige Lustspiel Die Wittwe nahm Schiller in seine »Neue Thalia« (1795, S. 254–330) auf; es behandelt das klass. Motiv eines Mannes zwischen zwei Schwestern. Fragment blieb der von Richardsons Clarissa inspirierte Briefroman Der Neue Teutsche Lovelace, der in Wielands »Neuem Teutschen Merkur« (1795/96) erschien u. einige Aufmerksamkeit erregte. S. veröffentlichte auch grundlegende Bearbeitungen, wie etwa Donna Diana (Wien 1819; nach Moreto), Das Leben ein Traum (Wien 1820) u. Don Gutierre (Wien 1834; beide nach Calderón). 1819–1832 redigierte S. das Taschenbuch »Aglaja«, in dem auch seine
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weiteren dramat. Versuche u. Erzählungen abgedruckt wurden, die, streng rational angelegt u. moralisierend, oft dem Autobiografischen bzw. der Reflexion verhaftet, erfolglos blieben. Eine der ersten anspruchsvollen Proben österr. Erzählprosa gelang S. mit der in ihrer Desillusions- u. Entsagungsthematik autobiografisch gefärbten Novelle Samuel Brink’s letzte Liebesgeschichte (in: Aglaja, 1820, S. 177–257), die er auch im Salon von Karoline Pichler vortrug. – Seine Charakterisierungskunst wurde von Grillparzer hoch gerühmt, der für S.s Grabstein die Worte wählte: »Stand jemand Lessing nahe, so war er’s.« Ausgaben: Ges. Schr.en. 4 Bde., Braunschw. 1829. – Tagebücher 1810–23. Hg. Karl Glossy. 2 Bde., Bln. 1903. – Ausgew. Werke. Hg. Ernst Braun. Wien 1910. Literatur: Eduard Castle: J. S. In: ADB 54. – Alexander v. Weilen: J. S. In: Ders.: Gesch. des k. k. Hofburgtheaters [...]. 2. Halbbd., Wien 1906, S. 1–89. – Karl Glossy: J. S. In: Ders.: Kleinere Schr.en. Wien 1918, S. 37–78. – Gertrude Kroiss: J. S.s ›Teutscher Lovelace‹. Diss. Wien 1933. – Gertrude Kittel: J. S. als Theaterkritiker u. Dramaturg. Diss. Wien 1938. – Rosa Kostrouch: S., Weimar u. Österr. Diss. Wien 1939. – Roger Bauer: La Réalité royaume de dieu [...]. Wien 1965. – Renate Schaider: Die Erzählungen J. S.s. Diss. Graz 1969. – Brigitte Hilzensauer: Das ›Sonntagsblatt‹. Ein Beitr. zur Romantikkritik in Österr. Diss. Wien 1976. – Elisabeth Buxbaum: J. S. Diplomarbeit Wien 1986. – Dies.: J. S. Förderer u. Freund Grillparzers. In: Jb. des Wiener Goethe-Vereins 96 (1992), S. 27–37. – Dies.: J. S. u. sein Beitr. zum literar. Leben in Österr. zur Zeit der Aufklärung. 2 Bde. Diss. Univ. Wien 1993. – Wilhelm Baum: Wien als letzter Zufluchtsort der Aufklärung. J. S. – die Philosophie Kants als Bollwerk gegen die ›Neue Schule‹ der Wiener Romantik. In: Bildung u. Einbildung. Vom verfehlten Bürgerlichen zum Liberalismus. Hg. Michael Benedikt. Klausen-Leopoldsdorf 1995, S. 283–302. – E. Buxbaum: J. S.: der Aufklärer im Beamtenrock. Wien 1995. – E. Buxbaum: J. S. In: ÖBL. – Ralph-Günther Patocka: J. S. In: NDB. Johannes Sachslehner / Red.
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Schreyvogl, Friedrich, auch: Friedl S., * 17.7.1899 Mauer bei Wien, † 11.1.1976 Wien; Ehrengrab: ebd., Zentralfriedhof. – Romanschriftsteller, Dramatiker, Lyriker, Essayist, Drehbuchautor, Dramaturg; Kulturpolitiker. S., ein Nachkomme Joseph Schreyvogels, studierte in Wien Staatswissenschaften (Dr. rer. pol. 1922). Erste Gedichtbände (Singen und Sehnen. Wien 1917. Klingen im Alltag. Wien 1918) stehen noch im Zeichen des Expressionismus. Während seines Studiums für den 1919 gegründeten Verlag »Wiener Literarische Anstalt« (WILA) tätig, war S. Mitbegründer des 1922 gegründeten »Kulturbunds«, dessen Funktionäre sich aus dem Umkreis der WILA rekrutierten. Mit dem Ziel, das »geistige Zusammenleben zwischen den Völkern zu fördern«, gewann der »Kulturbund« enorme Bedeutung für die »schleichende kulturelle Nazifizierung Österreichs« (Murray G. Hall). S., der aufgrund zahlreicher von religiöser Thematik geprägter Werke, etwa des Einakters Karfreitag (Wien 1920), des Zeitromans Der Antichrist (ebd. 1921), v. a. aber aufgrund des Essays Katholische Revolution (Lpz. 1924) im Ruf eines engagierten kath. Autors stand, spielte denn auch eine außerordentl. Rolle bei der Unterwanderung der österr. Literatur- u. Theaterszene durch die Nationalsozialisten: als Professor an der Staatsakademie für Musik u. Darstellende Kunst u. am Reinhardt-Seminar sowie als Konsulent der Österreichischen Staatstheater 1935–1938. Selbst dass die großangelegte Romanbiografie Grillparzer (Wien 1935. Jubiläumsausgabe 1955 u. d. T. Sein Leben ein Traum) ihren Helden ausschließlich als »deutschen Dichter« auftreten ließ, war ihm nicht hinderlich; 1935 wurde S. mit dem Julius-Reich-Preis ausgezeichnet. S. war im Vorstand der NS-Tarnorganisation »Bund der Deutschen Schriftsteller Österreichs« tätig u. bereitete gleichsam als Agent der Reichsschrifttumskammer den »Anschluss« auf kulturpolit. Gebiet vor (vgl. den programmat. Aufsatz am Ostersonntag 1938, Ein Sieg des Geistes. In: Neues Wiener Tagblatt, 17.4.1938). Zwischen 1940 u. 1944 erreichten seine Stücke, v. a. die Komödien
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Das Liebespaar (Lpz. 1940), Die kluge Wienerin (Lpz. 1941), Die weiße Dame (Bln. 1942) u. Titania (Lpz. 1943), über 4000 Aufführungen; neben Filmtreatments waren bes. auch die Romane erfolgreich: der 1938 in München erschienene Nibelungenroman Heerfahrt nach Osten (Neuaufl. u. d. T. Die Nibelungen. Bln. 1940), eine heroisch-myst. Hymne auf Kampf u. Tod, der 1941 in Berlin erschienene »Roman der Wiener Jahrhundertwende« Eine Schicksalssymphonie sowie der Wallenstein-Roman Der Friedländer (2 Bde., Bln. 1943), das zeitgemäße Porträt eines Machtmenschen. Dennoch gelang es S., auch in der Zweiten Republik zentrale kulturelle Positionen zu bekleiden. Eine neuerl. Hinwendung zu religiöser Thematik in dem Pilatus-Roman Der Sohn Gottes (Graz 1948) ebnete den Weg zurück: 1953/54 war er Chefdramaturg am Theater in der Josephstadt, 1954–1961 stellvertretender Direktor des Burgtheaters, ab 1952 auch wieder Mitgl. des österr. P.E.N.Clubs. Weitere Werke: Das Lebensspiel des Amandus. Zwölf Briefe an eine geliebte Frau. Wien 1920. – Aus unserer Seele. Wien 1920 (L.). – Der zerrissene Vorhang. Wien 1920 (D.). – Friedl. Welt. Wien 1920 (L.). – Auferstehung. Wien 1921 (D.). – Das Mariazeller Muttergottesspiel. Innsbr. 1924. – Österr., das dt. Problem. Köln 1925 (Ess.). – Der dunkle Kaiser. Wien 1926 (Schausp.). – Nationalismus u. Nation. Köln 1926 (Ess.). – Die geheime Gewalt. Wien 1928 (L.). – Johann Orth. Ebd. 1928 (D.). – Sinfonietta. Köln 1929 (D.). – Tristan u. Isolde. Lpz. 1930 (R.). – Die Entdeckung Europas. Lpz. 1931 (Ess.). – Liebe kommt zur Macht. Lpz. 1932 (R.). – Die hl. Familie. Mchn. 1933 (D.). – HabsburgerLegende. Wien 1933 (Ess.). – Tod in Genf. Lpz. 1933 (D.). – Georg verschenkt Millionen. Lpz. 1934 (Kom.). – Kleine Harmonielehre. Breslau 1935 (Ess.). – Brigitte u. der Engel. Wien 1935 (R.). – Der Gott im Kreml. Ebd. 1937 (D.). – Der Mann in den Wolken. Lpz. 1944 (N.). – Das fremde Mädchen. Mchn. 1955 (R.). – Zwischen Nacht u. Morgen. Wien 1955 (R.). – Die Dame in Gold. Wien 1957 (R.). – Wir Kinder Gottes. Hbg./Wien 1957 (L.). – Herausgeber: Franz Grillparzer. Werke in 2 Bdn. Salzb./ Stgt. 1958. – Ferdinand Raimund. Sämtl. Werke. Mchn. 1960. Literatur: Gerhard Niesner: F. S. Monographie. Diss. Wien 1959. – Klaus Amann: Der Anschluß österr. Schriftsteller an das Dritte Reich. Ffm. 1988, passim. – Wolfgang Nehring: Der ausgegrabene
Schriber Dichter. F. S.s Grillparzer-Roman u. der Grillparzer der Gegenwart. In: MAL 28 (1995), H. 3/4, S. 189–201. Johannes Sachslehner / Red.
Schriber, Margrit, * 4.6.1939 Luzern. – Erzählerin, Verfasserin von Theaterstücken u. Hörspielen. S. wuchs in Brunnen u. Küssnacht/Kanton Schwyz auf. Nach einer kaufmänn. Lehre war sie als Bankangestellte, Buchhalterin, Werbegrafikerin u. Fotomodell tätig. Heute lebt sie als freie Autorin in Zofingen/Kanton Aargau u. in der frz. Region Dordogne. Ihre Werke liegen in engl., frz., rumän. u. chines. Übersetzung vor. Die Anfänge ihres Schaffens liegen in den 1970er Jahren, der Zeit des literar. Durchbruchs vieler Schriftstellerinnen in der deutschsprachigen Schweiz. In ihren Texten legitimiert S. Inhalte, in denen einsame Frauen starken Willen nach Nähe u. Kontakt offenbaren, der Umwelt erwartungsvolle Fügsamkeit entgegenbringen u. sich zgl. ihrer Subjektposition bewusst sind. In dem Romanerstling Aussicht gerahmt (Frauenfeld 1976) kommt die Sensibilität u. Beobachtungsgabe einer jungen allein stehenden Frau zur Geltung. Dabei wird das Fenster als ein Ausblicksort situiert – ein Punkt, der aus enger Wohnungsrealität ins Freie führt, die nahe u. ferne Umgebung in deren unscheinbaren u. schmucklosen Dimensionen wahrnehmen u. reflektieren lässt. Ein anderes Bild der weibl. Empfindsamkeit liefert S.s zweiter Roman Kartenhaus (ebd. 1978), ein Werk über die Arbeit des Gedächtnisses einer Frau, die sich ihrer Kindheit als eines Komplexes von labilen Bildern u. Träumen erinnert – des titelhaften, aus Karten aufgebauten Häuschens, das bei einem Impuls von außen zusammenfallen kann. Die wahre Existenzproblematik spürt S. im banalen Alltag auf. Dieser Logik folgend, stellt sie im Roman Muschelgarten (Zürich 1984) das gescheiterte Leben zweier Frauen dar: einer geistreichen, dem Alkoholismus verfallenen, die nicht die Kraft hat, sich dem tägl. Lauf der Dinge zu stellen, u. der anderen, die aus egoistischen Gründen bemüht ist, sich jene fügsam zu machen, um in den Besitz ihres Vermögens
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zu kommen. Die Figur einer soziale Marginalität duldenden Frau enthält auch der Roman Tresorschatten (Zürich 1987), in dem der Banktresor eine Metapher für die gewollte, Geborgenheit versprechende Isolation ist. AugenWeiden (Zürich 1990) bietet ein antithet. Bild von konform Lebenden, die für bürgerl. Ordnungsfunktion stehen, u. andererseits von denen, die soziale Rollen verweigern. In den Mittelpunkt der Darstellung schiebt sich im Laufe der Handlung ein im Zeichen Nabokovs konstruiertes Paar, das sich durch den Körper u. die Intensität des Reizes ausdrückt: ein alternder, mit verrinnender Lebenszeit konfrontierter Steinesammler u. eine Kindfrau mit dem ihr eigenen ambivalenten, sich bald naiv, bald wieder verführerisch gebenden Profil. In Schneefessel (Zürich/Frauenfeld 1998), einem weiteren, das Zeitbewusstsein aktualisierenden Roman, dem Bild eines Bergdorfs mit weißer Schneefläche, Kurhaus u. gegensätzl. Lebensvorstellungen, tritt die Sehnsucht nach Modernität auf, einer Welt weit weg von der lokalen, in Opposition zur Bindung an das Vergangene, an rustikale, sozialmoralische Bande. Ein besonderer Rang in S.s Gesamtwerk gebührt dem Kurzroman Das Lachen der Hexe (Mchn./Wien 2006); der Vergleich mit Eveline Haslers Anna Göldin. Letzte Hexe liegt auf der Hand. Die Symptome der Zeit mitberücksichtigend, erzählt S. die Geschichte einer selbstbewussten Schweizerin aus dem 18. Jh., die wegen ihrer aktiven Lebensführung u. sozialen Rollen von den Mitbürgern als Hexe, als Andere stigmatisiert u. unter unklaren Umständen in einem Gefängnis tot aufgefunden wird. Die Autorin strebt nicht eine histor. Rekonstruktion von Fakten an, obwohl sie sich beim Schreiben mit bekannten Fällen von Ketzerei u. entsprechenden Gerichtsprozessen vertraut machte, um dem Kolorit der Epoche gerecht zu werden. Im Roman Die hässlichste Frau der Welt (Zürich 2009) führt das Schicksal zwei Frauen zusammen, die mit ihrem Aussehen für Gegenwelten stehen: die der im Titel angedeuteten Missgestalt u. die der Schönheit. Was den beiden Arten von weibl. Habitus zuteil wird, ist die Schau- u. Spottlust des trivialen,
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einen Anderen weiter nichts als Sensationsobjekt betrachtenden Publikums. Weitere Werke: Ein wenig Lärm im Keller. Basel 1977 (Monodrama). – Ausser Saison. Frauenfeld/Stgt. 1977 (E.n). – Vogel flieg. Ebd. 1980 (R.). – Luftwurzeln. Ebd. 1981 (E.n). – Rauchrichter. Zürich 1993 (R.). – Von Zeit zu Zeit klingelt ein Fisch. Ebd. 2001 (E.n). – Die Kastenvögtin. Urauff. Bühne Fasson. Lachen 2004 (Theaterstück). – Die falsche Herrin. Mchn. 2008 (R.). – Hörspiele: Ein Platz am Seitenpodest. In: manuskripte 18 (1978) H. 60, S. 16–25. Radio DRS/ORF/RAI 1978. – An einem solchen Tag. Radio DRS/ORF 1980. – Tambourinschlag. Radio DRS/ORF/RAI 1982. – Entschuldige. Radio DRS/ORF, Slowakei 1984. Literatur: Benita Cantieni: Schweizer Schriftsteller persönlich. Interviews. Frauenfeld/Stgt. 1983. – Hardy Ruoss: M. S. ›AugenWeiden‹. In: Antworten. Die Lit. der deutschsprachigen Schweiz in den achtziger Jahren. Hg. Beatrice v. Matt. Zürich 1991, S. 306–308. – Linda M. Hess-Liechti: ›Das Gefängnis geht nebenan weiter ...‹. Studien zur mentalen Gefängnis- u. Befreiungsthematik in Prosatexten von Margrit Baur, Maja Beutler u. M. S. Stgt. 1996. – Marc Aeschbacher: Vom Stummsein zur Vielsprachigkeit. Vierzig Jahre Lit. aus der dt. Schweiz (1958–1998). 2., überarb. Aufl. Bern u. a. 1998. – Monika v. Aufschnaiter: M. S. In: LGL. – Anton Krättli u. Axel Ruckaberle: M. S. In: KLG. Zygmunt Mielczarek
Schröder, Friedrich (Ulrich) Lud(e)wig, * 2.11.1744 Schwerin, † 3.9.1816 Rellingen bei Hamburg; Grabstätte: Hamburg, Ehrengrab auf dem Ohlsdorfer Friedhof (umgebettet). – Schauspieler, Theaterdirektor, Dramatiker. Als Sohn des Berliner Organisten Johann Diedrich Schröder u. der Schauspielerin Charlotte Schröder (spätere Ackermann) verbrachte S. seine Kindheit überwiegend auf Wanderschaft mit der Schauspieltruppe seines Stiefvaters Konrad Ernst Ackermann. Als Dreijähriger stand er in St. Petersburg zum ersten Mal auf der Bühne, als Zehnjähriger spielte er die Arabella bei der Uraufführung von Lessings Miß Sara Sampson. Erziehung u. Ausbildung empfing er unregelmäßig. Der junge S. widmete sich zunächst vornehmlich als Tänzer dem Ballett, übernahm aber zgl. kom. Bedientenrollen in Ackermanns Truppe, die sich 1764 in Hamburg niederließ.
Während der durch Lessing berühmt gewordenen Periode der Hamburger Entreprise (1767/68) hatte sich S. dem als Stegreifspieler der Wiener Tradition bekannten Joseph von Kurz-»Bernardon« in Mainz angeschlossen. Mit der Rückkehr zur Truppe des Stiefvaters begann S.s Aufstieg als Schauspieler in den unterschiedlichsten Rollenfächern. Bald wurde ihm von Ackermann die künstlerische Leitung übertragen, die S. nicht zuletzt in krit. Auseinandersetzung mit dem bis dahin dominierenden Konrad Ekhof, der seit 1764 der Truppe angehörte u. sie nun verließ, angestrebt hatte. Nach Ackermanns Tod (1771) übernahm S. die Leitung des Hamburger Theaters. Auf diese erste Direktion (bis 1780) gründet sich vornehmlich S.s überragende theatergeschichtl. Bedeutung im 18. Jh. Dramaturgisch Schüler Lessings u. Diderots, schauspieltheoretisch Anhänger Francesco Riccobonis u. Bewunderer David Garricks, setzte S. als erster den neuen, am Grundsatz einer »naturwahren« Menschendarstellung orientierten Schauspielstil durch u. arbeitete an der Perfektionierung der Illusionsregie: Er schaffte z. B. die normierte Gebärdensprache ab, trainierte mit dem Ensemble Ausdrucksgesten u. stummes Spiel u. beseitigte das Enface-Sprechen. Damit einhergehend arbeitete S. an einer Spielplanreform, die trotz Konzessionen an das auf leichte Unterhaltung fixierte Publikum literarisch ambitioniert war. S. gründete die Hamburger Gesellschaft der Theaterfreunde, in der neben den Shakespeare-Dramen in Wielands Übersetzung auch Herders Programmschrift Von deutscher Art und Kunst u. die neuen Dramen des Sturm und Drang gelesen wurden. Der Spielplanreform diente auch die »Hamburger Preisausschreibung« (1775), durch die dt. Autoren ermutigt werden sollten, für die Bühne zu schreiben. Bevorzugt wurden Prosadramen u., bei Übersetzungen, weitgehend den dt. Verhältnissen angepasste Stücke. Die Alexandrinertragödie nach frz. Muster verschwand aus dem Repertoire; statt dessen dominierte unter S.s Direktion das bürgerl. Trauerspiel. Zugleich verhalf S. durch dramaturgische Bearbeitung den von der Kritik zunächst als Lesedramen abgestempelten
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Stücken des Sturm und Drang zur Bühnenpräsenz, so Goethes Götz, Wagners Reue nach der That, Klingers Zwillingen u. Lenz’ Hofmeister. S.s bedeutsamste Tat war die Einbürgerung Shakespeares auf der dt. Bühne. Angespornt vom Erfolg seiner Hamlet-Inszenierung (Hamburger Premiere 20.9.1776), brachte S. zwischen 1776 u. 1779 Othello, den Kaufmann von Venedig, Maß für Maß, König Lear, Richard II., Heinrich IV. u. Macbeth zur Aufführung, die jedoch nicht alle gleichermaßen erfolgreich waren. Dass sich die Dramen Shakespeares, die bis dahin als unspielbar gegolten hatten, nun auf der dt. Bühne durchsetzten, ist einerseits S.s neuem Schauspielstil zu verdanken, andererseits aber seiner Bearbeitung der Stücke, die sowohl der Illusionsregie als auch dem bürgerl. Erwartungshorizont des 18. Jh. gerecht zu werden versuchte, indem z. B. Handlungen konzentriert, Ortswechsel eingeschränkt, Motivationen psychologisch verdeutlicht, Charaktere moralisch stärker akzentuiert u. tragische Schlüsse gemildert wurden. Gastspiele in Berlin, Wien, München u. Mannheim (1779/80) sorgten dafür, dass S.s Schauspielreform u. seine ShakespeareInszenierungen auf den wichtigsten dt. Theatern bekannt wurden. 1773 hatte S. die Schauspielerin Anna Christina Hart geheiratet. Mit ihr ging er 1781 nach Wien (bis 1785), wo er am Burgtheater nicht nur seinen Ruf als überragender Schauspieler festigte, sondern auch der meistgespielte Autor war. Den größten Teil seines umfangreichen dramat. Werks bilden Übersetzungen, Bearbeitungen u. Umarbeitungen engl., frz. u. ital. Stücke. Neben den Goldoni-Bearbeitungen Der Hofmeister oder das Muttersöhnchen (Wien 1780) u. Der Diener zweyer Herren (Schwerin/Wismar 1794) waren vor allem S.s freie Bearbeitungen engl. Komödien von John Fletcher, William Congreve, Richard Cumberland, Oliver Goldsmith, Richard B. Sheridan, George Farquhar u. anderen erfolgreich; dies nicht zuletzt deshalb, weil S. den Charakter der Vorlagen meist stark veränderte, um sie dem Typus des bürgerl. Rührstücks anzunähern. Am reinsten ist dieser in S.s bekanntestem Originalschauspiel, Der Vetter in Lissabon. Ein bürgerliches Fa-
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milien-Gemälde (Bln. 1786), verwirklicht, das nach Ludwig Tieck als »der Vater und Stammherr so vieler Ifflandischen und Kotzebuischen Familiengemälde« anzusehen ist. Die Handlung macht dem bürgerl. Zuschauer Identifikationsangebote: Es geht um die Wiederherstellung der aufgrund väterl. Autoritätsschwäche gestörten Familienordnung durch das Auftreten eines idealen Vertreters der Hausvaterrolle: des sowohl reichen als auch moralisch vorbildl. Vetters aus Lissabon. Nach Hamburg zurückgekehrt, übernahm S. 1786 erneut die Direktion des Theaters. Ein Versuch, Schiller als Theaterdichter für Hamburg zu gewinnen, scheiterte. Kotzebues Stücke gewannen nun Dominanz im Spielplan, u. S. kam den Wünschen des Publikums mit prunkvoll ausgestatteten Opern entgegen. 1793 gründete er, der sich von Beginn an für die soziale Hebung u. Absicherung des Schauspielerstandes eingesetzt hatte, eine Pensionsanstalt für Schauspieler. – Am 18.3.1796 nahm S. in seiner Glanzrolle als Odoardo Galotti offiziell Abschied von der Hamburger Bühne u. zog sich 1798 auf seinen Landsitz in Rellingen zurück. Die für Zeitgenossen u. Nachfahren unbestrittene Bedeutung S.s als Schauspieler u. Theaterleiter gründet sich auf die Durchsetzung eines realistischen Schauspielstils, die Einbürgerung Shakespeares auf der dt. Bühne, seinen Einsatz für die Sturm-und-DrangDramen u. sein Bestreben, »den Deutschen wenigstens ein Bild einer wahren Nationalschaubühne aufzustellen« (Karl August Böttiger in: Minerva für 1818. Lpz. 1818). S.s dramat. Produktion ist von ephemerer Bedeutung. Immerhin geben seine Bearbeitungen u. Originalschauspiele rezeptionsgeschichtlich wichtige Aufschlüsse über Konventionen des bürgerl. Illusionstheaters in einer seiner bedeutsamsten Phasen. Ausgaben: S.s dramat. Werke. Hg. Eduard v. Bülow. Einl. Ludwig Tieck. 4 Bde., Bln. 1831. – Herausgeber: Hamburgisches Theater. 4 Bde., Hbg. 1776–79. – Beytrag zur dt. Schaubühne. 3 Bde., Bln. 1786–90. – Slg. v. Schausp.en für’s Hamburgsche Theater. 4 Bde., Schwerin/Wismar 1790–94. Literatur: Johann Friedrich Schink: S.s Charakteristik als Bühnenführer, mim. Künstler, dra-
591 mat. Dichter u. Mensch. Lpz. 1818. – Friedrich Ludwig Wilhelm Meyer: F. L. S. [...]. 2 Tle., Hbg. 1819. – Berthold Litzmann: F. L. S. [...]. 2 Bde., Hbg./Lpz. 1890 u. 1894. – Alexander v. Weilen (Hg.): Der erste dt. Bühnen-Hamlet. Die Bearb.en Heufelds u. S.s. Wien 1914. – Else Pfenniger: F. L. S. als Bearbeiter engl. Dramen. Diss. Zürich 1919. – Paul Felix Hoffmann: F. L. S. als Dramaturg u. Regisseur. Bln. 1939. – Dieter Hoffmeier: Ästhet. u. method. Grundlagen der Schauspielkunst F. L. S.s. Dresden 1955. – Dieter Hadamczik: F. L. S. in der Gesch. des Burgtheaters. Bln. 1961. – Horst Albert Glaser: Das bürgerl. Rührstück. Stgt. 1969. – Christian Hannen: ›Zeigtest uns die Warheit von Kunst erreicht‹. Das Stammbuch des Hamburger Schauspieldirektors F. L. S. (1744–1816). Kommentierte Ed. u. Untersuchungen. Münster 2004. – Ulrike Krone-Balcke: F. L. S. In: NDB. Wolfgang Ranke
Schroeder Bln. 1929 (R.). – Familie Markert. 2 Bde., Bln. 1931 (R.). – Klasse im Kampf. Bln. 1932 (R.). – Herausgeber: Franz Mehring: Dt. Gesch. vom Ausgange des MA. Bln. 1946. – Ders.: Die Lessing-Legende. Bln. 1946. Literatur: Diethart Kerbs: K. S. In: NDB. Christina Burck / Red.
Schroeder, Margot, * 29.4.1937 Hamburg. – Verfasserin von Romanen, Lyrik, Jugend- u. Kinderbüchern sowie Hörspielen.
S., Mitbegründer der linksradikalen Kommunistischen Arbeiterpartei Deutschlands (KAP), wechselte bald zur SPD über u. war als Wanderlehrer u. Journalist tätig. 1928–1932 übernahm er das Lektorat der sozialdemokratischen Buchgemeinschaft »Der Bücherkreis«, die seit 1924 zusammen mit der »Büchergilde Gutenberg« (Leipzig) dt. u. internat. Editionen der Arbeiterliteratur förderte. S. erweiterte das Programm des »Bücherkreises« um Romane von Mitkämpfern aus seiner kommunistischen Vergangenheit (Adam Scharrer: Aus der Art geschlagen. 1930. Franz Jung: Hausierer. 1931). Als polit. Häftling war S. während der NSZeit mehrere Jahre im Konzentrationslager inhaftiert (Die letzte Station. Bln. 1947. Bremen 1995; autobiogr. R.). Nach dem Krieg leitete er zeitweise die Volkshochschule in Neukölln u. arbeitete im Verlagswesen. Seine Romane verstand S. als »Klassenstudien für einen Gesellschaftsroman der Gegenwart« (Aktiengesellschaft Hammerlugk. Bln. 1928). Sein inhaltl. Ziel, die Erziehung zum Klassenkämpfer darzustellen (Der Sprung über den Schatten. Bln. 1928), dominiert dabei formalästhetische Aspekte.
Die gelernte Buchhändlerin ist seit 1975 als freie Schriftstellerin tätig. S. wurde bekannt durch ihren Roman Ich stehe meine Frau (Ffm. 1975). Die Geschichte einer Supermarktkassiererin, die eine Bürgerinitiative organisiert, stellt nicht nur die Zwänge der Arbeitswelt, sondern auch die des weibl. Lebenszusammenhangs mit Mehrfachbelastung u. den Implikationen einer patriarchalen Ehe dar. Mit ihrem zweiten Roman, Der Schlachter empfiehlt noch immer Herz (Mchn. 1976), der innerhalb der Frauenbewegung spielt, konzentriert sich S. auf die Darstellung der Situation der Frauen in der Gesellschaft. Beide Romane wollen zum Handeln ermutigen u. direkte Handlungsanweisungen geben. S.s Neigung zu Sprachspielen bildet demgegenüber ein gewisses künstlerisches Gegenelement. Beide Romane wurden in ihrer Bedeutung für die Geschichte der Frauenliteratur der 1970er Jahre gewürdigt. In ihrem dritten Roman, Die Vogelspinne. Monolog einer Trinkerin (ebd. 1982), greift S. ein tabuisiertes Thema auf: Alkoholismus bei Frauen. Wenn die Holzpferde lachen (Bremen 1985) ist ein Roman voll skurriler Personen u. Episoden mit der Hoffnung auf die realitätsverändernde Kraft der Fantasie. Auch in ihrem 1998 erschienenen Roman Oktobertee (Düsseld.) wenden sich ihre Figuren gegen gängige Gesellschaftsregeln. Mit den Gedichtbänden Haltlose Tage (ebd. 1993), Ausweg blau (ebd. 1995) u. Ohne Türgriff die Momente (ebd. 2005) experimentiert S. mit lyr. Sprachspielen. Desweiteren veröffentlichte sie Kinder- u. Jugendbücher.
Weitere Werke: J. G. Schnabels ›Insel Felsenburg‹. Diss. Marburg 1912. – Die Gesch. Jan Beeks.
Weitere Werke: die angst ist baden gegangen. poem. Bln. 1976. 21979. – Wiederkäuer. Prosa u.
Schröder, Karl (Bernhard Fritz), auch: Karl Wolf, * 13.11.1884 Bad Polzin/Pommern, † 6.4.1950 Berlin. – Romanautor.
Schröder Gedichte. Hbg. 1977. – nichts fällt nach oben. poem. Bln. 1981. – Nulpen-Tulpen. Nonsensgedichte. Düsseld. 2001. Literatur: Ricarda Schmidt: Westdt. Frauenlit. in den 70er Jahren. Ffm. 1982. – Margret Brügmann: Amazonen der Lit. Studien zur deutschsprachigen Frauenlit. der 70er Jahre. Amsterd. 1986. – Sigrid Weigel: Die Stimme der Medusa. Schreibweisen in der Gegenwartslit. v. Frauen. Dülmen-Hiddingsel 1987. – Ursula Kirchhoff: M. S. In: KLG. Lieselotte Voss / Sonja Schüller
Schröder, Rudolf Alexander, * 26.1.1878 Bremen, † 22.8.1962 Bad Wiessee. – Lyriker, Übersetzer, Essayist; Architekt. Den Bremer Kaufmannssohn aus protestantischem Patriziergeschlecht, künstlerisch vielseitig begabt u. interessiert, verband schon in den Gymnasialjahren eine Freundschaft mit Heinrich Vogeler. S. studierte in München Architektur, Musik u. Kunstgeschichte. In frühreif geistreicher Urbanität gerierte er sich gern als Gesellschaftslöwe, suchte u. fand Bekanntschaft mit Franz von Stuck u. Otto Julius Bierbaum, Julius MeierGraefe u. Rudolf Borchardt; im Febr. 1900 lernte er Harry Graf Kessler u. Hofmannsthal kennen, mit dem ihn dann eine enge Freundschaft bis zu dessen Tod verband – S. hielt 1929 die Trauerrede auf Hofmannsthal in dessen Rodauner Haus. Zusammen mit dem gleichaltrigen, von S.s reichem Onkel adoptierten »Vetter« Alfred Walter Heymel u. mit Bierbaum gründete S. im Okt. 1899 die Zeitschrift »Die Insel«, aus welcher der Insel Verlag hervorging; nach knapp zwei Jahren verließ er die Redaktion jedoch. S.s erste Gedichtveröffentlichungen, Unmut (Lpz. 1899) u. Empedokles (Mchn. 1900; Hofmannsthal gewidmet u. von Heymel als Privatdruck in kleiner Auflage herausgebracht), sind bei aller Weltoffenheit geprägt von »quälender Angst, am Eigentlichen, am Entscheidenden vorbeigeführt zu werden« (Carl Jacob Burckhardt). Auffallend in den Münchner u. dann auch Berliner Jahren (1905–1908), in denen er u. a. mit Rilke, Gerhart Hauptmann, Max Reinhardt u. Tilla Durieux bekannt wurde, ist der Widerstreit von Anerkennungsbedürfnis auf der einen Seite u. einer elitären
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Veröffentlichungspraxis in kunstvoll gestalteten, teuren Ausgaben, die nie ein breiteres Publikum erreichten, auf der anderen Seite. Die oft bis zum Derben heitere Weltfreudigkeit setzte sich durch gegen die »Darstellung seelischer Widerwärtigkeiten«, die S. selber rückblickend in den frühen Gedichtbänden, wohl auch in Die Zwillingsbrüder u. Hama (beide Lpz. 1908), fand, während Hofmannsthal an den frühen Dichtungen seines Freundes schätzte, dass »nichts als die Reinheit ihrer Klage, und nichts von der Bitternis ihrer Klage, in die Seele fällt«. S.s Ausdrucksformen sind Lyrik (Elegie u. Sonett), Aufsatz u. Rede im Gesprächston größter Natürlichkeit. Besonders in der ersten Lebenshälfte ist es eine ungehemmte, mühelose lyr. Produktion von ästhetisierender Artistik, in Form u. Inhalten den geistigen Traditionen des Abendlandes, den tragenden Kräften Antike, Christentum, Humanismus verpflichtet. Es war ihm existentielles Bedürfnis, diese Traditionen zu beleben u. zu erklären. S.s größte literar. Leistung sind zweifellos die Übertragungen von Dichtungen des griechisch-röm. Kulturkreises (Homer, Horaz, Vergil), der frz. (Corneille, Racine, Molière) u. engl. Klassiker (Shakespeare), die ihn sein Leben lang beschäftigt haben. Noch drei Jahre vor seinem Tod hat er, zuletzt fast erblindet, Macbeth übersetzt. S. machte sich Sorgen über die Mühelosigkeit u. Leichtigkeit seiner dichterischen Produktion. Rilke kritisierte »das Ausweichende, Unterdrückende, das gleichsam bis zum Durchscheinen Dünngehämmertsein seines Materials«. Seine Übersetzungen sah S. dagegen als »Zeugnisse höherer Geselligkeit«, bewusst als »Widerstand« den »centrifugalen Lebensumständen« u. dem »Vielerlei« der eigenen Dichtung entgegengesetzt. Als Architekt war S. sehr erfolgreich, v. a. mit Entwürfen für Inneneinrichtungen herrschaftl. u. Künstlerhäuser, von öffentl. Gebäuden (Bremer Rathaus) u. auch Ozeandampfern. Auf die Frage an den Dichter nach seinem gelungensten Werk hat er im Alter einmal (vielleicht nicht ganz ernsthaft) den Speisesaal der »Bremen« genannt. In den 1920er Jahren beschäftigten ihn fast ausschließlich Architekturaufträge; 1931 stellte
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er abrupt diese Tätigkeit ein, um sich ganz Renner u. a. Würzb. 1991, S. 73–93. – Christian dem literar. Leben widmen zu können. Er war Klotz: ›Gemeißelt unser Widerstreben‹. Widergefragt als Laudator in Festschriften u. wurde standssignale in R. A. S.s Woestijne-Übers.en. In: der dt. Festredner schlechthin für große lite- Aspekte der künstler. inneren Emigration 1933–1945. Hg. Claus-Dieter Krohn u. a. Mchn. rar. Anlässe. 1994, S. 114–125. – Ernst Zinn: R. A. S.s ÜbertraWährend des Ersten Weltkriegs arbeitete S. gungen aus Horaz. In: Ders.: Viva Vox. Röm. als Zensor im dt. Generalkommando in Klassik u. dt. Dichtung. Ffm. u. a. 1994, Brüssel u. erschloss dem dt. Lesepublikum S. 457–462. – Marion Heide-Münnich: Homo viadie fläm. Literatur. S.s Wendung zum christl. tor. Zur geistl. Dichtung R. A. S.s. Ffm. u. a. 1996. – Glauben nach dem Krieg manifestiert sich in Karl-Friedrich Wiggermann: R. A. S. (1878–1962). seinen geistl. Dichtungen: Das Wunder (Lpz. Ein Genie der Humanität. In: Ders.: Vertraut den 1925), Herz im Herzen (ebd. 1928) u. Mitte des neuen Wegen. Dichter des 20. Jh. im Evang. Gesangbuch. Stgt. 1996, S. 40–60. – Kai Kauffmann: Lebens (ebd. 1930). Die Nationalsozialisten verboten S. öffentl. Stilmuster. Rudolf Borchardt u. R. A. S., die InselZtschr. u. das Hesperus-Jb. In: Jugendstil u. KulAuftritte; er begann nach seinem Umzug turkritik. Zur Lit. u. Kunst um 1900. Hg. Andreas 1936 von Bremen nach Oberbayern eine Tä- Beyer u. Dieter Burdorf. Heidelb. 1999, S. 195–212. tigkeit als Prediger; 1942 wurde er Lektor der – Ingeborg Scholz: Dt. Lyrik im Spannungsbogen evang.-luth. Kirche in Bayern. Nach dem zwischen Kunst u. Religion. Werner Bergengruen Krieg machte er die Deutschen mit der engl. u. R. A. S. Bonn 2002. – Stefan Jordan: R. A. S. In: Gegenwartsdramatik bekannt (u. a. Eliots NDB. Arnd Rühle / Red. Mord im Dom. 1946). In seinen letzten Jahren wurde S. verehrt als Nestor der Weltliteratur, Schröder, Wilhelm, * 23.7.1808 Oldenals Bewahrer von Traditionen u. als Reprädorf bei Stade, † 4.10.1878 Leipzig. – sentant mehrerer Dichtergenerationen. EiniNiederdeutscher Erzähler. ge seiner geistl. Lieder wurden ins EvangeliNach dem Philosophie- u. Philologiestudium sche Kirchengesangbuch aufgenommen. Weitere Werke: Rudolf Borchardt – R. A. S. in Leipzig ging der Lehrersohn 1837 nach Briefw. 1901–1945. In Verb. mit dem Rudolf-Bor- Hannover u. arbeitete dort als Journalist u. chardt-Archiv bearb. v. Elisabetta Abbondanza. 2 Theaterkritiker. 1840 gründete er das »HanBde., Mchn./Wien 2001. – Rudolf Borchardt – R. A. noversche Volksblatt«, in dem er anonym sein S. Briefw. 1919–1945. In Verb. mit dem Rudolf- bekanntestes Werk, die Fabel vom Wettlopen Borchardt-Archiv bearb. v. E. Abbondanza. Mchn./ twischen dem Hasen un dem Swinegel up de lüttge Wien 2001. – ›Mit Claudius geht es mir eigenbi Buxtehude, veröffentlichte. Diese Bearbeitümlich‹. Kleiner Briefw. zwischen R. A. S. u. tung u. neue Lokalisierung der mittelalterl. Werner Kraft. Hg. Klaus Goebel. Kiel 2009. Tiergeschichte von der Übertölpelung des Literatur: Rudolf Adolph (Hg.): Leben u. Werk Hasen durch ein Igelpaar wurde 1843 in die von R. A. S. Ein Brevier. Ffm. 1958. – Borchardt, Heymel, S. Kat. der Ausstellung des DLA im Schil- Märchensammlung der Brüder Grimm überler-Nationalmuseum Marbach 1978 (mit Bibliogr.). nommen, was dem Text nachhaltige Popula– Guillaume van Gemert: Ludolf Wienbarg, R. A. S. rität sicherte; zahlreiche Übersetzungen u. u. Vondel. Die dt. Fassungen des ›Rynstroom‹. In: Übertragungen in andere Mundarten zeugen Grenzgänge. Lit. u. Kultur im Kontext. Hg. ders. u. davon. S. blieb dem Stoff zunächst treu u. Hans Ester. Amsterd. 1990, S. 201–233. – Kent W. veröffentlichte u. d. T. Swinegels lebenslop un Hooper: R. A. S.: Nationalist Poetry and Flemish Enne in’n Staate Muffrika eine GesellschaftssaLiterature. In: The Ideological Crisis of Expressio- tire über einen einfältigen Emporkömmling, nism. The Literary and Artistic German War Colony der es durch polit. Opportunismus u. Bestein Belgium 1914–1918. Hg. Rainer Rumold u. O. K. chung vom armen Häusler zum Minister Werckmeister. Columbia 1990, S. 75–95. – Gisbert bringt. Dieser Sarkasmus in plattdt. Mundart Kranz: Das gläubige Weltkind. R. A. S. (1878–1962). In: Ders.: Begegnungen mit Dichtern. fand jedoch ebenso wenig die Gunst des PuWuppertal 1990, S. 9–17. – Richard Exner: ›Dieses blikums wie S.s in weiten Teilen unpolit. ganze Netz v. Freundschaften‹. Das große Beispiel Sammelwerk Haideland un Waterkant (5 Bde., R. A. S. In: Hugo v. Hofmannsthal. Hg. Ursula Bln. 1871/72).
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Nach 1866 ergriff S. eindeutig Partei für die Preußen, musste das welfisch gesinnte Hannover verlassen u. siedelte sich in Leipzig an. Sein ausschließlich auf tagesaktuelle Stoffe bezogenes Spätwerk (z. B. die Erzählung De plattdütsche Bismarck. Lpz. 1878) ist ohne Nachwirkung geblieben. S. zählt dennoch zu den Begründern der Renaissance des Niederdeutschen als Literatursprache in der Mitte des 19. Jh. Weitere Werke: Swinegels Reise nach Paris als Friedensstifter. Lpz. 1870. – Snaken un Snurren. Bln. 1872. – De plattdütsche Sprückwörderschatz. Lpz. 1874. – Dt. Freiheitskämpfer u. eine Tochter Hamburgs. Lpz. 1878. Literatur: Krause: W. S. In: ADB. – Martin Jank: Buxtehude stellt vor, W. S.: 1808–1878; Autor des Volksmärchens ›Dat Wettloopen twischen den Swinegel un den Haasen up de lütje Haide bi Buxtehude‹. Buxtehude [1978]. Jörg Schilling
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pidarer Sprache u. mit Mitteln der Überzeichnung schildert S. in auktorialer Erzählhaltung die Trostlosigkeit der alltägl. Freizeit. Das patholog. Bedürfnis des Protagonisten nach Depersonalisation spiegelt en miniature eine Unterhaltungsgesellschaft wider, die unter dem Diktat fortschreitender Vergesellschaftung jede Persönlichkeitsentfaltung auf die Befriedigung elementaren Bedürfnisses einschränkt. Dronte, S.s Debüt als Erzähler, wurde von der Kritik positiv aufgenommen. Man betonte die gelungene Aktualisierung literar. Motive (Flaneur, Großstadt), seinen Blick für soziale Themen u. den formbewussten, reflektierten Stil. Weitere Werke: Die Superspinne. ZDF 1974 (Fernsehsp.). – Traum-Mörder. 1978 (D. u. Hörsp.). Waldemar Fromm / Jürgen Egyptien
Schröer, Gustav, * 14.1.1876 Wüstegiersdorf/Schlesien, † 17.10.1949 Weimar. – Schröder, Wolf Christian, * 6.12.1947 Romanautor, Heimatschriftsteller. Bremen. – Erzähler, Verfasser von Fern- Der Sohn eines Maschinenschlossers, zuseh-, Hörspielen u. Dramen, Übersetzer. nächst Lehrer, seit 1922 Schriftleiter des S. verbrachte seine Schulzeit in England. Er studierte in Berlin Slawistik, Psychologie u. Soziologie. Nach dem Abschluss blieb er in Berlin, wo er heute als freier Schriftsteller u. Übersetzer lebt. Zu den Autoren, die S. übersetzte, gehören u. a. Nikolai Gogol, Alexander Ostrowski, Isaak Babel u. Viktor Slawkin. Aus dem von ihm übersetzten Briefwechsel zwischen Anton Tschechow u. Olga Knipper arrangierte er ein zweiteiliges Hörspiel (DR Berlin 2003). Seit 1992 verfasst S. Theaterstücke (u. a. Hechinger. Urauff. 9.10.1997 Hamburg); 2010/11 schrieb er Drehbücher für die TV-Serie Ein Fall für zwei. S.s literar. Arbeiten beschreiben psych. Auswirkungen einer reizüberfluteten u. sinnentleerten Alltagswelt auf zwischenmenschl. Beziehungen. Die Vorliebe für einen distanzierten Stil, der, einem Experiment gleich, von einer zentralen Einsicht aus Variationen des Ausgangspunkts durchspielt, kennzeichnet auch die Drehbücher S.s (z. B. Elisabeths Kind. ZDF 1981). In der parabolisch angelegten Erzählung Dronte (Ffm. 1980) wählt S. eine Kunstfigur zur Hauptfigur, die keine Identifikation des Lesers zulässt. In la-
»Thüringischen Landbundes« u. freier Schriftsteller in Weimar, veröffentlichte eine große Zahl volkstüml. Romane, vielfach ohne literar. Anspruch, in kleinstädt. u. bäuerl. Milieu angesiedelt, die sich auf Landschaft u. Kultur seiner unmittelbaren Umgebung bezogen (Der Heiland vom Binsenhofe. Lpz. 1918). Auch histor. u. zeitgeschichtl. Themen bearbeitete er in realistischer Manier – so in Volk im Schmiedefeuer (Gütersloh 1934) u. Wir lassen uns nicht unterkriegen (ebd. 1934) –, wobei vielfach naive Heimatverbundenheit u. der unbeirrbare Kampf um die eigene Scholle bzw. für das dt. Volkstum betont werden. Weitere Werke: Peter Lorenz. Lpz. 1918 (E.). – Die Leute aus dem Dreisatale. Lpz. 1920 (R.). – Heimat wider Heimat. Gütersloh 1928 (R.). – Um Mannesehre. Ebd. 1932 (R.). – Die Lawine v. St. Thomas. Ebd. 1939 (R.). Wolfgang Weismantel
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Schrönghamer, Franz (seit 1900 Schröng- Schroers, Rolf (Bernhard), auch: Georg hamer-Heimdal), * 12.7.1881 Marbach/ Plaaten, Guido Polino, Bernhard Girmes, Bayerischer Wald, † 3.9.1962 Passau. – Z. O. Gellmann, * 10.10.1919 Neuss, Erzähler. † 8.5.1981 Altenberge bei Münster/Westfalen. – Erzähler, Hörspielautor, Biograf, Der Bauernsohn besuchte ab 1893 das HuEssayist. manistische Gymnasium in Passau. Nach einem abgebrochenen Theologiestudium studierte er ab 1903 Architektur in München. 1904 erschien sein erster Gedichtband, Fern und leise (Münster). Nach dem Studienabschluss 1908 übernahm S. für drei Jahre die Schriftleitung der »Fliegenden Blätter«. In über 1500 vorwiegend volkstüml. Erzählungen u. Gedichten, die zum großen Teil in Zeitschriften, Zeitungen u. Kalendern publiziert wurden, beschreibt S. Landschaft u. Menschen des Bayerischen Waldes. Während des Ersten Weltkriegs trat er mit »Kriegsaufsätzen« u. antisemitischen Schriften, die in späteren Würdigungen verschwiegen wurden, an die Öffentlichkeit. Einer Vereinnahmung seines Werks durch die Nationalsozialisten hat er sich jedoch laut Reinhard Haller widersetzt. 1933–1941 war S. Chefredakteur des »Altöttinger Liebfrauenboten«. Als Reserveoffizier wurde er 1941 zur Wehrmacht eingezogen. S. veröffentlichte über 30 Bücher mit einer Gesamtauflage von mehr als 100.000 Exemplaren. 1951 wurde er zum Ehrenbürger der Stadt Passau ernannt; 1956 erhielt er das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse.
Weitere Werke: Kund’n u. Kamp’ln. Passau 1915 (E.en). – Ursula Kronawitter. Dillingen 1922 (R.). – Das Herz der Heimat. Kallmünz 1924 (E.en). – Die saudumme Lieb. Bln. 1942 (Gesch.n). – Der Haupttreffer. Schärding 1951 (Gesch.n). – Post aus dem Jenseits. Passau 1977. – Gleich u. Ungleich. E.en aus dem Bayer. Wald. Vorw. v. Reinhard Haller. Grafenau 1981. Literatur: Rudolf Lehner: F. S.-Heimdal zum Gedenken. In: Ostbair. Grenzmarken 6 (1962/63), S. 315–317 (mit Bibliogr.). – Franz Kuchler: Zum 100. Geburtstag des niederbayer. Schriftstellers u. Dichters F. S.-Heimdal. In: ebd. 23 (1981), S. 111–122. Petra Ernst
S., Sohn eines Polizeigenerals, absolvierte 1937 in Berlin das Abitur, leistete Arbeits- u. Militärdienst u. studierte dt. Philologie in Münster u. Berlin; als Offizier nahm er am Zweiten Weltkrieg teil. Nach 1945 war er Mitarbeiter bei diversen Zeitungen u. beim Rundfunk, 1951–1955 Mitgl. der Gruppe 47, die er später als Verlagslektor (1955–1957 bei Kiepenheuer & Witsch) beobachtete u. wiederholt kritisch kommentierte (z.B. ›Gruppe 47‹ und die deutsche Nachkriegsliteratur. In: Meine deutsche Frage. Politische und literarische Vermessungen 1961–1979. Stgt. 1979). S. wurde 1965 Chefredakteur der Zeitschrift »liberal«; seit 1968 war er Direktor der Theodor-HeussAkademie, Hochschule für Politik in Gummersbach, seit 1971 Geschäftsführer der Friedrich-Naumann-Stiftung. S. stellte sich zunächst als Biograf vor mit der Studie T. E. Lawrence. Schicksal und Gestalt (Bremen 1949), in der er einen politisch-moralisch motivierten Einzelkämpfer porträtierte. Das Thema moralischer Subjektkonstitution beherrschte in der Folge unter existentialistischem Einfluss viele seiner literar. u. essayistischen Arbeiten. In den 1950er Jahren befasste sich S. mit der Kriegssituation (Die Feuerschwelle. Stgt. 1952; R.), dem Nationalsozialismus u. der dt. Nachkriegszeit (Der Trödler mit den Drahtfiguren. Ebd. 1952; R.). Subjektive u. soziale Definitionen von Schuld sowie die verführerische Verschleierungsfunktion von Sprache bei der Klärung von Schuld werden im Roman Jakob und die Sehnsucht (Düsseld. 1953) u. in der Kriminalerzählung In fremder Sache (Köln 1957) durchgespielt. Illegalem, aber selbstverantwortl. Handeln gegen kollektive Zwänge widmete sich S. in der Studie Der Partisan. Ein Beitrag zur politischen Anthropologie (ebd. 1961. Neuausg. hg. von Klaus Hansen. Münster 1989). In den 1960er u. 1970er Jahren publizierte S. verstärkt Hörspiele existentialistischer Prägung (Auswahl der Opfer.
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Hbg. 1962) u. polit. Essays (Aus gegebenem Anlaß. Ffm. 1964). Weitere Werke: Herbst in Apulien. Köln 1958 (Reiseber.). – Der Hauptmann verläßt Venedig. Stgt. 1980 (E.en). – (Hg.): Atomzeitalter. Obenroth bei Eitorf/Sieg 1959/60 (Zeitschr.). Literatur: Monika Faßbender u. Rolf Hansen (Hg.): Feuilleton u. Realpolitik. R. S., Schriftsteller, Intellektueller, Liberaler. Baden-Baden 1984. – Maria Sass u. Delia Cotârlea: R. S.’ ›Eine Mark‹ versus ›O marca‹, in der rumän. Übers. v. Despina Mihaela Bogza. Eine übersetzungskrit. Betrachtung. In: Germanist. Beiträge 19 (2005), S. 175–190. – M. Faßbender: R. S. In: NDB. Stefan Iglhaut / Red.
Schröter, Adam, * ca. 1525 Freystadt/ Schlesien (oder Zwickau oder Neisse?), † ca. 1572 Ort unbekannt. – Lateinischer Dichter, Mediziner u. paracelsistischer Fachschriftsteller. Über den Lebenslauf A. S.s lässt sich kaum mehr herausfinden, als aus den (bisher unzulänglich ausgewerten) Hinweisen in seinen Vorreden u. Werken, zunächst v. a. aus seiner lat. Gedichtsammlung Elegiarum Liber Vnus. Item Epigrammatum Liber unus (o. O. u. J., wohl Krakau ca. 1552/53), zu entnehmen ist. Wie schon Bauch (1907) feststellte, ist S. nicht identisch mit einem 1562 in Wittenberg immatrikulierten Namensvetter, einem späteren Juristen, sondern mit einem 1547 in Frankfurt/O. nachgewiesenen Studenten. S.s Vater war der 1545 in Zittau zum Schulrektor ernannte Andreas Schröter, dessen Sorgen u. Mühen in einer großen Dankelegie (El. IV.) gepriesen werden. Jedenfalls empfand S. Zittau als seine Heimatstadt, wurde dort auch durch ein städt. (?) Stipendium gefördert. Sein Studienweg umfasste Stationen in Wittenberg, Prag u. Padua (dort Medizinstudium?). Im Wintersemester 1552/53 immatrikulierte sich S. an der Universität Krakau, also in einem Zentrum der nach wie vor auch von Deutschen mitgetragenen poln. Renaissancekultur. Dort scheint er sich nicht, wie von manchen erwartet, den höheren Studien gewidmet zu haben, sondern entfaltete eine rege poetische Aktivität. In einer Apologie verteidigte er sich gegen eine schriftl. Aufforderung, sich mehr der Jurisprudenz als der
Dichtung zu widmen. An höchster Stelle versuchte sich S. bemerkbar zu machen mit einem Gedicht auf die Hochzeit Sigismund II. August mit Catharina, der Tochter Kaiser Ferdinands I. (Krakau 1553), gewidmet dem von S. auch andernorts erwähnten Burggrafen von Krakau Jan Boner de Balycze. Im selben Jahr erschienen zwei anspruchsvollere Werke mit episierenden Ausmaßen. In De Fluvio Memela Lithuaniae, qui Cura et Industria Generosi Clarissimi uiri Domini Nicolai Tarlo, nauibus permeabilis factus est (Krakau 1553) feierte er die Schiffbarmachung eines Teilstücks der Memel. Weite Resonanz, auch in einer zweiten Auflage sowie in späteren Nachdrucken, erfuhr S.s historisch-landeskundl. Gedicht über die berühmten, schon von Conrad Celtis (s. HL, S. 76–79, 986–989) poetisch gefeierten Salzbergwerke von Wieliczka: Salinarum Vieliciensium Iucunda ac Vera Descriptio (Krakau 1553. Ebd. 1564. Auch in: Johannes Pistorius [Ed.]: Polonicae historiae corpus. Basel 1582. Siehe auch Cracovia Litterarum, 1991, S. 473–476). Von allg. Ausführungen über den Nutzen u. die Kulturgeschichte des Salzes u. des Salzbergbaus schreitet S. voran zu einer historisch-geograf. Beschreibung der Örtlichkeiten, rühmt die Verantwortlichen des Montanbetriebs u. beschreibt einen Besuch des Bergwerks mit Einzelheiten der Abbau- u. Fördertechnik. Auch später, als er wohl erneut eine Reise nach Wien u. Ungarn unternahm, hat sich S. noch einmal in einem an Ferdinand I. gerichteten Gedicht (Solium Caesareum Quatuor Virtutibus [...] Fulcitum. Wien 1558. Krakau 1559) um kaiserl. Gunst bemüht. Jedenfalls brachten ihm seine poetischen Bemühungen, die auch religiöse Dichtung umfassten (De natali Jesu Christi Carmen. Krakau 1553), den Titel eines ›poeta laureatus‹ ein, den er später in seinen Paracelsica-Ausgaben (s. u.) zusammen mit dem Titel eines »philosophus« (also eines hermetistisch bewegten Naturkundlers) führte. Eine Lebenswende nicht nur, was Rang u. Macht des Hauptmäzens anging, sondern wohl auch im Blick auf S.s markante Interessenverlagerung in Richtung eines hermetistisch geprägten Paracelsismus bedeutete für S. die Bekanntschaft mit Albertus à Lasco
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(Albert/Olbracht Laski ,1536–1605), dem lat. Fassung der paracels. Archidoxa (Krakau Woiwoden von Sieradz, zu dessen Familie er 1569) angekündigt. S. sah darin den Inbegriff schon um 1553 Kontakte knüpfen konnte u. einer Restauration der vollkommenen bibl. u. dem er eine Psalmdichtung widmete (Psalmus hermet. Medizin, ja eine Summe naturkundl. XCI in honorem Alberti a Lasco. Carmine sapphico. Wissens u. den Ausweis göttl. Offenbarung. Gegen Ende seines Lebens fand S. offenbar Krakau 1565). Bekanntschaft mit dem paracels. Erbe dürfte S. jedoch v. a. durch den ein Unterkommen, vielleicht sogar eine feste Freund Marcus Ambrosius (* um 1520/30 in Anstellung bei seinem Mäzen. Jedenfalls beNeisse/Schlesien, † nach 1585) geschlossen zeichnete er den Historiker u. Geheimsekrehaben. Der Görlitzer Humanist Bartholomä- tär Laskis, Abraham Bakschay, als seinen us Scultetus (1540–1614) berichtet am »Kollegen«. 20.7.1569 in seinem ›Diarium‹ über ein Literatur (im Biografischen alle überholt bzw. Treffen zwischen ihm (Scultetus), Ambrosius mit vielen Leerstellen u. Irrtümern): Karl Sudhoff: u. S. in Görlitz, wobei Ambrosius u. S. neben Bibliographia Paracelsica. Besprechung der unter anderem die Krakauer lat. Ausgabe von Pa- Hohenheims Namen 1527–1893 erschienenen racelsus’ Archidoxa mitgebracht hätten (CP II, Druckschr.en. Nachdr. der Ausg. 1894. Graz 1958, S. 551). 1569 publizierte S. in Krakau in einer Nr. 107–108, S. 169–174. – Gustav Bauch: Schlesien u. die Univ. Krakau im XV. u. XVI. Jh. In: Ztschr. lat. Fassung zunächst Paracelsus’ De Praepades Vereins für Gesch. u. Altertum Schlesiens 41 rationibus. Das in elegantem Latein geschrie- (1907), S. 99–180 (zu A. Schröter S. 175). – Karl bene Widmungsschreiben holt weit aus u. Estreicher: Bibliografia Polska. Bd. 27, Krakau setzt sich mit den geläufigen Argumenten für 1929, S. 275 f. – Karl Schottenloher: Die Widu. gegen Paracelsus auseinander. Bemer- mungsvorrede im Buch des 16. Jh. Münster/Westf. kenswerter als diese Apologie ist die Be- 1953, S. 57, Nr. 115. – Bibliografia Literatury wusstheit, mit der S. seinen Paracelsus als Polskiej. Nowy Korbut. Bd. 3. Pismiennictwo Renaissanceschriftsteller begreift. Gerühmt Staropolskie. Hg. Romana Pollak. Warschau 1965, werden die u. a. von Erasmus von Rotterdam S. 223 f. – Wlodzimierz Hubicki: Paracelsists in repräsentierten Umwälzungen der Literatur Poland. In: Science, Medicine and Society in the Renaissance. Hg. Allen G. Debus. London 1972, u. Wissenschaft am Ende des Mittelalters. S. 167–175, bes. 168–171. – Hermann Wiegand: Paracelsus rückt so eindeutig in die Linie ei- Hodoeporica. Studien zur nlat. Reisedichtung des nes von Ficino u. Reuchlin repräsentierten dt. Kulturraums im 16. Jh. mit einer Bio-Bibliogr. Neuplatonismus, wie bislang im frühpara- der Autoren. Baden-Baden 1984, S. 235 f., 525. – celsistischen Schrifttum eher selten zu lesen Cracovia Litterarum [...]. Wrocl/aw/Kraków 1991. – war. Bevor S. Paracelsus’ pharmazeutische Leszek Hajdukiewicz: A. S. In: Polski Slownik Methoden u. Präparationen referiert, sieht er Biograficzny. Bd. 36, Warschau/Krakau 1995/96, sich genötigt, eine ausführl. Verteidigung der S. 3 f. – Catalogus Librorum Polonicorum Saeculi Alchemie auszuarbeiten. Dabei geht es ihm XVI qui in Bibliotheca Iagellonica Asservantur, cunicht um die, immerhin für möglich gehal- rantibus Mariano Malicki et Eva Zwinogrodzka. Bd. 2, Kraków o. J., S. 93, 111 u. 187 f. – Flood, tene, Herstellung künstl. Goldes, vielmehr Poets Laureate, Bd. 4, S. 1895 f . – CP III (Druck in um Heilmittel. Alchemie, in fahrlässiger Un- Vorb.). Wilhelm Kühlmann kenntnis aus den Universitäten verbannt, steht demnach für einen in der Natur selbst angelegten u. durch menschl. Kunstfertigkeit Schrot, Schrott, Martin (Michael), Münreproduzierten Prozess stoffl. Verarbeitun- chen, † Ende 1575/Anfang 1576 Augsgen u. Verwandlungen. Das zentrale Agens burg. – Verfasser von Flugschriften, dieses Prozesses ist das Feuer, das in einem Meistersinger. Prosahymnus in seinen kosm. Dimensionen Der Messstecher S. wurde 1547 Augsburger mit Tönen einer religiösen, punktuell gera- Bürger. Als ihm wegen seiner Flugschriften dezu häretisch formulierten Lichtmetaphysik eine Verhaftung drohte, flüchtete er 1552 zu gepriesen wird. Bereits in dieser Vorrede wird den Hutterischen Täufern in Mähren, kehrte die von Albertus à Lasco unterstützte, ja offenbar veranlasste wichtige Ausgabe von S.s
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aber wenige Jahre später nach Augsburg zu- Deutschen. Neudr. Bd. 4, Hildesh. 1966, Nr. 470, 598. rück. Ausgabe: Wackernagel, Bd. 3, Nr. 1156 f. S.s Dichtungen zeigen die bibelfeste EnLiteratur: Bibliografie: VD 16. – RSM, Bd. 2/1, gagiertheit eines ungelehrten Laien radikalprotestantischer Richtung. Gewichtigstes S. 249; Bd. 12, S. 49. – Weitere Titel: Gustav Roethe: Zeugnis ist die Komödie Von der erschrocklichen M. S. In: ADB. – Friedrich Roth: Augsburgs ReZurstoerung unnd Niderlag desz gantzen Bap- formationsgesch. Bd. 3, Mchn. 1907, S. 146 f., 409–411; Bd. 4, ebd. 1911, S. 460. – Ders.: Zur Lestumbs (Auff. vermutlich Augsb. 1546). Ihr bensgesch. des Augsburger Formschneiders David Druck (Augsb. 1558; mit Holzschnitten) Denecker u. seines Freundes, des Dichters M. S. In: brachte dem angesehenen Formschneider ARG 9 (1911/12), S. 189–230. – Anton Englert: Die David Denecker Prozesse u. Gefängnisauf- menschl. Altersstufen in Wort u. Bild, Tl. 3. In: enthalte ein. Die Komödie inszeniert mit Ztschr. des Vereins für Volkskunde 17 (1907), dichten Geflechten von Bibelzitaten u. An- S. 16–22. Hartmut Kugler / Red. spielungen auf die Offenbarung Johannis ein Jüngstes Gericht, in dem der »Saluator« den Schrott, Raoul, * 17.1.1964 Landeck/Tirol. Papst mitsamt vielen geistl. u. weltl. Poten- – Lyriker, Prosaautor u. Übersetzer. taten in ewige Verdammnis stürzt. Unter den S. wuchs in Tunis u. Tirol auf, studierte »Außerwoelten« wird Luther hervorgehoben. Germanistik, Anglistik u. Amerikanistik in In einer Nachrede präsentiert sich S. selbst als Innsbruck, Norwich u. Paris, gab einige Auserwählter mit täuferischen Ansichten Konzerte als Songwriter an der Gitarre u. über Obrigkeit, Kindtaufe u. Abendmahl. wurde 1988 in Innsbruck mit einer DissertaWährend des Schmalkaldischen Kriegs ergriff tion über den Dadaismus promoviert. 1996 S. mit einer Prosaschrift (Ain neüwer römischer habilitierte er sich dort mit der komparatisPasquillus von dem Bapst, seinem Reych [...]. tischen Arbeit Fragmente einer Sprache der Augsb. 1546) u. etlichen Liedern gegen die Dichtung im europäischen Kontext. Poetische Papisten Partei. Strukturen von der griechischen Antike bis zum Die Augsburger Meistersinger zählten S. Dadaismus. Sein erster Gedichtband Makame (1575) zu den zwölf Meistern ihrer Kunst. (Innsbr.) erschien 1989. Nach Aufenthalten Doch sind nur wenige Liedertexte zu histo- u. a. in Berlin, Neapel u. Südfrankreich lebt risch exemplarischen Stoffen von ihm über- S., der zahlreiche (abgelegene) Sprachen beliefert; seine »Schrotweise« u. seine »Nar- herrscht, seit Jahren in Irland. Abgestoßen renweise« wurden noch im 17. Jh. auf Sing- von der Selbstbezogenheit vieler Schriftstelschulen öfter gebraucht. Etwas breitere ler (»Kein gelungenes Gedicht spricht von Nachwirkung erzielten zwei konfessionell sich oder seinem Ich«), tritt S. für eine strikte neutrale Arbeiten, das gereimte Streitge- Trennung von Biografie u. Werk ein, was in spräch Dialogus [...] vom Gellt und der Armut einem mit seiner Geburt einsetzenden Mas(Augsb. um 1550. Mchn. 1596. 1604) u. das kenspiel zum Ausdruck kommt: Mindestens Wappen Buch des hohen geistlichen und weltlichen drei unterschiedl. Geburtsgeschichten hat er Stands der Christenheit in Europa mit allerlei in Umlauf gebracht (u. später als Fiktionen Prosa- u. Verserläuterungen sowie Anhängen enttarnt), deren spektakulärste – eine zu Türken u. Türkenkriegen (Mchn.: Adam Schiffsgeburt auf dem Weg nach Brasilien – Berg, 1576. 21580. Nachdr. Unterschneid- bis heute viele Biogramme des Autors eröffheim 1975. Erw. Teildr. u. d. T. Vecker oder net. Als ein für das eigene Schreiben produktiAuffmunterung der edlen Deutschen [...]. Wittenb. ves Hantieren mit Sprachmasken versteht S. 1595). Weitere Werke: Die X. Alter der welt [...]. auch seine breite Übersetzungs- u. HerausAugsb. 1574. Teilabdr. bei Englert (s. u.). – Kurtze gebertätigkeit, die ihm seinen ersten großen Beschreibung wie mächtig, weit u. breit sich das H. Erfolg eingebracht hat: In der literaturRöm. Reich erstrecket hat [...]. Ffm. 1595. – Lieder: archäolog. Mammutanthologie Die Erfindung Rochus v. Liliencron: Die histor. Volkslieder der der Poesie. Gedichte aus den ersten viertausend
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Jahren (Ffm. 1997) finden sich Übersetzungen, die gelegentlich zur freien Nachdichtung neigen, von oft unbekannten Autoren aus peripheren Sprachen des 24. vorchristl. bis 14. nachchristl. Jahrhunderts. Auch wenn die philolog. Exaktheit dieser Übertragungen u. der sie begleitenden literatur- u. kulturgeschichtl. Essays hier wie im Fall von S.s Übersetzungen u. a. des Gilgamesh-Epos (Mchn./Wien 2001), der Ilias (Mchn. 2008) oder altägypt. Liebespoesie (Die Blüte des nackten Körpers. Mchn. 2010) oft skeptisch beurteilt – aber auch von S. nicht immer angestrebt – worden ist: S. kommt das Verdienst zu, ein breites Publikum für vergessene Texte der Weltliteratur interessiert u. diese Texte oft überhaupt erst in lesbaren Übertragungen zur Verfügung gestellt zu haben. In kulturellen u. geografischen Grenzräumen bewegt sich auch das fiktionale Personal dieses kosmopolit. Autors: Sein in viele Zeit- u. Erzählschichten gebrochener Debütroman Finis Terrae. Ein Nachlaß (Innsbr. 1995) erzählt u. a. von der bis heute nicht eindeutig rekonstruierten Reise des griech. Entdeckers Pytheas von Massilia zum unbekannten Thule im 4. Jh. v. Chr., die Prosatexte Die Wüste Lop Nor (Mchn./Wien 2000) sowie Khamsin. Die Namen der Wüste (Ffm. 2002) sind in der afrikan. Wüste u. der komplexe Roman Tristan da Cunha oder Die Hälfte der Erde (Mchn./Wien 2003) auf der gleichnamigen entlegenen Insel im Südatlantik verortet. Leitmotive des thematisch breit angelegten literar. Werks sind Natur, Tod, Erotik u. Ursprungsphänomene (inkl. einer Vorliebe für Etymologisches). Die übersetzerischen Großprojekte u. die Lust an (fiktionalen) Grenzüberschreitungen sind Ausdruck einer weit über das literar. Feld hinausgehenden Neugier u. Bestandteile eines in seinen Ambitionen außergewöhnlichen literar. Geltungsanspruchs, der sich in Ansätzen schon bei H. M. Enzensberger findet, den S. zusammen mit H. C. Artmann zum Vorbild erklärt. S. ist ein »Experte für das Ganze« (M. Krüger): Er gilt vielen v. a. als Lyriker (u. dabei als »Dichter der Stunde«, wie H. Böttiger am 6.2.1999 in der »Frankfurter Rundschau« titelte), hat mit seinem hymnisch gefeierten u. heftig verrissenen 700-Seiten-Roman Tristan da Cunha ein be-
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achtliches erzählerisches Hauptwerk vorgelegt, für das Theater geschrieben u. übersetzt – u. dabei Gattungsgrenzen immer wieder überwunden, so z.B. in den prosanahen Gedichten in Tropen. Über das Erhabene (Mchn./ Wien 1998), seinem vielseitigsten Gedichtband, in den lyr. Erzählblöcken in Die Wüste Lop Nor oder in der Dramatisierung des Gilgamesh. Die Gedichte (darunter viele Rollengedichte), Glossen u. Essays in Tropen u. Weißbuch (Mchn./Wien 2004) zeigen den Autor u. a. als Literaturhistoriker, theoret. Ästhetiker, Kulturwissenschaftler u. Kenner der Naturwissenschaften, der bei aller Gelehrsamkeit auch auf die Unterhaltungsfunktion von Literatur Wert legt (u. auch Radio u. Fernsehen für seine Hybridprojekte nutzt). In seiner umfangreichen Studie Homers Heimat. Der Kampf um Troia und seine realen Hintergründe (Mchn. 2008) verortet S. das bei Homer beschriebene Troja räumlich wie zeitlich neu, was ihm ein beachtl. Medienecho u. unter Historikern sowohl Respekt als auch den Vorwurf des Dilettantismus eingebracht hat. Als kreativer u. streitsamer poeta doctus betont S. die Handwerklichkeit der Dichtung, besteht auf einem Konzept von Literatur als »humaner Totalität« u. versteht das Gedicht (in dessen Zentrum er die Analogisierung durch Metaphern verortet) als die »präziseste erkenntnistheoretische Maschine, die es überhaupt gibt« (S. u. Urs Engeler: Die Mitte zurückgewinnen. In: Zwischen den Zeilen. Zeitschrift für Gedichte und ihre Poetik 1996, H. 7/8, S. 146–157, hier S. 151). Seine in zahlreichen Reden u. Essays entfaltete Poetik verbindet Disparates, bisweilen Widersprüchliches, insbes. in der Kombination von perspektivischer Offenheit u. Verengung: wenn S. jedes Gedicht grundsätzlich zum wirklichkeitsnahen »Gelegenheitsgedicht« erklärt (Die Erde ist blau wie eine Orange. Mchn. 1999) u. die Dichtung ebenso grundsätzlich von jedem Realitätsbezug freispricht (Handbuch der Wolkenputzerei. Mchn./Wien 2005); wenn er seine immense Diskursübersicht einsetzt, um die Literatur als hegemonialen Leitdiskurs zu etablieren; wenn er mithilfe seines differenzierten literaturhistor. Wissens vorgeblich ahistorische ästhetische Konstanten formuliert; wenn er seine Literatur als ein
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schelmisches »Maskenspiel« verstanden wis- nold (Hg.) R. S. (Text + Kritik. H. 176). Mchn. 2007. sen will u. sich gleichzeitig vehement in öf- – T. Kraft u. Enno Stahl: R. S. In: KLG. – Philippe fentl. Anti-Kritiken gegen ›falsche‹ u. krit. Rousseau: Schöne Spiele mit der Wissenschaft. Zu Lesarten zur Wehr setzt. Das dadurch u. in R. S.s Homer. In: Gesch. der Germanistik 33/34 (2008), S. 5–20. – Karen Leeder: R. S. Das lyr. Werk: seinen Büchern produzierte Autorimage verIn: Kindlers Literatur-Lexikon. 3., völlig neu bearb. sperrt sich einer Festlegung wie kaum ein Aufl. Hg. H. L. Arnold. Stgt./Weimar 2009, Bd. 14, zweites. Dass S. zu den meistbeachteten S. 623 f. Torsten Hoffmann Schriftstellern seiner Generation zählt, zeigen die vielen Stipendien u. Preise, darunter der Leonce-und-Lena-Preis (1995), der PeterSchubart, Christian (Friedrich Daniel), Huchel-Preis (1999) u. der Joseph-Breitbach* 24. (nach der Autobiografie unrichtig: Preis (2004). Weitere Werke: Dada 21/22. Musikalische Fischsuppe mit Reiseeindrücken. Eine Dokumentation die beiden Dadajahre in Tirol. Nachw. v. Gerald Nitsche. Innsbr. 1988. – Die Legenden vom Tod. Mit Bildern v. Adolf Frohner. Innsbr. 1990. – Dada 15/25. Postscriptum oder die himml. Abenteuer des Hr.n Tristan Tzara. Mit einem Suspensarium zu Elde Steeg & Raoul Hausmann v. G. Nitsche. Innsbr. 1992. Erg. Neuausg. u.d.T. Dada 15/25. Dokumentation u. chronolog. Überblick zu Tzara & Co. Köln 2004. – Sub Rosa. Mit Bildern v. Arnold Mario Dall’O. Bozen/Innsbr. 1993. – Hotels. Innsbr. 1995 (L.). – Marginalien. Irische Gedichte des MA ins Deutsche gebracht, mit einem Vorw. u. Glossen v. R. S. Frauenfeld 1996. – Die Musen. Fragmente einer Sprache der Dichtung. Mchn. 1996. – Jorge Luis Borges: Der Geschmack eines Apfels. Gedichte. Ausgew. v. R. S. Aus dem Argentinischen v. Gisbert Haefs u. R. S. Mchn./Wien 1999. – Backchen. Nach Euripides. Mchn./Wien 1999. Urauff. Wien 1999. – Jb. Lyrik 1999/2000. Über den Atlas gebeugt. Hg. v. Christoph Buchwald u. R. S. Mchn. 1999. – Das Geschlecht der Engel, der Himmel der Heiligen. Ein Brevier. Mchn./Wien 2001. – Derek Walcott: Mittsommer/Midsummer. Aus dem karib. Englisch v. R. S. Mchn./Wien 2001. – Die Fünfte Welt. Ein Logbuch. Fotos v. Hans Jakobi. Innsbr./Wien 2007. – Liebesgedichte. Nachw. v. Oliver Lubrisch. Ffm. 2010. – Gehirn u. Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeiten konstruieren (zus. mit Arthur Jacobs). Mchn. 2011. Literatur: Richard David Precht: R. S. – Genie oder Scharlatan? In: Literaturen 2003, H. 11, S. 14–24. – Thomas Kraft: R. S. In: LGL. – Monika Schmitz-Emans: Die Erfindung der uralten Maschine: R. S. als Dichter u. Archäologe. In: Die eigene u. die fremde Kultur. Exotismus u. Tradition bei Durs Grünbein u. R. S. Hg. Dieter Burdorf. Iserlohn 2004, S. 11–47. – Torsten Hoffmann: Konfigurationen des Erhabenen. Zur Produktivität einer ästhet. Kategorie in der Lit. des ausgehenden 20. Jh. Bln./New York 2006. – Heinz Ludwig Ar-
26.) 3.1739 Obersontheim, † 10.10.1791 Stuttgart; Grabstätte: ebd., Hoppenlaufriedhof. – Publizist, Lyriker, Komponist, Musikschriftsteller.
Kindheit u. frühe Jugend verlebte S. im schwäb. Aalen, wo sein Vater seit 1740 Präzeptor u. Musikdirektor war. 1753 kam er auf das Lyzeum in Nördlingen. Er lernte dort die neueste dt. Dichtung, bis hin zu Wieland, kennen. Für Klopstock hatte er sich schon früher begeistert, u. zeit seines Lebens war ihm der Messias Gipfel aller Poesie. S. komponierte in Nördlingen bereits Klaviersonaten, »etliche fugirte Choräle« sowie Lieder im Volkston. Zu den frühesten Hervorbringungen gehörte ein großes Trauergedicht zu einem Flugblatt auf das vom Erdbeben zerstörte Lissabon (1755, Text u. Abb. bei Kühlmann). In Nürnberg besuchte er ab 1756 das Gymnasium »Zum Heiligen Geist«. Hier fesselte ihn zum ersten Mal »Mädchenreiz [...], unter allen Reizen [...] der unwiderstehlichste«. Im Okt. 1758 nahm S. das Theologiestudium in Erlangen auf. Anfangs in vielen Fächern fleißig, führte er bald ein ungebundenes Studentenleben: als Saufaus, geschickter Verseschmied u. sehr guter Klavierspieler. »Ich war hier in meinem Elemente [...] studierte, rumorte, ritt, tanzte, liebte und schlug mich herum.« Die Eltern mussten ihn im Frühjahr 1760 nach Aalen zurückrufen. Hier u. da sprang er als Hilfslehrer oder -prediger ein, bis er 1763 die Stelle eines Schulmeisters in Geislingen erhielt. Im folgenden Jahr heiratete er Helene Bühler, Tochter eines Zollbeamten, deren Kleinbürgermentalität bald mit der oft über alle Stränge schlagenden Lebensführung ihres Ehemanns in Konflikt geriet – bes. nach-
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dem er 1769 in Ludwigsburg die Stelle eines Organisten u. Musikdirektors erhalten hatte. S. fühlte sich zeitweise als Hofmann. Dabei wuchs sein Ruhm als Klaviervirtuose. Goethe wusste 1787 aus Italien über das Musikgenie zu berichten, »daß zu jener Zeit Schubart für unerreichbar gehalten« wurde. Rückblickend klagte S. über die Ludwigsburger Zeit, in der ihn seine Frau zweimal mit den Kindern verließ: »Wein und Weiber waren die Skylla und Charybdis, die mich wechselsweise in ihren Strudeln wirbelten.« Zudem attackierte er mit scharfer Zunge die Geistlichkeit. Im Mai 1773 wurde ihm von höchster Stelle wegen seines »in so mancherley Betracht gestiffteten Ärgernisses [...] das consilium abeundi gegeben«, d.h. er wurde des Landes verwiesen. Mittellos durchstreifte er auf der Suche nach einem Auskommen die südwestdt. Städte (Heilbronn, Mannheim, Schwetzingen) u. erhielt schließlich in Augsburg die Chance, eine Zeitung herauszugeben. S. hatte bis dahin schon Sammlungen seiner Gedichte veröffentlicht, z.B. Die Baadcur (Ulm 1766), Zaubereien (ebd. 1766) u. die Todesgesänge (ebd. 1767). In seiner KlopstockVergötterung, die oft deutsch-patriotische Töne annahm, hatte er sich sogar dazu hinreißen lassen, dessen Gedichte 1771 als Raubdruck zu veröffentlichen (Poetische und Prosaische Werke. 2 Bde., Ffm./Lpz.). Von den vielen hundert Gedichten S.s hatten nur wenige Dutzend Bestand: einige Lieder im frischen Volksliedton, ein paar Satiren, eine Reihe von sozialkrit. Gedichten u. die sog. Freiheitslieder. Zu den berühmtesten Gedichten gehören Die Forelle (1783), von S. selbst, später von Franz Schubert vertont, Die Fürstengruft (1780), eine Philippika gegen die »Nationenruthe« der Tyrannen, u. die Kaplieder, als »Klaglieder« für das württembergische Regiment geschrieben, das Karl Eugen der Ostindischen Kompanie für Südafrika »überlassen« hatte. Die erste Nummer der »Deutschen Chronik« erschien am 31.3.1774 in Augsburg. Ab dem 10. Stück wurde das Blatt in Ulm gedruckt, auch weil S. 1775 aus Augsburg wegen Beleidigung der Katholiken ausgewiesen worden war. S. wurde v. a. von Ex-Jesuiten angegriffen, er selbst polemisierte gegen den
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Pfarrer, Wunderheiler u. Exorzisten Johann Jakob Gaßner (der zeitweise sogar Lavater in den Bann zog), sparte auch, bes. in Briefen, nicht mit sarkast. Bemerkungen zur höf. Gesellschaft (Brief vom 14.3.1775): »Aller Fürstenglanz ist in meinen Augen nicht mehr als – das Glimmen einer Lichtpuze – es glimmt und stinkt.« Die zwei Jahre in Ulm waren S.s glücklichste Zeit, beflügelt auch durch regen freundschaftl. Umgang u. a. mit dem Dichter u. Theologen Johann Martin Miller. 1776 änderte S. den Titel seiner Zeitschrift in »Teutsche Chronik« (bis 1777), 1787 nach der Asperghaft in »Schubarts Vaterländische Chronik«, 1788 in »Vaterlandschronik« u. 1790 in »Chronik«. Schon die Namensgebung zeigt, dass ein antihöfisch getönter, immer noch von Klopstock u. dessen Anhängern beeinflusster Patriotismus die Maxime war, die S.s politische – u. literarische – Arbeit weitgehend bestimmte. Das Achtseitenblatt erschien zweimal wöchentlich u. wurde praktisch von ihm allein geschrieben. Zumeist im Wirtshaus, umgeben von zwei Dutzend Journalen als Nachrichtenquellen, diktierte er die jeweils nächste Ausgabe. Dieser Arbeitsweise entspricht ein spontaner, energisch-eindrückl. Stil (»Ich fühle, was ich schreibe und rede«). S. berichtete aus den dt. Ländern u. über die europ. Ereignisse; über Preußen u. Österreich, nicht ohne jedesmal seine große Verehrung für Friedrich II. u. bes. Joseph II. auszudrücken. Die Frühphase der Französischen Revolution beobachtete er mit Sympathie. Mit der Berichterstattung über England geriet auch Nordamerika immer mehr ins Blickfeld. Mitte 1775 schrieb S., Amerika werde »bald mehr Stoff zu Neuigkeiten liefern, als Europa. Ich habe nichts darwider; denn je weiter sich eine Begebenheit zuträgt; je freyer darf man darüber urtheilen« (in: Deutsche Chronik, 6.7.1775). Ab 1776 bekamen die Berichte Aus den Provinzen der Freyheit ein die »Chronik« prägendes Ausmaß. – Die »Deutsche Chronik« besaß einen festen Literaturteil, häufig mit S.s oder auch fremden Gedichten, sporadisch mit Beiträgen zur Tonkunst. In dem regelmäßigen Literaturartikel propagierte S. Werke, wobei er nicht literaturkritisch, sondern vehement-subjektiv argumentierte.
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Seine temperamentvolle, wenig diplomatische Kritisierlust machte S. populär, brachte ihn aber in Schwierigkeiten. Seine publizistische Wirkung – die »Chronik« erreichte regelmäßig etwa 20.000 Leser – war der allg. Grund, weshalb ihn der württembergische Herzog Karl Eugen verhaften ließ (23.1.1777). Man hatte ihn dazu von Ulm aus nach Blaubeuren, also auf württembergisches Gebiet, gelockt. S.s Frau u. seine Kinder wurden von dem Herzog finanziell versorgt, denn er gab an, die weithin Aufsehen erregende Haft S.s diene nur seiner Buße u. »Besserung«. Die Gefangenschaft auf dem Hohenasperg bei Ludwigsburg erfolgte ohne Verhör u. Gerichtsurteil. Vier Jahre durfte er nicht schreiben, musste heimlich Briefe wechseln; nach acht Jahren konnten ihn Frau u. Kinder das erste Mal besuchen. Erst in den späteren Jahren gab es einige Hafterleichterungen (freie Bewegung innerhalb der Festung, Privatunterricht für Offizierskinder, Besuche von Verehrern, darunter Schiller u. Friedrich Nicolai, Vorbereitung von Publikationen). Unter schwierigsten Verhältnissen entstanden dennoch hier seine besten Gedichte, sogar ein umfängliches musikgeschichtl. u. -theoret. Kompendium, das noch heute in der Literatur Erwähnung findet (Ideen zu einer Aesthetik der Tonkunst. Wien 1806. Neudr. Hildesh. 1991). Die Kerkerhaft war aber auch die Zeit pietistischer Selbsterforschung. Davon sind viele heute eher fremd wirkende Verstexte u. Briefe bestimmt, dies auch unter dem Einfluss des seinerzeit bekannten Theologen u. Seelsorgers Philipp Matthäus Hahn, für S. ein »großer Mann« (Brief an seine Frau, 4.9.1780). Als S. nach über zehn Jahren 1787 freikam, machte ihn Herzog Karl Eugen zum Theaterdirektor. Für S.s Freilassung hatten sich zahlreiche dt. Literaten, auch mehrere Fürsten, namentlich Friedrich Wilhelm II. von Preußen, eingesetzt. Sogleich nahm S. die Herausgabe der »Chronik« wieder auf, die nach seinem Tod bis 1793 von seinem Sohn Ludwig u. Gotthold Friedrich Stäudlin fortgeführt wurde. Das Erscheinen des ersten Bandes seiner Autobiografie Schubart’s Leben und Gesinnungen. Von ihm selbst, im Kerker aufgesezt (Stgt. 1791) hat S. noch erlebt. Den
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zweiten Band gab sein Sohn 1793 heraus (Neudr. beider Bde. Lpz. 1980). Wieland hatte dem jungen S. einmal das Kompliment gemacht, er sei »zum Dichter geboren« (18.6.1766). David Friedrich Strauß bemerkte dazu: »Aber er war auch nur dieß: nur ein geborener, nicht auch ein erzogener, gebildeter Dichter. Die wilden Stürme seines Gemüths, die zerstörenden Umschläge seines Schicksals [...] ließen es zu keiner Cultur dieser Gabe kommen« (Schubart’s Leben. Bd. 2, S. 441 f.). Auch sein großes musikal. Talent, beklagte S. selbst, habe er »nicht gehörig benuzt, sondern es vielmehr unter allen am meisten mißbraucht«. Wenn nicht als Dichter oder als Musiker, so gehört S. doch als Publizist zu den Großen seiner Zeit, u. als solcher genießt er in der Literaturgeschichtsschreibung seit jeher hohe Reputation. Weitere Werke: Ausgaben: Sämmtl. Gedichte. 2 Bde., Stgt. 1785/86. – C. F. D. S.’s, des Patrioten, ges. Schr.en u. Schicksale. 8 Bde., ebd. 1839/40. Neudr. Hildesh. 1972. – Werke in einem Bd. Hg. Ursula Wertheim u. Hans Böhm. Bln./Weimar 1959. 41988. – Gedichte [Ausw.]. Hg. Peter Härtling. Ffm. 1968. – Gedichte. Aus der ›Dt. Chronik‹. Hg. Ulrich Karthaus. Stgt. 1978. – Ich, C. F. D. S., [...] ein Lesebuch. Ulm 1991. – Sämtl. Lieder. Hg. Hartmut Schick. Mchn. 2000. – Einzeltitel: Das Leben Klements XIV., Röm. Pabsts. 2 Bde., Bln./Lpz. 1775. – Leben des Freyherrn v. Ikstadt. Ulm 1776. – Kurzgefasstes Lehrbuch der schönen Wiss.en für Unstudierte. Augsb. 1777. – Deutsche Chronik: 1774–77. Hg. Hans Krauss. Heidelb. 1975. – Eine Ausw. aus den Jahren 1774–77 u. 1787–91. Hg. Evelyn Radczun. Köln 1989. – Briefe: David Friedrich Strauß: S.’s Leben in seinen Briefen. 2 Bde., Bln. 1849. Neudr. Königst. 1978. – Briefe. Hg. Ursula Wertheim u. Hans Böhm. Mchn. 1984. – Briefw. Kommentierte Gesamausg. in drei Bdn. Hg. Bernd Breitenbruch. Konstanz 2006. Literatur: Ludwig Schubart: S.s Leben u. Charakter v. seinem Sohne Ludwig. Erlangen 1798 (auch in: Ges. Schr.en, s.o.). – Ernst Holzer: S. als Musiker. Stgt. 1905. – Hartmut Müller. Postgaul u. Flügelroß. Der Journalist C. F. D. S. (1739–1791). Ffm. u. a. 1985. – Kurt Honolka: S. Dichter u. Musiker, Journalist u. Rebell. Sein Leben, sein Werk. Stgt. 1985 (mit Werkverz., inklusive Kompositionen u. Sekundärlit.). – Günter Moltmann. S.s ›Kaplied‹ v. 1787 u. die Entstehung des weltl. Auswandererliedes in Dtschld. In: Yearbook of German American Studies 22 (1987), S. 21–37. –
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603 Werner Volke: C. F. D. S. In: Lit. im dt. Südwesten. Hg. Bernhard Zeller u. Walter Scheffler. Stgt. 1987, S. 59–71. – Bernd Breitenbruch (Bearb.): C. F. D. S. bis zu seiner Gefangensetzung 1777. Ulm 1989. – Herbert Hummel u. Thomas Scheuffelen: S.s. Verhaftung in Blaubeuren. Marbach/N. 1990. – Michael Myers: Für den Bürger. The Role of C. S.’s ›Dt. Chronik‹ in the Development of the Political Public Sphere. New York 1990. – Johann Anselm Steiger: Aufklärungskrit. Versöhnungslehre. Zorn Gottes, Opfer Christi u. Versöhnung in der Theologie Justus Christoph Kraffts, Friedrich Gottlieb Klopstocks u. C. F. D. S.s. In: PuN 20 (1994), S. 125–172. – Fritz Streitberger: Der Freiheit eine Gasse. Die Lebensgesch. des C. F. D. S. Bietigheim 2001. – S. heute. Sichtweisen. Aalen 2005. – Hans-Joachim Hinrichsen: C. F. D. S. In: MGG 2. Aufl. (Personenteil). – Kühlmann (2006), S. 616–620, 642–644. – M. Myers: C. S. In: NDB. – Bernd Jürgen Warneken: S. Der unbürgerl. Bürger. Ffm. 2009. Winfried Hartkopf / Wilhelm Kühlmann
Schubart, Tobias Heinrich, * 14.2.1699 Osterbruch/Land Hadeln, † 22.2.1747 Hamburg. – Evangelischer Prediger, Kirchenlieddichter. Aus einem Pfarrhaus stammend, besuchte S. das Johanneum in Hamburg, studierte Theologie in Jena, erhielt seine erste Pfarrstelle in Neuenkirchen/Weser u. wurde am 28.8.1727 zum Prediger an St. Michaelis in Hamburg gewählt. Überliefert sind zahlreiche Predigten, die seit 1725 in Hamburg im Druck erschienen, u. a. die Predigt zum zweiten Zentenarium der Augsburgischen Konfession am 25.6.1730 u. die Predigt zur Flutkatastrophe von 1737, Das große Elend einer verwüstenden Ueberschwemmung von einer hohen Wasserfluth, den sicheren, wollüstigen und frechen Menschen zur Warnung und Busse. Die Drei letzten Predigten gab, mit einer Vorrede, Erdmann Neumeister 1747 heraus. S. verfasste eine vollständige Reihe von Epistelliedern zu den sonn-, fest- u. feiertägl. Abendlesungen. Bekannt wurde u. a. das Lied zum Karfreitag Es ist vollbracht! muß noch erschallen (Hannoversches Gesangbuch von 1740). Literatur: Koch 5, S. 556 f. – Hans Schröder: Lexikon der hamburg. Schriftsteller. Bd. 7, Hbg. 1879, S. 58 f. – l. u.: T. S. In: ADB. – C. F. Weich-
manns Poesie der Nieder-Sachsen (1721–38). Nachweise u. Register. Hg. Christoph Perels u. a. Wolfenb. 1983, S. 160. Heimo Reinitzer / Red.
Schubert, Dieter, * 15.5.1929 Görlitz. – Erzähler, Jugendbuchautor. S. wuchs seit 1934 in Berlin auf, wo er 1945 als Flakhelfer eingesetzt wurde. Nach dem Krieg besuchte er einen Kurs als Pressezeichner u. absolvierte eine Lehre als Kunstschmied, arbeitete dann aber auf dem Bau. 1949–1954 war er Boxer in der Nationalmannschaft der DDR. In den 1950er Jahren wechselte er zum Sportjournalismus. Seit 1968 lebt S. als Schriftsteller u. freier Journalist in Berlin. Wegen seiner Solidarisierung mit Stefan Heym wurde er 1979 aus dem DDR-Schrifstellerverband ausgeschlossen. S.s erster Roman, Acht Unzen Träume (Bln./ DDR 1967; Hans-Marchwitza-Preis 1968), spielt, wie viele seiner autobiografisch gefärbten Texte, in der Nachkriegszeit. Seine Helden, die als differenzierte Charaktere gezeichnet sind, durchlaufen – Kinder wie Erwachsene einen Prozess der Selbstfindung, bei dem sie mit ambivalenten Gefühlen u. Alltagssorgen zu kämpfen haben. S. erzählt in knapper, dichter Sprache aus humorvolliron. Distanz. Obgleich seine Geschichten häufig für ein jugendl. Publikum bestimmt sind, verwendet er komplexere Erzählstrukturen. In der BR Deutschland wurde S. durch das Drehbuch zum Fernsehspiel Flugversuche (1983) bekannt. Die Erzählung Die eiserne Rose (Bln./DDR 1977. Modautal/Neunkirchen 1978) erhielt 1978 zwei Jugendbuchauszeichnungen. Weitere Werke: Taute u. der alte Joe. Bln./DDR 1969 (R.). – Der Sonntagsschuß. Fernsehsp. 1970. – Der Wüstenkönig v. Brandenburg. Bln./DDR 1971 (Kinderbuch; Film 1973). – Sabine. Eine Liebesgesch. Ebd. 1972. – Kleider machen Bräute. Rostock 1974 (R.). – Papierblume. Bln./DDR 1973. Modautal/Neunkirchen 1979 (E.). – O Donna Clara. Bln./ DDR 1977. Modautal/Neunkirchen 1982 (E.). – Die lahme Tänzerin. Ebd. 1981. Rostock 1982 (E.). – Hasen u. Jäger. Düsseld. 1990 (N.). – Puppenspieler Pippow. Bln. 1996 (Satire). Literatur: Susanne Martin u. Horst Heidtmann: Helden im Widerspruch. Der Schriftsteller
Schubert D. S. In: Jugendlit. u. Medien N. F. 36, H. 1 (1984), S. 10–12. Carola Samlowsky / Red.
Schubert, Gotthilf Heinrich von (seit 1853), * 26.4.1780 Hohenstein/Erzgebirge, † 1.7.1860 Laufzorn/Obb.; Grabstätte: München, Alter Südlicher Friedhof. – Arzt, Naturphilosoph, Erzähler, Reiseschriftsteller. Der Pfarrerssohn studierte zunächst Theologie in Leipzig, dann ab 1800 Medizin in Jena, wo er von Schellings Naturphilosophie stark beeinflusst wurde. Nach der Promotion 1803 war S. Arzt in Altenburg, siedelte dann aber 1805 nach Freiberg über, um an der Bergakademie Werners Vorlesungen über Geologie u. Mineralogie zu hören. Sie wurden eine weitere Quelle der Inspiration zu seinem ersten naturphilosophischen Werk, den Ahndungen einer allgemeinen Geschichte des Lebens (Tl. 1, Lpz. 1806. Tl. 2,1, 1807. Tl. 2,2, 1821). Ab 1807 lebte S. in Dresden im Hause des Malers Gerhard von Kügelgen, dem er seine Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft (Dresden 1808. Neudr. Darmst. 1967) widmete, die aus öffentl. Vorträgen hervorgegangen waren. In Dresden kam S. in Verbindung mit Adam Müller u. Kleist, der nach S.s eigenem Bericht von dessen Ansichten gar nicht satt werden konnte u. »immer mehr derselben aus mir hervorlockte«. – 1809–1816 war S. dann Direktor des RealInstituts in Nürnberg, wo er Verbindung zu Hegel pflegte, danach eine Zeitlang Prinzenerzieher in Ludwigslust u. seit 1819 Professor der Naturgeschichte, zunächst in Erlangen u. von 1827 bis zur Emeritierung 1853 in München. Persönliche Beziehungen unterhielt S. schon früh als Weimarer Gymnasiast zu Herder. Später gehörten Goethe, Jean Paul, Ritter, Baader, Wetzel, Brentano u. die Brüder Schlegel zu seinem engeren oder weiteren Bekanntenkreis. Sein Einfluss auf die dt. Literatur der Zeit war beträchtlich. Neben Kleist sind Friedrich u. Caroline de la Motte Fouqué, E. T. A. Hoffmann, Hebel, Apel, Laun, Kerner u. später dann auch Platen u. Hebbel zu nennen. S.s Bericht in den Ansichten über den Fund der in »Vitriolwasser«
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konservierten Leiche eines Bergmanns im schwed. Falun erzeugte eine eigene Stoffgeschichte (Hebels Kalendergeschichte Unverhofftes Wiedersehen, außerdem u. a. Werke von Kind, Hoffmann, Arnim, Hofmannsthal, Trakl). Ein Grund für den großen Einfluss seines Werks lag darin, dass S. spekulative Naturphilosophie weniger abstrakt als Fachphilosophen wie Schelling darbot, sondern mehr als eine Mischung aus exakter Beobachtung, Psychologie, Philosophie, religiöser Erbauung u. Poesie. Geprägt wird S.s Denken durch die zeitgenöss. Ansicht von der Polarität als einem natürl. Grundprinzip aller Existenz u. durch das daraus hervorgehende Interesse an Analogien zwischen den verschiedenen Bereichen der Natur u. des menschl. Geistes. In den Ahndungen entwickelt S. auf der Grundlage der Polarität ein Stufenschema der sich höher bildenden Natur, wobei er den Tod als Schritt zu einem »höchsten Leben« in Gott einbezieht. Darauf bauen dann die Ansichten, sein bekanntestes Werk, auf. Mit dem Begriff »Nachtseite« war zwar der Gegenpol zu aller messbaren naturwissenschaftl. Forschung gemeint, aber S.s metaphor. Verständnis der Nacht wirkt dennoch eher aufklärerisch: Sie ist die Dunkelheit vor dem Aufgang des Lichts. Seine Vorstellung eines zeitl. Entwicklungsganges ist jedoch nicht mehr linear, aus dem Dunklen ins Helle führend, sondern organistisch, verbleibt also im Bild eines Kreislaufs. Der Lebenskreis des einzelnen Menschen u. des ganzen Menschengeschlechts besteht im Ausgang in die Vereinzelung u. in der Rückkehr ins Ganze, in die Heimat Gottes: Zeugung u. Tod stellen die beiden großen, aufeinander bezogenen Schritte dafür dar. In den Ansichten führt S. im Wesentlichen Anzeichen u. Symptome für diesen größeren Zusammenhang in der »Nacht« der Heimatlosigkeit u. Kälte vor. Die Geschichte vom toten Bergmann zu Falun, der nach 50 Jahren von seiner altgewordenen Braut wiedergefunden wird, illustriert die Situation aufs deutlichste: Der phys. Tod wird durch Liebe u. Glauben überwunden, u. das menschl. Dasein geht so in eine höhere Ordnung über.
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In solchem Kontext ist auch S.s intensive Beschäftigung mit Phänomenen des Magnetismus, des Somnambulismus, der Hypnose u. des Traums zu sehen. Bedeutend wirkte in dieser Hinsicht Die Symbolik des Traumes (Bamberg 1814. Neudr. mit Nachw. von Gerhard Sauder. Heidelb. 1968. Nachdr. der Ausg. 1814: Karben 1997), in der wiederum sachl. Beobachtungen mit der Konstruktion einer Erlösungslehre verknüpft werden. Aus dem Gedanken von einer Ursprache des Menschengeschlechts entwickelt S. die Vorstellung von einer »Abbreviaturen- und Hieroglyphensprache«, die sich u. a. eben in den Bildern des Traums äußere u. die, wäre sie nur mitteilbar, als eine Art Metasprache auch allg. verständlich wäre. S. beschreibt vieles, für das erst die Psychoanalyse Begriffe gefunden hat, wie etwa Verdrängungsphänomene oder das kollektive Unbewusste. Für S. jedoch erfolgte die Lösung von Konflikten in religiöser Bindung, auf die seine Lehre mit steigender Tendenz zulief. Die Erforschung der Krankheiten und Störungen der menschlichen Seele (Stgt./Tüb. 1845) hat S. sein Leben lang fortgesetzt u. Die Geschichte der Seele (2 Bde., ebd. 1830. 51877/78. Neudr. Hildesh. 1961) im Grenzgebiet zwischen Psychiatrie, Psychologie, Naturphilosophie u. Theologie als Hauptwerk betrachtet. S.s christl. Religiosität kommt ebenfalls in seinen zahlreichen, hauptsächlich für die Jugend bestimmten, vorwiegend erbaul. Erzählungen aus bürgerl. Milieu u. in biogr. Darstellungen (u. a. Kepler, Kolumbus, Prinz Eugen, George Washington, John Franklin) zum Ausdruck. Daneben stehen didakt. Schriften zu verschiedenen Bereichen der Naturwissenschaften, Reiseberichte (Frankreich, Italien, Vorderer Orient) u. die umfangreiche Selbstbiografie Der Erwerb aus einem vergangenen und die Erwartungen von einem zukünftigen Leben (3 Bde., Erlangen 1854–56. Alice Rössler: G. H. v. S.: Der Erwerb [...]. Personenregister. Erlangen 2003). Weitere Werke: Die Kirche u. die Götter. Penig 1804 (R.). – Altes u. Neues aus dem Gebiete der innern Seelenkunde. 7 Bde., Lpz. u. a. 1817–59. – Wanderbüchlein eines reisenden Gelehrten nach Salzburg, Tyrol u. der Lombardei. Erlangen 1823. – Lehrbuch der Naturgesch. [...]. Ebd. 1823. – Die
Schubert Urwelt u. die Fixsterne. Dresden 1823. – Reise durch das südl. Frankreich u. durch Italien. 2 Bde., Erlangen 1827 u. 1831. – Reise in das Morgenland in den Jahren 1836 u. 1837. 3 Bde., ebd. 1838/39. – Erzählungen. 4 Bde., ebd. 1840–50. – Biographien u. E.en. 3 Bde., ebd. 1847/48. – Der neue Robinson oder die Schicksale des Philipp Aston. Calw 1849. – Kleine E.en für die Jugend. 2 Bde., Erlangen 1852. – Märchen u. E.en für das kindl. Alter. Ebd. 1853. – Vermischte Schr.en. 2 Bde., ebd. 1857 u. 1860. Literatur: Wilhelm Lechner: G. H. v. S.s Einfluss auf Kleist, Justinus Kerner u. E. T. A. Hoffmann. Borna 1911. – Franz Rudolf Merkel: Der Naturphilosoph G. H. S. u. die dt. Romantik. Mchn. 1913. – G. Nathanael Bonwetsch (Hg.): G. H. S. in seinen Briefen. Ein Lebensbild. Stgt. 1918. – Hans Dahmen: E. Th. A. Hoffmann u. G. H. S. In: LitJb 1 (1926), S. 62–111. – Gustav Osthus: G. H. S.s philosoph. Anfänge [...]. Diss. Erlangen 1930. – Ernst Busch: Die Stellung G. H. v. S.s in der dt. Naturmystik u. in der Romantik. In: DVjs 20 (1942), S. 305–339. – Ursula Thomas: Heinrich v. Kleist and Schubert. Diss. Wisconsin 1957. – Wolfgang Liepe: Der Schlüssel zum Weltbild Hebbels: G. H. S. In: Ders.: Beiträge zur Lit.- u. Geistesgesch. Neumünster 1963, S. 139–157. – Adalbert Elschenbroich: Romant. Sehnsucht u. Kosmogonie. Eine Studie zu G. H. S.s ›Geschichte der Seele‹ [...]. Tüb. 1971. – Alice Rössler (Hg.): G. H. S. Gedenkschrift zum 200. Geburtstag des romant. Naturforschers. Erlangen 1980. – Friedrich Wilhelm Kantzenbach: Bewunderung u. Religiösität – zum Verständnis v. G. H. S.s Persönlichkeit anläßlich der 200. Wiederkehr seines Geburtstages. In: Ztschr. für bayer. Kirchengesch. 50 (1981), S. 80–85. – Heinz Schott: Der versteckte Poet in uns. Zur Sprachtheorie in der naturphilosoph. Seelenlehre v. G. H. S. In: Sudhoffs Archiv 65 (1981), S. 226–250. – Hans Joachim Hahn: G. H. S.’s Principle of Untimely Development. In: GLL 37 (1983/84), S. 336–353. – Gerhard Kluge: G. H. S.s Auffassung vom tier. Magnetismus u. Achim v. Arnims Erzählung ›Die Majoratsherren‹. In: Aurora 46 (1986), S. 168–173. – Gerhard Schulz: Die dt. Lit. zwischen Frz. Revolution u. Restauration. Mchn., Bd. 2, 1989, S. 204–211 u. passim. – Martina Stoll u. Ursula Riedlberger: G. H. v. S. Eine Bibliogr. Erlangen 1997. – Hans-Georg von Arburg: G. H. S.s ›Die Kirche und die Götter‹ (1804): ein frühromant. Roman. In: Athenäum 11 (2001), S. 93–121. – Steffen Dietzsch: G. H. S. In: Naturphilosophie nach Schelling. Hg. Thomas Bach u. Olaf Breidbach. Stgt.-Bad Cannstatt 2005, S. 673–699. – Waldemar Fromm: G. H. v. S. In: NDB. – Heike
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Petermann: G. H. S. Die Naturgesch. als bestimmendes Element. Erlangen/Jena 2008. Gerhard Schulz
Schubert, Helga, * 7.1.1940 Berlin. – Verfasserin von Prosa, Kinderbüchern, Theaterstücken, Filmszenarien u. Hörspielen. S. war nach dem Psychologiestudium (1958–1963) als klin. Psychologin u. als Wissenschaftlerin in der Psychotherapieforschung tätig. Seit 1977 ist sie freie Schriftstellerin. – S. gehört zu jenen Autorinnen, die mit unaufgeregtem, gleichwohl beharrl. Engagement die Frauenliteratur der DDR geprägt haben. Nach Lyrikversuchen (seit 1960) konzentrierte sie sich bald auf Kurzprosa. 1975 erschien ihr erstes Buch (Lauter Leben. Geschichten. Bln./Weimar. U. d. T. Anna kann Deutsch. Darmst./Neuwied 1985), das in 31 Kurztexten überraschende Einblicke ins Alltagsleben gewährt. Am beeindruckendsten sind jene Texte, die (wie Meine alleinstehenden Freundinnen oder Aus dem beruflichen Alltag) fast unkommentiert in der Art psycholog. Fallstudien Beobachtungen wiedergeben: Beispiele einer zurückhaltenden, durch Genauigkeit sich einmischenden Literatur. Diese Schreibweise prägt auch den zweiten Prosaband (Das verbotene Zimmer. Geschichten. Darmst./Neuwied 1982). Stärker als im ersten greift S. hier auf autobiogr. Erfahrungen zurück u. versucht in der Auseinandersetzung mit Müttern u. Vätern den eigenen Standort zu bestimmen. Neben Texten von unerreicht lakon. Präzision stehen allerdings künstlich überhöhte. Das Bemühen, Alltagsrealität brennglasartig in knappe Sprache zu fassen, kommt auch in S.s Theaterstücken (Eine unmögliche Geschichte. Urauff. Rudolstadt 1977), Hörspielen u. Filmszenarien (Die Beunruhigung. DEFA 1982) zum Ausdruck. Judasfrauen (Ffm. 1990. Bln./Weimar 1991) präsentiert »zehn Fallgeschichten weiblicher Denunziation im Dritten Reich« u. war urspr. als »in Parabeln verschlüsselte« Mitteilung über den Totalitarismus konzipiert. Die Andersdenkende (Mchn. 1994) versammelt Essays u. Geschichten, eine Mischung aus Autobiografischem u. Fiktivem aus den Jahren 1972 bis 1993. Die Auseinanderset-
zung mit der DDR ist das zentrale Thema. Die Flugzeugentführung spricht den Konflikt an, ob eine junge Frau mit ihrem Kind im Westen bleiben soll, in den sie der Zufall verschlagen hat. Der Sammelband Das gesprungene Herz trägt den Untertitel Leben im Gegensatz (Mchn. 1995). Gegensatz ist das Formprinzip dieses Buches. In der Gattungsvielfalt von Märchen, Rezensionen, Glossen u. literar. Predigten zeigt sich ein radikales Beharren auf individueller Freiheit. Die Denunziation durch Stasispitzel wird mit dem Verrat des bibl. Judas parallelgeführt. Bereits in dem Zeitungsartikel Im Sumpf rumstochern wird das Thema von Die Welt da drinnen. Eine deutsche Nervenklinik und der Wahn vom ›unwerten Leben‹ (Ffm. 2003) angesprochen. Hier rekonstruiert S. literarisch die Lebensläufe u. Krankengeschichten von geistig kranken Menschen, die während des Nationalsozialismus dem Euthanasieprogramm zum Opfer fielen. Es sind Patienten der Schweriner Nervenklinik am Sachsenberg, die in der Tötungsanstalt Bernburg ermordet wurden. Weitere Werke: Blickwinkel. Bln./Weimar 1984 (E.en; Heinrich-Mann-Preis 1986). – Michael Haller (Hg.): Gehen die Frauen in die Knie? Streitgespräch zwischen Rita Süssmuth u. H. S. Zürich 1990. – Kinderbücher: Bimmi u. das Hochhausgespenst. Bln./DDR 1980. – Bimmi u. die Victoria A. Ebd. 1981. – Bimmi u. der schwarze Tag. Ebd. 1982. – Hörspiele: Anna – die Polnische Wirtin. Radio DDR 1, 1.2.1977. – Ansprache einer Verstorbenen an die Trauergemeinde. Radio DDR 1, 21.9.1983. – Verwirrung oder die Deutsche in mir. RIAS Bln., 3.10.1991. Literatur: Ulrike Böhmel-Fichera: Anna Seghers, eine Großmutter der neuen Frauenlit. Zur Lektüre einiger Prosatexte von H. S. In: Die Lit. in der DDR 1976–1986. Hg. Anna Chiarloni. Pisa 1988, S. 305–315. – Bernhard Meier: ›Ich möchte auch in anderen Ländern verständlich sein‹. Interview mit H. S. In: Dt. Studien 26 (1988), S. 60–66. – Volker Hammerschmidt, Andreas Oettel u. HansMichael Bock: H. S. In: KLG. – Christine Cosentino: ›Heute freilich möchte man fragen ...‹. Zum Thema v. Schuld u. Verantwortung in Christa Wolfs ›Was bleibt‹, Helga Königsdorfs ›Ungelegener Befund‹ u. H. S.s ›Judasfrauen‹. In: Neoph. 76 (1992), H. 1, S. 108–120. – Peter Teupe: ›Wessen Straße ist die Straße?‹ Interview mit H. S. In: Deutschland-Archiv 25 (1992), H. 1, S. 48–61. – Therese Hörnigk: Gespaltene Lebenswelten. H. S: Blickwinkel. In:
607 Verrat an der Kunst? Hg. Karl Deiritz. Bln. 1993, S. 146–150. – Annette Firsching: Literar. Wechselgesang: Sarah Kirsch, Maxi Wander u. H. S. als Stimmen in Christa Wolfs ›Sommerstück‹. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen u. Literaturen 147 (1995), H. 1, S. 116–125. – Beth Alldred: Two contrasting perspectives on German unification. H. S. and Brigitte Burmeister. In: GLL 50 (1997), H. 2, S. 165–181. – Ute Lischke-McNab: Women, film, and writing in the GDR. H. S. and the Defa. An interview with H. S. In: Triangulated Visions. Women in recent German cinema. Hg. Ingeborg Majer O’Sickey u. Ingeborg von Zadow. Albany 1998, S. 199–205. – Alessandro Bigarelli: Ethik u. Diskurs im weibl. Schreiben am Beispiel v. H. S.s Gesch.n. Ffm. u. a. 1998. – Julia Petzl: Realism and reality in H. S., Helga Königsdorf and Monika Maron. Ffm. u. a. 2003. – Petra Ernst: H. S. In: LGL. Hannes Krauss / Elke Kasper
Schubiger, Jürg, * 14.10.1936 Zürich. – Erzähler, Kinderbuchautor.
Schubin
Werk des Autors, sondern auch in seiner Tätigkeit als Verfasser von Kinderbüchern u. Hörspielen (vgl. Der Zusammenstoß. Zus. mit F. Hohler. 2000). Unerwartet grün (Darmst./Neuwied 1983) ist das minutiöse Protokoll des regelmäßigen Gangs zu einer Tessiner Alp: In der jahreszeitl. Veränderung der Natur spiegelt sich – gemäß der Korrespondenz von innerer u. äußerer Natur – die persönl. Entwicklung der Erzählfigur wider. Um Entwicklung (wiewohl auch um Entstehung) geht es ebenfalls im 2002 erschienenen Roman Haller und Helen (Innsbr./Wien; als Hörsp. 2011), nämlich um jene einer Liebesgeschichte in einem Altersheim. Im Roman Die kleine Liebe (Innsbr./ Wien 2008) erzählt u. entwickelt S. unaufgeregt sowie mit poetischer Distanz anhand der Protagonistin L. (für Laetizia) die Biografie einer Frau, welche die Spielregeln des menschl. Zusammenlebens unvoreingenommen für sich zu entdecken u. verstehen sucht. S. erhielt zahlreiche literar. Auszeichnungen, u. a. den Prix Suisse/Schweizer Hörspielpreis 1996 (für Die ersten sieben Tage), den Schweizer Jugendbuchpreis 2005 u. den Hans Christian Andersen-Preis 2008.
Nach einer abgebrochenen Ausbildung zum Kartonagezuschneider übte S. verschiedene Berufe aus, holte das Abitur nach u. schloss sein Studium (Germanistik, Psychologie u. Philosophie) mit einer Dissertation über Kafkas Verwandlung ab. Heute lebt er als Weitere Werke: Barbara. St. Gallen 1956 (E.). – Schriftsteller u. Psychotherapeut in Zürich u. Haus der Nonna. Eine Kindheit im Tessin (zus. mit Jolanda Schubiger-Cedraschi). Frauenfeld 1980. – im Tessin. Zentral in S.s vielgestaltigem Werk sind Das Löwengebrüll. Märchen u. Gesch.n. Weinheim Sprachskepsis u. Infragestellung der üblichen 1988. – Hinterlassene Schuhe. Zürich/Frauenfeld Wahrnehmungskategorien (vgl. die Ge- 1989. – Bitte reden Sie weiter. 1994 (Hörsp.). – Aller Anfang (zus. mit Franz Hohler, Bilder v. Jutta schichtensammlung Die vorgezeigten Dinge. Bauer). Weinheim 2006. Bern 1970). Seine Kinderbücher spielen mit Literatur: Maria Lypp u. Antje Efkes: J. S. In: der kindl. Betrachtungsweise, ohne diese diKLG. – Renate Raecke: J. S. In: LGL. daktisch einzubinden, u. werden laut S. aus Guido Stefani / Silvana Cimenti der »Kindlichkeit des Erwachsenen« erzählt. Zudem wird dem Leser etwa in Dieser Hund heißt Himmel. Tag- und Nachtgeschichten (WeinSchubin, Ossip, eigentl.: Lola (Aloisia) heim 1978) kein Sinnangebot unterbreitet, Kirschner, * 17.6.1854 Prag, † 10.2.1934 sondern er findet sich mit der Aufforderung Schloss Kosatek/Böhmen. – Erzählerin. konfrontiert, Verarbeitung durch genuin kindl. Handeln zu erreichen. Eine Erziehung mit Bildungsreise brachte S. Ein ähnl. Aufforderungscharakter ist in in Kontakt mit führenden literar. Gestalten den Hin- und Hergeschichten (zus. mit Franz der Zeit, u. a. George Sand u. Turgenjew. Von Hohler. Darmst./Neuwied 1986) erkennbar; den Zeitgenossen, nicht ganz zu Unrecht, als jene weisen aber auch auf eine von S. Ebner-Eschenbach-Epigonin eingestuft, vermanchmal genützte Besonderheit in der öffentlichte auch sie in Familienblättern, war Produktionsweise hin: die Ko-Autorenschaft. seit dem Erfolg des Romans Ehre (Dresden/ Sie findet sich nicht nur im belletristischen Lpz. 1883) »Deutsche Rundschau«- u. »Wes-
Schuder
termanns«-Autorin; wie von ihrem Vorbild stammt auch von S. eine viel bewunderte Tiererzählung (Peterl. Eine Hundgeschichte. Bln. 1902). Doch entwickelte sie einen eigenen Ton als – häufig übersetzte – Chronistin der heimatl. Gesellschaft der oberen wie auch der Dorfsphäre in dem Roman O du mein Österreich (3 Bde., Stgt. 1890) u. in Bludicka. Erzählung aus dem slavischen Volksleben (Braunschw. 1890). 1892 erschien ihr dreibändiger weibl. Bildungsroman Gräfin Erikas Lehr- und Wanderjahre (Braunschw. 21921). Nach der Jahrhundertwende wandte sich S., wohl unter dem Einfluss der späten Ebner-Eschenbach, erbaul. Erzählwerken zu (Refugium peccatorum. Bln. 1903. Der Gnadenschutz. Bln. 1905). Literatur: Konstanze Fliedl: Verkannt u. verfehlt. In: Philologia pragensia 33 (1990), S. 48–55. – Sigrid Schmidt-Bortenschlager: Die Übertragbarkeit v. Geschlechterstereotypen. In: Lit. im Wandel. Hg. Marijan Bobinac. Zagreb 1990, S. 93–99. – Wilma A. Eggers: Women of Prague. Providence 1995, S. 115–141. – Elena Wassmann: O. S. Die Gesch. eines Genies (1884). In: Lexikon deutschsprachiger Epik u. Dramatik v. Autorinnen (1730–1900). Hg. Gudrun Loster-Schneider u. Gaby Pailer. Tüb./Basel 2006, S. 403–405. – Andrea Rüttiger: Gräfin Erikas Lehr- u. Wanderjahre (1892). In: ebd., S. 405 f. Eda Sagarra
Schuder, Rosemarie, * 24.7.1928 Jena. – Autorin historischer Romane.
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Zufriedenen. Ebd. 1977), schließlich die Bewegung der Täufer (Die Erleuchteten oder Das Bild des armen Lazarus zu Münster in Westfalen. Ebd. 1968) gelten S. als Zeugen der langen Tradition humanistischer Ideale, in deren histor. Scheitern ihr zgl. die Notwendigkeit einer sozialistischen Gesellschaftsveränderung verbürgt schien. 1969 erhielt S. für ihre Werke den Nationalpreis der DDR. Seit den 1980er Jahren setzt sich S. in ihren Werken verstärkt mit der Geschichte des Judenhasses auseinander. Mit ihrem Mann, Rudolf Hirsch, legte sie 1988 die Essays Der gelbe Fleck. Wurzeln und Wirkungen des Judenhasses in der deutschen Geschichte (Bln.) u. 1996 den Band Nummer 58866 Judenkönig. Das Leben des Kurt Julius Goldstein (Bln. Überarb. u. erw. Neuausg. ebd. 2009) vor. Auch nach dem Tod ihres Mannes 1998 beschäftigt sich S. mit dieser Thematik, u. a. in der Biografie Der ›Fremdling im Osten‹. Eduard Lasker – Jude, Liberaler, Gegenspieler Bismarcks (Bln. 2008). Weitere Werke: Tartuffe 63 oder Die Ehe Michaela Schlieker. Bln./DDR 1965 (R.). – Hieronymus Bosch. Ebd. 1975 (Ess.s). – Serveto vor Pilatus. Ebd. 21983. – Die Bilder der Königin. Berlin 1990 (R.). – Botticelli. Ebd. 1996 (R.). – Hochverrat oder Seltsame Wege zu Ferdinand Freiligrath. Zürich 2001 (R.) – Dt. Stiefmutterland. Wege zu Berthold Auerbach. Teetz 2003 (Ess.). Literatur: Helga Herting: Interview mit R. S. In: WB 19 (1973), H. 4, S. 67–81. – Dies.: R. S. In: Lit. der DDR. Hg. Hans Jürgen Geerdts. Bd. 2, Bln./ DDR 1979, S. 300–315. – Achim Roscher: R. S. im Gespräch. In: NDL 27 (1979), H. 11, S. 54–60. – Kurt Habitzel: Der histor. Roman der DDR u. die Zensur. In: Travellers in Time and Space. The German Historical Novel / Reisende durch Zeit u. Raum. Der deutschsprachige histor. Roman. Hg. Osman Durrani u. Julian Preece. Amsterd./New York 2001, S. 401–421. Andrea Jäger
S. arbeitete nach ihrem Abitur 1947 zunächst als Journalistin, seit 1958 als freie Schriftstellerin in (Ost-)Berlin. Von 1951 bis März 1990 war S., die aus einer christlich-bürgerl. Familie stammt, Mitgl. der CDU der DDR. Erfolgreich war ihr erster Roman über den unbekannten Schöpfer der Naumburger Domfiguren: Der Ketzer von Naumburg (Bln./ DDR 1955). Ihr Interesse gilt der Vergegenwärtigung histor. Umbruchsituationen, Schübel, Theodor, * 18.6.1925 Schwarinsbes. der Reformation, der Renaissance u. zenbach/Saale. – Dramatiker, Romancier. den Bauernkriegen, sowie den sie repräsentierenden Persönlichkeiten. Johannes Kepler S. wurde als Sohn eines Braumeisters geboren (Der Sohn der Hexe. Ebd. 1957. In der Mühle des u. war lange Zeit in der Industrie tätig. BeTeufels. Ebd. 1959), Michelangelo (Der Gefes- kannt wurde er u. a. durch sein im Jahr 1648 selte. Ebd. 1962. Die zerschlagene Madonna. Ebd. spielendes Bühnenstück Der Kürassier Sebasti1964), Hieronymus Bosch u. die Ärzte Para- an und sein Sohn (1957), das v. a. den großen celsus u. Agrippa (Paracelsus und Der Garten der Einfluss Brechts zeigt u. für das er den GerLüste. Ebd. 1972. Agrippa und Das Schiff der hart-Hauptmann-Preis erhielt. Von 1963 an
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als freier Schriftsteller in Schwarzenbach ansässig, lebt S. seit 2004 in Landau/Pfalz. Nach Fernsehspielen u. Übersetzungen (Molière, Balzac u. Shakespeare) schrieb er in den 1980er Jahren Romane, in denen die polit. Geschichte u. Zeitgeschichte von Flucht u. Unterdrückung in der DDR (Damals im August. Mchn. 1983) u. in der NS-Zeit (Kellerjahre. Mchn. 1982) verdeutlicht werden. Sprachlich schlicht u. psychologisch einleuchtend schildert S. Protagonisten in ihren Ängsten u. Zweifeln. Weitere Werke: Wo liegt Jena? Bln. 1964 (D.). – Karl Sand. Bln. 1964 (D.). – Der Wohltäter. Bln. 1968 (Kom.). – Dreizehn Stunden Angst. Mchn. 1984/85 (R.). – Pastor Dennewitz. Bln. 1992 (D.). – Vom Ufer der Saale. Bln. 1992 (R.). Georg Patzer
Schücking, (Christoph Bernhard) Levin, * 6.9.1814 Meppen, † 31.8.1883 Bad Pyrmont; Grabstätte: ebd., Friedrich Lortzingstraße. – Romancier, Erzähler, Reisebuchautor, Literaturkritiker u. Journalist. Aufgewachsen im Jagdschloss Clemenswerth (in Sögel/Emsland), war der Spross eines westfäl. Patriziergeschlechts nach Jurastudium u. literar. Debüt in Münster 1841/42 Bibliothekar Laßbergs u. Freund der DrosteHülshoff auf der Meersburg, 1842/43 Erzieher beim Fürsten Wrede in Ellingen. Verheiratet mit der Schriftstellerin Louise von Gall, gewann S. als Redakteur der Augsburger »Allgemeinen Zeitung« 1843–1845 u. Feuilletonchef der »Kölnischen Zeitung« 1845–1852 Ruf u. Einfluss. Als Reisejournalist berichtete S. 1846 aus Paris, 1847/48 aus Rom u. Neapel (Eine Römerfahrt. Koblenz 1848). Seit 1852 lebte der freie Literat auf seinem Gut in Sassenberg, seit 1857 zeitweise im nahen Münster u. nach 1874 winters in Rom. S.s Aufstieg in der Biedermeierzeit führte zeittypisch über Literaturkritik u. Presse. Existenznot rang dem Erfolgsautor (Dr. phil. h. c. Gießen 1864) im Sog der Feuilletons u. Familienblätter ein qualitativ unterschiedl. Werk von über 150 Titeln ab: kulturhistor. u. Zeitromane, Novellen u. Erzählungen, Reisebücher, Dramen, Lyrik; dazu viele Essays u.
Schücking
massenweise Literaturkritik. Der passionierte (oft subjektive u. reflektierende) Erzähler verbindet spannendes, teils dramat. Erzählen mit kulturhistor. Information u. ethischdidakt. Zielsetzung. In der Manier Scotts erstrebte S. mit den meist in Westfalen spielenden Romanen eine westfäl. Sittengeschichte (Ausgewählte Romane. 12 Bde., Lpz. 1864). Man lobte die genre- u. episodenhafte, oft humoristische Ausmalung des Lokal- u. Zeitkolorits (bes. 18. Jh.) u. tadelte sein Schreiben auf Effekt, das ein Massenpublikum ansprach: krasse Motive, ausuferndes Intrigenspiel, unwahrscheinl. Handlungsführung. Mit den Jungdeutschen verficht der Freund Gutzkows eine – freilich gemäßigte, auf Bildung u. »Geistesaristokratie« gründende – Emanzipation, bes. der Frau, gegen Adelsvorrecht (Die Ritterbürtigen. 3 Tle., Lpz. 1846) u. kath. Dogmen (Die Heiligen und die Ritter. 4 Bde., Hann. 1873). Mit dem (konservativen) Biedermeier teilt er die Hinwendung zur Heimat (westfäl. Romane u. Reisebücher: Das malerische und romantische Westphalen. Lpz. 1841. Paderb. 21872. Begonnen von Freiligrath). Den Geschichtsenthusiasten fasziniert die Kontinuität des historisch Gewordenen (Paul Bronckhorst oder Die neuen Herren. 3 Tle., Lpz. 1858. Das Recht des Lebenden. 3 Tle., ebd. 1880), aber sein auf Freiheit angelegter Geschichtsprozess folgt dem dialektischen Hegels, in dem Gewordenes wert ist, dass es zugrunde geht. Die janusköpfige Werkstruktur mit rückgewandter, oft aristokratischer Kulisse (minutiöse Schlossbeschreibungen) u. fortschrittlich liberalen Ideen enthüllt die Spannung zwischen Gemüt u. Verstand (Schloß Dornegge oder Der Weg zum Glück. 4 Bücher, ebd. 1868), Bindung u. Emanzipation als Grundproblematik von Leben u. Werk: Adelsverehrung verbindet sich mit -schelte, Aufklärung mit Geisterglauben, Westfalen-Publizistik mit -Kritik, insbes. an Adel u. kath. Kirche. Gegen den westfäl. Adel gerichtet, führten Die Ritterbürtigen zur Abkehr der Droste, deren Liebesfreundschaft ihn zu einem Wegbereiter ihres Werks machte (außer Werkedition: Annette von Droste. Ein Lebensbild. Hann. 1862).
Schüler von Paris Weitere Werke: Eine dunkle Tat (= Das Stiftsfräulein). Lpz. 1846 (R.). – Heinrich v. Gagern. Köln 1849. – Der Bauernfürst. 2 Bde., Lpz. 1851 (R.). – Geneanom. Briefe. Ffm. 1855. – Eine Eisenbahnfahrt durch Westfalen. Lpz. 1855. – Von Minden nach Köln. Ebd. 1856. – Aus den Tagen der großen Kaiserin. 2 Bde., Prag/Lpz. 1858 (histor. N.n). – Ges. E.en u. N.n. 6 Bde., Hann. 1859–66. – Die Marketenderin v. Köln. 3 Tle., Lpz. 1861 (R.). – Verschlungene Wege. 3 Bde., Hann. 1867 (R.). – Luther in Rom. 3 Bde., ebd. 1870 (R.). – Ausgew. Romane. 2. F., 12 Bde., Lpz. 1874. – Feuer u. Flamme. 3 Bde., Stgt. 1875 (R.). – Die Herberge der Gerechtigkeit. 2 Tle., Lpz. 1879 (R.). – Große Menschen. 3 Bde., Breslau 1884 (R.). – Recht u. Liebe. Ebd. 1886 (R.). – Lebenserinnerungen. Ebd. 1886. Nachdr. hg. v. Walter Gödden u. Jochen Grywatsch. Bielef. 2009. – Briefe: Briefe v. L. S. u. Louise v. Gall. Hg. Remhold Conrad Muschler. Lpz. 1928. – Briefe v. Annette v. Droste-Hülshoff u. L. S. Hg. ders. 3., stark verm. Aufl. Ebd. 1928. – Der Briefw. zwischen Karl Gutzkow u. L. S. 1838–1876. Hg., eingel. u. komm. v. Wolfgang Rasch. Bielef. 1998. – ›Levin, lieber Junge‹. Annette v. DrosteHülshoffs Briefw. mit L. S. Eine Produktion der Nyland-Stiftung, Köln. Idee u. Textauswahl: W. Gödden. Sprecher: Penny Sibylle Michel u. Ansgar Schäfer. Münster 2000 (2 CDs u. 1 Beiheft). Literatur: Kurt Pinthus: Die Romane L. S.s. Lpz. 1911. – Ilse Simmermacher: L. S.s journalist. Leistung. Diss. Heidelb. 1945. – Johannes Hagemann: L. S. Emsdetten 1959. – L. S. Zum hundertsten Todestag. Sonderh. ›Up Sassenbiärg‹ des Heimatvereins Sassenberg 15 (1983). – Manfred Schier: L. S. Münster 1988. – Iris Nölle-Hornkamp u. Eckhard Mating: Eine längst vergessene Dichterin: Katharina Busch (1791–1831). Die Mutter L. S.s wurde von der Droste verehrt. In: Annette v. Droste-Hülshoff. 1797–1848. Wie sie lebte, wie sie war, was sie schrieb. Hg. Rainer A. Krewerth. Münster 1990, S. 61–65. – M. Schier: L. S. Westfäl. Schriftsteller zwischen Tradition u. Emanzipation. In: Lit. in Westfalen. Beiträge zur Forschung. Paderb. 1992, S. 105–129. – Westf. Autorenlex. 2. – Ortrun Niethammer: Die literar. Zusammenarbeit zwischen Annette v. Droste-Hülshoff u. L. S. Referenzen, Korrespondenzen u. Widersprüche. In: Droste-Jb. 3 (1997), S. 115–126. – Heinz Thien: L. S. schrieb dt. Zeitungsgesch. In: Schücking-Jb. 2 (1999/2000), S. 9–20. – Renate v. Heydebrand: Interferenzen zwischen Geschlechterdifferenz u. Poetik. Annette v. Droste-Hülshoff u. L. S. als schreibendes Paar. In: IASL 26 (2001), 2, S. 121–157. – Stefan Thürmer: L. S. u. Nikolaus Lenau. In: Lenau-Jb. 27 (2001), S. 151–178. – An-
610 nette Runte: ›Pegasus mit langen Ohren‹. Über die poet. Paarwirtschaft zwischen Annette v. DrosteHülshoff u. L. S. In: Dies.: Lesarten der Geschlechterdifferenz. Studien zur Lit. der Moderne. Bielef. 2005, S. 83–107. – Walter Gödden: L. S. In: NDB. – Bernhard Walcher: ›Dt. Dichter als Führer jenseits der Alpen‹. Die Romgedichte in L. S.s lyr. Reiseanthologie ›Italia‹ (1851). In: Zwischen Goethe u. Gregorovius. Friedrich Rückert u. die Romdichtung des 19. Jh. Hg. Ralf Georg Czapla. Würzb. 2009, S. 221–261. Manfred Schier / Red.
