Jahrbuch für Europäische Wissenschaftskultur 7 3515106847, 9783515106849

Der neueste Band des Jahrbuchs für Europäische Wissenschaftskultur setzt den Themenschwerpunkt „Sprachen der Wissenschaf

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German Pages 433 [438] Year 2014

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis / Table of Contents / Sommaire
Wissenschaftssprache zwischen sprachlicher Differenzierung und wissenschaftlicher Nationalisierung
„Saturn – als ein rundes Küglein in einer Schüssel“
Zwei Sprachen – zwei Kulturen?
Post-Mechanical Explanation in the Natural and Moral Sciences
Bemerkung und Revision
Le vocabulaire de l’organisation chez Auguste Comte
Das Begriffsfeld ‚Wissenschaft(en)‘ in den großen europäischen Sprachen
Monstrous Medicine
Les Annales de mathématiques pures et appliquées de Gergonne et l’émergence des journaux de mathématiques dans l’Europe du XIXe siècle : un bicentenaire
Les collections d’autographes chez les botanistes – un exemple: les collections de Gustave Thuret, Edouard Bornet et de Casimir Roumeguère
Nuclear Energy Programs in Austria
Autorenverzeichnis / List of Contributors / Liste des auteurs
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Jahrbuch für Europäische Wissenschaftskultur 7
 3515106847, 9783515106849

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Jahrbuch für Europäische Wissenschaftskultur

Herausgegeben von Olaf Breidbach und Stefano Poggi Wissenschaftsgeschichte

JbWk 7 (2012)

Franz Steiner Verlag

Yearbook for European Culture of Science

Jahrbuch für Europäische Wissenschaftskultur

__ Yearbook for European Culture of Science 7 (2012)

Jahrbuch für Europäische Wissenschaftskultur ___ Yearbook for European Culture of Science 7 (2012) Gastherausgeber / Guest Editor Daniel Ulbrich Fokus / Focus Sprachen der Wissenschaften 1600–1850 Teil II: Sprachliche Differenzierung und wissenschaftliche Nationalisierung Scientific Languages 1600–1850 Part II: Linguistic Compartmentalization and Scientific Nationalization

Franz Steiner Verlag

jahrbuch für europäische wissenschaftskultur yearbook for european culture of science Herausgegeben von Olaf Breidbach und Stefano Poggi Wissenschaftlicher Beirat: Damien Ehrhardt, Andreas Fickers, Marian Füssel, Michael Hagner, Antonello La Vergata, Riccardo Martinelli, Carsten Reinhardt, Nicolas Robin, Marco Segala, Michal Šimùnek, Fiorenza Toccafondi, Gregor Vogt-Spira, Gerhard Wiesenfeldt

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2014 Druck: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISSN 1860-7837 ISBN 978-3-515-10684-9

Inhaltsverzeichnis / Table of Contents / Sommaire

Fokus / Focus Sprachen der Wissenschaften 1600–1850. Scientific Languages 1600–1850. Teil II: Sprachliche Differenzierung und wissenschaftliche Nationalisierung Part II: Linguistic Compartmentalization and Scientific Nationalization Guest Editor: Daniel Ulbrich Daniel Ulbrich Wissenschaftssprache zwischen sprachlicher Differenzierung und wissenschaftlicher Nationalisierung. Ein einleitender Essay.............................9 Sebastian Kühn „Saturn – als ein rundes Küglein in einer Schüssel.“ Spuren mündlicher Kommunikation in naturforschenden Aufzeichnungen um 1700..........................................................83 Annette Meyer Zwei Sprachen – zwei Kulturen? Englische und deutsche Begriffe von Wissenschaft im 18. Jahrhundert..............107 Tamás Demeter Post-Mechanical Explanation in the Natural and Moral Sciences. The Language of Nature and Human Nature in David Hume and William Cullen.........................................................139 Daniel Ulbrich Bemerkung und Revision. Zur Steuerungsfunktion naturwissenschaftlicher Textsorten am Beispiel von Experimentalbericht und litterärhistorischer Erzählung um 1800...................159 Andrea Cavazzini Le vocabulaire de l’organisation chez Auguste Comte........................................259 Daniel Ulbrich Das Begriffsfeld Wissenschaft(en) in den großen europäischen Sprachen. Ein enzyklopädisches Stichwort....................................275

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Inhalt

Artikel / Papers / Articles Katherine Angell Monstrous Medicine. A Study of British Teratology in the Nineteenth Century....................................323 Christian Gérini Les Annales de mathématiques pures et appliquées de Gergonne et l’émergence des journaux de mathématiques dans l’Europe du XIXe siècle : un bicentenaire......................345 Denis Lamy Les collections d’autographes chez les botanistes – un exemple : les collections de Gustave Thuret, Edouard Bornet et de Casimir Roumeguère..............................377 Christian Forstner Nuclear Energy Programs in Austria....................................................................413 Autorenverzeichnis...............................................................................................433

Fokus / Focus

Sprachen der Wissenschaften 1600–1850 Scientific Languages 1600–1850 Teil II / Part II Sprachliche Differenzierung und wissenschaftliche Nationalisierung Linguistic Compartmentalization and Scientific Nationalization Guest Editor: Daniel Ulbrich

Wissenschaftssprache zwischen sprachlicher Differenzierung und wissenschaftlicher Nationalisierung Ein einleitender Essay Daniel Ulbrich

Immensum enim pelagus veritatis insulam circumluit; et supersunt adhuc novae ventorum idolorum iniuriae et disiectiones. Francis Bacon: Temporis partus masculus (1603) At idola fori omnium molestissima sunt; quae ex foedere verborum et nominum se insinuarunt in intellectum. Francis Bacon: Novum Organum (1620) And as there are certain hollow blasts of wind and secret swellings of seas before a tempest, so are there in states. Francis Bacon: Of Seditions and Troubles (1625)

I. Wissen ist Macht – dieser Wahlspruch, der für gewöhnlich Francis Bacon zugeschrieben wird, ist ins moderne Alltagswissen eingegangen. Natürlich hat der Lordkanzler ihn so nie gesagt, und ob das, was er stattdessen gesagt hat, das bedeutet, was man gemeinhin darunter versteht, ist ungewiss.1 Allein, dies macht auch nichts. Denn die Vision vom Staatswesen auf der Insel Bensalem, die Bacon um 1624 in seinem Fragment gebliebenen utopischen Roman New Atlantis entworfen hat, liest sich ganz so, als ob er tatsächlich eine literarische Illustration der These von einem wechselseitigen Implikationsverhältnis zwischen politischer und epistemischer Praxis, die in dem Aphorismus behauptet und im Gefolge Michel Foucaults schließlich auch über das bloße Alltagswissen hinaus zu einer gewissen wissenschaftlichen Dignität und Macht gelangt ist, habe geben wollen. Und in der 1

Als mögliche Quelle wird zumeist auf eine Stelle in Bacons Meditationes sacrae von 1597 verwiesen, wo es in einem Einschub in Parenthese zur Reflexion über die Macht Gottes heißt: „nam et ipsa scientia potestas est.“ Vgl. Francis Bacon (1859a), Meditationes sacrae, in: Francis Bacon (1857–1874), The Works of Francis Bacon, hg. v. James Spedding, Robert Leslie Ellis & Douglas Denon Heath, London: Longman, Bd. 7, S. 227–254, hier: S. 241. Nicht der Formulierung, aber dem Sinn nach stehen, insofern sie sich klar auf die Sphäre des menschlichen Wissens und Machens beziehen, dem heutigen Bedeutungsspektrum des Diktums hingegen zwei Passagen aus dem Novum Organum näher, die jeweils prominent zu Beginn des ersten und des zweiten Buchs platziert werden und einander hinsichtlich des jeweiligen Primats der beiden Terme gleichsam spiegelverkehrt gegenüberstehen. Lautet die Devise im ersten Buch nämlich „[s]cientia et potentia humana in idem coincidunt, quia ignoratio causae Jahrbuch für Europäische Wissenschaftskultur, Bd. 7 (2012), 9–82

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Daniel Ulbrich

Tat kann man angesichts der zentralen Stellung, die das Haus Salomons als der „Erkenntnis der Ursachen und Bewegungen sowie der verborgenen Kräfte in der Natur und der Erweiterung der menschlichen Herrschaft bis an die Grenzen des überhaupt Möglichen“ gewidmete Forschungsanstalt nicht nur vom Umfang her in Bacons Erzählung, sondern vor allem als systematischer Bezugspunkt aller tatsächlich oder der Möglichkeit nach in der erzählten Welt der fiktionalen Reisebeschreibung stattfindenden Handlungen einnimmt, den Eindruck gewinnen, dass auf der geheimnisvollen Insel im Stillen Ozean der Staat nur um der Wissenschaft und die Wissenschaft nur um des Staates willen da ist – auch wenn damit noch nichts darüber gesagt ist, um was für einen Staat und um was für eine Wissenschaft es sich dabei eigentlich genau handelt.2 Wie immer aber auch Bacons Staat beschaffen ist und wie immer sich Bacons Wissenschaft gestaltet hat, ihr Funktionieren für sich genommen und ihr Zusammenspiel scheint nicht zuletzt vorauszusetzen, dass die Macht der Sprache gebrochen wird, das Wissen der Sprache unberücksichtigt bleibt und die Sprachen sowohl aus dem Reich des Wissens verbannt als auch aus dem Reich der Macht herausgehalten werden. Denn obwohl Fragen der sprachlichen Verständigung einige Male mit scheinbarer Beiläufigkeit Erwähnung finden, kommen sie in New Atlantis niemals als grundlegendes Problem zur Sprache – und Bacons Erzählung bleibt insofern in dieser Hinsicht vor allem beredt in dem, was unausgesprochen bleibt. Ungesagt bleibt etwa, welcher Sprache oder welcher Sprachen die Insulaner sich untereinander bedienen – was umso bemerkenswerter ist, als andererseits explizit darauf hingewiesen wird, dass die Bevölkerung Bensalems keineswegs ethnisch homogen ist, sondern sich aus einer Reihe unterschiedlicher Volksgruppen zusammensetzt.3 Und erst recht schweigt sich der Text darüber aus, welche Rolle der Sprache in den und für die Wissenschaften zukommt – ungeachtet der Tatsache, dass Bacon sowohl bei der Beschreibung der Forschungsstätten als auch bei der 2

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destituit effectum“, so gibt das zweite Buch hingegen zu bedenken: „Licet viae ad potentiam ad scientiam humanam conjunctissimae sint et fere eaedem, tamen propter perniciosam et inveteratam consuetudinem versandi in abstractis, tutius omnino est ordiri et excitare scientias ab iis fundamentis quae in ordine sunt ad partem activam, atque ut illa ipsa partem contemplativam signet et determinet.“ Vgl. Francis Bacon (1857b), Novum Organum, in: Bacon (1857–1874), a.a.O., Bd. 1, S. 71–365, hier: I, 3, S. 157 und II, 4, S. 229 bzw. (in deutscher Übersetzung) Francis Bacon (1982), Das neue Organon (Novum Organon), hg. v. Manfred Buhr, 2. Aufl., Berlin: Akademie-Verlag, S. 41 und S. 141. Eine eindeutig politische Bedeutung scheint der Topos hingegen erst im Zuge der Vermittlung durch Bacons zeitweiligen Sekretär Thomas Hobbes angenommen zu haben – und zwar trotz der Tatsache, dass auch dieser mit ihm eigentlich gar keine unmittelbar politischen Überlegungen verbunden zu haben scheint. Francis Bacon (1960), Neu-Atlantis, in: Thomas Morus, Tommaso Campanella & Francis Bacon (1960), Der utopische Staat. Utopia – Sonnenstaat – Neu-Atlantis, hg. und übers. v. Klaus J. Heinisch, Reinbek: Rowohlt, S. 171–215, hier: S. 205. Vgl. Francis Bacon (1859b), New Atlantis, in: Bacon (1857–1874), a.a.O., Bd. 3, S. 119–166, hier: S. 156: „The End of our Foundation is the knowledge of Causes, and secret motions of things; and the enlarging of the bounds of Human Empire, to the effecting of all things possible.“ Vgl. Bacon (1859b), a.a.O., S. 138 und S. 148; Bacon (1960), a.a.O., S. 186 und S. 189.

Einleitung – Sprachliche Differenzierung und wissenschaftliche Nationalisierung

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Charakterisierung der unterschiedlichen wissenschaftlichen Aufgabenfelder eine große sprachliche Kreativität an den Tag legt. Dafür ist der Text umso beredter, wo es darum geht, sprachliche Probleme als stets schon gelöst zu präsentieren. Das betrifft zunächst einmal die Verständigung nach außen hin: Denn obwohl sich nach eigenem Bekunden fremde Schiffe nur äußerst selten an die Gestade des Eilands verirren, sind seine Bewohner weit davon entfernt, die Verständigung im Falle eines Erstkontaktes auch nur ansatzweise dem Zufall zu überlassen, sondern verfügen für diesen Fall über ein vorgefertigtes polyglottes Schriftstück, das potentielle Besucher simultan in hebräischer, griechischer, lateinischer und spanischer Sprache – eine Reihe, deren implizite translatio-imperii-Logik der Idee heiliger Ursprachlichkeit, dem Topos der prisca vetustas, der Einsicht in die Tatsache que siempre la lengua fue compañera del imperio und dem pragmatischen Argument größter Verbreitung gleichermaßen Raum gibt und Genüge tut – über die Bedingungen ihrer Aufnahme und den Umfang und die Grenzen atlantischer Gastfreiheit in Kenntnis setzt.4 Vor allem aber betrifft es die Verständigung nach innen hin. Denn auch wenn der Leser nichts über die Minutien alltäglicher Verständigung zwischen den Angehörigen der unterschiedlichen auf der Insel ansässigen Ethnien erfährt, so kann er sich dennoch sicher sein, dass etwaige Probleme sprachlicher Kommunikation auf Neu-Atlantis zumindest im Großen, nämlich im Sinne eines fundamentalen Stetsschon-Verständigtseins, ebenfalls bereits im Vorhinein gelöst worden sein werden – und zwar durch ein Wunder, in dessen Zentrum wiederum eine Art Polyglotte steht, die ihren Adressaten vorschreibt, was sie tun sollen und was sie hoffen dürfen, und deren absolute Gleichsinnigkeit im Gehalt über alle Sprachgrenzen hinweg nicht bloß von einer Staatsmacht vorausgesetzt wird, sondern kraft der Intervention einer höheren Macht ein für alle Mal gewährleistet bleibt. Bei der Darstellung des beglaubigenden Wunders verbindet sich dabei der Bezug auf die Ereignisse auf dem Sinai – die Verkündigung des Gesetzes und der Schluss des Bundes mit Jahwe, durch den Israel sich zugleich als das eine Volk konstituiert – auf bemerkenswerte Weise mit dem Rekurs auf das Pfingstgeschehen – das die babylonische Sprachverwirrung heilende apostolische Reden in Zungen zum Zwecke einer allumfassenden Verbreitung des Evangeliums – und der Anspielung auf die Geschichte von der Arche Noah, die sich wie keine zweite unter den biblischen Erzählungen als soteriologisches Fundament einer Inselgesellschaft zu eignen scheint. Wie man nämlich aus einem Exkurs zur Geschichte der Insel erfährt, der den Gestrandeten von ihrem Cicerone erzählt wird, war einst über den Wassern ein von einem leuchtenden Kreuz gekrönter Lichtkegel erschienen, der die Bewohner der Insel in ihren Booten auf den Ozean hinausgezogen und sie allesamt wie in einem Amphitheater kreisförmig um sich versammelt, zugleich aber auch in gebührenden Abstand gebannt hatte, bis es schließlich einem aus ihrer Mitte – einem Weisen aus dem Hause Salomons – gestattet wurde, sich aus dem Banne zu lösen und sich der wundersamen Erscheinung zu nähern. Diese allerdings verschwand, als er sie erreicht hatte, und an ihrer Stelle fand sich ein schwimmendes Kästchen aus Zedernholz (a small ark or chest of cedar) ein, das vom Wasser unversehrt die Heilige Schrift und einen 4

Vgl. Bacon (1859b), a.a.O., S. 130; Bacon (1960), a.a.O., S. 176f.

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Brief des Heiligen Bartholomäus in sich barg. Doch damit nicht genug der Wunder: Stand doch den Neu-Atlantiden, sobald sie in den Schriften zu lesen begannen, das Gelesene instantan in ihrer Muttersprache vor Augen, so dass sie sich der mühseligen und konfliktträchtigen Aufgabe überhoben sahen, sie eigenhändig aus dem Original in ihr jeweils eigenes Idiom zu übersetzen, und folglich – wie Bacon seinen Cicerone nicht ohne Wortwitz resümieren lässt – ganz wie einst die alte Welt durch eine Arche (ark) vor den Wassern der Sintflut das neue Atlantis vor der Ungläubigkeit durch einen Kasten oder eine Lade (ark) gerettet wurde.5 Von daher spielt es für die Einheit des Staates als politischem Körper, wie er sich auf Bensalem etabliert hat, im Grunde keine wirkliche Rolle, welche Sprache auf seinem Boden gesprochen wird und in welchem Idiom seine einzelnen Glieder jeweils miteinander kommunizieren – ist eine solche Einheit doch durch diese gleichsam virtuelle Polyglotte, die in allen Zungen in vollständiger Gleichsinnigkeit zu lesen gibt, was zu tun und was zu hoffen ist, und in der zugleich die grundsätzliche Aufhebbarkeit sprachlicher Pluralität in der einen und allgültigen Sprache – die am Ende nichts anderes als die Sprache des Christentums sein wird – letztlich stets schon hergestellt. Zugleich darf man vermuten, dass die Aufhebung sprachlicher Diversität in oder genauer noch: durch die eine universelle Sprache auch das Modell für den Erfolg der neu-atlantischen Wissenschaften und damit für einen Bereich darstellt, über den Bacon nicht nur das eine oder andere linguistische Detail ungesagt sein lässt, sondern über dessen sprachliche Verfassung er sich regelrecht ausschweigt. Nicht von ungefähr ist es ein Vertreter aus dem Hause Salomons, der – noch bevor Bensalem im eigentlichen Sinne ein Wissenschaftsstaat und infolgedessen Wissenschaft auf Bensalem Staatswissenschaft wird – in dem fraglichen Gründungsmythos den Moses gibt. Und nicht von ungefähr ist dieser Mythos ungeachtet seiner biblischen Quellen wiederum durchwoben von zahlreichen Anspielungen auf wissenschaftliche Errungenschaften und Erkenntnisse – angefangen bei dem übernatürlichen Lichtspektakel, mit dem die Erzählung anhebt, und von dem später zu erfahren ist, dass man es inzwischen wenigstens näherungsweise zu reproduzieren gelernt hat, über die Sintflut-Allusionen, die in einer Reihe mit den als ernstzunehmende erdgeschichtliche Erkenntnisse zu postdiluvianischen Überschwemmungsereignissen präsentierten Exkursen stehen, bis hin zum Patronat des Heiligen Bartholomäus, der als Schutzherr zahlreicher Handwerke wohl nicht zuletzt auch auf eine neue Gewichtung im Verhältnis zwischen artes liberales und artes mechanicae hindeutet.6 Insofern wäre es nur konsequent, wenn sich der Traum von einer ursprünglichen oder letzthinnigen Einsprachigkeit, die eigentlich fast schon einer Art Nichtsprachlichkeit nahekommt, nicht nur auf das, was man hoffen darf und was man tun soll, sondern auch auf das, was man wissen kann, erstrecken würde, und zugunsten der Einheit der Wissenschaft als Naturwissenschaft, wie sie auf Bensalem betrieben wird, jeglicher Sprache das wissenschaftliche Bürgerrecht auf der 5 6

Vgl. Bacon (1859b), a.a.O., S. 136–139; Bacon (1960), a.a.O., S. 184ff. Zu den Lichtspektakeln siehe Bacon (1859b), a.a.O., S. 161f. und S. 164; Bacon (1960), a.a.O., S. 210 und S. 212f.; zu den Überschwemmungsereignissen vgl. Bacon (1859b), a.a.O., S. 142ff.; Bacon (1960), a.a.O., S. 190f.

Einleitung – Sprachliche Differenzierung und wissenschaftliche Nationalisierung

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Insel versagt bliebe – es sei denn, es handelte sich um die Sprache der Natur höchstselbst. Und abseits von New Atlantis hat Bacon denn auch kaum jemals einen Zweifel daran gelassen, was von der Sprache in wissenschaftlicher Hinsicht zu halten ist: Unter allen Götzen, die der wahren Erkenntnis im Wege stehen, ist sie der lästigste und der, der sich am schwersten abschütteln lässt, weil die nach der beschränkten Auffassungsgabe des Pöbels abgeteilten und den Dingen fälschlich auferlegten Wörter sich gleichsam heimlich in den Verstand einschleichen, ihn knebeln und besetzt halten und sich auch dann beharrlich widersetzen und alles übertönen, wenn ein scharfsinnigerer Verstand oder eine genauere Beobachtung sie zurechtzurücken versucht. Kurz: Sie tut dem Verstand Gewalt an und setzt alles in Verwirrung und Aufruhr.7 Oder mit anderen Worten: Sprache ist Mist. II. Im Rückblick gesehen erweist sich Bacons New Atlantis damit als Utopie als ebenso prophetisch wie sie sich als Prophetie als utopisch erweist. Prophetisch ist die Erzählung, wo sie dem Zusammenspiel von Wissen und Macht in Form der Interaktion von Wissenschaft und Staat eine große Zukunft voraussagt. Denn auch, wenn man keineswegs ohne Weiteres davon ausgehen kann, dass Bacons Staatsverständnis bereits der modernen, vom Begriff des Nationalstaats dominierten Konzeption der Staatlichkeit und seine Wissenschaftsauffassung bereits der modernen, von der Realität disziplinärer Ausdifferenzierung geprägten Vorstellung von Wissenschaftlichkeit entspricht, so scheinen doch zentrale Elemente der tatsächlichen Entwicklung der folgenden Jahrhunderte in seiner utopischen Erzählung vorgezeichnet zu sein. Denn ohne Zweifel wird der Staat in den kommenden zweihundertfünfzig Jahren zu einem privilegierten Ort der Wissenschaften und die Wissenschaften zu einem zentralen Pfeiler des Staates werden. Utopisch ist die Erzählung hingegen, wo sie diese Kopplung von Wissen und Macht mit der Erwartung verbindet, die Sprache ließe sich aus der Sphäre der Macht und der Sphäre des Wissens und der Dyade Macht/Wissen heraushalten – oder geradezu darauf spekuliert, dass es da, wo Staat und Wissenschaft so eng mit7

Bacon (1857b), a.a.O., I, 43, S. 164; Francis Bacon (1982), a.a.O., S. 52: „Sunt etiam Idola tanquam ex contractu et societate humani generis ad invicem, quae Idola Fori, propter hominum commercium et consortium, appellamus. Homines enim per sermones sociantur; at verba ex captu vulgi imponuntur. Itaque mala et inepta verborum impositio miris modis intellectum obsidet. Neque definitiones aut explicationes, quibus homines docti se munire et vindicare in nonnullis consueverunt, rem ullo modo restituunt. Sed verba plane vim faciunt intellectui, et omnia turbant; et homines ad inanes et innumeras controversias et commenta deducunt.“ Vgl. auch Bacon (1857b), a.a.O., I, 59, S. 170f.; Francis Bacon (1982), a.a.O., S. S. 61f.: „At Idola Fori omnium molestissima sunt; quae ex foedere verborum et nominum se insinuarunt in intellectum. Credunt enim homines rationem suam verbis imperare; sed fit etiam ut verba vim suam super intellectum retorqueant et reflectant; quod philosophiam et scientiae reddidit sophisticas et inactivas. Verba autem plerunque ex captu vulgi induntur, atque per lineas vulgari intellectui maxime conspicuas res secant. Quum autem intellectus acutior aut observatio diligentior eas lineas transferre velit, ut illae sint magis secundum naturam, verba obstrepunt.“

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einander assoziiert sind, der Sprache überhaupt nicht mehr bedarf. Denn ungeachtet der Tatsache, dass Bacons Wissenschaftsutopie weder den modernen Begriff der ausgebauten Nationalsprache (geschweige denn die Realität einer Pluralität unterschiedlicher, aber prinzipiell gleichrangiger Nationalsprachen) zu kennen, noch willens zu sein scheint, der modernen Konzeption der ausdifferenzierten Fachsprache (geschweige denn der Realität einer Mannigfaltigkeit unterschiedlicher und allenfalls bedingt aufeinander reduzibler Fachsprachen) auch nur ansatzweise Raum zu geben, und schon gar nicht in der Lage zu sein scheint, sich eine Welt vorzustellen, in der jede dieser Nationalsprachen über ihr eigenes fachsprachliches Repertoire verfügt und jede Fachsprache sich in jeweils unterschiedliche nationalsprachliche Ausprägungen teilt, werden sich die Nationalsprachen ebenso wie die Fachsprachen in den kommenden zweieinhalb Jahrhunderten multiplizieren, wobei die Nationalsprachen zu einem zentralen Identitätsanker der sich entwickelnden Staatlichkeit und die Fachsprachen zu einem zentralen Moment in der Ausdifferenzierung der sich herausbildenden Wissenschaftsdisziplinen avancieren, und die Ausbildung der (sich damit gleichsam nationalisierenden) Fachsprachen gerade nicht mehr im Medium der einen einheitlichen Wissenschaftssprache Latein, sondern in der Tat vor allem im Medium und als Beitrag zum Ausbau der (sich damit gleichsam verwissenschaftlichenden) Nationalsprachen erfolgen wird. Mit anderen Worten: Ob nun in politischer, in epistemologischer oder aber in linguistischer Hinsicht stellt sich die Gesamtsituation um 1600 gänzlich anders als um 1850 dar. Und in der Tat: Einen modernen Nationalstaat im Sinne einer wie immer prekären Einheit oder eines regelhaften Beziehungsgefüges zwischen einem mehr oder minder stabilen und auf Dauer gestellten Regierungs- und Verwaltungsapparats und einer Bevölkerung, deren Glieder sich mehr oder weniger klar und in erster Linie als diesem Staat zugehörig fühlen und sich wechselseitig als derselben Gruppe zugehörig anerkennen, wobei dieses Beziehungsfüge als Ganzes sich wiederum einem in relativ dauerhaft gezogenen Grenzen eingeschlossenen Territorium zuordnet, gibt es um 1600 noch weder in der Realität, noch im Konzept – oder allenfalls in ersten Ansätzen.8 8

Für einen allgemeinen Überblick über die Geschichte des Staatsbegriffes vgl. zum einen Herfried Münkler, Ernst Vollrath & Michael Silnizki (1998), (Art.) Staat, in: Joachim Ritter, Karlfried Gründer & Gottfried Gabriel (Hrsg.) (1971–2007), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Bd. 10, Sp. 1–53 und zum anderen Hans Boldt, Werner Conze, Görg Haverkate, Diethelm Klippel & Reinhart Koselleck (1990), (Art.) Staat und Souveränität, in: Otto Brunner, Werner Conze & Reinhart Koselleck (Hrsg.) (1972–1997), Geschichtliche Grundbegriffe: Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Stuttgart: Klett-Cotta, Bd. 6, S. 1–154. Hilfreich ist darüber hinaus auch die systemtheoretische Rekonstruktion der Begriffsgeschichte bei Niklas Luhmann (1989), Staat und Staatsraison im Übergang von traditionaler Herrschaft zu moderner Politik, in: Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 3, Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 65–148. Einen Überblick über die Geschichte des Nationenbegriffs bieten Ulrich Dierse & Helmut Rath (1984), (Art.) Nation, Nationalismus, Nationalität, in: Ritter, Gründer & Gabriel (Hrsg.) (1971–2007), a.a.O., Bd. 6, Sp. 406–414 und Fritz Gschnitzer, Reinhart Koselleck, Bernd Schönemann & Karl Ferdinand Werner (1992), (Art.) Volk, Nation, Nationalismus, Masse, in: Brunner, Conze

Einleitung – Sprachliche Differenzierung und wissenschaftliche Nationalisierung

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Das lässt sich nicht zuletzt – wie sowohl eine eingehendere Lektüre von New Atlantis als auch von Bacons politischen Schriften im engeren Sinne zeigen könnte – am Werk des Lordkanzlers selbst ablesen, das zwar sowohl hinsichtlich der Staatskonzeption im engeren Sinne als auch hinsichtlich des Phänomenbereichs, der späterhin in den Begriff der Nation gefasst werden wird, in der Tat bereits eine Reihe von zukunftsweisende Elementen erkennen lässt, aber zugleich auch deutlich macht, welch weiter Weg noch bis zum Begriff des Nationalstaates, wie er sich im 19. Jahrhundert etabliert, zurückzulegen ist. So rückt – um mit der Staatskonzeption Bacons im engeren Sinne zu beginnen – einerseits zwar, wie Michel Foucault gezeigt hat, in Bacons innenpolitischem Essay Of Seditions and Troubles angesichts einer als permanent gezeichneten und nicht länger allein von den Granden, sondern potentiell von allen Gesellschaftsständen ausgehenden Gefahr von Aufständen und Umstürzen erstmals die Gesamtbevölkerung des Staates als Einheit ins Blick- und Handlungsfeld des monarchischen Souveräns als dem Inbegriff des Staates im engeren Sinne, womit sich in dem Ensemble an wirtschafts-, bevölkerungs- und meinungspolitischen Gesichtspunkten und Maßnahmen, die Bacon dem Souverän, um sich des Wohlwollens dieser Gesamtbevölkerung zum Zwecke des eigenen Machterhalts zu versichern, nicht weniger permanent im Auge zu behalten bzw. in die Tat umzusetzen (und Beobachtung und Handeln entsprechend aufeinander abzustimmen bzw. miteinander abzugleichen) empfiehlt, nicht nur zum ersten Mal der Ort für eine Reihe von möglichen wissenschaftlichen Disziplinen, die sich in den Dienst dieser kontinuierlich erforderlichen Beobachtung des Zustands der Gesamtgesellschaft stellen lassen, sondern zugleich auch der Ort für einen auf Dauer gestellten differenzierten Staatsapparat zu öffnen beginnt, der nach Lage der auf Basis dieses zunehmend detaillierter werdenden Wissens gewonnenen Erkenntnisse an entsprechend eingerichteten administrativen Stellschrauben drehen kann.9 Auf der anderen Seite ist das in dem fraglichen Text zum Ausdruck kommende Staatsverständnis aber zweifellos schon deshalb, weil es das Motiv des Interesses an Wohlergehen und Wohl9

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& Koselleck (Hrsg.) (1972–1997), a.a.O., Bd. 7, S. 141–431. Als moderne Klassiker der Nationen- und Nationalismusforschung seien daneben insbesondere die Arbeiten von Benedict Anderson (2005), Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, 2., Aufl., Frankfurt/Main & New York: Campus und von Eric J. Hobsbawm, (2005), Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780, 3. Aufl., Frankfurt/Main & New York: Campus benannt. Eine Reihe zentraler Einsichten vermittelt nicht zuletzt auch Michel Foucault (1999), In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975–1976), Frankfurt/Main: Suhrkamp, bes. S. 169–198 und S. 255–281. Ein relativ grober und sich nicht gerade durch ein Übermaß an begrifflicher Reflexion auszeichnender, unter heuristischen Gesichtspunkten aber dennoch hilfreicher Überblick über die Entwicklung europäischer Nationalstaaten im fraglichen Zeitraum findet sich bei Hugh Seton-Watson (1977), Nations and States. An Enquiry into the Origins of Nations and the Politics of Nationalism, Boulder/Colorado: Westview Press, bes. S. 15–87. Francis Bacon (1858b), Of Seditions and Troubles. Essay XV, in: Francis Bacon (1857–1874), The Works of Francis Bacon, hg. v. James Spedding, Robert L. Ellis & Douglas D. Heath, London: Longman, Bd. 6, S. 406–412. Vgl. hierzu die Darstellung bei Michel Foucault (2004), Geschichte der Gouvernementalität I: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorle-

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verhalten der Bevölkerung noch weitgehend im Machterhalt des jeweiligen Souveräns und nicht im Erhalt des Staatswesens als solchem verortet, geschweige denn als ersten Grund und letzten Zweck seiner Existenz gleichermaßen versteht, noch meilenweit von einer Konzeption entfernt, die den Staat wie Georg Friedrich Wilhelm Hegel als „Wirklichkeit der sittlichen Idee“ und als „sich selbst deutlicher, substantieller Wille, der sich denkt und weiß, und das, was er weiß und insofern er es weiß, vollführt“ begreift, und in dem die Einheit und Vermittlung zwischen den (mitsamt bzw. in Form ihrer „Ansichten und Gedanken“ in den Institutionen der gesetzgebenden Gewalt ständisch vertreten) Vielen und dem (die Souveränität der „letzten sich selbst bestimmenden Willensentscheidung“ als fürstliche Gewalt verkörpernden) Einen durch einen (mit der Subsumtion der „besondern Sphären und einzelnen Fälle unter das Allgemeine“ betrauten) arbeitsteilig organisierten Staatsapparat sichergestellt wird, der als Regierungsgewalt die Mitglieder der Regierung und das Staatsbeamtentum umfasst und sich aus einem „allgemeinen“ bzw. „Mittelstand“ rekrutiert, der angesichts seiner notwendig überlegenen Einsicht in das Wollen und Sollen im Staate gleichsam zum konkreten Inbegriff staatlichen Wissens avanciert10 – geschweige denn, dass die zentrale Stellung dieser staatstragenden Beamtenschaft und, mehr noch, ihre Rolle als Hypostase jeglicher „Staatswissenschaft“ – wie in Karl Marx’ Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie von 1843 – bereits wieder als ein Hindernis kritisiert würde, das der Erkenntnis der Möglichkeit und dem Willen zur Herstellung wahrer „Volkssouveränität“ mindestens ebenso im Wege steht wie die nur scheinbar konkrete, in Wahrheit aber die Zuordnung von Abstraktem und Konkretem auf den Kopf stellende Verkörperung der Staatswillenschaft in der Person des einen Monarchen (statt in den vielen, wahrhaftig konkreten Menschen),11 wenn nicht gar – wie 1848 im Kommunistischen Manifest – die „moderne Staatsgewalt“ als Ganze und mitsamt des vom allgemeinen 10 sungen am Collège de France 1977–1978, Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 385–402. Ein allgemeinerer Überblick über Bacons politische Philosophie findet sich bei Markku Peltonen (1996), Bacon’s Political Philosophy, in: Markku Peltonen (Hrsg.) (1996), The Cambridge Companion to Bacon, Cambridge/UK: Cambridge University Press, S. 283–310. 10 Georg Friedrich Wilhelm Hegel (2013), Grundlinien der Philosophie des Rechts, hg. v. Horst D. Brandt, Hamburg: Meiner, bes. §§ 257–329, S. 231–321, hier: §§ 257, 301, 279, 273, 297 und 303, S. 231, 289, 272, 261, 286 und 293. Vgl. auch Georg Friedrich Wilhelm Hegel (1992), Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse III: Die Philosophie des Geistes, 2. Aufl., hg. v. Eva Moldenhauer & Karl Markus Michel, Frankfurt/Main: Suhrkamp, bes. §§ 535–546, S. 330–346. 11 Vgl. Karl Marx (1976), Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Kritik des Hegelschen Staatsrechts, in: Karl Marx & Friedrich Engels (1956–1990), Marx-Engels-Werke, Bd. 1, Berlin: Dietz, S. 203–333, bes. S. 265ff. Konkret fasst Marx die Rolle des allgemeinen Standes in Hegels Staatskonzeption wie folgt zusammen: „Also Wissen und Willen der Stände sind teils überflüssig, teils verdächtig. Das Volk weiß nicht, was es will. Die Stände besitzen nicht die Staatswissenschaft im Maße der Beamten, deren Monopol sie ist.“ (Ebd., S. 266). Dass Marx’ Versuch, Hegels Zuordnung von Abstraktum und Konkretum zu den vielen Einzelpersonen und der einen Überperson vom Kopf auf die Füße zu stellen und der Souveränität nicht länger im Monarchen sondern im Volk einen Körper zu geben, die zugrundeliegenden tropischen Mechanismen tatsächlich bloß umstülpt und letztlich nicht in der Lage ist, dabei einen wirklich rationellen Kern herauszuschälen, dürfte auf der Hand liegen.

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Stand verwalteten Wissensvorschusses zu einem bloßen „Ausschuß“ erklärt wird, der sich mitnichten dem Ideal des Allgemeinwohls aller Stände verpflichtet sieht, sondern ausschließlich im Dienste der materiellen Sonderinteressen einer einzigen Klasse steht, und zu nichts anderem gut ist, als ihrem ökonomischen Machtüberschuss den Anschein politischer Legitimität zu verleihen.12 Ähnlich zwiespältig verhalten sich die Dinge auch hinsichtlich des (künftigen) Begriffs der Nation: Denn in der Tat beginnt in Bacons außenpolitischem Essay Of the True Greatness of Kingdoms and Estates vor dem Hintergrund der Frage, wie man die Bevölkerung dem Souverän zwecks Machterhalts nicht nur im Inneren gewogen machen, sondern sie auch zum Zwecke der Machtexpansion nach außen hin zur Teilnahme an staatlichem Handeln in Form der Kriegsführung bewiegen könne, bereits die Notwendigkeit einer Identifikation der Bevölkerung mit dem Staat (im Sinne der inneren Haltung jedes einzelnen Gliedes der Gesamtbevölkerung zu und meinungsmäßigen Übereinstimmung mit den Handlungszielen des Souveräns als Verkörperung des Staates im engeren Sinne) aufzuscheinen, die in letzter Instanz sogar in einer Identifikation von Bevölkerung und Staat (im Sinne einer Verkörperung der Bevölkerung im Staat oder als Staat im weiteren Sinne) ausläuft – ein Zusammenhang, der in Form eines ganzen Heerzugs von (psycho-)somatischen, dendro- und geneo-genealogischen Metaphern zum Ausdruck kommt, in dem die Rede von „heart“, „courage“ und „encouragement“ das zentrale, die gewünschte innere Haltung der Bevölkerung bezeichnende Herzstück ausmacht,13 während der (sich zum Teil überlagernde) Gebrauch neuro-muskulärer, brachialer und ramaler Bildlichkeit, wie er sich in der Rede von „nerves“, „sinews“, „arms“ und „branches“ artikuliert,14 für die Vorstellung der äußeren Gesundheit, Stärke und Schlagkraft eines (nicht etwa von der Hitze des Fiebers eines Bürgerkriegs geschüttelten und innerlich zerrütteten, sondern durch die Hitze des Trainings in echter Kriegsführung immer wieder befeuerten und gestählten) Gesellschaftskörpers („body politic“) einsteht,15 die es Bacon denn auch ermöglicht, an einzelnen Stellen seines Essays die Begriffe „state“ und „nation“ in der Tat bereits weitgehend synonym zu gebrauchen.16 Dabei verdankt sich das Paket an Maßnahmen, 12 Karl Marx & Friedrich Engels (1959), Manifest der Kommunistischen Partei, in: Karl Marx & Friedrich Engels (1956–1990), Marx-Engels-Werke, Berlin: Dietz, Bd. 4, S. 459–493, hier: S. 464: „Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuß, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet.“ 13 Francis Bacon (1858c), Of the True Greatness of Kingdoms and Estates. Essay XXIX, in: Bacon (1857–1874), a.a.O., Bd. 6, S. 444–452, hier: S. 446 und 451. 14 Ebd., S. 446f. 15 Ebd., S. 450f. 16 Vgl. z.B. ebd., S. 449: „It is enough to point at it; that no nation which doth not directly profess arms, may look to have greatness fall into their mouths. And on the other side, it is a most certain oracle of time, that those states that continue long in that profession (as the Romans and the Turks principally have done) do wonders.“ An anderen Stellen überwiegt hingegen weiterhin die Identifikation von Staat und Souverän, etwa in der Formel „prince or state“ (ebd., S. 446) oder aber, wie in der im Titel des Essays gebrauchten Wendung „kingdoms and estates“ (ebd., S. 444), die Gleichsetzung von Staat und Territorium (Lesart 1) bzw. die Verwendung als Oberbegriff für unterschiedliche Regierungsformen (Lesart 2).

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dessen sich der Souverän gleichsam als Haupt bedienen soll, um die Herzen jedes einzelnen Untertanen zu gewinnen und in die vereinte Schlagkraft eines einheitlichen Staatskörpers zu verwandeln, im Wesentlichen einem ähnlichen Ensemble an bevölkerungs-, wirtschafts- und meinungspolitischen Überlegungen, wie Bacon sie auch in Of Seditions and Troubles ins Feld führt, wenn auch mit dem Unterschied, dass hier die meinungspolitische Komponente noch stärker im Vordergrund steht bzw. von Anfang an stärker mit den bevölkerungs- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen im engeren Sinne verwoben ist, und insofern – zumal Bacon explizit darauf hinweist, dass die üblicherweise in diesem Kontext genannte Reihe von Kenntnissen statistischer, kartographischer, ökonomischer und militärischer Natur zwar vielleicht notwendig, aber keinesfalls hinreichend ist, um die „powers and forces of an estate“ zu bemessen – bereits in gewissem Sinne – dem gewissen Sinne eines je-ne-sais-quoi – die spätere Systemstelle einer Völker- oder Massenpsychologie bezeichnet.17 Doch obwohl damit in der Tat bereits der erste Schritt zu einer Identifikation nicht nur der Bevölkerung mit den Zielen des im Souverän verkörperten Staates im engeren Sinne, sondern die Identifikation der Bevölkerung als Verkörperung des Staates selbst im weiteren Sinne getan und sich folglich das Konzept des Nationalstaates bereits von Ferne anzukündigen scheint, so zeigt doch die Beschränkung auf die ausgesprochen allgemein gehaltenen Prädikate Mut, Tapferkeit und Stärke als wünschenswerten Eigenschaften der Bevölkerung,18 dass nicht nur Bacons Staatskonzeption, sondern auch seine Vorstellung von der Nation noch meilenweit von Hegels Begriff des „Volksgeist[s]“ als je individuellem Ausdruck staatlich gefasster Nationalität entfernt ist – geschweige denn, dass am Horizont, sei es als „Weltgeschichte“ oder „Weltgericht“, wie bei Hegel,19 oder sei es in Form des Aufrufs „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!“, wie im Kommunistischen Manifest,20 bereits wieder eine Überwindung nationaler und nationalstaatlicher Beschränkungen ideeller bzw. Einseitigkeiten materieller Natur als Idee und als

17 Ebd., S. 445: „The greatness of an estate in bulk and territory, doth fall under measure; and the greatness of finances and revenew doth fall under computation. The population may appear by musters; and the number and greatness of cities and towns by cards and maps. But yet there is not any thing amongst civil affairs more subject to error, than the right valuation and true judgment concerning the powers and forces of an estate.“ Und entsprechend kann, wie Bacon fortfährt, weder Geld, noch eine gute militärische Ausrüstung, noch die schiere Zahl von unter Waffen stehenden Männern allein als Garant dafür gelten, dass ein Staat oder Volk sich am Ende als „fit for empire“ (ebd. S. 446) erweist: „all this is but a sheep in a lions’s skin, except the breed and disposition of the people be stout and warlike. Nay, number (itself) in armies importeth not much, where the people is of weak courage; for (as Virgil saith) It never troubles a wolf how many the sheep be.“ (Ebd., 445). 18 Vgl. nur als ein Beispiel für den Gebrauch dieser und ähnlicher Begrifflichkeiten ebd., S. 446, wo innerhalb weniger Zeilen hintereinander die Ausdrücke „strength“, „valiant and martial“, „courage“ und – gleichsam als (wiederkehrender) Oberbegriff all dieser Eigenschaften – „fit for empire“ fallen. 19 Hegel (2013), a.a.O., §§ 341–360, S. 322–332, hier: S. 322 bzw. Hegel (1992), a.a.O., §§ 548–552, S. 347–365, hier: S. 347. 20 Marx & Engels (1959), a.a.O., S. 493.

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Indiz eines zumindest in bestimmten Feldern – mit Wirtschaft und Wissenschaft zweifellos an vorderster Front – tatsächlich bereits (wieder) einsetzenden Internationalisierungs- und Globalisierungsprozesses aufscheint. III. Ebenso wenig wie von einer modernen Staatlichkeit kann um 1600 von einer modernen Wissenschaft die Rede sein – einer modernen Wissenschaft im Sinne eines ausdifferenzierten Systems von operativ geschlossenen Disziplinen, die sich hinsichtlich der je nach ihren eigenen Maßgaben festgelegten und nur bedingt aufeinander reduziblen Begriffen und Methoden (nicht aber notwendigerweise hinsichtlich ihrer Gegenstände) voneinander unterscheiden, dabei jeweils über eine eigene solide institutionalisierte und professionalisierte Organisationsbasis verfügen und die ihre Verfahren allesamt zumindest in einem gewissen (wenngleich von Disziplin zu Disziplin zum Teil variierenden) Ausmaße am Gesichtspunkt der Zukunftsoffenheit und Temporalisierung ausrichten. Auch von dieser Wissenschaft gilt also: Es gibt sie weder in der Realität noch im Konzept – oder allenfalls in Ansätzen.21 Auch dies könnte nicht zuletzt eine eingehendere Analyse der Wissenschaftskonzeption zeigen, wie Bacon sie in seinen wissenschaftstheoretischen Schriften im engeren Sinne entwickelt und seinen Lesern in New Atlantis sinnfällig vor Augen gestellt hat – einer Konzeption, die nicht ohne Grund von Wilhelm Schmidt-Biggemann mit dem Etikett der „doppeldeutige[n] Wissenschaft“ belegt worden ist.22 Denn auf der einen Seite lässt sich nämlich in der Tat eine Reihe von Indizien identifizieren, die zumindest auf den ersten Blick den Eindruck vermitteln, als wäre bei Bacon die Konzeption einer ausdifferenzierten Wissenschaft wenigstens bereits in nuce angelegt. So hat Bacon sich etwa nicht nur im Novum Organum eindeutig für eine stärkere Professionalisierung und Institutionalisierung der Wissenschaften ausgesprochen, sondern seinen Traum vom Wissenschaftler als eigenständigem Beruf und seine Vision einer arbeitsteilig organisierten Wissenschaft im fiktionalen Medium seiner neu-atlantischen Utopie auch konsequent Realität werden lassen, indem er ihr in Solomon’s House eine fest institutionalisierte Heimstatt verschafft 21 Diese Formulierung orientiert sich locker an Niklas Luhmann (1990), Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp, bes. S. 446–463. Vgl. auch Rudolf Stichweh (1994a), Differenzierung der Wissenschaft, in: Rudolf Stichweh (1994c), Wissenschaft, Universität, Professionen. Soziologische Analysen, Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 15–51 und Rudolf Stichweh (1994b), Professionen und Disziplinen. Formen der Differenzierung zweier Systeme beruflichen Handelns in modernen Gesellschaften, in: Stichweh (1994c), a.a.O., S. 278–336 sowie die ausführliche Fallstudie: Rudolf Stichweh (1984), Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Physik in Deutschland 1470–1890, Frankfurt/Main: Suhrkamp. 22 Wilhelm Schmidt-Biggemann (1983), Topica Universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaften, Hamburg: Meiner, bes. S. 214–225 und S. 238–248, hier: S. 214.