Schüler von Paris. – Mittelhochdeutsche Versnovellen; um 1300. Den drei voneinander unabhängigen Fassungen gemeinsam ist die stoffl. Grundlage. Bei einer heiml. Zusammenkunft stirbt der Liebende nach der Vereinigung, erfüllt vom übergroßen Glück. Am Grab wird die Liebe des bisher wohl behüteten Mädchens offenkundig – auch sie stirbt, u. beide werden zusammen bestattet. Die Gewalt der Minne steht im Mittelpunkt: Ständische Unterschiede – er Adliger, sie Tochter eines Pariser Bürgers – sind für die Handlung u. die Darstellung des Minneverhältnisses ohne Belang (anders im motivähnl. Märe Frauentreue). Der Student hat nichts vom gewitzten, lebensklugen Verführer anderer Schülernovellen. Ganz auf das zentrale Thema konzentriert ist die einfachste Version M (aus Westthüringen): Der Student steigt im Elternhaus des Mädchens ab, beide verlieben sich sogleich u. kommen bei einer Ausfahrt der Eltern zum Ziel ihrer Sehnsüchte. Viel mehr unter der »huote« des Vaters zu leiden haben die Paare der Fassungen W (wohl aus Nordböhmen) u. G (in zwei Redaktionen; aus Ostthüringen bzw. Ostschwaben): er hält die Tochter hinter Schloss u. Riegel. So unterschiedlich die Gestaltungen sind, so sehr differieren sie bei der Deutung der Minneproblematik. Der Prolog von M warnt – wie das Märe Hero und Leander – vor schädl. Übermaß in der Minne, was aber nicht recht zum Preis ihrer Allgewalt im Epilog passt. W hingegen schließt mit einem Gebet um Gnade für die Liebenden – sie hätten als schwache Menschen, doch nicht »wider natur« gehandelt; Gott selbst habe ja Mann u. Frau geschaffen. In G schließlich wird in der Hand-
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lung eine Problematik angedeutet: Um einen Mönch zum unwissenden Überbringer ihrer List zu machen, beichtet das Mädchen die »sunde« der heiml. Zusammenkunft, die auch der Priester als Fehlverhalten bewertet. Auf das Handeln der Liebenden wirkt sich das freilich nicht aus; am Ende erscheint die Schuld des reuigen Vaters wie in Pyramus und Thisbe weitaus größer. – Dass der Stoff beliebt war, zeigen die späteren Ausformungen bei Boccaccio (IV. 6; IV. 8) u. Marguerite von Navarra (50). Ausgaben: Hans-Friedrich Rosenfeld: Mhd. Novellenstudien. Lpz. 1927. Neudr. New York/ London 1967, S. 207–230 (M bzw. C), 270–293 (W bzw. B), 394–449 (G bzw. A). – Novellistik des MA. Märendichtung. Hg., übers. u. komm. v. Klaus Grubmüller. Ffm. 1996, S. 296–335 (W bzw. B), 1133–1144. Literatur: Karl-Heinz Schirmer: Stil- u. Motivuntersuchungen zur mhd. Versnovelle. Tüb. 1969 (Register). – Hans-Joachim Ziegeler: Erzählen im SpätMA. Mchn./Zürich 1985, S. 258, 287–294, 440–442. – Rolf Max Kully: Der S. zu P. In: VL u. VL (Nachträge u. Korrekturen). – Wolfgang Achnitz: ›Als mir Johannes verjach, der die warheit weste wol‹. Beobachtungen zum Minnediskurs in ›Der S. v. P.‹ B u. in der ›Minnelehre‹ des Johann v. Konstanz. In: Archiv 240 (2003), S. 360–370. Anette Syndikus / Red.
Schünemann, Peter, * 25.4.1930 Hamburg. – Erzähler, Biograf, Rundfunkautor.
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zunächst, in Rückblenden aus einer schon jenseits der Schaffenszeit liegenden Erzählgegenwart, das Auseinanderrücken von Kunst u. Lebenswelt nachgezeichnet: Es hinterlässt jedoch ein Vakuum, in dem sich Relikte aus beiden Bereichen zu einem sinnu. leblosen Universum schließen. Eine lyrisch knappe, suggestive Diktion schafft ein gleichzeitig plast. u. irreales Weltbild, in dem sich biogr. Motive u. literar. Zitate brechen. Flankiert werden diese Texte einerseits von Autorenporträts, die auf knappem Raum histor., psycholog. u. künstlerische Aspekte zur Deckung bringen wollen u. mit ihrer auf Stichworte reduzierten Darstellung der Biografie v. a. auf Interpretation angelegt sind; andererseits von Hörspielen u. den im Band Gegengedächtnis (Mchn. 1980) versammelten Erzählungen. Diesen scheint mittelbar die vom Krieg verwüstete Kindheitswelt S.s eingeschrieben: eine ausgezehrte Landschaft, von fiebrigen Visionen durchzogen, in der Angst u. Ohnmacht jede seel. Regung zu lähmen u. zu entstellen drohen. In den fünf Essays des Bandes Spur des Vaters (Bielef. 2001) beschäftigt sich S. mit Lessing, Goethe, Freud, Thomas Mann u. Gottfried Benn u. versucht darzulegen, welche Spuren die Väter in den Werken ihre Söhne hinterlassen haben. Weitere Werke: Gottfried Benn. Mchn. 1977. – Georg Heym. Ebd. 1986. – Georg Trakl. Ebd. 1988. – Robert Walser. Bln. 1989. – (Hg.): Jüd. Erzählen. Mchn. 1993. – Zenons Spur. Münster 1996. – (Hg.): Lauter Abschiede. Ein Lesebuch. Mchn. 1996. – Wiederholte Spiegelungen. Elf Ess.s um Goethe & Andere. Tüb. 1998. – Dunkles Bild. Drei Erzählungen & ein Ess. Mchn./Wien 2005. – (Hg.): Bleib bei mir, mein Herz, im Schattenland. Gedichte über Liebe u. Tod. Mchn. 2005. – Scardanellis Gedächtnis. Mit zwei Ess.s. Mchn. 2007. Literatur: Angela Schader: P. S. In: KLG.
S. absolvierte eine Ausbildung zum Verlagsbuchhändler u. war später als Verlagslektor in München tätig. S.s Hörfunkreihen zur dt. Literatur vermitteln seine Kenntnis der europ. Geistesgeschichte, bes. des Zeitabschnitts vom Barock bis zum Expressionismus. In seinen literarisierten Biografien Trakls, Hölderlins, Büchners, Rimbauds u. Angela Schader / Red. Heinrich von Kleists (Der Medikamentenakzessist. Zürich 1981. Neuausg. Bln. 1994. Der Schürrer, Hermann, * 14.12.1928 WolfsMagister. Ebd. 1982. Zwieland. Ebd. 1984. J. A. egg/Oberösterreich, † 29.11.1986 Wien. – Rimbaud, Handelsagent. Bln. 1986. Die Nacht. Lyriker, Erzähler. Bielef. 1992) verdichtet sich dieses Wissen zu einem Chiffrenwerk, in dem die Geschichts- S. war durch seine provokanten öffentl. Aufu. Welterfahrung dieser Dichter mit ihrer tritte bekannter als durch seine Texte, die er poetischen Vision in Einklang gebracht wird. mitunter als Zahlungsmittel für seinen AlIm inneren Monolog der Protagonisten wird koholkonsum verwendete u. die daher zu ei-
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nem nicht abschätzbaren Teil verschollen Jaschke). Wien 1978. – Klar Schilf zum Geflecht. sind. Der Preis für seine kompromisslose Das ABC v. A – Zet. Lyr. Texte 1954–1984. Hg. Lui Verweigerung jedweder Vereinnahmung Dimanche. Wien/Bln. 1984. Literatur: Robert Menasse: Der Typus des durch die Kulturbürokratie u. den Markt war ein Leben ohne Geld u. zeitweise ohne Un- ›Außenseiters‹ im Literaturbetrieb (am Beispiel H. terstand. Erst in den letzten Jahren seines S.). Studie zum eigentüml. Verhältnis von offiziösem Literaturbetrieb u. literar. ›underground‹ im Lebens akzeptierte er einen von der Stadt Österr. der Zweiten Republik. Diss. Wien 1982. – Wien angebotenen festen Wohnsitz. Sein Reinhard Priessnitz: Zu S.s Person. Nachtrag. In: unstetes Leben begann S. nach seiner Über- H. S.: Klar Schilf zum Geflecht, a. a. O., S. 443–450. siedlung nach Wien 1951, als er mehrere – R. Menasse: Wien, die Hauptstadt des ausgeStudienfächer ausprobierte u. schließlich von henden 20. Jh. Zu Leben u. Werk v. H. S. In: Ders.: der Universität relegiert wurde. Er begann Die sozialpartnerschaftl. Ästhetik. Ess.s zum österr. 3 Gedichte zu schreiben, schloss sich aber kei- Geist. Wien 1996, S. 162–174. – Franzobel: Der ner der in den 1950er u. 1960er Jahren in Umrührer. Vermischtes zu H. S. In: Postscriptum Wien bestehenden Gruppierungen an. Er (1996), S. 77–82. Walter Ruprechter / Red. blieb Außenseiter u. kam in Konflikt mit der Staatsgewalt, die ihn ins Gefängnis u. ins Ir- Schütt, Peter, * 10.12.1939 Basbeck/Nierenhaus brachte. 1975 war S. Mitbegründer derelbe. – Lyriker, Dramatiker, Essayist. der Kulturzeitschrift »Freibord«, welche die inoffiziellen, widersetzlichen, auch experi- Den roten Faden im Leben des Lehrersohns u. mentellen literar. Strömungen in Österreich promovierten Germanisten S. bildet das sorepräsentierte. In späteren Jahren wurde er ziale, pazifistische u. demokratische Engagefür sein Werk ausgezeichnet: 1978 mit dem ment. 1960 konvertierte er zum KatholizisTheodor-Körner-Preis u. 1985 mit dem Preis mus; 1968 gehörte er zu den Aktiven der Studentenbewegung u. zu den Begründern der Stadt Wien. Der Anarchismus hat auch S.s Schreibweise der DKP. Seine Theaterstücke beziehen sich nachhaltig geprägt: nicht nur inhaltlich, wie meist auf soziale u. polit. Konflikte, z.B. die in seiner Prosa Kriminelle Spielereien in der Schließung einer Fabrik in Kampnagel lehrt Sandkiste der Weltverbesserer. Wiener Blut zur Er- Euch: Arbeiter wehrt Euch (Ffm. 1970). Sie gänzung der europäischen Mythomanie. Ein Mär- wurden bislang in der BR Deutschland kaum chenbuch für frühreife Erwachsene (Wien 1978) aufgeführt, dafür aber in der DDR. Ein größeres, auch internat. Publikum eroder im Roman Der letzte Yankee Doodle vor dem Untergang der Vereinigten Staaten. Voräffung einer reicht S. durch seine meist ebenfalls polit. Liquidation (ebd. 1981), einer Abrechnung mit Lyrik u. durch seine Reportagen aus den USA, dem Kapitalismus u. einem Rundumschlag Afrika, den islamischen Ländern u. der Sogegen alles Recht- u. Machthaberische, son- wjetunion. In ihnen eifert er seinem Vorbild dern auch im Formalen. In der Prosa wie der Egon Erwin Kisch nach, indem er gründl. Lyrik, der eigentl. Domäne S.s., bricht sich Kenntnisse der sozialen u. kulturellen Situaein anarchistisches Sprechen Bahn, in einem tion, detaillierte Beobachtungen u. entschieWort- u. Bilderreichtum, in abrupten asso- denes Engagement für die Menschen mitziativen Sprüngen u. einer Direktheit, die einander verbindet. In den folgenden Jahren setzte sich S. mit sich sowohl in Schimpftiraden als auch in den Veränderungen in Osteuropa auseinanzärtl. Tönen äußert (wie etwa bei Albert Ehder. Das Titelgedicht des Bandes Moskau funkt renstein, den S. sehr schätzte). wieder (Dortm. 1989) begrüßt die Politik der Weitere Werke: Ist Europa noch eine Messe Glasnost u. Perestroika. Im Reisebericht Die wert? Wien 1967 (D.). – Der kleinere Teil einer größeren Abrechnung (L. u. P.). In: John Sailer u. Himbeersoße kam vom KGB. Auf den Spuren meiReinhard Priessnitz (Hg.): Journal Nr. 1. Sommer ner sibirischen Irrtümer (ebd. 1990) rechnet er 1970 (Sondernr.). – Europa. Die Toten haben nichts selbstkritisch mit früheren polit. Illusionen zu lachen. Mchn. 1971. Wien 1995 (P.). – Goethe u. Vorurteilen ab. Nachdem S. 1990 ein darf kein Einakter bleiben (zus. mit Gerhard zweites Mal konvertiert war, diesmal zum
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schiitischen Islam, legte er mit Mein letztes Gefecht. Abschied und Beichte eines Genossen (Böblingen 1992) eine autobiogr. Bilanz seiner DKP-Zeit vor. Fortan engagierte er sich stark für den interreligiösen Dialog, einerseits als Leiter des »Arbeitskreises Interkulturelles Leben« der »Patriotischen Gesellschaft Hamburg«, andererseits in seinen Werken, z.B. der Anekdotensammlung Allahs Sonne lacht über der Alster. Einhundertelf Geschichten aus der 1002. Nacht (Asendorf 2001), in der islamische u. dt. Bilder- u. Lebenswelten aufeinandertreffen. Mit der Veröffentlichung der Autobiografie Von Basbeck am Moor über Moskau nach Mekka. Stationen einer Lebensreise (ebd. 2009) zeichnet S. die entscheidenden religiösen u. polit. Brüche seines Lebens als Pilgerreise nach. Weitere Werke: Vietnam – 30 Tage danach. Dortm. 1973. – Ab nach Sibirien. Ber. einer Reise in die Zukunft. Ebd. 1977. – Die Muttermilchpumpe. Bilder aus dem anderen Amerika. Ebd. 1980. – Zwischen Traum u. Alltag. Fischerhude 1981 (L.). – Entrüstet Euch. Dortm. 1982 (L.). – Das Kreuz des Südens. Eine Reise ins neue Afrika. Ebd. 1985. – Liebesgedichte. Fischerhude 1987 (L.). – ... wenn fern hinter der Türkei die Völker aufeinanderschlagen. Ber. einer Reise in den Iran. Dortm. 1987. Notlandung in Turkmenistan. Asendorf 1996. Literatur: Erschütterbar, doch unerschütterlich: P. S. In: Die Brücke, H. 45 (1988). Walther Kummerow † / Christian Walter
Schütz, Friedrich Wilhelm von, * 25.4. 1756 Erdmannsdorf bei Chemnitz, † 9.3. 1834 Zerbst. – Radikaldemokratischer Publizist. S. war Sohn eines Amtshauptmanns im sächs. Erzgebirge. Er studierte in Leipzig 1777–1779 Jura, begeisterte sich für die Freimaurerei u. schloss sich dem Illuminatenorden an. Als Anhänger Lessings forderte er in seiner Apologie, Nathan den Weisen betreffend (Lpz. 1781) die rechtl. Gleichstellung der Juden. Sein Buch Leben und Meinungen Moses Mendelssohns (Hbg. 1787) war die erste Biografie des jüd. Philosophen. Seit 1787 lebte S. in Altona u. gab dort unter dem Schutz der dän. Pressefreiheit bis 1791 die Monatsschrift »Archiv der Schwärmerei und Aufklärung« heraus, die den Obskurantismus u. die Into-
leranz der Kirche bekämpfte. In der freimaurerischen Geheimverbindung »Einigkeit und Toleranz«, die als erste dt. Loge Juden aufnahm, war S. 1792/93 Meister vom Stuhl. Nach einem Besuch in England publizierte er Briefe über London (Hbg. 1792), welche die dortigen sozialen Zustände kritisierten. Von den demokratischen Ideen der Französischen Revolution angezogen, begann S. im Juli 1792 den »Niedersächsischen Merkur« herauszugeben. In dieser Wochenschrift publizierte er zahlreiche Freiheitsgedichte u. Reden von Mainzer Jakobinern u. rief das dt. Volk zur Abschaffung der Privilegienordnung auf. Nach dem Verbot des Journals (Dez. 1792) setzte er es noch drei Monate u. d. T. »Neuer Proteus« fort. In der jakobin. »Verlagsgesellschaft von Altona« erschienen S.’ Journale »Neues Archiv der Schwärmerei und Aufklärung« (1796) u. »Neuer Niedersächsischer Merkur« (1797); als Mitarbeiter des Altonaer Nationaltheaters gab er 1798–1800 eine »Theater- und Literaturzeitung« heraus. Seine Geschichte des zehnjährigen Krieges in Europa (Hbg. 1802) lässt Enttäuschung über die Vernichtung der frz. Republik durch Bonaparte erkennen. 1805–1819 lebte S. in Hamburg, wo er Jugendliteratur herausgab, u. übersiedelte dann nach Zerbst. Seine Freien Bekenntnisse eines Veteranen der Maurerei (Lpz. 1824) u. seine Maurerischen Ansichten (2 Bde., ebd. 1825 u. 1827) bezeugen, dass er den demokratischen Freiheitsideen der Französischen Revolution die Treue bewahrte. Weitere Werke: Lebensgesch. des dän. Staatsministers Andreas Peter Grafen v. Bernstorff. Altona, Lpz. 1798. – Versuch einer vollst. Slg. Freimaurerlieder. Altona 1800. – Neue Schausp.e. Ebd. 1801. Literatur: Walter Grab: Demokrat. Strömungen in Hamburg u. Schleswig-Holstein zur Zeit der ersten frz. Republik. Hbg. 1966. – Ders.: Ein Volk muß seine Freiheit selbst erobern. Zur Gesch. der dt. Jakobiner. Ffm. 1984. – Walter Grab: F. W. v. S. In: Demokratische Wege. Dt. Lebensläufe aus fünf Jahrhunderten. Hg. Manfred Asendorf u. Rolf v. Bockel. Stgt./Weimar 1997, S. 577 f. Walter Grab † / Red.
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Schütz, Helga, * 2.10.1937 Falkenhain/ Schlesien. – Erzählerin, Drehbuch- u. Hörspielautorin. S. stammt aus einer Arbeiterfamilie. Nach einer Gärtnerlehre, dem Abitur (Arbeiterund-Bauern-Fakultät Potsdam) u. einem Dramaturgiestudium an der Hochschule für Filmkunst in Potsdam-Babelsberg arbeitete sie als freie Szenaristin für das Kurz- u. Spielfilmstudio der DEFA. 1993 wurde sie als Professorin an die inzwischen umbenannte Hochschule für Film und Fernsehen »Konrad Wolf« berufen. S. lebt in Potsdam. Die autobiografisch unterfütterten, dem Lebensweg der Autorin Schritt für Schritt folgenden Geschichten um das schles. Flüchtlingskind Jette/Julia spiegeln die Widersprüche eines Erzählens, das angesichts einer übermächtigen, für den Einzelnen undurchschaubar gewordenen Geschichtswelt der klass. Rezeptur folgt, in einer individuellen Lebensgeschichte ein Zeitalter zu entfalten, um den Zusammenhang von partikularen u. gesellschaftl. Verhältnissen, die Abhängigkeit des einzelnen Lebens von zeitgeschichtl. Wechselfällen zeigen zu können. Unübersehbar sind die elementaren Reduktionen des Wirklichkeits- u. Geschichtsbildes der Jette-Chronik, die im Stil der Dorfgeschichte des 19. Jh. der Zeit der dt. Totalitarismen u. des Zivilisationsbruchs habhaft werden will. Im Zentrum der anschauungsgesättigten Miniaturen dörfl. Winkellebens in Vorgeschichten oder Schöne Gegend Probstein (Bln./ Weimar 1971, Zürich/Köln 1972) steht die siebenjährige Jette, deren kindlich kluger Blick auf eine geschichtsunreife blinde Erwachsenenwelt fällt, die ihr Schicksal der Vertreibung im Febr. 1945 aus dem Radio erfährt. Die weiteren Veröffentlichungen folgen den Probsteinern auf ihrem Zug westwärts: die Erzählungen Festessen, Jette im Schloss (in: Das Erdbeben von Sangershausen. Bln./Weimar 1972, Zürich/Köln 1974) sowie Festbeleuchtung (Bln./Weimar 1974, Zürich/ Köln 1976) u. der Roman Jette in Dresden (Bln./ Weimar 1977. U. d. T. Mädchenrätsel. Zürich/ Köln 1978). Die Erzählerin beobachtet ihr kleinbürgerl. Geschichtspersonal bei seiner
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kollektiven Selbstdarstellung als Festgesellschaft. Die drei Feste der Probsteiner sind Gegendaten der Weltgeschichte. Das erste spiegelt den Scheinfrieden zwischen den beiden Weltkriegen; das zweite beleuchtet die immense Verdrängungsleistung der Nachkriegsdeutschen, das dritte die Entfremdung der beiden dt. Teilstaaten, innerhalb der Jette-Chronik der Augenblick ihrer Trennung von den Probsteinern, die sich dem westl. Kapitalismus zuwenden. Julia oder die Erziehung zum Chorgesang (Bln./ Weimer 1980) verschmilzt die Weltanschauungskrise der einst »unerschrockenen Sozialistin« mit dem Roman eines Liebesunglücks. Die sozial privilegierte Julia, die sich für die sozialistische »Erziehung zum Chorgesang« entschieden hatte, erlebt angesichts der krisenhaften Entwicklung der DDR-Gesellschaft den Einsturz ihrer Gewissheiten. Gleichzeitig scheitert ihre Beziehung zu ihrem langjährigen Lebensgefährten, dem Vater ihres Kindes. An die Stelle der segmentierten, detailrealistischen Erzählweise der Probstein-Saga tritt in Julia oder Erziehung zum Chorgesang u. im Roman In Annas Namen (Bln./Weimar 1986, Darmst./Neuwied 1987) die Ereigniskette des realistischen Romans. In der Geschichte eines Liebesunglücks, die in den Kulissen des dt.dt. Gegensatzes erzählt wird, steckt die polit. Parabel vom Sozialismus, der seine Seele dem Kapitalismus verkauft. Die Ereignisse um Mauerfall, den Zusammenbruch der DDR u. Wiedervereinigung verarbeitet der Roman Vom Glanz der Elbe (Bln. 1995). In der Geschichte eines nach der Dresdener Bombennacht aufgefundenen u. auseinandergerissenen Zwillingspaares wird die dt. Teilungsgeschichte allegorisiert. Die Suche des in den USA tätigen Naturwissenschaftlers nach der in der DDR lebenden Schwester entwickelt sich zur Anamnese eines kindl. Entfremdungskonflikts. Der Roman Grenze zum gestrigen Tag (Bln. 2000) greift auf die sechziger u. siebziger Jahre zurück u. berichtet vom abgeschirmten Glück eines Lebens in unmittelbarer Nachbarschaft des Todesstreifens, das die psych. Krankheit des eigenen Kindes überschattet. Vorläufiger Abschluss des Werks ist der Roman Knietief im Paradies (Bln. 2005), der vor dem Hintergrund der Schre-
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cken der letzten Kriegsmonate, der Auslöschung Dresdens, der Hungerjahre der Nachkriegszeit u. der dt.-dt. Teilung mit der Geschichte des Mädchens Raphaela noch einmal die Stationen der Jette-Chronik in Erinnerung ruft. Weitere Werke: Martin Luther, eine Erzählung für den Film. Bln./Weimar 1983 (E). – Nachw. in: Theodor Fontane: Cécile. Die Poggenpuhls. Mathilde Möhring. Bln./Weimar 1988. – Heimat süße Heimat. Zeit-Rechnungen in Kasachstan. Bln. 1992. – Dahlien im Sand. Mein märk. Garten. Fotos v. Rainer J. Fischer. Bln. 2002. – Hörspiele: Le Rossignol heißt Nachtigall. Hbg. 1973. – Verbriefte Liebe. Hbg. 1981. – Es ist wunderbar, daß niemand an Böhmen denkt. Hbg. 1983. Literatur: Reiner Schütz: Werteigenschaften literar. Kunstwerke. Analyt. Untersuchungen des Prosaschaffens v. H. S. in den siebziger Jahren. Diss. Lpz. 1983. – Gerd Labroisse: Der neue Luther in der DDR. Luther-Gestalten bei Claus Hammel, Stefan Heym, H. S. u. Bernd Schremmer. In: Luther-Bilder im 20. Jh. Hg. Ferdinand van Ingen u. G. L. Ams. terd. 1984, S. 239–266. – Elzbieta Dzikowska: Die Erzählung ›Jette in Dresden‹ v. H. S. unter textanalyt. Aspekt. In: Untersuchungen zur Lit. u. Linguistik. Hg. Norberta Honsza. Katowice 1987, S. 49–54. – Wolfgang Gabler: H. S. In: Lit. der Dt. Demokrat. Republik. Hg. Hans Jürgen Geerdts. Bd. 3, Bln./DDR 1987, S. 369–385, 609–611. – Eva Kaufmann: Mit einer bimmelnden Schelle am Hut. In: SuF 40 (1988), H. 6, S. 1316–1323 (zu ›In Annas Namen‹). – Volker Hammerschmidt, Andreas Oettel u. Hans-Michael Bock: H. S. In: KLG. – Eva Kaufmann: H. S. In: LGL. Sibylle Cramer
Schütz, Michael ! Toxites, Michael Schütz, Stefan, * 19.4.1944 Memel. – Dramatiker, Prosaautor. Nach der Ausbildung an der Staatlichen Schauspielschule u. Engagements an DDRTheatern arbeitete S. als Regieassistent u. Dramaturg am Berliner Ensemble u. am Deutschen Theater in Ost-Berlin. Seine ersten, nach 1970 geschriebenen Dramen entstanden aus Opposition gegen den Theaterbetrieb, wobei sich S. gleichermaßen gegen die erstarrten Bühnenkonventionen wie gegen die polit. Bevormundung wandte. »Denn Kunst ist immer Widerspruch zu dem, was ist«, heißt es programmatisch in einer
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Selbstreflektion (Schwierigkeiten beim Schreiben eines Stückes. In: Stasch. Bln. 1978); aus der »Schmerzlosigkeit der Gewohnheit« zieht S. die ästhetische Konsequenz: »Ein Stück, nur aus einem Schrei gebaut, das wäre ehrlich.« Dieser Gestus prägt seine frühen Theatertexte: Die Revolte gegen das herrschende System ist sein Thema, das er meist auf der Folie literarisch tradierter oder histor. Stoffe abhandelt. Heftige Kollisionen u. unversöhnl. Konflikte zwischen Individuum u. Gesellschaft, Utopie u. Realität werden in expressiver Sprache, grotesken Bühnenmetaphern u. enigmat. Bildfolgen geschildert. Gefördert u. beeinflusst von Heiner Müller, löste sich S. bald von seinem Vorbild. Bis auf wenige Ausnahmen konnten seine Stücke in der DDR weder gespielt noch gedruckt werden; die Uraufführungen der wichtigsten Dramen fanden im Westen statt: Majakowski in London (Half Moon Theatre 1979), Odysseus’ Heimkehr u. Sappa in Wuppertal (1981 u. 1982), Laokoon in Göttingen (Deutsches Theater 1983). In der unmittelbaren Gegenwart ist das 1980 in Heidelberg uraufgeführte Drama Der Hahn angesiedelt; die Parabel über den lustfeindl. Realsozialismus tendiert zur Farce. Doch auch nach der Übersiedlung in die BR Deutschland 1980 u. trotz zahlreicher Auszeichnungen (u. a. Gerhart-HauptmannPreis 1979) gelangte sein dramat. Werk nur vereinzelt auf die Bühnen. Noch in der Negation blieb S. dem Thesenstück verhaftet, so dass nach Werwölfe (Urauff. Bln. 1995) u. Hotel Abendland (Urauff. Linz 1999) die Theater sich von S. abwandten. S.’ voluminöses Prosawerk Medusa (Reinb. 1986) ist in drei Textblöcke gegliedert: Die Kathedrale des Ichs schildert eine Traumodyssee durch die DDR, der Mittelteil Anabasis eine faschistische Kinderrepublik, der Schluss Free Play of Love die Utopie vom gewaltfreien Spiel der Geschlechter. Ein von gegenwärtiger Realität gespeistes Trauma, eine Schreckensvision u. ein (trotz Brechung positiver) Entwurf einer besseren, weibl. Zukunft: Zusammen ergeben die drei absatzlos durchgeschriebenen Kapitel eine Traumsekunde der Hauptfigur Marie Flaam, deren Name an die Molly Bloom in Joyce’ Ulysses erinnert. Komplexität u. Vielschichtigkeit, Sprachkraft u.
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Wortgewalt zeichnen Medusa aus. Die beein- Schütz, (Christian) Wilhelm von (seit druckende Metaphern- u. Bilderflut nötigte 1803), auch: Schütz-Lacrimas, * 13.4.1776 auch jenen Kritikern Respekt ab, die der Berlin, † 9.8.1847 Leipzig. – Dramatiker, emphat. Idealisierung feministischer Mythen Lyriker, Publizist. skeptisch gegenüberstanden. Auf das mit dem Alfred-Döblin-Preis ausgezeichnete Der Sohn eines Geheimen Oberfinanzrats Werk folgten die Prosabücher Katt (Reinb. wurde nach dem Jurastudium preuß. Beam1988) u. Der vierte Dienst (ebd. 1990), in denen ter (seit 1807 Landrat u. Ritterschaftsdirektor Einflüsse der Romantik u. der Postmoderne in der Neumark), jedoch 1811 als Mitgl. der ein literar. Amalgam bilden. Der Roman Ga- Adelsfronde gegen die Staatsreformen suslaxas Hochzeit (Ffm. 1993) schildert eine fu- pendiert. S. lebte bis 1819 als Gutsherr in der turistische Welt, in der die künstl. Intelligenz Mark Brandenburg, dann als Literat in Dres(der weibl. Computer Galaxa) die Herrschaft den, nach seiner Konversion zum Katholizisübernommen hat u. an der »Konditionierung mus um 1830 wieder in der Mark. Er reiste der Subjekte« (der Menschen) arbeitet. Die viel u. entfaltete als katholisierender »Ultra« Revolte der Dinge führt in die Katastrophe; eine rege publizistische Tätigkeit (u. a. mit der Roman – beeinflusst von Nietzsche wie seiner Zeitschrift »Anticelsus«, 1842–45). S.’ literarisches Œuvre – Dramen, Lyrik u. von Jean Baudrillard – mündet in einer apowenig Prosa – entstand fast ausschließlich vor kalypt. Vision u. kann gelesen werden als 1821. S. gehörte nach 1800 zum Berliner Rücknahme der in Medusa beschworenen Romantikerkreis um Tieck u. August WilUtopie. Weitere Werke: Odysseus Heimkehr u. a. Dra- helm Schlegel. 1817–1825 war er Goethe »ein men. Bln./DDR 1977. – Heloisa u. Abaelard u. a. mehrjähriger geprüfter Freund«. S. galt seiDramen. Bln. 1979. – Laokoon u. a. Dramen. Ebd. nen Freunden als große romant. Hoffnung, 1980. – Sappa. Die Schweine. Ffm. 1981. – Die als er durch sein Schauspiel Lacrimas (Bln. Seidels (Groß & Gross). Spectacle Cressida. Ebd. 1803) berühmt wurde, das in üppiger Bil1984. – Monsieur X oder die Witwe des Radfahrers. dersprache u. märchenhafter Handlung OkUrschwejk. Ebd. 1988. – Wer von euch. Stücke nach zident u. Orient, Geist u. Natur, Christentum der Antike. Ebd. 1994. – Schnitters Mall. Eine ka- u. Heidentum gegenüberstellt. »Das entzünad. Erzählung. Ffm. 1994. – Staschs Affekt. Gött. ckende Medium der Poesie« (Einl. zu Carl der 2004. Kühne, S. 12) prägt auch seine Gedichte u. Literatur: Marlies Janz: Das Ich u. die Gleiexotischen Romanzen überreich. Die Tragöchen. In: Dramatik der DDR. Hg. Ulrich Profitlich. dien Niobe u. Der Graf und die Gräfin von GleiFfm. 1987, S. 167–185. – Rolf Jucker: ›Dem Chaos anarchisch begegnen‹. Bern 1991. – Stefan Sprang: chen (Bln. 1807) sind in antiker Naturseligkeit Textviren zwischen elektron. Realitätsprogram- u. Lebensvernichtung sowie christl. Liebe men. In: Deutschsprachige Gegenwartslit. Hg. bewusste Gegenstücke. In dem histor. Drama Christian Döring. Ffm. 1995, S. 29–81. – Georg Carl der Kühne (Lpz. 1821) gerät Europa in ein Wieghaus, R. Jucker u. Michael Töteberg: S. S. In: krauses Spiel von Krieg u. Verrat u. verliert im KLG. – Heinz Ludwig Arnold (Hg.): S. S. Mchn. Tod des Burgunderherzogs endgültig seine 1997 (Text + Kritik 134). – Heinz-Peter Preußer: Einheit. Mythos als Sinnkonstruktion. Die Antikenprojekte Literarische Verdienste hat S. durch die v. Christa Wolf, Heiner Müller, S. S. u. Volker erste (bearbeitete) Edition von Casanovas Braun. Köln u. a. 2000. – S. Sprang: S. S. In: LGL. – Verena Thimme: Zwischen Rebellion u. Resignati- Memoiren (12 Bde., Lpz. 1822–28) u. in der on. Das dramat. Frühwerk des DDR-Autors S. S. frühen Kleistpflege (das Material zu Tiecks Biografie in Kleists Hinterlassenen Schriften von Marburg 2008. Michael Töteberg 1821 stammt von ihm) erworben. Der Dramentheoretiker S. entwarf in einer ausführl. Müllner-Rezension (in: Jahrbücher der Litteratur 10, 1820) ein pessimistisches Bild der zerrissenen Gegenwart, in der das Theater nicht mehr die »zu einem geschlossenen,
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völlig beseelten, Religion und Leben darstellenden Ganzen« (S. 143) vereinte nationale Kultur repräsentieren kann. Die Einleitung zu Carl der Kühne »über das vaterländischhistorische Drama« rechtfertigt »Fülle und Mannigfaltigkeit, [...] Deutschlands Zusammensetzung aus mehreren Staaten und Stämmen« (S. 22) als nationalen Dramenstoff eigener Art. Unter dem Spätwerk mit ökonom., agrar., jurist., polit., histor. u. literar. Thematik ist Göthe’s Faust und der Protestantismus (Bamberg 1844) relevant: Die Störungen der mittelalterlich-kath. harmon. Weltordnung habe der Protestantismus verursacht, dessen Geist Mephisto darstelle, »als eine bis Kain hinauf zu verfolgende Urnegation des wahren Lebens« (S. 4). Weitere Werke: Romant. Wälder. Bln. 1808. – Graf v. Schwarzenburg. Bln. 1819 (D.). – Dramat. Wälder. Lpz. 1821. – Frühe Stücke. Hg. u. eingel. v. Christian Grawe. Bern u. a. 1984. Literatur: Friedrich Hiebel: W. v. S. Diss. Wien 1928. – Eva u. Klaus Kanzog: Die Kleist-Aufzeichnungen v. W. v. S. Mit zwei bisher nicht entzifferten Briefstellen. In: JbDSG 13 (1969), S. 33–46. – Helmut Sembdner: S.-Lacrimas. Bln. 1974. – Peter Staengle: Kleist – in der Hand v. W. v. S. In: Berliner Kleist-Bl. 2 (1989), 2, S. 21–30. – Thomas Diecks: W. v. S. In: NDB. Christian Grawe / Red.
Schütze, Johann Friedrich, auch: Jäger, * 1.4.1758 Altona, † 15.10.1810 Altona. – Sprachforscher, Theaterhistoriker.
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nen, übersetzte S. aus dem Französischen u. Dänischen u. verfasste, z. T. unter dem Pseud. Jäger, eine Reihe von kom. Romanen u. das Lustspiel Die Journalisten (Lpz. 1806). Mit dem Holsteinischen Idiotikon [...] (4 Tle., Hbg., Altona 1800–1806. Neudr. Osnabr. 1973. Mikrofiche Mchn. u. a. 1990–94) versuchte S. nicht nur, eine Sammlung der Sprach- u. Wortformen seiner Heimat vorzulegen, sondern auch – ausgehend von der Vorstellung, dass das »Gepräge des Geistes, der Denk- und Sinnesart« (S. XVII) eines Volkes in dessen Sprache repräsentiert werde – einen »Beitrag zur Volkssittengeschichte« zu leisten. S.s Hamburgische Theatergeschichte (Hbg./Lpz. 1794. Neudr. Lpz./Kassel 1975. Mikrofiche Mchn. u. a. 1990–94) vermittelt sowohl die histor. Entwicklung der Hamburger Theater als auch ein umfangreiches Bild des Theaterlebens seiner Zeit. Mit ihren deutlich von Gottsched geprägten Kritiken der Inszenierungen unter der Direktion Schröders ist sie eine wertvolle Quelle der theatergeschichtl. Forschung. Weitere Werke: Claudian, Raub der Proserpina. Gedicht in 3 Büchern. Hbg. 1784 (Übers.). – Eimsbüttel oder die Johannisnacht. Hbg. 1791 (kom. Oper). – Erzählungen u. Sprichwörter, nebst einer Nachricht v. den Troubadours. Aus dem Frz. des Herrn v. Cambry übers. Altona 1791. – Briefe eines reisenden Dänen [...]. Aus dem Dän. des Friedrich Sneedorff. Züllichau 1793. – Satyrischästhet. Hand- u. Taschenwörterbuch für Schauspieler [...]. Hbg. 1800. – Die Sitten unserer Zeit. Ein Moderoman. Hbg. 1802. – Humorist. Novellen. Hbg. 1804. – Dramaturg. Tgb. über Iffland’s Gastspiele in Hamburg. Hbg. 1805.
Der Sohn des Theologen u. Historiografen Gottfried Schütze begann 1780 das Studium Literatur: Berend Kordes: Lexikon der jetzt der Rechtswissenschaften in Leipzig, wo er lebenden Schleswig-Holstein. u. Eutin. Schriftstelzusammen mit seinem Bruder Christian ler. Schleswig 1797. – Detlev Lorenz Lübker u. Heinrich, der im Harms’schen Thesenstreit Hans Schröder: Lexikon der Schleswig-Holstei(1817 ff.) die Sache des Rationalismus ver- nisch-Lauenburg. u. Eutin. Schriftsteller. Bd. 2, focht, die Bekanntschaft Jean Pauls machte. Altona 1830. – Brümmer 2. – BBHS 8 (2005). Felix Seewöster / Red. Seit 1781 lebte S. in Kiel, seit 1783 wieder in Hamburg. 1793 wurde er Königlich Dänischer Kanzleisekretär bei der Altonaer LotteSchütze, (Johann) Stephan, * 1.11.1771 rie, deren Generaladministration er 1797 Olvenstedt bei Magdeburg, † 19.3.1839 übernahm u. bis zu seinem Tod innehatte. Weimar. – Lyriker, Lustspielautor, ÄsNeben zahlreichen Gedichten, Aufsätzen u. thetiker, Journalist. Rezensionen, die in Zeitschriften wie dem »Journal des Luxus und der Moden« u. Wie- S. stammte aus einer reichen Landwirts- u. lands »Neuem Teutschen Merkur« erschie- Kaufmannsfamilie. Nach einjährigem Besuch
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der Domschule zu Magdeburg trat er 1785 als Kaufmannslehrling in das Handelshaus eines Onkels in Magdeburg ein. Im Okt. 1789 ging er nach Kloster Bergen, um sich unter der Anleitung des Philosophen Johann Gottfried Gurlitt (1754–1827) auf das Theologiestudium vorzubereiten, das er im Mai 1794 in Erlangen aufnahm u. seit Ostern 1795 in Halle fortsetzte. Nach dem Abschluss kehrte S. Ostern 1797 nach Magdeburg zurück, wo er sich vergeblich um eine Pfarrstelle bemühte; während er vorläufig seinen Lebensunterhalt als Hauslehrer u. Hofmeister verdiente, schrieb er erste Gedichte u. seinen Versuch einer Theorie des Reims nach Inhalt und Form (Magdeb. 1802). Dank großzügiger finanzieller Unterstützung durch den Onkel konnte S. seit 1804 als freier Schriftsteller leben. Im Okt. 1804 ging er nach Weimar, wo er alsbald mit den literar. Kreisen in Verbindung trat u. bes. zu Wieland ein freundschaftl. Verhältnis gewann. Am 12.11.1806 lernte er bei der ersten der in der Folgezeit berühmten Abendunterhaltungen Johanna Schopenhauers Goethe persönlich kennen, auf den er einen günstigen Eindruck machte, als er bei einem Gespräch über Egmont die Erscheinung Klärchens am Ende des fünften Aufzugs gegen Kritiker dieser Szene (z. B. Schiller) verteidigte. Goethes stets »sehr wohlwollende« Haltung gegenüber S., von der Eckermann spricht (15.5.1826), hat ihren Ursprung sicher auch in diesem ersten Eindruck. S. hat die Abende bei Johanna Schopenhauer in dem Aufsatz Die Abendgesellschaften der Hofrätin Schopenhauer 1806–1830 (in: Album zur Säcularfeier der Buchdruckerkunst. Weimar 1840) geschildert. Bei diesen Soireen wurden gelegentlich auch Werke S.s vorgelesen, so an Neujahr 1807 das Lustspiel Der Dichter und sein Vaterland (Lpz. 1806), über das die Gastgeberin urteilte: »Es ist Witz und Satire, aber ohne alle Bitterkeit, und das ist selten. Goethe hatte auch viel Behagen dran« (an Arthur Schopenhauer, 5.1.1807). Dennoch hatte S. als Bühnenautor nicht den erhofften Erfolg u. konzentrierte sich darum mehr auf die Schriftleitung des »Journals des Luxus und der Moden«, die er bis 1827 innehatte, u. auf das »Taschenbuch der Liebe und Freund-
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schaft« (Ffm.: Wilmans), das er von 1804 bis zu seinem Tod herausgab u. für das er zahlreiche angesehene Autoren, darunter E. T. A. Hoffmann, gewinnen konnte. Darüber hinaus legte S. einige ästhetische Schriften vor, z. B. die Gedanken und Einfälle über Leben und Kunst (Lpz. 1810) u. den Versuch einer Theorie des Komischen (Lpz. 1817), den er »Unserm Göthe« widmete, u. veröffentlichte seine Lebensgeschichte (2 Bde., Neuhaldensleben 1834), in der er die Weimarer Jahre jedoch nicht behandelt hat. Johanna Schopenhauer hat S. treffend charakterisiert, als sie anmerkte, er sei »ein sehr mittelmäßiger Dichter, aber sonst sehr gescheit« (an Arthur Schopenhauer, 28.11.1806). Die Wertschätzung, die S. auch am Weimarer Hof genoss, äußerte sich 1835 in der Verleihung des Titels eines großherzogl. weimarischen Hofrats. – S.s Tagebuch, das eine authent. Darstellung von Goethes Begräbnis enthält, ist bisher nur in kurzen Auszügen gedruckt (Thomas C. Starnes: Wieland. Leben und Werk. Bd. 3, Sigmaringen 1987); es wird mit dem größten Teil seines übrigen handschriftl. Nachlasses im GoetheMuseum in Düsseldorf aufbewahrt. Weitere Werke: Gedichte. Lpz. 1810. – Der unsichtbare Prinz. Lpz. 1813 (R.). – Heitere Stunden. Dresden 1821–23 (N.n). – Erinnerungen an [E. T. A.] Hoffmann. In: Die letzten Erzählungen v. E. T. A. Hoffmann [...]. Hg. Julius Eduard Hitzig. Bd. 2, Bln. 1825, S. 353–360. – Muntere Unterhaltung. Lpz. 1829. – Herausgeber: Der Wintergarten. Ffm. 1816–23 (Ztschr.). – Der Frühlingsbote. Ffm. 1823–25 (Ztschr.). Literatur: Ludwig Storch: Nachruf auf S. In: Tb. der Liebe u. Freundschaft gewidmet. Ffm. 1840, S. 3 f. – Goedeke 9, S. 317–326. – Heinrich Pröhle: S. S. In: ADB 33. – Friedrich Rieck: J. F. S. u. die Volkskunde. Ein Beitr. zur Gesch. der niederdt. Volkskunde des ausgehenden 18. Jh. Diss. Hbg. 1934. – Martin Wiehle: J. S. S. Lyriker, Lustspielautor, Ästhetiker, Journalist. In: Ders.: Börde-Persönlichkeiten. Biogr. Lexikon der Magdeburger Börde. Oschersleben 2001, S. 149. – Ellen Richter: S. S. In: Magdeburger biogr. Lexikon [...]. Hg. Guido Heinrich u. Gunter Schandera. Magdeb. 2002, S. 656. – M. Wiehle: J. S. S. Vom Olvenstedter Bauernhof zum Weimarer Musenhof. In: Kloster Berge, Klosterbergegarten, Gesellschaftshaus, Te-
619 lemann-Zentrum [...]. Hg. Carsten Lange. Halle 2004, S. 107–116. Walter Hettche / Red.
Schuldt, eigentl.: Herbert S., * 19.7.1941 Hamburg. – Lyriker, Erzähler, Hörspielautor, Essayist, Übersetzer; Performancekünstler, Fotograf. S. lebt u. arbeitet in New York, Hamburg u. seit 2004 in Peking. An jedem emphat. Begriff von Dichtung desinteressiert, ist das Ziel seiner Werke die Glossolalie, so auch der Titel des von ihm herausgegebenen »Stammelhefts« (= RoRoRo Literaturmagazin 18, 1986), ein Zungenreden, das Sprache ihrer selbstverständl. Mitteilungsfunktion um des Sprechenlassens ihrer selbst willen entfremdet u. sich damit moderner Gewissheitssucht verweigert. Hatte S. in der Erzählung Totem-Esser (in: In Togo, dunkel. Hann. 1981) mit der Erfindung einer Kommunikation unter Eingeborenen, die an die Stelle von Wörtern Ess- u. Vorzeigbares setzt, von Sprachentfremdung nur erzählt, wird sie in den Akronymdichtungen Mamelucken antworten (Linz 1984) durchgeführt. Fragmente von Aussagen u. Geschichten ergeben sich allein aus dem Gebot der Form, die den Fortgang der Gedichte diktiert. S. steht in der Traditionslinie des russ. Formalismus, der konkreten Poesie u. der experimentellen Lyrik. Obgleich er sich bisweilen gegen eine solche Verortung ausspricht, bestätigt der Spielcharakter seiner poetischen Werke, der sich in der Demonstration der Materialität der Sprache manifestiert, eine unverkennbare Dominanz der Form vor dem Inhalt. S.s. Arbeiten spielen mit sprachl. Grenzen; sie gewinnen ihren ästhetischen Reiz u. Gehalt gerade aus der dialogischen Bezogenheit von dt. u. vor allem engl. Sprache. Dabei sind Wörterbücher eine wesentl. Inspirationsquelle von S.s spracherforschendem Dichten. S.s Werk ist eine Einladung an den Leser, Dichtung mitzuspielen, Sinn selbst zu suchen, nach der Devise: »What you see, is what you get.« Aus den Übersetzungen chines. Schriftzeichen u. ihrer Kontexte, die S. in chinesischengl. Wörterbüchern vorfand, montierte er 111 in Leben und Sterben in China (Mchn./Wien
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1983) gesammelte Fabeln; durch Hinzusetzung eines »er« oder »sie« entstehen aus Wortfeldern Geschichten u. Charakterzeichnungen von Personen, deren Schlüssigkeit doch durch die auseinanderlaufende Divergenz der Felder wieder sabotiert wird. Der Lyrikband Am Quell der Donau (Gött. 1998; Hörspielfassung Schallgeschwister. Gött. 2002), in dem S. gemeinsam mit Robert Kelly die so betitelte fragmentarische Hymne Hölderlins bearbeitete, zeigt paradigmatisch S.s poetisches Verfahren, das sich als schöpferische Anverwandlung gegebener Texte zwischen den Sprachen im Sinne einer bestimmten Art der Übersetzung vollzieht. Diese folgt nicht allein semantischen, sondern gemäß der Überzeugung »der Klang ist die Seele der Sprache« v. a. lautlichen Prinzipien: Während Kelly eine homophone Übersetzung ins Englische auf der Basis seines Hörverstehens liefert (»Unquell the Dawn now«), überträgt S. diese in einer »semantopedantischen Übersetzung des Sinnes« Wort für Wort zurück ins Deutsche, usw.: »Doch Alles geht so/ though all’s gate so/ wenngleich alles ein Tor ist so/ All sin torn so/ Alle Sünde zerrissen so«. Es entstehen vier neue Texte neben dem urspr. Text mit je eigenem »Rhythmus [...], Wortschatz [...] und einem spezifischen Horizont v. Themen, Obsessionen und Hoffnungen«, die in ihrer Dunkelheit u. ihrem esoter. Charakter dem hölderlinschen Stil auf eigentüml. Weise nahe kommen. Mit seiner provokanten Internationalen Ausstellung von nichts, die er bereits 1960 in Hamburg veranstaltete, begann die Reihe der Kunstausstellungen, an denen S. vor allem nach seiner Hinwendung zur Fotografie seit 2003 beteiligt ist. Dies stellt die konsequente Weiterführung seines Interesses an Bildender Kunst dar, das sich zuvor in der Übersetzung engl. u. frz. Abhandlungen u. Lexika zu verschiedenen Künstlern u. Stilrichtungen der modernen Malerei oder im Essay über Francis Picabia (Köln 1984) niederschlug. S. erhielt 1990 den Förderungspreis Filmund Medienkunst der Berliner Akademie der Künste, 1994 den Hamburger Förderpreis für Literatur u. 2000 den Paul Scheerbart-Preis.
Die Schule der Ehre Weitere Werke: Steinigung der Nacht. Basel 1960 (L.). – Blut aus Metronomen. Brühl 1965 (L.). – Zweifel. Köln 1967 (Ess.). – A Likely Lad. Köln 1980. – Textkörper. In: Text + Kritik 30. Konkrete Poesie II. Mchn. 1971, S. 11–17. – Abziehbilder, heimgeholt (zus. mit Robert Kelly u. Jacques Roubaud). Wien 1995 (Ess.). – Gestaltschmerz (Kleine Bibl. der Dichtung u. Prosa im Dt. fremder Zungen 1). Bln. 1997 (L.). – Lustrufe im Garten. Schlagzeilen auf Oxford-Dt. (Kleine Bibl. der Dichtung u. Prosa im Dt. fremder Zungen 2). Graz 1998 (L.). – Olga at the Cosmic Door. BHs, Parfüms u. Bars. Schlagzeilen aus New York. Köln 2000. – Hörspiele: Dtschld. aufsagen, Dtschld. nachsagen. 1970. – Dtschld. v. außen. NDR 1982. Literatur: Jörg Drews: Ausleuchtung eines Begriffs. Zu S.s ›Zweifel‹. In: Text + Kritik 30 (1971): Konkrete Poesie II, S. 55 f. – Eugen Helmlé: Der Agent. In: RoRoRo Literaturmagazin 40 (1997), S. 192–193. – Jürg Laederach: Das Meer verbessern. In: ebd., S. 196–200. – Harro Müller: Kontingenz/ Regel/Überraschung. Zehn Notizen zu S. In: ebd., S. 176–184. – Michael Braun: Transformation der Poesie. S.s Weg ins interlinguist. Exil. In: Merkur 54 (2000), S. 352–355. Michael Geiger / Markus Gansel
Die Schule der Ehre. – Anonyme Minnerede des 14. Jh.
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die Kompetenz in Minnefragen gesondert genannt. Im letzten Drittel des Textes diktiert die Frau dem Ich-Sprecher als ihrem Schreiber ein Lehrprogramm für den Unterricht dieser zwölf neuen Schüler. Es hat – dem allegor. Thema gemäß – die Form eines ABC, indem jedem Buchstaben eine Minnetugend zugeordnet wird. Zusätzlich zu diesen Anfangsgründen verspricht die Frau aber noch anspruchsvollere Lehre. Die genannten Adligen sind alle historisch am Rhein (mit einer Konzentration am mittleren Rhein zwischen Speyer u. der Ahr) nachzuweisen; ihre Lebensdaten lassen eine Datierung der Minnerede auf die Zeit um 1331–1340 zu. Ein Teil der Adligen wird auch in der gemeinsam mit der S. d. E. überlieferten Minnerede Minne und Gesellschaft (Brandis, Nr. 480) genannt. Der ausführliche namentl. Ritterpreis verbindet die Minnerede mit der zeitgenössischen panegyr. Dichtung, aber auch mit frz. beeinflussten Konzepten eines ›Minnehofs‹. Ausgabe: Wilhelm Brauns u. Gerhard Thiele (Hg.): Mhd. Minnereden. Bd. 2, Bln. 1938. Neudr. mit Nachw. v. Ingeborg Glier. Dublin/Zürich 1967, Nr. 31, S. 171–184. Literatur: Ernst Martin: Mittelrhein. u. niederländ. Gedichte in einer Berliner Hs. In: ZfdA 13 (1867), S. 348–377. – Adolf Bach: Vom Publikum rhein. Gelegenheitsdichtungen des ritterl. Lebenskreises. In: Rhein. Vierteljahresbl. 22 (1957), S. 82–100. – Tilo Brandis: Mhd., mittelniederdt. u. mittelniederländ. Minnereden. Mchn. 1968, Nr. 481. – Ingeborg Glier: Artes amandi. Mchn. 1971, S. 73–81. – Melitta Rheinheimer: Rhein. Minnereden. Göpp. 1975, S. 16–21. – Theodor Nolte: Lauda post mortem. Die dt. u. niederländ. Ehrenreden des MA. Ffm./Bern 1983, S. 66–74. – Ders.: S. d. E. In: VL. Jacob Klingner
Der unikal überlieferte Text entfaltet in 852 Versen als einer der frühesten Gattungsvertreter das typische Schema von Spaziergang, Begegnung (mit einer Personifikation), Gespräch u. Lehre: Im Wald ausreitend, trifft der Ich-Sprecher auf eine alte Frau. Diese berichtet ihm, dass sie seit 30 Jahren eine ›Schule der Ehre‹ (v. 59: »eren scu8 l«), weit vortrefflicher als Schulen gleicher Art (genannt werden Paris, Bologna, Salerno, Montpellier, Magdeburg, Orleans, Halberstadt u. Erfurt), geleitet habe. Auf Bitten des Sprechers nennt sie, nach ihrer Rangfolge Schule der Minne. – Anonyme Minnegeordnet, die Namen der zwölf letzten rede des 14. Jh. Schüler, die sie in ritterlich-höf. Verhalten unterwiesen habe. Der Sprecher versucht die Der Ich-Sprecher berichtet in 580 Versen von Frau zu überzeugen, die Schule weiterzu- einer Vision, in der sich ihm das Wesen der führen. Er schlägt dazu sieben vorbildl. jün- Minne offenbart habe. Sie hat die Form einer gere Ritter als Schüler vor; die Frau ergänzt teilweise genrehaft ausgemalten Wegallegoweitere fünf Namen. Mit der Namensnen- rie: Der Sprecher trifft nacheinander auf nung verbunden ist jeweils ein ausführl. Preis sechs Damen, Personifizierungen der einzelvon Tugend u. Ritterlichkeit der Schüler bzw. nen Stadien der Liebe. Jeder Dame ist zudem Kandidaten; nur in einigen Fällen wird dabei eine Farbe zugeordnet (u. a. in Kleidung u.
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Ausstattung der Räume), sodass in ihrer Schulenburg, (Gebhard) Werner von der, Lehre gleichzeitig die minneallegor. Bedeu- * 9.12.1881 Pinneberg/Holstein, † 29.3. tung der Farben systematisch erläutert wird: 1958 Neggio/Lugano. – Historiograf, Schweigen u. Zurückhaltung (braun), muti- Dramatiker, Romancier, Übersetzer. ger u. überlegter Beginn der Liebe (grün), Hoffnung u. Vorstellungskraft (weiß), ent- Der altmärk. Uradel entstammende Sohn eizündetes Liebesfeuer (rot), Beständigkeit nes Offiziers sollte zunächst selbst eine mili(blau). Vor der Erfüllung – inszeniert als tärische Karriere einschlagen u. wurde auf Krönung des Sprechers – steht eine Prüfung, den Kadettenanstalten in Plön, wo zu seinen in der eine schwarz gekleidete Dame den Mitschülern Kurt von Schleicher zählte, u. Sprecher in Ketten legt u. versucht, ihn zur Lichterfelde erzogen, wo er im AbschlussAbkehr von der Geliebten zu bewegen. Der lehrgang mit Franz von Papen zusammenSprecher bleibt, auch aufgrund der verinner- traf. Durch einen Sturz vom Pferd zog sich S. lichten Lehre, standhaft u. wird mit der Ver- eine Wirbelsäulenverletzung zu, die in einer Militärklinik in Wiesbaden behandelt wurde heißung neuen Glücks belohnt. Die Reime weisen auf eine rheinfränk. u. ihn monatelang an den Rollstuhl fesselte. Herkunft des Gedichts. Die neun Überliefe- In Wiesbaden verstärkte eine Begegnung mit rungszeugen verteilen sich über den gesam- Josef Kainz die Theaterleidenschaft S.s. Nach ten dt. Sprachraum; zu inhaltlich signifi- einem einjährigen Genesungsurlaub in Italikanter Varianz kommt es jedoch kaum. Ein- en, v. a. in Rom, der ihn u. a. mit Gabriele zig die Fassung der Handschrift Berlin Ms. D’Annunzio zusammenführte, nahm S. seigerm. fol. 488 erweitert den Schluss um eine nen Abschied, holte das Abitur nach u. stuBegegnung mit einer Personifikation der Er- dierte Jura in Straßburg, München, Leipzig, füllung (gelb). Dies rückt den Text noch nä- Erlangen u. Marburg/L., wo er 1911 zum Dr. her an ähnl. Allegorien mit einem System von jur. promoviert wurde. Die Begegnung u. sieben Minnefarben heran – wie etwa an die Korrespondenz mit Bertha von Suttner erniederdt. Farbentracht (Brandis, Nr. 436), die schlossen S. die Ideen des Pazifismus. Wähgegebenenfalls auf eine gemeinsame Vorlage rend des Ersten Weltkriegs war er im Kriegspresseamt in Berlin u. an der dt. Gezurückgeht. Ausgaben: J. C. v. Fichard: Frankfurter Archiv sandtschaft in Bern tätig. Seinen künstlerifür ältere dt. Lit. u. Gesch. 3 (1815), S. 297–316. – schen u. musischen Neigungen widmete er Joseph v. Laßberg: Lieder-Saal. Bd. 3, o. O. 1825. sich in einem Zweitstudium der KunstgeNeudr. Darmst. 1968, S. 579–592, Nr. 251. – Wil- schichte. 1918 wurde er in Freiburg (Schweiz) helm Seelmann: Farbendeutung. In: Nd. Jb. 5 mit der Dissertation Ein neues Portrait Petrarcas. (1882 [83]), S. 73–85 (zit.). Eine Studie über die Wechselwirkung zwischen LiLiteratur: Wilhelm Seelmann: Farbentracht. teratur und Bildender Kunst zum zweitenmal In: Nd. Jb. 28 (1903), S. 118–128, hier S. 120–124. – promoviert. Seitdem lebte S. als freier Kurt Matthaei: Das ›weltl. Klösterlein‹ u. die dt. Schriftsteller u. Privatgelehrter an verschieMinne-Allegorie. Diss. Marburg 1907, S. 26–30. – denen Orten in Deutschland u. in Italien soTilo Brandis: Mhd., mittelniederdt. u. mittelniewie in der Schweiz u. unternahm zahlreiche derländ. Minnereden. Mchn. 1968, Nr. 433. – Melitta Rheinheimer: Rhein. Minnereden. Göpp. Reisen, u. a. nach Brasilien u. Afrika. In seinen frühen Romanen (Stechinelli. 1975, S. 17–19, 29, 33 u. Anm. 86, 58 u. Anm. 108, 69 u. Anm. 158, 228, 244. – Dies.: S. d. M. In: VL. Dresden 1911. Malatesta. Roman eines RenaisJacob Klingner sancemenschen. Lpz. 1923. Land unter dem Regenbogen. Braunschw. 1934), seiner Tätigkeit als Herausgeber (Zeitschrift »Italien« 1928–1930, März bis Juni 1942) u. in kulturhistor. Schriften (Dante und Deutschland. Freib. i. Br. 1921) spiegelte sich neben dem kulturhistor. Interesse auch S.s Begeisterung für Mussolini, den er durch Margherita Sar-
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fatti persönlich kennengelernt hatte. Unter Schuler, Alfred, * 22.11.1865 Mainz, † 8.4. S.s. zahlreichen Übersetzungen ital. Büh- 1923 München; Grabstätte: ebd., Westnenstücke befindet sich auch das von friedhof. Grabspruch: D M | ET LVMINI | Mussolini u. Giovacchino Forzano verfasste BVS MAIORVM ALFRED SCHVLER | Drama Cavour (Hbg. 1941), das 1940 in VIVVS SIBI HUNC | MONVMENTVM | IN Hamburg uraufgeführt wurde. S.s Bejahung TRANSITV | FEC. – Dichter, Religions- u. des ital. Faschismus scheint eindeutig, seine Altertumswissenschaftler. Haltung zum Nationalsozialismus v. a. von gesinnungs-aristokratischen Vorbehalten ge- Im Alter von zwei Jahren wurde S., Sohn eiprägt, die ihn in Kontakt mit der dt. Wider- nes Oberlandesgerichtsrats, durch Heirat seiner Eltern legitimiert. Er besuchte das restandsbewegung brachten. Zahlreiche, nur als Bühnenmanuskripte nommierte Gymnasium Bipontinum in (u. a. Schwarzbrot und Kipfel. 1935. Diana im Zweibrücken, wo er 1887 das Abitur ablegte. Bade. 1937. Die Secretessa.1938. Fürst Pückler. Die röm. Altertümer im Zweibrücker Land 1942) vorhandene Dramen waren in den (Ixheim, Schwarzacker) faszinierten den jun1930er u. frühen 1940er Jahren erfolgreich gen S. so sehr, dass er »zeitweise [...] ganz in auf dem Boulevardtheater. Das größte Echo jener idealen Zeit [lebte]« (Tgb. 1883). Frühe unter seinen histor. Romanen fand das in Gedichte imaginieren eine lebendige Antike. vielen Lizenzausgaben weit verbreitete Buch Nach dem Tod seines Vaters zog S. mit seiner Der König von Korfu (Braunschw. 1950), das Mutter nach München, wo er erst Jura, dann grelle Effekte u. histor. Analogien nutzt. Der Archäologie, Alte Geschichte u. KunstgeRoman handelt von der Verteidigung Korfus schichte studierte. Nachdem sich Dissertatigegen die Türken, die – im Dienste Venedigs onsprojekte (über das ›Swastika‹-Symbol) u. in schwieriger Zusammenarbeit mit Prinz zerschlugen, ging S., der bis 1911 immatriEugen – 1716 dem Feldherrn Johann Mat- kuliert war, ohne akadem. Grad von der Universität ab. In München kam er mit dem thias von der Schulenburg gelang. Von Mussolini bis zum Ende der faschisti- Naturalismus u. der Gegenwartsliteratur in schen Ära nicht losgekommen, unterhielt S. Berührung. So wurde er mit Michael Georg zunehmend engere Kontakte zu Angehörigen Conrad bekannt u. begeisterte sich für das des Widerstands gegen Hitler, v. a. zu Fried- Theater von Henrik Ibsen, dessen »Volksrich Werner von der Schulenburg u. Ulrich feind« er 1889 als »luftreinigendes Gewitter« von Hassel. Seit 1943 im Visier der Gestapo, feiert. In einer Lebensbeichte übersandte er hielt er sich an ständig wechselnden Orten Ibsen seine Kritik des Baumeister Solneß (in: auf. S. war dreimal verheiratet, in dritter Ehe Die Gesellschaft 1893). S.s Umorientierung mit der Malerin Isa von der Schulenburg. Er zu einer esoter. Deutung der Antike zeigt sich war Mitgl. der Deutschen Akademie für in seinem unvollendeten Romanprojekt AeoSprache u. Dichtung u. Träger des Johann- lus. Die ursprünglich u. d. T. »Jo Saturnalia« geplante Szenenfolge in drei Büchern lehnt Heinrich Voß-Preises der Stadt Eutin. Weitere Werke: Doktor Boëtius, der Europäer. sich ebenso sehr an den »frappantmodernen« Dresden 1922 (R.). – Briefe vom Roccolo. Ebd. 1924. Petronius wie an die antiquarische Bildkunst Nachdr. Zürich 1962 (N.). – Der junge Jakob von Laurens Alma-Tadema an. Unter dem Burckhardt. Stgt. 1926 (Biogr.). – Johann Caspar Einfluss des frz. Okkultismus, Johann Jakob Goethe. Vater eines Genies. Bln. 1937 (Biogr.). – Bachofens ›Mutterrechtlehre‹ u. Franz von Artemis u. Ruth. Mchn. 1947 (E.). – Der Genius u. Baaders Blut-Mystik entwickelte S. seine die Pompadour. Stgt. 1954 (R.). – Das Mädchen mit Lehre von der ›Blutleuchte‹. Diese irrationale den Schifferhosen. Flensburg 1957 (E.). Charisma-Theorie propagierte er im TriumLiteratur: Hans-Albrecht Koch: G. W. v. d. S. virat der Münchner Kosmiker, zu dem neben In: BLSHL 4 (1976), S. 206–208. S. Karl Wolfskehl u. Ludwig Klages gehörten. Hans-Albrecht Koch S., der seine homoerot. Neigungen in antikisierenden Rollendichtungen (»Nero«, »Elagabal«) überhöhte, sah sich selbst als
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wiedergeborenen röm. Priester. Er suchte nicht nur Kaiserin Elisabeth durch ein kalligrafisches Tabularium für seine abstrusen Welterlösungspläne zu gewinnen, sondern war auch entschlossen, den wahnsinnigen Friedrich Nietzsche durch korybant. Tanz zu heilen. Seit 1897 kam er mit Stefan George in Kontakt. Nachdem George eine poetische ›Widmung‹ an »A. S.« in die zweite Auflage des Jahrs der Seele (1899) eingerückt hatte, erschien 1904 S.s einziges zu Lebzeiten veröffentlichtes Gedicht, ein unregelmäßiges Sonett an Leopold Andrian (in: Blätter für die Kunst 7, 1904). Als George S. das Rollengedicht Porta Nigra. Ingenio Alf. Scolari (in: ebd.) dedizierte, in dem ein röm. Lustknabe als Wiedergänger des kaiserzeitl. Trier die moderne Gegenwart schmäht, führte dies zum Bruch der Freundschaft. Nach dem Tod seiner Mutter arbeitete S. als Bibliothekar u. Dramaturg bei dem Augenarzt u. Regisseur Gustav Willibald Freytag, Sohn des Dichters. Im Febr. u. März 1915 hielt S. im Auftrag der ›Kriegshilfe für geistige Berufe‹ eine Reihe von Vorträgen Vom Wesen der ewigen Stadt, die er 1917 u. 1918, ein weiteres Mal 1922 im Hause seiner Mäzenin Elsa Bruckmann u. schließlich in kleinem Kreis kurz vor seinem Tod wiederholte. Darin kritisiert S. den angebl. »Fortschritt« als »Entlichtung« u. redet einer Erneuerung der »telesmatischen Liebe« u. des ursprünglichen hermaphroditischen Zustands das Wort (Vortrag Die Sonnenkinder). Nach 1918 besuchte S. auf mehreren Reisen einige prominente, mit ihm befreundete Künstlerinnen wie Rilkes Ehefrau Clara Westhoff, die Malerin Hedwig JaenichenWoermann u. die Dichterin Hertha Koenig u. kam in Kontakt zu dem AnthroposophenKreis von Hans Harro von Veltheim auf Schloss Ostrau. Zu Betreuern seines wissenschaftl. u. literar. Nachlasses bestimmte S. Ludwig Klages, Elsa Bruckmann u. Gustav Willibald Freytag. In Schlüsselromanen wurde S. als Exzentriker der Münchner Boheme verewigt. So hat ihn Franziska von Reventlow als ›Delius‹ in Herrn Dames Aufzeichnungen dargestellt, als ›Fürst Casimir Kraminsky‹ erscheint S. in O. A. H. Schmitz’ Roman Wenn
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wir Frauen erwachen... Ein Sittenroman aus dem neuen Deutschland (1912). Die ersten Auswahlausgaben unterdrückten die Homoerotik in S.s Dichtung, während sie in der neuen Ausgabe aus dem Nachlass deutlich zutage tritt. Die einseitige Auswahlausgabe von Klages begünstigte eine rechtskonservative u. antiaufklärerische Rezeption. Heute sieht die Forschung in S.s neuheidn. Gnosis eine »mythische Reaktion« auf die Entzauberung der Moderne. Umstritten ist allerdings, ob es sich um pseudowissenschaftl. Blendwerk (Fischer), »Präfaschismus« (Faber) oder um einen systematisierbaren Neopaganismus handelt (Müller). Ausgaben: Dichtungen. Hg. Ludwig Klages, Elsa Bruckmann u. Gustav W. Freytag. o. J. – Fragmente u. Vorträge aus dem Nachlass. Hg. L. Klages. Lpz. 1940. – Cosmogonische Augen. Ges. Schr.en. Hg. Baal Müller. Paderb. 1997. – Ges. Werke. Hg. B. Müller. Mchn. 2007. – Nachlass: DLA Marbach. Literatur: Bibliografie: Karl-Heinz Schuler: A. S. Bibliogr. Mchn. 2006. – Weitere Titel: Gerd-Klaus Kaltenbrunner: Zwischen Rilke u. Hitler: A. S. In: Ztschr. für Religions- u. Geistesgesch. 19 (1967), S. 333–347. – Gerhard Plumpe: A. S. Chaos u. Neubeginn. Bln. 1978. – Wolfgang Frommel, Marita Keilson-Lauritz u. Karl-Heinz Schuler: A. S. Drei Annäherungen. Amsterd. 1985. – W. Frommel: A. S. Spuren heidn. Gnosis. In: Castrum Peregrini 168 (1985), H. 9, S. 5–23. – M. KeilsonLauritz: Stefan George, A. S. u. die ›Kosmogonische Runde‹. In: ebd., S. 24–41. – K.-H. Schuler: A. S. Familiengesch. u. Jugend. In: ebd., S. 42–58. – Michael Pauen: A. S.: Heidentum u. Heilsgesch. In: ebd. 42 (1993), S. 21–54. – Richard Faber: Männerrunde mit Gräfin. Die ›Kosmiker‹ Derleth, George, Klages, S., Wolfskehl u. Franziska zu Reventlow. Ffm./Bln. 1994. – M. Pauen: Einheit u. Ausgrenzung. Antisemitischer Neopaganismus bei Ludwig Klages u. A. S. In: Konfrontation u. Koexistenz. Zur Gesch. des dt. Judentums. Hg. Renate Heuer u. Ralph-Rainer Wuthenow. Ffm./New York 1996, S. 242–269. – M. Keilson-Lauritz: A. S.s Utopie des ›offenen Lebens‹. In: Forum Homosexualität u. Lit. 30 (1997), S. 37–58. – Baal Müller: ›Mein Abgrund neben mir‹. A. S. zwischen Esoterik u. emphat. Moderne. In: Erfahrung u. System. Mystik u. Esoterik in der Lit. der Moderne. Hg. Bettina Gruber. Opladen 1997, S. 157–181. – Tobias Schneider: A. S. u. der Nationalsozialismus. In: JbDSG 41 (1997), S. 383–398. – M. Keilson-Lauritz: A. S. u. der Nationalsozialismus: eine Erwiderung. In: ebd. 42 (1998), S. 301–308. – Heinz-Peter
Schullern Preußer: Antisemiten aus Kalkül? Über A. S., Ludwig Klages u. die Instrumentalisierung des rassist. Ressentiments im Nationalsozialismus. In: Spielräume des einzelnen. Dt. Lit. in der Weimarer Republik u. im Dritten Reich. Hg. Walter Delabar. Bln. 1999, S. 121–136. – Hans Holzkamp: Ältere Schrecken. Zu den Beziehungen zwischen Rilke u. A. S. In: Rilke u. die Moderne. Londoner Symposion. Hg. Adrian Stevens u. Fred Wagner. Mchn. 2000, S. 181–211. – A. S. Der letzte Römer. Neue Beiträge zur Münchner Kosmik: Reventlow, S., Wolfskehl u. a. Hg. B. Müller. Amsterd. 2000. – Elke-Vera Kotowski: Verkünder eines ›heidnischen‹ Antisemitismus. Die Kosmiker Ludwig Klages u. A. S. In: ›Verkannte Brüder‹? Stefan George u. das dt.jüd. Bürgertum zwischen Jahrhundertwende u. Emigration. Hg. v. Gert Mattenklott. Hildesh./Zürich 2001, S. 201–218. – Jens-Malte Fischer: ›Antike als Kostümfest‹. In: ›Mehr Dionysos als Apoll‹. Antiklassizistische Antike-Rezeption um 1900. Hg. Achim Aurnhammer u. Thomas Pittrof. Ffm. 2002, S. 421–444. – Franz Wegener: A. S., der letzte dt. Katharer. Gnosis, Nationalsozialismus u. myst. Blutleuchte. Gladbeck 2003. – T. Schneider: ›Nur wer die Leier schon hob‹. A. S. u. Rilkes ›Sonette an Orpheus‹. In: George Jb. 5 (2004/5), S. 82–97. – B. Müller: Kosmik. Prozeßontologie u. temporale Poetik bei Ludwig Klages u. A. S.: Zur Philosophie u. Dichtung der Schwabinger Kosmischen Runde. Mchn. 2007. Achim Aurnhammer
Schullern, Heinrich Ritter von, * 17.4. 1865 Innsbruck, † 16.12.1955 Innsbruck; Grabstätte: ebd., Westfriedhof. – Erzähler. Wie schon sein Vater, Anton von Schullern, ein in seiner Heimat geschätzter Kulturkritiker, stand auch S. zunächst auf der Seite der liberalen Tiroler Intellektuellen in einem vorwiegend kath.-konservativen Umfeld. Er studierte in Graz, München u. Innsbruck Medizin, schloss sich der national orientierten Bewegung »Jung-Tirol« an u. veröffentlichte in den 1890er Jahren erste Gedichte, Kurzgeschichten u. Novellen. Neben seinem Beruf als Militärarzt schrieb er zahlreiche Bücher, v. a. Tendenzromane, die z. T. hohe Auflagen erreichten (Die Ärzte. Linz/Wien/ Lpz. 1902. Katholiken. Wien 1904), Skizzen u. Erzählungen; seine dramat. Dichtungen fanden keine Resonanz. In seinem bekanntesten u. zgl. umstrittensten Zeitroman, Jung-Öster-
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reich (2 Bde., Mchn./Lpz. 1910), beschrieb S. im Spiegel der fiktiven Biografie eines Burschenschafters seine eigene Entwicklung von der deutschnationalen zu einer prononciert österr. Position. Nach der Auflösung des alten Kronlandes Tirol wandte sich S. der heimischen Historie zu. Unter dem Titel Das Land im Gebirge konzipierte er eine Romantrilogie über die tirolische Geschichte des SpätMA, ein Werk, das ihn bis in die späten 1940er Jahre beschäftigte (Kleinod Tirol. Innsbr./ Wien/Mchn. 1927. Boccaccio auf Schloß Tirol. Bln. 1932. Der Herzog mit der leeren Tasche. Innsbr. 1948): Sein Hauptwerk, in einer betont altertümlich gefärbten Sprache abgefasst, konnte sich nicht mehr durchsetzen. Weitere Werke: Vom Blühen u. Verderben. Tragödie eines Schülers. Mchn./Lpz. 1912 (R.). – Berggenossen u. a. E.en. Lpz. 1914. – Zwischen Welt u. Bergesstille. Ausgew. Dichtungen. Wien/ Lpz. 1926. Literatur: Karl Paulin: H. v. S. u. seine Zeit. Innsbr. 1960. Johann Holzner
Schulmeister von Esslingen. – Sangspruch- u. Minnelieddichter, Ende 13. Jh. Die Große Heidelberger Liederhandschrift (C) überliefert zehn Spruchstrophen des S.s in fünf Tönen u. zwei dreistrophige Minnelieder. Die polit. Strophen bieten eine scharfe Polemik v. a. gegen Rudolf I. von Habsburg u. spielen auf seine Krönung 1273 an. Dem Namen entsprechend, zeigt das Autorbild in C einen Kleriker mit Zuchtrute, assistiert von einem Helfer mit Tonsur. In dem Autor den 1279–1281 bezeugten Schulrektor Heinrich von Esslingen oder den 1289–1302 wirkenden Rektor Konrad zu erkennen, ist nicht zwingend. Gegen die Identifizierung mit einer der Amtspersonen wurden der erotisch freizügige u. respektlos polem. Ton sowie die loyale Einstellung Esslingens zum Kaiser geltend gemacht. Dann würde der Ort auf die Herkunft des Sängers u. der Titel (ironisch?) auf seine Bildung deuten. Der S. tadelt den Geiz des Königs, seine Besitzgier, sein strenges Regiment; er lässt ihn grotesk mit Gott um die Herrschaft des Himmels streiten, erkennt ihm schließlich die der Hölle zu; er zeigt ihn drohend (oder
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warnend?) als Ziel einer Verschwörung u. artikuliert so partikularistische Tendenzen in der Reichspolitik. Eine Strophe wendet sich gegen die Italienpolitik Karls von Anjou († 1285), erinnert an das Scheitern Manfreds u. Konradins u. rügt Rudolfs schlaue Zurückhaltung als Feigheit, indem der S. den König statt mit dem Adler mit einer Vogelscheuche vergleicht. Ein Spruch redet anzüglich von der Impotenz des Sängers vor seiner Minnedame, gibt sich dann aber mit dem Argument, dass gutes Essen u. Trinken leicht Abhilfe schaffen könnten, als Armutsklage u. Gönnerkritik zu erkennen. Die Minnelieder mit sommerl. Natureingang sind witzig u. laufen unverhüllt auf freudigen Liebesgenuss hinaus, die rhetorische Gestaltung ist aufwändig. Lied VII beschreibt in einer Kleidungsmetaphorik das Tugendgewand der Dame; ihre Umarmung ist für den Sänger, der das gewünschte Freudenkleid entbehren muss, Ummäntelung mit Tugenden u. erot. Berührung zugleich. Der erste Spruchton ist nur beim S. nachweisbar; die übrigen Töne entlehnt er von Walther von der Vogelweide (II, IV), Reinmar von Brennenberg (III) u. dem Marner (V). Ausgaben: KLD 1, S. 61–67. KLD 2, S. 63–67. – Werner Höver u. Eva Kiepe (Hg.): Epochen der dt. Lyrik 1. Mchn. 1978, S. 434–438 (einzelne Str.n mit Übers.). – Burghart Wachinger (Hg.): Dt. Lyrik des späten MA. Ffm. 2006, S. 256 f., S. 760–762 (I,7 u. 8 mit Übers. u. Kommentar). Literatur: KLD 2. – De Boor/Newald 3,1 (51997; Register). – Ulrich Müller: Untersuchungen zur polit. Lyrik des dt. MA. Göpp. 1974 (Register). – RSM 5 (1991). – Gisela Kornrumpf: Der S. v. E. In: VL. Christoph Huber / Sandra Linden
Schulte, Michael, * 22.4.1941 München. – Erzähler, Übersetzer, Herausgeber. S. verbrachte seine Kindheit u. frühe Jugend in einem Dorf bei Regensburg, in München u. Damaskus. Eine 1962 in Göttingen begonnene Buchhändlerlehre wie auch das Studium der Germanistik, Geschichte u. Philosophie an den Universitäten Göttingen u. Frankfurt/ M. schloss er nicht ab. S. lebte in den folgenden Jahren als freier Schriftsteller zunächst auf Mallorca, dann in Düsseldorf,
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Frankfurt/M., München u. Hamburg. Zahlreiche Reisen führten ihn vorwiegend nach Südostasien. 1982 wanderte S. in die USA aus, wo er sich nach Aufenthalten in New York u. Santa Fe (New Mexico) 1984 als Schriftsteller u. Kaufhausmanager in Bisbee (Arizona) niederließ. Sein unstetes Leben mit über 40 Umzügen führte ihn Ende der 1980er Jahre wieder nach Deutschland u. erneut für einige Jahre zurück nach Amerika. Heute lebt er in Deutschland. S. ist v. a. als Kenner u. Herausgeber der Werke Karl Valentins (Das große Karl Valentin Buch. Mchn./Zürich 1973. Karl Valentins Filme. Ebd. 1978. Alles von Karl Valentin. Ebd. 1978) hervorgetreten u. hat eine Monografie (Reinb. 1968), eine Biografie (Hbg. 1982) u. eine Hörpielfassung (MDR 1995) über ihn verfasst. S.s eigene Prosaarbeiten sind von Valentins anarch. Wortwitz beeinflusst; er selbst nennt jedoch Bohumil Hrabal, Laurence Sterne, Donald Barthelme u. Kurt Vonnegut – den er auch übersetzt hat – als seine wichtigsten Vorbilder. Bereits in seinen ersten Prosabänden, Die Dame, die Schweinsohren nur im Liegen aß (Mchn. 1970) u. Drei Nonnen gekentert (ebd. 1973), erwies sich S. als virtuoser Erzähler, der in diesen Alltagsgeschichten mit Redewendungen u. Phrasen aus den späten 1960er Jahren spielt u. diese Zeit parabelhaft karikiert. Sehr gelungen ist S. die Verbindung von skurrilen Charakteren, absurden Verwicklungen u. weltläufiger Szenerie in seinen Geschichten von unterwegs: Führerscheinprüfung in New Mexico (Augsb. 1986), New York City. Stadt der hundert Städte (Ffm. 1997). Die Skurrilität u. der Sprachwitz begegnen dem Leser auch in dem Roman Unbekannt verzogen (Ffm. 1995), in der Geschichtensammlung Zitroneneis (Ffm. 1996) u. im Fantastenroman Die Flaschenpost des Herrn Debussy (Wien 2007), der zgl. Abenteuer- u. Detektivgeschichte, Reisebericht, Musikerbiografie (über Debussy u. Eric Satie) u. Literaturtheorie ist. Neben Prosa schreibt S. auch Hörspiele u. Kinderbücher (Briefträger Paul. Wien 2000). 2005 legte er mit Ich freu mich schon auf die Hölle (Wien) eine Autobiografie vor mit beiläufigen Capriccios zu Kollegen wie H. C. Artmann, John Cage, Albert Vigoleis Thelen u. a. Dass S.
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nicht nur um des Witzes willen schreibt, wird in der Wanderarbeiter- u. Tramps-Hommage Wo immer ich bin, ist nirgendwo (Zürich 2005) oder in der Biografie Berta Zuckerkandl. Saloniere, Journalistin, Geheimdiplomatin (Hbg. 2006) deutlich. S.s Herausgebertätigkeit erstreckt sich neben Valentin von Morgenstern (Mchn. 1985) über Sherlock Holmes (Mchn. 1977) bis hin zu Hermann Löns (Düsseld. 1981). Weitere Werke: Goethes Reise nach Australien. Mchn./Zürich 1970 (E.en). – Elvis Tod. Szenen aus meinem Leben. Ebd. 1980 (R.). – Bambus Coca Cola Bambus. Ebd. 1982 (E.). – Sabine Hubers Glück u. Elend. Ebd. 1983 (R.). – Apfel. Ebd. 1986 (P.). – Bisbee, Arizona. Augsb. 1988 (P.). – Warum haben Sie nicht das Pferd geheiratet. Groucho Marx – sein Leben. Mchn./Zürich 1990. – Der Papageienschmuggler. Ungefähr 11 Reportagen. Augsb. 1991. – Das ewige Konzert in New York. HR 1991 (Hörsp.). – Supermarkt. Radio Bremen 1996 (Hörsp.). – Rosi u. andere Frauen fürs Leben. Wien 2000 (R.). – Der Dschungelkönig in Amerika. Ebd. 2000 (R.). – Das Angebot der Woche. Katzengeschichten. Ebd. 2001. – Cowboys in Kassel. Ebd. 2002 (E.en). – Der Frühstücksdirektor. Mchn. 2004 (R.). Literatur: Dietrich Segebrecht u. Ulrich Franz (Hg.): Dem echten Fuffziger. Eine Freundesgabe für M. S. Augsb. 1991. – Fred Viebahn: M. S. In: KLG. – Thomas Kraft: M. S. In: LGL. Gerhard Bolaender / Günter Baumann
Schultz, Franz Albert, * 25.9.1692 Neustettin, † 19.5.1763 Königsberg. – Evangelischer Theologe. Nachdem S. als Sohn des Neustettiner Bürgermeisters seinen ersten Unterricht am heimischen Hedwig-Gymnasium erhalten hatte, verbrachte er seit 1712 unter der Anleitung Johann Wilhelm Zierolds, der zu den bedeutendsten Vertretern des Pietismus in Hinterpommern zählte, einige Jahre am Collegium Groeningianum in Stargard, bevor er 1715, schon recht bejahrt, sein Studium der Theologie an der Universität Halle aufnahm. Dort besuchte er die Vorlesungen u. Erbauungsversammlungen August Hermann Franckes sowie die mathemat. u. philosophischen Vorträge seines Kontrahenten Christian Wolff u. wurde als Schüler beider Zeuge der sich
langsam zuspitzenden Situation zwischen den Anhängern des Halleschen Pietismus u. des Wolff’schen Rationalismus. Nach einigen Semestern bot sich ihm die Gelegenheit, den Grafen Ludwig Wilhelm von Münchow 1718 als Hofmeister nach Königsberg zu begleiten. Es vergingen fünf Jahre, in denen er, wie zuvor in Halle, mathemat. u. philosophische Privatvorlesungen im Stile Wolffs hielt u. gleichzeitig in den pietistischen Kreisen der Stadt verkehrte, bis es ihn im Frühling 1723 nach Berlin zog, wo er eine Stelle als Lehrer an der Kadettenschule antrat. Hier stand er in Kontakt zu Johann Gustav Reinbeck, Mitgl. der vom König bestellten Untersuchungskommission der Wolff’schen Lehrsätze, u. gewann so Einblicke in die Hallenser Entwicklungen, die in der Vertreibung Wolffs aus Preußen gipfelten. Einige Monate später schlug S. mehrere sowohl durch Francke als auch durch Wolff vermittelte Stellenangebote aus u. verdingte sich, möglicherweise auch um einem Positionierungsdruck zu entgehen, bis 1727 überaus erfolgreich als Militärgeistlicher bei dem preuß. Kürassier-Regiment in Mohrungen, was ihm die Gunst Friedrich Wilhelms I. einbrachte. In den folgenden Jahren wurde er als Erzpriester nach Rastenburg u. als Probst nach Stolp berufen, was jedoch beide Male zu Querelen führte u. im Fall von Stolp sogar mit seiner vorübergehenden Gefangennahme endete. Zu seinem Glück wurde S. im Sommer 1731 nach Königsberg beordert, erhielt dort die Pfarrstelle an der Altstädtischen Kirche, heiratete u. wurde zudem zum Konsistorialrat ernannt. Er promovierte u. durfte bereits 1732, in seinem ersten Semester als o. Prof. der Theologie, das Rektorat der Universität übernehmen. Die Zahl seiner Ämter häufte sich zusehends. Da er das Vertrauen des Königs genoss, wurde S. in rascher Folge akadem. Senator, Mitgl. der Spezial-, Kirchen- u. Schulkommission, Direktor des Collegium Fridericianum in der Nachfolge Georg Friedrich Rogalls, Assessor des Stipendienkollegiums, Kirchenrat u. Generalinspektor über das gesamte preuß. Kirchen-, Schul- u. Armenwesen. Unter seiner Aufsicht wurden im Zuge der pietistischen Schulreform über 1600 Schulen in Ostpreußen gegründet. An
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der Universität fanden seine Bemühungen, u. F. A. Schultz’ mit den Halleschen Pietisten. Ködie Theologische Fakultät im Sinne des Kö- nigsb. 1937. – Hartwig Notbohm: Das evang. Kirnigs an der Praxis auszurichten, nicht überall chen- u. Schulwesen in Ostpreussen während der Beifall. Vor allem mit dem orthodoxen Lu- Regierung Friedrich des Großen. Heidelb. 1959. – Walther Hubatsch: Gesch. der Evang. Kirche Osttheraner Johann Jakob Quandt kam es zu ofpreußens. 3 Bde., Gött. 1968 (Register). – Die fenen Streitigkeiten. Diese konnten schwer- Schule Immanuel Kants. Mit dem Text v. Christian lich damit behoben werden, dass S. vakante Schiffert über das Königsberger Collegium Fridetheolog. u. philosophische Professuren im- ricianum. Hg. Heiner F. Klemme. Hbg. 1994. – mer wieder mit pietistischen Gefolgsleuten Wolfdietrich von Kloeden: F. A. S. In: Bautz. – wie Daniel Heinrich Arnoldt, Johann David Friedrich-Franz Mentzel: Das Collegium FrideriKypke, Daniel Lorenz Salthenius u. Martin cianum in Königsberg, ein besonderer Beweis pieKnutzen, besetzte. Als Vertreter eines ratio- tist. Wirksamkeit im ›pädagog.‹ Jh. In: Forsch.en nalisierten Pietismus verknüpfte S. die zen- zur brandenburg. u. preuß. Gesch. N. F. 13 (2003), tralen Thesen der Wolff’schen Philosophie S. 249–273. – James Jakob Fehr: Die Schr.en der Königsberger Pietisten F. A. S. u. Martin Knutzen mit der luth. Theologie u. machte daraus zwischen Pietismus u. Aufklärung. In: Königsberselbst in Zeiten des Verbots öffentl. Vorle- ger Buch- u. Bibliotheksgesch. Hg. Axel E. Walter. sungen über Wolff keinen Hehl, wie es auch Köln 2004, S. 629–653. – Ders.: Die Verwissenseiner Dissertation De concordia rationis cum fide schaftlichung des ›Herzens-Glaubens‹ in Königsvon 1732 abzulesen ist. So wurde der Schüler berg. F. A. S. als Pietist u. Aufklärer. In: InterdisWolffs in Königsberg zum Lehrer Immanuel ziplinäre Pietismusforsch.en. Hg. Udo Sträter. 2 Kants u. ist letztlich wohl allein in dieser Ei- Bde., Halle 2005, Bd. 1, S. 223–233. – Ders.: ›Ein genschaft als eine Fußnote in die Geschichte wunderlicher nexus rerum‹. Aufklärung u. Pietiseingegangen. Mit dem Tod Friedrich Wil- mus in Königsberg unter F. A. S. Hildesh. 2005 (mit Bibliogr.). – J. J. Fehr: F. A. S. In: NDB. helms I. im Frühling 1740 verlor S. seinen Wiebke Hemmerling größten Förderer, u. sein Einfluss in Königsberg schwand merklich nach der Regierungsübernahme Friedrichs II., der dem Schulz, Frank, * 14.2.1957 Stade bei Pietismus gegenüber nicht eben aufgeschlos- Hamburg. – Erzähler. sen war. Nach u. nach büßte S. seine Ämter ein. Sein Pfarramt, die Professur u. das Di- Aufgewachsen im norddt.-dörfl. Milieu in rektorat des Friedrichskollegiums, das unter Stade u. ausgebildet zum Außenhandelsseiner Führung zu einer preuß. Musterschule kaufmann, arbeitete S. 1976–1978 als kaufwurde, blieben ihm jedoch bis zu seinem Tod männ. Angestellter, bevor er das Abitur nachholte u. 1981 in Hamburg das Studium 1763 erhalten. Weitere Werke: Zwey nützl. Lehren des wah- der Germanistik u. Psychologie aufnahm, das ren Christenthums. Königsb. 1730. – Dissertatio er 1987 mit dem Magister Artium abschloss. inauguralis de concordia rationis cum fide in locis Eine Zeitlang lebte er von Arbeitslosenhilfe, de iustitia dei et inde profluente necessitate satis- vom Schreiben für ein Hamburger Anzeifactionis. Königsb. 1732. – Verordnung, über das genblatt bzw. in der Dokumentation des Kirchen- u. Schulwesen in Preussen. [Bln.] 1734. – Magazins »Gala« oder auch vom Geld, das Commentatio de concordia rationis cum fide in ihm Freunde liehen. locis de iustitia dei et inde profluente necessitate S. kündigte seinen ersten Roman Kolks satisfactionis. Lpz. 1735. Nachdr. in Fehr 2005 (s. blonde Bräute. Eine Art Heimatroman (Zürich Lit.). 1991) als Auftakt seiner Hagener Trilogie an, Literatur: Zedler. – Benno Erdmann: Martin die er mit Morbus fonticuli oder Die Sehnsucht des Knutzen u. seine Zeit. Lpz. 1876. Nachdr. Hildesh. Laien (Zürich 2001) fortsetzte u. mit Das Ouzo1973. Schutterwald/Baden 2005. – Paul Tschackert: F. A. S. In: ADB. – Hans Langel: Die Entwicklung Orakel (Ffm. 2006) vollendete. Für die ersten des Schulwesens in Preußen unter F. A. S. beiden Teile wurde er 2004 mit dem Hubert(1733–1763). Halle 1909. Nachdr. Hildesh. 1985. – Fichte-Preis ausgezeichnet. Bereits 1989 erErich Riedesel: Pietismus u. Orthodoxie in Ost- hielt S. den Hamburger Literaturförderpreis, preußen. Auf Grund des Briefwechsels G. F. Rogalls 1999 folgte der Förderpreis des Kassler Lite-
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raturpreises für grotesken Humor u. 2001 der Förderpreis für Literatur des Landes Niedersachsen. Der Lebens- u. Leidensweg des Bodo Morten aus dem norddt. Dorf Hagen bildet das erzählerische Zentrum der Trilogie. Während im Roman Kolks blonde Bräute, der urspr. schlicht »Säufernovelle« heißen sollte, einer von Bodos Freunden, der Briefträger Alfred Kolk, mit seinen erot. Fantasien, den gemeinsamen Besäufnissen u. Skatrunden den Mittelpunkt der Handlung bildet, rücken in den Folgeromanen Bodo Mortens Leben u. Werdegang deutlich in den Vordergrund. Die zunächst planlos wirkende Geschichte um Kolks blonde Bräute erzählt der Trink- u. Skatbruder Bodo im Rückblick u. auf verschiedenen Ebenen jedoch nach strengem Regelwerk u. mit höchst sprachkrit. Bewusstsein. Der Kunstgriff, mit äußerst feinem Gehör für Dialekte u. Soziolekte das Hamburgische u. den Kneipenslang in einer Art Lautschrift wiederzugeben u. damit eine beeindruckende Authentizität zu schaffen, wurde von der Kritik früh erkannt u. hoch gelobt (Die Zeit, 26.6.1992). In die Nähe der Neuen Frankfurter Schule (zumal Eckhard Henscheids) gerückt, wurden Stil u. Sprache mit denen von Dostojewski, Nabokov oder Arno Schmidt verglichen. S. hat mit seinem Debüt, »einer irrwitzig arabesken Vexiergeschichte um eine Sexualverschwörung« (Frankfurter Rundschau, 17.9.2006) eine so noch nicht vorliegende literar. Erfassung der Problematik des Alkoholismus vorgelegt, indem er Kolks Weg vom »gepflegten Teilzeittrinker zum rettungslos versunkenen Alkoholiker« (FAZ, 13.11.2004) in allen Schattierungen u. Abgründen schildert. Die im Titel benannten »blonden Bräute« stehen nicht nur für »Saufen, Sex und Schwank« (so der Erzähler Bodo), sondern für ein, von einem gewissen Alter an, nur noch im Alkoholrausch fühlbares Stück Heimat u. damit eine vorübergehende Erlösung. Im 700-Seiten-Opus Morbus fonticuli ist Bodo, nunmehr verheiratet, dem »Kaff« Hagen entkommen u. als Journalist für ein Hamburger Anzeigenblatt tätig. Neben der entlarvend genauen u. ironisch durchdrungenen Schilderung etwa des Redaktionsalltags sowie des dazugehörigen Personals, steht
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in dem nahezu durchweg hoch gelobten Roman Bodos Doppelleben im Mittelpunkt, das schließlich zum Absturz des Helden führt, der die gelebten Widersprüche aus der Konstellation zwischen Geliebter u. Ehefrau nur für eine gewisse Zeit in seinen detailversessenen, Expertenwissen parodierenden Tagebüchern zu kompensieren vermag. Bodos im Titel benannte Fontanellen-Krankheit ist »Ausgangspunkt und Fluchtpunkt des Erzählten, Erklärung und Rechtfertigung [seiner] ungeheuren Fabulierlust« (FR, 24.8.2002); die beim Säugling bestehende Knochenlücke, die Fontanelle, die sich im Laufe des Wachstums schließt, ist, so Bodos Theorie, metaphorisch offen geblieben u. führt zu »neuraler Überflutung«, die ihn trotz vorübergehender Entlastung durch Schreiben u. angesichts der zunehmend komplizierten Verhältnisse verzweifeln lässt. Als sich seine Freunde u. die Ehefrau sowie seine Geliebte Bärbel (der Ursprung seines Niedergangs u. Antrieb aller Handlung) aufmachen, den unhaltbar verstrickten, inzwischen abgetauchten Freund zu suchen, finden sie ihn nahe der Heimat in »Kolks Wald«, nur mit Motorradhelm, Gummistiefeln u. Badehose bekleidet u. einem Spaten in der Hand, bei dem Versuch ins Erdinnere vorzudringen. Eine der wenigen krit. Stimmen, die dem Roman einen Mangel an »politischer und gesellschaftlicher« Relevanz attestierte u. ihn als »wortverliebte Selbsttherapie« (FAZ, 1.12.2001) des Autors bezeichnete, wird diesem angesichts der analyt., psychosozialen u. überaus krit. Milieuschilderungen, dieser »furiose[n] Mischung aus Schelmen-, Heimat-, Sitten- und Sozialroman«, dem »humoristisch-realistische[n] Monumentalwerk« (Die Zeit, 4.10.2001) nicht gerecht. Trotz mehrheitlich begeisterter Kritiken lief der Verkauf zunächst schlecht an, da S.s Verlag Haffmans kurz nach Erscheinen des Romans Konkurs anmelden musste. Das Ouzo-Orakel bildet, unter neuer Verlegerschaft, den Abschluss der als Bildungsroman angelegten Trilogie. Nach seiner Entlassung aus der Psychiatrie ist der Protagonist Bodo, inzwischen frühverrentet, seit vier Jahren im fiktiven Dorf Kouphala in Griechenland am Ionischen Meer angekommen,
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dort, wo einer der fünf Flüsse der mytholog. Sehnsucht nach Heimat, z.T. erneut mit dem Unterwelt, der Acheron, der ›Fluss des Lei- Personal aus der Hagener Trilogie. dens‹, ins Meer mündet. Die Handlung ist als Friederike Reents Schäferroman in arkadien-ähnl. Landschaft angelegt. Bodo führt nunmehr ein geläuterSchulz, (Joachim Christian) Friedrich, tes Leben in Askese u. Disziplin, um das * 1.1.1762 Magdeburg, † 10.10.1798 (n. mühsam erarbeitete seel. u. körperl. GleichSt.) Mitau. – Romancier, Reiseschriftstelgewicht zu bewahren. Trotz regelmäßiger ler, Übersetzer. Besuche der von griech. Freunden geführten Taverne widersteht er Alkohol u. »Weib«, bis Für den in der Aufklärung aufkommenden ihn seine Vergangenheit in Form seiner ers- Typus des freien Schriftstellers ist S. ein gutes ten, nicht erwiderten Liebe aus Kindertagen Beispiel: Wie nur wenigen gelang es ihm, sich einholt. Naiv u. erotisch bringt die zufällig an erst durch Übersetzungen aus dem FranzöBodos ›locus amoenus‹ geratene u. von ihrer sischen, Italienischen, Englischen u. BearEhekrise gebeutelte Monika sein geregeltes beitungen (etwa von Marie de La Fayette: Leben vollständig durcheinander. Erst ein Zaide, 1789; Die Princessin von Cleves, 1790; Besuch beim »Ouzo-Orakel«, dem sagenhaf- Henriette von England, 1794), dann durch ten Weisen Theo, bringt ihn zur Einsicht über zahlreiche Romane u. Reiseberichte selbstsein wahres Leiden: die Sehnsucht nach der ständig zu ernähren. Nach dem frühen Tod verlorenen Jugend, die Bodo schon in Kolks seiner Mutter verließ der Sohn eines Branntblonde Bräute als die »Unausweichlichkeit weinbrenners 1779 seine Geburtsstadt Magaufzuwachsen« beklagt hatte. In Demut u. deburg, wo ihn sein Lehrer J. G. Schummel an dieses Mal offenbar tatsächlich kuriert, kehrt die Literatur herangeführt hatte. S. studierte er nach Hamburg zurück. Die Kritik drei Semester Theologie in Halle u. suchte war »sprachlos« (Frankfurter Rundschau, dann sein Glück in Dresden, zuerst als 17.8.2006) ob dieser Sprachmächtigkeit, die- Schauspieler, dann als Schriftsteller. Geldnot ser »gelungenen Symbiose von Körper- und – sein Vater war 1780 nach Ostindien geganGeisteswissenschaften« (SZ, 24.11.2001), die gen u. verschollen – befeuerte die Produktider »Meister des Periodenbaus, der Dialekt- on: Sie beginnt mit den Romanen Karl Treuund Stimmenimitation« (SZ, 26.6.2006) vor- mann und Wilhelmine Rosenfeld (Lpz. 1781) – gelegt hat, sowie ob der Souveränität der vom Sechzehnjährigen im Siegwart-Ton J. M. Komposition, die in einer Erinnerung an die Millers verfasst – sowie einem »Büchlein, norddt. Kindheit als »geheime[m] Kraftzen- welches wünscht gelesen zu werden« – so der trum des Romans« (FAZ, 17.6.2006) kulmi- Untertitel des Sturm-und-Drang-Romans niert. Ferdinand von Löwenhain (2 Bde., Lpz. 1781). In einem heiteren »Werkstattbericht« be- Reisen führten S. nach Berlin u. Wien; 1789 richtet S. von seinem »Jugendtraum«, sich als ist er einer der ersten dt. Revolutionstouris»Krimi-Debütant zu rehabilitieren« (Stern, ten in Paris. Daraus gingen u. a. die Geschichte 8.4.2009). Aufgrund der Zusage durch den der großen Revolution in Frankreich (Bln. 1790. Literaturfonds Darmstadt, einen Kurzprosa- Nachdr. mit Nachw. von Gerhard Koziel/ek. band zu fördern, zieht er diesen zunächst vor: Ffm. 1989) sowie Ueber Paris und die Pariser Mehr Liebe. Heikle Geschichten (Bln. 2010) zeigt (Bln. 1791) hervor. Bis zu seinem Wechsel als erneut S.’ großes erzählerisches Talent. Ge- Professor der Geschichte an die Academia mäß dem vorangestellten Motto von Marie Petrina in Mitau (1790) lebte S. die meiste von Ebner-Eschenbach, »Die meisten Men- Zeit in Weimar. Dort war er mit dem Illumischen brauchen mehr Liebe, als sie verdie- natenführer J. Chr. Bode befreundet u. genen«, gestaltet S. seine anrührend traurigen hörte der Freimaurerloge Anna Amalia zu Geschichten über das Scheitern, aber auch das den drei Rosen an. 1789 wurde er zum Hofrat Gelingen der Liebe, stets verknüpft mit der ernannt. Mit dem Almanach der Bellettristen und Bellettristinnen für’s Jahr 1782 (Ulietea [i.e. Bln.]
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1781. Neuausg. mit Nachw. von Alexander Kosˇ enina. Hann. 2005) positioniert S. sich im literar. Feld der Zeit. Er beteiligt sich am Sturm auf den Parnass, den das spött. Titelkupfer zeigt, u. weist dafür Konkurrenten satirisch in die Schranken. Analog zu seiner Vorlage, dem Kirchen- und Ketzer-Almanach von C. F. Bahrdt, porträtiert S. auf launige Weise rund 130 Autoren (sich selbst mit korrektem Vornamen Christian statt Christoph eingeschlossen) in alphabetischer Ordnung, die in einem vorangestellten Kalendarium nach Wetterlagen u. Jahreszeiten willkürlich gruppiert werden. Mit diesem Rundumschlag – dem porträtierten Personal in der Litterarischen Reise durch Deutschland (1786. Neuausg. mit Nachw. von Christoph Weiß u. Reiner Wild. St. Ingbert 1996) eng korrespondierend – hat sich S. erstaunlich wenige Feinde gemacht. Noch bemerkenswerter ist die spätere Anerkennung des Unterhaltungsschriftstellers durch die Klassiker. Schiller beeindruckt dieser »Mensch von Kopf« u. leichter Feder, der »sich jährlich 1000 Thaler« erschreibt, auch wenn es zuweilen »mit der Scheere«, also durch Mehrfachverwertung, geschieht. Wieland nennt ihn »an Reiffe des Verstandes, Güte des Herzens, Festigkeit des Charakters und untadeligem sittlichen Betragen« nur mit wenigen vergleichbar. Selbst Goethe würdigt ihn als »geistreichen Menschen« u. A. W. Schlegel als »vorurtheilsfreien Beobachter«. Unter den zahlreichen Prosaschriften – Kleine Romane (5 Bde., Lpz. 1788–90), Kleine Prosaische Schriften (7 Bde., Weimar 1788–1801) – war neben Friz oder Geschichte eines Belletristen (2 Bde., Altenburg 1783) besonders Moriz, ein kleiner Roman (Lpz./Dessau 1785) erfolgreich, der mehrere Auflagen u. Übertragungen erfuhr (ins Französische, Englische, Dänische, Schwedische). Der kom. Roman Leben und Tod des Dichters Firlifimini (Lpz. 1784) ist eine Parodie auf F. Nicolai. S. beteiligte sich auch an geschichtl. u. geografischen Kompendien (Handbuch der allgemeinen Weltgeschichte für Ungelehrte. Bln. 1785. Handbuch der allgemeinen Erdbeschreibung für Ungelehrte. Bln. 1785. Neueste Nachrichten vom türkischen Reiche. Ein Handbuch für Unkundige. Bln. 1788), verfasste biogr. Werke (Gemählde aus
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dem Leben Friedrichs des Großen. Bln. 1787. Johanna von Kastilien. Madrid [i.e. Bln.] 1788) u. kompilierte Historien von den Liebschaften engl. (5 Bde., Bln. [i.e. Altenburg] 1783–87), frz. (Jena 1785) u. poln. Könige (Bln. 1784). Stark präsent ist er auch in Zeitschriften wie »Der teutsche Merkur«, »Deutsches Museum«, »Deutsche Monatsschrift«, »Journal des Luxus und der Moden«, »Allgemeine Literatur-Zeitung« u. »Litteratur und Völkerkunde«. Das Themenspektrum reicht von der Anthropologie (»Geschichte der Völker am Oronoko«) u. »Seelen-Naturkunde« über Freimaurerei, Politik u. Geschichte bis zu Moden u. Anekdoten der Zeit. Die kurländ. Bürgerschaft entsandte S. 1791 als Deputierten zum Reichstag nach Warschau, das literarisch in einem Sendschreiben (Warschau 1792) verarbeitet wird. Nach der Rückkehr wurde S. 1792 zum Prorektor der Academia Petrina ernannt. Später folgte die Reise eines Liefländers von Riga nach Warschau, durch Südpreußen über Breslau, Dresden, Karlsbad, Bayreuth, Nürnberg, Regensburg, München, Salzburg, Linz, Wien und Klagenfurt, nach Botzen in Tyrol (6 H.e, Bln. 1795/96. Ausw. mit Nachw. von Klaus Zernack. Ffm. 1982). Hoffnungen auf eine Stellung an der Berliner Akademie der Wissenschaften erfüllten sich nicht. Die letzten Jahre in Mitau, seit Juni 1795, waren von Krankheit u. zunehmender geistiger Umnachtung bestimmt. Weitere Werke: Briefe. Hg., eingel. u. komm. v. Gerhard Kosellek. Bielef. 2001. Literatur: Bibliografie: Ausführliche Bibliografie in: Lexikon der deutschsprachigen Lit. des Baltikums u. St. Petersburgs. Hg. Carola L. Gottzmann u. Petra Hörner. Bd. 3. Bln./New York 2007, S. 1171–1177. – Weitere Titel: Jördens 4 (1809), S. 658–673. – Johann Friedrich v. Recke u. Karl Eduard Napiersky: Allg. Schriftsteller- u. Gelehrten-Lexikon der Provinzen Livland, Estland, Kurland. Bd. 4, Mitau 1832, S. 141–152. – Franz Brümmer: F. S. ADB 32 (1891). – G. v. Hartmann: Ein vergessener Kritiker des 18. Jh. In: JbFDH 1906, S. 239–259. – Goedeke 4/1 (1916), S. 929–936. – James Daniel Bean: The Literary Criticism of F. S. Diss. Johns Hopkins. Baltimore 1975. – Giulia Cantarutti: Früchte einer Übersetzung La Rochefoucaulds im Jahr der ›großen Revolution in Frankreich‹ gepflückt. In: Germania – Romania. Hg. dies. u. Hans Schumacher. Ffm. u. a.
631 1990, S. 265–289. – Kosch 16 (1996). – Peter Brüne: F. S. – ein Schriftsteller aus dem Umkreis Friedrich Justin Bertuchs. In: F. J. Bertuch (1747–1822). Verleger, Schriftsteller u. Unternehmer im klass. Weimar. Hg. Gerhard R. Kaiser u. Siegfried Seifert. Tüb. 2000, S. 481–488. – Gerhard Kosellek: F. S. in Mitau u. Warschau. In: Das Baltikum in der dt. Lit. Hg. Michael Schwidtal. Heidelb. 2001, S. 299–313. – Dirk Sangmeister: Bis zum Verlust der rechten Hand. Der freie Schriftsteller F. S. In: Triangulum 8 (2001), S. 25–43. Alexander Kosˇ enina
Schulz, Helmut H(ermann), * 26.4.1931 Berlin. – Erzähler, Hörspielautor.
Schulz Abschied vom Kietz. Ebd. 1972 (R.). – Der Springer. Ebd. 1976 (R.). – Alltag im Paradies. Rostock 1977 (E.en). – Spätsommer. Ebd. 1979 (E.en). – Meschkas Enkel. Ebd. 1982 (E.en; Titelerzählung verfilmt 1987). – Stunde nach zwölf. Ebd. 1985 (E.en). – Zeit ohne Ende. Ebd. 1988 (E.en). – Der Sündenfall. Bln./DDR 1988 (E.en; verfilmt 1989 u. d. T. Verbotene Liebe). – Götterdämmerung. Bln. 1990 (R.). – Der Hades der Erwählten. Eine dt. Biografie. Bln. 2001. – Erzählungen aus drei Jahrzehnten. Bd. 2, Bln. 2008. Literatur: Werner Liersch: Laudatio zum Heinrich Mann-Preis 1983. In: NDL 31 (1983), H. 7, S.164–167. – Anneliese Löffler: Interview mit H. H. S. In: WB 30 (1984), H. 10, S. 1617–1635. – Dies.: Das Soziale u. die Kunst des Erzählens. Zum Prosaschaffen v. H. H. S. In: ebd., S. 1635–1656. – Dunja Welke: Soziolog. Zeitdokumente von literar. Rang. In: NDL 34 (1986), H. 5, S. 145–148 (zu ›Stunde nach Zwölf‹). – Christel Berger: H. H. S. In: Lit. der DDR. Bd. 3. Hg. Hans Jürgen Geerdts. Bln./ DDR 1987, S. 351–368. – Dies.: Schreib nur, was du kennst (Interview mit H. H. S.). In: Dies.: Gewissensfrage Antifaschismus. Traditionen der DDRLiteratur. Bln. 1990, S. 259–275. Armin Mohler † / Philipp Kluwe
Nach einer Ausbildung im Druckereigewerbe u. redaktioneller Tätigkeit in Zeitschriften (»Junge Kunst«, »Forum«) u. im Hörfunk (Feature-Dramaturg) lebt S. seit 1974 als freier Schriftsteller in (Ost-)Berlin. Unter Anleitung Johannes Bobrowskis entstand die Erzählung Der Fremde und das Dorf (Bln./DDR 1963). Mit seinen im Verlag der Nation u. im Hinstorff Verlag veröffentlichten Werken zählte S. zunächst nicht zu den offiziellen Autoren. Erst zu Beginn der 1980er Jahre wurde er »unüberhörbar und dabei zugleich Schulz, Max Walter, * 31.10.1921 Scheiumstritten« (Berger 1987, S. 351). Seine benberg/Erzgebirge, † 15.11.1991 Berlin. Thematik sind die elementaren Reaktionen – Romanautor. des Menschen auf drei zeitgeschichtl. Phänomene: die DDR, das »Dritte Reich«, die S., Sohn eines Angestellten, besuchte die Eltern-Großeltern-Spannung (Zieheltern- Aufbauschule u. war Soldat im Zweiten Problem) – am deutlichsten in den Romanen Weltkrieg; danach absolvierte er ein PädagoDas Erbe (Bln./DDR 1981), einem vom wil- gikstudium u. wurde Lehrer. Nach dem Stuhelmin. Deutschland bis in die Gegenwart dium am Literaturinstitut »Johannes R. Bereichenden Generationenroman (Heinrich- cher« wurde S. Direktor dieser Leipziger Mann-Preis 1983), u. Dame in Weiß (Rostock »Schreibschule« (1964–1983); anschließend 1982), der den Übergang vom »Dritten war er bis 1990 Chefredakteur der AkadeReich« in die DDR am Beispiel einer Familie miezeitschrift »Sinn und Form«. – S. war darstellt. In dem Erzählband Das Ende der verheiratet mit der Schriftstellerin Elisabeth »Clara« (Rostock 1995) u. dem Roman Die Schulz-Semrau (* 1931 Königsberg. Lehrerin, blaue Barriere (Rostock 1995) widmet sich S. Studentin u. Assistentin am Leipziger Instimaritimen Themen. 1990 erhielt er das Ar- tut. Veröffentlichungen: u. a. Jedes Leben hat beitsstipendium für Berliner Schriftsteller u. auch seine Zeit. Halle 1974; E.en. Ausstellung 1992 die Ehrengabe der Deutschen Schiller- einer Prinzessin. Ebd. 1977; R. Suche nach Karastiftung Weimar. S. versteht sich selbst als lautschi. Report einer Kindheit. Ebd. 1984). Der »Roman einer unverlorenen Generati»Realist« u. »Chronist«, der es dem Leser überlässt, »sein eigenes Bild« zu entwickeln on«, Wir sind nicht Staub im Wind (Halle 1962), gehört zu den exemplarischen Büchern des (Berger 1990, S. 269). Weitere Werke: Entscheidung fürs Leben. Bln./ »Bitterfelder Weges«: In diesem sozialistiDDR 1969 (Hörsp.). – Jahre mit Camilla. Ebd. 1970 schen Erziehungsroman verbinden sich (R.). – Nicht nur ein Maler. Ebd. 1971 (Hörsp.). – Kriegs- u. Heimkehrerproblematik mit An-
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kunfts- u. Wandlungsmotiv. In der Fortset- Schulz, Wilhelm (Friedrich), * 13.3.1797 zung des Debütromans mit Triptychon mit Darmstadt, † 9.1.1860 Zürich. – Politisieben Siegeln (Halle 1974) sind die Hauptfi- scher Publizist. guren in die Geschehnisse in der CˇSSR 1968 S., Sohn eines Beamten, war zur Offiziersgestellt. Trotz seines schmalen Œuvre gehörte S. zu laufbahn bestimmt u. kämpfte als hess. den höchstgeehrten Autoren der DDR: Leutnant 1813 in der Schlacht bei Leipzig. Als Kunstpreis der Gewerkschaft sowie Natio- Student der Kriegswissenschaften in Gießen nalpreis (1963/64), Mitgl. der Akademie der schloß er sich der Burschenschaft an u. Künste (1969), Ernennung zum Professor u. machte sich mit den nationalrevolutionären Vizepräsident des Schriftstellerverbands. S. Ideen Karl Follens bekannt. S.’ anonyme hielt das polem. Grundsatzreferat auf dem VI. Broschüre Frag- und Antwortbüchlein über allerSchriftstellerkongress 1969. Er forderte unter lei, was im deutschen Vaterland besonders not tut der Formel vom »gesellschaftlichen Lektor« (Dtschld., recte Ffm. 1819) forderte die Erwirksame offizielle u. offiziöse Einflussnah- richtung einer dt. Einheitsrepublik, die Erme. Mit Rezensionen zu Hacks, Neutsch, Noll setzung der stehenden Heere durch Volksu. Christa Wolf gab er den hitzigen Litera- milizen, Pressefreiheit u. die allg. Schulturdebatten jener Jahre die Richtung. – Die pflicht. Als Volksaufwiegler verhaftet, verHerausgebertätigkeit S.’ hing mit seiner brachte S. ein Jahr in Untersuchungshaft. Er Leipziger Funktion zusammen: In den lite- wechselte über zu Jura, wurde jedoch als rar. Porträts (Kontakte. Halle 1970) kommen »Demagoge« nicht zum Gerichtsjahr zugeSchreibstudenten, in den Beiträgen aus zwei lassen u. wandte sich der Publizistik zu. In Literaturinstituten (Tauchwitzstraße – Twerskoi Deutschlands Einheit durch NationalrepräsentatiBoulevard. Ebd. 1975) Lehrer für Poesie zu on (Stgt. 1832) propagierte er die Schaffung Wort. – Als S., der »Literaturdiplomat« (Fred einer einheitl. bürgerlich-parlamentar. DeRodrian), seinen Chefredakteursposten nie- mokratie, die durch Gründung von Gewerkderlegte, verabschiedete er sich mit den schaften u. Profitbeteiligung der Arbeiter die Worten: »Wer Glück hat, dem setzt das [...] widerstreitenden Klasseninteressen aussöhLeben seine Zäsuren zum natürlichen Zeit- nen sollte. Wegen dieser u. anderer Schriften wurde S. 1834 zu fünfjährigem Festungskerpunkt« (in: Sinn und Form, H. 6, 1990). Weitere Werke: Stegreif u. Sattel. Anmerkun- ker verurteilt. Seine Frau Caroline (Heirat gen zur Lit. Halle 1967. – Der Soldat u. die Frau. 1828) schmuggelte ihm Ausbruchswerkzeug Ebd. 1978. Mchn. 1979 (N.). – Pinocchio u. kein in die Zelle. Er entkam nach Straßburg, wo er Ende. Notizen zur Lit. Halle. 1978. – Die Fliegerin Büchner kennen lernte. Die beiden hess. oder Aufhebung einer stummen Legende. Ebd. Flüchtlinge bewarben sich erfolgreich um 1981 (N.). – Auf Liebe stand Tod. Ebd. 1989 (N.n). Dozenturen an der neugegründeten UniverLiteratur: Klaus Schuhmann: Erzähler u. sität Zürich. S. lehrte einige Semester NatioDenker im Streit. Zum Schaffen v. M. W. S. In: WB nalökonomie u. war seit 1837 Mitarbeiter 23 (1977), H. 8, S. 69–78. – Elzbieta Glanc-Boteva: (über 50 Artikel) an Rottecks u. Welckers Die Auseinandersetzung mit dem Faschismus in Staatslexikon. In Der Tod des Pfarrers Friedrich der DDR-Lit. Untersucht an ausgew. epischen Ludwig Weidig (Zürich/Winterthur 1843. Werken v. Dieter Noll, M. W. S. u. Franz Fühmann. Neudr. Lpz. 1975) beschuldigte er den an Bln. 1979. – Dietlinde Dopatka: Zur literar. Konzeption v. M. W. S. unter bes. Sicht der schaffens- u. Säuferwahnsinn leidenden Untersuchungswirkungsästhet. Intentionen. Diss. Zwickau 1981. richter Georgi, den Mitarbeiter am »Hessi– Evgenij Petrov: Klassikrezeption bei M. W. S. am schen Landboten« ermordet zu haben. Beispiel v. Faust-Motiven. In: Das zwanzigste Jh. S.’ wichtigstes Werk war Die Bewegung der im Dialog mit dem Erbe. Bearb. v. Klaus Krippen- Produktion (Zürich/Winterthur 1843. Neudr. dorf. Jena 1990, S. 67–73. Glashütten 1974) mit den Thesen, das Wesen Jürgen Grambow † / Red. des Menschen verwirkliche sich durch den Arbeitsprozeß u. die Besitzverhältnisse bedingten den jeweiligen polit. u. kulturellen
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Zustand der Gesellschaft. Obwohl S. glaubte, die sozialen Probleme im Rahmen der marktwirtschaftl. Ordnung lösen zu können, übten seine materialistischen Auffassungen auf Marx starken Einfluss aus (vgl. dessen Ökonomisch-philosophische Manuskripte). S. war 1848 Abgeordneter Darmstadts in der Frankfurter Paulskirche u. forderte dort die Errichtung eines Volksheeres zur Verteidigung der revolutionären Errungenschaften. Nach der Niederlage der Revolution emigrierte er wieder nach Zürich. In Militärpolitik (Lpz. 1855) u. Die Rettung der Gesellschaft aus den Gefahren der Militärherrschaft (Lpz. 1859) forderte er die Abschaffung der stehenden Heere, weil die steigenden Rüstungsausgaben zum Ruin der Staaten führten. Weitere Werke: Geheime Inquisition, Zensur u. Kabinettsjustiz in verderbl. Bunde (zus. mit Carl Welcker). Karlsr. 1845. – Briefw. eines Staatsgefangenen mit seiner Befreierin. 2 Bde., Mannh. 1846. – Der Froschmäusekrieg zwischen den Pedanten des Glaubens u. Unglaubens. Lpz. 1856. – Entwaffnung oder Krieg? Lpz. 1859. Literatur: Walter Grab: Dr. W. S. aus Darmstadt. Weggefährte v. Georg Büchner u. Inspirator v. Karl Marx. Ffm. 1987. – Helmut Berding: W. S. In: NDB. Walter Grab † / Red.
Schulze, Axel, * 10.11.1943 Frose bei Aschersleben, † 7.2.1994 Potsdam. – Lyriker, Erzähler, Essayist, Übersetzer. S., Sohn eines Angestellten u. einer Gärtnerin, arbeitete nach dem Abitur 1962 als Dreher, Landvermesser, Straßenfeger u. Chemielaborant. 1964–1967 studierte er am Literaturinstitut »Johannes R. Becher« in Leipzig, war dramaturgischer Mitarbeiter am Landestheater in Halle u. lebte zeitweise in Halle-Neustadt, dann als Sachbearbeiter in Merseburg. Seit 1969 war S. als freier Schriftsteller tätig. Auslandsreisen führten ihn u. a. 1984 in die USA. S.s Gedichte, zuerst in der NDL (11, 1963, H. 2, S. 129–131), in Anthologien (Auftakt 63. Bln./DDR 1963. Saison für Lyrik. Ebd. 1968) u. 1973 als Nr. 68 des Poesiealbums (Auswahl: Paul Wiens) erschienen, stehen in der Nachfolge Trakls, Georg Heyms, Brechts u. Wilhelm Lehmanns. Die intensive Bildsprache,
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mit der Alltägliches, aber auch Gefühle bedacht werden, weisen S. als Schüler Maurers aus. Der Lyrikband Nachrichten von einem Sommer (Halle 1968) lässt S.s Themen erkennen: Landschaften u. Jahreszeiten, Menschen u. Dörfer. Auch das heitere Wortspiel findet sich bei ihm, in dem Spruch- u. Liederband Kirschenzeit (ebd. 1981) ebenso wie in dem Parodienband Der Kramladen (ebd. 1979). Mit dem Erzählband Das Gastmahl Balthasars (Bln./Weimar 1973; mit einem Essay über Wahrheit u. Erzählen) verweist S. auf Erzählen u. Sprechen als »Lebenshilfe«. Die Erzählungen vermeiden große Gegenstände u. sind, wie auch die Gedichte, von genauen Detailschilderungen u. der Sorge um Bestandsaufnahme gekennzeichnet. S. übersetzte auch moderne sowjetische Lyrik, v. a. Jewtuschenko. Nach 1989 sah er sich verunsichert. Die letzten Gedichte, Peter Hille, Harzkur Kafka, Für Rose Ausländer, die S. zur Veröffentlichung übergab, erschienen 1994 (in: NDL 42, H. 3, S. 113 f.). Weitere Werke: Antwort auf einen Bericht. 1965 (Hörsp.). – Zu ebener Erde. Halle 1973 (L.). – Zeit für Zaubersprüche (zus. mit Reinhard Delau). Bln./DDR 1974 (Reportage). – Ein Tag bei uns. Kantate. Halle 1974. – Winterfahrplan. Ebd. 1977 (L.). – Vogelbilder. Ebd. 1985 (L.). – Post scriptum. In: NDL 35 (1987), H. 12, S. 137–140. – [Briefw. mit Helmut Preißler]. In: NDL 36 (1988), H. 4, S. 169–172. – Eine Antwort an Klaus Höpcke: Der Balken im eigenen Auge. In: Neues Deutschland, 14.1.1991. Literatur: Sigrid Damm: Im Reden über die ›einfachen Dinge‹ die Dinge vereinfachen? In: NDL 22 (1974), H. 11, S. 153–159 (zu ›Zu ebener Erde‹). – Dies.: Sich etwas vorstellen können. In: NDL 23 (1975), H. 1, S. 154–162 (zu ›Das Gastmahl Balthasars‹). – Wolfgang Ertl: Parodien auf die DDRLit.: Überlegungen zu A. S.s ›Kramladen‹. In: Studies in GDR Culture and Society 3 (1983), S. 225–236. – Fritz H. König: Die Lyrik v. A. S.: Idylle oder sozialist. Wirklichkeit? In: ebd., S. 237–250. – Holger J. Schubert: Von einfachen Dingen. In: Die Weltbühne 79 (1984), H. 23, S. 727–729. – Ernst-Otto Luthardt: Die Chance des lyr. Porträts. In: NDL 34 (1986), H. 5, S. 151–154 (zu ›Vogelbilder‹). Rüdiger Bernhardt
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Schulze, Ernst (Konrad Friedrich), * 22.3. 1789 Celle, † 29.6.1817 Celle; Grabstätte: ebd., Altstädter Bürgerkirchhof. – Lyriker u. Versepiker. Der Sohn des Bürgermeisters u. Enkel eines Celler Buchhändlers u. eines Pastors studierte nach dem Besuch des Gymnasium Ernestinum ab 1806 in Göttingen Theologie, wandte sich unter Bouterweks Einfluss u. Förderung 1808 der Philologie, Literaturgeschichte u. Ästhetik zu, promovierte 1811 u. erhielt nach der Habilitation 1812 die Venia legendi als Privatdozent an der Georgia Augusta. Vorbild war dem frühen S. vor allem Wieland, dessen Versepen, bes. der Oberon, ihn bereits 1806 zu dem Feengedicht Lancelot vom See ermunterten, in dessen »verführerischen Reizen« sich seine »feurige Phantasie« u. »ausschweifende Einbildungskraft« ausleben sollten. Die ansprechende Verserzählung des 18-Jährigen, [Amor und] Psyche (in: Neue Vesta. Hg. F. Bouterwek. Lpz. 1808 u. 1810. Buchausg. Lpz. 1819), romantisch beseeltes Rokoko in lebensvoll leichter Diktion, gehört in die Reihe der Nachdichtungen (u. a. Wieland 1767) von Apuleius’ Amor und Psyche. Einen tiefen Einschnitt bedeutete 1812 der Tod der Geliebten u. Freundin Cäcilie, Tochter des Orientalisten Thomas Christian Tychsen, durch Schwindsucht. 1814 diente S. im Geist Cäciliens ein halbes Jahr als Freiwilliger in einem Jägerbataillon. Seine Briefe u. Tagebücher (in: Deutsche Dichtung. Hg. Karl Emil Franzos: Bde. 6–8, 11–12, 16, 24, 33–34. Dresden bzw. Bln. 1889–1903) bilden mit der Eleganz u. sinnl. Fantasie des Stils ein eindrucksvolles Zeugnis rationaler u. empfindsamer Selbstu. Gesellschaftsanalyse. Berufliche Perspektivlosigkeit, verdrängtes Wissen um die eigene Krankheit u. unerwiderte Liebe zur älteren Schwester Cäciliens, Adelheid, überschatteten die letzten Jahre vor dem Tod durch Lungenschwindsucht. Die Bouterwek gewidmeten Gedichte (Gött. 1813) mit zwei bedeutenden Zyklen Elegien u. Episteln sowie vermischten Gedichten in der Tradition von Rokoko u. Empfindsamkeit folgten noch der Ästhetik des Förderers; im Vorwort distanzierte sich S. entschieden von der als Mystik u. Mystizismus verschrie-
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nen Romantik, indem er hoffte, »einen reinern Geschmack in unsre schöne Litteratur zurückzuführen«. Die postum publizierten Zyklen Poetisches Tagebuch (29.6.1814 bis 17.2.1817) u. Reise durch das Weserthal 1814 geben eine stark ichbezogene, formbewusste, oft petrarkistisch an die unerbittl. Geliebte (Adelheid) gerichtete Lyrik mit weltschmerzhaften Zügen u. einem begrenzten Themenkreis von Liebesschmerz, Liebe, Natur u. Poesie. S. war »einer der virtuosesten Lyriker« des »Biedermeier« (Sengle). Das Jan. 1813 bis Dez. 1815 niedergeschriebene, T. C. Tychsen in Handschrift überreichte Hauptwerk Cäcilie. Ein romantisches Gedicht (Lpz. 1818/19) wurde in der Rezeption durch den Erfolg der Bezauberten Rose u. den frühen Tod des Autors behindert. S. wollte darin »wie Dante seine Beatrice oder Petrarcha seine Donna Laura« (Marggraff) die verstorbene Geliebte verherrlichen. Die Spannung zwischen Held u. Sänger thematisiert die Differenz zwischen Kunst u. Tatenwelt, die Liebe als Vermittlung. Das Großepos in Stanzen mit hl. Wunderrose u. heidn. Zauberschwert als zentralen Dingsymbolen, vom Sänger Reinald mit der Harfe gesungen, der sich um die Liebe Cäciliens vergebens bewirbt, handelt von der Überwindung des Odinkults der Dänen durch das Christentum zur Zeit Ottos I. u. von der hohen Liebe zwischen Cäcilie (die mit Santa Cecilia nur über die Sängerfigur Berührung hat) u. dem christl. Helden Adalbert. Dieser tötet seinen nordisch-heidn. Halbbruder Skiold, fällt dabei selbst ins Schwert, u. beide werden von der Mutter Swanwithe gesegnet. Das Epos weist auf die Vorbilder Ariost u. Tasso, steht in der Tradition der Erneuerung nationaler Mythologie durch Ossians Geistermythologie, Klopstock, Gräter u. Fouqué u. berührt sich mit den kulturmyth. Dramen Oehlenschlägers, Zacharias Werners u. Brentanos. Der klassisch geschulte Autor erzählt mit unbefangenem Pathos u. bietet in bilderreicher Vorstellungskraft ein farbenreiches, empfindsam-heroisches Gemälde der nordischen Frühzeit. Gefälliger u. zarter ziseliert ist das kleine Stanzenepos Die bezauberte Rose (Lpz. 1818), das zum Lieblingsbuch des Biedermeier wurde. In romant. Anverwandlung
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Wieland’scher Feenmythologie feiert es die Macht von Liebe u. Poesie in der Rosenmetamorphose der Geliebten u. deren Rückverwandlung durch den Sänger. Die Nachricht, dass es den von Friedrich Arnold Brockhaus für die »Urania« ausgeschriebenen Preis als beste »poetische Erzählung« erhalten habe, empfing der Dichter auf dem Totenbett. Seinem durch zahlreiche Auflagen u. Übersetzungen der Bezauberten Rose erfolgreichen Autor stiftete der Verlag noch 1855 ein Grabmonument. Ausgaben: Sämmtl. poet. Schr.en. Hg. Friedrich Bouterwek. 4 Bde., Lpz. 1818–20. 21822 (Bd. 1 mit Biogr.). – Dass. 3. Aufl. Hg. Hermann Marggraff. 5 Bde., 1855 (Bd. 5 = Biogr.). Literatur: Goedeke 6. – Julius Tittmann: E. S. In: E. S.: Die bezauberte Rose. Ein Gedicht in drei Gesängen. Poetisches Tagebuch. Hg. J. Tittmann (Bibl. der Dt. Nationalliteratur des achtzehnten u. neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 7). Lpz. 1868, S. V–XXXIV. – Brockhaus’ Conversations-Lexikon. Allgemeine dt. Real-Encyklopädie. Dreizehnte vollst. umgearb. Aufl. Bd. 14, Lpz. 1886, S. 520 f. – Max Koch: Einl. In: E. K. F. S. u. Ernst Theodor Wilhelm Hoffmann. Hg. M. Koch (Dt. NationalLitteratur. Bd. 147). Bln./Stgt. o. J. [ca. 1889], S. 3–48 (bes. zum Epos ›Cäcilie‹). – Heinrich Pröhle: E. S. In: ADB. – Adalbert Silbermann: E. S.s Bezauberte Rose [Diss.]. Bln. 1902. – Wolfgang Pfeiffer-Belli: E. S. Dichter der Rose, Minnesänger der Romantik. In: Marginalien zur poet. Welt (1971), S. 219–231. – Sengle 2. – Harald Müller: E. S.s Werk in Vertonungen. In: Celler Chronik 1 (1983), S. 112–159 (mit Bibliogr. S. 84–111). – Ders.: E. S. Buchausg.n seiner Werke. In: ebd. 4 (1989), S. 61–67. – Rolf Deneke: E. S. zum 200. Geburtstag – der junge Gelehrte u. sein ›Barockmädchen‹. In: ebd., S. 51–59. – Johannes Tütken: Magister E. S. – ein früh verstorbener Lieblingsdichter seines Jahrhunderts. In: Privatdozenten im Schatten der Georgia Augusta. Tl. 2. Gött. 2005, S. 859–890 (Biogr.). Jürgen Ricklefs † / Ulfert Ricklefs
Schulze, Ingo, * 15.12.1962 Dresden. – Prosaautor u. Essayist. S. besuchte die 83. Polytechnische Oberschule u. die Kreuzschule in Dresden. Nach dem Abitur 1981 absolvierte er den Grundwehrdienst bei der Nationalen Volksarmee. 1983–1988 studierte S. Klassische Philologie
u. Germanistik in Jena u. arbeitete 1988–1990 als Schauspieldramaturg am Landestheater in Altenburg bei Leipzig. Anfang 1990 wurde er Mitbegründer u. -herausgeber des »Altenburger Wochenblatts« sowie des »Anzeigers«. In der ersten Hälfte des Jahres 1993 gründete er in St. Petersburg im Auftrag eines dt. Unternehmers »Priwet Peterburg«, ein kostenloses Anzeigenblatt. Seit Sept. 1993 lebt S. mit seiner Frau u. zwei Töchtern als freier Schriftsteller in Berlin. Bekannt wurde S. 1995 mit dem Band 33 Augenblicke des Glücks. Aus den abenteuerlichen Aufzeichnungen der Deutschen in Piter (Bln.), Erzählungen u. Miniaturen, die in St. Petersburg angesiedelt sind. Die 33 Geschichten, die aus unterschiedlichster Perspektive hintergründig-skurril, gelegentlich ins Fantastische spielend die sich neu definierende postkommunistische Gesellschaft ins Visier nehmen, werden durch eine Herausgeberfiktion gerahmt. Der dt. Geschäftsmann Hofmann – unschwer als Alter Ego E.T.A. Hoffmanns, aber auch als das S.s zu erkennen – hinterlässt einem im Zug Mitreisenden die Mappe mit den Petersburger Geschichten, die Letzterer wiederum an einen Berliner Autor namens I. S. zur Publikation weiterreicht. Die Erzählungen – mit Anleihen bei russ. Autoren wie Vladimir Sorokin, Daniil Charms, Welimir Chlebnikow, aber auch Tschechow u. Puschkin – sind gleichsam spiegelbildlich um die zentrale Banja-Geschichte angeordnet, in der ein vergnüglich kannibalistisches Mahl in einem russ. Dampfbad zelebriert wird. Die Petersburger Zeit wird bei S. ebenfalls in dem Briefwechsel mit dem Freund u. Künstler Helmar Penndorf reflektiert. Nach dem Tod Penndorfs erschienen diese Faxbriefe u. Zeichnungen u. d. T. Von Nasen, Faxen und Ariadnefäden. Zeichnungen und Fax-Briefe (Bln. 2000). Den »Weltenwechsel« (Was wollen wir? S. 30), den S. nach seiner Rückkehr aus Russland auch in Deutschland beobachtet, beschreibt er in seinem an Hemingway u. Carver sowie an der Arbeit des Filmregisseurs Robert Altman (Short Cuts) orientierten Roman Simple Storys. Ein Roman aus der ostdeutschen Provinz (Bln. 1998), dessen Kapitel sich durch die vielschichtigen Beziehungen des
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Figurenpersonals zu einem minutiös beobachteten, lakonisch geschilderten, gelegentlich bizarren Alltagspanorama zusammensetzen. Die Figuren verbindet die obsolet gewordene Sozialisierung im System DDR, deren Lebensentwurf in den 1990er Jahren den veränderten Gegebenheiten angepasst werden muss. Neue Leben. Die Jugend Enrico Türmers in Briefen und Prosa. Herausgegeben, kommentiert und mit einem Vorwort versehen von Ingo Schulze (Bln. 2005), wiederum durch eine Herausgeberfiktion gerahmt u. als umfangreicher Briefroman angelegt, stellt den in Dresden geborenen, nach Altenburg übersiedelten Dramaturgen, Journalisten u. Zeitungsherausgeber Enrico, später Heinrich, Türmer in den Mittelpunkt. Türmer, dessen Lebenslauf sich an den biogr. Eckdaten von S.s eigener Biografie orientiert, versucht sich als faustischer ›Wendegewinnler‹ ostdt. Provenienz, der sich mit seinen Begierden u. Lebenslügen stets unterschiedlich seinen drei Briefpartnern zu präsentieren weiß. Türmer zur Seite steht der mephistophel. Westler Clemens von Barrista, der Ersteren in dieser Welt des einbrechenden Kapitalismus anleitet. Den ›Briefen‹, die der Herausgeber zgl. boshaft u. besserwisserisch in Fußnoten kommentiert, sind Türmers frühe schriftstellerische Versuche angehängt. Hier erinnert die vermeintl. Verwendung der Rückseite der Briefe für Türmers Prosatexte an E.T.A. Hoffmanns Lebensansichten des Katers Murr. Neue Leben, in der Kritik als ›Wenderoman‹ gefeiert, mag als ironisch gebrochene Künstlerbiografie oder auch als Schelmenbzw. mit Verweis auf Goethes Wilhelm Meister als satir. Bildungsroman verstanden werden. Der Roman Adam und Evelyn (Bln. 2008) entwickelt in temporeichen Dialogen eine auf den bibl. Mythos rekurrierende Beziehungsgeschichte vor dem Hintergrund der ungarischen Grenzöffnung 1989. Der Schneider Adam u. dessen Lebensgefährtin Evelyn machen sich nach einem Seitensprung Adams, begleitet von einer Schildkröte, mal getrennt, mal zusammen auf den Weg zum Balaton u. von dort über die Grenze in den Westen. Das Paradies, das Adam im privat-erot. Glück des ehemaligen Ostens, Evelyn im freien, aber unterkühlten Westen vermutet, mag letztlich
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nur im Übergangszustand des ungarischen Spätsommers ’89 zu finden sein. Der Schriftsteller S. definiert sich v. a. als Leser. Anleihen bei der dt. Romantik, bei Goethe u. Thomas Mann, bei der amerikan. Literatur ebenso wie bei der russ. Moderne werden bewusst inszeniert. Mit Verweis auf Döblin entwickelt S. einen Stil, der sich aus dem Stoff heraus ergibt, aus einer ›Resonanz‹ zwischen Idee u. Sprache. S.s Domäne ist die ironisch-lapidare Beschreibung eines mal grotesk-abgründig, mal liebenswert-komisch erscheinenden Alltags. Eine Struktur der Auslassung u. Andeutung bildet das poetische Prinzip u. konfrontiert den zuweilen desorientierten Leser mit dem Geschehen. S. erhielt den Alfred-Döblin-Förderpreis (1995), den Ernst-Willner-Preis (1995), den »aspekte«-Literaturpreis (1995), den Berliner Literaturpreis mit der Johannes-BrobowskiMedaille (1998), den Joseph-Breitbach-Preis (2001), den Peter-Weiss-Preis (2006), den Thüringer Literaturpreis (2007), den Preis der Leipziger Buchmesse (2007), den Premio Grinzane Cavour (2008) u. den SamuelBogumil-Linde-Preis (2008). Er ist Mitgl. der Akademie der Künste Berlin u. der Deutschen Akademie für Sprache u. Dichtung. Weitere Werke: Mr. Neitherkorn u. das Schicksal. Mit Steindrucken v. Erik Buchholz u. Kay Voigtmann. Bln. 2002. – Handy. Dreizehn Gesch.n in alter Manier. Bln. 2007. – Der Herr Augustin (zus. mit Julia Penndorf). Bln. 2008. – Tausend Gesch.n sind nicht genug. Leipziger Poetikvorlesung 2007. Ffm. 2008. – Was wollen wir? Essays, Reden, Skizzen. Bln. 2009. – Orangen u. Engel. Italienische Skizzen. Mit Fotografien v. Matthias Hoch. Bln. 2010. Literatur: Markus Symmank: Karnevaleske Konfigurationen in der dt. Gegenwartsliteratur. Untersuchungen anhand ausgew. Texte v. Wolfgang Hilbig, Stephan Krawczyk, Katja Lange-Müller, I. S. u. Stefan Schütz. Würzb. 2002. – Thomas Kraft: I. S. In: LGL. – Matthias Auer: I. S. In: KLG. – Fabian Thomas: Neue Leben, neues Schreiben? Die ›Wende‹ 1989/90 bei Jana Hensel, I. S. u. Christoph Hein. Mchn. 2009. – Uwe Schumacher: Literar. Imagination u. soziolog. Zeitdiagnose nach 1990. Untersuchungen zur Funktion von ›Welthaltigkeit‹ im deutschsprachigen Gegenwartsroman am Beispiel von I. S.s ›Simple Storys‹. Saarbr. 2009 (Elektron. Ressource). Christiane Weller
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Schumacher, Hans, * 2.3.1910 Zürich, † 20.3.1993 Zürich; Grabstätte: ebd., Friedhof Üetliberg. – Essayist, Erzähler, Lyriker, Herausgeber.