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hat.23 Darüber hinaus hat er mit De augmentis scientiarum den ebenso ausgreifenden wie detaillierten Versuch einer Klassifikation aller Wissenschaften vorgelegt, in der die einzelnen Disziplinen einerseits nach Maßgabe der bei ihrer Ausübung beteiligten Seelenvermögen und andererseits nach dem Kriterium der von ihnen behandelten Gegenstände eingeteilt werden, weshalb es naheliegt, ihm zumindest ein rudimentäres Bewusstsein gegenstandsspezifischer Unterschiede hinsichtlich des methodologisch-konzeptuellen Zugriffs zu unterstellen.24 Und schließlich lässt die wiederum im Novum Organum geäußerte Überzeugung, dass die „Wahrheit eine Tochter der Zeit und nicht der menschlichen Autoritäten“ sei, auf die ersten Rudimente eines Fortschrittsbegriffs, und damit auf die temporalisierte Orientierung an einer offenen Zukunft schließen.25 Auf der anderen Seite allerdings stehen der These, dass sich in Bacons Schriften im Großen und Ganzen bereits die Vorstellung einer konzeptionell ausdifferenzierten, professionalisierten und temporalisierten Wissenschaft abzeichne, einige gewichtige Einwände gegenüber: Denn zum einen kann Bacon sein fortschrittstheoretisches und temporalisierendes Argument, wonach die Wahrheit künftig nicht mehr in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft zu suchen sein wird und sich auch nicht mehr instantaner introspektiver Einsicht, sondern sukzessiver extrospektiver Ausschau verdanken wird, selbst wiederum nur durch einen Rekurs auf die Alten plausibilisieren und im Schutze eines Autoritätsarguments vortragen.26 Zum anderen lässt das Bild, das Bacon in New Atlantis von den Tätigkeiten 23 So liest man etwa im Novum Organon die folgende Klage: „Accedit et illud, quod Naturalis philosophia, in iis viris qui ei incubuerint, vacantem et integrum hominem, praesertim his recentioribus temporibus, vix nacta sit; nisi forte quis monachi alicujus in cellula, aut nobilis in villula lucubrantis exemplum adduxerit; sed facta est demum Naturalis Philosophia instar transitus cujusdam et ponti-sternii ad alia.“ (Bacon (1857b), a.a.O., I, 80, S. 187; Bacon (1982), a.a.O., S. 86). Wer von günstigen Winden an die Gestade von New Atlantis getrieben worden ist, wird hingegen feststellen können, dass die Naturphilosophie keineswegs eine ‚bloße Überfahrt und Fähre‘ oder ein ‚bloßer Übergang und Brückenkopf‘ zu Anderem bleiben muss. Denn im Schoße von Salomons Haus finden sich nicht nur genügend Männer, die sich der Naturphilosophie gänzlich ‚frei und ungeteilt‘ widmen können. Vielmehr bekommt sie nicht zuletzt auch deshalb, weil die Arbeit auf neun unterschiedliche Ämter oder Berufe aufgeteilt wird (Bacon (1859b), a.a.O., S. 164f.; Bacon (1960), a.a.O., S. 213f.) gleichsam festen eigenen Boden unter die Füße. Zum Konzept arbeitsteiliger Wissenschaftsorganisation bei Bacon siehe auch Rose-Mary Sargent (1996), Bacon as an Advocate of Cooperative Scientific Research, in: Peltonen (Hrsg.) (1996), a.a.O., S. 146–171. 24 Vgl. Francis Bacon (1857a), De augmentis scientiarum, in: Bacon (1857–1874), a.a.O., Bd. 1, S. 415–844. Einen hilfreichen Überblick über die Wissenschaftsklassifikation in diesem Werk bietet Sachiko Kusukawa (1996), Bacon’s Classification of Knowledge, in: Peltonen (Hrsg.) (1996), a.a.O., S. 47–74. 25 Bacon (1857b), a.a.O., I, 84, S. 191, Bacon (1982), a.a.O., S. 91: „Authores vero quod attinet, summae pusillanimitatis est authoribus infinta tribuere, authori autem authorum atque adeo omnis authoritatis, Tempori, jus suum denegare. Recte enim Veritas Temporis filia dicitur, non Authoritatis.“ 26 So ist das Bild einer veritas filia temporis natürlich selbst ein antiker Topos, wie er sich etwa prominent bei Plutarch und Aulus Gellius findet, und der sich in letzter Instanz bis in die griechische Mythologie zurückverfolgen lässt. Entscheidender noch ist allerdings, dass Bacon die

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der unterschiedlichen Arten der in Solomon’s House beschäftigten Berufswissenschaftler zwar ohne Zweifel eine stark arbeitsteilige Organisationsform erkennen. In der Sache allerdings folgt die Einteilung der unterschiedlichen Berufsstände nicht so sehr dem Kriterium einer im Wesentlichen heterarchischen Differenzierung nach spezifischen Gegenstandsbereichen und diesen mehr oder weniger streng zugeordneten Methoden zu ihrer Erforschung, sondern legt der Differenzierung nach Professionen die Kombination eines sequentiellen und eines hierarchischen Kriteriums zugrunde, indem die Berufseinteilung mit unterschiedlichen Arbeitsschritten und Phasen des Forschungsprozesses korreliert wird und den daraus resultierenden Berufsständen, je nachdem, mit welchen Tätigkeiten auf dem Weg zwischen heuresis und heureka! sie sich schwerpunktmäßig befassen bzw. ob sie in erster Linie der Erkenntnis von Einzelheiten oder eher der umfassenden Synthese aller Erkenntnissen gewidmet sind, ein unterschiedlicher Rang oder eine unterschiedliche Dignität zugestanden wird.27 Zum dritten schließlich stellt nicht nur die bloße Tatsache, dass Bacon eine wie immer elaborierte Wissenschaftsklassifikation vorgelegt hat, wie bereits die zahllosen Versuche einer Klassifikation der Wissen27 Einsicht in den Sachverhalt der Temporalisierung explizit als eine Besinnung auf die Alten und die daraus abzuleitende Erkenntnis- und Darstellungsmethode als eine Wiederherstellung früherer Verhältnisse darstellt: „Atque primi et antiquissimi veritatis, meliore fide et fato, cognitionem illam, quam ex rerum contemplatione decerpere et in usum recondere statuebant, in aphorismos […] conjicere solebant.“ (Bacon (1857b), a.a.O., I, 86, S. 194; Bacon (1982), a.a.O., S. 95) – eine Sichtweise, die jedoch bezeichnenderweise im Widerspruch zu der unmittelbar zuvor dargelegten Überzeugung steht, man müsse richtigerweise eigentlich die Moderne als das (bereits gereifte) Alter, die Antike hingegen als die (noch unreife) Kindheit der Menschheit bezeichnen. 27 So lassen sich die Ämter oder Berufe grob den drei Ebenen bzw. Arbeitsschritten Recherche (heuresis), Tatsachenforschung (historia), Ursachenforschung (philosophia) zuordnen. Infolgedessen stehen am Anfang des Forschungsprozesses die mit der Sammlung von Büchern und Versuchsmustern beauftragten „Lichthändler“ (merchants of light) als eigene Klasse. Die überwiegend der Tatsachenerkenntnis gewidmete Klasse von Berufen umfasst sodann die mit der Erfassung der bereits beschriebenen Experimente beschäftigten „Beutesammler“ (depredators), die mit der Ausführung von Experimenten in den freien und den mechanischen Künsten befassten „Mysterienmänner‘ (mystery-men) bzw. „Jäger“ (venatores), die mit der Erfindung neuer Versuche betrauten „Pioniere oder Grubenarbeiter“ (pioneers or miners) sowie die zur Abfassung von Lehrsätzen und Tabellen bevollmächtigten „Kompilatoren“ (compilers) bzw. „Aufteiler“ (divisores). In die Klasse der zur mehr oder minder abschließenden Ursachenerkenntnis befähigten Berufe schließlich fallen die mit der Unterscheidung zwischen potentieller theoretischer und praktischer Relevanz einzelner Tatsachen betrauten „Mitgiftsgeber oder Wohltäter“ (dowry-men or benefactors), die mit der Konzeption theoretisch relevanter und der Ursachenerkenntnis dienlicher Versuche befassten „Leuchten“ (lamps), die mit der Durchführung von der Ursachenerkenntnis dienenden Versuchen beschäftigten „Pfropfer“ (inoculators) und, last but not least, die zur Abfassung von ursachenbezogenen Axiomen und Aphorismen bevollmächtigten „Ausleger der Natur“ (interpreters of nature). Vgl. Bacon (1859b), a.a.O., S. 164f. bzw. Bacon (1960), a.a.O., S. 213f. sowie für die in ihren Konnotationen zum Teil etwas abweichenden lateinischen Bezeichnungen Francis Bacon (1638), Nova Atlantis, in: Francis Bacon (1668), Baconi operum moralium et civilium tomus. Ab ipso honoratissimo auctore, praeterquam in paucis, latinate donatus, hg. v. William Rawley, London: Griffin & Witthaker S. 355–396, hier: S. 383f.

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schaften deutlich machen, die – von Aristoteles bis zu Petrus Ramus – Bacons Klassifikationsversuch vorangegangen sind, schon für sich genommen ein ausgesprochen unzuverlässiges (um nicht zu sagen gänzlich ungeeignetes) Indiz disziplinärer Ausdifferenzierung dar – zumal, wenn es sich wie im Falle von De augmentis scientiarum um eine stark apriorisch geprägte Ausformung der Klassifikation handelt. Vielmehr machen auch Bacons Ausführungen im Novum Organum zum Zusammenhang zwischen der Wissenschaft als Ganzer und den jeweiligen Einzelwissenschaften, denen zufolge solange nicht auf einen substantiellen Fortschritt in der Wissenschaften zu rechnen ist, wie die Einzelwissenschaften nicht auf eine – bezeichnenderweise als „Mutter aller Wissenschaften“ apostrophierte – übergeordnete und alle anderen Wissenschaften umfassende Wissenschaft und diese übergeordnete und alle anderen Wissenschaften umfassende Wissenschaft wiederum auf die Einzelwissenschaften hingeführt worden sein wird, deutlich, dass Bacon die Entwicklung von Einzeldisziplinen nur dann zuzulassen gewillt ist, wenn diese im Prinzip immer schon im Begriff dieser übergeordneten und umfassenden Mutterwissenschaft enthalten gewesen ist und nach Vollendung ihres Wissensganges und in letzter Instanz gleichsam als entfalteter Begriff wieder in sie zurückläuft.28 Mit anderen Worten: Für eine Korrektur des Zuschnitts der übergeordneten Wissenschaft nach Maßgabe eines veränderten Zuschnitts der Einzeldisziplinen oder gar für eine Emanzipation dieser Einzeldisziplinen in begrifflicher und methodischer Hinsicht ist hier konzeptionell eigentlich kein Platz. 28 Der Aufforderung, Mutter- und Tochterwissenschaften entsprechend aufeinander abzustimmen, geht dabei die Klage voran, die Naturphilosophie, die im Novum Organum (nicht allerdings, wie noch zu thematisieren sein wird, in De augmentis scientiarum) zur im wahrsten Sinne des Wortes natürlichsten Anwärterin auf das Amt disziplinärer Mutterschaft erklärt wird, sei unbegreiflicherweise zu den Magddiensten einer Anzillardisziplin herabgewürdigt worden: „Atque magna ista scientiarum mater [i.e. Naturalis Philosophia] mira indignitate ad officia ancillae detrusa est […]. Interim nemo expectet magnum progressum in scientiis (praesertim in parte earum operativa), nisi Philosophia Naturalis ad scientias particulares producta fuerit, et scientiae particulares rursus ad Naturalem Philosophiam reductum.“ (Bacon (1857b), a.a.O., I, 80, 187f.; Bacon (1982), a.a.O., S. 86). Bezeichend ist dabei freilich, dass die geneogenealogische Metapher von der verweigerten Mutterschaft sogleich durch das dendro-genealogische Bild von den von ihren Wurzel abgerissenen und daher verkümmerten Zweigen der Wissenschaften ersetzt wird – fast als wäre es Bacon daran gelegen, jegliche Gedanken an eine sich von der Mutter empanzipierende Tochter direkt im Keim zu ersticken: „[scientiae] nil fere habeant altitudinis in profundo; sed per superficiem et varietatem rerum labantur: quia postquam particulares istae scientiae dispertitae et constitutae fuerint, a Philosophia Naturali non amplius alantur; quae ex fontibus et veris contemplationibus […] novas vires et augmenta illis impertiri potuit. Itaque minime mirum est si scientiae non crescant, cum a radicibus sint separatae.“ (Bacon (1857b), a.a.O., I, 80, S. 188; Bacon (1982), a.a.O., S. 87). An anderer Stelle nutzt Bacon ein verwandtes Bild übrigens zu einem versteckten Seitenhieb gegen die Konjunktur des geblümten Stils und/oder die Florilegienseligkeit seines Zeitalters: „[C]ausa [i.e. tam pusilli in scientiis profectus] […] videlicet [est], quod per illas ipsas aetates, quibus hominum ingenia et literae maxime vel etiam mediocriter floruerint, naturalis philosophia minimam partem humanae operae sortita sit. Atque haec ipsa nihilominus pro magna scientiarum matre haberi debet. Omnes enim artes et scientiae ab hac stirpe revulsae, poliuntur fortasse et in usum effinguntur; sed nil admodum crescunt.“ (Bacon (1857b), a.a.O., I, 79, S. 186f.; Bacon (1982), a.a.O., S. 85).

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In letzter Instanz allerdings liegen die Dinge denn doch nicht so eindeutig, wie diese Einwände vermuten lassen könnten, und Bacons Wissenschaft erweist sich in der Tat nicht bloß als ein Unternehmen, das nur erstem Anschein nach moderne Elemente in sich trägt, in Wirklichkeit aber der Tradition verhaftet bleibt, sondern in der Tat in mehrfacher Hinsicht als doppeldeutige Wissenschaft im eigentlichen Sinne des Wortes. Denn auch wenn die moderne Konzeption disziplinärer Ausdifferenzierung explizit und der Theorie nach nicht vorgesehen ist, so wird ihr doch implizit und praktisch der Boden bereitet – und das hat tatsächlich indirekt mit den Gründen zu tun, die Schmidt-Biggemann dazu bewogen haben, Bacons Wissenschaftskonzeption als doppeldeutig zu bezeichnen. Doppeldeutig ist sie, SchmidtBiggemann zufolge, weil sie – vor allem im Kontext des Novum Organum – einerseits die Natur als einzige Quelle und (tendenziell) einzigen Gegenstand wissenschaftlichen Erkennens absolut und damit der Tendenz nach nicht nur Wortwissenschaften und Gottesgelehrsamkeit gleichermaßen in Schach setzt, sondern angesichts der Einsicht, dass diese Natur sich (grundsätzlich und zumal, wenn man sich nicht von einer induktiven Erkenntnismethode leiten lässt) im Verstand allenfalls wie in einem Zerrspiegel abbildet, auch eine rein verstandesgeleitete deduktive Einteilung der Wissenschaften zurückweisen muss, andererseits aber auf eine solche deduktive Einteilung der Wissenschaften – wie es vor allem anhand von De augmentis scientiarum deutlich wird – aus (scheinbar) pragmatischen Gründen am Ende offenbar dennoch nicht verzichten kann oder will und sich dabei noch dazu vermögenspsychologischer Kriterien bedient und somit den Verstand nicht nur zur zentralen Quelle, sondern zugleich auch zu einem ihrer Gegenstände macht.29 In der Konsequenz aber ist Bacons Wissenschaftskonzeption darüber hinaus auch deshalb doppeldeutig, weil nicht eindeutig auszumachen ist, welcher Wissenschaft eigentlich der Platz der obersten und, wenigstens perspektivisch, alle anderen Wissenschaften umfassenden und einschließenden Wissenschaft – der vielzitierten „Mutter aller Wissenschaften“ – zukommen soll. Soll dieser Platz von einer stets schon in der Fülle der Phänomene stehenden Naturphilosophie eingenommen werden – wie es in der Konsequenz von Bacons absolut gesetztem Naturbegriff liegt und wie es vor allem im Novum Organon immer wieder explizit gefordert wird? Oder soll er von einer relativ abstrakten und von konkreten Inhalten weitgehend entleerten Ersten Philosophie eingenommen werden – wie es in De augmentis scientiarum der Fall zu sein scheint, wo die Naturphilosophie bloß als eine Teilwissenschaft unter vielen anderen erscheint, die noch dazu nicht einmal einen besonders prominenten Rang einnimmt, sondern – zumindest wenn man den Baum des Wissens ingesamt betrachtet – gerade einmal auf der vierten Hierarchieebene von oben zu rangieren scheint?30 Der klassifikatorische Widerspruch, der sich damit 29 Vgl. erneut Schmidt-Biggemann (1983), a.a.O., S. 214–225. 30 Vgl. Bacon (1857a), a.a.O., III, 1, S. 540f. In der Tat werden in De augmentis scientiarum ‚Erste Philosophie‘ und ‚Mutter aller Wissenschaften‘ miteinander identifiziert, wobei dieser die Aufgabe einer allgemeinen und disziplinenübergreifenden Axiomatik zukommt: „Quoniam autem partitiones scientiarum […] sunt […] similes […] ramis arborum, qui conjunguntur in uno trunco […]; idcirco postulat res, ut priusquam membra prioris partitionis membra persequamur, constituatur una Scientia Universalis, quae sit mater reliquarum […]. Hanc Scientiam

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zwischen den beiden philosophischen Hauptwerken des Lordkanzlers andeutet, scheint ebenso unabweislich wie unauflösbar zu sein. Und doch kann man sagen, dass die wissenschaftliche Situation um 1600 unter ausdifferenzierungsgeschichtlichen Gesichtspunkten durch diesen Widerspruch in Bacons Œuvre und in diesem Oszillieren zwischen zwei eigentlich unvereinbaren Positionen, kurz: im Medium dieser Doppeldeutigkeit, ziemlich treffend bezeichnet ist – und die Wahrheit gewissermaßen dazwischen oder geradezu in diesem Dazwischen liegt. Denn wenn die Naturphilosophie der Philosophie gemäß der aprioristischen und der inneren Gliederung der Seele folgenden Wissenschaftsklassifikation von De augmentis scientiarum untergeordnet bleibt, dann ist sie zwar dazu gezwungen, innerhalb der engen Grenzen zu verharren, die ihr durch den und innerhalb des überkommenen Philosophiebegriffs de iure gesetzt sind. Zugleich aber dürfte der relativ begrenzte Raum, der ihr im Rahmen dieser im Doppelsinne philosophischen Vorfestlegung zugestanden wird, qualitativ wie quantitativ durchaus in etwa dem Platz entsprochen haben, der ihr im Konzert all der anderen Wissenschaften – gleichsam eingezwängt zwischen der Theologie und den Philologien – zeitgenössisch auch de facto eingeräumt worden ist. Und wenn das Novum Organum in seiner aposteriorischen Ausrichtung auf die äußere Natur umgekehrt die Naturphilosophie all den anderen Wissenschaften – den Wortwissenschaften, den übrigen Teilen der Weltweisheit und, weiß Gott, womöglich gar der Gottesgelahrtheit – überordnet, dann sucht es die Naturphilosophie zwar die engen Grenzen de facto überschreiten zu lassen, die ihr bislang durch den überkommenen Philosophiebegriff und in der wissenschaftlichen Alltagsrealität gesetzt sind, und arbeitet tatsächlich aktiv daran, für den der Naturphilosophie angesichts der Dignität und Ausdehnung ihres Gegenstands eigentlich zuzugestehenden Raum überhaupt erst einmal hinreichend Platz zu schaffen. Und gleichwohl kann diese wissenschaftliche Landnahme, durch die der Emanzipation der Naturphilosophie von der Philosophie im Zeichen der Naturgefolgschaft der Boden bereitet wird, de iure nur im Namen und gleichsam unter dem Deckmantel einer Konzeption erfolgen, in der die untergeordneten Wissenschaften im Prinzip nach wie vor vollständig in der überge-

Philosophiae Primae, sive etiam Sapientiae […], nomine insignimus. […] Nos vero […] volumus, ut designetur aliqua scientia, quae sit receptaculum Axiomatum, quae particularium scientiarum non sint propria, sed pluribus in commune competant.“ Die naturalis philosophia selbst – mitsamt ihren einzelnen Unterabteilungen und der ihr als „magna appendix“ und „scientia auxiliaris“ zugeordneten Mathematik (ebd., III, 3–6, S. 547–578, hier: S. 576) – stellt einen der drei der philosophia prima entsprießenden Wissensäste dar, die respektive „de Numine“, „de Natura“ und „de Homine“ (ebd., III, 1, S. 540) gewidmet sind. Nicht endgültig zu klären ist, ob philosophia prima und philosophia vollständig miteinander identisch sind oder selbst noch einmal in einem Subordinationsverhältnis zueinander stehen. Klar ist hingegen, dass philosophia und theologia gemeinsam den Begriff der scientia im eigentlichen Sinne und damit gleichsam den Hauptast des menschlichen Teils des Stammbaums des Wissens konstituieren (ebd., III, 1, S. 593), während die beiden anderen Äste, historia und poesis sich mit dem unspezifischeren Epitheton der bloßen doctrina (ebd, II, 1, S. 494) begnügen müssen. Und klar ist schließlich auch, dass dem begrenzten menschlichen Wissen in letzter Instanz das unbegrenzte göttliche Wissen gegenübersteht.

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ordneten Wissenschaft enthalten sind – eben jener Konzeption, die nicht anders auch in De augmentis scientiarum vertreten wird. Oder, um diesen Sachverhalt noch einmal in etwas anderer Akzentuierung auf den Punkt zu bringen: Wie De augmentis scientiarum mit dem vergleichsweise untergeordneten Rang, den es der Naturphilosophie als einer Disziplin unter vielen anderen zugesteht, mit Blick auf die wissenschaftliche Wirklichkeit um 1600 also gar nicht so falsch gelegen haben dürfte, in seinem überzeugten Festhalten an einer festgefügten und eben deshalb auch im Vorhinein festlegbaren Ordnung der Wissenschaften hingegen, im Nachhinein besehen, von der weiteren Entwicklung aber letzten Endes ohne Frage überholt worden ist, so wird das Novum Organum in seinem Versuch, der Naturphilosophie einen höheren Rang zuzuweisen, als er ihr bislang im Schatten der Philosophie vergönnt gewesen war, und in dem darin liegenden stillschweigenden Eingeständnis, dass sich eine Tochterwissenschaft durchaus von ihrer Mutterwissenschaft emanzipieren und Eigenständigkeit erlangen kann, zwar mit Blick auf die weitere Entwicklung am Ende Recht behalten, zeigt sich aber in seiner letztlich der Verabsolutierung der Natur zur einzig wahren Erkenntnisquelle geschuldeten Inthronisierung der Naturphilosophie als neuer oberster Wissenschaft, durch die die Tochter nicht etwa zur potentiellen Mutter weiterer Töchter gemacht, sondern nur die bisherige Tochter an die Stelle der vormaligen Mutter gesetzt wird, kaum weniger überholt als De augmentis scientiarum. Und doch ist es in gewisser Hinsicht tatsächlich dieser verabsolutierte Naturbegriff des Novum Organum – oder genauer: die Verabsolutierung der Natur ebenso wie der Naturbegriff in seiner Verabsolutierung –, der es Bacon im Novum Organum unter der Hand und gleichsam entgegen dem in seinen beiden Hauptwerken explizit vertretenen Programm nicht nur erlaubt, sich so etwas wie die Emanzipation einer Wissenschaft, das Ausscheren einer einstmaligen Subdisziplin aus einer scheinbar festgefügten hierarchisch-enkaptischen Ordnung der Disziplinen vorzustellen und damit in letzter Instanz tatsächlich der Ausgliederung der Naturphilosophie (und der nachmaligen Naturwissenschaften) aus der Philosophie und ihrer Differenzierung gegen das Ensemble der bestehenden Wissenschaften Vorschub zu leisten, sondern der in seinem Diskurs auch Spuren hinterlassen hat, die sich nicht bloß scheinbar, sondern tatsächlich als erste Vorläufer des modernen Begriffs der Ausdifferenzierung identifizieren lassen. In der Tat könnte man nämlich bereits auf einer rein formalen Ebene argumentieren, dass der Naturbegriff gerade in seiner Verabsolutierung schon das erste Anzeichen und Movens eines konzeptionellen Differenzierungsprozesses darstellt – erfolgt doch, systemtheoretisch gesprochen, die operative Schließung eines sozialen Systems letztlich dadurch, dass eine bestimmte Teilmenge aus der Gesamtheit aller möglichen Kommunikationsgegenstände oder -modi herausgegriffen und – im Sinne einer Kontingenzformel – für das betreffende System absolut gesetzt und zum einzig möglichen Kommunikationsgegenstand bzw. -modus dieses Systems erklärt wird und gerade deshalb eine basale Einheit desselben garantiert. Darüber hinaus zeichnet die Verabsolutierung der Natur im Novum Organum aber aufgrund der spezifischen Eigenschaften, die der Natur angesonnen werden, auch gleichsam in inhaltlicher Hinsicht dafür verantwortlich, dass sich am Ende bei Bacon denn doch – und zwar hinsichtlich der Tem-

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poralisierung der Wissensgewinnung ebenso wie hinsichtlich der begrifflichkonzeptuellen Differenzierung und hinsichtlich des Aspekts der Professionalisierung und Institutionalisierung – erste Ansätze eines modernen Ausdifferenzierungsverständnisses erkennen lassen. Letztlich ist es nämlich, erstens, vor allem diesem verabsolutierten Naturbegriff zu verdanken, wenn Bacon dem Topos der veritas filia temporis – und damit dem Fortschrittsdiskurs und der Praxis temporalisierter Wissensgewinnung – auch über den autoritativen Rekurs auf die sapientia veterum hinaus eine gewisse Plausibilität und Geltung verschaffen kann, unterlegt er ihn doch mit der Hintergrundvorstellung, dass – um noch einmal mit Schmidt-Biggemann zu sprechen und seine Interpretation von Bacons (als salomonische Spruchweisheit ausgegebene) Überzeugung „Gloriam Dei esse, celare rem, gloriam regis, investigare rem“31 aufzunehmen – die Natur, deren Ruhm eben darin liegt, ‚die Dinge zu verhüllen‘, dem Menschen, selbst wenn dessen Ruhm darin liegen sollte, ‚die Dinge zu ergründen‘, immer so weit voraus ist und gleichsam immer „noch etwas in der Hinterhand“ hat, dass es einfach Zeit braucht, bis sie sich dem Menschen gänzlich und in ihrer Einheit offenbart haben wird. Oder anders gesagt: Die Natur und ihre Einheit in ihrer Feinheit enthüllt sich nicht instantan, und auch nicht notwendig aus sich heraus, sondern sie muss vielmehr sukzessive erarbeitet werden und ihr nach und nach (im Doppelsinne) „abgelistet“ werden.32 Die unmittelbare Konsequenz dieses Naturbegriffs ist denn auch ein Plädoyer für eine Darstellungsweise, die der Tatsache einer sich erst allmählich und mit der Zeit enthüllenden Wahrheit besser als die bisher üblichen Formen zur Darstellung wissenschaftlicher Erkenntnis gerecht wird. Denn in dieser Art von Darstellungen, unter denen Bacon in erster Linie systematische Summen und Universaltopiken zu verstehen scheint, sei das Wissen aus schierem Ehrgeiz und in unbotmäßiger Überhöhung – wie Bacon in einer impliziten Gleichsetzung scholastischer und humanistischer Verirrungen formuliert – „derartig aufgeputzt und gleichsam personifiziert“ und in einer Form dargeboten worden, die stets „alles zu erfassen und einzuschließen scheint, was unter den fraglichen Problemkreis fallen kann“ und damit den falschen Eindruck erweckt habe, als ob die Wissenschaften tatsächlich bereits „allseitig vollendet und höchst entwickelt“ wären, während die „Glieder“ der darin vorgeschlagenen Einteilungen doch in Wirklichkeit „schlecht ausgefüllt und gleichsam taube Hülsen“ seien – und man sich deshalb auch nicht wundern dürfe, dass „die Menschen nicht in dem nach Weiterem suchen, was als vollendet und in allen Punkten als längst abgeschlossen überliefert wird.“33 Stattdessen spricht sich Bacon – wenn auch einmal mehr unter Rekurs auf antike Vorbilder – dafür aus, die „aus der Betrachtung der Dinge“ gewonnenen 31 Bacon (1857b), a.a.O., I, 129, S. 221; Bacon (1981), a.a.O., S. 135. Tatsächlich lautet der Vers in der Fassung der Vulgata (Prov, 25, 2) bezeichnenderweise wie folgt: „gloria Dei celare verbum et gloria regum investigare.“ 32 Schmidt-Biggemann (1983), a.a.O., S. 216 und S. 227. 33 Vgl. Bacon (1857b), a.a.O., I, 86, S. 194; Bacon (1981), a.a.O., S. 95: „Illi [i.e. ii, qui scientias tractaverunt et tradiderunt] enim ea ambitione et affectatione eas [i.e. scientias] proponunt, atque in eum modum efformatas ac veluti personatas in hominum conspectum producunt, ac si illae omni ex parte perfectae essent et ad exitum perductae. Si enim methodum aspicias

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Erkenntnisse zum Zwecke ihrer Aufbereitung für den weiteren Gebrauch jeweils „in Aphorismen, in knappen, scharf umgrenzten Sätzen zusammenzufassen, ohne sie methodisch miteinander zu verketten“ und erhebt damit eine Gattung zum einzig angemessenen Modell wissenschaftlichen Schreibens, die als Inbegriff der Vorläufigkeit beständig an die Notwendigkeit späterer Revisionen erinnert und sich aufgrund ihrer vereinzelnden und zerstreuenden Grundverfassung fast schon intrinsisch gegen jeglichen Versuch übereilter Systematisierung zu sträuben scheint – und insofern tatsächlich dazu geeignet scheint, dem Prozess der Temporalisierung der Wissensgewinnung Vorschub zu leisten. 34 Neben dieser darstellungstheoretischen Entscheidung, die den Aphorismus gleichsam zum sprachlichen und gattungstheoretischen backbone der Temporalisierung macht, resultiert aus dem der Verabsolutierung geschuldeten Zugeständnis, dass die Natur dem Menschen so weit voraus ist und gewissermaßen immer noch ‚etwas in der Hinterhand‘ hat zugleich, zum zweiten, auch die Einsicht, dass man stets auf Überraschungen und ungeahnte Zusammenhänge gefasst sein muss, auf die es im Zuge der Naturauslegung dann entsprechend flexibel, also gleichsam durch die nachträgliche Anpassung der Begriffe an die Naturverhältnisse und gerade nicht durch die Anpassung der Naturverhältnisse an im Vorhinein festgelegte Begriffe zu reagieren gilt. In diesem Sinne erklärt Bacon etwa, dass er den Geist so zu leiten versuche, dass er sich „an die Natur der Dinge auf nur alle entsprechenden Weisen anpassen“ könne und er deshalb in seiner Lehre von der Auslegung der Natur darauf aus sei, möglichst „vieles und verschiedenes“ vorzuschreiben, „das sich nach irgendeiner Seite hin auf die Art der Entdeckung entsprechend der Beschaffenheit und dem Zustand des Forschungsgegenstandes bezieht.“ 35 Diese Sichtweise aber, die allerdings zugestandenermaßen auch im Rahmen des Novum Organum eine Art Ausreißer darstellt, bedeutet in der Konsequenz nichts anderes, als dass man angesichts der Vielgestaltigkeit der Natur und angesichts der Tatsache, dass sich die tatsächlichen Verknüpfungen zwischen den unterschiedlichen Phänomenen allenfalls allmählich und mit der Zeit enthüllen (lassen), damit rechnen muss, dass sich auch der Zuschnitt der jeweils zu ihrer Beschreibung gebrauchten Konzepte modifizieren kann und damit womöglich auch der Zuschnitt der jeweiligen Wissenschaften, der man sie bislang als integraler Bestandteil zuzurechnen gewohnt war. 34 et partitiones, illae prorsus omnia complecti et concludere videntur, quae in illud subjectum cadere possunt. Atque licet membra illa [i.e. partitionum suarum re vera] male impleta et veluti capsulae inanes sint; tamen apud intellectum vulgarem scientiae formam et rationem integrae prae se ferunt. […] At eo quo nunc res agitur modo, minime mirum est, si homines in iis ulteriora non quaerant, quae pro perfectis et numeris suis jampridem absolutis traduntur.“ 34 Vgl. Bacon (1857b), a.a.O., I, 86, S. 194; Bacon (1981), a.a.O., S. 95: „[Immo vero] cognitionem illam, quam ex rerum contemplatione decerpere, et in usum recondere statu[emus], in aphorismos, sive breves easdemque sparsas nec methodo revinctas sententias, conjic[iendum]; neque se artem universam complecti simula[ndum] aut profite[ndum est]“. 35 Vgl. Bacon (1857b), a.a.O., I, 127, S. 220; Bacon (1982), a.a.O., S. 133: „ita mentem regimus, ut ad rerum naturam se, aptis per omnia modis, applicare possit. Atque propterea multa et diversa in doctrina Interpretationis praecipimus, quae ad subjecti, de quo inquirimus qualitatem et conditionem, modum inveniendi nonnulla ex parte applicent.“

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Und tatsächlich scheint es schließlich, zum dritten, als ob diese Überlegungen, nach denen sich die Auslegung in der Art ihres Zugriffs jeweils flexibel und gleichsam phänomenspezifisch an die untersuchten Gegenstände anzupassen hat, in gewisser Hinsicht auch Pate bei der Beschreibung der vielen unterschiedlichen Forschungsstätten auf New Atlantis gestanden und damit ihren Weg in die Reflexion institutioneller Voraussetzungen wissenschaftlicher Forschung gefunden hätten.36 Denn auch wenn – oder aber gerade weil – alles andere als klar ist, welche Logik sich hinter der von Bacon bei ihrer Aufzählung gewählten Dispositio verbirgt, die mal der Systematik der sieben mechanischen Künste, mal der Systematik der vier Elemente, mal der Systematik der fünf Sinne – doch keiner so ganz – zu folgen scheint, und die daher insgesamt eher den Eindruck eines beau desordre als einer wohlüberlegten Ordnung macht, so ist doch zumindest klar, dass sich die Aufteilung der Forschungsstätten vor allem danach richtet, an welchen Orten und mit Hilfe welcher Instrumente man bestimmte Phänomene am besten erforschen kann. Insofern kündigt sich in dieser Aufzählung der Forschungsstätten nicht nur bereits von Ferne das Konzept des spezialisierten (Groß-)Labors als zentraler Institution der nachmaligen Naturwissenschaften an. Vielmehr zeichnet sich zugleich – eher nolens als volens – die Vorstellung einer Reihe von mehr oder weniger gleichberechtigt nebeneinander stehenden und einander jedenfalls nicht mehr klar superbzw. subordinierten und von daher zumindest ansatzweise bereits heterarchisch geordneten (natur-)wissenschaftlichen Teildisziplinen ab, die sich – indem sie gleichsam im Medium dieser Forschungsstätten auskristallisieren und sich um sie als ihrem Gravitationspunkt herum zu organisieren beginnen – teils an einer bestimmten durch sie nahegelegten Sphäre oder Schicht von Phänomenen, teils an den von ihnen je bereitgestellten Zugriffsmodalitäten und teils an beidem zugleich ausrichten und an und unter diesen Voraussetzungen ihre jeweiligen Grenzen finden – wobei die Tatsache, dass sich die Gegenstandsbereiche der einzelnen Forschungsstätten ebenso wie die in ihnen jeweils dominierenden Methoden und Instrumentarien zu ihrer Erforschung, nimmt man Bacons Beschreibung beim Wort, nicht selten auch überschneiden, gewissermaßen das beste Anzeichen einer bevorstehenden Ablösung der Statik disziplinärer Architektonik, wie sie der Lordkanzler in De augmentis scientiarum vorträgt, durch eine dynamischere Konzeption ist, die zunehmend gezwungen sein wird, dem Zufall bei der Herausbildung der Disziplinen einen Raum zu geben, und daher fachliche Differenzierung nicht mehr länger an das theoretische Kriterium vollständiger begrifflicher Disjunktion zwischen Gegenständen oder Methoden bindet, sondern sich ganz einfach praktisch darauf zu verlassen beginnt, dass in jeder Disziplin über lange Zeiträume hinweg immer wieder an einer bestimmten Klasse von Objekten eine bestimmte Klasse von Operationen vorgenommen wird, und dabei davon ausgeht, dass es zunächst einmal einerlei ist, inwieweit diese Klasse von Objekten und Operationen in anderen Konstellationen auch in anderen Disziplinen eine Rolle spielt. Allerdings lässt Bacon – und darin zeigt sich abschließend noch einmal die Doppeldeutigkeit seiner Wissen36 Vgl. Bacon (1859b), a.a.O., S. 156–164; Bacon (1960), a.a.O., S. 205–213. Siehe zu der internen Ordnung der Forschungsstätten auch Sargent (1996), a.a.O., S. 157–161.

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schaftskonzeption – in New Atlantis gänzlich offen, in welchem Zusammenhang diese Forschungsstätten mit der Reihe der Ämter und Berufe im Hause Salomons stehen, die sich ja gerade nicht an einer an unterschiedlichen Phänomenbereichen oder Zugriffsmodalitäten ausgerichtenen Logik ausrichteten, sondern vielmehr einer Logik folgten, die das hierarchische Kriterium epistemologischer Dignität mit dem serialisierenden Kriterium der Abfolge von Arbeitsschritten miteinander koordinierte – und überlässt es damit gleichsam der Zukunft, zu zeigen, ob und inwiefern diese beiden Organisationsformen miteinander kompatibel sind. Bei genauer Betrachtung sind in dieser doppeldeutigen Wissenschaft Bacons erste Ansätze zur wissenschaftlichen Ausdifferenzierung also in der Tat schon enthalten. Und doch trennt sie noch immer ein Abgrund von der Situation um 1850 – und zwar hinsichtlich des Standes an methodologischer und konzeptioneller Differenzierung, der nicht nur die beiden sich zunehmend als gegensätzliche Sphären etablierenden Wissensgebiete der ‚Naturwissenschaften‘ und ‚Geisteswissenschaften‘ sondern auch die einzelnen Disziplinen innerhalb dieser Sphären mit wachsender Geschwindigkeit voneinander zu sondern und entfernen und ihnen den gemeinsamen Boden einer weitgehend problemlosen wechselseitigen Verständlichkeit zu entziehen beginnt, ebenso wie hinsichtlich der Dynamik der Institutionalisierungs- und Professionalisierungsprozesse, die mittlerweile den gesamten Wissenschaftsbetrieb zu erfassen begonnen haben, wie schließlich auch hinsichtlich der beinahe unwidersprechlich gewordenen Selbstverständlichkeit einer temporalisierten, also an das beständige Veralten soeben noch bestehender Gewissheiten gewöhnten und die Auffindung letztgültiger Wahrheit vertrauensvoll in die Zukunft verschiebenden Form der Wissensproduktion. In diesem Sinne kann etwa im Jahre 1862 für Hermann von Helmholtz kein Zweifel mehr daran bestehen, dass sich mittlerweile „die Wissenschaften in unendlich viele Aeste und Zweige gespalten haben“ und nicht nur „kein Einzelner mehr das Ganze oder auch selbst nur einen erheblichen Theil des Ganzen umfassen kann“, so dass „jeder einzelne Forscher ein immer kleiner werdendes Gebiet zu seiner Arbeitsstätte zu wählen gezwungen ist, und nur unvollständige Kenntnisse von den Nachbargebieten sich bewahren kann“, sondern sich über diese schon angesichts der schieren Quantität des Wissens notwendigen Differenzierung der Fächer hinaus auch „lebhaft gefühlte Gegensätze zwischen ihnen entwickelt“ haben, die Ausdruck der unterschiedlichen in ihnen geübten Forschungsmethoden und des von ihnen je geforderten Forschergeistes sind.37 Und auch wenn Helmholtz diese Entwicklung nicht ganz ohne Bedauern konstatiert und ihr in der Folge mit einer Art proto-interdisziplinaristischem Plädoyer zu begegnen sucht, so macht doch die Tatsache, dass er eigenem Bekunden zufolge die im 17. und 18. Jahrhundert durchaus übliche gleichzeitige Inhaberschaft der Professuren für Mathematik und für Moral oder aber für Medizin, Pharmazie, Chemie und Botanik beinahe schon als lachhaft zu empfinden geneigt ist, deutlich, dass er diesen Prozess als zwangsläufig und

37 Hermann von Helmholtz (1862), Über das Verhältnis der Naturwissenschaften zur Gesammtheit der Wissenschaften, Heidelberg: Mohr, S. 6 und S. 10.

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letztlich unumkehrbar ansieht.38 Noch deutlicher wird in dieser Hinsicht, ungeachtet der organizistischen Metaphorik und einer gewissen teleologischen Unterströmung, Justus von Liebig, wenn er 1840 in einer Rede, die vor allem die Notwendigkeit naturwissenschaftlicher Forschungslaboratorien vor Augen führen und der staatlichen Förderung solcher Einrichtungen das Wort reden soll, davon spricht, dass „sich vor 60 Jahren die Chemie von der Physik“ wie „ein Samenkorn von einer der Reife nahen Frucht“ getrennt habe, und in einer saint-simonistisch anmutenden Synopse der Wissenschaftsgeschichte jeweils bei „einem gewissen Grad ihrer Ausbildung“ aus der Astronomie die Physik, aus der Physik die Chemie, und – künftig – aus der Chemie die Physiologie hervorgehen sieht.39 Dabei geht es Liebig vor dem Hintergrund seines handfesten wissenschaftspolitischen Anliegens in diesem Text nicht nur darum, die naturwissenschaftlichen Fächer insgesamt endgültig aus dem überkommenen Umklammerungsgriff der Philosophie – wobei er sich die perhorreszierte und nicht ohne Drastik zur „Pestilenz“ und zum „schwarzen Tod des Jahrhunderts“ hochstilisierte „Naturphilosophie“ Schellingscher Prägung (als Inbegriff selbsterklärter Allzuständigkeit) und ihren (die Differenzen nicht weniger als die tatsächlichen Zusammenhänge zwischen physikalischen, chemischen und physiologischen Phänomenen überdeckenden) Begriff der „Lebenskraft“ zielsicher zum exemplarischen Gegner wählt – zu befreien und ihnen damit gewissermaßen einen gleichberechtigten Platz in einer heterarchischen Reihe wissenschaftlicher Disziplinen zu verschaffen.40 Vielmehr zielt er zugleich auch darauf ab, der Chemie als solcher ein schärferes disziplinäres Eigenprofil zu geben, etwa indem er die „Experimental-Chemie“ als Kern des Faches von der an seiner Peripherie angesiedelten „angewandten Chemie“ abhebt, vor allem aber, indem er – in der fraglichen Rede und fast noch deutlicher in einer sich an Studienanfänger wendenden Eröffnungsvorlesung aus dem Jahre 1852 – als das eigentliche Gravitationszentrum der Chemie explizit „ihre Sprache“ ausmacht, deren „Worte“, „Zeichen“ und „Regeln“ der Kombination es kennen zu lernen und in deren „Gebrauch“ es sich „Uebung“ zu verschaffen gelte,41 und die er offen38 Ebd., S. 6. 39 Justus von Liebig (1840), Ueber das Studium der Naturwissenschaften und über den Zustand der Chemie in Preußen, Braunschweig: Vieweg, S. 13f. 40 Ebd., S. 29. Interessanterweise bedient sich Liebig bei seiner Charakterisierung der Naturphilosophie einige Jahre später, und zwar unmittelbar nachdem der Name Bacons gefallen ist, einer ganz ähnlichen Bildlichkeit wie der Lordkanzler in seiner in Fußnote 28 zitierten Invektive gegen bestimmte Unarten des Humanismus im Novum Organum. Vgl. Justus von Liebig (1852), Ueber das Studium der Naturwissenschaften. Eröffnungsrede zu seinen Vorlesungen über Experimental-Chemie im Wintersemester 1852/1853, München: Cotta, S. 12: „Die deutsche Naturphilosophie, wir sehen auf sie zurück wie auf einen abgestorbenen Baum, der das schönste Laub, die prächtigsten Blüthen aber keine Früchte trug.“ Im Übrigen gehört die – wie man heute feststellen kann: in Vielem unverdiente – Polemik gegen die ‚Naturphilosophie‘ (sprich ‚Schellingianer‘) und die „Identitätsphilosophie“ (sprich ‚Hegelianer‘) im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts fraglos zu einer der Konstanten empiristischer Wissenschaftsreflexion in Deutschland. Vgl. nur Matthias Jacob Schleiden (1844), Schelling’s und Hegel’s Verhältniss zur Naturwissenschaft, Leipzig: Engel. 41 Liebig (1852), a.a.O., S. 12.

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kundig als eigenständiges chemisches Gegenstück der „mathematischen Analyse“ in der Physik ansieht – womit er klar von der inzwischen unübersehbar gewordenen konzeptionellen und methodologischen Differenzierung der beiden Fächer Zeugnis ablegt.42 Die Tatsache, dass Liebig in diesem Zusammenhang auch betont, dass in „unsern Vorlesungen […] die studirende Jugend mit dem Alphabete“ bekannt gemacht, „in unsern Laboratorien […] de[r] Gebrauch dieser Zeichen“ erlernt und „die Fertigkeit im Lesen der Sprache der Erscheinungen, die Regeln der Combinationen, Gewandtheit und Gelegenheit, sie in Anwendung zu bringen“ erworben werde, verweist dabei zugleich auf einen weiteren Gesichtspunkt, der die Situation um 1850 unverkennbar von der um 1600 unterscheidet: Tatsächlich nämlich sind zu diesem Zeitpunkt parallel zur institutionellen Herauslösung der Naturwissenschaften aus dem Prokrustesbett von Medizinischer und Philosophischer Fakultät und zum allmählichen Umbau der Philosophischen Fakultät zu einem nicht länger bloß in erster Linie propädeutischen, sondern tatsächlich eigenständigen Fachbereich, in dessen Zentrum fortan die Geisteswissenschaften mit den Philologien als neuen Leitdisziplinen stehen werden, nicht nur bereits die ersten Philologischen Seminare als organisatorische Keimzelle einer expandierenden geisteswissenschaftlichen Forschung gegründet worden. Vielmehr beginnt sich in Form von fest eingerichteten und öffentlich geförderten Laboratorien eines bislang unbekannten Maßstabs – wie dem 1852 von Liebig gegründeten Unterrichts- und Forschungs-Laboratorium in Gießen, für dessen Einrichtung der Chemiker im Grunde schon in der zitierten Rede aus dem Jahre 1840 die Trommel gerührt hatte, und das nicht zufällig schon bald darauf zu einem auch international nachgeahmten Modell avancieren sollte – nunmehr endlich auch die (wie immer rudimentäre) Vision einer Reihe spezialisierter und jeweils der Erforschung einer spezifischen Klasse von Phänomenen gewidmeter Forschungsstätten aus New Atlantis zu erfüllen – freilich mit dem entscheidenden Unterschied, dass die schon in Bacons Utopie ansatzweise heterarchisch ausgerichtete Organisation dieser Forschungsstätten nach unterschiedlichen Objekt- oder Praxisfeldern nicht mehr länger quer zu einer nach hierarchisierend-serialisierenden Kriterien erstellten Einteilung wissenschaftlicher Ämter und Berufe steht, sondern die Etablierung des jeweiligen Gegenstandsbereichs, der jeweils praktizierten Zugriffsmodalitäten und der jeweiligen professionellen Zuständigkeitsprofile im Medium dieser neuen Institution nunmehr gleichsam Hand in Hand erfolgt. Und schließlich sind der Fortschrittsgedanke und die Verzeitlichung von Wissensproduktion vor allem in den Naturwissenschaften bereits so sehr zu einer Selbstverständlichkeit geworden, dass sie unweigerlich in die Einsicht in eine allenfalls sehr bedingte Planbarkeit zukünftiger Forschung und damit zugleich auch in die Einsicht in die Wahrscheinlichkeit der Entdeckung gänzlich neuer Forschungs42 Liebig (1840), a.a.O., S. 23. Obgleich Liebig den Gebrauch der Mathematik in der Physik für unentbehrlich hält, wehrt er sich doch gegen eine Reduktion der letzteren auf die erstere (vgl. ebd., S. 21). Insofern zeugen seine Äußerungen nicht nur von der Differenzierung zwischen Physik und Chemie, sondern auch von der Differenzierung zwischen Mathematik und Physik und dem damit verbundenen Heterarchisierungsprozess, der den Vorgang der Nebeneinanderordnung von Philosophie und Naturwissenschaften gleichsam im Kleinen wiederholt.

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gebiete und in die Notwendigkeit der Begründung eigenständiger Disziplinen zum Zwecke ihrer Erschließung münden. Das lässt sich einmal mehr an einer Äußerung Liebigs aus dem Jahre 1852 ablesen, in der dieser (in unübersehbarem Kontrast zu Bacon, für den sich mit der Abfassung von De augmentis scientiarum ungeachtet eines kaum weniger grenzenlos angelegten Naturbegriffs letztlich noch die Hoffnung verbunden hatte, die je noch in den einzelnen in sich begrenzten Wissenschaften verbliebenen Lücken aufzeigen zu können) zunächst seine Überzeugung zum Ausdruck bringt, dass die „Lücken“ in den „in fortschreitender Vervollkommnung“ begriffenen Naturwissenschaften zwar teilweise „ausgefüllt“, aber „bei der Unendlichkeit des Gebiets“ nie zum „[V]erschwinden“ gebracht werden können, um den Forschungsprozess in den Naturwissenschaften dann anschließend mit einer fortgesetzten bergsteigerischen Unternehmung zu vergleichen, die, sobald sie „auf der Spitze angelangt“ ist, stets schon „neue Berge sich erheben“ sieht, „die anfänglich dem Auge nicht sichtbar waren.“ 43 Allerdings scheint es denn – wie abschließend zu bemerken wäre – in diesem Zusammenhang zugleich auch schon Anlass zu einer ersten Differenzierung zwischen den unterschiedlichen Wissenschaftsfeldern hinsichtlich ihres spezifischen Verhältnisses zu einer temporalisierten und zukunftsorientierten Wissensgewinnung zu geben. Das kommt etwa – auch wenn es zweifellos in polemischer Absicht und zum eindeutigen Nachteil einer der beiden Vergleichsterme vorgetragen wird – klar in der bereits zitierten Werberede Liebigs für ein staatlicherseits gefördertes Laboratoriumsprogramm von 1840 zum Ausdruck, in der dieselbe alpinistische Metaphorik dazu gebraucht wird, um dem Naturwissenschaftler, der aufgrund der prinzipiellen Unbegrenztheit seines Gebietes eben „immer wieder höhere Berge zum Ersteigen vor sich“ hat, vom Geisteswissenschaftler abzuheben, der „alles, was so viele andere vor ihm geredet haben“ weiß und „in sich aufgenommen hat“ und angesichts der prinzipiellen Begrenztheit seines Gebietes bereits auf einem „Gipfel der Vollkommenheit“ steht – und somit der eine (nicht nur) hinsichtlich der Suchrichtung der Wahrheit der Vergangenheit, der andere aber der Zukunft zugeordnet wird.44

43 Liebig (1852), a.a.O., S. 23. 44 Liebig (1840), a.a.O., S. 11. Für ein annäherndes Korrelat einer solchen Zuordnung von Zeitbeziehungen zu den unterschiedlichen Wissenssphären auf geisteswissenschaftlicher Seite – und entsprechend mit umgekehrten Vorzeichen in der Bewertung – wäre beispielsweise an August Boeckhs Unterscheidung zwischen Philosophie, zu der für den Philologen auch noch die Naturwissenschaften zählen, als ‚erkennender Wissenschaft‘ und Philologie als ‚wiedererkennender Wissenschaft‘ zu denken: „[D]ie Philosophie erkennt primitiv, γιγνώσκει, die Philosophie erkennt wieder, ἀναγιγνώσκει.“ Vgl. August Boeckh (1877), Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften, hg. v. Ernst Bratuschek, Leipzig: Teubner, S. 16.

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IV. So, wie es um 1600 einen Nationalstaat und eine ausdifferenzierte Wissenschaft weder in der Realität noch in der Konzeption – oder allenfalls in ersten Ansätzen – gibt, so gibt es auch Nationalsprachen und Fachsprachen weder in der Realität noch im Konzept – oder gleichfalls höchstens in ersten Ansätzen. Keine Nationalsprachen – das heißt: Ein Ensemble an standardisierten, kodifizierten und ausgebauten Sprachvarietäten, deren weitgehend ausschließlicher Gebrauch in allen Lebenslagen und hinsichtlich aller denkbaren Kommunikationsgegenstände prinzipiell von der gesamten Bevölkerung eines Staatswesens vorausgesetzt und durch eine Reihe von Institutionen, die vom Bildungssektor bis zu den Massenmedien reichen, mehr oder weniger aktiv, intensiv und zentral gesteuert sanktioniert wird und diesseits wie jenseits der territorialen Grenzen des fraglichen Staates als notwendiges (wenn auch nicht unbedingt hinreichendes) Identifikationsmerkmal und Charakteristikum seiner Bevölkerung angesehen wird – wenn nicht gar als originärer Ausdruck eines spezifischen Nationalcharakters.45 Keine Fachsprachen – das heißt: Ein Ensemble von weitgehend standardisierten und kodifizierten Sprachvarietäten, deren Gebrauch als Teil einer zur Nationalsprache ausgebauten übergeordneten Sprachvarietät zumindest in bestimmten Formen und Medien der Kommunikation und hinsichtlich einer bestimmten Menge von Kommunikationsgegenständen im Rahmen einer wissenschaftlichen Disziplin vorausgesetzt und in mehr oder weniger aktiver, intensiver und koordinierter Form sanktioniert wird, und dies- und jenseits von (mal mehr, mal weniger durchlässigen) disziplinären Grenzen als mögliches Identifikationsmerkmal und Charakteristikum der Mitglieder einer bestimmten disziplinären Gemeinschaft angesehen wird – und zum Teil auch auf andere disziplinäre Varietäten und bestimmte Segmente der Gesamtsprache, von der sie einen Teil ausmacht, nicht mehr problemlos reduzibel ist.46 45 Vgl. als knappen Überblick zum Begriff der Nationalsprache Stephen Barbour (2004), National Language and Official Language, in: Ulrich Ammon u.a. (Hrsg.) (2004–2006), Soziolinguistik. Ein internationales Handbuch zur Wissenschaft von Sprache und Gesellschaft, 2. Aufl., 3 Bände, Berlin: de Gruyter, Bd. 1, S. 288–295 sowie ergänzend: Ulrich Ammon (2004), Funktionale Typen und Statustypen von Sprachsystemen, in: Ammon u.a (Hrsg.) (2004–2006), a.a.O., Bd. 1, S. 179–188; Ulrich Ammon (2004), Standard Variety, in: Ammon u.a (Hrsg.) (2004–2006), a.a.O., Bd. 1, S. 273–283; Harald Haarmann (2004), Abstandsprache – Ausbausprache, in: Ammon u.a (Hrsg.) (2004–2006), a.a.O., Bd. 1, S. 238–250. Auf die eine oder andere Art und Weise bezieht sich entsprechende Forschung dabei fast immer auf die klassische Monographie von Heinz Kloss (1978), Die Entwicklung neuer germanischer Kultursprachen seit 1800, 2. Aufl., Düsseldorf: Schwann, der man allerdings, was die Diktion betrifft, auch in der zweiten Auflage zuweilen noch die tausendjährige Verstrickung ihres Autors anmerkt. 46 Vgl. als knappe Diskussion des Konzepts der Fachsprache Lothar Hoffmann (2004), Fachsprache, in: Ammon u.a. (Hrsg.) (2004–2006), a.a.O., Bd. 1, S. 232–238 sowie umfassend Lothar Hoffmann, Hartwig Kalverkämper & Herbert Ernst Wiegand (1998–1999) (Hrsg.), Fachsprachen. Ein internationales Handbuch zur Fachsprachenforschung und Terminologiewissenschaft, 2 Bände, Berlin: de Gruyter. Grundsätzlich gilt allerdings, dass in der linguisti-

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Vielmehr stellt sich die Situation um 1600 wie folgt dar: Auf der einen Seite ist da zum einen eine Unzahl von enger oder weiterläufiger miteinander verwandten lokalen dialektalen Varietäten, die sich von Dorf zu Dorf und von Landstrich zu Landstrich voneinander unterscheiden und zum anderen eine Unzahl von mehr oder weniger untereinander verständlichen funktiolektalen Varietäten, die sich nach Maßgabe lokaler technologischer Gepflogenheiten und/oder dialektaler Eigentümlichkeiten von Feudum zu Feudum, Korporation zu Korporation oder Verwaltungseinheit zu Verwaltungseinheit unterscheiden.47 Auf der anderen Seite ist da die eine universelle Sprache des Wissens und des Glaubens, Latein, die zwar durchaus eine scholastische (logisch-argumentative) Spielart und eine humanistische (poetischphilologische) Spielart hat und namentlich in den höheren Fakultäten (Jura, Medizin, Theologie) im Bereich des Vokabulars einzelne Inseln einer gewissen Binnendifferenzierung aufzuweisen hat, die aber wesentlich vom Nimbus der ewigen 47 schen Fachsprachenforschung der Zusammenhang zwischen sprachlichen und epistemologischen Fragestellungen im engeren Sinne zumeist nur eine relativ untergeordnete Rolle spielt. Deshalb gilt es den Begriff der Fachsprache für das hier profilierte Erkenntnisinteresse, wie in der obigen Definition, durch allgemeinere sozio-epistemologische und ausdifferenzierungsgeschichtliche Überlegungen zu ergänzen. 47 Interessant wäre in diesem Zusammenhang ein näherer Abgleich zwischen den überraschend ähnlich tönenden Kategorien, derer sich Michel Foucault und Einar Haugen – zwei Autoren, wie man sie sich sowohl hinsichtlich ihrer epistemologischen Grundausrichtung als auch hinsichtlich ihrer jeweiligen Erkenntnisinteressen (und zugestandenermaßen auch hinsichtlich des dabei erreichten Reflexionsniveaus) unterschiedlicher kaum denken kann – respektive für den Prozess der Disziplinarisierung der Wissenschaft und für den Prozess der Herausbildung von Nationalsprachen bedient haben. So spricht Foucault etwa – zweifellos in dem von der Politisierung der 1970er Jahre getragenen Versuch, den Zusammenhang zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Ausprägungen des Wissen/Macht-Komplexes unter Aufnahme marxistischer Grundüberlegungen genauer profilieren zu können – davon, dass es im Laufe des 18. Jahrhunderts zu einem durch die Wirtschaft und insbesondere durch den Staat forcierten Prozess der Disziplinierung und Disziplinarisierung (mise en discipline) gekommen sei, der sich durch die Auswahl, die Homogenisierung bzw. Normalisierung, die klassifizierende Hierarchisierung und die Zentralisierung des bzw. der Wissen durch diese beiden Instanzen ausgezeichnet habe (vgl. Foucault (1999), a.a.O., S. 213–223). Umgekehrt identifiziert Haugen – zweifellos in der vom Planungsoptimismus der 1960er Jahre getragenen Überzeugung, dass der Staat mit Wissen fast alles (gut-)machen kann – als die entscheidenden Prozesse, die im Zuge der geschichtlichen Herausbildung von Nationalsprachen realiter abgelaufen sind bzw. im Zuge der Planung des Ausbaus einer Sprache zu einer vollgültigen Nationalsprache idealiter ablaufen sollten, die Auswahl, die Standardisierung, die funktionsspezifische Differenzierung und die mehr oder weniger zentral gesteuerte Implementierung von Sprachvarietäten (vgl. etwa Einar Haugen (1983), The Implementation of Corpus Planning: Theory and Practice, in: Juan Cobarrubias & Joshua A. Fishman (Hrsg.), Progress in Language Planning. Contributions to the Sociology of Language, Berlin: de Gruyter, S. 269–290). Wie weit dieser begriffliche Parallelismus bei der praktischen Untersuchung der Zusammenhänge zwischen nationalsprachlicher und fachsprachlicher Differenzierung (und dem Zusammenhang zwischen Nationalstaatsbildung und disziplinärer Ausdifferenzierung im Allgemeinen) tatsächlich tragen kann, muss an dieser Stelle offen bleiben. Bemerkenswert genug ist er allemal. Als Überblick über den sprachplanerischen Diskurs, zu dessen Mitbegründern Haugen zählt, vgl. darüber hinaus Helge Omdal (2006), Language Planning: Standardization, in: Ammon u.a (Hrsg.) (2004–2006), a.a.O., Bd. 3, S. 2384–2394.

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unwidersprüchlichen Einheitssprache getragen wird und insgesamt Ausdruck einer relativ homogenen Sprachpraxis ist. Zwischen diese beiden beginnt sich nun zum einen sukzessive eine langsam, aber stetig wachsende Reihe regionaler Verkehrsoder Volkssprachen, die auf einem (oder mehreren) der lokalen Dialekte fußen und sich zunächst vor allem im Dunstkreis von Handel, Verwaltung und Dichtung ausbilden, und zum anderen eine langsam, aber stetig wachsende Reihe von spezifischen Fachsprachen zu schieben, die sich zunehmend vor allem im Kontext der einzelnen Volkssprachen ausbilden, wobei sie sowohl bestimmte Elemente aus der bisher einzigen Wissenschaftssprache Latein als auch aus den lokalen Funktiolekten aufnehmen.48 Dabei kann die jeweilige territoriale Ausdehnung der Volkssprachen zwar von Anfang an näherungsweise und mehr oder minder zufällig auch mit bestimmten politisch-administrativen Grenzen koinzidieren, muss dies aber keineswegs – auch wenn ihr territoriumsweiter Gebrauch (auf Kosten der lokalen Dialekte und der universellen Sprache des Wissens gleichermaßen) seit dem 16. Jahrhundert gerade dort, wo die Entwicklung des Staatsapparates am weitesten fortgeschritten ist, auch von politischer Seite zunehmend befördert und forciert zu werden beginnt. Umgekehrt mag sich bis zu einem gewissen Grade und bis zu einem gewissen Zeitpunkt die Entwicklung der Fachsprachen noch im Rahmen der hergebrachten Fächereinteilungen in den Universitäten halten, muss dies aber keineswegs – mit der Folge, dass die volkssprachlichen Fachsprachen sich zunehmend auf Kosten der lokalen Funktiolekte wie auf Kosten der nicht zuletzt durch das Lateinische verbürgten sprachlichen Identität der Fächer entwickeln werden. Schließlich vermag die eine oder andere Volkssprache aufgrund imperialer bzw. kolonialer Expansion und politisch-kultureller Autorität den Rang einer überregionalen wenn nicht gar globalen Sprache des Imperiums, der Diplomatie und – wie zum fraglichen Zeitpunkt etwa das Französische – bis zu einem gewissen Grade auch bereits der Wissenschaften selbst einnehmen, so wie umgekehrt einzelne fachsprachliche Gegebenheiten und Verfahrensweisen einen gewissen (zuweilen zeitlich relativ begrenzten, zuweilen aber auch ziemlich nachhaltigen) überdisziplinären Charakter annehmen können, der unter Umständen zugleich auch einen überregionalen, sprachübergreifenden Gebrauch (wie etwa im Zuge der wissensfelderübergreifenden Dominanz eines mechanistischen Vokabulars oder aber wie durch die zunehmende Mathematisierung der Naturphilosophie im 17. Jahrhundert) nach sich ziehen und/oder, insoweit diese fachsprachlichen Gegebenheiten (wie etwa im Falle des Paradigmas der Literaturgeschichtsschreibung in Deutschland im 19. Jahrhundert) stärker an den Gebrauch natürlicher Sprachen gebunden bleiben, auch auf einen gewissen hegemonialen Status hinauslaufen kann, der dann natürlich wieder als Ausdruck nationaler Identität interpretier- und kritisierbar ist.

48 Das bedeutet natürlich nicht, dass es zwischen den einzelnen volkssprachlichen Varianten der Fachsprachen, ob nun auf dem Wege der Übersetzung zwischen den einzelnen Volkssprachen oder aber vermittels gemeinschaftlicher Rezeption aus lateinischen (und zunehmend) französischen Quellen, keinerlei Austausch und Abgleich stattgefunden hätte.

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Auch hinsichtlich der Frage nach dem Konzept der Nationalsprache und dem Konzept der Fachsprache lässt sich die Situation um 1600 dabei gut an Bacons Schriften ablesen. Während die lokalen Dialekte, wenig überraschend, gleichsam gänzlich unter seiner Aufmerksamkeitsschwelle liegen, ist das Konkurrenzverhältnis von Volkssprache und Latein hingegen nicht nur immer wieder Gegenstand mehr oder minder theoretischer Einlassungen Bacons geworden, sondern hat Zeit seines Lebens auch ganz praktisch das Schreib- und das Publikationsgebaren des Lordkanzlers bestimmt. Denn obwohl Bacon ein ziemlich umfangreiches (sein lateinisches Œuvre an Umfang vermutlich übertreffendes) und durchaus stilbildend gewordenes englischsprachiges Werk hinterlassen hat und sich insbesondere in der ersten Lebenshälfte bei der Wahl der Sprache wie viele seiner Zeitgenossen vor allem von pragmatischen, an den zu erwartenden Sprachkenntnissen seiner Hauptadressaten orientierten Erwägungen hat leiten lassen, fällt das Urteil über die Volkssprachen alles in allem nicht wirklich positiv aus. Davon legt nicht zuletzt die Entstehungsgeschichte von New Atlantis Zeugnis ab. Verfasst wurde der Text um 1624 zunächst auf Englisch. Obgleich Fragment geblieben, hat ihn Bacon gleichwohl, jedenfalls wenn man seinem Nachlassverwalter und erstem posthumen Herausgeber Glauben schenken darf, noch selbst ins Lateinische übersetzt – ganz getreu seinem im Zuge des ‚Unternehmens Nachruhm‘ gefassten Vorsatz, alle seine englischen Werke ins Lateinische zu übersetzen bzw. übersetzen zu lassen.49 Insgesamt stellt sich die Situation hinsichtlich des Gebrauchs von Volkssprache und Latein dabei wie folgt dar: Während Bacon die Volkssprache vor allem in der ersten Lebenshälfte und dort, wo es ihm entweder auf unmittelbare, momentane politische Wirksamkeit – wie etwa in der explizit an den König gerichteten Schrift Advancement of Learning (1605)50 und/oder dort, wo in erster Linie moralisch-politische Themen – wie in den Essays Civil and Moral (1597, erweitert 1612 und 1625)51 – verhandelt wurden, de facto benutzt hat und sich insofern den neueren Realitäten in dieser Hinsicht relativ widerspruchslos gebeugt zu haben scheint, hat sich Bacon vor allem in der zweiten Lebenshälfte und dort, wo es ihm insbesondere auf die Wissenschaft im engeren Sinne ankam, zunehmend des Lateinischen bedient und sich der fortbestehenden Realität von Latein als eigentlicher Wissenschaftssprache nicht nur gefügt, sondern diese Realität sogar explizit als Ideal hingestellt. Allerdings bedeutet die Tatsache, dass er sich der Realität des Gebrauchs der Volkssprache als politischer Sprache gebeugt hat, hingegen – wie schon die Lektüre von New Atlantis 49 Vgl. William Rawley (1857), The Life of the Right Honourable Francis Bacon, Baron of Verulam, Viscount St. Alban, in: Bacon (1857–1874), a.a.O., Bd. 1, S. 1–18, hier: S. 9f. Siehe zur Publikationsgeschichte der lateinischen Fassung von New Atlantis auch Tino Licht (2006), Zur Entstehung und Überlieferung der Nova Atlantis des Francis Bacon anläßlich ihrer Neuausgabe (Mailand 1996), in: Hermann Wiegand (Hrsg.), Strenae nataliciae. Neulateinische Studien. Wilhelm Kühlmann zum 60. Geburtstag, Heidelberg: Manutius, S. 113–126, bes. S. 117. 50 Vgl. Francis Bacon (1859c), Of the Proficience and Advancement of Learning Divine and Humane, in: Bacon (1857–1874), a.a.O., Bd. 3, S. 259–491. 51 Vgl. Francis Bacon (1858a), Essays or Counsels, Civil and Moral, in: Bacon (1857–1874), a.a.O., Bd. 6, S. 365–604.

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gezeigt hat – natürlich noch nicht, dass die Volkssprache im Sinne einer Nationalsprache für die Einheit eines politischen Körpers und die politische Zugehörigkeit bzw. Identität der Mitglieder dieses politischen Körpers eine Rolle spielen würde – vielmehr scheint sie in letzter Instanz und zumindest in New Atlantis, wie tendenziell menschliche Sprache überhaupt, denn doch mit einem gewissen Argwohn betrachtet zu werden. Umgekehrt bedeutet jedoch die Tatsache, dass er sich dem Gebrauch der Volkssprachen in der Wissenschaft zunehmend widersetzt und stattdessen für die Verwendung des Lateinischen plädiert hat, in der Tat zugleich auch, dass er eben diese Volkssprachen als eine veritable Bedrohung der Einheit und der Existenz der Wissenschaft als solcher angesehen hat – obwohl selbst das Lateinische in letzter Instanz und zumindest in New Atlantis, da ja gleichfalls immer noch irgendwie menschliche Sprache, nicht ganz einem untergründigen Verdacht entgeht. Die Tatsache, dass er die Volkssprachen in der Tat als Bedrohung der Existenz und Einheit der Wissenschaften empfindet, zeigt sich dabei zunächst einmal schon daran, dass er im Zusammenhang mit dem Plan, sein New Atlantis letztlich in eine Nova Atlantis zu verwandeln, davon spricht, dass „these modern languages will at one time or another play the bank-rowte with books“, also – beide Lesarten scheinen möglich zu sein – dass die modernen Sprachen eines Tages entweder ihren Bankrott gegenüber den Büchern (also den Wissenschaften) erklären müssen oder aber sogar die Bücher (also die Wissenschaften) in den Bankrott treiben werden.52 Die zunächst einmal ganz pragmatischen Gesichtspunkte, die er in einem ähnlichen Zusammenhang – nämlich gegenüber einem potentiellen Übersetzer von The Advancement of Learning ins Lateinische – als Begründung für seinen Wunsch, seine englischsprachigen Werke ins Lateinische übersetzt zu sehen, ins Feld führt, beziehen sich dabei vor allem auf das Argument der größeren kommunikativen Reichweite des Lateinischen gegenüber ebendiesen modernen Sprachen. So spricht Bacon im Modus affektierter Bescheidenheit davon, dass er mit seinen Werken ja nicht mehr habe bewirken wollen, als eine Glocke anzuschlagen, um andere Geister zusammenzurufen, weshalb es nur stimmig sei, wenn er sich wünsche, dass dieser Glockenschlag so weit wie möglich gehört werde, und dass seine Gedanken nichts weiter als bloße Funken darstellten, die ihre Wirksamkeit eben erst dann entfalten könnten, wenn sie auf geeignetes Brennmaterial treffen, weshalb sein Wunsch, diese Funken möchten so weit als möglich und in alle möglichen Richtungen davongetragen werden, umso gegründeter sei, weil sie dann umso leichter auf diejenigen Geister stoßen und auf sie überspringen könnten, die für ihre entflammende Wirkung empfänglich sind.53 Mit anderen Worten: Das Lateinische verfügt sowohl 52 Francis Bacon (1874), Letter to Sir Tobie Matthew, into Spain (July 1623), in: Bacon (1857–1874), a.a.O., Bd. 14, S. 429. 53 Francis Bacon (1868), Letter of Request to Dr. Playfer, to translate the Advancement of Learning into Latin (ca. 1606), in: Bacon (1857–1874), a.a.O., Bd. 10, S. 300–302: „Wherefore since I have only taken upon me to ring a bell to call other wits together, which is the meanest office, it cannot be but consonant to my desire to have that bell heard as far as can be. And since they are but sparks which can work but upon matter prepared, I have the more reason to wish that those sparks may fly abroad, that they may the better find and light upon those minds that are apt to be kindled. “

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in räumlicher wie in zeitlicher Hinsicht über eine größere Reichweite als die Volkssprachen. Denn während das Bild der angeschlagenen Glocke vor allem den Aspekt der weiträumigen Verbreitung anklingen lässt und dabei die Vorstellung der relativ instantanen Rekrutierung einer möglichst großen Zahl von zeitgenössischen Mitstreitern evoziert, die, sobald sie den Weckruf gehört haben, gleichsam nicht umhin können, in Bacons naturphilosophisches Forschungsprojekt miteinzustimmen, schwingt in der Funkenflug-Metapher darüber hinaus nicht nur die Einsicht mit, dass es einer großen Zahl von Empfängern oder Zuhörern vielleicht auch deshalb bedarf, weil eben nicht jeder – auf Anhieb und im Hier und Jetzt – für den angeschlagenen Ton in gleichem Maße empfänglich ist: Vielmehr blitzt in ihr zugleich auch die Erkenntnis auf, dass es für gewöhnlich seine Zeit dauert, bis die Dinge Feuer fangen und die Menschen für eine Sache zu brennen beginnen, und dass es folglich auch auf eine gewisse Zeitresistenz des Trägermediums ankommt – ein Gesichtspunkt, der im Übrigen auch durch Bacons im Zusammenhang mit dem Übersetzungsvorhaben von New Atlantis geäußerte Klage bekräftigt wird, er habe in seinem Leben wahrlich genügend Zeit auf das eigene Zeitalter verschwenden müssen und hoffe daher, diese Zeit wenigstens in und durch sein Nachleben wieder gut machen zu können.54 Dass das Votum für und die Einsicht in die Unverzichtbarkeit oder gar Unhintergehbarkeit des Lateinischen als Wissenschaftssprache weder bloß aus Gründen persönlicher Eitelkeit noch aus rein pragmatischen Erwägungen heraus erfolgt, und auch nicht auf einem gleichsam rein mundanen Begriff von Zeitresistenz und der Erkenntnis der Hindernisse und Beschränkungen, die die Volkssprachen der Wissenschaft in rein geographischer Hinsicht entgegensetzen, aufruht, sondern der ernsthaften theoretischen Überzeugung entspringt, dass die Volkssprachen, zumindest in gewisser Hinsicht, auf die Einheit und den Fortbestand – der freilich zugleich auch schon als Fortschritt gedacht wird – der Wissenschaft auf sehr viel essentiellere Weise bedrohen, und das Lateinische, wenigstens in gewisser Hinsicht, in einem sehr viel transzendenteren Sinne – in den sich freilich auf untergründige Weise der soeben angesprochene Fortschrittsgedanke mischt – der Zeitlichkeit überhoben ist, wird vor allem an einer Passage der Schrift Temporis partus masculus (1603) deutlich, in der Bacon die zeitgenössische epistemologische Situation und die zeitgenössische sprachliche Situation in kritischer Absicht und in Form der Analogie – der die eine Hälfte der obigen Einschränkungen geschuldet ist – explizit miteinander in Beziehung gesetzt hat. Bacon zufolge, der kurz zuvor noch einmal deutlich gemacht hatte, dass sich das Falsche durch Unterschiedlichkeit, das Wahre aber durch Einheit auszeichnet, verhalten sich die vielen unterschiedlichen Theorien und Auslegungen nämlich zu der einen und einheitlichen Natur so, wie sich die vielen unterschiedlichen Volks- und Landessprachen zu dem einen und einheitlichen Latein verhalten. Und die Wissenschaftler wiederum, die all diese unterschiedlichen Theorien erdacht und als Spektakel auf die Bühne der Öffentlichkeit gebracht haben, verhalten sich bei ihren Auslegungen der 54 Bacon (1874), a.a.O., S. 429: „[S]ince I have lost much time with this age, I would be glad if God would [sic!] give me leave to recover it with posterity.“

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Natur nicht anders als ein Mann aus dem Volke, der eine fremdsprachige Schrift auszulegen versucht, obwohl er ausschließlich die eigene Landessprache beherrscht, und zu diesem Zwecke angesichts vereinzelter Wörter, die Ausdrücken seiner eigenen Sprache in Laut- und Buchstabengestalt ähneln, nicht nur ohne Zögern und voller Zuversicht unterstellt, dass sie auch die gleiche Bedeutung aufweisen werden, sondern auf der Basis dieser Gleichsetzung auch noch den übrigen Sinn des Textes – unter größter Anstrengung, aber auch mit größter Freiheit des Geistes – erraten zu können glaubt. Denn letzten Endes tun alle diese Wissenschaftler – wie Bacon unter Bezugnahme auf seine Idolentheorie formuliert – nichts anderes, als die der eigenen Schädelhöhle entsprungenen Idiosynkrasien und ihre jeweiligen Landessprachen, wie sie sich jeweils im Marktverkehr herausgebildet haben, wie Götzen in den Bezirk der Forschung hineinzutragen, und indem sie alles, was nur von Ferne ähnlich klingt, zusammenraffen und den Rest auf der Grundlage dieser Gleichsetzung auslegen, ihre Theorien zum Theaterspektakel zu machen.55 Angesichts dieses Gleichnisses, in dem das Lateinische auf eine Stufe mit der Natur gestellt wird und in dieser Form durch die Attribute der Einheit, der Totalität, der Wahrheit, der Tiefe und der Ewigkeit ausgezeichnet wird, während die Theorien auf eine Stufe mit den Volkssprachen gestellt werden und in dieser Form mit Pluralität, Partialität, Unwahrheit, Oberflächlichkeit und Vergänglichkeit assoziiert werden, dürfte endgültig klar sein, dass – wenn es denn nun einmal in der Wissenschaft nicht auch gänzlich ohne Sprache gehen kann – für Bacon in der Tat eigentlich nur das Lateinische als die eine, einzige und selbstidentische Sprache der Wissenschaften in Frage kommen kann, weil nur sie – als Fels in der Brandung, als sturmumtoste Insel der Wahrheit im Ozean der Unwahrheiten56 – die Einheit der Wissenschaft in territorialer wie in systematischer Hinsicht garantieren kann. Und dennoch liegen die Dinge am Ende hier ebenfalls nicht so eindeutig, wie man angesichts dieses Gleichnisses vielleicht meinen könnte, und Bacons Wissenschaft erweist sich schließlich auch in sprachlicher Hinsicht als doppeldeutige Wissenschaft. Denn immer wieder schleicht sich in seine Überlegungen – und dem ist denn auch die zweite Hälfte der obigen Einschränkungen geschuldet – der Fortschrittsgedanke hinein, und führt dazu, dass die dem Lateinischen angesonnene Ewigkeit keine Ewigkeit im vollgültig transzendenten Sinne des Wortes, sondern 55 Vgl. Francis Bacon (1857c), Temporis partus masculus, in: Bacon (1857–1874), a.a.O., Bd. 3, S. 523–539, hier: S. 536: „[I]ta […] in universalibus theoriis fit. Nam veluti si quis lingua tantum vernacula uti sciens (adverte, fili, nam simile est admodum) scripturam ignoti sermonis capiat, ubi paucula quaedam verba sparsim observant suae linguae vocabulis sono et literis finitima, illa quidem statim ac fidenter ejusdem esse significationis ponit (licet ab ea saepius longissime recedant), postea ex iis invicem collatis reliquum orationis sensum multo ingenii labore, sed et multa libertate, divinat; omnino tales et isti naturae interpretes inveniuntur. Nam idola quisque sua (non jam scenae dico, sed praecipue fori et specus), veluti linguas vernaculas diversas, ad historiam afferentes, confestim quae simile aliquid sonant arripiunt; caetera ex horum symmetria interpretantur.“ 56 Nicht umsonst gehen dem fraglichen Gleichnis folgende Zeilen beinahe unmittelbar voran: „Immensum enim pelagus veritatis insulam circumluit; et supersunt adhuc novae ventorum idolorum injuriae et disjectiones“ (Bacon (1857c), a.a.O., S. 535).

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allenfalls eine quasi-transzendente Ewigkeit ist. Denn natürlich bezieht das Lateinische seine privilegierte Stellung nicht etwa daraus, dass es gleichsam von sich aus schon immer ewige Wahrheiten in sich enthält, sondern aus der Tatsache, dass es die kontinuierliche Überlieferung und Verknüpfung der sich erst allmählich und mit und in der Zeit enthüllenden ewigen Wahrheiten der Natur sicherstellt. Deshalb liegt für Bacon nicht nur kein Widerspruch darin, gleichzeitig für den Gebrauch des überkommenen und im Ruche der Ewigkeit stehenden Lateinischen und für den Gebrauch des das Signum der Vorläufigkeit geradezu offensiv zur Schau stellenden Aphorismus zu plädieren, sondern die Verbindung des einen mit dem anderen stellt für ihn – da sie vollkommen in der Konsequenz seines verabsolutierten Naturbegriffs liegt – geradezu eine Natur-Notwendigkeit dar. Denn so wie die Einheit der einen Natur in ihrer Feinheit sich eben erst allmählich enthüllt, so wird auch das Lateinische als Einheit seine entsprechende Feinheit erst ganz allmählich entwickeln – vorausgesetzt, sie bedient sich bei jedem Schritt der Aphoristik in ihrer ausgewiesenen Vorläufigkeit und verfällt nicht in die verfrühte Suggestion von Ewigkeit, wie Bacon sie in scholastischen Summen und humanistischer Antikengläubigkeit gleichermaßen verkörpert sieht. Zugleich aber kann der vereinzelte und vereinzelnde Aphorismus seine Aufgabe nur deshalb erfüllen, weil er von vorneherein in die Einheit der einen Sprache Latein eingelassen ist. Im Rückblick gesehen mutet dieses quid pro quo von Latein und Aphorismus freilich in der Tat merkwürdig an: Verbindet sich in ihm doch die konservativste sprachliche Haltung mit dem – einmal von der Aufnahme funktiolektaler Sprachstrata aus der Sphäre der mechanischen Künste und Handwerke, die bei Bacon, anders als dialektale Varietäten, in der Tat ein vermehrtes Interesse gefunden zu haben scheinen – mit dem in sprachlicher Hinsicht innovativsten und unter differenzierungsgeschichtlichem Gesichtspunkt zweifellos wirkungsmächtigsten Moment. Und bezeichnenderweise scheint man diese spezifisch Baconische Sicht der Dinge denn auch bei aller Berufung auf den Lordkanzler und das Vorbild von Solomon’s House nur einige Jahrzehnte später im Umkreis der 1660 gegründeten Royal Society of London for Improving Natural Knowledge nicht mehr wirklich teilen zu können. Tatsächlich setzt die Royal Society nämlich verstärkt auf den Gebrauch der Volkssprache, wie sich nicht zuletzt schon an der Tatsache ablesen lässt, dass die Beiträge im zentralen Publikationsorgan der Gesellschaft, die Philosophical Transactions of the Royal Society, von Anfang an in ganz überwiegendem Maße in englischer Sprache veröffentlicht wurden, und zwar gerade deshalb, weil diese dem Ideal der Bescheidenheit der Präsentation und des Ausweises der Vorläufigkeit des Ausgesagten, wie es Bacon in seinem Plädoyer für eine aphoristische Form der Darstellung in den Wissenschaften im Novum Organum gefordert hatte und wie es Robert Boyle im Kontext der Royal Society mit seinen in einem „rather clear and significant, than curiously adorned [style]“57 abgefassten experimental essays in etwas anderer – nämlich deutlich prolixerer – Form praktizieren sollte, nach Auf57 Robert Boyle (1772), A Proëmial Essay […] with some Considerations touching Experimental Essays in General, in: Robert Boyle, The Works of the Honourable Robert Boyle in six Volumes. New Edition, London: Rivington u.a., Bd. 1, S. 299–318, hier: S. 304. Zu Boyles

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fassung ihrer Begründer deutlich besser entsprechen zu können scheint, als die von Bacon so nachdrücklich begünstigte lateinische Sprache.58 Wo bei Bacon die Volkssprachen also in ihrer rein mundanen Zeitlichkeit – ihrer Wankelmütigkeit und Kurzlebigkeit – letztlich noch als gleichbedeutend mit einer permanenten alethischen Sistierung des Wissens in der Vorläufigkeit des Hier-und-Jetzt und mit der Bornierung der Entfaltungsmöglichkeiten der Wissenschaft gesehen wurden, wohingegen der Gebrauch des Lateinischen in seiner quasi-transzendenten Überzeitlichkeit als Garant einer in sich geschlossenen und gleichwohl zukunftsoffenen – und in diesem Sinne entgrenzten – Wissenschaft erschien, da wird im Umfeld der Royal Society das Lateinische nunmehr umgekehrt in seiner zunehmend nur noch als pseudo-transzendent empfundenen Überzeitlichkeit, hinter der sich in Wirklichkeit nichts als humanistische Autoritätshörigkeit und scholastische Spekulativität verbirgt, eher als ein Hindernis wahrgenommen, das der Wissenschaft den Weg in die Zukunft versperrt, während die Volkssprache aufgrund ihrer nunmehr zunehmend als erfahrungsgesättigt apostrophierten Zeitlichkeit – ihrer unvoreingenommen Flexibilität und bescheidenen Schlichtheit – in den Rang eines Garanten einer zeitlich entgrenzten und zukunftsoffenen, wenn auch zumindest vorläufig womöglich nicht gänzlich in sich geschlossenen Wissenschaft aufrückt. Und während Bacon in der territorialen Begrenztheit und Zersplitterung der Volkssprachen nicht bloß ein praktisches Hindernis wissenschaftlicher Kommunikation zu sehen, sondern geradezu das Analogon einer in sich ebenfalls zersplitterten und (dadurch) begrenzten Wissenschaft zu erkennen schien, scheint die Royal Society in der territorialen Begrenzung durch den zunehmenden Gebrauch der Volkssprachen nicht nur kein unüberwindliches Kommunikationshindernis mehr zu sehen, sondern geradezu auf das im Gebrauch der Volkssprache angelegte Potential zur Rekrutierung breiterer Bevölkerungsschichten für die (Natur-)Wissenschaften und womöglich sogar auf das in der Verfassung der Royal Society als zwar nicht unbedingt schon in struktureller, aber definitiv bereits in symbolischer Hinsicht (proto-)nationalstaatlicher Wissenschaftsinstitution angelegte identifikatorische Mobilisierungspotential zu setzen.59

58 Theorie und Praxis des experimental essay vgl.die klassische Monographie von Steven Shapin & Simon Schaffer (1985), Leviathan and the Air-Pump. Hobbes, Boyle, and the Experimental Life, Princeton: Princeton University Press, bes. S. 55–72. 58 Zur Sprachtheorie und -praxis im Umfeld der Royal Society siehe insbesondere Werner Hüllen (1989), „Their Manner of Discourse“. Nachdenken über Sprache im Umkreis der Royal Society, Tübingen: Narr, bes. S. 98–113 und S. 148–194. Für den allgemeinen sprachevaluativen Hintergrund in England zu dieser Zeit ist nach wie vor ausgesprochen hilfreich Richard Foster Jones (1953), The Triumph of the English Language. A Survey of Opinions concerning the Vernacular from the Introduction of Printing to the Restoration, London: Geoffrey Cumberledge & Oxford University Press. 59 Vgl. auch Rudolf Stichweh (2000), Globalisierung der Wissenschaft und die Rolle der Universität, in: Rudolf Stichweh, Die Weltgesellschaft. Soziologische Analysen, Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 130–145, der im höheren Rekrutierungspotential ein zentrales Motiv der Nationalisierung der Wissenschaften im Vorfeld und zu Beginn des disziplinären Ausdifferenzierungsprozesses sieht.

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Unter differenzierungsgeschichtlichen Gesichtspunkten haben die sich im Umfeld der Royal Society einspielenden Sprach- und Textpraktiken allerdings durchaus zwei Seiten: Einerseits setzt sich der experimental essay, der nunmehr in Fortsetzung der von Bacon begründeten aphoristisch-essayistischen Tradition, zugleich aber offensiv in der Volkssprache gepflegt wird, zweifellos von anderen Sprachgebräuchen ab, und kann insofern als ein erstes Zeichen beginnender Ausdifferenzierung gewertet werden – und vielleicht sogar, wie Bruno Latour im Rahmen einer eigenwilligen Re-Lektüre von Stephen Shapins und Simon Schaffers Kontrastierung der sozio-epistemo-linguistischen Praktiken Robert Boyles und Thomas Hobbes’ vorgeschlagen hat, als Zeichen der Differenzierung der Sphären von Politik und Wissenschaft überhaupt.60 Andererseits ist dieser experimental essay aber immer noch in einer Sprache geschrieben, die sich in seinem Grundvokabular überhaupt nicht und auch hinsichtlich der Terminologie vorerst nur ansatzweise von anderen, in anderen funktionalen Kontexten gebrauchten Varietäten der jeweiligen Volkssprache abhebt, und der sich vor allem hinsichtlich der Darstellungsform nur bedingt von anderen Varianten der Gattung Essay – wie sie etwa von Erasmus, Michel Montaigne oder Blaise Pascal geprägt worden ist – unterscheidet, und die sich erst allmählich – und vielleicht ein Stück weit und zum Teil entlang der Linien, die Latour für die Differenzierung zwischen einem Rechtssubjekt auf der einen und dem Wissenschaftsobjekt auf der anderen Seite als zwei Ausformungen eines zuvor weitgehend ungeschiedenen Repräsentationsbegriffs identifiziert hat61 – in eine dann als ‚subjektiv‘ und ‚objektiv‘ zu bezeichnende Form des Essays zu differenzieren beginnt.62 Diese starke Bindung der Darstellung von Naturphänomenen an die Gegebenheiten natürlicher Sprache wird freilich in Folge der Entwicklung der Grundlagen der Analysis durch Gottfried Wilhelm Leibniz und Isaac Newton eine entscheidende Modifikation erfahren – tritt damit doch gewissermaßen eine künstlich geschaffene Sprache auf den Plan, die nur noch sehr bedingt reduzibel auf die natürliche Sprache ist, und die dort, wo sie zum Einsatz kommt, den wissenschaftlichen Diskurs ein Stück weit wieder von ihrer Prägung durch die Volkssprachen abkoppelt. Indem sie die Analysis hoffähig machen, die zumindest für die Naturphilosophie im engeren Sinne – also dem, was heute als (klassische) Physik bezeichnet wird – zunehmend zu einem zentralen Ausdrucksmedium wird, tragen Newton und Leibniz zweifellos zu einem erheblichen Schub im Prozess der wissenschaftlichen Ausdifferenzierung bei. Denn die dadurch möglich werdende Entkop60 Vgl. Bruno Latour (2008), Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 25–42. 61 Latour (2008), a.a.O., S. 42. 62 Als kurze Einführungen zu Begriff und Geschichte des Essays vgl. Heinz Schlaffer (1997), (Art) Essay, in: Georg Braungart u.a. (Hrsg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, 3. Aufl., Berlin & New York, de Gruyter, S. 522–525 und Georg Stanitzek (2007), (Art.) Essay, in: Thomas Anz (Hrsg.), Handbuch Literaturwissenschaft, Stuttgart & Weimar: Metzler, Bd. 2, S. 160–166, sowie als ausführliche Darstellung Wolfgang Müller-Funk (1995), Erfahrung und Experiment. Studien zu Theorie und Geschichte des Essayismus, Berlin: Akademie-Verlag.

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pelung von der natürlichen Sprache sorgt ohne Frage für eine klarere konzeptuelle Profilierung eines bestimmten Wissensbereichs sowohl gegenüber dem allgemeinen Alltagswissen als auch gegenüber anderen wissenschaftlichen Wissensbereichen und wirkt zugleich in einer Art Re-Universalisierung der Sprachmodalitäten der sich im Zuge der einsetzenden Nationalisierung der Wissenschaftssprachen abzeichnenden Gefahr einer wachsenden sprachgeographischen Zersplitterung innerhalb dieses Wissensbereichs entgegen. Andererseits zeigt das Beispiel von Newton und Leibniz aber auch, dass sich territoriale Beschränkungen des wissenschaftlichen Diskurses selbst angesichts des universalen Anspruchs der Analysis und trotz der durch sie bewirkten zunehmenden Abkopplung naturwissenschaftlicher Sprachmodalitäten von den Fesseln natürlicher Sprache einstellen können. Und es zeigt zugleich auch, dass das sich zunehmend profilierende Konzept nationaler Identität gegen Ende des 17. Jahrhunderts allmählich auch die Sphäre wissenschaftlicher Praxis und Auseinandersetzung zu erfassen beginnt und zunehmend als Interpretationsschema für die (mehr oder weniger nachträgliche) Deutung bestimmter wissenschaftlicher Zustände oder Ereignisse herangezogen wird, wenn es diese Ereignisse oder Zustände nicht sogar schon (mehr oder weniger aktiv) mitzuprägen beginnt. Wie einig sich Newton und Leibniz bei der Entwicklung ihrer Kalküle nämlich auch immer in ihrer grundsätzlichen Überzeugung von der Überlegenheit der Mathematik gegenüber den natürlichen Sprachen und in der Zielsetzung, eine möglichst universell gültige Sprache zu schaffen, gewesen sein mögen – so zeugt doch die Geschichte der Entwicklung und Rezeption dieser Kalküle zunächst einmal eher von regionalen Differenzen statt von überregionaler Einigkeit. Denn zunächst einmal starten beide bereits von relativ unterschiedlichen Voraussetzungen. Während die Entwicklung der Analysis bei Leibniz insgesamt in relativ engem Zusammenhang mit seinem Projekt einer Universalcharakteristik und damit im Rahmen einer allumfassenden Philosophie erfolgt, die eine ähnlich herausragende Position einnimmt, wie sie Bacon der (Ersten) Philosophie als einer Naturphilosophie im engeren Sinne übergeordnete Wissenschaft in De Augmentis zumindest de iure einräumt, erfolgt die Entwicklung bei Newton eher im Kontext einer Konzeption von Naturphilosophie im engeren Sinne, wie ihr Bacon im Novum Organum zumindest de facto Vorschub leistet. Und während Leibniz von vorneherein auf einen algebraisch-symbolischen Ansatz setzt, scheint Newtons Ansatz auch nach den Principia Mathematica – in denen die Präsentation more geometrico wohl vor allem auch aus Gründen größerer wissenschaftlicher Anschlussfähigkeit gewählt wurde – noch deutlich stärker von ikonisch-geometrischen Erwägungen geprägt geblieben zu sein.63 Insofern lässt sich also, wenn auch nicht von zwei 63 Die zeichentheoretischen Implikationen von Leibniz Kalkül behandelt ausführlich Sybille Krämer (1991), Berechenbare Vernunft. Kalkül und Rationalismus im 17. Jahrhundert, Berlin & New York: de Gruyter, bes. S. 220–371. Zur geometrischen Prägung von Newtons Fluxionenkalkül vor dem Hintergrund seiner Faszination für die prisca geometria der Alten siehe Niccolò Guicciardini (1999), Reading the Principia. The Debate on Newton’s Mathematical Methods for Natural Philosophy from 1687 to 1736, Cambridge/UK: Cambridge University Press, S. 99–117.