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Freiheit« dar: Ein Mann verweigert sich von einem Tag auf den andern der Gesellschaft, löst sich aus allen Bindungen u. findet im Umgang mit einem wirklich freien, naturverbundenen Menschen allmählich zu seinem wahren Ich. Für sein Gesamtwerk erhielt S. 1982 den Literaturpreis der Stadt Zürich.
Der Sohn eines Eisenbahners aus dem Zürcher Industriequartier studierte Germanistik, promovierte 1941 mit einer Arbeit über Literatur: Egon Wilhelm: H. S. In: Die durchGottfried Keller u. betätigte sich dann in äu- lässige Zeit, a. a. O. 1990, S. 185–203 (mit Bibliogr.). ßerst produktiver Weise als Herausgeber von Charles Linsmayer Editionen u. Sammelbänden (u. a. Goethe, Hölderlin, Keller, Stifter, Storm, Wilhelm Busch) sowie als Schöpfer themat. Antholo- Schumann, Gerhard, * 14.2.1911 Esslingien u. populärer Literaturführer wie Ein gen, † 29.7.1995 Bodman/Bodensee. – Gang durch den Grünen Heinrich (Kilchberg Lyriker u. Dramatiker. 1974. Ffm. 1976) oder Die armen Stiefge- Der Sohn eines Lehrers, der sich schon früh schwister des Menschen. Das Tier in der deutschen der Jugendbewegung angeschlossen hatte, Literatur (Zürich 1977). trat 1930 mit dem Beginn seines GermanisAls Autor war S. zunächst ausschließlich tikstudiums in Tübingen der NSDAP, der SA Lyriker u. zählte mit Bänden wie In Erwartung u. dem NS-Studentenbund bei. Schon nach des Herbstes (Hbg. 1939), Brunnen der Zeit (Zü- seinem ersten Gedichtband, Ein Weg führt ins rich 1941) u. Schatten im Licht (Herrliberg Ganze (Mchn. 1932), der den später als Ein1946) zusammen mit Albert Ehrismann, Paul zelausgabe (ebd. 1935) sehr erfolgreichen Adolf Brenner, Hermann Hiltbrunner u. an- Sonettzyklus Die Lieder vom Reich enthielt, deren in den Kriegs- u. Nachkriegsjahren zu wurde S. von der nationalsozialistisch orieneinem vorwiegend dem traditionellen Na- tierten Literaturkritik als herausragender turgedicht verpflichteten Zürcher Lyriker- Vertreter einer jungen Schriftstellergeneratikreis. In den Bänden Der Horizont (Zürich on gefeiert, weil er die NS-Ideologie lyrisch 1950), Meridiane (ebd. 1959) u. Nachtkurs (ebd. umsetzte, ohne in plumpe Parteiagitation zu 1971) befasste sich der Lyriker S. zwar zu- verfallen. Teilweise mit religiöser Emphase nehmend auch mit Fragen u. Themen der propagierte er die Selbstaufopferung für das modernen Industriegesellschaft, gab die ge- als höchstes Ideal empfundene »Reich«, desreimte Form u. den konventionellen Wohl- sen Geschicke ein messianisch verklärter klang aber nur ausnahmsweise preis. Führer lenkt. Als Erzähler war S. erstmals mit den unS. stieg rasch in der NS-Kulturbürokratie sentimentalen »Aktivdienst-Erinnerungen« auf. 1935 wurde er in den Präsidialrat der Rost und Grünspan (ebd. 1964. 1966. Neuausg. Reichsschrifttumskammer u. in den Reichs1989) erfolgreich, denen er nach Jahrzehnten kultursenat berufen. 1936 erhielt er von als weiteres Memoirenwerk den Band Die Goebbels den Nationalen Buchpreis für den durchlässige Zeit. Erinnerungen und Betrachtungen Gedichtband Wir aber sind das Korn (Mchn. im Spiegel der Kindheit (Kilchberg 1990) folgen 1936), in dem er konventionelle Natur- u. ließ. Ein spektakulärer Durchbruch im ge- Liebeslyrik neben eine martial. »Heldische samten dt. Sprachbereich gelang dem über Feier« stellte. Als polit. Weiheveranstaltun70-Jährigen mit Die Stunde der Gaukler. Roman gen sind auch seine Dramen Entscheidung einer Rückvorschau (Zürich 1981) u. Harder und (ebd. 1938) u. Gudruns Tod (Wien 1943) konHarder (ebd. 1984; R.). Während der erste zipiert, in denen er Geschehnisse aus dem Roman als fantasievolle gesellschaftskrit. Pa- Spartakusaufstand von 1920 bzw. aus der rabel der Zeit satirisch den Spiegel vorhält u. Nibelungensage aufgriff. einen imaginären, listigen Ausweg aus dem 1938 übernahm S. die Leitung der Gruppe Teufelskreis von Macht u. Gewalt weist, stellt »Schriftsteller« in der Reichskulturkammer. Harder und Harder eine Art »Tagebuch der Nach zweijährigem Kriegsdienst wurde er
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1942 Chefdramaturg des Württembergischen Staatstheaters in Stuttgart u. im folgenden Jahr Präsident der Hölderlin-Gesellschaft. Aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt, leitete S. seit 1949 den von ihm mitbegründeten »Europäischen Buchklub«. 1962 gründete er den Hohenstaufen Verlag, um u. a. ehemaligen NS-Autoren Publikationsmöglichkeiten zu schaffen. Seine eigenen Veröffentlichungen, v. a. Gelegenheitsgedichte, fanden nur wenig Beachtung. Weitere Werke: Fahne u. Stern. Mchn. 1934 (L.). – Bewährung. Ebd. 1940 (L.). – Die Lieder vom Krieg. Ebd. 1941 (L.). – Besinnung. Von Kunst u. Leben. Bodman 1974 (Autobiogr.). – Herbstl. Ernte. Gedichte. Berg/Bodman 1986. – Dt. Texte. Trost u. Zuversicht aus Lyrik u. Prosa. Mchn. 1991. Literatur: Albrecht Schöne: Über polit. Lyrik im 20. Jh. Gött. 1965. – Carola Kohlhofer: G. S. In: Der Bamberger Dichterkreis 1936–43. Hg. Wulf Segebrecht. Bamberg 1985, S. 209–218. – Klaus Vondung: Das Bild der ›Faschistischen Persönlichkeit‹ in der nationalsozialist. Lit. nach 1933. Am Beispiel chor. Dichtungen G. S.s. In: Fascism and European Literature. Hg. Stein Ugelvik Larsen u. a. Bern u. a. 1991, S. 58–64. – Lex. ns. Dichter. – Erwin Rotermund: G. S.s Sonettzyklus ›Die Reinheit des Reiches‹ u. sein Zeitgedicht ›Das Gericht‹. Eine Skizze zur innerfaschist. Opposition in der Lyrik des ›Dritten Reiches‹. In: Traditionen der Lyrik. Hg. Wolfgang Düsing. Tüb. 1997, S. 169–182. – Winder McConnell: Eine andere Gudrun. Ernst Hardts u. G. S.s Rezeption des ›Kudrun‹-Stoffes. In: Verstehen durch Vernunft. Hg. Burkhardt Krause. Wien 1997, S. 247–263. – Karl-Heinz J. Schoeps: Zur Kontinuität der völk.-nationalkonservativen Lit. vor, während u. nach 1945. Der Fall G. S. In: Monatshefte 91 (1999), H. 1, S. 45–63. – Wolfgang Rapp: Die Dritte Front im Reich. Der Dichter G. S. 1933 bis 1945. In: Schwabenspiegel 2 (2006), H. 2, 777–792. – Simone Bautz: G. S. Biogr., Werk, Wirkung eines prominenten nationalsozialist. Autors. Diss. Gießen 2006. Hans Sarkowicz / Red.
Schumann, Robert, * 8.6.1810 Zwickau, † 29.7.1856 Endenich bei Bonn; Grabstätte: Bonn, Alter Friedhof. – Komponist, Musikschriftsteller. Von seinem Vater, einem auch schriftstellerisch tätigen Buchhändler u. Verleger, wurde S. früh in seiner literar. u. musikal. Begabung gefördert. Bereits der Schüler versuchte sich
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in Gedichten, Dramen u. Kompositionen. Nach dem Tod des Vaters 1826 nahm S. auf Wunsch der Mutter 1828 ein Jurastudium in Leipzig auf, doch setzte sich schon bald seine musische Neigung durch. Wegweisend war – neben der überaus produktiven Rezeption Jean Pauls – die zeitgleich begonnene Ausbildung zum Klaviervirtuosen durch Friedrich Wieck, dessen frühbegabte u. später als Pianistin berühmte Tochter Clara 1840 S.s Frau werden sollte. S.s eigene Virtuosenpläne scheiterten endgültig 1832 an einer Fingerlähmung. Er überwand diese Krise, indem er sich vollends dem Komponieren u. der Musikpublizistik zuwandte. 1834 gründete er, gemeinsam u. a. mit Wieck, die »Neue Zeitschrift für Musik«, ein unabhängiges u. gegen das musikal. Juste Milieu gerichtetes Periodikum, das er bis 1844 leitete. S.s nachhaltige Wirkung als Musikschriftsteller beruht nicht nur auf seinen von Enthusiasmus u. Kompetenz getragenen Wertungen jüngst verstorbener (Beethoven, Schubert) u. zeitgenöss. Komponisten (Chopin, Brahms); ebenso verdankt sie sich literar. Kunstgriffen wie der dialogisierten Rollenprosa der »Davidsbündler«, die S. kontroverse ästhetische Positionen diskutieren lässt. Im Zentrum dieses halbfiktiven Maskenspiels im Geiste Jean Pauls u. E.T.A. Hoffmanns stehen – als »konträre IchProjektionen« S.s (Gülke in Tadday) – der enthusiastisch-divinatorische »Florestan« u. der nachdenklich-differenzierende »Eusebius«. Vielfältiger noch zeigt sich S.s »universalpoetisches« Streben in seinen Kompositionen: Besonders die frühe Klaviermusik zeichnet sich aus durch literar. Bezüge u. semantisch aufgeladene musikal. Zitate, durch das Spiel mit Tonnamen als Chiffren u. »verbal-narrative Einsprengel«, welche »die Grenze zwischen Musik und Literatur relativieren« (Edler). Auch der Liedgattung, der er sich 1840 zuwandte, gewinnt er neue Möglichkeiten ab: Maßstäbe setzt hier v. a. die Emanzipation des Klaviers von begleitendillustrierenden Aufgaben zugunsten einer eigenständig textausdeutenden, »seismographischen Musik«, die – exemplarisch in den Heine-, Eichendorff- u. Goethe-Zyklen (Dich-
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terliebe op. 48, Liederkreise op. 24 u. 39, Lieder Mayeda, Klaus Wolfgang Niemöller u.a. Bislang 17 und Gesänge aus ›Wilhelm Meister‹ op. 98a) – Bde. ersch. Mainz 1991 ff. – Ges. Schr.en über »über die Grenzen der Zuständigkeit des 5Musik u. Musiker. Hg. Martin Kreisig. 2 Bde., Lpz. 1914. – Briefe: Briefe. Neue Folge. Hg. Friedrich Worts« u. die »unterschiedliche IroniefähigGustav Jansen. Lpz. 21904. – Clara u. R. S.: Briefw. keit von Sprache und Musik« reflektiert Krit. Gesamtausg. Hg. Eva Weissweiler. 3 Bde., (Gülke in Tadday). Dass S. zeitlebens der Basel/Ffm. 1984–2001. – S.-Briefedition. Hg. v. Wortkunst verpflichtet blieb, belegen auch Robert-Schumann-Haus Zwickau u.a. Bislang 8 die späteren – konventionelle Gattungsgren- Bde. ersch. Köln 2008 ff. – Tagebücher: Bd. 1. Hg. zen vielfach überschreitenden – vokal-in- Georg Eismann. Lpz. 21987; Bd 2. Hg. Gerd Naustrumentalen Werke, wie das Oratorium Das haus. Ebd. 1987; Bd. 3. Hg. ders. Basel/Ffm. 21988. Paradies und die Peri op. 50 (nach Thomas Literatur: Bibliografien: Frank Munte: Verz. des Moore), die Oper Genoveva op. 81 (nach Tieck deutschsprachigen Schrifttums über R. u. Hebbel), das Requiem für Mignon op. 98b S. 1856–1970. Hbg. 1972. – Ulrich Tank: S.-Bi(Goethe), die Szenen aus Goethes ›Faust‹ WoO 3 bliogr. für die Jahre 1973–1979. In: Correspondenz oder Manfred. Dramatisches Gedicht op. 115 3–8 (1985–88). – Thomas Synofzik: S.-Lit. der Jahre (Byron). Einer adäquaten Wahrnehmung 1980–1989. In: Correspondenz 14–24 (1992–2002). – Margit L. McCorkle: R. S. Thematisch-bibliogr. dieser Kompositionen stand lange Zeit ihr Werkverz. Mainz 2003. – Weitere Titel: Hans-Peter experimenteller Charakter ebenso im Weg Fricker: Die musikkrit. Schr.en R. S.s. Versuch eines wie die pauschale Geringschätzung des literaturwiss. Zugangs. Bern 1983. – Frauke Otto: Spätwerks infolge einer teleolog. Fixierung R. S. als Jean Paul-Leser. Ffm. 1984. – Reinhold auf S.s letzte Lebensjahre in der psychiatr. Brinkmann: S. u. Eichendorff. Studien zum LieHeilanstalt in Endenich. derkreis opus 39. Mchn. 1997. – John Daverio: R. S. Reduktionistische Tendenzen prägen auch Herald of a ›New Poetic Age‹. New York 1997. – weite Teile der literar. S.-Rezeption, na- Beate Julia Perrey: S.’s Dichterliebe and Early Romentlich die fast ausnahmslos der exempla- mantic Poetics. Fragmentation of Desire. Camrisch »romantischen« Künstlerliebe gewid- bridge 2002. – Christiane Tewinkel: Vom Rauschen singen. R. S.s Liederkreis op. 39 nach Gedichten v. mete biogr. Belletristik. Innerhalb im engeJoseph v. Eichendorff. Würzb. 2003. – Hans John: ren Sinne literar. Werke fungieren die meist Die Goethe-Vertonungen R. S.s. In: S.-Studien 7 punktuellen Referenzen vorwiegend als Si- (2004), S. 165–181. – Joachim Draheim, Arnfried gnale psych. Gefährdung (Schnitzler: Fräulein Edler u. Irmgard Knechtges-Obrecht: R. S. In: Else, 1924; Strindberg: Inferno, 1897) oder als MGG 2. Aufl. Bd. 15 (Pers.), Sp. 257–328. – Ulrich Versatzstücke bildungsbürgerl. Tradition Tadday (Hg.): S.-Hdb. Stgt. u. a. 2006. – Gerd (Benn: Nachtcafé, 1912; M. Walser: Brandung, Neuhaus: R. S. In: NDB. – Arnfried Edler: R. S. 1985). Als Beispiele differenzierterer Bezug- Mchn. 2009.– Thomas Synofzik: Heinrich Heine – 2 nahme seien Th. Manns Roman Doktor Faustus R. S. Musik u. Ironie. Köln 2010. Jens Finckh (1947) sowie »Ouvindo Poemas de Heine como Lieder de Schuman« [!] aus dem Zyklus Schumann, Valentin, * etwa 1520 Leipzig, Arte de Musica (1968) des portugies. Lyrikers † nach 1559. – Verfasser einer SchwankJorge de Sena genannt. Thomas Mann versammlung. wendet für seine Konzeption des fiktiven »Tonsetzers Adrian Leverkühn« u. a. Details Über S.s Leben informieren nur verstreute aus S.s Biografie u. für Leverkühns »Brenta- Bemerkungen in seinem einzigen Werk, dem no-Gesänge« die bereits in S.s Carnaval op. 9 Nachtbüchlein (2 Tle., o. O. u. J. [Augsb. 1559]): auf Zwölftonmusik vorausweisende Arbeit Der Sohn des gleichnamigen Leipziger Drumit Tonnamen-Chiffren; bei de Sena wird das ckers u. Verlegers besuchte kurz die dortige Hörerlebnis S.scher Heine-Vertonungen zum Universität, lernte dann das SchriftgießerAusgangspunkt poetolog. Reflexionen über handwerk, um ab 1542 als Landsknecht bis Ungarn, darauf als Geselle durch Süddas Verhältnis von Wort u. Ton. Weitere Werke: Werkausgaben: Werke. Hg. Cla- deutschland u. die Schweiz zu ziehen. In ra Schumann, Johannes Brahms u.a. 31 Bde., Lpz. Nürnberg arbeitete er seit 1550 als Drucker, 1881–93. – Neue Ausg. sämtl. Werke. Hg. Akio doch 1558 musste er Anstellung u. Familie
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Ausgabe: V. S.s Nachtbüchlein (1559). Hg. Jowegen seiner Schulden verlassen. Diese akute finanzielle Notlage veranlasste S. nicht nur hannes Bolte. Tüb. 1893. Nachdr. Hildesh./New zur Publikation des Werks, sondern aus ihr York 1976. Literatur: Hans-Jürgen Bachorski: Ein Diskurs ergab sich seinen eigenen Worten nach zgl. v. Begehren u. Versagen. In: Eros – Macht – Askese. das Generalthema des unvorhersehbaren Geschlechterspannungen als Dialogstruktur in Wechsels von Glück u. Unglück. S. versamKunst u. Lit. Hg. Helga Sciurie u. H.-J. Bachorski. melte unter dieser Vorgabe insg. 51 meist Trier 1996, S. 305–341. – Michael Waltenberger: kürzere, großenteils schwankhaft-komische Vom Zufall des Unglücks. In: PBB 129 (2007), Erzählungen, aber auch einige mit ›ernsten‹ S. 286–312. – Hans-Jörg Uther: V. S. In: EM 12. antik-histor. oder legendarischen Stoffen. Michael Waltenberger Aufgenommen sind außerdem vier längere romanhafte Texte, darunter als Anhang zum Schumann, Werner, auch: W. Muscholdiersten Teil, mit gesonderten Vorreden verse- ni, * 2.10.1898 Soldin/Neumark, † 13.11. hen, der auf dem Magelonen-Stoff basierende 1982 Hannover. – Feuilletonredakteur, Liebesroman von Christoffel, dem Sohn des Lyriker, Erzähler, Essayist. Grafen von Mümppelgart, u. der engl. HerDer Beruf des Vaters – Zeitungsverleger u. zogstochter Feronica (anonym; Einzeldrucke Druckereibesitzer – bestimmte S., Journalist Lpz. 1605 u. 1626). zu werden. Kurze Zeit war er auch als DraBemerkenswert ist die eigenständige, vielmaturg in Halle u. Mühlhausen tätig, bevor fältig erweiternde, modifizierende u. rekomer 1930 nach Hannover zog. Dort leitete er binierende Bearbeitung der Prätexte sowie nach dem Zweiten Weltkrieg das Feuilleton die hohe Dichte an sammlungsinternen wie des Sozialdemokratischen Pressedienstes. intertextuellen Verweisen u. Verflechtungen. Während S. anfangs v. a. stimmungsvolle Durch einen Lektürekatalog in der Wid- Naturlyrik schrieb, die sich formal u. inhaltmungsvorrede des ersten Teils stellt S. sein lich oft an Rilke anlehnte (Menschen, Tiere und Werk in die Tradition einer Historienlitera- Gestirne. Halle 1929), kam es ihm später dartur, die von Livius u. Ovid u. a. über das De- auf an, dem Menschen Zuversicht, Trost, cameron u. die frühneuzeitl. Prosaromane bis Hoffnung u. Gottvertrauen zuzusprechen zu Paulis Schimpf und Ernst u. zu jenen (Ergriffenheit. Lpz. 1934. Licht und Schatten. Schwanksammlungen Wickrams, Lindeners Mchn. 1963). S.s Gedichte sind meist regelu. Montanus’ reicht, an die das Nachtbüchlein mäßig gereimt. Er bevorzugte einfache, klare ganz unmittelbar anknüpft. Ebenso wie diese Bilder. S. schrieb auch Erzählungen, HörAutoren verspricht auch S. seinem Publikum spiele, Anekdoten, Reiseessays, Bücher über v. a. kurzweilige Unterhaltung, ohne jedoch Malerei u. Bildhauerkunst, die Mark Branauf einen exemplarischen Geltungsanspruch denburg, Pommern u. Niedersachsen. Zudem ganz zu verzichten. So transportiert etwa die betätigte er sich kulturpolitisch u. gründete oft ins Obszöne spielende erot. Schwankmo- 1958 den Schutzverband Niedersächsischer tivik einen von geistl. Moral abgekoppelten, Schriftsteller. durch ökonomische Rationalität geprägten Weitere Werke: Eroberung des Friedens. 1932 Sexualitätsdiskurs. Das mehrfach angespro- (Chorwerk). – Das ungestillte Herz. Braunschw. chene Thema des Glückswechsels wird nicht 1948 (N.). – Lütje Lagen. Hann. 1950 (Anekdoten). im Sinne traditioneller Fortuna-Konzepte vor – Ohne Tritt – marsch! Das Militär in der Karikatur. dem Horizont göttl. Providenz entfaltet; Ebd. 1956 (Satiren). – Die Beichte der Zirkusreitevielmehr artikuliert sich in den Erzählungen rin. Ffm. 1966 (N.). Peter Krumme insgesamt – ähnlich wie im Fortunatus-Roman – ein charakteristisch frühneuzeitl. Erfahrungswissen von der Zufälligkeit des Weltgeschehens, das nicht mehr selbstverständlich durch das Vertrauen in eine transzendente Ordnung kompensiert ist.
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Schummel, Johann Gottlieb, * 8.5.1748 Seitendorf bei Hirschberg, † 23.12.1813 Breslau. – Pädagoge; Jugendschriftsteller, Roman- u. Lustspielautor. Der Sohn eines Dorfschulmeisters wuchs in ärml. Verhältnissen auf. Dennoch ermöglichten die Eltern dem begabten Knaben 1759–1767 den Besuch des Gymnasiums in Hirschberg, einer orthodox geführten Lateinschule. Der strengen schulischen u. häusl. Zucht suchte der 15-Jährige zu entkommen, indem er sich einer Truppe von Wanderschauspielern anschloss; der Vater holte ihn jedoch nach wenigen Tagen wieder zurück. 1767–1769 studierte S. in Halle Theologie; als Autodidakt eignete er sich moderne Sprachen u. naturkundl. Kenntnisse an. Geldmangel zwang ihn, das Studium abzubrechen u. eine beschwerl. Hauslehrertätigkeit in Aken (bei Zerbst) anzunehmen. Durch die Vermittlung seiner späteren Frau Katharina Krause, die er 1770 kennen lernte u. 1778 heiratete, erhielt er 1772 die Präzeptorenstelle am Kloster »Unserer lieben Frau« in Magdeburg. Im Umgang mit den Klosterschülern entwickelte er seine pragmatisch ausgerichtete, reformerische Pädagogik, die er später in Erziehungsprogrammen u. Aufsätzen auch theoretisch begründete (Pädagogische Briefe an schlesische Schulmänner. In: Schlesische Provinzialblätter, 1785–87. Entwurf eines allgemeinen und zusammenhängenden Bürgerunterrichts für die preußischen Staaten. Unveröffentl. Manuskript 1798). 1779 berief ihn sein Förderer, der preuß. Kultusminister von Zedlitz, an die Ritterakademie in Liegnitz. 1788 wurde S. Prorektor u. Professor für Geschichte am Elisabet-Gymnasium in Breslau. Im Sinne seines Dienstherrn, der ein einheitl., staatlich kontrolliertes Schulsystem zu errichten suchte, entfaltete S. eine unermüdl. pädagog. Tätigkeit. 1789 wurde er zusätzlich Inspektor des Breslauer Lehrerseminars, lehrte an der dortigen ArtillerieAkademie u. wirkte beratend an staatl. Schulprogrammen mit. Seiner Verdienste wegen wurde ihm zwar 1803 der Ehrendoktortitel der Breslauer Universität verliehen – S. bedankte sich dafür mit seiner Schrift Kleine Welt-Statistik (Bln. 1805. Digitales Reprint
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2005) –, aber 1809 scheiterte seine Ernennung zum Rektor des Elisabetanums, da er sich durch sein Bekenntnis zu den napoleonischen Reformen einflussreiche Gegner geschaffen hatte. Kurz vor seinem Tod 1813 sah er noch seine Vision eines vereinigten Europa durch den russisch-preuß. Sieg über Napoleon scheitern. S.s erste schriftstellerische Versuche fielen in die Magdeburger Zeit. In der Nachfolge Sternes verfasste er Empfindsame Reisen durch Deutschand (3 Bde., Wittenb./Zerbst 1771/72), eine weitschweifige Erzählung über die Lebenswirren eines früh verwaisten jungen Mannes, die von der zeitgenöss. Kritik, darunter auch Goethe (Frankfurter Gelehrte Anzeigen, 3.3.1772), als substanzlose u. »kindische« Nachahmung abgetan wurde. Der Produktion des »schreibseligen Mannes« (Weigand) tat das keinen Abbruch. 1776 nahm S. an einer »Musterprüfung« in der reformpädagog. Dessauer Internatsschule Basedows teil, die zu Werbezwecken veranstaltet wurde. Sein enthusiastischer Bericht über die philanthropische Erziehungsmethode, aus der Sicht eines zwölfjährigen Jungen geschrieben (Fritzens Reise nach Dessau. Lpz. 1776. Neudr. hg. von Albert Ritter. Lpz. 1891), hatte die erhoffte propagandistische Wirkung u. machte auch den Autor bekannt. Wachsende Einsicht in die konzeptionellen Mängel der neuen Methode wie auch Streitigkeiten in der Dessauer Anstalt führten in den folgenden Jahren zur Distanzierung vom Philanthropismus, die in seinem satir. Roman Spitzbart. Eine komi-tragische Geschichte für unser pädagogisches Jahrhundert (Lpz. 1779. Neudr. hg. von Eberhard Haufe. Mchn. 1983), S.s berühmtestem Werk, ihren Niederschlag fand. In der Lebensgeschichte des Pastors Matthias Theophil Spitzbart, der als pädagog. Projektemacher scheitert, entdeckten die Zeitgenossen eine Vielzahl von Personalsatiren auf lebende Reformpädagogen, v. a. auf Basedow, den Magdeburger Pastor Friedrich Gabriel Resewitz u. Carl Friedrich Bahrdt. Als »Idealenkrämer im Erziehungswesen« gab S. sie dem allg. Gelächter preis. Weniger Beachtung fand, dass er zgl. energisch für praxisorientierte u. nötige pädagog. Verbesserungen plädierte. Den souveränen u.
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witzig-heiteren Ton dieses Romans, der mehrere Nachdrucke u. Nachahmungen erlebte, erreichte S. trotz weiterer pädagog. Romane (Wilhelm von Blumenthal oder das Kind der Natur. 2 Bde., Liegnitz/Lpz. 1780/81. Der kleine Voltaire. Eine deutsche Lebensgeschichte für unser freygeistisches Jahrhundert. Ebd. 1782) nur noch einmal. 1794 erschien Die Revolution in Scheppenstedt. Eine Volksschrift (Germanien, recte Breslau. Neudr. hg. von Harro Zimmermann. Bremen 1986), eine satir. Auseinandersetzung mit den Idealen der Französischen Revolution, exemplifiziert an einem tumultuarisch-grotesken Volksaufstand im traditionellen Narrenort, der mit der Wiedereinsetzung der alten Obrigkeit endet. Die konservative Botschaft des Romans zeigt das traditionelle Aufklärungsverständnis: S. trat für behutsame Reformen in staatl. Regie ein. Die Verwirklichung von Menschenrechten war Sache des aufgeklärten Souveräns, nicht des Volkes. An dieser Einforderung von Reformen hielt er allerdings auch fest, als er mit seinem Verweis auf Napoleon, den Garanten eines geeinten Europa, in Gegensatz zur konservativ-nationalen preuß. Politik geriet. Seinem Wechsel an das Breslauer Lehrerseminar verdankt sich die Reise durch Schlesien im Juli und August 1791 (Breslau 1792. Neu hg. u. kommentiert v. Wojciech Kunicki. Bln. 1995). S. gibt darin einen frühen Bericht der erwachenden Industrieregion u. ein neues, für die damalige Zeit wegweisendes kulturhistor. Dokument Oberschlesiens. Sein Blick gilt weniger der Vergangenheit als vielmehr der Entwicklungsfähigkeit u. dem sich abzeichnenden Fortschritt des damals als unterentwickelt geltenden Schlesien. Die weiteren Werke S.s, seine Theaterstücke, Jugendschriften u. Unterrichtswerke, sind vergessen. Als polit. Schriftsteller griff er auf seiten der Obrigkeit in einen damals aufsehenerregenden Justizskandal ein (Untersuchung, ob dem Kriegsrathe Zerboni zu viel geschah. Lpz. 1801) u. verteidigte die Mätresse des 1797 gestorbenen preuß. Königs Friedrich Wilhelm II., Wilhelmine Enke, gegen bissige Angriffe mehrerer Schriftsteller (Apologie der Gräfin Lichtenau. Lpz./Gera 1808).
642 Weitere Werke: Lehrreiches u. angenehmes Buch für den Bürger u. Landmann. Magdeb. 1772. – Lustspiele ohne Heyrathen. Wittenb./Zerbst 1773. – Schich Sadi, Pers. Rosenthal nebst Locmans Fabeln. Ebd. 1775. – Kinderspiele u. Gespräche. 3 Bde., Lpz. 1776/77. – Moralische Bibl. für den jungen dt. Adel. 3 Bde., Liegnitz/Lpz. 1785–87. – Breslauer Almanach für den Anfang des 19. Jh. Ebd. 1801. Literatur: Franz Etzin: J. G. S.s Pädagogik. Ein Beitr. zur Gesch. des dt. Philanthropismus. Langensalza 1915. – Wilhelm Gierke: J. G. S. u. seine Romane. Lpz. 1915. – Georg Weigand: J. G. S. Leben u. Schaffen eines Schriftstellers u. Reformpädagogen. Ffm. 1925. – Helmut Ritter: Die pädagog. Strömungen im letzten Drittel des 18. Jh. in den gleichzeitigen dt. pädagog. Romanen u. romanhaften Darstellungen. Diss. Halle 1938. – Reinhard Stach: J. G. S. In: LKJL, Bd. 3, S. 325. – Peter Michelsen: Laurence Sterne u. der dt. Roman des 18. Jh. Gött. 1972, S. 117–140. – Heinz Hamm: J. G. S.s Roman ›Die Revolution in Scheppenstedt‹. In: WB 34 (1988), S. 709–722. – Marita Gilli: Eine konterrevolutionäre Utopie? J. G. S.s ›Revolution in Scheppenstedt‹ (1794). In: Universität. Wiss. Ztschr. der Ernst-Moritz-Arndt-Univ. Greifswald 38 (1989), S. 6–12. – Wojciech Kunicki: Zeugnisse oberschles. Frühindustrialisierung. J. G. S.s Reiseber. aus dem Jahre 1791. In: Industrie u. Lit. Hg. Joachim J. Scholz. Bln. 1993, S. 29–40. – Alexander Kosˇ enina: Satir. Aufklärung. J. G. S.s ›Spitzbart. Eine komi-tragische Geschichte für unser pädagogisches Jahrhundert‹. In: Lenz-Jb. 4 (1994), S. 155–173. – Stefan Roeloffs: Region u. Revolution. Reisebeschreibungen am Beispiel v. J. G. S. u. Georg Forster. In: Literar. Schreiben aus regionaler Erfahrung. Hg. Wilhelm Gössmann. Paderb. 1996, S. 311–347. – Achim Hölter: J. G. S.s ›Empfindsame Reise durch Dtschld.‹. Ein scheiternder Dialog zwischen Autor u. Leser in der dt. Sterne-Rezeption. In: Euph. 91 (1997), S. 23–63. – Jutta Heinz: Urszenen, Schwellenlektüren u. ›Wünschperioden‹ – zu Kindheitszäsuren in Erzähltexten um 1800. In: Alterszäsuren. Zeit u. Lebensalter in Lit., Theologie u. Gesch. Hg. Thorsten Fitzon, Sandra Linden, Kathrin Liess, Dorothee Elm. Bln./New York 2011, S. 377–403. Wolfgang Griep / Thorsten Fitzon
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Schupp, Schuppius, Johann Balthasar, auch: Ambrosius Mellilambius, Antenor, Ehrenhold, Philander, getauft 29.3.1610 Gießen, † 26.10.1661 Hamburg. – Rhetorikprofessor, Hofprediger, lutherischer Pastor u. Satiriker. Der Sohn eines Kaufmanns u. Ratsherrn besuchte bis 1625 das Paedagogium illustre seiner Heimatstadt u. studierte an der Universität Marburg die Artes, Philosophie (bei Rudolf Goclenius) u. Theologie. 1628 trat er seine Peregrinatio academica an, die ihn nach Nordosten über Polen u. Livland bis nach Dänemark an die berühmte Akademie von Sorø führte, wo der auch als Dichter bekannte Johann Wilhelm Lauremberg lehrte. In Königsberg hörte er den Rhetoriker Samuel Fuchs. Als Schüler des Philologen Peter Lauremberg (der Bruder des Dichters) wurde er in Rostock zum Magister promoviert, musste aber nach dem Einmarsch der Schweden seine Lehrtätigkeit an der Ostsee abbrechen u. kehrte nach Marburg zurück. Infolge einer viel beachteten Rede (Oratiuncula. Marburg 1632) erhielt er auch dort die Lehrerlaubnis für Übungen im Fach Rhetorik. Im Winter 1633/34 lehrte S. in Gießen, nachdem die Pest die kurzfristige Verlegung der Universität erzwungen hatte. In den folgenden Jahren wich er vor dem Krieg in die Niederlande aus, indem er den hess. Adligen Rudolf Rau von Holzhausen auf Reisen begleitete, ohne aber die urspr. Ziele Frankreich u. Italien zu erreichen. Dabei konnte er in Amsterdam bei Gerhard Johannes Vossius u. Caspar Barlaeus, in Leiden bei Claudius Salmasius u. vor allem bei Marcus Zuerius Boxhorn studieren; Daniel Heinsius habe ihn nicht empfangen, weil sein Name wie ›Schoppe‹ geklungen u. er ihn für einen Verwandten des ›Papisten‹ Kaspar Schoppe (Scioppius) gehalten habe, des Erzfeindes der Kalvinisten, der einst seinen verehrten Lehrer Joseph Scaliger geschmäht hatte. An den Berühmtheiten des niederländ. Späthumanismus nahm S. die elitäre Arroganz u. Realitätsferne wahr, die im standesgemäßen ›bellum grammaticale‹ u. anderen Ritualen ihr Genügen fand, aber er lernte auch den prakt., weltoffenen Geist dieser aufstrebenden Han-
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delsnation kennen. Überdies fand er in der polit. Rhetorik des Boxhorn das Modell für die eigene Vorstellung von einer entschieden gegenwartsbezogenen Redekunst, die er in den folgenden Jahren in Theorie u. Praxis zu realisieren suchte. 1635 nach Marburg zurückgekehrt, erhielt S. im selben Jahr die Professur für Rhetorik u. Geschichte. Er gab Hauptwerke des früh verstorbenen Gießener Hebraisten u. Historikers Christoph Helwig neu heraus: 1638 die erweiterte Edition des Theatrum historicum et chronologicum, eines Standardwerks zur Chronologie seit der 1. Aufl. von 1609, 1639 auch eine Edition der zuerst 1618 gedruckten Chronologia universalis; der Deucalion Christianus sive de vero natali Jesu Christi (1638) ist eine Textsammlung zu der um diese Zeit theologisch brisanten Debatte um die bibl. Chronologie. Helwig, dessen Tochter Anna Elisabeth S. 1636 heiratete, hatte in Gießen u. Frankfurt/M. mit Joachim Jungius u. in Augsburg mit Wolfgang Ratichius (Ratke) kooperiert, u. so kam S. in enge Beziehung zu den Grundsätzen der ›realistischen‹ Pädagogik, die auch der Schwiegervater vertreten hatte. Sie bestärkten ihn in der prakt. Rhetorikreform, die vornehmlich an den »res« orientiert ist, sich am Tacitismus ausrichtete u. ihn in eine polem. Distanz zum äußerl. Regelwesen der althumanistischen gelehrten Erziehung versetzte. Seine Bekanntschaft mit dem führenden Tacitisten Matthias Bernegger, mit dem er viele Briefe wechselte, u. seine engen, auch persönl. Kontakte zu Johann Valentin Andreae, dem bewunderten älteren Vorbild, sind so zu verstehen. Doch S. übertrifft deren Bildungskritik noch, indem er mehr u. mehr die humanistische Bindung an die klass. Autoren in Zweifel zieht: so im Orator ineptus (Marburg 1638. In dt. Übers. u. d. T. Der ungeschickte Redner von Balthasar Kindermann. Frankf./O. 1660) u. De opinione (Marburg 1639. 1655); die spätere Satire Freund in der Noth (Hbg. 1657) gehört auch in diesen Zusammenhang, ebenso wie die burlesk religionskrit. Schrift Ineptus religiosus (1650; Verf. unsicher). Um den erfolgreichen Lehrer bildete sich in Marburg ein Kreis von Schülern, der sich vor dem Stadttor in S.s Gartenhaus, seinem
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»Avellinum«, traf. Es soll an den Wänden mit Emblemen geschmückt gewesen sein, was erneut auf Boxhornius verweist (vgl. dessen Emblemata politica. Amsterd. 1651. Darin: De Majestate eloquentiae Romanae von 1635). Auch gedichtet wurde in diesem Kreis (die Gedichte in: Consecratio Avellini. Marburg 1640. Wieder in: Volumen orationum. Gießen 1656), u. S.s eigene geistl. u. weltl. Poesie entstand großenteils in diesen Jahren u. erschien in immer neuen u. erweiterten Sammlungen wie Aurora (1642. Hbg. 1658), Passion-Lieder (Marburg 1643) u. Morgen und Abend-Lieder (Hbg. 1655). Bald nahm S. auch die theolog. Studien wieder auf, wurde 1641 Lizentiat, 1643 Prediger an der Elisabethkirche u. 1645 Dr. theol. In diesem Katastrophenjahr verlor er infolge der Eroberung Marburgs durch die Schweden seine gesamte Habe, einschließlich der Bücher, u. übersiedelte anschließend an die kleine Residenz des Landgrafen Johann von Hessen-Braubach, das damals zu HessenDarmstadt gehörte, an den Rhein. Dort amtierte er als gräfl. Rat, Hofprediger u. Inspektor des Kirchen- u. Schulwesens u. sammelte Erfahrungen mit den Anforderungen der höfisch-polit. Verwaltung u. Beredsamkeit. In Braubach, wo man den Zugezogenen wegen unkonventioneller Amtsführung verleumdete, entstand auch der Traktat De arte ditescendi (dt. u. d. T. Von der Kunst reich zu werden. o. O. 1648), eine Lehrschrift an seine ehemaligen Studenten (»mei Avellinenses«), die in Anlehnung an die lukianische Traumsatire den Staats- u. Sozialutopien von Morus, Bacon, Barclay, Campanella u. Andreae nahe steht. Weitere polit. Schriften sind später der erfolgreiche Salomo oder Regenten-Spiegel (1657. 1658), Ambrosii Mellilambii Sendschreiben an einen vornehmen Cavallier, betreffend die Schwedische und Polnische Waffen (1657) oder der Traktat Ein Holländisch Pratgen [d.i. Plauderei] von dem jetzigen Krieg (1657). 1648 vertrat S. den Landgrafen als Gesandter bei den Friedensverhandlungen in Osnabrück, wo er bald von Johann Oxenstierna zum Prediger der schwed. Gesandtschaft berufen wurde. S. unterhielt dort auch enge Beziehungen zu dem Juristen Dietrich Reinking (1590–1664), der die Regierung Bremens vertrat, u. dem schwed. Bevoll-
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mächtigten u. Polyhistor Johann Salvius (1590–1652, von Königin Christina gefördert u. geadelt), der nach der Hypothese von Mulsow (2004) auch, in enger Beziehung mit S., der Verfasser des anonymen Ineptus religiosus von 1650 gewesen sein soll. Nach der Ratifizierung der Verträge hielt S. auf Wunsch der Schweden am 15.10.1648 in Osnabrück die offizielle ›Friedenspredigt‹, am 4.2.1649 erneut in Münster. Als berühmter Kanzelredner erhielt er darauf mehrere Rufe, u. 1649 ging er nach Hamburg als Hauptpastor bei St. Jakobi u. entschied sich damit gegen Augsburg. Nach dem Tod der ersten Frau (1650) heiratete er die Tochter von Reinking, Sophie Eleonore; von den sieben Kindern aus beiden Ehen kennt man die beiden ältesten Söhne Anton Meno (* 1637) u. Justus Burchard. S. hatte mit seinen Predigten u. in seiner Tätigkeit als Seelsorger großen Erfolg. Erst in Hamburg entfaltete sich seine satir. Begabung. Die Prosasatiren, die meist den Charakter von Strafpredigten haben, knüpfen häufig an reale Ereignisse u. Zustände in der Stadt an u. sind eine Fundgrube für die histor. Sozialforschung (Gedenck daran Hamburg. Hbg. 1657. Sieben böse Geister, welche heutigen Tages Knechte und Mägde regieren und verführen. Hbg. 1658. Corinna, die ehrbare und scheinheilige Hure. [Lpz.] 1660). Als Deutsch schreibender Autor knüpfte S. eher an das 16. Jh. an, statt sich wie die Mehrzahl der Zeitgenossen dem Programm des Opitzianismus zu verschreiben. Er lehnt die Reform nicht ab, aber er ist skeptisch gegenüber jeder gelehrten Regulierung des Stils. Er führt die Bemühungen um eine literar. Kultur in dt. Sprache fort u. steht hier in der Tradition, die über Schottelius zu Christian Weise u. Thomasius führt. S.s Predigtstil ist drastisch, voller Anekdoten, Fabeln, Fazetien u. iron. Wendungen; neben heute schwer erschließbaren Anspielungen beeinträchtigt das satir. Temperament oft die Kohärenz der Texte. Auch das Vorbild Luthers spielt eine große Rolle. Dies hinderte die Kirchenbehörde nicht, ihn mit Anklagen zu bedrängen; hinzu kamen Streitschriften in dichter Folge, die ihn in langwierige Fehden verwickelten, aber auch seiner satir. Fantasie u. Streitlust Nahrung
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verschafften. Seit der Invitatio publica ad adornandum memoriale biblicum (Hbg. 1657), einer mnemotechn. Bibelauslegung (vgl. auch seine Ars Lulliani, eine erst 1706 erschienene Teilbearbeitung), eskalierte der Streit mit dem geistl. Ministerium über den Stil seiner Predigten, der zu formellen Disziplinarverfahren führte (»allerley fabeln, facetias, satyrische Aufzüge und lächerliche Historien«, so das Gutachten einer theolog. Fakultät). Es kam zu einer Serie von Streitschriften, bes. mit dem Senior Johannes Müller (Nectarius Butyrolambius) u. dem Leipziger Magister Bernhard Schmidt (Philanderson), der sich gegen die Universitätskritik in Freund in der Noth (1657) wandte. Auch der älteste Sohn Anton Meno verteidigte seinen Vater mit einem Traktat (Fabul-Hanß. Hbg. 1660). Er hat die erste Sammlung der dt. bzw. übersetzten Schrifften nach S.s Tod herausgegeben (Hanau 1663). Weitere Werke: Invitatio publica ad collegium oratorium. Marburg 1637. – De felicitate hujus seculi XVII oratio. Ebd. 1639. Dt. in: Schrifften, 1663. – Xenium sive de usu et praestantia nihili dissertatio philosophica. Ebd. 1640. Hbg. 1650. – Somnium. Ebd. 1640. – Sceleton chronologiae sive oratio continens succinctam seriem historico-chronologicam. Ebd. 1641. – Eusebia prodeambulans. Ebd. 1642. – De arte ditescendi: dissertatio prior ex Avellino ad Philosophos in Germania. o. O. 1648. – Promus condus revisus. o. O. 1650 (lat. Wörterbuch). – Proteus sive de dignoscenda ingeniorum varietate. Marburg 1656. – Salomo oder Vorbild eines guten Regenten (auch u.d.T.: Regentenspiegel). Ebd. 1657. – Der rachgierige u. unversöhnl. Lucidor erinnert u. ermahnt durch Antenorn. Ebd. 1657 (gegen die Prozesssucht). – Der Bücher-Dieb, gewarnet u. ermahnet. o. O. 1658. – Der lobwürdige Löw, einem vornehmen Freund zu Ehren eylend abgemahlet. [Hbg.] 1658. – Relation aus dem Parnasso: Welche bey jüngster Post Mercurius angebracht hat von Verfolgung Antenors. Wolfenb. 1658. – Calender. o. O. 1659. – Erste u. eylfertige Antwort auff M. Bernhard Schmitts Discurs de Reputatione Academica. Altena 1659. – Deutscher Lucianus. o. O. 1659. – Abgenöthigte Ehren-Rettung. Lpz. 1660. – Einfältige Erklärung der Litaney. Lübeck 1661. – Golgatha oder eine kurtze Anleitung, wie ein krancker Mensch ihm die sieben Wort, welche der Herr Jesus am Stamm des heiligen Creutzes gesprochen hat, auff seinem Todtbette sollte zu Nutze machen. Ebd. 1661. – Zwey nützl.
Schupp Tractätlein. Altena 1661. – Ninivitischer BußSpiegel. o. O. 1669. Erw. 1693. – Der schändl. Sabbath-schänder. Hbg. 1690. 1706 (5 Predigten). – Ars Lulliana, hoc est: facillima methodus docendi discendique sermonis latini. Erfurt 1706 (Teilbearb.). – Sammlungen: Passion u. Buss-, auch TrostBitt- u. Danck-Lieder. Hbg. 1655. – Volumen orationum. Gießen 1656. 1658. Ffm. 1659 (ges. Marburger Universitätsreden). – Schrifften. Hg. Anton Meno Schupp. [Hanau] 1663; Tl. 2 hg. v. Justus Burchard Schupp u.d.T.: Zugab. Doct: Joh. Balth: Schuppii Schrifften. [Hanau] 1667. – Etliche Tractätlein, welche theils im Namen Herrn Doctor J. B. Schuppii gedruckt, u. von ihm nicht gemacht worden. Theils auch contra Herrn Schuppium geschrieben. Hg. A. M. Schupp. [Hanau] 1663. – Lehrreiche Schrifften. 2 Tle., Ffm. 1677. 1684. 1700. – Rolle oder Register der wircklichen Sünden u. Laster, u. der inn- u. eusserlichen Mängel u. Gebrechen des Menschen. Hbg. 1696. Ausgaben: Der Freund in der Not. Hg. Wilhelm Braune. Halle 1878. – Von der Kunst reich zu werden. Hg. Felix Bobertag. Stgt. 1888. Nachdr. 1974. – Der teutsche Lehrmeister. Hg. Paul Stötzner. Lpz. 1891. – Vom Schulwesen. Hg. P. Stötzner. Lpz. 1891. – Streitschriften. Hg. Carl Vogt. 2 Bde., Halle 1910/11. – Corinna. Hg. C. Vogt. Halle 1911. – Internet-Ed. etlicher Werke in: dünnhaupt digital. Literatur: Bibliografien: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 5, S. 3847–3894. – VD 17. – Weitere Titel: Peter Lambeck: Kurtzbeschriebener Lebens-Lauff. In: S.s Lehrreiche Schrifften. Bd. 1, 1684. – Carl Bertheau: J. B. S. In: ADB. – Paul Stötzner: Beiträge zur Würdigung v. J. B. S.s ›Lehrreichen Schriften‹. Diss. Lpz. 1890. – Johann Lühmann: J. B. S. Beiträge zu seiner Würdigung. Marburg 1907. – Carl Vogt: J. B. S. Neue Beiträge zu seiner Würdigung. In: Euph. 16 (1909), S. 6–27 (Biogr.), 245–320, 673–704. 17 (1910), S. 1–48, 251–287, 473–537. 18 (1911), S. 41–60, 321–367. 19 (1912) S. 476–482. 21 (1914), S. 103–128, 490–520. 22 (1915), S. 393–395. – Hildegard E. Wichert: J. B. S. and the Baroque Satire in Germany. New York 1952. – Elfriede MoserRath: Predigtmärlein der Barockzeit. Bln. 1964. – Maike Schauer: J. B. S. Prediger in Hamburg 1649–61. Hbg. 1973 (mit Porträt). – Klaus Schaller: J. B. S., Muttersprache u. realist. Bildung. In: Stadt, Schule, Univ., Buchwesen. Hg. Albrecht Schöne. Mchn. 1976, S. 198–209, 275 ff. – Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik u. Fürstenstaat. Entwicklung u. Kritik des dt. Späthumanismus in der Lit. des Barockzeitalters. Tüb. 1982. – Guillaume van Gemert: J. B. S. u. der gemeine Mann. In: Lit. u. Volk im 17. Jh. Hg. Wolfgang Brückner. 2 Tle.,
Schurek Wiesb. 1985, S. 259–271. – Herbert Jaumann: Satire zwischen Moral, Recht u. Kritik. Zur Auseinandersetzung um die Legitimität der Satire im 17. Jh. In: Simpliciana 13 (1991), S. 15–27. – Joachim Whaley: Obediant servants? Lutheran attitudes to authority and society in the first half of the 17th century: the case of J. B. S. In: The Historical Journal 35 (1992), S. 27–42. – Martin Mulsow: Moderne aus dem Untergrund. Radikale Frühaufklärung in Dschtld. 1680–1720. Hbg. 2002, S. 375–384. – Ders.: Libertinismus in Dtschld.? Stil der Subversion im 17. Jh. zwischen Politik, Religion u. Lit. In: Ztschr. für histor. Forsch. 31 (2004), S. 37–71. – Jaumann Hdb. – H. Jaumann: J. B. S. In: NDB. Herbert Jaumann
Schurek, Paul, * 2.1.1890 Hamburg, † 22.5.1962 Hamburg. – Mundartschriftsteller.
646 Kom.n. Ebd. 1926. – Die brennende Stadt. Hbg. 1926 (E.). – Beule. Kom. in drei Akten. Bln. 1929. – Kleine Ehekomödie. Bln. 1933. – Gewalten u. Gestalten. Hbg. 1933 (E.en). – Die blaue Tulpe. Bln. 1936 (Kom.). – Geld im Strumpf. Ebd. 1939 (Volksstück). – Das Leben geht weiter. Stgt. 1940 (R.). – Der Hamburger Brand. Hbg. 1943 (R.). – Bullenkopp u. Stint. Kom. in einem Akt. Rotenburg/Fulda 1949. – Nichts geht verloren. Das Forscherschicksal Robert Mavers. Hbg. 1949. – As ik anfüng. Wat ik wul un wat ik sul. Ebd. 1953. Literatur: Bibliografie: Ulf-Thomas Lesle: P. S. Hbg. 1979. – Weitere Titel: Joachim Arp: Studien zu Problemen der niederdt. Volkskomödie. Neumünster 1964. – Lena Ehinger: P. S. Volkstüml. Schriftsteller mit literar. Niveau. In: Unerhörtes Abenteuer im Irgendwo. Ernst Barlach u. der Harz. Hg. Christian Juranek. Quedlinb. 2006, S. 154–156. Joachim Dyck / Red.
Nach einer Lehre als Feinmechaniker absol- Schurman, Anna Maria van, * 5.11.1607 vierte S. eine Ausbildung an der Ingenieurs- Köln, † 4.5.1678 Wieuwerd/Friesland. – schule Hamburg. Er war während des Ersten Dichterin, Theologin, Bildende KünstleWeltkriegs Funker, arbeitete als Elektriker u. rin. Gewerbeschullehrer. Bis zu seinem Tod lebte er als freier Schriftsteller in Hamburg. 1930 Die ersten Lebensjahre verbrachte die von erhielt S. den Stavenhagen-Preis für das dra- einem niederländ. Vater u. einer dt. Mutter abstammende S. in Deutschland; seit etwa mat. Gesamtwerk. Um alltägl. Themen wie die Begrenztheit 1615 lebte sie in Utrecht. Früh wurde ihre des menschl. Wünschens, Geiz u. Betrug geht immense wissenschaftl. u. künstlerische Bees in den Komödien Stratenmusik (Hbg. 1921), gabung erkannt u. zunächst vom Vater, dann Snieder Nörig (ebd. 1927) u. Lünkenlarm (ebd. von dem Leidener Professor André Rivet 1929). Das vielfach variierte Thema des (1572–1651) u. dem Utrechter Theologen Heimkehrers, dessen Platz von einem ande- Gisbert Voetius (1589–1676) intellektuell geren eingenommen worden ist, bildet das fördert. Vor allem ihr lat. Plädoyer für FrauMotiv im Drama Kasper kummt na Hus (ebd. enbildung (Dissertatio de ingenii muliebris ad doctrinam et meliores litteras aptitudine. Leiden 1932). Außer niederdt. Komödien u. Schwänken 1641) fand europaweit Resonanz (anonyme verfasste S. Erzählungen (Der Hamburger engl. Übers. London 1659). S. knüpfte v. a. Brand. Hbg. 1922), denen histor. Begeben- brieflich ein Netzwerk mit der europ. res heiten oder alltägl. Begegnungen mit der publica litteraria (P. Gassendi, M. Mersenne, norddt. Landschaft u. ihren Menschen zu- Const. Huygens, R. Descartes), bes. auch zu grunde liegen (Der Jungbrunnen. Aus den Noti- Frauen (Elisabeth von der Pfalz, Bathsua zen eines Wanderers. Wedel/Holstein 1946). Für Makin, Dorothee Moore, Marie de Gournay). die Barlach-Forschung sind seine Begegnungen Zeugnisse davon wurden teilweise in einer mit Ernst Barlach (Hbg. 1946) eine wichtige mehrmals aufgelegten Werksammlung publiziert (Opuscula Hebraea, Graeca, Latina, GalQuelle. lica. Leiden 1648. 21650. Utrecht 31652). Seit Weitere Werke: Düwel un Dichter. Drömige un smustergrinige Vertelln. Braunschw. 1920. – De ca. 1650 zog sich S. aus der Öffentlichkeit rode Heben. En Geschicht ut Hamborg. Ebd. 1921. zurück, widmete sich vermehrt der Aus– Snaksche Gesch.n. Hbg. 1922. – Käuze. De letzde übung u. krit. Reflexion ihres calvinistischen Droschkenkutscher. Sylvester. Zwei niederdt. Glaubens. 1666 schloss sie sich dem frühpie-
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tistisch inspirierten Religionsreformer Jean de Labadie (1610–1674) an, mit dessen Sekte sie ein Wanderleben durch die Niederlande u. Deutschland führte (Amsterdam, Herford, Altona). Diesen radikalen Schnitt begründete S. ausführlich in ihrer teilw. postum veröffentlichten Autobiografie (Eukleria seu melioris partis electio. 2 Tle., Altona 1673. Amsterd. 1685. Anonym. dt. Übers. Dessau/Lpz. 1783). Auf Gut Walta bei Wieuwerd in Friesland, wo die Labadisten 1675 Zuflucht fanden, starb S., bis zuletzt schriftstellerisch aktiv. Ausgaben und Übersetzungen: Pieta van Beek (Hg.): Verbastert christendom. Nederlandse gedichten van A. M. v. S. (1607–1678). Houten 1992. – Elisabeth Gössmann: Das wohlgelahrte Frauenzimmer. Mchn. 21998. – Michael Spang (Hg.): A. M. v. S. – Abh. über die Befähigung des Geistes von Frauen für die Gelehrsamkeit u. die höheren Wissenschaften (1641). Würzb. 2009. Literatur: Katlijne van der Stighelen: A. M. v. S. (1607–1678) of ›Hoe hooge dat een maeght kan in de konsten stijgen‹. Louvain 1987. – Mirjam de Baar u. a. (Hg.): Choosing the better part. A. M. v. S. (1607–1678). Dordrecht/Boston/London 1996. – Pieta van Beek: De eerste studente: A. M. v. S. (1636). Utrecht 2004. – Michael Spang: ›Wenn sie ein Mann wäre‹ – Leben u. Werk der A. M. v. S. (1607–1678). Darmst. 2009. Michael Spang
Schurtzfleisch, Konrad Samuel, auch: Eubulus Theosdatus Sarckmasius, Labro a Verasio, Huno ab Hunenfeld, Farrerius (Xaverius) Paranus, * 3.12.1641 Korbach, † 7.7.1708 Wittenberg. – Historiker, Jurist u. Polyhistor. Der Sohn eines Schulrektors studierte Theologie u. die Artes in Gießen, danach seit 1661 in Wittenberg, wo er 1664 den Magistergrad erwarb. Nach einer Lehrtätigkeit an der Universität sollte er 1666 das Rektorat des Vaters in Korbach (Hessen-Waldeck) übernehmen. Er scheint jedoch in u. außerhalb der Schule so viel unkonventionelle u. heterodoxe Aktivität entfaltet zu haben, dass er sein Amt bald wieder räumen musste, was er angeblich mit dem Satz »haec schola me non capit« quittierte. S. ist ein ausgeprägtes Beispiel für den lange vergangenen Gelehrtentypus des Polyhistors, u. gerade seine Biografie ist außergewöhnlich anekdotenreich. 1667 kam er als
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Hofmeister mit seinen Schülern nach Leipzig, wo er Jakob Thomasius kennen lernte; danach kehrte er nach Wittenberg zurück u. verursachte bald mit einer Schrift von wenigen Seiten unter dem Pseudonym »Sarckmasius« einen Sturm der Entrüstung: Iudicia de novissimis prudentiae civilis scriptoribus (1669). S. bediente sich dabei des lange bekannten Schemas des Boccalini von den Urteilen Apollos auf dem Parnass (Ragguagli di Parnasso. 1612 ff.) u. präsentierte 14 berühmte Autoren der Jurisprudenz u. Politik wie Conring, Boecler, Cyriacus Lentulus, Samuel Rachel, Nikolaus Martini u. Philipp Jakob Spener. Die Schrift gehört auch in den Kontext des Streits um Pufendorfs 1667 erschienene Kritik der Struktur des Reichs (De statu Imperii Germanici), der den furchtsamen Autor schließlich außer Landes trieb, u. sie enthält gleich zwei Artikel über den bis dahin in Heidelberg lehrenden Autor: einen über Pufendorfs Pseudonym »Severinus de Monzambano« (Nr. 3) u. einen zweiten über »Samuel Pufendorffius« (Nr. 8), ohne dass diese Duplizität aufgeklärt würde. Während Pufendorf im zweiten Text hoch gelobt, den Größen Conring u. Boecler an die Seite gestellt u. sein Weggang nach Schweden bedauert wird, erfährt ›Monzambanos‹ Schrift im erstgenannten Text eine deutliche, wenn auch nicht undifferenzierte Abfuhr: Er könnte sich an die Spitze der meisten unter seinesgleichen setzen, hätte er nicht so satirisch geschrieben, heißt es im letzten Satz. Aber erstaunlich ist an allen Artikeln viel weniger der Inhalt als die zeitgenöss. Rezeption. Die Autoren u. Werke werden im üblichen Gelehrtenlatein u. weitgehend in Form kurzer, prägnanter Würdigungen behandelt, doch abgesehen von der offenen Kritik an ›Monzambanos‹ kühnen Urteilen sind auch versteckte Anzüglichkeiten nur mit Mühe zu entdecken, u. von satir. Schreibart kann eigentlich keine Rede sein. Dass sie offenbar dennoch als anstößige Personalsatiren aufgenommen wurden, erscheint heute als schwer verständlich, wirft aber ein Licht auf die in Deutschland damals noch herrschenden Schwierigkeiten mit öffentlichen, ad personam formulierten Urteilen. Erst die seit Christian Thomasius (Monatsgespräche. 1688/
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89) in den Journalen publizierte Kritik beginnt dieses Tabu allmählich aufzulösen. S. erhielt später dennoch mehrere Professuren in Wittenberg, doch er begnügte sich am Ende mit der Position eines Honorarprofessors für Geschichte; selbst den Ruf nach Helmstedt als Nachfolger des verehrten Conring lehnte er ab. Nach 1680, als Wittenberg von der Pest heimgesucht wurde, unternahm er eine längere Reise in die Niederlande u. nach England; in den 1690er Jahren begab er sich erneut auf Bibliotheksreisen nach Italien (Venedig, Florenz, Pisa, Rom), von wo er über Wien u. Nürnberg zurückkehrte. Briefwechsel unterhielt S. mit zahlreichen Großen (u. Kleinen) der europ. Gelehrtenrepublik. Seine außergewöhnlich reichhaltige Bibliothek gelangte nach Weimar, wo sein jüngerer Bruder Heinrich Leonhard († 1723) das Amt des fürstl. Bibliothecarius innehatte. Weitere Werke: Judicia de novissimis prudentiae civilis scriptoribus ex Parnasso. Cum Eubulo Theosdato Sarckmasio, in secessu Albipolitano ingenue communicata. Vivorum ut magna admiratio, ita censura difficilis est. Martismonte [= Wittenb.] 1669 (Streitschriften dazu in VD 17). – Labronis a Verasio [pseud.] Satura Sarckmasiana publice detecta, modeste castigata. Teutoburgum [= Wittenb.] 1669. – Hyperaspismós [griech.] pro scriptis Cyriaci Lentuli: adversus novum criticum judicia de politicis cerebroso e Parnasso proferentem. Marburg 1669.– S. (Präses) u. Nathanael Benjamin Hopp (Respondent): Ex historia civili Venetum regimen, adumbrarunt disputaturi [...]. Wittenb. 1670. – Annotata ad res Prussorum. Ebd. 1674. – Dissertatio de Lusatia. Ebd. 1676. – Poemata latina et graeca. Ebd. 1702. – Sarckmasii Continuatio iudiciorum de novissimis prudentiae civilis scriptoribus. In: Nova librorum rariorum conlectio. Fasc. 3, Halle 1710, S. 444–466. – Acta Sarckmasiana ad usum reipublicae litterariae in unum corpus collecta. Hg. Theodor Crusius. Wittenb. 1711. – Epistolae arcanae, varii, politici in primis, historici, antiquarii et litterarii argumenti. Hg. Heinrich Leonhard Schurtzfleisch. 2 Bde., Halle 1711/12. – Epistolae selectiores (mit der ›Memoria Schurtzfleischii‹ v. Johann Wilhelm Berger). Wittenb. 1712. 2., rev. Ausg. hg. v. Johann Wilhelm Meyer u. Gottfried Zimmermann. Ebd. 1729. – Schurtzfleischiana. Hg. Gottfried Wagner. 7 Bde., ebd. 1731. – Notitia scriptorum librorumque varii argumenti. 2 Bde., ebd. 1735/36.
648 Ausgaben: Internet-Ed. mehrerer Werke in: CAMENA (Abt. Poemata, Thesaurus u. CERA). Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Adolf Clarmund [d.i. Johann Christian Rüdiger]: Lebens-Beschreibung des welt-berühmten [...] C. S. Schurtzfleischens [...]. Dresden/Lpz. 1710. – Zedler, Bd. 35 (1742), Sp. 1682–1690. – Franz-Xaver v. Wegele: K. S. S. In: ADB. – Werner Deetjen: Die Anfänge der Weimarer Bibl. In: Ztschr. des Vereins für Thüring. Gesch. u. Altertumskunde N. F. 28 (1929), S. 482–502. – Fiammetta Palladini: Discussioni seicentesche su Samule Pufendorf. Scritti latini 1663–1700. Bologna 1978. – Herbert Jaumann: Was ist ein Polyhistor? Gehversuche auf einem verlassenen Terrain. In: Studia Leibnitiana 22 (1990), H. 1, S. 76–89. – Estermann/Bürger, Bd. 1, S. 1125–1160. – Anthony Grafton: The world of the polyhistors [...]. In: Central European History 18 (1985), S. 31–47 (wiederabgedr. in: Ders.: Bring out your dead. The past as revelation. Cambridge u. a. 2001, S. 166–180). – Jaumann Hdb. – BBHS, Bd. 8 (2005), S. 20 f. – Historia literaria. Neuordnungen des Wissens im 17. u. 18. Jh. Hg. Frank Grunert u. Friedrich Vollhardt. Bln. 2007. – Gerhard Menk: Conrad S. Schurzfleisch. In: NDB. – Jochen Klauß: Zum 300. Todestag v. C. S. S. (1641–1708). In: Thüringer Museumshefte 17 (2008), S. 126 f. Herbert Jaumann
Schurz, Anton Xaver, * 2.9.1794 Asparn/ Zaya, † 29.12.1859 Wien; Grabstätte: Weidling/Klosterneuburg. – Lyriker, Biograf. Nach dem Studium an der Berghochschule von Schemnitz begann S. seine berufl. Laufbahn bei der k. k. Münz- und BergwesensHofbuchhaltung, der er bis zu seiner Pensionierung 1854 angehörte, zuletzt als Hofbuchhalter u. erster Vorstand. S. stand zeitlebens im Schatten seines Schwagers Nikolaus Lenau, dessen ältere Schwester Theresia (Therese) er 1821 geheiratet hatte. Lenau war es auch, der die Veröffentlichung von S.’ einziger eigenständiger Gedichtsammlung (Gedichte. Stgt. 1841) bei Hallberger ermöglichte. Sie zeigt keinen originären, wohl aber einen formal gewandten Dichter. Heute noch von Bedeutung ist S.’ Lenau’s Leben. Großentheils aus des Dichters eigenen Briefen (2 Bde., Stgt./Augsb. 1855. Neu hg. von Eduard Castle. Bd. 1. Wien 1913. Neudr. Nendeln 1975) als wichtiges Quellenwerk für
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die Lenauforschung, auch wenn es ihm nicht gelang, das reichhaltige Material zu einem abgerundeten biogr. Abriss zu verdichten u. sich selbst hinter den zu beschreibenden Gegenstand zurückzunehmen. Eine ebenfalls breit angelegte Biografie Matthias Leopold Schleifers, mit dem S. seit 1828 befreundet war, blieb Fragment. Literatur: Heinrich Kunnert: Die berufl. Laufhahn des Lenau-Schwagers A. X. S. In: LenauForum 1975/76, S. 47–53. Norbert Eke
Schurz, Carl (Christian), * 2.3.1829 Liblar/ Erftstadt, † 14.5.1906 New York; Grabstätte: New York-Tarrytown, Sleepy-Hollow-Friedhof. – Publizist u. Politiker. S. wurde als erstes Kind des Pächters, späteren Lehrers, Wirts u. Kaufmanns Christian Schurz auf der Vorburg von Schloss Gracht geboren. 1839–1846 Schüler des Kölner Marzellengymnasiums, versuchte er sich schon als Lyriker u. Dramatiker. In Bonn, wo er seit 1847 studierte, gehörte er bald zu den führenden Köpfen der Burschenschaft Frankonia. Nach Ausbruch der Revolution war S. Gottfried Kinkels Helfer im demokratischen Verein, nahm am Eisenacher Studentenkongress teil u. gründete in Bonn einen demokratischen Studentenverein. Für die von Kinkel redigierte »[Neue] Bonner Zeitung« schrieb S. zahlreiche Artikel. Als 1849 die Reichsverfassungskampagne begann, schlossen Kinkel u. S. sich den bewaffneten Freischärlern an. S. wurde mit rund 5500 anderen Aufständischen in der Festung Rastatt von preuß. Truppen eingeschlossen, konnte aber durch einen Abwasserkanal entweichen. Er flüchtete nach Zürich, wo er sich Hoffnungen auf eine Tätigkeit an der neu zu gründenden Universität machte. Das Tagebuch seiner Flucht, das er veröffentlichen wollte, scheint verloren. Auf abenteurl. Wegen gelangte er nach Spandau, wo er am 6./7.11.1850 Kinkel aus dem Zuchthaus befreite. Die Rastatter u. Spandauer Episoden aus S.’ Erinnerungen haben in Schullesebüchern weite Verbreitung gefunden. In Paris schlug sich S. als Deutsch- u. Musiklehrer durch, bis er sich nach seiner Ausweisung im März 1851 wieder mit Kinkel in
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London traf. Hier wurde er von Marx u. Engels befehdet. 1852 wanderte S. mit seiner Frau Margarethe Meyer, der Tochter eines Hamburger Fabrikanten, in die USA aus. In Philadelphia trat er einer Freimaurerloge bei. 1853 wurde er Farmer in Watertown/Wisconsin, gründete die »Watertown Volks-Zeitung« u. strebte nach polit. Ämtern. Seit 1854 setzte er sich in der Republikanischen Partei für die Aufhebung der Sklaverei ein. Seit 1859 Anwalt in Milwaukee, gewann er die deutschstämmigen Wähler für Lincoln, der ihn 1861 zum Gesandten der USA in Madrid machte. Am Bürgerkrieg nahm S., zuletzt als Generalmajor u. Stabschef, teil. Wegen der Zurückhaltung des neuen Präsidenten, Andrew Johnson, in der Sklavenfrage hatte S. mit seinem Report on the condition of the South (Washington 1865. Neudr. New York 1969. The new South. New York 1885) keinen polit. Erfolg. Er arbeitete wieder journalistisch, seit 1867 in St. Louis als Herausgeber der deutschsprachigen »Westlichen Post«, bei der er den jungen Joseph Pulitzer förderte. 1869–1875 Senator, stellte S. sich auf die Seite der Unabhängigen u. gehörte zu den Gründern der Liberal-republikanischen Partei. 1877–1881 im Amt des Innenministers tätig, engagierte sich S. auch für die Integration der Indianer. Nach dem Ausscheiden aus der Politik verfasste S. Biografien der Staatsmänner Clay (Life of Henry Clay. 2 Bde., Boston/New York 1887) u. Abraham Lincoln (ebd. 1891), arbeitete journalistisch u. schrieb 1892–1898 Leitartikel für »Harper’s Weekly«. Um die Jahrhundertwende entstand seine Autobiografie The reminiscences (3 Bde., Boston/New York 1907/ 1908. Dt.: Lebenserinnerungen. 3 Bde., Bln. 1906–12). Ausgaben: Speeches, correspondences and political papers. Hg. Frederic Bancroft. 6 Bde., New York 1913. – Intimate letters 1841–69. Hg. Joseph Schafer. Madison/Wisconsin 1928. – Die Briefe an Gottfried Kinkel. Hg. Eberhard Kessel. Heidelb. 1965. – Sturmjahre. Lebenserinnerungen 1829–52. Hg. Joachim Lindner. Bln./DDR 1973. – Der erste Eindruck eines neuen Landes. Bln./New York 1980. Literatur: Walter Keßler: C. S. In: Rheinische Lebensbilder. Bd. 9, Köln 1982, S. 199–216. – Hans L. Trefousse: C. S. Knoxville/Tennessee 1982. –
Schuselka Frank M. Schicketanz: The ›Lebenserinnerungen‹ of C. S. Konstanz 1987. – W. Keßler: C. S. Kampf, Exil u. Karriere. Köln 2006. – Rudolf Geiger: Der dt. Amerikaner. C. S. Vom dt. Revolutionär zum amerikan. Staatsmann. Gernsbach 2007. – Hartmut Keil: C. S. In: NDB. Hans-Albrecht Koch
Schuselka, Franz, * 15.8.1811 Budweis/ Böhmen, † 1.9.1889 Heiligenkreuz bei Baden/Niederösterreich. – Publizist. Nach dem Studium der Rechte u. einem Praktikum am Strafgericht in Wien war S., Sohn eines Korporals, Privatlehrer in Adelshäusern. Seit 1839 konzentrierte er sich ganz auf Publizistik u. Literatur. 1841 legte er seinen einzigen Roman vor: Karl Gutherz (Wien), der »der Wirklichkeit abgelauschte Schilderungen und eine mäßige Zugabe wohlgemeinter Satire« (Vorwort) enthält, eine bewusst einfach geschriebene Volksgeschichte mit spätaufklärerischen Zügen. Nach ersten Konflikten mit der scharfen Zensur verließ S. im Sommer 1841 Österreich, lebte eine Zeitlang in Jena, schrieb für die »Leipziger Allgemeine Zeitung« u. publizierte im liberalen Reclam Verlag sowie bei Hoffmann und Campe. Im Schutz dt. Pressefreiheit betrieb er zielgerichtet Politik gegen das österr. Metternich-System u. erreichte damit eine breite Wirkung. 1843 zurückgekehrt nach Wien, ging er aufgrund von Repressalien bald wieder nach Jena. Seine polem. Schrift Der Jesuitenkrieg gegen Oesterreich und Deutschland (Lpz. 1845) erzwang die Flucht vor den Polizeibehörden nach Hamburg. 1848 kam er als einer der führenden Köpfe der demokratischen Bewegung wieder nach Wien, wurde ins Frankfurter Vorparlament u. ins Parlament gewählt, trat aber im Aug. zurück u. dem österr. Reichsrat bei. 1845 zur deutsch-kath. Gemeinde übergetreten, konvertierte er 1850 zum Protestantismus, später erneut zum Katholizismus. In den 1850er Jahren lebte er überwiegend in Dresden; nach seiner Rückkehr wurde er 1861 in den niederösterr. Landtag u. für die konstitutionelle Partei ins Abgeordnetenhaus gewählt (bis 1865). Allerdings vermochte S., mittlerweile überzeugter Föderalist, kein klares polit. Profil mehr zu entwickeln. S. war
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1859–1865 der erste Präsident des Wiener Journalisten- u. Schriftstellerverbands »Concordia« u. gab 1862–1879, ohne an seine frühere Wirksamkeit anknüpfen zu können, das Wochenblatt »Die Reform« heraus. Als einer der wichtigsten u. einflussreichsten österr. Publizisten des Vormärz griff S. in mehr als einem Dutzend Büchern u. Broschüren immer wieder – oftmals polemisch – die rückschrittl. österr. Verhältnisse an, thematisierte die konfessionelle Frage u. vor allem das Nationalitätenproblem u. trat als Verfechter eines »deutschen« Österreich auf. Als beispielhaft für seine Publizistik, in der sich polit., soziale u. kulturelle Kritik mit informativen Feuilletons u. Beschreibungen verbindet, erscheint Oesterreich. Städte, Länder, Personen und Zustände (Hbg. 1842; anonym, wie einige der wichtigsten polit. Veröffentlichungen). Sein bedeutendstes reformpublizistisches Werk ist die Darstellung von Zensur, Bildungswesen, Militär, Kirche u. oppositionellen Strömungen in Oesterreichische Vorund Rückschritte (Hbg. 1847). Weitere Werke: Ist Oesterr. deutsch? Lpz. 1843. – Oesterr. u. Ungarn. Lpz. 1843. – Die neue Kirche u. die alte Politik. Weimar 1845. – Dtschld., Polen u. Rußland. Hbg. 1846. – Dt. Volkspolitik. 2 H.e, Hbg. 1846/47. – Die Lösung der preuß. Verfassungsfrage. Hbg. 1847. – Geschichtsbilder aus Schleswig-Holstein. Ein dt. Lesebuch. Lpz. 1847. – Oesterr. über Alles, wenn es nur will! Hbg. 1848. – Dt. Fahrten. 2 Bde., Wien 1849 (autobiografisch). Literatur: Wurzbach (mit vollst. Bibliogr.). – Karl Glossy: Literar. Geheimber.e aus dem Vormärz. Wien 1912. – Fritz Fellner: F. S. Diss. Wien 1948. – Hubert Lengauer: Ästhetik u. liberale Opposition [...]. Wien/Köln 1989. – Oliver Kühschelm: F. S. (1811–1886), Politiker u. Schriftsteller. In: Gäste – Große Welt in Bad Vöslau [Ausstellungskat.]. Hg. Otmar Rychlik. Bad Vöslau 1994, S. 331–339. – F. Fellner: F. S. In: ÖBL. – Lothar Höbelt: F. S. In: NDB. Wilhelm Haefs / Red.
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Schussen, Wilhelm, eigentl.: W. Frick, * 11.8.1874 Kleinwinnaden/Gemeinde Bad Schussenried, † 5.4.1956 Tübingen; Grabstätte: ebd., Stadtfriedhof. – Lyriker, Erzähler, Romancier. Der Sohn eines Bauern u. Gastwirts war zunächst Volksschullehrer, nach weiteren Studien Lehrer am Realgymnasium in Schwäbisch Gmünd. Als Lektor u. schließlich freier Schriftsteller lebte er in verschiedenen süddt. Städten, ehe er sich Ende der 1930er Jahre endgültig in Tübingen niederließ. . Sein Pseudonym wählte er nach dem Fluss Schussen, der nahe seinem Geburtsort entspringt. S. verfasste schon als Kind Gedichte; die Lyrik der Bände Heimwärts (Stgt./Bln. 1913) u. Das war mein Gang (Stgt. 1921) ist schlicht in Form u. Aussage. S.s erste Buchveröffentlichung, Vinzenz Faulhaber (Stgt./Lpz. 1907), ist ein moderner, volkstüml. Schelmenroman. Er ist charakteristisch für S.s weiteres Schreiben: einfache, humorvolle Schilderung der schwäb. Heimat, wobei kauzige Figuren immer wieder im Zentrum stehen. Weitere Werke: Meine Steinauer. Stgt./Lpz. 1908 (R.). – Johann Jakob Schäufeles philosoph. Kuckuckseier. Ebd. 1909 (Betrachtungen). – Gildegarn. Heilbr. 1911 (R.). – Höschele der Finkler. Stgt. 1918 (E.en). – Der rote Berg. Ebd. 1918 (R.). – Erste Liebe. Ebd. 1919 (E.en). – Die schöne Witwe. Ebd. 1922 (N.n). – Die span. Reise. Ein Schelmenroman u. ein halber. Ebd. 1927. – Die Gesch. des Apothekers Johannes. Freib. i. Br. 1935 (R.). – Aufruhr um Rika. Roman vom Bodensee. Bln. 1938. – Tübinger Sinfonie. Reutl. 1949 (Ess.s). – Anekdote meines Lebens. Ravensburg 1953 (autobiogr. E.en). Literatur: Susanne Lange-Greve: Wundersamer blauer Spiegel. W. S. 1874–1956. Schwäbisch Gmünd 2004. Walter Olma
Schuster, Emil, * 4.2.1921 Schifferstadt. – Erzähler. S. stammt aus einer Bauernfamilie in der Rheinpfalz. Er ging nach Schulbesuch u. Abitur in Speyer 1940 als Freiwilliger zur Luftwaffe. Als Pilot nahm er in einer Sturzkampffliegerstaffel am Zweiten Weltkrieg teil. Nach Entlassung aus der Gefangenschaft studierte er an einer Pädagogischen Hoch-
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schule u. wurde Volksschullehrer in einem Gebirgsdorf, später Realschullehrer in Schifferstadt. Von 1966 bis 1980 war er Leiter der Anne-Frank-Realschule in Ludwigshafen. S. debütierte 1958 bei Hanser mit dem autobiogr. Kriegsroman Die Staffel (Mchn., Lizenzausg. Bln. 1991). Der Roman schildert aus wechselnden Perspektiven zwei Tage an der Ostfront. Luftkämpfe, Bombardements, der Dienstbetrieb auf dem Flugplatz, Gespräche u. Reflexionen der Figuren wechseln sich ab. S. erzählt in nüchternem Ton, enthält sich jeder Wertung. Die nackte Darstellung der Abschüsse u. tödl. Unfälle, von Lazarettszenen u. Techniken zur Verdrängung der Angst beugen ebenso wie die zur Empfindung von kosm. Finsternis, Gottverlassenheit u. Todesnähe gesteigerten Innenansichten der Figuren jeder Heroisierung des Krieges vor. Das Gerücht über eine Massenerschießung von Juden durch die SS bei Minsk verschärft bei Unteroffizier Kroll, der am deutlichsten die Züge von S. trägt, die Frage nach der Legitimität des eigenen Tuns. S. hat sich dieser Frage in großem zeitl. Abstand in seinem Buch Die Leidenschaft am Leben zu bleiben (Wiesb./Mchn. 1987) gestellt. Er zeigt sich hier als typischer Vertreter einer Generation, die in das »Dritte Reich« hineinwuchs u. die Pflicht zum Gehorsam internalisierte. Hinzu kamen die Faszination der Technik, der Reiz des Fliegens u. eingestandenermaßen eine vom angebl. »Müssen« gedeckte »böse Lust, weh zu tun, zu vernichten«. Die hier aufscheinende Selbstkritik wird aber durch den Verweis auf die seinerzeit »tollwütige Zivilisation« relativiert. Stilistisch fällt an S.s Rechenschaftsbericht die permanente Leseransprache auf, welche die eigene Handlungsweise im Krieg den Nachgeborenen erklären soll, dabei jedoch ständig in Rechtfertigungsmuster verfällt. Bezeichnend ist auch, dass S. das Thema Judenverfolgung nur ganz oberflächlich berührt. Der Roman Randgänge (Mchn. 1960) spielt in einem Ort namens Bergdorf, wo ein 30jähriger Lehrer eine Stelle antritt. Seine Person wird mit einer Reihe von Figurenporträts, die einen repräsentativen Querschnitt der Dorfbevölkerung ergeben, lose verknüpft. Eheprobleme, Krankheiten, unge-
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wollte Schwangerschaft u. ä. Alltagssorgen führen hinter die kleinbürgerl. Fassade. In nicht wenigen Fällen ist der Verlust des im Krieg gefallenen Sohnes Ursache für die aus der Balance geratenen innerfamiliären Beziehungen. Die darauf folgende lange Erzählung Der Schatten (Kaiserslautern 1964) schließt thematisch an Randgänge an. Der Dorflehrer Hans hat geheiratet. Das Paar möchte ein Kind, aber seine junge Frau Maria verliert es im sechsten Monat. Kurz danach treten bei ihr Lähmungserscheinungen u. Schwindel auf. Hans investiert viel Kraft in ihre Pflege, macht ihr immer wieder Mut, selbst dann noch, als ihn sein Studium medizinischer Literatur zu der Erkenntnis geführt hat, dass sie unter MS (multipler Sklerose) leidet. Die Erzählperspektive ist durchgehend diejenige des Mannes, S. verwendet eine kunstlose Alltagssprache mit vielen Dialogen. Die letzten Kapitel von Der Schatten hat er in geraffter Form u. d. T. Multiple Sklerose in den Erzählband Drei Frauen (Landau 1982) wieder aufgenommen. Die beiden anderen darin enthaltenen Texte, in denen S. auf die Figur Kroll zurückgreift, sind öde Midlife-Crisis-Geschichten. Die Füße im Feuer (Speyer 1993) enthält Episoden aus dem Schulalltag. Neben mehreren Förderpreisen erhielt S. 1992 den Pfalzpreis für Literatur. Weiteres Werk: Der Schelius. Landau 1991 (R.). Literatur: Curt Hohoff: Nachtjäger u. Bombenflieger. In: SZ, 6.12.1958. – Friedrich Sieburg: Im Fadenkreuz. In: FAZ, 17.1.1959. – Günter Blöcker: Notizbuch eines jungen Mannes. In: FAZ, 28.1.1961. – Marcel Reich-Ranicki: E. S. ›Randfiguren‹. In: Die Zeit, 17.3.1961. Jürgen Egyptien
Schuster, Sibylla, geb. Neithard, * 5.2. 1639 Memmingen, † 19.5.1685. – Verfasserin eines Versdramas. Die Tochter eines Memminger Goldschmieds u. Siegelschneiders war, wie ihr Gemahl, der Pfarrer u. Dichter Martin Schuster, in seiner Biografie der S. betont, ihr Leben lang geistig rege u. lernbegierig. Das wichtigste ihrer Werke ist das in verschiedenen Versarten verfasste Drama Verkehrter bekehrter und wider bethörter Ophiletes (Hg. Martin Schuster. Oet-
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tingen 1685). Darin begegnet Ophiletes, ein junger Kaufmannsdiener aus Memmingen, am St. Stephanstag 1646 dem verlarvten Teufel. Diesem verspricht er seine Seele u. erhält als Gegenleistung 20 lustvolle Erdenjahre zugesprochen. Am Ende der Frist erzählt Ophiletes seiner klugen Frau die Geschichte, u. sie erwirkt seine Freiheit. Ophiletes verfällt jedoch wiederum dem Teufel u. flüchtet aus seiner Heimat. Das Ende bleibt offen. S. hat auch Gelegenheitsgedichte geschrieben. Kurz nach Vollendung ihres Dramas erlag sie einer langwierigen Krankheit. Weiteres Werk: Freuden-Gespräch der NekkerNymphen mit denen Wernitz- u. Eger-Göttinnen, uber die hoch-fürstl. Oettingische glücklichst vollzogene Vermählung. o. O. 1665. Literatur: Johann Andreas Muntscher: Eine Angst- Trost- u. Betrübnus- Erquickungs-volle Seele [...]. Oettingen 1685 (Leichenpredigt, mit ihrem dramat. Werk gebunden). – H. Holstein: Martin S. In: ADB. – Jean M. Woods u. Maria Fürstenwald: Schriftstellerinnen, Künstlerinnen u. gelehrte Frauen des dt. Barock. Ein Lexikon. Stgt. 1984, S. 112. – Linda Maria Koldau: Frauen, Musik, Kultur. Ein Hdb. zum dt. Sprachgebiet der Frühen Neuzeit. Köln u. a. 2005, S. 399. – Ursula HinskeGengnagel: S. S., eine Barockdichterin aus Memmingen u. ihr Tauerspiel ›Verkehrter Bekehrter und wider bethörter Ophiletes‹ v. 1685. In: Memminger Geschichtsblätter 2008, S. 29–42. Jean M. Woods / Red.
Schutting, Julian, vormals Jutta, * 25.10. 1937 Amstetten/Niederösterreich. – Lyriker u. Prosaist. Nach einer Ausbildung in Fotografie an der Graphischen Lehr- u. Versuchsanstalt in Wien studierte S. dort Geschichte u. Germanistik, wurde über ein rechtshistor. Thema promoviert u. unterrichtete seit 1965 an einer Höheren Technischen Lehranstalt in Wien. Anlässlich seiner 1989 vorgenommenen Geschlechtsumwandlung ließ er über den Residenz Verlag erklären, er suche mit diesem Schritt »Übereinstimmung mit seinem lebenslangen Selbstgefühl«. S. lebt als freier Schriftsteller in Wien. Der seit 1973 der Grazer Autorengemeinschaft als Mitgl. verbundene S. trat im selben Jahr mit zwei Publikationen an die Öffent-
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lichkeit. Dabei eröffneten der Lyrikband in der Sprache der Inseln (Salzb.) u. der Prosaband Baum in O. (Wien) sowie, verstärkt poetologisiert, der Lyrikband Lichtungen (Salzb. 1976) mit linguistischen Sprachspielen u. subjektiv gewählten grammat. Variationen ein eigenwilliges Verständnis von Literatur, in dem S.s »Privatgrammatik« als treibende Kraft für eine verändernde Weise des Begreifens steht; das sprachl. Zeichensystem ist Ausgangspunkt der Reflexion u. Welterfahrung. Auch in späteren Texten wie der Prosasammlung Tauchübungen (Salzb. 1974) setzte sich S. konsequent über ein tradiertes Verständnis von Syntax u. Semantik hinweg. Charakteristisch für seinen frühen Prosastil u. markant ausgebildet in dem Band Reisefieber (Salzb./ Wien 1988) ist der Satzbeginn ohne Initial u. dessen Ende ohne Punkt. Die von S. bevorzugten Infinitiv- u. Partizipialkonstruktionen finden sich in oft seitenlangen, wiederholt von neuen Gedankengängen durchbrochenen Satzgebilden, deren sperriger Fragmentcharakter den Leser nicht selten ratlos zurücklässt. Immer wieder fragt S. in seinen Texten nach der Identität von Menschen, Sachen u. Namen. Das gilt sowohl für die nicht selten makabren Kabinettstücke seines Erzählbandes Parkmord (Salzb. 1975), v. a. aber auch für die – nach dem schwermütig artifiziellen Band Salzburg retour (Graz/Wien/Köln 1978) – erste längere geschlossene Erzählung/Prosa Der Vater (Salzb./Wien 1980). Mit Hilfe von Erinnerungen, Visionen u. bildhaften Assoziationen rekonstruiert S. die Person des verstorbenen Vaters in jenen drei Tagen zwischen Tod u. Begräbnis. Das zwiespältige Gefühl der Tochter gegenüber den archaischen u. nicht selten brutalen Verhaltensweisen des Tierarztes bleibt bei aller persönl. Betroffenheit der erzählerischen Distanz verpflichtet u. vermeidet, ähnlich wie im Liebesroman (Salzb./Wien 1983), emotionale Preisgabe an das Erlebte. Anders geraten Bild, Kindheitserinnerungen u. emotionale Beteiligung im späteren Text Der Tod meiner Mutter (ebd. 1997), wie sich auch die Hundegeschichte (ebd. 1986) als positiver Gegenentwurf zum Liebesroman erweist. Markant scheint hier auch der Titel des ersten Buches, das unter
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dem Namen Julian S. erschien: Aufhellungen (ebd. 1990). Im wenig später veröffentlichten Prosagedicht Wasserfarben (ebd. 1991), einer poetischen Beschreibung von Eindrücken vom Salzkammergut bzw. von Reflexionen über diese österr. Gegend, spielt die Landschaft eine wichtige Rolle wie später im Band Auf der Wanderschaft (Salzb./Wien 2009). Wiederholt befragt S. heimatl. Landschaften u. setzt sich mit Vergangenheit u. Erinnern auseinander, etwa im Lyrikband Dem Erinnern entrissen (ebd. 2001) oder programmatisch in seinen Überlegungen »Über das Nachleben ungewollter Bilder«, Jahrhundertnarben (Salzb./Wien 1999). Hatte S. schon mit dem Band Das Herz eines Löwen (Salzb./Wien 1985) »Betrachtungen« über Literatur u. Ästhetik als Sammlung von Prosastücken vorgelegt, wandte er sich in seinen Grazer »Vorlesungen zur Poetik« Zuhörerbehelligungen (1989/90; gedruckt Graz/ Wien 1990) direkt der Frage nach Produktion u. Gelingen von Gedichten, dem Verhältnis von Form u. Inhalt, Dichtung u. Reflexion, zu. S. setzt seine Überlegungen in den poetolog. Essays der Leserbelästigungen (ebd. 1993), die 1990 nur teilweise als »Wiener Vorlesungen zur Literatur« vorgetragen wurden, genauso fort wie in den »Sprachspaltereien« Der Winter im Anzug (Graz/Wien/ Köln 1993) u. im auf phys. wie poetolog. Positionierungen abstellenden Band Am Schreibplatz (Salzb./Wien 2010), der nicht nur Schreibsituation u. schriftstellerisches Rollenverständnis beleuchtet, sondern diese mit Sprachreflexion u. S.s wiederkehrenden Themen Liebe, Musik u. Wanderschaft sowie mit traumatischen Bildern des Vergangenen, der eigenen Kindheit wie der NS-Zeit, u. einem neuen, humorvoll-distanzierten Blick verbindet. Trotz Kritik an der Intellektualität u. frühen grammat. Radikalität galt S. bald als eine der interessantesten Stimmen der österr. Gegenwartsliteratur, stand zgl. aber abseits von Prominenz u. den Zentren des Literaturbetriebs. Er wurde früh mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet, erhielt u. a. 1972 den Förderungspreis des Österreichischen Staatspreises, 1984 den Anton-WildgansPreis u. 1989 den Georg-Trakl-Preis für Lyrik.
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Seit den 1990er Jahren wurde es stiller um S. Schwab, Gustav (Benjamin), * 19.6.1792 u. der frühen auszeichnenden Anerkennung Stuttgart, † 4.11.1850 Stuttgart; Grabsteht eine späte u. punktuelle Rezeption stätte: ebd., Hoppenlaufriedhof. – Lyridurch die Literaturwissenschaft gegenüber – ker, Nachdichter, Publizist, Herausgeber. der erste Sammelband zu S.s Werk, 2000 in engl. Sprache erschienen, fand kaum Ver- Als das sechste von sieben Kindern des Karlsschule-Professors u. Geheimen Hofrats breitung. Johann Christoph Schwab u. der KaufWeitere Werke: Sistiana. Salzb./Wien 1977 mannstochter Friederike Rapp wuchs S. in (E.en). – Steckenpferde. Wien 1977 (P.). – Am Morgen vor der Reise. Die Gesch. zweier Kinder. der christlich-humanistischen Atmosphäre Salzb./Wien 1978. – Der Wasserbüffel. Geschichten des schwäb. Bildungsbürgertums auf. Frühe aus der Provinz. Ebd. 1981. – Liebesgedichte. Ebd. Einflüsse übten zwei Onkel auf ihn aus, der 1982 (L.). – Traumreden. Ebd. 1987 (L.). – Find- kunstliebende Gottlob Heinrich Rapp u. der hunde. Stgt. 1988 (P.). – Flugblätter. Salzb. 1990 Bildhauer Dannecker. Nach dem Besuch (L.). – Gralslicht. Salzb./Wien 1994 (Theater-Libr.). des Stuttgarter Gymnasiums studierte – Aufnachtung. Einem Holzschnitt u. Zeichnungen S. 1809–1814 in Tübingen zwei Jahre Philov. Reimo Wukounig. Wien 1994 (L.). – Katzentage. logie u. Philosophie, dann Theologie am Salzb./Wien 1995 (P.). – Das Eisherz sprengen. Evangelischen Stift. Gewandt, geistig beSalzb. 1996 (L.). – Aufstörung. Hbg. 1998 (Prosagedichte). – Rohübersetzung. Mondscheiniges über weglich, liebenswürdig u. gesellig, war er der die Liebe. Graz/Wien/Köln 1999 (L.). – Gezählte Mittelpunkt des Studentenkreises »RomanTage. Notizen. Salzb./Wien/Ffm. 2002 (P.). – Was tika«. Neben seinen Freunden Uhland u. schön ist. Nachw. v. Christiane Zintzen. Graz/Wien Kerner gilt S. als die dritte große Gestalt der 2002 (P.). – Metamorphosen auf Widerruf. Über Tübinger Romantik. Stark geprägt von deren Musik. Salzb./Wien 2003. – Nachtseitiges. Salzb. Themen u. Formen, debütierte S. mit Ge2004 (P.). – Tanzende. Ein Dilettant über eine dichten in den beiden Sammelwerken der schöne Kunst. Graz/Wien 2005. – Übereinstimschwäb. Romantik, dem »Poetischen Almamungen. St. Pölten/Salzb. 2006 (P.). – Zu jeder nach für das Jahr 1812« (Heidelb.) u. dem Tageszeit. Salzb./Wien 2007 (R.). – Roberts Donauschlepper. Weitra 2007 (E.). – Katholisch ge- »Deutschen Dichterwald« (Tüb. 1813), bei blieben. Drei Texte. Innsbr. 2007. – An den Mond. deren Herausgabe er assistierte. Eine mehrmonatige Bildungsreise brachte ihn 1815 in St. Pölten/Salzb. 2008 (L.). Literatur: Herbert Herzmann: Erinnerungs- Verbindung mit Exponenten des geistigen übungen – zu den polit. Gedichten v. J. S. In: MAL Lebens: in Nürnberg mit Gotthilf Heinrich 25 (1992), H. 2, S. 57–70. – Gerhard Zeillinger: Schubert, auf der Bettenburg mit Christian Kindheit u. Schreiben. Zur Biogr. u. Poetik des Frhr. von Truchsess u. Rückert, in Weimar Schriftstellers J. S. Stgt. 1995. – Kurt Bartsch: ›Wie mit Goethe u. Charlotte von Schiller, in Berlin in einem Laboratorium‹. Beobachtungen zur mit Chamisso, Tieck, E. T. A. Hoffmann, Kurzprosa v. J. S. In: Literaturkritik u. erzähleriVarnhagen, Schleiermacher, Jahn, Franz sche Praxis. Hg. H. Herzmann. Tüb. 1995, Horn, Fouqué u. anderen, in Hamburg mit S. 161–170. – Barbara Molinelli-Stein: J. S. oder: Von der Wahrheit der (Sprach-)Kunst. In: Wahrheit David Assur (später Assing) u. Perthes, in u. Wort. FS Rolf Tarot. Hg. Gabriela Scherer. Bern Kassel mit den Brüdern Grimm. Nach einer Tätigkeit als Repetent am Tü1996, S. 323–356. – Critical Essays on J. S. Hg. Harriet Murphy. Riverside/Calif. 2000. – Lutz Ha- binger Stift trat S. 1818 eine Stelle als Progestedt: J. S. In: LGL. – Karol Sauerland u. Chris- fessor für Latein am Stuttgarter Obergymnatiane Freudenstein: J. S. In: KLG. sium an u. heiratete Sophie Gmelin, mit der Andrea Stoll / Stefan Alker er drei Söhne u. zwei Töchter hatte. Während der 19 Jahre seines ersten Stuttgarter Aufenthalts entfaltete er eine umfassende Tätigkeit als Autor, Herausgeber, Redakteur, Ratgeber u. Rezensent u. wurde, mit Kontakten im ganzen dt. Sprachraum u. als Berater des Verlegers Cotta, zum Mittelpunkt des literar.
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Lebens in Stuttgart u. zu einem literar. Mittler von nationaler Bedeutung. S. gab ein Neues deutsches allgemeines Kommers- und Liederbuch (Tüb. 1815) heraus, edierte u. kommentierte Fleming (Stgt. 1823), Hölderlin (ebd. 1826), Wilhelm Müller (Lpz. 1830), Hauff (Stgt. 1830 f.), Horn (Lpz. 1841), Die Schweiz in ihren Ritterburgen und Bergschlössern (Chur 1828–39) u. zwei Mustersammlungen, Fünf Bücher deutscher Lieder und Gedichte (Lpz. 1835) u. Die deutsche Prosa von Mosheim bis auf unsere Tage (Stgt. 1842). Seit 1827 war er Mitherausgeber der Übersetzungen griech. u. röm. Autoren im Metzler Verlag, von Jan. 1828 bis 1837 redigierte er das Literaturblatt des »Morgenblatts«, zusammen mit Chamisso führte er die Redaktion des »Deutschen Musenalmanachs« 1833–1836 u. 1838. Er förderte den literar. Nachwuchs, u. a. Platen, Lenau, Mörike, Freiligrath, Kurz, Waiblinger, Anastasius Grün, Paul u. Gustav Pfizer. Er sammelte für das Stuttgarter Schiller-Denkmal u. hielt bei der Einweihung 1839 die Festrede. Seine sorgfältigen u. fairen Rezensionen erschienen vorwiegend in den »Blättern für literarische Unterhaltung« (1825–45), den »Heidelberger Jahrbüchern« (1834–42), dem »Morgenblatt« u. Menzels »Literaturblatt«. Einige wichtige Rezensionen (z. B. zu Gedichten Hölderlins) sind zusammengefasst in S.s Kleinen prosaischen Schriften (Hg. Carl Klüpfel. Freib. i. Br./Tüb. 1882). Ins europ. Ausland unternahm S. mehrere Reisen, 1827 nach Paris, 1841 nach Stockholm u. 1845 nach Wien; zudem besuchte er Oberitalien u. die Schweiz. Zunächst nationalliberal u. Anhänger des dt., griech. u. poln. Befreiungskrieges, wurde S. zunehmend konservativer; 1848/49 neigte er der kleindt. Lösung zu. Die polit. Spannungen in der Stuttgarter Gesellschaft, die literar. Fehden des Jungen Deutschland u. sein Ärger über David Friedrich Strauß’ Buch Das Leben Jesu veranlassten S., 1837 ein Pfarramt im Dorf Gomaringen bei Tübingen anzutreten. Mitte 1841 wurde er Stadtpfarrer (Superintendent) in Stuttgart, 1842 Dekan u. 1845 als Oberkonsistorialrat u. Oberstudienrat Leiter der höheren Schulen in Württem-
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berg. 1847 erhielt er von der Universität Tübingen den Ehrendoktor der Theologie. S.s heute weitgehend als epigonal geltenden Gedichte (2 Bde., Stgt./Tüb.) – Lieder, Sonette, Balladen, Romanzenzyklen – erlebten 1828–1851 vier Auflagen (Neuausg. hg. von Gotthold Klee. Gütersloh 1882); u. a. übersetzte er metrisch Lamartines Poetische Betrachtungen (Stgt./Tüb. 1826). Sein umfangreiches Prosawerk, das wie die Lyrik romant., klass. u. biedermeierl. Züge verbindet, umfasst Landschaftsbeschreibungen (genaue Topografie mit geschichtl. Exkursen sowie eingestreuten Sagen u. Gedichten), Neubearbeitungen älterer Literatur im Sinne des bürgerl. 19. Jh., einschließlich der Bearbeitungen fremdsprachiger Literatur (Mickiewicz, Lamartine, Hugo), Literaturhistorie u. Biografie, Literaturkritik u. Theologie. Von den Zeitgenossen (auch Goethe) wurde S. als literar. Mittler geschätzt, von vielen auch als Dichter anerkannt; heute ist sein vielgestaltiges Werk nur noch wenigen bekannt. Zwei seiner Gedichte haben in Anthologien überlebt (Das Gewitter, Der Reiter und der Bodensee), eines in den Kommersbüchern (Lied eines abziehenden Burschen). Ungebrochen ist die Popularität von S.s Nacherzählungen der Schönsten Sagen des klassischen Altertums (3 Bde., Stgt. 1838–40) u. der Deutschen Volksbücher (2 Bde., Bln. 1836/37); sie haben bis heute unzählige Auflagen erlebt. Wissenschaftlich ist für S. noch fast alles zu leisten; es fehlen eine moderne, umfangreiche Biografie u. eine vollständige Bibliografie sowie eine krit. Werkedition u. eine Sammlung seiner weitgespannten Korrespondenz, von der nur ein Bruchteil zerstreut veröffentlicht ist. Weitere Werke: Briefe: Karl Walter (Hg.): Die Brüder Stöber u. G. S. Briefe einer elsässischschwäb. Dichterfreundschaft. Ffm. 1930. – Landeskundliche Werke: Die Neckarseite der Schwäbischen Alb. Stgt. 1823. – Der Bodensee nebst dem Rheinthale [...]. Ebd. 1827. – Wanderungen durch Schwaben. Lpz. 1837. – Bearbeitungen: Rollenhagen: ›Der Froschmäuseler‹. Tüb. 1819. – Die Legende v. den Hl. drei Königen v. Johann v. Hildesheim. Stgt./Tüb. 1822. – Literaturhistorie: Schillers Leben. Stgt. 1840 (S. sucht hier Schiller für das positive Christentum zu retten). – Wegweiser durch die Litteratur der Deutschen. Ein Hdb. für Laien (zus. mit Carl Klüpfel). Lpz. 1846. – Theologie: Die Kon-
Schwab troverse des Pietismus u. der spekulativen Theologie in Württemberg. In: DVjs 4 (1840). Literatur: Bibliografie: Marek Halub: G.-S.-Bibliogr. 1945–1990. In: Suevica 6 (1991), S. 151–168. – Weitere Werke: Carl Klüpfel: G. S. Lpz. 1858. – Christoph Theodor Schwab: G. S.s Leben. Freib. i. Br./Tüb. 1883. – Hermann Fischer: G. S. In: ADB 33 (1891). – Werner Schulze: G. S. als Balladendichter. Lpz. 1914. – Hans Widmann: G. S., der Verf. des ersten Albführers. Tüb. 1960. – Bernhard Zeller: G. S. im literar. Leben seiner Zeit. In: Ztschr. für württemberg. Landesgesch. 20 (1961), S. 268–289. – G. S. 1792–1850. Aus seinem Leben u. Schaffen. [Ausstellungskat.] Bearb. v. Brigitte Schillbach u. Eva Dambacher. Marbach am Neckar 1992. – M. Halub: Johann Wolfgang v. Goethe u. G. S. im gegenseitigen Blickfeld. In: Goethe u. die Romantik. Hg. Marian Szyrocki. Wrocl/aw 1992, S. 75–89. – Ders.: Das literar. Werk G. S.s. Wrocl/aw 1993. – Maria-Verena Leistner: Wilhelm Müller u. G. S. Zur Gesch. einer Dichterfreundschaft. In: JbDSG 43 (1999), S. 9–32. – Armin Gebhardt: Schwäb. Dichterkreis. Uhland, Kerner, S., Hauff, Mörike. Marburg 2004. – Nikolaus Gatter: G. S. In: NDB. – André Schnyder: Ein Volksbuch machen. Zur Rezeption des Melusine-Romans bei G. S. u. Gotthard Oswald Marbach. In: Euph. 103 (2009), S. 327–368. Hartmut Fröschle / Red.
Schwab, Werner, * 4.2.1958 Graz, † 1.1. 1994 Graz. – Dramatiker, Prosaautor u. Essayist. Der aus einfachen Verhältnissen stammende S. besuchte die Kunstgewerbeschule in Graz u. studierte 1978–1982 Bildhauerei an der Akademie der Künste in Wien (bei Bruno Gironcoli). Zwischen 1981 u. 1989 lebte er auf einem abgelegenen Bauernhof in der Südoststeiermark, wo er sowohl an »verwesenden Skulpturen« aus Kadavern u. Fleisch als auch an ersten Prosa- u. Theatertexten arbeitete. Seine Karriere als Dramatiker begann mit der von ihm selbst inszenierten Aufführung seines Stücks Das Lebendige ist das Leblose und die Musik 1989 in einer Grazer Diskothek. S.s schnellen Aufstieg zu einem der meistgespielten Dramatiker der ersten Hälfte der 1990er Jahre begründeten jedoch v. a. die Stücke Die Präsidentinnen (Urauff. Wien 1990), ÜBERGEWICHT, unwichtig: UNFORM (Urauff. Wien 1991) u. VOLKSVERNICHTUNG ODER MEINE LEBER IST SINNLOS (Urauff. München
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1991), die zusammen mit MEIN HUNDEMUND (Urauff. Wien 1992) die Sammlung der 1991 veröffentlichten Fäkaliendramen (Graz/Wien) bilden. Rekrutiert sich deren Personal vornehmlich aus Angehörigen der untersten sozialen Schichten, so spielen die 1992 publizierten Königskomödien (ebd.) im Mittelschicht- u. im Künstlermilieu. Neben diesen beiden zu Lebzeiten veröffentlichten Sammlungen plante S. die Publikation eines Bandes der von ihm so genannten ›Coverdramen‹, mehr oder weniger freien Improvisationen über Stücke anderer Autoren (Schnitzler, Goethe, Shakespeare). Eine in der Auswahl nicht ganz konsequent S.s Plänen folgende Publikation kam postum u. d. T. Dramen III 1994 (ebd.) zustande. Zu den buchförmigen Publikationen zu Lebzeiten zählen weiterhin der Essay Der Dreck und das Gute. Das Gute und der Dreck (ebd.) sowie das Prosaexperiment Abfall, Bergland, Cäsar. Eine Menschensammlung (Salzb./Wien), beide 1992 veröffentlicht. 1996 kam nach längeren gerichtl. Auseinandersetzungen mit den Erben Arthur Schnitzlers das ›Cover‹ von dessen Reigen heraus: DER REIZENDE REIGEN nach dem Reigen des REIZENDEN HERRN ARTHUR SCHNITZLER (Graz/Wien 1996; Urauff. Zürich 1995). Gegen Ende seines Lebens entwickelte S. verstärktes Interesse an der selbstständigen Inszenierung seiner Stücke; dabei arbeitete er u. a. mit FM Einheit, dem Schlagzeuger der Punk-Gruppe »Einstürzende Neubauten«, zusammen. Die Rezeptionsgeschichte von S.s Œuvre ist geprägt durch den unvermittelt einsetzenden Erfolg seiner Stücke auf deutschsprachigen Bühnen im Jahr 1991 sowie durch den ebenso plötzl. Abbruch seiner Karriere durch den frühen u. unvorhersehbaren Tod drei Jahre später. Zu Lebzeiten gelang es S., durch die reflektierte Etablierung einer medientaugl. Autor-Imago den Erfolg der Theaterstücke zu befördern u. Kultstatus zu erlangen. Provokativ an den Texten wirkte die exzessive Thematisierung von Sex, Gewalt u. Fäkalem. Inszenierungen von Stücken S.s wurden zu den Mülheimer Theatertagen u. zum Berliner Theatertreffen eingeladen; S. wurde von der Zeitschrift »Theater heute« 1991 zum Jungdramatiker des Jahres u. 1992 zum Dramati-
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ker des Jahres gekürt. Nach dem Tod wurden in schneller Folge die bis dahin unaufgeführten Stücke inszeniert; einige Dramen wurden in andere Sprachen übersetzt. Seit dem Ende der 1990er Jahre werden S.s Werke auf dt. Bühnen deutlich weniger gespielt. Neue Perspektiven der S.-Rezeption eröffnet die seit 2007 im Grazer Literaturverlag Droschl erscheinende, von Ingeborg Orthofer, die mit S. 1982–1991 verheiratet war, herausgegebene, auf 11 Bände angelegte Werkausgabe, einsetzend mit dem aus dem Nachlass edierten, 1988 verfassten Roman Joe Mc Vie alias Josef Thierschädl (Graz/Wien 2007). Verschiedene Aspekte von S.s Schreiben werden in der Forschung immer wieder hervorgehoben. Als zentraler Aspekt gilt die von S. kreierte Kunstsprache, das ›Schwabische‹, die charakterisiert ist durch eine Kombination von Elementen der Amts- u. der Kindersprache, durch dominierende Passivkonstruktionen, die Verwendung von Oxymora u. Tautologien, die kreative ›Ergänzung‹ von Verben durch Präpositionen sowie die Personifikation von Körperteilen u. Emotionen (vgl. Preece). Strittig ist die Frage, wie S.s Literatur zwischen den Polen mimetisch-sozialkrit. u. amimetisch-sprachreflexiver Dichtung zu lokalisieren ist. Die tragikomischgroteske Demonstration, dass das soziale Miteinander durchgängig durch Gewalt u. Vereinzelung geprägt ist, hat in vielen Dramen eine gesellschaftskrit. Zielrichtung. Dabei werden Figuren entworfen, die keine psychologisch motivierten Charaktere sind, sondern entindividualisierte ›Durchlauferhitzer‹ für gesellschaftlich vorgegebenes, von latenter Gewalttätigkeit u. insbes. nationalsozialistischer Ideologie durchsetztes Sprachmaterial. Der Mensch wird als irrationales, amoralisches Körperwesen dargestellt, dessen Kommunikation nicht von ihm selbst beherrscht, sondern von einem ›Überbau‹ vorgegeben wird. Dabei übt die Form der Kunstsprache gegenüber dem Dargestellten eine subversiv-verfremdende Wirkung aus. Obwohl der Autor zu Lebzeiten sowie seine Verehrer z. T. das Image des von niemandem beeinflussten, genialischen Dichters lanciert haben, wurde auch auf zahlreiche unverkennbare Traditionsbezüge von S.s Œuvre
Schwab
hingewiesen: Verwandtschaft mit den Poetologien von Autoren wie Thomas Bernhard u. Elfriede Jelinek prägen die Texte ebenso wie die Schriften Antonin Artauds u. die Traditionen des Volkstheaters, des absurden Theaters, der Sprachkritik der Moderne sowie der Popliteratur. Weitere Werke: SCHWABTexte. ORGASMUS : KANNIBALISMUS. Sieben Liebesbriefe an die eigene Beschaffenheit. In: SCHWABSammlung. [Ausstellungskatalog]. Hg. Ingeborg Orthofer u. Peter Weibel. Graz/Wien 1996 [der Schuber enthält zudem: schwabton. Jennifer Minetti liest W. S. Auszüge aus ORGASMUS : KANNIBALISMUS; 2 Postkartenbögen; Über SCHWABTexte]. – in harten schuhen. ein handwerk. Graz/Wien 1999. Literatur: Jutta Landa: ›Königskomödien‹ oder ›Fäkaliendramen‹? Zu den Theaterstücken v. W. S. In: MAL 26 (1993), H. 3–4, S. 215–229. – Günther A. Höfler: ›Stop making sense‹. W. S.s Pop-Stück ›Mesalliance aber wir ficken uns prächtig‹ – ein postmodernes Volksstück? In: Jenseits des Diskurses. Lit. u. Sprache in der Postmoderne. Hg. Albert Berger u. Gerda Elisabeth Moser. Wien 1994, S. 323–336. – Helmut Schödel: Seele brennt. Der Dichter W. S. Wien 1995. – Stephan Zimmermann: W. S. In: KLG. – Julian Preece: The Use of Language in the Plays of W. S. Towards a Definition of ›Das Schwabische‹. In: Contemporary German Writers, Their Aesthetics and Their Language. Hg. Arthur Williams u. a. Bern u. a. 1996, S. 267–282. – Ingeborg Orthofer u. Stefan Schwar: W. S. (1958–1994). In: Dt. Dramatiker des 20. Jh. Hg. Alo Allkemper u. Norbert Otto Eke. Bln. 2000, S. 884–899. – Gerhard Fuchs u. Paul Pechmann (Hg.): W. S. Graz/Wien 2000 (Bibliogr. S. 293–364). – Richard Stradner: Punk::Schwab:Artaud oder Fick zurück was dich zufickt (die Sprache). In: ebd., S. 155–173. – Beate Hochholdinger-Reiterer: ›Das Theater als eine Art höherer Schrottplatz.‹ W. S.s Dramatik: Sinnverweigernder Nonsens oder versteckter Moralismus? In: Maske u. Kothurn 45 (2001), H. 3–4, S. 137–154. – Eva Wemme: W. S. In: LGL. – P. Pechmann: W. S. In: NDB. – Bernd Höfer: W. S. 1989–1991. Vom unbekannten Dichter zum anerkannten Dramatiker. Eine biogr. Erzählung. Wien 2008. – Ulrich Staehle: W. S. Der Aufstieg eines Theaterautors. Stgt. 2008. Dirk Werle
Schwabe von der Heide
Schwabe von der Heide, Ernst, * vor 1598 Danzig, † 4.6.1626 Danzig. – Lyriker.
658 Schlösser: Ronsard u. S. v. d . H. In: ebd. 6 (1899), S. 271–276. – Heiduk/Neumeister, S. 76, 215, 547. – Achim Aurnhammer: Neues vom alten E. S. v. d. H. Drei Sonette auf die Krönung des Kaisers Matthias (1612). In: Daphnis 31 (2002), S. 279–298. – Klaus Ley: Das Einleitungsgedicht zum ›Canzoniere‹ – dt. E. S. v. d. H.s Übertragung im Kontext der Petrarca-Rezeption. In: Studi italo-tedeschi/ Dt.-ital. Studien (angek.). Achim Aurnhammer
Der aus preuß. Adel stammende S. studierte bereits 1616 an der Universität Frankfurt/O., wie Einträge im Stammbuch des Andreas Lucae zeigen. Dort lernte ihn Martin Opitz kennen, dem wir die meisten Nachrichten über S. verdanken, da S. als Gewährsmann für die ›Opitzische Versreform‹ figuriert. So beruft sich Opitz in seiner programmat. Schrift Schwabe, Johann Joachim, * 29.9.1714 Aristarchus sive de contemptu linguae Teutonicae Magdeburg, † 12.8. (4.?) 1784 Leipzig. – (1617) auf S., um das Deutsche als konkur- Übersetzer, Herausgeber, Publizist. renzfähige Literatursprache zu erweisen, u. Der Sohn eines Juristen war einer der umzitiert neben kleineren Dichtungen ein bei- triebigsten u. vielseitigsten Publizisten der spielhaftes Sonnet von S.: Es ist freie Bearbei- Aufklärung. In Magdeburg geboren, wurde tung des Eingangsgedichts von Francesco ihm Leipzig zur Wahlheimat. Dort studierte Petrarcas Canzoniere. S.s »Carmina Germani- er, dort war er Privatlehrer u. Hofmeister, ca« von 1616, die Opitz im Aristarchus er- dort stieg er 1750 zum Kustos der Universiwähnt, sind wohl nicht »in den truck gegeben tätsbibliothek auf u. wurde 1765 a. o. Prof. worden« (Jesaias Rompler von Löwenhalt). für Philosophie. Das Todesdatum, wonach S. am 4.6.1626 Bekannt ist S. vor allem als Herausgeber durch den poln. Feldmarschall Stanislaus von der »Belustigungen des Verstandes und des Koniecpolski in Danzig »lebendig gespießet« Witzes« (Lpz. 1741–45. Mikrofiche-Ausg. worden sei, ließ sich bislang nicht archiva- Mchn. u. a. 1990–94), eines der wichtigsten lisch verifizieren. Erst vor einigen Jahren publizistischen Organe der Leipziger Aufwurden drei panegyr. Alexandrinersonette klärung. Obwohl von Gottsched initiiert, im Anhang eines Berichts der Kaiserkrönung druckte die Zeitschrift unter S.s Redaktion von Matthias 1612 entdeckt (in: Relatio Von der nicht nur polem. Artikel gegen Bodmer u. Wahl vnd Krönung Deß Allerdurchleuchtigsten [...] Breitinger, sondern auch krit. WortmeldunHerren Matthiae des Andern. Ffm. 1612, B 1–B gen von Carl Christian Gärtner, Johann Adolf 2). Der mit den Initialen »E.S.V.D.H. Borus- u. Johann Elias Schlegel, Gellert u. Zachariae, sus« unterzeichnete Anhang und die zu die- die sich später als Bremer Beiträger formell ser Zeit in Deutschland singuläre Form des von Gottsched lossagten. Ruhm erworben hat Alexandrinersonetts lassen keine Zweifel an S. weiterhin als Herausgeber von Reisebeder Autorschaft. Die sprachlich-metrisch vir- schreibungen sowie als Übersetzer von Voltuosen Sonette bezeugen, welch wichtigen taire u. Swift sowie von pädagog., geografiBeitrag S. zur Modernisierung der dt. Dich- schen u. naturwissenschaftl. Schriften. Viel tung zu Beginn des 17. Jh. geleistet hat. Arbeitskraft hat er in Gottscheds unvollenAusgaben: Martin Opitz: Ges. Werke, krit. Ausg. dete Literaturgeschichte gesteckt, wobei er Hg. George Schulz-Behrend. Bd. 1, Stgt. 1968, eigenverantwortlich den Part des Romans S. 70–75. – Aurnhammer 2002 (s.u.). – M. Opitz: übernommen hatte. Briefw. u. Lebenszeugnisse. Hg. Klaus Conermann Mit seiner Vielseitigkeit steht S. in der unter Mitarb. Harald Bollbuck. Bd. 1, Bln./New York 2009, S. 207–209 (Eintr. E. S. v. d. H. im Tradition eines bodenständigen Leipziger Polyhistorismus. Nicht zufällig war er es, der Stammbuch Lucae). Literatur: Paul Schultze: Martin Opitz u. E. S. 1747 Morhofs Polyhistor neu herausgab. S.s v. d. H. In: Archiv für Litteraturgesch. 14 (1886), zentrale Rolle für die aufklärerischen LiteraS. 241–247. – Max Rubensohn: E. S. v. d. H. In: turdebatten, in die er z. T. auch selbst komEuph. 1 (1894), S. 58–63, 384 f. – M. H. Jellinek: E. mentierend eingegriffen hat, sowie für die S. v. d. H. In: ebd. 3 (1896), S. 468 f. – Rudolf Umsetzung der Gottsched’schen Bühnen- u.
Schwabenspiegel
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Literaturreform lässt eine bibliografische Erfassung seiner zahlreichen Arbeiten wünschenswert erscheinen. Weitere Werke: Übersetzungen: Swift: AntiLongin, oder die Kunst in der Poesie zu kriechen [...]. Diesem ist bey gefüget Staats-Lügenkunst [...]. Lpz. 1734. – Addisons u. Steeles ›Spectator‹ (zus. mit Gottsched u. der Gottschedin). Lpz. 1739–43. – Voltaire: Zaïre. In: Dt. Schaubühne (1740). – Herausgabe: Allgemeine Historie der Reisen zu Wasser u. Lande [...]. Lpz. 1747. Literatur: Gustav Waniek: J. J. S. In: ADB. – Franz Ulbrich: Die Belustigungen des Verstandes u. des Witzes. Ein Beitr. zur Journalistik des 18. Jh. Diss. Lpz. 1911. – Andreas Dörfler, Hans Jürgen Höller u. Helmut Weiß: J. J. S. In: BBHS 8 (2005). – Herbert Schauer: ›Das pöbelhafteste Produkt der dt. Lit.‹. In: Zwischen Zettelkasten u. Internet. Hg. Manfred Knigge. Eutin 2005, S. 39–50. – HorstWalter Blanke: Wissen – Wissenserwerb – Wissensakkumulation – Wissenstransfer in der Aufklärung. Das Beispiel der Allgemeinen Historie der Reisen und ihrer Vorläufer. In: Das Europa der Aufklärung u. die außereurop. koloniale Welt. Hg. Hans-Jürgen Lüsenbrink. Gött. 2006, S. 138–156. Felix Leibrock / Kristin Eichhorn
Schwabenspiegel. – Spätmittelalterliches Rechtsbuch, um 1275. Der sog. S. wird in den Handschriften Kaiserliches Land- und Lehnrecht, Kaiserrecht u. Ä. genannt. Obwohl dies der Intention, eine allgemeine Grundlage für die Sicherung des Rechtsfriedens im Reich zu schaffen, sehr viel besser entspricht, hat sich doch der erstmals von Goldast (1609) gebrauchte Name durchgesetzt, der die Abhängigkeit des hochdt. S. von dem niederdt. Sachsenspiegel Eikes von Repgow betont. Diese ist zwar mit der Übernahme zahlreicher Bestimmungen aus dem Sachsenspiegel gegeben, doch hat der Stoff eine tiefgreifende Umgestaltung u. durch die Berücksichtigung des kaiserl. (d.h. römischen) Rechts auch eine ganz wesentl. Erweiterung erfahren, auf der die besondere Wirkung des Rechtsbuchs beruht. Bei den rund 350–400 Handschriften u. Fragmenten sind Kurz- u. Langfassungen u. bei diesen Normal- u. Vulgatfassungen zu unterscheiden. Diese Vielfalt der »Verkehrsformen« des S. ist das Ergebnis einer längeren Textentwicklung. Sie beginnt mit der Über-
setzung des Sachsenspiegels ins Oberdeutsche, die wohl zwischen 1265 u. 1272 in Magdeburg im Konvent der Franziskaner entstand u. zu den Minoriten nach Augsburg gelangte. Eine Handschrift von ihr ist nicht erhalten, doch geht das Bruchstück einer Bearbeitung des Augsburger Sachsenspiegels wohl auf sie zurück. Der Text wurde schließlich zu einem Rechtsbuch umgestaltet, das laut Reimvorrede auf »teutzelant« zu beziehen war. Der anonym gebliebene Verfasser gibt nicht wie Eike von Repgow vor, altes Gewohnheitsrecht aufgezeichnet zu haben. In deutl. Abgrenzung zu seinem Vorgänger heißt es bei ihm: »Ditz recht han ich niht erdacht / Ez habent die chuninge an uns pracht / mit weiser maister lere.« Ziel ist es danach, das von den Königen gesetzte Recht so darzustellen, wie es die gelehrten Juristen interpretiert u. weitergegeben haben. Anders als im Sachsenspiegel hat diese Theorie hier Bedeutung für die inhaltl. Gestaltung des Rechtsbuchs gehabt. Der »Spiegel aller taeutzher laevte« oder Deutschenspiegel enthält z.T. wörtl. Entlehnungen aus lat. Rechtsquellen. Es ist das erste Rechtsbuch in dt. Sprache, das den Einfluss des röm. Rechts an Begriffen wie Bürgschaft, Ersitzung, Notwehr u. a. transparent werden lässt, was v. a. Winfried Trusen (1985) mit zahlreichen Belegen aufgezeigt hat. Es sei nur auf das Gesetzgebungswerk des byzantin. oder oström. Kaisers Justinian I. (527–565), bes. den Codex Justinianus (534), verwiesen. Der Deutschenspiegel brauchte von hier aus nicht (wie der Sachsenspiegel durch Johann von Buch) eine gelehrte Glossierung. Durch die Tilgung typisch sächs. Rechts u. die Aufnahme süddt. Gewohnheitsrechts wurde die Anpassung an die oberdt. Verhältnisse erreicht. Davon sind u. a. die Bestimmungen über die Gerichtsverfassung betroffen. Eine kurze Chronik, das Buch der Könige alter ê, liefert Exempel für die rechte Ausübung des Richteramts. Der Deutschenspiegel ist Fragment geblieben. Nur etwa die Hälfte des Landrechts ist bearbeitet worden. Einen prakt. Wert hatte der nur in einer Handschrift vollständig überlieferte Text nicht. Dies ist beim sog. S., bei dem die Aufzeichnung fortgesetzt u. abgeschlossen wur-
Schwabenspiegel
de, anders. Er hat eine weite Verbreitung gehabt u. die prakt. Rechtsprechung offensichtlich beherrscht, obwohl sein Verfasser als »im Rechtsleben wenig bewandert« gilt. Da der S. im Augsburger Stadtrecht von 1276 bereits benutzt worden ist, dürfte er um 1274/75 entstanden sein. Die religiös motivierte Vorrede, die an die Stelle der Reimvorrede getreten ist u. in die Gedanken aus den Schriften des David von Augsburg u. der Predigten Bertholds von Regensburg aufgenommen sind, lässt den Verfasser im Kreis der Augsburger Minoriten vermuten. Zu den Grundanliegen des Ordens seit seiner Begründung durch Franz von Assisi gehörte die Verwirklichung des inneren Friedens in der Gesellschaft. Dementsprechend wird in der Vorrede aus der Schöpfung der Wert des Friedens abgeleitet, den die Universalgewalten Papst u. Kaiser gemeinsam auf der Welt zu verwalten haben. Die Notwendigkeit von Gesetz u. Gericht wird damit begründet. Der Verfasser des S. befindet sich mit der kanonistischen Doktrin in Einklang, was z.B. an der kurialen, subordinierenden Zweischwerter-Theorie deutlich wird. Im Übrigen haben die Bestimmungen über Staat u. Verfassung, die an die Spitze des neuen Teils gerückt worden sind, gewonnen. Hinzugekommen ist auch ein Prosaauszug aus der gereimten Kaiserchronik des 12. Jh., der fälschlich als Buch der Könige neuer ê bezeichnet wird. In ihn sind Stücke des Landrechts versetzt worden, die in den jüngeren Verkehrsformen fehlen u. daher zur Rekonstruktion des »Urschwabenspiegels« herangezogen worden sind. Eine krit. Ausgabe des S. gibt es aufgrund der Überlieferungslage noch nicht, da die Prioritätsfrage der Lang- u. Kurzfassungen unterschiedlich beurteilt wird. So wird der Begriff Kleines Kaiserrecht (früher Frankenspiegel) kontrovers diskutiert. Handelt es sich um ein eigenständiges Rechtsbuch (Munzel-Everling, Johanek) oder nur um die Sonderform einer Lang- oder Kurzfassung des S.? Der Text, der wohl zwischen 1344/50 von einem Anhänger Ludwigs des Bayern im Raum Frankfurt/ Wetterau abgefasst wurde, enthält Prozess- u. Verfassungsrecht, Privatrecht u. Strafrecht, Lehnrecht u. Dienstmannenrecht.