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gänzlich unterschiedlichen mathematischen Sprachen, so doch wenigstens von zwei unterschiedlichen mathematischen Dialekten sprechen, von denen vorderhand nicht wirklich klar gewesen sein dürfte, ob sie in letzter Instanz tatsächlich aufeinander reduzibel sein würden – auch wenn sowohl Newton und Leibniz als auch die meisten ihrer Zeitgenossen dies wohl angenommen haben, und man heute im Allgemeinen von ihre grundsätzlichen mathematischen Äquivalenz auszugehen scheint.64 Und tatsächlich zeigt die weitere Entwicklung, dass sich im Anschluss an diese beiden unterschiedlichen Ausprägungen der Analysis auch zwei unterschiedliche regionale Wissenschaftskulturen in der Mathematik ausgebildet haben, und man sich in der Folge auf den Inseln des fluxionentheoretischen Ausdrucksmodus in Tradition Newtons, auf dem Kontinent hingegen des infinitesimaltheoretischen Ausdrucksmodus in der Tradition von Leibniz befleißigt hat – weshalb es denn auch bis weit ins 19. Jahrhundert immer wieder zu erheblichen Verständigungsschwierigkeiten zwischen Mathematikern diesseits und jenseits des Ärmelkanals gekommen ist, die im Grunde erst im Zuge der Axiomatisierung der Mathematik, und damit im Zuge eines jener Schritte, der ultimativ in die disziplinäre Trennung von Mathematik und Naturwissenschaften münden sollte, wieder verschwunden sind.65 Über die Tatsache hinaus, dass sich selbst unter der Ägide sprachlicher Entwicklungen, die im Dienste einer Universalisierung stehen, die dem Junktim von Disziplinarisierung und Nationalisierung der Wissenschaften und damit einer potentiellen regionalen Zersplitterung eigentlich entgegenwirken müsste, tatsächlich regional unterschiedliche Wissenschaftskulturen ausbilden können, zeigt das Beispiel von Newton und Leibniz zugleich auch, dass an der Wende zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert das Motiv nationaler Zugehörigkeit bereits eine Rolle in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung zu spielen beginnt: Scheint es doch in dem berühmten Prioritätsstreit zwischen Newton und Leibniz eben nicht nur um eine rein persönliche Auseinandersetzung zwischen den beiden Kontrahenten sondern für die jeweiligen scientific communities in England und Deutschland wenigstens ansatzweise auch um so etwas wie die Frage nationaler Ehre gegangen zu sein – so dass es Newton, der zu diesem Zeitpunkt bereits einige Jahre lang ihr Präsident gewesen war, angesichts dieses Hintergrunds um so leichter gefallen sein dürfte, die Royal Society als proto-nationale Wissenschaftsinstitution in den Dienst seiner Sache zu stellen, die ihm 1712 denn auch bedenkenlos die Priorität der Erfindung bescheinigt hat.66

64 Vgl. Guicciardini (1999), a.a.O., S. 250–260. 65 Vgl. Joan Richards (1991), Rigor and Clarity: Foundations of Mathematics in France and England, 1800–1840, in: Science in Context, 4:1, S. 297–319. 66 Vgl. zum Prioritätsstreit ausführlich Alfred Rupert Hall (1980), Philosophers at War. The Quarrel between Newton and Leibniz, Cambridge/UK: Cambridge University Press. Allerdings spielt in Halls Monographie die Frage nationalen Ruhms nur am Rande eine Rolle. Dass sie die Auseinandersetzung gleichwohl tatsächlich mitgeprägt hat, sei hier daher zumindest anhand von zwei Zitaten belegt. So beklagt sich etwa John Wallis in einem Brief an Newton vom 10. April 1695, nachdem er festgestellt hat, dass „your Notions (of Fluxions) pass there

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Grundsätzlich wird man davon ausgehen können, dass sich die Tendenz, dass wissenschaftliche Auseinandersetzungen – und zwar durchaus auch im Bereich der sich zunehmend sprachlich und konzeptuell konsolidierenden und zugleich sukzessive binnendifferenzierenden Naturwissenschaften – strukturell von unterschiedlichen Wissenschaftskulturen und -traditionen geprägt werden, die sich entlang der zusehends schärfer gezogenen (proto-)nationalsprachlichen Grenzen auszubilden beginnen, ebenso wie die Neigung, wissenschaftliche Probleme und Fragestellungen des wissenschaftlichen Sprachgebrauchs unter dem Gesichtspunkt (proto-)nationaler Identität zu verhandeln bzw. für die symbolische Schärfung dieser Identität fruchtbar zu machen, im Verlaufe der folgenden anderthalb Jahrhunderte eher noch verstärken werden. Das lässt sich besonders deutlich am Prozess der europäischen Rezeption der von Antoine Laurent de Lavoisier und einer Reihe von französischen Mitstreitern ausgearbeiteten neuen chemischen Nomenklatur gegen Ende des 18. Jahrhunderts ablesen.67 Denn auch wenn sich seit Mitte des Jahrhunderts – nicht zuletzt im Zeichen des Versuchs, der nach wie vor stark von handwerklicher bzw. apothekarischer Praxis und/oder von einem nicht wirklich vorteilhaften alchemistischen Image geprägten Chemie überhaupt erst wissenschaftliche Dignität zu verleihen – in den sich allmählich herausbildenden chemischen scientific communities durchgängig ein Unbehagen angesichts der uneinheitlichen – regional wie praxisspezifisch variierenden – chemischen Terminologie und Benennungspraxis breit gemacht hatte und ihre Vereinheitlichung im Prinzip in ganz Europa als dringendes Desiderat empfunden wurde, so trat man der von Lavoisier und seinem Kreis propagierten Reform der Nomenklatur gleichwohl vielerorts, insbesondere auch außerhalb Frankreichs, mit erheblicher Skepsis entgegen – und zwar vor allem deshalb, weil sich einfach nicht übersehen ließ, dass sie nicht bloß im Dienste einer theorieneutralen Vereinheitlichung von Benennungen für chemische Stoffe stand, sondern zugleich auch das Ziel verfolgte, unter der Hand die neue Verbrennungstheorie Lavoisiers – der zufolge bei der ‚Verbrennung‘ oder ‚Verkalkung‘ von Stof67 [in Holland], with great Applause by the Name of Leibnitz’s Calculus Differentialis“ bei Newton: „You are not so kind to your Reputation (and that of the Nation) as you might be, when you let things of worth lye by you so long, till others carry away the Reputation that is due to you.“ (zitiert nach: Isaac Newton (1715), An Account of the Book entituled Commercium Epistolicum Collinii et aliorum, de Analysi promota, in: Philosophical Transactions of the Royal Society of London, 342, S. 173–225, hier: S. 199f.). Und in dem Entwurf eines Briefes an Thomas Burnett aus dem gleichen Jahr kommentiert Leibniz Wallis Agitieren für die Priorität Newtons wie folgt: „Je suis fort satisfait de M. Newton, mais non pas tant de M. Wallis, qui me traite un peu froidement dans ses dernieres œuvres latines par une plaisante affectation de tout attribuer à sa nation, sed sibi plaudit ipse domi.“ (Gottfried Wilhelm Leibniz (1887), Brief an Thomas Burnett vom 22. November 1695, in: Gottfried Wilhelm Leibniz (1875–1890), Die philosophischen Schriften, hg. v. Karl Immanuel Gerhardt, Berlin: Weidmann, S. 171–174). 67 Vgl. Bernard Louis Guyton de Morveau, Antoine Laurent de Lavoisier, Claude-Louis Berthollet & Antoine François de Fourcroy (Hrsg.) (1787), Méthode de Nomenclature Chimique, proposée par MM. de Morveau, Lavoisier, Berthollet & de Fourcroy. On y a joint un nouveau Systême de Caractères Chimiques, adaptés à cette Nomenclature par MM. Hassenfratz & Adet, Paris: Cuchet.

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fen eben nicht, wie das bislang herrschende Paradigma es vorsah, Brennstoff (phlogiston) aus diesen freigesetzt, sondern vielmehr Sauerstoff (oxygène) an diese gebunden wurde – zur gängigen Münze gemacht werden sollte.68 Und in der Tat war die Existenz des Sauerstoffes in der neuen, ihre Namen nach dem Kriterium der chemischen Zusammensetzung von Stoffen vergebenden Nomenklatur nicht nur vorausgesetzt, sondern ihrer Systematik von Anfang an unhintergehbar einbeschrieben, umgekehrt aber jeder Verweis auf die mögliche Existenz einer Substanz namens Phlogiston vollständig getilgt. Angesichts der mit der Einführung der neuen Nomenklatur verbundenen Theorieentscheidung hat man sich denn auch beispielsweise auf den britischen Inseln und in den deutschen Ländern zunächst ziemlich deutlich gegen eine Übernahme der Reformvorschläge aus Frankreich ausgesprochen und stattdessen für eine zwar vereinheitlichte, aber hinsichtlich der Bezeichnung von konkreten Eigenschaften bzw. der Zusammensetzung von Stoffen arbiträren Benennung plädiert.69 Während dieses mal mehr und mal weniger explizit als sprachtheoretische Reflexion vorgetragene Argument auf den Inseln allerdings – möglicherweise aus Gründen, die auch mit Bacon, der Royal Society und der von ihnen begründeten bzw. assoziierten aphoristisch-experimentalessayistischen Tradition und insofern vor allem mit strukturellen Effekten der zunehmenden Nationalisierung der Forschungskontexte zusammenhängen dürften – durchaus auch von Wissenschaftlern vorgebracht wurde, die der Sauerstofftheorie als solcher gar nicht einmal unbedingt ablehnend gegenüberstanden, die theoriepräjudizierenden Benennungen der Lavoisierschen Nomenklatur aber gleichwohl für ein Element hielten, das dem Gang und der Philosophie empirischer Forschung gefähr-

68 Im Gesamtzusammenhang wurde diese Auffassung erstmalig vorgetragen in Antoine Laurent de Lavoisier (1789), Traité Élémentaire de Chimie, présenté dans un Ordre Nouveau et d’après les Découvertes Modernes, 2 Bände, Paris: Cuchet. 69 Für einen Überblick über die Rezeption der Sauerstofftheorie in Europa siehe grundsätzlich den Sammelband von Bernadette Bensaude-Vincent & Ferdinando Abbri (Hrsg.) (1995), Lavoisier in European Context. Negotiating a New Language for Chemistry, Canton/Mass.: Science History Publications. Besonders klar auf den Punkt gebracht hat diese arbitraristische Grundhaltung Georg Christoph Lichtenberg in der von ihm herausgegebenen sechsten Auflage von Johann Polycarp Erxlebens Anfangsgründen der Naturlehre im Jahre 1794: „Im Vortrage hätte die Hypothese immer Statt finden können, Hypothesen zu machen und sie als Stimme der Welt vorzulegen darf niemand gewehrt seyn, sie gehören dem Verfasser, aber die Sprache gehört der Nation und mit dieser darf man nicht umspringen wie man will. Die Gründe diese zu ändern müssen sehr triftig seyn und eine neue Hypothese ist nie eine triftige Ursache, wie die Geschichte der Physik hinlänglich lehrt. Finden solche Wörter Eingang so vergißt man bald was sie sagen sollen, und denkt nur an die Sache, die sie bezeichnen, nach ihrem ganzen Umfang, und dieses ist die glücklichste, wenigstens die unschädlichste Periode solcher Benennungen.“ Vgl. Georg Christoph Lichtenberg (2005), Vorlesungen zur Naturlehre. Lichtenbergs annotiertes Handexemplar der vierten Auflage von Johann Polykarp Erxleben: ‚Anfangsgründe der Naturlehre‘, hg. von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Göttingen: Wallstein, S. 903f. Vgl. dazu auch Alfred Nordmann (2005), The Passion for Truth. Lavoisier’s and Lichtenberg’s Enlightenments, in: Marco Beretta (Hrsg.), Lavoisier in Perspective. Proceedings of the International Symposium, München: Deutsches Museum, S. 109–128.

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lich werden könnte,70 scheint die Diskussion im deutschsprachigen Raum hingegen in diesem Falle von Anfang an sehr viel stärker (auch) vom symbolischen Problem nationaler Identität getragen gewesen zu sein: Rechnete man sich doch die von Georg Ernst Stahl (im Anschluss an Vorarbeiten Johann Joachim Bechers) in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts entwickelte (und übrigens bezeichnenderweise noch überwiegend in lateinischer Sprache publizierte) Phlogistontheorie gleichsam als nationale Errungenschaft zu und tat sich deshalb besonders schwer, sich mit der neuen chemischen Theorie – die denn, abweichend vom Sprachgebrauch in anderen Sprachen, zunächst auch nicht als ‚Sauerstoffchemie‘, sondern explizit als ‚antiphlogistische Chemie‘ und/oder ‚französische Chemie‘ (will sagen: ‚nicht-deutsche‘ Chemie, wenn nicht sogar zuweilen ‚un-‘ oder ‚antideutsche Chemie‘) bezeichnet wurde – und mit der an ihr orientierten Nomenklatur anzufreunden. Und so nimmt es angesichts der Tatsache, dass eine Widerlegung der Phlogistontheorie tendenziell das nationale Ehrgefühl zu beschädigen drohte und eine Bekehrung zur Sauerstofftheorie Gefahr lief, zumindest hinter vorgehaltener Hand als eine Art Verrat am nationalen Wissenschaftserbe gewertet zu werden, auch nicht Wunder, wenn die Auseinandersetzung mit der neuen Nomenklatur spätestens seit der Französischen Revolution und insbesondere der terreur nicht nur von wiederkehrenden nationalen Stereotypen durchsetzt ist,71 sondern, wie sich zeigen ließe, teilweise auch unter Zuhilfenahme unverhüllt politischer Kategorien – etwa (relativ explizit) auf Zentralismus angelegtes, aber letztlich ins Chaos führendes demagogisch-diktatorisches Wissenschaftsregime drüben und (eher implizit) wohlgeordnetes und auf beständigen Interessenausgleich zwischen unterschiedlichen Ständen und Herrschaftsgebieten bedachtes, aber leider am Ende doch nicht wirklich einiges Wissenschaftsregime nach dem Muster des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation hüben – geführt wird.72 70 Für die Debatte in England vgl. David Knight (1995), Crossing the Channel with the New Language, in: Bensaude-Vincent & Abbri (Hrsg.) (1995), a.a.O., S. 143–154 sowie insbesondere John G. McEvoy (1995), Priestley responds to Lavoisier’s Nomenclature. Language, Liberty, and Chemistry in English Enlightenment, in: Bensaude-Vincent & Abbri (Hrsg.) (1995), a.a.O., S. 123–142. 71 Hilfreich für die Rekonstruktion der Diskussionslage in Deutschland, gerade auch im Hinblick auf die eminente Rolle nationaler Stereotypen in ihr, ist nach wie vor die materialreiche Studie von Hellmut Vopel (1972), Die Auseinandersetzung mit dem chemischen System Lavoisiers in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts, Leipzig: Dissertation, bes. S. 217–235. Mit der wie immer deutlich reflektierteren, von patriotischen Affekten aber gleichwohl nicht freien Position Lichtenbergs befasst sich Geoffrey Winthrop-Young (1997), Terminology and Terror. Lichtenberg, Lavoisier and the Revolution of Signs in France and in Chemistry, in: Recherches sémiotiques. Revue officielle de l’Association Canadienne de Sémiotique, 17, S. 19–39. 72 Vgl. für einige vorläufige Hinweise auf eine entsprechende Lesart des Rezeptionsprozesses in Deutschland Daniel Ulbrich (2008), Übersetzungen des Gehalts – Übertragungen der Benennung. Zur Rekonstruktion des Problematisierungsniveaus naturwissenschaftlichen Übersetzens um 1800, in: Jahrbuch für europäische Wissenschaftskultur, 4, S. 161–181, bes. S. 172–177. Die politischen Implikationen des fraglichen Paradigmenwechsels in Frankreich selbst finden sich in sehr differenzierter und überzeugender Form und unter beständigem Einbezug sprachtheoriegeschichtlicher Überlegungen dargestellt bei Jessica Riskin (1998), Rival Idioms for a Revolutionized Science and a Republican Citizenry, in: Isis, 98, S. 203–232.

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Tatsächlich scheint also die Ausdifferenzierung dessen, was man – in Deutschland – spätestens im 19. Jahrhundert als Naturwissenschaften bezeichnen wird, ab 1600 mit einer zunehmenden Abkopplung von der einen Wissenschaftssprache Latein einzusetzen und in den folgenden zweieinhalb Jahrhunderten parallel zur Entstehung moderner Staatlichkeit und zur Profilierung des Konzepts der nationalen Identität insbesondere – wenn auch nicht ausschließlich – im Medium der sich entwickelnden Nationalsprachen Fahrt aufzunehmen und dabei im Zuge ihrer im engeren Sinne fachsprachlichen Differenzierung zuweilen nicht nur selbst dort, wo sie sich selbst schon wieder mehr oder weniger stark von den Begrenzungen natürlicher Sprache im Allgemeinen und den Partikularismen der werdenden Nationalsprachen im Besonderen abzukoppeln versucht, gleichsam ‚unverschuldet‘ in die strukturellen Strudel nationalsprachlicher Differenzierung zu geraten, sondern diese zum Teil geradezu ‚absichtsvoll‘ in den Dienst der sich selbst erst allmählich etablierenden national-symbolpolitischen Bedürfnisse zu stellen. Einen grundsätzlich ähnlichen Weg wird, wenn auch rund ein Jahrhundert später und wenngleich im Einzelnen teilweise mit anderen oder geradezu umgekehrten Vorzeichen, die Ausdifferenzierung dessen nehmen, was man – in Deutschland – spätestens im 20. Jahrhundert als Geisteswissenschaften bezeichnen wird: Auch sie setzt mit einer Emanzipation vom Lateinischen ein, und auch sie erfolgt parallel zur Entwicklung des modernen Staatswesens und – wenn auch mit gewissen Abstechern und Umwegen über zwei andere alte Sprachen, das Griechische und das Hebräische – vor allem im Medium der sich entwickelnden Nationalsprachen. Allerdings erfolgt die fachsprachliche Entwicklung der künftigen Geisteswissenschaften, wie abschließend zu zeigen sein wird, eben nicht bloß in ihrem Medium, vielmehr befördert sie selbst – und zwar nicht nur nebenbei, sondern vor allem zu Beginn sozusagen als eine ihrer Hauptaufgaben – die Entwicklung des Konzepts und die reale Entstehung der Nationalsprachen geradezu proaktiv, und ebenso wenig geht ihre fachsprachliche Differenzierung nicht einfach nur mit der Profilierung des Konzepts nationaler Identität einher, sondern gibt diesem in gewisser Hinsicht überhaupt erst den letzten Schliff und liefert seinen konkreten Ausprägungen – und zwar ebenfalls nicht bloß en passant, sondern über weite Strecken, und zwar auch deutlich über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus, im Sinne einer ihrer wichtigsten Leistungen – einen alles andere als unerheblichen Anteil an möglichen inhaltlichen Füllungen. Insofern gerät sie denn auch nicht nur nicht mehr oder weniger ‚unverschuldet‘ in den strukturellen Strudel nationalsprachlicher Differenzierung, sondern trägt zum Teil beinahe schon ‚absichtsvoll‘ zu seiner Erhaltung und der Beförderung seines symbolischen Potentials bei. Ein instruktives Beispiel, in dem sich die wichtigsten Aspekte des skizzierten Prozesses gewissermaßen bereits in nuce abzuzeichnen beginnen, stellt in diesem Zusammenhang das Werk Johann Gottfried Herders dar. So konstatiert Herder – in Wendungen, die in der Tat zunächst einmal in Vielem an Bacon und seine Nachfolger im Umkreis der Royal Society erinnern – in seinen Fragmenten über die neuere deutsche Literatur im Jahre 1767 nicht nur, dass die „Mundart“ der „besten Schriftsteller“ bis in die unmittelbare Gegenwart hinein „entweder römisch oder akademisch Latein“ geblieben sei, sondern vertritt zugleich die Auffassung, dass „die

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lateinische Sprache die unsrige“ nicht nur deshalb „zurückgehalten“ habe, weil man „bei den gelehrten Zänkereien, die mit zum herrschenden Ton des Ganzen gehören“ nach wie vor „teils der scholastischen Handwerkssprache, teils der schönen lateinischen Sprache nötig hatte“, sondern auch, weil angesichts eines Heers von „schlechte[n] und dumme[n] Nachahmern“ antiker Vorbilder auf der einen und angesichts des großen Einflusses der „Wolfischen Kunstausdrücke[.]“ auf der anderen Seite die deutsche Sprache als solche „viel zu lateinisch behandelt“ worden und daher am Ende „wässericht und, […] wieder zu sehr nach lateinischem Leisten“ geworden sei.73 Er führt also, mit anderen Worten, die von ihm konstatierte Armut der deutschen Sprache auf eine mechanische Nachahmung der Alten in der Poesie – an deren Stelle er eine gleichsam originelle (dem Ausdruck eigener Individualität dienende) bzw. dem Genius der eigenen Sprache (und damit dem Ausdruck der Identität des eigenen Volkes) entsprechende Art der Nachahmung gesetzt sehen möchte – und auf eine ausschließliche Ausrichtung auf sachlich-logische Richtigkeit in der Philosophie – der er in Poesie wie Philosophie einen sich auch für den Ausdruck sinnlich-affektiver Aspekte öffnenden Sprachgebrauch entgegensetzt – zurück und assoziiert sie, indem er beide gemeinschaftlich als durch das Lateinische geprägte Schreib- und Darstellungspraktiken identifiziert, metonymisch mit der lateinischen Sprache überhaupt. Ohne Frage nämlich kann für Herder – allgemeiner gesprochen – ohne eine solche Öffnung auf die affektiven Sprachdimensionen hin weder die Poesie, die Herder mit einer Reihe von Zeitgenossen nicht mehr bloß als ausgeschmückte Fassung von prinzipiell philosophisch einholbarem Wissen zu denken beginnt, noch die Philosophie, die Herder als einer der Ersten geschichtlich zu denken versucht, prosperieren. Dabei zeugt sein Diskurs mit dieser Haltung von zwei miteinander verknüpften Entwicklungen, die für den take off der Ausdifferenzierung der späteren Geisteswissenschaften entscheidend sein werden und sich respektive auf ihre fachsprachliche Differenzierung und ihren Zusammenhang mit dem Prozess der Herausbildung der Nationalsprachen beziehen. Ja, mehr noch: Bei genauerer Betrachtung legt Herders Diskurs von diesen Prozessen nämlich nicht nur Zeugnis ab, sondern befördert sie natürlich zugleich auch. So verweist – um mit dem Prozess der fachsprachlichen Differenzierung als solchem zu beginnen – die von Herder kritisierte Praxis mechanischer Nachahmung ohne Zweifel auf die typischen Schreib- und Lesemodalitäten der Gelehrtenrepublik, in der – zumal in dem poetische und philologische Kompetenzen gleichermaßen umfassenden Feld, das sich weder im engeren Sinn der Sphäre der Philosophie noch dem Bereich der nachmaligen Naturwissenschaften zurechnen lässt, und das nicht ohne Grund noch bis ins späte 18. Jahrhundert hinein auch als ‚Schöne Wissenschaften‘ bezeichnet werden sollte – die Lektüre von Texten in erster Linie darauf angelegt war, sofort wieder in Schreiben zu münden, sei es im Sinne einer imitatio auctorum oder sei es im Sinne exzerpierend-kommentierender Techniken, so dass (sieht man einmal von Grenzfällen wie der protestantischen Bibellektüre 73 Johann Gottfried Herder (1985), Fragmente über die neuere deutsche Literatur, in: Johann Gottfried Herder (1985ff.), Werke in zehn Bänden, hg. v. Martin Bollacher u.a., Frankfurt/ Main: Deutscher Klassiker-Verlag, Bd. 1, S. 161–540, hier: S. 382ff.

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und der Lektüre von Kalendern und Almanachen ab) der Textrezipient selbst stets auch ein Textproduzent war. Aus einer Reihe von Gründen, zu der in struktureller Hinsicht zweifellos eine wachsende Produktion von Texten in den Volkssprachen, eine intensivere Beschulung mit dem Effekt höherer Alphabetisierungsraten und die (selbst wiederum mit diesen beiden Faktoren in Zusammenhang stehende) zunehmende Verbreitung und Legitimierung kursorischer Lektüregewohnheiten zählen, verwandelt sich diese Konstellation einer grundsätzlichen Identität von Textproduzent und Textrezipient im Verlaufe des 18. Jahrhunderts dergestalt, dass die Sphären der Textproduzentenschaft und der Textrezipientenschaft zusehends auseinandertreten und eine zunehmend wachsende Zahl von Nur-Textrezipienten einer vergleichsweise geringen Zahl von spezialisierten Textproduzenten gegenübersteht, deren Tätigkeit (etwa im Geniediskurs) und deren Produkte (als Erzeugnisse, die sich nicht mehr länger prinzipiell als erlernbar geltenden rhetorischen Techniken zu verdanken scheinen und sich auch nicht mehr ausschließlich in den Dienst der bloßen Veranschaulichung von durch die Philosophie bereitgestellten und daher als verbürgt geltenden Begriffen stellen, sondern sich zusehends als innerster und individuellster Ausdruck der individuellen psychischen Dispositionen und Entwicklungsgänge eines Individuums oder einer Gruppe verstanden wissen wollen) zusehends emphatisch aufgeladen werden. Tatsächlich scheint sich Literatur im modernen emphatischen Sinne des Wortes also erst im Zuge dieser strukturellen Umstellungen, von denen Herders Reflexionen zur Nachahmung gleichermaßen zeugen, wie sie ihnen Vorschub leisten, als eigenständige Praxis von Schriftstellern (in der modernen Bedeutung des Wortes) und als spezifisches Objekt von Lesern (gleichfalls in der modernen Bedeutung des Wortes) zu etablieren. In dem Maße allerdings, wie diese Literatur im emphatischen Sinne weder länger in den Horizont von (wenigstens in der res publica literaria) allgemein zugänglichen und bekannten rhetorischen Regularitäten gestellt ist, noch sich als bloße Veranschaulichung in den Grenzen (wenigstens der Theorie nach allen Menschen einsichtiger) allgemeingültiger philosophischer Begriffe hält, sondern ihren eigentlichen Referenzpunkt in der Individualität einer Person oder Gruppe findet, verwandelt sie sich angesichts dieses Verlustes an Selbstverständlichkeit zugleich in ein tendenziell opakes und potentiell alteritäres Objekt, durch das die Leerstelle eines spezialisierten vermittelnden Diskurses mitsamt einer eigenen Beschreibungssprache und eigenen Darstellungsmodalitäten eröffnet wird – mit der Folge, dass diese neue Literatur im emphatischen Sinne des Wortes, die im Begriff ist, sich als eigenständiger Modus des Sprachgebrauchs zu etablieren und zum Objekt einer öffentlichen Leserschaft zu werden, sich zugleich auch als potentieller Gegenstand einer künftigen eigenständigen Disziplin von der Literatur abzuzeichnen beginnt. 74 Und in der Tat lässt sich Vieles in Herders Werken denn auch als wichtiger Schritt auf dem Weg zur Etablierung der Literatur als Objekt einer Wissenschaft und als 74 Diese Darstellung des Prozesses des Auseinandertretens der Sphären von Textproduzentenschaft und Textrezipientenschaft und des sich im Zuge dessen konstituierenden Objekts ‚Literatur‘ folgt im Wesentlichen der Analyse von Klaus Weimar (2002), Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, München: Fink, bes. S. 107–148.

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Versuch, die ihr entsprechenden Darstellungsformen zu entwickeln, verstehen. Das betrifft schon die Fragmente über die neuere deutsche Literatur selbst, die zweifellos eines von vielen Beispielen aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert für eine deutende Auseinandersetzung mit jeweils einzelnen literarischen Texten darstellen, es gilt aber ganz besonders für die Briefe zu Beförderung der Humanität (1793–1797), die als einer der prononciertesten Versuche in diesem Zeitraum gelten können, ein Gesamtkorpus von literarischen Texten in einen umfassenderen Horizont – der in diesem Fall der einer Geschichte der Menschheit sein wird – einzubetten.75 Diese Anregungen werden dann in der Folge – trotz einer Reihe von (zum Teil in äußerst polemischer Form vorgetragenen) Vorbehalten, die sich insbesondere gegen das (als den Eigenwert poetischer Sprache immer noch nicht hinreichend berücksichtigend empfundene) Konzept der Menschheitsgeschichte richten – prominent von Friedrich Schlegel und August Wilhelm Schlegel aufgenommen werden und einerseits in das von ihnen besonders scharf profilierte Genre der literaturkritischen Charakteristik und andererseits, und wichtiger noch, in ihre nachhaltigste Erfindung, nämlich das Modell der Literaturgeschichtsschreibung, einfließen, das als eigenständiger Darstellungsmodus einer Wissenschaft von der Literatur ab der Mitte des 19. Jahrhunderts in Form der Einrichtung von neugermanistischen Lehrstühlen für Literaturgeschichte schließlich konsequenterweise auch zum Nukleus eines Disziplinbildungsprozesses im engeren institutionengeschichtlichen Sinne des Wortes werden wird76 – wobei ein entscheidender Schritt, der durch das Modell der Literaturgeschichtsschreibung als zentralem Katalysator fachsprachlicher Differenzierung vollzogen wird, nicht zuletzt darin liegt, dass durch sie die Sphäre des Objekts Literatur auch physisch vollständig von dem wissenschaftlichen Diskurs über dieses Objekt abgekoppelt wird, und damit die letzten Reste einer an die Schreibpraktiken der Gelehrtenrepublik gemahnenden Praxis des fortlaufenden und jeweils in situ über gegebenenfalls auftretende Verständnisschwierigkeiten hinweghelfenden, fundamentale hermeneutische Differenzen zwischen Autor und Leser bzw. Ausgangs- und Zielkultur damit aber auch tendenziell einebnenden Kommentars – wie ihn etwa Christoph Martin Wieland einige Jahre zuvor geradezu noch zu einer eigenen literarischen Kunstform ausbauen konnte – aufs Augenfälligste beseitigt werden. Gleichwohl bleibt das Verhältnis zwischen der Sprache der Wissenschaft von der Literatur und der Sprache der Literatur als ihrem Gegenstand auch nach Etablierung des Modells der Literaturgeschichte um 1800, und genaugenommen bis heute, ein problematisches oder, positiv gewendet, ein dialektisches – wird von der Wissenschaft von der Literatur doch einerseits erwartet, die Nähe zu 75 Vgl. Johann Gottfried Herder (1991), Briefe zu Beförderung der Humanität, in: Herder (1985ff.), a.a.O., Bd. 7. Vgl. daneben auch die Einlassungen in Johann Gottfried Herder (1989), Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, in: Herder (1985ff.), a.a.O., Bd. 6, bes. S. 854–871. 76 Vgl. zur Erfindung des Modells Literaturgeschichtsschreibung durch die Schlegel-Brüder erneut Weimar (2002), a.a.O., bes. S. 257–348. Der weiteren Entwicklung dieser Institution geht eingehend nach Jürgen Fohrmann (1989), Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte. Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus und Deutschem Kaiserreich, Stuttgart: Metzler.

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ihrem Gegenstand nicht nur durch einen begrifflich richtigen Diskurs, sondern zugleich auch durch eine Darstellungsweise zu demonstrieren, die diesem ästhetisch angemessen ist und dessen je individuellen, stets aber die Grenzen des rein Begrifflichen überschreitenden Sprachgebrauch gerade insofern ernst nimmt, als sie ihn bis zu einem gewissen Grade in ihrem eigenen Diskurs reflektiert (ein Zugriffsmodus, dessen sich die Schlegels beispielsweise vor allem in ihren Charakteristiken und Kritiken im Athenaeum bedient haben), während sie andererseits ihre vermittelnde Rolle eigentlich nur dann erfüllen kann, wenn sie die spezifischen Eigenheiten ihrer jeweiligen Gegenstände wieder in einer Bewegung sprachlicher Abstandnahme in allgemeinere Begriffe überführt (eine Praxis, die bei den Schlegels letztlich in ihren literaturhistorischen Darstellungen die Oberhand gewonnen zu haben scheint). Und ein ähnlich problematisches oder, wiederum positiv gewendet, dialektisches Verhältnis zeichnet sich schließlich – und damit sei abschließend zum zweiten Aspekt der Entwicklungen übergegangen, von denen Herders Diskurs gleichermaßen ein Symptom wie eine Ursache darstellt – hinsichtlich der Beziehung ab, die die Sprachmodalitäten der sich entwickelnden Wissenschaft von der Literatur zu den Konzepten der Nationalität und der Nationalsprache unterhalten. Denn ohne Frage stehen Herders Bemühungen um eine eigene Sprache der Poesie und um einen Sprachmodus und eine Darstellungsweise, die sie als ihren Gegenstand adäquat erfassen kann, zwar von Anfang an im Dienste der Profilierung der eigenen Volkssprache und damit, insofern diese nunmehr eindeutig nicht mehr als allenfalls äußeres Identifikationsmerkmal einer Bevölkerungsgruppe, sondern – insbesondere in ihren poetisch-literarischen Ausprägungen – als innigster Ausdruck der Einheit und des Charakters eines Volkes erscheint, im Dienste der Profilierung nationaler Identität – womit sie zumindest indirekt auch dem Prozess der Nationalstaatsbildung auf einer symbolischen Ebene Vorschub leisten: Denn die Argumentation pro domo poieseos ist zugleich immer auch eine Argumentation pro domo patrii sermonis und die Entwicklung einer eigenständigen poetischen Sprache muss sich im Kern immer in den Grenzen der eigenen Volkssprache halten. Andererseits allerdings wird diese Profilierung von im Wortsinne national-sprachlicher Identität überhaupt nur im Bewusstsein der Präsenz unterschiedlicher Nationen von je unterschiedlichem Charakter – was in jedem Fall eine gewisse Entfaltung des Konzepts der Nation voraussetzt und zweifellos durch die reale Existenz von staatlichen Entitäten, die sich ansatzweise bereits als Nationalstaaten verstehen, befördert wird – und im Rahmen einer Sichtweise, in der Sprache nicht mehr als selbstverständliches und transparentes Medium, sondern als ein grundsätzlich problematisches und tendenziell widerständiges Objekt erscheint, möglich – oder genauer gesagt erst im Horizont eines Diskurses, der diese beiden Aspekte zusammendenkt. Und in der Tat ist es eben genau ein solcher Diskurs, der sich in Herders Fragmenten über die neuere deutsche Literatur als Symptom wie als Movens der sich verändernden Praxis des Schreibens und Lesens und der sich dadurch gegeneinander differenzierenden sozialen Sphären von Autor- und Leserschaft Bahn bricht, und sich eben deshalb, wenn auch noch nicht durchgängig gegen die Praxis der Nachahmung überhaupt, so doch unmissverständlich gegen die überkommenen

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Formen mechanischer Nachahmung wenden muss. Denn wie Herder – am Beispiel der alttestamentarischen Psalmen, aber in Form einer grundsätzlich verallgemeinerbaren Aussage – darlegt, gilt es das potentielle Objekt poetischer Nachahmung erst einmal in seiner spezifischen Machart und als Ausdruck eines spezifischen Sprachgenius, der wiederum Ausdruck spezifischer nationaler Charakteristika ist, zu „verstehen“ und mit dem spezifischen Sprachgenius der eigenen Sprache, der seinerseits Ausdruck der eigenen nationalen Charakteristika ist, zu vergleichen, bevor man es tatsächlich „nachahmen“ kann – und zwar nicht nur, weil die Nachahmung ohne den vorausliegenden Rekurs auf das Verstehen des Fremden und das Vergleichen mit dem Eigenen misslingen könnte, sondern vor allem auch, weil sich im Zuge dieses Versuchs vergleichenden Verstehens herausstellen könnte, dass seine Nachahmung womöglich gar nicht zum Genius der eigenen Sprache und Literatur passt und deshalb nicht nur nicht zu ihrer Bereicherung, sondern im schlimmsten Fall – wie es das Beispiel Latein zeigt – sogar zu seiner Verarmung beitragen könnte.77 Dieser Vergleich aber bedarf selbst wiederum eines eigenen sprachlichen Darstellungsmodus, der prinzipiell über die gleichen, um das gesamte affektive Spektrum erweiterten Ausdrucksmöglichkeiten wie die poetische Sprache verfügen muss, um seine nationalspezifischen Ausprägungen zumindest identifizieren zu können (wobei gerade Herder in seiner Darstellung der Literaturen der Völker sich selbst gerne eines poetisch-emphatischen, oder wie man letztlich auch sagen könnte, höchst affektrhetorischen Stils befleißigt), darüber hinaus aber auch über die diskursiven Mittel zu ihrer Vergleichung und der Genese ihre Unterschiede verfügen muss – eine Funktion, die gleichfalls durch eine Geschichte der Menschheit, wie sie Herder im Weiteren entwickeln wird, und die selbst wiederum eines der Vorbilder des Modells der Literaturgeschichtsschreibung als eigenem fachsprachlichen Darstellungsmodus abgeben wird, erfüllt werden soll, weshalb denn auch in einem gewissen Sinne in den Fragmenten über die neuere deutsche Literatur bereits der in den Briefen zu Beförderung der Humanität etablierte Diskurs vorweggenommen ist. Insofern steht die Entwicklung eines ersten eigenen fachsprachlichen Darstellungsmodus in dem Bereich, der später als Geisteswissenschaften bezeichnet werden soll, also in der Tat nicht nur im Zusammenhang mit dem Auseinandertreten der Sphären von Autorschaft und Leserschaft, durch das die Literatur prinzipiell zu einem opaken, widerständigen und alteritären Objekt wird, sondern auch im Zusammenhang mit der Entdeckung der widerständigen und allererst transparent zu machenden Alterität anderer Literaturen, die wiederum auf die sprachliche und kulturelle Alterität anderer Nationen und Völker verweist. Diese komplexe Konstellation, in der die Etablierung eines wissenschaftlichen Diskurses über das Objekt Literatur gleichermaßen Effekt wie Katalysator der Konstitution einer Literatur im emphatischen Sinne und die fachsprachliche Emanzipation dieses Diskurses gleichermaßen Effekt und Katalysator der Emanzipation von Literatur als alteritärem Objekt ist, während zugleich die fachsprachliche Emanzipation des Diskurses über Literatur ebenso Effekt wie Katalysator einer nationalen Emanzipation ist, die jedoch selbst erst als Konzept wirklich greifbar wird, weil im Zuge der 77 Vgl. Herder (1985), a.a.O., S. 292.

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Entwicklung eines spezifischen fachsprachlichen Darstellungsmodus die Alterität anderer Nationen – und damit natürlich auch die Kontingenz der eigenen Nation – deutlich wird, wird denn auch im Weiteren immer wieder die Entwicklung bestimmen und den geisteswissenschaftlichen Diskurs mal mehr in den Dienst der Vertiefung eines allgemeinen kulturellen Alteritäts- und Relativitätsbewusstseins, mal mehr in den Dienst der Profilierung der eigenen nationalen Identität stellen – ohne das eine vom anderen jemals wirklich ganz scheiden zu können. Das gilt zum Beispiel auch und gerade für die Gebrüder Schlegel, die in (und parallel zu) ihren ersten Versuchen in der Gattung der Literaturgeschichtsschreibung einen erheblichen Beitrag zur Einsicht in die Relativität von Sprache und Kultur geleistet, in ihren späteren literaturgeschichtlichen Darstellungen aber deutlich stärker auf die Schärfung des eigenen nationalen Profils gesetzt haben – eine Entwicklung, die denn auch im 19. Jahrhundert zunächst klar die Oberhand gewinnen wird, und die Literaturgeschichtsschreibung zu einer veritablen Nationalgeschichtsschreibung machen und in dieser Form auch den Zuschnitt und die Ausrichtung der ersten Lehrstühle für Literaturgeschichte beeinflussen wird.78 In gewisser Hinsicht könnte man also – um die bisherigen Überlegungen abschließend noch einmal in etwas anderer Akzentuierung zusammenzufassen – sagen, dass die Entwicklung hinsichtlich des Prozesses der fachsprachlichen Differenzierung und des Prozesses nationalsprachlicher Partikularisierung in den sich entfaltenden Naturwissenschaften und in den sich entfaltenden Geisteswissenschaften gleichsam spiegelsymmetrisch verläuft. In der Tat scheint der Prozess fachsprachlicher Ausdifferenzierung sowohl im Bereich der nachmaligen Naturwissenschaften als auch im Bereich der nachmaligen Geisteswissenschaften seinen Ausgang von einem Gestus der Absetzung vom Lateinischen und den mit ihnen verbundenen bzw. assoziierten Sprachmodalitäten, Textpraktiken und Darstellungsformen zu nehmen und mit einer Zuwendung zu den sich allmählich zu Nationalsprachen entwickelnden Volkssprachen und der Neu- oder Weiterentwicklung bestimmter Sprachmodalitäten, Textpraktiken, Darstellungsformen in ihrem Medium einherzugehen. In beiden Bereichen erfolgt die fachsprachliche Differenzierung dabei vor allem gegen die als gegenstandsinadäquate Beschränkungen der Ausdrucks- und Darstellungsmöglichkeiten empfundenen überkommenen Kulturtechniken des inhaltlichen Nachschreibens, stilistischen Umschreibens, kommentierenden Ausschreibens und synthetisierenden Zusammenschreibens vorausliegender Autoritäten auf der einen Seite und gegen die Praxis aprioristischer Begriffsbildung und formalsyllogistischer Argumentation auf der anderen Seite, denen angesichts ihrer Identifikation mit dem Lateinischen jeweils der Gebrauch der Volkssprachen als den (sei es belebten oder sei es unbelebten) äußeren Naturphänomenen näher 78 Zur stärkeren Durchsetzung mit nationalen Stereotypen und der entsprechenden Ausrichtung an der notion directrice einer „Nationalerinnerung“ der späteren literaturgeschichtlichen Vorlesungen Friedrich Schlegels vgl. Stefan Matuschek (2001), Poesie der Erinnerung. Friedrich Schlegels Wiener Literaturgeschichte, in: Günter Oesterle (Hrsg.), Erinnern und Vergessen in der europäischen Romantik, Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 193–205. Zur Nationalliteraturgeschichtsschreibung im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts siehe noch einmal Fohrmann (1989), a.a.O.

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kommendes bzw. den inneren Seelenphänomen (seien es die von einzelnen Personen oder ganzen Völkern) näher stehendes Ausdrucksmedium entgegengesetzt wird und sich mit der Hoffnung auf einen Begriffsbildungsprozess verbindet, der (im Falle der künftigen Naturwissenschaften) im Durchgang durch die der Natur abgehorchten Anschauungen zu genauer zugeschnittenen und möglichst eindeutigen und daher im Wortsinne natürlicheren Begriffen bzw. (im Falle der künftigen Geisteswissenschaften) im Durchgang durch die der Seele abgelauschten Anschauungen zu nicht notwendig eindeutigen, aber dennoch oder gerade deshalb treffenden und daher im Wortsinne beseelteren Begriffen führen soll. Während für die nachmaligen Naturwissenschaften der Gebrauch der – zunächst noch in Konkurrenz mit dem Lateinischen stehenden – Volkssprachen allerdings nur zu Beginn einen entscheidenden Katalysator des fachsprachlichen Differenzierungsprozesses darstellt, der in der Folge zumindest in einem bestimmten Teilbereich des Wissens durch die zunehmende Bedeutung von vom Gebrauch natürlicher Sprache beinahe gänzlich entkoppelter formalsprachlichen Ausdrucksmodalitäten ergänzt wird, der zugleich teilweise – wenngleich keineswegs durchgängig – auch einer durch den Gebrauch der Volkssprachen induzierten Tendenz zur territorialen oder (proto-)nationalen Partikularisierung von Wissenschaftskulturen im Bereich der Naturforschung entgegenwirkt, verläuft der etwas später einsetzende Prozess fachsprachlicher Differenzierung in den nachmaligen Geisteswissenschaften nicht nur von Anfang an überwiegend – wenngleich keineswegs ausschließlich – entlang und innerhalb der durch die – inzwischen deutlich stärker unter dem Gesichtspunkt nationaler Zugehörigkeit betrachteten und zunehmend zu wirklichen Nationalsprachen ausgebauten – Volkssprachen gegebenen Grenzen, sondern wird auch im weiteren Verlauf der Entwicklung immer wieder von diesen als Gegenstand wie als Kommunikationsmedium bestimmt und verbleibt daher nicht nur gänzlich in den Grenzen natürlicher Sprache, sondern muss auch gegenüber den Sprachmodalitäten ihres Objektes ein dialektisches – zwischen sprachlicher Annäherung und sprachlicher Distanznahme eine schwierige Mitte haltendes – Verhältnis an den Tag legen. Allerdings – und insofern wirkt die Einführung formalsprachlicher Elemente trotz der Möglichkeit einer Entkopplung von den natürlichen Sprachen der Partikularisierung von Wissenschaftskulturen eben nicht durchgängig entgegen – können sich angesichts der im Zuge des zunehmenden Gebrauchs der sich zusehends als vollgültige Nationalsprachen etablierenden Volkssprachen erfolgenden fortschreitenden Regionalisierung bzw. Nationalisierung der wissenschaftlichen Kommunikationsnetze auch im Medium der eigentlich auf Universalität des Ausdrucks angelegten formalen Sprachen sehr wohl regionale und partikuläre Varietäten ausbilden und mit zunehmender Profilierung des Konzepts der Nationalität auch in den Dienst der Symbolisierung nationaler Identität und Einheit treten. Umgekehrt können die sich sehr viel offenkundiger in den Dienst der Symbolisierung nationaler Identität und Einheit stellenden und damit im Zeichen eines gleichermaßen politischen wie wissenschaftlichen Partikularisierungsprozesses stehenden nachmaligen Geisteswissenschaften – und insofern wird die fachsprachliche Entwicklung in ihnen eben keineswegs ausschließlich von den Grenzen der sich zusehends zu echten Nationalsprachen entwickelnden Volkssprachen bestimmt – diese Funktion

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letztlich nur dadurch erfüllen, dass sich in ihnen überhaupt ein Bewusstsein für die Unterschiedlichkeit nationaler Identitäten ausbildet, so dass auch sie im Grunde stets schon in einen Horizont der Universalität eingelassen sind und die Entdeckung der Kontingenz ihres eigenen Fundaments als prinzipiell aktualisierbares Potential in sich tragen. Und so werden sich die Naturwissenschaften um die Mitte des 19. Jahrhunderts – in dem Maße, wie auch der in ihnen wirkende Prozess fachsprachlicher Differenzierung allmählich in im Wortsinne inter-nationale Bahnen gelenkt wird – schließlich zwar zunehmend als wahrhaft internationales und universelles Unterfangen im Dienste der ganzen Menschheit zu präsentieren beginnen, in Wirklichkeit aber immer auch schon im Dienste (zunehmend nationalstaatlich verfasster) partikulärer politischer Macht gestanden haben und – man denke nur an die Impulse, die die Naturwissenschaften durch die Notwendigkeit von Landvermessung, Seucheneindämmung und, last but not least, militärischen Feldzügen empfangen haben – mithilfe von in ihnen entwickelten Fachsprachen gleichsam als Leitdisziplinen der Nationalisierung in struktureller Hinsicht ihren Beitrag zur Etablierung der Nationalstaatlichkeit geleistet haben, während sich die Geisteswissenschaften um die Mitte des 19. Jahrhunderts – in dem Maße, wie ihre fachsprachliche Entwicklung in den von den Nationalsprachen konstituierten Grenzen verbleibt – offensiv als veritable Nationalphilologien im Dienste (nationalstaatlich geprägter) partikulärer politischer Machtinteressen zu institutionalisieren beginnen und damit im Medium der in ihnen entwickelten Darstellungsmodalitäten – mit dem Modell der Literaturgeschichtsschreibung an der Spitze – gleichsam als Leitdisziplinen der Nationalisierung in symbolischer Hinsicht umso nachhaltiger ihren Beitrag zur Profilierung nationaler Identität und zur Symbolisierung nationaler Einheit leisten können, obwohl angesichts ihres konstitutiven Wissens um national-sprachliche Unterschiede das Potential einer im Wortsinne inter-nationalen und universellen Perspektive stets in ihnen angelegt bleiben wird. Tatsächlich also stellt sich die Gesamtsituation um 1850 völlig anders als um 1600 dar. Gab es – wie am Beispiel von Francis Bacon gezeigt – um 1600 weder eine Differenzierung der Sphäre der Macht in unterschiedliche souveräne Nationalstaaten noch eine Differenzierung der Sphäre des Wissens in unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen (oder beides allenfalls in ersten Ansätzen) und entsprechend auch keine klar definierten Nationalsprachen und wohlabgegrenzten Fachsprachen (oder gleichfalls allenfalls in ersten Ansätzen), so lässt sich die Existenz von unterschiedlichen Nationalstaaten samt entsprechenden Nationalsprachen und die Existenz von unterschiedlichen wissenschaftlichen Fächern samt entsprechenden Fachsprachen um 1850 – wie man zeigen könnte – selbst in einem Werk nicht mehr ignorieren, in dem die Idee des Nationalstaates nicht geteilt wird (sondern allenfalls als Durchgangsstadium und Epiphänomen angesehen wird), und das selbst noch einmal universelle wissenschaftliche Geltung beansprucht (und insofern eigentlich ausdifferenzierungsavers ist), und in dem zudem sprachliche Fragestellungen (zumindest auf den ersten Blick) keine wirklich prominente Rolle zu spielen scheinen, in dem aber das Bewusstsein für den Zusammenhang zwischen Wissen und Macht (und bis zu einem gewissen Grade auch Sprache) nicht nur mindestens

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ebenso ausgeprägt wie bei Francis Bacon ist, sondern dieses schärfer auf den Punkt bringt – nämlich im Werk von Karl Marx und Friedrich Engels. Denn wie immer sich Marx und Engels im Vergleich mit Bacon zu den vier fraglichen Termini und der genauen Deutung ihres Zusammenhangs im Einzelnen verhalten mögen, und was immer man von den aus ihren Schriften abgeleiteten politischen und wissenschaftlichen Großversuchen namens Sozialistische Republik und Wissenschaftlicher Sozialismus – ihrem inzwischen versunkenen New Atlantis – halten mag: Erst die (bereits auf eine Überwindung dieses Zustands ausgehende) Einsicht, dass Nationalstaaten zwar eine Realität, aber keine selbstverständliche Realität darstellen, und die (nach wie vor auf eine ultimative Überwindung dieses Zustands ausgehende) Einsicht, dass sich einzelne Disziplinen allmählich voneinander „geschieden“ oder „getrennt“ haben,79 in Verbindung mit der Formulierung, dass die „Gedanken der herrschenden Klasse […] in jeder Epoche die herrschenden Gedanken [sind]“80 mitsamt dem – angesichts der etwa zeitgleich artikulierten Überzeugung, dass „der Schachergeist […] durch die ganze Sprache“ geht81 – darin bereits unausgesprochen mitgedachten Gedanken, dass auch ‚die Sprache der herrschenden Klasse in jeder Epoche die herrschende Sprache ist‘, setzt hinter Bacons utopisches Ausrufezeichen Wissen ist Macht ein kritisches Fragezeichen, das die Möglichkeit eröffnet – wie der vorliegende Essay – danach zu fragen, welchen Beitrag die Ausdifferenzierung der Wissenschaften zur Entstehung und Konsolidierung der Nationalstaaten und umgekehrt die Entstehung und Konsolidierung der Nationalstaaten zur Ausdifferenzierung der Wissenschaften beigetragen haben – und vor allem welche Rolle die entstehenden Nationalsprachen und die entstehenden Fachsprachen in diesem Prozess gespielt haben. Dass es erst Sinn macht, diese letztere Frage zu stellen, seit Sprache im Staate wie in den Wissenschaften nicht mehr – wie einst bei Bacon – Mist, sondern – nach Herder und den Schlegels – geradezu ein Muss ist, sollte dabei freilich bewusst bleiben. V. Angesichts des komplexen Beziehungsgefüges zwischen Wissen, Macht und Sprache, das sich vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen für die Konstituierungsphase des modernen Wissenschaftssystems abzeichnet, möchte der vorliegende zweite Teil des Themenschwerpunkts Sprachen der Wissenschaften des Jahrbuchs für europäische Wissenschaftskultur unter dem Titel Sprachliche Differenzierung und wissenschaftliche Nationalisierung die Aufmerksamkeit vor allem 79 Vgl. Friedrich Engels (1960), Dialektik der Natur, in: Marx & Engels (1956–1990), a.a.O., Bd. 20, S. 305–570, hier: S. 456f. 80 Karl Marx & Friedrich Engels (1969), Die deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten, in: Marx & Engels (1956–1990), a.a.O., Bd. 3, S. 5–530, hier: S. 46. 81 Friedrich Engels (1972), Die Lage der arbeitenden Klasse in England, in: Marx & Engels (1956–1990), a.a.O., Bd 2, S. 225–506, hier S. 487.

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auf zwei spezifische Fragestellungen lenken. Ein erster Fragenkreis, der im Kern um die Achse Wissen/Sprache revolviert, nimmt dabei den Zusammenhang zwischen den Prozessen disziplinärer Ausdifferenzierung und der Entwicklung disziplinenspezifischer Sprachmodalitäten näher unter die Lupe. Insofern schließt er nahtlos an die bereits im ersten Teil des Themenschwerpunkts verfolgte Thematik des allmählichen Übergangs von einem (zumindest als Ideal geforderten) fächerübergreifenden wissenschaftlichen Monolinguismus zu einem (sich zunehmend als Realität erweisenden) disziplinär differenzierten Plurilinguismus innerhalb des fraglichen Untersuchungszeitraums an.82 Während allerdings in den dort publizierten Beiträgen vor allem Projekte im Vordergrund standen, die ihre Aufgabe darin sahen, durch die Entwicklung von formalisierten Kalkülen als künstlichen Universalsprachen auf die (Wieder-)Herstellung einer ultimativen Einheit der Wissenschaft hinzuarbeiten, wenden sich die Beiträge des vorliegenden Bandes überwiegend Fallkonstellationen zu, in denen gewollt oder ungewollt auf eine wissenschaftliche Mehrsprachigkeit hingewirkt wird oder in denen die daraus resultierende Pluralität von unterschiedlichen disziplinären Wissenschaftskulturen bereits weitgehend vorausgesetzt ist. Ein zweiter Fragenkreis, der die Dyade Wissen/Sprache gleichsam um das Element Macht zur Triade Wissen-Sprache-Macht erweitert, sucht die Rolle, die die zwei zentralen sprachlichen Entwicklungen dieses Zeitraums – die Entstehung der Nationalsprachen und die Ausbildung wissenschaftlicher Fachsprachen – im Prozess der Bildung der Nationalstaaten und der Ausdifferenzierung wissenschaftlicher Disziplinen insgesamt in den Blick zu bekommen und mit je unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen auf ihre vielfältigen wechselseitigen Beziehungen hin auszuloten. Auch er verfolgt also ein Thema weiter, das bereits im ersten Teil des Themenschwerpunkts von zentraler Bedeutung war – nämlich das der sukzessiven Ablösung einer im Wesentlichen lateinbasierten wissenschaftlichen Einsprachigkeit durch eine überwiegend volkssprachlich verfasste wissenschaftliche Mehrsprachigkeit. Anders als in den bereits publizierten Beiträgen, die überwiegend Fallbeispielen gewidmet waren, in denen dem Lateinischen noch weitgehend der Status einer gleichsam natürlichen Universalsprache der Wissenschaften zugemessen wurde, stehen in den nunmehr vorliegenden Beiträgen eher Konstellationen im Vordergrund, für die die Existenz einer auf der sich zusehends als Nationalsprachen im engeren Sinne konstituierenden Volkssprachen aufruhenden wissenschaftlichen Mehrsprachigkeit bereits eine nicht mehr länger zu ignorierende Realität darstellt und die damit eine Pluralität unterschiedlicher nationaler Wissenschaftskulturen bereits voraussetzen. Die Beiträge des vorliegenden Bandes suchen also, mit anderen Worten, erste Erkundungswege in das sprachliche Unterholz wissenschaftlicher Nationalisierungs- und Differenzierungsprozesse zu bahnen und – indem sie in die Domäne des Nationalen und auf das Terrain des Disziplinären vordringen oder zur Exploration derjenigen Regionen ansetzen, in denen diese beiden Sektoren aufeinanderstoßen – eine Reihe unterschiedlicher Zugänge zu erproben. 82 Vgl. Daniel Ulbrich (Hrsg.) (2009–2010), Sprachen der Wissenschaften 1600–1850. Teil I: Zwischen Latein und Logik, in: Jahrbuch für europäische Wissenschaftskultur, 5, S. 9–245.

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Eines der Gebiete, in dem der Zusammenhang zwischen nationalen Eigenheiten und disziplinären Gegebenheiten in seinem sprachlichen Gepräge am offenkundigsten zu Tage tritt, dürfte dabei wohl das Begriffsfeld ‚Wissenschaft‘ selbst darstellen, das seit der Ablösung vom lateinischen Konzept der scientia in den europäischen Sprachen nicht selten ziemlich divergente Formen angenommen hat und, allen Tendenzen zu einer partiellen Angleichung im Zuge der fortschreitenden Internationalisierung des Wissenschaftsbetriebes zum Trotz, nach wie vor die unterschiedlichen nationalen Wissenschaftskulturen zu prägen pflegt. Als Einstieg mag sich daher vielleicht die Lektüre des am Schluss des Themenschwerpunkts abgedruckten ENZYKLOPÄDISCHEN STICHWORTS zum Begriffsfeld „Wissenschaft(en)“ in den großen europäischen Sprachen anbieten, das einen vorwiegend an der aktuellen Gegenwartssprache orientierten Überblick über die Situation im Deutschen, Englischen, Französischen, Italienischen, Russischen und Spanischen zu geben sucht. Neben der vergleichenden Untersuchung der formalen Wissenschaftsdefinitionen in den aktuellen Auflagen einschlägiger allgemeiner Wörterbücher und Enzyklopädien der einzelnen Sprachen konzentriert sich das Stichwort dabei insbesondere auf die sprachspezifische Semantik der Leitdifferenz ‚Geisteswissenschaften‘ vs. ‚Naturwissenschaften‘ und die Ausdrücke zur Bezeichnung ihrer möglichen Einheit, die abschließend um einige Vorüberlegungen zum Verhältnis dieser (die sogenannten ‚zwei Kulturen‘ bezeichnenden) begrifflichen Opposition zum Begriff der ‚Sozialwissenschaften‘ (als ‚dritter Kultur‘) in den jeweiligen Sprachen ergänzt werden. Beschränkt sich das Enzyklopädische Stichwort in seiner vergleichenden Zusammenschau des Wissenschaftsbegriffs in einer Mehrzahl von Sprachen im Wesentlichen auf die Befragung des gegenwärtigen Sprachgebrauchs und berührt im engeren Sinne begriffsgeschichtliche Aspekte dabei allenfalls punktuell und gleichsam im Vorbeigehen, so verlängert ANNETTE MEYERS Beitrag Zwei Sprachen – zwei Kulturen? Englische und deutsche Begriffe von Wissenschaft im 18. Jahrhundert in seiner vertieften Beschäftigung mit einer einzelnen emblematischen Sprachpaarung den Fragehorizont bewusst in den historischen Rückraum der Gegenwart hinein und führt dabei den Gang der Untersuchungen mit der Konzentration auf die Epoche der Aufklärung zugleich in das Zentrum des eigentlichen Untersuchungsraums des vorliegenden Themenschwerpunkts zurück. Dabei konstatiert Meyer nicht nur mit berechtigter Überraschung, dass es nach wie vor an einschlägigen Arbeiten zur sprach- und nationenspezifischen Geschichte des Wissenschaftsbegriffs – und wie man ergänzen könnte: an vergleichenden Untersuchungen zu diesem Themenkomplex überhaupt – fehlt, sondern wirft damit zugleich auch die Frage auf, ob dieser Mangel an historischer Tiefenschärfe nicht womöglich – sei es nun ursächlich oder aber im Sinne eines Symptoms – mit der anhaltenden und sich allenfalls erst unlängst und eher allmählich abflachenden Konjunktur stereotypisierender Zuschreibungen zusammenhängt, die der angelsächsischen Wissenschaftslandschaft im Lichte des Ausdrucks ‚science‘ und unter Verweis auf das Triumvirat von Bacon, Locke und Hume eine besondere Affinität zu den Naturwissenschaften, ihrem deutschen Pendant hingegen angesichts des weniger strengen Terminus ‚Wissenschaft‘ und unter Aufzählung von Namen wie

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Schlegel, Schelling und Hegel eine besondere Nähe zu den Geisteswissenschaften attestieren und diese Tendenzen darüber hinaus auch nicht selten zu althergebrachten Grundorientierungen erklären. Stereotypen dieser Art, die ironischerweise diesseits wie jenseits des Kanals Deutungsmuster fortsetzen, die im Grunde allererst durch die Suche einer überwiegend deutschsprachigen und sich zunehmend politisierenden Romantik nach einem systematischen und systematisch teilbaren Subjekt der Geschichte zum Zwecke der Begründung der relativen Autonomie der neuentstehenden historischen Disziplinen möglich geworden sind, setzt Meyer – gleichsam in der Überzeugung, dass man (um das bekannte Diktum Peter Szondis abzuwandeln) über die wissenschaftsgeschichtspolitische Romantik nur hinauskommen kann, indem man hinter sie zurückgeht – eine in sprachvergleichender und historisierender Hinsicht gleichermaßen konsequente Analyse der begrifflichen Verhältnisse im Zeitalter der Aufklärung entgegen, die vor allem auch deutlich macht, dass die einzelsprachspezifische Ausdeutung des Wissenschaftsbegriffs selbst eine eher kurze Geschichte hat. In der Tat nämlich kommt Meyer, indem sie der Entwicklung des Begriffs in den einschlägigen englisch- und deutschsprachigen Wörterbüchern und Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts nachspürt und im zeitgenössischen erkenntnistheoretischen Diskurs verortet, zu dem Ergebnis, dass die Ausdrücke ‚science‘ und ‚Wissenschaft‘ im 17. und 18. Jahrhundert noch weitgehend gleichbedeutend gebraucht wurden. Dabei scheint der Gebrauch beider Termini – womit zugleich eine wichtige Brücke zur zentralen Fragestellung des ersten Teils des Themenschwerpunkts geschlagen ist – zunächst in enger Anlehnung an den lateinischen Begriff der scientia mit seinem Bedeutungskern absoluter theologischer bzw. philosophischer Gewissheit und seiner tendenziellen Gegenposition zu den artes erfolgt zu sein, der freilich recht bald einem beide Volkssprachen gleichermaßen erfassenden grundlegenden Wandel unterworfen sein sollte, in dem sich die sukzessive Ablösung von Formen axiomatisch-deduktiver durch Formen hypothetisch-deduktiver Wissensproduktion spiegelt, die in den begleitenden zeitgenössischen epistemologischen Debatten explizit als moderne Innovation ausgewiesen und der aristotelisch-scholastischen Tradition entgegengestellt wird. In diesem Sinn reflektiert und forciert die semantische Entwicklung des deutschen wie des englischen Wissenschaftsbegriffs in diesem Zeitraum vor allem die allgemeine Aufwertung der sinnlichen Wahrnehmung und des induktiven Schließens aus Einzeltatsachen auf allgemeinere Sachverhalte, die sich selbst wiederum aus einer – entgegen dem ersten Anschein in beiden Sprachräumen nur in Nuancen unterschiedlich verlaufenden – theoretischen Hinterfragung der Erkenntnisfähigkeit des Menschen als solchem speist und in einem freiwilligen Rückzug in die Grenzen des äußerlich Wahrnehmbaren mündet, der sein praktisches Korrelat in einer fundamentalen Umstrukturierung der bestehenden Disziplinen findet. Soweit in diesem Zeitraum überhaupt sprachspezifische Unterschiede bestehen, so schlagen sie sich – wie die Autorin hervorhebt – am ehesten in einer unterschiedlich strengen Vergabepraxis für den deutschen und den englischen Wissenschaftsbegriff und in einer unterschiedlichen Gewichtung von intensionaler (die spezifische Form des Erkennens betreffenden) Bestimmung und extensionaler (die jeweiligen Gegenstände des Erkennens betreffenden) Bestimmung nieder. Der Prozess, in dessen Folge die

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Bedeutungen des englischen und deutschen Wissenschaftsbegriffs definitiv auseinandergetreten sind, mit dem Resultat, dass der englische Ausdruck ‚science‘ heutzutage im Wesentlichen mit den Naturwissenschaften identifiziert und als solcher den ‚humanities‘ gegenübergestellt wird, während der deutsche Ausdruck ‚Wissenschaft‘ als Oberbegriff weiterhin sowohl die Naturwissenschaften als auch die Geisteswissenschaften umfasst, scheint hingegen in der Tat erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts eingesetzt zu haben – und würde, wie der Beitrag Meyers deutlich macht, zweifellos eine genauere Aufarbeitung lohnen. Während der Fokus der Aufmerksamkeit des Enzyklopädischen Stichworts und des Beitrags von Annette Meyer mit der Analyse der sprachspezifischen Semantik des Wissenschaftsbegriffs und der unterschiedlichen Ausprägungen der Dichotomie von Geistes- und Naturwissenschaften gleichsam auf der Ebene der notions bzw. distinctions directrices liegt, die auf ihren Zusammenhang mit Prozessen der wissenschaftlichen Ausdifferenzierung und der Ausbildung spezifisch nationaler Wissenschaftskulturen hin ausgeleuchtet werden, nimmt TAMÁS DEMETER in seiner vergleichenden Fallanalyse Post-Mechanical Explanation in the Natural and Moral Sciences. The Language of Nature and Human Nature in David Hume and William Cullen die sprachlichen Mechanismen im Inneren des wissenschaftlichen Produktionsraums näher unter die Lupe und befragt sie auf das distinktive Potential, das sie als Katalysatoren disziplinärer Ausdifferenzierung bzw. Stabilisatoren disziplinärer Eigenständigkeit unterschiedlicher Wissensfelder entfalten. Es handelt sich, mit anderen Worten, um die Frage nach der Rolle eines eigenen deskriptiven und explanativen Vokabulars für die Konstitution eines eigenständigen Gegenstandsbereichs und für seine Abgrenzung von anderen Gegenstandsbereichen, die dabei ins Zentrum der Überlegungen von Demeter rückt, und der er am Beispiel von William Cullens Bemühen um ein eigenständiges Profil von Chemie und Physiologie gegenüber einer in erster Linie physikalisch ausgerichteten Naturphilosophie und David Humes im Kern gleichgerichtetem Engagement für eine gegenüber einer solchen Naturphilosophie ebenso wie gegenüber der Physiologie epistemologisch selbstständigen Moralphilosophie bzw. Wissenschaft vom Menschen auf die Spur zu kommen sucht. Als Haupthindernis einer adäquaten Beschreibung und Erklärung der fraglichen Objekte erweist sich dabei aus Cullens wie Humes Sicht die Dominanz des mechanistischen Ansatzes in der Naturphilosophie und der von ihm behauptete universelle Erklärungsanspruch. Tatsächlich bestreiten beide, dass eine mechanistische Naturphilosophie eine wirklich universelle Sprache der Natur zu entwickeln erlaubt, und votieren für eine gegenstandsbezogene Beschränkung ihres Geltungsraumes, durch die das mechanistische Paradigma zwar nicht vollständig abgelöst, wohl aber mitsamt seinem reduzierten explanativen Vokabular zur Bezeichnung allgemeiner Eigenschaften von Körpern und seiner Tendenz zu einer größenorientierten Semiose in die Schranken gewiesen wird, während umgekehrt für das Wissensfeld der Chemie und der Physiologie (im Falle Cullens) bzw. der Moralphilosophie und der Menschenwissenschaft (im Falle Humes) jeweils ein andersgeartetes Vokabular reserviert wird. So entwirft etwa Cullen ein Forschungsprogramm, das den tierischen und menschlichen Körper als geordnetes und gestuftes System von hydraulischen Mechanismen, unter dem

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Gesichtspunkt der ‚Wahlverwandtschaft‘ analysierbaren chemischen Mischungsbzw. Verbindungsvorgängen und einem selbsttätigen Nervengerüst untersucht und somit mechanistische, qualitative und vitalistische Perspektiven bewusst miteinander verbindet, zugleich aber je unterschiedlichen und (im Wortsinne) prinzipiell voneinander unabhängigen Wissensfeldern – der (‚physikalischen‘) Naturphilosophie, der Chemie und der Physiologie – mit ihren jeweils eigenen Sprachregimes zuordnet. Dabei kondensieren diese Domänen jeweils an einem Kernkonzept aus und organisieren sich um ein bestimmtes Segment eines Vokabulars zur Einteilung möglicher Gegenstände herum, das sich selbst wiederum auf einer Linie verorten lässt, die irgendwo zwischen der Opposition, die der philosophische Diskurs in die Begriffe Heteronomie und Autonomie fasst, und dem Gegensatz, den die Alltagssprache in die Metaphern des Toten und des Lebendigen kleidet, verläuft. Dieses Programm der Delimitation disziplinärer Domänen durch Zuweisung unterschiedlicher terminologischer Strata wiederum findet nun, wie Demeter zeigen kann, eine bemerkenswerte Entsprechung in Humes Projekt einer Wissenschaft vom Menschen – auch wenn der differenzierende Gebrauch von mechanistischem (auf dem Konzept der Wahlverwandtschaft beruhendem), qualitativem und (auf den Begriff der Selbsttätigkeit zulaufendem) vitalistischem Leitvokabular bei Hume anders als bei Cullen nicht so sehr im Dienste der Abgrenzung der science of man gegen andere Wissensbereiche zu stehen scheint, sondern sich eher als binnendifferenzierendes Verfahren manifestiert, das bestimmte Phänomenbereiche des menschlichen Geistes jeweils präferenziell einer Darstellung in einer dieser drei Begriffsschichten zuneigen lässt. Dabei liegt das zentrale Verdienst von Demeters Zusammenschau der beiden Begriffssysteme und ihrer Korrespondenzen nicht zuletzt darin, das Augenmerk darauf zu lenken, dass die konzeptuelle Differenzierung von Disziplinen keineswegs nur auf dem Wege sprachlicher Dissimilation und Distinktion, sondern auch auf dem Wege sprachlicher Assimilation und Identifikation erfolgen kann. Tatsächlich bietet seine Fallstudie Beispiele für beide Prozesse: Betrachtet man die triadischen Begriffsarchitekturen bei Hume und Cullen je für sich und isoliert voneinander, so tritt vor allem der Aspekt der konzeptuellen Differenzierung auf der Basis sprachlicher Dissimilation in den Vordergrund – unterscheiden sich die drei unterschiedlichen Wissensbereiche doch jeweils dadurch voneinander, dass ihnen verschiedene terminologische Strata zugewiesen werden. Nimmt man hingegen die zwei Begriffssysteme synoptisch in den Blick, so springt stattdessen das Verfahren sprachlicher Assimilation als Basis konzeptueller Differenzierung ins Auge – scheint sich die Ebenendifferenzierung bei Hume doch vor allem einer Übertragung terminologischer Optionen aus dem Bereich der Naturforschung auf das Gebiet der Philosophie zu verdanken. Auf der anderen Seite verweist gerade die in der synoptischen Blickrichtung deutlich werdende Tatsache, dass konzeptuelle Ausdifferenzierung auch auf dem Wege sprachlicher Assimilation bewerkstelligt werden kann, auf die Frage, wie die von einem Wissensbereich auf den anderen übertragenen Kernkonzepte in ihrer jeweiligen Applikationssphäre in andere semiotische – sprachliche wie außersprachliche – Praktiken eingebettet sind. Denn unter der scheinbar homogenen

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Oberfläche disziplinübergreifend gebrauchten Vokabulars kann sich durchaus ein Raum disziplinspezifisch variierender anderer semiotischer Praktiken auftun. Die im Zuge der Begründung eines neuen epistemischen Bereichs erfolgte Übertragung von Vokabular aus einem anderen Bereich muss also, mit anderen Worten, keineswegs notwendig zu Eins-zu-eins-Entsprechungen führen. Das zeigt sich nicht zuletzt am Beispiel des Verhältnisses von Cullen und Hume. Denn auch wenn die mechanistischen Grundbegrifflichkeiten sich auf dem Gebiet der Naturforschung wie auf dem Gebiet der Epistemologie in das Heer mehr oder minder tropischer Ausdrücke zur Sag- und Sichtbarmachung zugrundeliegender Wirkungsmechanismen gleichermaßen problemlos einzufügen scheinen, so lässt sich doch auf dem Gebiet der Naturforschung dahinter zugleich und zusätzlich noch die gesamte Rüstkammer semiotischer Praktiken ermessen, durch die das qualitativ Homogene als Gefüge quantitativer Verhältnisse bestimmbar wird, und die als solche keine direkte Entsprechung auf erkenntnistheoretischem Terrain finden. Ähnliches gilt auch für das Konzept der Wahlverwandtschaft, das einen guten Teil seiner Wirkung dies- und jenseits disziplinärer Grenzen zwar ohne Frage der komplexen und wechselbalghaften Semantik verdankt, durch das es mal als naturalisierter Anthropomorphismus und mal als humanisierter Physikomorphismus erscheint, hinter dem sich aber im Bereiche der Naturforschung im engeren Sinne unverzichtbar der Raum der Affinitätentafeln auftut, durch die das Ensemble qualitativ heterogener chemischer Substanzen vermittels eines Zeichenregimes, das die gewöhnliche Syntax und Semantik natürlicher Sprache teils ersetzt, teils ergänzt und teils supplementiert, nach ihren unterschiedlichen Eigenschaften, dem (diskreten) Maß ihrer Aktivität und Selektivität und den Regularitäten ihrer Eigenschaftsveränderungen, kurz: gemäß ihren wechselseitigen Verhältnissen, in eine ordnende Darstellung gebracht wird – ein Operationsmodus, den ‚Cullen’s concept of chemistry‘ unhintergehbar voraussetzt, der in der ‚Humean language of human nature‘ jedoch kein unmittelbares Äquivalent findet, wie denn auch eine ganze für Hume in anderem (insbesondere explizit politischem) Kontext ausgesprochen wichtige Reihe von rhetorischen Erwägungen und Praktiken umgekehrt keinerlei Eingang in Cullens Konzeption findet. Dabei macht das Beispiel des Vokabulars der Wahlverwandtschaft zugleich schlaglichtartig auch deutlich, dass Form und Ausmaß der Übertragung von Vokabular zwischen den Disziplinen selbst wiederum von einzelsprachlichen Faktoren beeinflusst sein können, und zeigt damit auf, inwiefern sich die von Demeter angeregte Thematik der Übertragung auch mit Blick auf die Dimension ‚wissenschaftliche Nationalisierung‘ weiterverfolgen ließe. Denn ohne Frage sind mit den jeweiligen Bezeichnungen, die – wie affinités electives, elective attractions und Wahlverwandtschaften – in den unterschiedlichen Sprachen bevorzugt zum Ausdruck des Konzepts verwendet werden, stets auch unterschiedliche Konnotationen aufgerufen, gegen deren Wirksamwerden im Inneren ihres terminologischen Gebrauchs sich die Chemie aufgrund der übereinzelsprachlichen semiotischen Praxis der Affinitätstafeln zwar bis zu einem gewissen Grade immunisiert sehen mag, die ihr metaphorisches Potential dafür aber in all den Wissenssphären, in die sie von hieraus (rück-)übertragen werden, frei entfalten und damit zwischensprach-

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liche Differenzen bei der interdisziplinären Übertragung von Vokabular nach sich ziehen können, deren Auswirkungen auf die Ausbildung nationaler Wissenschaftstraditionen nachzugehen sich – nicht anders als bei der Begrifflichkeit der Selbsttätigkeit, deren Karriere in Ausprägung und Intensität von Land zu Land bekanntlich ebenfalls erheblich variiert hat – in der Tat als lohnenswerte Perspektive erweisen dürfte. Während das Enzyklopädische Stichwort und die Beiträge von Meyer und Demeter sich weitgehend in den Grenzen einer semantischen bzw. begriffsgeschichtlichen Analyse von Einzelbegriffen bzw. Ensembles von Einzelbegriffen halten, die im Innenraum und an den Außenrändern der wissenschaftlichen Produktionssphäre und der einzelnen Wissensfelder zu ihrer strukturellen Einheit beitragen, unternimmt es SEBASTIAN KÜHN in seinem Artikel „Saturn – als ein rundes Küglein in einer Schüssel.“ Spuren mündlicher Kommunikation in naturforschenden Aufzeichnungen um 1700, das Blickfeld gleichsam über den Horizont der Lexik hinaus auf die Ebene von Text und Diskurs zu erweitern und auf sprachliche Verfahren hin zu durchmustern, die im Dienste der Herstellung von prozeduraler Einheit im Forschungsprozess und der sozio-epistemologischen Kohärenzstiftung stehen. Sein spezifisches Augenmerk gilt dabei der bislang eher unterschätzten Rolle mündlicher Kommunikation innerhalb des Forschungsprozesses und insbesondere den Spuren, die diese in Form von Verweisen auf vorausliegende mündliche Kommunikationsvorgänge in Forschungsaufzeichnungen hinterlassen. Ihnen geht Kühn am Beispiel der Observationsjournale der Berliner Astronomenfamilie Kirch nach, um sie auf ihre spezifischen Funktionen hin zu befragen. Denn wie sich zeigt, stellen diese Spuren – weit entfernt davon, sich in einer bloß akzidentiellen Residualität zu erschöpfen – gleichsam bewusst gesetzte Marksteine dar, denen in einer unauflöslichen Verschränkung von epistemologischer und sozialer Funktion die Beglaubigung und Evaluation des Beobachteten und die Zuschreibung unterschiedlicher Grade von Handlungsmacht an die Beobachtenden obliegt – und somit die Aufgabe, Anhaltspunkte zu geben, die einer anschließenden Überführung von heuristischen Beobachtungsnotaten in belastbare und publizierbare Endergebnisse oder notwendigen Anschlussbeobachtungen den Weg weisen. Dabei zeichnet sich, wie Kühn darlegt, in funktionaler Hinsicht eine klare Trennlinie zwischen zwei Typen von Äußerungen ab, die sich respektive als implizite und explizite Hinweise auf Mündlichkeit qualifizieren lassen. Während die impliziten Hinweise auf Mündlichkeit in erster Linie der Beglaubigung des Beobachteten durch die Multiplikation von Zeugenschaft oder der rein dokumentarischen Verzeichnung eines bereits als beigelegt zu betrachtenden Widerstreits der Meinungen dienen und somit in performativer Hinsicht ein Signal für keinen weiteren Handlungsbedarf geben, ist die Rolle der expliziten Verweise eher in der vorläufigen Suspendierung des Urteils bei gleichzeitiger qualifizierender Präzisierung des Urteilsgehaltes zu suchen – also, sprechakttheoretisch formuliert, in einer Art Aufforderung, mit der Beobachtung fortzufahren oder das Beobachtete noch einmal zu überdenken. Nun betont Kühn freilich zu Recht die im Wesentlichen familial organisierte und gleichsam um die zentrale Figur des Hausvaters revolvierende Arbeitsökonomie als charakteristisches Kennzeichen seines Fallbeispiels und gibt damit eine

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Organisationsform wissenschaftlicher Forschung als den bestimmenden Hintergrund und primären Kontext der von ihm untersuchten Aufzeichnungspraktiken zu erkennen, die sich durch einen relativ geringen Grad an funktionaler Rollendifferenzierung und durch alles andere als formal standardisierte Ausbildungswege und Zugangspfade auszeichnet. Das sollte aber keineswegs darüber hinwegtäuschen, dass sich diese haushaltzentrierte Arbeits- und Forschungsökonomie im Falle der Kirchs von Anfang an in den Horizont massentauglicher Kalenderproduktion (als zentraler Einnahmequelle des Haushalts) und seit der Jahrhundertwende außerdem in das unmittelbare Umfeld der neugegründeten Kurfürstlich-Brandenburgischen Societät der Wissenschaften (zu dessen ersten Astronomen der Haushaltsvorstand Gottfried Kirch im Jahre 1700 bestellt worden war) eingebettet sieht, und damit unbestreitbar sowohl in das expandierende Feld massenmedialer Kommunikation als auch in die Sphäre einer zunehmend auch an wissenschaftlichen Meriten interessierten frühmodernen Staatlichkeit hineinragt. Insofern würde sich Kühns Analyse zweifellos gut als Ausgangspunkt anbieten, von dem aus sich nicht nur eine Reihe von Fragestellungen in der Dimension ‚Ausdifferenzierung und Disziplinarisierung‘ weiterverfolgen ließe, sondern der sich auch gut dazu eignen würde, dem thematischen Komplex ‚wissenschaftliche Nationalisierung‘ weiter nachzugehen. Mit Blick auf den ersten Aspekt ließe sich insbesondere danach fragen, wie und inwieweit die Rolle der Oralität und die daran geknüpften Verfahren der Beglaubigung von Forschungsergebnissen und der Steuerung von Forschungsprozessen angesichts weiter fortschreitender Ausdifferenzierung (in deren Zuge ja etwa damit zu rechnen ist, dass ein gewisser Teil der bislang situativ ausgehandelten Verfahren zur Attribution von wissenschaftlicher Handlungsmacht im Gefolge von Rollenspezifikation und institutionalisierten Ausbildungswegen durch systematische Mechanismen der Inklusion ersetzt und gleichsam vorverlagert wird) und dem Aufbau eines massenmedialen Publikationssystems (das ja gerade auf die konkrete Adressierung von Einzelpersonen und ihre Einbindung in den deiktischen Horizont einer räumlich und zeitlich begrenzten Kommunikationssituation verzichtet und, da es weder die Bekanntschaft aller Adressaten mit den persönlichen Verhältnissen des Verfassers noch seine Vertrautheit mit den spezifischen Umständen der ursprünglichen Kommunikationssituation voraussetzen kann, andere Mechanismen der Auszeichnung des epistemologischen Status von Forschungsergebnissen entwickeln muss) auf Dauer gewissen Modifikationen unterworfen sein werden. Die Fragestellungen, die sich mit Bezug auf mediale Veränderungen dieser Art ergeben, machen denn auch deutlich, inwiefern es von Interesse sein könnte, den von Kühns Beitrag aufgeworfenen Fragen auch in der Dimension ‚wissenschaftliche Nationalisierung‘ weiter nachzugehen – und zwar auch über die grundsätzliche Frage nach den sich im Zuge zunehmender Verflechtung und Überkreuzung von staatlichem und wissenschaftlichem Handeln einstellenden Synergien, wie sie sich in der Gründung der Societät der Wissenschaften ja bereits andeutet, und dem Beitrag, den die Einrichtung solcher Gesellschaften auf nationaler Ebene und die Etablierung eines massenmedialen Kommunikationssystems in einer Volkssprache zur Ausbildung nationaler Identitäten leisten, hinaus. So ließe sich etwa fragen, inwieweit der zunehmende Gebrauch volkssprachlicher Medien zur Kommunika-

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tion wissenschaftlicher Inhalte auf Dauer Rückwirkungen im Inneren der Sprache – dem Sprach- und Sprachengebrauch – zeitigt. Tatsächlich nämlich scheinen sich, wie Kühn abschließend andeutet, die Verfahren der Wissensbeglaubigung und Forschungssteuerung nicht bloß im Spannungsfeld und unter Bezugnahme auf die Dichotomie von Oralität und Skripturalität zu entfalten. Vielmehr sind sie zugleich offenbar auch eng in das zeitgenössische System deutsch-lateinischer Diglossie eingebunden, das seinerseits – teils parallel, teils ergänzend, teils subsidiär – dazu beiträgt, den epistemologischen Status wissenschaftlicher Äußerungen auf einer zwischen probabilitas und certitudo verlaufenden Skala zu verorten und damit den Grad der Abgeschlossenheit einzelner Forschungsprozesse zu markieren. Von daher liegt die Vermutung auf der Hand, dass das Vordringen des Deutschen in zuvor weitgehend dem Lateinischen vorbehaltene und eben dadurch certitudo signalisierende Domänen, wie es Kirch etwa auf dem Gebiet der Sternenkunde durch seine Kalenderproduktion mit angestoßen hatte, nicht nur eine wichtige Voraussetzung dafür dargestellt hat, dass man das Deutsche in der Folge zur vollgültigen Nationalsprache erklären konnte, sondern zugleich auch den Verlust eines Distinktionsmarkers zur Bezeichnung des epistemologischen Status wissenschaftlicher Äußerungen nach sich gezogen hat. Insofern würde der Mehrwert einer Verlängerung der von Kühn aufgeworfenen Fragen in der Dimension ‚wissenschaftliche Nationalisierung‘ nicht zuletzt darin liegen, größere Gewissheit darüber zu erlangen, ob und inwiefern diese Funktion durch die Entwicklung eigener sprachlicher Mechanismen innerhalb der werdenden Nationalsprache Deutsch kompensiert worden ist. Ganz auf den von Sebastian Kühn vorgezeichneten Bahnen versucht auch der Beitrag Bemerkung und Revision. Zur Steuerungsfunktion naturwissenschaftlicher Textsorten am Beispiel von Experimentalbericht und litterärhistorischer Erzählung um 1800 von DANIEL ULBRICH auf dem jenseits der wortsemantischen Grenzen von Vokabular und Terminologie liegenden Terrain höher aggregierender Kommunikationsformen und Darstellungsweisen nach sprachlichen Strukturen und Phänomenen zu fahnden, die für Wissenschaftsprozesse von Relevanz sein könnten. Wie bereits der Titel seiner Untersuchung zeigt, teilt Ulbrich dabei mit Kühn zugleich auch das spezifische Interesse an sprachlichen Mechanismen, die zur internen Steuerung von Forschungsprozessen beitragen. Während Kühns Studie die Situation der zumindest konzeptuell bereits vergleichsweise konsolidierten Astronomie um 1700 in den Blick nimmt und sich mit der Analyse von Beobachtungsnotaten insbesondere auf unpublizierte Texte konzentriert, wendet sich Ulbrichs Untersuchung der gerade erst in Ausdifferenzierung befindlichen Chemie um 1800 zu und befragt mit der Analyse von Zeitschriftenartikeln explizit veröffentlichte Texte auf ihr sprachlich verfasstes Potential zur Forschungssteuerung. Ins Zentrum seines Beitrages, der vor dem Hintergrund gattungs- oder textsortengeschichtlicher Überlegungen und im Medium rhetorisch aufmerksamer Lektüre narratologische, intertextualitätstheoretische und sprechakttheoretische Perspektiven miteinander verschränkt, rückt dabei zum einen – unter dem Rubrum Revision – die Gattung der litterärhistorischen Erzählung und zum anderen – unter dem Rubrum Bemerkung – die Textsorte des Beobachtungs- bzw. Experimentalberichts, für die auf der einen Seite Alexander Nicolaus Scherers Geschichte der Ausbreitung der neuern

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oder antiphlogistischen Chemie in Teutschland, die dessen zwischen 1800 und 1802 erschienenes Zeitschriftenprojekt Archiv für die theoretische Chemie eröffnet, und auf der anderen Seite die sogenannten Kleinen Bemerkungen aus der Chemie einstehen, die Johann Friedrich August Göttling regelmäßig in seinem Almanach oder Taschenbuch für Scheidekünstler und Apotheker zwischen 1780 und 1803 publiziert hat. Wie sich zeigt, erschöpft sich der kommunikative Zweck beider Gattungen nicht in der Erfüllung rein konstativer Funktionen, sondern dient zugleich stets auch bestimmten performativen Aufgaben. Die litterärhistorische Erzählung verfolgt also keineswegs bloß rein historiographische, an der Darstellung von (Wissenschafts-)Geschichte als solcher interessierte Ziele, und ebenso wenig beschränkt sich die kommunikative Funktion der chemischen Bemerkung ausschließlich auf eine rein physiographische, an der Darstellung von Naturphänomen als solchen interessierte Aufgabenstellung. Im Sinne der Frage nach ihrem möglichen Beitrag zur Steuerung des Forschungsprozesses spielt dabei bei der Revision wie bei der Bemerkung vor allem die direktive und die deklarative Dimension eine zentrale Rolle: Beide Textsorten suchen ihre Leser (im Sinne eines direktiven Anliegens) zu einem bestimmten Verhalten anzuhalten oder zu bestimmten Handlungen zu bewegen und beide verfolgen (im Sinne eines deklarativen Anliegens) die Absicht, im Sinne einer Unterscheidung zwischen scientia reliqua und scientia desiderata bestimmte Regionen im Universum der Forschungsgegenstände als bereits erschlossenes oder als noch der Erschließung harrendes Terrain auszuweisen bzw. nach Maßgabe einer Unterscheidung zwischen nach wie vor gültigen und bereits obsoleten Aussagen bestimmte Erkenntnispfade entweder zum Königs- oder aber zum Holzweg künftiger Forschung zu erklären. Gleichwohl unterscheiden sich die beiden Textsorten hinsichtlich der spezifischen Typen von Sprechakten, die in ihnen dominieren, hinsichtlich des prototypischen propositionalen Gehaltes, auf die sich diese Sprechakte beziehen, und hinsichtlich der spezifischen sprachlichen Formen, die im Dienste der mit diesen Sprechakten verfolgten kommunikativen Ziele stehen. Infolgedessen differieren litterärhistorische Erzählung und Bemerkung auch hinsichtlich des Regimes intertextueller Vernetzung oder Verkettung, in das sie jeweils eingelassen sind oder das durch sie vermittels der in ihnen wirkenden illokutionären Kräfte allererst etabliert wird. Ganz auf der Linie der einmal mehr auf Francis Bacon als einen der wichtigsten Ahnväter des Genres zurückgehenden Vorgaben sucht – wie Ulbrich in seiner Lektüre von Scherers Geschichte der Ausbreitung herausarbeitet – auch die litterärhistorische Erzählung um 1800 eine allgemeinere wissenschaftsethische Aufgabenstellung mit einer im engeren Sinne forschungspragmatischen Aufgabestellung im Medium des Narrativen miteinander zu verbinden. Infolgedessen ist es zum einen das konkrete Verhalten einzelner Mitglieder der scientific community, das in Form von mehr oder weniger elaborierten und mehr oder weniger in den Gesamtzusammenhang des Erzählten verwobenen moralischen Exempeln ins Zentrum des narrativen Interesses der litterärhistorischen Erzählung rückt und zum propositionalen Gehalt von mehr oder weniger expliziten Anweisungen oder Ratschlägen wird, die als direktive Sprechakte auf die Propagierung bzw. Sanktionierung wissenschaftlich (in)adäquater Handlungsmuster unter ihrer Leserschaft abzielen. Zum

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anderen sind es das Tableau und die Folge von unterschiedlichen innerhalb eines fraglichen Zeitraumes von den einzelnen Mitgliedern der scientific community zu einem bestimmten Themenkomplex geleisteten Forschungsbeiträgen bzw. von diesen vertretenen Auffassungen, die im Mittelpunkt des narrativen Anliegens dieser Textsorte stehen und zum propositionalen Gehalt eines den Gesamtzusammenhang der Erzählung überspannenden deklarativen Sprechakts werden, der einen zwischen Erforschtem und Unerforschtem bzw. geltenden und obsoleten Forschungsaussagen differenzierenden aktuellen Forschungsstand zu definieren sucht. In narrativer Hinsicht arbeiten die beiden Dimensionen sich einander dabei im Allgemeinen zu, insofern die moralische Bewertung von Verhaltensweisen häufig in einen mehr oder minder expliziten motivationalen Zusammenhang mit der Kennzeichnung des epistemologischen Status von Forschungsaussagen gestellt wird, negativ bewertetes Verhalten also als Anzeichen, wenn nicht gar als Ursache der Unrichtigkeit und Obsoletheit bestimmter wissenschaftlicher Auffassungen erscheint, positiv bewertetes Verhalten hingegen als Anzeichen oder Ursache ihrer Wahrheit und berechtigten Geltung dargestellt wird. Zwar trägt die Verbindung dieser beiden Perspektiven in ihrer Simplizität ohne Zweifel erheblich zur narrativen Überzeugungskraft der litterärhistorischen Erzählung bei. Zugleich allerdings liegt in dieser Kombination auch eine klare Beschränkung ihrer Möglichkeiten. Denn häufig setzt sich die Bewertung des epistemologischen Status einzelner Forschungspositionen im metaleptischen Lichte einer moralischen Charakteristik ihrer Urheber beinahe vollständig an die Stelle einer im engeren Sinne argumentativen Auseinandersetzung, und an die Stelle einer detaillierten Darstellung der einzelnen empirischen und/oder argumentativen Schritte, die die beschriebene scientific community – beispielsweise im Falle einer durch ein experimentum crucis zu entscheidenden Hypothese – allmählich zu einer neuen und/oder richtigeren Auffassung hinsichtlich eines bestimmten Themenkomplexes haben kommen lassen, tritt nicht selten einfach ein Erzählschema, das das wahre Gute und das böse Falsche miteinander streiten und am Ende das Wahre und Gute obsiegen lässt. Infolgedessen hält die litterärhistorische Erzählung zwar in direktiver Hinsicht im Sinne des Topos von der historia magistra vitae in der Tat zur Einhaltung einer Reihe von allgemeinen Verhaltensnormen an, vermag aber – den Glauben an eine Geschichte als Lehrmeisterin des Lebens überhaupt vorausgesetzt – keinerlei konkrete Ratschläge bei der Orientierung in vergleichbaren künftigen Situationen zu geben. Hinzu kommt, dass die fraglichen direktiven Sprechakte, was ihren Intensitätsgrad und die Nachdrücklichkeit betrifft, mit der sie ihr Anliegen artikulieren, zumeist allenfalls von empfehlendem Charakter sind. Vor allem aber sind sie fast durchweg von eher impliziter und vergleichsweise wenig institutionalisierter Natur, so dass es zum Teil komplizierter inferenzieller oder hermeneutischer Prozesse bedarf, um sie überhaupt als potentielle direktive Sprechakte zu identifizieren. Zudem führen sie, nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass sie stets erst aus einem narrativen Text heraus erschlossen werden müssen, nicht selten sogar zu tendenziell widersprüchlichen Anweisungen. Aus ähnlichen Gründen wie bei der direktiven Dimension, nämlich der einfachen narrativen Logik eines moralisierenden Erzählschemas, erweist sich die litterärhistorische Erzählung schließlich auch in deklarativer Hinsicht zwar als

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relativ stark darin, ein Forschungsparadigma als Ganzes zum aktuell geltenden Forschungsstand zu erklären, tut sich aber, weil sie zu diesem Zwecke unter der Hand suggerieren muss, dass das fragliche Paradigma im Grunde keinerlei Fragen offen lässt, bedeutend schwerer damit, einzelne Lücken und Desiderata innerhalb dieses Paradigmas auszuweisen und deckt sie deshalb letztlich eher zu, als dass sie sie offenlegen würde – mit dem Effekt, dass sie zwar unvermeidlicherweise einen intertextuellen Reflex auf das ihr vorausgehende Schrifttum darstellt, selbst aber nur schwer in der Lage ist, ein in die Zukunft gerichtetes Regime intertextueller Bezüge zu etablieren. Demgegenüber erweist sich – wie Ulbrich anhand der Analyse der in Göttlings Almanach publizierten Bemerkungen zeigt – das im Medium von Beobachtungsund Experimentalberichten etablierte Regime von performativen Sprechakten als erheblich konkreter und detaillierter hinsichtlich des propositionalen Gehaltes der dabei zur Anwendung kommenden deklarativen und direktiven Sprechakte – und damit sowohl hinsichtlich der Zuweisung eines epistemologischen Status nach dem Schema erforscht/unerforscht als auch hinsichtlich der Handlungen, die im Anschluss daran im Verlaufe künftiger Forschung durchzuführen sind. Zugleich gibt sich dieses Regime, was den Intensitätsgrad der direktiven Sprechakte betrifft, dabei auch deutlich nachdrücklicher bei der Verfolgung seiner kommunikativen Ziele. Vor allem aber wird durch die sprechakttheoretischen Eigenschaften der Textsorte Bemerkung in der Tat ein konsequent in die Zukunft gerichtetes Regime intertextueller Bezüge etabliert, das sich in der fortwährenden Wiederaufnahme des propositionalen Gehalts früher publizierter Bemerkungen in später publizierten Bemerkungen spiegelt – und damit gleichsam in den Beziehungen zwischen dem, was man vielleicht als setzende Bemerkungen, und dem, was man vielleicht als nach-setzende Bemerkungen bezeichnen könnte. In der Tat nämlich sind es, anders als bei der litterärhistorischen Erzählung, nicht bloß die von der konkreten Praxis des forschenden Umgangs mit den Naturphänomen im engeren Sinne schon relativ weit entfernten und allenfalls als summarisches Resultat metaleptisch für ihn einstehenden Publikationsereignisse und auch nicht nur nach relativ allgemeinen moralischen Gesichtspunkten bewertete Beispiele vornehmlich diskursiven wissenschaftlichen Handelns, sondern stets einzelne, durch konkrete Laboroperationen ausgelöste bzw. sich im Zuge konkreter Laboroperationen ergebende chemische Reaktionen oder dabei entstehende chemische Produkte, die als propositionale Gehalte zum Gegenstand der sich im Medium der Bemerkungen artikulierenden performativen Sprechakte werden. Das Kernelement dieses Regimes an forschungssteuernden Sprechakten stellt dabei die basale Differenz zwischen zwei Grundtypen von setzenden Bemerkungen dar, die sich als deskriptive (oder prozedurale) und als narrative (oder eventuale) Bemerkungen bezeichnen lassen und sich in sprachlicher Hinsicht vor allem durch unterschiedliche Ausprägungen in der Kategorie Tempus und in den mit ihr kovariierenden Diskursmarkern manifestiert, durch die der jeweils dargestellte Ablauf des fraglichen Reaktionsgeschehens im Sinne eines deklarativen Sprechaktes (im Falle der deskriptiven Bemerkungen) zu einem bereits hinreichend bestätigten oder aber (im Falle der narrativen Bemerkungen) zu einem noch nicht hinreichend bestätigten Sachverhalt erklärt wird und