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Durch die Kanzleien großer Städte wie Augsburg, München, Wien, Nürnberg u. Regensburg wurde der S. weit verbreitet. Er gelangte nach Schlesien, Mähren, in das Deutschordensland, nach Westdeutschland u. in den sächs. Rechtsbereich. Er wurde ins Lateinische, Französische u. Tschechische übersetzt. Besonders die tschech. Übersetzungen (30 Handschriften) hatten einen hohen Verkehrswert. Das Kleine Kaiserrecht, das Rechtsbuch Ruprechts von Freising, zahlreiche Stadtrechte Schwabens u. Bayerns, das Österreichische Landrecht u. viele andere sind vom S. beeinflusst. Mit der Erklärung des Römischen Rechts als Quelle der Rechtsprechung im kaiserl. Hofgericht 1458 scheint die Welle der Verbreitung endgültig versiegt zu sein. Eine systemat. Fassung wurde als Wiegendruck noch fünfmal, zuletzt um 1485, aufgelegt. Bei dem S., einem aus franziskan. Geist geschaffenen Rechtsbuch, handelt es sich um ein nicht allein rechtshistorisch, sondern auch literaturgeschichtlich höchst beachtenswertes Werk. Man hat gefragt, warum sich die Minoriten des weltl. Rechts in dieser Weise angenommen u. damit eine Tradition gegründet haben, die bis an die Schwelle der Neuzeit gereicht hat. In diesem Zusammenhang wurde auf Magdeburg als wichtigste Ausbildungsstätte der dt. Minoriten im 13. Jh. u. auf den engen Kontakt der Franziskaner mit der Bevölkerung hingewiesen. Von hier aus ergaben sich auch Beziehungen zum Franziskanerkonvent in Augsburg, in dem die Aufzeichnung des Rechtsbuchs schließlich zu Ende geführt worden ist. Im Blick auf die Bußpraxis des Hohen und Späten MA u. das Ansehen, das Lehrbücher des Kirchenrechts hatten, sind die Rechtsspiegel zu sehen, Schriften des gelehrten lat. u. dt. Rechts populären Inhalts (sog. Popularjurisprudenz), die im Titel die aus der Spätantike stammende Metapher des Spiegels enthalten, inhaltlich aber der zeitgenössischen moraltheolog. Diskussion entsprechen. Das Hauptwerk des frz. Gelehrten Wilhelmus Durantis (um 1230–1298), der von den Zeitgenossen »Speculator« genannt wurde, das Speculum iudiciale, beschreibt den Prozessverlauf geistl. Gerichte von einer breiten Quel-
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lenbasis aus u. ist in 130 Handschriften u. rund 50 Drucken zwischen 1473 u. 1668 überliefert. Spätestens seit der Abhandlung Sten Gagners über das Speculum ecclesiae des Honorius Augustodunensis u. den Sachsenspiegel (1947) wurde bewusst, dass dieser Zusammenhang mit dem Kirchenrecht auch für die Rechtsbücher vom Sachsenspiegel bis zum S. gilt. In der Folge eines populären Rechtsschrifttums stehen der um 1436 verfasste Richterlich Clagspiegel des Conrad Heyden (1516 von Sebastian Brant neu herausgegeben) u. der 1509 von dem Höchstädter Landvogt Ulrich Tengler aufgezeichnete Layenspiegel. Ausgaben: Der S. oder schwäb. Land- u. Lehnrecht nach einer Hs. v. 1287. Hg. Friedrich Leonhard Anton Frhr. v. Laßberg. Tüb. 1840. 3. Aufl. besorgt v. Karl August Eckhardt. Aalen 1973. – S. (Kurzform). Md. u. nd. Hss. (MGH Fontes iur. germ. N.s.). Hg. Rudolf Große. Hann. 1964. – K. A. Eckhardt: Urschwabenspiegel (Bibliotheca Rerum Historicarum. Studia iuris Svevici 1). Aalen 1975. – DRQEdit (www.drqedit.de), Online-Faksimile des ältesten S.-Drucks (Augsburg, um 1475) unter: http://drw-www.adw.uni-heidelberg.de/drqeditcgi/zeige?sigle=Schwsp.(Zainer), mit Links zu Online-Faksimiles späterer S.-Drucke (Stand Juli 2010). Literatur: Hermann Krause: Kaiserrecht u. Rezeption. Heidelb. 1952. – Brigitte Uhlig: Die Verba dicenda im Rechtswortschatz des späten MA, untersucht an einigen Hss. des S.s. Diss. Lpz. 1980. – Winfried Trusen: Die Rechtsspiegel u. das Kaiserrecht. In: Ztschr. der Savigny-Stiftung für Rechtsgesch., Germanist. Abt. 102 (1985), S. 12–59. – Peter Johanek: Rechtsschrifttum. In: Die dt. Lit. im späten MA. (1250–1370). Tl. 2. Hg. Ingeborg Glier. Mchn. 1987, S. 396–431, 506–525. – UlrichDieter Oppitz: Dt. Rechtsbücher des MA. 3 Bde., Köln u. a. 1990–92 (Bd. 1: Beschreibung der Rechtsbücher, 1990, S. 34–43; Bd. 2: Beschreibung der Hss., 1990; Bd. 3,1 u. 3,2, Abb.en der Fragmente, 1992). – W. Trusen: S. In: HRG, Bd. 4 (1990), Sp. 1547–1551. – Ruth Schmidt-Wiegand: Rechtssumme Bruder Bertolds. In: ebd., Sp. 279–381. – P. Johanek: S. In: VL. – Dietlinde Munzel-Everling: Sachsenspiegel, Kaiserrecht, König Karls Recht? Überschrift u. Prolog des Kleinen Kaiserrechts als Beispiel der Textentwicklung. In: Alles was Recht war. Rechtsliteratur u. literar. Recht. FS Ruth Schmidt-Wiegand. Hg. Hans Höfinghoff u. a., 1996, S. 97–111. – Gerhard Köbler: Lexikon der europ. Rechtsgeschichte. Mchn. 1997.
Schwachhofer – Durantis, S. 111 u. ö. – Peter Landau: Winfried Trusens wiss. Werk. In: Ztschr. der Savigny-Stiftung für Rechtsgesch., Germanist. Abt. 118 (2001), S. 337–345. – Clausdieter Schott: Rechtsspiegel. In: RLW. – D. Munzel-Everling: Dez Keisers Recht. Das Kleine Kaiserrecht, entnommen dem Flörsheimer Gerichtsprotokollbuch v. 1447–1613. 3 Tle. [mit Faks. u. Transkription], Flörsheim 2003. – Christa Bertelsmeier-Kierst: Kommunikation u. Herrschaft. Zum volkssprachl. Verschriftlichungsprozeß des Rechts im 13. Jh. (ZfdA, Beih. 9). Stgt. 2008, S. 97. – Ralf Frassek: Karl August Eckhardt. In: HRG, 2. Aufl., Bd. 1 (2008), Sp. 1179 f. – P. Schreiner: Der Kaiser an der Zeitenwende. Justinian I., der Große. In: Die Zeit. Welt- u. Kulturgeschichte. Bd. 5, 2008, S. 466–470. Ruth Schmidt-Wiegand
Schwachhofer, René, * 28.5.1904 Stuttgart, † 10.7.1970 Falkensee bei Berlin. – Lyriker, Literaturkritiker, Übersetzer. In Leipzig aufgewachsen, arbeitete S. einige Jahre in der Freien Schulgemeinde Wickersdorf, studierte in Leipzig Germanistik u. Philosophie u. war dann bis 1933 als Herausgeber der Zeitschrift »Der Funke. Tribüne unabhängiger Kunst« tätig; nach 1945 wurde er »Neulehrer«, dann Referent für Literatur am Sender Leipzig u. Literaturdozent an der dortigen Volkshochschule. Über zwei Jahrzehnte lebte er danach freischaffend in Falkensee. Als Außenseiter debütierte S. in der NSZeit mit dem Bändchen Dämmerung (Lpz. 1937), das schwermütige, an Trakl gemahnende Gedichte enthält. Sein christlich geprägter Spätexpressionismus bekundete sich noch 20 Jahre später, als er in der Gedichtreihe Antwortet uns! eine zweite Lyrikveröffentlichung, Die Gestalten (Bln./DDR 1957), vorlegte. Die melanchol. Grundstimmung ist darin immer noch bestimmend – hat S. sich doch in die Nachfolge jener Dichter gestellt, die an der Welt gescheitert sind –, ebenso in dem ersten größeren Band Über Asche und Feuer. Gedichte 1923–1963 (ebd. 1964). Mit dem damals verordneten »sozialistischen Realismus« haben diese Gedichte wenig gemein; dennoch lässt sich nicht leugnen, dass die sich »antifaschistisch« gebende DDR-Gesellschaft ihm, der sich, an Hölderlin erinnernd, als
Schwäbisches Weihnachtsspiel
Träumer bzw. »Wanderer in der entgötterten Welt« bezeichnete, als die einzige Möglichkeit eines Zuhause auf dt. Boden erschien. Wie sehr der Nazismus ihn beschäftigte, auch über die Zeit hinaus, da er als Transportarbeiter u. später als Soldat zwangsverpflichtet war, geht aus vielen Gedichten hervor, namentlich in der manchmal bis zur Dürre spröden Sprache, die sich dem Anspruch auf äußerl. Schönheit zunehmend widersetzt. Kurz vor seinem Tod erschien ein zweiter umfangreicher Band, Blick aus drei Fenstern (ebd. 1969), in dem sich S.s Neigung zum Gedicht als Kurzformel weiter durchsetzt; manch einer der dargebotenen Texte jedoch geht kaum über das Fragmentarische hinaus. Befremdend wirken die vielen, nun unverblümten Bekenntnisse zum DDR-Staat, zur sozialistischen Umgestaltung des Lebens bis hin zum »neuen Menschen«. Trotzdem ist S. immer ein Außenseiter geblieben. Als Lyriker hat es ihn niemals in den Vordergrund gedrängt, eher schon lag ihm daran, sich für die verfemten Dichter seiner Jugend, die Expressionisten im weitesten Sinne, einzusetzen (vgl. die Anthologie Vom Schweigen befreit. Lpz. 1947) oder, in Form der Biografie, einen jungverstorbenen ungarischen Dichter des vorigen Jahrhunderts dem ostdt. Lesepublikum näherzubringen: Bettelsack und Freiheit. Leben und Werk Sándor Petöfis (Weimar 1954). Weitere Werke: Im Prisma der schwarzen Erleuchtung. Dülmen 1963 (L.). – Ich kann die Liebe nicht vertagen. Bln./DDR 1969 (Übers. neuer portugies. L.). – Herausgeber: Aus dem Schatten ans Licht. Dichter im Umbruch der Zeiten. Ebd. 1955 (Anth.). – Die Welt soll neu erglänzen. Ebd. 1961 (expressionist. L.). – Spiegel unseres Werdens. Mensch u. Arbeit in der Dichtung (zus. mit Wilhelm Tkaczyk). Ebd. 1970. Literatur: Ad den Besten: Dt. Lyrik auf der anderen Seite. In: Eckart, Juli/Sept. 1959, S. 224–263. Ad den Besten
Schwäbisches Weihnachtsspiel. – Deutsches Brauchtumsspiel des 15. Jh. Das unikal überlieferte Spiel (268 Verse) lässt sich aufgrund histor. Anspielungen u. sprachl. Indizien mit großer Wahrscheinlichkeit nach Konstanz lokalisieren (daher
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auch ›Konstanzer Weihnachtsspiel‹ genannt). Vermutlich 1417 (am Ende des Konstanzer Konzils) erstmals aufgeführt, dürfte es trotz später Überlieferung in einer Sammelhandschrift (1470/75) nach Lage der Überlieferung das älteste Weihnachtsspiel in dt. Sprache sein. In ihm mischen sich kirchl. u. volkstüml. Brauchtum. Die Aufführung scheint im Zusammenhang mit dem Fest der Chorknaben am Tag der Unschuldigen Kinder (28. Dez.) u. unter der Leitung ihres Knabenbischofs zu stehen. Er tritt im Spiel als Biceps auf (eine Verschreibung oder Verballhornung des Episcopus puerorum), der sich als Kaplan des Papstes (Martins V.) ausgibt u. für milde Gaben reichen Ablass verspricht. Im Mittelpunkt des Spiels tanzt Joseph mit dem Jesuskind u. singt im lat.-dt. Wechselgesang mit vier Engeln das Resonet in laudibus, das aus kirchl. Kindelwiegenfeiern bekannt ist. Zwar wird später eine Wiege genannt, aber nach Ausweis des Textes erfolgte die Feier des Neugeborenen nicht durch dessen Wiegen, sondern in den Armen des tanzenden Pflegevaters. Die anschließende Flucht der hl. Familie nach Ägypten wird zum Besuch des nächsten Hauses als Spielstätte komisch umgebogen, für die im Text die Angabe des Hausbesitzers mit N[omen] vorgesehen ist. Die Aufführung ist daher als ein Stubenspiel zu denken, wie es aus dem Fastnachtspiel bekannt ist. Dabei ziehen die Spieler von Haus zu Haus. Allerdings sieht die Handschrift auch eine Inszenierung in der Kirche vor, für die ein kurzes Hirtenspiel in der Handschrift nachgetragen ist. Da der Precursor mehr Stationen der Weihnachtsgeschichte erwähnt, als sie im Spiel verwirklicht sind, muss offenbleiben, ob die Aufzeichnung vollständig ist. Die vier Federzeichnungen (Precursor, Biceps, Propheta, Primus angelus), die den Text begleiten, erweisen die vorliegende Aufzeichnung zwar als Lesetext, aber an einer zumindest intendierten Aufführung ist nicht zu zweifeln. Dafür spricht auch die vorgesehene Instrumentalmusik. Insgesamt erweist sich das Spiel als ein singuläres Dokument, das die Brücke zwischen kirchl. u. literarisiertem volkstüml. Brauchtum, zwischen geistl. u. weltl. Spiel schlägt.
663 Ausgabe: Eckehard Simon: Das S. W. In: ZfdPh 94 (1973), Sonderheft, S. 30–50; 96 (1977), S. 103–105 (Korrekturen u. Nachtrag). Literatur: E. Simon: S. W. In: VL (weitere Lit.) u. VL (Nachträge u. Korrekturen). – Ders.: The Home Town of the S. W. (ca. 1420) and Its Original Setting. In: Euph. 73 (1979), S. 304–320. – Michael Straeter: Knabenbischoftum u. geistl. Spiel des MA. In: Et respondeat. Hg. Katja Scheel. Leuven 2002, S. 177–194, hier S. 186–188. Johannes Janota
Schwager, Johann Moritz, * 24.9.1738 Gut Kalkkuhl/Kirchspiel Hülsenbusch bei Gummersbach, † 29.4.1804 Jöllenbeck bei Bielefeld. – Pfarrer, Volksaufklärer, Erzähler, Publizist.
Schwaiger
ein Zeitthema aufgriff. In Die Leiden des jungen Franken, eines Genies (Minden 1777) parodierte er Goethes Werther. Sein Bericht Bemerkungen auf einer Reise durch Westphalen (Elberfeld 1804) vermittelt ein lebendiges Bild von der beginnenden Industrialisierung dieses Raumes. Wichtiger sind jedoch S.s zahlreiche Beiträge (darunter drei autobiografische) für die »Berlinische Monatsschrift«, das »Westphälische Magazin«, das »Deutsche Museum«, das »Jahrbuch für die Menschheit« u. v. a., die gehaltvolle u. charakterist. Beispiele aufklärerischer Publizistik abgeben. – Außerdem hat S. Predigten u. Abhandlungen zu Aberglauben u. Hexenverfolgung veröffentlicht. Weitere Werke: Ausgabe: Werkausg. Bisher er-
S., Sohn wohlhabender Bauern, studierte schienen: Bd. 1: Bemerkungen auf einer Reise 1759–1762 in Halle u. Jena Theologie, hörte durch Westphalen [...]. Bielef. 1987. – Einzeltitel: daneben aber auch philosophische u. medi- Kleiner Krieg für u. wider den Aberglauben. Lpz. zinische Vorlesungen. Den tiefsten Eindruck 1781. – Stillbachs Leben. Nur Bd. 1, Lpz. 1781 (R.). hinterließ ihm der Hallenser Theologe Jo- – Versuch einer Gesch. der Hexenprocesse. Nur Bd. 1, Bln. 1784. Neudr. Bln. 1970. – Friedrich Bihann Salomo Semler. Nach dem Examen ckerkuhl. Dortm. 1802 (R.). – Leben, Thaten u. (1763) brachte S. mehrere Jahre auf der Suche Schicksale eines lüderl. Landpredigers. Lpz. 1803 nach einer auskömml. Pfarrstelle als Haus- (R.). – Lother v. Lothersburg. Ffm. 1808 (R.). lehrer zu; eine bereits angenommene Stelle Literatur: H[ugo] Rothert: J. M. S. Bln. 1929. – als »Hochdeutsch-, Holländisch- und Eng- Hermann Rothert: J. M. S. In: 55. Jahresber. des lisch-Prediger« in Charleston/South Carolina Histor. Vereins für die Grafschaft Ravensberg trat er nicht an. 1768 erhielt er schließlich die (1949), S. 88–175. – Alain Godet: Hexenglaube, Pfarrei in dem wohlhabenden Dorf Jöllen- Rationalität u. Aufklärung. Joseph Glanvill u. J. M. beck, die er bis zu seinem Lebensende inne- S. In: DVjs 52 (1978), S. 581–603. – Olaf Eimer: Nachw. zu J. M. S.: Bemerkungen. a. a. O., hatte. Nach anfängl. Misshelligkeiten wuchs S. in S. 397–413. – Westf. Autorenlex. 1. Frank Stüdie Rolle des aufklärerischen »Volkslehrers« ckemann: ›Ihre Freundschaft ist mir unendlich schätzbar‹. Friedrich Nicolai als Geschäfts-, Korrehinein, wurde neben dem geistl. auch zum spondenz- u. Verlagspartner des Jöllenbecker Pfarweltl. Wortführer seiner Gemeinde u. wusste rers u. Aufklärers J. M. S. (1738–1804). In: Jb. für sich daneben einen weiten literar. Wir- westfäl. Kirchengesch. 103 (2007), S. 157–210. – kungskreis zu verschaffen. Außer für die Ders.: J. M. S. (1738–1804). Ein westfäl. LandpfarVerbesserung der Landwirtschaft, des Schul- rer u. Auflärer ohne Misere. Bielef. 2009. wesens u. des Sozialverhaltens seiner GeReinhart Siegert / Red. meinde engagierte sich S. ganz bes. für die Pockenschutzimpfung, die er in vielen hunSchwaiger, Brigitte, auch: Eva Quidedert Fällen eigenhändig durchführte. nius, * 6.4.1949 Freistadt/Oberösterreich, S.s Romane (alle anonym erschienen) ge† 26.7.2010 Wien. – Erzählerin, Lyrikerin, hören sicher nicht zur großen Literatur; sie Dramatikerin, Hörspielautorin. sind jedoch sozialgeschichtlich interessant u. nicht schlecht geschrieben, so sein Pfarrerro- Die Tochter eines Arztes studierte Psycholoman Leben und Schicksale des Martin Dickius (3 gie, Germanistik u. Romanistik in Wien; neBde., Bremen 1775/76), den er Justus Möser benher malte u. bildhauerte sie. Nach der widmete u. mit dem er nach eigener Aussage Heirat 1968 mit einem span. Tierarzt u. Ofunabhängig von Nicolais Sebaldus Nothanker fizier ging S. nach Madrid u. Mallorca, wo sie
Schwaiger
Deutsch u. Englisch lehrte. 1972/73 nahm sie das Studium an der Pädagogischen Akademie in Linz auf. S. war auch als Regieassistentin beim ORF, Sekretärin in einem Theaterverlag u. Schauspielerin tätig. 1987 beteiligte sie sich an einem öffentl. Protest gegen die Wahl Kurt Waldheims zum Bundespräsidenten der Republik Österreich. Seit 1975 war S. freie Autorin. Sie erhielt den Kulturpreis des Landes Oberösterreich (1984). Mit ihrem ersten, immer wieder neu aufgelegten u. in viele Sprachen übersetzten Roman, der autobiografisch geprägten Geschichte einer misslungenen Ehe, Wie kommt das Salz ins Meer (Wien 1977. Neuausg.n Mchn. 2000. Wien 2007. Innsbr. 2011. Verfilmt 1988 von Peter Beauvais) gelang S. ein spektakulärer Publikumserfolg. Sie greift das Thema der weibl. Identität unter bürgerl. Lebensbedingtheiten auf. Die Ich-Erzählerin beschreibt ihren monotonen, frustrierenden Ehealltag u. ihre vergebl. Ausbruchsversuche. Nach Abtreibung, Selbstmordversuch, psychiatr. Behandlung u. Scheidung kehrt sie in das Haus ihrer Eltern zurück. Die Darstellung ist von zwei gegenläufigen Tendenzen gekennzeichnet: dem Gefühl der Enttäuschung u. Unbehaustheit einer jungen Frau in bürgerl. Ehe, einer Kette von chron. Störungen u. Widrigkeiten einerseits u. der fortschreitenden Selbsterkenntnis der Protagonistin, dem Erwachen des weibl. Subjekts zu sich selbst, andererseits. Eine Bereitschaft zu williger Unterordnung in männlich dominierte Ehe ist S.s Figur fremd, ihre Abneigung gegen diese legt sie ostentativ an den Tag. Bürgerliche Lebensart als ein dauerndes Thema kommt auch in ihren weiteren Werken zur Sprache. In Mein spanisches Dorf (Wien/ Hbg. 1978), einer locker strukturierten Prosa, gibt die Autorin ihrer Vertrautheit mit kleinstädt., lokalen Verhältnissen, einer reflexionslosen, kleinl. Sphäre voller Animositäten, Verklemmtheiten, allerlei krisenhaften Zuständen in Ehe, Familie u. Nachbarschaft Ausdruck. Im Roman Der Himmel ist süß. Eine Beichte (Hbg. 1984. Neuausg. Mchn. 1999) stehen kindl. Träume von einer schönen Welt in Kontrast mit den Ansprüchen, die im Umkreis von traditionalistisch gesinnter Familie u. Klosterschule erhoben werden.
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Ein anderes bedeutendes Motiv, dem S. immer wieder ihre Aufmerksamkeit schenkt, ist die nationalsozialistische Vergangenheit. Diese wird der Figur des sterbenden Vaters im Roman Lange Abwesenheit (Wien/Hbg. 1980) vorgeworfen; auf die Kriegszeit greift S. in Die Galizianerin (zus. mit Eva Deutsch. Wien/Hbg. 1982; als Theaterstück von der Gruppe »TiefenEntTrümmerung« 1993 in Berlin aufgeführt), der authent. Lebensgeschichte einer Jüdin, zurück. Auch ihr stark lyrisch-persönlich profilierter Gedichtband Mit einem möcht’ ich leben (Mchn. 1987) enthält einen verzweifelten, an den Zweiten Weltkrieg anknüpfenden Text u. d. T. Führer befiehl! Monolog für eine Schauspielerin (erschien auch separat: Wien/Mchn. o. J. Urauff. Wien 1987). Der Roman Schönes Licht (Mchn. 1990) ist die Geschichte einer Schriftstellerin, die in den 1970er Jahren in Wien ihren literar. Höhenflug erlebt, sich mit dem damaligen Literaturbetrieb auseinandersetzt u. sich – wie auch im Roman Ich suchte das Leben und fand nur dich (Mchn. 2000) – ihren intimen Problemen stellt. Aufgrund der eigenen psych. Störungen u. langjährigen Therapieversuche berichtet S. in ihrem Buch Fallen lassen (Wien 2006) über persönl. Erfahrungen in einer Wiener Anstalt, über verschiedene Arten von Geisteskrankheiten, deren drast. Symptome u. gesellschaftl. Determiniertheit. Weitere Werke: España Cani (unter dem Pseud. Eva Quidenius). In: Facetten ’73 (1973), S. 148–165. – Murmeltiere. In: Die Rampe 1 (1976), S. 106–127. ORF 1986 (Hörsp.). – Nestwärme. Fünf Szenen mit einer Dekoration u. zwei Schauspielerinnen. Wien u. a. 1975. Urauff. Linz 1976 (Theaterstück). – Büroklammern. Kleines Kammerspiel. Steirerkostüm. Drei Einakter. Ffm. 1977. Urauff. Wien u. Ingolstadt 1977. – Die Böck’, die Kinder u. die Fisch. ORF/SDR 1979 (Hörsp.). – Malstunde (zus. mit Arnulf Rainer). Wien/Hbg. 1980. Urauff. Wien 1986 (Theaterstück). – Liebesversuche. Fünf Szenen für zwei Schauspieler in einer Dekoration. Ffm. 1981 (ersch. in kleiner Aufl. als unverkäufl. Broschur). Urauff. Sommerhausen bei Würzb. 1979. – Wie ein eigenes Kind. SDR 1982 (Hörsp.). – Liebesversuche. Kleine Dramen aus dem österr. Alltag. Mchn./Wien 1989 (E.n). – Pardon, wenn ich abweiche. ORF 1990 (Hörsp.). – Tränen beleben den Staub. Mchn. 1991 (R.). – Der rote Faden. Aufzeichnungen einer Mutter. Mchn./Wien 1992. –
Schwan
665 Der Mann fürs Leben. Mchn. 1993 (E.n.). – Jaro heißt Frühling. Gesch.n vom Fremdsein. Mchn. 1994. – Ein langer Urlaub. Mchn. 1996 (R.). Literatur: Hilde Schmölzer: B. S. Halb Kindfrau, halb emanzipiert. In: Dies.: Frau sein & schreiben. Wien 1982, S. 135–144. – Daniel de Vin: ›Schreibstunden‹. B. S. im Gespräch. In: Germanist. Mitt.en 17 (1983), S. 27–50. – Manfred Jurgensen: Dt. Frauenautoren der Gegenwart. Bern 1983. – Zbigniew S´wiatl/owski: B. S.s ›Wie kommt das Salz ins Meer‹ oder Exodus aus der ›Gutbürgerlichkeit‹. In: Ders.: Zeitproblematik u. Gesellschaftskritik im westdt. Roman nach 1967. Rzeszów 1985, S. 176–179. – Petra M. Bagley: The Death of a Father: The Start of a Story. Bereavement in Elisabeth Plessen, B. S. and Jutta Schutting. In: New German Studies 16 (1990), S. 21–38. – Petra Ernst: B. S. In: LGL. – Hans Wolfschütz: B. S. In: KLG. Johann Sonnleitner / Zygmunt Mielczarek
Schwan, Christian Friedrich, * 12.12.1733 Prenzlau/Uckermark, † 29.6.1815 Heidelberg. – Buchhändler, Verleger, Publizist, Übersetzer. Nachdem der Sohn eines Buchbinders u. Buchhändlers sein Theologiestudium (Halle u. Jena) abgebrochen u. einige Jahre die Hofmeisterstelle bei einem mecklenburgischen Landadligen versehen hatte, führte er in der Zeit des Siebenjährigen Kriegs ein wechselvolles Leben in russ. u. preuß. Diensten, wobei eine rasch erworbene Weltläufigkeit ihm stets zu guten Stellungen verhalf. Über die Niederlande, wo er seine Petersburger Eindrücke vom Sturz Peters III. drucken ließ (C. F. S. de la Marche [pseud.]: Anecdotes russes. Londres, recte Haag 1764. Dt. Petersburg, recte Ffm. 1765), kam S. 1764 nach Frankfurt/M. Mit publizistischem wie ökonomischem Gespür gab er hier die Moralische Wochenschrift »Der Unsichtbare« (1765/66. Gekürzte Neuausg. 1769) u. das Sammelwerk Neue Auszüge aus den besten ausländischen Wochen- und Monatsschriften (1765–69) heraus. 1765 heiratete S. die Tochter des Frankfurter Buchhändlers Georg Eßlinger u. übernahm dessen Buchhandlung in Mannheim, die in Verbindung mit seinem verlegerischen Wirken bald zur bedeutendsten in Südwestdeutschland wurde. Ist S.s eigene schriftstel-
lerische Produktion (zumeist Übersetzungen frz. Schau- u. Singspiele) heute auch vergessen, so hat seine im Geist der Aufklärung betriebene literar. u. kulturelle Vermittlertätigkeit umso deutlichere Spuren hinterlassen. In seiner Zeitschrift »Die Schreibtafel« (1774–79) finden sich etwa die frühen Texte von Maler Müller, dessen erste Bücher er ebenso verlegte wie diejenigen Schillers, nachdem durch seine Hilfe die Räuber den Weg auf die Bühne des Mannheimer Nationaltheaters gefunden hatten. An der Gründung des Nationaltheaters war S., der auch die letztlich gescheiterten Verhandlungen mit Lessing geführt hatte, maßgeblich beteiligt. Mitte der 1780er Jahre überließ der 1778 zum Hofkammerrat ernannte S. das Verlagsgeschäft zunehmend seinem Kompagnon Gottlieb Christian Götz u. widmete sich wieder stärker eigenen Publikationen, bes. der Erarbeitung dt.-frz. Wörterbücher. Als Mannheim 1794 von frz. Truppen besetzt wurde, verließ S. die Stadt. In Stuttgart u. Heidelberg verbrachte er die beiden letzten Jahrzehnte seines Lebens. Weiteres Werk: C. F. S.s Selbstbiogr. Neu hg. [...] v. Julius Dieffenbacher. In: Mannheimer Geschichtsbl. 2 (1907), Sp. 147 ff. (zuerst in: Hausblätter, 1861). Literatur: Ludwig G. Böhm: C. F. S. In: Ders.: Mannheim u. der Rhein-Neckar-Raum. Mannh. 1965, S. 77–98. – Luise Gilde: Persönlichkeiten um Schiller. Der Mannheimer Kreis. London 1973, S. 7–84. – Jörg Kreutz: C. F. S.s Projekt einer internat. Buchmesse [...]. In: Mitt.en der Gesellsch. der Freunde der Univ. Mannheim 38/1 (1989), S. 55–63. – Rudi Dorsch: C. F. S.: kurfürstl. Hofbuchhändler zu Mannheim. 1733–1815. Mannh. 1991. – Franz Josef Hausmann: C. F. S. u. sein dt.frz., frz.-dt. Wörterbuch. In: Lingua et traditio. FS Hans Helmut Christmann. Hg. Richard Baum. Tüb. 1994, S. 801–817. – R. Dorsch u. Hartmut Schmidt: Carl Theodors Hofbuchhändler C. F. S. u. der liberale Mannheimer Almanach ›Die Schreibtafel‹. Mannh. 2006. Christoph Weiß / Red.
Schwanitz
Schwanitz, Dietrich, * 23.4.1940 Werne, † 17.(?)12.2004 Hartheim. – Literaturwissenschaftler, Sachbuch- u. Romanautor. »Es war ja nicht die normale professorale Existenz«, so S. (Die Zeit, 29.1.1998): Geboren u. aufgewachsen im Ruhrgebiet, verbrachte der jüngste Sohn eines Lehrerehepaars die Nachkriegsjahre – Teile der Familie galten als verschollen – bei mennonitischen Schweizer Bergbauern u. blieb bis zum elften Lebensjahr der Schule fern. Dem Abitur folgten ein Studium der Anglistik, Geschichte u. Philosophie in Münster u. Freiburg i. Br. sowie Aufenthalte in London u. Philadelphia. 1971 erschien die Dissertation George Bernard Shaw – künstlerische Konstruktion und unordentliche Welt (Ffm.), sechs Jahre später die umstrittene Habilitationsschrift Die Wirklichkeit der Inszenierung und die Inszenierung der Wirklichkeit (Meisenheim 1977). Nach kurzer Lehrtätigkeit an der Universität Mannheim wirkte S., verheiratet u. Vater zweier Kinder, 1978–1997 als Professor für Englische Literatur u. Kultur an der Universität Hamburg. Im Ruhestand trieb der lebenslange Außenseiter als freier Autor den Aufbau einer privaten Akademie in Südbaden voran; während dortiger Renovierungsarbeiten verstarb er unter bislang ungeklärten Umständen. S.’ anglistische Arbeit kreist thematisch um den Autor Shakespeare u. die Gattung Drama; methodisch ergriff er für eine systemtheoretisch ausgerichtete Literaturwissenschaft Partei. Einer breiten Öffentlichkeit bekannt ist er jedoch als Autor von Romanen u. Sachbüchern. Bestseller wurden Der Campus (Ffm. 1995. Zuletzt Hbg. 2009. Hörbuch Mchn. 1998. Verfilmt von Sönke Wortmann unter Mitarbeit u. Mitwirkung S.’, in der Hauptrolle Heiner Lauterbach, 1997. Video Bochum 1998. DVD Offenbach 2004. Zuletzt Mchn. 2008) u. Der Zirkel (Ffm. 1998. 2000). Beide Texte karikieren Bürokratisierung, Politisierung, Intrigen u. Machtspiele an der Universität u. etablieren im Anschluss an David Lodge die vormals kaum bekannte Erzählgattung campus novel in Deutschland. Wissenschaftssoziologische Beobachtungen gingen ebenso in S.’ akadem. Schreiben ein.
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Unter den Sachbüchern sorgte zuerst das kontrovers diskutierte Kompendium Bildung. Alles was man wissen muß (Ffm. 1999. Zuletzt 2006. Hörbuch Ffm. 2002. Zuletzt Bln. 2005. Gekürzte Hörbuchfassung u.d.T. Das Beste aus der Bildung. Augsb. 2007. CD-ROM Bildung – der Test. 300 Fragen rund ums Wissen. Ffm. 2002) für Aufsehen u. Kritik. S. sucht hier auf engstem Raum Geschichte, Literatur, Musik, Kunst u. Philosophie der abendländ. Tradition, ferner die Spielregeln gebildeter Konversation u. weltgewandten Auftretens zu popularisieren. Auszüge aus Bildung kommentieren ferner die von S. zusammengestellte u. kommentierte CD-Sammlung Musik. Alles, was man hören muss (Ffm. 2001. Zuletzt 2006). Populärwissenschaftlich u. nicht weniger provokant argumentiert Männer. Eine Spezies wird besichtigt (Ffm. 2000. Zuletzt 2003. Hörbuch Ffm. 2003. Zuletzt 2005), eine polem. Erörterung der männl. Geschlechtsidentität sowie der feministischen Bewegung. Mit zahlreichen Wortmeldungen in verschiedenster Form (u. a. Gesammelte Aufsätze. 3 Bde., Hbg. 1988–96) kommentierte der unbequeme S. stets auch das Tagesgeschehen: etwa den ungeklärten Tod Uwe Barschels (MacBarsh. Ein Polit-Thriller. Text und Kommentare. Hbg. 1989), die Golfkriegsdebatte, die Sexualisierung des Alltags oder die Rechtschreibreform. Privat galt S. als eleganter u. distanzierter Gentleman; er liebte die humorvolle Subversion u. orientierte sich in Fragen des Lebensstils stets am Vorbild Großbritannien. Weitere Werke: Das Shylock-Syndrom oder die Dramaturgie der Barbarei. Ffm. 1997. Zuletzt Mchn. 1998 (R.). – Schweiz. Liebesprobe jenseits der Baumgrenze (zus. mit Angela Denzel). Mchn. 2000. – Die Bildung ist tot. Es lebe die Bildung. Mchn. 2009 (Originalvortrag, DVD). – Herausgaben: Amoklauf im Audimax. Reinb. 1998 (E.en). – Zugetextet. Ein Schreibprojekt. Ravensburg 2005. Literatur: Osman Durrani: The Campus and its Novel: D. S.’s Literary Exploration of German University Life. In: The Novel in Anglo-German Context. Cultural Cross-Currents and Affinities. Hg. Susanne Stark. Amsterd./Atlanta 2000, S. 425–436. – Joachim Paech: ›Campus‹ – hier u. anderswo. In: Uni literarisch. Lebenswelt Univ. in literar. Repräsentation. Hg. Reingard M. Nischik. Konstanz 2000, S. 235–253. – Ronald Dietrich: Der
667 Gelehrte in der Lit. Literarische Perspektiven zur Ausdifferenzierung des Wissenschaftssystems. Würzb. 2003. – Alexander Kosˇ enina: Der gelehrte Narr. Gelehrtensatire seit der Aufklärung. Gött. 2003. Kathrin Klohs
Schwarz, Friedrich Heinrich Christian, * 30.5.1766 Gießen, † 3.4.1837 Heidelberg. – Evangelischer Theologe, Pädagoge. Der hess. Pfarrer S., Schwiegersohn von Johann Heinrich Jung-Stilling (bis 1803 Professor der Staatswirtschaft in Marburg), wurde bei der Neuorganisation der Universität 1804 als Professor der luth. Dogmatik nach Heidelberg berufen, als Pendant zu dem schon seit 1796 dort lehrenden reformierten Theologen Carl Daub. S. wäre lieber als Professor der noch neuen wissenschaftl. Pädagogik berufen worden, nicht nur weil er in seinem Pfarrhaus zuvor ein privates Paedagogium unterhalten, sondern auch weil er bereits begonnen hatte, durch pädagog. Werke, u. a. zu Johann Heinrich Pestalozzi u. zur Mädchenerziehung, auf sich aufmerksam zu machen: v. a. durch die Erziehungslehre (4 Bde., Lpz. 1802–13; 2., umgearb. Aufl. u. d. T. Geschichte, System und Unterricht der Erziehung. 3 Bde., Lpz. 1829/30; niederländ. Übers. Utrecht 1833–37); außerdem durch drei einbändige Schriften 1802 u. 1804. Seit 1805 folgten weitere mehrbändige pädagog. Werke. 1807 gründete er gemeinsam mit seinem hess. Freund, dem Klassischen Philologen Friedrich Creuzer (ebenfalls seit 1804 Prof. in Heidelberg), ein Philologisch-Pädagogisches Seminar; auch richtete er in seinem Haus wiederum ein Paedagogium für männl. Zöglinge ein, so wie es ebenfalls in Heidelberg Caroline Rudolphi 1803 für weibl. Zöglinge getan hatte, mit der er eng zusammenarbeitete (1810 gleichzeitige Reisen mit den Zöglingen zu Pestalozzi nach Yverdon). 1808 u. 1816 veröffentlichte S. (nach anderen praktisch-theolog., eth. u. religiöspädagog. Schriften) seine theolog. Hauptwerke: Das Christenthum in seiner Wahrheit und Göttlichkeit betrachtet (Heidelb. 1808), Sciagraphia dogmatices christianae (Heidelb. 1808) u.
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diese als 2., veränd. u. dt. bearb. Aufl. u. d. T. Grundriß der kirchlich-protestantischen Dogmatik (Heidelb. 1816), von Friedrich Schleiermacher (1768–1834) als erste Unionsdogmatik ausdrücklich gewürdigt (im Vorw. zur 2. Aufl. von dessen Glaubenslehre, 1830; 1834 hätte S. Schleiermachers Nachfolger in Berlin werden sollen, fühlte sich jedoch zu alt). 1821 ließ S. eine Evangelisch-christliche Ethik, Lehrund Handbuch folgen (31836/37). Ferner war S. schon in Gießen u. dann in Heidelberg Herausgeber oder Mitarbeiter von verschiedenen theolog. u. pädagog. Periodika, meist Rezensionsorganen. Neun Mal war er Dekan der Fakultät u. dreimal Prorektor der Universität (Rektor war stets der Landesherr). S. war vielfach eng verbunden mit Personen u. Geistesströmungen seiner Zeit: mit dem Juristen Friedrich Carl von Savigny, mit den Heidelberger Romantikern, mit Jean Paul, mit verschiedenen Heidelberger Universitätskollegen, dadurch auch involviert in den sog. Antisymbolik-Streit mit Johann Heinrich Voss. Als badischer Kirchenrat (1805, Geheimer KR 1820) gehörte er zu den Förderern der badischen Kirchenunion von 1821. Seine wissenschaftl. Auslandsbeziehungen führten 1827 zu einer Reise in die Niederlande. Seine Schrift über die Nationalbildung der Deutschen (Unsere Nationalbildung. Lpz. 1834) brachte ihm Beachtung u. Ehrungen durch den preuß. Königshof ein. Weitere Werke: Grundriß einer Theorie der Mädchenerziehung. Jena 1792 (2., völlig umgearb. Aufl. 1836). – Religiosität, was sie sein soll u. wodurch sie befördert wird. Eltern, Religionsfreunden [...] gewidmet. Gießen 1793 (2., umgearb. u. verm. Aufl. u.d.T. Katechetik oder Anleitung zu dem Unterrichte der Jugend im Christenthum. 1818). – Die moral. Wiss.en, ein Lehrbuch [...]. 2 Bde., Lpz. 1793 (2., umgearb. Aufl. 1797; schwed. Übers. Stockholm 1803). – Der christl. Religionslehrer [...]. 2 Bde., Gießen 1798–1800. – Erster Unterricht in der Gottseligkeit, oder Elementarunterricht des Christenthums für Kinder aller christl. Konfessionen. Gießen 1804. – Lehrbuch der Pädagogik u. Didaktik. Heidelb. 1805 (2. Aufl. u.d.T. Lehrbuch der Erziehungs- u. Unterrichtslehre. 2 Bde., Heidelb. 1817 u. Lpz. 1819; 3., umgearb. Aufl. 1835; Neudr. der 3. Aufl. Paderb. 1968; versch. Übers.en ins Niederländische 1830–38; 81880–82). – Das Leben in seiner Blüte, oder Sittlichkeit, Christen-
Schwarz thum u. Erziehung in ihrer Einheit. Lpz. 1837. – Nachlass: Universitätsbibl. Basel (NL 67, v. a. Korrespondenzen). Literatur: Ernst Fabian: Die Pädagogik v. F. H. C. S. im Verhältnis zur Philosophie ihrer Zeit. Diss. Lpz. 1911. – Josef Martin: F. H. C. S., ein Pädagoge der Romantik. Diss. Münster 1927. – Georg Politsch: F. H. C. S., der Begründer der pädagog. Geschichtsschreibung. Darmst. 1929. – Gerhard Schwinge: ›freundlich und ernst‹. F. H. C. S., Theologieprofessor u. Pädagoge in Heidelberg 1804–1837 u. die Heidelberger Gesellsch. seiner Zeit. Heidelb. u. a. 2007 (mit umfangreichen Quellen- u. Literaturangaben; Abb.en). – Ders.: F. H. C. S. (1766–1837), Pfarrer u. Pädagoge, Theologieprofessor u. Förderer der bad. Kirchenunion. In: Lebensbilder aus der evang. Kirche in Baden im 19. u. 20. Jh. Bd. 3: Heidelberger Universitätstheologen. Heidelb. u. a. (in Vorb.). Gerhard Schwinge
Schwarz, Georg, * 16.7.1902 Nürtingen, † 20.2.1991 München. – Lyriker, Erzähler, Romancier, Reisebuch- u. Hörspielautor, Herausgeber.
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u. versteht sich, v. a. nach dem Krieg, als ein »kostbares Gut«, das die Menschen über äußere Verluste hinwegtrösten soll. Sie ist, wie S.’ Werk überhaupt, betont antiurban. Seiner literar. Herkunft sind auch die biogr. Arbeiten Uhland (Stgt. 1940) u. Die ewige Spur. Dichterprofile eines deutschen Stammes (Mchn. 1946) sowie seine Herausgebertätigkeit (Mörike. Ausgewählte Werke. Bergen 1948/49. Wilhelm Waiblinger. Gedichte. Urach 1948) verpflichtet. Verbundenheit mit den Armen u. Unterdrückten kommt humorvoll u. verschmitzt in seinem wohl erfolgreichsten Werk, der Novellensammlung Tage und Stunden aus dem Leben eines leutseligen, gottfröhlichen Menschenfreundes, der Johann Friedrich Flattich hieß (Tüb. 1940), zum Ausdruck. Weitere Werke: Totentanz. Mchn. 1929 (L.). – Jörg Ratgeb. Ebd. 1937 (R.). – Froher Gast am Tisch der Welt. Tüb. 1940 (L.). – Die Heimkehr des Melchior Hoffmann. Mchn. 1944 (R.). – Unterm Hundsstern. Ebd. 1951 (Romanze). – Goldstaub. Ebd. 1970 (E.en). – Die Apfelranke. Ebd. 1972 (L.). – Die Venus v. Milo u. a. E.en. Ebd. 1983. – Friedrich Rückert. Dem fränk. Dichter u. Gelehrten zu seinem 200. Geburtstag. Bayreuth 1988. – Tarquinia. Ebd. 1990 (E.en, L.). – Prosa u. Gedichte. Eine Ausw. zu seinem 100. Geburtstag. Hg. Maria Barth u. Hans-Peter Becht. Mühlacker 2002. Michael Geiger / Red.
S., Sohn eines Zahnarztes u. späteren Schmuckwarenfabrikanten, studierte einige Semester Philosophie in Heidelberg u. arbeitete danach als Buchhändler u. Antiquar. Romantischem Vorbild folgend, begab er sich auf Wanderschaft, die ihn zeitweise bis nach Italien führte. Dr. Owlglass’ Angebot, beim Schwarz, Hans, * 17.3.1890 Berlin, † 25.6. »Simplicissimus« mitzuarbeiten, führte ihn 1967 Schöppenstedt bei Braunschweig. – 1928 nach München, wo er seitdem lebte. Lyriker, Dramatiker, Übersetzer. Auch wenn sich S. in dem Roman Makarius (Tüb. 1950), der Geschichte eines Sonder- S., Sohn eines Beamten, wuchs in Berlin auf lings, der das »Dritte Reich« einsam auf einer u. studierte dort Geschichte, Philosophie u. Moorinsel übersteht, kritisch mit dem Na- alte Sprachen. Er meldete sich 1914 freiwillig tionalsozialismus auseinandergesetzt hat, zum Kriegsdienst u. wurde 1918 als Kriegsbegrüßte er doch den »Anschluss« Öster- invalide aus der Armee entlassen. Danach war reichs als Erfüllung der großdt. Ziele seines er als Angestellter, später als Herausgeber literar. Vorbilds Ludwig Uhland. S. leistete (u. a. der »Schriftenreihe des Nahen Ostens«, kurze Zeit Kriegsdienst in einer Straf- u. Ar- 1928–36) u. freier Schriftsteller tätig. 1921 beitskompanie. lernte S. Moeller van den Bruck kennen, mit S.’ literar. Orientierung an der schwäb. dem er in regen Gedankenaustausch trat u. Romantik zeigt sich in der Vorliebe für die dessen Schriften er nach dessen Freitod herWaldeinsamkeit als Ort dichterischer Besin- ausgab. S. initiierte den »Friedenspreis des nung u. in der Verherrlichung problemat. Deutschen Buchhandels« u. organisierte die Dichterpersönlichkeit, wie in der Erzählung erste Preisverleihung 1950 an Max Tau. Der Ring der Peregrina (Mchn. 1947), die die S.’ Werke lassen sich der völk., nationalpersönl. Problematik Mörikes schildert. Seine konservativen Literatur zuordnen. Er trat Lyrik pflegt das »romantische« Naturerlebnis zunächst mit Gedichten hervor, die schwär-
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merisch das Soldatische u. Deutsche preisen (Götter und Deutsche. Breslau 1923). In seinen Dramen, die u. a. von Gustaf Gründgens u. Hans Schüler aufgeführt wurden (u. a. Prinz von Preußen. Bln. 1934. Caesar. Ebd. 1941), behandelt er am Vorbild histor. Figuren Themen wie Heldentum u. das Ringen um Volksverbundenheit. Von den Nationalsozialisten wurde S. als polit. Schriftsteller verstanden, der in seinen Texten die schicksalhafte Gegenwart versinnbildliche (vgl. Weißer). Nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus publizierte S. unter anderem religiöse Gedichte, in denen der Glaube Zuflucht vor einer säkularisierten Welt gewähren soll (Soli deo gloria. Stgt. 1951). Die themat. Neuorientierung deutet sich bereits 1942, zunächst in Briefen, an. Weitere Werke: Lyrik: Du u. Dtschld. Breslau 1933. – Geliebte Erde. Bln. 1939. – Potsdamer Elegie. Ebd. 1940. – Theaterstücke: Pentheus. Ebd. 1932 (Manuskript). – Iphigeneia in Aulis. Hbg.Bergedorf 1948. – Teilausgabe: Ein Preuße im Umbruch der Zeit. Hbg. 1980 (mit ausführl. Biogr.). Literatur: Erich Weißer: H. S. In: Die Neue Lit. 38 (1937), S. 113–122. – Hildegard Grosche u. Hans Dieter Müller (Hg.): Lob des Gesprächs. H. S. zum 70. Geburtstag. Stgt. 1960. Waldemar Fromm
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Buchners, hat sie studiert, u. in der dt. Dichtung der Zeit war sie belesen. Opitz war für sie Vorbild, u. ihm verdankt sie oft sowohl das Thema als auch die Form ihrer Gedichte. S. gebrauchte die typischen Gedichtformen des 17. Jh. – Sonett, Ode, stroph. Lied. Trotzdem sind einige ihrer Gedichte in äußerst persönl. Ton gehalten. Einige der Sonette nehmen einen spezifisch weibl. Standpunkt ein u. spiegeln das Wissen der Frau um die Untreue des Geliebten. Am eindrucksvollsten sind S.’ Freundschaftsgedichte, u. a. diejenigen, welche die Zusammenkünfte der Freunde u. Verwandten auf dem Familiengut »Fretow« feiern. Auch ein in verschiedenen Versarten verfasstes Susanna-Drama u. eine Schäfererzählung, Faunus, sind unter ihren Werken. Noch nicht 18-jährig, starb S. am Hochzeitstag ihrer Schwester Emerentia. Erst nach zwölf Jahren kamen ihre gesammelten Gedichte heraus. Obwohl von hervorragenden Literaturkennern der folgenden Jahrzehnte gelobt, geriet ihre Dichtung bald in Vergessenheit. Die Erstausgabe ihrer Werke bleibt eine Rarität.
Schwarz, Sibylla, * 14.2.1621 Greifswald, † 31.7.1638 Greifswald. – Lyrikerin.
Ausgaben: Dt. Poëtische Gedichte, nuhn zum ersten mahl, auß jhren eignen Handschrifften [...]. Hg. Samuel Gerlach. Danzig 1650. Internet-Ed. in: dünnhaupt digital. – Ander Theil dt. Poëtischer Gedichten. Hg. ders. Ebd. 1650. Internet-Ed. in: Ebd. Nachdr. (beider Tle. in 1 Bd.) hg. v. Helmut W. Ziefle. Bern u. a. 1980. – Das schnöde Tun der Welt. Gedichte aus der Barockzeit. Hg. Horst Langer. Mesekenhagen 2009.
Das jüngste Kind einer Greifswalder Patrizierfamilie zeigte ungemein früh dichterische Begabung. Der Vater, Christian Schwarz, pommerscher Landrat, Ratsherr u. Bürgermeister in Greifswald, bekleidete während des Dreißigjährigen Krieges wichtige Ämter; die Mutter, Regina, geb. Völschow, starb, als S. acht Jahre alt war. Die älteren Schwestern führten den Haushalt u. sorgten für S. Über S.’ gelehrte Erziehung ist wenig bekannt; im Sommer 1636 wurde sie von dem Hauslehrer Samuel Gerlach unterrichtet, der auf der Suche nach einer geeigneten Pfarrstelle war u. später ihre Gedichte herausgab. Aus dem Lateinischen u. Holländischen konnte sie ins Deutsche übersetzen; die Poetiken der Zeitgenossen, etwa Opitz oder
Literatur: Bibliografie: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 5, S. 3895 f. – Weitere Titel: Christoph Hagen: Himmlische Hochzeit-Predigt [...]. Greifsw. 1638 (Leichenpredigt). – Kurt Gassen: S. S., eine pommersche Dichterin, 1621–38 [...]. Ebd. 1921. – H. W. Ziefle: S. S. Leben u. Werk. Bonn 1975. – Uta Fleischmann: ›Der Liebe süsses Joch‹. Auf den Spuren der Barockdichterin S. S. (1621–1638). In: ... greifen zur Feder u. denken die Welt ... Frauen, Lit., Bildung. Hg. Heide v. Felden. Oldenb. 1991, S. 45–63. – Susanne Tuttas: S. S. – die »Pommersche Sappho«. In: Pommern in der Frühen Neuzeit. Hg. Wilhelm Kühlmann u. Horst Langer. Tüb. 1994, S. 389–398. – H. Langer: ›... auß Liebe zuhr Geschicht, auß Reitzung zuhr Poeterey‹. Das Susannen-Fragment der Dichterin S. S. (1621–1638). In: Religion u. Religiosität im Zeitalter des Barock. Hg. Dieter Breuer. 2 Tle., Wiesb. 1995, Tl. 2, S. 655–662. – Dirk Niefanger: Zwei philolog. Ent-
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deckungen zum Werk v. S. S. In: WBN 22 (1995), S. 15–19. – Petra Ganzenmueller: Wider die Ges(ch)ichtslosigkeit der Frau. Weibl. Selbstbewußtwerdung zu Anfang des 17. Jh. am Beispiel der S. S. (1621–1638). Ann Arbor 1998. – Hans Wolf Jäger: ›Die Pommerische Sappho‹ S. S. (1621–1638). In: Danzig u. der Ostseeraum. Sprache, Lit., Publizistik. Hg. Holger Böning u. a. Bremen 2005, S. 21–32. – Erika Greber: Der (un)weibl. Petrarkismus im dt. Barock. S. S.’ Sonettzyklus. In: Francesco Petrarca in Dtschld. Seine Wirkung in Lit., Kunst u. Musik. Hg. Achim Aurnhammer. Tüb. 2006, S. 223–242. – Jörg-Ulrich Fechner: S. S. In: NDB. – Hans-Jürgen Schumacher: ... die Lieb’ ist mein Beginn. S. S. Eine Dichterin Pommern. Eine Romanbiogr. Mesekenhagen 2007. – E. Greber: Text u. Paratext als Paartext. S. S. u. ihr Herausgeber. In: Die Pluralisierung des Paratextes in der Frühen Neuzeit. Theorie, Formen, Funktionen. Hg. Frieder v. Ammon u. a. Bln. 2008, S. 19–43. Jean M. Woods / Red.
Schwarz, Schwartz, (Agnes) Sophie, geb. Becker, * 17.6. (n. St.) 1754 Neu-Autz bei Mitau/Kurland, † 26.10.1789 Halberstadt. – Reiseschriftstellerin u. Lyrikerin.
Postum gab ihr Mann Elisens und Sophiens Gedichte (Bln. 1790) heraus u. 1791 das von S. selbst stark umgearbeitete Reisetagebuch u. d. T. Briefe einer Curländerinn auf einer Reise durch Deutschland (ebd.). Diese Ausgabe trägt ihr Bildnis in einer Vignette von Chodowiecki. Erst 1884 wurde S.’ Tagebuch in seiner urspr. Fassung ediert (... Vor hundert Jahren. Elise von der Reckes Reisen durch Deutschland 1784–86. Nach dem Tagebuche ihrer Begleiterin Sophie Becker. Hg. u. eingel. von G. Karo u. M. Geyer. Stgt.). Es zeigt sie als gute u. mitunter entlarvende Zeitbeobachterin, mit einer bes. Gabe, ihre Mitmenschen zu beschreiben. Weitere Werke: Briefw. mit Mendelssohn. In: Dt. Monatsschr. (1790), Bd. 1, S. 80–86. – Arindas. Eine Gesch. unserer Zeit. In: ebd., S. 87–96. – Fragmente aus Sophiens Tgb. In: Penelope. Tb. für das Jahr 1843. Hg. Theodor Hell. Lpz. o. J., S. 156–218. Literatur: Leopold Friedrich Günther Goeckingk: Sophiens Charakter. In: Dt. Monatsschr., a. a. O., S. 71–79. Auch in: Friedrich Wilhelm Wolfrath: Charakteristik edler u. merkwürdiger Menschen [...]. Tl. 1, Halle 1791, S. 134–144. – Julie v. Großmann: Sophie Becker u. ihr Verhältniß zu Elisa v. der Recke [...]. In: Penelope, a. a. O., S. 144–156. – Diederichs: S. S. In: ADB. – Ineta Balode: Gibt es eine geschlechtsdifferenzierte Kommunikationshaltung begleitet v. geschlechtsdifferenzierter Wortwahl in den Reiseberichten v. S. S. (1791) u. Gustav J. Buddenbrock (1794)? In: Bausteine zu einer Gesch. des weibl. Sprachgebrauchs. Hg. Gisela Brandt. Bd. 4, Stgt. 2000, S. 47–64. Andrea Ehlert / Red.
Die Tochter eines Pastors wuchs in Neu-Autz auf. Ihr ältester Bruder war der Pastor u. Dichter Bernhard Gottlieb Becker. Aufgrund vorzügl. Erziehung u. Bildung zeigte sie sich bald gewandt im Umgang mit engl., frz. u. dt. Literatur u. begann früh zu dichten. Auf dem benachbarten Gut wuchsen die Töchter des Grafen Medem auf, Elisa (von der Recke) u. Dorothea, die spätere Herzogin von Kurland. Mit beiden schloss Sophie innige Freundschaft – bes. mit Elisa, die sie Schwarz-Gardos, Alice, * 31.8.1915 Wien, 1784–1786 auf einer Reise nach Deutschland † 14.8.2007 Tel Aviv. – Journalistin, Robegleitete. Sie führte – in aufklärerischer manautorin. Manier – ein Reisetagebuch, das ebenso wie ihre Gedichte zu Lebzeiten nicht veröffent- Die Enkelin Bruno Freis wuchs in Wien u. licht wurde. Bratislava auf. Ihre frühen Romane u. JuAuf der Deutschlandreise lernte Sophie in gendbücher erhielten zahlreiche AuszeichWülferode auf dem Landsitz des Dichters nungen. Bis zu ihrer Flucht vor der JudenLeopold Friedrich Günther von Goeckingk verfolgung 1939 studierte S. vier Semester dessen Vetter, den Referendar Johann Ludwig Medizin. 1940 nach Palästina ausgewandert, Georg Schwarz, kennen, den sie nach dem arbeitete sie dort seit 1949 als Journalistin. Tod ihrer Eltern heiratete (1787) u. mit dem Sie war Korrespondentin mehrerer europ. sie nach Halberstadt zog. Hier verkehrte sie Zeitungen u. Chefredakteurin der deutschim Hause Gleims, der neben Goeckingk u. sprachigen Tageszeitung »Israel-NachrichKlopstock ihr Vorbild war. S. starb im Wo- ten«. Ermutigt durch Arnold Zweig u. Max chenbett nach der Geburt eines Sohnes. Brod, setzte sie in Israel ihre schriftstelleri-
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sche Arbeit fort. Die von ihr herausgegebenen Anthologien spiegeln ebenso wie ihre Essays Frauen in Israel (Freib. i. Br. 1979) u. Paradies mit Schönheitsfehlern (ebd. 1982) Schicksale deutschsprachiger Juden u. das heutige Leben in Israel wider. S. war Mitgl. des P.E.N. Jerusalem u. London. Weitere Werke: Die Abrechnung. Graz/Wien/ Köln 1962 (R.). – Versuchung in Nazareth. Wien/ Stgt./Basel 1963 (R.). – Entscheidung im Jordantal. Stgt. 1965 (R.). – Von Wien nach Tel Aviv. Lebensweg einer Journalistin. Gerlingen 1991. 21992. – Zeitzeugnisse aus Israel. Ges. Beiträge der Chefredakteurin der ›Israel-Nachrichten‹. Hg. Erhard Roy Wiehn. 2 Bde., Konstanz 2006 u. 2007. Literatur: Anne Betten: Zur Spontaneität autobiogr. Erzählungen. Vergleich eines Interviews der ehemals österr., heute israel. Schriftstellerin u. Journalistin A. S.-G. mit ihrer schriftl. Autobiogr. In: Sprache, Onomatopöie, Rhetorik, Namen, Idiomatik, Grammatik. FS Karl Sornig. Hg. Dieter W. Halwachs u. a. Graz 1994, S. 1–11. – Hyeong Min Kim: Zur Thema-Rhema-Verteilung in den Stellungsfeldern mündl. u. schriftl. Informationseinheiten. Eine vergleichende Fallstudie anhand eines autobiogr. Interviews mit der israel. Schriftstellerin u. Journalistin österr. Herkunft A. S.-G. u. deren Autobiogr. Diss. Salzb. 2003. Ilse Auer / Red.
Schwarze, Hans Dieter, auch: Job. D. Alter, * 30.8.1926 Münster/Westfalen, † 7.5. 1994 Anterskofen/Bayern. – Verfasser von Lyrik, Prosa, Essays, Dramen u. Hörspielen. Der Sohn eines Kaufmanns machte 1944 das Kriegsabitur u. kehrte 1945 schwerkrank aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft zurück. Als Regisseur wirkte S. unter anderem an den Münchner Kammerspielen, wo er mit großem Erfolg die dt. Erstaufführung des König Ubu von Alfred Jarry inszenierte, u. am Schauspielhaus Zürich. 1960–1968 arbeitete er bei der Bavaria-Filmgesellschaft in München, wo er zahlreiche Filme drehte. Zu seinen rund 150 Fernsehfilmen zählen neben Inszenierungen von Bühnenstücken (u. a. von Wilder, Anouilh, Shaw, Shakespeare) auch Filme nach literar. Vorlagen, darunter Madame Bovary (1968) nach Flaubert u. Das Ende einer Dienstfahrt (1972) nach Böll. 1968–1973
war er fünf Jahre Intendant des Westfälischen Landestheaters Castrop-Rauxel, danach Direktor des Nürnberger Volkstheaters. Seit 1976 arbeitete S., der in Niederbayern, München u. Münster lebte, freiberuflich als Regisseur u. Schriftsteller. Er wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Bundesfilmpreis in Gold (1967), mit dem Preis »Bestes Hörspiel des Jahres 1991« u. dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse (1993). Als Autor – er begann als Lyriker (Quersumme. Hbg. 1952) – war S. sehr vielseitig. Er veröffentlichte u. a. skurrile westfäl. Geschichten (Die Brandebusemanns. Mchn. 1980), Epigrammatisches (Sterben üben – was sonst. Dortm. 1973), einen pikaresken Roman (Ludwig Leiserer. Mchn. 1983) u. subjektiv geprägte biogr. Versuche über Peter Hille (Münster 1957), Busch (Mchn. 1982) u. Ringelnatz (Mchn. 1983). Der Sammelband Kurz vorm Finale (Hg. Jürgen P. Wallmann. Emsdetten 1986) gibt einen Überblick über das literar. Gesamtwerk. Einen Höhepunkt als Erzähler erreichte S. mit seinen Jugenderinnerungen Geh aus mein Herz (Münster 1990): Aus ProsaMiniaturen entstand hier eine Autobiografie, die zgl. ein genaues Zeitbild ist. Weitere Werke: Clowns. Stierstadt 1959 (L.). – Der Stiefel ist vergiftet. Theateranekdoten. Mchn. 1960. – Memoriermurmeln. Ebd. 1980 (L.). – Neues v. Caspar Clan. Seine Verse, seine Sprüche. Ebd. 1984 (L.). – Sieben Tage Ruhe auf dem Lande. Aus den Tagebuchnotizen eines Versicherungsvertreters. Ebd. 1985 (P.). – Das himml. Jubiläumsspiel. Urauff. Münster 1993 (D.). – Tom Törni, der Zauberer. Stgt./Wien 1993 (Kinderbuch). – Fuß für Fuß. 700 Manteltaschen-Notizen. Bielef./Münster 1993. – Ich mag keinen Kriminalroman. Münster/ Bielef. 1994. – Rote Vogelschwärme. Aufzeichnungen aus meiner Krebszeit. Münster 1994. – Mein Klinikkrimi. Urauff. Münster 1995 (D.). – Zwölf Türen. Frühe u. späte Gedichte. Mit Offsetlithographien v. Ulrich Erben u. einem Nachw. v. Ingrid Bachér. Düsseld. 2002. Literatur: Westf. Autorenlex. 4. Jürgen P. Wallmann † / Red.
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Schwarzenbach, (Mina Renée) Annemarie, * 23.5.1908 Zürich, † 15.11.1942 Sils Baseglia/Engadin; Grabstätte: Friedhof Horgen bei Zürich. – Erzählerin, Reporterin. Als drittes Kind des Seidenindustriellen Alfred Emil Schwarzenbach u. seiner Frau Renée, Tochter des späteren Schweizer Generals Wille, wuchs S. in Zürich u. auf dem Landgut Bocken bei Horgen in großbürgerl. Umgebung auf. Nach der Matura im Töchterinstitut Fetan (Graubünden) studierte sie ab 1927 in Zürich u. Paris, schrieb erste publikationsfähige literar. Texte (Erik, Novelle, NZZ, 13.10.1929) u. promovierte 1931 mit einer Arbeit über die Geschichte des Oberengadins zum Dr. phil. Im selben Jahr publizierte der Amalthea Verlag, Wien, ihr erstes Buch, Freunde um Bernhard: ein im lockeren Parlando der damaligen Jeunesse dorée gehaltener Roman um die verwickelten erot. u. homoerot. Beziehungen innerhalb einer Gruppe reicher junger Menschen. Der Text, für den die Kontakte zu Albrecht Haushofer, Karl Vollmoeller u. Ruth Landshoff-York eine Rolle gespielt haben dürften, war im Herbst 1930 unter dem Eindruck der sich anbahnenden Freundschaft zu Erika u. Klaus Mann entstanden. Diese Beziehung, die bis zu ihrem Tod mehr oder weniger bestehen blieb, bildete fortan eine wichtige Konstante in S.s. Leben, bestimmte ihre Aufenthaltsorte, beeinflusste ihre literar. Arbeit sowie ihre polit. Haltung u. gab ihr Rückhalt im Konflikt mit dem Elternhaus, dem sich die engagierte Antifaschistin ab 1933 immer stärker entfremdete. Allerdings kam sie im Umfeld der Mann-Geschwister 1932 auch erstmals in Kontakt mit Drogen u. geriet dabei in eine Abhängigkeit, aus der sie sich trotz häufiger Klinikaufenthalte nie mehr wirklich zu befreien vermochte. Dennoch machte S. sich nach 1933 rasch einen Namen als unbestechliche, die sozialen Zusammenhänge nie außer Acht lassende Fotoreporterin. Für Schweizer Zeitungen bereiste sie Skandinavien, Spanien, Russland, den Vorderen Orient (Winter in Vorderasien. Zürich 1934) u. mehrfach die USA. 1935, nach der Heirat mit dem in Teheran stationierten frz. Diplomaten Claude
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Clarac, ließ sie sich kurze Zeit in Persien nieder u. machte im Sommer desselben Jahres während eines Ferienaufenthalts am Fuße des Demawend jene existentielle Krise durch, die in ihrem Tagebuch Tod in Persien (Basel 1995, Bd. 5 der von Roger Perret betreuten Werkausgabe) dokumentiert ist. Diesen Text arbeitete sie 1938 in der Klinik Bellevue in Yverdon in der Euphorie eines ärztlich kontrollierten Drogenkonsums zu ihrem wohl gelungensten literar. Werk, dem Roman Das glückliche Tal (Zürich 1940. Frauenfeld 1987. 6 2009), um. Es bündelt in einer poetischen, rhapsod. Sprache die Themen, die das Leben S.s nachhaltig bestimmten: das Erlebnis fremder Landschaften, das Vergessenwollen, die Einsamkeit, die Absage an die bürgerl. Gesellschaft, die Suche nach der eigenen Identität, die Liebe, den Tod u. die Faszination des Rauschgifts. Als der Roman 1939 erschien, befand sich S. auf der spektakulärsten ihrer Reisen, jener Autoexpedition durch Afghanistan, die im Bericht ihrer Reisegefährtin Ella Maillart, The Cruel Way (1947. Dt.: Auf abenteuerlicher Fahrt. Zürich 1948. Neuausg. 1988 u. d. T. Flüchtige Idylle), dokumentiert ist. Nach einem kurzen Heimataufenthalt übersiedelte S., die sich literarisch dem dt. Exil zugehörig fühlte u. als Mitbegründerin u. Sponsorin von Klaus Manns Exilzeitschriften »Die Sammlung« u. »Decision« gelten muss, im Sommer 1940 definitiv in die USA, wo sie für das Emergency Rescue Committee tätig war u. für US-Zeitungen Artikel schreiben wollte. In dieser Zeit verband sie eine leidenschaftl. Beziehung mit Carson McCullers, die in deren Erzählung A Tree. A Rock. A Cloud ihren schönsten literar. Niederschlag fand. McCullers gab darin der Idee, die S.s letztem – in Anlage u. Durchführung gescheiterten, unveröffentlichten – Werk (Das Wunder des Baumes. Typoskript in der Schweizerischen Nationalbibliothek, Bern) zugrunde liegt u. die darauf abzielt, dass der Mensch durch die Begegnung mit der Natur von seiner verzehrenden Liebessehnsucht geheilt werden könne, ihrerseits eine ergreifende, gelungene dichterische Gestalt. Im Nov. 1940 wurde S. nach einer Auseinandersetzung mit ihrer Freundin Margot von Opel
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zunächst in einer Privatklinik in Connecticut u. dann, nach einem Selbstmordversuch, im für seine drast. Methoden berüchtigten Bellevue-Hospital in New York interniert, aus dem ihr Bruder Alfred Schwarzenbach sie Ende Jan. 1941 unter der Bedingung freibekam, dass sie die USA verlasse. Zu Hause unwillkommen, begab sich S. im April 1941 über Spanien u. Portugal in den Frz. Kongo, wo sie für Schweizer Zeitungen schrieb u. am Wunder des Baumes arbeitete. Durch Intrigen zermürbt u. durch eine Malaria-Erkrankung geschwächt, kehrte S., nachdem sie in Tetuan nochmals ihren Ehemann besucht hatte, im Juli 1942 in die Schweiz zurück. Am 7.9.1942, kurz bevor sie wieder nach Portugal ausreisen konnte, um Iberien-Korrespondentin der »Weltwoche« zu werden, zog sie sich im Engadin bei einem Sturz vom Fahrrad eine Kopfverletzung zu, durch die sie zeitweise das Bewusstsein verlor. Von der Mutter im Taxi in die Klink Prangins am Genfersee transportiert, wurde sie mittels Insulin- u. Elektroschocks gegen Schizophrenie behandelt u. nach dem Misserfolg dieser Therapie am 15. Okt. von der Mutter nach Bocken zurückgeholt. Am 19. Okt. brachte man sie per Bahn u. Postauto in ihr Haus in Sils-Maria, wo sie unter Ausschluss der Öffentlichkeit von zwei Krankenschwestern gepflegt wurde. Medizinisch betreut wurde sie vom St. Moritzer Arzt Paul Gut, dessen »Programm« laut einem Gutachten vom 5.11.1942 im Einvernehmen mit der Mutter »zusammenfassend ‹Euthanasie›« hieß. S. starb laut Totenschein an einer Lungenentzündung. Die Abdankung war am 18.11.1942 im Zürcher Krematorium; die Urne wurde am 19.11.1942 im Familiengrab auf dem Friedhof Horgen beigesetzt. S. war völlig vergessen, als sie 1987 durch die mit einer ersten ausführl. Biografie versehene Neuausgabe von Das glückliche Tal, die Recherchen von Niklaus Meienberg (Die Welt als Wille & Wahn) u. Roger Perrets Porträt in der NZZ vom 7.8.1987 wiederentdeckt wurde. Perret gab in der Folge eine ganze Reihe von Werken S.s neu heraus u. edierte Unveröffentlichtes wie den Roman Flucht nach oben (Basel 1999) oder die Textsammlungen Bei diesem Regen (Basel 1989), Auf der Schattenseite
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(Basel 1990, mit Fotografien), Jenseits von New York (Basel 1992, mit Fotografien), Alle Wege sind offen. Die Reise nach Afghanistan (Basel 2000) u. Insel Europa (Basel 2005). Seit den späten 1980er Jahren erschienen auf Deutsch, Französisch u. Italienisch verschiedene, z.T. romanhafte biogr. Darstellungen von S., die mit Nachdruck ihre persönl. Ausstrahlung u. ihr trag. (Frauen-)Leben in den Vordergrund rückten: Dominique Grente (später Dominique L. Miermont) u. Nicole Müller: L’ange inconsolable (Paris 1989. Dt.: Der untröstliche Engel. Mchn. 1995), Areti Georgiadou: Das Leben zerfetzt sich mir in tausend Stücke (Ffm. 1995), Melania G. Mazucco: Lei cosi amata (Mailand 2000. Dt.: Die so Geliebte. Roman um A. S. Mchn. 2003), Vinciane Moeschler: A. S. ou les fuites éperdues. Romand’une vie (Lausanne 2000), Dominique Laure Miermont: A. S. ou le mal de l’Europe (Paris 2004. Dt.: Eine beflügelte Ungeduld (Zürich 2008). D. L. Miermont, die S. mit Blick auf deren frz. Pass zur frz. Autorin zu stempeln suchte, ging später auch dazu über, bis dahin unveröffentlichte Werke in ihrer frz. Übersetzung herauszubringen u. die dt. Erstveröffentlichung im Anhang mitzupublizieren, so die späten Prosagedichte Kongo-Ufer u. Aus Tetuan (Noville-sur-Mehaigne, Belgien 2005), Die vierzig Säulen der Erinnerung (ebd. 2008) u. S.s Briefwechsel mit Claude Bourdet (Genf 2008). Längst hat auch der Film S. für sich entdeckt (Donatello u. Fosco Dubini, Die Reise nach Kafiristan, 2001), u. zunehmend beschäftigt sich auch die Literaturwissenschaft mit ihr (vgl. Walter Fähnders u. Sabine Rohlf: A. S. Analysen und Erstdrucke. Bielef. 2005, mit ausführl. Bibliografie). Dank den Anstrengungen von D. L. Miermont u. S.s Großneffen Alexis Schwarzenbach wurde ihr 100. Geburtsjahr 2008 zu einem Kulminationspunkt der Rezeption. Miermont gründete nebst ihren publizistischen Aktivitäten den Verein »Les amis d’A. S.«, präsentierte in Lausanne eine Ausstellung u. führte eine »weltumspannende A. S.Lesung« durch, Schwarzenbach ließ seiner Biografie von Renée Schwarzenbach (Die Geborene. Zürich 2004) den opulenten Fotoprachtband A. S. Auf der Schwelle des Fremden (Mchn. 2008) folgen, stilisierte die kurze unpublizierte Erzählung Eine Frau zu sehen (Zü-
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rich 2008) zu einem Schlüsseltext für Leben u. Werk S.s u. stellte auch eine hagiografischeuphorisch orientierte A. S.-Ausstellung im Zürcher Literaturmuseum Strauhof unter diesen Titel. S.s Nachlass befindet sich im Schweizerischen Literaturarchiv, Bern. Weitere Werke: Lyr. Novelle. Bln. 1933. Mit Nachw. v. Roger Perret. Basel 1988. – Lorenz Saladin. Ein Leben für die Berge. Bern 1938. Neu hg. u. mit einem Essay vers. v. Robert Steiner u. Emil Zopfi. Basel 2007 (Biogr.). – Briefausgaben: Wir werden es schon zuwege bringen, das Leben. Briefe an Erika u. Klaus Mann. Hg. Uta Fleischmann. Pfaffenweiler 1993. – Briefw. mit Carl Jacob Burckhardt u. Margret Boveri. In: Walter Fähnders u. Sabine Rohlf (Hg.): A. S. Analysen u. Erstdrucke. Bielef. 2005, 229–278, 279–295. Literatur: Roger Perret: An den äußersten Flüssen des Paradieses. Ein Porträt v. A. S. In: NZZ, 7./8.3.1987. – Niklaus Meienberg: Eine lehnt sich auf u. stirbt daran. In: Ders.: Die Welt als Wille & Wahn. Elemente zur Naturgesch. eines Clans. Zürich 1987, S. 109–124 u. passim. – Charles Linsmayer: Leben u. Werk A. S.s. In: A. S.: Das glückl. Tal. Neu hg. C. Linsmayer. Frauenfeld 1987, S. 159–224. – Claudia Maria Ferreiro Ribeiro: A reescrita autobiográfica dos romances ›Tod in Persien‹ e ›Das glückliche Tal‹. Diss. Porto 1998. – Gonçalo Vilas-Boas: Ein fremder Blick durch Sprache. A. S.s Reiseberichte aus Vorderasien. FS Christa Grimm. Dublin/Roskilde 2003 S. 49–63. – Sophie Dekock: Reisen u. Schreiben ins Namenlose. Eine Analyse von A. S.s Orientreisen anhand von ›Tod in Persien‹ u. ›Das glückliche Tal‹. Diss. Univ. Gent 2004. – Alexandra Lavizzari: Fast eine Liebe. A. S. u. Carson McCullers. Bln. 2008. – C. Linsmayer: A. S. Ein Kapitel trag. Schweizer Literaturgesch. Frauenfeld 2008. – Areti Georgiadou: A. S. In: NDB. Charles Linsmayer
Schwarzenberg, Friedrich Fürst zu, * 30.9.1799 Wien, † 6.3.1870 Wien; Grabstätte: Worlik/Böhmen. – Offizier u. Schriftsteller. Der Sohn des Oberkommandierenden in der Völkerschlacht bei Leipzig, Karl Fürst Schwarzenberg, durchlief seit 1815 eine militärische Karriere, die er 1831 als Oberstleutnant fürs Erste beendete. 1830 nahm S. an der frz. Eroberung Algeriens teil, worüber er in seinen Rückblicken auf Algier [...] (Wien 1837) berichtete. 1835/36 bereiste S. den Balkan u.
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die Türkei u. legte seine Eindrücke in den Fragmenten aus dem Tagebuch während einer Reise in die Levante (o. O. 1837) nieder. 1838 kämpfte er in Spanien auf der Seite der Karlisten. Nach Ruhejahren auf seinem böhm. Landsitz folgte – zunächst als Privatdruck – sein bekanntestes Werk, Aus dem Wanderbuche eines verabschiedeten Lanzknechts (5 Bde., Wien 1844–48), eine fragmentarisch-feuilletonistische Sammlung von Erzählungen, Gedichten, Liedern, literar. Skizzen, Essays u. Aphorismen. Die Jahre nach 1846 führten S. auf die Schauplätzen der europ. Revolution auf Seiten der etablierten Mächte: 1846 in Galizien, 1847 im Sonderbundskrieg, 1848 in Mailand u. Tirol, 1849 in Ungarn. Für seine Dienste erhielt er 1848 den Rang eines Obristen, 1849 den eines Generalmajors. 1850 erschienen S.s stark aphorist. Antediluvianische Fidibus-Schnitzel von 1842–1847 (beide Wien), denen er 1862 die nunmehr eher themen- als erlebnisorientierten Postdiluvianischen Fidibusschnitzel folgen ließ. S. ist ein Repräsentant der österr. Offiziersdichtung, dessen Stil aristokratische Distanz zur Literatur als Beruf verrät. Sein Werk ist zgl. eine Quelle für die Mentalitätsu. Ideengeschichte der Habsburgermonarchie in den Umbruchsjahren des 19. Jh. Literatur: Horst Belke: Autobiogr. u. Zeitkritik. F. Fürst zu S. als Schriftsteller. Düsseld. 1971. – Sigurd Paul Scheichl: F. Fürst zu S. In: ÖBL. – Eugen Thurnher: Josef v. Eichendorff u. F. v. S.: zur Frage der krit. Maßstäbe Eichendorffs. In: Ders.: Zwischen siebzig u. achtzig: Studien zur dt. Geistesgesch. Innsbr. 2005, S. 285–299. – Veronika Bernard: Das Osman. Reich auf gut josephinisch [...]. In: Nachklänge der Aufklärung im 19. u. 20. Jh. FS Werner M. Bauer. Hg. Klaus Müller-Salget u. S. P. Scheichl. Innsbr. 2008, S. 63–68. – Zdeneˇk Bezecny´ : Die Welt in den Augen des letzten Landsknechts F. zu S. (1799–1870) u. seine geistigen Nachfahren. In: Sozial-reformator. Denken in den böhm. Ländern 1848–1914. Hg. Lukásˇ Fasora u. Z. B. Mchn. 2010, S. 55 ff. Günther Lottes / Red.
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Schwarzenberg, Johann Frhr. von, * 26.12.1463 (1465?) Schloss Schwarzenberg/Steigerwald, † 21.10.1528 Nürnberg; Grabstätte: ebd., Johannisfriedhof. – Verfasser juristischer u. didaktischer Schriften.
Schwarzkogler zwei Schwerter zwischen Natur u. Gnade – mit einer Antwort Martin Luthers. In: Glaube u. Macht. Theologie, Politik u. Kunst im Jh. der Reformation. Hg. Enno Bünz u. a. Lpz. 2005, S. 195–218. – Gerhard Markert: Menschen um Luther. Eine Gesch. der Reformation in Lebensbildern. Ostfildern 2008, S. 244–248. – Andreas Deutsch: F. Frhr. v. S. u. Hohenlandsberg. In: NDB. Reinhard Tenberg / Red.
S. trat nach ritterl. Erziehung in den Dienst des Würzburger Fürstbischofs Lorenz von Bibra, dann von 1501 bis 1522 in den der Rudolf (Eberhard), Fürstbischöfe von Bamberg. Nachdem er sich Schwarzkogler, zur luth. Lehre bekannt hatte, verließ er das * 13.11.1940 Wien, † 20.6.1969 Wien. – kath. Franken; er wurde Statthalter u. Land- Aktionskünstler, Maler. hofmeister der Markgrafen Kasimir u. Georg Nach dem Studium an der Graphischen Lehrvon Brandenburg. u. Versuchsanstalt in Wien (seit 1957, ohne Der viel beschäftigte Diplomat legte ein Abschluss) schrieb sich S., Sohn eines Arztes, umfangreiches Œuvre vor. 1502 schrieb er, der sich im Jan. 1943 bei Dubinniskij-Stalinunmittelbar nach dem Tod seiner Frau Ku- grad erschoss, nachdem er durch eine nigunde von Rieneck, den Trostspruch umb Kriegsverletzung beide Beine verloren hatte, abgestorbene Freunde (Hg. Willy Scheel. Halle 1961/62 an der Akademie für Angewandte 1907). Seine insbes. gegen seinen altgläubi- Kunst ein. 1964/65 arbeitete er als Graphiker gen Sohn Christoph gerichteten polem. bei einer Büromittelfirma in Wien. Pamphlete u. Sendbriefe (z. B. Beschwerung der Gemeinsam mit Otto Muehl, Hermann alten Teüfelischen Schlangen mit dem Göttlichen Nitsch u. Günter Brus begründete S. 1964 wort. Augsb. 1525) weisen S. als engagierten den »Wiener Aktionismus« mit der IntentiAnhänger der Reformation aus. Als mora- on, die erfahrenen Wirklichkeitsbereiche u. lisch-didakt. Unterweisung für die Jugend ist die tägl. Lebenspraxis als Rohstoff künstleridie reich illustrierte Spruchsammlung Me- schen Schaffens zu verstehen. Die wenigen morial der Tugend (in: Teutscher Cicero) anzuse- Mittel seiner Aktionen wie die Knappheit der hen; sein satir. Büchlein vom Zutrinken (Opp- sprachl. Zeugnisse S.s sind Ausdruck einer enheim 1512. Hg. W. Scheel. Halle 1900) Ästhetik der Askese, einer so weit wie mögklagt das Trinken in der Form von Teufels- lich vorangetriebenen Reduktion: »Kunst ist briefen an. Ferner ließ er, des Lateinischen eine Entziehungskur.« Fotografie war das unkundig, Texte Ciceros übersetzen (Teu- bevorzugte Medium für die Dokumentation tscher Cicero. Augsb. 1534) u. befreundeten seiner Aktionen, bei denen der nackte Körper Humanisten (Hutten, Pirckheimer) zur Kor- im Zentrum stand. Die von asiatischer Phirektur vorlegen. Bekannt wurde S. als Aus- losophie beeinflussten Texte S.s sind Verarbeiter der »Bamberger Halsgerichtsord- schlüsselungen des Leitmotivs der Vernung« (Constitutio Criminalis Bambergensis. schmelzung von Polaritäten des Daseins. Bamberg 1507), des ersten dt. Strafgesetzbu- Neben theoret. Texten verfasste S. Konzepte ches, das der Constitutio Criminalis Carolina zu Aktionen, die bis in die mittlere Schaf(1532) als Grundlage diente. fensphase Regieanweisungen waren, später Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: den Charakter der Einweisung in eine intenWilly Scheel: J. zu S. Bln. 1905. Neudr. Bln. 1978. sivierte Erlebnisform annahmen. Goldbach 2000. – Erik Wolf: Große Rechtsdenker S. starb an den bei einem Sturz aus dem der dt. Geistesgesch. Tüb. 1939 u. ö. – Friedrich Fenster seiner Wohnung erlittenen VerletMerzbacher: J. v. S. In: Fränk. Lebensbilder N. F. 4 (1971), S. 173–185. – Bayer. Bibl. Hg. Hans Pörn- zungen. Eine erste Ausstellung von Aktionsbacher. Bd. 1, Mchn. 1978, S. 1034–1037, 1104. – fotos u. -konzepten fand 1970 in der Galerie Johann Schütz: J. v. S. u. die Bambergensis. In: nächst St. Stephan in Wien statt. 1972 wurJura. Juristische Ausbildung 20 (1998), 516–524. – den von S. Texte, Skizzen und Fotos zu Aktionen, Volker Mantey: Von Thomas v. Aquin bis J. v. S. Die 1965–1969 auf der Documenta 5 in Kassel in
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der Abteilung »Individuelle Mythologien« gezeigt. Weitere Werke: Ausgew. Fotos u. ges. Texte. In: Die Schastrommel. Organ der österr. Exilregierung 3 (1970). – Texte für Aktionen (1965/69). In: Protokolle (1971), H. 1, S. 150–157. – Texte. In: R. S. Innsbr. 1976 (Ausstellungskat.) Literatur: Von der Aktionsmalerei zum Aktionismus. Wien 1960–65. Hg. Museum Fridericianum, Kassel, Kunstmuseum Winterthur u. Scottish National Gallery of Modern Art, Edinburgh. Klagenf. 1988 (Bibliogr.). – Franziska Meifert: Zweimal Geborene. Der ›Wiener Aktionismus‹ im Spiegel v. Mythen, Riten u. Gesch.n. In: protokolle (1990), H. 1, S. 3–63. – Eva Badura-Triska u. Hubert Klocker: R. S. Leben u. Werk. Hg. vom Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien. Mit einer Vorbemerkung v. Lóránd Hegyi u. Texten v. Günter Brus u. Hermann Nitsch. Klagenf. 1992. – Hannah Stegmayer: R. S. Konzeptuelle Fotografie/Conceptual Photography. Rosenheim 2002 (Ausstellungskat.). – Yvonne Ziegler: R. S. Darstellungen v. Gewalt u. Anleitungen zur Heilung in Aktion, Fotografie, Zeichnung u. Text. Diss. Freib. i. Br. 2005. Online-Ausg. 2009. – Gerald Schröder: Schmerzensmänner. Trauma u. Therapie in der westdt. u. österr. Kunst der 1960er Jahre. Baselitz, Beuys, Brus, S., Rainer. Paderb. 2011, S. 421–453. Bruno Jahn
Schwarzkopf, Nikolaus, * 27.3.1884 Urberach bei Darmstadt, † 17.10.1962 Darmstadt; Grabstätte: ebd., Alter Friedhof. – Romancier u. Erzähler. Der Sohn eines Pflasterers u. einer Näherin wurde Lehrer; seit 1924 konnte S. vom Schreiben leben. Sein heimatl. Lebensraum, Mainz u. Darmstadt, ist immer wieder Zentrum seiner liebevoll-romantisierenden u. volkstüml. Schilderungen, die zu ihrer Zeit recht erfolgreich waren, heute jedoch weitgehend vergessen sind. 1930 erhielt er den Georg-Büchner-Preis. In seinem ersten Roman, Greta Kunkel (Stgt. 1913), erzählt S. das kurze Leben eines ungewöhnl. Mädchens aus dem Odenwald. Ebenfalls dort, in dem Dörfchen Urberach, spielt der sehr erfolgreiche Roman Der Feldhäfner oder Freude auf weite Sicht (Mchn. 1941), der einen in seinem Töpferhandwerk schöpferisch u. zufrieden lebenden Mann vorführt. Der Maler Matthias Grünewald ist Gegen-
stand sowohl einer sehr subjektiven, essayistischen Darstellung (Matthias Grünewald. Ein Büchlein für Kinder Gottes. Ebd. 1920) als auch eines Romans (Der Barbar. Ein Matthias-Grünewald-Roman. Ebd. 1930). Weitere Werke: Das kleine Glück. Stgt. 1915 (R.). – Die Häfner aus dem Erbseneck. Köln 1923 (E.). – Der schwarze Nikolaus. Ebd. 1925 (R.). – Judas Iskariot. Ebd. 1925 (R.). – Amorsbronn. Mchn. 1928 (E.). – Die silbernen Trompeten. Bln. 1935 (R.). – Mein Leben. Ebd. 1935 (Autobiogr.). – Musik am Sonntag. Mchn. 1948 (Ess.s). Literatur: Hildegard Grünholz-Schwarzkopf: N. S. zum 100. Geburtstag. Rödermark 1984. Walter Olma
Schwarzschild, Leopold, * 8.12.1891 Frankfurt/M., † 2.10.1950 Santa Margherita/Italien. – Publizist. S. war einer der führenden linksliberalen Publizisten der Weimarer Republik. Er entstammte einer alten, jüdisch-orthodoxen Frankfurter Gelehrten- u. Kaufmannsfamilie. Nach einer kaufmänn. Ausbildung begann er in Frankfurt/M. ein Studium der Geschichte u. Volkswirtschaft, das vom Ersten Weltkrieg unterbrochen wurde. Nach ersten journalistischen Arbeiten für verschiedene Zeitschriften fand S. in den Zeitschriften »Das TageBuch« (1920–33) u. »Der Montag Morgen« (1923–33), die er zusammen mit Stefan Großmann herausgab, eine eigene publizistische Bühne, auf der er seine polit. u. ökonomischen Vorstellungen frei entwickeln konnte. 1932 musste S., gezwungen durch die polit. Entwicklungen, Redaktion u. Verlag nach München verlegen. Im März 1933 floh er nach Wien, später nach Paris, wo er von Juli 1933 bis Mai 1940 eine der erfolgreichsten Exilzeitschriften, »Das Neue TageBuch«, herausgab. 1940 emigrierte S. in die USA, wo er in New York als freier Journalist lebte. Neben Arbeiten für Zeitungen, u. a. für die »New York Times«, u. seiner Tätigkeit für die »Voices from America« (seit 1942) schrieb er dort seine erst spät in Deutschland erschienene Marx-Biografie u. weitere Bücher. S.s Nachlass befindet sich im Leo Baeck Institute in New York.
677 Weitere Werke: Sumpf. Drama in einem Vorspiel u. drei Akten. Ffm. 1920. – Das Ende der Illusionen. Amsterd. 1934. – World in Trance. From Versailles to Pearl Harbor. Translated from the German by Norbert Guterman. New York 1942. Dt.: Von Krieg zu Krieg. Amsterd. 1947. – Primer of the Coming World. Translated from the German by N. Guterman. New York 1944. – The Red Prussian. The Life and Legend of Karl Marx. Translated from the German by Margaret Wing. Ebd. 1947. Dt.: Der rote Preuße. Leben u. Legende v. Karl Marx. Stgt. 1954. – Chronik eines Untergangs. Dtschld. 1924–1939. Hg. Andreas P. Wesemann. Wien 2005. Literatur: Bernd Sösemann: Das Ende der Weimarer Republik in der Kritik der demokrat. Publizisten. Bln. 1976, S. 34–39, 51–56. – Hans Albert Walter: Dt. Exillit. 1933–50. Bd. 4: Exilpresse. Stgt. 1978, S. 72–127. – Liselotte Maas: Verstrickt in die Totentänze einer Welt. Die polit. Biogr. des Weimarer Journalisten L. S., dargestellt im Selbstzeugnis seiner Exilztschr. ›Das Neue Tage-Buch‹. In: Exilforsch. 2 (1984), S. 56–85. – Markus Behmer: Von der Schwierigkeit, gegen Illusionen zu kämpfen. Der Publizist L. S. – Leben u. Werk vom Kaiserreich bis zur Flucht aus Europa. Münster 1997 (Bibliogr. S. 614–662). – Dieter Schiller: Die ›Volksfront-Sache‹ – ›moralisch zerstört‹? Aus dem redaktionellen Briefw. v. L. S.s ›Neuem Tage-Buch‹ im Jahr 1937. In: Exilforsch. 22 (2004), S. 248–259. – Nathalie Fontaine: L. S. et ›Das Neue Tage-Buch‹ (Paris 1933–1940) dans la tourmente du nazisme et du communisme. In: Lit. u. Macht. Hg. Karl Hölz. Ffm. u. a. 2005, S. 141–158. Gregor Ackermann / Red.
Schwarzwälder Prediger. – Anonymer Verfasser eines Zyklus von Sonn- u. Festtagspredigten (nach dem ersten Herausgeber auch als Grieshabersche Sammlung bezeichnet) sowie einer diese ergänzenden Sammlung von Heiligenpredigten; letztes Viertel des 13. Jh. Der S. P. gehörte wohl dem Ordensklerus (den Augustinern, eher noch den Franziskanern) an. Für die Herkunft des Autors aus dem badischen Oberland schien Grieshaber der Schreibdialekt der (von ihm als Autograf betrachteten) Freiburger Handschrift der Sonntagspredigten zu sprechen. Neuere Untersuchungen (Schiewer) verweisen eher in den Umkreis der die deutschsprachige Predigt des 13. Jh. stark prägenden schwäbischen (Augsburger oder Ulmer) Minoriten.
Schwarzwälder Prediger
Die Sammlung der Sonn- u. Festtagspredigten enthält Predigten auf alle Sonntage des Kirchenjahrs, zwei Fastenpredigten u. eine Predigt auf Christi Himmelfahrt. Bis auf zwei Stücke beruhen sie auf den lat. Sermones des Franziskaners Konrad von Sachsen, ergänzt durch zusätzl. Quellen sowie v. a. exemplarische Geschichten der Bibel. Formal orientiert sich der S. P. an Konrads als Predigtvorlage konzipierter Fassung. Auf das lat. Thema folgen dessen dt. Übersetzung u. Hinweise auf Herkunft u. Funktion des Zitats. In meist viergliedriger Disposition wird das Thema nach den Regeln der Artes praedicandi ausgelegt. Auslassungen u. Umakzentuierungen sowie zahlreiche lat. Hinweise lassen als Adressaten mit der Predigt betraute Kleriker vermuten. Der Konzeption als Predigthandbuch verdankt die Sammlung sicher ihren (durch 33 überlieferte Textzeugen dokumentierten) Erfolg. Überlieferungsgemeinschaft, ein verbindendes Verweissystem u. stilistische Gemeinsamkeiten weisen dem S. P. das Corpus von 46 Festtagspredigten, meist kaum erweiterten Übersetzungen aus der Legenda aurea, zu. Ihre nur geringe Verbreitung u. Nachwirkung erklärt sich aus der Konkurrenz zu den im 14. Jh. zahlreich auftretenden deutschsprachigen Legendaren. Ausgaben: Franz Karl Grieshaber: Dt. Predigten des 13. Jh. Stgt. 1844–46. Neudr. Hildesh./New York 1978. – Peter Schmitt, Ulla Williams u. Werner Williams-Krapp (Hg.): Fest- u. Heiligenpredigten des S. P. Mchn. 1982. Literatur: Gerhard Stamm: Studien zum ›S. P.‹. Mchn. 1969. – Werner Williams-Krapp: Das Gesamtwerk des sog. ›S. P.‹. In: ZfdA 107 (1978), S. 50–80. – Hans-Jochen Schiewer: S. P. In: VL. – Ders.: ›Et non sit tibi cura quis dicat sed quid dicatur.‹ Entstehung u. Rezeption der Predigtcorpora des sogenannten S. P.s. In: Die dt. Predigt im MA. Hg. Volker Mertens. Tüb. 1992, S. 31–53. – Ders.: Die Schwarzwälder Predigten. Entstehungsu. Überlieferungsgeschichte [...]. Tüb. 1996. Peter Schmitt / Red.
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Schwedhelm, Karl, * 14.8.1915 Berlin, Schwedler, Johann Christoph, * 21.12. † 9.3.1988 Braunsbach-Steinkirchen. – 1672 Krobsdorf/Niederschlesien, † 12.1. Übersetzer, Lyriker, Essayist. 1730 Nieder-Wiesa bei Greiffenberg. – Evangelischer Buß- u. ErweckungsprediS. wuchs an der Ostsee u. in Berlin auf, wo er seine Schul- u. Studienzeit (Germanistik) ger, Dichter geistlicher Lieder. absolvierte. 1941–1945 war er Soldat; 1955–1978 leitete er die Literaturabteilung des SDR. Literarisch trat S. zuerst hervor als Übersetzer der romant. Dichtungen der Marceline Desbordes-Valmore (Bühl 1947). Seine eigene Lyriksammlung Fährte der Fische (Stgt. 1955) fand den Beifall Wilhelm Lehmanns. In Anlehnung an die moderne Physik konstatierte S.s Poetik ein verändertes Raum- u. Zeitbewusstsein; der lyr. Augenblick als »punktuelle Ewigkeit« soll die Simultaneität u. Ortlosigkeit der Dingwelt durchbrechen (vgl. Das Gedicht in einer veränderten Wirklichkeit. In: Das Zeitalter des Fragments. Literatur in unserer Zeit. Hg. Horst Lehner. Bad Herrenalb 1964, S. 147 f.). In Essays wandte sich S. kulturhistor. u. kulturkrit. Themen zu, so in Woher jeder kommt und wohin niemand zurückkann: Kindheit (in: Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz, Abhandlungen der Klasse der Literatur, Jg. 1978, Nr. 3); als Herausgeber bemühte er sich um Wiederentdeckungen wie John Henry Mackay. Eine Auswahl aus dem Werk (Wiesb. 1980). S.s Werk spiegelt das Bestreben der Literatur der 1950er Jahre, die klass. Moderne aufzuarbeiten, ohne sich ganz von der Tradition zu lösen. Weitere Werke: Ausgabe: Ges. Werke. Hg. Bernhard Albers u. a. 8 Bde., Aachen 1991–2007. – Einzeltitel: Wälder der Traumgesichte. Die Dichtung der Nelly Sachs. In: Nelly Sachs zu Ehren. Gedichte – Prosa – Beiträge. Ffm. 1961, S. 70–76. – Von 1945 bis zur Gegenwart. In: Lit. im dt. Südwesten. Hg. Bernhard Zeller u. Walter Scheffler. Stgt. 1987, S. 319–340. – Herausgeber: Lyrik aus dieser Zeit. Ein Jb. mit bisher unveröffentl. Lyrik (zus. mit Kurt Leonhard). 2 F.n, Mchn. u. a. 1961 u. 1963. Hartmut Dietz / Red.
Der Familie eines Bauern entstammend, besuchte S. das Gymnasium in Zittau unter Rektor Christian Weise u. studierte ab Winter 1694 Theologie in Leipzig (Bacc. art. 30.11.1695), wo er August Hermann Francke begegnete. Dort disputierte er u. a. über die Verbrennung der Bücher von Häretikern u. zur Erlangung des Magistergrades (28.1.1697) gegen Hobbes. 1698 übernahm er eine Pfarrstelle in Nieder-Wiesa vor dem schles. Greiffenberg, wo die Grenzkirche Zuflucht für die evang. Schlesier war u. infolge der volkstüml. Erweckungspredigten S.s ein Eingangstor des Pietismus wurde. Dabei erfuhr S. unter anderem von dem Jesuiten Pater Carl Regent Widerstand, gelegentlich auch von luth. Seite. Der Herrnhuter Brüdergemeine stand er nahe. S.s Predigten waren sehr verbreitet (etwa 100 Titel bei Otto), z.B. der postum herausgegebene Sammelband Ewige Ruhe (Lpz./Lauban 1733; mit Lebensbeschreibung u. Porträt). Das Evangelisch-Lutherische Hausbuch (3 Tle., Lauban 1706–11; mit einer hymnolog. Vorrede u. eigenen Liedern im dritten Teil) sowie die Liedersammlung Die Lieder Moses und des Lammes (Bautzen 1716; mit insg. 806, davon 462 eigenen Liedern) enthalten sein wichtigstes poetisches Vermächtnis. Sein Passionslied Wollt ihr wissen, was mein Preis? war einst sehr verbreitet (noch heute im Gesangbuch der Brüdergemeine. Hbg. 1967). S. war auch ein guter Pädagoge, richtete sonntägl. Katechisationen ein u. gründete ein Waisenhaus. Weitere Werke: Disputatio posterior eaque moralis de combustione librorum haereticorum (zus. mit Friedrich Wilhelm Schütze). Lpz. o. J. (30.12.1696). – Dissertatio moralis de ortu dominii divini in homines, inprimis contra Hobbesium. Präses: Christian Gottfried Alberti; Respondent: J. C. S. Lpz. 1697. – Das IV fache Ende des Glücks, des Lebens, der Welt u. der Zeit. Bautzen/Görlitz 1717 (Predigten). – Bibl. Spruch- u. Historien-Catechismus. Zittau 1719. – Evang. Hirten-Brieffe. Bautzen
679 1719. – Catechismus-Lexicon. Lauban 1720. – Lehr-, Gebet- u. Gesangbuch. Löbau 1721. Literatur: Gottlieb Friedrich Otto: Lexicon der [...] Oberlausizischen Schriftsteller u. Künstler. Bd. 3, Görlitz 1803. – Koch 5, S. 225–232. – Franz Brümmer: J. C. S. In: ADB. – Elisabeth Zimmermann: Schwenckfelder u. Pietisten in Greiffenberg u. Umgegend. Görlitz 1939. – Arno Büchner: Das Kirchenlied in Schlesien u. der Oberlausitz. Düsseld. 1971. – Ders.: J. C. S.s Nieder-Wiesaer Leichenpredigt auf Eugenio Casparini v. Jahre 1706. In: Jb. für Schles. Kirchengesch. 59 (1980), S. 62–83. – Gesch. Piet., Bd. 2, S. 6 f., 20 f. – ErnstWalter Paasch: Über den Pietisten J. C. S. Aus den Kirchenbüchern von Greiffenberg u. Nieder Wiesa. In: Jb. für Schles. Kirchengesch. 76/77 (1997/98), S. 227–241. – Estermann/Bürger, Tl. 2, S. 1274. Dietrich Meyer / Red.
Schweickert Weitere Werke: Der Axtschwinger. Bln. 1868 (R.). – Aus den Alpen. Bln. 1870 (E.en). – Der Bildschnitzer vom Achensee. 3 Bde., Bln. 1873 (R.). Literatur: Erika Pick: R. S. Von den Schweizer Novellen zum Bauernkriegsroman. Diss. Bln. 1961. – Ursula Münchow: Arbeiterbewegung u. Lit. Bln./ DDR 1981, S. 220–253. – Ursula Herrmann: R. S. (1821–1907). Vom Vorsitzenden des Königsberger Arbeitervereins in der Revolution 1848/49 zum Schriftsteller u. Freund v. Wilhelm Liebknecht u. August Bebel. In: Akteure eines Umbruchs, Männer u. Frauen der Revolution 1848/49. Hg. Walter Schmidt. Bln. 2003, S. 787–834. – Stefan Jordan: R. S. In: NDB. Christoph Sahner / Red.
Schweickert, Walter Karl, * 26.8.1908 Freiburg i. Br., † 27.12.1992 Leipzig – Erzähler, Hörspiel-, Kinderbuch-, FernSchweichel, (Georg Julius) Robert, auch: sehspiel- u. Drehbuchautor. Heinrich Friedemann, * 12.7.1821 KöS. trat bereits in den 1920er Jahren während nigsberg, † 25.4.1907 Berlin. – Erzähler, seiner Arbeit in einer Berliner Filmfirma mit Romanautor, Publizist. S., Sohn eines Großkaufmanns, studierte Jura u. Kameralwissenschaften in Königsberg. Der Mitbegründer des dortigen Arbeitervereins verbaute sich 1848 durch sein polit. Engagement eine Karriere im Staatsdienst. 1850 wegen Pressevergehens aus Preußen ausgewiesen, emigrierte er in die Schweiz, wo er als Lehrer tätig war. Nach seiner Rückkehr 1861 arbeitete er bis 1869 als Journalist in Berlin, Hannover u. Leipzig, 1869–1883 als Feuilletonredakteur bei der sozialistisch orientierten »Roman-Zeitung«. S.s Dorfgeschichten u. histor. Romane gelten als Musterwerke der frühen proletar. Literatur. Sie akzentuieren mit einfacher Sprache in Szenen aus dem (alpinen) Dorfleben, der frühen Industrialisierung u. aus Freiheitskämpfen das Heimatempfinden sowie Konflikte u. Selbstbestimmungsdrang der plebejisch-proletar. Klasse. Die Falkner von St. Vigil (3 Bde., Bln. 1881) schildert die Zeit des Tiroler Aufstands, eine Reihe von Romanen, von Der Pauker von Niklashausen (Bln. 1874) bis zum Spätwerk Um die Freiheit (Stgt. 1898), den Bauernkrieg von 1525. Weite Verbreitung fanden seine Werke, die der Bildung des Klassenbewusstseins dienen sollten, durch den Abdruck in der sozialistischen Presse.
polit. Artikeln in der Zeitung »Klassenkampf« u. einer größeren Arbeit, Aus dem Tagebuch eines proletarischen Gymnasiasten, in der Zeitschrift »Forum der Jungen« hervor. Nach der Übersiedlung nach Leipzig 1930 beschäftigte er sich v. a. mit Hörszenen u. -spielen u. verfasste Politsatiren; 1932 war er Mitbegründer u. Autor des linksgerichteten Kabaretts »Die Zeitlupe«. 1933–1949 übte er eine kaufmänn. Tätigkeit aus. Seit 1950 lebte S. als freier Schriftsteller in Leipzig. Mit dem Novellenzyklus Es hat einer roten Wein verlangt (Halle) knüpfte er 1953 an sein frühes Engagement für die Arbeiterbewegung an u. erwies sich zgl. als begabter, oft humoristisch bzw. satirisch schreibender Autor, der sich verstärkt auch der Kurzgeschichte zuwandte (Groteske Geschichten. Bln./ DDR 1960. Frauen wollen erobert sein. Ebd. 1962). Neben Romanen, die auch kriminalistische bzw. abenteuerl. Stoffe behandeln, Filmszenarien, Kinderbüchern u. Kabarettstücken schrieb S. kontinuierlich Hörspiele, unter denen der Funkmonolog Herhören! Hier spricht Hackenberger! (Urauff. 1954. Als Schallplatte 1956. Als Roman u. d. T. Die Akte Hackenberger. Bln./DDR 1959) als groteske Selbstentlarvung eines Stabsfeldwebels der dt. Wehrmacht Hörspielgeschichte gemacht
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hat. Wegen seiner Krankheit verstummte S. seit Anfang der 1970er Jahre als Autor. Weitere Werke: Hörspiele (Urauff. jeweils Radio DDR): Der unsichtbare Boss. 1951. – Der Ochse v. Kulm. 1952 (als Roman Halle 1953; als Film 1955). – Die letzte Nacht. 1956 (als Fernsehsp. 1957). – Der Weihnachtsmann lebt hinterm Mond (zus. mit Gerhard Rentzsch). 1960. – Nebel. 1964. – Prosa: Tatort Lehrerzimmer. Halle 1960 (R.). – Ich tat es für Jim. Ebd. 1965 (R.). – Der Mann, der Karate kannte. Ebd. 1968 (Kurzgesch.). Literatur: Hans-Ulrich Wagner: W.-K. S. In: Mitt.en Studienkreis Rundfunk u. Gesch. 19 (1993), S. 205–207. Stefan Bodo Würffel / Red.
Schweikart, Hans, auch: Ole Stefani, * 1.10.1895 Berlin, † 1.12.1975 München. – Regisseur, Intendant; Romancier. Nach der Ausbildung zum Schauspieler, die durch Stipendien gefördert wurde (u. a. Königliches Schauspielhaus in Berlin), u. nach verschiedenen Engagements als »jugendlicher Liebhaber« war S. bis 1929 Regisseur bei Otto Falckenberg an den Kammerspielen in München, 1934–1938 Oberspielleiter am Residenztheater u. 1947–1962 als Nachfolger Erich Engels Intendant der Münchner Kammerspiele. S. schrieb Komödien, wurde aber v. a. bekannt durch seine Shakespeare-Inszenierungen (1934–1938 in einem vollständigen Zyklus am Residenztheater) u. nach dem Krieg durch seine Uraufführungen (z. B. Dürrenmatt oder Hochhuths Soldaten). Auch Stücke von Miller, Brecht oder Camus standen auf seinem Spielplan. Daneben war S. freischaffender Filmregisseur (u. a. führte er 1940 Regie bei der Verfilmung von Lessings Minna von Barnhelm u. d. T. Das Fräulein von Barnhelm) u. schrieb unter Pseud. mehrere Kriminalromane wie Der Dritte Schuß (Mchn. 1926) u. Acht Tage Skandal (ebd. 1931). Weitere Werke: Zwischenfall vor dem Theater (Pseud.). Bln. 1934 (R.). – Ein Mädchen, ein Auto, ein Hund (Pseud.). Bln. 1935. – Lauter Lügen. Bln. 1937 (Kom.). – Ich brauche dich. Bln. 1941 (Kom.). – Nebel. Bln. 1947. Literatur: Karsten Witte: Major Tellheim nimmt Minna v. Barnhelm in Dienst oder Wie der Nazifilm mit Klassikern mobil machte. In: NR 96 (1985), H. 1, S. 158–173. – Anke Gleber: Das Fräulein v. Tellheim. Die ideolog. Funktion der
680 Frau in der nationalsozialist. Lessing-Adaption. In: GQ 59 (1986), S. 547–568. – Franz A. Birgel: H. S.’s ›Das Fräulein v. Barnhelm‹. Lessing Gets Drafted into the Service of the Third Reich. In: The Many Faces of Germany. Transformations in the Study of German Culture and History. FS Frank Trommler. Hg. John A. McCarthy u. a. New York u. a. 2004, S. 86–98. – Ralph-Günther Patocka: H. S. In: NDB. Georg Patzer / Red.
Schweikert, Ruth, * 15.7.1965 Lörrach. – Schriftstellerin, Theatermacherin. S., die in Aarau (Schweiz) aufwuchs, wandte sich nach einer Theaterausbildung zunächst einem Germanistikstudium zu, das sie jedoch abbrach. 1994 wurde zu einem entscheidenden Jahr für die Autorin, die der Schweizer Autorenvereinigung NETZ angehört: Nicht nur wurde sie beim Ingeborg-BachmannWettbewerb mit dem Bertelsmann-Stipendium ausgezeichnet, sondern in diesem Jahr erschien mit dem Erzählband Erdnüsse. Totschlagen (Zürich) auch ihr viel beachtetes literar. Debüt. In dieser »Flaschenpost aus dem Frauenleben« (P. Reinacher) gelingt S. die für ihre Literatur charakteristische »genaue Situierung der Figuren vor einem historischen Hintergrund« (dies.): So etwa in Schlaftrunken, in der die Geschichte der Protagonistin Eva Schindler, ihrer Mutter u. deren Vater, dem Nazi-Mitläufer u. Lehrer Karl Ritzenthaler, erzählt wird. Dies geschieht freilich nicht chronologisch, sondern durch Rückblenden u. Montagen unterschiedl. Erzählebenen – es wird deutlich, wie sich die Biografien der Älteren in Evas Leben unwiderruflich eingeschrieben haben. Ein ähnl. Verfahren, bei dem »Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in Erzählsplitter zerrissen wird« (E. V. Schneider Handschin), wendet S. sowohl in ihrem 1998 (Zürich) uraufgeführten Drama Welcome home als auch in ihrem im selben Jahr publizierten ersten Roman Augen zu (Zürich) an. In Letzterem ist es die dt.-jüd. Geschichte, die sich in dem Pärchen Aleks Martin Schwarz u. Raul Felix Lieben trifft. In S.s Roman Ohio (Zürich 2005) geht es um eine Vergangenheitsbewältigung anderer Art: Hier wird dem Scheitern der Ehe von Merete u. Andreas nachgespürt, wiederum in mehreren Erzählanläufen u. erneut in der
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typischen S.-Sprache, die – so F. Schneider in Schweinfurth, Georg (August), * 29.12. einer Rezension – »mitunter wie ein Strom- 1836 (n. St.) Riga, † 19.9.1925 Berlin; schlag treffen kann« (Die Wochenzeitung, Grabstätte: Berlin-Dahlem, Botanischer 5.5.2002). Und erneut sind es auch die Ge- Garten. – Botaniker, Forschungsreisenschichten der Eltern u. Großeltern, die we- der. sentlich für die im Vordergrund erzählte Geschichte werden: So etwa die Erfahrung Schon während seines Studiums der Naturvon Flucht u. Vertreibung von Andreas’ wissenschaften in Heidelberg, München u. Mutter Almut oder das Schicksal seines Vaters Berlin (1857–1862) bildeten sich zunehmend Michele, der ein Leben als Frauenheld führte S.s botan. Forschungsinteressen heraus, die u. dessen große Liebe doch ein span. Mann mit einer Dissertation über Plantae quaedam war. In Erinnerungsrückblicken wird auch niloticae (Bln. 1862) ihren vorläufigen akaMeretes eigenes Leben nacherzählt: Sie wird dem. Abschluss fanden. Zielstrebig betrieb S. in Durban als Findelkind zurückgelassen, die Vorbereitung seiner botan. Forschungsdort aber von ihrer Adoptivmutter unmittel- vorhaben in Afrika u. brach 1863 zu einer bar nach dem plötzl. Tod des eigenen Kindes Expedition nach Ägypten auf, das ihm von da aufgenommen u. nachgerade gegen dieses an Forschungsfeld u. zweite Heimat werden ausgetauscht. Damit beschließt der – mitun- sollte (1878 Gründung der Société Khédiviale ter arg konstruiert wirkende – Roman letzt- de Géographie in Kairo; 1887 Vorsitz des lich einen großen Kreis: Es ist wiederum dortigen frz. Institut Égyptien). Darüber Durban, wo sich das Ehepaar das letzte Mal hinaus erwarb er auf zahlreichen Reisen wisspricht, bevor sich Andreas das Leben nimmt. senschaftl. Verdienste um die Erkundung der S. gilt seit ihrem Erstling als wichtige geolog. u. pflanzengeografischen VerhältnisStimme der dt.-schweizer Literatur, deren se in der Libyschen u. Arabischen Wüste, im künstlerische Nähe zu Ingeborg Bachmann Libanon, Jemen, auf Sokotra u. in Eritrea. Ruhm als Afrikaforscher erlangte S. durch ebenso betont wird wie die in mehreren seine 1868–1871 unternommene Reise nach Werken aufscheinenden autobiogr. Bezüge. Zentralafrika u. den davon Zeugnis ablegenWeitere Werke: Paris, Paris. Reflexionen. Mit Fotografien v. Peter Schweizer. Pratteln 1996. – den Reisebericht Im Herzen von Afrika (2 Bde., 4 Hin u. Her. Ein Dialog zwischen Peter Radelfinger Lpz. 1874. 1922), der Übersetzungen in mehrere Sprachen erfuhr. Unter dem Schutz u. R. S. Nürnb. 2006. Literatur: Katharina Steffen: Die Zunge lösen. einer Elfenbeinhandelsexpedition aus KharDrittes Gespräch R. S. In DU 12 (1994), S. 39 f. – Eve toum drang S. über den Weißen Nil u. Bahr Pormeister: Mit dem Röntgenauge u. dem ›Ge- al-Ghaza¯l bis zum Uëlle vor, einem Nebenfühlometer‹ durch die Sprache im Kinder-Frauen- fluss des Kongo. S. überschritt damit nicht Männer-Alltag. Zu R. S.s Erzählbd. ›Erdnüsse. nur als erster Europäer die Wasserscheide von Totschlagen‹. In: Triangulum. Germanistisches Jb. Nil u. Kongo, sondern konnte auch erstmals – für Estland, Lettland u. Litauen 7 (2000), vom frz. Forschungsreisenden du Chaillu S. 202–217. – Esther V. Schneider Handschin: Vergangenheitsdiskurs u. Liebesutopie in R. S.s Roman abgesehen – aus eigener Anschauung die ›Augen zu‹. In: Akten des X. Internat. Germanis- Existenz der seit Homer u. Herodot sagentenkongress Wien 2000. Hg. Peter Wiesinger. Bd. 7, umwobenen Pygmäen (»Fäustlinge«) in ZenFfm. u.a. 2002, S. 177–186. – Thomas Kraft: R. S. tralafrika bestätigen. In: LGL. – Pia Reinacher: R. S.: Weibl. VerstriIm Herzen von Afrika schildert Land u. Leute ckungen. In: Dies.: Je Suisse. Zur aktuellen Lage aus der Sicht eines vorwiegend naturwissender Schweizer Lit. Mchn./Wien 2003, S. 169–172. schaftlich interessierten u. sich seiner ziviliSascha Feuchert sator. Überlegenheit bewussten Zeitgenossen des heraufziehenden imperialen Zeitalters. S. ist ein aufmerksamer Beobachter u. vermittelt dem Leser in einer Mischung aus Reisetagebuch, Naturschilderung u. Ethnografie anschaulich eine Fülle von Details; bei der
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Schilderung indigener Völker (Azande, Mangbetu) u. Gebräuche jedoch verfällt er trotz allem Bemühen um Objektivität immer wieder eurozentrischen, bisweilen herablassenden Vorurteilen. S. gilt als eine der Pioniergestalten der dt. Afrikaforschung des 19. Jh. Weiteres Werk: Auf unbetretenen Wegen in Aegypten. Bln. 1922. Literatur: Bibliografie: G. S.: Veröffentl. Werke [...]. Bln. 1916. Auch in: G. S.: Im Herzen v. Afrika. Lpz. 41922, S. 548–561. – Weitere Titel: Konrad Guenther: G. S. Stgt. 1954. – Karl Rolf Seufert: Abenteuer Afrika: Forscher, Reisende, Abenteurer. Freib. i. Br. u. a. 1971. – Eike Haberland: G. S. 1836–1925. Im Herzen v. Afrika [Ausstellungskat.]. Lüneb. 1980. – Christoph Marx: Der Afrikareisende G. S. u. der Kannibalismus: Überlegungen zur Bewältigung der Begegnung mit fremden Kulturen. In: Wiener ethnohistor. Bl. 34 (1989), S. 69–97. – Anne Nicolet: Das Bild des ›dunklen‹ Kontinents in Reiseberichten des 19. Jh. v. Heinrich Barth, G. S. u. Alfred Edmund Brehm. Genève 2000. – Erika Endesfelder: G. S. (1836–1925): Forscher in Ägypten u. Zentralafrika. In: Afrikan. Horizonte. FS Hildegard Höftmann. Hg. Catherine Griefenow-Mewis. Wiesb. 2007, S. 69–74. – Ursula v. der Driesch: G. S. In: NDB. – Klaus Finneiser, Petra Linscheid u. Meliné Pehlivanian: G. S. Pionier der Textilarchäologie u. Afrikaforscher [Ausstellungskat.]. Bln. 2010. Eckard Schuster / Red.
Schweinichen, Hans von, * 25.6.1552 Mertschütz/Kreis Liegnitz, † 13.8.1616. – Hofmarschall, Verfasser autobiografischer Denkwürdigkeiten. S. gehörte einem altadligen schles. Geschlecht an, das den Herzögen von Liegnitz eng verbunden war. Als Spiel- u. Schulgefährte Friedrichs IV. ging er 1562 nach Liegnitz u. 1566 auf die Schule nach Goldberg. Schon in Liegnitz diente er Friedrich III. als Page u. stand dann lange im Dienst Herzog Heinrichs XI. Er wurde fürstl. Marschall u. Hofmeister u. war damit verantwortlich für die finanzielle Sicherung der Hofhaltung, für die er mit seinem eigenen Vermögen haften musste. Erst als Herzog Heinrich 1581 auf kaiserl. Befehl festgesetzt wurde, konnte sich S. aus den drückenden Verpflichtungen lösen. 1588 jedoch übernahm er das Amt erneut unter
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Friedrich IV., das er bis zu dessen Tod (1596) innehatte. Die Auseinandersetzung mit der herzogl. Haushaltung u. Wirtschaftsführung gewöhnte S. an den Umgang mit der Schrift. Erst in Jahresberichten, dann auch in tägl. Notizen berichtet er über die Jahre 1568–1602; im Rückblick referiert er auch über seine Jugend. Seine Denkwürdigkeiten bieten ein Spektrum all jener Ereignisse aus dem privaten u. öffentl. Leben, die ihm erinnerungswürdig erschienen. Er verzeichnet die Kümmernisse seines alltägl. Lebens, die Intrigen der Kamerilla, festl. Zusammenkünfte u. die Vertraulichkeiten zwischen Dienern u. Dynasten. So erscheint der Hof nicht mehr als fürstl. Zentrum nach dem idealen Muster höf. Epik, sondern eher als großbäuerl. Klitsche mit all den unattraktiven Belastungen einer grundsätzl. Mangelsituation, episod. Verschwendung, höf. Ranküne u. Borniertheit. Der strenggläubige Lutheraner bezog das Beharrungsvermögen im unattraktiven Amt aus einer religiös fundierten Pflichtauffassung. Seine Selbstdarstellung ist somit auch Selbstrechtfertigung u. tendiert bereits dazu, auf die Status charakterisierende Selbsttypisierung zu verzichten u. demgegenüber die persönl. Erfahrung u. die begrenzte persönl. Leistung zu betonen. S. übereignete seine Schrift mit der Auflage, sie nicht zu veröffentlichen, seinen Erben, die aus ihr lernen sollten. Ausgaben: Denkwürdigkeiten von H. S. Hg. Herman Oesterley. Breslau 1878. – Dass. Hg. Ernst v. Wolzogen. Lpz. 1885. – Merkbuch des H. v. S. Hg. Conrad Wutke. Bln. 1895. – Dt. Bürgertum u. dt. Adel im 16. Jh. Lebens-Erinnerungen des Bürgermeisters Bartholomäus Sastrow u. des Ritters H. v. S. Hbg. 1907. Nachdr. Essen 1984. – MemorialBuch der Fahrten u. Taten des schles. Ritters H. v. S. Hg. Engelbert Hegauer. Mchn. o. J. [1911]. Literatur: Conrad Wutke: H. v. S. In: ADB. – Zur Gesch. des Geschlechts derer v. Schweinichen. Hg. Constanin v. Schweinichen u. a. Breslau 1904–1908. – Friedrich Andreae: H. v. S. In: Schles. Lebensbilder. Bd. 4, Breslau 1931, S. 80–91. – Joachim Frh. v. Braun: Die Denkwürdigkeiten des H. v. S. als Quelle zur schles. Agrargesch. In: Jb. der schles. Friedrich-Wilhelm-Univ. zu Breslau 4 (1959), S. 198–206. – Rudolf Grieger: H. v. S. als
683 luth. Christ. In: Jb. für schles. Kirchengesch. 72 (1993), S. 77–108. – Stephan Pastenaci: Probleme der Ed. u. Kommentierung deutschsprachiger Autobiogr.n u. Tagebücher der frühen Neuzeit [...]. In: Ed. v. autobiogr. Schr.en u. Zeugnissen zur Biogr. Hg. Jochen Golz. Tüb. 1995, S. 10–26. – Jolanta Szafarz: H. v. S.s Polenreise. In: Studien zur Lit.- u. Sprachwiss. Hg. Norbert Honsza. Wrocl/aw 1995, S. 59–64. – Heide Wunder: Überlegungen zur Konstruktion v. Männlichkeit u. männl. Identität in Selbstzeugnissen der Frühen Neuzeit. H. v. S. [...] in seinem ›Memorial‹. In: Geschlechterdifferenz. Texte, Theorien, Positionen. Hg. Doris Ruhe. Würzb. 2000, S. 151–172. – Dies.: H. v. S. In: NDB. Horst Wenzel / Red.
Schweinitz, David von, * 23.5.1600 Seifersdorf, † 27.3.1667 Liegnitz. – Landeshauptmann, Erbauungsschriftsteller.
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ungsbücher S.’ ist die Bekanntschaft mit den Schriften Arndts u. Böhmes wichtig. Einige seiner 350 Lieder fanden Aufnahme in Johann Crügers Praxis Pietatis u. erschienen bis ins 19. Jh. in Gesangbüchern. Weitere Werke: Soliloquia de examine conscientiae [...]. 2 Tle., 1626. U.d.T. Suscitabulum poenitentiae catecheticum, Das ist: Catechet. BußWecker [...]. Ffm. 1696. – Die kleine Bibel, Das ist, Summarien, uber die H. Bibel [...] in dt. Vers gebracht. Danzig 1647. Lauban 1693. Ploen 1698. – Hertzens-Psalter [...]. Breslau 1662. – Hundert Todes-Gedancken [...]. Ebd. 1664. 71727. 101750. Ausgaben: D.s v. S. Hundert evang. Todesgedanken. In: Pastoral-theolog. Blätter. Hg. A. F. C. Vilmar. Bd. 1 (1861), S. 278–280 (Auszüge). – Fischer/Tümpel 1, S. 371–383. Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: August Tholuck: Lebenszeugen der luth. Kirche [...]. Bln. 1859, S. 142–146. – Hermann Beck: Die religiöse Volkslit. der evang. Kirche Deutschlands. Gotha 1891, S. 159 f. – Max Hippe: D. v. S. In: ADB. – Arno Büchner: Das Kirchenlied in Schlesien u. der Oberlausitz. Düsseld. 1971, S. 140 ff. – Heiduk/ Neumeister, S. 100, 242, 472 f., 549. – Die dt. Akademie des 17. Jh. Fruchtbringende Gesellsch. Hg. Klaus Conermann. Reihe I, Abt. A, Bd. 3, Tüb. 2003, Register. – Hans-Joachim Koppitz: Der Verlag Fellgiebel. In: Kulturgesch. Schlesiens in der frühen Neuzeit. Hg. Klaus Garber. 2 Bde., Tüb. 2005, Bd. 1, S. 445–512. – Johannes Wallmann: Schles. Erbauungslit. des 17. Jh. Die Schr.en des Liegnitzschen Landeshauptmanns D. v. S. (1600–1667). In: Jb. für schles. Kirchengesch. 86 (2007), S. 45–98. Rudolf Mohr / Red.