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zugleich entweder einem kommissiven Sprechakt, durch den sich der Herausgeber gegenüber seinen Lesern zu einer Art Versprechen verbindet, dass die beschriebenen Operationen als konsolidiertes Verfahren stets zu den dargestellten Reaktionen oder Produkten führen werden, oder aber einem direktiven Sprechakt unterworfen wird, durch den der Herausgeber seine Leser durch fragende Aufforderung dazu zu verbinden sucht, die erzählten Operationen zu wiederholen und einer im Dienste induktiver Erkenntnisinteressen stehenden geschlossenen Frage nach der Konsolidierbarkeit des fraglichen Ereignisnexus die Replizierbarkeit der dargestellten Reaktionen oder Produkte und/oder im Sinne einer im Dienste eines abduktiven Erkenntnisinteresses stehenden offenen Frage nach der Erklärbarkeit des fraglichen Ereignisnexus über die möglichen Ursachen des Geschehenen im Lichte anderer Erkenntnisse nachzudenken oder vermittels Variation der fraglichen Laboroperation auf sie zurückzuschließen. Damit ist durch die setzenden Bemerkungen zweifellos bereits ein basaler Mechanismus zur Forschungssteuerung etabliert. Sein tatsächliches Potential entfaltet er allerdings erst im Zusammenspiel mit den nachsetzenden Bemerkungen. Denn die sich im Rahmen der narrativen Bemerkungen in unausgesprochener Form artikulierenden Fragen nach der Konsolidierbarkeit bzw. Erklärbarkeit bestimmter Reaktionsschemata können bei gegebenem Anlass – sei es aufgrund aktueller neuer Erkenntnisse zu einem bestimmten Gegenstand oder sei es in Form der systematischen Neubewertung eines ganzen Ensembles von Gegenständen – im weiteren Erscheinungsverlauf ihres Publikationsmediums wieder aufgenommen werden und der fragliche Ereignisnexus in diesen Wiederaufnahmen explizit als bestätigt bzw. unbestätigt ausgewiesen und/oder die offene Frage nach seinen möglichen Ursachen als geklärt, ungeklärt oder teilweise geklärt deklariert und gegebenenfalls in einen explizit die Frageform annehmenden Sprechakt überführt werden, der entweder die ursprüngliche offene Frage nach den Ursachen erneuert, sie durch Präzisierung ihres Skopus oder Konditionalisierung von Randbedingungen in eine geschlossene Frage umwandelt oder durch eine Frage weiterführender Natur ersetzt. Angesichts der permanenten Neujustierung des epistemologischen Status von je einzelnen Reaktionsereignissen nach dem Schema erforscht/unerforscht und der damit einhergehenden permanenten Neujustierung des Ensembles an zu ihrer weiteren Erforschung je zu fordernden Handlungen entlang der sich jeweils zwischen setzenden, nach-setzenden und nicht selten auch nach-nach-setzenden Bemerkungen entspinnenden intertextuellen Verkettungen kommt die Textsorte des Beobachtungs- und Experimentalberichts den Erwartungen, die sich ursprünglich mit der litterärhistorischen Erzählung als eigens der Funktion der Forschungssteuerung gewidmeter Textsorte verbanden, letztlich eindeutig näher als die Gattung der litterärhistorischen Erzählung selbst – macht das System der permanenten Revision von Einzelforschungsständen doch in geradezu vorbildlicher Weise von den Möglichkeiten Gebrauch, die in der Temporalisierung der Wissensgewinnung angelegt sind und wirft es doch in seinen provisorischen Ansätzen zur Etablierung eines auf Periodizität ausgelegten Fachpublikationssystems einen ersten institutionellen Anker für die Chemie aus, an dem dann in der Folge gleichsam weitere Institutionalisierungsprozesse andocken können. Insofern beginnt sich mit ihm, wie man

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sagen könnte, tatsächlich die Erfüllung der Hoffnungen abzuzeichnen, die Francis Bacon in die litterärhistorische Erzählung gesetzt hatte – und macht letztere gerade deshalb als Steuerungsinstanz überflüssig. Und doch liegt in gewisser Weise auch dies durchaus noch in der Konsequenz der Überlegungen des Lordkanzlers – steht doch, zumindest einer möglichen Lesart seiner Ausführungen zufolge, die als solche alles andere als unproblematische Verknüpfung von wissenschaftsethischen und wissenschaftspragmatischen Funktionen in dieser Textsorte letztlich im Dienste des größeren wissenschaftspolitischen Anliegens, aus der Summe der bisherigen vitia wissenschaftlicher Forschung die Regeln für eine künftige res publica scientifica abzuleiten, in der es – ganz wie im neuatlantischen Wissenschaftsstaat – dank festgegründeter Wissenschaftseinrichtungen gar nicht mehr nötig ist, die Fehler der Wissenschaftler und den Stand der Dinge jeweils explizit zu bezeichnen. Und vielleicht ist es denn auch ein wenig mehr als bloße Koinzidenz, dass dieser Institutionalisierungsprozess, der am Ende das eine gattungsmäßige Lieblingskind Bacons, die historia literaria, überflüssig machen wird, einen seiner Anfänge gerade im Experimentalbericht und damit im zunehmenden Gebrauch einer Textsorte findet, die in letzter Instanz auf sein anderes sprachliches Lieblingskind, den Aphorismus, zurückgeht. Tatsächlich scheint sich mit den Bemerkungen also ein sprachliches Regime der Forschungssteuerung abzuzeichnen, das seine entsprechenden Funktionen gewissermaßen über den familialen Kontext eines wissenschaftlichen Oikos auch in die wissenschaftliche Polis der ganzen scientific community auszudehnen vermag. Dabei wäre freilich, um eine bereits im Zusammenhang mit Kühns Beitrag aufgeworfene Problematik noch einmal in anderer Form aufzunehmen, die Frage zu stellen, ob es sich bei dieser Errungenschaft um einen allgemeinen Effekt des allgemeinen Differenzierungs- und Modernisierungsprozesses im 18. Jahrhundert handelt, der mehr oder weniger alle Wissenschaft gleichzeitig zu erfassen beginnt, oder ob sich nicht vielleicht in Wissensfeldern, deren konzeptuelle Ausdifferenzierung bereits früher einzusetzen begonnen hat, auch bereits zu einem früheren Zeitpunkt vergleichbare Mechanismen etablieren konnten. Insofern könnte es im Sinne einer Verlängerung der von Ulbrich und Kühn gleichermaßen aufgeworfenen Fragestellungen in der Dimension ‚Ausdifferenzierung und Disziplinarisierung‘ etwa von Interesse sein, den gesamten Untersuchungszeitraum zwischen 1600 und 1850 disziplinenvergleichend auf entsprechende sprachliche Mechanismen in publizierten und unpublizierten Texten gleichermaßen hin abzuklopfen. Dabei gilt es freilich im Auge zu behalten, dass die Mechanismen der Forschungssteuerung, die sich im Medium der Bemerkungen entfalten, selbst nur einen ersten Anfang darstellen. Denn auch wenn bei ihnen im Gegensatz zur litterärhistorischen Erzählung, die es eher auf die Deklaration eines Gesamtforschungsstandes anlegt, durch die Bezweiflung der Unparteilichkeit ihres Autors nicht gleich dieser Forschungsstand auch als Ganzes seine Akzeptabilität zu verlieren droht, sondern zunächst einmal jeweils nur der im Medium einer Bemerkung deklarierte Forschungsstand zu einem einzelnen Gegenstand zurückgewiesen werden kann, so lassen sich am System der setzenden und nach-setzenden Bemerkungen gleichwohl auch die Grenzen disziplinärer Ausdifferenzierung zum fraglichen Zeitpunkt ablesen – ist

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es doch auch hier immer noch ein jeweils einzelner Herausgeber, der sich in dem Maße, wie er seine Leserschaft gleichsam kraft seiner persönlichen Autorität zu bestimmten Forschungshandlungen zu bewegen sucht, zugleich auch das persönliche Recht vorzubehalten versucht, nachher über den epistemologischen Status der durch diese Handlungen erlangten Erkenntnisse und damit über ihre jeweilige Anschlussfähigkeit zu entscheiden, und sich also erkennbar schwer damit tut, die Bewertung der Anonymität der gesamten scientific community zu überlassen – und dies mangels medialer Masse und angesichts noch unzureichender Institutionalisierung von Ausbildungswegen vielleicht auch tun muss. Insofern ließe sich sagen, dass der chemische Forschungsprozess hier gewissermaßen personalistisch übersteuert wird. Zugleich allerdings wird er – wie man ergänzen könnte – umgekehrt an einer Art konzeptueller Untersteuerung leiden, solange nicht ein sprachliches Dispositiv installiert und institutionalisiert ist, dessen Nutzen sich zwar bereits sowohl in Scherers Archiv für die theoretische Chemie (als Gegenstand und zumindest ansatzweise als alternatives Textorganisationsprinzip zum historiographischen Ordnungsraster der litterärhistorischen Erzählungen) als auch in Göttlings Almanach für Scheidekünstler und Apotheker (als Gegenstand und in den späteren Jahrgängen durchaus auch schon teilweise als in das Forschungssteuerungsregime der einzelnen Bemerkungen hineinverwobenes Element) abzeichnet, das seine eigentlichen Fähigkeiten aber, zumal in Deutschland, erst einige Jahre später unter Beweis stellen können wird – nämlich das System einer neuen chemischen Nomenklatur, das vom Kreis um Antoine Laurent de Lavoisier Ende der 1780er Jahre vorgeschlagen worden war. Denn durch diese neue chemische Nomenklatur wird eine geordnete Menge miteinander verbundener und aufeinander verweisender Aussagen über die Zusammensetzung chemischer Stoffe etabliert, die der semantischen Struktur jeder einzelnen Benennung jeweils unhintergehbar einbeschrieben ist. Da dadurch die Art und Zahl der Propositionen, die jeweils zum Gegenstand interrogativer und requisitiver Sprechakte werden können, wann immer ein Stoff bei seinem systematischen Namen genannt wird, auf eine relativ geringe Anzahl beschränkt ist – also vor allem, ob es sich bei einer vorgefundenen Substanz um einen Stoff mit der durch seinen jeweiligen Namen bezeichneten Zusammensetzung handelt und ob sich die Existenz eines von der Nomenklatur postulierten Stoffes von bestimmter Zusammensetzung tatsächlich nachweisen lässt – und da kraft der Regel, dass Signifikant und Signifikat in der Nomenklatur vollständig miteinander koinzidieren sollen, kein anderer propositionaler Gehalt als der durch die Systematik der Nomenklatur vorgegebene zum Gegenstand dieser Sprechakte werden kann, tendiert der Gebrauch systematischer Benennungen tatsächlich dazu, eine geradezu zwingende Kraft bei der Steuerung des Forschungsprozesses zu entfalten. Es nimmt daher auch nicht Wunder, dass ihr performatives Potential bei ihrer Einführung gleichsam von Freund wie Feind anerkannt worden ist – sei es von Seiten Lavoisiers selbst, der in seinem programmatischen Mémoire sur la nécessité de réformer et de perfectionner la nomenclature de la chimie (1787) explizit davon gesprochen hat, dass die Nomenklatur „ne permettra pas a ceux qui professeront la chimie de s’écarter de la marche de la nature“ oder sei es von der Seite derer, die ihrer Einführung eher skep-

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tisch gegenüberstanden und wie Friedrich Albert Carl Gren in seinem Entwurf einer neuen chemischen Nomenclatur, die auf keine Hypothesen gegründet ist (1795) in ihr den Versuch sahen, eine Art Wissenschaftsdespotie zu etablieren. Dabei verweist das Beispiel der Auseinandersetzung um die Einführung dieser Nomenklatur zugleich auch noch einmal darauf, inwiefern es Sinn machen kann, Fragestellungen, die sich auf die Rolle der Sprache im Prozess disziplinärer Ausdifferenzierung beziehen, mit Fragestellungen zu verbinden, die sich mit dem Einfluss des (nicht zuletzt sprachlich geprägten) Konzepts der Nationalität auf die Entwicklung der Wissenschaften befassen. Denn offenkundig spielen – wie bereits weiter oben angedeutet – bei der Rezeption der im Dienste des disziplinären Differenzierungsprozesses der Chemie stehenden Nomenklatur regional und (proto-)national unterschiedliche Wissenschaftstraditionen und -kulturen bereits in struktureller Hinsicht eine wichtige Rolle. Und kaum geringer wird man wohl die Bedeutung veranschlagen dürfen, die der Auseinandersetzung um ihren Wert bei der Profilierung nationaler Wissenschaftsidentitäten in symbolischer Hinsicht zugekommen sein dürfte – wie sie sich etwa in der fraglos auf die Französische Revolution gemünzten Charakterisierung der Nomenklatur als Despotie andeutet. In diesem Sinne könnte man denn etwa – um abschließend nur ein Beispiel für eine Verlängerung in die Dimension ‚wissenschaftliche Nationalisierung‘ zu nennen – die in Ulbrichs Beitrag thematisierte Frage nach dem Beitrag bestimmter Textsorten und sprachlicher Dispositive zur Steuerung des Forschungsprozesses durch vergleichende Studien zur länderspezifischen Rolle des (litterär-)historischen Darstellungsmodus ergänzen. Denn zumindest auf den ersten Blick könnte es zum Beispiel naheliegen, die Tatsache, dass Lavoisier in seinem Traité élémentaire de chimie bereits 1789 angesichts seiner Überzeugung, dass sie nur den natürlichen Gang der Erforschung und Darstellung der Natur stören würden, nicht einmal knappste historische Versatzstücke zu dulden bereit ist, während Johann Wilhelm Ritter umgekehrt in seinem Versuch einer Geschichte der Schicksale der chemischen Theorie in den letzten Jahrhunderten aus dem Jahre 1808 die nächstnotwendigen Forschungsschritte nicht nur aus der Geschichte der Erforschung chemischer Phänomene, sondern geradewegs aus einer Geschichte dieser Phänomene selbst abzuleiten gewillt scheint, unterschiedlichen nationalen Forschungskulturen zuzurechnen. Andererseits aber wäre kaum weniger naheliegend, solche Zurechnungen wiederum als bloßen Ausdruck des bleibenden Einflusses nationaler Stereotypen zu interpretieren – und nur ländervergleichende Untersuchungen des genannten Typs könnten in dieser Frage tatsächlich für größere Klarheit sorgen. Der Beitrag Le vocabulaire de l’organisation chez Auguste Comte von ANDREA CAVAZZINI schließlich führt noch einmal die großen Hauptthemen des Themenschwerpunkts wie in einem Kaleidoskop zusammen und schlägt dabei, indem er die Bedeutung des Begriffs der Organisation für das Werk des Ahnvaters der Soziologie in den Blick nimmt und im Anschluss hieran die Fluchtlinien nachzeichnet, die ihn mit einer Reihe einflussreicher Denkpositionen im biologischen, politischen und soziologischen Diskurs des weiteren 19. wie des 20. Jahrhunderts verbinden, zugleich den Bogen zurück in die Gegenwart. Wie kaum ein anderer Gegenstand scheint das Ensemble diskursiver Versatzstücke, in das sich das Voka-

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bular der Organisation eingelassen sieht, dazu zu tendieren, zu Mustern zusammenzutreten, in denen die sich im Vektorfeld des Sprachlichen ausrichtenden thematischen Linien disziplinärer Ausdifferenzierung und wissenschaftlicher Nationalisierung mitsamt der ihnen gemeinsamen Schnittpunkte besonders markant hervortreten. Tatsächlich schreibt sich in Comtes Begriff der Organisation, so wie ihn Cavazzini in seiner Lektüre des Cours de philosophie positive (1830–1842) herauspräpariert und in seinen vielfältigen Verflechtungen offenlegt, die Geschichte des sprachlich induzierten Auseinandertretens des wissenschaftlichen Feldes in unterschiedliche gegenstandsbezogene Epistemologien, wie sie Meyer anhand der Entwicklung des Wissenschaftsbegriffs und Demeter am Beispiel der Herauslösung einer sprachlich vitalisierten Physiologie bzw. science of man aus der in den Grenzen mechanistischer Terminologie gehaltenen klassischen Naturphilosophie beschrieben hatten, ebenso fort, wie sich in ihm die Idee eines sich kraft wissenschaftlicher Analyse eröffnenden politischen Aktionsraumes abzuzeichnen beginnt, der in Comtes Spätwerk – vor allem seinem Système de politique positive (1851–1854) – zusehends an konkretem staatlichen Profil und in dieser Form schließlich sogar Einfluss auf tatsächliche Prozesse des nation building gewinnen sollte. Während Meyers Vergleich des deutschen und des englischen Wissenschaftsbegriffs allerdings im Wesentlichen die ersten Anzeichen einer Teilung in zwei Kulturen – die nachmaligen Natur- und Geisteswissenschaften – spürbar werden ließ, deren Mechanismen in Demeters synoptischer Betrachtung von Cullen und Hume am Beispiel von Gegenstandsbereichen, die sich späterhin je einer dieser beiden Kulturen zuordnen sollten, exemplifiziert wurden, tritt in Cavazzinis Beitrag mit Comte ein Mann auf den Plan, der sich eindeutig in die Vorgeschichte einer klaren Scheidung in drei Kulturen – mit den nachmaligen Sozialwissenschaften als dritter Kultur – einreihen lässt. Ungebrochen bleibt freilich auch bei Comte die zentrale Rolle von Verfahren der Übertragung von bereits andernorts gebrauchtem Vokabular bei der Ausgrenzung neuer Wissensbereiche und der Begründung ihrer Eigenständigkeit. So werden nach Comtes Konzeption die Disziplinen der Biologie und Soziologie zwar einerseits in der Tat vermittels des polysemen Vokabulars der Organisation gemeinschaftlich von den Disziplinen Mathematik, Astronomie, Physik und Chemie geschieden, doch macht es andererseits – wie Cavazzini betont – der ganz spezifische, die Metaphorizität stets durchsichtig lassende Gebrauch dieses Vokabulars Comte zugleich möglich, Biologie und Soziologie so weit voneinander getrennt zu halten, dass jegliche Reduktion des Sozialen auf das Biologische vermieden wird. Gleichzeitig sorgt eben dieser Gebrauch auch dafür, dass in Comtes Konzeption die Theorie der Wissenschaften und die soziale und politische Praxis in ein Verhältnis enger wechselseitiger Bedingtheit treten, wobei es vor allem an der Tatsache zu liegen scheint, dass Comte das Konzept der Organisation als steigerungsfähigen Begriff angelegt hat, die es ihm einerseits erlaubt, die Wissenschaft vom Leben und die Wissenschaft von der Gesellschaft konzeptionell voneinander abzuheben und andererseits epistemologische Theorie und gesellschaftlich-politische Praxis in einen engen wechselseitigen Implikations- und Wirkungszusammenhang zu bringen. Dabei beschränkt sich, wie Cavazzini zeigt, die Bedeutung dieses polyva-

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lenten Organisationsbegriffs keineswegs auf Comtes Philosophie. Vielmehr hat er, wie um die unverdiente Identifikation des Positivismus mit reflexionsarmer Faktenhuberei Lügen zu strafen, namentlich in Frankreich gerade auf die Theoriebildung in Biologie, Soziologie, Politologie und Wissenschaftsphilosophie einen kaum zu unterschätzenden Einfluss ausgeübt, der – wie nicht zuletzt das Beispiel der mit Namen wie Gaston Bachelard, George Canguilhem und Michel Foucault verbundenen Tradition der französischen épistemologie zeigt – bisweilen bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts nachwirkt. Darüber hinaus dürfte Comtes Organisationsbegriff aber, wie sich ergänzen ließe, auch in den Niederungen des allgemeinen französischen Sprachgebrauchs und im alltäglichen Vokabular der französischen Wissenschaftler Spuren hinterlassen haben. Das macht vor allem das Beispiel von Comtes Freund und positivistischem Mitstreiter Émile Littré deutlich, in dessen lexikographischen Arbeiten der Begriff der Organisation – wenngleich zweifellos in simplifizierter und zum Teil distorsionierter Form – nicht nur eine zentrale Rolle bei der Grenzbestimmung und internen Differenzierung der Lebenswissenschaften gespielt hat, sondern vor allem vermittelt über sein mehrfach wiederaufgelegtes Dictionnaire de Médecine (1855) auch die französische Wissenschaftssprache entscheidend mitgeprägt hat. Die Tatsache, dass diese Grenzbestimmungen in einem der emblematischsten und mutmaßlich meistkonsultierten französischen Fachwörterbücher des ausgehenden 19. Jahrhunderts stattfinden, lädt dabei – um einen Bogen zurück zu Fragestellungen zu schlagen, wie sie im Kontext des vorliegenden Themenschwerpunkts vor allem im Enzyklopädischen Stichwort und in Annette Meyers Beitrag verhandelt werden – nicht nur zu einer Untersuchung ihres tatsächlichen Einflusses auf den französischen Wissenschaftsbegriff und die praktischen Abgrenzungen der Disziplinen in Frankreich und zum Vergleich mit der Entwicklung in anderen Sprachgebieten ein, sondern macht noch einmal auf einer ganz materiellen Ebene deutlich, wie eng sich der Zusammenhang zwischen Prozessen wissenschaftlicher Differenzierung und wissenschaftlicher Nationalisierung gerade auf sprachlichem Gebiet gestalten kann. Jenseits des Sprachlichen und Konzeptionellen hält die Rezeptionsgeschichte mit der Gründung der ersten brasilianischen Republik, der República dos Estados Unidos do Brasil, im Jahre 1889 schließlich auch ein sprechendes Beispiel für das tatsächliche Umschlagen theoretischer Analyse sozialer Organisation in die Praxis politischer Reorganisation bereit und lässt sich damit in die Reihe gesellschaftlicher Großexperimente einreihen, die sich explizit an der planmäßigen Verwirklichung eines gleichsam verwissenschaftlichten Nationalstaates versucht haben. Und in der Tat scheint der sich nicht zuletzt unter der militärischen Elite des Landes großer Beliebtheit erfreuende Positivismus nicht nur – angefangen beim Präsidialsystem, das explizit in Auseinandersetzung mit Comtes Konzept der „république dictatoriale“ entwickelt wurde, über die zumindest grob an der von Comte propagierten Scheidung von „pouvoir matériel“ und „pouvoir spirituel“ orientierten Trennung von Staat und Kirche, bis hin zur Abschaffung der Sklaverei – zahlreiche Spuren in der Verfassung der sogenannten República Velha hinterlassen zu haben, sondern vor allem auch eine zentrale Rolle bei der Etablierung des brasilianischen Erziehungs- und Wissenschaftssystems gespielt zu haben, die wesentlich von Anhängern

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Comtes betrieben wurde und sich zumindest in den ersten Jahrzehnten der ersten Republik auch klar in entsprechenden Strukturen und Lehrplänen niederschlug. Die Tatsache, dass dieses System sich – wie der Positivismus überhaupt, der heutzutage in Form des die brasilianische Staatsflagge zierenden Wahlspruchs „ordem e progresso“ allenfalls noch eine ferne vexillologische Reminiszenz darzustellen scheint – gleichwohl nicht dauerhaft hat halten können, dürfte hingegen nicht zuletzt darauf zurückzuführen sein, dass sich ein vollständig nationaler Sonderweg in Strukturen von Ausbildung und Wissenschaft schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als allzu schwierig durchzuhaltendes Unterfangen erwiesen hätte. In diesem Sinne lässt sich sein Verschwinden als Indiz dafür werten, dass der nationale Rahmen – der zwischen 1600 und 1850 zum privilegierten Ort der Wissenschaften geworden war und als solcher die Entwicklung der Wissenschaften für eine gute Strecke des Wegs vorangetrieben hatte, während er gleichzeitig zu einem ihrer zentralen Zielpunkte avanciert war – ab einem bestimmten Zeitpunkt an seine Grenzen zu stoßen und gleichsam über sich hinauszudrängen beginnt. Darüber hinaus dürfte der Verzicht auf weitere Orientierung an den Leitkonzepten Comtes allerdings auch darauf verweisen, dass mit dem Anbruch des neuen Jahrhunderts alle jene Konzepte ihre Plausibilität endgültig einzubüßen beginnen, die wissenschaftliche Differenzierung nicht als kontingenten Prozess mit grundsätzlich offenem Ausgang, sondern als wesentlich zielgerichteten Vorgang begreifen, der bei aller Betonung operativer und thematischer Entkopplung der Wissenschaften untereinander nicht auf den produktiven Umgang mit prinzipiell unüberbrückbaren Differenzen sondern auf ihre Aufhebung in einer höheren Einheit abzielt, und das dominante Ordnungsprinzip der sich in diesen Prozessen herausbildenden Disziplinen folglich nicht in einem heterarchischen Nebeneinander sondern in einem hierarchischen Über- und Ineinander erkennen. Damit bezeichnet er gleichsam stellvertretend den Punkt, an dem der Prozess disziplinärer Differenzierung so weit fortgeschritten ist, dass er sich auch unter Rekurs auf die Vorstellung einer in letzter Instanz wiedereinholbaren Einheit nicht mehr länger invisibilisieren lässt. Und schließlich markiert er damit in gewisser Weise auch das praktische Scheitern all jener Projekte, die – vom Glauben an die Möglichkeit reibungs- und verlustfreier Steuerungsmechanismen beseelt – die Verzahnung von Wissen und Macht bis an einen Punkt treiben wollen, an dem der Staat die unmittelbare Steuerung der Wissenschaften und/oder die Wissenschaften die unmittelbare Steuerung des Staates zu übernehmen in der Lage ist. Dabei bedeutet die Einsicht, dass es mit der Steuerbarkeit in fremden Gewässern nicht immer so gehen will, wie der Steuermann es sich wünscht, und die Beobachtung, dass das Staatsschiff jenseits der Säulen des Herakles scheitern, das Wissenschaftsschiff aber an den Küsten Atlantis zuschanden gehen kann, freilich nicht, dass man aus diesen Träumen, die Francis Bacon, Karl Marx und Auguste Comte je auf ihre Weise geträumt haben, nicht – wie etwa Michel Foucault im sicheren Hafen seines Narrenschiffes – sehr wohl seine Lehren über den Zusammenhang von Wissen und Macht ziehen kann; zumindest dann, wenn man Wissen nicht unbesehen mit Wissenschaft und Macht nicht unbesehen mit Staat gleichsetzt, sondern das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Staat selbst als ein historisch und sprachlich Gewordenes ansieht.

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„Saturn – als ein rundes Küglein in einer Schüssel“ Spuren mündlicher Kommunikation in naturforschenden Aufzeichnungen um 1700 Sebastian Kühn Abstract What does it mean, if a scholar wrote occasionally in his journal book that someone had said something to him? Does the spoken word play a role in science at all? Orality seems to be an odd topic for the history of sciences, as what we can know of it, is in written sources, and science seems to be inseparably connected to literacy. In analysing the astronomical journal books of the Kirch family in Berlin, the article makes an argument for the study of orality in the sciences. It argues that writing about orality in scientific scrapbooks entails specific social and epistemic implications. In this respect, writing points to performative actions beyond pure textualism. In the end, it is rooted in the practice of knowledge production and illustrates the importance of orality in the sciences. Especially two aspects of orality in written sources are discussed here: implicit and direct orality, i.e. explicit references to direct orality (in the form ‘X said …’), and situations in which oral communication is not explicitly referred to, but in which it must be considered as a condition to understand the meaning of the text, or where orality was put down on paper.

1. Einleitung: Mündlichkeit als Problem der Wissenschaftsgeschichte Es wird vielleicht als gewagt gelten, sich dem Thema der mündlichen Kommunikation in der Naturforschung um 1700 zu widmen. Anders als etwa die ethnografisch angelegten Laborstudien verfügen wir über keinen direkten Zugang zur Mündlichkeit, sondern können darauf nur vermittelt über in der Regel schriftliche Zeugnisse Rückschlüsse ziehen. Diese Quellenproblematik erfordert eine eigene Methodologie der „Archäologie“ gesprochener Sprache.1 Hinzu kommt für die Wissenschaftsgeschichte, dass die epistemologische Bedeutung des Mündlichen überhaupt in Frage gestellt werden kann. Auch wenn die These von Jack Goody, dass das System der Wissenschaften mit der zentralen Methode des Beweises nicht nur eng an Formen der Schriftlichkeit gebunden ist, sondern diese voraussetzt, einige Differenzierungen erfahren hat, so steht letztlich in der Regel doch allein die schriftliche Aufzeichnung wissenschaftlicher Ergebnisse im Zentrum des For-

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Vgl. dazu Wulf Oesterreicher (2008), Zur Archäologie sprachlicher Kommunikation. Methodologische Arbeit an Fallbeispielen, in: Peter von Moos (Hrsg.) (2008), Zwischen Babel und Pfingsten. Sprachdifferenzierung und Gesprächsverständigung in der Vormoderne (8.–16. Jahrhundert), Münster: LIT, S. 137–159. Jahrbuch für Europäische Wissenschaftskultur, Bd. 7 (2012), 83–106

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schungsinteresses.2 Situationen mündlicher Kommunikation werden entweder gar nicht thematisiert oder interessieren nur insofern, als sie in Schrift (überprüfbar, repetierbar) überführt werden können. Eine klare Abgrenzung und Hierarchie zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit scheint so für die Wissenschaftsgeschichte vorzuherrschen: Nur schriftliche Aufzeichnungen können als wissenschaftlich gelten; Mündlichkeit ist nur vorläufig und muss in diesem Rahmen teleologisch auf die Schrift verweisen, die ihrerseits aber durchaus ohne Mündlichkeit bestehen kann. Wenn nun hier die Mündlichkeit in den Wissenschaften in das Zentrum des Interesses gerückt wird, so ist dabei zunächst einmal ein Desiderat angezeigt,3 das in zweifacher Hinsicht eine nähere Beschäftigung verdient. Zum einen dürfen im Anschluss an die neueren social studies of science4 nähere Erkenntnisse über die Praktiken und Prozesse der Wissensproduktion erwartet werden. Nicht nur aktive und passive Schriftkenntnisse (möglichst in mehreren, v.a. den ‚gelehrten‘ alten Sprachen)5, Apparaturen und die Beherrschung technischer Fähigkeiten waren dafür wichtig, sondern, so die ganz banal klingende These, auch mündliche Kommunikation und Interaktion. Situationen der Mündlichkeit dürfte demnach ein jeweils kontextgebundener epistemologischer und sozialer Wert zukommen. Zum anderen wandelt sich damit auch das Bild von Wissenschaft(en): Sie können nicht mehr als homogene Größen angesehen werden, die intern zielgerichtet und logisch organisiert, historisch-genealogisch und teleologisch verfasst sind. Stattdessen wird davon ausgegangen, dass wissenschaftliches Handeln vielfältig verbunden ist mit Situationen, die auf den ersten Blick mit Wissenschaft nichts zu tun zu haben scheinen. Die Bedeutung des ‚Alltäglichen‘, des Sozialen, ist dabei zu betonen. Die Grenzen zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft verwischen somit; die Pluralität und Heterogenität von wissenschaftlichen Praktiken wird hingegen

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Jack Goody (1977), The Domestication of the Savage Mind, Cambridge: Cambridge University Press; Jack Goody (1987): The Interface between the Oral and the Written, Cambridge: Cambridge University Press. Vgl. auch David R. Olson (1991), Literacy and Objectivity. The Rise of Modern Science, in: David R. Olsen & Nancy Torrance (Hrsg.), Literacy and Orality, Cambridge: Cambridge University Press, S. 149–164. Eine Verteidigung der Bedeutung von Schriftlichkeit in den Wissenschaften in Anlehnung an Goody von Claire Doquet-Lacoste (2009), Écrits intermédiaires, écritures intermettentes. Carnets, notes, bribes de science, in: Claire Doquet-Lacoste & Josiane Boutet (Hrsg.), Écritures scientifiques. Carnets, notes, ébauches, (= Langage & société, Bd. 127), Paris: Maison des Sciences de l’Homme, S. 7–22. Vgl. den Essay von Françoise Waquet (2003), Parler comme un livre. L’oralité et le savoir (XVIe–XXe siècle), Paris: Albin Michel. Programmatisch wurde der Sammelband von Andrew Pickering (Hrsg.) (1992), Science as Practice and Culture, Chicago: Chicago University Press; siehe insbesondere den einleitenden Aufsatz: Andrew Pickering, From Science as Knowledge to Science as Practice; in: Pickering (Hrsg.) (1992), a.a.O., S. 1–26. Siehe dazu etwa Gabriele Jancke (2005), Sprachverhalten in multilingualem Umfeld – Autobiographisches Schreiben des 15. und 16. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum, in: Christiane Maass & Annett Volmer (Hrsg.), Mehrsprachigkeit in der Renaissance, (= GermanischRomanische Monatsschrift, Beiheft 21), Heidelberg: Universitätsverlag Winter, S. 167–180.

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deutlich. Das heißt, dass das Interesse hier auf die sozialen Prozesse der Wissensgenerierung gerichtet ist: Können unter Betrachtung von Situationen der Mündlichkeit weitere Rückschlüsse darauf gezogen werden? Zum anderen interessiert der epistemologische Status des Wissens: Verändert sich der Blick auf das Wissen, wenn auch mündliche Kommunikation beachtet wird? Vorausgeschickt sei, dass nicht von einem eigenen epistemologischen Status mündlicher Kommunikation ausgegangen wird – Mündlichkeit und Schriftlichkeit bewegen sich in einem komplexen Spiel des Miteinander, mit graduellen Verschiebungen, Übergängen und Überlappungen im jeweiligen Gebrauch, dem eine dichotomischen Entgegensetzung nicht gerecht werden würde.6 Auch eine ‚ursprüngliche‘ Kommunikation wird nicht angenommen, wenn Mündlichkeitsspuren gesucht werden. Vielmehr gehen wir im Anschluss an die variationistische Soziolinguistik7 von Mündlichkeit in mehreren Registern im Zusammenhang mit schriftlichen Aufzeichnungen aus, Registern, die einen spezifischen Wert hatten: Wenn Sprache eine Form ist, Wissen auszudrücken (nicht die einzige Form – verweisen kann man etwa auf das implizite Wissen, auf nicht-sprachliche Grapheme wie Tabellen, Linien und Zeichnungen, auf die zugerichteten Objekte naturwissenschaftlicher Beschäftigung),8 so wäre zu vermuten, dass verschiedene Sprachregister auch unterschiedliche Wissensformen ermöglichen. Jede wissenschaftliche Äußerung hat dabei mehrere Bedeutungsebenen – eben nicht nur eine epistemologische im Rahmen der Wissenschaftslogik, sondern auch eine soziale, politische, religiöse etc. Bedeutung und Sinn auch in den Wissenschaften sind nicht rein epistemologisch festgelegt, sondern immer auch sozial verfasst.9 Sprache in der Naturforschung ist eine Handlung, die nicht einfach Dinge ‚abbildet‘, sondern vielfältige Beziehungen schafft und damit weit über den Bereich der Sprachlich-

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Eine Einführung in die Problematik bieten Hartmut Günther & Otto Ludwig (Hrsg.) (1994), Schrift und Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung, (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, Bd. 10), Berlin & New York: Walter de Gruyter, insbesondere die Beiträge von Peter Koch & Wulf Oesterreicher (1994), Funktionale Aspekte der Schriftkultur, in: Günther & Ludwig (Hrsg.) (1994), a.a.O., S. 587–604, mit weiteren Literaturangaben Wolfgang Raible (1994), Orality and Literacy, in: Günther & Ludwig (Hrsg.) (1994), a.a.O., S. 1–17 und Nancy H. Hornberger (1994), Oral and Literate Cultures, in: Günther & Ludwig (Hrsg.) (1994), a.a.O., S. 425–431. Einer medialen Definition von Mündlichkeit und Schriftlichkeit wird hier eine konzeptionelle (situativ-pragmatische) Definition entgegenstellt. Vgl. die gute Einführung, mit weiterer Literatur, von Bernard Laks (2008), Variatio Omnibus: notes sur le changement et la variation, in: Moos (Hrsg.) (2008), a.a.O., S. 91–121. Nur beispielhaft können aus diesem Bereich, der sich in den letzten Jahren stark entwickelt hat, einige Literaturhinweise gegeben werden: Michael Polanyi (1985), Implizites Wissen, Frankfurt/Main: Suhrkamp; Helmar Schramm (Hrsg.) (2003), Bühnen des Wissens. Interferenzen zwischen Wissenschaft und Kunst, Berlin: Dahlem University Press; Hans-Jörg Rheinberger (2006), Schnittstellen. Instrumente und Objekte im experimentellen Kontext der Wissenschaften vom Leben, in: Helmar Schramm, Ludger Schwarte & Jan Lazardzig (Hrsg.), Instrumente in Kunst und Wissenschaft. Zur Architektonik kultureller Grenzen im 17. Jahrhundert, Berlin: Walter de Gruyter, S. 1–20. Pierre Bourdieu (2001), Langage et pouvoir symbolique, Paris: Seuil.

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keit von Texten hinausweist auf andere Situationen der Konstitution von Sinn und Bedeutung. Somit erhalten dann auch scheinbar außerwissenschaftliche Handlungen Bedeutung für die Wissensproduktion in den Wissenschaften. Methodisch muss unterschieden werden zwischen verschiedenen Aspekten von Mündlichkeit, die sich allerdings häufig überschneiden. In Texten kann 1) direkt auf Mündlichkeit hingewiesen werden (was aber durchaus inszeniert sein kann), etwa in der Form „X sagte …“. Insbesondere dieser Aspekt wird uns im Folgenden beschäftigen. Mündlichkeit kann 2) auch imitiert werden, etwa in Form von Dialogen, die im 17. und 18. Jahrhundert in wissenschaftlichen Publikationen durchaus verbreitet waren – am Bekanntesten dürften etwa die Dialoge Galileis sein. Weiterhin kann Mündlichkeit 3) strukturell angelegt sein als Voraussetzung für Textaussagen oder als verschriftliche ‚mündliche’ Sprachfähigkeit, ohne dass direkt und bewusst auf den Charakter des Mündlichen verwiesen würde – diese impliziten Textsignale zu erschließen erscheint besonders ergiebig. Schließlich kann 4) von sekundärer Mündlichkeit gesprochen werden für den Fall, dass Texte nach ihrer Niederschrift wiederum performativen Handlungen als Grundlage dienen.10 Gerade diese letztere Form dürfte aber auch weit häufiger eine tragende Rolle bei der Produktion und Evaluation von Wissen gespielt haben, insofern in Universitäten und in den verschiedensten wissenschaftlichen Gemeinschaften (Freundeskreisen, Sodalitäten, Akademien etc.) eher Berichte über Experimente und Beobachtungen verlesen wurden und man sich mündlich darüber verständigte, als dass man sie dort vor Augenzeugen durchführte. Das Ohr erwies sich oftmals als wichtiger, denn das Auge; eine „virtuelle Zeugenschaft“11 war somit nicht nur an einen spezifischen literarischen Stil gebunden, sondern oft zugleich auch an den mündlichen Vortrag. Der skizzierte Ansatz kann hier nur exemplarisch und versuchsweise angerissen werden, ohne dass all diese Aspekte ausgeleuchtet werden. Als Material dienen die Observationsaufzeichnungen der Berliner Astronomenfamilie Kirch im 17. und 18. Jahrhundert. In einem ersten Teil werden diese spezifischen Quellen vorgestellt und deren Entstehungskontext des Astronomenhaushalts rekonstruiert, um dann daraus in einem zweiten Teil einige Aspekte von Mündlichkeit vorzustellen, die sich v.a. im Bereich der direkten Hinweise auf Mündlichkeit und strukturellen Mündlichkeit befinden. Nicht oder nur am Rande behandelt werden also die Bereiche der sekundären und der imitierten Mündlichkeit. Es kann hier auch nicht die Bedeutung von Mündlichkeit in den Wissenschaften allgemein eruiert werden, sondern nur die Spuren des Mündlichen, auf die in den Aufzeichnungen verwiesen wurde. Deren Funktion innerhalb der schriftlichen Notizen stehen im Zentrum des Interesses; darüber können dann allerdings weitere Aufschlüsse über den Prozess der Wissensgenerierung gewonnen werden. 10 Vgl. die anregenden Überlegungen dazu von Oesterreicher (2008), a.a.O., Monique Goullet (2008), Hagiografie et questions linguistiques, in: Moos (Hrsg.) (2008), a.a.O., S. 161–180 und Doquet-Lacoste (2009), a.a.O. 11 Steven Shapin (1984), Pump and Circumstance: Robert Boyle’s Literary Technology, in: Social Studies of Science, 14, S. 481–520.

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2. Tagebücher eines Astronomenhaushalts um 1700 – die Familie Kirch in Berlin Die Astronomenfamilie Kirch12 führte über zwei Generationen hinweg kontinuierlich von 1677 bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts astronomisch-meteorologische Observationsbücher. Gottfried Kirch (1639–1710), später seine zweite Ehefrau Maria Margaretha (1670–1720), dann auch die Kinder Christfried (1694–1740), Christine (1696–1782) und Margaretha (1703? bis nach 1748) schrieben in separate Hefte, mitunter lassen sich aber auch verschiedene Handschriften in einem Heft ausmachen.13 In den Journalen finden sich meist tägliche Einträge mit einer Mischung aus beschreibenden Notizen, Skizzen von Himmelsbeobachtungen, Tabellen für die Messungen, oft aber auch nur Stichworten. Direkte sprachliche Mitteilungen stellen also nur einen Teil dieser Aufzeichnungen dar. Ein anderes Charakteristikum ist die Vorläufigkeit und Spontaneität der Einträge, die oft schwer lesbar sind, durchgestrichene und verbesserte Eintragungen enthalten. Hinzu kommt eine Mischung der Formen und Inhalte – allesamt Besonderheiten, die den Verfassern durchaus bewusst waren. Gottfried Kirch formulierte selbst zu Beginn eines neuen Observationsbuches: Es ist alles als balde auffgeschrieben worden, wie ich es observieret, hier in dieses Buch, und ist dieses keine Abschrift, oder auffs reine geschriebene, sondern es ist das Schmirer-Buch, wie man nach Fehlers wol sehet, weil darinnen kaum […] gute Redensart zu finden, sondern nur wie es […] eingefallen, es mag klingen wie es will, nur daß man die Sache weiß, und auffs Pappier bringet, weil dem Gedachtnis gar nicht zu trauen.14

Die ‚Schmierereien‘ stellten für Kirch nur einen ersten Ausgangspunkt dar, dienten zur Authentifizierung des Gesehenen („wie ich es observieret“), müssten aber offenbar noch ins Reine geschrieben (und dabei verändert) werden. Halten 12 Zu den Kirchs siehe Klaus-Dieter Herbst (2006), Die Korrespondenz des Kalendermachers Gottfried Kirch (1639–1710), 3 Bände, Jena: IKS Garamond, Bd. 1, S. lxxxi–lxxxiv; Jürgen Splett (2000), (Art.) Maria Kirch, in: Lothar Noack & Jürgen Splett (Hrsg.), Bio-Bibliographie Brandenburgischer Gelehrter der Frühen Neuzeit, Bd. 2, Berlin: Akademie-Verlag, S. 222–226; Alphonse des Vignoles (1722), Eloge de Madame Kirch à l’occasion de laquelle on parle de quelques autres Femmes & d’un Paisan Astronomes, in: Bibliothèque germanique ou Histoire littéraire de l’Allemagne et des pays du nord (Amsterdam), 3, S. 155–183; Alphonse des Vignoles (1741f.), Eloge de M. Kirch le Fils, Astronome de Berlin, in: Journal littéraire d’Allemagne, de Suisse et du Nord (Den Haag), 1, S. 300–351. 13 Einige der Originale, v.a. von Christfried Kirch befinden sich im Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Nachlass Kirch (im Folgenden: BBAW, NK), wo in der Regel aber nur zeitgenössische (und gekürzte) Kopien vorhanden sind. Die meisten der Originale v.a. von Gottfried Kirch sind in der Bibliothèque de l’Observatoire de Paris (im Folgenden: BOP), Mss. B 3.1–3.6, zu finden. Ein Großteil der Observationsbücher von Maria Margaretha Kirch und ihrer Töchter liegen in der Crawford Library des Royal Observatory Edinburgh, Mss. 2.31–2.63, konnten aber leider nicht eingesehen werden. Hier werden v.a. die Journale der Jahre 1680–1720 betrachtet, die von Gottfried Kirch, seiner Frau Maria und seinem Sohn Christfried stammen. 14 BOP, B 3.2, Gottfried Kirch, Observationsbuch 1684, Bl. 1.

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wir an dieser Stelle schon einmal fest, dass Kirch die Sprachlichkeit als vorläufig und fehlerhaft bezeichnete und dabei eher an mündliche Kontexte dachte („Redensart“; „es mag klingen wie es will“). Zu einem späteren Observationsbuch erklärte er, dass es ebenso nur ein „Schmierer-Buch“ sei, aus welchem künftig, so Gott Leben und gnade verleyhet, die richtigen Observationes auffs Reine in einer besseren Ordnung härzu gebracht werden. Da denn viel wird können außen gelassen, und manches besser erkläret werden. Denn zu der Zeit da man observiret, hat man keine Zeit und Gelegenheit alles deutlich und verständlich zu setzen, sondern man muß es nur eilend auffschmieren, wie es kömbt, damit nichts vergessen werde.15

Kirch war der Wert seiner Aufzeichnungen bewusst – sie sollten bewahrt werden, wurden von ihm sogar zum Binder gebracht und mit einem goldenen Schnitt versehen. Er betrachtete sie aber nur als ein Vorstadium der eigentlichen Ergebnissicherung in anderer Form. Erst in der (auch sprachlichen) Umformung und Umordnung, mit Erklärungen und Kürzungen, würden dann die Beobachtungen zu ‚richtigen‘. Kirch war sich des Problems sprachlicher Gestaltung von Observationen bewusst; das Gesehene zu deuten und in angemessene Sprache zu fassen, erforderte Zeit und Anstrengung. Wir interessieren uns hier allerdings nicht für die Formen wissenschaftlicher Sprachen, die ihren Niederschlag in diesen dann ausgearbeiteten Schriften gefunden haben, oft den gedruckten Endprodukten gelehrter Tätigkeiten. Über die Genese etwa des wissenschaftlichen Artikels oder der Sprache von Experimentberichten ist einiges bekannt, wenig hingegen über die Sprachlichkeit im Prozess der Wissensproduktion.16 Observationsbücher geben darin einen Einblick. Denn so sehr ihnen eine Vorläufigkeit anhaftet im Hinblick auf das, was Gelehrte für wissenschaftliche Ergebnisse hielten, so reich sind sie an Spuren des Produktionsprozesses von Wissen. Kirch, seine Frau und Kinder berichteten in ihren Heften auch über Krankheiten, Feste, Geburten, über Nachbarn und Besuche, über Wäsche auf dem Dachboden, die das Observieren verhindert hatte etc. Dies alles waren nun Mitteilungen, die der Sohn Christfried, als er Kopien der Observationsbücher für den französischen Astronomen Joseph-Nicolas Delisle anfertigen ließ, nicht für 15 BOP, B 3.4, Gottfried Kirch, Observationsbuch 1688, Bl. 1. 16 Siehe dazu etwa Alan G. Gross, Joseph E. Harmon & Michael Reidy (2002), Communicating Science. The Scientific Article from the 17th Century to the Present, Oxford: Oxford University Press; Peter Dear (Hrsg.) (1991), The Literary Structure of Scientific Argument, Philadelphia: University of Pennsylvania Press. Zu Experimentbeschreibungen Christian Licoppe (1996), La formation de la pratique scientifique. Le discours de l’expérience en France et en Angleterre (1630–1820), Paris: Édition la Découverte. Zu Notizbüchern hingegen Frederic R. Holmes, Jürgen Renn & Hans-Jörg Rheinberger (Hrsg.) (2003), Reworking the Bench. Research Notebooks in the History of Science, Dordrecht u.a.: Kluwer Academic Publishers; Timothy Lenoir (Hrsg.) (1998), Inscribing Science. Scientific Texts and the Materiality of Communication, Stanford: Stanford University Press; und das Themenheft der Zeitschrift Langage & société, siehe Claire Doquet-Lacoste & Josiane Boutet (Hrsg.) (2009), Écritures scientifiques. Carnets, notes, ébauches, (= Langage & société, Bd. 127), Paris: Maison des Sciences de l’Homme.