S. stammte aus altem schles. Adel, dessen Geschichte er am Anfang seiner Genealogia. Derer von Schweinitz, vor der Zeit vom Swentze genennet (Lignitz 1661) beschreibt. Nach dem Besuch der Schulen von Schweidnitz u. Liegnitz u. des Elisabeth-Gymnasiums in Breslau studierte er Jura u. Staatswissenschaften in Heidelberg u. Groningen. Eine Bildungsreise führte ihn durch England u. Frankreich. Dann trat er in den Dienst des Liegnitzer Hofes. Als Landeshauptmann im Fürstentum Wohlau (1631) unterhielt er freundschaftl. Beziehungen zu Johann Heermann im nahen Köben. 1633 zwang ihn der Krieg, ins Exil nach Ostpreußen zu gehen. Sein Rittersitz wurde 1642 niedergebrannt. 1650 kehrte S. Schweitzer, (Ludwig Philipp) Albert, zurück u. war weiter politisch tätig (Regie* 14.1.1875 Kaysersberg/Elsass, † 4.9. rungsrat in Liegnitz, 1653 Landeshauptmann 1965 Lambaréné/Gabun; Grabstätte: des Fürstentums). ebd., Spitalfriedhof. – Evangelischer S.’ eigene poetische Versuche (Penta-decas Theologe, Musikwissenschaftler u. Orgafidium cordialium, Das ist: Geistliche Herzensnist; Arzt. harffe von fünffmahl zehen Seiten. Danzig 1640. Erw. Fassung in 7 Tln. Alten Stettin 1650–57) Aufgewachsen ist S. mit vier Geschwistern im sind der Vorrede zufolge nicht kunstgerecht liberalen Pfarrhaus zu Günsbach/Elsass, das nach den metr. Regeln von Opitz, nicht des seine Charaktereigenschaften wie Ehrfurcht poetischen Ruhms wegen, sondern allein zur vor der Wahrheit, tolerante Gesinnung, Liebe Ehre Gottes geschrieben u. dienen der zeit- zur Musik u. Mitleid mit der Kreatur prägte. typischen Absicht, »in vorstoßendem vielem Während der Schulzeit in Mülhausen/Elsass Unglück den höllischen Trauergeist [...] zu nahm er Klavier- u. Orgelunterricht bei Euverjagen«. Der Melancholie soll auch das gen Münch. Nach dem Abitur 1893 studierte Freuden-Schild wider die Traurigkeit (Liegnitz er an der Philosophischen, der Theologischen 1701, postum) wehren. Für sämtl. Erbau- u. der Medizinischen Fakultät der Straßbur-
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ger Universität; 1899 wurde er zum Dr. phil. promoviert. 1900–1912 war S. Vikar an St. Nicolai in Straßburg; 1902 habilitierte er sich für das Fach NT u. hielt von nun an bis zu seiner Ausreise nach Afrika regelmäßig Vorlesungen an der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Straßburg. 1912 heiratete er Helene Breßlau, gab im selben Jahr das Pfarramt u. 1913 das Lehramt auf, um im Auftrag der Pariser Missionsgesellschaft als Arzt nach Lambaréné/Äquatorialafrika zu gehen. Mit eigenen Mitteln u. Spendengeldern baute er dort ein Spital auf, das er – mit Unterbrechung nur durch Internierung im Ersten Weltkrieg u. später durch zahlreiche Vortrags- u. Konzertreisen in Europa – bis zu seinem Tod leitete. Der »Urwalddoktor« u. sein Spital wurden zum Symbol der Menschlichkeit. Neben zahlreichen Ehrenpromotionen wurden S. der Goethe-Preis der Stadt Frankfurt/M. u. 1953 (für 1952) der Friedensnobelpreis verliehen. 1952 wählten ihn die Académie des sciences morales et politiques u. 1955 der Orden Pour le mérite zu ihrem Mitglied. S. schrieb Beiträge zur Jesus- u. Paulusforschung, die bis zum heutigen Tag maßgebend für die theolog. Wissenschaft sind. Der Leben-Jesu-Forschung des 18. u. 19. Jh. hat S. mit seinem berühmten Buch Von Reimarus zu Wrede (Tüb. 1906. U. d. T. Geschichte der LebenJesu-Forschung. 21913. 91984) den Grabgesang angestimmt. Er zeigte, dass die damals geschriebenen Jesus-Bücher mehr über ihren Autor als über den Mann aus Nazareth sagen. Denn das Wichtigste an Jesus, seine eschatolog. Botschaft von dem nahe herbeigekommenen Reich Gottes, verschweigen sie. S. aber begriff diese Botschaft als die zentrale Mitte, als den tragenden Grund der Verkündigung Jesu – ein Ergebnis, das seither nicht mehr in Frage gestellt wurde. In der Paulus-Forschung ging S. mit seinem theologisch bedeutendsten Buch, Die Mystik des Apostels Paulus (Tüb. 1930. Neudr. 1981), eigene Wege. Er verwarf Adolf von Harnacks These von der Hellenisierung des Christentums u. erklärte den Paulinismus ebenfalls ganz aus der frühjüd. Eschatologie. Die urspr. apokalypt. Reichserwartung sei durch das theolog. Denken des Apostels
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pneumatisch, ethisch u. damit »zeitlos« geworden u. habe gerade so den Geist Jesu gewahrt. Heutigen Christen, die von der apokalypt. Naherwartung des frühen Christentums endgültig Abschied nehmen müssen, obliege es daher, in der Befolgung der Ethik den Geist Jesu lebendig zu halten u. so sein Reich zu bauen. Damit behielt S. Anschluss an die Tradition, aus der er kam: der liberalen Theologie. Dagegen blieben ihm die Entmythologisierung Rudolf Bultmanns u. die Dialektische Theologie fremd. Karl Barths Lehre erschien ihm sogar ketzerisch, weil sie die histor. Grundlagen des Christentums sträflich vernachlässigte. Als Musikwissenschaftler hat S. mit dem von seinem Orgellehrer Charles Marie Widor angeregten Buch J. S. Bach. Le musicien-poète (zus. mit Hubert Gillot. Lpz. 1905. Erw. dt.: J. S. Bach. 1908. Wiesb. 101979) die damalige Auffassung vom Thomaskantor wesentlich verändert. Für S. war der musikal. Satz der Bach’schen Textvertonungen der deklamatorisch »in Tönen gehärtete Wortsatz«. Bach war nicht – wie Wagner – der Dichter, sondern der Maler in Musik, der kein Geschehen, sondern »einen prägnanten Moment« des Textes darstellte. S.s Beschreibung Deutsche und französische Orgelbaukunst und Orgelkunst (Lpz. 1906. Neudr. Wiesb. 1987. 2002) stand am Anfang der Orgelbewegung. Als Philosoph ließ S. seiner frühen Religionsphilosophie Kants (Freib. i. Br. 1899. Neudr. Hildesh. 1974. 32005) die zweibändige Kulturphilosophie (Mchn. 1923. Mchn. 2007) folgen, in der er das Versagen der Philosophie für den Kulturniedergang verantwortlich machte u. die von ihm entwickelte Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben als Ausweg aus der Krise vorstellte. Seine Beschäftigung mit der Weltanschauung der indischen Denker (Mchn. 1935. Neudr. 1987. 2010) u. seine GoetheReden (Mchn. 1950. Neudr. 1970) dienten der Vertiefung dieses eth. Ansatzes. 1957/58 warnte S. in mehreren über den Sender Oslo ausgestrahlten Radioappellen vor der Atomgefahr u. rief die Völker der Erde zum Protest auf (Friede oder Atomkrieg. Mchn. 1958. 31984). S.s Ehrfurchtsethik, in die er alles Leben einbezog, um so die falsche Anthropozentrik
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des europ. Denkens aufzubrechen, ist sein Vermächtnis an unsere Welt. Neben seinen wissenschaftl. Studien, die S. bis zu seinem Tod fortführte, beschrieb er in bedeutenden autobiogr. Schriften u. Berichten aus Lambaréné sein Denken u. Arbeiten (Aus meiner Kindheit und Jugendzeit. Straßb. 1924. Neudr. Mchn. 1979. 2006. Aus meinem Leben und Denken. Lpz. 1931. Ffm. 1995. Mit dem abschließenden Kapitel Die weiteren Jahre 1931–1965 von Rudolf Grabs). Ausgaben: Gesamtausg. 19 Bde., Tokio 1956–61 (japanisch). – Ges. Werke in 5 Bdn. Bln./DDR 1971, Mchn. 1974. – Werke aus dem Nachl. Hg. Richard Brüllmann u. a. 10 Bde., Mchn. 1995–2005. Literatur: Bibliografie: Nancy Snell Griffith u. a. (Hg.): An International Bibliography. Boston 1981. – Weitere Titel: Werner Picht: A. S. Hbg. 1960. – Helmut Groos: A. S. Mchn. 1974. – Erich Gräßer: A. S. als Theologe. Tüb. 1979. – Harald Steffahn: A. S. mit Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten. Reinb. 1979. 172006. – Erwin R. Jacobi: Musikwiss. Arbeiten. Zürich 1984, passim. – Richard Brüllmann (Hg.): A.-S.-Studien. Bern 1989. – Claus Günzler u. a. (Hg.): A. S. heute. Brennpunkte seines Denkens. Tüb. 1990. – Ders.: A. S. Einf. in sein Denken. Mchn. 1996. – E. Gräßer: Studien zu A. S. Bodenheim 1997. – Hans Lenk: A. S. – Ethik als konkrete Humanität. Münster 2000. – Manfred Ecker: Dialektik im idealist. Denken A. S.s. Ffm. u. a. 2001. – Gerhard Fieguth: A. S.s Goethe-Schriften. In: Begegnungen mit Goethe. Landau 2003, S. 79–96. – Gabriele Meurer: Die Ethik A. S.s vor dem Hintergrund der Nietzscheschen Moralkritik. Ffm. u. a. 2004. – Günter Wirth: Goethe in der Sicht A. S.s. In: Ders.: Landschaften des Bürgerlichen. Bln. 2008, S. 39–50. – Friedrich Schorlemmer: A. S. – Genie der Menschlichkeit. Bln. 2009. – Ernst Luther: A. S. Ethik u. Politik. Bln. 2009. – Nils Ole Oermann: A. S. 1875–1965. Eine Biogr. Mchn. 2009. 22010. – Werner Zager: A. S. In: NDB. Erich Gräßer / Red.
Schweitzer, Johann (Jean) Baptist von, * 12.7.1833 Frankfurt/M., † 28.7.1875 Villa Gießbach/Brienzer See. – Sozialistischer Politiker, Publizist, Dramatiker. Der Patriziersohn besuchte seit 1845 die Jesuitenschule in Aschaffenburg. Sein Jurastudium, 1852–1855 in Berlin u. Heidelberg, schloss er mit der Promotion ab. Seit 1857 arbeitete er als Rechtsanwalt in Frankfurt/M.
Schweizer Anonymus
Nach frühen dramat. Versuchen äußerte er sich 1859–1863 in publizistischen Beiträgen zur nationalen Frage. Sein durch Schopenhauer beeinflusster Aufsatz Der Zeitgeist und das Christentum (Lpz. 1861) konstatiert das Ende der Offenbarungsreligionen. Nach einer Gefängnisstrafe (wegen »unzüchtiger Handlung«) verließ S. 1862 Frankfurt. 1863 trat er Lassalles Allgemeinem Deutschen Arbeiterverein (ADAV) bei, siedelte 1864 nach Berlin über, wo er den »Social-Democrat« herausgab, u. wurde 1867 als Präsident des ADAV Parlamentsmitglied. Da S. in einigen polit. Fragen Bismarck nahestand, sah er sich 1871 nach innerparteil. Streitigkeiten zum Rückzug ins Privatleben genötigt. S.s einziger Roman, Lucinde oder Kapital und Arbeit (3 Bde., Bln. 1863/64), von Mehring als formales Ungeheuer bezeichnet, sucht klassenkämpferisches Gedankengut durch Elemente der Trivialität populär zu machen. Seine für Arbeiterbühnen bestimmten Lustspiele haben die Illustration sozialistischer Thesen zum Inhalt, werden nicht durch Handlung, sondern durch Dispute vorangetrieben. In dem Einakter Ein Schlingel (in: Social-Democrat, 1867. Zürich 1876) triumphiert ein gebildeter Arbeiter argumentativ über den Vertreter des Bürgertums durch Anwendung der Marx’schen Mehrwerttheorie. Weitere Werke: Alcibiades oder Bilder aus Hellas. Ffm. 1858 (Lustsp.). – Friedrich Barbarossa. Ffm. 1858 (dramat. Gedicht). – Die Gans. In: SocialDemocrat, 1869 (dramat. Gespräch). – Epidemisch. o. O. 1873 (Schwank). – Das Vorrecht des Genies. Bln. 1873 (Lustsp.). Literatur: Gustav Mayer: J. B. S. u. die Sozialdemokratie. Jena 1909. – Toni Offermann: Die Maingauer Arbeiterbewegung unter J. B. v. S. (April-Juni 1862). In: Ders.: Arbeiterbewegung u. liberales Bürgertum in Dtschld.: 1850–1863. Bonn 1979, S. 345–350. – Stefan Jordan: J. B. v. S. In: NDB. Christoph Sahner / Red.
Schweizer Anonymus. – Notname für einen Schweizer Autor von Verserzählungen, Mitte 15. Jh. Die 21 kürzeren Verserzählungen (zwischen 46 u. 244 Versen) überliefert nur der Cod 643
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der Stiftsbibliothek St. Gallen. Sie stehen dort 1985, S. 88–109. – Rosemarie Moor: Der Pfaffe mit im Anschluss an die 84 Fabeln der sog. dritten der Schnur. Bern u. a. 1986. – Gert Dicke u. Klaus Redaktion von Ulrich Boners Edelstein u. vor Grubmüller: Die Fabeln des MA u. der frühen einer mit 1460 einsetzenden Chronik. In der Neuzeit. Mchn. 1988. – Johannes Janota: Der S. A. In: VL. – Tanja Weber: Die Vergeltung im Werk des Vorrede (Nr. 1), ähnlich in der Zwischenrede (Nr. S. A. Zwischen Ernst u. Komik. In: Bausteine zur 18) zu seiner Sammlung, erklärt der Verfas- Sprachgesch. der dt. Komik. Hg. Alexander ser, dass er sich am Ende von Boners »buoch« Schwarz. Hildesh. 2000, S. 75–93. entschlossen habe, wie dieser »bischaft« (BiHans-Joachim Ziegeler / Red. spel, Exempel) zu verfassen u. in dieses »buoch« zu schreiben. Der Verfasser war also Schwenckfeld von Ossig, Caspar, Kaspar, Schreiber, vielleicht Berufsschreiber, u. auch: Eliander, Caspar Greysenecker stammt, seiner Sprache nach, aus dem Ale- (Gryseneggerus), C. Dinopesius, J. Dinomannischen. Lokale Anspielungen erlauben pedius von Greiseneck, Konrad Bleckes, dies auf die Nordwestschweiz, vielleicht schaff, * Ende Nov./Anfang Dez. 1489 Zürich, u. die Abfassungszeit der Erzählun- Ossig (nördlich von Liegnitz), † 10.12. gen auf die Jahre nach 1444 u. vor 1460 ein- 1561 Ulm. – Reformator u. Spiritualist. zugrenzen. Dem Autor sind die Motive seiner auch S. u. sein Freund Valentin Krautwald, Lektor sonst verbreiteten Erzählungen z.T. durch für Theologie am Kollegiatstift im schles. eigene Lektüre bekannt geworden. Er nutzt Liegnitz, waren die geistigen Köpfe einer reBewegung die traditionell vorgegebenen Spielarten des formatorisch-spiritualistischen des 16. Jh. Sie rückten den »vergöttlichten« exemplarisch-didakt. u. schwankhaft-kom. Genres wie Fabel (Nr. 2, 3, 9, 11, 16), Märe Jesus Christus in den Mittelpunkt ihrer Leh(Nr. 4, 10, 13, 14, 17), Bispel (Nr. 5–8, 12, 15) ren wie keine anderen Reformatoren vor ihu. Mirakel (Nr. 19–23), um aus Figurenkon- nen u. waren überzeugt von dessen enger stellation u. Handlungsfolge Lehren abzulei- geistiger Verbindung mit den Gläubigen u. ten. Diese nehmen Stellung zu Themen wie der daraus folgenden sittl. Erneuerung der Betrug, Selbstbetrug, Frauenlist u. Kinderer- Menschen. Spätere Spiritualisten wie Samuel ziehung sowie, in der Mirakelgruppe, zu Siderocrates (Eisenmenger), Valentin Weigel, Reue u. Buße u. zur Realpräsenz Christi in Christian Hoburg u. Johann G. Gichtel wurder Hostie. Der Anonymus greift dabei oft, den von S.s Lehren stark beeinflusst. Obwohl z.T. zitierend, Gedanken Boners auf, akzen- S. die Errichtung einer eigenen Kirche zeit tuiert sie aber, nicht selten anders als Boner, seines Lebens ablehnte, gründeten nach einer neu u. nimmt mitunter Partei für die Ab- wechselvollen Geschichte die Nachkommen hängigen, die »armen«. Glanzstück der der S.schen Bewegung 1909 in Pennsylvania Sammlung ist ein Ehebruchsschwank (Nr. die bis in die Gegenwart bestehende Schwenkfelder Church. 13), in dem die Ehefrau den geistl. Liebhaber Über die Jugend- u. Ausbildungsjahre S.s mit einem geistl. Fahrtenlied warnt, dessen ist wenig bekannt. Als Sohn des schles. Adliin der Handschrift notierter Melodie ein obgen Hans von Schwenckfeld u. dessen Geszöner Text unterlegt ist. mahlin Barbara von Kreckwitz in Ossig geAusgaben: Hanns Fischer (Hg.): Eine Schweizer boren, studierte er nach seinem Schulbesuch Kleinepiksammlung des 15. Jh. Tüb. 1965. – Jürgen in Lüben u. Liegnitz an den Universitäten Schulz-Grobert (Hg.): Kleinere mhd. Verserzählungen. Mhd./Nhd. Stgt. 2006, S. 184–189, Köln (1505–1507) u. Frankfurt/O. (seit 1507), vermutlich auch in weiteren Orten, um sich 285–287. 1511 in den Dienst Herzog Karls I. von Literatur: Hanns Fischer: Studien zur dt. Mä2 rendichtung. Tüb. 1983, Register. – Hans-Joachim Münsterberg-Oels sowie 1515 in den Dienst Ziegeler: Das Vergnügen an der Moral. Darbie- Herzog Georgs I. von Brieg zu stellen. Wegtungsformen der Lehre in den Mären u. Bispeln des weisend für S. wurde seine Tätigkeit als herS. A. In: Germanistik – Forschungsstand u. Per- zogl. Rat bei Friedrich II. von Liegnitz, der spektiven. Hg. Georg Stötzel. Bd. 2, Bln./New York wie er gegenüber dem evang. Bekenntnis
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aufgeschlossen war. Spätestens Ende 1519 neigte S. sich Luthers Reformbewegung zu u. versuchte ihr als führender Kopf der aus Laien u. Geistlichen bestehenden Liegnitzer Bruderschaft in Niederschlesien zum Durchbruch zu verhelfen. Angeregt durch S., öffnete Herzog Friedrich II. am 24.6.1524 per Mandat (das nicht überliefert ist) seine Herrschaften Liegnitz, Brieg u. Wohlau für Luthers Reformideen. Im selben Jahr hatte S. versucht, auch den Breslauer Bischof für eine Reformation seines Bistums zu gewinnen (Ain christliche ermanung zu furdern das wortt Gottis). Zu diesem Zeitpunkt zweifelte S. allerdings schon an diesen Ideen, meinte auch, dass in den reformierten Gebieten keine sichtbare Besserung eingetreten wäre. Denn seiner Auffassung nach, die in den frühen Jahren noch schwer zu fassen ist, würde die durch Gottes Gnade erlangte Verleihung seines Geistes zu einer inneren, sittl. Verbesserung beitragen, die sich im äußeren Tun der Gläubigen niederschlagen müsse. Gemeinsam mit Krautwald erarbeitete S. bis zu seiner Emigration aus Schlesien nach Straßburg im April 1529 zwei wichtige Grundüberzeugungen seiner Lehre, die insbes. S. in den nachfolgenden Jahrzehnten weiterentwickelte u. in zahlreichen Schriften konkretisierte. In gründl. Auseinandersetzung mit den Auslegungen der zeitgenöss. Reformatoren widmeten sie ihre Studien dem Verständnis vom hl. Abendmahl (Eucharistie) u. der Vergöttlichung Jesu Christi (Deifikation). Unter Berufung auf die Lebensbrotrede (Joh. 6, 54–57) bestritten sie, dass während der Eucharistiefeier Brot u. Wein in den Leib u. das Blut Christi umgewandelt würden, denn sonst hätte nach dem letzten gemeinsamen Mahl von Christus u. seinen Jüngern, bei dem er Brot u. Wein mit ihnen teilte, nicht der Teufel in den »verräterischen« Judas fahren können. Die Einnahme von Brot u. Wein während des Abendmahls könnte deshalb für das Heil der Menschen nicht entscheidend sein. Mit dieser Auffassung lehnte S. zwangsläufig auch den sakramentalen Charakter der Eucharistiefeier ab. Als die Diskussion darum zwischen Luther u. dem Züricher Theologen Ulrich Zwingli bereits im vollen Gange war,
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reiste S. Anfang Dez. 1525 nach Wittenberg, um dort Luther u. dem späteren pommerschen Reformator Johannes Bugenhagen (zu diesem Zeitpunkt Stadtpfarrer in Wittenberg) seine Schriften vorzustellen. Beide äußerten sich zurückhaltend u. polemisierten bald gegen S., der in Verdacht geriet, ein Anhänger Zwinglis u. ein Verächter der Sakramente zu sein, weil er nach seiner Rückkehr die Feier des hl. Abendmahls aussetzen ließ; S. wollte erst eine Klärung über dessen Verständnis u. Wirkung erlangen. Persönlich nahm er das Abendmahl nie wieder ein; diesem Vorbild folgend, verzichteten S.s Anhänger ebenfalls darauf. Erst die Schwenkfelder in den USA haben 1877 die Feier des hl. Abendmahls wieder aufgenommen. Die zweite Grundüberzeugung S.s hängt mit der ersten eng zusammen. Seiner Auffassung nach sei Jesus Christus nie ein Mensch (eine Kreatur) mit den ihm eigenen Gebrechen gewesen. Vielmehr habe Gottvater bereits auf die hl. Maria dahingehend gewirkt, dass Christus als ein »himmlischer«, ein bereits vergöttlichter Mensch auf die Welt gekommen sei. Daher wäre es möglich, während des hl. Abendmahls beim »spirituellen Essen des Leibes« u. beim »geistigen Trinken des Blutes« die göttl. Kraft mit der menschl. Seele zu empfangen. Diese Erkenntnis hat er in ausgereifter Form in den 1538 publizierten Schriften Von der herrlichait Christi u. Von der menschwerdunge Christi ain kurtz bedenckhen dargelegt. Wegen der unbedingten Konzentration auf Gottes Sohn als einen himml. Menschen nannten S. u. seine Anhänger sich »Bekenner der Glorie Christi«. Das innere Bekenntnis zu Christus u. ein heiliges Leben würden die rechten Christen von jenen unterscheiden, die nur äußerlich nach einem gottgefälligen Leben trachten würden. Diese Einstellung, welche die Vorstellung, erwählt zu sein, mit einschloss, führte zur Absonderung der Schwenkfelder u. zu ihrem ausgeprägten Individualismus, der gleichermaßen mit kath. u. evang. Kirchenstrukturen nicht übereinkam, sich aber gegenüber anderen Konfessionen tolerant erwies. In den 1550er Jahren trat in der Auseinandersetzung mit dem Wittenberger u. Jenenser
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Theologen Matthias Flacius Illyricus noch ein dritter, zwar eigenwilliger, jedoch konsequent auf S.s Dualismus zwischen innerem u. äußerem Bekenntnis bezogener Standpunkt hinzu. S. unterschied zwischen dem äußerl. Wort der Predigt u. dem inneren, durch den Hl. Geist gesprochenen Wort. Bibel u. Bibelauslegung gehörten danach zu den äußeren Worten; sie traten also in ihrer Bedeutung zurück. Für S. war die Bibel kein hl. Buch, sondern ein Buch, das auf Heiliges u. Heilige verweist. Wichtiger für die Seligkeit der Menschen sei das unmittelbare, nicht durch die Schrift u. Exegeten »überformte« Wort Gottes. Mit Krautwald u. der Liegnitzer Bruderschaft arbeitete S. unermüdlich daran, Kleriker u. ihre Gemeinden im Evangelium zu unterweisen u. ihnen dafür das nötige Rüstzeug mit auf den Weg zu geben: 1526 erschien der Liegnitzer Katechismus, der erste evang. Katechismus überhaupt. Im selben Jahr stellte S. ein heute verlorenes Manuskript mit Gebeten für die Liegnitzer Bruderschaft zusammen, dem in den nachfolgenden Jahrzehnten mehrere deutschsprachige Gebetsammlungen u. anderweitige pädagog. Schriften folgen sollten (z. B. Deutsch Passional. Nürnb. 1539). Viele dieser Gebete fanden später Eingang in luth., reformierte u. kath. Gebetbücher. Zur weiteren Verbreitung des Evangeliums gehörte auch der Plan Herzog Friedrichs II., in Liegnitz eine Landesuniversität zu gründen. Nachdem aber unter Mithilfe S.s seit 1526 nur wenige Professoren gewonnen werden konnten, mangelnde finanzielle Ausstattung, Pest u. theolog. Spannungen den Lehrbetrieb von Beginn an behinderten, wurde die Universität bereits 1530 geschlossen. Als Ferdinand I., der als König von Böhmen auch Herr über Schlesien war, 1528 mit einem Mandat gegen Sakramentsverächter die Verfolgung der Schwenckfelder eingeleitet u. die in der Schweiz gedruckte Schrift S.s (Epitome zu Vom grund und ursache des irrthumbs und spans imm artickel vom sacrament des Herrn nachtmals, durch Zwingli u. d. T. Anwysunge 1528 in Zürich publiziert) ungewolltes Aufsehen erregt hatten, verließ S. seine Heimat. Zuvor hatte er gemeinsam mit anderen für
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seinen Herrn Friedrich II. Verteidigungsschriften (Apologien) gegen Ferdinand verfasst, in denen der Liegnitzer Herzog noch einmal mehr sein Bekenntnis zur evang. Kirche bekräftigte, gleichzeitig aber versprach, gegen Schwärmer u. Sakramentsverächter, zu denen Ferdinand u. auch viele schles. Lutheraner S. rechneten, vorzugehen. In den folgenden Jahren sollten es v. a. Anhänger der verschiedenen Schweizer, Wittenberger u. oberdt. Reformatoren sein, die S. immer wieder dazu zwangen, die Flucht zu ergreifen. In Straßburg überwarf er sich mit Martin Bucer, der jahrelang danach rang, mit den Wittenbergern eine Übereinkunft zu erlangen, u. musste die Stadt schließlich im Aug. 1534 verlassen. Sein Freund Hans Konrad Thumb von Neuburg, Erbmarschall des Württemberger Herzogs, gewährte ihm zuerst Unterkunft. Dann knüpfte S. Kontakte zum evang. Landgrafen Philipp von Hessen u. fand im Sept. 1535 Aufnahme in Ulm, wurde dort aber auf Drängen Martin Frechts im Sept. 1539 zur Emigration veranlasst. Der Benediktinerabt von Kempten nahm S. nach längeren Reisen in seinem Kloster auf. Inzwischen hatte sich seine Situation dramatisch verschlechtert. Der St. Galler Reformator Joachim Vadian wandte sich u. a. mit seiner Schrift Antilogia (1540) gegen ihn u. ein Gutachten Philipp Melanchthons, das während des Schmalkaldener Theologenkonvents im März 1540 entstand, verurteilte S. auf Druck Frechts als Häretiker. In seiner Schrift Confession und erclerung vom erkandtnus Christi und seiner göttlichen herrlichkeit (Ulm 1541) verteidigte S. seine Grundsätze, musste aber hinnehmen, dass sich mit dem Schmalkaldischen Krieg (1546/47) auch seine persönl. Lage immer mehr verschlimmerte. Nach längerem Aufenthalt auf Schloss Justingen in der Nähe von Ulm (1541/42–1547), das seinem Freund u. Anhänger Freiherr Georg Ludwig von Freyberg dem Älteren gehörte, aber infolge des Schmalkaldischen Kriegs durch Kaiser Karl V. konfisziert worden war, fand S. insgeheim Aufnahme im Esslinger Franziskanerkloster. S., der jederzeit mit seiner Verhaftung rechnen musste, legte dort abermals mit seiner Schrift Bekandtnus und rechenschafft von den haupt puncten des christli-
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chen glaubens (Ulm 1547) Zeugnis seines unbeirrbaren Willens ab, nicht von seinen spirituellen Grundsätzen zurückzutreten. 1559 konnte S. nach Ulm zurückkehren; Frecht war inzwischen aus der Stadt verbannt u. Professor an der Tübinger Universität geworden. Dort bereitete er mit Freunden die Herausgabe einiger seiner Werke vor. 1561 entstand ein Verzeichnis seiner Schriften (Catalogus oder register der bücher herren Caspar Schwenckfelds) u. Johann Heid von Daun (auch J. Heyden) begann, ausgewählte Schriften S.s für den gelehrten Disput ins Lateinische zu übertragen. Am 10. Dez. verstarb S. im Haus der Agatha Streicher, die ihn medizinisch versorgt hatte. Sie verfasste einen Bericht über die letzten Stunden des Reformators. Die Anhängerschaft S.s hatte sich keine feste Struktur gegeben. Sie trafen sich in kleinen Gruppen, meist im häusl. Kreis. Aus diesem Grund gingen die zuständigen Gewalten in der Regel mit weniger Vehemenz gegen die Schwenckfelder vor als gegen Anhänger radikalerer reformatorischer Gruppen. Da S. eine große weibl. Anhängerschaft hatte, wurde er auch »Weiber Prediger« genannt. Bis zu Beginn des 18. Jh. hielten sich die Schwenckfelder, nachdem ihre Kreise in der Grafschaft Glatz (Nordböhmen) u. im Südwesten Deutschlands erloschen waren, in den schles. Herzogtümern Liegnitz-Brieg-Wohlau u. Schweidnitz-Jauer auf. Repressalien, aber auch Duldung u. Schutz widerfuhr ihnen v. a. durch evang. Pfarrer. Seit 1719 wurde der Druck auf sie durch eine in Hapersdorf (südwestlich von Goldberg) errichtete Jesuitenmission erhöht. Sie durften nicht mehr an (luth.) Gottesdiensten teilnehmen, erhielten weder eine kirchl. Trauung noch Bestattung. Jene, die sich diesen Verboten widersetzten oder an den regelmäßigen Konversionsgesprächen nicht teilnahmen, erwarteten Geld- u. Haftstrafen. Daher flohen etliche von ihnen 1726 zuerst in die benachbarte Oberlausitz, wurden dort aber per kursächs. Dekret (1733) des Landes verwiesen u. emigrierten schließlich nach Pennsylvania (1734). Dort gründeten sie 1782 die Gesellschaft der Schwenckfelder (Society of Schwenkfelds) u. gaben sich mit den »Grund-
Schwenckfeld von Ossig
Regeln« die erste kirchl. Ordnung. Vom ursprüngl. Spiritualismus S.s blieb wenig erhalten, doch nahm die neue Konstitution weiterhin auf die stark individualistische Prägung der Gläubigen Rücksicht. Die über ein Jahrhundert später gegründete Schwenkfelder Church (ca. 2500 Mitglieder) wurde noch im Gründungsjahr 1909 vom Staat Pennsylvania anerkannt. Ausgaben: Gesamtausgabe: Corpus Schwenckfeldianorum. Letters and treatises of C. S. v. O. Hg. Chester D. Hartranft (Bde. 1–5), Elmer E. Schultz Johnson (Bde. 6–14) u. Selina Gerhard Schultz (Bde. 15–19). Lpz./Pennsburg 1907–61. – C. S. Eight Writings on Christian Beliefs. Hg. H. H. Drake Williams III u. a. Kitchener/Ontario 2006. Literatur: Bibliografien: VD 16. – In Auswahl: Kosch. – Weitere Titel: Karl Ecke: S., Luther u. der Gedanke einer apostol. Reformation. Bln. 1911. Gekürzte Neuausg.: Kaspar S. Ungelöste Geistesfragen der Reformationszeit. Gütersloh 1952. – Selina G. Schultz: C. S. v. O. Norristown/Pennsylvania 1946. – Gottfried Maron: Individualismus u. Gemeinschaft bei C. v. S. Stgt. 1961. – Horst Weigelt: Spiritualistische Tradition im Protestantismus. Die Gesch. des Schwenckfeldertums in Schlesien. Bln./New York 1973. – Peter C. Erb (Hg.): S. and Early Schwenkfeldianism. Pennsburg/Pennsylvania 1986. – Heinz-Peter Mielke: Schwenkfeldianer im Hofstaat Bischof Marquards v. Speyer (1560–1581). In: Archiv für Mittelrheinische Kirchengesch. 28 (1976), S. 77–82. – Ders.: Das süddt. Schwenkfeldertum zwischen Toleranz u. Orthodoxie. In: Rottenburger Jb. für Kirchengesch. 13 (1994) S. 63–77. – Paul G. Eberlein: Ketzer oder Heiliger? C. v. S., der schles. Reformator u. seine Botschaft. Metzingen 1999. – Thomas K. Kuhn: C. S. v. O. In: Theologen des 16. Jh. Hg. Martin H. Jung u. Peter Walter. Darmst. 2002, S. 191–208. – CP II, Nr. 85. – Rainer Haas: Exportgut: Evangelium. Reformatorische Lit. aus Dtschld. [u. Nachbarländern] in engl. Ketzerprozessen u. Listen verbotener Bücher 1526–1546. Nordhausen 2004, S. 169. – Anna Man´ko-Matysiak: C. S.s Beitr. zum geistl. Gesang. In: Kulturgesch. Schlesiens in der Frühen Neuzeit. Hg. Klaus Garber. Bd. 1, Tüb. 2005, S. 243–263. – Gabriela Was: Kaspar v. S. Mys´l i dzial/alnos´c´ do 1534 roku. Wrocl/aw 2005. – Ruth Gouldbourne: The flesh and the feminine. Gender and theology in the writings of C. S. Milton Keynes 2006. – Elsie A. McKee: Katharina Schütz Zell and C. S. A reassessment of their relationship. In: ARG 97 (2006), S. 83–105. – Caroline Gritschke: ›Via Media‹. Spiritualistische Lebenswelten u. Konfes-
Schwendi sionalisierung. Das süddt. Schwenckfeldertum im 16. u. 17. Jh. Bln. 2006. – H. Weigelt: Von Schlesien nach Amerika. Die Gesch. des Schwenckfeldertums. Köln u. a. 2007. – Armin Buchholz: Schrift Gottes im Lehrstreit. Luthers Schriftverständnis u. Schriftauslegung in seinen drei großen Lehrstreitigkeiten der Jahre 1521–1528. Gießen 2007, S. 163–264. – Kaspar Bütikofer: Der frühe Zürcher Pietismus (1689–1721). Der soziale Hintergrund u. die Denk- u. Lebenswelten im Spiegel der Bibl. Johann Heinrich Lochers. Gött. 2009, S. 239–250. – T. K. Kuhn: C. v. S. In: NDB. – CP III, Nr. 139–140 (im Druck). Mario Müller
Schwendi, Lazarus von, Freiherr von Hohenlandsberg (seit 1568), * 1522 Mittelbiberach/Schwaben, † 27.5.1583 Kirchhofen/Breisgau; bestattet in der Pfarrkirche Kientzheim. – Verfasser militärischer u. reichspolitischer Schriften; Lehrdichter. Nach Studien (Basel, 1536/37; Straßburg, 1539) u. Aufenthalt in Frankreich diente S. seit 1545/46 Kaiser Karl V.; er war beteiligt am kaiserl. Sieg über den Schmalkaldischen Bund. Es folgten Tätigkeiten in span. Diensten in den Niederlanden, seit Anfang der 1560er Jahre dann in Diensten der Kaiser Ferdinand I., Maximilian II. u. Rudolf II.; als oberster Feldhauptmann der kaiserl. Truppen (1564–1568) bekämpfte er 1565/67 die siebenbürgisch-türk. Streitmacht in Ungarn. Seit 1569 lebte S. hauptsächlich in Kientzheim bei Colmar, Burkheim bei Breisach u. Kirchhofen/Breisgau; fortan intensivierten sich seine Beziehungen zur Respublica literaria im nahen Straßburg (wo S. ein Haus besaß) u. in Basel. S. schuf militärreformerische Schriften, darunter Vom Betrug in der Musterung (1547), u. zahlreiche Memoranden reichs-, militär- u. religionspolitischen Inhalts, etwa unter Einfluss der Discorsi N. Machiavellis einen Discurs [...] über jetzigen stand und wesen des hailigen Reichs (1570; ed. Eiermann, 1904, S. 111–145; Lanzinner, 1987; Hammerstein, 1995, S. 195–235, 1152–1161), einen Discurs [von] Regierung des hlg. Reichs und Freistellung der Religion (Bedencken, gerichtet an Maximilian II., Kientzheim, 15.5.1574, Ffm. 1612; ed. Frauenholz, 1939), einen Kriegs Discurs. VOn Be-
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stellung deß gantzen Kriegswesens vnd von den Kriegsämptern (1575; hg. Hans Lewenklaw. Ffm. 1593. 1594. 1605. Dresden 1676) u. einen Diskurs [...] über [die] freiheit der gewissen (1576; ed. Eiermann, 1904, S. 145–151). Hinzu traten Lehrdichtungen (Lehre [...] an das teutsche Kriegsvolck. Das Hoffleben vnd Hoffdanck. Ffm. 1595) u. eine Instruction [...] für einen jeden Kriegsmann. S. verband in sich zunehmend einen reichstreuen (dabei antispan. u. antipapistischen) Reformkatholiken mit einem Advokaten religiöser Toleranz. Zu seinem Bekanntenkreis zählten namhafte Humanisten (Hugo Blotius, Johannes Sambucus, Johannes Posthius); er protegierte Hans Lewenklaw u. war im kryptocalvinistischen Verbindungsnetz präsent; weitläufige Briefwechsel u. Treffen mit Vertretern der protestantischen Diplomatie (H. Languet, Philip Sidney) u. humanistischen Gelehrsamkeit (J. Sturm, J. Camerarius d.Ä.) unterstreichen S.s undogmat. Position. Auch im Wegestreit der Naturkunde u. Medizin, so zeigen seine Beziehungen sowohl zu galenistischen Traditionalisten (Johann Crato von Kraftheim, Thomas Erastus, Felix Platter, Heinrich Pantaleon) als auch Abweichlern (Th. Zwinger, Guillaume Aragose, dem von S. unterstützten Erzparacelsisten M. Toxites), erweist sich S. als ein Mann zwischen den Fronten. Weitere Werke: Bericht, was ich [...] Sebastian Vogelsperger belangend, [...] gethon habe. Augsb. 1548 (Auch in B. F. Hummel: Neue Bibliotheck von seltenen Büchern. Nürnb. 1776. Stück Nr. 5). – Briefe an Th. Zwinger, Johann Jacob Wecker u. G. Aragose. In: Basel, UB, Slg. Frey-Gryn. Ausgaben: Gutachten an einen Militär in Ungarn (Kientzheim, 3.11.1582). In: Beyträge zur dt. Sittengesch. des MA aus ächten Urkunden des berühmten Archivs zu Ambras in Tyrol. Hg. Franz Gassler. Wien 1790, S. 149–154. – Briefe an Karl V. In: Correspondenz des Kaisers Karl V. Bd. 3. 1550–1556. Hg. Karl Lanz. Lpz. 1846. – G. F.: L. v. S. als Dichter u. sein Brief an den Kaiser vom Jahre 1575. In: Ztschr. für Kunst, Wiss. u. Gesch. des Krieges 77 (1849), S. 159–169 (Lehre an das Kriegsvolk. Schreiben an Maximilian II., Kientzheim, 20.3.1575). – Von Janko (1871), S. 53–67: Bedenken, was wider den Türken vorzunehmen (1566); S. 85–89: Gutachten zur Zipser Verwaltung (1571); S. 96–133: Denkschrift (Kientzheim,
691 15.5.1574); S. 148–212: Kriegsdicurs (Auszüge). Dichtungen. Reiterbestallung; verstreut: Briefe. – Briefe des Pfalzgrafen Johann Casimir mit verwandten Schriftstücken. Ges. u. bearb. v. Friedrich v. Bezold. Bd. 1, Mchn. 1882, Nr. 42, 134, 274 (Schreiben aus den Jahren 1577, 1578, 1581); Bd. 2, Mchn. 1884, Nr. 86 (Schreiben an S. vom Jahr 1583). – Eduard Bodemann: Hzg. Julius v. Braunschweig als dt. Reichsfürst, 1568–1589. In: Ztschr. des histor. Vereins für Niedersachsen (1887), S. 1–92, hier S. 52–92 (Abdruck des Briefwechsels S.s mit Hzg. Julius v. Braunschweig 1569/83). – Lutz Hatzfeld: S.s Denkschrift über den Reichsgrafenstand v. 1581/82. In: Ztschr. für die Gesch. des Oberrheins 102/N. F. 63 (1954), S. 771–779. Literatur: Wilhelm Edler v. Janko: L. Frhr. v. S., oberster Feldhauptmann u. Rath Kaiser Maximilian’s II. Wien 1871. Neudr. Freib. i. Br. 2000 (mit Kriegsdicurs-Textprobe u. Wiedergabe v. Lehrdichtungen). – Max Jähns: Gesch. der Kriegswiss.en vornehmlich in Dtschld. Bd. 1, Mchn. 1889, S. 531–542. – August v. Kluckhohn: L. S. In: ADB. – Ernst Martin: L. v. S. u. seine Schr.en. In: Ztschr. für die Gesch. des Oberrheins N. F. 8 (1893), S. 389–418. – Édouard Sitzmann: Dictionnaire de Biographie des Hommes Célèbres de l’Alsace. Bd. 2, Rixheim 1910, S. 753 f. – Adolf Eiermann: L. v. S. Frhr. v. Hohenlandsberg ein dt. Feldoberst u. Staatsmann des XVI. Jh. Neue Studien. Freib. i. Br. 1904 (mit Textwiedergaben). – Rudolf Krone: L. v. S. 1522–1584. Kaiserl. General u. Geheimer Rat. Seine kirchenpolit. Tätigkeit u. seine Stellung zur Reformation. Lpz. 1912 (Schr.en des Vereins für Reformationsgesch. 29, 1912, Nr. 107, S. 125–167). – Johann König: L. v. S. Röm[isch] Kaiserl. Majestät Rat u. Feldoberst 1522–1583 [!]. Beitr. zur Gesch. der Gegenreformation. Schwendi/Württemberg 1934. – Des L. v. S. Denkschrift über die polit. Lage des dt. Reiches v. 1574. Hg. Eugen v. Frauenholz. Mchn. 1939 (mit Textwiedergabe). – E. v. Frauenholz: L. v. S. Der erste dt. Verkünder der allgemeinen Wehrpflicht. Hbg. 1939 (mit Wiedergabe militärpolit. Schr.en). – Lore Sporhan-Krempel: L. v. S. Feldherr, Diplomat u. Schriftsteller. In: Beiträge zur Landeskunde (Beilage zum Staatsanzeiger für Baden-Württemberg). Nr. 1. April 1965, S. 1–5. – Gerhard Eis u. Hans J. Vermeer: Eine unbekannte Bearb. der für Maximilian I. gedichteten ›Lehre eines Kriegsrates‹ (1972). In: G. Eis: Kleine Schr.en zur altdt. weltl. Dichtung. Amsterd. 1979, S. 483–496, hier S. 484. – Lina Baillet: S., lecteur de Machiavel. In: Revue d’Alsace 112 (1986), S. 119–197. – Maximilian Lanzinner: Die Denkschrift des L. v. S. zur Reichspolitik (1570). In: Neue Studien zur frühneuzeitl. Reichsgesch. Hg. Johan-
Schwendter nes Kunisch. Bln. 1987 (Ztschr. für histor. Forsch. Beiheft 3), S. 141–185 (mit Textwiedergabe). – Roman Schnur: L. v. S. (1522–1583). Ein unerledigtes Thema der histor. Forsch. In: Ztschr. für histor. Forsch. 14 (1987), S. 27–46. – Kaspar v. Greyerz: L. v. S. (1522–1583) and Late Humanism in Basel. In: The Harvest of Humanism in Central Europe. Essays in Honor of Lewis W. Spitz. Hg. Manfred P. Fleischer. St. Louis 1992, S. 179–196. – Staatslehre der frühen Neuzeit. Hg. Notker Hammerstein. Ffm. 1995 (Wiedergabe des ›Discurs‹, 1570). – Thomas Nicklas: Um Macht u. Einheit des Reiches. Konzeption u. Wirklichkeit der Politik bei L. v. S. (1522–1583). Husum 1995. – Peter Schmid: L. S. In: Bautz. – Howard Louthan: The Quest for Compromise. Peacemakers in Counter-Reformation Vienna. Cambridge 1997. – T. Nicklas: L. v. S. (1522–1583). In: Lebensbilder aus Baden-Württemberg 20 (2001), S. 19–48. – Ders.: L. S. In: NDB. – K. v. Greyerz: Un moyenneur solitaire. L. v. S. et la politique religieuse de l’Empire au XVIe siècle tardif. In: Frömmigkeit u. Spiritualität. Auswirkungen der Reformation im 16. u. 17. Jh. Hg. Matthieu Arnold u. Rolf Decot. Mainz 2002, S. 147–160. – Harm Klueting: L. S. In: RGG. – CP II (2004), Nr. 136. – DBE. Joachim Telle
Schwendter, Rolf, eigentl.: Rudolf Scheßwendter, * 13.8.1939 Wien. – Lyriker, Liedermacher, Dramatiker. Im Wiener Arbeiterbezirk Ottakring aufgewachsen, macht der dreifache Doktor ernst mit der Forderung einer Einheit von Leben u. Werk. Als Liedermacher, der Brechts Theorien in der Praxis anwendet u. weiterführt u. andere wie Franz Josef Degenhardt beeinflusst hat, als Subkultur- u. Zukunftsforscher – S. war von 1975 bis zu seiner Emeritierung 2003 Professor für Devianzforschung an der Universität Kassel – u. als viel beschäftigter Organisator u. Koordinator bemüht er sich um Alternativen zu den bürgerl. Konventionen. Nach dem Studium der Theaterwissenschaft, Staatswissenschaft, Soziologie u. evang. Theologie in Wien übersiedelte S. 1967 in die BR Deutschland, wo er zunächst als Liedermacher von einem Minimaleinkommen lebte, ehe er als Assistent für polit. Wissenschaft an die Universität Heidelberg ging. In seiner anspielungsreichen literar. Produktion, die einherging mit seiner wissenschaftl. Arbeit (Zur Zeitgeschichte der
Schwenter
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Literatur: Thomas Rothschild: Liedermacher. Zukunft. 2 Bde., Ffm. 1982 u. 1984) u. mit der Veröffentlichung eines histor. u. gesell- Ffm. 1980, S. 155–162. Christiane E. Winterschaftskrit. Erkenntnisse einbeziehenden Heider (Hg.): FS für R. S. Fragmente einer BegegKochbuchs (Schwendters Kochbuch. Ffm. 1988), nung Elemente einer Entgegnung. Kassel 2005. Thomas Rothschild / Christian Walter verzichtet S. auf ästhetische Oberflächenglätte zugunsten einer den Leser/Hörer aktivierenden (auch polit.) Provokation. Schwenter ! Bernhaubt, Pangratz Auch in den folgenden Jahren bearbeitete S. konsequent eine große Bandbreite an Schwenter, Daniel, * 31.1.1585 Nürnberg, Themen, zu denen z.B. Utopien (Utopie. † 19.1.1636 Altdorf. – Orientalist, MaÜberlegungen zu einem zeitlosen Begriff. Berlin thematiker, Verfasser popularwissen1994), alternative Ökonomie (Hg. von Geschaftlichen Schrifttums, Verfasser einer meinsam mehr erreichen. Kooperation und Vernetvon Andreas Gryphius bearbeiteten Kozung alternativökonomischer Betriebe und Projekte. mödie (?). Steinheim 1995), eine Sozialgeschichte des Essens (Arme essen Reiche speisen. Neuere So- Der universal begabte Sohn eines Nürnberger zialgeschichte der zentraleuropäischen Gastrono- Kaufmanns u. Ratsmitglieds besuchte die mie. Wien 1995) oder Theaterwissenschaft Gymnasien in Sulzbach u. Nürnberg, studierte in Altdorf u. wirkte dort seit 1608 als (Lesetheater. Wien 2002) gehören. Mit seiner Lyrik wirft S. alternative Blicke Professor des Hebräischen, dann auch aller auf die jüngere Zeitgeschichte. In seinem oriental. Sprachen (1625), seit 1628 zudem als Gedichtzyklus Psalter. Gedichte 1970–1980 Professor der Mathematik. In diesen Diszi(Wien 1991) bearbeitet er u. a. die enttäusch- plinen trat er mit vergleichsweise wenigen ten Hoffnungen der Studentenbewegung u. akadem. Publikationen (Reden, Abhandlunbleibt formal vielfach der unregelmäßigen gen, lexikografische Unternehmungen) herRhythmik Brechts treu, während er mit den vor. Als einer der Ersten in Deutschland las er zweiundfünfzig Gesängen der Drizzling Fifties im Unterricht den Koran. Unter Pseudonym (Wien 1996) kulturhistor. Entwicklungen (Resene Gibronte Runeclus Hanedi) publiaufgreift, die in den 1950er Jahren begannen. zierte er in zwei Bänden ein Lehrbuch der S. war Mitbegründer des Ersten Wiener Geheimschriften (Steganologia & SteganograLesetheaters in Kassel u. 2001–2005 Präsi- phia. Nürnb. o. J.; Bd. 2 zwischen 1614 u. dent der Internationalen Erich Fried Gesell- 1621) u. erwarb dadurch die Freundschaft u. schaft; seit 2006 ist er Präsident der Grazer Förderung des gelehrten Herzogs August d.J. Autorenversammlung. 2008 erhielt er das von Braunschweig-Lüneburg. Besonders hervorzuheben sind S.s aus dem »Marburger Leuchtfeuer für Soziale BürgerNachlass publizierten Philosophisch-mathemarechte« der Humanistischen Union. Weitere Werke: Modelle zur Radikaldemokra- tischen Erquickstunden (von S. Bd. 1, 1636 u. ö. tie. Wuppertal 1970. Theorie der Subkultur. Nachdr. 1991), die jenseits der akadem. DisKöln/Bln. 1971. – Ich bin noch immer unbefriedigt. ziplinen den Gesamtbereich des naturkundl. Bln. 1980 (Lieder). – Katertotenlieder. Wien 1987. – u. techn. Wissens unter Einschluss u. a. der Die Unmöglichkeit zu Telefonieren. Wien 1990 Chemie, Architektur, Optik u. Hydraulik in (Ess.s). Tag für Tag. Eine Kultur- u. Sittengesch. Fallbeispielen u. experimentellen Aufgaben des Alltags. Hbg. 1996. Einf. in die Soziale The- als neue »Philosophie« in dt. Sprache popurapie. Tüb. 2000. Subkulturelles Wien. Die in- larisierten u. so auch zum Selbststudium anformelle Gruppe (1959–1971). Wien 2003. Verregen sollten. Das von dem Nürnberger gessene Wiener Küche. Kochen gegen den Zeitgeist. Großliteraten Georg Philipp Harsdörffer mit Wien 2004. Blues auf dem Weg zum Wahnsinn. Gedichte 1963/64. Klagenf. 2004. Rosa Luxem- Bd. 2 u. 3 (1651, 1653 u. ö.) fortgesetzte burg im botan. Garten u. weitere Lieder zum freien Kompendium verarbeitete Vorlagen von vieGebrauch. Liederbuch & CD. 2008. Die ungar. len Autoren der europ. Spätrenaissance (darArme-Leute Küche. Klagenf. 2008. – Schallplatte: unter Geronimo Cardano) u. war ausdrücklich angeregt von einem analogen, allerdings Lieder zur Kindertrommel. Hbg. 1970.
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Schwerdtfeger
sehr schmalen Bändchen (Récréation Ma- Verfasserschaft des Peter Squentz. In: Euph. 63 thématique, 1626 u. ö.) des lothring. Jesuiten (1969), S. 54–65. – Berns 1991: Einl. zu HarsdörfJean Levrechon. Der didakt. u. wissensstrateg. fer/S. (s.o. unter Neudr.). – Hartmut Bobzin: HeWert von S.s u. Harsdörffers Werk ist, so J. J. braistik im Zeitalter der Philologia Sacra am Beispiel der Univ. Altdorf. In: Syntax u. Text. Hg. Berns 1991, »nicht hoch genug zu veranHelmut Isinger. St. Ottilien 1993, S. 151–169. – schlagen. Es bot die Chance, alles, was sich in Hans Recknagel: Die Nürnbergische Univ. Altdorf Handwerk- und Ingenieurswesen einerseits, u. ihre großen Gelehrten. o. O. 1998, S. 109–115. – im Universitätswesen andererseits und in der Nicola Kaminski: Andreas Gryphius. Stgt. 1998, Akademiebewegung zum dritten an Wis- S. 158–178. – Wolfgang Mährle: Academia Norica. sensinhalten und Problematisierungsformen Wiss. u. Bildung an der Nürnberger Hohen Schule separat akkumuliert hatte, miteinander zu zu Altdorf (1575–1623). Stgt. 2000, S. 268–271. – Martin Disselkamp: Erbaul. Wissenschaft. Proverknüpfen.« Die Vorrede der wohl von Andreas Gryph- grammatik u. Darstellungstechniken in den ›Deliciae mathematicae‹ v. D. S. u. Georg Philipp Harsius verfassten, jedoch unter dem Pseudonym dörffer. In: Von null bis unendlich. Literar. InszePhilip-Gregorius Riesentod publizierten Ko- nierungen naturwiss. Wissens. Hg. Anne-Kathrin mödie Absurda Comica. Oder Herr Peter Squenz Reulecke. Köln u. a. 2008, S. 151–174. (1658), auf Ovids Geschichte von Pyramus u. Wilhelm Kühlmann Thisbe zurückgehend u. vielleicht mittelbar in Kenntnis von Shakespeares Midsummer Schwerdtfeger, Malin, * 27.12.1972 BreNight’s Dream konzipiert, verweist auf S., der men. – Erzählerin. »selbige zum ersten zu Altdorff auff den Schauplatz geführet«. Die angebl. Vorlage S.s S. studierte Judaistik u. Islamwissenschaft in konnte bisher nicht nachgewiesen werden; Berlin. Sie erhielt 2000 für die Erzählung Fell denkbar ist eine studentische, von S. geför- und Federn den Förderpreis beim Ingeborgderte Aufführung. Die diesbezügliche rege Bachmann-Wettbewerb. 2001 erschienen Forschungsdiskussion (dazu Michelsen 1969 diese u. weitere Geschichten in ihrem Deu. zusammenfassend Kaminski 1998) ist bütband Leichte Mädchen (Köln), einer Sammweitgehend auf Spekulationen u. Indizien lung Prosastücke über junge Frauen an verschiedenen Orten, die sich oftmals erwachseangewiesen. ner als die eigenen Eltern im Leben zurechtWeitere Werke: Oratio de sancto et magno nomine tetragammato Iehoua. Nürnb. 1608. – finden müssen. Der Roman Café Saratoga Oratio de opticae sive perspectivae laudibus. Ebd. (Köln 2001) baut die Geschichte der Figuren 1616. – Wie ohne einig künstliche geometrisch In- in Fell und Federn weiter aus. Erzählt wird die strument, allein mit der Meßruthen und einigen Familiengeschichte von Sonja u. Majka, von Stäben das Land zu messen. Ebd. 1616. – Be- ihrer Kindheit u. Sommeridylle auf der poln. schreibung des geometrischen Tischleins, von dem Halbinsel Hel, vom Erwachsenwerden, vom [...] Mathematico M. Johanne Prätorio erfunden. Umzug der Familie in den Westen. 2004 Ebd. 1618 u.ö. – Disputatio hebraica prima de vera folgte der Roman Delphi (Köln), ebenfalls eine et genuina consonantium hebraicarum pro- Familiengeschichte, dargestellt aus ungenunciatione. Altdorf 1625. – Manipulus linguae wöhnl. Perspektive: Erzählerin ist die versacrae, sive lexicon hebraeo-latinum ad formam storbene Schwester der beiden Hauptfiguren, cubi Hutteriani adornatum. Nürnb. 1628 u.ö. der Geschwister Linda u. Robbie. Der Roman Ausgabe: Georg Philipp Harsdörffer u. D. S.: changiert zwischen erzählerischer UnzuverDeliciae Physico-Mathematicae oder Philosophilässigkeit u. magischem Realismus. 2008 sche u. Mathematische Erquickstunden. 3 Bde. Neudr. der Ausg. Nürnb. 1636, 1651, 1653. Hg. u. veröffentlichte S. mit Die Kürbiskönigin (Bln.) eingel. v. Jörg Jochen Berns. Ffm. 1991. Internet- ein Kinderbuch. In »Versuche, Dein Leben zu machen«. Als Jüdin versteckt in Berlin (Bln. 2008) Ed. in: dünnhaupt digital. Literatur: Georg Andreas Will: Nürnbergisches erzählt sie zusammen mit der Protagonistin Gelehrten-Lexicon. Dritter Theil. Nürnb./Altdorf die autobiogr. Geschichte von Margot 1757, S. 653–657. – Moritz Cantor: D. S. In: ADB Friedlander. S. arbeitet auch als Drehbuch26 (1888), S. 413 f. – Peter Michelsen: Zur Frage der autorin.
Schwiefert Literatur: Thomas Kraft: M. S. In: LGL. – Lucy Macnab: Becoming Bodies: Corporeal Potential in Short Stories by Julia Franck, Karen Duve, and M. S. In: Pushing at Boundaries. Approaches to Contemporary German Women Writers from Karen Duve to Jenny Erpenbeck. Hg. Heike Bartel u. Elizabeth Boa. Amsterd./New York 2006, S. 107–117. – Katarzyna Nowakowska: Wie man bei jungen Pop-Autoren erwachsen wird ... Zur neuesten dt. Jugendlit. am Beispiel von ›Ich habe einfach Glück‹ v. Alexa Hennig v. Lange u. ›Café Saratoga‹ v. M. S. In: Studia Niemcoznawcze 27 (2004), S. 435–441. J. Alexander Bareis
694 Ferse. Ebd. 1934. – Derby. Ebd. 1936. – Frackkomödie. Ebd. 1939. Literatur: Martin Hollender: Der Bibliothekar als Lustspieldichter. Dr. F. S. (1890–1961). In: Mitt.en. Staatsbibl. zu Berlin. Preuß. Kulturbesitz N. F. 11 (2002), H. 1, S. 118–145. Peter Krumme / Red.
Schwieger, Jacob, * um 1630 Altona, † vor dem 28.1.1664 Glückstadt/Elbe. – Schäferdichter.
Der Sohn eines Kaufmanns studierte in seiner Heimatstadt, dann in München u. Freiburg i. Br. Germanistik u. Kunstgeschichte (Dr. phil.). Anschließend erwarb S. ein Dolmetscherdiplom in Russisch u. arbeitete 1917–1946 als Referent für slaw. Literatur u. Geschichte an der Staatsbibliothek in Berlin. Seit 1946 freier Schriftsteller, schrieb er Theaterkritiken für den Berliner »Telegraf« u. seit 1955 für den »Tagesspiegel«. Nach ersten Versuchen mit expressionistischen Dramen trat S. vor allem mit publikumswirksamen Gesellschaftskomödien hervor. Noch in den 1980er Jahren aufgeführt wurde sein erfolgreichstes Stück, das Lustspiel Margueritte: 3 (Bln. 1930), in dem sich die Titelheldin drei Männern in jeweils verschiedenen Rollen präsentiert. Immer spielt sie die Frau, die den geheimen Wünschen des Bewerbers entspricht u. sich doch am Ende entzieht. S. verfasste Drehbücher (Unser Fräulein Doktor. 1940. Träum nicht Annette. 1942) u. inszenierte gemeinsam mit Theo Lingen 1955 in Düsseldorf die Komödie Die Silberhochzeit. Außerdem übersetzte er aus dem Französischen u. Russischen. Auskunft über sein Leben enthält der autobiogr. Roman Zwei Ehen mit Cora (Bln. 1960).
Da man lange keine S. betreffende Archivalien kannte, erschloss man seine Biografie aus Erscheinungsdaten u. Widmungen. Dabei wurden ihm bis Ende des 19. Jh. die unter dem Pseud. »Filidor der Dorfferer« erschienene, von Kaspar Stieler verfasste Liedersammlung Die geharnschte Venus (1660) u. andere Veröffentlichungen unter demselben Pseud. (teils von Stieler, teils von einem Unbekannten) zugeschrieben. S. wuchs in Altona u. dann in Glückstadt auf, wo sein Vater seit 1644 die Münze des dän. Königs gepachtet hatte. Nach einem Philosophie- u. Theologiestudium in Wittenberg (Immatrikulation im März 1650) lebte er ab 1653 in Hamburg, seit Sommer 1654, wohl als Hauslehrer, in (bzw. bei) Stade u. ab 1656 in Glückstadt. Dort pachtete er 1657 für drei Jahre die Münze. Danach geriet S. in finanzielle Schwierigkeiten u. starb verschuldet. S.s Werke sind fast ausschließlich der Schäferdichtung zuzurechnen, die dem Bürgertum vorzugsweise zur Darstellung eigener Wertvorstellungen diente: Tugend, Freundschaft, Liebe u. Dichtung. S.s Gedichte u. Erzählungen sind meist konventionelle Gesellschaftskunst; nur Die verführete Schäferin Cynthie (Glückstadt 1660) behandelt das gattungstypische Problem der »keuschen Liebe« u. ihrer Bedrohung durch Verführung ungewöhnlicherweise aus der Sicht der Frau. S. fand sein Publikum in der eigenen sozialen Schicht in Hamburg u. den kleinen Städten an der Niederelbe, sodass er seine Werke in dichter Folge veröffentlichen konnte.
Weitere Werke: Hans v. Huttens Buße. Bln. 1919 (D.). – Komödien: Bakchos Dionysos. Ebd. 1921. – Das Tagebuch. Ebd. 1931. – Der Stich in die
Weitere Werke: Über-Schrifften, das ist Kurtze Gedichte [...]. Stade 1654. – Liebes-Grillen [...]. 2 Tle., Hbg. 1654–56. – Des Flüchtigen flüchtige
Schwiefert, Fritz, * 4.12.1890 Berlin, † 31.1.1961 (West-)Berlin; Grabstätte: ebd., Alter Friedhof Wannsee. – Bühnenu. Drehbuchautor, Theaterkritiker, Übersetzer.
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695 Feld-Rosen [...]. Hbg. 1655. – Lustiges Lust-Kämmerlein [...]. Stade 1655. Internet-Ed.: SUB Göttingen. – WandlungsLust [...]. Hbg. 1656. – SchauHauß [...]. Hbg. 1656. – Adeliche Rose [...]. 3 Tle., Glückstadt 1659. – Verlachte Venus [...]. Ebd. 1659. Internet-Ed.: SUB Göttingen. – Sieges-Seüle, dem [...] Herrn Friederich dem Dritten, zu Dennemark [...]. Ebd. 1659. Internet-Ed.: HAB Wolfenbüttel (dünnhaupt digital). o. O. 1660. – Sicherer Schild wider die Verläumdungs-Pfeile. Glückstadt 1660. – Übersetzung: Jacob Cats: Trauungs-Betrug [...]. Ebd. 1659. Ausgaben: Ausw. in: Das dt. Gedicht. 1600–1700. Hg. Christian Wagenknecht. Bd. 4, Gütersloh 1969, S. 231 f. – Ausw. in: Wir vergehn wie Rauch v. starken Winden. Dt. Gedichte des 17. Jh. Hg. Eberhard Haufe. 2 Bde., Bln. 1985, Register. – Ausw. in: Gedichte des Barock. Hg. Ulrich Maché u. Volker Meid. Stgt. 2005, S. 223 f. Literatur: Bibliografien: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 5, S. 3897–3904. – Schmidt, Quellenlexikon, Bd. 29, S. 117 f. – VD 17. – Weitere Titel: Alexander Reifferscheid: J. S. In: ADB. – Klaus Garber: Der locus amoenus u. der locus terribilis [...]. Köln 1974, passim. – Karin Unsicker: Weltl. Barockprosa in Schleswig-Holstein. Neumünster 1974. – Dieter u. Anke-Marie Lohmeier: J. S. Lebenslauf, Gesellschaftskreis u. Bucherbesitz eines Schäferdichters. In: JbDSG 19 (1975), S. 98–137. – D. Lohmeier: J. S. In: BLSHL, Bd. 4, S. 210–212. – Heiduk/Neumeister, S. 100 f., 242, 473. – Urte Härtwig: J. S. In: MGG, Personenteil, Bd. 15, Sp. 446 f. – Percy Lutz: J. S., Dichter u. Münzmeister. In: Geldgeschichtl. Nachrichten 41 (2006), S. 247–254. Dieter Lohmeier / Red.
Schwind, Moritz von (Ritter seit 1855), * 21.1.1804 Wien, † 8.2.1871 Niederpöcking/Starnberger See; Grabstätte: München, Alter Südlicher Friedhof. – Maler, Zeichner, Illustrator. S. zählt zu den bedeutendsten Malern der dt. Romantik u. des Biedermeier. Der Sohn eines Hofsekretärs besuchte das Wiener Schottengymnasium, danach die Universität. Im geselligen Freundeskreis des Philosophiestudenten (dem unter anderen Grillparzer, Bauernfeld u. Franz Schubert angehörten) trat seine vielseitige musische Begabung zutage. 1821 wechselte S. auf die Wiener Kunstakademie, wo ihn Ludwig Ferdinand Schnorr von Carolsfeld mit der Welt mittelalterl. Märchen- u. Sagenstoffe vertraut machte. S.
begann als Buchillustrator (u. a. Saemmtliche drammatische Werke von William Shakespeare. Hg. Eduard von Bauernfeld. 37 Bde., Wien 1825–27); in diesem Fach hat er auch später bedeutende Arbeiten geliefert (Frühlings-Almanach für das Jahr 1836. Hg. Nikolaus Lenau. Stgt. 1836. Beiträge zur Kupfersammlung zu Goethes sämmtlichen Werken. Lpz. 1827–30. Gedichte von Friedrich Schiller. Prachtausg. Stgt. 1859. Eduard Mörike ›Die Geschichte von der Schönen Lau‹. Stgt. 1873). 1828 ging S. nach München u. studierte dort bei Peter Cornelius Monumentalmalerei; mit den Fresken für die Münchener Residenz (nach Tiecks Phantasus, 1834) erzielte er seinen künstlerischen Durchbruch; zahlreiche Großaufträge für private u. öffentl. Bauten folgten (»Kinderfries«, Residenz München 1836. Kunsthalle Karlsruhe 1841/42. Wartburgfresken 1854/ 55). 1847 erhielt S. eine Professur an der Münchner Kunstakademie; 1863–1867 malte er die Deckengemälde für die Wiener Hofoper. S., der sich auch als Balladendichter versuchte u. dessen humorvolle Briefe (Briefwechsel zwischen Eduard Mörike und Moritz von Schwind. Hg. Hanns W. Rath. Stgt. 1918. 2., verm. Aufl. 1920) ihn als glänzenden Stilisten ausweisen, hat wie kaum ein anderer Maler seiner Epoche den spätromantisch-biedermeierl. literar. Zeitgeschmack bildnerisch umgesetzt (Märchenzyklen Aschenbrödel. 1854. Die Sieben Raben. 1857/58. Die schöne Melusine. 1864). Auf den poetischen Gestus etwa seiner Reisebilder hat S. selbst verwiesen, indem er sie »Gelegenheitsgedichte, Lustspiele, lyrische Lieder« nannte. In seinem Gesamtwerk spiegeln sich Rezeptionsmechanismen von Literatur in exemplarischer Weise. Ausgabe: Briefe. Hg. Otto Stoessl. Lpz. 1924. Literatur: Hyacinth Holland: M. v. S. Stgt. 1873. – Günther Grundmann: M. v. S., der Maler im Geiste Eichendorffs. In: Aurora 13 (1953), S. 11–16. – Kat. der S.-Ausstellung des Histor. Museums der Stadt Wien. Wien 1954. – Renate v. Heydebrand: Kunst im Hausgebrauch. Überlegungen zu Mörikes Epistel an M. v. S. In: JbDSG 15 (1971), S. 280–296. – Christoph Michel: Goethes u. Philostrats ›Bilder‹. Mit einem Anh.: M. v. S. ›Philostrat. Gemälde‹ in der Kunsthalle zu Karlsruhe.
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In: JbFDH 1973, S. 117–156. – Hannelore Gärtner: ›Der Sängerkrieg auf der Wartburg‹ v. M. v. S. In: Wiss. Ztschr. der Ernst-Moritz-Arndt-Univ. 30 (1981), 3/4, S. 59–63. – Josefine Nast: Wiener Buchillustrationen zwischen 1820/30 u. 1870/80. In: Zeman 3, S. 717–740. – Reinhard Göltl: Franz Schubert u. M. v. S.: Freundschaft im Biedermeier. Mchn. 1989. – Doris Starck: M. v. S. Tasso-Rezeption. In: Torquato Tasso in Dtschld. Hg. Achim Aurnhammer. Bln./New York 1995, S. 609–642. – Siegmar Holsten (Red.): M. v. S. Meister der Spätromantik. Ostfildern 1996. – Barbara Rommé: M. v. S.: Fresken u. Wandbilder. Ostfildern 1996. – Michael Dirrigl: M. v. S.: Maler in München. Nürnb. 2001. – Silke Bettermann: M. v. S. u. Ludwig van Beethoven. Ein Maler der Romantik u. seine Begeisterung für die Musik. Bonn 2004. – Burghart Wachinger: Der Sängerstreit auf der Wartburg. Von der Manesseschen Hs. bis zu M. v. S. Berlin/New York 2004. – S. Holsten: M. v. S. In: ÖBL. – Andrea Teuscher: M. v. S. In: NDB. Cornelia Fischer / Red.
Schwitters, Kurt (Curt Hermann Eduard Carl Julius), * 20.6.1887 Hannover, † 8.1. 1948 Kendal/Großbritannien. – Lyriker, Erzähler, Dramatiker, Literatur- u. Kunsttheoretiker; Aktionskünstler, Graphiker, bildender Künstler. Nach dem Abitur 1908 begann S. ein Studium an der Kunstgewerbeschule Hannover, das er 1909–1915 an der Königlich Sächsischen Akademie der Künste in Dresden fortsetzte. 1915 heiratete er Helma Fischer; der gemeinsame Sohn Ernst wurde 1918 geboren. Im Ersten Weltkrieg wurde S. erst 1917 eingezogen, kurze Zeit später als untauglich entlassen. Seit 1918 war er freischaffender Künstler. S.’ erste Bilder entstanden seit 1905; sie lassen sich der neuromant. Tradition zuordnen. Erstmals war er im Aug. 1911 an einer Ausstellung im Kunstverein Hannover beteiligt. Während der 1910er Jahre orientierte er sich zunehmend am zeitgenöss. Kunstsystem. Seine Arbeiten seit 1912 waren impressionistisch, seit 1917 expressionistisch. Das Werk zeigt zeittypisch eine Entwicklung zur Abstraktion. Gegenständliche Arbeiten entstanden jedoch bis an sein Lebensende, vor allem in den Exiljahren dienten sie zur Sicherung des Lebensunterhalts.
Neben dem bildkünstlerischen Werk schrieb S. Gedichte, die sich analog zu den bildnerischen Werken an der Entwicklung des Literatursystems u. seinen Formtendenzen ausrichteten. Nach neuromant. Anfängen orientierte er sich an der Lyrik August Stramms u. nahm Kontakt zu Herwarth Walden u. Rudolf Blümner auf. 1918 stellte er erstmals in Waldens Berliner Sturm-Galerie aus; die erste Einzelausstellung seiner Werke fand ebendort 1921 statt. Waldens Zeitschrift »Der Sturm« war bis 1923 das wichtigste Publikationsorgan für S., der in zahlreichen weiteren avantgardistischen Periodika präsent war. Er entfaltete seine Überlegungen zur Kunst- u. Literaturtheorie in einer vielfältigen Manifest- u. Aufsatzproduktion, welche die literar. u. künstlerische, später prakt. Arbeit flankierten u. zunehmend selbst nach ästhetischen Gesichtspunkten gestaltet wurden. Nach dem Krieg entwickelte er eine eigenständige avantgardistische Kunstkonzeption. Die ersten Assemblagen entstanden 1918/19; für seine spezif. Kunstform prägte S. einen Neologismus. »Ich nannte meine neue Gestaltung mit prinzipiell jedem Material MERZ.« Die Findung des Begriffs führte S. auf einen künstlerischen Eingriff zurück, auf eine Collage, »ausgeschnitten aus einer Anzeige der KOMMERZ UND PRIVATBANK«. Das so gewonnene semantisch leere Wort nutzte S. in der Funktion eines Markennamens zur Bezeichnung seiner Kunstwerke als »Sammelnamen für diese neue Gattung, da ich meine Bilder nicht einreihen konnte in alte Begriffe, wie Expressionismus, Kubismus, Futurismus oder sonst wie. Ich nannte nun alle meine Bilder der Gattung nach dem charakteristischen Bild Merzbilder.« Seine konkrete Tätigkeit bezeichnete er als »merzen«. »Mein Ziel ist das Merzgesamtkunstwerk, das alle Kunstarten zusammenfasst zur künstlerischen Einheit.« Die in den Jahren 1920 u. 1921 intensivierte Programmatik erweist Merz als umfassenden kunsttheoret. Entwurf. »Merz, und nur Merz ist befähigt, einmal, in einer noch unabschätzbaren Zukunft die ganze Welt zu einem gewaltigen Kunstwerk umzugestalten.« Merz impliziert
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die Dynamik einer expansiven Ausdehnung auf grundsätzlich jeden Bereich, die Verwendung grundsätzlich jeden Materials u. die Entgrenzung von Kunst in jedes Feld des Lebens hinein. »Vom Standpunkt Merz aus [...] ist im Kunstwerk nur wichtig, daß sich alle Teile aufeinander beziehen, gegeneinander gewertet sind.« Die Qualität des Materials spielt für das Kunstwerk keine Rolle, es wird »entformelt«, aus den ursprüngl. Sinnu. Bedeutungszusammenhängen herausgenommen, u. unter kompositorischen Gesichtspunkten in den neuen Kohärenzzusammenhang des Kunstwerks montiert. »Die Materialien sind nicht logisch in ihren gegenständlichen Beziehungen, sondern nur innerhalb der Logik des Kunstwerks zu verwenden.« Die Merzkonzeption formuliert emphatisch den Primat der Kunst. Konflikte mit den Berliner Dadaisten entzündeten sich an S.’ Wendung gegen die Politisierung seiner Kunst, die aber nicht mit einer grundsätzlich unpolit. Haltung zu verwechseln ist. »Aber nichts kann den Geschäftsgeist, den Geist der praktischen Konstruktion mehr erlösen als das nutzloseste aller Dinge auf der Welt, die Kunst« (1926). S. weitete den Begriff auf alle Sparten seiner künstlerischen Arbeit aus, verwendete ihn auch für seine Aktivitäten. Merz bezeichnete die eigene künstlerische Individualität, die in der Übernahme als Pseudonym oder Namensbestandteil (Kurt Merz Schwitters), schließlich in den späten Äußerungen »Ich bin Merz« u. »die Merzkunst stirbt mit mir« formuliert wurde. S. gestaltete von 1921 bis 1930 Merzabende, auf denen er als Vortragskünstler auftrat. Die Vielfalt der Merzkunst dokumentierte die seit 1923 erscheinende Zeitschrift »Merz«, die nicht nur Hefte, sondern auch Kunstwerke u. Tonträger als Einzelnummern verzeichnet. Im Elternhaus in Hannover gestaltete er Teile seines Ateliers zum Merzbau, an dem er bis zu seiner Exilzeit kontinuierlich arbeitete u. der am 8./9. Oktober 1943 durch Brandbomben zerstört wurde. In Norwegen begann er 1937 mit der Arbeit an einem neuen Merzbau, in England entstand 1947 die Merz Barn.
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1918 begegnete S. den Dadaisten Hans Arp, Hannah Höch u. Raoul Hausmann, im folgenden Jahr nahm er Kontakt mit Richard Huelsenbeck u. Tristan Tzara auf. In der ersten Hälfte der zwanziger Jahre war S. mit wichtigen Exponenten der europ. Kunstavantgarde befreundet, mit Max Ernst, Theo van Doesburg, László Moholy-Nagy, El Lissitzky, dem Typographen Jan Tschichold u. anderen. Später gehörte er zur Künstlervereinigung »Cercle et Carré«, zum »ring neuer werbegestalter«, zu den »abstrakten hannover«. 1930 wurde er Mitgl. des P.E.N.-Club u. weiterer internat. Zusammenschlüsse. 1919 erschien im Paul Steegemann Verlag in Hannover Anna Blume. Dichtungen in der Reihe »Die Silbergäule«. An Anna Blume war der erste öffentlichkeitswirksame Text, der die Merzkonzeption auf eine literar. Gattung anwendete. Das sinnfreie, ametr. u. arhythm. Gedicht wurde als Parodie eines Liebesgedichts rezipiert u. selbst vielfach parodiert. Die einzelnen Elemente des Gedichts begegnen in mehreren anderen Publikationen aus dieser Zeit, wurden also mehrfach vermerzt. Als Merzprosa war der »Roman« (Arp) Franz Müllers Drahtfrühling konzipiert, der auch als Merzbild realisiert wurde, aber fragmentarisch blieb. Die Arbeiten an der Merzbühne blieben zu Lebzeiten unveröffentlicht. Die Anwendung des Merzgedankens auf Poesie führte zur Relativierung der traditionellen Einteilungen nach Lyrik, Epik u. Dramatik, zu metareflexiven Elementen, zur Einbeziehung des Paratextes in das Kunstwerk, zur Entformelung traditioneller literar. Elemente, zum Verzicht auf hermeneut. Sinnstiftung, zur Verwendung von Sinn als Material. »Mir tut der Unsinn leid, da er bislang so selten künstlerisch geformt wurde.« S. verstand seine Texte als »abstrakte Dichtungen«. Die Reaktionen der Zeitgenossen auf die Merzkunst waren scharf ablehnend. An Anna Blume wurde etwa als »verrückte[s] Gelalle« verunglimpft, die Einweisung des Künstlers in eine Irrenanstalt empfohlen. Gegen die vernichtenden Kritiken schrieb S. die Serie der Tran-Texte, in denen er polem. Erwiderungen zur weiteren Ausarbeitung seiner kunsttheoret. Gedanken, zur Klärung seiner
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Position u. zur Abgrenzung gegenüber anderen Ansätzen nutzte. Sein wohl populärster Prosatext Auguste Bolte (ein Lebertran) erschien 1923 als Nr. 30 dieser Reihe. In der Konsequenz des Merzkonzepts gestaltete S. immer weitere neue Formen – Buchstabengedichte, Zahlengedichte, Bildgedichte u. a. – u. schuf konkrete Gebilde, in denen grafische u. typografische Elemente einbezogen wurden; wie umgekehrt über das Merzen Schriftelemente zu Teilen von Collagen wurden. 1925 erlebte die Sonate in Urlauten, die so genannte Ursonate, ihre Uraufführung; sie wurde zu einem Paradestück der Rezitationsabende (veröffentlicht als »Merz 24« 1932). S. griff auf eine Buchstabenfolge eines Plakatgedichts von Raoul Hausmann zurück, die er in einer nach musikal. Formprinzipien gestalteten Lautdichtung verarbeitete. Material der Ursonate sind bedeutungsfreie Sprachelemente, die nach dem Kompositionsschema der Sonate u. rhythm. Gesichtspunkten geordnet werden. Es handelt sich um ein intermediales Werk, bei dem die grafische Darbietung im Druck u. die Realisierung im Vortrag durch S. zur Werkgestalt gehören. »Versuche zu größerer Strenge, Vereinfachung und allgemeinerem Ausdruck« (1924) kennzeichnen eine bis 1928 andauernde konstruktivistische Phase in der Werkentwicklung. In diesem Zeitraum arbeitete S. auch zunehmend mit konventionellem Material. In den Jahren 1924/25 bilden Märchentexte u. Grotesken den Schwerpunkt seiner dichterischen Produktion. Die als »Merz 16/17« erschienenen Märchen vom Paradies (1925) u. die gemeinsam mit Käte Steinitz u. Theo van Doesburg erschienene Scheuche (1925) zeigen eine buchkünstlerische Gestaltung, in die Erfahrungen aus der Arbeit als Typograf u. Werbegrafiker eingegangen sind. Seit 1924, dem Jahr der Gründung seiner »Merz-Werbezentrale«, war S. auf diesem Gebiet als Exponent der »Neuen Typographie« tätig. Um 1930 wurde die Avantgarde in der Literatur zunehmend zurückgedrängt. Das Spätwerk S.’ scheint einfacher, zugänglicher, weniger experimentell; jedoch entwickelte er weiter neue Verfahren, revidierte u. trans-
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formierte bereits Erprobtes. Im engl. Exil begann er, englischsprachige Texte zu schreiben. Die Machtergreifung des Jahres 1933 führte nicht zu unmittelbaren Repressionen gegen S. Allerdings war er Exponent der »entarteten Kunst«. Ihm galt nicht die volle Aufmerksamkeit des Regimes, dennoch schränkten sich die Arbeits- u. Ausstellungsmöglichkeiten zunehmend ein. Sein Vertrag als Chefgrafiker der Stadt Hannover lief 1934 aus, nahezu alle künstlerischen Mitstreiter gingen ins Exil. 1935 sondierte S. die Möglichkeit einer Übersiedlung in die Schweiz. Am 26.12.1936 floh der Sohn Ernst Schwitters nach Norwegen; ihm folgte der Vater am 2.1.1937. Er ließ sich in Lysaker bei Oslo nieder. 1940 floh er vor der einfallenden dt. Armee weiter nach Großbritannien. Er wurde interniert, lebte nach seiner Freilassung seit 1941 in London u. seit 1945 in Ambleside im Lake District. In den letzten Jahren intensivierte S. seine Merzkonzeption wieder, plante 1946/47 in Zusammenarbeit mit Raoul Hausmann eine neue Zeitschrift »PIN« u. legte einen neuen Merzbau an. S. hatte im April 1944 einen Schlaganfall erlitten; er starb an einer Herzmuskelentzündung u. einem Lungenödem. Ausgaben: Das literar. Werk. Hg. Friedhelm Lach. 5 Bde., Köln 1973–1981. – Wir spielen, bis uns der Tod abholt. Briefe aus fünf Jahrzehnten. Hg. Ernst Nündel. Ffm./Bln. 1974. – K. S. Merzhefte. Hg. F. Lach. Bern/Ffm. 1975. Literatur: Bibliografie: Gwendolen Webster: K. Merz S. A Bibliographical Study. Cardiff 1997. – Weitere Titel: Karin Orchard u. Isabel Schulz: K. S. Catalogue raisonné 1905–1948. Hg. Sprengel Museum Hannover. 3 Bde., Ostfildern-Ruit 2000–2006. – Werner Schmalenbach: K. S. Köln 1967. – Friedhelm Lach: Der Merzkünstler K. S. Köln 1971. – Heinz Ludwig Arnold (Hg.): K. S. Mchn. 1972. – Bernd Scheffer: Anfänge experimenteller Lit. Das literar. Werk v. K. S. Bonn 1978. – Michael Erlhoff u. Klaus Stadtmüller (Hg.): K. S. Almanach 1–10 (1982–1991). – Ernst Nündel: K. S. Reinb. 1981. – John Elderfield: K. S. London 1985. – François Bazzoli: K. S. ›L’art m’amuse beaucoup‹. Biogr. 1887–1948. Marseille 1991. – Ralph Homayr: Montage als Kunstform. Zum literar. Werk v. K. S. Opladen 1991. – Beatrix Nobis: K. S. u. die romant. Ironie. Alfter 1993. – Gerhard Schaub
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699 (Hg.): ›Bürger u. Idiot‹. Beiträge zu Werk u. Wirkung eines Gesamtkünstlers. Bln. 1993. – Hans Jürgen Hereth: Die Rezeptions- u. Wirkungsgesch. v. K. S. Dargestellt anhand seines Gedichts ›An Anna Blume‹. Ffm. u.a. 1996. – Evelyn Fux: Schnitt durch die verkehrte Merzwelt. Konzeption des Narrativen in der Prosa v. K. S. Bln. 2007. – Noel Reumkens: Allotria ad absurdum. S.’ Merzlyrik als Resonanzmedium. Bielef. 2007. – Sigrid Franz: K. S.’ Merz-Ästhetik im Spannungsfeld der Künste. Freib. 2009. – K. Orchard: K. S. In: NDB. Hans-Edwin Friedrich
S. war seit 1928 auch schriftstellerisch tätig. Er bevorzugte religiös gleichnishafte Erzählformen. Sein Roman Das einundzwanzigste Kapitel (Bielef. 1980) rekonstruiert mittels fiktiver u. histor. Zeugnisse aus urchristl. Zeit die Figur des Apostels Johannes u. verknüpft sie mit der Leidensgeschichte eines jüd. Lehrers in NS-Deutschland. Weitere Werke: Reclams Hörspielführer. Stgt. 1969. – Das Evangelium der Gefangenen. Bielef. 1978. – Einzelgänger. Ebd. 1985 (E.). Theresia Wittenbrink / Red.
Schwitzke, Heinz, * 13.2.1908 Helbra bei Eisleben, † 25.10.1991 Braunlage. – Hör- Scioppius, Gaspar ! Schoppe, Kaspar spieldramaturg, Erzähler. Scopf von dem lône. – Geistliches LehrDer Sohn eines Lehrers wuchs in Berlin auf u. gedicht des 12. Jh. schloss dort 1930 das Studium der Philosophie, Kunst- u. Musikwissenschaft mit einer Promotion zur Geschichte der Ästhetik ab. Von 1929 an war er als Kritiker tätig; 1932–1938 arbeitete er in der literar. Abteilung des Deutschlandsenders. Nach Kriegsdienst u. dreijähriger Gefangenschaft wurde S. 1948 Redakteur beim Evangelischen Pressedienst in Bielefeld. 1951–1971 leitete er die Hörspielabteilung des NWDR bzw. (seit 1955) des NDR in Hamburg, wo er 1957–1961 auch das Fernsehspiel betreute. Nach seiner Pensionierung lebte S. als Herausgeber u. Schriftsteller in Eutin. Das dt. Hörspiel der Nachkriegszeit wurde entscheidend von S.s Dramaturgie beeinflusst. Er förderte Hörspielautoren wie Ingeborg Bachmann, Günter Eich, Wolfgang Hildesheimer, Fred von Hoerschelmann u. Wolfgang Weyrauch u. edierte zahlreiche zeitgenöss. u. frühe Hörspiele. In dem Standardwerk Das Hörspiel. Dramaturgie und Geschichte (Köln/Bln. 1963) entwickelte S. in Anlehnung an Richard Kolb ein Hörspielmodell des imaginativen Rollenspiels, das sich an den Hörer in seiner Vereinzelung wende u. in seinem »Gewissen« vollziehe. Wie die Lyrik lebe das Hörspiel von der Suggestionskraft der poetischen Sprache. Seine apodikt. Verteidigung des Illusionshörspiels gegenüber realistischen oder experimentellen Konzepten führte seit den 1960er Jahren zu polem. Auseinandersetzungen mit Vertretern des Neuen Hörspiels.
Das Werk eines elsäss. Dichters ist fragmentarisch (338 von urspr. etwa 400 Versen) in einer Colmarer Sammelhandschrift kalligrafischen Niveaus (Ende 12. Jh.) erhalten. Das etymologisch umstrittene, hier als Werkbezeichnung belegte Wort »scopf« meint anderwärts (ahd., altengl.) ebenso den Dichter gehobenen Anspruchs wie auch »Spott«, »Spaß«, »Schimpf«. Die eigentümliche, verhüllend erzählende, bibl. mytholog. Grundlegung einer christl. Morallehre wird mit reichl. Anspielungen geistl. Gelehrsamkeit vorgetragen. Der theologisch gelehrte, lat. Brocken einflechtende, mit der Terminologie der Bibelallegorese vertraute Dichter wird unbeschadet deutl. Anleihen am Stil mündl. Dichtungstradition geistl. Standes gewesen sein. Ausgabe: Friedrich Maurer (Hg.): Die religiösen Dichtungen des 11. u. 12. Jh. Bd. 2, Tüb. 1965, S. 260–277. Literatur: Heinz Klingenberg: Dichter. In: Reallexikon der german. Altertumskunde. Bd. 4 (1984), S. 376–392. – Karin Schneider: Got. Schr.en in dt. Sprache. Bd. 1, Wiesb. 1987, S. 59 f. – Dieter Kartschoke: Gesch. der dt. Lit. im frühen MA. Mchn. 1990, S. 373 f. – Edgar Papp: S. v. d. l. In: VL. – Brian Murdoch: Treasures Stored in Heaven: The Early Alemannic ›S. v. d. l.‹ from Colmar. In: ABäG 33 (1991), S. 89–115. – Gisela Vollmann-Profe: Wiederbeginn volkssprachiger Schriftlichkeit im hohen MA (1050/60–1160/70). (Bd. 1, Tl. 2 der Gesch. der dt. Lit. v. den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit). Tüb. 21994, S. 126, 136 f. – B. Mur-
Scriver doch: Serving the Church: the early middle high German ›cantilena de conversione sancti pauli‹ and the Colmar manuscript. In: Neoph. 91 (2007), S. 459–472. Ernst Hellgardt / Red.
Scriver, Christian, * 2.1.1629 Rendsburg, † 5.4.1693 Quedlinburg. – Lutherischer Theologe; Erbauungsschriftsteller. Nach dem frühen Tod des Vaters u. des Stiefvaters empfing S. bleibende Eindrücke von seiner tief religiösen Mutter. Er studierte 1647–1650 in Rostock u. a. bei Joachim Lütkemann, August Varenius, Johann Quistorp u. Hermann Schuckmann. Bereits 24-jährig wurde er Archidiakon in Stendal. 1667 nach Magdeburg an St. Jacobi berufen, wurde er mit einer Fülle von Ämtern betraut, zgl. in z.T. ehrenvolle Ämter – 1679 als Hofprediger nach Schweden, 1681 im Gespräch als Oberhofprediger in Dresden – berufen. Erst 1690 wurde er Oberhofprediger der Äbtissin (seit 1685; seit 1681 Pröpstin) des Stifts Quedlinburg, Herzogin Anna Dorothea zu SachsenWeimar. S. hat mit seinem aus Predigten hervorgegangenen Seelen-Schatz eines der wichtigsten, wenn auch orthodoxerseits (C. T. Rango) zeitweise verdächtigten evang. Erbauungsbücher geschaffen (Tle. 1–3, Lpz. 1675. Tl. 4, 1680. Tl. 5, 1692. 1744 hg. v. Johann Georg Pritius; Ausgaben, Bearbeitungen, dän., schwed., engl. Übersetzungen: Müller 2005, Internet-Fassung, Dok. 16, S. 32–47), im Herzogtum Sachsen-Gotha auch in der Landpfarrerschaft im 18. Jh. weit verbreitet. Der Aufbau ist klar (Schöpfung/Sünde – Erlösung – hl. Leben – Kreuz/Leid/Trost – ewiges Leben), die Sprache eindrücklich, die Auslegungsweise markant (weniger emblematisch als allegorisch), die Herkunft u. a. von Arndt unübersehbar. In der theolog. Responsenliteratur des 17. Jh. ist S. aktiv u. passiv vertreten, sein Briefwechsel (Ph. J. Spener, G. Spizel, Nic. Lange, J. Winckler u. a.) unvollständig erhalten. Gottholds [300] Zufällige Andachten. Bey betrachtung mancherley dinge der Kunst und Natur wollen als eine »Hand voll Kreuzblumen aus dem Buch der Natur ihre Kanzel allenthalben aufschlagen« (Magdeb./Lpz. 1663. 1671. Um 100 Stücke
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erg. Aufl. 1674, zahlreiche, nach 211737 kaum noch zu überblicken, engl., dän., norweg., lat. Übersetzungen, Bearbeitungen bis 1984; Müller 2005, Dok. 16, S. 18–25). S. sah sein Leben von Erfahrungen unmittelbarer göttl. Providenz u. unermessl. Leides geprägt (mehrmals Witwer, elf von 14 Kindern starben). In Gottholds Siech- und Siegesbette in 365 Betrachtungen (Tl. 1, Nürnb. 1687. Tl. 2, 1694. 2 Tle., weiter, auch schwed. Übers., bis 1871; Müller 2005, Dok. 16, S. 16–18) fand dies seinen Ausdruck. Lieder S.s sind heute kaum noch in Gebrauch. Hingegen haben seine Katechismusauslegungen Chrysologia catechetica. [Sieben] Goldpredigten über die Hauptstücke des Katechismus (1659. Lpz. 1670. 1681. 1690. 1702. 1709. Stgt. 1848. 1861. Rengshausen 1859. Neuruppin 1862) wie viele andere seiner Werke im Zuge einer »Renaissance Alter Tröster im 19. Jahrhundert« weitere Verbreitung erfahren. Trotz Beziehungen zu Spener darf S. noch nicht als Pietist gelten. Er wurde indes sehr bald (Johann Reinhard Hedinger) zusammen mit J. Arndt, Heinrich Müller, Joachim Lütkemann und Ph. J. Spener dem breiten Strom der den Pietismus vorbereitenden Kräfte zugerechnet. Nicht nur lutherisch-konfessionelle Kreise (W. Löhe) erwiesen im 19. Jh. S. gegenüber hohe Wertschätzung u. sorgten für neue Ausgaben. Das 21. Jh. erlebt verschiedene Reprints u. Übersetzungen (z.B. bibliolabs, Kessinger). Ausgaben: Umfassend Müller 2005 (s. Lit.). – Teilsammlungen: Ges. Werke. Hg. Johann Gottlieb Heinrich u. Rudolf Stier. 7 Bde., Barmen 1847–54 (Bde. 3–6 = ›Seelen-Schatz‹). – Predigten: Herrlichkeit u. Seligkeit der Kinder Gottes [...]. Nürnb. 1742. Hg. Wilhelm Ludwig Ergenzinger. Stgt. 1863. – 10 Kasual- u. Festpredigten 1653–90. Hg. ders. Stgt. 1862. – Lieder: Fischer/Tümpel 5. – Briefwechsel: D. Blaufuß: Gottlieb Spizel [...]. Diss. masch. Erlangen 1971. – Estermann/Bürger, Tl. 1, S. 1017; Tl. 2, S. 1276 f. – Philipp Jakob Spener: Schr.en. Bd. 15: Korrespondenz. Hildesh. 1987. Teilbd. I, S. 20* mit Anmerkungen 63 u. 64 (Nachweis 5 Briefe); ergänze: Dass. Bd. 13/2, 1999, S. 679–687. Ders.: Briefe [...] 1679–1680. Tüb. 2005. – Joachim Friedrich Feller: Monumenta varia inedita. Jena 1714, S. 265–267. – Johann Salomo Semler (Hg.): Hallische Samlungen [...]. Bd. 1, I. Stück, Halle 1767, S. 73–76. – August Tholuck: S.s
701 Gutachten bei Speners Berufung [...]. In: Dt. Ztschr. für christl. Wiss. 4 (1853), S. 309–314. – Klaibers Evang. Volksbibl. Bd. 3 [um 1866], S. 205–233. – Müller 2005, Beibd. Dok. 22, S. 294–318. Literatur: Bibliografien: Johannes Moller: Cimbria literata [...]. Bd. 1, Kopenhagen 1744, S. 614–619. – Fritz Becker: C. S. [...]. Diss. Mchn. 1929, S. 64–74. – Pyritz 2, Nr. 7022–7032, 7033–7045 (für die Jahre 1829–1969). – Schmidt, Quellenlexikon, Bd. 29, S. 128 f. – Müller 2005. – Weitere Titel: Fritz Roth: Restlose Auswertungen von Leichenpredigten [...]. Bd. 6, Boppard 1970, Nr. R 5096. – DBA. – Erich C. Carstens: C. S. In: ADB. – Martin Schmidt: C. S.s ›Seelenschatz‹. In: Ders.: Wiedergeburt u. neuer Mensch. Witten 1969, S. 112–128. – Dietrich Blaufuß: Spizels Gutachten zu Ph. J. Speners Berufung nach Dresden [...]. In: Ztschr. für bayer. Kirchengesch. 40 (1971), S. 97–130. – Winfried Zeller: Theologie u. Frömmigkeit. 2 Bde., Marburg 1971 u. 1978 (Register). – Martin Schulz: Johann Heinrich Sprögel [...]. Diss. Halle/Saale 1974 (Register). – Jussi Talasniemi: Sielun pelastus, C. S. teologia. Diss. Helsinki 1975 (mit dt. Zusammenfassung). – D. Blaufuß: Reichsstadt u. Pietismus [...]. Neustadt/Aisch 1977 (Register). – Dietmar Peil: Zur ›angewandten Emblematik‹ [...]. Heidelb. 1978. – Waltraud Tepfenhardt: Emblematisches in C. S.s ›Gottholds Zufällige Andachten‹. In: Jb. Int. Germ. 14 (1982), S. 111–124. – Udo Sachse: Zur sprachl. Wirkung Martin Luthers auf C. S.s ›Gottholds Zufälliger Andachten [...]‹. In: Beiträge zur Sprachwirkung Martin Luthers [...]. Hg. Manfred Lemmer. Tl. 1, Halle/Saale 1987, S. 135–145. – Wolfgang Martens: Lit. u. Frömmigkeit in der Zeit der frühen Aufklärung. Tüb. 1989 (Register). – Rudolf Bohren: Barocke Therapie – C. S. In: Ders.: Erfahrungen mit der Schwermut. Mchn. 1990, S. 183–214 (zum ›Seelen-Schatz‹). – Frieder Schulz: S. In: Dictionnaire de Spiritualité [...]. Bd. 14, Paris 1990, Sp. 460 f. – Hdb. zum EKG. Liederkunde 3,2. Gött. 1990, S. 474–477 (Quellen, Lit.). – Gesch. Piet., Bd. 1, S. 175 f. u. ö. – Karl Dienst: C. S. In: Bautz (ältere Lit.). – Christian Bunners: C. S. In: Komponisten u. Liederdichter des Evang. Gesangbuchs. Hg. Wolfgang Herbst. Gött. 1999, S. 297. – Christian Möller (Hg.): Kirchenlied u. Gesangbuch [...]. Tüb./Basel 2000, S. 166–169. – Martin Brecht: Ein ›Gastmahl‹ an Predigten. C. S.s Seelenschatz. In: PuN 28 (2002), S. 72–117. – D. Blaufuß: Korrespondierender Pietismus [...]. Lpz. 2003 (Register). – Holger Müller: Seelsorge u. Tröstung. C. S. (1629–1693). Erbauungsschriftsteller u. Seelsorger. Waltrop 2005 (als Diss. Heidelb. 2003 im Internet
Scultetus [www.ub.uni-heidelberg.de/archiv/3118], davon ungedruckt Beibd. ab Dokument 17 ›[Bibliogr. u.] Quellentexte‹). Dietrich Blaufuß
Scultetus, Abraham, * 24.8.1566 Grünberg/Schlesien, † 24.10.1624 Emden. – Reformierter Theologe, Editor, Prediger u. Kirchenpolitiker. Der Sohn des Grünberger Rats Georg Scultetus konnte nach dem Schulbesuch in Grünberg, Breslau, Freistadt u. Görlitz dank eines Stipendiums des kaiserl. Rats Joachim vom Berge (1526–1602) ab 1588 akadem. Studien in Wittenberg betreiben. Diese wurden seit 1590 in Heidelberg fortgesetzt, wo Daniel Tossanus (1541–1602), Franciscus Junius (1545–1602) u. Jakob Kimedonk (1554–1596) zu seinen Lehrern zählten. Am 1.3.1591 wurde S. zum Magister artium promoviert. Nach einer Tätigkeit als Vikar in Schriesheim erfolgte 1595 die Berufung zum kurpfälz. Hofkaplan. Seit Advent 1598 versah er auch das Amt des Pfarrers an der Heidelberger Franziskanerkirche u. stieg 1600 zum pfälz. Kirchenrat auf. Nach Visitationsreisen (1604 u. 1609) in die Ober- bzw. die Unterpfalz nahm er 1610 als Feldprediger Christians von Anhalt (1568–1630) am Jülichschen Krieg teil. In demselben Jahr besuchte S. auch die Synoden von Düren, Elberfeld u. Duisburg u. reiste im Gefolge Abrahams zu Dohna (1579–1631) in die Niederlande. Von Sept. 1612 bis April 1613 begleitete er Friedrich V. von der Pfalz (1596–1632) zu seiner Hochzeit mit Elisabeth Stuart (1596–1662) nach England. Aufenthalte in Eton, Windsor u. Oxford führten ihn mit bedeutenden Gelehrten zusammen. 1614 erfolgte die Ernennung zum kurfürstl. Hofprediger. Das Jahr 1614 brachte ferner einen Aufenthalt in Schlesien, nachdem Kurfürst Johann Sigismund von Brandenburg (1572–1619), der S. ebenfalls zu seinem Hofprediger ernannt hatte, ihn um Mithilfe bei der Durchsetzung des reformierten Bekenntnisses gebeten hatte. Im Sommer 1615 führte S. eine Visitationsreise in die Oberpfalz; 1616 ist er in Württemberg zu finden, um einen Ausgleich mit den dortigen Lutheranern zu suchen. Im Dez. 1617 wurde er zum Professor für AT an der Uni-
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versität Heidelberg nominiert u. erhielt Ende Aug. nachträglich die theolog. Doktorwürde. Zusammen mit seinen Kollegen Paul Tossanus (1572–1634) u. Heinrich Alting (1583–1544) nahm S. von Nov. 1618 bis Mai 1619 als Vertreter des pfälz. Kurfürsten an der Synode zu Dordrecht teil, wo er sich am 15.12.1618 mit einer Paraenesis über Psalm 122 (Benrath 1966, S. 141, Nr. 53) u. am 15. Jan. des folgenden Jahres mit einer Oratio de certitudine et sensu electionis in hac vita (Benrath 1966, S. 141, Nr. 52) an die Versammelten wandte. Eine in der Bibliotheca Palatina aufbewahrte Handschrift (Cod. Pal. lat. 1860) – u. a. mit den Dekreten der Synode von Dordrecht – wurde vermutlich von S., Tossanus u. Alting mit nach Heidelberg gebracht. Von Herbst 1619 bis Herbst 1620 begleitete S. den zum König von Böhmen gewählten Friedrich V. von der Pfalz als Hofprediger in sein neues Reich. Im Zuge der Wahl und Krönung Friedrichs trat er mit Predigten hervor (Allerhand christliche Predigten / Newlicher zeit / theils auff den Wahltag zu Franckfurt am Meyn / theils vor und nach der Crönung Königlicher Majestät in Böheim / ausser und in Prag gehalten. Ffm. 1620). Zu diesem hochpolit. Themenkomplex zählte auch im April 1620 eine Wahlpredigt für den zum künftigen König von Böhmen gewählten Sohn Friedrichs V., Friedrich Heinrich (Königliche Wahl-Predigt / Gehalten nach der Erwelung [...] des zukünftigen Königs in Böheim / Herrn Friedrich=Heinrichs Pfalzgraffen bei Rhein. Heidelb. 1620), außerdem eine Conföderations-Predigt anlässlich des Bündnisses zwischen Böhmen u. Ungarn (ebd. 1620). Unrühmlich trat S. als Haupturheber des Bildersturms im Veitsdom zu Prag am 12.12.1619 hervor. Nach der Schlacht am Weißen Berg (8.11.1620) floh er zusammen mit dem Hof aus Böhmen. 1621 kehrte er kurz nach Heidelberg zurück, floh jedoch bald erneut vor den kaiserl. Truppen u. wirkte vom 1.10.1622 bis zu seinem Lebensende in Emden als Prediger an der dortigen reformierten Kirche. Zeugnis von seiner Verbindung mit dem kurfürstl. Hof legen weitere geistl. Reden ab, darunter eine Dankpredigt anlässlich der Ankunft Elisabeth Stuarts in Heidelberg (Heidelb. 1613). Eine Sammlung verschiede-
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ner Predigten veröffentlichte Reinhard Wolfius: Abrahami Sculteti Hochzeit-, Geburts-, Tauff-, Königliche Annehmungs- und Leichpredigten (Ffm. 1620). Weitere Zeugnisse von S.’ seelsorgerischer Tätigkeit bieten Predigten zu bibl. Texten, mancherlei Leichenpredigten (u. a. auf die Literaten Paul Schede Melissus u. Hippolytus a Collibus) sowie Predigten, die S. teilweise zusammen mit Johann Bockstad gehalten hat (Idea concionum dominicalium ad populum Haidelbergensem habitarum. Hanau/ Ffm. 1607. Concionum in Jesajam prophetam ad populum Haidelbergensem habitarum Idea. Hanau 1609). An die Seite seiner zahlreichen Predigten sowie einer Reihe exegetischer u. reformationshistor. Werke trat seine Aufsehen erregende vierbändige kommentierte u. topologisch geordnete Auswahlausgabe der Kirchenväter: Medulla Theologiae Patrum (Bd. 1, Amberg 1598. Bd. 2, Neustadt a. d. H. 1605. Bd. 3, Heidelb. 1609. Bd. 4, ebd./Ffm. 1613. Sammelausg. Ffm. 1634), jeweils mit wichtigen, tief in die epochalen Diskussionen, ja in die gesamte europ. Reformationsgeschichte u. in die eigene Biografie einführenden Vorreden versehen. Das Großprojekt signalisiert die außerordentl. Aufmerksamkeit, welche die Väterliteratur seit den vielfältigen Ausgaben der Humanisten gefunden hatte. S.’ Werk stellt ein frühes u. gewiss das herausragendste calvinistische Beispiel dieser Väteraneignung dar. Ausgangspunkt ist der scharfe konfessionalist. Kampf, in diesem Fall als Reaktion v. a. auf den mächtigsten kath. Apologeten u. Kontroverstheologen im Gefolge des Konzils von Trient, auf den (später heiliggesprochenen) Jesuiten u. Kardinal Roberto Bellarmino (1542–1621). Das Konzil hatte zwar die Bibel in Gestalt der Vulgata als Basis der Glaubenslehre anerkannt, zgl. aber die mündliche, in der kirchl. Tradition u. Approbation geborgene Auslegung der Botschaft Christi gerade angesichts der hermeneutischen Aporien, also bei mangelnder »perspicuitas« der Schrift hervorgehoben. Als Maßstab diente dabei v. a. die Auslegungstradition der Kirchenväter, insofern sie in zentralen Fragen zu eindeutigen (oder vermeintlich eindeutigen) Stellungnahmen kamen (sog. consensus patrum). Mit diesem
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Argumentationskomplex, der an die alte Kirche appellierte, war gegen das protestantische Prinzip der ›sola scriptura‹-Exegese ein mächtiger gedankl. Widerpart formuliert, zumal sich die Bibelauslegung der Protestanten selbst innerhalb der eigenen konfessionellen Fraktionen, erst recht angesichts neuer ›Ketzereien‹ (etwa die der Antitrinitarier), immer wieder in ausweglose Probleme verwickelte: bei den Calvinisten etwa auf der Synode von Dordrecht (1618/19), an der S. ebenso teilnahm wie an mehreren (erfolglosen) lutherisch-calvinistischen Ausgleichsgesprächen, u. a. in Stuttgart u. Tübingen (1616). Was S. in einer gewissen ingrimmigen Verzweiflung mit philolog. u. kirchengeschichtl., teilweise auch heute noch sehr beachtl. Analysen versuchte, dabei offenbar von seinem Heidelberger Kollegen David Pareus unterstützt, war nichts anderes, als den ›consensus patrum‹ als haltlosen kath. Mythos zu entlarven. Die Zeit der alten Kirche spiegelt demnach die aktuellen Lehrstreitigkeiten, ja nimmt diese vorweg. Deshalb bedürfen dogmat. Einhelligkeit u. Zuverlässigkeit der Kirchenväter sehr genauer Sichtung u. Überprüfung. An deren Ende stand für S. ein in seiner Medulla erkennbarer u. in der eigenen Rechtgläubigkeit verankerter ›consensus orthodoxus‹, also die Inanspruchnahme der Kirchenväter für die eigene konfessionelle Apologetik, bei der v. a. Fragen der Christologie u. Trinität sowie die Lehren von Prädestination, Erbsünde u. Abendmahl in den Mittelpunkt rückten. Mit dieser Suche nach einem ›consensus orthodoxus‹ schloss sich S., freilich mit deutlicheren Frontstellungen u. einem unvergleichlichen philolog. Aufwand, an entsprechende Versuche der späten Melanchthon-Ära an, hatte jedoch mit dem neuralg. Problem zu kämpfen, dass sich kaum einer der vornicaen. Kirchenväter umstandslos diesem Anspruch auf Rechtgläubigkeit anbequemen ließ. S. stand mit zahlreichen Gelehrten, bes. in den Niederlanden, der Schweiz (etwa Johann Jacob Grynaeus in Basel, dessen Briefe er im Jahr 1612 in Auswahl herausgab) u. den dt. calvinistischen Territorien, aber auch mit Gelehrten u. Sympathisanten in Schlesien, in regem Kontakt. So trug er dazu bei, dass
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Heidelberg neben Genf u. Leiden im europ. Maßstab zum dritten Zentrum des Calvinismus aufstieg. Weitere Werke: Ethicorum libri duo. Leiden 1593. Straßb. 31614. – De precatione tractatio logico-theologica. Neustadt a.d.H. 1603. Genf 1610. Dt. u.d.T. Biblische Betkunst. Heidelb. 1614. Lat. Hanau 1619. – Auslegung Der Sontäglichen Evangelischen Texten. Heidelb. 1611. Später u. d. T.: Kirchen-Postill. Emden 1632 u. ö. Auch in ungar. Übers. u. d. T.: Postilla Scultetica. Oppenheim 1617. – In epistolam ad Hebraeos concionum ideae. Bearb. v. Nikolaus Eck. Heidelb. 1616. Ffm. 1634. – Annales Evangelii. Bd. 1, Heidelb. 1618. Bd. 2, Heidelb. Ffm. 1620 (jeweils im selben Jahr in dt. Übers.en in Ffm. bzw. Hanau). – Athanasios der Große: Opera. Griech.-lat. Hg. Peter Felckmann. Heidelb. 1600. – Laelius Peregrinus: De noscendis animi affectionibus. Straßb./Oberursel 1603. 1608 u. ö. – Laurentius Ludovicus: De veteris ecclesiae certaminibus ab Ario, Nestorio, Eutyche aliisque motis orationes. Heidelb./Ffm. 1614. – A. S. u. Johann Bockstad: In epistolam ad Romanos concionum ideae. Bearb. v. N. Eck. Heidelb./Ffm. 1619 u. ö. – Kurtzer, aber Schriftmässiger Bericht v. den Götzenbildern an die christl. Gemein zu Prag. Prag 1619. Heidelb. 1620 u.ö. – Delitiae Pragenses, hoc est Observationes grammaticae, historicae, theologicae in historiam Christi. Hanau 1620. – Observationes grammaticae, historicae, logicae, theologicae in historiam concionum, & miraculorum [...] Jesu a [...] evangelistis Mattheo & Marco descriptorum. Hanau 1622. – Observationes grammaticae, historicae, logicae, theologicae in epistulas Pauli ad Timotheum, Titum, Philemon. Ffm. 1624. – Exercitationes evangelicae, quibus quattuor Evangelistarum difficiliora et obscuriora loca [...] explicantur [...]. Amsterd./Franeker 1624. Ausgaben: Gustav Adolf Benrath (Hg.): Die Selbstbiogr. des Heidelberger Theologen u. Hofpredigers A. S. (1566–1624). Karlsr. 1966. – Paratexte aller Editionen mit Regesten u. Komm.en in: Europa Humanistica. Die dt. Humanisten. Dokumente zur Überlieferung der antiken u. mittelalterl. Lit. in der Frühen Neuzeit. Abt. I: Die Kurpfalz. Bd. 3. Hg. u. bearb. v. Wilhelm Kühlmann, Volker Hartmann, Susann El Kholi u. Björn Spiekermann.Turnhout 2011 (im Druck). Literatur: Bibliografien: Benrath in A. S.: Selbstbiogr., s.o., S. 131–143. – VD 16. – VD 17. – Cuno: A. S. In: ADB. – G. A. Benrath: A. S. In: Biogr. Lexikon für Ostfriesland 1 (1993), S. 315–317. – Dagmar Drüll: A. S. In: Dies.: Heidelberger Gelehrtenlexikon 1386–1651. Bln. u. a. 2002, S. 498 f. – Markus Wriedt: A. S. In: RGG, 4.
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Aufl. – Weitere Titel: Karl Pahnke: A. S. in Berlin. In: Forsch.en zur Brandenburg. u. Preuß. Gesch. 23 (1910), S. 357–375. – G. A. Benrath: Reformierte Kirchengeschichtsschreibung an der Univ. Heidelberg im 16. u. 17. Jh. Karlsr. 1963, S. 16–37. – Josef Hemmerle: Die calvinist. Reformation in Böhmen. In: Stifter-Jb. 8 (1964), S. 243–276. – G. A. Benrath: A. S. In: Pfälzer Lebensbilder. Bd. 2. Hg. Kurt Baumann. Speyer 1970, S. 97–116. – Irena Backus: The Bible and the Fathers according to A. S. (1566–1624) and André Rivet (1571/73–1651). The case of Basil of Caesarea. In: Die Patristik in der Bibelexegese des 16. Jh. Hg. David C. Steinmetz. Wiesb. 1999, S. 231–258. – Dies.: Historical method an confessional identity in the era of the reformation (1378–1615). Leiden/Boston 2003 (Register). – Der Winterkönig – Friedrich v. der Pfalz. Hg. Peter Wolf u. a. Regensb. 2003, S. 46, 49, 117 f., 240 u. ö. – Hans-Jürgen Bömelburg: Reformierte Eliten im Preußenland. Religion, Politik u. Loyalitäten in der Familie Dohna (1560–1660). In: ARG 95 (2004), S. 210–239, hier S. 228 f., 231. – Günter Frank: Fragmentierung u. top. Neuordnung der aristotel. Ethik in der frühen Neuzeit. Ethik bei Viktorin Strigel u. A. S. In: Späthumanismus u. reformierte Konfession. Hg. Christoph Strohm u. a. Tüb. 2006, S. 153–167. – Wilhelm Schmidt-Biggemann: Apokalypse u. Philologie. Gött. 2007, S. 92–94, 124. – Susann El Kholi: Schlesisch-pfälz. Beziehungen am Beispiel des Heidelberger Theologen A. S. In: 100 Jahre Heidelberger Akademie der Wiss.en. Früchte vom Baum des Wissens. Eine FS der wiss. Mitarbeiter. Hg. Ulrich Kronauer u. Ditte Bandini. Heidelb. 2009, S. 223–227. Wilhelm Kühlmann / Susann El Kholi
Scultetus, Andreas, eigentl.: A. Schol(t)z, Schultz, * 1622 oder 1623 Bunzlau, † 25.4. 1647 Troppau. – Jesuit, Lyriker. S. besuchte 1638/39 das Gymnasium in Liegnitz u. fand anschließend Aufnahme in die Prima des Breslauer Elisabeth-Gymnasiums. Seine Professoren waren Elias Major u. Christoph Koeler (Colerus). 1642 feierten er u. sein Klassenkamerad Johannes Scheffler den Namenstag Koelers mit einer gemeinsamen Gedichtpublikation. Unter dem Einfluss Breslauer Jesuiten wandte sich S. 1644 vom Luthertum ab u. forderte seinen ehemaligen Religionslehrer Christoph Schlegel zu einer Disputation auf. Für diese »vermessenheit« verurteilte ihn der Kaiser zum Verlassen Breslaus. S. wurde Novize in Brünn u. un-
terrichtete ab 1646 am Jesuitenkolleg in Troppau. S.’ Gedichte entstanden während seiner Gymnasialzeit. In fünf Jahren veröffentlichte er mehrere längere Texte u. über drei Dutzend lat. u. dt. Casualcarmina. Auch wenn sie z.T. Koelers Anakreontik folgen, sind sie oft »herb« u. relativieren unterschwellig ihre Lebensbejahung. S.’ Friedens Lob- und Krieges Leid-Gesang (o. O. 1641), angeregt von der Friedens-Rede des Paris von dem Werder, lässt eine leidenschaftl. Anklage des Kriegs mit einem Friedensappell ausklingen. Die letzte Zeit vor der Konversion beschäftigten S. religiöse Themen. Den »seligen Folgen« der Auferstehung Christi gilt seine vermutlich durch Gryphius inspirierte Oesterliche Triumph Posaune (Breslau 1642). In den Mittelpunkt des Blutt-schwitzend-Tods-ringende Jesus (ebd. 1643) stellte S. die Qual des Heilands. Er selbst zeigt Neigung zur Mystik, seine Sprache wird »stammelnd, bebend, schreiend, sanft und verzückt«. Erst Lessing entdeckte S. wieder, »einen der besten Dichter aus Opitzens Schule«. Die Hochschätzung hielt sich bis Gervinus, der dem »Schülerdichter« dann jegl. Bedeutung absprach. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jh. sind die Urteile ausgewogener. Ausgaben: Gedichte v. A. S. aufgefunden v. G. E. Lessing. Braunschw. 1771. – Nachlese zu den [...] Gedichten des A. S. Hg. Johann Gottlieb Jachmann. Breslau 1774. – Zweite Nachlese [...]. Hg. Hieronymus Scholz. Ebd. 1783. – Österliche Triumphposaune. Hann. 1922. – Ausw. in: Wir vergehn wie Rauch v. starken Winden. Dt. Gedichte des 17. Jh. Hg. Eberhard Haufe. 2 Bde., Bln. 1985, Register. Literatur: Otto Friedrich Gruppe: Leben u. Werke dt. Dichter. Bd. 1, Mchn. 1864. – Karl Dziatzko: Der Übertritt des Dichters A. S. [...] zum Katholizismus [...]. In: Ztschr. für Altertum u. Gesch. Schlesiens 12 (1874), S. 439–453. – Räß, Convertiten, Bd. 12, S. 493 f. – Markgraf: A. S. In: ADB. – Karl Schindler: Der schles. Barockdichter A. S. Breslau 1930. Nachdr. Hildesh. 1977 (mit Ausg. neu aufgefundener Gedichte, S. 181–190, u. Bibliogr., S. 190–196). – Ders.: A. S. In: Schles. Lebensbilder. Bd. 4, Breslau. 1931, S. 161–166. – Franz Heiduk: Oberschles. Lit.-Lex. [...]. Tl. 3, Heidelb. 2000, S. 91. – Jörg-Ulrich Fechner: A. S. In: NDB. Marian Szyrocki † / Red.
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Scultetus, Bartholomäus, * 14.5.1540 Görlitz, † 21.6.1614 Görlitz. – Astronomisch-astrologischer Sachschriftsteller. Nach Studien an den Artistenfakultäten der Universitäten Wittenberg (1557) u. Leipzig (1559; Lehrer: Johannes Homelius) erwarb S. die Magisterwürde (Wittenberg 1564). Von 1567 bis zu seinem Tode lebte er dann in Görlitz. Fortan vereinte S.in sich einen regen Stadtpolitiker (Ratsherr in Görlitz seit 1578, Bürgermeister 1592 u. ö.) mit einem vielseitigen Gelehrten u. erasmianisch-lutherisch geprägten Humanisten. Zu seinem Bekannten- u. Freundeskreis gehörten Paulus Fabricius, Christoph Manlius, Brahe, Thaddaeus Hagecius, Jacobus Monavius, Andreas Dudith, Kepler, Antonio Possevino, Christoph Clavius, Johann Leisentrit u. manche Paracelsisten, darunter Johann Huser, Franz Kretschmeir, Adam Schröter, Marcus Ambrosius, Georg Marquard, Michael Toxites, Balthasar Walther u. sein Schwager Abraham Behem. Unter S.’ Vorsitz wurde Jacob Böhme 1613 vom Görlitzer Rat zur Aufgabe seines religiösen »Enthusiasmus« aufgefordert. Die literar. Tätigkeit S.’ besaß ihren Schwerpunkt in astronomisch-astrolog. Werken. Er machte sich mit Almanachen bzw. Prognostiken einen Namen, mehrte das kometenkundl. Schrifttum, beteiligte sich am Streit um die Gregorianische Kalenderreform u. trat auch als Kartograf, Historiograf, Verfasser eines religiösen Unterrichtswerks u. Hersteller von astronomischen Instrumenten u. Sonnenuhren hervor. S.’ Teilhabe am Paracelsismus fand nur in einer Ausgabe der paracels. Schrift Vom vrsprung der Pestilentz (1568. Gedr. Basel 1575. Vorw. von Adam von Bodenstein), in einer Beigabe eines Hohenheim’schen Textes zu seinem Prognosticon meteorographicum perpetuum (Görlitz 1572) u. einer auf (Ps.-)Hohenheims De pestilitate gegründeten Tabula physica, astronomica et medica de pestilitate (Görlitz 1578. Zweitdruck: ebd. 1586) literar. Niederschlag. Eingedenk etwa des Wirkens eines Johannes Scultetus (Montanus) u. Johann Huser kann das Urteil, S. habe im Mittelpunkt des ostdt. Paracelsismus gestanden
Scultetus
(Lemper 1970), allenfalls nur drastisch eingeschränkt gelten. Weitere Werke: Calendarium ecclesiasticum. Görlitz 1571. – Gnomonice de solariis [...] von allerlei Solarien. Ebd. 1572. – Computus ecclesiasticus. Ebd. 1574. – Des Cometen [...] astronom. Beschreibung. Ebd. 1578. – Diarium humanitatis [...] Jesu Christi. Frankfurt/O. 1600. – Nachlass: Görlitz, Bibl. der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften. Ausgaben: CP II, Nr. 79, S. 705–728: Vorrede zu Paracelsus, Vom vrsprung der Pestilentz (16. 1. 1568). – Strein/Telle (2003), S. 361–366: Tabula [...] de pestilitate (1578). Literatur: Siegmund Günther: B. S. In: ADB. – Ernst Koch: Moskowiter in der Oberlausitz u. M. B. S. in Görlitz. In: Neues Lausitzisches Magazin 83 (1907), S. 1–90. 84 (1908), S. 41–109. 85 (1909), S. 255–290. 86 (1910), S. 1–80. – Ders.: Scultetica. In: ebd. 92 (1916), S. 20–58. – Max Gondolatsch: Der Personenkreis um das Görlitzer Convivium u. Collegium Musicum im 16. u. 17. Jh. In: ebd. 112 (1936), S. 76–155, hier S. 96 f. – Martin Reuther: Der Görlitzer Bürgermeister [...] B. S. [...]. In: Wiss. Ztschr. der TH Dresden 5 (1955/56), S. 1133–1161. – Erich Worbs: B. S. In: Schlesien 5 (1960), S. 164–169. – Ernst Zinner: Dt. u. niederländ. astronom. Instrumente des 11.-18. Jh. 2., erg. Aufl. Mchn. 1967, s. v. – Ernst-Heinz Lemper: Görlitz u. der Paracelsismus. In: Ztschr. für Philosophie 18 (1970), S. 347–360. – Ders.: Jakob Böhme. Bln. 1976, S. 39–43. – Manfred P. Fleischer: B. S. (1540–1614). In: Schlesier des 15. u. 16. Jh. Hg. Josef Joachim Menzel u. Ludwig Petry. Sigmaringen 1990 (Schles. Lebensbilder. Bd. 6), S. 46–55. – Joachim Telle: Johann Huser in seinen Briefen. In: Parerga Paracelsica. Hg. ders. Stgt. 1992, S. 159–248, hier S. 224–228. – E.-H. Lemper: Anfänge akadem. Sozietäten in Görlitz u. B. S. (1540–1614). In: Europ. Sozietätsbewegungen u. demokrat. Tradition. Hg. Klaus Garber u. Heinz Wismann. Bd. 2, Tüb. 1996, S. 1152–1178. – Jürgen Helfricht: Fünf Briefe Tycho Brahes an den Görlitzer Astronomen B. S. (1540–1614). In. Beiträge zur Astronomiegesch. Bd. 2. Hg. Wolfgang R. Dick u. Jürgen Hamel. Thun/Ffm. 1999, S. 11–33. – Jürgen Strein u. J. Telle: Dt. Pseudoparacelsica über die Pest. Ein ›Begriff‹ zur Pestdiagnose (1553) u. die ›Tabula de pestilitate‹ v. B. S. (1578). In: Medizin in Gesch., Philologie u. Ethnologie. FS Gundolf Keil. Hg. Dominik Groß u. Monika Reininger. Würzb. 2003, S. 349–370. – DBE. – Joachim Bahlcke: B. S. In: NDB. Joachim Telle
Scultetus
Scultetus, Johannes, auch: J. S. Montanus, J. Montanus, Trimontanus, * 1531 Striegau, † 3.6.1604 wohl in Hirschberg; Grabmal in der Striegauer Pfarrkirche St. Peter und Paul. – Paracelsistischer Sachschriftsteller.
706 Ausgabe: CP III, Nr. 113 u. Nr. 114 (Briefe an L. Thurneisser, Striegau 1574 u. 1576). Literatur: Karl Sudhoff: Versuch einer Kritik der Echtheit der Paracels. Schr.en. Tl. 1, Bln. 1894, s. v. – Karl H. Dannenfeldt: The introduction of a new sixteenth-century drug: ›Terra Silesiaca‹. In: Medical History 28 (1984), S. 174–188. – Joachim Telle: Johann Huser in seinen Briefen. In: Parerga Paracelsica. Hg. ders. Stgt. 1992, S. 159–249, hier S. 216–219. – CP II, S. 239–241. – DBE.
Der Striegauer Wundarztsohn wirkte nach Erlangen der medizinischen Doktorwürde (Bologna 1557) als Arzt in Striegau u. Joachim Telle Hirschberg (Schlesien). Auf seinen Reisen hatte er Konrad Gessner in Zürich aufgesucht (spätestens 1560); später zählten der Berg- Scultetus, Johannes, eigentl.: Johannes Schultheiß d.Ä., * 12.10.1595 Ulm, meister Andreas Berthold, der Dichterarzt † 1.12.1645 Stuttgart; Grabstätte: Ulm. – Johannes Posthius, der Theologe Jakob Coler Chirurgischer Fachschriftsteller. u. namhafte Paracelsisten, unter ihnen Johann Huser, Georg Forberger, Leonhard Der Sohn eines Donauschiffers besuchte das Thurneisser u. Franz Kretschmeir, zu seinen Ulmer Gymnasium. Seit etwa 1614/16 assistierte er dem bedeutenden Anatomen AdriaFreunden u. Bekannten. S.’ hohes Ansehen unter medizinisch- en van den Spieghel, dem er an die Univerpharmazeutisch tätigen Zeitgenossen beruh- sität Padua folgte. Nach Erlangen der medite auf seiner Monografie über die Striegauer zinischen Doktorwürde (Padua 1623) kehrte Siegelerde, ein zunächst unselbstständig (Ju- S. aus Italien in seine Heimatstadt Ulm zudicium de terra sigillata. In: Andreas Berthold: rück, wo er von 1625 bis zu seinem Tod als Terrae sigillatae vires atque virtutes. Ffm. 1583), Stadtarzt tätig war. S.’ Nachruhm beruht auf seinem postum dann in Einzeldrucken (Nürnb. 1585. Breslau erschienenen Armamentarium chirurgicum (Hg. 1597. 1610) sowie in einer dt. Fassung (in: Johann Wittich: Bericht von den Bezoardischen Johannes Scultetus d.J. Ulm 1655. Erw. Ffm. Steinen. Lpz. 1589) verbreitetes Werk, das S. in 1666). Dieses Werk bot medizinischen Fachdas Licht des Entdeckers der einst berühm- leuten eine reich illustrierte Instrumentenkunde u. die Darstellung von chirurgischen testen dt. Siegelerde tauchte. Zum anderen Operationen (Tl. 1), dazu eine Fallberichterinnert Robert Burtons Rede vom »great sammlung (hundert »Curberichte«), die patron of Paracelsus« (Anatomy of Melancholy. manche Einblicke in Erfahrungsschatz u. Oxford 1638) an S.’ wichtige Rolle im Frühwundärztl. Praktiken S.’ gewährt (Tl. 2). paracelsismus. Wenn auch oft schütter u. Fachlich geprägt wird S.’ Lehrbuch von der verblasst, lassen manche Spuren seiner Parahochstehenden Chirurgie eines Hieronymus celsica in S. eine an der Überlieferung Hoh- Fabricius ab Aquapendente u. Adriaen van enheim’scher Texte maßgeblich beteiligte den Spieghel in Padua, doch fanden auch die Zentralgestalt des schles. Paracelsismus er- Leistungen eines Andreas Vesalius, Ambroise kennen. Literargeschichtlich fällt insbes. die Paré, Wilhelm Fabry u. anderer Autoren Tatsache ins Gewicht, dass die Textdarbie- Niederschlag. Qualitativ geglückte Abbiltung in der von Johann Huser besorgten (u. dungen hatten maßgebl. Anteil am buchbis heute führenden) Paracelsusausgabe (Ba- händlerischen Erfolg. sel 1589–91) oftmals auf der seit dem 17. Jh. Mit Blick auf die Lateinunkenntnis u. das verschollenen Paracelsicasammlung von Hu- fachl. Unvermögen dt. Wundärzte schuf der sers »geliebtem Praeceptor« S. beruht. Noch Heidenheimer Stadtarzt Amadeus Megerlin Daniel Czepko (Sexcenta Monodisticha Sapien- eine »Verteutschung« (Wund-Artzneyisches tum. 1653) feierte in S. einen Meisteralche- Zeug-Hauß. Ulm 1666. Faks. Stgt. 1974. 1988. miker, der »das fünffte von den Dingen/ Auch Ulm 1679), eine für die Geschichte der dt. medizinischen Fachsprache wertvolle konte machen, und sich damit verjüngen«.
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Quelle. Mehrere lat. Ausgaben (Den Haag 1656. 1662. Amsterd. 1662. 1669/72. Venedig 1665. Leiden 1692/93), aber auch Übersetzungen des Armamentarium ins Holländische (Dordrecht 1657. Amsterd. 1670/71. 1748), Französische (Lyon 1672. 1675. 1712) u. Englische (London 1674) machen kenntlich, dass S.’ umfassende Darstellung der chirurgischen Praxis unter Fachleuten unterschiedlichsten Ranges hohes Ansehen genoss. – S. ist Namenspatron der »Scultetus Gesellschaft« (Ulm, gegründet 1975) u. des »Scultetus-Preises«. Literatur: Ernst Gurlt: J. S. In: ADB. – Louis Bakay: The Treatment of Head Injuries in the Thirty Years’ War (1618–1648). Joannis S. and His Age. Springfield, Ill. 1971. – Anneliese Seiz, Jörg Vollmar u. Ursula Hahner: J. S. u. sein Werk. Stgt. 1974 (Beilage zum Faks. der ArmamentariumAusg. Ffm. 1666. Auch 1988). – Mireille Pacoret: L’Arsenal de chirurgie de J. Schultes. In: Questions d’histoire de la médecine. Actes du 113e congrès national des sociétés savantes (Strasbourg, 1988). Paris 1991, S. 46–59. – Robert Jütte: J. S. In: Ärztelexikon. Von der Antike bis zum 20. Jh. Hg. Wolfgang U. Eckart u. Christoph Gradmann. Mchn. 1995, S. 326 f. – Werner E. Gerabek: J. S. In: Enzyklopädie Medizingesch. Hg. ders. u. a. Bln. 2007, S. 1312 f. – DBE. – W. E. Gerabek: J. S. In: NDB. Joachim Telle
Scultetus, Tobias (1608 geadelt als Tobias von Schwanensee und Bregoschitz), * 29.10.1565 Oschatz bei Leipzig, † 26. 4. 1620 Breslau. – Neulateinischer Dichter u. Redner, Kaiserlicher Rat, Kammerfiskal in Schlesien, Pfalzgraf. Nach dem Besuch der Lateinschule seiner Heimatstadt studierte S. an der Universität Leipzig (1588/89 Magister). Aus dieser Zeit sind seine ersten Gedichte bezeugt. Es folgten Jahre als Hofmeister des aus altem schles. Adel stammenden Siegismund von Burgkhaus. In Heidelberg (Immatrikulation am 4.7.1593) verlieh ihm Paul Schede Melissus im Okt. 1594 die Würde eines Poeta laureatus. Von Heidelberg aus reiste S. mit seinem Schützling zunächst nach Straßburg, hielt u. publizierte dort 1595 eine Rede über Sinn u. Zweck der akadem. Studienreise (Ulysses, Peregrinationis Speculum). Weitere Reisen führ-
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ten ihn 1595 nach Genf u. 1596 nach Köln. Im Jan. 1598 ließ sich S. zum Studium der Rechte in Padua einschreiben. Den Doktortitel erwarb er im Oktober desselben Jahres in Basel. Dann ging es über Verona in die Toskana (Siena 1600). Über andere ital. Städte (darunter Rom) sowie über Spanien, Frankreich u. Belgien (Antwerpen 1601) kehrte S. 1602 nach Prag zurück, wo er auch in engeren Kontakt mit Johannes Kepler trat. Nach der Verleihung des Adels (1608) zeichnete S. 1611 als Kaiserlicher Rat u. Kammerfiskal in Schlesien sowie als Inhaber der Pfalzgrafenwürde (1610). Seinen letzten Dienst erwies er dem Pfälzer Kurfürsten Friedrich V. auf dem böhm. Königsthron in Prag. Nach einem Huldigungszug durch Breslau sollte eine Huldigung durch die lausitzischen Stände erfolgen. Der König musste jedoch angesichts der bedrohl. Kriegslage nach Prag zurückeilen, während S. in der Niederlausitz stellvertretend die Huldigung gemeinsam mit den Grafen Philipp und Heinrich von Solms entgegennahm. Er gehörte zum Kreis der engsten Vertrauten des Königs. Die Katastrophe, die im Nov. 1620 über den ›Winterkönig‹ hereinbrach, erlebte er nicht mehr. S. ist als Dichter nur in seiner Jugend hervorgetreten. Dichten war auch für ihn so gut wie ausschließlich an Gelegenheiten u. Personen geknüpft. Standespersonen u. polit. Ereignisse, Brotgeber u. Mentoren, Freunde u. Weggefährten wurden in Gedichten – zuweilen zu einem kleinen Strauß gebunden – bedacht. In Heidelberg trat er 1594 mit seiner einzigen größeren Gedichtsammlung Subsecivorum poëticorum tetras prima hervor. In ihr vereinigte er ›Suspiria‹, ›Phaleuci‹, ›Philotesia‹ u. ›Epigrammata‹. Die drei Letzteren sind wiederum an Personen gerichtet, die ›Philotesia‹ ausschließlich Stammbucheinträge. Die ›Suspiria‹ gelten ›Sophia‹, deren Liebreize hinüberspielen ins Reich der Weisheit, sodass der petrarkistische Diskurs dezent umfunktioniert erscheint. Zwei weitere kleine Epigrammsammlungen galten dem Pfälzer Rat Wolfgang Zundel (Heidelb. 1594) u. dem Nestor der schles. Späthumanisten, Jakob Monau (Straßb. 1595). In Schlesien begrüßte S. 1611 den zur Huldigung in Breslau einziehenden Kaiser Matthias mit Acclamationes
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votivae. Wiederholt bedichtete er nun die dem Vorbesitz v. T. S. In: Cartographia Helvetica 22 Großen des Landes, darunter den Gründer (2009), S. 3–10. – Klaus Garber: Daphnis. Ein undes Beuthener Gymnasiums, Georg von bekanntes Epithalamium u. eine wiederaufgefundene Ekloge v. Martin Opitz in einem Sammelband Schönaich (1619). des schles. Gymnasium Schönaichanum zu BeuSeinen einzigartigen Ruf unter der jüngethen in der litauischen Universitätsbibl. Vilnius. In: ren Opitz-Generation – Opitz widmete ihm Ders.: Martin Opitz – Paul Fleming – Simon Dach. 1617 seine große Ecloga Daphnis – verdankte S. Drei Dichter des 17. Jh. in Bibl.en Mittel- u. Ostseinen weitläufigen Verbindungen als Diplo- europas. Köln u. a. 2011. Klaus Garber mat u. Kaiserlicher Rat sowie seiner Stellung am Prager Hof, an dem zwischen 1610 u. 1620 die Fäden der mitteleurop. Politik zuSealsfield, Charles, auch: Carl Moritz sammenliefen. Neben Caspar Cunrad u. späZeilfels, C. Sidons, eigtenl.: Carolus Mater neben Henel von Hennefeld gilt S. als gnus Postl, * 3.3.1793 Poppitz bei Znaim bislang nicht gewürdigte Zentralgestalt des (Mähren)/Österreich (heute Tschechien), böhmisch-schlesisch-lausitzischen Späthu† 26.5.1864 Unter den Tannen bei Solomanismus. Weitere Werke: Auswahl in Janus Gruter (Hg.): Delitiae Poetarum Germanorum [...]. Pars VI. Ffm. 1612, S. 34–68 (elektronisch lesbar in CAMENA). – Caspar Dornau: Amphitheatrum Sapientiae Socraticae Joco-Seriae. Hanau 1619. Repr. hg. u. eingel. v. Robert Seidel. Goldbach 1995, passim. – Einzeldrucke: Exequiae Christophoro Pflugio [...]. Lpz. 1589. – Decas Epigrammatum Ad Guolfgangum Zundelinum, V. Excellentiss. Consiliar. Palatin. Heidelb. 1594. – Strenae. Ad Iacobum Monavium. Straßb. 1595. – Laurea Melissaea. Ad Gregorium Bersmanum. Genf 1595. – Theorematum In Iure Controversorum, Pentades X [...]. Basel 1599. – Acclamationes Votivae in publicâ Silesiae laetitiâ, Sub Adventum [...] Principis ac Domini Dn. Matthiae Secundi [...]. Breslau 1611. – Tractatus de fisco. Summarium. In: Nikolaus Henel v. Hennenfeld: Silesiographia Renovata. Bd. 1–2. [Hg. Michael Joseph Fibiger]. Breslau/Lpz. 1704, Bd. 2, S. 1205–1209. Literatur: Robert Seidel: Späthumanismus in Schlesien. Caspar Dornau (1577–1631). Leben u. Werk. Tüb. 1994, S. 313 f. – Frank-Rutger Hausmann: Zwischen Autobiogr. u. Biogr. Jugend u. Ausbildung des Fränkisch-Oberpfälzer Philologen u. Kontroverstheologen Kaspar Schoppe (1576–1649). Würzb. 1995 (Register). – Kaspar Schoppe: Autobiogr. Texte u. Briefe. Bd. 1, Teilbd. 1–2. In Zus. mit Ursula Jaitner-Hahner u. Johann Ramminger bearb. v. Klaus Jaitner. Mchn. 2004 (Register). – Flood, Poets Laureate, Bd. 4, S. 1923–1925. – Martin Opitz: Briefw. u. Lebenszeugnisse. Hg. Klaus Conermann. 3 Bde., Bln./New York 2009 (Register). – Ders.: Lat. Werke. Bd. 1: 1614–1624. In Zus. mit Wilhelm Kühlmann, HansGert Roloff u. a. hg., übers. u. komm. v. Veronika Marschall u. R. Seidel. Bln./New York 2009 (Register). – Peter H. Meurer: Ein Ortelius-Atlas aus
thurn/Schweiz. – Verfasser von zeitkritischen journalistischen Schriften, Reiseberichten u. Romanen.