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nötig erachtete, übertragen zu werden.17 Hier geschah schon ein Selektionsprozess auf eine bestimmte Art von Ergebnissen hin, die möglichst nur die Beobachtungen enthalten sollten, ohne die spezifischen Umstände, unter denen sie zu Stande gekommen waren. Die Originaljournale hingegen können als kollektive Tagebücher18 des Astronomenhaushalts bezeichnet werden: Sie beinhalteten all die Hinweise und Verweise auf die spezifischen Kontexte des Haushalts,19 blieben aber zentriert um die astronomischen Tätigkeiten. In Ich- bzw. Wir-Form wurden die Beobachtungen und Tätigkeiten festgehalten. Nicht immer stellen sie die ersten Aufzeichnungen der Beobachtungen dar, wie es die obigen Zitate Gottfried Kirchs suggerieren; insbesondere bei umfangreicheren Observationen wurden die Einträge in den Journalen von einzelnen Blättern ausgehend verfasst, die oft nur fragmentarische Notizen oder Skizzen enthielten. Diese Vorstufen der schriftlichen Fixierung haben sich nur sehr selten erhalten,20 verweisen aber darauf, dass die Observationsbücher schon Ergebnis eines Bearbeitungsprozesses sind. Die Journale waren zum gemeinsamen und zukünftigen Gebrauch bestimmt, für eine spätere Auswertung. Sie sollten in dieser Form nicht nach außen kommuniziert werden; viele Notate hatten dann keine Bedeutung mehr, waren gar unverständlich. Haushaltsfremde konnte es beispielsweise nicht interessieren, dass an einem bestimmten Tag Wäsche gewaschen wurde, dass man Streit mit einem anderen Mieter hatte, wer zu Besuch war. Einige Einträge wurden sogar verschlüsselt, von den Eheleuten und Kindern in der gleichen Weise: Neben den in der Regel deutschsprachigen Notizen zu Wetter und Himmelsphänomenen finden sich immer wieder Namen von Besuchern des Haushalts bzw. (im Journal von Christfried Kirch) einige Hinweise auf Wäsche waschen, Kerzen ziehen oder Seife sieden in hebräischer Trans17 Offenbar sind diese Kopien in Berlin verblieben, die Originale hingegen nach dem Tod Christfried Kirchs nach Paris gelangt. Siehe die Korrespondenz der Kirchs mit Delisle: Archives nationales de France, Fonds de la Marine, 2JJ/61 und 2JJ/65. 18 Mit dieser keineswegs metaphorisch gemeinten Kennzeichnung soll auf den Charakter der Journale als Selbstzeugnisse hingewiesen werden, eine Quellenart, deren Reichhaltigkeit für die Untersuchung von Normen und Praktiken sozialer Beziehungen in der neuesten Selbstzeugnisforschung herausgestellt worden ist, vgl. etwa Gabriele Jancke (2002), Autobiographie als soziale Praxis. Beziehungskonzepte in Selbstzeugnissen des 15. und 16. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum, Köln u.a.: Böhlau. 19 Zur Bedeutung der Haushaltsökonomie in den Wissenschaften: Monika Mommertz (2002), Schattenökonomie der Wissenschaft. Geschlechterordnung und Arbeitssysteme in der Astronomie der Berliner Akademie der Wissenschaften im 18. Jahrhundert, in: Theresa Wobbe (Hrsg.), Frauen in Akademie und Wissenschaft. Arbeitsorte und Forschungspraktiken 1700–2000, Berlin: Akademie-Verlag, S. 31–63. Monika Mommertz (2007), „Lernen“ jenseits von Schule, Stift und Universität? Informelle Wissensvermittlung und Wissenstransfer im Schnittfeld frühneuzeitlicher Wissenschafts- und Bildungsgeschichte, in: Heinz Schilling & Stefan Ehrenpreis (Hrsg.), Frühneuzeitliche Bildungsgeschichte der Reformierten in konfessionsvergleichender Perspektive, (= Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 28), Berlin: Duncker & Humblot, S. 269–309; Alix Cooper (2006), Houses and Households, in: Katherine Park & Lorraine Daston (Hrsg.), Early Modern Science, (= The Cambridge History of Science, Bd. 3), Cambridge: Cambridge University Press, S. 224–237. 20 Siehe etwa BBAW, NK 11.2, Christfried Kirch, Observationsbuch 1717, Bl. 42–46a.

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literation.21 Die Journale dienten der internen Haushaltskommunikation und waren Speicher des astronomischen und praktischen Wissens des Haushalts. Für die Familie Kirch zählten auch Besuche und solch ‚profane’ Haushaltsangelegenheiten dazu. Ob diese nun durch die hebräische Transliteration sublimiert oder vor den Augen möglicher anderer Leser verschleiert werden sollten, bleibt unklar. Festzuhalten bleibt die haushaltsinterne Bedeutung der Journale. Schon der 10jährige Christfried wurde angehalten, täglich sein Observationsjournal zu führen, auch während seiner Schulzeit an den Franckeschen Stiftungen in Halle.22 Die Töchter mussten dies wohl nicht tun, arbeiteten aber ebenso mit. Es finden sich immer wieder Verweise darauf, dass sie Beobachtungen durchgeführt hatten. Auch die Namen anderer Haushaltsmitglieder oder haushaltsnaher Personen (Ehegatte, Sohn, Diener und Mägde, Schüler, Freunde und Besucher) stehen hinter vielen Beobachtungen, die dann wohl von diesen durchgeführt wurden; mitunter wird explizit auf die Journale der anderen Familienmitglieder verwiesen. Die parallel geführten Journale ergänzen sich durch diese Querverweise zu einer Dokumentation gemeinschaftlichen Arbeitens und Lebens im Rahmen des Haushalts. Die Astronomie war ein Wissensgebiet, das um 1700 noch weitgehend abseits formaler Ausbildung erlernt wurde. Gottfried Kirch, Sohn eines Schneiders, hatte sich seine Kenntnisse und Fähigkeiten selbst angeeignet, lernte bei ländlichen Kalendermachern und verbrachte eine Lehrzeit bei dem Danziger Astronomen Hevelius. In Königsberg war er zwar kurz in der Universität eingeschrieben, doch stellte die Lehrzeit im Haushalt eines anerkannten Astronomen den bedeutenderen Teil der Ausbildung dar. Kirch selbst unterwies so auch seine Frau und Kinder in der Astronomie, hatte Schüler, Gehilfen und Dienstleute. Sie alle arbeiteten im Haushalt mit und erlernten so das Handwerk der Astronomie. Hier kam es nicht nur auf ausgeprägte gelehrte Wissensbestände an, sondern auch auf praktische Fähigkeiten der Bedienung von Instrumenten, Schulung des Sehens und Erstellung von Kalendern. Der Kirch-Haushalt produzierte, oft unter anderem Namen, jährlich mehrere Kalender für verschiedene Drucker-Verleger.23 Die astronomischen Beobachtungen beschränkten sich aber nicht auf diese Aufgabe, sondern Kirch und seine Familie hatten ausgeprägte gelehrte Interessen. Das praktische und theoretische Wissen dazu konnte weitgehend nur durch anhaltende räumliche Nähe mehrerer Personen erworben werden. Die Bedeutung der Haushaltsökonomie als kollektiver Arbeitsweise erschließt sich auch dadurch: Implizites Wissen wurde hier erlernt; Beobachtungen mit der gleichzeitigen Bedienung mehrerer Instrumente (etwa Fernrohr, Quadrant und Pendeluhr) ließen sich nur gemeinsam durchführen.

21 Ich danke Bill Rebiger, FU Berlin, Institut für Judaistik, für die Übersetzungen. 22 BBAW, NK 119f., Christfried Kirch und Maria Kirch, Observationsbuch 1705f. und Christfried Kirch, Wetterbuch 1708f. 23 Siehe Klaus-Dieter Herbst (2004), Die Kalender von Gottfried Kirch; in: Wolfgang R. Dick & Jürgen Hamel (Hrsg.), Beiträge zur Astronomiegeschichte, Bd. 7, (= Acta Historica Astronomiae, Bd. 23), S. 115–159.

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Bis 1694 lebten die Kirchs in Leipzig, wo sie dem engsten Kreis der Pietisten um Francke angehörten. Deswegen mussten sie auch die Stadt verlassen und ließen sich in der Geburtsstadt Gottfried Kirchs, Guben an der Oder, nieder. Mit dem Ruf als Astronom der neugegründeten Berliner Societät der Wissenschaften zog die Familie nach Berlin und blieb mit kurzer Unterbrechung dort. Nach dem Tod Gottfrieds 1710 erhielt seine Frau keine Anstellung als Astronomin, wurde nach Danzig vermittelt, konnte aber 1716 ihren Sohn Christfried als Astronomen der Societät installieren. Bei seinen Aufgaben half sie ihm aus, nach ihrem Tod dessen Schwestern Christina und Margaretha. Die familiär zentrierte Arbeitsökonomie des Haushalts bestand so weiter fort, auch nach dem Tod Christfrieds, als dessen Schwestern fortfuhren, astronomische Beobachtungen und Berechnungen anzustellen. Im Rahmen der Societät der Wissenschaften sollten v.a. auch die Kalender für Preußen hergestellt werden. Die Observationsjournale wurden daher wohl auch von anderen Akademikern eingesehen, die den Haushalt und die Arbeit der Astronomen kontrollieren wollten. Neben dem Haushalt und der Kalenderproduktion kommt so ab 1700 mit der Societät ein weiterer Kontext der Journale hinzu. Beobachtet wurde nun nicht nur aus der Wohnung, vom Dachboden oder Garten aus, sondern zunehmend vom im Bau befindlichen königlichen Observatorium. Doch auch hier überwog die haushaltszentrierte Arbeitsweise, in deren Rahmen Mündlichkeit eine erhebliche Rolle spielte. 3. Aspekte von Mündlichkeit in den astronomischen Observationsjournalen der Kirchs Gottfried Kirch notierte so anlässlich einer Saturnbeobachtung: Hernach gingen ich, meine Ehefrau und mein Sohn Christfried auff das Königliche Observatorium […]. Wir besahen auch Saturnum, ich fand ihn immer oval, meine Ehefrau und Christfried aber konten ihn im Ringe als ein rundes Küglein in einer Schüssel liegen sehen, wie sie sagten.24

Mit diesem Eintrag haben wir eine der wenigen Stellen innerhalb der umfangreichen Journale vor uns, in denen Mündlichkeit nicht nur explizit angezeigt, sondern auch inhaltlich nach Aussage und Sprecher präzisiert ist. Sofort drängen sich Fragen auf: Welchen Sinn machte es, Mündlichkeit in diesen einzelnen Fällen so deutlich zu markieren? Oder anders gefragt: Warum wurden Situationen der Mündlichkeit sonst nicht verzeichnet? Vermutet werden darf, dass diese direkten Hinweise auf Mündlichkeit nicht zufälliger Natur sind. Auch die Beschreibung der geschilderten Szene wirft ein Problem auf: Sahen Maria und Christfried das Gleiche, sagten sie das Gleiche? Saturn mit seinem Ring als „ein rundes Küglein in einer Schüssel“ zu bezeichnen, verweist nun auch für das beginnende 18. Jahrhun-

24 BOP, B 3.5, Gottfried Kirch, Journal 1706, Eintrag vom 20. September 1706.

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dert auf eine astronomisch nicht angemessene Beschreibungssprache. Wieso schrieb es Gottfried Kirch dennoch so nieder, wieso betonte er, dass Frau und Sohn es so sagten – wenn sie es denn so und nicht anders gesagt haben? Mündliche Kommunikation im Kontext des Haushalts darf durchaus als konstitutiv angesehen werden. Die Verständigung über die anstehenden Aufgaben, Verteilung der Tätigkeiten, aber auch über das Gesehene und dessen Interpretation, fand wohl ständig statt. Die meisten Observationen benötigten die Mitarbeit mehrerer Haushaltsmitglieder, um die verschiedenen Instrumente (Fernrohr, Quadranten, Pendeluhr etwa), die in unterschiedlichen Stockwerken untergebracht waren, zu bedienen und zu koordinieren. Über Klopf- oder Rufzeichen verständigte man sich. So notierte beispielsweise Maria Kirch in ihrem Journal: Zu Mittags bald nach 11 Uhr fing ich an zu observiren[;] ich am großen Quadr[anten] oben. Christinchen unten mit dem kleinen Quadrant, da ich ihr alle mal ein Zeichen mit Klopfen geben ließ wann ich eine Höhe hatte.

Einige Tage später beobachtete Maria Kirch, während Christine an der Sonnenuhr stand und alle zehn Minuten rufen sollte, damit die Messungen in regelmäßigen Abständen erfolgten.25 Astronomie war eine weitgehend kollektive Tätigkeit, was sich aus den Beobachtungsjournalen nicht auf den ersten Blick erschließt. Nur durch solche vereinzelten Hinweise auf die Mitarbeit Anderer und auf mündliche Kommunikation kann der gemeinschaftliche Arbeitsprozess erahnt werden. Die meisten Hinweise darauf sind indirekt; Mündlichkeit wird strukturell vorausgesetzt. Im ersten Beispiel etwa erwähnte Maria Kirch nicht, dass sie offenbar einer dritten ungenannten Person mündlich mitteilte, wann das Klopfzeichen für die Tochter Christine gegeben werden sollte. Diese impliziten Verweise auf die praktische Bedeutung mündlicher Kommunikation und die Mitarbeit anderer Personen finden sich immer wieder in den Journalen, selbst wenn nur die Beobachtungen und Daten angegeben wurden, gelegentlich versehen mit der Randglosse, dass sie von den Kindern oder dem Ehepartner erhoben worden sind – die sie dann wohl mündlich weitergaben. Man darf davon ausgehen, dass immer auch andere Personen als die jeweiligen Verfasser der Journale anwesend waren und mündliche Kommunikation stattfand, ohne dass genauer bestimmt ist, was von wem gesagt wurde. Mündlichkeit und die Mitarbeit anderer Personen wird so in den Journalen strukturell vorausgesetzt. Die Verfasser konnten auf dieses soziale Wissen zurückgreifen, um sich diese Kontexte zu erschließen. Direkt musste das nicht mehr erwähnt werden. Welchen Sinn machte es dann, wenn in einigen Fällen explizit darauf hingewiesen wurde, welche anderen Personen beteiligt waren und dass man sich mündlich verständigte? Es ist zu vermuten, dass diese direkten Hinweise auf Mündlichkeit und die Mitarbeit anderer Personen nicht zufällig sind und auch nicht einfach stattgefundene mündliche Kommunikation wiedergeben, sondern als Indikation verstanden werden können, die innerhalb der Observationsjournale spe-

25 BBAW, NK 6, Maria Kirch, Observationen 1713, Eintrag vom 16. und 18. Juni 1713, Bl. 8 rf.

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zifische Funktionen hatten. So erwähnt Maria Kirch die Mitarbeit ihrer kleinsten Tochter Margarethe und einer anonymen Magd bei Marsbeobachtungen, als sie selbst durch Krankheit vom Observieren abgehalten war: Ohngefehr um 6 Uhr sagte sie [Margarethe] daß sie [Mars] sähe. Ein Viertel vor 7 Uhr sahe sie abermals sagend sie sähe ihn noch doch dem Untergange sehr nahe.26

Gleich zweimal wird die Aussage der Tochter als eine mündliche qualifiziert – ein Aufwand, der sich ohne spezifische Absicht kaum erklären lässt. Nicht jede mündliche Äußerung wurde in den Journalen wiedergegeben, sondern nur diejenigen, die für den Astronomenhaushalt eine Funktion hatten: in diesem Fall die Beobachtung des Mars zu einer bestimmten Zeit. Dafür hätte aber auch eine einfachere Notiz genügt. Die Herausstellung, dass die Beobachtung von der Tochter durchgeführt wurde und diese ihrer Mutter mündlich davon Mitteilung machte, verweist auf eine spezifische Qualität der Observation und der Observanten. Maria Kirch als Verfasserin setzt sich in Beziehung zu ihrer Tochter und dem von ihr Beobachtetem. Diese Beziehung drückt einerseits Distanz aus: Maria Kirch eignet sich nicht einfach die Beobachtung an, wie wohl sonst so oft, wenn Mündlichkeit und andere Personen keine Erwähnung finden. Auf der anderen Seite wird der Beobachtung der Tochter durchaus ein Wert zugesprochen, indem sie überhaupt verzeichnet ist. Was beispielsweise die Magd gesehen und gesagt hatte, steht nicht im Journal. Direkte Mündlichkeit in diesen astronomischen Notizen hatte somit untrennbar miteinander verbunden zugleich soziale und epistemologische Funktionen. Sozial drückte sich das in den Beziehungen aus: Wurden die Mitarbeiter genannt, und in welcher Weise? Den Personen wurde damit eine Handlungsfähigkeit (agency) zugeschrieben, die wiederum epistemologische Bedeutung hatte. In hierarchischer Ordnung findet sich so mit der Indikation von Mündlichkeit die Arbeitsorganisation des Haushalts aus der Perspektive der Verfasser wieder. Das beginnt schon bei der nur strukturell vorausgesetzten Mündlichkeit, wenn die Mitarbeit Anderer und Kommunikation mit ihnen keine direkte Erwähnung fand. Maria Kirch benannte ihre Magd und deren Tätigkeit ebenso wenig, wie Christfried Kirch in seinem Danziger Journal von 1716 Mitarbeiter verzeichnete, als er anlässlich einer Planetenemersion zwischen Saturn und Jupiter notierte: Wie ich ließ aufschreiben Emersion, war der primus [der erstgenannte Stern Saturn] so sehr klein, daß ich zweifelte, ob er’s wäre oder nicht, doch ließ ich annotiren, ward auch bestärkt, weil er nach und nach zunam. Auch mochte ich wol 3’’ [Sekunden] zweifeln ob ich rufen sollte oder nicht.27

Wer stand an der Uhr und notierte im Moment von Christfrieds Zuruf die genaue Zeit? War es die Mutter, eine der Schwestern, ein Diener oder eine Magd, ein Freund?

26 BBAW, NK 7, Maria Kirch, Observationen 1714, Eintrag vom 8. und 16. Januar 1714, Bl. 1 f. 27 BBAW, NK 9.1, Christfried Kirch, Beobachtungen Danzig 1716, Bl. 4.

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Hinter den meisten Eintragungen verbergen sich derart nicht genannte Mitarbeiter, mit denen offenbar mündlich kommuniziert wurde. Die jeweiligen Verfasser erachteten es nicht als nötig, direkt auf deren Mitarbeit hinzuweisen. Von ihrem Standpunkt aus war es nicht erforderlich, diese Mitarbeiter als personae mit Namen und Handlungsfähigkeit zu bezeichnen – sie verfügten über keine agency. Sie führten nur, so impliziert deren Nicht-Nennung, den Willen der Verfasser aus, die sich ihrer als Instrumente bedienten. Die agency verbleibt allein und ungeteilt beim Verfasser. Die vielen Mitarbeiter im Prozess der Wissensgenerierung, die „invisible technicians“, wie Steven Shapin formulierte,28 blieben so nicht nur anonym, sondern verschwanden vollständig hinter dem Erzähler-Ich der Verfasser,29 gingen darin auf. Sie galten nur als „Gehilfen“,30 die einer weiteren Erwähnung kaum wert befunden wurden. Das Verschwinden in der strukturellen Mündlichkeit konnte alle Personen betreffen, die der Verfasser oder die Verfasserin als sozial niedrig stehender (nach Stand, Geschlecht, Alter) einordnete. Meist betrifft das die Schüler, Mägde und Diener, von denen wir meist nicht einmal die Namen wissen, doch wurden auch Ehefrauen und Kinder in dieser Weise nicht genannt. Dabei war es keineswegs so, dass von ihnen nur die rein mechanischen Hilfsarbeiten ohne Anspruch durchgeführt wurden. Deutlich wird das, wenn man über Berichte der gleichen Beobachtung aus verschiedenen Perspektiven verfügt. Anlässlich der Beobachtung eines Nordscheins formuliert Gottfried Kirch in einem Entwurf, vermutlich für den Vortrag bei Hof: Als ich nun zu abends um 8 Uhr aus meinem Tubum im Süden Jovem observirte, […] erinnerte mich eine gewisse Person nach Norden zu sehen, weil sich allda etwas ungewöhnliches am Himmel sehen ließe. Als ich nun dahin kam, fand ich, gegen Norden einen hellen weißen Schein.31

Eine ungenannte Person machte Kirch mündlich auf etwas Besonderes aufmerksam, er aber führte allein die Beobachtung durch, interpretierte sie und demonstrierte damit seine gelehrte Handlungsfähigkeit und Autorität. Die „gewisse

28 Steven Shapin (1989), The Invisible Technician, in: American Scientist, 77, S. 554–563. 29 Zur Differenzierung von Autor, Erzähler und Akteur in wissenschaftlichen Beschreibungen ausführlicher Sebastian Kühn (2009), Experimente im Tagebuch. Serielle Experimentbeschreibungen im 17./18. Jahrhundert, in: Michael Gamper, Martina Wernli & Jörg Zimmer (Hrsg.), „Es ist nun einmal zum Versuch gekommen“. Experiment und Literatur I (1580–1790), Göttingen: Wallstein, S. 255–276. 30 Siehe zum Begriff und Stand des Gehilfen und v.a. der „Gehilfin“ in den Wissenschaften: Shapin (1989), a.a.O.; Anke Bennholdt-Thomsen & Alfredo Guzzoni (1996), Gelehrte Arbeit von Frauen. Möglichkeiten und Grenzen im Deutschland des 18. Jahrhunderts in: Querelles, 1, S. 48–76; Katherine R. Goodman (2004), Learning and Guildwork. Luise Gottsched as „Gehülfin“, in: Michaela Hohkamp & Gabriele Jancke (Hrsg.), Nonne, Königin und Kurtisane. Wissen, Bildung und Gelehrsamkeit von Frauen in der Frühen Neuzeit, Königstein/Ts.: Helmer, S. 83–108. 31 BBAW, NK 124, Gottfried und Maria Kirch, Nordschein 1707, Entwurf Gottfried Kirch, Bl. 1r.

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Person“ war nur ein zusätzliches Auge, ohne eigene agency. Das gleiche Ereignis wird nun auch in einem Entwurf in Maria Kirchs Hand beschrieben und verändert die Beziehungsstruktur der Akteure vollkommen: Zu abends um 8 Uhr, da […] mein lieber Mann gegen Süden zu observirte: sahe ich mich nach Norden um, und ward gleich eines weiß hellen Streiffs, oder Bogens gewar.32

Hier ist Maria die Beobachterin und offensichtlich die „gewisse Person“, die Gottfried dann auf das von ihr entdeckte Naturereignis aufmerksam macht. Sie erwähnt zwar ihren Mann, der gleichwertig neben ihr den südlichen Himmel observierte, nicht aber, dass sie ihn auf den Nordschein aufmerksam machte. Es existieren weitere Versionen dieses Berichts, in denen auch Kinder und Schüler als Beobachter genannt werden oder alle Akteure hinter dem kollektiven „wir“ verschwinden.33 Die Variationsmöglichkeiten in der Darstellung der Beobachtungen ließen zu, Akteure unterschiedlich einfließen zu lassen, relativ unabhängig von ihrer tatsächlichen Tätigkeit. Je nach Anlass, Verfasser und anvisiertem Publikum des Berichts wurde agency unterschiedlich verteilt und konnte umstritten sein; ein Stilmittel dazu war strukturelle und direkte Mündlichkeit. Damit sind wir aber schon bei einem weiteren Aspekt der strukturellen Mündlichkeit: Nicht immer wurde die Mitarbeit anderer Personen verdeckt; mitunter wurden Namen angegeben, allerdings auch hier, ohne direkt mündliche Kommunikation zu erwähnen. Das konnte etwa in der Form geschehen, dass in einer Datentabelle für Sonnenhöhen zu bestimmten Zeiten nur jeweils kurz vermerkt wurde „ich“, „ich u. frau“, „Christfried“.34 Die jeweiligen Messungen wurden differenziert nach Akteuren, die sich darüber verständigt haben müssen. Möglicherweise haben sie sich bei diesen Aufgaben abgewechselt (ihre Helfer bleiben ungenannt); doch findet man eine ähnliche Differenzierung auch im gemeinsamen Beobachten: Diesen abend sahen meine Ehefrau, und meine älteste Tochter [Venus] und [Jupiter] mit bloßen Augen; ich aber konnte sie nicht also sehen, wol aber durch den 2 sch[uhigen] T[ubum].35

Agency wurde hier verteilt, ohne sie weiter zu spezifizieren. Das war hier auch nicht weiter nötig – die genannten Akteure waren sich über das Gesehene einig. Analog zu Gerichtsverfahren – darauf ist in der Wissenschaftsgeschichte schon mehrfach hingewiesen worden36 – soll die Beglaubigung durch mehrere Personen gewährleistet werden. Die Anwesenheit und Zeugenschaft anderer Personen erst kann über eine umstrittene Tatsache versichern. Gottfried Kirch konnte (auch wegen seiner schwindenden Sehfähigkeiten) die Planeten nicht bloßen Auges 32 BBAW, NK 124, Gottfried und Maria Kirch, Nordschein 1707, Entwurf Maria Kirch, Bl. 9r–10r. 33 BBAW, NK 124, Gottfried und Maria Kirch, Nordschein 1707, Entwürfe Gottfried und Maria Kirch, Bl. 6r–8r und 11rf. 34 Zum Beispiel: BOP, B 3.6, Gottfried Kirch, Journal 1707, Eintrag vom 20. Juli 1707. 35 BOP, B 3.6, Gottfried Kirch, Journal 1706, Eintrag vom 25. Juni 1706. 36 Siehe etwa Barbara J. Shapiro (2000), A Culture of Fact: England, 1550–1720, Ithaca, N.Y.: Cornell University Pres; Shapin (1984), a.a.O.

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erkennen. Frau und Tochter bezeugten ihm offenbar mündlich die Beobachtung. Durch die Nennung in seinem Journal machte er sie zu Zeugen, aber nicht zu uneingeschränkten Autoritäten, denen einfach geglaubt werden konnte. Erst durch seine Bestätigung des Gesehenen mit Hilfe des Fernrohrs wird ihr Zeugnis evaluiert. Auch in der Nennung von anwesenden Personen ist damit eine (nicht unbedingt soziale) Hierarchie der Beziehung eingebaut. Gottfried Kirch als anerkannter Gelehrter und Haushaltsvorstand beansprucht die Autorität, das von anderen Haushaltsmitgliedern Gesehene und Gesagte zu beurteilen. Das Notieren der impliziten mündlichen Situation durch Nennung der Namen hatte sich hier als notwendig erwiesen, weil er selbst zunächst Zweifel an der Beobachtung haben konnte. Erst jetzt musste die Handlungsfähigkeit auf andere Akteure verteilt werden, die dadurch den Status von Zeugen erhielten. Weil ihr Zeugnis bestätigt werden konnte, bedurfte es keiner weiteren Erklärungen ihrer Fähigkeiten und der mündlichen Situationen. Im Kontext des Haushalts waren die so benannten Personen (es konnten Haushaltsangehörige oder Besucher sein) bekannt, und damit musste nicht mehr geklärt werden, inwieweit ihrem Zeugnis zu trauen ist. Nur wenn über die Vertrauenswürdigkeit Zweifel bestanden – sei es, dass die benannten Personen im Haushalt weniger bekannt waren und daher qualifiziert werden mussten; sei es, dass Einschätzungen der Vertrauenswürdigkeit variierten – wurden zusätzliche Hinweise zum Status der Personen und ihrer Beobachtungen gegeben, um eine spätere Evaluierung zu ermöglichen. Denn nicht jeder Zeuge war gleich vertrauenswürdig und nicht immer in gleichem Maße. Wenn so im Haushalt eher unbekannte Personen Observationen tätigten, wurde dies mitunter mit deutlichem Hinweis auf die mangelnde Vertrauenswürdigkeit dieser Beobachtungen vermerkt: „Alles habe ich Hr. Stadlern observiren laßen, nur Ehrungs wegen. Ist also hier auff nichts zu bauen.“37 Ein hochstehender Besucher konnte nicht die Zeugenschaft leisten, die Kirch wichtig war. Er lehnte daher die Beobachtung insgesamt ab. Eher vertraute er dann auf die Leistungen seiner Frau und Kinder, bemerkte aber auch hier gelegentlich, bis zu welchem Punkt er ihnen und seinen eigenen Leistungen Glauben schenkte. Angewiesen war er auf sie, denn seine Sehkraft ließ nach und die Hände zitterten. Anlässlich der Messung von Sternenabständen notierte er etwa: „[ich] konnte aber nicht recht still halten. Nach diesem maß die frau, [...], solches halte ich vor besser als meines“. Wenig später aber schreibt er wieder einschränkend zu deren Beobachtungen: „Die letzte Observation lang gar nichts, denn [Mars] ist hinter die Häuser kommen, und die frau muß sich im zehlen sehr geirret haben.“38 Durch Angabe der Vertrauenswürdigkeit der Personen und ihrer Arbeit wurde so bei der Möglichkeit unterschiedlicher Observationen wiederum Eindeutigkeit erreicht. Die jeweiligen Verfasser entwarfen so in ihren Journalen eine sich wandelnde Hierarchie der Akteure und deren agency. Diese konnte zwischen den Beteiligten durchaus umstritten sein, wie etwa das obige Beispiel der Nordscheinbeobachtung 37 BOP, B 3.5, Gottfried Kirch, Journal 1706, Eintrag vom 19. März 1706. 38 BOP, B 3.6, Gottfried Kirch, Journal 1707, Eintrag vom 24. Juni und 3. Juli 1707.

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zeigte – wurde er von Gottfried oder von Maria Kirch observiert? Die Autorität des Hausvaters wurde aber nicht in Frage gestellt: Er sollte die Beobachtungen der anderen Haushaltsmitglieder evaluieren. So notierte Maria Kirch eine aufsehenerregende Kometenerscheinung: Zwischen den 20. und 21. Aprilis, war zwischen Donnerstags und freytags, in der Nacht um 1 Uhr sah ich mich nach dem Gestirne um, da ich sonderlich den wandelbaren Stern im Halse des Schwans betrachten wollte, welcher in Bayeri Uranometria mit dem Griechischen Buchstaben X bezeichnet ist, fand ich daß derselbe mit bloßen Augen fein deutlich zu sehen war. Bald aber fiel mir etwas ungewöhnliches in die Augen, zwischen dem Kopfe des Schwans, und dem Pfeile. Ich betrachtete Bayeri Tabellum, im gleichen den Colobum, fand aber keinen mercklichen Stern, oder etwan eine beständige Nebulosum, um selbige Gegend, hielt es also vor einen Cometen, wie es sich dann auch warhafftig also aus weiset.39

Maria Kirch beobachtete in dieser Nacht ohne ihren Mann, verweist aber auf ihre Unsicherheit und auf die spätere Evaluation ihres Mannes: Sie „hielt“ die Himmelserscheinung für einen Kometen, „wie es sich dann auch warhafftig also aus weiset“. Gottfried Kirch notierte in sein Journal: Meine Ehefrau hat, (nach dem ich etliche Nächte zu vor den wandelbaren Stern am Halse des Schwans observiret, und sie ihn, als ich noch schlieff, auch gerne sehen und selbst finden wollte) einen Cometen am Himmel gefunden. Worauff sie mich auffweckete, da ich dann fand, daß es warhafftig ein Comet war.40

Gottfried Kirch allein meinte die Identifizierung des Kometen mit Sicherheit vornehmen zu können – eine Autorisierung, die auch Maria Kirch akzeptierte. Um diese Aspekte impliziter Mündlichkeit noch einmal herauszustellen: Bei vollkommen übereinstimmenden Beobachtungen und Interpretationen der beteiligten Akteure muss davon ausgegangen werden, dass nur der Verfasser sich als Akteur nennt, die anderen einschließend und so zum Verschwinden bringend. Konnten Zweifel an den Observationen angebracht sein, die aber schnell entschieden werden konnten, wurde dies durch die Nennung weiterer Akteure als Zeugen markiert, deren Beobachtungen bestätigt bzw. abgelehnt wurden. Im Fall insbesondere der Ablehnung wurden Gründe angegeben, die in der Vertrauenswürdigkeit der Person lagen. Verweise auf direkte Mündlichkeit hingegen, in denen die Aussagen inhaltlich qualifiziert wurden, scheinen neben der Angabe von Zeugenschaft andere Funktionen zu besitzen. Das obige Beispiel Maria Kirchs, die während ihrer Krankheit die Tochter Christine und eine Magd Mars beobachten ließ, weist schon darauf hin: Sie konnte das von diesen Gesehene nicht überprüfen, es also nicht – wie in den Fällen impliziter Mündlichkeit – bestätigen oder widerlegen. Durch die explizite und doppelte Kennzeichnung der Beobachtung als mündliche Aussage wird 39 BOP, B 3.7, Principales observations de Kirch (Sammlung), Bericht Maria Kirch über den Kometen vom 20. und 21. April 1702. 40 BOP, B 3.5, Gottfried Kirch, Journal 1702, Eintrag vom 21. April 1702.

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diese in Anführungszeichen gesetzt, das Urteil darüber suspendiert. Die Verfasserin sprach sich die soziale und gelehrte Autorität zu einem solchen Urteil durchaus zu, konnte es aber unter den gegebenen Umständen nicht treffen. Sie musste daher andere Personen benennen, ihnen zumindest einen Teil der agency zusprechen, um deren Aussagen dann später einem Urteil zuführen zu können. Diese zugleich soziale und epistemologische Verschiebung im Text der Journale wurde durch die Angabe direkter Mündlichkeit bewirkt. Auch Gottfried Kirch kennzeichnete durch direkte Mündlichkeit zugleich seine Vorbehalte und benennt andere Personen als ernst zu nehmende Akteure: Etwan um 7 u[hr] deuchtete mich ich sähe den 1. [Jupitermond] nah zur rechten im verkehrtstellenden 10 sch[uhigen] T[ubum] bin aber nicht gewiß. [...] Meine frau sagte auch es deuchtete sie also, aber als wir auf mehr Dunkelheit warteten, war 1. [Jupitermond] nicht zu erkennen. Wir wurden auch gewahr, daß der Tubus verzogen war. Hierauf aßen wir. Nach Essens thaten wir den Römischen Tubum heraus, funden nicht mehr als 2. [Jupitermond] und 4. [Jupitermond].41

Kirch markiert hier seine Unsicherheit über das Gesehene („deuchtete mich“) und verweist auf die ihn auch in der Unsicherheit bestätigende Aussage seiner Frau. Diese Ungewissheiten notierte er immer wieder, oft in Absprache mit Frau, Kindern oder Besuchern. Der Verweis auf die mündliche Rede dieser Personen soll die Wahrscheinlichkeit erhöhen, ohne vorschnelle Schlüsse zuzulassen. Kirch lässt durch seine vorsichtigen Hinweise das Urteil in der Schwebe, protokolliert nur seine und seiner Frau Vermutungen, die sich vielleicht durch spätere Beobachtungen bestätigen lassen. Dass er so genau schildert, wer die Zeugin war, dass sie danach essen gingen, mit welchen Instrumenten sie arbeiteten, soll ein späteres Urteil ermöglichen. Auch das eingangs zitierte Beispiel der Saturnbeobachtung, wobei Gottfried Kirch ein Oval zu sehen meinte, seine Frau und der Sohn hingegen ein „rundes Küglein in einer Schüssel“, indiziert durch den expliziten Verweis auf die mündliche Rede der beiden Zeugen eine zunächst nicht auflösbare Unsicherheit der widersprüchlichen Beobachtungen. Kirch lässt sich nicht einfach überzeugen, behält ein Misstrauen gegenüber den Zeugnissen von Frau und Sohn, die er aber nicht einfach ablehnen kann. Verstärkt wird aber die Abwertung von deren Beobachtung noch durch die eher einem Alltagssprachregister entstammende Aussage der beiden Zeugen, denen damit bescheinigt wird, nur über mangelhaftes astronomisches Wissen zu verfügen. „Küglein“ und „Schüssel“ verweisen auf die eher Frauen zuerkannte Sphäre des Haushalts und sind damit geschlechtlich notiert. Sie sind nicht die angemessene Sprache gelehrter astronomischer Beobachtung. Kirch war das bewusst, und er markierte damit eine abwertende Einschätzung der Zeugen, die nicht richtig zu versprachlichen wüssten, was sie sahen. Zugleich aber präzisierte er damit die Deutungsmöglichkeiten der Observation. Seit Christiaan Huygens’ Saturnbeobachtungen war bekannt, dass

41 BOP, B 3.5, Gottfried Kirch, Journal 1700, Eintrag vom 24. September 1700.

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dieser Planet von einem freischwebendem Ring umgeben war, dessen Ansicht sich durch seinen Umlauf veränderte. Kirch war die Publikation Huygens’ mit den Abbildungen der verschiedenen Ansichten42 gewiss bekannt, und wenn er Saturn als Oval bezeichnete, entsprach das einer anderen Planetenposition als die Ansicht einer Kugel in einer Schüssel. Der explizite Verweis auf mündliche Rede in den Observationsjournalen gibt damit zugleich eine sozial niedrigere Verortung der Sprecher und eine epistemologische Präzision an. So sehr das als mündlich markierte Wissen damit unter Vorbehalt stand, wurden somit schon Wege möglicher späterer Interpretation aufgezeigt. Auch ganz konkret konnte mit Verweis auf Mündlichkeit angegeben werden, wie der Verfasser sich in seiner Tätigkeit lenken ließ, wie er also in dem Prozess der Wissensgenerierung anderen Akteuren Einfluss zuschrieb. So notierte Kirch beispielsweise die Vermutung, dass er nur einen einzelnen Kometen sah, weil dieser einen zweiten verdeckte. Er musste wiederum auf die schärferen Augen seiner Frau verweisen: Um 10 Uhr 23 Min. sagte meine Ehefrau an, daß sie nun 2 gewiß wieder doppelt sähe. Ich ging bald zur Uhr hinauf, fand 10 Uhr 23 Min. 30 Sek. Als ich wieder kam sahe ich zwar auch durch den Tubum, konnte aber nur einen Stern erkennen. Da nun meine Ehefrau wieder durch sahe, sagte sie, daß ja der Unterschied nun recht deutlich zu erkennen wäre. Hernach deuchtete mich es manchmal, kann es aber nicht vor gewiß sagen.43

Er vertraute nicht vollständig der Sehstärke und Interpretationskraft seiner Frau, ließ sich aber dadurch in seinen Sehfähigkeiten und Deutungen des (Nicht-) Gesehenen lenken. Seine daraus resultierende Beobachtung stellt er aber ebenfalls als unsicher dar, was wiederum markiert ist durch die selbst zugeschriebene Mündlichkeit: „kann es aber nicht vor gewiß sagen“. Auch die direkte Mündlichkeit gab Zeugen an und stellte ihr Zeugnis einer Beurteilung anheim. Dabei handelte es sich auch um sozial höher Stehende; ihr Zeugnis konnte, musste dadurch aber nicht einen größeren Wert besitzen. Als Zar Peter I. nach Danzig kam, besuchte er mehrfach Maria und Christfried Kirch, versuchte sie gar nach Petersburg zu ziehen. Christfried notierte anlässlich einer der Begegnungen: Seine Czaarische Majestät sagten gestern, daß Sie aus Petersburg und Moßcau Nachricht hätten, daß daselbst der ungewöhnliche Nordschein den 17 Mart auch gesehen worden. Er wollte durchaus nicht daß es ein Nordschein wäre, welchen er sonst auch gesehen hätte, sondern dieses wäre gantz was extraordinaires.

Die sozialen Positionen werden hier nicht in Frage gestellt, allerdings schwingt durchaus ein Vorbehalt mit, was die Meinung des Zaren anbelangt. Christfried war überzeugt, dass es sich um einen Nordschein handelte; so beschrieb er auch seine

42 Christiaan Huygens (1659), Systema Saturnium, Sive De causis mirandorum Saturni Phaenomenon, Et Comite ejus Planeta Novo, Den Haag: Adrian Vlacq, bes. S. 55. 43 BOP, B 3.5, Gottfried Kirch, Journal 1700, Eintrag vom 9. September 1700.

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Beobachtungen in Danzig.44 Dabei konnte mit der Nennung der Zeugen, gleich welchen sozialen Standes, durchaus eine Wertschätzung ihres Zeugnisses verbunden sein. Um einmal das Beispiel der Kirchs zu verlassen und auf ähnliche wissenschaftliche Notizen zu verweisen: Der Pariser Arzt Vallant notierte in seinem medizinischen Tagebuch zahlreiche Gespräche, die er mit anderen Gelehrten geführt hat. Die Einträge folgen dem Muster „X m’a dit que …“; mitunter gab es ganze Ketten mündlicher Aussagen mit so benannten Zeugen als Gesprächspartnern, die das Gesagte verbürgten: Mr. De la Chaise ma dit le 9e. avril 1681 que Mr. Dodart medecin de messieurs les Princes de Conty luy avoit dit le iour precedent qu’il avoit verifié une cuisson pour les viandes que Mr. Boile avoit decouuerte depuis peu en Angleterre.45

Das Hörensagen war keineswegs verpönt unter Gelehrten – nicht in den Notaten, und schon gar nicht in der Praxis. Eine ganz ähnliche Kette des Hörensagens findet sich etwa im Notizbuch des Londoner Apothekers James Petiver, nun allerdings nicht auf das Gespräch mit einem Adligen verweisend, der die mündliche Aussage eines Hofarztes wiedergibt: „Biting of vipers Med diggs &c!. Scrapings of pewser taken inwardly. Mr. Savage from ye Viper woman.“46 Das Rezept gegen Schlangenbisse war über Hörensagen von einer der Frauen zu dem erfolgreichen Apotheker gekommen, die ihren Lebensunterhalt unter anderem mit dem Verkauf von Schlangen fristeten, sich aber dadurch zu Expertinnen machten. Das wurde offenbar anerkannt von Gelehrten. Sozialer Status, so zeigen die Beispiele, spiegelt nicht den Wert der Zeugenschaft wieder;47 allerdings wurde diese nicht zwangsläufig in gelehrte Anerkennungsverfahren übersetzt. Die „viper woman“ etwa blieb anonym, der Informant Petivers nicht. Wenn solcherart Zeugen und mündliche Situationen in Notizen festgehalten wurden, so wurde das als gesagt Gekennzeichnete für wahrscheinlich gehalten; sozialer Status der Zeugen und Wert ihrer Aussage waren dabei variabel. Bestätigt werden musste das Zeugnis, möglichst vom Verfasser selbst. Insgesamt zeigt sich, dass die verschiedenen Aspekte von Mündlichkeit in den Observationsjournalen eine differenzierende Beurteilung der Akteure und ihrer Tätigkeiten indiziert. Was als mündlich charakterisiert ist, dem kann man nicht unumschränkt zustimmen, kann es nicht einfach als beobachtet darstellen, als unhinterfragbare Tatsache. Die in ihrer Autorität zumindest prinzipiell eingeschränkten Zeugen werden durch Verweis auf Mündlichkeit als mögliche Fehlerquellen identifiziert. In der Regel werden sie erst sichtbar, wenn widersprüchliche 44 BBAW, NK 9.2, Christfried Kirch, Journal 1716, Bl. 1r; BBAW, NK 125, Christfried Kirch, Sammlung Nordschein 1716; Christfried Kirch [1716], Auffrichtiger Bericht von dem in iztlauffenden 1716den Jahre den 17. Martii Abends entstandenen ungewöhnlichen Nord-Schein, wie solcher allhier in Danzig die ganze Nacht durch mit Fleiß observiret, Danzig: o.V. 45 Bibliothèque nationale de France, Manuscrits français 17054, Portefeuille du Dr. Vallant, Bl. 259r. 46 British Library, Sloane 2338, James Petiver, Remedies against many diseases, Bl. 20v. 47 Entgegen der Ansicht etwa von Steven Shapin (1994), A Social History of Truth. Civility and Science in Seventeenth-Century England, Chicago: Chicago University Press.

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Ergebnisse vorliegen und damit Fehler erklärt werden müssen.48 Oft blieben sie anonym und nur vermuten kann man, dass viele der wissenschaftlichen Berichte auf der Tätigkeit zahlreicher Personen zurückzuführen sind, die sich hinter einem „ich“ des Haushaltsvorstandes oder dem allgemeinen „wir“ verbergen. In den Journalen tauchen sie gelegentlich auf, häufig abgewertet durch die impliziten oder direkten Hinweise auf mündliche Situationen. Die hierarchisierende Gegenüberstellung von (wissenschaftlicher) Schriftlichkeit und Autorschaft und (vorwissenschaftlicher, zumindest zu überprüfender) Mündlichkeit und Informalität drückt sich so schon im Schreiben der Observationsjournale aus. So sehr also der Verweis auf direkte mündliche Rede mit den ‚Sprechern’ auch deren Beobachtung oft mit abwertet, so bedeutsam sind die epistemologischen Implikationen, die sich daraus ergeben: 1) Den in der Mündlichkeit dargestellten Personen wird der Status als Zeugen zuteil; 2) ihre Beobachtungsfähigkeiten können als mögliche Fehlerquellen interpretiert werden; 3) die ihnen zugeschriebene Rede präzisiert Deutungsmöglichkeiten der Phänomene; dadurch wird 4) die agency verteilt auf mehrere Akteure, die sich in ihren Tätigkeiten als beeinflusst kennzeichnen; und 5) schließlich wird damit ein endgültiges Urteil suspendiert und späteren möglichen Beobachtungen und Überlegungen anheimgestellt. Durch die Suspension einer Beurteilung ist durch Verweis auf direkte Mündlichkeit 6) ein Moment der Öffnung des Forschungsprozesses indiziert, dessen Ausgang für die Verfasser noch unklar war. Denn 7) fand durch die implizite oder direkte Nennung andere Akteure eine Differenzierung und Perspektivierung der Beobachtungen statt. Mögliche Wege wurden angegeben, aber mit Vorsicht und unter Vorbehalt, so dass das bisher Beobachtete später durchaus vollkommen neu interpretiert werden konnte. Im Verweis auf die Leistungen anderer Personen und die mündliche Kommunikation schwingt immer ein Vorbehalt mit – es sind vorläufige Beobachtungen, die noch unsicher sind und der Überprüfung bedürfen. Der Verweis auf Mündlichkeit in den Journalen scheint allgemein diese Differenzierung des Beobachteten anzugeben. So dürfte Kirch auch nicht zufällig seine „Schmierer-Bücher“ in den Bereich des Mündlichen gerückt haben – ihnen fehlt die Sicherheit überprüfter Ergebnisse. Er stellte sie damit insgesamt unter Vorbehalt und kennzeichnete sie so als zukunftsoffene Arbeitsmittel. Mündlichkeit diente so der Markierung von Ungewissheit und Vorläufigkeit bei Angabe der Quellen für dieses Verharren des Urteils. Die Schilderung weiterer Umstände diente dann zur Abwägung bei späterer Evaluation. Der Abstand dieser Aufzeichnungen im Rahmen des Astronomenhaushalts, in denen implizit oder explizit auf Situationen der Mündlichkeit hingewiesen und damit das Gesehene in seiner Sicherheit differenziert wurde, wird deutlich, wenn man Nachrichten über die schon erwähnte Kometenentdeckung Maria Kirchs von 1702 liest, die für die Zirkulation außerhalb des Haushalts bestimmt waren. Erhal48 Vgl. Shapin (1989), a.a.O., S. 558, der darauf verweist, dass die unsichtbaren Mitarbeiter Boyles nur bei widersprüchlichen Ergebnissen als moralische Ressource zur Erklärung von Fehlern in den Aufzeichnungen sichtbar werden.