Der österr. Emigrant Carolus Magnus Postl gehört mit seinen polit. Amerikaromanen, publiziert unter dem Pseudonym Charles Sealsfield, zu den namhaften Schriftstellern des dt. Vormärz u. der amerikan. Literatur. Er stellt – nach eigenen Aussagen – mit seinem zeitgeschichtl. »nationalen oder höheren VolksRomane« das »öffentliche Leben« des amerikan. Volkes vor, indem er den »Civilisationsprozeß« der Neuen Welt in »Skizzen und Bildern« (1854) dem »deutschen Publikum« anbietet, um »etwas sehr wesentlich Geschichtliches« mitzuteilen (1841). Haben sich seine Texte »im deutschen Publikum [...] nur langsam Bahn gebrochen«, so werden sie »von Hunderttausenden[] Bürgern der Vereinigten Staaten«, dem »aufgeklärteste[n] Volke[] der Erde« (1845) gelesen. S.s Einschätzung bezieht sich auf Theodor Mundts Literaturgeschichte (1842) u. die nationalliterarische Seatsfield [sic]-Debatte (1843–45), die ihn durch massenhafte Raubdruckverbreitung so populär wie angeblich Walter Scott macht (The Great Unknown, 1844), aber auch durch Edgar Allan Poes Verdikt (Columbian Spy, 1844) schadete. Postls Flucht 1823 in die USA, die Metamorphose zum Amerikaner Charles Sealsfield, seine krit. Weltsicht u. die Absicht, mit unterhaltenden, informativen u. engagierten Texten in polit. Krisenzeit (Europa/Amerika) aufklärerisch zu wirken, ist in seiner Biogra-
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fie begründet. Fünf Bedingungen bewirkten seine Identitätskrise, die Identitätskrise Europas spiegelnd: 1. die Kindheit in konservativ katholischem, ländlich-kleinbürgerl. Weinbauernmilieu; 2. das vom Orden der »Kreuzherren mit dem roten Sterne« (Prag) veranlasste Theologiestudium (1811–1815; Karls-Universität, Prag) u. die Priesterausbildung; 3. der Einfluss des spätaufklärerischen Religions- u. Staatsphilosophen Bernard Bolzano (1781–1848; Katholizismus-/Absolutismuskritik); 4. die Funktion des Ordenssekretärs, die außerklösterl. Kontakte zu Staatsbeamten, Kaufleuten, tschech. Adel, polit. Opposition (nationalliberale Ideen) ermöglichte; 5. die Repressionen des Metternich-Regimes u. die Karlsbader Beschlüsse (1819), die zur Amtsenthebung Bolzanos u. dem sog. Bolzano-Prozess (1819–1823) führten. Seine illegale Emigration löste eine steckbriefl. Fahndung der Wiener Zentralregierung u. seine lebenslange Traumatisierung aus. Der Fluchtweg (Mai/Juni 1823) über Karlsbad, evtl. Wien, Stuttgart, Le Havre (Frankreich), New Orleans (Louisiana) u. Philadelphia (Pennsylvania) ist weitgehend geklärt. Die Finanzierung erfolgte wohl durch unterschlagene Klostergelder, die personelle Unterstützung durch den 1821 aus Österreich geflüchteten Intellektuellen Christian Carl André (1763–1831), der ihn beim Verleger Friedrich Cotta (Stuttgart) einführte. Deutsche Immigrantenkreise in Philadelphia vermittelten ihm den Wohnsitz Kittanning (Pennsylvania; 1823–1826). Dort organisierte er innerhalb der ›machinery of national identification and integration‹ Namenänderung, Literatenkarriere u. sein weltbürgerl. Reisen zwischen Alter u. Neuer Welt, das Lebensgang, Schreibprozess u. Publikationsstrategie strukturierte: 1826/27: Deutschland, England; 1827–1830: USA; 1830–1837: Frankreich, England, Schweiz; 1837: USA; 1837–1853: Schweiz; 1853–1858: USA; 1858–1864: Schweiz (Solothurn). Für die Selbstinszenierung als amerikan. Bürger u. Publizist verband S. geistig-soziale Vorprägungen mit landeskundl., gesellschaftspolit. Amerikaerfahrung. 1826 ließ er sich, nach Verwendung temporärer Deckna-
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men C. [Charles] Sidons, Carl Moritz Zeilfels (Pastor der Ohio-Synode, Kittanning 1823–1826), durch den Staat Louisiana sein Pseudonym Charles Sealsfield (›safe conduct pass‹; Staatsbürgerschaft, 1858) dokumentieren. Als unabhängiger Berufspublizist mit einem Faible für die ›Jacksonian Democracy‹ (Andrew Jackson, 1767–1845; US-Präsident 1829–37) u. die ethnisch-klassengesellschaftliche, agrardemokratische Verfassung der Südstaaten entwickelte er sein Erzählkonzept des Zeitromans zur jüngsten Geschichte Nordamerikas: Schreiben als Selbstschutz u. Mission. Mit den »Randgloss[en]« von Zeitungsbeiträgen, zwei Reiseberichten u. dreizehn Romanen (1826–1843) wollte er das Verstehen der »weltgeschichtlichen Bedeutung« (1845) v. a. der USA in Europa fördern u. auf die Liberalisierung in den Staaten einwirken. Weil es um Staaten u. Völker geht, steht nicht mehr der Einzelne als Held im Handlungszentrum, sondern »das ganze Volk sein soziales sein öffentliches Privatleben, seine materiellen politischen religiösen Beziehungen« (1854). Mit themat. Konstanz u. engagiertem Schreiben distanzierte er sich von der dt. Klassik/Romantik sowie von den verklärenden Geschichtsromanen Walter Scotts, Washington Irvings, James Fenimore Coopers u. a. Seine Weltanschauung, orientiert an Herders Geschichtsphilosophie, steuerte dialektisches Erzählanliegen, Stoffwahl, Themenkanon u. Leitmotivik der Romane: demokratische USA/absolutistisches Europa, Protestantismus/Katholizismus, Agrar-/Industriegesellschaft, Eigennutz/Gemeinwohl der Eliten im Kapitalismus. Während des ersten Amerikaaufenthalts 1823–1826 entstanden drei Texte. Den kritischen fiktiven Reisebericht Austria as it is: or, sketches of continental courts (London 1828) kontrastierte S. mit dem USA-Report Die Vereinigten Staaten von Nordamerika (Stgt. 1827. Verkürzt: engl. London 1827, 1828), bestehend aus autobiogr. Reisejournal u. Landeskunde im Stil zeitgenöss. Amerikaratgeber. Die Absolutismuskritik am Metternich-Regime u. das Amerikaplädoyer mit der Leitfigur des Politikers Andrew Jackson informieren über seine ideolog. Position, das gleichzeitig entstandene Romanskript Canondah
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über die Suche nach einem Schreibkonzept, orientiert an den romantisierenden Amerikaromanen Coopers u. Chateaubriands. Die Rückkehr nach Europa (1826/27), finanziert mit veruntreuten Kirchengeldern, diente der Selbstrepräsentation als Amerikaner C. S., der Verlegersuche u. Existenzsicherung. Während er mit einer Informantenofferte an Metternich scheiterte, war die Sondierung von Publikationsmöglichkeiten erfolgreich. Cotta (Stuttgart) u. Murray (London) publizierten den Amerikabericht, der aber, wie das Österreichbuch, aus innenpolit. Gründen ein Misserfolg war. Um auch auf dem amerikan. Literaturmarkt zu reüssieren, begab sich S. erneut in die Staaten (1827–1830). Er arbeitete als Journalist für Cotta, den bonapartistischen »Courrier des États-Unis« u. publizierte den Canondah-Text bei Carey, Lea & Carey (Philadelphia 1829. 2 1845), dem Hausverlag von Cooper u. a., unter dem Titel Tokeah; or, the white rose (Reprint: London 1829). Weil er in Konkurrenz zu Scott u. den amerikan. Erfolgsautoren nicht bestehen konnte, entschied sich S. für den dt. Literaturmarkt u. kooperierte er von nun an mit den Verlagen Orell, Füßli & Co., Friedrich Schulthess (beide Zürich) u. der Metzlerschen Buchhandlung (Stuttgart). Das Jahrzehnt von 1830 bis 1840 ist seine erfolgreichste Schaffenszeit. Mit dem Debüttext Der Legitime und die Republikaner (Zürich 1833), einer Umarbeitung von Tokeah, fand S. sein Erzählkonzept des figurenreichen frührealistischen, polit. Gesellschaftsromans u. das Grundthema der legitimen Etablierung eines demokratischen Staatswesens weißer Siedler in Nordamerika. Zu dessen Verdeutlichung verlegt er die Handlung in drei Romanen nach Mexiko (Der Virey und die Aristokraten oder Mexiko im Jahre 1812. Zürich 1835. Das Cajütenbuch. Zürich 1841. Süden und Norden. 1842/43). Im Kontrast zu den USA figurierte Mexiko für ihn als Beispiel autokratischer Verhältnisse. Am Panorama wirtschaftlichpolit. Willkürherrschaft, der Intrigen von kath. Kirche u. Staat, von korrumpierten Aristokraten, unterdrücktem Volk, Revolution u. einer Liebesgeschichte demonstriert S. im Virey, dass eine positive Führungsfigur die Verhältnisse demokratisieren könne. Seine Erzähltechnik
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aufgelöster Handlungslogik, expressionistischer Naturdarstellung u. fremdsprachl. Personencharakterisierung kennzeichnen ihn als Vorläufer der Moderne. Um seine Erzählabsicht der politischen europäisch-amerikan. Interdependenz zu verdeutlichen, hantierte S. von nun an mit vier Serientiteln: Transatlantische Reiseskizzen, Lebensbilder aus der westlichen Hemisphäre, Lebensbilder aus beiden Hemisphären, Neue Landund Seebilder. Das erste Vorhaben einer mehrbändigen Darstellung schlug fehl. Der fragmentarische Gesellschafts- u. Erziehungsroman Die große Tour (2 Tle., Zürich 1835. Morton oder die große Tour. Stgt. 21844. Neuausg. hg. von Günter Schnitzler u. Waldemar Fromm. Mchn. 2008) gestaltet mit der Handlung zwischen den Schauplätzen Philadelphia u. London drei Aspekte: die polit. Vorbildrolle der USA, die positive u. negative Macht des Geldes (Stephy: Bankier Stephen Girard, 1750–1831; Lomond: fiktive Figur, Balzac: Gobsec-Adaption) u. die Erziehung des jungen Morton zum Kaufmann durch einen Mentor (Morton/Oberst Isling: fiktive Figuren). Im Anschluss entstanden, evtl. inspiriert von Balzacs ›comédie humaine‹ (1821 ff.), 1834–1837 fünf Texte, die als Lebensbilder aus der westlichen Hemisphäre (Zürich 1834–37; 5 Bde., Stgt. 1843) ein Panorama der agrardemokratischen Verfassung Lousianas der »erwachenden deutschen Nation [...] als Spiegel zur Selbstbeschauung« anbieten (Widmung, 1843). In Transatlantische Reiseskizzen (veröffentlicht zusammen mit der Erzählung Christopherus Bärenhäuter; Zürich 1834; erster Tl.: George Howard’s Esqu. Brautfahrt. Stgt. 2 1834), Ralph Doughby’s Esq. Brautfahrt (1835), Die Farbigen (1836) u. Pflanzerleben (1836) führt der Autor vor, wie die sklavenhaltende kreol. Oberschicht die ›plantation‹-Kultur als polit. Modell für die Entwicklung der USA u. der Welt präsentiert. Den Diskurs über amerikan. u. europ. Gegenwartsgeschichte, über Zivilisationsfortschritt, Sklaverei, Kapitalismus u. Industriegesellschaft erweitert der fünfte Roman Nathan, der Squatter-Regulator (Zürich 1837) um die histor. Dimension der USamerikan. Staatswerdung im 18. Jh. An der Pionierfigur Nathan (histor. Vorbild: Philip Nolan) demonstriert S. die Legitimität terri-
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tiorialer Expansion der USA, das amerikan. Sendungsbewusstsein u. den geschichtsprägenden Einfluss von Führungsfiguren. Seine panikartige Reise in die USA 1837, ausgelöst durch die Wirtschaftskrise (1834–1843) u. die Sorge um seinen Aktienbesitz (›panic of 1837‹), veranlassten S., das Konfliktfeld von Hochkapitalismus, Industriewirtschaft u. Volkswohl in dem sozialkrit. Roman Die deutsch-amerikanischen Wahlverwandtschaften (Zürich 1839[/40]) zu thematisieren. Darin schildert er in dramat. Szenenfolge den Zusammenhang von Machtstreben, Geldgier u. Korrumpiertheit der Eliten im industriegesellschaftl. Norden der USA (New York, Kurort Saratoga), den Zusammenhang von Inflation, Ausbeutung u. Kreditbetrug mit den Folgen von Arbeitslosigkeit u. Armut, Sozialrevolten im Großstadtmilieu u. Gefährdung staatl. Ordnung. Sein erfolgreichster Roman Das Cajütenbuch oder nationale Charakteristiken (Zürich 1841) demonstriert an der texan. Revolution, die zur Gründung der Republik Texas (1836–1845) führte, dass widerrechtl. Infiltration u. Taten Krimineller legitim sind, wenn sich der revolutionäre Widerstand auf die Etablierung eines demokratischen Staates richtet. An historisch authentischen, fiktional erweiterten Episoden demonstriert er zusätzlich die sozio-ökonomischen Vorzüge der feudalen Südstaatengesellschaft mit ihrer Führungselite der ›plantation owner‹, einer humanen Sklavenhaltung, die politisch-kulturelle Überlegenheit von Menschen german. Ethnik u. die Botschaft vom Sendungsauftrag der USA, liberale Ideen u. republikan. Staatsordnung durch Expansion zu verbreiten. Der letzte Text Süden und Norden (Stgt. 1842[/43]. Neuausg. 2 Bde., Mchn. 2005) knüpft stofflich an den Mexikotext Virey u. thematisch an die Wahlverwandtschaften an. Er basiert auf Recherchen zur Republik Mexiko u. S.s Bekanntschaft mit J. R. Poinsett (1779–1851; amerkan. Botschafter in Mexiko 1825–1830). Die diffuse Handlung hebt die histor. Orientierung (ca. 1821–1829) zu Gunsten literarästhetischer Authentizität auf. S. zeigt an Hand einer desorientierten nordamerikan. Reisegruppe u. erotisierten
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Liebesgeschichte, am innenpolit. Ränkespiel von polit. u. sozialen Gruppierungen, von Katholizismus u. Freimaurern, an der exotisch-bedrohl. Natur die Relativität jegl. Ordnungen auf, auch jener der USA. Personen- u. Perspektivenvielfalt, brüchige Handlung u. die Verrätselung der Wirklichkeit führen die Ausgesetztheit u. Orientierungslosigkeit des modernen Menschen vor. In den Jahren 1846/47 erschienen zwei Editionen der Gesammelten Werke, mit denen er sein Werk arrondierte u. sich als Autor Charles Sealsfield zu erkennen gab. Die gescheiterte 1848/49er-Revolution stabilisierte die Restauration, ließ den Literaturmarkt einbrechen, beeinträchtigte den ohnehin begrenzten Absatz seiner Romane u. blockierte die Romanpläne S.s, der sich auf den themat. Paradigmawechsel nicht einstellte. Wachsender Nationalismus in den USA u. Europa, der Verlust seiner dt. Leserklientel liberaler Intellektueller, die Entpolitisierung der USA zum Einwanderungsland, nationaliterar. Abgrenzungen u. das anspruchsvolle Niveau seiner Texte verhinderten die Rezeption des ›author in transition‹ (Genre/Schreibweise) beiderseits des Atlantiks. S. zog sich 1858 nach Solothurn (Schweiz) zurück. Erst mit dem Testament (1864) wurde seine Identität publik. Ausgaben: An.: Lebensbilder aus der westl. Hemisphäre. Stgt. 1843. – C. S.: Gesammelte Werke. Stgt. 1845–47/1846. – Sämtl. Werke [SW]. Bd. 1–24. Hg. Karl J. R. Arndt. Hildesh. 1972 ff. [Reprint]; Supplementreihe. Materialien u. Dokumente. Bd. 25 ff. Hg. Alexander Ritter. Ebd. 1990 ff. – Wynfrid Kriegleder u. Gustav-Adolf Pogatschnigg (Hg.): Die Gesch.n des C. S. Zeitschriftenveröffentlichungen u. Vorlagen. Wien 2009 (SealsfieldBibliothek 7). Literatur: Bibliografien: Otto Heller u. Theodore L. Leon: C. S. Bibliography of his Writings together with a classified and annotated Catalogue of Literature relating to his works and his life. St. Louis 1939. – Goedeke 15 (21966), S. 605–649. – S.-Bibliogr. 1945–1965. Hg. Felix Bornemann. Stgt. 1966. – Alexander Ritter: S.-Bibliogr. 1966–1975. Stgt. [1976]. – Ders: S.-Bibliogr. 1976–1986. Stgt./ Freib. 1986, S. 50–65. – Denise Steinmann: Kat. der Sealsfieldiana in der Zentralbibl. Solothurn. Hildesh. 1990 (SW 27). – S.-Bibliogr. 1987–1998. In: S.-Studien 1. Mchn. 1998, S. 177–202. – C. S.-Bi-
Sebald bliogr. 2000 ff. In: SealsfieldBibliothek 1 ff. Hg. A. Ritter. Wien 2004 ff. – Biografie: Eduard Castle: Der große Unbekannte. Das Leben von C. S. (Karl Postl). Wien 1952. Nachdr. Hildesh. 1993. – A. Ritter: Grenzübertritt u. Schattentausch: Der österr. Priester Carl Postl u. seine vage staatsbürgerl. Identität als amerikan. Literat C. S. Eine Dokumentation. In: Freiburger Universitätsbl. 38 (1999), H. 143, S. 39–71. – Ders.: Fluchtpunkt Kittanning, Pennsylvania (USA) oder: Die inszenierte ›Geburt‹ des Amerikaners Carl Moritz Zeilfels alias C. S. Eine Dokumentation. In: C. S. Lehrjahre eines Romanciers 1808–1829. Vom spätjosefin. Prag ins demokrat. Amerika. Hg. A. Ritter. Wien 2007, S. 207–285. – W. Kriegleder: C. S. In: NDB. – Korrespondenz: E. Castle: Der große Unbekannte. Das Leben v. C. S. (Karl Postl). Briefe u. Aktenstücke. Wien 1955. Nachdr. Forschungsbericht u. Dokumentation v. A. Ritter. Hildesh. 2010. – Forschungsliteratur: E. Castle: Das Geheimnis des Großen Unbekannten. C. S. (Karl Postl). Die Quellenschriften. Wien 1943. Nachdr. Hildesh. 1995. – Gerhard Friesen: C. S. and the German Panoramatic Novel of the 19th Century. In: MLN 84 (1969), S. 734–775. – Nannette M. Ashby: C. S. ›The Greatest American Author‹. A Study of Literary Piracy and Promotion in the 19th Century. Stgt. 1980. – Franz Schüppen: C. S. – Karl Postl. Ein österr. Erzähler der Biedermeierzeit im Spannungsfeld v. Alter u. Neuer Welt. Ffm. 1981. – Schriftenreihe der C. S.-Ges. Bd. 1 ff. Mchn. 1987 ff. – Walter Grünzweig: Das demokrat. Kanaan. C. S.s Amerika im Kontext amerikan. Lit. u. Ideologie. Mchn. 1987. – Günter Schnitzler: Erfahrung u. Bild. Die dichter. Wirklichkeit des C. S. (Karl Postl). Freib. i. Br. 1988. – Neue S.-Studien. Amerika u. Europa in der Biedermeierzeit. Hg. F. B. Schüppen. Stgt. 1995. – Jeffrey L. Sammons: Ideology, Mimesis, Fantasy: C. S., Friedrich Gerstäcker, Karl May, and other German Novelists of America. Chapel Hill, Ill./London 1998. – A. Ritter: C. S.s frühe Publizitätssuche bei den Verlegern Cotta (Stuttgart) u. Murray (London). Biogr. u. buchgeschichtl. Umstände als Ursachen des Publizitätsverlustes nach 1848. In: Literar. Leben in Österr. 1848–1890. Hg. Klaus Amann, Hubert Lengauer u. Karl Wagner. Wien 2000, S. 561–600. – Ders.: Die Bekannten u. die beiden ›großen Unbekannten‹. Scott, der histor. Roman u. sein Einfluß auf C. S. In: Beiträge zur Rezeption der brit. u. irischen Lit. des 19. Jh. im deutschsprachigen Raum. Hg. Norbert Bachleitner. Amsterd./Atlanta 2000, S. 443–477. – Primus-Heinz Kucher (Hg.): C. S. Dokumente zur Rezeptionsgesch. Tl. 1: Die zeitgenöss. Rezeption in Euopa. Hildesh. 2002 (SW 31). – A. Ritter (Hg.): C. S. Perspektiven neuerer Forsch. Wien 2004 (SealsfieldBibliothek 1). – Ders.
712 (Hg.): C. S.s Lehrjahre eines Romanciers 1808–1829. Vom spätjosefin. Prag ins demokrat. Amerika. Wien 2007 (SealsfieldBibliothek 5). – Ders. (Hg.): C. S. im Schweizer Exil 1831–1864. Republikanisches Refugium u. internat. Literatenkarriere. Wien 2008 (SealsfieldBibliothek 6). – Ders.: C. S. Geschäftsbeziehungen zu den Verlagen Brockhaus (Leipzig), Julius Baedeker (Elberfeld), Orell, Füßli & Cie. u. Friedrich Schultheß (Zürich). [...]. In: ebd., S. 81–126. – Ders.: ›... wie der dichterischen Hülle etwas sehr wesentlich Geschichtliches zugrunde liege.‹ C. S.: Polit. Publizist u. die Strategie seiner internat. Schreib- u. Vermarktungsaktionen 1826–1843. In: ForumVormärzForschung 2011, S. 195–212. Alexander Ritter
Sebald, W. G., eigentl.: Winfried Georg Maximilian S., * 18.5.1944 Wertach/Allgäu, † 14.12.2001 Norfolk/Großbritannien. – Erzähler, Lyriker, Essayist, Literaturwissenschaftler. S. wurde 1944 als zweites von vier Kindern von Georg u. Rosa Sebald geboren. Der Vater, aus einfachen Verhältnissen stammend, stieg in der Wehrmacht bis zum Hauptmann auf. Da er erst 1947 aus frz. Kriegsgefangenschaft zurückkehrte u. aus arbeitstechn. Gründen auch danach nur selten zuhause war, blieb er S. fremd. Wichtigste Bezugsperson war für S. der Großvater mütterlicherseits, ein Dorfpolizist. 1952 zog die Familie nach Sonthofen um. Nach dem Abitur in Oberstdorf studierte S. 1963–1966 in Freiburg/Br. u. in Freiburg/ Schweiz Germanistik u. Allgemeine Literaturwissenschaft. 1967 heiratete er seine langjährige Freundin Ute Rosenbauer. Bis 1970 arbeitete S. an der University of Manchester als Lektor, mit Unterbrechung durch eine einjährige Tätigkeit als Schullehrer in St. Gallen. Danach wurde er an der University of East Anglia in Norwich Dozent für Literaturwissenschaft, 1987 Professor für European Literature. 1989 gründete er dort das British Centre for Literary Translation. 2001 starb S. bei einem Autounfall im Anschluss an eine Herzattacke. S.s Karriere als Schriftsteller begann spät. Erste Gedichte publizierte er 1974/75 in der Zeitschrift »Zet«. Die erste selbstständige Veröffentlichung Nach der Natur. Ein Elementargedicht (Nördlingen) folgte erst 1988. In
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den drei langen, von düsteren Bildern der Leere u. Einöde durchzogenen Prosagedichten zeichnet S. das Bild einer wuchernden, zerstörerischen Natur, die der Mensch wissenschaftlich zu objektivieren versucht, um seinerseits ein gigantisches Zerstörungswerk in Gang zu setzen. Die desaströsen Folgen dieser rationalistischen Weltsicht der Moderne, die auch den Menschen neuartigen Regimen der Gewalt unterwirft, behandelt S. erneut in den assoziativ gereihten Digressionen aus Die Ringe des Saturn. Eine englische Wallfahrt (Ffm. 1995). Auf seiner ziellosen Wanderung durch die Grafschaft Suffolk zeigt der Ich-Erzähler Landschaft nicht als schöne Natur, sondern als vom Menschen gestalteten Raum. Natur erweist sich jedoch in den überall präsenten Spuren zerstörerischer Naturgewalt immer wieder als autonom u. übermächtig gegenüber den menschl. Versuchen, sie mit techn. Mitteln zu beherrschen. Diese melanchol. Weltsicht, die Geschichte u. Naturgeschichte gleichermaßen als Katastrophengeschichte begreift, prägt auch S.s übrige Hauptwerke, die drei Prosabücher Schwindel. Gefühle. (Ffm. 1990), Die Ausgewanderten (ebd. 1992) u. Austerlitz (Mchn./Wien 2001). Melancholie als das »Überdenken des sich vollziehenden Unglücks« ist dabei eine Erkenntnisform u. »Form des Widerstands« gegen die als fortgesetzten Verlust empfundene »historia calamitorum« (Die Beschreibung des Unglücks. Zur österreichischen Literatur von Stifter bis Handke. Salzb./Wien 1985). Dieser Widerstand ist eine gleichsam archäolog., nach der Logik des Archivs betriebene Erinnerungskultur, die Geschichte als gelebte Geschichte begreift u. das kollektive Gedächtnis um die an Gedächtnisorten u. vergessenen Objekten haftenden persönl. Erfahrungen u. Erinnerungen bereichert. Das Marginalisierte erhält so einen neuen Stellenwert für eine kontingente, allegorisch interpretierte Geschichte. In seinem Essay Luftkrieg und Literatur (Mchn./Wien 1999) fordert S. den Verzicht auf »ästhetische oder pseudoästhetische Effekte« zugunsten eines »Ideal[s] des Wahren« in Form wirklichkeitsnaher Schilderung. Diesem Anspruch einer Interdependenz von
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Ethik u. Poetik entsprechend, verknüpfte er im eigenen Werk Fiktion, (Auto-)Biografie u. Historiografie zu einem komplexen, hochgradig intertextuellen u. intermedialen Beziehungsgeflecht, das die Grenze zwischen Literatur u. Leben, Fakt u. Fiktion verwischt. Das in den fortlaufenden Text eingewobene Bildmaterial, zumeist Amateurfotografien, steht dabei, über dokumentarische Zwecke hinausgehend, als Bedeutungsträger gleichberechtigt neben der Sprache. Die oft zufällig gesammelten sprachl. u. bildl. Fundstücke verknüpft S. in einem »bricolage«-Verfahren zu neuen Sinnzusammenhängen. Diese assoziative Vernetzungsästhetik spiegelt sich in den unzähligen, ebenso zufälligen wie unheiml. Koinzidenzen u. Korrespondenzen, welche die Ereignisse in allen Büchern S.s zu labyrinthisch anmutenden Erzählungen verbinden. Auffällig ist der stark dem Autor angenäherte Ich-Erzähler, der den überwiegend tragischen, aus realen Biografien zusammengesetzten Schicksalen von S.s einsamen, heimatwie haltlosen Figuren nachspürt. In Die Ausgewanderten erforscht er die Geschichten von vier teils jüd. Emigranten, die an ihrem Unglück (beinahe) zugrunde gehen. In Austerlitz ist es der als Kind nach England emigrierte Jude Jacques Austerlitz, der vergeblich versucht, seine im Dunkeln liegende wahre Identität zu bestimmen. Nur die Geschichten von Stendhal u. Franz Kafka aus Schwindel. Gefühle. werden nicht aus der Ich-Perspektive erzählt. S.s mehrfach preisgekröntes u. in zahlreiche Sprachen übersetztes Werk hat insbes. im englischsprachigen Raum hohe Anerkennung gefunden. Grund für die ungewöhnlich intensive Rezeption dort ist neben der Komplexität u. literar. Qualität des Werks die empathetische, Identifikation vermeidende Behandlung der psychosozialen Spätfolgen des Holocaust, die S. in stets die nötige Distanz wahrender Annäherung an individuelle jüd. Biografien veranschaulicht. Weit weniger anerkannt ist S. als Literaturwissenschaftler u. Essayist. Umstritten ist sein provokantes, biografisch-psychopathografisches Argumentationsverfahren, das bisweilen zu originellen Einsichten, bei der
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Behandlung von beispielsweise Carl Sternheim, Alfred Döblin oder Alfred Andersch jedoch zu drastischen abwertenden Urteilen führt. Viel diskutiert wurde der Essay Luftkrieg und Literatur, in dem S. der dt. Nachkriegsliteratur vorwirft, über die Bombardements dt. Städte im Zweiten Weltkrieg u. ihre traumat. Folgen für die Bevölkerung geschwiegen zu haben. S.s These erfuhr vielfachen Widerspruch, trug aber dazu bei, das Leiden der Deutschen im Zweiten Weltkrieg vom Tabuthema zum Gegenstand gesellschaftl. u. wissenschaftl. Auseinandersetzung zu erheben. S. erhielt u. a. 1994 den Berliner Literaturpreis, 1997 den Mörike-Preis der Stadt Fellbach u. den Heinrich-Böll-Preis, 2000 den Joseph-Breitbach-Preis u. den Heinrich-Heine-Preis der Stadt Düsseldorf, 2002 (postum) den National Book Critic’s Circle Award, den Literaturpreis der Stadt Bremen u. den Wingate Literary Prize. Sein Nachlass wird heute größtenteils im Deutschen Literaturarchiv in Marbach/Neckar aufbewahrt. Weitere Werke: Carl Sternheim. Kritiker u. Opfer der Wilhelmin. Ära. Stgt. u. a. 1969. – Der Mythus der Zerstörung im Werk Döblins. Stgt. 1980. – Unheiml. Heimat. Essays zur österr. Lit. Salzb./Wien 1991. – Logis in einem Landhaus. Über Gottfried Keller, Johann Peter Hebel, Robert Walser u. andere. Mchn./Wien 1998. – For Years Now. London 2001 (L.). – ›Unerzählt‹. 33 Texte u. 33 Radierungen (zus. mit Jan Peter Tripp). Mit einem Gedicht v. Hans Magnus Enzensberger u. einem Nachw. v. Andrea Köhler. Mchn./Wien 2003. – Campo Santo. Hg. Sven Meyer. Mchn./Wien 2003 (P., Ess.s). – Über das Land u. das Wasser. Ausgew. Gedichte 1964–2001. Hg. S. Meyer. Mchn. 2008. Literatur: W. G. S. Hg. Franz Loquai. Eggingen 1997. – Markus R. Weber: W. G. S. In: KLG. – Rüdiger Görner (Hg.): The Anatomist of Melancholy. Essays in Memory of W. G. S. Mchn. 2003. – Andrea Köhler: W. G. S. In: LGL. – Mark R. McCulloh: Understanding W. G. S. Columbia, SC 2003. – Heinz Ludwig Arnold (Hg.): W. G. S. Mchn. 2003 (Text + Kritik. H. 158). – Anne Fuchs: ›Die Schmerzensspuren der Geschichte‹. Zur Poetik der Erinnerung in W. G. S.s Prosa. Köln/Weimar/Wien 2004. – Jonathan J. Long u. Anne Whitehead (Hg.): W. G. S. – A Critical Companion. Edinburgh 2004. – Marcel Atze u. F. Loquai (Hg.): Sebald. Lektüren. Eggingen 2005. – Ruth Vogel-Klein (Hg.): W. G. S. Mémoire. Transferts. Images. Straßb. 2005. –
714 Claudia Öhlschläger: Beschädigtes Leben. Erzählte Risse. W. G. S.s poet. Ordnung des Unglücks. Freib. i. Br. u. a. 2006. – Scott Denham u. M. McCulloh (Hg.): W. G. S. History – Memory – Trauma. Bln./ New York 2006. – Michael Niehaus u. C. Öhlschläger (Hg.): W. G. S. Polit. Archäologie u. melanchol. Bastelei. Bln. 2006. – Deane Blackler: Reading W. G. S. Adventure and Disobedience. Rochester, NY 2007. – Jonathan J. Long: W. G. S. – Image, Archive, Modernity. Edinburgh 2007. – Lise Patt u. Christel Dillbohner (Hg.): Searching for S. Photography after W. G. S. Los Angeles 2007. – Thomas v. Steinaecker: Literar. Foto-Texte. Zur Funktion der Fotografien in den Texten Rolf Dieter Brinkmanns, Alexander Kluges u. W. G. S.s. Bielef. 2007. – A. Fuchs u. J. J. Long (Hg.): W. G. S. and the Writing of History. Würzb. 2007. – Ulrich v. Bülow u. a. (Hg.): Wandernde Schatten. W. G. S.s. Unterwelt. Marbach a. Neckar 2008. – Jo Catling (Hg.): Saturns Moons. A W. G. S. Handbook. Oxford 2008. – Irene Heidelberger-Leonard u. Mireille Tabah (Hg.): W. G. S. Intertextualität u. Topographie. Bln. 2008. – Jan Ceuppens: Vorbildhafte Trauer. Eggingen 2009. – Gerhard Fischer (Hg.): W. G. S. Schreiben ex patria. Amsterd. 2009. – Thomas Diecks: W. G. S. In: NDB. Harald Jakobs
Sebestyén, György, * 30.10.1930 Budapest, † 6.6.1990 Wien; Grabstätte: ebd., Zentralfriedhof. – Romancier, Essayist, Dramatiker, Hörspiel- u. Drehbuchautor, Herausgeber, Übersetzer. Als Kind einer bürgerl. Budapester Familie wuchs S. zweisprachig (Deutsch u. Ungarisch) auf. Während seines Studiums der Ethnologie in Budapest war er als Dramaturg u. Redakteur tätig. S., der dem Petöfi-Kreis angehörte, nahm 1956 aktiv am Ungarnaufstand teil u. floh nach dessen Scheitern nach Wien, wo er bei Herbert Eisenreich Aufnahme fand. Sein erster Roman, Die Türen schließen sich (Mchn. 1957), ist noch eine Übersetzung Lajos von Horváths aus dem Ungarischen. Doch S. entschied sich für Deutsch als Dichtersprache. 1963 erhielt er die österr. Staatsbürgerschaft. Sein essayistisches u. kulturpolit. Engagement galt einem radikalen Pluralismus u. der Verständigung zwischen Ost u. West. Die Wiederbelebung u. Fruchtbarmachung der kulturellen Vielfalt Mitteleuropas war auch das Anliegen der von ihm herausgege-
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benen Zeitschrift »Pannonia«. 1976 gründete (zwei) Sprachen u. Kulturen. Hg. Antal Mádl u. er den »Morgen« (S. war auch Chefredak- Peter Motzan. Mchn. 1999, S. 337–350. – Ingrid teur), dessen Mitarbeiter sich zum »Morgen- Schramm u. Anna Sebestyén (Hg.): G. S. Der doKreis« zusammenschlossen, um die humanen nauländ. Kentaur. Ein subjektives Porträt. Graz u. a. 2000. – Peter Marginter: Ein Ritter der Tafelu. kreativen Kräfte quer durch alle Parteien u. runde. Über den Erzähler u. ›Morgen‹-ChefredakKonfessionen zu verbinden. S.s Sprache u. teur G. S., der vor zehn Jahren starb. In: Morgen Denken sind von seiner magyarischen Her- (2000), H. 3, S. 22–26. – Peter Kampits u. Heide kunft geprägt. Ausgangspunkt seines Schrei- Breuer (Hg.): G. S. Aufsätze zu seinem Werk u. bens ist die sinnl. Erfahrung, deutlich z. B. Leben. Wien 2000. Elisabeth Schawerda / Red. bei den poetischen Reisebeschreibungen (Unterwegs im Burgenland. Eisenstadt 1973. Sebitz, Sebisch, Sebizius, Melchior, d.Ä., Burgenland, wo sich die Wege kreuzen. Ebd. * 1539 Falkenberg/Oberschlesien, † 19.6. 1977). Nach einer langen Periode vorwiegend 1625 Straßburg. – Publizist medizinijournalistischer Tätigkeit erschien der Roscher u. agrarischer Sachbücher. man Albino (Graz 1984) als Etüde für sein Hauptwerk, den 1986 in Graz erschienenen Der Nestor der Straßburger Ärztefamilie SeRoman Die Werke der Einsamkeit. S.s Themen bitz erwarb nach Studien in Leipzig (1561), kreisen um Eros u. Tod, Macht u. Moral, um Straßburg (1562), Paris (1563), Lyon (1565), die Problematik der Einsamkeit u. die Mobi- Montpellier (1566), Heidelberg (1568) u. Palisierung der Vitalität gegen das Morbide. dua (1569) in Valence die medizinische DokSein Wirken wurde durch zahlreiche Preise u. torwürde (1571). Seit 1574 wirkte er als Ehrungen gewürdigt. 1988 übernahm S. die Stadtarzt in Hagenau, seit 1576 in Straßburg. Als Stadtarzt, als Lehrer an der Academia, als Präsidentschaft des österr. P.E.N.-Clubs. Weitere Werke: Der Mann im Sattel oder ein Kanoniker am St. Thomasstift u. Dekan der langer Sonntag. Mchn. 1961 (R.). – Die Schule der Medizinischen Fakultät der Universität Verführung. Ebd. 1964 (R.). – Anatomie eines (1621) nahm S. im Straßburger GesundheitsKrieges. Blitzkrieg um Israel. Wien 1967 (Reise- wesen eine einflussreiche Stellung ein. Ausber.). – Thennberg oder Versuch einer Heimkehr. weislich seiner Korrespondenzen mit JoaMchn. 1969. Wien 2010. – Ungarn. Wien 1970 chim Camerarius d.Ä. u. d. J., Johann Crato (Reiseber.). – Berengar u. Berenice. Kunstmärchen. von Kraftheim, Jakob Monau, Johann Jakob Ebd. 1971. – Der Faun im Park. Ebd. 1972 (E.). – Wecker, Johann Schenck, Johann Sturm u. Agnes u. Johanna oder die Liebe zum Augenblick. Oswaldus Crollius, in deren Zuge auch Briefe Spektakel. Mchn. 1972. – Das Leben als schöne aus Basel von Theodor Zwinger, Peter MoKunst. Ein Stundenbuch. Ebd. 1975. Erw. Zürich 1988. – Das Ohr. Drei Hörsp.e. Wien/Mchn. 1976. – nau, Nicolaus Taurellus, Friedrich Sylburg, Parole Widerstand. Fortschritt oder Rückfall? Ei- Johann Nicolaus Stupanus, Felix Platter u. senstadt 1977 (Ess.). – Studien zur Lit. Ebd. 1980. – Caspar Bauhin oder aus Mömpelgard von Erzählungen. Graz 1989. – Wirths Roman. Lexikon Johann Bauhin eintrafen, gehörte S. zur hueines Lebens. Ein Fragment. Hg. Helga Blaschek- manistisch-gelehrten Medizinerelite, doch Hahn. Graz u. a. 1999. – Vorläufige Behausungen. rüttelte er an der Vorherrschaft des Latein. Gedanken zu Zeit, Leben u. Lit. Hg. Anna Sebe- Unter Mitarbeit von Johann Fischart u. Georg styén. Wien 2000. Mayer (Marius) gab S. aus dem Französischen Literatur: Helga Blaschek-Hahn: G. S. Leben u. L’agriculture et maison rustique von Charles EsWerk. Graz 1990. – Robert Weigel: Jüd. Aspekte im tienne u. Jean Liébault in einer dt. Fassung Leben G. S.s u. seinen ›Werken der Einsamkeit‹. In: heraus, zunächst erschienen als Siben (Straßb. MAL 27 (1994), H. 3–4, S. 83–93. – Renate Post1579, 1580), dann als XV. Bücher von dem hofen: Blicke ins Abseits. George Saiko u. G. S. In: Feldbaw (Straßb. 1587 u. ö.; mit J. Fischarts Ein Leben für Dichtung u. Freiheit. Hg. Karlheinz F. Auckenthaler u. a. Tüb. 1997, S. 157–173. – Neva Lob des Landlebens). Außerdem besorgte er Sˇlibar: G. S. Ein ›österr.-ungar. Kentaur‹. Von der unter Blick auf medizinische Nöte des ›GeSprachwerdung eines bilingualen Schriftstellers u. meinen Manns‹ eine vermehrte Ausgabe von seiner Stellung in einem tentativen Modell bi/ Hieronymus Bocks Kreütterbuch (Straßb. 1577 multilingualer Ästhetik. In: Schriftsteller zwischen [Reprint Mchn. 1964. 1985] u. ö.; mit Wie-
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dergabe von Bocks Teutscher Speißkammer) u. schuf eine dt. Übersetzung von François Roussets De partu caesareo (Straßb. 1583). Ausgabe: Ordnung, Fleiß u. Sparsamkeit. Texte u. Dokumente zur Entstehung der ›bürgerlichen Tugenden‹. Hg. Paul Münch. Mchn. 1984, Nr. 16, S. 100–102 (Textprobe aus ›Vom Feldbau‹. 1579. Vorrede). Literatur: Camillus Wendeler: Melchior Sebizius sen. ein Strassburger Stadtarzt des XVI Jahrhunderts. In: Alemannia 6 (1878), S. 178–199. – Julius Leopold Pagel: M. S. In: ADB. – Edouard Sitzmann: Dictionnaire de Biographie des Hommes Célèbres de L’Alsace. Bd. 2, Rixheim 1910, S. 761–763. – Karl Schottenloher: Die Widmungsvorrede im Buch des 16. Jh. Münster/Westf. 1953, Nr. 320. – Anton Schindling: Humanistische Hochschule u. Freie Reichsstadt. Gymnasium u. Akademie in Straßburg 1538–1621. Wiesb. 1977, s.v. – Gérard Rudolph: Quatre générations de médecins érudits strasbourgeois: les Sebiz (1539–1704); autorité et performance du galénisme; le livre de la virginité par Melchior Sebizius II (1578–1674). In: Questions d’histoire de la médecine. Actes du 113e congrès national des sociétés savantes (Strasbourg, 5–9 avril 1988). Paris 1991, S. 61–80. – René Burgun u. Jacques Héran: Les quatre Sebiz, ou l’enseignement d’une pratique non clinique. In: Histoire de la médecine à Strasbourg. Hg. J. Héran u. Jean-Marie Mantz. Straßb. 1997, S. 107–109. – Christian Wolff u. Jean-Pierre Kintz: M. S. In: NDBA, Bd. 7 (2000), S. 3603 f. – Ulrich Schmilewski: M. Sebisch aus Falkenberg O/S – Arzt u. Naturwissenschaftler in Straßburg. In: Oberschles. Dichter u. Gelehrte vom Humanismus bis zum Barock. Hg. Gerhard Kosellek. Bielef. 2000, S. 359–376. Joachim Telle
Sebrecht, Friedrich, * 2.9.1888 Leipzig, † 7.9.1956 Saarbrücken. – Dramatiker, Theaterkritiker. Nach dem Studium der Literatur u. Philosophie in Leipzig u. Würzburg, das er mit einer Dissertation über Berthold Auerbachs dramaturgische Studien (Würzb. 1912) abschloss, ging S. als Feuilletonredakteur zum »Leipziger Tageblatt«. Danach war er als Schauspieler u. Spielleiter an verschiedenen dt. Bühnen tätig (u. a. in Düsseldorf, Weimar, Essen, Wiesbaden). Fast alle seine stark vom Expressionismus geprägten Dramen entstanden in den Jahren
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1915–1920. S. bevorzugte bibl. Stoffe, aus denen er schwerblütige, heute sehr pathetisch wirkende Tragödien schuf, die in getragener, überhöhter Sprache nicht psycholog. Probleme, sondern einen Kampf der Ideen u. Weltanschauungen bieten sollten. Glück u. Leid werden als Schicksalsmächte vorgestellt, denen der Einzelne hilflos ausgeliefert ist u. lediglich im Dulden u. Ausharren begegnen kann. Von der Kritik beachtet wurden seinerzeit v. a. die Tragödien David (Lpz. 1918), Die Sünderin (ebd. 1918) u. Saul (ebd. 1919). Weitere Werke: (Übers. u. Hg.): Auguste Comte: Abh. über den Geist des Positivismus. Lpz. 1915. – Götzendienst. Ebd. 1918 (D.). – Don Juan u. Maria. Ebd. 1919 (Schausp.). – Kleist. Dt. Tragödie. Gera 1920. – Heinrich u. Friedrich. Mchn. 1938 (D.). Peter Krumme
Seckendorf (-Aberdar), (Franz Karl) Leo(pold) Frhr. von, * 2.12.1775 Ansbach, † 6.5.1809 Ebelsberg bei Linz. – Herausgeber, Lyriker. Der Spross fränk. Uradels u. Sohn eines ansbachischen Kammerherrn studierte in Göttingen u. Jena Jura. Nach seiner Anstellung als Regierungsassistent 1798 in Weimar fand S. rasch Zugang zur literar. Welt um Goethe, Herder, Schiller u. Wieland. Unter diesem Eindruck entstanden sein Florilegium Blüthen griechischer Dichter, das Neujahrs Taschenbuch von Weimar auf das Jahr 1801, das Goethes Festspiel Paläofron und Neoterpe enthielt, sowie ein Oster Taschenbuch von Weimar auf das Jahr 1801 (alle Weimar 1800) mit Gedichten von S. selbst sowie von Knebel, Herder, Rückert, Sonnenfels u. Friedrich Schlegel. Ausdruck seiner Freundschaft mit Bertuch ist ihre bis 1807 geführte Korrespondenz. Trotz seines Wechsels als Regierungsrat nach Stuttgart im Jahr 1802 kehrte S. häufiger nach Weimar zurück, wo er 1805 zur Vermählung des Erbprinzen Karl Friedrich mit der Großfürstin Marie Pawlowna erneut ein Taschenbuch für Weimar (ebd.) herausgab. Wegen angebl. Majestätsbeleidigung wurde er im selben Jahr vorübergehend auf der Festung Hohenasperg festgesetzt. Nachdem im Fränkischen seine sich durch eine Fülle an Volksliedern auszeichnenden »Musenalma-
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nache auf das Jahr 1807« bzw. »1808« (Regensb. 1806 u. 1807) entstanden waren, übersiedelte S. 1807 nach Wien. Hier gab er gemeinsam mit Joseph Ludwig Stoll den »Prometheus, eine Zeitschrift der höheren Bildung der Menschen« (6 H.e, 1808) heraus, mit Erstabdruck von Goethes Pandoras Wiederkunft u. weiteren illustren Mitarbeitern wie Heinrich Joseph Collin, Falk, den Brüdern Schlegel, Johann Heinrich Voß u. Wezel. 1809 als Hauptmann in die Wiener Landwehr eingetreten, wurde S. bei einem Gefecht bei Ebelsberg verwundet; bei dem Brand des Hauses, das als Verbandsplatz diente, kam S. ums Leben.
Seit 1808 hielt S. als Vortragsreisender unter dem Pseud. Patrik Peale in ganz Deutschland kunsthistor. Vorlesungen u. populäre Vorträge über Deklamation u. Mimik. 1811 wurde er in Göttingen zum Dr. phil. promoviert, wo er sich 1812 auch habilitierte. Nachdem sich seine Hoffnungen auf eine Berufung an die Universität Berlin oder Jena nicht erfüllt hatten (Brief an Friedrich Jacobs, 11.5.1813, Bayerische Staatsbibl. München), folgte er 1814 einem Ruf nach Braunschweig; seine Stellung als Professor am dortigen Carolinum gab er jedoch 1821 auf, um wieder nach Amerika zu gehen, wo er verarmte u. starb.
Literatur: Karl Bertuch: Andenken an L. v. S. In: Journal des Luxus u. der Moden, Dezemberheft (Weimar 1809), S. 785–789. – Kurt Skonietzki: Aus unveröffentl. Briefen C. Bertuchs an L. v. S. In: GoetheJb. 17 (1955), S. 302–308. – Una Pfau: Schöngeist u. Revoluzzer: Hölderlins Freund L. v. S. [Ms. Bayern2Radio]. Mchn. 2002. Andreas Meier / Red.
Weitere Werke: Kritik der Kunst. Gött. 1812. – Vorlesungen über die bildende Kunst des Altertums u. der neuern Zeit. Aarau 1814. – Beiträge zur Philosophie des Herzens. Bln. 1814. – Vorlesungen über Deklamation u. Mimik. Braunschw. 1815/16. – Grundzüge der philosoph. Politik. Lpz./Altenburg 1817. – Lehrsätze der Denkwiss. Braunschw. 1819. Literatur: Hamberger/Meusel 20, S. 400–402. – Goedeke 6, S. 461.15, S. 657. – Franz Brümmer: G. A. Frhr. v. S. In: ADB 33. Walter Hettche
Seckendorff, Seckendorf, Gustav Anton Frhr. von, auch: Patrik Peale, * 20.11.1775 Meuselwitz bei Altenburg, † Sommer 1823 Alexandria/Louisiana. – Volkswirt, Seckendorff (-Aberdar), (Karl Friedrich) Dramatiker. Siegmund Freiherr von, * 26.11.1744 Erlangen, † 26.4.1785 Ansbach. – KompoÜber S.s Jugend ist nichts bekannt. Nach dem nist, Dramatiker. Abschluss eines 1791 begonnenen Studiums in Leipzig, Freiburg i. Br. u. Wittenberg ging er 1796 nach Philadelphia/Pennsylvania, wo er Musik- u. Schauspiellehrer war. Dort vertiefte S. auch seine Kenntnisse in der Volkswirtschaft u. im Bergbau, die ihm nach seiner Rückkehr den Weg für eine Karriere im kursächs. Staatsdienst (1799–1807) ebneten. 1807 wurde er als Kammerdirektor in die Dienste des Herzogs Friedrich von SachsenHildburghausen berufen, aber seine volkswirtschaftl. Reformbestrebungen fanden keine Unterstützung, sodass er schon im Dez. 1807 den Dienst quittierte. Die dichterischen Arbeiten dieser Jahre – Scenen des höchsten Schmerzes (Lpz. 1801), Otto III. (Torgau 1805; Trauersp.), Feuer! Feuer! (Hildburghausen 1808; Posse) – sind die für das 18. u. frühe 19. Jh. typischen Produkte der Nebenstunden eines Staatsbeamten. –
Der Sohn eines »Oberdirektors der Hof-Kapell und Kammermusik« am Bayreuther Hof studierte in Erlangen kurze Zeit Jura u. schlug dann die Soldatenlaufbahn ein. 1761 trat er in kaiserl. Kriegsdienste u. nahm an den Feldzügen des Siebenjährigen Kriegs teil. 1765 wechselte er als Hauptmann in die Armee des sard. Königs Karl Emanuel I., die er 1774 als Oberstleutnant verließ, um nach Deutschland zurückzukehren. Im Sommer 1775 folgte er dem Angebot Herzog Carl Augusts, als Geheimer Legationsrat u. Kammerherr nach Weimar zu kommen. Hier war S. ein beliebtes Mitgl. des Musenhofs u. wusste durch Übersetzungen aus der span. u. portugies. Literatur (z. B. Gedichte; Teile der Lusiaden von Camões u. ein Fragment der Geschichte von Granada, beide im »Magazin der spanischen und portugiesischen Literatur«,
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1780 u. 1782) ebenso zu gefallen wie durch seine Kompositionen, u. a. zu Goethes Triumph der Empfindsamkeit, Jery und Bätely u. An den Mond, u. seine Beiträge zum »Tiefurter Journal«, die er gelegentlich mit »Bruder Lustig« signierte. Trotz der früheren Versprechen gab ihm Carl August keine angemessene Stelle am Weimarer Hof, sodass sich S. um eine neue Wirkungsstätte bemühte. Ende 1784 ergab sich durch die Vermittlung des Markgrafen von Ansbach-Bayreuth die Möglichkeit, als Gesandter an den Fürstenhöfen des fränk. Kreises preuß. Dienste zu nehmen. Kurz bevor S. diese Stelle antreten konnte, starb er an Lungentuberkulose. Weitere Werke: Volks- u. a. Lieder mit Begleitung des Fortepiano. Weimar 1779–82. – Superba. Ebd. 1779 (Oper). – Kalliste. Dessau 1782 (Trauersp.). – Das Rad des Schicksals, oder Die Gesch. des Tschoangsi. Ebd. 1783 (R.). Literatur: Georg Wolfgang Augustin Fikenscher: Gelehrtes Fürstentum Baireut [...]. Bd. 8, Erlangen 21801, S. 210. – Valentin Knab: K. S. v. S. Ein Beitr. zur Gesch. des dt. volkstüml. Liedes u. der Musik am Weimarer Hof im 18. Jh. Bonn 1912. – Effi Biedrzynski: Goethes Weimar. Zürich 31994, S. 405–410. Walter Hettche
Seckendorff, Veit Ludwig von, * 20.12. 1626 Herzogenaurach/Franken, † 18.12. 1692 Halle/Saale. – Verfasser staatstheoretischer, reformationsgeschichtlicher u. religiöser Schriften. Der einem alten fränk. Adelsgeschlecht entstammende S. erhielt, bedingt durch die Wirren des Dreißigjährigen Krieges, eine sehr wechselhafte Bildung u. Erziehung bei unterschiedl. Gelehrten in verschiedenen Territorien des Reiches. So unterrichteten ihn 1631–1634 Scholaren des Coburger Gymnasiums; er hatte dann Privatunterricht in Mühlhausen (1634–1636) bei dem Theologen u. späteren Prinzenerzieher Abraham Gießbach u. in Erfurt (1636–1639) u. a. bei D. Bartholomäus Elßner, Professor für oriental. Sprachen an der dortigen Universität u. Mitarbeiter am Ernestinischen Bibelwerk. S. wurde von Herzog Ernst I. von Sachsen-Gotha gefördert, der ihn gemeinsam mit den
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sächs. Prinzen in Coburg unterweisen ließ, besuchte 1641/42 das moderne Gymnasium Illustre in Gotha u. bezog im Okt. 1642 die Universität Straßburg. Zu den Studien wäre es beinahe nicht gekommen, da sein Vater, in schwed. Diensten stehend, am 3.2.1642 wegen Konspirierens mit den kaiserl. Truppen in Salzwedel öffentlich hingerichtet worden war u. Frau u. Kinder mittellos hinterließ. Doch eine von Königin Christine von Schweden der Mutter gewährte lebenslange Pension ermöglichte S. das Studium der Rechte, der Politik, der Geschichte u. der Philosophie. Hier kam er mit Johann Heinrich Boecler in Verbindung, der dem Neostoizismus Lipsius‘ nahestand u. mit dem er 1665/66 ein kirchengeschichtl. Lehrbuch für das Gothaer Gymnasium verfasste. Für seine späteren histor. Arbeiten war das systemat. Quellenstudium entscheidend, das er in Straßburg kennen lernte. Ende 1644 zwang wiederum der Krieg S. dazu, seine Studien zu beenden. Für die folgenden zwei Jahre trat er in die Dienste des Landgrafen Georg II. von HessenDarmstadt u. begleitete als Hofjunker die dort erzogenen Prinzen an die Universität Marburg. Sein Entschluss, in die neu aufgestellte Leibgarde des Landgrafen einzutreten, wurde dadurch verhindert, dass Herzog Ernst I. von Sachsen-Gotha ihn, zunächst gegen S.s Willen, in seine Staatsdienste aufnahm. In den folgenden 18 Jahren am gothaischen Hof lief S.s Karriere mit seiner schrifttellerischen Entwicklung parallel. Herzog Ernst der Fromme war bestrebt, einen mustergültigen Staat aufzubauen u. veranlasste S., Schriften zur Armenfürsorge (Hospitalien) u. Frömmigkeit (er schrieb das Kirchenlied Christliche Gedanken vom hoch-heiligsten Abendmahl; Schuldigkeit und Berechtigung der Kirchenzucht) zu verfassen; zudem ermunterte er ihn zur Abfassung von Lehrbüchern (Christliche Bibelschule; Compendium historiae ecclesiasticae [...]. Zus. mit Johannes Christoph Artopaeus u. Johann Heinrich Boecler. 2 Bde., Gotha 1665/66). Seit 1654 gehörte S. unter dem Namen »der Hülfreiche« der Fruchtbringenden Gesellschaft an, die sich um die Pflege der dt. Sprache bemühte. Als Geheimer Hof- u. Kammerrat verfasste S. 1656 den Teutschen Fürsten-Stat (Ffm./Lpz. 1656. Neudr. Aalen
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1972. Glashütten 1976), »das zur Zeit des Großen Kurfürsten beliebteste Handbuch der deutschen Politik« (Ranke). Obwohl das Werk deutlich gothaische Verhältnisse beschreibt, liefert es doch gewissermaßen das idealtypische Bild des dt. Territorialstaats. Modellhaft wird das »gute Regiment« in einem solchen Staat vorgeführt. Dies umfasst für S. nicht allein Fragen der Verfassung u. Verwaltung, sondern überhaupt Fragen der Wirtschafts- u. Sozialpolitik im heutigen Sinne. Der Fürstenstaat S.s ist ein »Policey«-Staat: Die von ihm in Sachsen-Gotha erlebte u. mitgestaltete Organisation umfassender Daseinsvorsorge u. -reglementierung ist zgl. eine moralische Anstalt, aus der gute Christenmenschen hervorgehen sollen, wie in seinen frühen Abhandlungen bereits beschrieben. Der dt. Fürstenstaat sollte »nicht allein gehorsame, sondern auch glückliche Unterthanen« hervorbringen. S., der seit 1657 Richter am Jenaer Hofgericht u. seit 1663 Präsident der Regierung u. Kammer des Herzogs u. damit der bestbezahlte Beamte in Sachsen-Gotha war, entschloss sich wegen der menschl. Unzulänglichkeiten seines Dienstherrn, der ihn mit ermüdenden Routinearbeiten belastete, statt ihm verantwortungsvollere Aufgaben zu übertragen, wegen Misstrauen des Herzogs gegen alle seine Amtsträger u. wegen übermäßiger Sparsamkeit der Hofhaltung, 1664 seine Stellung unter Herzog Ernst I. aufzugeben. Er wechselte nach Sachsen-Zeitz, wo er das ihm in Gotha versagt gebliebene Amt des Kanzlers u. des Konsistorialpräsidenten erhielt. Seit 1675 zusätzlich Landschaftsdirektor von Gotha, blieb er bis zum Tod Herzogs Moritz von Sachsen-Zeitz 1681 administrativ u. politisch tätig. Aus dieser Zeit stammen Lehrpläne zur Prinzenerziehung, ein Entwurf für ein Predigerseminar sowie Gutachten über Katechismusschriften eines Geistlichen. Der Rückzug auf sein Schloss in Meuselwitz 1682 bedeutete keinen Ruhestand, sondern eine Zeit ausgedehnter Korrespondenzen (z.B. mit Johann Benedikt Carpzov d.Ä., Gottfried Wilhelm Leibniz, Otto Mencke, Philipp Jacob Spener) u. reicher schriftstellerischer Tätigkeit. Seit dem zweiten Band der »Acta Eruditorum« gehörte er
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zu den Rezensenten dieser frühen wissenschaftl. Zeitschrift (zwischen 1683 u. 1692 besprach S. insg. 235 meist frz. Werke zu Geschichte, Philosophie u. Theologie). War in S.s frühem Staatshandbuch noch die polit. Praxis vorherrschend, die den Zustand in Gotha beschrieb, so bedeutete der 1686 erschienene, von Leibniz u. von Pascals Pensées sur la religion (1670) inspirierte ChristenStat (Lpz.) eine Weiterentwicklung. S. fordert, dass das Christentum Maßstab des guten Lebens u. Regierens zu sein habe, dies bedeutet, dass neben dem Privatleben der Bürger auch das Handeln des Regenten der christl. Lebensführung entsprechen sollte, der sich zu diesem Zweck theolog. Grundkenntnisse anzueignen habe. S. fordert nichts weniger, als dass der Landesherr persönliches Christentum ausüben müsse, wenn er die iura episcopalia rechtmäßig ausüben wolle. Der dritte Teil des Buches behandelt die Reform des Kirchenwesens, in deren Mittelpunkt die Erweckung eines prakt. Christentums stehen müsse. Zudem übt er Kritik an der bestehenden Kirche, die unter der Herrschaft der Pastoren u. dem Zwang der Konsistorien stehe. Nicht eine obrigkeitlich überwachte u. angeordnete Frömmigkeit sollte es geben, sondern Toleranz u. freiwillig gelebtes, prakt. Christentum. 1686 erschienen auch S.s Teutsche Reden (Lpz. Erw. u. durchges. Neuausg. Lpz. 1691. Neudr. Tüb. 2006), in denen er anhand einiger Beispiele seiner zu den Jahresanfängen u. zu Ehrungen an den verschiedenen Fürstenhöfen gehaltenenen Reden in den Gebrauch rhethorischer Mittel einweist. Wie wir auch aus seiner Korrespondenz wissen, stand S. der barocken Floskelsprache ablehnend gegenüber, so schreibt er auch an Tobias Pfanner, seinen späteren Mitarbeiter: »Wann es ihm nicht zu wieder, will ich besonders in re literaria, lateinisch und ohne alle complimenten, philosophica libertate, schreiben« (15.12.1687, FLB Gotha Chart. A420, Bl. 17r18r). Als das Hauptwerk seines Lebensabends muss der Commentarius Historicus et Apologeticus de Lutheranismo [...] (Ffm./Lpz. 1692) gelten. Es handelt sich hierbei um die Widerlegung der 1680 erschienenen Histoire du Lutheranisme des frz. Jesuiten Louis Maimbourg.
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S. übersetzte das Buch ins Lateinische u. widerlegte dann Stück für Stück, was dort verfälschend über die Reformation Martin Luthers geschrieben stand. Dafür wertete er in zehnjähriger Fleißarbeit 400 Quellenbände u. Literatur zur Reformation aus, die er sich durch ein Fuhrunternehmen bringen ließ. Heraus kam viel mehr als eine Widerlegung, nämlich eine dreibändige Reformationsgeschichte in Folio, die alle wichtigen Quellen streng chronologisch zu den Jahren 1517 bis 1546 versammelt. Das Besondere an diesem Werk ist, dass es sich jeder Polemik enthält u. nach der krit. Methode, die er bei Johann Heinrich Boecler in Straßburg studiert hatte, ausschließlich die Quellen sprechen lässt. Manches Schriftstück zur Reformation ist über die Jahrhunderte im Original verloren gegangen, hat aber in S.s Commentarius überdauert. Weitere Werke: Entwurff oder Versuch / Von dem allgemeinen oder natürl. Recht / nach Anleitung der Bücher Hugonis Grotii u. anderer dergleichen Autoren. In: Teutsche Reden. Lpz. 1686. – Ber. u. Erinnerung / auff eine neulich im Druck Lateinisch u. Deutsch ausgestreute Schrifft / Im Latein IMAGO PIETISMI (...). [Bln.] 1692. – Polit. u. Moral. Discurse über M. Annaei Lucani dreyhundert Sprüche u. dessen Pharsalia. Lpz. 1695. – Christ-Fürstlichster Lebens-Lauff / des [...] Fürsten [...] Herrn Ernstens (zus. mit Christian Friedrich Prüschenk v. Lindenhofen zu Ichtershausen). Gotha 1675. Literatur: Georg Neumark: Der Neu-Sprosende Palmbaum oder ausführl. Bericht v. der Hochlöbl. Fruchtbringenden Gesell. Nürnb. 1668. – Theodor Kolde: V. L. v. S. In: ADB. – Friedrich Gundolf: S.s Lucan. Heidelb. 1930. – Lewis W. Spitz sen.: A Critical Evaluation of V. L. v. S as a Church Historian. Diss. phil. Univ. of Chicago 1943. Veröffentlichungen daraus in: Concordia Theological Monthly 16 (1945), S. 672–684, 744–757; ebd. 20 (1949), S. 446–450; The Journal of Religion 1945, S. 33–44. – Klaus Bulling: Bibliogr. zur Fruchtbringenden Gesellsch. In: Marginalien. Bl. der Pirckheimer Gesellsch., H. 20 (1965), S. 3–110. – Dietrich Blaufuß: V. L. v. S.s Commentarius de Lutheranismo (1692) u. der Beitr. des Augsburger Seniors Gottlieb Spizel. In: Ztschr. für bayer. Kirchengesch. 39 (1970), S. 138–164, 269–276 (dort auch alle Vorkriegslit.). – Gustav Klemens Schmelzeisen: Der verfassungsrechtl. Grundriß in V. L. v. S.s ›Teutschem Fürstenstaat‹.
720 In: Ztschr. der Savigny-Stiftung für Rechtsgesch. Germanistische Abt. 87 (1970), S. 190–233. – D. Blaufuß: Der fränk. Edelmann V. L. v. S. (1626–1692) als Reformationshistoriker. In: Jb. für Fränk. Landesforsch. 36 (1976), S. 81–91. – Michael Stolleis: V. L. v. S. In: Staatsdenker im 17. u. 18. Jh. Hg. ders. Ffm. 1977. 2., erw. Aufl. 1987, S. 148–171. – Klaus Garber: Zur Statuskonkurrenz [...] im theoret. Schrifttum des 17. Jh. V. L. v. S.s ›Teutscher Fürstenstaat‹ [...]. In: Daphnis 11 (1982), S. 115–143. – M. Stolleis: Reichspublizistik u. Polizeywiss. 1600–1800. Mchn. 1988, S. 351–354. – Hans-Jörg Ruge: Vom Bibliothekar zum Geheimen Rat. Aspekte der berufl. Laufbahn V. L. v. S.s [...] in den Jahren seiner Anstellung im sachsen-gothaischen Staatsdienst (1646–1664). Abschlußarbeit Archivwiss. (masch.). Bln./Lpz. 1992. – Roswitha Jacobsen: Polyhistor, Politiker u. polit. Schriftsteller. Zum 300. Todestag v. V. L. v. S. In: Palmbaum 1 (1993) 1, S. 106–108. – Detlef Ignasiak: Das Politik- u. Religionsverständnis Hzg. Ernsts des Frommen v. Sachsen-Gotha-Altenburg (1640–1675) im Spiegel kulturkrit. Schr.en v. V. L. v. S. u. Ahasverus Fritsch. In: Religion u. Religiosität im Zeitalter des Barock. Tl. 1. Hg. Dieter Breuer. Wiesb. 1995, S. 153–161. – Detlef Döring: Untersuchungen zur Entstehung des ›Christenstaats‹ v. V. L. v. S. In: Europa in der frühen Neuzeit. FS Günther Mühlpfordt. Hg. Erich Donnert. Bd. 1: Vormoderne. Köln/Weimar/Wien 1997, S. 477–500. – Myriam Franke: Ziele u. Mittel fürstl. Erziehung in der frühen Neuzeit unter bes. Berücksichtigung der mus. Aspekte, am Beispiel der Fürstenspiegel v. Erasmus v. Rotterdam, Reinhard Lorich, Christian Hohburg u. V. L. v. S. Magisterarbeit Marburg 1997. – Rüdiger Mack: Christl. toleranter Absolutismus: V. L. v. S. u. sein Schüler Graf Friedrich Ernst zu Solms-Laubach. In: Mitt.en des Oberhess. Geschichtsvereins N. F. 82 (1997), S. 3–135. – Jens Wilhelm Stahlschmidt: Policey u. Fürstenstaat. Die gothaische Policeygesetzgebung unter Hzg. Ernst dem Frommen im Spiegel der verfassungsrechtl. u. policeywiss. Anschauungen V. L. v. S.s. Diss. Univ. Bochum 1999. – Veronika Albrecht-Birkner: Reformation des Lebens. Die Reformen Hzg. Ernsts des Frommen v. Sachsen-Gotha [...]. Lpz. 2002. – R. Jacobsen u. Hans-Jörg Ruge (Hg.): Ernst der Fromme (1601–1675). Staatsmann u. Reformer. Jena 2002 (darin Beiträge zu S.: R. Jacobsen, S. 95–120; Solveig Strauch, S. 127–135). – Heiner Lück u. Stefan Oehmig: V. L. v. S. (1626–1692). Zur Überlieferung seiner gelehrten Korrespondenz. In: Die Hallesche Schule des Naturrechts. Hg. Hinrich Rüping. Ffm./Bln. 2002, S. 29–51. – Gerhard Menk: Der dt. Territorialstaat in V. L. v. S.s Werk u. Wirken. In: Dynastie u.
Sedlmayr
721 Herrschaftssicherung in der frühen Neuzeit [...]. Hg. Heide Wunder. Bln. 2002, S. 55–92. – D. Blaufuß: Zum Bild der Reformation im Pietismus. Philipp Jacob Spener u. V. L. v. S. In: Ders.: Korrespondierender Pietismus. Lpz. 2003, S. 77–110. – S. Strauch: V. L. v. S. (1626–1692). Reformationsgeschichtsschreibung, Reformation des Lebens, Selbstbestimmung zwischen luth. Orthodoxie, Pietismus u. Frühaufklärung. Münster 2005. – Tagungsbeiträge zu S.s Fürstenstaat in: European Journal of Law and Economics 19 (2005) 3 (Jürgen G. Backhaus, Erik S. Reinert, Günther K. Chaloupek, Andreas Klinger, Helge Peukert, Sophus A. Reinert). – Gerhard Rechter: Die Seckendorff. Quellen u. Studien zur Genealogie u. Besitzgesch. Bd. 4.3: Die Linien Abenberg, Obersteinbach u. Gutend. Neustadt/Aisch 2008. – Jürgen Rainer Wolf: V. L. v. S.s Vorschläge zu Organisationsverbesserungen u. Kostenreduzierungen des HessenDarmstädt. Finanzwesens 1664 [...]. In: FS Volker Wahl. Hg. Katrin Berger. Rudolstadt 2008, S. 185–201. – D. Döring: V. L. v. S. In: NDB. Bernd Roeck / Solveig Strauch
(Ephemeris Christiana piarum precum in singulos dies hebdomadae distributarum. Stettin 1583); darin finden sich auch poetische Ergebnisse von S.’ Tätigkeit als Ausleger der Psalmenparaphrasen George Buchanans. Eine Auswahl von Gedichten S.’, darunter eine Querela Germaniae de bellis civilibus von 1553, nahm Gruter in seine Delitiae poetarum Germanorum (Bd. 6, Ffm. 1612) auf. Weitere Werke: Ecclesiastes Salomonis. Basel 1556. – Amos propheta. Ebd. 1558. – Hymnus de Spiritu Sancto. o. O. u. J. – (Zahlreiche Kasualgedichte). Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: Theodor Pyl: J. S. In: ADB (Lit.). – Siegfried Treichel: Leben u. Werke des J. S. Diss. Greifsw. 1928. – Ellinger 2, S. 278–283. – Hermann Wiegand: J. S. als nlat. Dichter. In: Pommern in der Frühen Neuzeit. Hg. Wilhelm Kühlmann u. Horst Langer. Tüb. 1994, S. 125–144. – Flood, Poets Laureate, Bd. 4, S. 1927–1930. Hermann Wiegand
Seckerwitz, Johannes, * um 1530 Breslau, Sedlmayr, Hans, * 18.1.1896 Hornstein/ † 6.1.1583 Greifswald. – Neulateinischer Burgenland, † 9.7.1984 Salzburg. – Dichter. Kunsthistoriker. Nach Studien in Wittenberg war S. 1556–1558 Professor der Poetik u. Geschichte in Tübingen u. Günstling des württembergischen Herzogs, wurde aber nach einem Angriff auf einen Studenten zum Rücktritt gezwungen. Schwierige Jahre, in denen er u. a. Gönner in Breslau u. am Kaiserhof zu gewinnen suchte, folgten. 1574 wurde er Professor der Poetik an der Universität Greifswald. S. entwickelte sich dort zum wichtigsten nlat. Dichter Pommerns. Neben Kasualgedichten veröffentlichte er nach den Daneidum libri IV (Stettin 1581) mit Huldigungsgedichten an Frederik II. von Dänemark, dän. Staatsmänner u. Tycho Brahe seine Pomeraneidum libri quinque (Greifsw. 1582), die in Hexametern u. Distichen pommersche Fürsten u. Angehörige der Ritterschaft feiern. Höhepunkt ist eine epische Schilderung der Pilgerfahrt Herzog Bogislaws X. ins Heilige Land von 1497. Das humanistische Städtelob pflegt eine Beschreibung der Städte u. Klöster Pommerns. Im Alter entstand eine Versifizierung von Gebeten des Johannes Avenarius
Der Sohn eines Gutsverwalters u. späteren Hochschullehrers studierte in Wien Architektur u. Kunstgeschichte. Nach Promotion 1923 u. Habilitation 1933 erhielt er dort 1936 ein Ordinariat, das er wegen seiner Parteinahme für den Nationalsozialismus 1945 aufgeben musste. Von 1951 bis zu seiner Emeritierung 1964 lehrte S. in München; anschließend leitete er den Aufbau des Kunsthistorischen Instituts der Universität Salzburg u. engagierte sich als Denkmalpfleger. Schwerpunkte von S.s kunstwissenschaftl. Arbeiten waren die Architektur des Barock (Die Architektur Borrominis. Bln. 1930. Erw. Mchn. 21939. Neudr. Hildesh. 1973), der Gotik (Die Entstehung der Kathedrale. Zürich 1950. Erw. Graz 1976. 21988) u. die moderne bildende Kunst. S. ist einer der Begründer der kunstwissenschaftl. Strukturanalyse, die er in Abgrenzung zur Stilanalyse weiterentwickelte. Das einzelne Kunstwerk wird nicht (nur u. in erster Linie) als Ausdruck eines ihm übergeordneten ›Stils‹, sondern als eine autonome, von immanenter Gesetzmäßigkeit be-
Seeger
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herrschte ›Gestalt‹ betrachtet. Diese Methode S. 142–216. – Lida v. Mengden: Vermeers ›De hat S. auch auf ganze Epochen angewendet. Schilderconst‹ in den Interpr.en v. Kurt Badt u. H. Über die Kunstwissenschaft hinaus erregte S. Probleme der Interpr. Ffm. 1984. – H. S. Aufsehen mit seinem kulturpessimisti- S. 1896–1984. Verz. seiner Schr.en. Mit dem Nachruf v. Gerhard Schmidt. Hg. Friedrich Piel. schen Beitrag zur Diagnose der Moderne, Salzb. 1996. – Peter H. Feist: H. S. In: MKunsthistL. Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und – Hans H. Aurenhammer: H. S. In: NDB. 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit Peter Langemeyer (Salzb. 1948. 101983). Aus christlich-konservativer u. antiaufklärerischer Perspektive be- Seeger, Bernhard, * 6.10.1927 Roßlau/ schrieb er – beeinflusst von Franz von Baader Elbe, † 14.3.1999 Potsdam. – Erzähler, – die Entstehung der modernen Kunst u. Lyriker, Hör- u. Fernsehspielautor. Kultur seit etwa 1760 als einen Verfallsprozess traditioneller Wert- u. Ordnungsvorstel- Der Sohn eines Schlossers arbeitete nach der lungen. Die zum Schlagwort gewordene Ti- Entlassung aus der sowjetischen Kriegsgetelformel fasst charakterist. Symptome der fangenschaft sieben Jahre als Neulehrer in modernen bildenden Kunst zusammen – die einem märk. Dorf. In der DDR wurde S. »Zerspaltung der Künste«, die »Neigung ins durch seine Fernsehspiele populär. Zentrales Extreme« u. die »Herabsetzung des Men- Thema sind Aufbauprobleme der sozialistischen« –, bezieht sich aber auch auf deren schen Gesellschaft, v. a. die Kollektivierung kulturelle Grundlage, die S. im »Streben nach der Landwirtschaft. Als bedeutender Beitrag ›Autonomie des Menschen‹« zu finden zu dieser Thematik wurde in der DDR-Litemeinte. Rettung verheiße nur eine Umorien- raturgeschichtsschreibung sein Roman Herb15 tierung der Werte, die vom Glauben an Gott strauch (Halle 1961. 1985; Heinrich-MannPreis 1962) bewertet u. in Handlungsaufbau u. die potentielle Gottesebenbildlichkeit des u. Figurengestaltung mit Scholochows NeuMenschen getragen werde. land unterm Pflug verglichen. S.s Hörspiel S.s viel gelesene u. einflussreiche UntersuHannes Trostberg (1966. 1966 auch als dreiteichung, die, wie ihre Fortsetzung Die Revolution der modernen Kunst (Hbg. 1955. 101961. liges Fernsehspiel) schildert die Entwicklung Neudr. Köln 1985), in mehrere Sprachen eines Stellmachers zur sozialistischen Fühübersetzt wurde, war in der Nachkriegszeit rungskraft. Der autobiogr. Roman Vater Batti singt wieder (ebd. 1972) erzählt vom GeneAusgangspunkt heftiger Polemiken. sungsprozess eines Schriftstellers nach einem Weitere Werke: Fischer v. Erlach der Ältere. Verkehrsunfall u. der persönl. u. polit. NeuMchn. 1925. – Österr. Barockarchitektur 1690–1740. Wien 1930. – Größe u. Elend des orientierung. Menschen. Michelangelo, Rembrandt, Daumier. Ebd. 1948. – Johann Bernhard Fischer v. Erlach. Ebd. 1956. Erw. 1976. – Kunst u. Wahrheit. Zur Theorie u. Methode der Kunstgesch. Hbg. 1958. Erw. Mittenwald 1978. – Epochen u. Werke. Ges. Schr.en zur Kunstgesch. 2 Bde., Wien 1959/60. 3 Bde., Mittenwald 1977–82. – Das goldene Zeitalter. Eine Kindheit. Mchn. 1986 (Autobiogr.). Literatur: Hans Gerhard Evers (Hg.): Darmstädter Gespräch. Das Menschenbild in unserer Zeit. Darmst. o. J. [1951]. – Kurt Badt: Modell u. Maler v. Jan Vermeer. Probleme der Interpretation. Eine Streitschr. gegen H. S. Köln 1961. – FS H. S. Mchn. 1962 (mit Schriftenverz.). – Heinz Quitzsch: Verlust der Kunstwiss.? Eine krit. Untersuchung der Kunsttheorie S.s. Lpz. 1963. – Lorenz Dittmann: Stil – Symbol – Struktur. Studien zu Kategorien der Kunstgesch. Mchn. 1967, bes.
Weitere Werke: Eisenhüttenkombinat Ost. Bln./DDR 1953. – Millionenreich u. Hellerstück. Ebd. 1956 (L.). – Wo der Habicht schießt. Halle 1957 (E.). – Sturm aus Bambushütten. Bln./DDR 1960 (Vietnamreportage). – Wie Jasgulla zu seinem Recht kam. Lpz. 1960 (E.). – Hannes Trostberg. Die Erben des Manifests. Halle 1968 (Fernsehsp.e). – Menschenwege. Ebd. 1974 (R.). – Der Harmonikaspieler. Ebd. 1981. Bln. 1988 (R.). – Hörspiele: Der Auftrag. 1958. – Paradies im Krähenwinkel. In: Junge Kunst, H. 12 (1960), S. 23–32. – Unterm Wind der Jahre. 1962. – Rauhreif. 1963. – Fünfzig Nelken. 1963. Literatur: Hans Jürgen Geerdts: B. S.: Der Harmonikaspieler. In: WB 28 (1982), H. 8, S. 119–126. Helmut Blazek / Red.
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Seeger, Ludwig (Wilhelm Friedrich), auch: L. S. Rubens, * 30.10.1810 Wildbad/ Württemberg, † 22.3.1864 Stuttgart. – Lyriker, Kritiker, Journalist, Übersetzer.
Der Seele Kranz
König Johann, Hamlet u. Timon (in Dingelstedts Gesamtausgabe, 1867/68). Weiteres Werk: (Hg.): Dt. Dichterbuch aus Schwaben. Stgt. 1864 (mit eigenen Beiträgen). Literatur: Hermann Fischer: Beiträge zur Lit-
S., Sohn eines Reallehrers, studierte seit 1828 teraturgesch. Schwabens. 2. Reihe, Tüb. 1899, Theologie u. Philologie in Tübingen. Nach S. 170–216. – Rüdiger Krüger: L. S.: Poet – Publikurzer Vikariatszeit u. Hauslehrertätigkeit zist – Politiker. Calw 1993. – Ders.: ›Elastisch, nur wurde er 1838 Professor der alten Sprachen elastisch!‹ L. S. im Wildbad [Ausstellungskat.]. Bad am Realgymnasium u. Dozent der Universität Wildbad 1994. – Frank Raberg (Bearb.): Biogr. Bern. Er schrieb Gedichte u. Kritiken u. a. für Hdb. der württemberg. Landtagsabgeordneten Herweghs 21 Bogen aus der Schweiz (Zürich 1815–1933. Stgt 2001, S. 860. Richard Heckner / Red. 1843) u. für Anthologien Ruges. Als Lehrer u. Organisator wirkte er im geheimbündlerischen Berner jungdt. Arbeiterbildungsverein Der Seele Kranz. – Allegorisches Lehrgemit; der im Sinne der Hegel’schen Linken u. dicht des 13. Jh. des Jungen Deutschland denkende, republi- Das wohl in der zweiten Hälfte des 13. Jh. in kanisch u. liberal gesinnte S. zeigte sich so bis monast. Kreisen entstandene Gedicht ist in zu deren Scheitern den nach 1832 exilierten seiner urspr. Form nicht greifbar, da die acht dt. Frühsozialisten u. Frühkommunisten erhaltenen Handschriften z.T. sehr unterverbunden. schiedl. Versionen überliefern. Eine zuverMit Der Sohn der Zeit. Freie Dichtung (Zürich lässige Ausgabe fehlt. Bernt vermutet sogar, 1843) veröffentlichte S. von Goethe beein- dass es sich um eine Kette von urspr. drei flusste Natur- u. Liebeslyrik sowie zeittypisch verschiedenen Gedichten handelt. kämpferische, auch technikkrit. u. antikleriAm Anfang verspricht der (vermutlich kale Gedichte mit oft satir., oft epigrammat. mitteldt.) Dichter, über die richtigen Mittel Zügen (stark erweitert u. d. T. Gesammelte zur Erreichung des Himmels zu unterrichten. Dichtungen. 2 Bde., Stgt. 1863/64). S. u. Georg Zunächst geht er auf Reue, Beichte u. Buße Büchners vormaliger Mitstreiter August Be- ein. Erst im – übrigens in allen Handschriften cker gaben 1844 anonym in Bern eigene Po- überlieferten – Mittelteil greift er zu der in litisch-soziale Gedichte von Heinz und Kunz her- der Überschrift genannten Kranzallegorie. Er aus; hier findet sich auch mit Not bricht Eisen beschreibt, wie man durch den Erwerb von zu das einzige noch bekannte Gedicht S.s. einem Kranz geflochtenen Tugendblumen 1848 kehrte S., motiviert durch die Revo- das himml. Ziel zu erreichen vermag. Dabei lution, in die Heimat zurück u. wurde, da er dient die Kranzallegorie als reines Textglieein Lehramt nicht erhielt, Redakteur der derungsmittel, um die Tugenden nachein»Ulmer Schnellpost«, bis er 1850 zu einer ander zu behandeln. Im dritten Teil werden sechswöchigen Haft auf dem Asperg wegen die himml. Freuden in der Gegenwart Christi Pressvergehens verurteilt wurde. Danach u. Marias gepriesen. In zwei Handschriften schrieb er für dt. u. amerikan. Zeitungen. Seit schließt ein Mariengebet das Werk ab. 1850 war S. wiederholt für die württemberDa die Teile in sich geschlossen sind, gische Fortschrittspartei Abgeordneter im konnten einzelne Partien relativ problemlos Landtag. erweitert, gekürzt, umformuliert oder in anS. übersetzte die als Vorläufer des politi- dere Werkzusammenhänge übernommen schen Chansons geltenden Lieder Bérangers (3 werden. Das Gedicht diente als Muster für Bde., Bern 1839–41), Victor Hugos Sämmtliche zwei weitere, thematisch ähnliche allegor. poetische Werke (3 Bde., Stgt. 1860–62), Aris- Verswerke, den Göttlichen Baumgarten u. das tophanes Werke in einer kongenialen, bis sog. Krautgartengedicht. heute gedruckten Form (3 Bde., Ffm. Ausgaben: Der S. K. Hg. Gustav Milchsack. In: 1845–48. Neue Ausg. mit Einf. von Bernhard PBB 5 (1878), S. 548–569. – Alois Bernt: Altdt. Zimmermann. Mannh. 2010) u. Shakespeares Findlinge aus Böhmen. Wien 1943, S. 85–107.
Seelen Literatur: Karl Bartsch: Beiträge zur Quellenkunde der altdt. Lit. Straßb. 1886, S. 246–262. – Dietrich Schmidtke: Studien zur dingallegor. Erbauungslit. des SpätMA. Tüb. 1982, S. 82, 107 f., 204, 286. – Ingeborg Glier: Kleinere Reimpaargedichte u. verwandte Großformen. In: De Boor/Newald 3/2 (1987), S. 106 f. – Werner Fechter: Der S. K. In: VL u. VL (Nachträge u. Korekturen). Werner Williams-Krapp / Red.
Seelen, Johann Heinrich von, * 8.8.1688 Assel/Land Kehdingen, † 21.10.1762 Flensburg. – Schulmann, Polyhistor.
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weisende Rede De vanitate divinationum (Stade 1709), die Erste Nachricht von dem gelehrten Lübeckischen Wunderkinde Christian Heinrich Heineke (Lübeck 1724) u. sein Kommentar zu einem niederdt. überlieferten Psalterium (De codice rarissimo Psalterii. Ebd. 1734). Weitere Werke: De Rectoratu Ioannis Henrici a Seelen. In: Ders.: Athenae Lubecenses. Bd. 4, Lübeck 1722, S. 544–588. – Herausgeber: Deliciae epistolicae sive centuria epistolarum, memorabilia, tum alia, tum in primis theologica ac historico-ecclesiastica complectentium. Ex autographis edidit, praefatione [...], summariis, notis et indicibus instruxit Io. Henr. a Seelen. Lübeck/Ratzeburg 1729. Internet-Ed.: CAMENA (Abt. CERA).
S. besuchte ab 1704 das Gymnasium in Stade, das er, entscheidend geprägt durch seinen Literatur: Johann Daniel Overbeck: Memoriae Rektor Michael Richey, erst 1711 verließ, um vitae viri Ioannis Henrici a Seelen. Lübeck 1762. – in Wittenberg Philosophie (bei Johann Joachim Henrich Ostermeier: Denckmaal der EhrChristoph Wolf), Geschichte, Theologie, Ori- furcht, Liebe u. Hochachtung, welches [...] J. H. v. S. entalistik u. Naturwissenschaften zu studie- zu seiner Ruhestätte gebracht wurde. Ebd. 1762. – ren. 1713 brach er das Studium ab, wurde Heinrich Doering: Die gelehrten Theologen [...]. Konrektor am Gymnasium in Flensburg, Neustadt/Orla 1835, S. 147–167 (Werkverz.). – übernahm 1715 das Rektorat in Stade u. Carsten Erich Carstens: J. H. S. In: ADB. – Theodor wurde 1718 Rektor des Lübecker Katharine- Wotschke: Fünf Briefe v. S.s an Löscher. In: Mitt.en ums. Am 19.8.1725 immatrikulierte sich S. des Vereins für Lübeckische Gesch. u. Altertumskunde 15 (1929), S. 1–18. – Hans-Bernd Spies: J. H. an der Rostocker Universität, disputierte v. S. In: BLSHL, Bd. 6, S. 269–271. – C. F. Weich(nach Examina am 21. u. 24. Aug.) am 29. manns Poesie der Nieder-Sachsen (1721–38). dieses Monats zum Erwerb des theolog. Nachweise u. Register. Hg. Christoph Perels u. a. Bakkalaureats De Iona aenigmatico u. am 4. Wolfenb. 1983, S. 162. – Estermann/Bürger, Tl. 2, Sept. De idea ethnicismi, um zwei Tage später S. 1281 f. – Kornél Magvas: J. H. v. S. In: MGG, in der Marienkirche zum Lizentiaten der Personenteil, Bd. 15, Sp. 516 f. – BBHS, Bd. 8, Theologie promoviert zu werden. In Lübeck S. 55–58. Jürgen Rathje / Red. setzte er eine Reihe von pädagog. Reformen durch, ließ öffentl. Redeübungen abhalten u. Der Seelen Wurzgarten, 1466/67. – Exverhalf zumal durch das Wiedereinführen empelsammlung. wissenschaftl. Disputationen dem Katharineum zu neuem Ansehen. 1753 ließ er sich in Auftraggeber des 1466/67 entstandenen ProFlensburg nieder, um nur mehr seinen wis- sawerks ist laut Praefatio Abt Ehrenfried II. senschaftl. Interessen nachzugehen. S. heira- von Vellberg im Benediktinerstift Comburg tete 1716 Ursula Koch († 1742) u. 1746 Mar- bei Schwäbisch Hall. Bei dem Verfasser hangareta Dorothea zum Felde. Der ersten Ehe delt es sich wahrscheinlich um einen akadeentstammten sechs Kinder. misch gebildeten Konventualen. Der intenS., dessen Bezugsnetz namhafte Vertreter dierte Adressatenkreis ist unklar; am ehesten der frühaufklärerischen Reformbewegung kommt ein monast. Zielpublikum in Frage. ebenso wie der luth. Orthodoxie mit ein- Rahmen des S. W. ist die Heilsgeschichte, schloss, unterhielt eine ausgedehnte gelehrte wobei die Verteidigung des kath. Glaubens Korrespondenz. Sein Werk umfasst über 350 gegen Andersgläubige, v. a. gegen die Juden, theolog., philosophische, histor., philolog., mehrfach thematisiert wird. Das Werk ist in bio- u. prosopografische Schriften. Der The- vier Teile gegliedert. Im ersten Teil geht es matik Moralischer Wochenschriften sowie um die Schöpfungsgeschichte u. den alleiniden Sprachgesellschaften nahe stehen S.s auf gen Wahrheitsanspruch der Kirche. Dabei Jonathan Swifts Predictions for the Year 1708 werden apologetische, judenkrit. Schriften
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wichtiger Theologen des späten MA wie Nikolaus von Lyra u. Nikolaus von Dinkelsbühl ins Deutsche übertragen. Teil II ist der umfangreichste des Werks u. besteht aus einer thematisch nur locker strukturierten Exempelsammlung (ausschließlich Mirakel u. Visionen), deren Hauptquellen die Werke des Caesarius von Heisterbach u. Johannes Herolt sind. In Teil III geht es um das Fegfeuer, die Hölle u. das Paradies; auch mündl. Berichte, die dem Verfasser zugetragen wurden, sind hier integriert. Teil IV berichtet, teilweise auch mit Exempla, vom Antichrist u. dem Jüngsten Gericht. Der S. W. fand aufgrund der baldigen Drucklegung keine allzu große handschriftl. Verbreitung mehr, neun hoch- u. niederdt. Drucke zwischen 1483 u. 1515 belegen die Popularität des Werks. Der erste Teil wurde separat als Bewährung, daß die Juden irren dreimal gedruckt. Literatur: Werner Williams-Krapp: Exempla im heilsgeschichtl. Kontext. Zum S. W. In: Exempel u. Exempelslg.en. Hg. Burghart Wachinger u. a. Tüb. 1991, S. 209–223. – Ders.: S. W. In: VL. Werner Williams-Krapp / Red.
Der Große Seelentrost. – Laienkatechetische Exempelsammlung, zweite Hälfte des 14. Jh. Der umfangreiche, wirkmächtige GST stellt mit seinen rund 200 Exempeln, die nach dem Schema des Dekalogs angeordnet sind, ein Hauptwerk der niederdt. Prosaliteratur des SpätMA dar. Es ist vermutlich im Grenzraum zum niederländ. Sprachgebiet entstanden, aufgrund paläografischer Indizien wohl in der 2. Hälfte des 14. Jh. Der Verfasser ist unbekannt, allein sein Status als Geistlicher steht fest; ob er aber, wie aus durchaus bedenkenswerten Gründen erwogen wurde, Dominikaner war, kann letztlich ebenso wenig nachgewiesen werden wie sich die Frage beantworten lässt, ob er überhaupt einem Orden angehörte. Die außerordentliche, überdies bemerkenswert lang anhaltende Beliebtheit des GST, von der neben bislang 45 bekannten handschriftl. Überlieferungsträgern auch 43 zwischen 1474 u. 1800 erschienene Drucke
Der Große Seelentrost
zeugen, sowie die über den Überlieferungsschwerpunkt im ostniederländisch-westfäl. u. ostfälisch-mitteldt. Raum hinaus bis nach Schweden u. Dänemark bzw. – in geringerem Maß – bis in den oberdt. Raum ausstrahlende Wirkung (dies zeigt auch die Rezeption des GST in Jörg Stulers Historienbuch) unterstreichen eindrucksvoll, dass das Werk eine frömmigkeits- u. bildungsgeschichtlich bedingte Marktlücke ausfüllte. Innerhalb eines groß angelegten, noch über das im GST tatsächlich realisierte Ordnungsschema des Dekalogs hinausgehenden Projekts der Laienkatechese, von dem das lat. Vorwort (mit Berufung auf die Quellenbasis populärer lat. Kompendien u. Sammlungen wie u. a. der Legenda aurea des Jacobus de Voragine, des Speculum historiale des Vincenz von Beauvais, der Disciplina clericalis des Petrus Alphonsi oder des Dialogus miraculorum des Cäsarius von Heisterbach) u. der volkssprachl. Prolog berichten, wendet sich das Werk bereits direkt auch an ein nichtklösterl. Laienpublikum, um diesem anstelle von höf. Dichtungen wie Parzival oder Tristan u. anstelle von Heldenepik die rel. Belehrung schmackhaft zu machen. In diesem Sinne werden für jedes der 10 Gebote illustrierende Erzählungen unterschiedl. Umfangs u. trotz des Akzents auf einer geistlich-religiösen Ausrichtung auch verschiedenster Art bzw. Gattungsprovenienz aus dem zugrunde liegenden Repertoire an Quellen(sammlungen) ausgewählt u. bei allem Zug zur ›brevitas‹ erzählerisch lebendig präsentiert. Dazu trägt ebenfalls die dialogische Rahmung in Form eines Gesprächs zwischen (Beicht-)Vater u. (Beicht-)Kind bei, die den verbreiteten Vermittlungsstil des Lehrgesprächs zwischen Lehrer u. Schüler bzw. Meister u. Novize dem laienkatechetischen Funktionszusammenhang entsprechend variiert. Mitunter scheint sich der Aspekt unterhaltsamer Pointierung gegenüber der Vermittlung von religiöser Belehrung u. von Bildungswissen auch zu verselbständigen, ohne dass freilich die Gesamttendenz in Frage stünde. Das gilt selbst für den narrativen Charme, den der (in Lang- u. Kurzfassung vorliegende) kleine Alexander-›Roman‹, die letzte u. zugleich umfangreichste Erzählung
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des GST (mit Überschneidungen zur Histo- Peter H. Andersen: Deux témoins en prose du rorienbibeltradition) entfaltet, bevor sich auch man d’Alexandre à la fin du Moyen Age en Allehier mit der traditionell negativen Bewertung magne: L’Alexandre du GST et l’Alexandre de des macht- u. eroberungshungrigen, aber nie Wichbolt. Amiens 2001. – Bettina Mattig-Krampe: Das Pilatusbild in der dt. Bibel- u. Legendenepik ›der selen trost‹ findenden Figur Alexanders des MA. Heidelb. 2001, S. 189–193. – Helmut d.Gr. der Bogen zum Prolog schließt. Tervooren: Was liest man in niederrhein. KleinDie literar- u. kulturhistor. Bedeutung des städten im 15. u. 16. Jh.? In: Lit., Gesch., LiteraGST steht in keinem Verhältnis zur Außen- turgesch. FS Volker Honemann. Hg. Nine R. Mieseiterposition, die das Werk nach wie vor in dema. Ffm. 2003, S. 277–293. – Ders.: Van der der Forschung hat. Noch mehr trifft dies al- Masen tot op den Rijn. Ein Hdb. zur Gesch. der lerdings für den sog. Kleinen S. zu, der nicht mittelalterl. volkssprachl. Lit. im Raum v. Rhein u. ediert u. – angefangen bei der Autorfrage in Maas. Bln. 2006, S. 60 f. – Henrike Lähnemann: Bezug zum GST – überhaupt nicht einge- ›Hystoria Judith‹. Bln./New York 2006, S. 250–255. Edith Feistner hender untersucht worden ist. Der KST – André Schnyder: S. In: EM. übernimmt die im laienkatechetischen Gesamtplan des GST neben dem Dekalog angeSeeler, Moritz (Moriz), * 1.3.1896 Greifenkündigte Behandlung der sieben Sakramente berg/Pommern, † 1942/45 Riga (?). – Lyals Ordnungsschema, ist mit rund 250 Exriker, Librettist u. Regisseur. empeln sogar umfangreicher als der GST u. enthält mit einer Messerklärung, einem Der junge theaterbegeisterte Literat war eine Beichtspiegel sowie einem Klosterspiegel zu- der auffallendsten Erscheinungen des Romasätzlich, auch einzeln überlieferte Erweite- nischen Cafés in Berlin. Erstmals trat er um rungen (insbes. der Klosterspiegel fehlt in 1917/18 mit leicht erotisch gefärbter, stilistisch an Rilke u. Heym angelehnter Kaffeeden Druckausgaben). Ausgabe: Der GST. Hg. Margarete Schmitt. hauslyrik an die Öffentlichkeit. Texte von Köln/Graz 1959 (zu den skandinav. Ausg.n s. dort, ihm erschienen in Hans Heinrich von Twardowskis Parodienband Der rasende Pegasus soS. 10*). Literatur: Gerhard Reidemeister: Die Überlie- wie in den Zeitschriften »Das junge ferung des S. Diss. Halle 1925. – Jan Deschamps: De Deutschland«, »Die junge Kunst« u. »Der Middelnederlandse handschriften van de grote en Feuerreiter«. Er schrieb bis 1933 Verse u. de kleine ›Der sielen troest‹. In: Handelingen der Sketche für Kabarettprogramme; für FriedKoninklijke Zuidnederlandse Maatschappij voor rich Hollaender textete er 1927 die Revue Bei Taal-en Letterkunde en Geschiedenis 17 (1963), uns um die Gedächtniskirche rum. 1929 beteiligte S. 111–167. – Margarete Andersson-Schmitt: er sich an der Herstellung des Films Menschen Mitt.en zu den Quellen des GST. In: Nd. Jb. 105 am Sonntag, den Robert Siodmak inszenierte. (1982), S. 21–41. – Ingrid Hruby: Der selen troist. Am bekanntesten wurde S. als Leiter der Köln 1484. In: HKJL, Bd. 1, Sp. 158–180. – Burghart Wachinger: ›pietas vel misericordia‹. Exem- »Jungen Bühne«, die in den Jahren pelslg.en des späten MA u. ihr Umgang mit einer 1922–1930, zumeist als einmalige Matineeantiken Erzählung. In: Kleinere Erzählformen im vorstellung, Stücke zeitgenöss. Autoren wie MA. Hg. Klaus Grubmüller u. a. Paderb. u. a. 1988, Brecht, Bronnen, Brust, Burri, Gurk, Fleißer, S. 225–242. – Trude Ehlert: Deutschsprachige Zuckmayer u. anderer zur Uraufführung Alexanderdichtung des MA. Ffm. 1989, S. 202 f. – brachte. Nach 1933 arbeitete S. als Regisseur B. Wachinger: Der Dekalog als Ordnungsschema beim Jüdischen Kulturbund Rhein-Ruhr in für Exempelslg.en. In: Exempel u. Exempelslg.en. Köln. Bis 1938 hielt er sich oft in Wien auf; Hg. ders. u. a. Tüb. 1991, S. 239–263. – Nigel F. dann lebte er illegal, zuletzt in der Wohnung Palmer: S. In: VL u. VL (Nachträge u. Korrekturen). von August Scholtis, in Berlin. Nach der – Edith Feistner: Gattungstransformation im ›S.‹. Zum System der Gattungen exemplar. Rede. In: Reichspogromnacht 1938 wurde S. verhaftet JOWG 10 (1998), S. 111–124. – Daniela Hempen: u. in ein Konzentrationslager eingeliefert, ›... eyn ganss truwe frunt‹. Frauen u. Kinder als jedoch wieder entlassen. Bei einem Versuch Opfer männl. Freundschaftstreue in zwei Exem- im Frühjahr 1942, ins Ausland zu gelangen, peln des GST. In: Neoph. 82 (1998), S. 425–433. – erneut verhaftet, wurde er Mitte August nach
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Testamentsvollstrecker, dessen Riga deportiert, wo er vermutlich im Walsers Rechte seit S.s Tod von der Carl-Seelig-Stif»Reichsjudenghetto« umkam. 1937 erschien in Wien seine einzige Buch- tung, Zürich, wahrgenommen werden. veröffentlichung, der Gedichtband Die Flut. S. Literatur: Werner Mittenzwei: Mäzen, Mentor beschwört darin die exotischen Welten Vil- u. Laufbursche der Schriftsteller. In: Ders.: Exil in lons, Poes, Kiplings, Stevensons u. Karl Mays, der Schweiz. Lpz. 21981, S. 125–141. – Ulrich die in Trauer u. Weltuntergangsstimmung Weinzierl: C. S., Schriftsteller. Wien 1982. – Margit getaucht sind: Eine große Flut »des Blutes Gigerl: C. S. In: NDB. Charles Linsmayer und der Tränen« werde alles vernichten u. selbst die Sonne zum Verlöschen bringen. Die Seeliger, Ewald Gerhard (Hartmann), Welt werde danach jedoch bleiben wie sie auch: Ewger Seeliger (Menschheit), war: »gemein und Brutstatt eines frevelnden * 11.10.1877 Rathau bei Brieg/Schlesien, Geschlechts.« Literatur: Günther Elbin: Am Sonntag in die Matinee. M. S. u. die Junge Bühne. Eine Spurensuche. Mannh. 1998. – Ulrike Krone-Balcke: M. S. In: NDB. Klaus Völker / Red.
Seelig, Carl, * 11.5.1894 Zürich, † 15.2. 1962 Zürich; Grabstätte: ebd., Friedhof Sihlfeld. – Kritiker, Essayist, Lyriker u. Erzähler. Der Sohn aus begütertem Hause besuchte das Gymnasium in Trogen/Kt. Appenzell u. studierte in Zürich Jurisprudenz u. Literatur. Nach einem Verlagsvolontariat bei Rascher in Zürich war S. 1919–1923 Teilhaber des E. P. Tal Verlags, Wien, wo er die Reihe Die zwölf Bücher mit Werken von Romain Rolland, Hesse, Stefan Zweig u. anderen betreute. Danach lebte er bis zu seinem Unfalltod als Rezensent für verschiedene Schweizer Zeitungen in Zürich. Während der Zeit des Nationalsozialismus wurde S. für Joseph Roth, Ignazio Silone, Robert Musil u. zahllose weniger berühmte Emigranten zum selbstlosen Helfer u. Retter in der Not. An eigenen Publikationen überlebten ihn wohl einzig sein kenntnisreiches Buch Albert Einstein und die Schweiz (Zürich/ Stgt./Wien 1952. 2. Aufl. u. d. T. Albert Einstein. Eine dokumentarische Biographie. 1954. Zuletzt u. d. T. Albert Einstein. Leben eines Genies unserer Zeit. Zürich 1960) sowie seine 1957 in St. Gallen erschienenen Wanderungen mit Robert Walser (zuletzt Ffm. 1990), die auf wohl nicht immer ganz zuverlässige Weise Gespräche mit Walser dokumentieren, die zwischen 1936 u. Walsers Tod 1956 in der Umgebung von Herisau stattfanden. S. war
† 8.6.1959 Cham. – Romancier, Dramatiker, Satiriker, Pamphletist.
Der Sohn eines Hauptlehrers war seit 1897 Lehrer, zunächst in Schlesien, 1899 an der Deutschen Schule in Genua, seit 1900 in Hamburg, wo er seit 1907 als freier Schriftsteller lebte. Am Ersten Weltkrieg nahm S. als Unteroffizier an der Nordseeküste teil. Nach 1919 übersiedelte er an den Walchensee/ Oberbayern. 1922/23 war er vorübergehend in der psychiatr. Klinik in Haar untergebracht. 1933 wurde er wegen Verspottung des Nationalsozialismus in »Schutzhaft« genommen, danach wegen seiner jüd. Frau aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen. 1940 zog er nach Cham, wo er bis zu seinem Tod lebte. Das sehr umfangreiche Werk S.s gehört, häufig auf Bestellung geschrieben, überwiegend in den Bereich zeitgebundener Konsumliteratur. Der Bestseller Peter Voß, der Millionendieb oder Das entwendete Defizit (Bln. 1913. Neuaufl. Ffm. 1991) ist wegen mehrfacher Verfilmungen am bekanntesten geblieben. Neben regionalliterar. Veröffentlichungen (z. B. Hamburg – ein Buch Balladen. Hbg. 1905), dem beliebten Jugendbuch Mandus Frixens erste Reise (Reutl. 1906) u. barockisierenden Schelmenromanen wie Junker Schlörks tolle Liebesfahrt (Mchn. 1919), dessen Neuauflage (Düsseld. 1953) als jugendgefährdend denunziert wurde, ist v. a. sein Handbuch des Schwindels (Mchn. 1922. Neuaufl. Ffm. 1986) literarhistorisch bemerkenswert. Politisch konservativ, aber strikt gegen den Nationalsozialismus, provozierte der Querdenker S. mit der Veröffentlichung dieses Pamphlets gegen Bürokratie, Rassismus, Mi-
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litarismus u. Nationalismus bewusst seine vorübergehende Einweisung in eine Heilanstalt. Dabei ist das sprachmächtige, satirischgroteske Lexikon literarisch den einschlägigen Werken von Gustave Flaubert u. Ambrose Bierce vergleichbar. Viele seiner weiteren Arbeiten stehen in der Folge dieses ersten seiner sog. »Hominidissimus-Experimente« zwischen Pazifismus, kauzigem Weltverbesserertum u. Querulatorik. Weitere Werke: Erzählungen: An der Riviera. Fresken u. Arabesken. Hirschberg 1901. – Aus der Schule geplaudert. Hbg. 1902. – Glaube mit Humor. Bln. 1940. – Liebe mit Humor. Bln. 1940. – Romane: Der Schrecken der Völker. Hbg. 1905. – Zurück zur Scholle. Mchn./Lpz. 1910. – Das Paradies der Verbrecher. Bln. 1914. – Der gelbe Seedieb. Bln. 1915. – Die Diva u. der Diamant. Bln. 1922. – Die Zerstörung der Liebe. Mchn. 1923. – Die Entjungferung der Welt. Ebd. 1923. – Romane. Gesamtausg. Lpz. 1927. – Zwei richtige Menschen. Niedersedlitz 1931. – Siege mit Humor. Ebd. 1940. – Messias Humor. Fragmente einer Autobiogr. 1877–1959. Hg. v. L. Alexander Metz mit Kommentaren u. einem Nachw. v. Max Heigl. Erlangen 2005. – Diva, Voß u. Weiwur. Ein Lesebuch. Hg. M. Heigl. Viechtach 2006. Literatur: Max Heigl: Nachw. In: Hdb. des Schwindels. Ffm. 1986, S. 293–312. – Bernd Gräfrath: Aufklärung durch Humor: Karl Julius Weber u. E. G. S. In: Ders.: Ketzer, Dilettanten u. Genies. Grenzgänger der Philosophie. Hbg. 1993, S. 81–108. Erhard Schütz / Red.
Seemann, Margarete, auch: Margmann, * 26.7.1893 Wien, † 6.6.1949 Wien; Grabstätte: ebd., Hetzendorfer Friedhof. – Roman-, Kinder- u. Jugendbuchautorin. Seit 1912 war S., Tochter eines Dekorationsu. Kirchenmalers, Volksschullehrerin in Wien, seit etwa 1930 freiberufl. Schriftstellerin u. Mitgl. des Niederösterreichischen Schriftstellerverbandes. Ihre Gedichte, Sinnsprüche, besinnl. Balladen, Romane u. Aphorismenbände sind vom Katholizismus geprägt (Mutter- u. Marienverehrung). Stets ist sie Mahnerin u. Künderin einer besseren Welt u. will dazu beitragen, dass ihre Leser auch dem geduldigen Ertragen von Leid, Krankheit u. Siechtum positive Aspekte abgewinnen können.
728 Weitere Werke: Hörende Herzen. 3 Bde., Elberfeld 1926 (Legenden, N.n, Aphorismen). – Zwei Kronen. Ebd. 1928 (R.). – Deine Seele u. meine. Innsbr./Wien 1929 (Aphorismen). – Blühender Dorn. Ebd. 1930 (R.). – Benedeite Erde. KirnachVillingen 1930 (Muttergedichte). – Das Bettelkreuz. Innsbr./Wien 1931 (N.n). – Rund um den Adventkranz. Hildesh. 1931 (Skizzen). – Für meine Mutter. Innsbr./Wien 1931 (L.). – Ihre Kinder. Ebd. 1932 (R.). – O Erden! Ebd. 1933 (Skizzen). – Bergleben. Tl. 1: Bergauf. Ebd. 1933. Tl. 2: Steilan. Ebd. 1936. Tl. 3: Gipfeloben. Ebd. 1938 (Romantrilogie). – Dir u. mir. Ebd. 1934 (Aphorismen). – Sprechstunde. Ebd. 1934 (R.). Literatur: Otmar Seemann: Sehnsucht strömt die Bäche tief nach innen. Die Schriftstellerin M. S. Wien 1989. – Ders.: M. S. In: ÖBL: Otmar Seemann / Red.
Seewald, Richard (Josef Michael), * 4.5. 1889 Arnswalde/Neumark, † 29.10.1976 München; Grabstätte: Ronco bei Ascona/ Tessin. – Romanautor, Essayist; Maler. Nach dem Abitur (1909) studierte S. in München Architektur, wechselte aber bald zur Malerei. Seit 1913 hatte er zahlreiche Ausstellungen in Deutschland, Frankreich u. der Schweiz; Reisen führten ihn in alle Länder Europas. 1929 konvertierte er zur kath. Kirche. Seit 1939 Schweizer Staatsbürger, hatte er in Ronco, der »Mitte Europas« (Seewald), einen festen Wohnsitz. 1924–1931 war er Professor in Köln, 1954–1958 in München. Seinen künstlerischen Nachlass vermachte S. der Stiftung Pro Helvetia, den literarischen dem Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg. S.s Selbstcharakterisierung – »Ich schreibe mit dem Gesicht!« – weist hin auf den zgl. plastisch-sinnl. u. rational durchgestalteten Stil seines literar. Werks, das an die 50 Titel umfasst, zumeist mit eigenen Illustrationen. Schon sein erstes Buch, Tiere und Landschaften (Bln. 1921), offenbart die für ihn charakterist. Verbindung von Sprache u. Bild. In Reiseberichten, Landschafts- u. Tierschilderungen versucht er durch präzise Beschreibung die Tiefendimension der Dinge zu erschließen. Die Oden An die Dinge dieser Welt (Zürich 1947) zeigen seine Grundintention, »die Dinge zum Sprechen [zu] bringen«.
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Die rollende Kugel (Köln/Olten 1957), formal der griech. Tragödie nachgebildet, bietet thematisch eine originelle Variante zu Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Das tragikom. Schicksal des Helden Toussaint Kuh wird am Ende mit dem Aspekt christl. Katharsis verknüpft. Der Mann, der ein Snob war (ebd. 1959) spiegelt mit satir. Lust den Kunstbetrieb der Zeit. In beide Romane gehen unverkennbar autobiogr. Züge ein. Auch die vier Autobiografien Gestehe, daß ich glücklich bin (Lpz. 1942), Der Mann von gegenüber (Mchn. 1963), Neumond über meinem Garten (ebd. 1970) u. Die Zeit befiehlts, wir sind ihr untertan (Freib. i. Br. 1977) stellen eindrucksvolle Zeitdokumente dar. Einen bes. Reiz haben ferner S.s zahlreiche Essays zu Kunst u. Kultur sowie zum Verhältnis von Kunst u. Kirche. Weitere Werke: Ausgabe: S. 1889–1976. Eine Werkausw. [...]. Einl. Anton Sailer. Mchn. 1977. – Einzeltitel: Reise nach Elba. Augsb. 1927. – Robinson oder der Sohn Robinsons oder die vier Jahreszeiten oder Orbis pictus. Mchn. 1935. – Marionettenspiele: Sternenkomödie. Köln 1959. – Raub der Europa. Ebd. 1960. – Zufälle – Einfälle. Gleichnisse des Sichtbaren. Ebd. 1966. – Kunst in der Kirche. Freib. i. Br. 1966. – Imperator Mundi. 10 Allegorien u. Texte zum Leben Alexander des Großen. Memmingen 1977. – Die großen Seeschlachten. Ebd. 1978. Literatur: Erich Fitzbauer: Drei Künstler im Tessin. Begegnungen mit Imre Reiner, R. S., Gunter Böhmer. Wien 1994. – Hinrich Siefken: Theodor Haecker u. R. S. Eine Künstlerfreundschaft. In: Theodor Haecker. Leben u. Werk. Hg. Bernhard Hanssler u. H. Siefken. Esslingen 1995, S. 197–219. – Gernot Gabel: R. S. (1889–1976). In: Ders.: Dt. Buchkünstler des 20. Jahrhunderts illustrieren dt. Lit. (Ausstellungskat.). Köln 2006, S. 96–99. – Eva Chrambach: R. S. In: NDB. Friedrich Kienecker † / Red.
Segesser von Brunegg, Philipp Anton, * 5.4.1817 Luzern, † 30.6.1888 Luzern; Grabstätte: ebd., bei der Hofkirche. – Staatsmann, Rechtshistoriker, Publizist. Der aus patrizisch-regimentsfähiger Familie stammende S. studierte Jura u. Geschichte in Heidelberg, Bonn, Berlin, München u. schloss 1841 mit dem Luzerner Anwaltsexamen ab. Als Ratsschreiber diente er 1841–1847 der
konservativen Regierung; nach dem für Luzern unglückl. Sonderbundskrieg trat er von seinem Amt zurück. Aus Privatstudien erwuchs seine Rechtsgeschichte der Stadt und Republik Luzern (4 Bde., Luzern 1850–58; dafür 1860 Dr. iur. utr. h. c. der Universität Basel). Innerhalb des Nationalrats, dem er seit 1848 ununterbrochen angehörte, vertrat er die gemäßigt kath.-konservative u. föderalistische Opposition. Wegen seiner Wahlstrategie erlangte S.s Partei in der konfessionell aufgewühlten Situation von 1871 einen überzeugenden Wahlsieg; als kantonaler Minister führte er bis 1875 das Polizei-, dann das Justizdepartement. Dank seiner gemäßigten konfessionellen Position konnte S. im erbittert geführten schweizerischen Kulturkampf vermitteln u. zu dessen Beilegung beitragen. Neben seinen wissenschaftl. Arbeiten, wozu auch seine Mitarbeit am grundlegenden Quellenwerk zur Schweizer Geschichte (Aeltere Eidgenössische Abschiede aus dem Zeitraum von 1245–1520. Bde. I-III / Abt.en 1 u. 2, Zürich 1858, Luzern 1863–74) u. eine Biografie des Söldnerführers Ludwig Pfyffer (4 Bde., Bern 1880–82) gehören, schrieb S. Beiträge für die Tagespresse. Im Mittelpunkt seiner lesenswerten Essays zur europ. Zeitgeschichte steht die Frage nach der Beziehung von Kirche u. Staat, die er weder nach den Vorstellungen der röm. Kurie noch im Sinne einer Oberhoheit über die Kirche geregelt sehen wollte. Seine von großem Weitblick zeugende ökumen. u. liberalkath. Gesinnung schlug sich nieder v. a. in seinem Essay zum ersten Vatikanischen Konzil (1869/70) u. in seiner perspektivenreichen Studie Culturkampf (1875). Die Bedeutung des »geistreichsten und geistig unabhängigsten Schweizer Staatsmanns« (Eduard Fueter), der als Fortschrittsskeptiker Burckhardts Befürchtungen teilte, wurde im 20. Jh. richtig erkannt. Ausgaben: Slg. kleiner Schr.en. Bern 1877–87. – Briefw. Hg. Victor Conzemius. 8 Bde., Zürich u. a. 1983 ff. Literatur: Kaspar Müller: P. A. v. S. 2 Bde., Luzern 1917 u. 1923. – Anna Wettstein: S. zwischen Ultramontanismus u. Liberalismus. Freib./ Schweiz 1975. – Victor Conzemius: P. A. v. S. 1817–88. Demokrat zwischen den Fronten. Zürich/
Seghers Einsiedeln/Köln 1977. – Alfred Wyser: P. A. v. S. in seinen Briefen: Überschätzung eines Aussenseiters? In: Schweizer Monatshefte 68 (1988), 9, S. 737–750. – Franz Xaver Bischof: P. A. v. S. In: Bautz. – Hans-Christof Kraus: P. A. v. S. In: NDB. Victor Conzemius / Red.
Seghers, Anna, eigentl.: Netty Reiling, verh. Radványi, * 19.11.1900 Mainz, † 1.6.1983 Berlin/DDR; Grabstätte: ebd., Dorotheenstädtischer Friedhof. – Romanautorin, Erzählerin, Essayistin. Die 1946 publizierte Erzählung Der Ausflug der toten Mädchen (New York. Bln./SBZ 1948) ist einer der wenigen unverstellt autobiogr. Texte von S. In einer persönl. Rückerinnerung der Autorin an eine Exkursion ihrer Schulklasse werden die Schicksale der einzelnen Teilnehmerinnen bedacht: gewöhnliche, zumeist tragische Lebensläufe aus den 1930er u. 1940er Jahren in Deutschland unter den Zeichen von Hitler-Diktatur u. Krieg. Ort des Geschehens ist Mainz. Als einziges Kind des wohlhabenden jüd. Antiquitätenhändlers Isidor Reiling, der u. a. Zuarbeit leistete für den lokalen Domschatz, wuchs S. in Mainz auf. Das Spannungsfeld zwischen Historie, Kunstgeschichte u. christlich-jüd. Synkretismus wurde für die Heranwachsende zu einem prägenden Erlebnis. Spuren davon finden sich in ihrem literar. Werk allenthalben. S. studierte an den Universitäten Köln u. Heidelberg Kunstgeschichte, Geschichte u. Sinologie (Promotion 1924 mit einer Arbeit über Jude und Judentum im Werke Rembrandts. Lpz. 1981). Als sie mit ihrer ersten belletristischen Arbeit an die Öffentlichkeit trat, lieh sie sich den Namen von Hercules Seghers, einem niederländ. Landschaftsmaler u. Zeitgenossen Rembrandts. Grubetsch, 1927 als Fortsetzungsabdruck in der »Frankfurter Zeitung« erschienen, erzählt die Geschichte eines Freibeuters im proletar. Milieu, die Geschichte von Asozialen u. Depravierten. S. zeigt sich hier schon auf der Höhe ihrer späteren literar. Möglichkeiten, wendet sich in einem distanzierten u. unterkühlten Prosastil dem Milieu der sozial Erniedrigten zu. Man kann darin ein poetisches Echo erblicken auf
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jene Strömung der Neuen Sachlichkeit, deren Bildzeugnisse damals die Galerien beherrschten. 1928 verlieh Hans Henny Jahnn S. die damals angesehenste dt. Literaturauszeichnung, den Kleist-Preis, für die Erzählung Aufstand der Fischer von St. Barbara (Potsdam 1928. Bln./DDR 1951. Verfilmt u. d. T. November 28 von Erwin Piscator 1934 in der Sowjetunion), die sie als »Anna Seghers« mit einem Schlag berühmt machte. Ebenfalls 1928 trat S. der KPD bei. Die Entscheidung kam nicht eigentlich überraschend. S.’ soziales Engagement, ablesbar an ihrer Belletristik, wies in diese Richtung ebenso wie ihre Herkunft aus einem jüd. Bürgerhaus: In der Führungsmannschaft nicht nur der dt. Kommunisten waren jüd. Bürgerkinder deutlich überrepräsentiert, u. linke polit. Neigungen waren in Kreisen der künstlerischen Avantgarde jener Jahre üblich. Seit 1929 Mitgl. des Bundes proletarischrevolutionärer Schriftsteller, der Autorenorganisation der KPD, reiste sie 1930 zum Internationalen Schriftstellerkongress nach Charkow. Es war die Zeit, als Deutschlands Kommunisten sich immer enger der polit. Doktrin Stalins verschrieben, u. die im Zeichen des Sowjetkommunismus entstehende Kunst verlor immer mehr von ihrem einstigen Avantgardismus. Ein wichtiger Theoretiker dieser durchaus konservativen ästhetischen Entwicklung war der Ungar Georg Lukács. S., seit 1925 verheiratet mit dem ungarischen Wissenschaftler László Radványi, schloss Freundschaft mit Lukács u. ließ sich auf einen nicht immer einverständigen Dialog mit ihm ein (Ein Briefwechsel zwischen Anna Seghers und Georg Lukács. In: Internationale Literatur, 1939. Auch in: Georg Lukács: Werke 4. Neuwied 1971, S. 345–378). Ihre literar. Ahnen waren u. blieben jedoch Kleist, Dostojewski, Dos Passos, Kafka. Alle vier galten, aus unterschiedl. Gründen, wenig im ästhetischen Kanon des Sozialistischen Realismus. Das Bestreben, sowohl dem eigenen ästhetischen Gewissen als auch der Kunstpolitik ihrer Partei gehorsam zu sein, führte S. in lebenslange Konflikte, die, äußerlich nicht sehr auffällig, für sie gleichwohl existenziell wurden.
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In den folgenden Arbeiten, der Erzählung Auf dem Weg zur amerikanischen Botschaft (Bln. 1930) u. dem Roman Die Gefährten (Bln. 1932), wurde die noch allg. soziale Auskunft der ersten Prosastücke zu einer exakten polit. Botschaft. Nach der Machtübernahme Hitlers vorübergehend verhaftet, floh S. dann über die Schweiz nach Frankreich. Sie war Mitherausgeberin der in Prag erscheinenden Exilzeitschrift »Neue Deutsche Blätter« u. Mitbegründerin des Schutzverbands Deutscher Autoren. Ihre erste Exilveröffentlichung noch 1933, Der Kopflohn (Amsterd.), ist der Roman einer polit. Verfolgung, angesiedelt im ländl. Milieu. Die Auseinandersetzung um den internat. Faschismus bestimmte fortan ihre sämtl. Arbeiten: als Historiografie, als Parabel, als Stoff. Mit dem Roman Der Weg durch den Februar (Paris 1935) u. der Erzählung Der letzte Weg des Koloman Wallisch (Moskau 1936) wandte sie sich dem aktuellen polit. Geschehen in Österreich zu. Mit dem Roman Die Rettung (Amsterd. 1937) kehrte sie literarisch zurück ins Land ihrer Herkunft u. beschrieb polit. Schicksale aus der Zeit der großen Weltwirtschaftskrise. Dies alles erscheint im Nachhinein wie eine Vorarbeit oder Fingerübung zu jenem Roman, der ihr Weltruhm verschaffte u. der heute als das wohl gültigste literar. Porträt Deutschlands unter dem Zeichen der Hitlerherrschaft gelten darf: Das siebte Kreuz. Roman aus Hitlerdeutschland (dt. Erstausg. Mexiko 1942 im Exilverlag El libro libre. Bln./SBZ 1946, Mchn. 1947). Mit den Arbeiten daran begann S. 1938. Mündliche Berichte von Flüchtlingen boten die Anregung u. das erzählerische Material. Ein erster Vorabdruck erschien 1939 in der Moskauer Zeitschrift »Internationale Literatur« mit dem Verlagsort Moskau, wurde aber sofort nach Abschluss des Hitler-Stalin-Pakts eingestellt. Nach Ausbruch des Kriegs u. dem Einmarsch dt. Truppen in Paris flüchtete S. ins noch unbesetzte Südfrankreich; 1941 traf sie in Mexiko ein. 1942 erschien Das siebte Kreuz im Bostoner Verlag Little, Brown in engl. Übersetzung. Der Roman spielt im Herbst des Jahres 1937. Aus einem Konzentrationslager in Südwestdeutschland fliehen sieben Häftlinge, jedoch nur einem, Georg Heisler, ge-
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lingt das endgültige Entkommen infolge glückl. Umstände u. solidar. Hilfe. Er ist kein Held, eher eine Durchschnittsnatur. Die Mechanismen des Überlebens, dies eine Botschaft des Romans, sind unberechenbar. Das Buch kommt ohne melodramat. Effekte aus, S.’ Ton des kühlen Rapports bewährt sich aufs Trefflichste. Obschon die Autorin, bereits seit 1933 im Exil, bei der Schilderung innerdt. Verhältnisse durchweg auf fremde Zeugnisse angewiesen war, verblüfft der Roman durch seine äußerste Authentizität. Das siebte Kreuz wurde 1944 von Fred Zinnemann erfolgreich verfilmt. Die von Dos Passos übernommene Technik eines kinematografischen Erzählens hatte u. a. zur Folge, dass ungewöhnlich viele Arbeiten S.’ zu Filmvorlagen wurden. Nicht zuletzt deshalb war S. 1947, als sie aus der Emigration nach Berlin zurückkehrte, überaus erfolgreich u. hochberühmt. Sie folgte einem Ruf der Behörden in der SBZ, wo sie viele ihrer einstigen Emigrationsgefährten wiedertraf, wurde zu einer vielfach geehrten Repräsentantin der DDR-Literatur u. ließ sich in polit. Ämter (u. a. als Vorsitzende des Deutschen Schriftstellerverbands bzw. des seit 1971 so genannten Schriftstellerverbands der DDR 1952–1978) delegieren. Sofern sie grundsätzl. Einwände gegen die Verhältnisse hatte, in denen sie lebte, etwa angesichts polit. Schauprozesse, ließ sie nichts davon an die Öffentlichkeit gelangen, u. sofern diese Öffentlichkeit Einwände ihr gegenüber hatte, ertrug sie dies lautlos. Manchmal betrafen solche Einwände ihre Bücher, darunter das vielleicht wichtigste u. schönste neben dem Aufstand der Fischer von St. Barbara u. dem Siebten Kreuz: Transit, einen Roman, der noch im Exil beendet worden war (engl. Mexiko 1944. Dt. Konstanz 1948, Bln./ DDR 1951). Er schildert, auf eigenem Erleben basierend, das abenteuerl., manchmal ausweglose Dasein polit. Flüchtlinge im Marseille der Kollaborationsregierung von Vichy. Ohne seine histor. Konkretion einzubüßen, wird daraus auch eine Parabel von der Wehrlosigkeit des Menschen gegenüber absurder Behördenwillkür u. totalitärer Bedrohung. Das literar. Muster liefern die Romane Franz Kafkas, der in der Zeit des unmittel-
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baren Nachkriegs zur Vorbildfigur für den frz. Existenzialismus aufgerückt war, in der sowjetischen Literaturpropaganda daraufhin zu einem Hauptvertreter der literar. Dekadenz erklärt wurde u. allerschärfster Ablehnung verfiel. Wer in seine Nähe geriet, war politisch suspekt. S. überstand das. Ihre Prominenz war zu groß. Die ästhetischen Folgen allerdings waren bedenklich, wie sich an ihren letzten Romanen erwies. Aus der Emigration hatte S. einen Romanstoff mitgebracht, Die Toten bleiben jung (Bln./ Ffm. u. Bln./Weimar 1949. Verfilmung nach dem Drehbuch von Christa Wolf 1968), ein an Tolstoj orientiertes Panorama der dt. Gesellschaft zwischen 1919 u. 1945. Angestrebt ist eine, nicht ganz unproblematische, soziale Totalität. Erzählt werden Schicksale, immer begreifbar als solche von Tätern u. solche von Opfern. Trotz plakativer Züge hat der Roman noch in den schwächeren Passagen die bei S. gewohnte epische Stringenz. Auch diesem Buch wurde von der damaligen Parteikritik ein bedenkl. Geschichtsfatalismus vorgeworfen. Die Entscheidung (Bln./Weimar 1959) u. Das Vertrauen (ebd. 1968), die zu großen Teilen in der Arbeitswelt der DDR spielen, versuchen, die ästhetischen Forderungen des Sozialistischen Realismus einzulösen. Es sind sprachlich schwache Romane, welche die Wirklichkeit des Lebens in der DDR verfehlen. Überzeugender gerieten ihr eine Reihe von Erzählungen (Die Kraft der Schwachen. Ebd. 1965. Das wirkliche Blau. Ebd. 1967. Überfahrt. Ebd. 1971), in denen sie ihre alten, ihre eigentl. Themen wiederaufnahm: die Zeit des Nationalsozialismus, die Emigration, das Leben im Zeichen der sozialen Erniedrigung. S.’ Werk ist voller myth. u. christlich-religiöser Anspielungen – deutlich in Das siebte Kreuz schon im Titel. Geduld, Leidensfähigkeit, Scheu, Fatalismus, Mütterlichkeit waren ihre epischen Motive viel mehr als das revolutionäre Pathos. Der Disziplin ihrer Partei hat sie sich klaglos unterworfen, bis zur charakterl. u. künstlerischen Selbstbeschädigung. Die Leistung ihrer großen Arbeiten schränkt das nicht ein. Weitere Werke: Ausgaben: Werke in 10 Bdn. Darmst./Neuwied 1977. – Ges. Werke in Einzelausg.n. 14 Bde., Bln./Weimar 1977–80. – Aufsätze,
732 Ansprachen, Ess.s. 2 Bde., ebd. 1980. – Werkausg. Hg. Helen Fehervary u. Bernhard Spies. Bln. 2000 ff. – Einzeltitel: Crisanta. Lpz. 1951 (N.). – Die Kinder. Bln./DDR 1951 (E.en). – Der Mann u. sein Name. Ebd. 1952 (E.). – Der Prozeß der Jeanne d’Arc zu Rouen im Jahre 1431. Lpz. 1952 (Schausp.). – Der erste Schritt. Bln./DDR 1953 (E.). – Brot u. Salz. Ebd. 1958 (E.en). – Sonderbare Begegnung. Bln./Weimar 1973 (E.). – A. S. – Wieland Herzfelde. Ein Briefw. 1939–1946. Ebd. 1985. – Der gerechte Richter. Ebd. 1990 (N.). – Jans muß sterben. Bln. 2000 (E.). – Und ich brauch doch so schrecklich Freude. Hg. Christiane Zehl Romero. Bln. 2003. – Christa Wolf, A. S.: Das dicht besetzte Leben. Briefe, Gespräche u. Ess.s. Hg. Angela Drescher. Bln. 2003. Literatur: Bibliografien: Joachim Scholz: A. S. Leben u. Werk. Lpz. 1960. – Jörg Bernhard Bilke: Auswahlbibliogr. zu A. S. 1924–1972. In: A. S. (Text + Kritik. H. 38). Mchn. 1973, S. 31–45. – Maritta Rost u. Peter Weber: Veröffentlichungen von u. über A. S. In: Über A. S. Ein Almanach zum 75. Geburtstag. Hg. Kurt Batt. Bln./Weimar 1975, S. 311–410. – Stephan Bock: Auswahlbibliogr. In: A. S. Materialienbuch. Hg. Peter Roos u. Friederike J. Hassauer-Roos. Darmst./Neuwied 1977, S. 173–182. – Manfred Behn-Liebherz: Auswahlbibliogr. 1974–1981. In: A. S. 2. Aufl. Neufassung (Text + Kritik. H. 38). Mchn. 1982, S. 129–147. – Weitere Titel: Friedrich Albrecht: Die Erzählerin A. S. 1926–32. Bln./DDR 1965. – Inge Diersen: S.Studien. Interpr.en v. Werken aus den Jahren 1926–1935. Ebd. 1965. – Heinz Neugebauer: A. S. Ihr Leben u. Werk. Ebd. 1970. – A. S. aus Mainz. Mainz 1973. – K. Batt: A. S. Versuch über Entwicklung u. Werk. Lpz. 1973. – A. S. (Text + Kritik. H. 38). Mchn. 1973. 2. Aufl. Neufassung. Mchn. 1982. – Erika Haas: Ideologie u. Mythos. Studien zur Erzählstruktur u. Sprache im Werk A. S.’. Stgt. 1975. – Frank Wagner: ›... der Kurs auf die Realität‹. Das epische Werk v. A. S. (1935–1943). Bln./ DDR 1975. – Klaus Sauer: A. S. Mchn. 1978. – Werner Roggausch: Das Exilwerk v. A. S. 1933–1939. Volksfront u. antifaschist. Lit. Mchn. 1979. – Marie Franz: Die Darstellung v. Faschismus u. Antifaschismus in den Romanen v. A. S. 1933–49. Ffm. u. a. 1987. – S. Hilzinger (Hg.): ›Das siebte Kreuz‹ v. A. S. Texte, Daten, Bilder. Ffm. 1990. – Sigrid Bock: Die Last der Widersprüche. Erzählen für eine gerechte, friedl., menschengerechte Welt – trotz alledem. In: WB 36 (1990), S. 1554–1571. – Ute Brandes: A. S. Bln. 1992. – Christiane Zehl Romero: A. S. mit Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten. Reinb. 1993. 42001. – Andreas Schrade: A. S. Stgt./Weimar 1993. – Ders.: Entwurf
733 einer ungeteilten Gesellschaft. A. S.’ Weg zum Roman nach 1945. Bielef. 1994. – F. Wagner, Ursula Emmerich u. Ruth Radvanyi (Hg.): A. S. Eine Biogr. in Bildern. Mit einem Essay v. Christa Wolf. Bln./ Weimar 1994. – Ian Wallace (Hg.): A. S. in Perspective. Amsterd./Atlanta, GA 1998. – S. Hilzinger: A. S. Stgt. 2000. – C. Zehl Romero: A. S. Eine Biogr. 1900–1947. Bln. 2000. – Helen Fehervary: A. S. The Mythic Dimension. Ann Arbor 2001. – Birgit Schmidt: Wenn die Partei das Volk entdeckt. A. S., Bodo Uhse, Ludwig Renn u. a. Ein krit. Beitr. zur Volksfrontideologie u. ihrer Lit. Münster 2002. – S. Hilzinger, Ulrich Döring u. Hannes Krauss: A. S. In: KLG. – C. Zehl Romero: A. S. Eine Biogr. 1947–1983. Bln. 2003 (mit Bibliogr., S. 436–476). – Loreto Vilar: Die Kritik des realen DDR-Sozialismus im Werk A. S.’. ›Die Entscheidung‹ u. ›Das Vertrauen‹. Würzb. 2004. – F. Albrecht: Bemühungen. Arbeiten zum Werk v. A. S. 1965–2004. Bern u. a. 2005. – Maeng-Im Koh: Mythos u. Erzählen im Werk v. A. S. Würzb. 2005. – Pierre Radvanyi: Jenseits des Stroms. Erinnerungen an meine Mutter A. S. Bln. 2005. – Wiebke v. Bernstorff: Fluchtorte. Die mexikan. u. karib. Erzählungen v. A. S. Gött. 2006. – Angelika Winnen: Kafka-Rezeption in der Lit. der DDR. Produktive Lektüren von A. S., Klaus Schlesinger, Gert Neumann u. Wolfgang Hilbig. Würzb. 2006, bes. S. 32–96. – S. Bock: Der Weg führt nach St. Barbara. Die Verwandlung der Netty Reiling in A. S. Bln. 2008. – S. Hilzinger: A. S. In: NDB. – Periodikum: Argonautenschiff. Jb. der A.-S.-Gesellsch. Berlin u. Mainz e.V. 1 ff. (1992 ff., darin mehrfach bibliogr. Nachträge u. Fortschreibungen). Rolf Schneider
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u. Melanchthon, Reflexionen über seine Existenz als Dichter, Frauenschelte, ein Epicedion auf Marcellus), trat S. später literarisch v. a. als Sprichwortsammler hervor. Seine zuerst 1568 als Sententiae proverbiales (Ffm. 31589 u. d. T. Paroemiae ethicae) erschienene Sammlung von ungefähr 3500 Sprichwörtern in leonin. Hexametern mit dt. Übertragung kompiliert Material aus den bekanntesten Schwank- u. Volksbüchern des 16. Jh. Daneben finden sich Bauern- u. Wetterregeln. Der Arzt S. profilierte sich als Gegner des Paracelsus. Er verfasste u. a. ein Buch De usitato urinarum judicio (1562 u. ö.), einen Traktat über die Trunkenheit De ebrietate libri tres (postum Hanau 1594) u. eine mehrfach gedruckte Untersuchung über die Ursachen unheilbarer Krankheiten Liber morborum incurabilium (1593. Leiden 1662). Gruter nahm eine schmale Auswahl v. a. von Epigrammen u. Sprichwörtern in seine Delitiae poetarum Germanorum (Bd. 6, Ffm. 1612, S. 112–116) auf. Literatur: Melchior Adam: Vitae Germanorum Medicorum. Heidelb. 1620, S. 235–237, bes. S. 237 (Werkverz.). – Hermann Michel: B. S. In: ADB 54. – Ellinger 2, S. 133–136. – Hermann Wiegand: Hodoeporica. Baden-Baden 1984 (Register). – Karsten Kühnel: Das Goldene Ei für unheilbar Kranke. Eine Seelenmedizin des Erfurter Arztes B. S. v. 1586. In: Mitt.en des Vereins für die Gesch. u. Altertumskunde v. Erfurt 63 (2002), S. 93–104. Hermann Wiegand
Seidel, Bruno, * um 1530 Querfurt, † 1591 Seidel, Georg, * 28.9.1945 Dessau, † 3.6. Erfurt. – Arzt; Sprichwortsammler, neu- 1990 (Ost-)Berlin. – Dramatiker. lateinischer Dichter. Nach dem Studium in Wittenberg seit 1546 (Melanchthon, Johannes Marcellus) begab sich S. auf eine Deutschlandreise (Reisegedichte in S.s Poematum libri VII. Basel 1555). Ein Medizinstudium in Padua (bei Gabriele Falloppio; vermutlich Promotion zum Dr. med.) schloss sich an; dann wurde S. Arzt in Arnstadt u. 1566 Professor der Physik in Erfurt. Unter seinen Schülern ragt Rudolph Goclenius hervor. Zeigt die frühe Sammlung der Gedichte Vertrautheit mit dem Formen- u. Motivschatz der nlat. Dichtung (u. a. Carmina auf Luther
Nach Werkzeugmacherlehre u. kurzzeitigem Maschinenbaustudium war S. seit 1968 als Bühnenarbeiter in Dessau, seit 1973 als Beleuchter zuerst bei der DEFA, dann am Deutschen Theater in Ost-Berlin beschäftigt. 1984–1987 war er dort dramaturgischer Mitarbeiter, danach freischaffend tätig. S. erhielt 1988 den Preis der Frankfurter Autorenstiftung, 1989 den Preis der Deutschen Schillerstiftung in Weimar u. 1990 postum den Literaturpreis des Bundesverbandes der Deutschen Industrie. Wie sich die Beschränkungen eines totalitären Systems im privaten Bereich auswirken,
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wohin Widerstand gegen das verordnete Le- modernes Theater 12 (1997), H. 1, S. 54–74. – Peter ben führt – das sind zentrale, nicht allein den W. Marx: Der polyphone Text. Skizze zur HyperDDR-Sozialismus berührende Fragen im nur textualität in G. S.s ›Carmen Kittel‹. In: ›Unverschmalen Werk S.s. Gemäß seinem Credo daute Fragezeichen‹. Hg. Holger Dauer. St. Augustin 1998, S. 97–112. – Jürgen Serke: G. S., »Die Stücke müssen so gebrochen sein wie die ›Verzehrt vom eigenen Widerstand‹. In: Ders.: Zu Welt« liefert er keine Lösungen, bietet er Hause im Exil. Mchn. 1998, S. 309–329. – Emmaweder Anlass zu Zuversicht noch zu Ver- nuel Béhague: Entre dramaturgie de l’adieu et irzweiflung. Jochen Schanotta (in: Theater heute ruption du présent. In: Allemagne d’aujourd’hui 28, 1987, H. 4, S. 48–53) zeigt die Schwie- (2004), Nr. 168, S. 229–246. – Jean-Claude Franrigkeiten eines Jugendlichen, der sich nicht in çois: G. S.: Chronique d’une carrière interrompue. die vorgegebene gesellschaftl. Ordnung ein- In: Résistances – mouvements sociaux – alternatifügt, sondern seinen eigenen Weg finden ves utopiques. Hg. Hélène Roussel u. a. Saint-Denis will: »Wie wird man ein anständiger Mensch 2004, S. 279–290. Wolfgang Seibel / Red. heutzutage?« In Carmen Kittel (Ffm. 1990; zus. mit Königskinder) scheitert das frühere Seidel, Heinrich, * 25.6.1842 Perlin/ Heimkind Carmen, von ihrem Freund zur Mecklenburg, † 7.11.1906 GroßlichterAbtreibung überredet u. dann sitzengelassen, felde bei Berlin; Grabstätte: Berlin-Lichmit dem Versuch, eigenen Lebensansprüchen terfelde, Friedhof Moltkestraße. – Erzähu. zgl. den Erwartungen anderer gerecht zu ler. werden. Grenzen u. Feindbilder, die als unüberwindlich gelten u. doch pure Fiktionen Die liebenswerteste seiner literar. Figuren – sind, bilden das Thema der Königskinder: Eine Leberecht Hühnchen – hat es verhindert, dass Parabel, die – Motive von Büchners Lustspiel ihr Schöpfer S. ganz in Vergessenheit geriet. Leonce und Lena aufnehmend – nicht nur auf Als Sohn eines Pfarrers, der erst in Perlin, die vormaligen dt.-dt. Verhältnisse gemünzt dann in einer Schweriner Garnison sein Amt ist. Im Mittelpunkt von S.s letztem, Frag- versah, war S. im Mecklenburgischen aufgement gebliebenem Stück Villa Jugend (in: wachsen. Um Maschinenbau zu studieren, Theater der Zeit 45, 1990, H. 12, S. 65–75) ging er 1860 an das Polytechnikum Hannosteht ein alter, parteitreuer Lehrer, den die ver; seit 1862 arbeitete er in Güstrower Fapolit. Entwicklung in der DDR in Verbitte- briken. 1866 kam er nach Berlin an die Gerung u. Resignation stürzt: Der Ruin seines werbeakademie, wo u. a. Friedrich Eggers lehrte. Obwohl S., durch diesen eingeführt, Staates wird zur Familientragödie. im schon legendären Verein »Tunnel über der Weitere Werke: Kondensmilchpanorama. In: Theater der Zeit 36 (1981), H. 2, S. 65–72 (D.). – Spree« 1867–1877 sein poetisches Talent beVilla Jugend. Das dramat. Werk in einem Bd. Hg. stätigt bekam, blieb er bis 1880 als projekAndreas Leusink. Ffm. 1992. – In seiner Freizeit las tierender Ingenieur (u. a. die beachtete der Angeklagte Märchen. Hg. Elisabeth Seidel u. Dachkonstruktion am Anhalter Bahnhof) täIrina Liebmann. Köln 1992 (P.). tig. Ermuntert durch die Anerkennung Literatur: Maik Hamburger: Der sanfte Anar- Storms, der seine Novelle Daniel Siebenstern chist [Nachruf]. In: Theater heute 31 (1990), H. 8, (entstanden 1879) lobte u. dem S. die GeS. 32 f. – Jochen Ziller: Laudatio. In: NDL 38 (1990), dichtsammlung Glockenspiel (Lpz. 1889) widH. 3, S. 157–161. – Gregor Edelmann: Im Laby- mete, entschloss sich S., freier Schriftsteller rinth gibt es nur Rückwege. Zur Dramatik v. G. S. zu werden. Er verfasste humoristische GeIn: Theater der Zeit 45 (1990), H. 12, S. 62–64. – schichten, die sich durch selbstgenügsame, Inge Diersen: ›Wir haben alles wohl anders geunverwüstlich optimistische Helden u. eine träumt ...‹. Zum Werk G. S.s. In: WB 37 (1991), H. am freundl. Detail orientierte Wirklichkeits4, S. 509–526. – Wolfgang Seibel: G. S. In: KLG. – Horst Turk u. Jean-Marie Valentin (Hg.): Aspekte nähe auszeichnen. Seinen Vorbildern Raabe, des polit. Theaters u. Dramas von Caldero´ n bis G. S. Storm u. E. T. A. Hoffmann hielt er die Treue, Dt.-frz. Perspektiven. Bern u. a. 1996. – Anne Kai- ohne deren Niveau zu erreichen. Wenig geser: Der nicht-alltägl. Alltag. Zur intendierten sellig veranlagt, baute sich S. doch einen staWirkung des dramat. Werkes v. G. S. In: Forum bilen Freundeskreis auf: Um gegen den ver-
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meintl. Dilettantismus der naturalistischen Vorpommern. Mchn. 2007. – G. Müller-Waldeck Bewegung vorzugehen, gründete er 1882 u. a. (Hg.): Die Ostsee meiner Erinnerungen. Kindheiten mit Trojan u. Stinde einen »Allgemeinen in Mecklenburg u. Pommern. Kiel 2010. Roland Berbig / Red. Deutschen Reimverein«. Vorstädtisches Alltagsleben u. Landschaftsbilder dominieren in seinem Schaffen auch nach 1890, als er in Seidel, Heinrich Wolfgang, * 28.8.1876 Deutschland namhaft geworden war. Mit Berlin, † 22.9.1945 Starnberg. – TheoloReinhard Flemings Abenteuer zu Wasser und zu ge, Verfasser geistlicher GebrauchsliteraLande, seinem umfangreichsten Werk (3 Bde., tur, Erzähler. Stgt. 1901–1906), das sein Sohn Heinrich Wolfgang (verheiratet mit Ina Seidel) her- Der Sohn des »Dichteringenieurs« Heinrich Seidel studierte in Berlin protestantische ausgab, beschloss S. sein Lebenswerk. Weitere Werke: Von Perlin nach Berlin. Aus Theologie. Zeugnis von seiner Zeit als Lehrmeinem Leben. Stgt./Bln. 1894. – Die Musik der vikar geben die an seine Eltern adressierten armen Leute. Ebd. 1896 (Reden). – Ges. Schr.en. 20 Briefberichte, die seine Cousine u. spätere Bde., ebd. 1898–1913. – Leberecht Hühnchen. Ebd. Frau, die Schriftstellerin Ina Seidel, 1954 1900 (E.en als Gesamtausg.). – Briefe: Briefw. zwi- u. d. T. Drei Stunden hinter Berlin (Gött.; Neuschen Hans Hoffmann u. H. S. Ebd. 1913. aufl. Lpz. 1998 hg. v. Klaus Goebel) herausLiteratur: Alfred Biese: Fritz Reuter, H. S. u. gab. Nachdem S. zunächst am Berliner der Humor in der dt. Dichtung. Kiel 1891. – Jo- Domstift tätig gewesen war, amtierte er seit hannes Trojan: H. S. In: BJ 11 (1908). – Heinrich 1914 im märk. Eberswalde. 1923 kehrte er Wolfgang Seidel: Erinnerungen an H. S. Stgt./Bln. nach Berlin zurück u. verwaltete das Pfarramt 1912. – Paul-Wolfgang Wührl: ›Was sich am Moran der Neuen Kirche am Gendarmenmarkt. gen meines 50. Geburtstages ereignete.‹ H. S. hul1934 legte er sein Amt aus gesundheitl. digt E. T. A. Hoffmann. In: Mitt.en der E. T. A. Hoffmann-Gesellsch. 29 (1983), S. 41–44. – Wolf- Gründen, aber auch wegen seiner »heftige[n] gang Promies: ›Konstruieren ist Dichten – Dichten Abneigung gegen die Politisierung des ist Konstruieren!‹ H. S., Dichter u. Maschinen- kirchlichen Lebens« (Ina Seidel) nieder. ZuBauer. In: Technik in Sprache u. Lit. Hg. Rudolf sammen mit seiner Frau übersiedelte er nach Hoberg. Darmst. 1994, S. 143–160. – Friedrich Starnberg, wo er bis zu seinem Tod lebte. Mülder: H. S.: ... wie er ein Poet u. Ingenieur geS.s literar. Werk, das neben geistl. Gewesen ... ein Lebensbild. Hbg. 1997. – Zwischen brauchsliteratur (Das Unvergängliche. Erlebnis Perlin u. Berlin: Leben, Werk u. Wirkung des und Besinnung. Bln. 1937) Biografien über mecklenburg. Ingenieurs u. Schriftstellers H. S. seine beiden Vorbilder (Erinnerungen an Hein(1842–1906). Eine Würdigung zu seinem 155. Gerich Seidel. Bln. 1912. Theodor Fontane. Stgt. burtstag. Schwerin 1997. – Kinkerlitzchen. Mitt.en 1940) umfasst, wurde zu seinen Lebzeiten des Freundeskreises H. S. Schwerin e. V. Schwerin 2002 ff. – Gunnar Müller-Waldeck u. Jürgen fast nicht beachtet u. ist auch heute bis auf die Grambow: H. S. – Konstrukteur u. Poet beiden Romane Georg Palmerstone (Bln. 1922) (1842–1906). In: Dies.: Auf Dichters Spuren. Li- u. Krüsemann (Bln. 1935), die aufgrund ihres terar. Wegweiser durch Mecklenburg-Vorpommern kulturhistor. Werts im Rahmen der Berlin[...]. Rostock 2003, S. 50–53. – Wolfgang Müns: H. Literatur überlebt haben, fast vergessen. Georg S. u. Mecklenburg. In: Landschaften Mecklenburg- Palmerstone, die Entwicklungsgeschichte eines Vorpommerns in der Lit. des 19. u. 20. Jh. Hg. wohl behüteten Bürgersohns in den RevoluChristian Bunners, Ulf Bichel u. Jürgen Grote. tionstagen von 1848, zeigt, ähnlich wie die Rostock 2006, S. 40–51. – Friedrich Lorenz: Kluge Romane Georg Hermanns, ein Bild des bieKöpfe braucht das Land. Ein Streifzug durch 100 dermeierl. Berlin der 1840er Jahre. Mit KrüJahre Güstrower Industrie- u. Technikgesch. semann, der in der Zeit nach dem Ersten Schwerin 2007. – Erich Neumann: Über H. S. Eine Erinnerung anlässlich seines 100. Todestages. In: Weltkrieg spielt, setzte S. die durch Raabes Güstrow: Jb. 15 (2007), S. 82–87. – Thorsten Per- Chronik der Sperlingsgasse (1857) u. Heinrich mien: Visionen aus der Vergangenheit. Spuren der Seidels Leberecht Hühnchen (1882) eingeleitete Nachhaltigen Entwicklung in den Lebenswerken Tradition der eleg. Großstadtidylle bzw. der bekannter Persönlichkeiten aus Mecklenburg u. biedermeierl. Vorstadtidylle fort.
Seidel Weitere Werke: Der Vogel Tolidan. Bln. 1913 (E.en). – Die Varnholzer. Ein Buch der Heimat. Ebd. 1918 (R.). – Das vergitterte Fenster. Ebd. 1919 (R.). – Der Mann im Alang. Stgt. 1924 (E.). – Genia. Bln. 1927 (E.). – Abend u. Morgen. Ebd. 1934 (R.). – Das Seefräulein. Ebd. 1937 (E.). – Aus dem Tgb. der Gedanken u. Träume. Hg. Ina Seidel. Mchn. 1946. – Briefe 1934–44. Hg. dies. Witten/Bln. 1964. Literatur: Herbert Günter: H. W. S. 1876–1945. In: Welt u. Wort (Dez. 1946), S. 202–205. – Klaus Goebel: ›Offensichtlich eine Respektsperson‹. H. W. S.s lebenslanger Umgang mit Theodor Fontane. In: WW 48 (1998), H. 3, S. 355–366. – Ders.: ›Meine Kanzel ist jetzt meine Korrespondenz‹. Über den Briefschreiber H. W. S. In: ›Alles ist euer, ihr aber seid Christi‹. Hg. Rudolf Mohr. Köln 2000, S. 475–494. Sabina Becker / Red.
Seidel, Ina, * 15.9.1885 Halle/Saale, † 2.10. 1974 Ebenhausen bei München; Grabstätte: Tutzing. – Verfasserin von Romanen, Gedichten u. Essays. S. wuchs zunächst in Braunschweig auf, wo ihr Vater, der Bruder des Schriftstellers Heinrich Seidel (Leberecht Hühnchen), 1886 eine eigene chirurgische Praxis eröffnet hatte u. seit 1894 das Herzogliche Krankenhaus leitete. Nach dem durch böswillige Verleumdungen ausgelösten Selbstmord des Vaters zog die Familie 1896 nach Marburg u. ein Jahr später nach München. 1907 heiratete S. ihren Vetter, den Pfarrer u. Schriftsteller Heinrich Wolfgang Seidel, dem sie nach Berlin u. Eberswalde folgte. Seit 1934 lebte sie in Starnberg. S. debütierte 1914 mit einer formal u. inhaltlich schlicht gehaltenen Lyriksammlung (Gedichte. Bln.), welche die Euphorie zu Beginn des Ersten Weltkriegs widerspiegelt. Aber schon in ihrem zweiten Gedichtband, Neben der Trommel her (Bln./Stgt. 1915), ist Ernüchterung zu spüren. Die Klagen der »Todesbräute«, »die kein Sieg auf Erden jemals trösten kann«, rücken in den Mittelpunkt. Zum erstenmal klingt in diesen Gedichten S.s Utopie einer friedl. »matriarchalen Welt« (Gabriele Thöns) an, die sie in den Romanen Brömseshof (Stgt. 1928) u. Das Wunschkind (ebd. 1930) weiterentwickelte.
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Auf dem Brömseshof, der von den Frauen in eigener Regie bewirtschaftet wird, findet der aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrende Sohn keinen Platz mehr. Auch in der Lebensgeschichte des Wunschkindes Christoph, die zwischen den Revolutionskriegen u. den dt. Freiheitskämpfen angesiedelt ist, sind es die psychologisch differenziert gezeichneten Frauengestalten, welche die Handlung bestimmen u. sich keineswegs als Dienerinnen der Männer verstehen. Immer wieder beziehen sie deutlich Stellung gegen den Krieg. So heißt es am Ende des Romans fast resümierend: »Der Tag wird kommen – und er muß kommen – da die Tränen der Frauen stark genug sein werden, um gleich einer Flut das Feuer des Kriegs für ewig zu löschen.« Dass S.s Romane trotzdem während der NS-Zeit hohe Auflagen erreichten u. heute nicht zu den Vorläufern der feministischen Literatur gehören, hängt unmittelbar mit der in myth. »Urgründen« wurzelnden Heroisierung des Mütterlichen zusammen, die im nationalsozialistischen Mutterkult ihre Entsprechung fand. Mit seiner unverblümten Zurschaustellung tümelnder Irrationalismen – wie Blut u. Boden als konstituierende Elemente des Lebens – wurde v. a. Das Wunschkind zum »getreuen Spiegelbild der deutschen Bürgerseele« (Klaus Harpprecht) am Ende der Weimarer Republik. S., die 1945 zugab, »für einige Zeit der Suggestion der nationalsozialistischen Parolen erlegen« zu sein (Brief an Paul Wiegler, zitiert nach Ferber, S. 308), hatte sich, wie Jan-Pieter Barbian in seinem Aufsatz über I. S. im Dritten Reich dokumentiert, zwischen 1933 u. 1943 immer wieder in den Dienst der NS-Propaganda gestellt, obwohl sie durch ihre Schwester Annemarie, die mit dem Verleger Peter Suhrkamp verheiratet war, u. durch ihren Schwiegersohn, der als Vertrauter von Rudolf Heß nach dessen Englandflug verhaftet worden war, erfahren hatte, wie willkürlich das diktatorische Regime mit der Freiheit seiner ›Volksgenossen‹ umging. Barbian spricht davon, dass »I. S. lange Zeit blind« war »gegenüber den politische Realitäten«. Aus ihren polit. Texten schließt er auf »eine persönliche Wertschätzung Hitlers und eine innige Vaterlandliebe«. S. unterzeichnete das Treue-
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gelöbnis an Hitler, u. sie begrüßte den »Anschluss« Österreichs öffentlich. Sie blieb Mitgl. der ›gereinigten‹ Dichterakademie, versah die von ihr herausgegebenen Kriegsbriefe von Nachrichtenhelferinnen (Dienende Herzen. Bln. 1942) mit einem martialischen Vorwort, verbreitete 1943 Durchhalteparolen in der HJ-Zeitschrift »Wille und Macht« u. war sich auch nicht zu schade, zwei Elogen zum 50. Geburtstag Hitlers zu verfassen. So deutete sie in ihrem Gedicht Lichtdom die Reichsparteitage der NSDAP zum christl. Weihespiel um u. ließ den ›Führer‹ als von Gott berufen erscheinen. Im Gegensatz dazu ist ihr Roman Lennacker. Das Buch der Heimkehr (Stgt. 1938) ein deutl. Bekenntnis zum christlich-humanistischen Weltbild; sie war damit bei der NS-Literaturkritik nicht nur auf Zustimmung gestossen. Der Episodenroman, der von einer einfachen Rahmenhandlung zusammengehalten wird, schildert in 12 Kapiteln die Geschichte der Pastorenfamilie Lennacker seit der Reformation. 1954 ließ S. mit Das unverwesliche Erbe (Stgt.) eine Fortsetzung folgen, in der sie das Schicksal der Lennacker-Frauen im 19. Jh. zum Thema machte. In den Anfangsjahren der BR Deutschland gehörte S. zu den bekanntesten u. meistgelesenen Autorinnen; sie wurde mit zahlreichen Preisen, Orden u. Ehrenmitgliedschaften ausgezeichnet. Ihre realistischen, traditionelle Erzählformen favorisierenden Prosatexte, die gelegentlich einen Hang ins Mystische erkennen lassen, u. ihre der Neuromantik verpflichtete Naturlyrik bestimmten den literar. Kanon wesentlich mit. Auch inhaltlich entsprachen ihre Bücher, die höhere Auflagen als vor 1945 erzielten, den restaurativen Tendenzen in der Politik u. dem Trend zur Innerlichkeit. 1959 versuchte S., sich in ihrem Roman Michaela. Aufzeichnungen des Jürgen Brook (Stgt.) mit der Haltung des Bildungsbürgertums (u. damit auch ihrer eigenen) in der NS-Zeit auseinanderzusetzen. Aber statt schonungslos Rechenschaft abzulegen, verlor sie sich in Klischees u. entwarf das Bild einer Gegengesellschaft, die ihr Wertesystem über die Zeit der NS-Barbarei hinaus retten wollte.
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In ihren letzten Lebensjahren beschäftigte sich S. vor allem mit ihrer Autobiografie, deren erster Band 1970 u. d. T. Lebensbericht 1885–1923 (Stgt.) erschien. Für die heute nur noch kleine Lesergemeinde der S. gab ihr Sohn Christian Ferber 1980 Monologe, Notizen u. Fragmente aus dem Nachlass heraus (Aus den schwarzen Wachstuchheften. Stgt.). Weitere Werke: Das Labyrinth. Ein Lebenslauf aus dem 18. Jh. Jena 1922 (R.). – Die Fürstin reitet. Stgt. 1926 (E.). – Renée u. Rainer. Weimar 1928 (E.). – Unser Freund Peregrin. Aufzeichnungen des Jürgen Brook. Stgt. 1940 (E.). – Die Fahrt in den Abend. Ebd. 1955 (E.). – Gedichte 1905–1955. Ebd. 1955. – Vor Tau u. Tag. Gesch. einer Kindheit. Ebd. 1962. – Die alte Dame u. der Schmetterling. Ebd. 1964 (E.). – Frau u. Wort. Ebd. 1965. Literatur: Karl August Horst: I. S. Wesen u. Werk. Stgt. 1956 (mit Bibliogr.). – Christian Ferber: Die Seidels. Gesch. einer bürgerl. Familie 1811–1977. Ebd. 1979. – Klaus Harpprecht: Auf chron. Weise deutsch. In: FAZ, 14.11.1980. – Gabriele Thöns: Aufklärungskritik u. Weiblichkeitsmythos die Krise der Rationalität im Werk I. S.s. Diss. Düsseld. 1984. – Annette Kliewer: Die Mutter als ›Wurzel der Gemeinschaft‹. I. S.s ›Wunschkind‹ als Wende zum NS-Mutterroman. In: Diskussion Deutsch 23 (1992), S. 426–437. – Peter Noss: I. S. In: Bautz 9 (1995), Sp. 1333–1351. – Irmgard Hölscher: Geschichtskonstruktion u. Weiblichkeitsbilder in I. S.s Roman ›Das Wunschkind‹. In: Verdeckte Überlieferungen. Weiblichkeitsbilder zwischen Weimarer Republik, Nationalsozialismus u. Fünfziger Jahre. Hg. Barbara Determann, Ulrike Hammer u. Doron Liesel. Ffm. 1998, S. 41–81. – Regina Dackweiler: Rezeptionsgesch. v. I. S.s Roman ›Das Wunschkind‹. In: ebd., S. 83–104. – Agnès Cardinal: I. S. From Das Wunschkind to Lennacker. In: Reise durch Zeit u. Raum. Der deutschsprachige histor. Roman. Hg. Osman Durrani u. Julian Preece. Amsterd. 2001, S. 371–382. – JanPieter Barbian: Innenansichten aus dem Dritten Reich. I. S.s Roman ›Michaela. Aufzeichnungen des Jürgen Brook‹ (1959). In: Aus dem Antiquariat 2006, H. 1, S. 15–28. – Ders.: ›Ich gehörte zu diesen Idioten‹. I. S. im Dritten Reich. In: Ders.: Die vollendete Ohnmacht? Schriftsteller, Verleger u. Buchhändler im NS-Staat. Essen 2008, S. 101–144. – Ders.: ›Lange halte ich es ja nicht aus ohne Deutschland‹. Die Korrespondenz zwischen Annemarie u. I. S. in den Jahren 1933 bis 1947. In: ebd., S. 253–277. – Eva-Maria Gehler: Weibl. NS-Affinitäten. Grade der Systemaffinität v. Schriftstellerin-
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nen im ›Dritten Reich‹. Würzb. 2010, bes. S. 148–211. – Dorit Krusche: I. A. In: NDB. Hans Sarkowicz
Seidel, Karl August Gottlieb, * 13. oder 14.2.1754 Löbau, † 21. oder 22.2.1822 Dessau. – Unterhaltungsschriftsteller.
Weitere Werke: Am Ende eine Bethschwester. In: Olla Potrida (1783), 2. Stück, S. 9–42 (Schausp.). – Curt v. der Wetterburg. Weißenfels 1794 (R.). – Der Zauberspiegel. Lpz. 1794 (Märchenslg.). – Wanderungen in die Vorzeiten. Lpz. 1794 (E.en). – Angenehme Erzählungen für die Toilette. Weißenfels 1811. Literatur: Kosch.
Gudrun Schury
S. war ein ausgesprochener Vielschreiber. 1780–1820 erschienen an die 80 Bände: Seidel, Willy, * 15.1.1887 Braunschweig, Schauspiele, Novellen, Erzählungen, Volks† 29.12.1934 München. – Erzähler. geschichten, Romane, Reisebeschreibungen, pädagog. u. autobiogr. Schriften. Daneben In Braunschweig, Marburg u. München aufveröffentlichte er in Zeitschriften, Wochen- gewachsen, studierte der Bruder von Ina Seiblättern u. Sammlungen. Zwischen seinen del zunächst Biologie u. Zoologie, dann GerTätigkeiten als Hauslehrer in Pyrmont, als manistik in Freiburg i. Br., Jena u. München, Bibliothekar in Arolsen u. seit 1800 als Lehrer wo er 1911 mit einer Arbeit über Theodor an der Töchterschule in Dessau zog sich der Storm promoviert wurde. Während einer studierte Theologe privatisierend zum Reise durch Samoa 1914 vom Kriegsausbruch Schreiben zurück. überrascht, floh er in die USA u. konnte erst Angeregt durch das Dessauer Philanthro- 1919 nach München zurückkehren. Vor dem pin, begann er mit Erziehungsliteratur (Sie Hintergrund seiner Reise- u. Exilerfahrungen studieren. Ffm. 1782); es folgten Dramen (Der (Ägypten, Samoa, USA, Java) u. in der TradiSklav ein Schauspiel mit Gesang. Bln. 1783) u. tion des literar. Exotismus setzte sich S. in Prosa. Am erfolgreichsten wurden seine seinen Büchern mit den Kehrseiten der moVolksgeschichten der Teutschen (Lpz. 1786) u. dernen Zivilisation auseinander. seine 14 Novellen (Bayreuth 1789–93). Beide Die Zerstörung überlieferter LebensordSammlungen geben Unterhaltsames aus Ge- nungen durch den blinden Willen zur Macht schichte u. Gegenwart zum Besten, meist mit zeigen die Bibeladaption Absalom (Stgt. 1911), wenig versteckten moralischen Appellen an das allegor. Wüstenmärchen Der Garten des die Leser. Die zahlreichen Romane S.s geizen Schuchân (Lpz. 1912) u. die Kolonialismusnicht mit märchenhaften, schauerl. u. rühr- kritik der Romane Der Sang der Sakije (Lpz. seligen Effekten (Die Geisterseherin, Graefin Se- 1914) u. Der Buschhahn (Lpz. 1921). Indem raphine von Hohenacker Geschichte [...] Lpz. diese Romane ein trag. Aufsteigerschicksal 1794–96. Der Köhlerpflegling oder Der Ritter von aus dem kolonialen Ägypten bzw. das skurder Rose. Lpz. 1795). rile Ende eines kolonialen Abenteuers in Originell erscheint daneben Friedlieb Grum- Deutsch-Samoa erzählen, vermitteln sie ein bach oder Meine Geschichte als Dedication an die lebendiges Bild fremder Kultur, die von der schönen lesenden Damen zu Gernwiz (Germanien kolonialen Zivilisation materiell, sozial u. 1783/84), ein Text, der sich aus 40 Vorreden geistig bedroht wird. Der Java-Roman Schatzu ebensovielen – ungeschriebenen – Ro- tenpuppen (Mchn. 1927) konfrontiert okzimanbänden zusammensetzt. In launiger dentales u. indisches Selbstverständnis, der Sprache, ausufernder Themenfülle, Vorliebe Exilroman Der neue Daniel (Bln. 1921) amerifür Aphorismen, Exkurse u. Leseranreden, kan. Modernismus u. europ. Kultur. In den der Idylle verwandt u. voller Anspielungen fantastischen Erzählungen der 1920er Jahre, auf zeitgenöss. Literatur, kann Friedlieb z. T. gesammelt in dem Zyklus Die magische Grumbach als bescheidener Vorläufer des Jean Laterne des Herrn Zinkeisen (Mchn. 1930. StolPaul’schen Romanstils gelten. Überhaupt berg 1930), geht es um latente Gewalt u. weist S.s Werk mit seinen historisierenden verdrängte Irrationalität in der modernen Stoffen u. der Nähe zum volkstüml. Mär- Lebenswelt, z. B. im Medium dekadenter chenton auf die Romantik. Sensibilität (Das älteste Ding der Welt. Ebd.
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1923) oder vermittels des Okkulten (Alarm im Jenseits. Bln. 1927). S. erweist sich hier wie in der Höllenallegorie Der Weg zum Chef (Bln. 1927) u. in dem Schwabinger-Boheme-Roman Jossa und die Junggesellen (Mchn. 1930) zgl. als glänzender Humorist. Weitere Werke: Der schöne Tag. Mchn. 1908 (L.). – Die ewige Wiederkunft. Bln. 1925 (E.en). – Der Gott im Treibhaus. Bln. 1925 (R.). – Die Himmel der Farbigen. Mchn. 1930 (E.en). – Der Tod des Achilleus u. andere E.en. Mit Bibliogr. hg. v. Ina Seidel. Stgt. 1936. Literatur: Jürgen Edgar Buschkiel: Exotismus des Geistes. Werk u. Weltbild W. S.s. Diss. Freib. i. Br. 1954. – Winfried Freund: W. S. Das älteste Ding der Welt. In: Spiegel im dunklen Wort. Hg. ders. u. Hans Schumacher. Bd. 1, Ffm. 1983, S. 233–240. Dirk Göttsche / Red.
Seidemann, Maria, * 16.10.1944 Engelsdorf bei Leipzig, † 7.10.2010 bei Potsdam. – Lyrikerin, Erzählerin, Hörspiel- u. Kinderbuchautorin. Einer Fachschulausbildung als Archivarin schloss sich ein Fernstudium an der Humboldt-Universität in Berlin an, das S. als Historikerin beendete. Nach dem Studium am Literaturinstitut in Leipzig 1972/73 u. kurzer Tätigkeit im Staatlichen Filmarchiv war sie seit 1974 freischaffend tätig. 1971 debütierte S. mit Gedichten in »Sinn und Form«, die 1975 in den Band Kieselsteine (zus. mit Christa Müller u. Reiner Putzger. Bln./DDR) Aufnahme fanden. Das lyr. Subjekt ist durch Momente charakterisiert, die für S.s Schaffen prägend wurden: die intime Beziehung zu Malerei u. Geschichte u. eine deutlich von weibl. Erfahrungen bestimmte Perspektive, hierin wie auch im lyr. Tonfall u. Gestus Affinität zu Sarah Kirsch verratend. Dabei überwiegen Topoi der kurzzeitigen Erfüllung u. des Verlassenwerdens. Mit der Entdeckung der Prosa als einer ihr gemäßeren ästhetischen Form entstanden Geschichten (Der Tag, an dem Sir Henry starb. Ebd. 1980), die ihr erste Erfolge brachten. S.s Geschichten, mit feiner Ironie geschrieben u. märchenhaft-fantastische Darstellungselemente aufnehmend, zeigen gewöhnliche, dem Alltag verhaftete Vorgänge in ihren gesellschaftl. Zusammenhängen auf. Wiederkehrende
Themen sind Chancen weibl. Selbstbehauptung u. Möglichkeiten kreativer Selbstverwirklichung unter den Bedingungen in der DDR sowie Wirkungen u. Folgen des Zweiten Weltkriegs u. des Nationalsozialismus. So schildert Schlitterbahn (1987) gleichnishaft die gesellschaftl. u. innerehel. Konflikte einer fragilen Familie mit behindertem Kind. Parallel zu den Prosabänden entstanden Erzählungen für Kinder, von denen aufgrund ihrer themat. Brisanz Neunfinger (ebd. 1983) u. Die honiggelbe Kutsche (ebd. 1985) in die Diskussion gerieten. In beiden Texten wird das Leben u. Zusammenleben mit körperbehinderten Menschen ästhetisch anspruchsvoll gestaltet. Die Kritik nutzte die Möglichkeit zur sozialen Kommunikation über diese offiziell in der DDR tabuisierte Problematik, merkte aber gleichzeitig eine mögl. Überforderung des kindl. Lesers an. S.s Roman Das geschminkte Chamäleon (ebd. 1986) fand nur geringe Beachtung. Seit Beginn der 1990er Jahre erschienen tendenziell entpolitisierte Erzählungen (z.B. Ferien mit Minka. Würzb. 1995. Der kleine Zauberer Sim Salabim. Mchn. 2006) u. Sachbücher (z.B. Das alte Rom. Würzb. 2005) für Kinder. Weitere Werke: Ein Tgb. wird verbrannt. 1980 (Hörsp.). – Schreibauskunft. In: NDL 31 (1983), H. 3, S. 55 f. – Rosalie. Bln./DDR 1988 (E.). – Ein Floß mit Mast u. Segel. Ebd. 1989 (E.). – Ein Gespenst sucht ein Zuhause. Würzb. 1994. Literatur: Ernst Braun: Gesch.n für aufmerksame Leser. In: NDL, H. 6 (1981), S. 147–150. – Ingrid Pawlowitz: Werkstattgespräche mit M. S. In: Temperamente 2 (1983), S. 99–103. – Christian Emmrich: Nichts bleibt, wie es ist. In: NDL (1984), H. 4, S. 146–149. – Anne Mieder: Von der Suche nach Glück. In: NDL (1984), H. 10, S. 134–137. – Anna Katharina Ulrich: Kinderlit. in dt. Sprache. In: NZZ 265 (1985) S. 45–56. – Alex-Wedding-Preis 1989. In: Kinderlit.-Report 2 (1989), S. 30–35. – Christiane Baumann: Gespräch mit M. S. In: WB (1990), H. 11, S. 1782–1792. – Dies.: ›Gemeinsam arbeiten, alles teilen ...‹. Weibl. Erfahrungsmuster in Prosatexten M. S. In: Gibt es weibl. Schreiben? Schriftstellerinnen in Schweden u. der DDR. Hg. Rüdiger Bernhardt. Halle/S. 1991, S. 84–91. Christiane Baumann / Luisa Wallenwein
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Seidenfaden, Theodor, * 14.1.1886 Köln, † 6.8.1979 Hattingen. – Lyriker, Erzähler, Dramatiker.
740 Ewigen Frieden. Dinkelsbühl 1968 (Sonettenkranz). – Die Wunderburgen Gottes. Ebd. 1975 (Sonettenkranz). Michael Geiger / Red.
Der in Köln aufgewachsene Bauernsohn S. Seidl, Florian, * 30.4.1893 Regensburg, studierte nach dem Abitur Musik u. Literatur † 6.12.1972 Rosenheim. – Dramatiker, in Köln u. Bonn u. wurde Volksschullehrer. Erzähler, Lyriker. Um dem »Ungesunden im Asphalt« der Großstadt zu entfliehen u. »das Organische Wie sein Vater wurde auch S. Lehrer. Anfang neu zu finden« (Seidenfaden), bewarb er sich der 1920er Jahre engagierte er sich in der für den Schuldienst auf dem Land. Aus dem Laienspielbewegung u. schrieb erste TheaErsten Weltkrieg kehrte er schwer verwundet terstücke (Ein Spiel der Liebe. Mchn. 1926. zurück. Seit 1924 war er Direktor einer Heilige Heimat. Bln. 1932). In der Sammlung Volksschule in Königshoven, von 1934 bis zu histor. Prosaballaden, Blut (Sulzbach 1929), seiner Pensionierung 1949 Stadtschulrat in steht der ewige, »uralte« Kampf der Geschlechter im Mittelpunkt. Köln. Während des »Dritten Reiches« verfasste S. S.s literar. Werk umfasst mehr als 80 Pufast ausschließlich Romane. In dem Aufsatz blikationen u. ist z. T. auf Unterrichtszwecke ausgerichtet. Er sucht in der Orientierung an Der deutsche Roman (in: Die Neue Literatur, Nr. mittelalterl. Mystik der als seelisch verödet 38, 1937) vertrat er programmatisch die erfahrenen Gegenwart eine neue »Lebens- Auffassung, das Werden des dt. Volkes müsse gläubigkeit« entgegenzuhalten, der das von der Schaffung eines »deutschen Romans« Kreatürliche zgl. Offenbarung des Ewigen begleitet sein, der sich nicht auf die Darstelwird. Beredtes Zeugnis dieser Auffassung ist lung der bäuerl. Welt beschränken, sondern die Erzählung Hans Memlings letzter Tag (Ra- alle Schichten des Volks umfassen sollte. tingen 1940), aus der 1942 der Roman Der Deutlich rassistische Züge zeigt der Roman Meister von Brügge (Hbg.) hervorging; beide Das harte Ja (Bln. 1941), in dem der Verzicht eines »erblich belasteten« Mannes auf die stellen den dt.-niederländ. Maler, dessen geliebte Frau zum amor fati u. zum Dienst Darstellung von Christi Geburt schon den am eigenen Volk hochstilisiert wird. Nach jungen S. tief beeindruckt hatte, als letzten dem Krieg veröffentlichte S. wenig. Aus seiVertreter eines noch geschlossenen, erst nen Gedichten (gefüllt mit dem wissen der jahre. durch die Reformation zerstörten Weltbildes Kallmünz 1973) spricht die Verbitterung über dar. den eigenen Lebensweg (»wie nach grossen Mit dem Deutschen Heldenbuch (Freib. i. Br. gesetzen, / aufstieg und fall, / abermals auf1930) u. dem Deutschen Schicksalsbuch (ebd. stieg, / wieder der fall, / sich aufrichten und 1932) wollte S. dt. Volkssagen u. Spielweitergehen, weiter, / immer zu, / immer mannsepen neu beleben u. bediente damit sinnloser«). nicht zuletzt auch nationalsozialistische InWeitere Werke: Der verlorene Sohn. Urauff. teressen. Nach dem Krieg gestaltete S., in- Regensb. 1929. Buchausg. Bln. 1931 (D.). – Der zwischen Vizepräsident des »Deutschen Kul- Bau. Braunschw. 1937 (R.). turwerks europäischen Geistes«, seine reliLiteratur: M. Hofmann: F. S. In: Die Neue Lit. giöse Erfahrung v. a. in der Form von Sonet- 43/44 (1942/43), S. 27–31. – Ernst Jockers: F. S. tenkränzen in betont konservativer Grund- Kallmünz 1961. – Rupert Hochholzer: Die ›Behaltung. tonkopfstraße‹ oder Warum Straßennamen mehr Weitere Werke: Sofia. Saarlouis 1919 (L.). – Volksspiel vom St. Christopherus. Ffm./Bln. 1924. – Dietrich v. Bern. König der Goten. Mchn. 1928 (Heldenlied). – Der hl. Strom. Ebd. 1930 (Legenden). – Göttl. Erde. Dt. Licht jenseits Oder u. Neiße. Dinkelsbühl 1955 (Gespräche). – Der Zauberspiegel. Wiesb. 1955. Bad Orb 1999 (Legende). – Zum
sind als ›Schall und Rauch‹. Anmerkungen zur Umbenennungsdiskussion der F.-S.-Straße in Regensburg. In: Namenforschung u. Namendidaktik. Hg. Kurt Franz u. Albrecht Greule. Baltmannsweiler 1999, S. 131–141. Peter König / Red.
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Seidl, Johann Gabriel, auch: Meta Communis u. a., * 21.6.1804 Wien, † 18.7. 1875 Wien; Grabstätte: ebd., Zentralfriedhof (Ehrengrab). – Lyriker, Erzähler, Dramatiker; Archäologe.
Seidl geheime polit. Sendung. In: Zeman 3, S. 231 ff. – Kosch. – Florian Tomaschitz: J. G. S. u. F. Schubert. Diplomarbeit Wien, 2001. – Hubert Lengauer: Mitternacht u. Morgenröte. Licht auf die Biogr. eines Mittelmäßigen. Zu J. G. S. In: The Other Vienna. The Culture of Biedermeier Austria. Österreichisches Biedermeier in Lit., Kunst u. Kulturgesch. Hg. Robert Pichl u. a. Wien 2002, S. 95–118. – Ders.: J. G. S. In: ÖBL. Elisabeth Lebensaft
Der Sohn eines Hof- u. Gerichtsadvokaten studierte in Wien 1819–1826 Philosophie u. Jura. Seit 1829 Gymnasiallehrer in Cilli/Untersteiermark, kehrte S. 1840 als Kustos am Münz- u. Antikenkabinett (bis 1848 auch Zensor) nach Wien zurück. Numismatische, Seidl, Walter, * 17.4.1905 Troppau/Böhepigrafische u. für die österr. Provinzialar- men, † 29.8.1937 Neapel; Grabstätte: chäologie richtungweisende Studien erschie- Prag, Urnenfriedhof. – Romancier, Dranen in namhaften Periodika (Mitgliedschaft matiker, Redakteur. u. a. bei der Akademie der Wissenschaften in Der Sohn des deutschnationalen ReichsratsWien). 1856–1871 unterstand ihm als k. abgeordneten Ferdinand Seidl studierte MuSchatzmeister die Schatzkammer. Daneben sikwissenschaft u. Literaturgeschichte an der war er auch Mitbegründer u. Redakteur der Universität Grenoble u. wurde Musikreferent »Zeitschrift für die österreichischen Gymna- beim »Prager Tagblatt«. S. debütierte mit sien« (Wien 1850 ff.). dem witzig-polem. Musikerroman Anasthase Seit 1820 veröffentlichte S. – in seiner und das Untier Richard Wagner (Wien 1930), der Studienzeit u. a. mit Lenau, Halm, Herloß- am Beispiel eines binationalen Musikkritisohn befreundet – lyrische, novellistische u. kers – der sich vom Pariser Avantgardisten dramat. Beiträge sowie Rezensionen in Zeit- zum Wagner-Verehrer wandelt – Grenzfraschriften, Almanachen u. Jahrbüchern gen dt.-frz. Psyche behandelt. Im selben Jahr (1828–1858 war er Herausgeber des Ta- erschienen als Bühnenmanuskripte das utop. schenbuchs »Aurora«); 1826–1828 erschien Drama Welt vor der Nacht, in dem der polit. in Wien eine erste Sammlung seiner Dichtun- Antagonismus von Führerdiktatur u. Kolgen (3 Bde.), die bereits die Tendenz zur lite- lektivismus den Hintergrund bildet für einen rar. Kleinform erkennen ließ. In der Folge spannenden Kampf um die Weltherrschaft, u. wurde bes. seine Lyrik populär: Neben den die »groteske Komödie« Wirbel in der ZirbelBifolien (Wien 1836) verbürgten auch die drüse, eine Sexualburleske über einen vervielfachen Vertonungen, darunter eine Reihe klemmten Mittelschulprofessor, der sich in von Schubertliedern (zuletzt die Taubenpost), einen Hornochsen verwandelt (beide Badensowie die z.T. ins Volksliedgut eingegange- Baden). Ein Bühnenerfolg wurde erst Spiel um nen Flinserln (ebd. 1828–37), vorwiegend die Welt (1935; unveröffentlicht), eine filVierzeiler in niederösterr. Mundart, die der misch-rasante Variation von Welt vor der Nacht. Schnaderhüpfelpoesie nachgebildet sind, ei- Der satir. Roman Romeo im Fegefeuer (Bln. nen hohen Rezeptionsgrad. S. schuf auch den 1932) verspottet die philiströsen Sitten einer neuen Text zur österr. Volkshymne Gott er- Kleinstadt, während der autobiogr. Bilhalte (ebd. 1854). Heute wird S., wichtiger dungsroman Der Berg der Liebenden (MährischVertreter der literar. Vormärzpublizistik in Ostrau 1936. Neuausg. mit einem Nachw. hg. Wien, als »eine Art österreichischer Idealty- von Dieter Sudhoff. Wuppertal 2002), S.s pus des Biedermeierlichen« (Lechner) ange- Hauptwerk, ohne satir. Übersteigerung die Befreiung von der väterl. Ordnungswelt sehen. Ausgaben: Ges. Schr.en. Hg. Hans Max. 6 Bde., schildert, das dt.-tschech. Verhältnis probleWien 1877–81. – Ausgew. Werke. Hg. Wolfgang v. matisiert u. für die dt.-frz. Verständigung Wurzbach. 4 Bde., Lpz. o. J. (mit Einl.). eintritt. Literatur: Julius Watzek: J. G. S.s Flinserln. Diss. Wien 1966. – Silvester Lechner: Des Idyllikers
Weiteres Werk: Erlebnis im Hause Knut Hamsuns. Chemnitz 1933.
Seidler Literatur: Max Brod: Der Prager Kreis. Ffm. 1979, S. 215–218. – Zdeneˇk Marecˇek: Spiel um die Welt. Ein Stück W. S.s im Vergleich zu einigen Werken Karel Cˇapeks. In: Brünner Beiträge zur Germanistik u. Nordistik 7 (1991), S. 105–114. – Ders.: Zum Romanwerk W. S.s. In: Brücken. Germanistisches Jb. N. F. (1991/92), S. 93–99. – Ders.: Das Parodistische bei W. S. In: Germanistentreffen BR Dtschld. – CˇSFR: 6.–10.10.1992. Dokumentation der Tagungsbeiträge. Hg. Dt. Akadem. Austauschdienst. Red.: Werner Roggausch. Bonn o. J., S. 75–81. – Elisabeth Lebensaft u. Jitka Ludvová: W. S. In: ÖBL. Dieter Sudhoff † / Red.
Seidler, Louise (Caroline Sophie), * 15.5. 1786 Jena, † 7.10.1866 Weimar; Grabstätte: ebd., Alter Friedhof. – Malerin, Verfasserin ihrer Lebenserinnerungen.
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tät« (Uhde) die dortige Künstlerszene mit vielen Details über das Leben in Italien, die von männl. Tagebuchschreibern meist übersehen worden sind. 1824 wurde S. Aufseherin der Bildergalerie der Zeichenschule in Weimar. Später zur Hofmalerin ernannt, war sie bis zu ihrer Erblindung im hohen Alter eine gesuchte Porträtistin, malte aber auch Altarbilder u. allegor. Kompositionen. Zum 100. Geburtstag Goethes malte sie Dichtung und Wahrheit, Goethes Manen geweiht. Literatur: Rainer Schmitz (Hg.): Henriette Herz in Erinnerungen, Briefen u. Zeugnissen. Lpz./ Weimar 1984, S. 393, 452 f., 476. – Sylke Kaufmann: L. S. als Kustodin der großherzogl. Gemäldesammlung. In: Goethes Bildergalerie. Die Anfänge der Kunstslg.en zu Weimar [Ausstellungskat.]. Hg. Rolf Bothe u. Ulrich Hanssmann. Bln. 2002, S. 65–70. – Dies.: L. S. – Leben u. Werk. Mit einem Œuvreverz. ihrer Ölgemälde, Pastelle u. bildmäßigen Zeichnungen. Diss. Halle 2006. – Bärbel Kovalevski: L. S. 1786–1866. Goethes geschätzte Malerin. Bln. 2006. – Gerd Reitz: L. S.: die gefeierte Malerin. In: Ders.: Ich war ganz Weib. Lebensbilder berühmter Frauen der Goethezeit. Erfurt 2007, S. 18–21. – S. Kaufmann: L. S. In: NDB. Ingrid Sattel Bernardini / Red.
Die Tochter eines Universitätsstallmeisters lebte nach dem Besuch des Stieler’schen Mädchenpensionats in Gotha zunächst in Jena, wo sie bes. im Haus des Buchhändlers Carl Friedrich Ernst Frommann mit wichtigen Vertretern des dt. Geisteslebens bekannt wurde. Ihre zuerst 1874 in Berlin erschienenen Memoiren (21875. Neudr., hg. von Hermann Uhde, u. d. T. Erinnerungen der Malerin Louise Seidler. Bln. 1922. Zuletzt u. d. T. Goethes Malerin. Die Erinnerungen der Louise Seidler. Hg. Seidlhofer, Waltraud, * 26.11.1939 Linz. Sylke Kaufmann. Bln. 2003) enthalten wert– Prosaautorin, Lyrikerin. volle Informationen über den intellektuellen Kreis in Jena, der für ihre geistige Ausbildung Nach der Matura wurde S. Bibliothekarin in bedeutsam war. Auch für die napoleonische Linz, von 1972 bis 1994 arbeitete sie in der Ära in Jena sind sie eine wichtige Quelle. Seit Stadtbücherei Wels. S., die in Thalheim bei 1810 in Dresden, widmete sich S. ihrer Wels lebt, ist Mitgl. der Grazer Autorenverkünstlerischen Ausbildung. Sie verkehrte sammlung u. der Künstlergruppe MAERZ. in Theodor Körners Elternhaus, schloss Sie erhielt u. a. den Kulturpreis des Landes Freundschaft mit Henriette Herz u. Johanna Oberösterreich (1991), den KunstwürdiSchopenhauer, malte Goethe in Weimar u. gungspreis der Stadt Linz für Literatur (2000) lernte bei ihm Bettine von Arnim kennen. u. den Heimrad-Bäcker-Preis (2008). Während eines Studienjahres (1817) an der S.s Texte sind immer neue Versuche, Münchener Akademie tauschte sich S. mit Raum- u. Zeitstrukturen poetisch zu erforFriedrich Heinrich Jacobi u. Schelling aus. schen; Sprache u. Schrift kreisen in VariatioDank ihrer Tätigkeit als getreue Kopistin nen um Orte, Bilder, Bewegungen. Nach dem altital. Meister der Münchner Galerien für Band fassadentexte (Linz 1976) erschien Geoden Weimarer u. Gothaischen Hof u. einer metrie einer Landschaft (ebd. 1986) ebenfalls im herzogl. Zuwendung konnte sie 1818 nach Verlag edition neue texte des Autors u. FörRom reisen, wo sie bis 1823 blieb. In den derers experimenteller Literatur, Heimrad Memoiren, die mit ihrem Abschied von Rom Bäcker. Neben der frühen Auseinandersetenden, schilderte sie in »empfindsamer Ur- zung mit dem Nouveau roman war die Besprünglichkeit« u. »romantisierender Naivi- gegnung mit der Gruppe um Bäcker für S.s
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Seiffart
Schreiben von großer Bedeutung. In den 1994 (P.). – la(e)sergedichte. mit textgrafiken v. Wiener Vorlesungen zur Literatur (in: frei- fritz lichtenauer. Linz 1996. – te anau. wilderness. bord 70, 1989) reflektiert sie auch ihr literar. zeilen. Baden bei Wien 2001 (L.). – Gehen. Ein Selbstverständnis, wenn sie über Physik, Geo- System. Klagenf./Wien 2005 (P.). – Ausgewählte Gedichte. Vorw. v. Christian Steinbacher. Wien metrie und Literatur. Spuren von Berührung 2009. nachdenkt. Der Abstraktion u. GeometrisieLiteratur: W. S. Linz 2000 (Die Rampe. Porträt). rung der Beschreibung entspricht in S.s TexChrista Gürtler ten die Geometrie des Schriftbildes auf der Papierfläche: »es ist dem menschen vorbehalten bilder mit worten / und worte mit Seiffart, Daniel, * 12.4.1661 Zwickau, bildern zu verbinden / es ist ihm möglich, † 10.4.1706 Zwickau. – Lutherischer Erworte mit bildern zu beschreiben / er kann bauungsschriftsteller. worte in bilder verwandeln / zeichen setzen«, Nach pfarramtl. Tätigkeit in Kleinsommern/ heißt es in bild(er)betrachtungen. eine serie & sanft Thüringen u. Büchel wurde S. 1699 Diakonus / geht der tag / mit uns um (Weitra 1989), einem an der Oberkirche in Zwickau. Seine umBuch mit Texten zu Bildern – Text-Bildern fangreichen Erbauungsbücher, bes. Christvon S. u. Bildern des Malers Wolfgang Böhm. holds Biblia in imaginibus sive mystico-emblemaS. arbeitete in Ausstellungen u. Buchprojek- tico-historica, das ist: Bilder-Bibel (Ffm./Lpz. ten häufig mit bildenden Künstlern zusam- 1705), sind interessante Beispiele spätorthomen; so erschien u. a. ihr Lyrikband stadtal- doxen Symboldenkens. Bei dem Bemühen, zu phabet mit Messerschnitten von Joseph Kuhn jedem Vers ein Lebens-, Geheimnis- u. Sinn(Wels 2010), auch der Titel ihres Bandes Boote bild zum Erweis des »Sensus mysticus« der in Museen (Wels 2008) verweist auf die Kor- Hl. Schrift aufzudecken, kam S. freilich nur respondenz von Schrift u. Bild. S.s Schreiben bis Gen 9. Mit Humor u. Sinn für das Anekist bestimmt von der Reflexion, also dem dotische bezieht er auch Ereignisse aus den Beschreiben des Schreibens u. dem Benennen damaligen Pfarrkonventen in seine Darstelvon Strukturen u. Bildern. In ihrem um- lung ein. fangreichsten Prosatext text: ein erinnern (Linz S. schloss mit seinen Erbauungsbüchern an 1999) wird die Unmöglichkeit, »das Erinnern die Tradition der Emblematik an, insbes. an in Übereinstimmung mit dem Erinnerten zu Scrivers Seelen-Schatz u. Gottholds zufällige Anbringen« (Christian Steinbacher) themati- dachten sowie an die seit 1679 durch Dunst siert, u. so wird in Variationen u. Wiederho- mit Abbildungen profaner Gegenstände auslungen der Erinnerungsprozess selbst zum gestatteten Ausgaben von Arndts Wahrem Handlungsträger. In ihren späteren Prosa- Christentum. Mit der Betonung moralischer texten ist eine Hinwendung zur Konkreti- Wahrheiten u. gelegentl. teleolog. Interpresierung ablesbar, Landschaften, Orte werden tationen natürl. Gegenstände finden sich in erkennbar wie in WELLINGTON oder der private S.s Schriften bereits Spuren frühaufkläreriVersuch, eine vorübergehende Gegenwart zu be- schen Denkens. schreiben (Wels 2002), der sehr nahe ans DoWeitere Werke: Christholds Deliciarum melikumentarische geht. In den Prosaskizzen carum centuria prima, oder christ-erbaul. LiederTage, Passagen (Wien 2009) setzt S. ihre Er- Ergötzlichkeiten erstes Hundert [...]. Nürnb. 1704. kundung einer Topografie von Stadt- u. In- – Mel melicum magnatum morientium, oder seedustrielandschaften fort, die sie seit Beginn len-labendes Trost Honig welches grosse Herren u. ihres Schreibens beschäftigt, u. kontrastiert Standes-Personen aus geistreichen Psalmen [...] gesogen [...]. Jena 1704. – Singularia Evangelica. sie mit der subjektiven Beschreibung der Ebd. 1706. – Bibl. Bilder-Ergötzlichkeiten [...]. schmerzenden Schreibhand. Ffm. 1712. Weitere Werke: Bestandsaufnahmen. Linz 1971 (L.). – bruchstücke. variationen. Weitra 1991 (P.). – anstelle von briefen. ausgewaehlte lyrik 1967–1992. Mit Bildern v. Wolfgang Böhm. Linz 1994. – zeit. staedte. spiel. eine sammlung. Wels
Literatur: Paul Tschackert: D. S. In: ADB. – Gustav Koffmann: Die religiösen Bewegungen in der evang. Kirche Schlesiens im 17. Jh. Breslau
Seifried Helbling 1880. – Der Protestantismus des 17. Jh. Hg. Winfried Zeller. Bremen 1962. Rudolf Mohr / Red.
Seifried Helbling ! Helbling, Seifried Seifrit. – Verfasser eines spätmittelalterlichen Alexanderromans. S.s Werk (über 9000 Verse) ist unter den mittelalterl. gereimten Bearbeitungen des Alexanderstoffs in dt. Sprache die vorletzte, vollendet in der Martinsnacht 1352 (vv. 9027 f.); um 1390 folgt noch der Große Alexander. Der Autor nennt sich in V. 9067; seine Lebensumstände scheinen nicht glücklich gewesen zu sein. Sprachliche Kriterien deuten auf österr. oder bair. Herkunft. Hauptquelle S.s war eine aufgeschwellte u. zgl. lückenhafte Fassung der Historia de preliis Alexandri Magni J2 ; für einzelne deutlich markierte Abschnitte könnte S. gesonderte Vorlagen benutzt haben. Die Historia ist im ganzen recht getreu u. in bewusst schmuckloser Sprache wiedergegeben. Ausgeweitet sind Kampf-, Fest- u. Begräbnisschilderungen, die unverkennbar an die volkssprachige höf. Tradition anknüpfen. Vor allem aber gab S. der Erzählung eine dezidiert polit. Dimension, indem er konsequent das »Kaisertum« Alexanders, den er als »obrist Gottes richter« bezeichnet (v. 80), akzentuierte u. auch die heilsgeschichtl. Bezüge hervorhob. Möglicherweise formulierte S. seine Konzeption von Kaiser u. Reich speziell im Blick auf die konkrete histor. Situation – seien es die ersten Regierungsjahre Karls IV., sei es vielleicht noch die Herrschaft Ludwigs des Bayern. Negative Züge hält S. nach Kräften von der Herrschergestalt fern. Die knappere erste Hälfte (bis v. 4157) erzählt Alexanders sagenhafte Zeugung u. Geburt, erste Erfolge u. bes. die Kämpfe mit Darius bis zum Übergang der Weltherrschaft an die Griechen. In der zweiten Hälfte werden Alexanders Eroberungszüge (v. a. die Kämpfe mit Porus von Indien), die Begegnung mit zahlreichen Wundern u. Ungeheuern u. seine Entdeckungsfahrten (auch die Fahrt zum Paradies, die Greifen- u. die Tauchfahrt) erzählt, bis er schließlich in Babylon einzieht u. dort in Herrlichkeit acht
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Jahre regiert. Die Vergiftung, das Testament, die Bestattung in Alexandria bilden den Schluss. Die Diadochenkämpfe u. die translatio imperii an Rom sind noch kurz angedeutet. Bemerkenswerterweise wurde S.s Dichtung neben den Prosaversionen des Meister Wichwolt (Wybolt, Babiloth) von etwa 1400 u. Johannes Hartliebs von etwa 1450 das ganze 15. Jh. hindurch eifrig abgeschrieben (16 zumeist bairisch-österr. Handschriften, s. Pawis); in den Buchdruck gelangte sie freilich nicht. Schon im 14. Jh. hat ein Bearbeiter der Weltchronik Heinrichs von München S.s Werk exzerpiert (vier Handschriften). Im 15. Jh. dienten Prosaauszüge als Ergänzung von Hartliebs Alexander (zwei Handschriften). Ausgaben: S.s Alexander. Aus der Straßburger Hs. hg. v. Paul Gereke. Bln. 1932 (zitiert). Dazu Carl v. Kraus in: Sitzungsber.e der Bayer. Akademie der Wiss.en, Philosoph.-histor. Klasse, Jg. 1940, H. 1, S. 15–22. – Richard Bryson Blair: An Edition of the Univ. of Pennsylvania Manuscript of S.’s ›Alexanderlied‹. Diss. Univ. of Pennsylvania. Philadelphia 1979. – Digitalisate der Hss. in Heidelberg u. Philadelphia: http://diglit.ub.uni-heidelberg.de/ diglit/cpg347/; http://dla.library.upenn.edu/dla/ medren/detail.html?id=MEDREN_4229416. Literatur: Ingeburg Kühnhold: S.s Alexander. Diss. Bln. 1939. – Karin Schneider: Die dt. Hss. der Bayer. Staatsbibl. Cgm 201–350. Wiesb. 1970, S. 210 f. – Friedrich Pfister: Kleine Schr.en zum Alexanderroman. Meisenheim am Glan 1976. – Rüdiger Schnell: S.s ›Alexander‹ u. die Reichspublizistik des späteren MA. In: Die Reichsidee in der dt. Dichtung des MA. Hg. ders. Darmst. 1983, S. 277–314. – Alfred Ebenbauer: Antike Stoffe. In: Epische Stoffe des MA. Hg. Volker Mertens u. Ulrich Müller. Stgt. 1984, S. 247–289, bes. S. 278. – Gisela Kornrumpf: Die ›Weltchronik‹ Heinrichs v. München. In: FS Ingo Reiffenstein. Hg. Peter K. Stein u. a. Göpp. 1988, S. 493–509, bes. S. 499. – Trude Ehlert: Deutschsprachige Alexanderdichtung des MA. Ffm. u. a. 1989, bes. S. 141 f. – Reinhard Pawis: S. In: VL (Lit.). – T. Ehlert: Der Alexanderroman. In: Mhd. Romane u. Heldenepen. Hg. Horst Brunner. Stgt. 1993, S. 21–42, hier S. 38 f. – Alexander Colin Gow: The Red Jews. Antisemitism in an apocalyptic age, 1200–1600. Leiden 1995, S. 60 f., 338–342. – Renate Schänzer: Die Erziehung u. Bildung Alexanders des Großen in den Alexanderdichtungen des MA. Diss. TU Braunschweig 1996, S. 279–287. – Robert Schöller:
745 S.s ›Alexander‹. Form u. Gehalt einer histor. Utopie des SpätMA. Wien 1997. – Dorothea Klein: Studien zur ›Weltchronik‹ Heinrichs v. München. Text- u. überlieferungsgeschichtl. Untersuchungen zur Redaktion b. Tl. 1, Wiesb. 1998 (Register). – Elisabeth Lienert: Dt. Antikenromane des MA. Bln. 2001, S. 62 f. – Ralf Schlechtweg-Jahn: Monolog. u. dialog. Erzählen in deutschsprachigen Alexandertexten. In: The Medieval Chronicle II. Hg. Erik Kooper. Amsterd./New York 2002, S. 223–237, hier S. 226–229. – Beate Baier: Die Bildung des Helden. Erziehung u. Ausbildung in mhd. Antikenromanen u. ihren Vorlagen. Trier 2006, bes. S. 228–234, 448 f. – R. Schlechtweg-Jahn: Macht u. Gewalt im deutschsprachigen Alexanderroman. Trier 2006, S. 238–263. Gisela Kornrumpf
Seiler, Lutz, * 8.6.1963 Gera. – Lyriker, Erzähler. Nach einer Lehre als Baufacharbeiter arbeitete S. als Zimmermann u. Maurer u. studierte dann in Halle/Saale u. Berlin bis 1990 Germanistik. 1993–1998 war er Mitherausgeber der Literaturzeitschrift »moosbrand«. Seit 1997 leitet S. das Peter-Huchel-Haus in Wilhelmshorst. In seinem ersten Gedichtband berührt / geführt (Chemnitz 1995) verortet S. das Gedicht mittels der Schachmetapher auf der Schwelle von Realität u. ästhetischem Spiel. Formal gibt berührt / geführt eine Dualität vor, meist als einfache Dopplung markiert durch das Satzzeichen ›&‹, das ins Gewicht fällt, da S. mit der Interpunktion sparsam umgeht: »reiz & zier«, »pech & blende« (in: berührt / geführt, S. 8, 44). Auffällig ist S.s Vorliebe für Widmungen, die literar. Vorbilder anzeigen (Peter Huchel, E. E. Cummings) u. an Lebensbezüge erinnern, sowie für Wortspiele: »heute hier, morgen gestern« (S. 16, 42). Diese Aspekte werden in dem Erfolgsband pech & blende (Ffm. 2000) aufgegriffen; sie durchziehen die Sprache bis zu dem Band vierzig kilometer nacht (Ffm. 2003). S.s Sprache verfremdet den konventionellen Ausdruck durch Isolation einzelner Elemente, wobei auf syntagmat. Ebene durch Anakoluthe, Reihungsstil, partizipiale Einschübe, abrupten Bildwechsel u. Ellipsen die Gedankenbewegung einen stockenden Rhythmus erhält: »stationen / bahnstationen, nachbarstaaten:
Seiler
ich / bin müde auf dem hocker« (in: vierzig kilometer nacht, S. 56). Gedichttitel wie das neue reich oder bodmers tal (in: Die Anrufung. Warmbronn 2005) deuten auf literaturgeschichtl. Rückbindung hin. Der Band Sonntags dachte ich an Gott (Ffm. 2004) enthält Essays über Literatur u. poetolog. Fragen. Der Prosaband Die Zeitwaage (Ffm. 2009) versammelt kurze, teilweise vorab veröffentlichte Texte, die entweder in der dritten oder ersten Person ereignishafte Momente im Leben der Figuren erzählen. So überträgt die Erzählung Die Anrufung (zuerst 2005) das Verfahren der Gedichte, ästhetische Reflexion zu verbinden mit erlebter, anekdot. Wirklichkeit. S. sieht die Aufgabe der Poesie darin, erfahrene ›Schönheit‹ darzustellen. Die erste Rezeption stellte S.s Gedichte in den Kontext von Erinnerungs- u. Heimatpoesie. S. erhielt mehrere Literaturpreise, u. a. 1999 den Kranichsteiner Literaturpreis, 2000 den Dresdner Lyrikpreis, 2002 den AnnaSeghers-Preis, 2003 den Ernst-Meister-Preis, 2004 den Literaturpreis der Freien Hansestadt Bremen, 2007 den Ingeborg-BachmannPreis u. 2010 den Fontane-Preis der Stadt Neuruppin. Seit 2007 ist er Mitgl. der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz. Weitere Werke: Heimaten (zus. mit Anne Duden u. Farhad Showghi). Gött. 2001. – Hubertusweg. 3 Gedichte. Warmbronn 2001. – Turksib. Ffm. 2008 (E.en). Literatur: Michael Braun: L. S. In: LGL. – Marja Rauch: L. S. In: KLG. – Birgit Dahlke: ›Die Heimat als Gangart, auch im Vers‹. Zur Lyrik von Barbara Köhler u. L. S. In: Weiterschreiben. Zur DDR-Lit. nach dem Ende der DDR. Hg. Holger Helbig unter Mitarb. v. Kristin Felsner u. a. Bln. 2007, S. 133–146. – Karen Leeder: Heimat in der neuen dt. Lyrik. In: Gedächtnis u. Identität. Die dt. Lit. nach der Vereinigung. Hg. Fabrizio Cambi. Würzb. 2008, S. 135–153. – Peter Geist: ›überdunkeltes atmen durch die umzäunung‹. Über die Lyrik L. S.s u. ihre Wahrnehmung in der Literaturkritik. In: die horen 46 (2001), H. 203, S. 163–180. Alexander Nebrig
Seitz
Seitz, Seytz, Sitz, Sytz, Alexander, * um 1470 Marbach/Neckar, † um 1545. – Arzt, Fachschriftsteller u. Dramatiker. S. studierte 1488–1495 in Tübingen Theologie u. Medizin. Als Schüler Gabriel Biels hatte er Zugang zum Hof Eberhards d.Ä. Nach weiteren Studien in Rom u. Padua war S. Arzt in Württemberg; wegen Beteiligung am Aufstand des »Armen Konrad« (1514) verurteilte ihn Herzog Ulrich zum Tode. Mit der Flucht aus Württemberg begann für S. ein unstetes Leben, v. a. in der Schweiz (Kontakt mit Zwingli) u. in Süddeutschland. Politische Aktivitäten u. unorthodoxes Engagement für die Reformation führten immer wieder zu Schwierigkeiten mit der Obrigkeit, Prozessen u. Ausweisungen, zuletzt 1545 in Landau/ Pfalz. Als gefragter Arzt (1519–1521 Stadtarzt in München) war S. finanziell unabhängig. In Basel (Aufenthalte 1527–1530 u. 1532/ 33) heiratete er die ehemalige Nonne Margreth vom Grutt. Leben u. Werk charakterisieren S. als eine streitbare, im Denken u. Handeln konsequente Persönlichkeit; sein vielseitiges Œuvre enthält wichtige, z.T. originäre Überlegungen u. Stellungnahmen zu zentralen Themen der ersten Hälfte des 16. Jh. Mit seinen in dt. Sprache veröffentlichten vier medizinischen Schriften wendet sich S. an ein breiteres Publikum. Aktuelle Themen (Syphilis, Badekuren, Aderlass, Pest) werden theoretisch u. praxisbezogen, aber auch sozialkritisch abgehandelt. So enthält Ain schöner Tractat von dem Saturnischen gschoß der Pestilentz (Augsb. 1521. Internet-Ed.: VD 16 digital) zahlreiche polem. Passagen über Missstände im Gesundheitswesen. Ein nutzlich regiment vuider die bosen frantzosen (Pforzheim 1509. Internet-Ed.: VD 16 digital) ist die erste von einem Arzt in dt. Sprache verfasste Syphilis-Schrift. In einer Kampfschrift gegen Ulrich von Württemberg postuliert S. in der Form einer Traumallegorie – eingeleitet durch eine philosophisch-medizinische Abhandlung über Schlaf u. Traum – die Pflicht zum Widerstand gegen tyrannische Herrschaftssysteme (Ein schoner Tractat, darinnen begriffen ist die Art unnd Ursach des Traümes [...]. Landshut 1515). 1531–1533 entstanden sechs
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handschriftl. Entwürfe, in denen S. sich u. a. überaus kritisch zur Entwicklung der Reformation äußert (Zersplitterung der Bewegung, Glaubenszwang) u. eine eigenständige Position zum Problem des freien Willens erarbeitet. S.’ einziges dichterisches Werk, die auch theatergeschichtlich interessante Tragedi [...] vom grossen Abentmal (Straßb. 1540), u. der umfangreiche, Landgraf Philipp von Hessen gewidmete Traktat Das truncken schwert gottes (Hs. 1544) sind thematisch eng verknüpft. Unter Verwendung zweier literar. Formen werden wesentl. Aspekte der polit., religiösen, sittl. u. sozialen Verhältnisse in Deutschland dargestellt u. interpretiert. Ausgaben: Sämtl. Schr.en. Hg. Peter Ukena. 3 Bde., Bln. 1969–75 (krit. Ausg.). – Tragedi vom grossen Abentmal. In: Dt. Dramen v. Hans Sachs bis Arthur Schnitzler. Hg. Markus Finkbeiner. Ffm. 2005 (CD-ROM). Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: Johannes Bolte: Eine protestant. Moralität v. A. S. In: ZfdPh 26 (1894), S. 71–77. – Johannes Bolte: A. S. In: ADB. – Karl Schottenloher: Dr. A. S. u. seine Schr.en. Mchn. 1925. – Peter Ukena: A. S. Diss. Bln. 1970. – Ders.: Eine lat. Grammatik v. A. S. [...]. In: Daphnis 1 (1972), S. 175–180. – Ders.: Solutus cum soluta. A. S.’ Thesen über die Notwendigkeit des Geschlechtsverkehrs zwischen Unverheirateten. In: Fachprosa-Studien. Hg. Gundolf Keil. Bln. 1982, S. 278–290. – Klaus Speckenbach: Aufruf zum Widerstand. Agitation gegen Herzog Ulrich v. Württemberg in dem Traumtraktat v. A. S. In: Sprache u. Recht. Beiträge zur Kulturgesch. des MA. FS Ruth Schmidt-Wiegand. Hg. Karl Hauck u. a. 2 Bde., Bln./New York 1986, Bd. 2, S. 896–929. – Gisela Möncke: Die ›Declamatio in laudem artis medicae‹ v. A. S. Ein unbekannter Basler Druck. In: Gutenberg-Jb. 76 (2001), S. 190–194. – Wolfram Washof: Die Bibel auf der Bühne. Exempelfiguren u. protestant. Theologie im lat. u. dt. Bibeldrama der Reformationszeit. Münster 2007, Register. – Robin B. Barnes: A. S. and the medical calling. Physic, faith and reform. In: Ideas and cultural margins in early modern Germany. FS H. C. Erik Midelfort. Hg. Marjorie Elizabeth Plummer u. a. Farnham u. a. 2009, S. 183–199. Peter Ukena / Red.
Sekte der Minner
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Seivert, Seiwert, Gustav (Gottlieb), * 8.7. 1820 Hermannstadt, † 17.1.1875 Hermannstadt. – Archivar, Historiker, Erzähler. (Postumer) Sohn eines Beamten, trat S. 1841 in Neumarkt (Tirgu Mures¸ ) in den Gerichtsdienst ein, studierte 1843–1845 Jura in Berlin u. stand dann als Beamter im Dienst der Stadt Hermannstadt. 1861 Magistratsrat, wurde er 1872 zgl. Archivar des sächs. Nationalarchivs u. des Hermannstädter Archivs. S.s Wirken als Geschichtsforscher wie als histor. Erzähler ist im Kontext zu sehen mit dem nach 1848 bei den Siebenbürger Sachsen einsetzenden Aufschwung der landeskundl. Forschung sowie – in dessen Folge – der Pflege schöngeistiger Literatur geschichtl. Thematik. Ausgehend von seiner histor. Skizze Die Stadt Hermannstadt (Hermannstadt 1859) veröffentlichte er wertvolle Arbeiten zur Geschichte des Zunft- u. Geldwesens, kulturhistor. Mitteilungen u. Editionen, v. a. in der Wochenschrift »Transsilvania« (1862–64) u. im »Archiv des Vereines für siebenbürgische Landeskunde« (1864–76). Die literar. Arbeiten, fast alle in seinen Culturhistorischen Novellen aus dem Siebenbürger Sachsenlande (3 Bde., Hermannstadt 1866/67) gesammelt, erheben zwar keinen Anspruch auf bes. literar. Wert, werden ihrem Hauptzweck, der Verbreitung histor. Kenntnisse auf der Grundlage größtmögl. Quellentreue, jedoch voll gerecht. Ausgabe: Der Schneideraufruhr in Hermannstadt u. a. E.en. Hg. Bernhard Capesius. Bukarest 1956. Literatur: Georg Daniel Teutsch: Denkrede auf G. S. In: Archiv des Vereines für siebenbürg. Landeskunde N. F. 13 (1877), S. 383–406. – Carl Göllner u. Joachim Wittstock (Redaktion): Die Lit. der Siebenbürger Sachsen in den Jahren 1849–1918. Bukarest 1979. – Johannes Seidl: G. S. In: ÖBL. Hubert Reitterer / Red.
Sekte der Minner. – Anonyme Minnerede des 14. Jh. Der 248 Reimpaarverse umfassende Text ist unikal überliefert in der 1870 verbrannten Mären- u. Kleinepikhandschrift Straßburg, Stadbibl. Cod. A 94. Er verbindet die Parodie
geistl. Sprechhaltungen (Predigt, Katechese, gemeinsames Bekenntnis, Lossprechung, Segen) mit dem Preis körperl. Liebeserfüllung. Der Ich-Sprecher tritt als Prediger u. Verkünder einer neuen Sekte mit dem Namen »vides recta« (V. 3) auf, deren Gebote höf. Minnekonzeptionen teilweise aufnehmen, teilweise verkehren u. ins Körperliche wenden: Frauen sollen sich ohne Bezahlung, dafür aber beständig der Liebe hingeben; Männer sollen sich ihrer Liebschaften nicht rühmen; der Ehebruch einer mit einem Impotenten verheirateten Frau ist nicht verdammenswert, sondern – sofern er heimlich geschieht – sogar ehrenvoll, weshalb der Sprecher das Angebot macht, gegen Bezahlung einen idealen, tugendhaften wie potenten Liebhaber zu vermitteln. In einem zweiten Teil skizziert der Sprecher ein noch zu gründendes Kloster dieser Minne-Religion u. dessen Regeln: Hier ist alles auf die körperl. Liebeserfüllung ausgerichtet; Askese ist abgelöst durch Fülle u. Annehmlichkeit. Verboten sind nur, eine Frau zum Weinen zu bringen u. Blutschande zu treiben. Der Sprecher bietet sich als Beichtvater an u. schließt mit allgemeinen Sentenzen zum Wert der heiml. Minne sowie der Aufforderung zu einem gemeinsamen ›Amen‹. Statt um systemat. Lehre oder ein konsistentes Klostermodell geht es dem Text eher assoziativ um die Verkehrung geistl. Normen. Parallelen lassen sich sowohl zu zeitgenöss. Predigtparodien, zu Beicht-, Credou. Paternostertravestien (Predigt im Namen des Papstes zu den Jungfrauen und Frauen, Adam und Eva, Beichte einer Frau) als auch zu Entwürfen von Minneklöstern (Kloster der Minne, Das weltliche Klösterlein, Der neuen Liebe Buch) ziehen. Ausgabe: Chr. Heinr. Myller: Samlung dt. Gedichte aus dem 12., 13. u. 14. Jh. Bd. 3, Bln. 1784, S. XXX–XXXII. Literatur: Tilo Brandis: Mhd., mittelniederdt. u. mittelniederländ. Minnereden. Mchn. 1968, Nr. 302. – Ingeborg Glier: Artes amandi. Mchn. 1971, S. 113–115. – Walter Blank: S. d. M. In: VL. – Susanne Brügel: Die S. d. M. (um 1300). In: Literar. Performativität. Lektüren vormoderner Texte. Hg. Cornelia Herberichs u. Christian Kiening. Zürich 2008, S. 204–221. Jacob Klingner
Selbmann
Selbmann, Fritz, * 29.9.1899 Lauterbach/ Hessen, † 26.1.1975 Berlin/DDR. – Romancier, Publizist.
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schäftigte sich auch theoretisch mit dem Schreiben: In Das Schreiben und das Lesen (ebd. 1974. Vgl. auch Ansichten und Aussichten. In: NDL, H. 5, 1968) wird S.s primär propagandistisch geprägtes Verständnis von Literatur deutlich. S. gehörte zu den streitbarsten u. konsequentesten Wortführern bei der Durchsetzung der Parteidisziplin der SED im Schriftstellerverband.
S., Sohn eines Kupferschmieds, arbeitete seit 1916 als Bergmann unter Tage, wurde Soldat, 1918 Mitgl. eines Arbeiter- u. Soldatenrats u. war seit 1920 polit. Funktionär der USPD (bis 1921) u. der KPD (1932 Reichstagsabgeordneter). 1929 besuchte er die Moskauer LeninWeitere Werke: Ausgabe: Ges. Werke. Hg. Schule, wo er als Journalist ausgebildet wur- Martin Reso. Halle 1973–79 (darin: M. Reso: Verde. Seit 1933 inhaftiert, gelang ihm 1945 die such einer zusammenfassenden Wertung). – EinFlucht aus einem Evakuierungstransport. zeltitel: Reden u. Tagebuchbl. 1933–1947. Dresden Seit 1945 war er u. a. als Wirtschaftsminister 1947. – Wahrheit u. Wirklichkeit. Krit. Ess.s über in Sachsen, als Industrieminister der DDR u. Fragen der Philosophie u. Geistesgesch. Ebd. 1947. als stellvertretender Ministerpräsident der – Die lange Nacht. Halle 1961 (R.). – Die Söhne der DDR, 1950–1963 als Abgeordneter der Wölfe. Ebd. 1965 (R.). – Diese Art zu leben. Ebd. Volkskammer tätig. Danach war S. Schrift- 1971 (Ess.). – Acht Jahre u. ein Tag. Bilder aus den Gründerjahren der DDR. Bln. 1999 (Autobiogr. steller u. von 1970 bis zu seinem Tod Vize1945–53). präsident des Schriftstellerverbandes der Literatur: Rüdiger Bernhardt: Das ABC des DDR. Revolutionärs. In: Ich schreibe, H. 10/11 (1970). – S.s Texte sind vom autobiogr. Erleben be- Ders.: Der Mitläufer als Untertan. In: ebd., H. 8 stimmt. Sein Roman Die Heimkehr des Joachim (1973). – Martin Reso (Hg.): Kumpel u. Minister. Ott (Halle 1962), als Fernsehfilm 1980 ein Erinnerungen an F. S. Halle 1979. – Artur Arndt: F. Publikumserfolg, schildert das Leben zwi- S. In: Lit. der DDR. Hg. Hans Jürgen Geerdts. Bd. 2, schen 1945 u. 1952, gesehen v. a. unter wirt- Bln./DDR 1979. – Gerd Dietrich: Kulturelle Konschaftspolit. Gesichtspunkten. Durch die zepte antifaschist. Demokratie (1945/46): Anton Konzentration auf individuelle Schicksale Ackermann, Johannes R. Becher, F. S., Richard unterschied sich S. von den zur gleichen Zeit Weimann. In: Wege aus der Katastrophe. Hg. Klaus Kinner. Lpz. 2006, S. 58–66. – Peter Hübner: F. S. üblichen Industrieromanen der DDR. AuIn: NDB. Rüdiger Bernhardt / Red. ßerdem – ein Kennzeichen aller seiner Werke – verband S. fiktive u. dokumentierbare Vorgänge. Seine Erzählung Ein Mann und sein Schatten (ebd. 1962. Urauff. als Fernsehsp., Selhamer, Christoph, * um 1635 BurgHörsp. u. D. 1963) wurde mit dem damals hausen, † 17.10.1708 (1709?) Salzburg. – berühmten Roman Galina E. Nikolajewas, Weltpriester, Prediger. Schlacht unterwegs (dt. 1962), verglichen. Als S.s Biografie weist Lücken u. voneinander einer der ersten Schriftsteller der DDR schil- abweichende Angaben auf. 1660 soll er in derte er, wie ein politisch kampferfahrener Ingolstadt seine Studien beendet haben, doch Werkleiter hinter den Anforderungen zur griff er sie offenbar später in Salzburg wieder Führung eines Großbetriebs zurückbleibt u. auf (Matrikeleintrag unter dem 29.10.1674). dadurch Schaden anrichtet. Besondere Be- 1678 u. danach bezeichnete er sich auf den achtung fand jedoch S.s letzter Roman, Der Titelblättern seiner Werke als Doktor der Mitläufer (ebd. 1972), der an Heinrich Manns Theologie u. Stadtkaplan von Salzburg, woDer Untertan angelehnt ist. Hier erreichte S. hin er nach Jahren als Pfarrer von Weilheim u. trotz zahlreicher ästhetischer Mängel beachtl. als Prediger in Vilgertshofen auch zurücksatir. Qualität. S.s Autobiografie Alternative, kehrte. Über seine Predigtwerke, die den Bilanz, Credo (ebd. 1969) gibt Einblick in die Haupttitel Tuba tragen (die Titelkupfer zeipolit. Auseinandersetzungen in der KPD bis gen z.T. die Posaunenbläser von Jericho), 1945, zeigt S. aber auch als entschlossenen herrscht in Bibliografien Unklarheit. Das Berufsfunktionär. Der Autodidakt S. be- erste dürfte die Tuba analogica sive conciones (2
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Seligmann
Bde., Salzb. 1678. 1683. Dt. Nürnb. 1699. gelesen. Alltag im Spiegel süddt. Barockpredigten. Konstanz 1707. 1726) gewesen sein. Ebenfalls Stgt. 1991, passim. – Dies.: Kleine Schr.en zur powährend seiner Salzburger Jahre erschienen pulären Lit. des Barock. Hg. Ulrich Marzolph u. a. dt. u. lat. Ausgaben der Tuba tragica, das ist: Gött. 1994, Register. – Johannes Madey: C. S. In: Bautz. – Thomas Groll: Der Salzburger DompfarrErschreckliche Trauer-Geschicht (Nürnb. 1696. vikar, Weilheimer Stadtpfarrer u. Vilgertshofener 1699. Kostnitz 1707. Nürnb. 1720. 1722), wie Wallfahrtspriester C. S. (1636–1708) als ausdie anderen Zyklen in zwei Bänden Sonn- u. drucksstarker Barockprediger. In: Jb. Verein für Feiertagspredigten enthaltend. Von gleicher Augsburger Bistumsgesch. 43 (2009), S. 545–581. – Anlage sind auch Tuba clementina, das ist: Milde Ders.: C. S. In: NDB. Elfriede Moser-Rath † / Red. und gnadenreiche Wunder-Geschicht (Nürnb. 1698) u. Tuba rustica. Das ist: Neue Gei-Predigen Seligmann, Rafael, * 13.10.1947 Tel Aviv. (Augsb. 1701). Diese speziell auf ländl. Zu– Publizist, Kritiker, Sachbuchautor, hörerschaft zugeschnittene Sammlung entTalkmaster, Schriftsteller. hält Diskurse über Heilige, die als Bauern, Hirten u. Taglöhner beispielhaft waren für S. wanderte 1957 von Israel in die BR ein gottgefälliges Leben auf dem Lande, dem Deutschland ein, wo er nach dem Abitur in »Gei«. Wohl nur in lat. Sprache sind die Tuba München Politikwissenschaft u. Geschichte anagrammatica (2 Bde., Augsb. 1702/1703) u. studierte. Seit 1978 war er als Journalist bei die Tuba civica (ebd. 1704) zum Druck gelangt. Zeitschriften u. Zeitungen wie »Der Spiegel«, S.s Kanzelreden spiegeln trotz strenger »FAZ«, »taz«, »B.Z.« tätig; 1981/82 arbeitete Einhaltung homiletischer Regeln die Le- er als außenpolit. Berater für die CDU. 1982 bensweise der Bevölkerung, rügen drastisch wurde er mit einer Dissertation über die Isjegl. Form der Sündhaftigkeit, bieten aber raelische Sicherheitsdoktrin am Beispiel des zgl. eindringl., zuweilen auch erheiternde sog. Sechstagekriegs vom Juni 1967 promoSchilderungen aus dem Alltag ihrer Zuhörer. viert. 1985 gründete S. die »Jüdische ZeiS. schätzte die Wirkung des Exempels, ent- tung« u. war deren Chefredakteur bis 1987, hielt sich jedoch jegl. Spaßmacherei. Unge- danach freier Journalist u. Autor; 2004 wurde achtet oft weitläufiger, belehrender Exkurse er Chefredakteur der Zeitung »The Atlantic besticht die Kraft seiner Sprache, die noch in Times«. S. beteiligt sich an kontroversen Deder schriftl. Fixierung die Lebendigkeit des batten wie z.B. über das Verhältnis zwischen gesprochenen Worts mit mundartl. Anklän- Islam u. Europa, Israel u. Deutschland, über jüd. Leben in Deutschland u. die Gefahr eines gen spürbar werden lässt. ›Shoah-Phantomjudentums‹ oder über den Ausgaben: Textprobe in: Bayer. Barockprediger [...]. Hg. Georg Lohmeier. Mchn. 1961. 1974. – Film Inglorious Bastards. 1988 legte S. mit Rubinsteins Versteigerung Textprobe in: Dt. Dichtung des Barock. Hg. Karl (Ffm.) sein Romandebüt vor, das als fulmiPörnbacher. Mchn. 1979. Literatur: Bibliografien: Clemens Alois Baader: nante dt.-jüd. Antwort auf bzw. Parallele zu Lexikon verstorbener baier. Schriftsteller des acht- Philip Roth gelesen wurde. Deutlich autozehenten u. neunzehenten Jahrhunderts. Augsb./ biografisch strukturiert, zeichnet es die EntLpz. 1824. Nachdr. Hildesh. 1971, Bd. I/2, S. 235. – wicklung eines in Israel geborenen, nach Kat. gedr. deutschsprachiger kath. Predigtslg.en. Deutschland eingewanderten Juden nach, der Hg. Werner Welzig. Bd. 1, Wien 1984, S. 238 f., dieses zunächst nur als Nazi-Land wahr253 f.; Bd. 2, ebd. 1987, S. 774 f. – VD 17. – Weitere nimmt, sich in der Schule u. im Privaten neu Titel: Otto Maußer: Prolegomena zu einer Biogr. C. finden muss. Seine Eltern, für ihn Versager u. S.s. In: Abh.en zur dt. Literaturgesch. FS Franz Kleinbürger, streben nach Integration u. Muncker. Hg. Erich Petzet. Mchn. 1916, S. 54–64. – halten gleichzeitig an einer strikten familiäKarl Böck: Das Bauernleben in den Werken bayer. Barockprediger. Mchn. 1953. – Lisa Helmer: C. S. ren Separation zwischen Juden u. Deutschen Ein Beitr. zur Predigt, Sprach- u. Kulturgesch. des fest, der Protagonist dagegen ersehnt, vor 17. Jh. Diss. Mchn. 1957. – Elisabeth Moser-Rath: dem Abitur stehend, neben der Definierung Predigtmärlein der Barockzeit. Bln. 1964, seines Verhältnisses zu Deutschland u. Israel S. 133–155. – Dies.: Dem Kirchenvolk die Leviten über das Aufsatzthema ›Olympia 1972‹ se-
Seligmann
xuelle Erfahrungen, die er mit jüd. Mädchen vorehelich nicht machen kann u. mit dt. (›Schicksen‹) nicht realisieren darf, insbes. wenn sie Töchter ehemaliger Nazis sind. Am Ende definiert er sich resigniert u. provokant zgl. als »deutscher Jude«. Als »erotische Hetzjagd« zwischen Deutschland u. Israel sowie als permanenter Balanceakt zwischen riskanten Tabubrüchen u. hintergründigem Witz gilt der nachfolgende Roman Die jiddische Mamme (Ffm. 1990), in dem der Protagonist Sammy, Roths Portnoy ähnlich, sich aus einer quasiinzestuösen Abhängigkeit von seiner ›Mamme‹ zu befreien sucht. Er geht Beziehungen zu jüd. u. nichtjüd. Frauen ein, die im Text an ihren scheiternden Wendepunkten aus wechselnder Perspektive des Protagonisten u. der Frauen geschildert u. in einen weiterreichenden Diskurs über dt.-israelische bzw. Diaspora-Alijah-Themen u. Paradoxien, einschließlich innerjüdische (askenasisch-sephardische) Rivalitäten eingebunden werden. Letztlich mündet S.s. Hetzjagd im Happy End mit Sara, einer sinnlichen sephardischen ›schwarzen‹ Israelin, die kongenial die Rolle der Geliebten u. Mamme übernimmt. Mitte der 1990er Jahre exponierte sich S. als Kolumnist (v. a. im »Spiegel«) zu umstrittenen Debatten, z.B. indem er sich gegen ein Holocaust-Mahnmal aussprach, die Staatsgründung Israels mit Hitler in Zusammenhang brachte oder über (In-)Toleranz der Religionen schrieb. Auch im dritten Roman Der Musterjude (Hildesh. 1997) entwickelt S. seine Auseinandersetzung mit Möglichkeiten einer dt.jüd. Koexistenz in Deutschland als Balanceakte zwischen jüd. Familientraditionen, säkularer Umwelt u. dt. Philosemitismus als tragendes polit. Paradigma eines schlechten, partiell antisemitischen Gewissens gegenüber den jüd. Überlebenden u. Zuwanderern um zeitaktuelle Nuancen u. Debatten (z.B. Historikerstreit) weiter. Zum einen verfolgt der Roman die steile Medienkarriere des lebensuntüchtigen Protagonisten (Moische Bernstein), der u. a. populistische u. zum Teil rechtsextreme Slogans u. Stimmungslagen bedient, dabei aber auch Mechanismen des Schlagzeilenjournalismus freilegt. Zum an-
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deren skizziert er mögl. dt.-jüd. Koexistenzen v. a. als sexueller Natur. Am Ende bricht nicht nur die Medienkarriere in sich zusammen, wird Bernstein Opfer seiner überzogenen Pläne, auch seine Identität erodiert, als ihm seine Mutter gesteht, er habe infolge eines KZ-Traumas keinen jüd. Vater u. stehe damit selbst in einer den Roman hindurch als problematisch denunzierten Beziehung zu Deutschland. In ebenfalls problemat. Beziehung zu Deutschland wie zur jüd. Gemeinde steht der Protagonist J. Weinberg im Roman Der Milchmann (Mchn. 1999). Als AuschwitzÜberlebender poln. Ursprungs zehrt er vom Mythos, andere durch gestohlenes Milchpulver gerettet zu haben, u. hat zgl. den Tod eines Mithäftlings auf dem Gewissen. Als wohlhabender, rüstiger Siebziger mit einer dt. Geliebten steht er vor einer mögl. Tumordiagnose u. bilanziert seine Vergangenheit u. Gegenwart, seine Zugehörigkeit zur jüd. u. dt. Geschichte wie Alltags-Wirklichkeit u. kommentiert nebenher kontroverse Themen wie H. Arendts problemat. IsraelBild im Kontrast zu G. Scholem, die Fassbinder-Kontroverse, Schindels Gebürtig-Roman u. das sog. Shoah-Business, um sich dabei immer mehr als Shylock-Figur u. wider Willen als ›deutscher Jude‹ zu entpuppen. Als Mischung aus Familien- u. »Tatsachenroman«, Geschichtslehrbuch u. Firmenchronik zu PR-Zwecken ist die Kohle-Saga (Hbg. 2006) zu verstehen, die anhand einer aus Schlesien stammenden ehemaligen poln. Familie 100 Jahre Kohlenbergbau im Ruhrgebiet nachzeichnet u. in der Kritik wegen ihrer klischierten Figurenzeichnung u. plakativen sozialhistor. Einbettung eher ablehnend aufgenommen wurde. 2008 folgte die Fortsetzung Revier im Wandel (Hbg.), die u. a. an 60.000 Mitarbeiter von Kohlebetrieben verschenkt wurde. Im Sept. 2010 erschien die Autobiografie Deutschland wird dir gefallen (Bln.), die v. a. die schulischen Erfahrungen, die dominante Rolle der Mutter, den latenten Antisemitismus, das Studium u. seine Hinwendung zum Journalismus nachzeichnet. Weitere Werke: Mit beschränkter Hoffnung. Juden, Deutsche, Israelis. Hbg. 1991. – Schalom meine Liebe. Mchn. 1998 (R.). – Hier geblieben! Warum tun dt. Juden so, als seien sie Zionisten? In:
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Selinko, Annemarie, * 1.9.1914 Wien, † 28.7.1986 Kopenhagen. – RomanautoLiteratur: Ritchie Robertson: R. S.’s Rubin- rin.
Die Zeit, Nr. 35/1999. – Hitler. Die Deutschen u. ihr Führer. Mchn. 2004.
steins Versteigerung: The German-Jewish Family Novel Before and After the Holocaust. In: GR 75 (2001), S. 179–193. – Jefferson Chase: Two Sons of ›Jewish Wit‹: Philip Roth and R. S. In: Comparative Literature 53 (2001), S. 42–57. – Petra Ernst: R. S. In: LGL. – Frederick Alfred Lubich: R. S.’s ›Der Musterjude‹: A Master Parody of German-Jewish ›Führer‹ Phantasies. In: German Studies Review 27 (2004), S. 229–248. – Walter Schmitz: ›Dem Rafi sein Kampf ...‹. Das Identitätstrauma der Juden in der dt. Diaspora in Film u. epischer Prosa v. R. S. In: Stimmen aus Jerusalem. Zur dt. Sprache u. Lit. in Israel/Palästina. Hg. H. Zabel. Bln. 2006, S. 370–410. – Christoph Schmitt-Maaß: R. S. In: KLG. Primus-Heinz Kucher
Selinger, Natascha, * 14.11.1938 Remscheid. – Erzählerin u. Kinderbuchautorin. Nach dem Studium der Germanistik, Romanistik u. Kunstgeschichte u. anschließender Promotion war S. Deutschlektorin in der Türkei u. in Finnland, sodann Assistentin am Romanistischen Institut der Universität Tübingen, Gymnasiallehrerin auf Langeoog – wo auch ihre erste Veröffentlichung, das Kinderbuch Karlchen Kummer oder Wie man ein blaues Kamel zähmt (Reutlingen 1977), angesiedelt ist – u. Assistant Professor im Iran. Seit 1980 war sie an verschiedenen Orten für das Goethe-Institut tätig, u. a. in Indien. Dort wurde sie zu ihrem Debüt Schaukel. Ach Sommer (Ffm. 1988) inspiriert, für das sie den Preis der Jürgen Ponto Stiftung erhielt. Es folgten Erzählungen in verschiedenen Sammelbänden, worin S. ihre Begegnung mit Aussiedlern aus Polen verarbeitet, etwa Danziger Goldwasser (in: NR, H. 3, 1991) u. Der Regisseur (in: Der Gipfel. Mchn. 1993). Von ihrem fünfjährigen Aufenthalt am GoetheInstitut in Warschau geprägt sind die Kurzgeschichten Hundert Jahre u. Warschauer Winter sowie die Texte Auf Zehenspitzen durch das Leben u. Der Amokläufer (in: die horen 1/1994). Seit 2001 lebt S. in Wewelsfleth. 2002 erschien die englischsprachige Kindergeschichte I bet you’d do the same (in: Writers for Ethiopian Children. Addis Abeba). Constanze Drumm
Die Tochter eines Großindustriellen besuchte in Wien das Gymnasium u. studierte Sprachen u. Geschichte. Neben erfolgreicher literar. Tätigkeit arbeitete sie als Journalistin (u. a. Korrespondentin der frz. Zeitschrift »L’intransigeant«). Nach der Heirat mit dem dän. Diplomaten Erling Kristiansen lebte S. seit 1938 im Exil in Kopenhagen, nach ihrer Flucht vor den dt. Besatzern seit 1943 in Stockholm u. später als Botschaftergattin in Paris u. London. Ihren Lebensabend verbrachte sie in Dänemark. Neben Vicky Baum gilt S. bis heute als eine der erfolgreichsten deutschsprachigen Unterhaltungsschriftstellerinnen. Sicherte ihr bereits der erste Roman, Ich war ein häßliches Mädchen (Wien/Lpz. 1937), frühen literar. Erfolg, so wurde der Frauenroman Désirée (Köln/ Bln. 1951. 2002) ein weltweiter Bestseller. Die fiktiven Tagebuchaufzeichnungen der frz. Seidenhändlerstochter, Geliebten Napoleons u. späteren Königin von Schweden entsprechen dem Bedürfnis des Massenpublikums nach historisierender, gefühlsschwangerer Unterhaltungsliteratur. Spannungserzeugung u. Emotionalisierung erfolgen über die »Privatisierung des Geschichtlichen« (Christa Bürger). Der Roman erreichte Millionenauflage, wurde in 25 Sprachen übersetzt u. 1956 mit Marlon Brando u. Jean Simmons in Hollywood verfilmt. Weitere Werke: Morgen ist alles besser. Prag 1938 (R.). – Heut heiratet mein Mann. Amsterd. 1940 (R.). Literatur: Carl Seelig: ›Ich war ein häßl. Mädchen‹. In: NZZ, 23.10.1937. – Christa Bürger: Textanalyse als Ideologiekritik. Zur Rezeption zeitgenöss. Unterhaltungslit. Ffm. 1973, S. 67–91. – Evelyne Polt-Heinzl: Weltruhm schützt vor Rufmord nicht oder: Wer war A. S.? In: ÖGL 48 (2004), H. 6, S. 396–406. – Dies.: ›Denn – die Stellung muß heute ein für allemal klargelegt werden‹. A. S. In: Dies.: Zeitlos. Wien 2005, S. 161–182. Christine Schmidjell / Red.
Sell
Sell, Hans Joachim, * 25.7.1920 Neustettin, † 30.5.2007 Freiburg i. Br. – Erzähler, Romancier u. Essayist.
752 kaner. Ebd. 2004 (R.). – Einer ist alles. Portraits v. Unbekannten. Ebd. 2005 (P.). Literatur: Egbert-Hans Müller: Papier ist Haut zum Tätowieren. Laudatio zur Verleihung des Maria-Ensle-Preises 1996 der Kunststiftung BadenWürttemberg GmbH am 21. Nov. 1996 an H. J. S. In: Allmende 17 (1997), H.52/53, S. 210–214. – Herbert Haffner: H. J. S. In: KLG.
Der Sohn eines Berufssoldaten wuchs in Berlin auf, war während des Zweiten Weltkriegs Soldat u. studierte seit Herbst 1946 in Frankfurt/M. zunächst RechtswissenschafGerhard Bolaender / Sonja Schüller ten, dann Philosophie, Ethnologie u. Germanistik. Nach der Promotion in Ethnologie (1953) war S. zwei Jahre Mitarbeiter der Evangelischen Akademie Tutzing. Von 1960 Selle, Thomas, * 23.3.1599 Zörbig bei Bitbis 1968 arbeitete er als Auslandskorrespon- terfeld, † 2.7.1663 Hamburg. – Dichter, dent in Spanien u. lebte schließlich als freier Kantor u. Komponist. Autor in Freiburg i. Br. Die musikal. Ausbildung S.s prägten wahrNach dem wenig beachteten Romandebüt scheinlich die Kantoren der Leipziger ThoChantal (Pfullingen 1953) schildert S. in sei- masschule, Sethus Calvisius u. Johann Hernem zweiten Roman, partisan (Düsseld./Köln mann Schein. Im Sommersemester 1622 1961), die Zeit des beginnenden Wirtschafts- schrieb sich S. an der Universität Leipzig ein; wunders in Deutschland. Ein Vater-Sohn- aber schon 1624 war er Lehrer an der LaKonflikt ist Thema des psycholog. Tage- teinschule in Heide/Holstein, 1625 Rektor in buchromans Auf der Fährte eines Sohnes (Freib. Wesselburen; 1634 wurde er Kantor in Itzei. Br./Basel/Wien 1970). S. überzeugt als Er- hoe. Von dort schaffte er den Sprung nach zähler, v. a. jedoch in seinen Büchern, die ei- Hamburg. Seit 1641 Kantor am Johanneum, gene Erfahrungen u. Erlebnisse in Spanien wurde er schließlich Musikdirektor der verarbeiten (Verlockung Spanien. Düsseld./Köln Hauptkirchen Hamburgs. 1963); in dem Essayband An Spaniens Fell zerBreitere Nachwirkung fand S. nur als Muren Dämonen. Aufzeichnungen aus einem Lande der siker. Als Komponist geistl. Konzerte, als begrenzten Möglichkeiten (Hbg. 1968) zeichnet Vorläufer der Passionsoratorien u. des dt. er ein lebendiges Bild des Landes zur Zeit des Kunstlieds gehört S. zu einer ÜbergangsgeFranco-Regimes. In der »phantastischen Er- neration, die ihr eigenes Profil in der Musikzählung« Joseph Conrad besucht seine Übersetze- geschichte behaupten konnte. Dagegen geriet rin (Karlsr. 1994) verknüpft S. in der Begeg- seine Dichtung ebenso vollständig in Vernung Conrads mit seiner alten frz. Überset- gessenheit wie die vieler Dichter-Komponiszerin Detailwissen aus Conrads Leben mit ten, die kurz vor der Opitz’schen Reform – oder von ihr noch nicht berührt – die Texte den fiktiven Erinnerungen der alten Dame. Weitere Werke: Zerstörung eines Parks. zu ihren Liedern selbst dichteten. Deutschsprachige Lyrik ist S. wie seinen Schwarze Erzählungen. Hbg./Düsseld. 1973. – Thekengespräche. Düsseld. 1975 (Dialoge). – Der Kollegen noch ausschließlich Lied-Lyrik mit rote Priester. Eine span. Erfahrung. Ebd. 1976 formalen Freiheiten, die mit Opitz in der (Porträt). – Die portugies. Einladung. Dichtungen. gelehrten (Lese-)Lyrik vorerst verschwinden. Ebd. 1980. – Die Umkehrung. Basel/Ffm. 1983 (R.). In der musikal. wie der pastoralen Ausrich– Das Ende des Wohlwollens. Spuren u. Zeichen in tung der dreistimmigen Liebeslieder Deliciae einer sich wandelnden Welt. Freib. i. Br. 1986 (P.). – pastorum arcadiae, h. e. Arcadische Hirten-Frewd u. Die Ehe des Sancho Panza. Waldkirch 1988 (E.en). – der Concertatio Castalidum, h. e. Musicalischer Das verblassende Bild eines Reiters. Novelle in streit (Hbg. 1624) orientiert sich S. noch ganz Briefen. Karlsr. 1990. – Das Versteck der Artemis. Die Gesch. einer Beobachtung. Freib. i. Br. 1998 an Schein, dem letzten großen Wegbereiter (R.). – Der Blick auf die Rückenansicht einer Frau ital. Schäferlyrik vor Opitz. Doch beschränkt im Schwimmbad. Ebd. 1999 (R.). – Die Liebesstra- er sich thematisch auf das Motiv der Liebesße. Leichte Muse unterwegs. Ebd. 2002 (P., L.) – freude u. vermeidet petrarkistische AnklänRosa u. Adrienne. Zwei Schwestern u. ein Ameri- ge. Obwohl S. Anfang der 1630er Jahre noch
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drei weltl. Liederhefte herausgab, verstummte er – wohl bezeichnenderweise – als Liederdichter mit Wirkung der Dichtungsreform. In den 1650er Jahren konnte Rist S. als Komponisten für die Sabbahtische Seelenlust (Lüneb. 1651) u. die Neuen musikalischen Fest Andachten (ebd. 1655) gewinnen. Weitere Werke: Deliciarum juvenilium decas harmonico-bivocalis [...]. Hbg. 1634. Nachdr. Germersheim 2000. – Amorum musicalium [...] decas [...]. Hbg. 1635. – Mono-phonetica [...]. Hbg. 1636. Nachdr. hg. v. Hans Müller. Welschneudorf 2004. Ausgabe: Anleitung zur Singekunst. An introduct., ed., translation and facsimile by J. L. Carter. Ottawa 2006. Literatur: Robert Eitner: T. S. In: ADB. – Hermann Kretzschmar: Gesch. des neuen dt. Liedes. Lpz. 1911. – Günther Müller: Gesch. des dt. Liedes. Mchn. 1925. – Walter Vetter: Das frühdt. Lied. Bd. 1, Münster 1928. – Siegfried Günther: Die geistl. Konzertmusik v. T. S. [...]. Diss. Gießen 1935 (mit Bibliogr.). – Holger Eichhorn: T. S.s ›Opera omnia‹ im Spiegel ihrer Druckvorlagen. In: Jb. Alte Musik 2 (1993), S. 131–304. – Jürgen Neubacher: Die Musikbibl. des Hamburger Kantors u. Musikdirektors T. S. [...]. Neuhausen 1997. – Der Kantor mit dem Wolkenkragen. T. S. u. die Glanzzeit des Hamburger Musiklebens im 17. Jh. Ausstellung zum 400. Geb. [...]. Hg. J. Neubacher. Hbg. 1999. – T. S. (1599–1663). Beiträge zu Leben u. Werk des Hamburger Kantors u. Komponisten anläßlich seines 400. Geb. Herzberg 1999. – H. Eichhorn: T. S. u. seine Choralbearbeitungen. In: Auskunft 19 (1999), S. 339–383. – Joanna L. Carter: A study of two seventeenth-century teaching manuals in Hamburg. Critical editions and translations of T. S’s ›Kurtze doch gründtliche Anleitung zur Singekunst‹ (c. 1642) and Heinrich Grimm’s ›Instrumentum instrumentorum [...]‹ (1634). Diss. Florida State Univ. 2002. – Werner Braun: Thöne u. Melodeyen, Arien u. Canzonetten. Zur Musik des dt. Barockliedes. Tüb. 2004. – J. Neubacher: T. S. In: MGG 2. Aufl. (Personenteil), Bd. 15 (2006), Sp. 552–556. Bernd Prätorius / Red.
Selnecker, Nikolaus, * 6.12.1530 Hersbruck, † 24.5.1592 Leipzig; Grabstätte: ebd., Thomaskirche. – Lutherischer Theologe, Kirchenlieddichter. S. wuchs in Nürnberg auf, wo sein Vater 1534 Erster Stadtschreiber wurde. Zu den Lehrern des Chorschülers, der zwölfjährig besoldeter
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Organist wurde, gehörte Sebald Heyden. Seit 1550 studierte er in Wittenberg. Die stärksten Eindrücke empfing er von Melanchthon. Am 31.7.1554 wurde er Magister, am 1.5.1555 Mitgl. der Philosophischen Fakultät, im Sommer 1556 ihr Dekan. Nach Dresden als dritter Hofprediger berufen, erhielt er am 1.2.1558 in Wittenberg die Ordination. Am 4.4.1559 wurden ihm die Hofkapellknaben anvertraut, am 14.2.1560 wurde er auch Prinzenerzieher. Als er jedoch im Aug. 1564 die Jagdleidenschaft des Kurfürsten rügte, schwand sein Einfluss. Im März 1565 ging er als Theologieprofessor nach Jena, verlor das Amt jedoch durch den Regierungswechsel 1568. In Leipzig nahm ihn Kurfürst August wieder in Dienst. Damals begann die Zusammenarbeit mit Jakob Andreae, später auch mit Martin Chemnitz u. anderen, die zur Konkordienformel 1577 u. dem Konkordienbuch 1580 führte. Im Febr. 1570 (Dr. theol. 11.5.1570) wurde er zur Mitwirkung bei der Einführung der Reformation in Braunschweig-Wolfenbüttel berufen. Als Generalsuperintendent mit Sitz in Gandersheim war er dort an der Gründung der Hohen Schule, der Vorläuferin der Universität Helmstedt, maßgeblich beteiligt. 1573 verfasste er mit Hermann Hamelmann die Oldenburger Kirchenordnung. 1574, im Jahr der kryptocalvinistischen Wirren in Kursachsen, rief ihn Kurfürst August nach Leipzig zurück. Dort wurde er 1576 Ordinarius der Theologischen Fakultät, Pfarrer der Thomaskirche u. Superintendent. Seine Musikalität kam dem Thomanerchor u. dem Gemeindegesang zugute. Unter dem calvinistischen Kurfürsten Christian wurde er 1589 abgesetzt u. ausgewiesen. Er lebte in Magdeburg, bis er im Okt. 1590 Superintendent in Hildesheim wurde. Als in Kursachsen nach dem Tod Christians (25.9.1591) das Luthertum wieder Geltung erlangte, wurde er rückberufen, starb jedoch kurz nach seiner Ankunft in Leipzig. S.s vielseitiges literar. Werk umfasst über 170 deutsche u. lateinische Publikationen. Als Student schrieb er Theophania (1552. Wittenb. 1560), eine dramat. Bearbeitung der Parabel von den ungleichen Kindern Evas (s. Melanchthon). Kain erscheint hier als Calvi-
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nist. S.s geistl. Dichtung gründet im intensi- Braunschw. 2006, S. 649 f. – Johannes Hund: Das ven Umgang mit den bibl. Vorbildern. Seit Wort ward Fleisch. Eine systematisch-theolog. 1563 erschien in Nürnberg Der gantze Psalter Untersuchung zur Debatte um die Wittenberger des Königlichen Propheten Davids, außgelegt und in Christologie u. Abendmahlslehre in den Jahren 1567 u. 1574. Gött. 2006, s.v. – W. Sommer: Die drey Bücher getheilt. Die abschließende Sammluth. Hofprediger in Dresden. Stgt. 2006, S. 47–61. lung eigener u. fremder Gedichte war 1587 – Helmar Junghans u. Markus Hein (Hg.): Die vollendet: Christliche Psalmen, Lieder, und Kir- Professoren u. Dozenten der Theolog. Fakultät der chengesenge, in welchen die Christliche Lehre zusam Univ. Leipzig. Lpz. 2009, S. 268 f., 307 f. – Manfred gefasset und erkleret wird (Lpz.). In den Lehr- Rudersdorf in: Gesch. der Univ. Leipzig streitigkeiten der Frühorthodoxie suchte S. 1409–2009. Bd. 1, Lpz. 2009, s.v. Heinz Scheible einen Weg zwischen den Parteien; er musste deshalb Anfeindungen u. Anfechtungen er- Semler, Christoph, * 2.10.1669 Halle, tragen. Laß mich Dein sein und bleiben, [...], halt † 8.3.1740 Halle. – Jurist, evangelischer mich bei Deiner Lehr ist der gültige Ausdruck Theologe, Polyhistor, Pädagoge. der Seelennot des sensiblen, von Krankheit geplagten Mannes. Dieses Lied u. einige an- S. studierte ab 1688 in Leipzig, ab 1691 in Jena, insbes. bei dem Mathematiker u. »Medere werden noch heute gesungen. Weitere Werke: Institutio religionis christia- chanikus« Erhard Weigel. Ab 1694 trat er in nae. Ffm. 1573 u. ö. – Examen ordinandorum. Lpz. Halle in engere Beziehungen zu Christian 1582 u. ö. – Operum latinorum partes IV. Lpz. Wolff u. Christian Thomasius. 1697 erwarb er 1584–93. – Handschriftlicher Nachlass in der Uni- hier mit einer unter dem Vorsitz von Johann Franz Budde verteidigten Meditatio philosoversitätsbibliothek Göttingen. Ausgaben in: Wackernagel 4, Nr. 303–478. – phica de primo juris naturae principio scilicet amore Hdb. der dt. evang. Kirchenmusik 1/1. Gött. 1941, felicitatis suae ordinato den Magistergrad u. S. 197–218. – Die evang. Kirchenordnungen des hielt an der Universität Vorlesungen zur XVI. Jh. Bd. 7/2/1, Tüb. 1980, S. 987–1162 mit Philosophie, Mathematik u. Theologie. 1699 S. 957 ff. (Oldenburger Kirchenordnung 1573). übernahm er ein Predigeramt in Halle (mit Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: Schulinspektion). Koch 1/2, S. 191–211. – Alfred Eckert: Aus dem S. gehört zu den herausragenden EnzykloLeben u. Werk N. S.s. In: Ztschr. für bayer. Kir- pädisten seiner Zeit; zgl. war er ein angesechengesch. 48 (1979), S. 19–27. – Jobst Ebel: Die hener Spezialkenner der Astronomie u. MeHerkunft. des Konzeptes der Konkordienformel. chanik (Erfinder zahlreicher mechan., physiIn: ZKG 91 (1980), S. 237–282. – Erich Beyreuther, kal. u. astronomischer Instrumente). Mit seiA. Eckert u. a.: N. S. 1530–92. Hersbruck 1980. – A. ner Schrift Nützliche Vorschläge von Auffrichtung Eckert: Die Abendmahlslehre v. N. S. In: Ztschr. für bayer. Kirchengesch. 54 (1985), S. 55–65. – Wolf- einer mathematischen Handwercks-Schule (Halle gang Sommer: Gottesfurcht u. Fürstenherrschaft. 1705) betrat er schulorganisatorisches NeuGött. 1988, S. 82–104. – Inge Mager: N. S.s Kate- land; sein »realschulisches« Bildungsangebot chismusbereimung. In: Jb. für Liturgik u. Hym- hatte die bisher vernachlässigte mittlere nologie 34 (1992/93), S. 57–67. – Guido Fuchs: handwerkl. Schicht zum Ziel. Sein erster Psalmdeutung im Lied. Die Interpr. der ›Feinde‹ »Realschul«-Versuch von 1707 (erste Nenbei N. S. (1530–1592). Gött. 1993. – Wolfdietrich v. nung im dt. Sprachraum) blieb ohne Dauer, Kloeden: N. S. In: Bautz 9 (1995), Sp. 1376–1379. – obgleich Leibniz für die Berliner Sozietät der Hans-Peter Hasse: Die Lutherbiogr. v. N. S. In: ARG Wissenschaften 1706 ein günstiges Gutach86 (1995), S. 91–123. – Klaus Loscher: N. S. In: ten anfertigte. Über die zweite Gründung von Hdb. zum Evang. Gesangbuch. Bd. 2. Göttingen 1708 unterrichtet S.s Schrift Neu eröffnete Ma1999, S. 297 f. – Guido Fuchs: N. S. In: LThK 3. thematische und Mechanische Real-Schule (ebd. Aufl. Bd. 9 (2000), Sp. 445. – Ernst Koch: N. S. In: TRE 31 (2000), S. 105–108. – W. Sommer: N. S. In: 1709). Statt »Leere[r] Speculationes« vermitRGG 4. Aufl. Bd. 7 (2004), Sp. 1187. – G. Fuchs: N. telte er anhand von Modellen der im HandS. In: MGG 2. Aufl. Bd. 15 (2006), Sp. 561 f. – Jill werk übl. Maschinen, Werkzeuge u. MateBepler: N. S. In: Braunschweigisches Biogr. Lexi- rialien Kenntnisse, »welche in der Welt tägkon. 8. bis 18. Jh. Hg. Horst-Rüdiger Jarck u.a. lichen und unaussprechlichen Nutzen praes-
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tiren« (Vorrede). Die Schrift bietet einen aus- gies of discernment in pietist pedagogy. In: Journal führl. didakt. Kommentar zu den Modellen of the History of Ideas 70 (2009), S. 545–567. Rudolf W. Keck / Red. u. Materialien. Sowohl dieser wie S.s letzter Gründungsversuch von 1739 (Von königl. preuß. Regierung des Herzogthums Magdeburg [...] Semler, Johann Salomo, * 18.12.1725 approbirte [...] mathematische, mechanische und Saalfeld/Thüringen, † 14.3.1791 Halle. – oeconomische Realschule [...]. In: Acta historicoEvangelischer Theologe. ecclesiastica XX. Tl., Weimar 1740, S. 198–214) waren ebenfalls zum Scheitern Während der Schulzeit erlebte S., der einer verurteilt, jedoch waren sie der Ausgangs- alten thüring. Predigerfamilie entstammte, punkt für die erfolgreiche Realschulgrün- in seiner Heimatstadt Saalfeld den Übergang dung durch Julius Hecker 1747 in Berlin. von der Orthodoxie zum Pietismus, den er in Weitere Werke: Disputatio juridica inaugura- dieser Form schon früh als wissenschaftslis, de probatione contra praestitum juramentum feindl. Frömmelei ablehnte. Seit 1743 stulegale [...] pro licentia summos in utroque jure dierte er in Halle klass. Sprachen, Geschichte, honores capessendi. Präses: Samuel Stryck. Halle Logik u. Mathematik, widmete sich jedoch 1700. – Antiquitaeten der Heiligen Schrifft, oder bald unter dem Einfluss seines Lehrers u. biblische Fragen von dem Paradise [...]. Halle 1708. Förderers Sigmund Jacob Baumgarten, desAusgaben: Johann Christoph Olearius u. C. S.: sen Nachlass er später herausgab (Unterricht Als [...] Herr Georg Adam Struv, auf Wantzleben u. von Auslegung der heiligen Schrift. Halle 1759. Wenigen Jena, welt-berühmter ICtus [...] den 27. Geschichte der Religionspartheyen. Ebd. 1766), Decembr. jetztlauffenden 1692sten Jahres [...] zu ganz der Theologie. Ein Jahr nach dem Maseiner Ruhestatt gebracht wurde [...]. Jena 1692 (Einblattdr.). Internet-Ed. in: VD 17. – Die Stadt gisterexamen trat S. 1751 an der Universität Jerusalem mit allen ihren Mauren, Thoren, Thür- Altdorf seine erste Professur für Historie u. men, Tempel, Pallästen, Schlössern [...]. Halle lat. Poesie an. Auf Vorschlag Baumgartens 1718. Internet-Ed. in: Bibl. der Franckeschen Stif- erhielt er bereits 1752 einen Ruf als o. Prof. tungen Halle 2009. – Der Tempel Salomonis [...]. der Theologie nach Halle. Halle 1718. Internet-Ed. in: ebd. – Palaestina oder S. gilt als »Begründer der historisch-kritidas Gelobte Land [...]. Halle 1722. Internet-Ed. in: schen Theologie des Protestantismus« (Horebd. nig). In seinen umfangreichen Zusätzen zu Literatur: Zedler, Bd. 43, Sp. 1772–1779. – Jo- Baumgartens Evangelischer Glaubenslehre (3 hann Christoph Dreyhaupt: Beschreibung des Saal- Bde., Halle 1759/60) u. dessen Untersuchung Creyses. Tl. 2, Halle 1755, S. 719 f. (Biogr. u. BiTheologischer Streitigkeiten (3 Bde., ebd. bliogr.). – Fritz Jonas: C. S. In: ADB. – Alfred 1762–64) entwickelte er eine histor. BetrachHeubaum: C. S.s Realschule u. seine Beziehung zu Francke. Lpz. 1893. – Karl Adolf Schmid: Gesch. tungsweise, die nach den »geographischen«, der Erziehung. Bd. 5/2, Stgt. 1901, S. 3 ff. – Quellen d. h. für S. auch geistesgeschichtl. u. sozialen zur Gesch. der Mittel- u. Realschulpädagogik. Hg. Faktoren für die Ausbildung oder AbwandNikolaus Maassen u. Walter Schöler. Bd. 1, Bln. lung eines Dogmas fragt, um so – unabhängig 1959. – Jürgen Joachim Justin: Berufsgrundbil- von Traditionsargumenten wie Alter oder dung in Schulen des 18. Jh. [...]. Diss. Aachen 1980. Autorität der kirchl. Beschlussfassung – ei– Karlheinz König: Zur Reform der Lehrlingsaus- nerseits dessen histor. Bedingtheit zu erfasbildung im Handwerk v. den Anfängen bis zum sen, andererseits die dauernde Gültigkeit des Jahre 1806 [...]. Alsbach 1985. – Hdb. der dt. BilDogmas allein am Kriterium der Schriftgedungsgesch. Hg. Notker Hammerstein. Bd. 1, mäßheit zu überprüfen. Damit trug S. weMchn. 1996, S. 406–410. – Die Realschule. Alltag, Reform, Gesch., Theorie. Hg. Jürgen Rekus. sentlich zur Emanzipation der DogmengeWeinheim/Mchn. 1999. – Gesch. Piet., Bd. 4, Re- schichtsschreibung von der Dogmatik bei. Im Anschluss an das reformatorische gister. – Udo Grashoff: Hallesche Originale aus tausendzweihundert Jahren. Halle/S. 2006, S. 19 f. Schriftprinzip entwickelte S. in seinem Ver– Kelly J. Whitmer: Eclecticism and the technolo- such einer nähern Anleitung [...] in der [...] Gottesgelersamkeit (Halle 1757. Nachdr., eingeleitet u. neu hg. von Dirk Fleischer. Waltrop
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2001. 1. u. 2. Anhang, Halle 1758. Nachdr. Waltrop 2001) sowie in der Vorbereitung zur theologischen Hermeneutik (4 Bde., ebd. 1760–69) die Grundsätze einer historischkrit. Hermeneutik, die, von dem Primat der Exegese vor der Dogmatik ausgehend, die überlieferungsgeschichtlich bedingte Form der bibl. Schriften analysiert, systematisch zwischen Gottes Wort u. Hl. Schrift unterscheidet u. den historisch bedingten Anteil der Lehre ermittelt. Letzteren fasste S. vor allem im Begriff der Akkommodation als der von Jesus u. den Aposteln aus pädagog. Gründen bewusst vorgenommenen zeitweiligen Angleichung ihrer Lehre an die bes. Voraussetzungen ihrer Hörer. Den damit vollzogenen Bruch mit der orthodoxen Verbalinspirationslehre vertiefte S. in seiner Abhandlung von freyer Untersuchung des Canon (4 Bde., ebd. 1771–75. Neuausg. hg. von Heinz Scheible. Gütersloh 1967. 21980), indem er die überlieferte Zusammenstellung der neutestamentl. Schriften nicht mehr auf den Willen Gottes, sondern auf die Verabredungen der Bischöfe seit dem 5. Jh. zurückführte. Der Einsicht in den histor. Wandel der Dogmatik entspricht auch S.s Unterscheidung der Theologie als einer Fachwissenschaft von der Religion bzw. »Privatreligion« als der von dogmat. Vorgaben befreiten Form des individuellen Glaubens u. der Heilsaneignung. Diesen freiheitl. Grundzug des Christentums unterstreicht auch seine geschichtstheolog. Perfektibilitätsthese, der zufolge sich das Christentum im Laufe eines unendlichen histor. Vervollkommnungsprozesses in eine freiheitl. Liebesreligion verwandelt. Durch seine traditionskrit. Lehre zog sich S. die z. T. erbitterte Gegnerschaft der Orthodoxie zu, wahrte aber andererseits deutl. Distanz zur radikaleren Aufklärungstheologie. In seinen Auseinandersetzungen mit Bahrdt (Antwort auf das Bahrdische Glaubensbekenntnis. Halle 1779. Das Bahrdtische Glaubensbekenntnis widerlegt. Erlangen 1779), mit den von Lessing herausgegebenen Fragmenten des Reimarus (Beantwortung der Fragmente eines Ungenannten. Halle 1779. Mit Anhang 2 1780. Neu hg. u. mit einer Einl. vers. von Dirk Fleischer. Waltrop 2003) u. mit der
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Verteidigung beider Positionen durch Basedow (Aufrichtige Antwort, auf Herrn Basedows Urkunde. Ebd. 1780) befasste sich S. kritisch mit dem zeitgenöss. Naturalismus u. Deismus. An der Autorität der bibl. Lehre, die er auf Realinspirationen zurückführte, für den christl. Offenbarungsglauben hielt er dabei fest. Aus dieser Haltung heraus ist auch S.s Vertheidigung des Königl. Edikts vom 9ten Jul. 1788 (Halle 1788) zu verstehen, die das Preußische Religionsedikt als Schutzmaßnahme vor radikalen Angriffen auf die Toleranz u. persönl. Glaubensfreiheit verbürgende »öffentliche Religionsverfassung« deutet, ohne dass sich S. damit der prinzipiell aufklärungsfeindl. Tendenz der Wöllner’schen Religionspolitik angeschlossen hätte. In den Gedanken von Uebereinkommung der Romane mit den Legenden (Halle [1749]), S.s einziger Schrift zur Literatur, nutzte er den satir. Nachweis zahlreicher Gemeinsamkeiten beider Gattungen für ein Plädoyer gegen das Lesen von Romanen zugunsten der Beschäftigung mit histor. Literatur. S. gehörte bemerkenswerterweise zu den Anhängern der Alchemie u. hermetist. Naturspekulation (s. Reill 2001). Weitere Werke: Eigne histor. theolog. Abh.en. 2 Bde., Halle 1760 u. 1762. – Histor. u. krit. Slg.en über die so genannten Beweisstellen in der Dogmatik. 2 Bde., Halle/Helmstedt 1764 u. 1768. – Versuch eines fruchtbaren Auszugs der Kirchengesch. 3 Bde., Halle 1773–78. – Institutio ad doctrinam Christianam liberaliter discendam. Ebd. 1774. – Versuch einer freiern theolog. Lehrart. Ebd. 1777. – Lebensbeschreibung. 2 Bde., ebd. 1781/82. – Ueber histor., geselschaftl. u. moral. Religion der Christen. Lpz. 1786. – Von ächter hermet. Arznei. 3 Tle., Lpz. 1786. – Unparteiische Slg.en zur Historie der Rosenkreuzer. 4 Bde., Lpz. 1786–88. – Zur Revision der kirchl. Hermeneutik u. Dogmatik. Halle 1788. – Letztes Glaubensbekenntnis über natürl. u. christl. Religion. Hg. Christian Gottfried Schütz. Königsb. 1792. – Herausgeber: Uebers. der Algemeinen Welthistorie. 17.–30. Tl., Halle 1758–66. Literatur: Bibliografien: Gottfried Hornig: Die Anfänge der histor.-krit. Theologie. J. S. S.s Schriftverständnis u. seine Stellung zu Luther. Gött. 1961, S. 249–287. – Hartmut H. R. Schulz: S.s Wesensbestimmung des Christentums. Würzb.
757 1988, S. 238–241. – Weitere Titel: Paul Gastrow: S. in seiner Bedeutung für die Theologie. Gießen 1905. – Emanuel Hirsch: Gesch. der neuern evang. Theologie. Bd. 4, Gütersloh 21960. – Hans-Eberhard Hess: Theologie u. Religion bei S. Augsb. [1974]. – G. Hornig: S. In: Gestalten der Kirchengesch. Hg. Martin Greschat. Bd. 8, Stgt. u. a. 1983, S. 267–279. – H. H. R. Schulz: J. S. S.s Wesensbestimmung des Christentums. Ein Beitr. zur Erforsch. der Theologie S.s. Würzb. 1988. – Andreas Lüder: Historie u. Dogmatik. Ein Beitr. zur Genese u. Entfaltung v. J. S. S.s Verständnis des AT. Bln./New York 1995. – G. Hornig: J. S. S. Studien zu Leben u. Werk des Hallenser Aufklärungstheologen. Tüb. 1996. – Werner Raupp: J. S. S. In: Bautz 14 (1998), Sp. 1444–1473. – G. Hornig: J. S. S. In: TRE 31 (2000), S. 142–148. – Peter Hans Reill: Religion, Theology, and the Hermetic Imagination in the Late Enlightenment: The Case of J. J. S. In: Antike Weisheit u. kulturelle Praxis. Hermetismus in der Frühen Neuzeit. Hg. Anne-Charlott Trepp u. Hartmut Lehmann. Gött. 2001, S. 219–234. – Roberto Bordoli: L’ illuminismo di Dio. Alle origini della mentalità liberale. Religione, teologia, filosofia e storia in J. S. S. (1725–1791). Contributo per lo studio delle fonti teologiche, cartesiane e spinoziane dell’Aufklärung. [Firenze] 2004. – Dirk Fleischer: Zwischen Tradition u. Fortschritt. Der Strukturwandel der protestantischen Kirchengeschichtsschreibung im deutschsprachigen Diskurs der Aufklärung. Waltrop 2006, S. 517–768. – Ders.: J. S. S. In: NDB. Dirk Kemper
Semmer, Gerd, auch: Moritz Messer, * 21.12.1919 Paderborn, † 12.11.1967 Ratingen. – Lyriker, Prosaautor, Publizist. Der gelernte Schneider studierte Theaterwissenschaften, Germanistik, Kunstgeschichte u. Romanistik in Wien, war 1951/52 Dolmetscher u. dann Regieassistent Piscators, dem er nach Gießen u. Berlin folgte. Von 1953 an arbeitete er unter Pseud. in Düsseldorf als Redakteur des »Deutschen Michel«, der DKPnahen »Deutschen Volkszeitung« u. der Wochenzeitung »Stimme des Friedens«. Seit 1959 lebte er als freier Schriftsteller in Ratingen-Tiefenbroich. S.s schmales Werk besteht aus gesellschaftskrit. Lyrik. u. Prosa. Mit satir. Schärfe behandelte er Neofaschismus, Wiederaufrüstung, Atomwaffenpolitik, die »gläsernen Paradiese« des Kapitalismus u. der Kernkraftindustrie (Die Engel sind müde. Verse und andere
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Prosa aus dem Schlaraffenland. Bln./DDR 1959. Widerworte. Gedichte und Chansons. Ebd. 1965). Verdienstvoll sind seine Nachdichtungen u. Kommentierungen der Lieder der Französischen Revolution (C¸a ira. Bln./DDR 1958); seine Liedtexte wurden durch die Ostermärsche Gemeingut polit. Protestbewegungen (z. B. Höllenbombe). Weitere Werke: Gesch.n v. Herrn B. Ges. Brecht-Anekdoten. Aufgeschrieben v. Andre´ Müller u. G. S. Ffm. 1967. Bln. 2006. – Gedichte. Ausw. v. Ursula Püschel. Mchn. 1979. – Wir wollen dazu was sagen. Worte, Widerworte u. Bilder aus der ersten Hälfte der Bundesrepublik. Hg. Udo Achten. Oberhausen 1999. Literatur: Ursula Püschel: G. S.s Gründerjahre. In: kürbiskern (1979), H. 4, S. 105–114. – Karin Füllner: Frieden, ein ›gefährliches Wort‹. G. S.s polit. Lyrik der 50er Jahre. In: Lit. in Westfalen 2 (1994), S. 223–235. – Dies.: ›Traum des Ikarus‹. G. S.s letztes Sonett. In: Literar. Fundstücke. Hg. Ariane Neuhaus-Koch u Gertrude Cepl-Kaufmann. Heidelb. 2002, S. 389–394. Christian Schwarz / Red.
Semmig, Herman, * 23.6.1820 Döbeln/ Sachsen, † 22.6.1897 Leipzig. – Dramatiker, Publizist. S., Sohn eines Sattlermeisters, besuchte das Gymnasium in Grimma u. studierte seit 1839 Theologie in Leipzig. Er befasste sich intensiv mit Geschichte u. Philosophie (Dr. phil. 1845); als Burschenschafter verbüßte er eine Haftstrafe. Er publizierte sozialkrit. Schriften (Sächsische Zustände nebst Randglossen und Leuchtkugeln. Hbg. 1846) u. Gedichte u. wurde mit zahlreichen oppositionellen Schriftstellern (Louise Otto, Hermann Jellinek) u. Politikern bekannt. Als Anhänger des »Socialismus« kämpfte er auch während der Revolution für die Berücksichtigung sozialer Fragen neben polit. Forderungen (Sachsen! Was thut Noth und was thut Blum? Lpz. 1848), so in dem von ihm mitbegründeten »Sozialistischen« bzw. »Demokratischen Verein«. Im Mai 1849 kämpfte S. gegen die sächs. Regierung in Dresden u. musste (wie Wagner u. Bakunin) fliehen. Im frz. Exil arbeitete er als Lehrer u. schrieb zahllose Berichte über Geschichte, Kultur u. literar. Tagesfragen, ferner verschiedene dramat. Werke. Obwohl 1865 am-
Sempach, Schlacht bei
nestiert, kehrte er erst 1870 nach Leipzig zurück. In seinen letzten Jahren veröffentlichte er eine Reihe von Schriften zur Verständigung zwischen Deutschland u. Frankreich. Das literarisch u. sozialgeschichtlich wichtigste Werk S.s, das Drama Schloß und Fabrik oder Die schlesischen Weber, entstanden in den 1850er Jahren im frz. Exil, wurde erst 1988 veröffentlicht (Hg. Hans Adler. Mchn.). Das erste Drama über den Weberaufstand blieb auch nach dem Erfolg von Hauptmanns Die Weber unbeachtet. Es setzt die sozialen Ideen des Vormärz in eine Handlung um, die zwar erfunden ist, aber die geschichtl. Ereignisse des Jahres 1844 zur Grundlage hat. Die soziale Anklage wird allerdings immer wieder ins Mythisch-Unverbindliche überhöht. So trägt das Drama »die Spuren vormärzlicher Programmliteratur, der Enttäuschung des aktiven Achtundvierzigers und des Emigranten« (Adler). Literatur: Jeanne Berta Semmig: Die Wege eines Deutschen. Ein Zeit- u. Lebensbild. Mchn. 1921. – Hans Adler: Ein Vormärz-Drama aus dem Nachmärz. Einl. zu ›Schloß u. Fabrik‹. Mchn. 1988, S. 7–45 (mit Bibliogr.). – Rolf Baumgärtel: Ein 48er aus Döbeln – H. S. Braunschw. 1997. Hartmut Steinecke / Red.
Sempach, Schlacht bei, 1386. – Krieg der Eidgenossen gegen Habsburg, Gegenstand historischer Lieder, Reimreden u. Chroniken. Mit der S. b. S. beginnt die Reihe kriegerischer Auseinandersetzungen zwischen dem habsburgischen Österreich u. den Eidgenossen. Am 9.7.1386 standen sich Herzog Leopold III. von Österreich u. das Heer der Luzerner, Schwyzer, Urner u. Unterwaldner gegenüber. Obwohl das Adelsheer vernichtend geschlagen wurde u. der Herzog in der Schlacht fiel, wurde der Konflikt weiter militärisch ausgetragen, bis er am 9.4.1388 in der Schlacht bei Näfels mit dem überwältigenden Sieg der Eidgenossen endete. Beide Schlachten haben ihren Niederschlag in histor. Dichtungen gefunden, die seit dem 16. Jh. einen besonderen Akzent auf diese Er-
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eignisse als Zeugnisse eines schweizerischen Befreiungskampfes legen. Zur S. b. S. sind drei Lieder u. eine Reimrede überliefert. Das kleine Sempacher Lied (15 Siebenzeilerstrophen) scheint zeitnah abgefasst zu sein, demonstriert Ortskenntnisse u. vertritt bilder- u. metaphernreich die Seite der Eidgenossenschaft, die als Stier (Wappentier der Urner) verbal u. kämpferisch den Habsburger Löwen attackiert u. schließlich in die Flucht schlägt. Das große Sempacher Lied (67 Siebenzeilerstrophen) ist beredtes Zeugnis für vorgetäuschte Ereignisnähe; sein Dichter nennt sich Halbsuter u. geriert sich als Schlachtenteilnehmer, der seine Erfahrungen direkt im Anschluss an die Schlacht in ein Lied gefasst habe. Es ist aber erwiesenermaßen eine Kompilation aus dem kleinen Sempacher Lied u. anderen evtl. mündl. Berichten u. sicher nicht vor 1440 entstanden. Dies Lied ist seit dem 16. Jh. in Einzeldrucken u. Chroniken vielfach überliefert u. bildet die Keimzelle der Sage vom Heldentod des Arnold von Winkelried. Ein süddt. Lieddichter dichtet bereits vor Aug. 1388 ein 14-strophiges Lied, in dem er das Schweizer Geschehen mit den Fürsten-Städte-Gegensätzen Süddeutschlands parallelisiert u. für den Schwäbischen Städtebund Partei ergreift. Eine ca. 60 Verse umfassende Reimrede vertritt wiederum eidgenöss. Interessen, deren Dominanz in der Rezeption mithin ins Auge fällt. Nur in Zürcher Chroniken inseriert finden sich kurze habsburgerfreundl. Sprüche als Klagen über die adligen Gefallenen u. Anklagen an die Stadt Sempach. Ausgaben: Die histor. Volkslieder. Hg. Rochus v. Liliencron. Bd. 1. Lpz. 1865. Nachdr. Hildesh. 1966, Nr. 32–34, S. 109–145. – Ders.: Ein neues Lied auf die Sempacher Schlacht. In: Histor. Tb. Hg. W. H. Riehl. 5. Folge, 6. Jg. (1876), S. 259–273. – Cramer Bd. 1, 1977, S. 272–315, S. 466–469. Literatur: Fritz Jacobsohn: Der Darstellungsstil der histor. Volkslieder des 14. u. 15. Jh. u. die Lieder v. der Schlacht bei S. Rostock 1907. – Ulrich Müller: Untersuchungen zur polit. Lyrik des dt. MA. Göpp. 1974, S. 204–206 u. Register. – Hans Trümpy: Halbsuter. In: VL. – Beate Rattay: Entstehung u. Rezeption polit. Lyrik im 15. u. 16. Jh. Die Lieder im Chronicon Helveticum v. Aegidius Tschudi. Göpp. 1986. – Peter Blickle: Friede u. Verfassung. Voraussetzungen u. Folgen der Eidge-
759 nossenschaft v. 1291. In: Innerschweiz u. frühe Eidgenossenschaft. Bd. 1, Olten 1990, S. 13–202. – Guy P. Marchal: Die ›Alten Eidgenossen‹ im Wandel der Zeit. In: ebd. Bd. 2, Olten 1990, S. 309–403. – Frieder Schanze: S. b. S. In: VL u. VL (Nachträge u. Korrekturen). – Sonja Kerth: ›Der landsfrid ist zerbrochen.‹ Wiesb. 1997 (Register). – Karina Kellermann: Abschied vom ›historischen Volkslied‹. Tüb. 2000 (Register). Karina Kellermann
Semper, Gottfried, * 29.11.1803 Hamburg, † 15.5.1879 Rom; Grabstätte: ebd., protestantischer Friedhof. – Architekt, Kunsttheoretiker. S. ist neben Schinkel der bedeutendste Architekt u. Stadtbaumeister des 19. Jh. Seine Erneuerung des Theaterbaus mit der Trennung von Bühne u. Zuschauerraum blieb richtungweisend. S.s Bauten markieren den Übergang vom Klassizismus zur Neorenaissance u. bilden mit ihren klaren u. funktionellen Baublöcken einen Gegenpol zum romant. Denken u. zur Neugotik. Systematisch entwickelte er die Gesetze der Kunst aus der Geschichte; Bauzweck, Material u. Herstellungstechnik verdichteten sich für ihn im Entwicklungsprozess zur reinen künstlerischen Funktion. Nach seinem Rechtsstudium in Göttingen studierte der Fabrikantensohn 1825 Architektur bei Gärtner in München, musste 1826 nach einem Duell fliehen u. wurde in Paris Assistent bei Gau u. Hittorf. Auf Reiseeindrücke in Südfrankreich, Italien u. Griechenland 1830–1833 gingen S.s grundlegende Vorläufige Bemerkungen über bemalte Architectur und Plastik bei den Alten (Altona 1834) zurück; sie trugen ihm schlagartigen Ruhm, aber auch die Gegnerschaft Franz Kuglers ein. Auf Vermittlung Schinkels seit 1834 Professor der Baukunst u. Vorstand der Bauschule an der Kunstakademie in Dresden, entwickelte S. bis 1849 seine volle künstlerische Reife, gipfelnd in der Hofoper, der Synagoge u. der Gemäldegalerie. 1849 beteiligte sich S. am Maiaufstand: Er leitete den Bau u. die Verteidigung einer Barrikade, Flucht u. steckbriefl. Verfolgung waren das Resultat. Ohne Bauaufträge u. theoretisch arbeitend, hielt sich S. in Paris auf, bis 1851 die Beru-
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fung nach London erfolgte, wo er, seit 1852 Professor für Metalltechnik, bis 1855 an der Einrichtung der Weltausstellung mitwirkte. S.s Überlegungen Wissenschaft, Industrie und Kunst (Braunschw. 1852) führten auf Initiative Prinzgemahl Alberts, der S. als Berater heranzog, zur Gründung des South Kensington Museum (heute: Victoria and Albert Museum) u. anderer Kunstgewerbemuseen. In seinem Vortrag Architecture and Civilisation von 1853 machte S. sein nach 1850 leicht gewandeltes kunsttheoret. Programm deutlich: Die individuellen Charakteristika von Architekturstilen seien solange unfasslich, als keine Kenntnisse der sozialen u. religiösen Verhältnisse der jeweiligen Völker u. Epochen vorlägen. Kunst u. Architektur sollen aus den das einzelne Werk bedingenden Faktoren erklärt werden. In dieser Zeit entstand S.s Hauptwerk, Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik (Bd. 1: Ffm. 1860. Bd. 2: Mchn. 1863. Bd. 3: Manuskriptfragment einer vergleichenden Baulehre, in der S. die Evolutionstheorie auf die Architektur anzuwenden beabsichtigte). 1855–1871 war S. Professor am Polytechnikum u. Direktor der Bauschule Zürich. Hauptwerke dieser Zeit sind das Gebäude des Polytechnikums u. die Sternwarte in Zürich sowie das Rathaus in Winterthur. In den 1860er Jahren entstanden auch Pläne für ein Wagner-Festspielhaus in München. 1871 wurde S. zur Gestaltung des Forums am Ring mit der Neuen Hofburg u. dem Hofmuseum nach Wien berufen. Weitere Werke: Die vier Elemente der Baukunst. Braunschw. 1851. – Entwürfe u. Skizzen. Hg. Manfred Semper. Lpz. 1881. – Kleine Schr.en. Hg. M. u. Hans Semper. Bln./Stgt. 1884. – Wiss., Industrie u. Kunst u. a. Schr.en. Hg. Hans M. Wingler. Mainz/Bln. 1966. – Ges. Schr.en. Hg. Henrik Karge. Hildesh. 2008. Literatur: Ernst Stockmeyer: G. S.s Kunsttheorie. Diss. Zürich 1939. – Heinz Quitzsch: Die ästhet. Anschauungen G. S.s. Bln. 1962. – G. S. u. die Mitte des 19. Jh. Symposion 1974. Basel/Stgt. 1976. – H. Quitzsch: G. S. Prakt. Ästhetik u. polit. Kampf. Braunschw. 1981. – Martin Fröhlich: G. S. Zürich/Mchn. 1991. – Heidrun Laudel: G. S.: Architektur u. Stil. Dresden 1991. – Nicola Squicciarino: Arte e ornamento in G. S. Venezia 1994. – Michael Bakunin, G. S., Richard Wagner u. der
Sendelbach Dresdner Mai-Aufstand 1849. Bonn 1995. – Carlo Cresti (Hg.): G. S. Aggiunte e digressioni. Firenze 1995. – Harry Francis Mallgrave: G. S. Architect of the Nineteenth Century. New Haven /London 1996. Dt. Zürich 2001. – John Ziesemer: Studien zu G. S.s dekorativen Arbeiten am Außenbau u. im Interieur. Ein Beitr. zur Kunst des Historismus. Weimar 1999. – Gerd de Bruyn (Hg.): Semperiana. Zur Aktualität G. S.s (1803–1879). Stgt. 2003. – Hans-Peter Lühr (Red.): Der Architekt u. die Stadt. G. S. zum 200. Geburtstag. Dresden 2003. – Winfried Nerdinger (Hg.): G. S. 1803–1879. Architektur u. Wiss. [Ausstellungskat.]. Mchn. u. a. 2003. – Mari Hvattum: G. S. and the Problem of Historicism. Cambridge 2004. – Rainald Franz u. Andreas Nierhaus (Hg.): G. S. u. Wien. Die Wirkung des Architekten auf ›Wiss., Industrie u. Kunst‹. Wien u. a. 2007. – M. Fröhlich: G. S. am Zeichenbrett. Architektur entwerfen in der zweiten Hälfte des 19. Jh. Zürich 2007. – Henrik Karge (Hg.): G. S. – Dresden u. Europa. Die moderne Renaissance der Künste. Mchn./Bln. 2007. – Nicola Squicciarino: Utilita` e bellezza. Formazione artistica ed arti applicate in G. S. Rom 2009. – Christoph Hölz: G. S. In: NDB. – Barbara v. Orelli-Messerli: G. S. (1803–1879). Die Entwürfe zur dekorativen Kunst. Petersberg 2010. Meinrad M. Grewenig / Red.
Sendelbach, Hermann Josef, * 8.4.1894 Erlenbach-Höfe/Spessart, † 12.6.1972 Schliersee. – Lyriker, Erzähler, Feuilletonist. S. kam aus einer alteingesessenen unterfränk. Bauernfamilie. Er wurde Lehrer u. verkehrte im Künstlerkreis um Julius Maria Becker. Nach dem Ersten Weltkrieg, in dem er schwer verwundet wurde, studierte S. 1919–1922 Philologie, Pädagogik u. Kunstgeschichte in Jena, Würzburg u. München, wo er von 1923 an Lehrer war (1943–1945 auch in Landverschickungsheimen) u. an verschiedenen Zeitungen u. Zeitschriften mitarbeitete. S. stand kath. Dichterkreisen wie den »Werkleuten auf Haus Nyland« (Jakob Kneip u. Wilhelm Vershofen) u. dem Kreis um Georg Britting nahe. S.s Werk ist seiner unterfränk. Heimat gewidmet u. stellt in bewusst konservativer Sicht den Jahresablauf auf dem Bauernhof als gott- u. naturnahe Ordnungsform dar, so z. B. in Kurzprosa, die Landschaftsschilderungen mit Kindheitsskizzen verbindet (Kind zwischen
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Wäldern. Gerabronn/Crailsheim 1976), in Gedichten (Erdgeschwister. Regensb. 1953) oder in dem antikisierenden Versepos Saat und Erde. Tag und Nacht. Ein Bauernjahr (ebd. 1959; mit 18 Holzschnitten von Gertrud FeldnerMooser). Weitere Werke: Vergeßt es nicht! Aschaffenb. 1919 (Aufrufe). – Aufgesang. Mchn. 1928 (L.). – Vertrauensruf. Ebd. 1933 (L.). – Unermeßl. Augenblick. Regensb. 1956 (L.). – Vom freudigen Vertrauen. Ebd. 1966 (Aphorismen). – Johannes XXIII. Ep. Versuch. Karlsr. 1973. – Nachlass: Hss.Abt. Stadtbibl. München. Christian Schwarz
Senger, Valentin, auch: Valentin Rabis, * 28. 12. 1918 Frankfurt/M., † 4. 9. 1997 Frankfurt/M. – Verfasser von Erinnerungen, Romanen, Essays u. Hörspielen, Journalist. S. wuchs in Frankfurt/M. auf, absolvierte eine Lehre als techn. Zeichner, besuchte eine Maschinenbauschule u. arbeitete dann als Konstrukteur u. Betriebsleiter. Als staatenlose Juden – seine Eltern waren als kommunistische Revolutionäre aus dem zaristischen Russland geflohen – überlebten er u. mehrere Mitglieder seiner Familie unentdeckt den Holocaust. Diese Lebensphase der Angst u. Anpassung sowie das Überleben »gegen alle Logik« schildert S. in seinen autobiogr. Erinnerungen Kaiserhofstraße 12 (Darmst./Neuwied 1978. Neuausg. Mit einem Nachw. von Peter Härtling. Ffm. 2010). In der Nachkriegszeit war er in der Kommunistischen Partei aktiv u. wurde 1951 Mitarbeiter der »Sozialistischen Volkszeitung« in Hessen. Unter dem Pseudonym V. Rabis (nach dem Namen des Vaters Rabisanowitsch) veröffentlichte S. in Ostberlin Die Brücke von Kassel (1954), einen »Tatsachenbericht« über den Widerstand von Mitgliedern der FDJ in Westdeutschland gegen amerikan. Kriegsvorbereitungen, der im Vorwort als »erstes Beispiel westdeutscher Widerstandsliteratur« bezeichnet wird, u. Am seidenen Faden (1956), einen Roman über den Hessischen Metallarbeiterstreik 1951, für den er 1957 den Literaturpreis des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes erhielt. Seine Lebensgeschichte dieser Nachkriegsjahre, die ihn auch zu
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Aufenthalten in der DDR führte, u. die zu- Senitz, Elisabeth von, auch: Celinde, nehmende Entfremdung von der Partei * 2.11.1629 Rankau/Schlesien, † 12.2. schildert S. in seinen Erinnerungen Kurzer 1679 Rankau/Schlesien. – Dichterin Frühling (Zürich 1984). Nach einem Partei- geistlicher Lieder. ausschlussverfahren u. dem Verbot der KPD Die aus alter schles. Adelsfamilie stammende 1956 verlor S. seine Anstellung als Redakteur Hofdame zog sich bereits in jungen Jahren – u. kam in der Folge beim Fernsehen des nach einer peinl. Liebesaffäre am Oelser Hof – Hessischen Rundfunks unter, wo er bis zu auf ihr Gut bei Breslau zurück, wo sie bis zu seiner Pensionierung für Wirtschafts- u. Soihrem Tod lebte u. sich ihrem erbaul. dichzialpolitik verantwortlich war. Seitdem verterischen Werk sowie ihrer Korrespondenz öffentlichte er seine Lebenserinnerungen mit der gelehrten Welt widmete. 1673 wurde unter eigenem Namen u. wandte sich Fragen sie unter dem Gesellschaftsnamen Celinde in der jüd. Identität u. Geschichte zu. Sein Roden Pegnesischen Blumenorden aufgenomman Die Buchsweilers (Ffm. 1991) über eine men; Sigmund von Birken widmete ihr den Familie des 19. Jh., die wegen unopportuner zweiten Teil seiner Pegnesis. Heirat zunächst als Wanderjuden, dann geIhren Platz in der Literaturgeschichte sitrennt bzw. als Vorstand einer Räuberbande cherte sich S. mit dem Passionslied O, Du Liebe lebt, ist zgl. jüd. Familienchronik u. Gemeiner Liebe, das – gelegentlich Angelus Sileschichte eines Klassenkampfes. sius oder Adam Drese zugeschrieben – in S., der mit der mehrfach aufgelegten u. viele Gesangbücher aufgenommen wurde, 1980 auch verfilmten (Regie: Rainer Wolffseine Verfasserin als Geistesverwandte Johardt) Kaiserhofstraße 12 eine breite Öffenthann Schefflers u. Daniel Czepkos ausweist u. lichkeit erreichte u. bereits in Kurzer Frühling sie unter die Vorläufer des Pietismus einzumit krit. Bemerkungen zur dt. Nachkriegsreihen erlaubt. Zu ihren Lebzeiten erschienen geschichte schließt, zieht in Der Heimkehrer. ein schmaler Band geistl. Lieder (Andächtige Eine Verwunderung über die Nachkriegszeit Kreutz-Gedancken. Magdeb. 1676), die sie Ge(Mchn. 1995) ein enttäuschtes Resümee: org Schöbel widmete, u. einige KasualgeFünfzig Jahre nach seinem verblüffenden dichte. Ihr handschriftlich überliefertes Werk Überleben habe er angesichts antisemitischer umfasst über 50 geistl. Lieder u. Sonette, reTendenzen wieder Angst; übrig geblieben sei ligiöse u. weltl. Gedichte, ein Romanfrag»eine große Trauer um einen zerstobenen ment u. 43 Briefe. Traum«. Die sachl. u. zurückhaltenden BeWeiteres Werk: Johann Herdegen: Histor. richte S.s, als Person zwischen beiden dt. Nachricht. Nürnb. 1744, S. 426–432. Staaten positioniert u. versöhnl. LegendenLiteratur: Bibliografie: Jean Woods u. Maria bildung entgegentretend, kamen bisher Fürstenwald: Schriftstellerinnen [...] des dt. Bakaum im kulturellen Gedächtnis Deutschrock. Stgt. 1984, S. 118. – Weitere Titel: Arno Büchlands an. ner: Das Kirchenlied in Schlesien u. der OberlauWeitere Werke: Die jüd. Friedhöfe in Frankfurt. Mit Fotos v. Klaus Meier-Ude. Ffm. 1985. 4., überarb. u. erw. Aufl. u. d. T. The Jewish Cemeteries in Frankfurt am Main. Ffm. 2009. – Das Frauenbad u. andere jüd. Geschichten. Mchn. 1994 (P.). – Die rote Turnhose u. andere Fahnengeschichten. Mchn. 1997 (P.). – Herausgeber: Einführung in die Sozialpolitik. Soziale Sicherheit für alle. Reinb. 1970. Literatur: Carola Seiz: V. S. In: MLdjL. Stefan Alker
sitz. Düsseld. 1971, S. 172 f. – Margarete Arndt: Schles. Herztöne. In: Schlesien 31 (1986), S. 198–204. – Ewa Pietrzak: Schlesier in den dt. Sprachgesellsch.en des 17. Jh. In: Europ. Sozietätsbewegung u. demokrat. Tradition. Hg. Klaus Garber u. Heinz Wismann. Bd. 2, Tüb. 1996, S. 1286–1319. – Mirosl/awa Czarnecka: Die ›verseschwangere‹ Elysie. Zum Anteil der Frauen an der literar. Kultur Schlesiens im 17. Jh. Wrocl/aw 1997. – Jürgensen, S. 439 f. u. Register. Ewa Pietrzak
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Senn, (Hans) Jakob, auch: Ernst bzw. Au- Senn, Johann Chrysostomus, * 1.4.1795 gust Vonthal, Häiri Häichä Häiggels Pfunds/Tirol, † 30.9.1857 Innsbruck; Häier, * 24.3.1824 Fischenthal/Kt. Zürich, Grabstätte: ebd., Militärfriedhof. – Lyri† 3.3.1879 Zürich. – Schweizer Mundart- ker, Philosoph. dichter. Als Autodidakt verschaffte sich der Sohn eines Bauern u. Webers umfassende literar. u. sprachl. Kenntnisse. Nach der Volksschule war S. als Weber tätig, 1856–1862 als Buchhandelsgehilfe, 1864–1868 als Wirt. 1868 wanderte er nach Montevideo aus (verschiedenste Tätigkeiten); nach der Rückkehr 1878 war er Generalkonsul Uruguays. Misserfolge u. Schwermut bewogen ihn zum Freitod. Seit 1847 gehörte S. dem Freundeskreis um Jakob Stutz an. Die Gedichte Bilder und Asichte vo Züri (Zürich 1858) verbinden Momentaufnahmen des tägl. Lebens u. Reflexionen mit literar. Reminiszenzen (Gessner, Klopstock, Goethe); zusammen mit den 1864 in Zürich erschienenen Chelläländer Schtückli (Neudr. Zürich 1951) – idyll. u. satir. Stücken in Vers u. Prosa, Schwänken, Sprichwörtern u. Redensarten – gehören sie zu den wichtigsten Beispielen der Mundartliteratur des 19. Jh. Von Bedeutung ist der hochdt. autobiogr. Roman Ein Kind des Volkes (urspr. Hans Grünauer. Bern 1888. Neuausg. Zürich 1966), der Erlebtes in der Tradition des klass. Entwicklungsromans zum Exempel stilisiert. Weitere Werke: Hans Waldmann. St. Gallen 1865 (Biogr.). – Heinrich Waser. Ebd. 1865 (Biogr.). – Vom Silberstrome. Zürich 1879 (L.). – ’s Bättelvolch. Hg. Urs Boeschenstein. Wetzikon 1979 (Ausw.). – (Hg.): Grüne Wälder. Zürich 1861/62 (Ztschr.). Literatur: Zita Motschi: J. S. In: Helvet. Steckbriefe. Hg. Werner Weber. Zürich/Mchn. 1981, S. 202–207. – Heinz Lippuner: Hans Grünauer – ein Kind des Volkes? Bern/Stgt. 1985. – Matthias Peter: J. u. Heinrich S. Zeitbilder der Schweiz aus dem 19. Jh. Schlieren 2004. – Heinz Lippuner: Auch Bücher haben ihre Schicksale: ›Hans Grünauer‹ – der Lebensroman des J. S. In: Heimatspiegel 4 (2007), S. 25–31. Rémy Charbon / Red.
S. wird zu den polit. Schriftstellern des österr. Vormärz gerechnet. Sein Vater, Tiroler Landrichter u. seit 1810 Ratsherr in Wien, übte mit seiner josephin. Geistigkeit u. seinem liberalen Patriotismus nachhaltigen Einfluss auf ihn aus. 1807 wurde S. Zögling des Wiener Stadtkonvikts; danach studierte er Jura u. Philosophie. Seit 1815 verkehrte S. im geselligen Künstlerkreis um Schubert, der auch Gedichte des jungen Studenten vertonte (Schwanengesang, Selige Welt). 1820 wurde S. Opfer des vormärzl. Spitzelsystems; konspirativer Umtriebe verdächtigt, wurde er in Untersuchungshaft genommen u. nach mehreren Monaten nach Tirol abgeschoben, wo er zunächst als Schreiber tätig war u. 1823 in den Militärdienst wechselte. 1832 nahm S. aus gesundheitl. Gründen seinen Abschied u. fristete sein weiteres Leben als Winkeladvokat u. Schriftsteller in Innsbruck. S.s Lyrik (Gedichte. Innsbr. 1838) spiegelt seine Auseinandersetzung mit der Philosophie des Deutschen Idealismus ebenso wie sein freisinniges Denken; den Druck vieler seiner polit. Sonette u. Gedichtzyklen verhinderte die Zensur (Napoleon und das Glück. 1841. Der Mundfluß. 1838); populär wurde S.s patriotisches Lied Der rote Tiroler Adler. Einen marginalen Beitrag zur Wirkungsgeschichte des Faust lieferte S. mit seiner philosophischen Interpretation Glossen zu Goethes Faust (1845. Buchausg. Hg. Adolf Pichler. Innsbr. 1862).
Literatur: Moriz Enzinger: J. C. S.s Glossen zu Goethes Faust. In: Archiv 154 (1928), S. 190–212. – Ders.: Die dt. Tiroler Lit. Innsbr. 1929. – Ders.: Franz v. Bruchmann, der Freund J. C. S.s u. des Grafen August v. Platen. Ebd. 1930. – Erich Kofler: J. C. S. In: Der Schlern 53 (1979), S. 306–311. – Werner Aderhold: J. C. S. In: Schuberts Lieder nach Gedichten aus seinem literar. Freundeskreis. Auf der Suche nach dem Ton der Dichtung in der Musik. Hg. Walter Dürr. Ffm. u. a. 1999, S. 97–111. – Sigurd Paul Scheichl: Josef Leitgebs Essay über J. C. S. In: Mitt.en aus dem Brenner-Archiv 20 (2001), S. 125–138. – Ders.: J. C. S. In: ÖBL. Cornelia Fischer / Red.
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Sennert, Daniel, * 25.11.1572 Breslau, † 21.7.1637 Wittenberg. – Arzt, Professor (Medizin), Naturforscher, medizinischer Schriftsteller. Der Sohn eines Schusters studierte zunächst die Artes liberales seit 1593 in Wittenberg (M. A. 1598), dann dort mit kurzen Studienaufenthalten in Leipzig, Jena u. Frankfurt/O. auch Medizin. Nach praktischer ärztl. Tätigkeit in Berlin (unter Dr. Johann Georg Magnus) u. einem Aufenthalt in Basel (1601) wurde S. 1601 in Wittenberg zum Dr. med. promoviert u. 1602 bereits dort zum Professor der Medizin ernannt. Er war häufig Dekan der Medizinischen Fakultät, 1605/1606, 1611/12, 1617/18, 1623/24, 1629/30 u. 1635/ 36 Rektor der Universität. S. starb als Kurfürstlicher Leibarzt 1637 an der Pest. S. schätzte Aristotoles, ist aber in seinen naturphilosophischen Schriften kein dogmat. Aristoteliker; charakteristisch ist hier, wie auch in der Medizin, sein offener Eklektizismus, bemerkenswert in der Physik sein Versuch einer Wiederbelebung des Atomismus zum Zwecke einer – im korpuskularen Bereich – mechanistischen Erklärung der Natur. In der Seelenlehre überschritt S. durch sein Postulat einer unsterbl. Seele auch der Tiere die Grenzen der in Rom nur ad hominem akzeptierten aristotel. Lehre De anima u. wurde mit seinen Hypomnemata physica (1636) am 22.1.1642 auf den Index librorum prohibitorum verbannt. In der Medizin, bes. in De chymicorum [...] consensu (1619), gelang S. für die Medizin die Vermittlung zwischen Aristotelismus, Galenismus u. der jungen Chymiatrie. Während Johannes Freitag (1587–1654) von Groningen aus seit 1630 in scharfen Streitschriften Aurora medicorum Galeno-chymicorum (Frankf. 1630) heftig gegen S. als Kopf einer Nova Secta Sennerto-Paracelsica Recens in Philosophiam & Medicinam introducta (Amsterd. 1637) polemisiert, weil sich deren Anhänger (»Novatores«) erdreisteten, »antiquae veritatis oracula, et Aristotelicae ac Galenicae doctrinae fundamenta convellere & stirpitus eruderare«, leistet S. damit gleichwohl einen nachhaltigen Beitrag zur Akademisierung des chymiatr. Diskurses. Unabhängig davon sind seine medizinischen Auf-
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fassungen überwiegend humoralistisch orientiert, seine klassisch auf Galen fussende Pathophysiologie, Semiotik u. Therapie blieben kanonisierter Lehrstoff der europ. Medizin bis in die 80er Jahre des 17. Jh.; eine Rezeption des Paracelsismus im osman. Reich durch Übersetzungen Oswald Crolls u. S.s ins Arabische war inzwischen gesichert; die engl. Rezeption wurde insbes. durch Übersetzungen des Nicholas Culpeper befördert. Werke (Erscheinungsort jeweils Wittenb.): Templum mnemosynes. 1599. – De methodo medendi. 1604. – Quaestionum medicarum controversarium liber. 1609. – Artis medicae studiosis [de historia medicinae]. Ebd. 1616. – Epitome naturalis scientiae. 1618. – De chymicorum cum Aristotelicis et Galenicis consensu et dissensu liber I., Controversias plurimas tam Philosophis quam Medicis cognitu utiles continens. 1619. 21629. – De febribus libri IV. 1619. – Institutiones medicinae libri V. 1611. – De scorbuto tractatus. 1624. – Practicae medicinae libri VI. 1628. – Christliche Gedanken, wie man wol leben und selig sterben soll. 1636. – De bene vivendi beateque moriendi ratione meditationes. 1636. – Hypomnemata physica. 1636. Ausgabe: Opera omnia: Venedig 1641. Paris 1641. Lyon 1650. 1656. 1666. 1676. Literatur: Biografische Quellen: Balthasar Ostenn: In honorem Danielis S., summo in philosophia gradu ornati. Wittenb. [1598]. – August Buchner: Panegyricus memoriae viri clariss. Danielis Sennerti: dicatus ac dictus publice in Acad. Wittenberg. Ebd. 1638. – Paul Röber: Sennertianum symbolum [...] bey Leichbestattung des D. S. Wittenb. 1638. – Weitere Titel: K. Lasswitz: Gesch. der Atomistik. Bd. 1, Hbg./Lpz. 1890, S. 436–454. – R. Ramsauer: Die Atomistik des D. S. Diss. phil. Kiel 1935. – Wolfgang U. Eckart: Grundlagen des medizinisch-wiss. Erkennens bei D. S. Diss. med. Münster 1978. – Ders.: Die Renaissance des Atomismus: D. S., Johannes Sperling, David Gorlaeus. In: Ueberweg 17. Jh., Bd. 4/2 (2001), S. 926–936, 983–986. – William R. Newman: Atoms and Alchemy. Chicago/London 2006, S. 85–189. – HansTheodor Koch: Die Wittenberger medizin. Fakultät (1502–1652). Ein biobibliogr. Überblick. In: Medizin u. Sozialwesen in Mitteldeutschland zur Reformationszeit. Hg. Stefan Oehmig. Lpz. 2007, S. 289–348, bes. S. 329 f. – Eva Brodehl: Chemistry Made Easie and Useful – Nicholas Culpeper (1616–1654) u. die Rezeption der Chymiatrie am Beispiel D. S.s ›De Chymicorum‹ (1619). Diss. med. Heidelb. 2008. – Claus Priesner: D. S. In: NDB. –
S¸enocak Natalia Bachour: Oswaldus Crollius und Daniel Sennert im frühneuzeitlichen Istanbul: Studien zur Rezeption des Paracelsismus im Werk des osmanischen Arztes S. a¯lih b. Nas. rulla¯h Ibn Sallu¯m al-H . alabı¯ . Freib. i. Br. 2011 (im Druck). Wolfgang Uwe Eckart
S¸enocak, Zafer, * 25.5.1961 Ankara/Türkei. – Lyriker, Romancier, Essayist, Übersetzer, Herausgeber. S¸. wuchs in Ankara u. Istanbul auf u. kam 1970 mit seinen Eltern nach München, wo er im Anschluss an das Abitur Germanistik, Politik u. Philosophie studierte. Er ist Mitbegründer der Literaturzeitschrift »Sirene«. 1989 ging er nach Berlin, wo er als freier Schriftsteller lebt. S¸. gilt als einer der vielseitigsten u. wichtigsten türkisch-dt. Autoren seiner Generation. Sein literar. Werk wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt, u. a. ins Englische, Französische, Türkische, Tschechische, Spanische u. Italienische. Seine in türk. Sprache verfassten Romane erscheinen auch in dt. Übersetzung. S¸.s erste Schaffensphase begann in den frühen 1980er Jahren in München, als er expressionistische Großstadtlyrik schrieb (Elektrisches Blau. Mchn. 1983. Verkauf der Morgenstimmungen am Markt. Ebd. 1983. Flammentropfen. Ffm. 1985) u. zugleich türk. Lyrik des 14. Jh. sowie osman. Klassiker ins Deutsche übersetzte u. kommentierte (Yunus Emre: Das Kummerrad / Dertli Dolap. Ffm. 1986. Ein Lied auf des Volkes Zunge. In: Sirene 1, 1988, Nr. 1, S. 52–83). Verlorenheit u. Entfremdung des urbanen lyr. Subjekts verschmelzen mit der Einsamkeit des myst. Ichs zu einer existenziellen Fremdheit jenseits gängiger (Migrations-)Verortungen. Intertextuelle Bezüge zur osman. Klassik finden sich in S¸.s eigenem kleinen Diwan (Ritual der Jugend. Ffm. 1987). Mit dem Wechsel des Autors nach Berlin gelangte die polit. Wirklichkeit in den Blick: Die Umbrüche der 1990er Jahre, Wiedervereinigung in Deutschland u. Erstarken des Islamismus in der Türkei, schlagen sich in langen, teils hermet. Poemen nieder. In den ehemaligen Reichshauptstädten Berlin u. Istanbul, Orten dt. u. osman. Geschichte, begibt sich das lyr. Ich auf die Suche nach dem
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histor. Verdrängten: Der Archivar fördert dabei jedoch nur Bruchstücke, Erinnerungsu. Bewusstseinsfetzen hervor. Das schuldhaft verstrickte Berlin etwa versteckt sich im Gedichtzyklus Berlin vor dem schwarzen Frühling »hinter dem Spiegel« (Das senkrechte Meer. Bln. 1991); in Istanbul steht die Figur des »Onkel Saladin« (aus dem gleichnamigen Gedichtzyklus im Band Fernwehanstalten. Bln. 1994) gegen den neuen, frömmelnden Zeitgeist. Das Meer wird zur eigenen poetischen Kraft. Die metapherndichte, teils düster gestimmte u. von Skepsis durchdrungene Metropolenlyrik der 1990er Jahre wird jedoch aufgebrochen von einer im Ton leichteren, an die frühere Dichtung anknüpfenden Naturlyrik, die auch das weitere lyr. Werk S¸.s mitbestimmt. 2004 erschien erstmals ein Gedichtband in türk. Sprache (Kara Kutu. Istanbul 2004), 2005 eine erste lyr. Zwischenbilanz (Übergang. Ausgewählte Gedichte 1980–2005. Mchn. 2005). In Zusammenarbeit mit dem Installationskünstler u. Theaterregisseur Berkan Karpat entstand der avantgardistische futuristenepilog (Mchn. 2008), der Ikonen und Figuren des 20. Jh. mit literar. Traditionen östl. u. westl. Provenienz verknüpft. In den 1990er Jahren avancierte S¸. mit seinen Essays zum dt.-türk. Verhältnis (Atlas des tropischen Deutschland. Bln. 1992) u. zum Thema Orient-Okzident (War Hitler Araber? IrreFührungen an den Rand Europas. Bln. 1994) zur wichtigsten türkisch-dt. Stimme des wiedervereinigten Deutschland. Nachfolgende Essays widmen sich darüber hinaus poetolog. Themen wie etwa dem Bezug zur jüdisch-dt. Tradition; die eigene Verwurzelung in der islamischen Tradition ist verbunden mit harscher Kritik am zeitgenöss. polit. Islam (Zungenentfernung. Bericht aus der Quarantänestation. Mchn. 2001. Das Land hinter den Buchstaben. Deutschland und der Islam im Umbruch. Mchn. 2006). Seine Gedanken zur dt. Integrationsdebatte u. ihrem historisch-philosophischen Hintergrund bündelt S¸. im Band Deutschsein. Eine Aufklärungsschrift (Hbg. 2011). Seit Mitte der 1990er Jahre erscheint S¸.s literar. Prosa. Bereits die ersten Erzählungen erkunden Berlin als literar. Topografie (Der Mann im Unterhemd. Bln. 1995) u. spielen mit
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dem Spannungsverhältnis einer literar. Serner, Walter (Eduard), eigentl.: W. SeIdentität, die sich aus den migrantischen ligmann, * 15.1.1889 Karlsbad, † 1942 in Festschreibungen entweder in die US-ameri- einem Konzentrationslager. – Erzähler, kan. Weite flüchtet, um sich dort neu zu er- Lyriker. finden (Die Prärie. Hbg. 1995), oder aber in die östlich-oriental. Richtung aufbricht, um sich Der Sohn des Herausgebers der »Karlsbader in transsexuellen Vexierbildern zu verlieren Zeitung«, Berthold Seligmanns, studierte seit (Der Erottomane. Ein Findelbuch. Mchn. 1999). 1909 in Wien u. Greifswald Jura (Dr. iur. Mit seinem Wenderoman Gefährliche Ver- 1913). Seit 1908 schrieb S. für die Zeitung wandtschaft (Mchn. 1998) verschlüsselt S¸. die seines Vaters, seit 1912 für Pfemferts »Aktikomplizierten deutsch-jüdisch-türk. Bezie- on«: Kunstkritiken, Buchbesprechungen u. hungen: Als Sohn einer dt. Jüdin, die wäh- Aphorismen, die noch nichts von der späteren rend des »Dritten Reiches« im türk. Exil Radikalität seiner Literatur ahnen lassen. überlebte, u. eines Türken, dessen Vater an Ende 1914 ging der Pazifist S., der um 1909 der Vernichtung der Armenier beteiligt war, vom Judentum zum Katholizismus konverist Romanfigur Sascha Muchteschem »Enkel tiert war u. seinen Namen in Serner geändert von Opfern und Tätern«. Fragen von Identi- hatte, nach Zürich; in die Jahre 1915/16 fiel tät u. histor. Verstrickung werden in den die Abwendung von der herkömmlichen, Kontext der dt.-dt. Wiedervereinigung ein- dem Neuen mäßig aufgeschlossenen Schriftgebettet. Die Vielschichtigkeit des Themas stellerei u. Kunstkritik. Zunächst stand S. findet dabei auch in der postmodernen Er- offenbar dem Futurismus u. den Dada-Aktizählweise Niederschlag. Auch nachfolgende, vitäten des »Cabaret Voltaire« in Zürich noch z. T. in türk. Sprache verfasste Romane be- eher skeptisch gegenüber, begann aber dann schäftigen sich mit der dt.-türk. Geschichte selbst dadaistische Gedichte zu schreiben, des frühen 20. Jh. (Der Pavillon / Kös¸ k. Bln. verfasste mit Tristan Tzara u. Hans Arp ein 2009, dt. Übers. von Helga Dag˘yeli-Bohne u. erstes Stück simultaneistischer Dichtung, den Yıldırım Dag˘yeli. Deutsche Schule / Alman Ter- (fragmentarischen) Gedichtzyklus Die Hyperbiyesi. Bln. 2011, dt. Übers. von H. Dag˘yeli- bel vom Krokodilcoiffeur und dem Spazierstock (in: Der Zeltweg, Nov. 1919), u. mobilisierte den Bohne). Während die germanistische Literaturwis- Maler Picabia als Geldgeber für weitere Zürsenschaft in S¸. einen zentralen Autor der cher Dada-Aktivitäten. S. betätigte sich au»Türkischen Wende« (Turkish Turn, Adelson ßerdem als Herausgeber der Zeitschrift »Si2005) erkennt, ist die krit. Rezeption in rius« (acht Hefte 1915/16), worin er selbst mit Deutschland v. a. auf seine Essays beschränkt christlich orientierten, der moralischen Riu. bleibt somit hinter der internat. Wahr- gorosität von Karl Kraus verpflichteten Beiträgen vertreten ist, redigierte 1915 das dritte nehmung seiner Literatur zurück. Literatur: Tom Cheesman u. Karin Yes¸ ilada Heft der Zeitschrift »Mistral« u. verantwor(Hg.): Z. S¸. Cardiff 2003. – Cornelia Zetzschke: Z. S¸. tete mit Tzara u. Otto Flake zusammen das In: LGL. – Leslie A. Adelson: The Turkish Turn in einzige Heft von »Der Zeltweg«. 1918 verContemporary German Literature. New York u. a. fasste S. in Lugano, erschüttert vom morali2005. – Michael Hofmann: Die Vielfalt des Hybri- schen Bankrott Europas, der ihm im Ersten den: Z. S¸. als Lyriker, Essayist u. Romancier. In: Weltkrieg evident geworden schien, den Text Ders.: Interkulturelle Literaturwiss. Eine Einf. Pa- LETZTE LOCKERUNG, manifest dada, das derb. 2006, S. 200–213. – K. Yes¸ ilada: Z. S¸. In: KLG. wichtigste, 1920 in der Reihe Die Silbergäule in Karin E. Yes¸ ilada Hannover erschienene Manifest des Dadaismus (Reprint der Erstausg. Ottiglio 2009), das, wenn man sich von seiner Sprunghaftigkeit u. seinem stilistischen Raffinement nicht täuschen lässt, von großem Ernst der Argumentation ist. Diese Deklaration eines totalen Wertevakuums dominiert ein aus
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Verzweiflung zyn. Grundton; Weltanschauungen werden zu puren »Vokabelmischungen« erklärt, Normen als willkürl. Setzungen entlarvt u. die Kunst als »infantilste Form von Magie« denunziert. 1920 schrieb S. auch eine erste Serie von Kriminalgeschichten (Zum blauen Affen. In: Die Silbergäule, H.e 91–98, 1921). S. nahm in Zürich nach der Auflösung des ersten Dada-Kreises um Hugo Ball, Emmy Ball-Hennings u. Huelsenbeck an der Organisation von Dada-Ausstellungen u. -Soiréen teil, bei denen er, begleitet von empörten Publikumsreaktionen, die er sehr genoss, auch Teile seines manifest dada vortrug. Im Mai 1920 nahm er in Paris am »Festival Dada« teil, setzte sich dann aber von der Bewegung ab, die ihm zu einer gehobenen Salon-Pläsanterie zu verkommen schien; in den folgenden Jahren frönte er seiner Lust an der Eisenbahnflanerie, reiste – z. T. mit seinem Freund, dem Maler Christian Schad – kreuz u. quer durch Europa, wohnte abwechselnd in Neapel, Barcelona u. Genf u. verschwand 1928, nachdem eine erste, siebenbändige Werkausgabe erschienen war (Bln. 1927/28), für mehrere Jahre spurlos. 1938 heiratete er in Prag seine langjährige Freundin Dorothée Herz u. soll sich als Sprachlehrer an einer Handelsschule durchgeschlagen haben. Am 20.8.1942 wurde er von Prag nach Theresienstadt u. bald weiter nach Osten deportiert; wahrscheinlich fand er noch 1942 in einem Vernichtungslager den Tod. Der bürgerlich-literar. Öffentlichkeit galt S., eine der rätselhaftesten u. intellektuell brillantesten Gestalten des damaligen literar. Lebens, als Anarchist, der revolutionären Linken als bürgerl. Dandy. Seine Geschichten aus dem Ganovenmilieu, gesammelt in Der elfte Finger (Hann. 1923. Mchn. 1972), Der Pfiff um die Ecke (Bln. 1925) u. Die tückische Straße (Wien 1926), zeigen die zu eleganter Perfektion vorangetriebenen Geschäftspraktiken der Kriegs- u. Nachkriegsgesellschaft, transponiert in die Welt der kleinen Ganoven, Kokotten u. anderer Randgruppenexistenzen. S. glorifiziert die Amoralität dieser Welt nicht, sympathisiert aber damit, daß in diesem Milieu wenigstens nicht so heuchlerisch auf wohlanständige Fassade geachtet werde
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wie bei dem von einem ebenso brutalen Willen zur Macht beherrschten Bürgertum. Alle Erzählungen S.s, keine länger als zehn Seiten, sind »mit Tempo erzählt und hastig zu lesen« (Alexander Beßmertny); sie unterlaufen gezielt die Gewichtigkeit u. den Anspruch der »großen Kunst«, die S. zufolge passé ist. Sie stehen in der Tradition der Hochstaplerromane u. -autobiografien der Jahrhundertwende (S. beruft sich auf Manoulescus Fürst der Diebe von 1905) u. setzen die Tradition der Novellen Maupassants u. der expressionistischen Prosagrotesken (etwa von Friedländer) sowie der »Kriminalsonette« von Rubiner, Friedrich Eisenlohr u. Livingstone Hahn (1913) fort. S.s Werk wurde u. a. von Döblin, Max Herrmann-Neiße u. Theodor Lessing hoch geschätzt, insbes. auch sein einziger Roman, Die Tigerin (Bln. 1925. Neuausg. Mchn. 1971 mit einem Nachw. v. Christian Schad. Salzb./Wien 1998), worin er die tödlich endende Amoralität von Choderlos de Laclos’ Gefährliche Liebschaften in das Zuhälteru. Hochstaplermilieu von Paris u. Monte Carlo der 1920er Jahre verlegt. S. gehört zum Typus des vom Zerfall aller Werte geprägten europ. Intellektuellen; Kennzeichen der geistigen Existenz des Nihilisten S. ist, dass er sich nicht dazu durchringen konnte, wie Brecht oder Carl Einstein in einer sozialistischen Gesellschaftsreform oder, wie Benn, in einer Glorifizierung der Kunst als eines letzten metaphys. Wertes einen Trost u. Ausweg aus der Leere zu sehen. Weitere Werke: Ausgaben: Das gesamte Werk. Hg. Thomas Milch. 8 Bde. mit 2 Supplementbdn., Mchn. 1979–92. – Ges. Werke in 10 Bdn. Hg. ders. Ebd. 1988. – Das erzähler. Werk in 3 Bdn. Hg. ders. Ebd. 2000. – Einzeltitel: Die Haftung des Schenkers wegen Mängel im Rechte [...]. Diss. Greifsw. 1913. – Posada oder Der große Coup im Hotel Ritz. Wien 1926. Urauff. Bln. 1927 (D.). – Letzte Lockerung. Ein Handbrevier für Hochstapler u. solche, die es werden wollen [Neuausg. der erw. Fass. v. 1927]. Hg. Andreas Puff-Trojan. Zürich 2007. – ›Werde mich eben bald abkehren‹. Bisher unveröffentlichte Briefe W. S.s, mitgeteilt v. Jörg Drews. In: Protokolle, H. 1 (1980). – Sprich deutlicher. Sämtl. Gedichte u. Dichtungen. Hg. Klaus G. Renner. Mchn. 1988. – Das W.-S.-Lesebuch. Alle 99 Kriminalgesch.n in einem Band. Mchn. 1992. – Der Pfiff aufs
767 Ganze. Aphorismen. Hg. Joachim Schreck. Bln. 1993. Literatur: Jörg Drews: ›Hinter jedem Satz hat man ein wildes Gelächter unmißverständlich anzudeuten‹. Zur geistigen Existenz W. S.s. In: manuskripte, H. 89/90 (1985), S. 149–153. – Joachim Bensch: Die frühen Schriften des W. S. Die Gesch. einer Wiederentdeckung. Diss. Freib. i. Br. 1988. – Alfons Backes-Haase: ›Über topogr. Anatomie, psych. Luftwechsel u. Verwandtes‹. W. S. – Autor der ›Letzten Lockerung‹. Bielef. 1989. – Herbert Wiesner u. Ernest Wichner: S.-Kat. Bln. 1989. – Raoul Schrott: W. S. (1889–1942) u. Dada. Siegen 1989. – Andreas Puff-Trojan: Wien-Berlin-Dada. Reisen mit Dr. S. Wien 1993. – Wendelin SchmidtDengler (Hg.): VerLockerungen. Österr. Avantgarde im 20. Jh. Wien 1994. – Jonas Peters: ›Dem Kosmos einen Tritt!‹ Die Entwicklung des Werks v. W. S. u. die Konzeption seiner dadaist. Kulturkritik. Ffm. u. a. 1995. – Ulrich Hackenbruch: Sachl. Intensitäten. W. S.s ›erot. Kriminalgeschichten‹ in ihrer Epoche. Ffm. u. a. 1996. – A. Puff-Trojan u. W. Schmidt-Dengler (Hg.): Der Pfiff aufs Ganze. Studien zu W. S. Wien 1998. – Christian Schad: Relative Realitäten. Erinnerungen um W. S. Augsb. 1999. – Andre´ Bucher: Repräsentation als Performanz. Studien zur Darstellungspraxis der literar. Moderne. Paderb. 2004. – A. Puff-Trojan: W. S. In: ÖBL. – Hans Richard Brittnacher: Betrug auf hohen Touren. W. S.s Poetik sozialer Mobilität. In: Unterwegs. Hg. ders. u. Magnus Klaue. Köln/Wien 2008, S. 71–88. – Harald Josef Ollinger: ›Mit Rennwagengeschwindigkeit bergab ...‹ oder Kritik u. Lebenskunst im publizist. Schaffen W. S.s. Diss. Linz 2009. – A. Puff-Trojan: W. S. In: NDB. Jörg Drews † / Red.
Servatius, Oberdeutscher ! Oberdeutscher Servatius Setzwein, Bernhard, * 29.4.1960 München. – Verfasser von Romanen, Dramen, Lyrik, kulturhistorischen Essays, Rundfunkfeatures und Reisebüchern. S. wuchs in Bad Dürkheim (bis 1970) u. Köln (1970–1974) auf u. zog dann mit seiner Familie nach München. Als prägende Erfahrung betrachtet er noch heute seinen Zivildienst 1979/80 in den Oberland Werkstätten für Behinderte in Gaißach. 1981–1986 studierte S. an der Ludwig-Maximilians-Universität München Germanistik, Volkskunde u. Deutsch als Fremdsprache (Abschluss Magis-
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ter). Seine frühesten Veröffentlichungen (vareck. Bairische lyrik, prosa und szenen. Feldafing 1978. Hobdz mi gern. Haß- und Liebesgedichte. Ebd. 1980. Brandwunden. Ebd. 1981) reflektieren die Erfahrungen des Münchner Gymnasiasten im frostigen Klima der jungen konservativen Bundesrepublik. Sie handeln von Generations- u. Ausgrenzungskonflikten. In der Sprache dieser Texte spielt der bayerische Dialekt eine erhebliche atmosphärische u. die Authentizität des Geschehens verbürgende Rolle, wobei der Autor im Sinne des Friedl-Brehm-Verlags, bei dem er zunächst publizierte u. dessen Mitinhaber er 1983–1987 war, jede folkloristische Pseudogemütlichkeit vermeidet. Er betont stets, dass für ihn Mundart immer zgl. Sprache der Ohnmächtigen u. der Machthaber ist, Ausdruck sensibler Feinfühligkeit, aber auch Medium größter Aggressivität u. Dumpfheit. Schon in der Erzählung Brandwunden, die Motive u. Folgewirkungen einer pubertären Verzweiflungstat thematisiert, verwendet er ein dialektal gefärbtes Kunst-Schriftdeutsch mit oralen Anklängen, das er in seinen späteren Romanen zu einem unverwechselbaren Idiom, dem sog. Setzwein-Ton ausbaut. In den 1980er u. 1990er Jahren verfolgte S. über verschiedene Werke unterschiedl. Genres hinweg ein komplexes Schreibprojekt, das große Geschichte in kleinen Geschichten sichtbar machen will – das sog. UniversalSendlikon. In der Tat eignet sich der Münchner Stadtteil Sendling, aus dem S.s Familie stammt, bestens als abschreckendes Beispiel für rücksichtslose Modernisierung, Vertreibung u. Zerstörung von Heimat. Literarische Vorbilder wie Günter Grass, Jean Paul, Carl Amery, Paul Wühr u. Michail Bulgakow haben in diesen Arbeiten ihre Spuren hinterlassen, die mit den Romanen Wurzelwerk (Mchn. 1984) u. Hirnweltlers Rückkehr. Das ist: Der Absturz des Provinzlers Jean Paul Richter auf die Großstadt [...] (Mchn. 1987) beginnen, über das Versepos OberländerEckeDaiser (Mchn. 1993) u. die Dramen Zucker. Ein Stück. Diabetische Farce in vier Szenen (Viechtach 1997) sowie Watten Wagner Wichs (ebd. 1998) bis zu dem iron. Zeit-, Epochen- u. Teufelsroman Das Buch der sieben Gerechten (Innsbr. 1999) reichen, der über die barocke Lebestadt
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München ein apokalypt. Strafgericht verhängt. In der Abfolge dieser Texte perfektioniert der Autor einen iron. surrealen Realismus, der es ihm erlaubt, sich kritisch u. engagiert auf (Literatur-)Geschichte u. Politik einzulassen, ohne in moralisierende Didaktik abzugleiten. Zum Gedenkjahr 2000 legte S. mit seinem Roman Nicht kalt genug (ebd.) eine ironisch gebrochene Hommage auf Nietzsche vor, in der er seinen Helden sieben Sommer lang nach Sils-Maria begleitet, stets auf der Suche nach jener Klarheit u. Kälte, die ihn über die menschl. Dinge erheben sollte. Mit großer Intensität u. ohne denunziatorischen Gestus vergegenwärtigt er die geistigen Höhenflüge des Philosophen ebenso wie seine Abstürze ins Menschlich-Allzumenschliche. Zu recht rühmte die Kritik an diesem Buch das subtile Gespür S.s für die rührenden Widersprüchlichkeiten seines genialen Protagonisten. Seit seiner Übersiedlung nach Waldmünchen 1990 interessiert sich S. für die Transformationsprozesse im bayerisch-böhm. Grenzraum nach dem Wegfall des Eisernen Vorhangs. Bald dehnte er dieses Interesse auf das östl. Mitteleuropa aus, engagierte sich für Autorenkontakte, schrieb einschlägige Reportagen u. wandte sich einem neuen Großprojekt zu – der Archäologie u. literar. Rekonstruktion einer durch Ideologien, Kriege u. Verbrechen zerstörten kulturellen Identität Mitteleuropas. Er verwirklichte dieses Vorhaben in dem auf mehreren histor. Ebenen angesiedelten Roman Die grüne Jungfer (ebd. 2003), der am Beispiel mehrerer exemplarischer Schicksale im Rahmen einer spannenden Geschichte ein facettenreiches Panorama der Grenzlandschaft im Herzen Europas entstehen lässt. Neue Wahlverwandtschaften – u. a. Jaroslav Hasˇ ek, Bohumil Hrabal, Václav Havel, Thomas Bernhard, aber auch Adalbert Stifter – treten nun in den Vordergrund (vgl. dazu die Vorträge der Bamberger Poetikprofessur, 2004). Letzterer wirkt v. a. auf die Struktur des Romans Ein seltsames Land (Viechtach 2007) ein, dessen Held normalerweise als braver Staubsaugervertreter durch die Neubausiedlungen des Bayerischen Waldes streift, dann aber aus diesem Leben ausbricht u. sich auf eine
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skurrile Abenteuerfahrt zwischen Traum u. derber Entzauberung begibt. Das ›Böhmische-Masse-Projekt‹ wird durch einen weiteren Roman zur Trilogie ausgebaut. Der Autor begleitet es mit dem abgründigen Skizzenbuch Das blaue Tagwerk (ebd. 2010), das Kulturgeschichtliches, Literatursoziologisches, Poetologisches u. Persönliches in pointierten Miniaturen zu einem anrührenden Gesamtbild verknüpft. Im Theaterstück 3165 – Monolog eines Henkers (Urauff. Weiden 2007. Als Hörbuch, Regensb. 2008) analysiert S. die moralisch verwickelte Lebensgeschichte des letzten bayerischen Scharfrichters Johann Reichart, der seit 1924 Mörder u. Sittlichkeitsverbrecher hinrichtete, aber auch Unschuldige u. ›Politische‹ wie die Geschwister Scholl, einmal sogar seine eigenen Lebensretter, u. sich plötzlich, 1948, selber als Handlanger der Nationalsozialisten vor Gericht sieht. S. erhielt das Stipendium »Münchner Literaturjahr« (1983), den Bayerischen Staatsförderpreis für Literatur (1998), den Kulturpreis des Bezirks Oberpfalz in der Sparte Literatur (2003) u. den Kulturpreis der E.ON Bayern AG (2006). Weitere Werke: Käuze, Ketzer, Komödianten. Literaten in Bayern. o. O. [Mchn.] 1990. – Oidweiwasumma. Gedichte vom Ende der Welt in altbair. Mundart. Krefeld 1990. – An den Ufern der Isar. Ein bayer. Fluß u. seine Geschichte. Mchn. 1993. – Ein Fahneneid aufs Niemandsland. Literatur über Grenzen. Essays, Reden, Interviews. Viechtach 2001. – München. Spaziergänge durch die Gesch. einer Stadt. Stgt. 2001. – Die Donau. Eine literar. Flußreise von der Quelle bis Budapest. Stgt. 2004. Literatur: Hans-Peter Ecker: Gespräch mit B. S. In: Dt. Bücher 24 (1994), H. 2, S. 91–104. – Gerd Holzheimer: Wanderer Mensch. Studien zu einer Poetik des Gehens in der Lit. Mchn. 1999. – Heinz Puknus: B. S. In: KLG. – Thomas Kraft: B. S. In: LGL. – Hermann Unterstöger: Literat des Randbayerntums. In: Stadt, Land, Wort. Bayerns Literaten: 22 Porträts. Hg. Robert Roßmann u. Hans Kratzer. Waldkirchen 2004, S. 13–16. – Jürgen Rolf Hansen: Kleine Weltgesch. aus der Mitte Europas. In: Ders: ... u. Sisyphus lachte. Feldafing 2004, S. 273–282. – H.-P. Ecker: B. S., ein Anwalt mitteleurop. Solidarität. In: Aussiger Beiträge 2 (2008), S. 163–172. Hans-Peter Ecker
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Seume, Johann Gottfried, * 29.1.1763 Poserna/Sachsen, † 13.6.1810 Teplitz/ Böhmen; Grabstätte: ebd., Seume-Park. – Politisch-historischer u. Reiseschriftsteller; Lyriker, Dramatiker, Übersetzer, Herausgeber. Für S.s politisch-eth. Grundhaltung waren seine Kindheitserfahrungen prägend. Die urspr. wohlhabende Bauernfamilie verkaufte 1770 ihren Grundbesitz u. pachtete in Knautkleeberg bei Leipzig einen Gasthof mit Landwirtschaft, der durch Teuerung u. Hungersnot jedoch schnell unrentabel wurde. Den frühen Tod des Vaters (25.7.1776) begriff S. als Urerlebnis feudaler Unterdrückung, obwohl er über viele Jahre hinweg durch den Grafen Hohenthal-Knauthain bei der Ausbildung unterstützt werden sollte. S. war von der Dorfschule in Knautkleeberg (seit 1770) an Ostern 1777 auf die Lateinschule zu Borna übergewechselt (bis Juni 1779). Anschließend besuchte er die Leipziger Nikolaischule (bis Sept. 1780), bevor er auf Wunsch des Grafen Hohenthal am 9.10.1780 das Theologiestudium in Leipzig aufnahm. Eigenen Aussagen zufolge geriet er durch die Lektüre freigeistiger Schriften (Shaftesbury, Bolingbroke, Bayle u. Reimarus-Fragmente) in eine religiöse Krise, die ihm den Studienabschluss unmöglich machte. Ende Juni 1781 versuchte er sich diesem Dilemma durch die Flucht nach Frankreich zu entziehen, weil er hoffte, an der Artillerieschule in Metz auch als Bürgerlicher Zugang zur Offizierslaufbahn zu haben. Bereits in Vacha/Thüringen fiel er jedoch Werbern des Landgrafen von Hessen-Kassel in die Hände, der ihn an England für den Kampf in den aufständ. amerikan. Kolonien verkaufte. Nach 22-wöchiger Überfahrt landete S. im Sept. 1782 bei Halifax, wo es jedoch nicht mehr zu Kampfhandlungen kam. August/September 1783 wurde er nach Bremen zurücktransportiert. Preußische Werber brachten ihn nach einem Fluchtversuch in ein Lager bei Emden. Nach zwei weiteren Fluchtversuchen Ende 1783 u. im Jan. 1787 wurde S. zu zwölfmaligem Spießrutenlaufen verurteilt, schließlich jedoch gegen Kaution freigelassen. Seit Herbst 1787 studierte der erneut vom Grafen Ho-
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henthal geförderte S. in Leipzig Jura, Philosophie, Altphilologie u. Geschichte. Er hörte u. a. bei Ernst Platner u. schloss Freundschaft mit Christian Felix Weiße. 1788 erschien Honorie Warren (2 Bde., Ffm./Lpz. 1788), S.s Übersetzung des Romans The Fair Syrian von Robert Bage. 1790–1792 war S. Hofmeister eines livländ. Grafen; 1791 erwarb er den Magistergrad u. habilitierte sich am 28.3.1792 mit Arma veterum cum nostris breviter comparata (Kurzer Vergleich den Waffen der Alten mit den unseren). Als Sekretär u. Adjutant des russ. Generals Igelström, des Onkels seines Zöglings, ging S. im Aug. 1792 nach Pleskow (Pskov) in Russland; im Jan. 1793 begleitete er Igelström, den Oberkommandierenden der russ. Besatzungstruppen, nach Warschau, wo er zum Leutnant befördert wurde. Während des poln. Aufstands geriet er von April bis Sept. 1794 in Gefangenschaft u. kehrte anschließend nach Leipzig zurück, wo er als Hauslehrer lebte. In diesen Jahren begann auch S.s schriftstellerische Karriere: 1796 publizierte er Einige Nachrichten über die Vorfälle in Polen im Jahre 1794 sowie das erste Bändchen der Obolen (beide Lpz.), einer Sammlung kleiner theoret. u. poetischer Werke (zweites Bändchen 1798). Spätestens 1797 fasste S. den Plan zu seiner großen Italienreise, den er jedoch erst nach einer vierjährigen Tätigkeit als Lektor im Göschen Verlag in Grimma (seit Okt. 1797, v. a. als Betreuer der Werkausgaben Klopstocks u. Wielands, aber auch als Herausgeber, z. B. von Alxingers komischem Ritterepos Bliomberis) verwirklichen konnte. Am 6.12.1801 brach S., der sich durch seine in der Tradition Höltys, Ewald von Kleists u. Gleims stehenden Gedichte (o. O. [Lpz.] 1801. 4., vermehrte u. verbesserte Aufl. 1815) bereits einen Namen gemacht hatte, von Grimma aus zur großen Wanderung nach Sizilien auf, die ihn auf dem Rückweg auch nach Paris führte. Ein halbes Jahr nach der Rückkehr Ende Aug. 1802 hatte S. das Manuskript seines erfolgreichsten Werks, Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802 (Braunschw., Lpz. 1803. 2., verbesserte Aufl. 1805), fertiggestellt: In Form fiktiver Briefe werden die gesellschaftl. Missstände in Süditalien geschildert u. durch die unheilige Allianz von Feudalherren u.
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Klerus erklärt; im zweiten Teil entwickelt Tle., Bln.: Hempel o. J. [1879] (bislang vollstänsich diese Reisebeschreibung zu einer lei- digste Werkausg.). – Werke in zwei Bdn. Hg. Jörg denschaftl. Auseinandersetzung mit Napole- Drews. Ffm 1993. – Briefe. Hg. J. Drews u. Dirk on, dessen Verrat am republikan. Ethos der Sangmeister. Ffm 2002. Literatur: Oskar Planer u. Camillo Reißmann: Revolution beklagt wird. In der Folgezeit lebte S. wieder als Haus- J. G. S.2Gesch. seines Lebens u. seiner Schr.en. Lpz. 1898. 1904. – Inge Stephan: J. G. S. Ein polit. lehrer u. entfaltete gleichzeitig eine rege liSchriftsteller der dt. Spätaufklärung. Stgt. 1973. – terar. Tätigkeit (u. a. in Journalen). Zwischen Marlis Ingenmey: L’illuminismo pessimistico di J. April u. Sept. 1805 bereiste er Polen, Russ- G. S. Venedig 1978 (mit Bibliogr.). – Marcel Mouland, Finnland, Schweden u. Dänemark (Mein seler: J. G. S. L’homme et l’œuvre. Ungedr. Habil.Sommer 1805. o. O. [Lpz.] 1806). 1806/1807 Schr. Metz/Angers 1981. – Jörg Drews (Hg.): J. G. S. entstand die Aphorismensammlung Apokry- [...]. Eine Ausstellung [...] 2.11.-30.11.1989. Bielef. phen, in denen S. sich auf der politisch-sittl. 1989. – Ders. (Hg.): ›Wo man aufgehört hat zu Basis der antiken Idee von einer res publica handeln, fängt man gewöhnlich an zu schreiben‹. J. insbes. gegen das feudale Privilegienwesen G. S. in seiner Zeit. Vorträge des Bielefelder S.Colloquiums 1989. Bielef. 1991. Heide Hollmer wandte (1811 in Auszügen veröffentlicht, (Red.): J. G. S. Mchn. 1995 (Text + Kritik. H. 126). beinahe vollständig erst in der Werkausg. Urs Meyer: Polit. Rhetorik. Theorie, Gesch. u. 1879). 1808 projizierte er im patriotisch- Analyse der Redekunst am Beispiel des Spätaufklassizistischen Trauerspiel Miltiades (Lpz. klärers J. G. S. Paderb. 2001. – J. Drews (Hg.): S. 1808) seine Geschichtsskepsis auf den antiken ›Der Mann selbst‹ u. seine ›Hyperkritiker‹. Vorträrepublikan. Heros, der an der mangelnden ge der Colloquien zu J. G. S. in Leipzig u. Catania Vernunft der Massen zugrunde geht. Da S. 2002. Bielef. 2005. Eberhard Zänker: J. G. S. Eine seit Sommer 1808 wegen Gicht u. einer Biogr. Lpz. 2005. J. Drews (Hg.): In Polen, Paschweren Blasen- u. Nierenerkrankung kaum lermo u. St. Petersburg: Vorträge der Colloquien zu mehr Unterricht erteilen konnte, geriet er J. G. S. in Grimma, Riga u. Tartu 2003 u. 2005. Bielef. 2008. Ders. u. Gabi Pahnke (Hg.): ›Weimar zunehmend in Not. Er starb während eines ist ja unser Athen.‹ Mit S. in Weimar. Vorträge des von Freunden finanzierten Kuraufenthalts in Colloquiums zu J. G. S. in Oßmannstedt 2007. Teplitz. Die Ende 1809 begonnene Autobio- Bielef. 2010. Dirk Sangmeister: S. u. einige seiner grafie Mein Leben (ebd. 1813) bricht mit der Zeitgenossen. Beiträge zu Leben u. Werk eines eiErzählung von der Rückkehr aus Amerika ab. gensinnigen Spätaufklärers. Erfurt 2010. – Ders.: J. Als polit. Schriftsteller mit einem an der An- G. S. In: NDB. – Die seit 2000 von der J. G. S.tike geschulten Pflichtethos gehörte S. vor Gesellsch. ( Lpz.) in lockerer Folge hg. ›Obolen‹ allem im 19. Jh. mit zahlreichen Werkausga- enthalten jeweils ein Verzeichnis der Neuerscheiben zu den beliebtesten Autoren des demo- nungen zu S. Albert Meier kratisch-patriotischen, antiklerikalen Bürgertums. Seuren, Günter, * 18.6.1932 Wickrath/ Weitere Werke: Schreiben aus America nach Dtschld. Halifax 1782. In: Neue Litteratur u. Völkerkunde. Hg. Johann Wilhelm v. Archenholtz. Bd. 2, Dessau, Lpz. 1789, S. 362–381. – Ueber Prüfung u. Bestimmung junger Leute zum Militair. Warschau o. J. [1793]. – Rückerinnerungen v. S. u. Münchhausen. Ffm. o. J. [1797]. – Ueber das Leben u. den Karakter der Kaiserin v. Rußland Katharina II. Altona, recte Lpz. 1797. – Zwey Briefe über die neuesten Veränderungen in Rußland [...]. Zürich, recte Lpz. 1797. – Ueber Bewaffnung. Lpz. 1804. – Beschreibung des Vorgebirges der guten Hoffnung. Von Robert Percival. Ebd. 1805 (Übers. u. wichtige Vorrede v. S.). – Ein Nachl. moralisch-religiösen Inhalts (= Kurzes Pflicht- u. Sittenbuch für Landleute). Ebd. 1811. – Prosaische u. poet. Werke. 10
Niederrhein, † 10.12.2003 München. – Erzähler, Lyriker, Drehbuchautor. Nach dem Abitur 1953 in Rheydt war S., Sohn eines Maschinenschlossers, als Journalist bei der »Neuen Post« in Düsseldorf tätig u. wirkte seit 1955 als freier Schriftsteller u. Filmkritiker der »Deutschen Zeitung«. Seit 1967 lebte er in Zürich u. München. In den 1980er Jahren arbeitete S. intensiv an Drehbüchern für Dokumentarfilme u. reiste zu diesem Zweck u. a. nach Kanada, Mexiko u. Südamerika. Seine Werke wurden ins Polnische, Russische, Französische u. Schwedische übersetzt.
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Die Anfänge von S.s literar. Schaffen liegen zwar im Gedichtband Winterklavier für Hunde (Köln 1961. Neuausg. Mchn. 2000), den er selbst «kleine Schattengefechte» eines poetischen Ego gegen die Außenwelt nannte, seine Begabung fand jedoch ihre Erfüllung nicht im Lyrischen. Den Hauptteil seiner Leistungen stellen Prosawerke, Drehbücher, Hör- u. Fernsehspiele dar. Mit seiner Erzählung Ich bringe Dreck ins Haus (in: Ein Tag in der Stadt. Sechs Autoren variieren ein Thema. Hg. u. eingel. v. Dieter Wellershoff. Köln/Bln. 1962, S. 53–118) entspricht S. genügend den textästhetischen, in spröder, emotionsfreier Alltagsdarstellung verbürgten Ansprüchen des Neuen Realismus der Kölner Schule. Vom Diskurs u. Ausdruck her liest sich sein Erstlingsroman Das Gatter (Köln 1964. Neuausg. Hbg. 1999. 1966 u. d. T. Schonzeit für Füchse von Peter Schamoni verfilmt) als eine Vorwegnahme des Zeitgeistes des Jahres 1968. Erzählt wird hier die Geschichte eines jungen Mannes, dessen Ausbruch aus der bürgerl. Lebenswelt im Jagdgehege seines reichen Vaters endet u. dem Opportunismus, gegen den er sich auflehnte, erliegt. In Kannibalenfest (Köln 1968; 1969 u. d. T. Schräge Vögel von Gustav Ehmck verfilmt), einem Roman über den Umgang mit Intimität u. Konvention, wird die Flucht eines Antiquitätenhändlers in die Erotik dargestellt – eine Erfahrung, die ihn in einem Fischerdorf die Krise seiner ehemaligen Ehe nur zeitweise vergessen lässt. In den 1960er Jahren wandte sich S. auch der Kriegsvergangenheit zu. Im Roman Lebeck (Köln 1966; 1968 von Johannes Schaaf verfilmt) werden die Geständnisse eines Kriegsdienstverweigerers aus der Zeit 1942–1945 befragt u. dessen Absage an nationalsozialistische Dienste als Ausdruck einer simulierten, hinterhältigen Haltung u. nicht einer Widerstandsintention gedeutet; zu der gleichen Problematik kehrt S. in seiner späteren Erzählung Abschied von einem Mörder (Reinb. 1980) zurück, in der ein Sohn die nicht bewältigte Kriegsvergangenheit seines Vaters herausfordert u. damit den Generationskonflikt geltend macht. Der Roman Der Abdecker (Ffm. 1970), der in themat. Hinsicht S.s literar. Anfänge fortschreibt, gibt im Erlebnis der Ohnmacht u. trotziger Auflehnung gegen
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alltägl. Lebensvollzüge, im Argwohn gegen das Gewohnte u. Harmlose, seine Besonderheit zu erkennen. S.s weiteres Werk, der Gedichtband Der Jagdherr liegt im Sterben (Reinb. 1974), entspricht der Atmosphäre der Neuen Subjektivität vom Anfang der 1970er Jahre mit der ihr eigenen Bewusstheit der Erschöpfung gesellschaftsverändernder Impulse. In diesen Trend reiht sich auch der nach dem Prinzip bewährter Erzählmuster aufgebaute Roman Die fünfte Jahreszeit (Reinb. 1979) mühelos ein. Es ist die Lebensgeschichte eines sich ins Landleben zurückziehenden Drehbuchautors, ein Werk über täglich gelöschte Energien in ständiger Auseinandersetzung mit maroder Umwelt. Ein anderer Schaffensabschnitt sind die 1980er Jahre, in denen S. – unter Mitwirkung von Sylvio Heufelder – an Reportagen über die Goldschätze in Amerika u. Australien arbeitete (Schatzsucher. Auf der Jagd nach dem verlorenen Gold der Jahrhunderte. Bergisch Gladbach 1993; im selben Jahr auch in der WDRReihe gezeigt). Von seinen literar. Werken neueren Datums verdienen zwei Romane Beachtung: Die Krötenküsser (Ffm. 2000), eine Satire auf den Dogmatismus der Öko-Bewegung der 1980er Jahre, u. Das Floß der Medusa (Hbg. 2004) mit sensationell gedachter Fabel, in der ein Kunstfälscher beauftragt wird, Gericaults gleichnamiges Gemälde zu kopieren; dieses soll der Arztpraxis eines Nazis Glanz verleihen. S. erhielt den Förderpreis des Landes Nordrhein-Westfalen für Literatur (1963), die Drehbuchprämie u. den Silbernen Bären der Berliner Festspiele (1966 für Schonzeit für Füchse), den Georg-Mackensen-Literaturpreis (1967) u. den Filmpreis des Hauptverbandes deutscher Filmtheater (1987 für Encantadas). Weitere Werke: Rede an die Nation. Stierstadt/ Taunus 1969 (P.). Als Hörsp. WDR 1969. – Der Angriff. Erzählung. Reinb. 1982 (E.; verfilmt 1988, Regie: Theodor Kotulla). – Die Asche der Davidoff. Reinb. 1985 (R.). – Galapagos – das unheiml. Paradies. Dokumentarfilm 1986. – Der Schatz von Lima. Dokumentarfilm 1987. – Die Königin v. Floreana. Dokumentarfilm 1987. – Schätze dieser Erde. Abenteuer, Glück u. Gold. 3 Bde., Bergisch
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Gladbach 1989/90 (Sachbuch). – Hundekehle. Bln. 1992 (R.). – Die Galapagos-Affäre. Mchn. 2001 (R.). – Jenseits v. Wimbledon. Ffm. 2002 (R.). – Hör- und Fernsehspiele: König Lasar. WDR/HR 1966. – Goldfliegen. WDR/HR 1967. – Herrenabend. WDR 1969. – Ich töte. WDR 1970. – Am Morgen meines Todes. ZDF 1974. – Überlebenstraining. ZDF 1977. – Die Beute. ZDF 1988. – Das Duell. Vom Leben u. Sterben des Alexander Puschkin. ZDF 1990. Literatur: Karl Esselborn: Neuer Realismus. In: Ludwig Fischer (Hg.): Lit. in der BR Dtschld. bis 1967. Mchn./Wien 1986, S. 460–468. – Thomas Kraft: G. S. In: LGL. – Martin Grzimek u. Christiane Freudenstein: G. S. In: KLG. Zygmunt Mielczarek
Seuse, Heinrich, auch: Sús, der Susze, latinisiert: Henricus Suso, Pseudonym: fr. Amandus, * (vermutlich) 21.3.1295/97 Konstanz/Überlingen, † 25.1.1366 Ulm. – Dominikanertheologe u. Prediger; Verfasser deutscher u. lateinischer theologischer u. mystagogischer Schriften; als »Seliger« in der katholischen Kirche verehrt. S. gehörte wahrscheinlich dem Ministerialengeschlecht von Berg an, einer Familie des Konstanzer Patriziats. Aus Verehrung für seine tiefgläubige Mutter, die ihm eine intensive religiöse Erziehung zuteil werden ließ, obwohl sie unter der weltl. Gesinnung ihres Gatten sehr zu leiden hatte (vgl. Vita, Kap. 42,18–21), hat er sich nach deren Geschlecht Sus oder Süs, lat. Suso, genannt. Nach Auskunft seiner Vita, welche weitgehend die einzige Quelle für S.s Biografie darstellt, wurde er an einem Benedictustag geboren u. trat mit ca. 13 Jahren in das Dominikanerkloster in Konstanz ein. Eine Schenkung der Eltern ans Inselkloster in Konstanz anlässlich seiner vorzeitigen Aufnahme hat in ihm eine über zehnjährige Gewissensnot hervorgerufen, von der ihn erst Meister Eckhart befreite. S. durchlief die ordensübl. Ausbildung: Ein Jahr Noviziat mit anschließender Profess, ca. zwei bis drei Jahre Elementarunterricht in Latein u. Ordensspriritualität (Hl. Schrift, Offizium, Ordensregel u. Ordenssatzungen, aszet. Literatur u. Praxis); anschließend (ca. 1313/14–1318/19) etwa fünf Jahre philoso-
phische Studien, u. zwar zuerst zwei bis drei Jahre »philosophia rationalis« (aristotelische Logik), danach zwei bis drei Jahre Studium der »philosophia realis« (Physik, Geometrie, Astronomie, aristotel. Metaphysik); es schloss sich das Studium der Theologie (der Bibel u. der Sentenzen des Petrus Lombardus) an (ca. 1319–1322). Im Alter von 18 Jahren erlebte S. eine Bekehrung von einem normalen zu einem entschiedenen u. radikalen Ordensleben, die den Anfang seines geistl. Lebens markierte (vgl. Vita, Prolog, B 8,4 ff.). Von ca. 1319 bis ca. 1322 schloss sich ein »Studium particulare«, d.h. ein Theologiestudium, an, das ein Studium der Bibel u. der Sentenzen des Petrus Lombardus umfasste u. welches S. sehr wahrscheinlich in Straßburg absolvierte, wo er Meister Eckhart u. den Ordensbruder Johannes Futerer den Älteren kennengelernt haben dürfte, mit denen er eine tiefe, lebenslange Freundschaft schloss. Diese Annahme können wir auch aus dem Umstand schließen, dass S. im 6. Kapitel seiner Vita Johannes Futerer einen »heilig bruder« nennt u. zusammen mit Meister Eckhart in einer Vision nach deren Tod erscheinen lässt (vgl. Vita, Kap. 6, B 22,27–23,1). Eine weitere mehrjährige Unterbrechung seiner Konstanzer Zeit ist sein Weiterstudium am »Studium generale« der Dominikaner in Köln zwischen ca. 1323/24 u. 1327 (vgl. Vita, Kap. 42, B 143,10), wo sich sein Schülerverhältnis zu Meister Eckhart wesentlich vertieft haben dürfte. Um 1326/27 kehrte er für die nächsten 20 Jahre als Lektor in seinen Heimatkonvent nach Konstanz zurück. Wahrscheinlich wurde S. bereits um 1330 anlässlich des vom General- u. Provinzkapitel seines Ordens in Maastricht gegen ihn erhobenen Häresievorwurfs sein Lektorenamt entzogen (vgl. Kap. 23 der Vita). Von dem 1334 eingesetzten Ordensgeneral Hugo von Vaucemain wurde S. später allerdings wieder rehabilitiert u. sein Lektorat erneuert. In Konstanz hat S. nach dem Tod Eckharts (ca. 1328) u. nach der offiziellen kirchl. Verurteilung von 28 seiner Sätze in der Bulle In agro dominico vom 27.3.1329 durch Papst Johannes XXII. sein Büchlein der Wahrheit verfasst, mit dem er nicht notwendigerweise Eckharts Mystik ge-
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gen ihre kirchl. Verurteilung verteidigen, wohl aber in den christolog. Debatten seiner Zeit im Sinne Eckharts u. unter Benutzung Eckhart’scher u. anderer Quellen Stellung beziehen wollte. Darin hat S. die theoret. Seite seines myst. Wissens darlegt. Hierzu gehören: Die metaphys. Voraussetzungen der myst. Einung als der innerzeitl. Erfahrung einer unmittelbaren Anwesenheit des Mystikers bei Gott (die Einfachheit des göttl. Wesens, die trinitar. Struktur des göttl. Geistes, die exemplarursächl. Immanenz der Schöpfungsideen Gottes in der zweiten göttl. Person, die göttl. Hervorbringung der Geschöpfe kraft dieser Schöpfungsideen u. ihre zielursächl. Bestimmung zur erfüllten Rückkehr in diese); die Struktur des vom Mystiker zu beschreitenden Weges zu dieser Erfahrung u. ihre zweifache christolog. Vermittlung (die Angleichung an das ird. Menschsein Christi durch Gelassenheit, d.h. durch eine vollständige Aufhebung der Selbstbewegung des eigenen Willens; u. die erst dadurch ermöglichte gnadenhafte Teilhabe an der göttl. Natur Christi); der Inhalt der myst. Erfahrung als einer erfahrungshaften Vereinigung mit der eigenen innergöttl. Seinsidee bzw. Exemplarursache; und schließlich die Wirkung der myst. Erfahrung als die Herrschaft des göttl. Willens im Leben eines mystisch begnadeten Menschen. S. führt diese Ideen anhand mehrerer wörtl. Zitate aus den Werken Eckharts aus. Dabei insinuiert er, dass die Lehre Meister Eckharts durch Häretiker im Sinne einer »ungeordenten friheit« falsch gedeutet worden sei. Demgegenüber macht S. durch wiederholtes Zitieren aus Schriften Bernhards von Clairvaux u. des Thomas von Aquin indirekt geltend, dass Eckharts Lehre mit deren (rechtgläubigen) Überzeugungen vereinbar ist. In seiner Konstanzer Zeit hat S. auch seine Vita, das Büchlein der ewigen Weisheit u. das Horologium Sapientiae verfasst. In seiner autobiogr. Vita u. in seinem Büchlein der ewigen Weisheit (zwischen ca. 1328 u. 1330 entstanden) illustriert S. in exemplarischer Absicht die prakt. Seite seines myst. Wissens, auf die auch die Spiritualität
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des frühen christl. Mönchtums einen bemerkenswerten Einfluss ausgeübt hat. Diese Darstellung erfolgt aus heilspädagog., pastoralen Gründen in Gestalt einer lebensgeschichtl. Beschreibung seines eigenen exemplarischen Weges zu einer myst. Lebensform im ersten Teil (Kap. 1–32) u. seiner Hingabe für das Heil anderer am Beispiel seines Wirkens als Seelenführer der Dominikanerin Elsbeth Stagel einschließlich seiner spirituellen Leidenslehre im zweiten Teil der Vita (Kap. 33–45). Der dritte u. letzte Teil der Vita (Kap. 46–53) hat trotz seiner dialogischen Form nicht mehr erzählenden, sondern lehrmäßigen Charakter. Er enthält höchst subtile theoret. Unterweisungen über die wichtigsten Gegenstände des myst. Wissens: Die subjektiven (wahre Vollkommenheit als rechte Gelassenheit im Unterschied zur falschen Gelassenheit) u. objektiven Voraussetzungen (Einheit u. Dreifaltigkeit Gottes, die erfahrungshafte Einung des Mystikers mit dem dreifaltigen Gott u. der absoluten Einheit des göttl. Wesens) der genuin myst. Einung als der überrationalen Erfahrung einer unmittelbaren Anwesenheit des Menschen bei Gott. In diesen theoret. Ausführungen seines myst. Wissens macht sich S. die Mystagogie insbes. Bonaventuras in dessen Itinerarium mentis in Deum (Kap. 5–6) zunutze. Darüber hinaus führt S. im Büchlein der ewigen Weisheit eine betrachtende Aneignung der Leidenshaltung Jesu Christi als »compassio Christi« durch. Das Werk entstand aus ursprünglich selbstständigen 100 Betrachtungen der Stationen des Leidens Christi, die in den dritten Teil des Buchs vollständig übernommen wurden. Die ersten beiden Teile enthalten 20 Kapitel mit Betrachtungen über das Leiden Christi, seiner Freunde u. insbes. Marias, sowie vier Kapitel darüber, wie man geistlich sterben lernen, wie man innerlich leben, wie man Gott im Sakrament empfangen u. ihn loben soll. Das Büchlein ist das zentrale Dokument der entschieden christozentr. Leidensmystik u. geistl. Lebenslehre S.s, dessen praxisrelevante Spiritualität von 393 noch erhaltenen handschriftl. Textzeugen breit bezeugt wird. Dabei ist trotz der auffallenden Unterschiede zu dem ausgesprochen spekulativen Büchlein der
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Wahrheit die doktrinale Kontinuität in der radikalen Christozentrik des religiösen Heilsweges nicht zu übersehen. Eine erweiterte Neuredaktion dieses Büchleins stellt das Horologium Sapientiae (zwischen 1331 u. 1334 verfasst), S.s einzige lateinischsprachige Schrift, dar. Das Horologium ist als ein Dialog zwischen »Sapientia« u. »Discipulus« verfasst u. in zwei Bücher u. 24 Abschnitte (»Andachtsstunden«) gegliedert. Seine Erweiterungen gegenüber dem Büchlein der ewigen Weisheit betreffen u. a. das Klosteru. Studienwesen u. den kirchenpolit. Kampf zwischen Ludwig dem Bayern u. der Kurie (1,5). Dieses Werk ist dem Ordensgeneral Hugo von Vaucemain gewidmet u. entfaltete mit 233 erhaltenen Handschriften eine bedeutende Wirkungsgeschichte, insbes. in der »Devotio Moderna« sowie in der Imitatio Christi des Thomas von Kempen. Mit 40 Jahren erlebte S. gemäß seinem eigenen autobiogr. Bericht insbes. im 20. Kap. seiner Vita eine für sein geistl. Leben entscheidende Wende, die ihn mit der Einsicht in die Heilsnotwendigkeit allein des von Gott gegebenen Leidens von seinen zuvor über 20 Jahre lang exzessiv betriebenen körperl. Selbstzüchtigungen abbrachte. Eine weitere Unterbrechung der Konstanzer Zeit S.s ist das Exil seines Konvents zwischen ca. 1338 u. 1346 während des zwölfjährigen Interdikts im Machtkampf zwischen Kaiser Ludwig dem Bayern u. dem Papst. Dieses Exil verbrachte der papsttreue Konstanzer Konvent der Dominikaner wahrscheinlich entweder bei den Dominikanerinnen in Katharinental bei Dießenhofen (am Rhein) oder in dem vor den Toren von Konstanz gelegenen Schottenkloster. Es dürfte in dieser Exilszeit gewesen sein, dass S. zum Prior des Konstanzer Konvents gewählt wurde (vgl. Vita, Kap. 43, B 146,16–18). 1347/48 wurde S. von der Ordensleitung nach Ulm höchst wahrscheinlich strafversetzt, u. zwar wegen einer üblen Nachrede einer von ihm unterstützten Frau, die ihn der Vaterschaft für ihr unehel. Kind bezichtigte (vgl. Vita, Kap. 38). Die Feststellung seiner Unschuld u. seine Rehabilitierung durch den Ordensgeneral u. den Provinzial der Ordensprovinz Teutonia erfolgte zu einem späteren
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Zeitpunkt, als S. in Ulm bereits seinen neuen Wirkungskreis gefunden hatte u. von dort aus auch zahlreiche Pastorations- u. Missionsreisen unternahm. In Ulm stellte S. ca. 1362/63 sein deutschsprachiges literar. Vermächtnis, das sog. Exemplar, zusammen, das außer den drei genannten Schriften auch das von ihm so genannte Briefbüchlein umfasst, das eine Auswahl von elf Briefen aus einer größeren Sammlung aus 27 Briefen darstellt. Im Zentrum dieser Briefkomposition steht S.s Aktualisierung der traditionellen mystagog. Lehre von der anfangenden, der geistl. Reinigung des Menschen dienenden Phase des myst. Weges, über dessen fortgeschrittene Phase, die zur gnadenhaften Erleuchtung des Menschen führt, bis zu dessen Vollendung durch seine Gleichgestaltung mit Christus im letzten Abschnitt des myst. Weges. Bei beiden Briefbüchern handelt es sich um Pastoralbriefe im Rahmen der »cura monialium«, die S. an seine geistl. Tochter Elsbeth Stagel u. an andere seiner geistlichen Kinder geschrieben hatte. S. starb am 25.1.1366 in Ulm u. wurde dort in der Predigerkirche beigesetzt. Am 16.4.1831 wurde er von Papst Gregor XVI. selig gesprochen. Ausgaben: Kritische Ausgaben: Dt. Schr.en. Hg. Karl Bihlmeyer. Stgt. 1907. Neudr. Ffm. 1961. – Horologium sapientiae. Hg. Pius Künzle. Freiburg/ Schweiz 1977. – Das Buch der Wahrheit. Daz buechli der warheit. Hg. Loris Sturlese u. Rüdiger Blumrich. Hbg. 1993. – Neuhochdeutsche Übersetzungen: Die myst. Schr.en. Hg. Georg Hofmann. Düsseld. 1966. 21986. – Stundenbuch der Weisheit. Das Horologium Sapientiae übers. v. Sandra Fenten. Würzb. 2007. Literatur: Bibliografie: Angelus Walz: Bibliographiae susonianae conatus. In: Angelicum 46 (1969), S. 430–491. – Weitere Titel: Richard Schwarz: Das Christusbild des dt. Mystikers H. S. Greifsw. 1934. – Conrad Gröber: Der Mystiker H. S. Freib. i. Br. 1941. – Joseph Bühlmann: Christuslehre u. Christusmystik des H. S. Luzern 1942. – JulesAugustin Bizet: H. S. et le déclin de la scolastique. Paris 1946. – Ders.: S. et le Minnesang. Ebd. 1947. – Maurice de Gandillac: De Jean Tauler à H. S. In: EG 5 (1950), S. 241–256. – A. Walz: De beati H. S. O.P. vita scriptis doctrina influxu et cultu comprehensio. Graz 1963. – Julius Schwietering: Zur Autorschaft v. S.s Vita. In: Altdt. u. altniederländ. Mystik.
775 Hg. Kurt Ruh. Darmst. 1964, S. 309–323. – Ders.: Zur Grundlegung einer Gesch. der franziskan. Mystik. Ebd., S. 240–274. – Ephrem Filthaut (Hg.): H. S. Studien zum 600. Todestag 1366–1966. Köln 1966. – Georg Misch: Gesch. der Autobiogr. Bd. 4,1, Ffm. 1967. – Bruno Boesch: S.s religiöse Sprache. In: FS Friedrich Maurer. Düsseld. 1968, S. 223–245. – Anne-Marie Holenstein-Hasler: Studien zur Vita H. S.s. Freiburg/Schweiz 1968. – Georg Hofmann: S.s Werke in deutschsprachigen Hss. des späten MA. In: Fuldaer Geschichtsbl. 45 (1969), S. 113–206. – Alois M. Haas: Nim din selbes war. Freiburg/Schweiz 1971, S. 154–208. – Jean Baruzi: Le mysticisme de H. S. In: Revue d’histoire de la spiritualité 51 (1975), S. 209–266. – Arno Borst: Mönche am Bodensee 610–1525. Sigmaringen 1978, S. 246–263. – Paul Michel: Formosa deformitas. Bonn 1976, S. 177–243. – Heinrich Stirnimann: Mystik u. Metaphorik. Zu S.s Dialog. In: Das ›einig Ein‹. Hg. A. M. Haas u. H. Stirnimann. Freiburg/Schweiz 1980, S. 209–280. – Paul Michel: H. S. als Diener des göttl. Wortes. In: ebd., S. 281–367. – Uta Joeressen: Die Terminologie der Innerlichkeit in den dt. Werken H. S.s. Ffm. 1983. – Ruedi Imbach: Die dt. Dominikanerschule: Drei Modelle einer theologia mystica. In: Grundfragen christl. Mystik. Hg. Margot Schmidt. Stgt. 1987, S. 157–172. – Winfried Trusen: Der Prozeß gegen Meister Eckhart. Paderb. 1988, S. 134–163. – Loris Sturlese: Die Kölner Eckhartisten. In: Die Kölner Univ. im MA. Bln. 1989, S. 192–211. – A. M. Haas u. K. Ruh: H. S. In: VL u VL (Nachträge u. Korrekturen). – Markus Enders: Das myst. Wissen bei H. S. Paderb. 1993. – Rüdiger Blumrich u. Philipp Kaiser (Hg.): H. S.s ›Philosophia spiritualis‹. Wiesb. 1994. – A. M. Haas: Kunst rechter Gelassenheit. Themen u. Schwerpunkte v. H. S.s Mystik. Bern u. a. 1995. – Peter Ulrich: ›Imitatio et configuratio‹. Die philosophia spiritualis H. S.s als Theologie der Nachfolge des Christus passus. Regensb. 1995. – Jakobus Kaffanke (Hg.): H. S. – Diener der Ewigen Weisheit. Freib. i. Br. 1998. – Alain de Libera: Maître Eckhart et la mystique rhénane. Paris 1999. – Brian Farrelly: Eckhart, Tauler y Seuze. Vida y doctrina del Maestro y de sus dos mejores discípulos. Madrid 2000. – Theresia Heimerl: Frauenmystik – Männermystik? Gemeinsamkeiten u. Unterschiede in der Darstellung v. Gottes- u. Menschenbild bei Meister Eckhart, H. S., Marguerite Porete u. Mechthild v. Magdeburg. Münster/Hbg./London 2002. – Jörg Seelhorst: Autoreferentialität u. Transformation. Zur Funktion myst. Sprechens bei Mechthild v. Magdeburg, Meister Eckhart u. H. S. Tüb./Basel 2003. – Christine Büchner: Die Transformation des Einheitsdenkens Meister Eckharts bei H. S. u. Johannes Tauler. Stgt. 2007. – Sandra Fenten: Mystik
Seusse u. Körperlichkeit. Eine komplementär-vergleichende Lektüre v. H. S.s geistl. Schr.en. Würzb. 2007. – Peter Birkhofer: Ars moriendi – Kunst der Gelassenheit. Mittelalterl. Mystik v. H. S. u. Johannes Charlier Gerson als Anregung für einen neuen Umgang mit dem Sterben. Bln./Münster 2008. – H.-S.-Jb. Bde. 1–3. Hg. M. Enders. Münster 2008–2010. Markus Enders
Seusse, Seuss, Seiss, Johannes, latinisiert: Seussius, * 8.6.1566 (a. St.) Artern, † 30.5. 1631 Dresden. – Gelegenheitsdichter; Gönnerfreund von Wissenschaftlern, Dichtern, Musikern u. Künstlern. S., aus der Grafschaft Mansfeld stammend, wurde 1580 pro forma an der Universität Jena immatrikuliert; sein Studium nahm er im Winter 1584/85 in Leipzig auf. Wohl wegen seiner Beteiligung an Verhandlungen für die Familie von Kollonitz (in Prag?) durfte S. deren Wappen führen. Durch die »Steirische Religions-Reformation« (1600) gezwungen, Österreich zu verlassen, gelangte S. nach Sachsen, wo er als kurfürstlich sächs. Rat, u. a. im Konsistorium, tätig war. Als Glaubensflüchtling u. Ämterträger bei Hofe setzte sich S. für seine Freunde u. später auch für aufstrebende dichterische Talente ein. Zu seinem Freundeskreis zählten Friedrich Taubmann, Caspar Cunrad u. Caspar Dornau sowie Johannes Kepler u. Heinrich Schütz. Junge Talente wie Buchner, Opitz, Fleming u. Tscherning bewunderten u. bedichteten S. Wahrscheinlich stiftete S. die Zusammenarbeit von Schütz u. Opitz für die erste dt. Oper Dafne, die 1627 in Torgau bei einer Fürstenhochzeit aufgeführt wurde. S.s eigenes literar. Schaffen umfasst humanistische u. volkssprachl. Gelegenheitsdichtung, zumeist auf Anlässe des Dresdener Hofs. Ab 1601 liegen Gedichte S.s im Druck vor. Vorherrschend ist die manieristische u. renaissancehaft geprägte nlat. Dichtung. Liedhaft oder madrigalesk, steht S.s dt. Dichtung im Übergang vor der Opitz’schen Reform. S., eine der vergessenen Randgestalten der Literaturgeschichte, verkörperte in der Verbindung von öffentl. Amt u. Dichtungsübung das in Opitz’ Buch von der deutschen Poeterei
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(1624) geforderte u. gepriesene Ideal. Seine bis heute nirgends gesammelten u. kaum kommentierten Gedichte u. Briefe bilden bedeutsame kulturgeschichtl. Zeugnisse bes. zur Sozial- u. Wirkungsgeschichte von Literatur im frühen 17. Jh. Weitere Werke: Größte Slg. v. Drucken S.s in der Sächs. Landesbibl. Dresden. – Briefe: 7 Briefe an Buchner in: August Buchner: Epistolarum partes tres [...]. Hg. Johann Jakob Stübel. Ffm./Lpz. 1720, S. 459–470 (Internet-Ed. in: CAMENA, Abt. CERA). Ausgaben: Internet-Ed. vieler Werke in: VD 17. Literatur: Bibliografien: Möller (s. u.). – VD 17. – Weitere Titel: Serenis. elect. sax. secretarii. Iohannis Seussii, nob. et amplissimi viri, manes. Wittenb. o. J. [1632] (Epicedienslg., Beiträger u. a. August Buchner, Caspar Cunrad, Martin Opitz, Daniel Sennert). – Heinrich Klenz: J. S. In: ADB. – JörgUlrich Fechner: Ein unbekanntes weltl. Madrigal v. Heinrich Schütz. In: Schütz-Jb. 6 (1984), S. 23–51 (Wiedergabe v. zwei Porträtstichen. Abdr. je eines lat. u. dt. Gelegenheitsgedichts). – DBA. – Andreas Schmölling: Staatsmann, Dichter u. Mäzen. Lebensskizze des barockzeitl. Kunstförderers J. S. aus Artern. In: Aratora 14 (2004), S. 90–98. – Eberhard Möller: Der Dresdner Hofpoet J. S. Eine Ergänzung zu Jörg-Ulrich Fechners Beitr. im Schütz-Jb. 6 (1984). In: Schütz-Jb. 30 (2008), S. 191–201 (mit Verz. der S.-Bestände der Ratsschulbibl. Zwickau). Jörg-Ulrich Fechner / Red.
Sexau, Richard, * 11.1.1882 Karlsruhe, † 23.8.1962 München. – Erzähler, Dramatiker, Essayist. S. stammte aus einer Karlsruher Großkaufmannsfamilie u. studierte Philosophie, Staatswissenschaften, Literatur-, Kunst- u. Musikgeschichte in Berlin, Heidelberg, München u. Bern, wo er 1905 mit der Dissertation Der Tod im deutschen Drama des 16. und 17. Jahrhunderts (Bern 1906. Neudr. Hildesh. 1976) promoviert wurde. Seit 1920 lebte er als freier Schriftsteller auf dem Landsitz Ascholding bei München. S. propagierte ein Christentum der Tat, das Liebe zu Kunst u. Natur einschließt. In seinem Roman Venus und Maria (Bd. 1, Hbg. 1932. Bd. 2 u. d. T. Bernd Carps Höllenfahrt und Erlösung. Ebd. 1933) geht der Held durch die Hölle der Ich-Sucht u. des Materialismus, bis er durch die Liebe einer ihm ebenbürtigen
Frau erlöst wird. Seinen großen Erfolg hatte S. mit Kaiser und Kanzler (ebd. 1936), einem im Geschmack der Zeit geschriebenen histor. Roman über Bismarck. Weitere Werke: Märztrieb. Bln. 1911 (R.). – Das Vermächtnis. Mchn. 1912. – Ewiger Durst. Bln. 1913. – Blut u. Eisen. Mchn. 1914. – Sieg oder Tod. Ebd. 1915. – Wiedergeburt. Ebd. 1928. (N.). – Gemeistertes Leben. Stgt. 1957 (N.n). Christian Schwarz
Seybold, David Christoph, * 26.5.1747 Brackenheim/Württemberg, † 10. 2.1804 Tübingen. – Altphilologe, Pädagoge, Belletrist. S., Sohn eines Stadtschreibers, erhielt seine Ausbildung zum Theologen an württembergischen Klosterschulen (1761–1763 Blaubeuren, 1763–1765 Bebenhausen, 1765–1769 Tübingen; 1767 Magister artium). Er verließ vorzeitig das Tübinger Stift, um auf Einladung von Chr. A. Klotz, der seine Magisterarbeit (Super Odyssea Homerica. Tüb. 1767. Erw. Halle 1769) wertschätzte, in Halle seinen philolog. Interessen nachzugehen. Auf Anraten von Freunden bemühte er sich 1770 um eine Professur für Klassische Philologie in Jena, die er 1771 – allerdings ohne Gehalt – auch erhielt. Mit seiner Bewerbung um das Rektorat des Gymnasiums in Speyer 1774 begann S. eine über 20-jährige, in zahlreichen Reden u. Schulprogrammen (z.T. in: Kleinere Schriften vermischten Inhalts. Tl. 1, Lemgo 1792) reflektierte reformpädagog. Lehrtätigkeit an verschiedenen Gymnasien. Sie führte ihn 1776 nach Grünstadt/Pfalz u. 1779 nach Buchsweiler/Elsass. In Folge der Französischen Revolution veränderte sich S.s Lage. Seit dem Schuljahr 1792/93 bezog er kein Gehalt u. 1793 musste der Unterricht aus Mangel an Schülern eingestellt werden. Am 10.10.1793 aufgrund einer Denunziation aus persönl. Rachsucht als vermeintl. Franzosenfeind verhaftet, wurde S. etwa vier Wochen in Straßburg festgehalten. Mit offizieller Erlaubnis der Pariser Regierung kehrte er im Mai 1795 nach Württemberg zurück, da Aussicht auf eine neu einzurichtende Professur für alte Sprachen u. Literatur in Tübingen bestand. S. erhielt sie 1796, allerdings mit
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eingeschränkten Befugnissen (kein Promotions-, kein Stimmrecht in der Philosophischen Fakultät. Siehe Wippern, S. 47 ff.). S. verdankte diesen Ruf nicht zuletzt seinen intensiven Bemühungen um die Verbreitung lat. u. griech. Literatur. Er übersetzte (Liebesgeschichte des Kleitophon und der Leucippe a. d. Gr. des Achilleus Tatios. Lemgo 1772. Polyp’s Geschichte. 4 Bde., ebd. 1779–83), edierte – von Wieland hochgeschätzt (s. Brief an S. vom 15.12.1773) – Lukian (Opuscula selecta. Gotha 1773. Erw. Lemgo 21785) sowie 1799 die Selbstbiographie Joh. Valentin Andreä’s [...] (Winterthur; Teilneudr. in: Joh. Valentin Andreä – ein schwäbischer Pfarrer im Dreißigjährigen Krieg. Heidenheim 1970; lat. Urfassung, hg. von F. H. Reinwald. Bln. 1849) u. gab mehrere für Schüler u. Lehrer gedachte Chrestomathien heraus (Deutsche Chrestomatie für Jünglinge zur Bildung des Herzens und des Geschmacks. Lpz. 1777. 21786) u. verfasste eine Einleitung in die griechische und römische Mythologie der alten Schriftsteller (Lpz. 1779. Verb. 2 1783. 31797). S.s Interesse galt aber auch »modernen« Sachgebieten wie Geschichte u. Geografie, denen er schon in seinem Unterricht mehr Raum gegeben hatte. Mit den Bänden über Großbritannien, Irland, Frankreich u. die Niederlande setzte er das von Johann Heinrich Friedrich Ulrich begonnene Werk Geographie, Geschichte und Statistik der vornehmsten europäischen Staaten (Bde. 3–5, Lemgo 1785–91) fort u. stellte histor. Almanache für »Jünglinge« zusammen (Ephemerischer Almanach der neueren Zeiten für Liebhaber der Geschichte. Basel 1782/83. Fortgesetzt als Historisches Handbuch auf alle Tage im Jahr. 5 Tle., Reutlingen 1788–92). S. nutzte die Popularität von Titeln u. Gattungstypen für seine bildungspolit. Anliegen. Bei den auf Nicolais Roman anspielenden Predigten des Magister Sebaldus Nothanker (Lpz. 1774–76. Raubdrucke Ffm. 1774. Wien 1775) handelt es sich um eine Sammlung von »Reden« unterschiedl. Thematik (z.B. Aberglaube, Gesundheit, sozialer Status der Bauern) u. Ratschlägen zur vernunftbestimmten Lebensführung zum Zwecke der »Erleuchtung des Landmannes«, bei Hartmann eine Wirtembergische Klostergeschichte (ebd. 1778. Raubdruck [?] ebd. Tüb. o. J. Neudr. hg. von
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Ulrich Stolte. Konstanz 2005. Im Anhang 13 Gedichte von Johann Jakob Thill) um eine romanhaft angelegte Autobiografie als Ermutigung für Theologiestudenten, die gegen alle Widerstände eines kleingeistigen Klerus ihren eigenen Weg in den Klosterschulen Württembergs gehen u. sich zu »wahren Theologen« ausbilden wollen. S. hat diesen Text mit Begebenheiten aus dem Leben zweier früh verstorbener Dichter, Johann Jakob Thill u. David Gottlob Hartmann, durchsetzt, befreundeter Kommilitonen einst im Tübinger Stift. Auch seine einem moralisierenden Pragmatismus verpflichteten Romane haben pädagog. Charakter. Während Barbara Pfisterin (Basel 1782) die Folgen weibl. Eitelkeit schildert, entwirft Amalia Welserin (Heidelb. o. J., unvollendet. Beide Romane zuerst in »Magazin für Frauenzimmer«, zu deren Beiträgern Sophie von La Roche gehörte) ein beispielhaftes Bild häusl. Glücks auf dem Lande. Auch mit der Pflanzeridylle von South Carolina zeichnet S. in Reizenstein. Die Geschichte eines deutschen Offiziers (Lpz. 1778/79. Neudr. [Wien] 2003. Hg. Wynfried Kriegleder) einen gesellschaftl. Idealzustand. Im ersten Band dieses Romans wird moralisch Kritik an der von Macht- u. Luxusbedürfnissen beherrschten Welt Europas geübt. Reizenstein u. seinen Freunden gelingt es nicht, aufgrund ihrer Tugend ein gutes Leben zu führen. Ein wahres Arkadien scheint in Amerika erreichbar. Dessen Weiterbestehen garantiert die – von S. als vorbildlich u. zukunftsweisend erachtete – amerikan. Verfassung (1776). Nach dem (vorläufigen) Ende des Unabhängigkeitskrieges, an dem Reizenstein teilnimmt (Bd. 2), ziehen er u. seine Freunde aufs Land u. errichten dort eine ständelose, von Europa abgeschottete Gesellschaft (Handelsverbot), ohne Privateigentum, Priesterkaste u. Armee, in der Religionsfreiheit (Juden eingeschlossen) herrscht u. das Problem der Negersklaven gelöst ist. In diesen Gegensatz Europa/ Amerika ist ein zweiter eingeschrieben: Landleben (Barbingtonhouse) vs. Großstadt (Philadelphia). Die ökonomischen Voraussetzungen dieses Arkadien – das Geld eines vermögenden Adligen: ein Handlungsmuster des pragmat. Romans mit standhaft-tugend-
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haftem Helden, dessen ›glückliches‹ Ende Wynfried Kriegleder: D. C. S. ›Reizenstein‹. Der gewährleistet sein soll, – werden jedoch erste deutschsprachige Roman über die amerikan. ebenso wenig reflektiert wie die politisch- Revolution. In: Monatshefte 88 (1996), S. 310–327. institutionellen Ursachen der korrumpierten – Jürgen Wippern: ›... so wird die Zeit mich rechtfertigen‹. Humanistischer Gelehrter, Reformeurop. Zivilisation. In zwei Punkten unterpädagoge u. Romanschriftsteller der Aufklärung: scheidet sich diese »tugendterroristische« D. C. S. aus Brackenheim (1747–1804). In: Ztschr. (Kriegleder), patriarchalisch regierte Agrar- des Zabergäuvereins 3–4 (1997), S. 33–64. idylle von der in Schnabels Wunderlichen Fata: Ernst Weber sie ist wohl nicht als Staatsutopie zu verstehen u. S. situiert sie kenntnisreich in der Seybold, Johann Georg, * 16.8.1617 jüngsten Zeitgeschichte. Wie realitätsnah S. Schwäbisch Hall, † 9.4.1686 Schwäbisch schrieb, zeigt sich darin, dass er weitgehend Hall. – Philologe, Schulmann, Übersetzer. das literar. Wahrnehmungsmuster von Amerika der nächsten sechzig Jahre vorwegnahm Der offenbar mittellose S. nahm am 28.4.1637 in Straßburg das Studium auf, das (s. Charles Sealsfield). Weitere Werke: Schreiben über den Homer. er am 6.10.1638 in Altdorf fortsetzte (gratisEisenach 1772 (Verriß vermutlich v. Goethe in Immatrikulation). Am 1.7.1642 wird er als Frankfurter gelehrte Anzeigen, Nr. 73, 11.9.1773, »egenus« (arm) in die Königsberger Matrikel S. 577–581). – Wanderschaft eines Journalisten. eingetragen. Seit 1644/45 unterrichtete S. an Buxtehude [Jena] 1772. – Joseph II., eine Skizze. der städt. Lateinschule in Schwäbisch-Hall, Lpz. [Kehlheim, Straßb.] 1786 (frz. Mechelen 1786). die 1655 zum Gymnasium illustre erhoben – Lucian’s Neueste Reisen o. wahrhafte Geschich- wurde. S.s Schriften, darunter die erste lat. ten. Alethopel [Tüb.] 1791. – Was der Mensch ist? Grammatik in dt. Sprache (Teutscher und neuer Und seyn kann? Eine akadem. Rede. Tüb. 1796. – Wegweiser, zur lateinischen Sprach [...]. Ulm Wie selbst der Geist das Studium der Alten dringend empfehle. Eine Rede. Tüb. 1799. – Vaterlän- 1650) u. ein dt.-lat. Gesprächsbüchlein (Selecdisches Historienbüchlein. Tüb. 1801. – Herausge- tiora quaedam colloquia latino-germanica [...]. ber: Chrestomatia poetica graeco-latina. Lemgo Nürnb. 1666) sowie ein lat.-dt. Wörterbuch 1775. – Anthologia graeco-latina. Lpz. 1777. – (Tirocinium nomenclatoris latino-germanici plane Magazin für Frauenzimmer. Kehl/Straßb. 1782–87 novum [...]. Nürnb. 1673), sollten den Schü(Autobiogr. 1782, 2. St., S. 102–124; 3. St., lern den Lateinerwerb erleichtern u. wurden S. 180–184. Die meisten Beiträge dieses Jg. v. S.). – z.T. noch im 18. Jh. aufgelegt. In diesen ZuNeues Magazin für Frauenzimmer. Straßb. sammenhang sind auch seine dt. Überset1788–91. – Selbstbiographien berühmter Männer. zung (Schwäbisch Hall 1661. 1663 u. ö., zuWinterthur 1796–99. – Übersetzer: Alceste ein letzt 1676, nach der von Johann Spangenberg Trauerspiel des Euripides [...] nebst einer Abhandlung. Lpz. 1774. – Das Gastmahl Xenophons. besorgten lat. Ausgabe. Wittenb. 1534 u. ö.) Lemgo 1774. – Die Werke Philostrates. 2 Bde., des Grammaticale bellum nominis et verbi regum (Cremona 1511) von Andrea Guarna Lemgo 1776/77. Literatur: Johann Jakob Gradmann: Das ge- (1470–ca. 1517) u. die beiden Sprichwortlehrte Schwaben. Selbstverlag 1802, S. 620–625 sammlungen einzuordnen, die S. über das 18. (Werkverz. bis 1801, z.T. mit Buchpreisen u. Verz. Jh. hinaus einen gewissen Bekanntheitsgrad der Ztschr.en, zu denen S. beigetragen hat). – sicherten. Die Selectiora adagia latino-germanica Friedrich Wilhelm Strieder (Hg.): Grundlage zu (Nürnb. 1665; u. d. T. Fasciculus adagiorum. einer Hessischen Gelehrten u. Schriftsteller Gesch. Ulm 1654) bieten alphabetisch geordnete lat. Bd. 14, Kassel 1804, S. 273–319 (S. 273–303: Au- Sprüche u. Sentenzen mit den entsprechentobiogr. v. S. bis 1788; S. 303–319: umfassendes, den dt. Spruchversen u. Sprichwörtern; ein z.T. komm. Werkverz. bis 1799 mit Angabe v. Register der dt. Sprichwörter beschließt die Rez.en). – Hugo Lachmannski: Die dt. Frauenzeitschriften des 18. Jh. Diss. Bln. 1900, S. 58–61. – Sammlung. Die stark erweiterte Fassung Edith Krull: Das Wirken der Frau im frühen dt. dieses Werks, das mehrfach aufgelegte ViriZeitschriftenwesen. Diss. Bln. 1939. – Ernst Weber darium selectissimis paroemiarum et sententiarum u. Christine Mithal: Dt. Originalromane zwischen latino-germanicarum flosculis [...] adornatum [...] 1680 u. 1780. Eine Bibliogr. [...]. Bln. 1983. – Lust-Garten, von auserlesenen Sprüchwörtern
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(Nürnb. 1677) ist über die Schule hinaus auch für ein allg. Publikum bestimmt. Weitere Werke: Erneuerter Donat, oder: Erste Underweisung der Knaben im Decliniren u. Coniugiren [...]. Schwäbisch Hall/Ulm 1658 u. ö. – Officina scholastica, novo et singulari cum docentium tum discentium usu aperta. Das ist: Neue SchulOfficin [...]. Nürnb. 1667 u. ö. – Differentiae latinarum vocum in tres classes distributae [...]. Ebd. 1668. – Compendium Grammaticae. Darinnen die fürnemste [...] Praecepta [...] in teutscher Sprach gegeben [...]. Ebd. 1669 u. ö. – Officina virtutum [...] Tugend-Schul [...]. 2 Tle., ebd. 1670–72. – Silvula major, uberrimam copiam phrasium universalium, et latinae linguae propriarum, suppeditans [...]. 2., erw. Ausg. Ebd. 1674 (zuerst 1660). – Antibarbarus latinus [...]. Ebd. 1676. – Praeceptor methodicus [...]. Ebd. 1677. Ausgaben: Viridarium [...] Lust-Garten [...]. Nürnb. 1677. Internet-Ed. in: SUB Gött. – Teutschlat. Worter-Buchlein [...]. Ebd. 1695. Nachdr. Whitefish 2009. Literatur: Bibliografien: Frank-Rutger Hausmann: Bibliogr. der dt. Übersetzungen aus dem Ital. v. den Anfängen bis 1730. Bd. 1, Tüb. 1992, Nr. 0529. – Kosch, Bd. 17, Sp. 536 f. – William Jervis Jones: German lexicography in the european context. A descriptive bibliography [...]. Bln. u. a. 2000, Nr. 447, 1050–1052. – VD 17. – Weitere Titel: Zedler 37, Sp. 753 (mit Bibliogr.). – Christian Kolb: Zur Gesch. des alten Haller Gymnasiums. Schwäbisch Hall 1889. – Ludwig Fränkel: J. G. S. In: ADB. – Andrea Guarnas Bellum Grammaticale u. seine Nachahmungen. Hg. Johannes Bolte. Bln. 1908 (Monumenta Germaniae Paedagogica, 43). – Friedrich Seiler: Dt. Sprichwörterkunde. Mchn. 1922, S. 137 f. – Wolfgang Mieder: Dt. Redensarten, Sprichwörter u. Zitate. Studien zu ihrer Herkunft, Überlieferung u. Verwendung. Wien 1995. – Ders.: ›Wein, Weib u. Gesang‹. Zum angebl. Luther-Spruch in Kunst, Musik, Lit., Medien u. Karikatur. Wien 2004. Dietmar Peil / Reimund B. Sdzuj
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nossenschaft führte er den Namen »Der Mühsame«. Neben einer Reihe von Leichenpredigten (Stolberg) stellte S. als ›Kayserl. Gekröhnter Poet‹ den Poetischen Glücks-Topff (Jena/Eisleben 1671) zusammen, eine Sammlung »wohl und übelgerathener, lustiger und trauriger, gestriger und vorgestriger Carmina« (Vorrede); auch Rätsel u. Epigramme sind vertreten. Den Gedichten fehlen nach Meinung Neumeisters ›Erhabenheit und Würde‹ (»sublimitate careant et dignitate«), die Erfindung sei ›fast überall ärmlich, die Anordnung ohne Ordnung, die Darstellung einfältig‹ (»inventionem tantum non ubique sterilem esse, ordinem sine ordine, elocutionem simplicem«, S. 102–244). Die hier zuerst gedruckte Verssatire Wunderliches Jungfer-Leben wurde mehrmals neu aufgelegt (Wohlausgeführte JungferAnatomie). Zwei der geistl. Gedichte S.s, die in der Sammlung Poetisches Geistliches Sion (Eisleben 1673) enthalten sind, finden sich bei Fischer/Tümpel. Ausgaben: Emblema Gamicum. Zur sonderbaren Hochzeit-Schau ein Rephun in der Rosen-Au [...]. Magdeb. 1674. Internet-Ed. in: VD 17. – Fischer/Tümpel 4, S. 453 f. – Ausw. in: Gedichte des Barock. Hg. Ulrich Maché u. Volker Meid. Stgt. 2005, S. 242 f. Literatur: Johann Gottlob Wilhelm Dunkel: Hist.-crit. Nachrichten v. verstorbenen Gelehrten. Bd. 3,3, Cöthen/Dessau 1759, S. 582. – Bibliotheca Germanorum Erotica & Curiosa. Hg. Hugo Hayn u. Alfred N. Gotendorf. 9 Bde., Mchn. 1913–29. Nachdr. Hanau 1968, Bd. 3, S. 484 f.; Bd. 7, S. 295 f. – Heiduk/Neumeister, S. 101–103, 243–245, 475. – Flood, Poets Laureate, Bd. 4, S. 1945 f. Jutta Sandstede / Red.
Seyler, Sophie Friederike, geb. Sparmann, verh. Hensel, * 1738 Dresden, † 22.11. 1789 Schleswig. – Schauspielerin, TheaSeyffahrt, Seyf(f)art, Seyffardt, Karl, Car(o)l, terschriftstellerin. * 17.1.1630 Halle/S., † 16.7.1681 (1683?) Mit zwölf Jahren kam S. nach der Trennung Gröbzig/Anhalt. – Pfarrer, Lyriker. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Halle studierte S. seit dem 29.7.1650 Philosophie an der Universität in Wittenberg, wo er den Magistergrad erwarb. 1656 wurde er Prediger in Peissen u. Lependorf/Saalkreis, 1662 Pfarrer in Gröbzig. In der Deutschgesinnten Ge-
ihrer Eltern zu einem Onkel. Auf der Flucht vor einer erzwungenen Heirat fand sie zur Bühne. Bereits 1754 spielte sie in der Kirsch’schen Truppe, später bei Schuch. 1755 heiratete sie den Schauspieler Johann Gottlieb Hensel, von dem sie sich 1759 wieder trennte. Nach Aufenthalten in Wien, Frank-
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furt/M. u. Hildburghausen kam S. 1765 nach Hamburg zu Konrad Ackermann. Dessen Truppe übernahm 1767 der frühere Kaufmann u. Theaterenthusiast Abel Seyler, der das Deutsche Nationaltheater mit Löwen als artistischem Direktor, Ekhof als erstem Darsteller u. Lessing als Dramaturgen gründete. Letzterer lobte »Madame Hensel« im vierten Stück der Hamburgischen Dramaturgie als »ohnstreitig eine von den besten Aktricen [...], welche das deutsche Theater jemals gehabt hat«. Als die Hamburger Unternehmung schon 1767/68 scheiterte, begann für die Seyler’sche Truppe eine Zeit rastlosen Wanderns, nur von längeren Engagements in Weimar (1771–1774) u. Mannheim (1778–1781) unterbrochen. 1772 heiratete S. den Prinzipal u. erntete fortan als »Seylerin« großen Beifall. Seit 1785 trat sie noch gelegentlich als Mitgl. der Schröder’schen Gesellschaft in Hamburg auf. Als Theaterschriftstellerin verfasste S. das empfindsame Familienstück Die Familie auf dem Lande (Braunschw. 1770. Umgearbeitet u. d. T. Die Entführung. Wien 1772) u. das romant. Singspiel nach Wielands Oberon: Hüon und Amande (Flensburg 1789), das auch in einer umgearbeiteten Fassung (u. d. T. Oberon, König der Elfen) 1792 in Hamburg erschien. Literatur: Joseph Kürschner: S. F. Hensel. In: ADB. – Elisabeth Friedrichs: Die dt. Schriftstellerinnen des 18. u. 19. Jh. Stgt. 1981. – Andrea Heinz: S. F. S. In: NDB. Julei M. Habisreutinger / Red.
Seyppel, Joachim, * 3.11.1919 Berlin. – Erzähler u. Essayist. S., Sohn eines kaufmänn. Angestellten, studierte Germanistik, Theaterwissenschaften, Kunstgeschichte u. Philosophie in Berlin, Lausanne u. Rostock (Dr. phil. 1943). Nach dem Krieg lebte er zunächst als Schriftsteller, Journalist u. Dozent in Berlin. 1949–1960 arbeitete er als Hochschullehrer in den USA. Seine Enttäuschungen über die amerikan. Gesellschaft verarbeitet S. in columbus bluejeans oder Das Reich der falschen Bilder (Mchn. 1965, Bln./Weimar 1968), einem Abenteuerroman über die erfolglose Suche eines jungen Helden nach dem american way of life. Das Fortwirken der NS-Ideologie im Nachkriegs-
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deutschland ist Thema der Satire Als der Führer den Krieg gewann (Bln./Weimar 1965) u. bildet den Hintergrund für die gesellschaftskrit. Groteske Torso Conny der Große. 21 romantische Tatsachenberichte vom Schelm, der keiner war (Wiesb. u. Bln./Weimar 1969). In der Hoffnung auf die von Honecker angekündigte Liberalisierung der Kulturpolitik siedelte S. 1973 nach Ost-Berlin über. Sein Engagement für Biermann, Havemann u. Stefan Heym ließ ihn in der DDR zur unerwünschten Person werden. Das Reisebuch Hinten weit in der Türkei (Mchn./Wiesb. 1983), das er zusammen mit seiner Frau Tatjana Rilsky schrieb, wurde zwar vom Verlag Der Morgen 1979 in 10.000 Exemplaren gedruckt, aber nicht ausgeliefert. Am 7.6.1979 wurde S. zusammen mit acht weiteren Autoren aus dem Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossen (23.11.1989 annulliert), Ende Juli erhielt er ein Ausreisevisum, 1982 wurde er aus der DDR ausgebürgert. Seine Desillusionierung über die Kulturpolitik u. die Schikanen der Kulturbürokratie der DDR stellt S. in der viel beachteten Reportage Ich bin ein kaputter Typ (Wiesb./Mchn. 1982) dar. Auf der Suche nach der Geschichte, die für S. untrennbar verbunden ist mit der Geschichte Deutschlands, entstand Ahnengalerie. [...] (Mchn. 1984). Diese ironisch gebrochene, dokumentarisch-fiktionale Genealogie der eigenen Familie durch 2000 Jahre traf auf große, wenn auch nicht ungeteilt positive Resonanz. 1998 legte S. mit dem weitgehend im Stil einer Reportage verfassten Band Schlesischer Bahnhof (Mchn.) seine gesammelten Erinnerungen vom eigenen bewegten Leben in Deutschland vor. Weitere Werke: Wo wir sterblich sind. Bln. 1947 (D.). – Flugsand der Tage. Bln. 1947 (R.). – Abendlandfahrt. [...]. Mchn. 1963. Bln./Weimar 1977 (R.). – Nun o Unsterblichkeit. Wanderungen zu den Friedhöfen Berlins. Bln. 1964. – Hellas. Geburt einer Tyrannis. Impressionen. Analysen, Dokumente. Bln. 1968. – Ein Yankee in der Mark. Wanderungen nach Fontane. Bln./Weimar 1969, Wiesb. 1970. – Fußball-Nachrichten vom Heroengeschlecht an der Gasanstalt. Bln./Weimar 1971. U. d. T. Wer kennt noch Heiner Stuhlfauth. Mchn. 1973 (E.). – Umwege nach Haus. Nachtbücher über Tage 1943–73. Bln./Weimar 1974. – Abschied v. Europa. Die Gesch. v. Heinrich u. Nelly Mann [...].
781 Ebd. 1975 (R.). – Gesang zweier Taschenkalender. Zwischenstücke. Ebd. 1976 (E.). – Die Unperson oder Schwitzbad u. Tod Majakowskis. Report u. Theaterstück. Die Schriftsteller im real existierenden Sozialismus nach Biermann. Ffm. 1979. – Die Mauer oder Das Café am Hackeschen Markt. Wiesb./Mchn. 1981 (R.). – Eurydike oder Die Grenzenlosigkeit des Balkan. Mchn. 1989 (R.). – Die Streusandbüchse. Bln. 1990 (R.). – Die Wohnmaschine oder Wo aller Mohn blüht. Ebd. 1991 (R.). – Trottoir & Asphalt. Ebd. 1994 (Erinnerungen).
Seyppel Literatur: Anneliese Große: Das Weltbild eines Humanisten. Zum Werk des Schrifstellers J. S. In: WB 14 (1968), H. 3, S. 606–625. – Rüdiger Bernhardt: ›Grenzüberschreitung‹. Zur Entwicklung v. Gegenstand u. Methode bei J. S. In: WB 24 (1978), H. 1, S. 94–130. – Andrea Jäger: Schriftsteller aus der DDR. Ausbürgerungen u. Übersiedlungen v. 1961 bis 1989. Bd. 1: Autorenlexikon. Ffm. 1995, S. 584–595. – Thomas Kraft: J. S. In: LGL. – Michael Hofmann u. Dirk Häuschen: J. S. In: Metzler Lexikon DDR-Lit. Hg. Michael Opitz u. M. Hofmann. Stgt. 2009, S. 314 f. Andrea Jäger
in der deutschen Rechtschreibung
Auf dem neuesten Stand der amtlichen Rechtschreibregelung 2006 Mehr als 700 Infokästen erläutern die wichtigsten Änderungen
125 000 Stichwörter, darunter zahlreiche neue Wörter sowie häufig verwendete Eigennamen
Mit Empfehlungskästen bei Varianten für eine sinnentsprechende Schreibung Die deutsche Rechtschreibung 1216 Seiten, zweifarbig
Erschienen im Bertelsmann Lexikon Institut
für die deutsche Sprache
Das große Standardwerk der deutschen Gegenwartssprache
Mit 260 000 Stichwörtern, Anwendungsbeispielen und Redewendungen
Mit umfassenden Angaben zu Bedeutung und Herkunft der Wörter
Deutsches Wörterbuch 1728 Seiten, zweifarbig
Erschienen im Bertelsmann Lexikon Institut