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ten sind drei handschriftliche Versionen, vermutlich für die Verlesung in der Societät oder bei Hofe bestimmt. Dort wird dann nicht mehr auf Mündlichkeit verwiesen, auch nicht auf verschiedene Personen und deren abgestufte Vertrauenswürdigkeit. Die Beobachtung ist als sicher und beglaubigt geschildert und in andere Wissensbestände eingeordnet; die beteiligten Personen verschwinden hinter einem anonymen „wir“ des Astronomenhaushalts, das die Beglaubigung mehrerer Personen ausweist: Nachdem wir bisher in denen Zeitungen unterschiedene mal von einem Cometen gelesen, der sich in Italien und andern Orten sollte sehen laßen: haben wir zwar, wann es der Himmel, und die Gelegenheit des Orts zu gelassen, uns darnach umgesehen, jedoch nichts gefunden. Diesen 21 Aprilis aber, früh um halbweg 2, da wir uns dessen am wenigsten versahen, fanden wir einen, zwischen dem Kopfe des Schwans, und dem Pfeile. Genauer zu sagen: Er war mit dem Sterne, welcher in Bayeri Uranometria an der Spitze des Schnabels stehet, und von Bayero mit keinem Buchstaben benennet ist, und mit δ Sagitta, in gerader Linie, und zwar mittens, so viel man mit bloßen Augen mercken konnte. Jedoch schien der Comet ein sehr klein wenig zur lincken zu stehen. γ Aquila, der Comet und β Cygni, waren auch in einer Linie, jedoch war der Comet näher β Cygni, und zwar beyläuffig 1/3 der Linie davon, mag also beyläuffig in 27 Grad des Steinbocks stehen, vom Aequatore 22° Septent und dieses war um halb 4 des morgens, des 21 Aprilis.49

Noch deutlicher dann der Abstand zur publizierten Form im Journal der Societät, den Miscellanea Berolinensia von 1710, wo der Autor Gottfried Kirch die Entdeckung auf Latein in der Ich-Perspektive beschreibt.50 Schon das „wir“ verweist zwar auf eine Gemeinschaft der Entdecker dieses Kometen; signiert sind diese Berichte aber mit dem Namen Gottfried Kirchs. Er erweist sich so als Autor und Gelehrter, noch deutlicher dann in dem Bericht in den Miscellanea. Vorbereitet war das schon in seinem Journal, in dem er die ihm mitgeteilte Beobachtung Maria Kirchs evaluierte, und in deren Journal, in dem sie auf seine Evaluation verwies. Sie selbst hatte schließlich auch die drei Berichte geschrieben, die die Akteure in einem gemeinschaftlichen „wir“ aufgehen lassen, ohne auf Mündlichkeit zu verweisen. Indem Mündlichkeit zum Thema gemacht wird, kann zumindest versucht werden, diese hierarchisierende Struktur von Autorschaft und Mündlichkeit zu hinterfragen. In der veröffentlichten Form wurde das Beobachtete eingeordnet in andere Wissensbestände. Wie man dazu gekommen war, spielte nun nur noch eine untergeordnete Rolle. Dabei sollen die Verweise auf Mündlichkeit in den Journalen genau das auch zeigen: die mitunter tastenden Schritte auf dem Weg zu sicherer Erkenntnis, verbunden mit deutlichen Abstufungen der zugestandenen wissen-

49 BBAW, NK 32, Maria Kirch, Beobachtungen eines neuen Kometen 1702, Version 1. Insgesamt sind dort drei handschriftliche Versionen eines Berichts erhalten, die zur Publikation bestimmt waren. 50 Gottfried Kirch (1710), De cometa Anno 1702. Berolini observatio, in: Miscellanea Berolinensia ad incrementum scientiarum (Berlin), 1, S. 212–215.

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schaftlichen Handlungsfähigkeit der Beteiligten. Dahinter lässt sich eine Praxis der Wissensgenerierung ermessen, in der Mündlichkeit einen konstitutiven Anteil hatte. Archivquellen Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Jägerstraße 22–23, 10117 Berlin ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ

Nachlass Kirch 6, Maria Kirch, Observationen1713. Nachlass Kirch 7, Maria Kirch, Observationen 1714. Nachlass Kirch 9, Christfried Kirch, Observationen 1716. Nachlass Kirch 11 Christfried Kirch, Observationen 1717. Nachlass Kirch 32, Maria und Gottfried Kirch, Kometenbeobachtung 1702. Nachlass Kirch 119, Maria und Christfried Kirch, Observationsbuch 1705f. Nachlass Kirch 120, Christfried Kirch, Wetterbuch 1708f. Nachlass Kirch 124, Gottfried und Maria Kirch, Sammlung Nordschein 1707. Nachlass Kirch 125, Christfried Kirch, Sammlung Nordschein 1716.

Archives nationales de France, 11, rue des Quatre Fils, 75003 Paris ƒ Fonds de la Marine, 2JJ/61 und 2JJ/65, Correspondance de Joseph-Nicolas Delisle.

Bibliothèque nationale de France, Site Richelieu, 5, rue Vivienne, 75002 Paris ƒ Département de manuscrits, Manuscrits français 17054, Portefeuille du Dr. Vallant.

The British Library, St Pancras, 96 Euston Road, London NW1 2DB ƒ Sloane 2338, James Petiver, Remedies against many diseases.

Bibliothèque de l’Observatoire de Paris, 61, Avenue de l’Observatoire, 75014 Paris ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ

B 3.2, Gottfried Kirch, Observationsbücher 1684–1686. B 3.4, Gottfried Kirch, Observationsbücher 1688–1695. B 3.5, Gottfried Kirch, Observationsbücher 1700–1706. B 3.6, Gottfried Kirch, Observationsbücher 1707–1710. B 3.7, Gottfried Kirch, Journal des principales observations 1678–1710.

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Sebastian Kühn

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Zwei Sprachen – zwei Kulturen? Englische und deutsche Begriffe von Wissenschaft im 18. Jahrhundert Annette Meyer

Abstract The difference between the English and the German understanding of the term ‚science’ is a given in the historiography of science. According to this view, both the identification of ‘science’ with ‘natural sciences’ in English and the distinction between ‘Geisteswissenschaften‘ and ‘Naturwissenschaften’ in German is normally ascribed to completely disparate national traditions of science. In this paper the attempt is made to draw a different picture which emphasizes the similarity in the conceptual framework of ‘science’ and ‘Wissenschaft’ from the seventeenth until the end of the eighteenth century. Both concepts evolved from a delimitation of the Latin tradition of ‘scientia’, in which the search for truth through formal logic was replaced by new forms of acquirement of knowledge. ‘Science’ and ‘Wissenschaft’ became heuristic frames of ever revisable pictures of the world. This new perspective was based on the idea that contingency is not part of reality but of the limited perceptions of man. The conceptions of ‘Science’ and ‘Wissenschaft’ reflected the theoretical debate on cognition of the time and were not at all confined to specific disciplines. Only in the late eighteenth and nineteenth century did both developments diverge, and the catch word ‘two cultures’ came to be used not only to distinguish between different fields of knowledge but also to denote apparent differences between national scientific traditions.

1. ‚Science‘ und ‚Wissenschaft‘: Vergleich zweier Konzepte Es ist bemerkenswert, dass es trotz des anhaltenden Interesses an wissenschaftsgeschichtlichen Fragestellungen gerade in der internationalen Debatte an einer Verständigung mangelt, was eigentlich unter dem Begriff ‚Wissenschaft‘ in den verschiedenen nationalen Kontexten gefasst wird. Untersuchungen dazu datieren aus der, neben der modernen Diskurs- und Wissenschaftsgeschichte zuweilen etwas verstaubt wirkenden, älteren Begriffsgeschichte.1 Gleichzeitig gehen die großen wissenschaftshistorischen Überblicksdarstellungen von einem Vorverständnis von ‚Wissenschaft’ aus,2 dessen jeweiliger Geltungsraum aus spezifisch 1

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Eine der wenigen begriffsgeschichtlichen Analysen des Konzeptes ‚Wissenschaft‘ im Abgleich mit den englischen und französischsprachigen Äquivalenten bietet der Band von Alwin Diemer (Hrsg.) (1970), Der Wissenschaftsbegriff. Historische und systematische Untersuchungen, Meisenheim am Glan: Hain. In diesem Sinne verzeichnet The Oxford Companion to the History of Science keinen Eintrag zu ‚Science‘ (nur zu ‚Science Fiction‘). Vgl. Johan L. Heilbron (Hrsg.) (2003), Oxford Companion to the History of Modern Science, Oxford: Oxford University Press. Jahrbuch für Europäische Wissenschaftskultur, Bd. 7 (2012), 107–137

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nationalen Wissenschaftstraditionen – sowohl im angelsächsischen als auch im deutschen Sprachraum – hergeleitet wird. Bei der Festlegung der unterschiedlich verlaufenden Demarkationslinien innerhalb der Wissenschaftslandschaften beider Länder wird seit dem 19. Jahrhundert auf zwei scheinbar komplett verschiedene Wissenschaftstraditionen rekurriert: Dieser Logik nach gehe die Dominanz der ‚Natural Sciences’ in der angelsächsischen Sphäre mit einer Skepsis gegenüber der wissenschaftlichen Satisfaktionsfähigkeit der ‚Humanities’ einher, während die deutsche Tradition durch ihre vorgebliche Trennung der Natur- und Geisteswissenschaften eine besondere Affinität zum naturwissenschafts- und technikfeindlichen Romantizismus hege. Diese Differenz bilde sich wiederum in den wissensgeschichtlichen Nationalerzählungen ab: Der harten Wissenschaftsgeschichte englischer Provenienz wird die weiche Geistes- und Ideengeschichte deutscher Prägung, jede mit ihren Meriten, gegenübergestellt.3 Obwohl neuerdings vermehrt auf das Problem einer fehlenden systematisierenden Betrachtung der Wissensfelder, Wissenskulturen und Praktiken der Wissenschaften gerade im Prozess der Etablierung der nationalen Wissenschaftssprachen im 18. Jahrhundert hingewiesen wird,4 steht eine vergleichende Studie zum Wissenschaftsverständnis in Europa am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert noch aus. Die europäische Wissenschaftslandschaft des 18. Jahrhunderts wird dadurch in zumindest zwei Kulturen unterteilt, wodurch akademische Disziplinen und Forschungsfelder aus dem Rückspiegel der nationalen Disziplinenbildungen und Professionalisierungsprozesse seit dem 19. Jahrhundert betrachtet werden. In vorliegendem Beitrag soll der vorsichtige Versuch einer Analyse des angelsächsischen und deutschen Wissenschaftsdiskurses vor dem Schisma auf dem Wege eines begriffsgeschichtlichen Zugangs unternommen werden.5 Die Voraussetzung einer vergleichenden Untersuchung beider Konzepte ist ihre Herkunft aus einer gemeinsamen philosophischen Tradition. Der geistesgeschichtliche Ausgangspunkt ist die Gleichsetzung von ‚philosophia’ und ‚scientia’

3

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5

Vgl. Johan L. Heilbron (2003), Social Thought and Natural Science, in: David C. Lindberg & Ronald L. Numbers (Hrsg.) (2003–2011), The Cambridge History of Science, Bd. 7: The Modern Social Sciences, hg. v. Theodore M. Porter & Dorothy Ross, Cambridge: Cambridge University Press, S. 40–56, S. 53. Vgl. etwa Olaf Breidbach & Paul Ziche (2001), Einführung. Naturwissen und Naturwissenschaften – Zur Wissenschaftskultur in Weimar/Jena, in: Olaf Breidbach & Paul Ziche (Hrsg.), Naturwissenschaften um 1800, Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger, S. 7–24. Neuerdings auch Hans E. Bödeker & Martin Gierl, Einleitung, in: Hans E. Bödeker & Martin Gierl (Hrsg.) (2007), Jenseits der Diskurse. Aufklärungspraxis und Institutionenwelt in europäisch komparativer Perspektive, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 11–21, S. 13f. Wichtige Anregungen für eine systematische Zusammenschau beider Wissenschaftssphären hat Lorraine Daston in ihren Arbeiten gegeben. Vgl. Lorraine Daston (1998), Die Kultur der wissenschaftlichen Objektivität, in: Otto G. Oexle (Hrsg.), Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft, Kulturwissenschaft. Einheit – Gegensatz – Komplementarität, Göttingen: WallsteinVerlag, S. 9–39; Lorraine Daston & Peter Galison (2007), Objektivität, Frankfurt/Main: Suhrkamp.

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bis weit in die Frühe Neuzeit.6 Eine weitere maßgebliche Bedingung der Vergleichbarkeit liegt darin, dass ein grundlegender Bedeutungswandel beider Begrifflichkeiten etwa zur selben Zeit erfolgte. Dabei lässt sich noch im Verlauf des 18. Jahrhunderts eine durchaus parallel verlaufende bezeichnungs- und bedeutungsgeschichtliche Phase identifizieren, die um 1800 und mit Nachhaltigkeit im 19. Jahrhundert eine divergierende Entwicklung nahm.7 Die verfestigten Unterschiede der Begriffe von ‚Science‘ und ‚Wissenschaft‘ haben in ihren Geltungsbereichen bis heute Bestand; die Konzepte von ‚Wissenschaft‘ und ‚Science‘ sind seither nicht mehr bedeutungsgleich. Während der deutsche Wissenschaftsbegriff einen umfassenden Geltungsanspruch für alle akademischen Disziplinen wahren konnte, vollzog sich im angelsächsischen Sprachraum eine Einschränkung der Bezeichnung ‚Science‘ auf vorrangig die Mathematik und die Naturwissenschaften. Erst im Verlauf des achtzehnten Jahrhunderts ist eine Erweiterung der Bedeutung des lateinischen Begriffs ‚scientia‘ durch eine zunehmende Differenzierung seiner Untergattungen festzustellen.8 Ihren semantischen Niederschlag fand diese Entwicklung durch die Pluralbildungen ‚scientiae‘, ‚artes‘, ‚disciplinae‘ und ‚doctrinae‘, ebenso wie deren Präzisierungen durch adjektivische Zusätze wie ‚sacra‘, ‚humana‘, ‚naturalis‘ oder ‚civilis‘.9 Für die jeweilige Anwendung im angelsächsischen und deutschsprachigen Bereich ist dabei die Übertragung der Termini aus dem Lateinischen in die jeweilige Vernakularsprache von nicht zu überschätzender Bedeutung. Seit Beginn des 18. Jahrhunderts wurde das Lateinische als lingua franca der Gelehrtenwelt schrittweise abgelöst, indem sich eigene nationale Wissenschaftssprachen etablierten. Damit erfolgte einerseits eine Aufwertung indigener Begriffe, wie etwa ‚Knowledge‘, ‚Scholarship‘, ‚Bildung‘, ‚Gelehrsamkeit‘ oder ‚Wissenschaft‘, die mit präzisen definitorischen Bemühungen einherging. Andererseits zeichnete sich eine Bedeutungsabweichung der nunmehr zu Fremdwörtern gewordenen lateinischen Begriffe in den verschiedenen nationalen Sprach- und Wissenschaftsräumen ab. Von diesen Veränderungen zeugen die zeitgenössischen Lexika, deren Aufgabe für den Ablösungsprozess vom Lateinischen nicht allein in der sprachlichen Über-

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Vgl. Walther C. Zimmerli (2008), Wissenskulturen des 18. und 21. Jahrhunderts, in: Ulrich J. Schneider (Hrsg.), Kulturen des Wissens, Berlin & New York: de Gruyter, S. 1–22, S. 10f. Alwin Diemer (1968), Die Differenzierung der Wissenschaften in die Natur- und Geisteswissenschaften und die Begründung der Geisteswissenschaften als Wissenschaft, in: Alwin Diemer (Hrsg.), Beiträge zur Entwicklung der Wissenschaftstheorie im 19. Jahrhundert, Meisenheim am Glan: Hain, S. 174–223, S. 175. „In the 17th and 18th century the notion now usually expressed by science was commonly expressed by philosophy.“ Vgl. Anonym (1989), (Art.) Science, in: John Simpson & Edmund Weiner (Hrsg.), The Oxford English Dictionary, 2. Aufl., Bd. 14, Oxford: Oxford University Press, S. 648–649, S. 649. Diemer (1968), a.a.O., S. 179.

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tragung bestand, sondern deren Selbstverständnis darüber hinaus vom Bemühen um eine begriffliche Angleichung an neue Wissens- und Erkenntnisformen getragen war. Vor diesem Hintergrund ist das Bedürfnis nach sprachlicher wie nach materialer Neuordnung des Wissens zu verstehen, das sich ausdrücklich in den ‚Dictionaries of Arts and Sciences‘ oder ‚Lexika aller Wissenschaften und Künste‘ seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert manifestierte;10 einer neuen Gattung der „Bücher-Bücher“,11 die als Index und Kursbuch durch den boomenden Wissenschaftsbuchmarkt des 18. Jahrhunderts führen sollten. 2. Der englische Wissenschaftsbegriff im 18. Jahrhundert Als ein Wissenschaftskursbuch neuen Typs kann John Harris’ Lexicon Technicum: Or, An Universal English Dictionary of Arts and Sciences (1704) gelten, das seine Autorität aus Bacons und insbesondere aus Newtons Schriften bezog und den Versuch einer neuen Systematisierung der Wissenschaften nach alphabetischer Ordnung unternahm.12 Während der Eintrag zu ‚Science‘ auf einen Definitionssatz13 beschränkt bleibt und sich im Lexicon Technicum noch kein Eintrag für ‚Knowledge‘ finden lässt, stellt sich das wachsende Erfordernis nach der Klärung der Frage, was unter ‚Wissen‘ und ‚Wissenschaft‘ zu verstehen sei, im Nachfolgeprojekt zu Harris’ Lexikon schon deutlicher dar. Bereits in der Vorrede zu seiner Cyclopaedia beklagte Ephraim Chambers (1680–1740) die bis dahin mangelnde Differenzierung zwischen ‚Arts‘ und ‚Sciences‘, um dann seiner Auffassung Raum zu geben, dass die Wissenschaft – unabhängig von obskuren Bedeutungen und abstrakten Definitionen – endlich als das verstanden werden müsse, was sie eigentlich sei: [T]he faculty whereby we perceive things and their relations [...]. Science is no other than a series of deductions, or conclusions, which every person, endued with those faculties, may, with a proper degree of attention, see, and

10 Richard Yeo betont das ambivalente Verhältnis der großen Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts zu ihren Vorgängerprojekten, das im Anspruch begründet lag, „neues Wissen“ zur Verfügung zu stellen. Vgl. Richard Yeo (2001), Encyclopaedic Visions. Scientific Dictionaries and Enlightenment Culture, Cambridge: Cambridge University Press, S. 12. 11 Zimmerli (2008), a.a.O., S. 5. 12 John Harris (1704), Lexicon Technicum. Or, An Universal English Dictionary of Arts and Sciences: Explaining not only the Terms of Art, but the Arts themselves, London: Printed for Dan. Brown u.a. Ein Ergänzungsband erschien 1710. Zu Harris vgl. Richard Yeo (2003), Classifying the Sciences, in: David C. Lindberg & Ronald L. Numbers (Hrsg.) (2003–2011), The Cambridge History of Science, Bd. 4: Eighteenth Century Science, hg. v. Roy Porter, Cambridge: Cambridge University Press, S. 241–267, hier: S. 254–256. 13 Harris’ Definition lautet: „SCIENCE, is the Knowledge founded upon, or acquire’d by clear, certain, and self evident Principles.“ Harris (1704), a.a.O., o. S.

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draw: and a science; i. e. a formed science, is no more than a system of such conclusions, relating to some one subject, orderly and artfully laid down in words.14

Als Beispiel für diese Befähigung führt Chambers die Philosophie Euklids an, zu deren Ergebnissen jedermann aufgrund seiner eigenen Wahrnehmung und durch eigenständiges Nachdenken gelangen könne und die er sogar erweiternd fortzusetzen in der Lage sei.15 Unter dem Begriff ‚Science‘ wird hinsichtlich seiner ersten Bedeutung – der Fähigkeit zu wissen – auf den sehr viel ausführlicheren Eintrag ‚Knowledge‘ verwiesen.16 In Anlehnung an Locke wird hier eine Erkenntnistheorie entwickelt, deren zentrales Anliegen der Nachweis des Vorrangs von Erfahrung ist. Die ‚Vorstellungen‘ (ideas) des Menschen entstünden nicht aus qualvollen Ableitungsvorgängen, sondern „by its natural power of perception“. Für diese wiederum hätten gelehrte Männer allgemeine Regeln und Prinzipien aufgestellt: „But no maxim can make a man know clearer, that round is not square, than the bare perception of this two ideas.“17 Die Grade der Gewissheit hingen wiederum von der Wissensform ab, nämlich ob Erkenntnis durch Intuition (Art. ‚Faith‘) oder durch Demonstration (Art. ‚Evidence‘) erworben würde. Die Grenzen des Wissens waren nach Chambers Auffassung durch die Begrenztheit menschlicher Erfahrung bestimmt, auf die der Gelehrte sich tatsächlich auch beschränken solle.18 Und auch wenn es eine scheinbar unumstößliche Auffassung unter Gelehrten sei, dass Wissenschaft auf Axiomen und Prinzipien beruhe, läge die Methode zur Erweiterung unserer Kenntnisse in der Zurückdrängung des Deutungsmonopols der Schulphilosophie und in der Besinnung auf unser intuitives Erfahrungswissen, das unabhängig von Lehrsätzen bestünde.19 Der Weg der Erfahrung vollziehe sich immer von der Wahrnehmung der Besonderheiten zum Rückschluss auf das Allgemeine und nicht umgekehrt:

14 Ephraim Chambers (1741–1743a), Cyclopaedia. Or, An Universal Dictionary of Arts and Sciences (Erstauflage 1727), 2 Bände, 5. Aufl., London: Printed for D. Midwinter, Bd. 1, Preface, S. IX. Während Yeo die starke Anlehnung der Cyclopaedia an das Lexicon Technicum betont, zeigt die veränderte Schwerpunktsetzung in den Begriffen eine markante Differenz zwischen den Enzyklopädien: Im Gegensatz zu Chambers verzeichnet Harris z. B. keine Einträge zu ‚History‘ oder ‚Knowledge‘. Vgl. dazu auch Yeo (2003), a.a.O., S. 256–260. 15 „By such means, without any other helps than penetration, and preservance, might he make out an infinite number of propositions; possibly more than Euclid has done.“ Chambers (1741–1743a), a.a.O., Bd. 1, Preface, S. IX. 16 George S. Rousseau und Roy Porter näherten sich in ihrem schulbildenden Neuansatz zur Wissenschaftsgeschichte über den neutraleren Begriff ‚Knowledge‘. Vgl. George S. Rousseau & Roy Porter (Hrsg.) (1980), The Ferment of Knowledge. Studies in the Historiography of Eighteenth-Century Science, Cambridge: Cambridge University Press. 17 Ephraim Chambers (1741–1743b), (Art.) Knowledge, in: Chambers (1741–1743a), a.a.O., Bd. 1, o. S. 18 „Experience is what which in this part we must depend on, and it were to be wished, that it were more improved […]. See EXPERIMENT, EXPERIMENTAL.“ Ebd. 19 „[T]he beaten road of the schools has been lay down.“ Ebd.

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The way to improve knowledge, is not to swallow principles with an implicite faith and without examination, which would be apt to mislead men, instead of guiding them into truth.20

Der abschließende Appell des Artikels verweist darauf, dass ein Fortschreiten der Vernunft nur möglich sei, wenn man die Methoden der Untersuchung an die Natur der Gegenstände angleiche. Abstraktes Wissen (Art. ‚Mathematics‘) zeitige abstrakte Theorien, während die Natur und die Bestimmung des Verhältnisses unter den Dingen eine vorsichtige, induktive Annäherung erfordere. Unter Wissenschaft sei nicht mehr zu verstehen als „a formed system of any branch of knowledge.“21 Diese verschiedenen Zweige des Wissens und die daraus abgeleiteten Gegenstände der Wissenschaften verhandelt Chambers unter dem Eintrag ‚Science‘, in dem er nach kurzen Präliminarien zum einen über die grundsätzliche Infragestellung der Möglichkeit von Wissenschaft (Art. ‚Scepticism‘) und zum anderen bei den gesetzten „sciences in God“ auf die verschiedenen Anwendungsbereiche der Wissenschaften zu sprechen kommt.22 Zu diesen zählt er zunächst die grundsätzliche ‚Kenntnis der Dinge‘ (knowledge of the things) – ihrer Verfassungen, Eigenheiten und Funktionsweisen, sowohl in materialer als auch immaterialer Hinsicht. Diese subsumierte er unter ‚natural philosophy‘, deren wissenschaftliche Erfassung Aufgabe der ‚Physik‘ und ‚Philosophie‘ sei. Dann nennt er die Lehre vom ‚zielgerichteten und richtigen Handeln‘ (skill of right applying our own powers), dessen Erforschung durch ‚Ethik‘ und ‚Moralphilosophie‘ erfolge, und schließlich die ‚Lehre der Zeichen‘ (doctrine of signs), die der Logik untergeordnet sei, deren Entschlüsselung der Erforschung der Sprache obliege.23 An den dargestellten Einträgen in der Cyclopaedia ist zweierlei hervorhebenswert. Zum ersten findet hier eine scheinbar exklusive Gelehrtendebatte um Wissenstraditionen und Erkenntnisformen, die seit dem 17. Jahrhundert im Gange war, ihren klaren, dem Stand der Diskussion durchaus adäquaten, lexikalischen Niederschlag. Gleichzeitig wird aus den Einträgen deutlich, dass die Debatte noch andauerte und die Besetzung der Begriffe sich in einer offenen Umbruchphase befand. Die formale Bezeichnung mit ‚Science‘ schloss alle Wissensbereiche – inklusive Theologie, Philosophie oder die Philologien – mit ein. Als problematisch erwiesen sich vielmehr die Voraussetzungen des Wissens, also die Frage, wie man Wissenschaft von etwas erlangt. Hier werden Bacons und Lockes Gegenpositionen zur aristotelischen Logik und zur Schulphilosophie greifbar, deren Gemeinsamkeit in

20 Ebd. 21 Ephraim Chambers (1741–1743e), (Art.) Science, in: Chambers (1741–1743a), a.a.O., Bd. 2, o. S. 22 Rom Harré hebt den theologischen Hintergrund des Diskurses hervor und betont, dass die Diskussion um die Grenzen des Wissens im 18. Jahrhundert genau im Spannungsfeld zwischen der Dominanz der Theologie und ihres gleichzeitigen Rückzugs in die Naturphilosophie interpretiert werden müsste. Vgl. Rom Harré (1980), Knowledge, in: George S. Rousseau & Roy Porter (Hrsg.), The Ferment of Knowledge. Studies in the Historiography of Eighteenth-Century Science, Cambridge: Cambridge University Press, S. 11–54, S. 18f. 23 Chambers (1741–1743e), a.a.O., o. S.

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der Forderung nach dem Primat der Empirie bestand.24 Die besondere Voraussetzung dieses empirischen Wissenschaftsbegriffs lag vor allem in der Sicherung des Wissens und in der Ablehnung aller nicht als begründetes Wissen ausweisbaren Annahmen. Diese neuartige Erfassung von Wirklichkeit durch eine induktive Methode verbindet sich vor allem mit der Wissenschaftskonzeption von Francis Bacon, Lord Verulam (1561–1626), wie er sie grundsätzlich in seinem Novum Organum Scientarum (1620) darlegte. Die Experimentensammlung Sylva Sylvarum (1628) kann schließlich als Bacons Werkstattbericht gelesen werden, dessen Untertitel OR A Naturall Historie die Bedeutung von ‚historia‘ in der Frühen Neuzeit in aller Deutlichkeit hervortreten lässt: Wie im Aristotelismus diente ‚historia‘ als Bezeichnung für alles aus Erfahrung gewonnene Wissen, nur dass Bacon die Bedeutung der induktiven Grundlegung von Wissenschaft sehr viel nachdrücklicher einforderte als seine Vorgänger.25 Mit Bacon wird der ‚historischen Erkenntnis‘ – also der Fähigkeit, aus Experiment und Erinnerung sichere Erkenntnis zu erlangen – eine fundamentale Rolle in der wissenschaftlichen Urteilsfindung zugesprochen.26 ‚Philosophia‘ als Überbegriff frühneuzeitlicher Wissenschaft ist damit ohne die Basis der ‚historia‘ nicht mehr möglich.27 Der Begriff der ‚Empirie‘ findet sich bei Bacon allerdings noch nicht, er wird erst im 19. Jahrhundert allgemein gebräuchlich werden; im gleichen Zeitraum also, in dem auch die ‚historia‘ einen endgültigen Bedeutungswandel erfahren haben wird. Bei Bacon jedoch ist ‚Historie‘ noch die zeitgenössische Bezeichnung für seine induktive Vorgehensweise, die sein Herausgeber wie folgt beschreibt:

24 Die Veränderung des englischen Wissenschaftsverständnisses unter dem Vorzeichen der Empirie zeichnet nach: Jürgen Klein (1994), Vom Baconianismus der Royal Society bis zu John Locke. Identität, Individualität und Wissenschaftsfunktion im englischen Empirismus des späten 17. Jahrhunderts, in: Sebastian Neumeister (Hrsg.), Frühaufklärung, München: Fink, S. 11–58. 25 Zur Aufwertung des ‚Natural History‘-Konzeptes in England durch Bacon vgl. Paula Findlen (1997), Francis Bacon and the Reform of Natural History in the Seventeenth Century, in: Donald R. Kelley (Hrsg.), History and the Disciplines. The Reclassification of Knowledge in Early Modern Europe, Rochester: University of Rochester Press, S. 239–260. 26 Dadurch dass Bacon neben der ‚historia naturalis‘, deren Erkenntnisform die ‚experientia‘ ist, auch die ‚historia civilis‘ als Erfahrungsschatz einführt, wird die ‚memoria‘ als deren Erkenntnisform mit in die induktive Methode aufgenommen. Zum ‚historia‘-Begriff bei Francis Bacon siehe die unentbehrliche Analyse von Arno Seifert (1976), Cognitio Historica. Die Geschichte als Namengeberin der frühneuzeitlichen Empirie, Berlin: Duncker & Humblot, S. 116–138. 27 Primo enim eam proponimus historiam naturalem, quae non tam aut rerum varietate delectet aut praesenti experimentorum fructu juvet, quam lucem inventioni causarum affundat, et philosophiae enutricandae primam mamam praebet. („Erstens nämlich lege ich eine Naturgeschichte dar, die nicht bloß durch die Mannigfaltigkeit der Dinge erfreuen oder durch die Früchte der Experimente sofort Hilfe bringen will, sondern sie gibt das Licht für die Entdeckung der Ursachen und reicht der noch zu nährenden Philosophie die erste Brust.“) Francis Bacon (1990), Novum Organon, hg. v. Wolfgang Krohn, 2 Bände, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Bd.1, Inst. Mag. 141, S. 54/55.

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[T]rue Axioms must be drawne from plaine Experience, and not from doubtfull, And his Lordship course is to make Wonders Plaine, and not Plaine things Wonders.28

Dennoch liegt diesem Induktionsverfahren kein naiver Realismusbegriff zugrunde, da sich Bacon über die Mängel sinnlicher Erfahrung durchaus im Klaren war und seine neue Methode vielmehr dahin zielte, die rationale ‚scientia‘ solider zu begründen.29 Nur vermittels der Annahme einer das Wirkliche faktisch leitenden Gesetzlichkeit, die sich insbesondere in den „Formen“ der Dinge ausdrücke, ist es nach Bacon möglich, kausale Erklärungen der singulären Erscheinungen herzustellen, wodurch es möglich ist, diese in die „Ordnung der Natur“ (naturae ordo) einzubetten.30 Bacons Verfahren bestand folglich nicht darin, Hypothesen induktiv zu belegen, sondern in der systematischen Falsifikation von Hypothesen.31 Es existierte also ein sich gegenseitig bedingendes Verhältnis von Induktion und Deduktion, das allerdings nicht den formallogischen Anforderungen an wissenschaftliche Aussagen – nämlich gewiss, allgemein und notwendig zu sein – gehorchte. Durch die folglich weiterhin bestehende Frage nach der Möglichkeit von Erfahrungswissenschaften überhaupt traten logische Formalismen in den Hintergrund, und die inhaltliche Sicherung des Wissens, also die Frage nach den Erkenntnisquellen, wurde zum beherrschenden Thema. Diesen neuen Anforderungen entsprach John Lockes (1632–1704) Erkenntnistheorie, die er in seinem Essay Concerning Human Understanding (1690) darlegte und deren viel diskutierte Thesen als unabdingbare Grundlage einer neuartigen Wissenschaftsauffassung gelten können.32 Gegenstand des Werkes ist die „Natur des Verstandes“, dessen Vermögen einer physiologischen und philosophischen Analyse unterzogen wird. Durch eine „Historical, plain Method“ soll geklärt werden, wie der Verstand sich jene Begriffe von den Dingen aneignet.33 Mit dieser

28 William Rawley (1639), To the Reader, in: Francis Bacon, Sylva Sylvarum: Or A Naturall Historie, 5. Aufl., London: Lee, o. S. 29 Bacon (1990), a.a.O., Bd. 1, Inst. Mag. 137f., S. 64/47. 30 Ebd., Bd. 1, Inst. Mag. 144, S. 62/63ff., S. 64/65. Zur problematischen Stilisierung Bacons zum „Heerführer der Erfahrungsphilosophen“ (Hegel) siehe die Ausführungen von Hans-Jürgen Engfer (1996), Empirismus versus Rationalismus? Kritik eines philosophiegeschichtlichen Schemas, Paderborn u.a.: Schöningh, S. 33–54. 31 [O]mn[is] instantia[.] contradictoria[.] destru[it] opinabile de Forma. („[J]eder gegensätzliche Fall bereits genügt, ein über die Form aufgestelltes Urteil zu verwerfen.“) Bacon (1990), a.a.O., Bd. 1, Aph. XVIII, S. 354/355. 32 Entgegen der von Jonathan Israel zuletzt vertretenen Meinung, kann die Bedeutung von Lockes Erkenntnistheorie für die Wissenschaftsauffassung der Aufklärung kaum überschätzt werden. Vgl. Jonathan I. Israel (2001), Radical Enlightenment. Philosophy and the Making of Modernity (1650–1750), Oxford: Oxford University Press, S. 522ff. 33 Auch hier wird der Begriff ‚Historical, plain‘ wieder synonym zu ‚rein induktiv’ gebraucht: John Locke (1975), An Essay Concerning Human Understanding, hg. v. Peter H. Nidditch, Oxford: Clarendon Press, Book I, Chap. 1, § 2, S. 43f, hier: S. 44.

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Fragestellung hatte sich Locke als Gegner der Auffassung von den ‚eingeborenen Ideen‘ (Innatismus) eingeführt und mit seiner Antwort, dass wirkliche Erkenntnis nur durch Selbstdenken erreicht werden könne, avancierte seine Erkenntnistheorie zum zentralen Ausgangspunkt der europäischen Aufklärungsphilosophie. Eine Lehre könne demnach nur dann als wahr anerkannt werden, wenn sie durch die eigene Verstandestätigkeit geprüft und für richtig befunden werde.34 Um eigene Erkenntnisse zu erlangen, müsse man lediglich die natürlich gegebenen Vermögen richtig gebrauchen. Das Material der Erkenntnis besteht für Locke in ‚Ideen‘, deren Ursprung wiederum in zwei Arten von Erfahrung begründet liegt: Einer äußeren ‚Sensation‘, durch die man Kenntnis von den wahrnehmbaren Eigenschaften der Gegenstände selbst erlangt und einer inneren ‚Reflexion‘, durch die Vorgänge des menschlichen Geistes, wie ‚Denken‘, ‚Zweifeln‘, ‚Glauben‘, erfolgen.35 Zur Erkenntnis beziehungsweise zu Urteilen über die Wirklichkeit gelange man folglich durch die Wahrnehmung von Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung von Ideen.36 Unter den verschiedenen Erkenntnisarten könne – neben der sensitiven, die uns der Existenz äußerer Gegenstände versichere – nur Intuition und Demonstration allgemeine Wahrheiten zutage fördern. Jede andere Form von Erkenntnis sei nichts anderes als schierer Glaube oder bloße Meinung.37 Mit dieser erkenntnistheoretischen Abgrenzung vom Innatismus und der formalen Logik unterminierte Locke das mit deren Mitteln beförderte Herrschaftswissen und überantwortete Fragen der Erkenntnis dem Verstand jedes einzelnen Individuums, wobei die Erkenntniskritik in der Selbstbeobachtung der eigenen Denkvorgänge besteht; ein Vorgang, den man als ‚Demokratisierung der Erkenntnis‘ bezeichnen könnte.38 Die freiwillige Restriktion der Erkenntnis auf den menschlichen Verstand einerseits und die Anerkennung allgemeiner abstrakter Begriffe andererseits, lassen allerdings auch für Locke das Etikett des ‚Empiristen‘ zumindest problematisch erscheinen. Es ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass Lockes Erkenntnistheorie sowohl empirische als auch rationalistische Züge trägt.39 Die kritische Auseinandersetzung mit der Spannung aus rationalistischen und empi-

34 „So much as we our selves consider and comprehend of Truth and Reason, so much we possess of real and true Knowledge.“ Ebd., Book I, Chap. 4, § 23, S. 101. Hier wird der Lockesche Hintergrund der Cyclopaedia besonders deutlich. 35 Ebd., Book II, Chap. 1, § 1–3, S. 104f. 36 Diese Definition Lockes findet wörtlichen Eingang in die Encyclopaedia Britannica: „Knowledge, is defined by Mr Locke, to be the perception of the connection and agreement, or disagreement of our ideas.“ Vgl. William Smellie (1768–1771a), (Art.) Knowledge, in: William Smellie (Hrsg.), Encyclopaedia Britannica. Or, A Dictionnary of Arts and Sciences, Compiled upon a New Plan, 3 Bände, Bd. 2, Edinburgh: Bell & MacFarquhar, S. 857. 37 John Locke (1975), a.a.O., Book IV, Chap. 2, § 14, S. 5361ff. 38 „Nor is it a small power it gives one Man over another, to have the Authority to be the Dictator of Principles, and Teacher of unquestionable Truths“. Ebd., Book I, 4, § 24, S. 102. 39 Ich folge hier der Interpretation von Udo Thiel (1990), John Locke. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Hamburg: Rowohlt, S. 73f.

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rischen Elementen in Lockes Erkenntnistheorie prägte die Diskussion der Folgezeit40 und forderte zur Frage heraus, ob die Möglichkeit abstrakter Wissenschaft generell geleugnet werden oder der Standpunkt des bloßen Empirismus einer Veränderung unterzogen werden müsse. Eine Fortführung der empirischen Grundlegung von Wissenschaft unternahm der schottische Philosoph David Hume (1711–1776), dessen Skeptizimus zu einer weiteren Selbstbescheidung in der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt führte. Seine Erkenntnistheorie ist als erste differenzierende Fortentwicklung der Position Lockes mit nachhaltiger Wirkung für den Wissenschaftsbegriff in Großbritannien interpretiert worden, da Hume die Möglichkeit von Wissenschaft in einer Trennung von demonstrativer Vernunft einerseits und Erfahrungswissen andererseits begründete.41 Erfahrungswissen, also die Erkenntnis von Tatsachen, sei nur aufgrund ihrer Relation in Ursache und Folge erkennbar. Diese erschließe sich allerdings nicht aus der Vernunft, sondern nur aus einer gewohnheitsmäßigen Verbindung der beiden. Damit habe Hume die Festlegung des Wissenschaftsbegriffs auf die exakten, mathematisch fundierten Naturwissenschaften vorangetrieben. Aus dieser Unterscheidung sei eine philosophische Brücke zum kosmologischphysikalischen Denken Newtons geschlagen worden, woraus sich wiederum die üblich gewordene Einschränkung des ‚Science‘-Begriffs auf Mathematik und Naturwissenschaften erkläre.42 Demgegenüber ist einzuwenden, dass Hume den eingeschränkten Erfahrungsbegriff aufgrund von Gewohnheit durchaus auch für naturwissenschaftliche Phänomene einführte, um damit die Grenzen und gleichzeitig erst die Möglichkeit von Erfahrungswissenschaft überhaupt zu begründen. Vor allem aber ist auf Humes Projekt einer ‚Science of Man‘ zu verweisen, wie er es 1739/40 im Treatise of Human Nature entwickelte. Die ‚Science of Man‘ sollte demnach eine zentrale Stellung innerhalb aller anderen Wissenschaften, wie Logik, Moral, Ästhetik und Politik, einnehmen. Hume betonte, dass sogar „Mathematics, Natural Philosophy, and Natural Religion, are in some measure dependent

40 In Deutschland war es vor allem Gottfried Wilhelm Leibniz, der Lockes Position als gefährlich materialistisch kritisierte und an einer metaphysischen Substanzlehre festhielt. Zu den beiden Positionen siehe Rainer Specht (1998), Erfahrung mit Vernunft. Leibniz und Locke über die Möglichkeit von Erfahrungswissenschaften, in: Frank Grunert & Friedrich Vollhardt (Hrsg.), Aufklärung als praktische Philosophie, Tübingen: Niemeyer, S. 47–69. 41 Hume entwickelte eine Genealogie der ‚Science of Man‘ von Bacon zu Locke, Shaftesbury, Mandeville, Hutcheson und Butler, „who have begun to put the science of man on a new footing“. Vgl. David Hume (1978), A Treatise of Human Nature, hg. v. Lewis A. Selby-Bigge, 2. Aufl., Oxford: Clarendon Press, Introduction, S. XVII. Dennoch wollte sich Hume von der Lockeschen Aufladung der Wahrnehmungsbegriffe zu Reflexionsbegriffen distanzieren: „Perhaps I rather restore the word, idea, to it’s original sense, from which Mr. Locke had perverted it, it making it stand for all our perceptions.“ Ebd., Book I, Part I, Sect. 1, § 1, Anm. 1, S. 2. 42 In diesem Sinne Wilhelm Risse (1970), Der Wissenschaftsbegriff im England des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Alwin Diemer (Hrsg.), Der Wissenschaftsbegriff. Historische und systematische Untersuchungen, Meisenheim am Glan: Hain, S. 90–98, S. 97f.

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on the science of Man“, weshalb diese die Voraussetzung für alle Wissenschaften sei.43 Die einzig gesicherte Grundlage, die man dieser ‚Science of Man‘ geben könne, liegt für Hume in der Erfahrung und Beobachtung: And as the science of man is the only solid foundation for the other sciences, so the only foundation we can give to this science itself must be laid on experience and observation.44

Und ganz in der Tradition von Lockes ‚Historical, plain method‘ gehe es darum, die Fähigkeiten und Eigenschaften des Geistes, die in verschiedenen Umständen und Situationen hervorträten, zu beobachten und zu untersuchen. Auch bei Hume selbst kann also nicht die Rede von einer Reduzierung des Wissenschaftsbegriffes auf die mathematischen Naturwissenschaften sein. Am stärksten allerdings verbindet sich der Bedeutungswandel des Wissenschaftskonzepts in Großbritannien und Kontinentaleuropa – sowohl hinsichtlich seiner rein empirischen Ausrichtung als auch in seiner Übertragung auf die Naturwissenschaften – mit dem Namen Isaac Newtons (1642–1727). Die traditionelle Meistererzählung moderner Wissenschaft besagt, dass sich im 17. Jahrhundert und besonders in der Aufklärung unter dem Einfluss von Newton ein mechanistisches Weltbild durchsetzen konnte, wodurch die diesem Weltbild adäquaten Wissenschaften – Physik und Mathematik – einen Vorrang erlangten. Auf den Vorarbeiten anderer Denker, wie Kopernikus, Kepler, Galilei und Leibniz, aufbauend, sei erst durch Newtons radikal neue empirische Methode eine Zäsur erfolgt, die der modernen Wissenschaftsauffassung den Weg ebnete. Ihren Ursprung fand dieses Narrativ bereits in der Selbstwahrnehmung der Philosophen des 16. und 17. Jahrhunderts, die für ihre Arbeiten, mit dem Zusatz ‚neu‘ im Titel zumindest einen Anteil an einer historischen Umbruchsituation beanspruchten.45 Ein bedeutsamer Anteil an der Interpretation des Umbruchs um 1700 als ‚revolutionär‘ kam allerdings der neu etablierten Wissenschaftsgeschichte der Aufklärung zu, die nicht müde wurde, Traditionsstränge abzuschneiden und neue Kontinuitätslinien zu bilden. Es ist Ausdruck des Anspruchs auf die ‚Wiedergeburt der Wissenschaften‘ im 18. Jahrhundert, selbst gewählte Paten an deren Wiege zu stellen.46

43 Hume (1978), a.a.O., Introduction, S. XV. 44 Ebd., Introduction, S. XVI. 45 David C. Lindberg verweist auf die programmatische Häufung eines ‚new‘ in den einschlägigen Titeln: „Kepler’s New Astronomy, Francis Bacon’s New Organon, and Galileo’s Two New Sciences.“ Vgl. David C. Lindberg (1990), Conceptions of the Scientific Revolution from Bacon to Butterfield. A Preliminary Sketch, in: David C. Lindberg & Robert S. Westman (Hrsg.), Reappraisals of the Scientific Revolution, Cambridge: Cambridge University Press, S. 1–26, S. 3. 46 Margaret C. Jacob hat die Rolle der Aufklärung beim „Making of the Heroes“ betont. Vgl. Margaret C. Jacob (2000), The Truth of Newton’s Science and the Truth of Science’s History. Heroic Science at its Eighteenth-Century Formulation, in: Margaret J. Osler (Hrsg.), Rethinking the Scientific Revolution, Cambridge & New York: Cambridge University Press, S. 315–332, S. 319.

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Gilt es also das Konzept von ‚Science‘ für das ausgehende 17. und 18. Jahrhundert in einigen grundlegenden Thesen zu bündeln, ist der ‚Newtonianismus‘ weniger als methodisches Modell, sondern vielmehr als kennzeichnendes Phänomen seiner Epoche dienlich.47 Dabei muss hervorgehoben werden, dass sich Newtons Wirkung weniger seiner exakt physikalischen Erklärung der Natur verdankte, als vielmehr ihrer Ordnung und Vereinheitlichung vermittels eines universalgültigen, grundlegenden Gesetzes: There is an universal Power of Gravity acting in the whole system [...]. This Power is the same in all Places, and at all Times, and with regard to all Bodies whatsoever: This Power is entirely immechanical, and beyond the Abilities of all material Agents whatsoever.48

Mit dieser Interpretation war es möglich, die vormals unversöhnlichen Positionen der christlichen Theologie mit denen des moderaten Deismus in einem wissenschaftlich inspirierten Geist zu versöhnen.49 In einer Zeit des immensen Wissenszuwachses und grundsätzlicher Infragestellung der theologischen Weltordnung schien durch Newtons Theorie der empirische Beweis für ein göttliches Prinzip in der Natur gegeben.50 Mit diesem induktiven Nachweis eines göttlichen Plans innerhalb des Kosmos und der Welt verband sich die Hoffnung, einen solchen auch für die geistig-moralische Sphäre ausfindig machen zu können. Die Erforschung der Gesetze in der Natur des Menschen sollte dazu dienen, eine wissenschaftlich begründete Morallehre zu entwickeln.51 Aus diesem kursorischen Überblick zum englischen ‚Science‘-Begriff lassen sich folgende Ergebnisse festhalten: Aus den Lexika und dem dahinterstehenden philosophischen Diskurs wird deutlich, dass ‚Science‘ nicht im Gegensatz zu metaphysischen und religiösen Inhalten stand, sondern als Überbegriff für alle Wissensbereiche diente. Die Entgegensetzung zu traditionellen Wissensordnungen, wie sie im vorherrschenden Aristotelismus und in der Scholastik begründet waren, bestand vielmehr in der Frage der Erkenntnisweise. Ein als explosionsartig empfundener Zuwachs an Erkenntnissen konnte in das herkömmliche Wissensgefüge nicht mehr integriert werden und an die Stelle logischer 47 Dazu Simon Schaffer (1990), Newtonianism, in: Robert C. Olby u.a. (Hrsg.), Companion to the History of Modern Science, London & New York: Routledge, S. 610–626. 48 Diese theologische Interpretation verbreitete sich vor allem durch Vertreter der ersten Generation von Newton-Jüngern wie dem anglikanischen Geistlichen und Mathematiker William Whiston (1667–1752). Vgl. William Whiston (1717), Astronomical Principles of Religion Natural and Reveal’d, London: J. Senex & W. Taylor, S. 40. 49 Dieser Umstand wurde als die Grundlage des Erfolges der Newtonschen Theorie gewertet. Vgl. Israel (2001), a.a.O., S. 519. 50 Alexander Popes Essay on Man (1734) ist von dieser Idee getragen: „A mortal Man unfold all Nature’s law, Admir’d such wisdom in an earthly shape, And shew’d a NEWTON as we shew an Ape“. Alexander Pope (1950), Essay on Man, in: Alexander Pope (1939–1969), The Twickenham Edition of the Poems of Alexander Pope, hg. v. John E. Butt, 1. Aufl., Bd. 3.1., London & New York: Methuen, Ep. II, V. 32f., S. 59f. 51 Zur Wirkung von Newton im 18. Jahrhundert vgl. die Untersuchung von Ulrich Dierse (1986/ 1987), Der Newton der Geschichte, in: Archiv für Begriffsgeschichte, 30, S. 158–182, S. 164.

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Wahrheitskriterien trat das Kriterium der Alltagserfahrung.52 Die Aufwertung der Alltagserfahrung wurde zur Grundlage eines empirischen Zugangs, und das Vermögen der Kontrolle und Interpretation von Wahrnehmungen lag damit nicht mehr in einer formallogischen Urteilsbegründung, sondern in der ‚Vernunft‘ des einzelnen Individuums.53 Durch diese methodische Gegnerschaft zur Schulphilosophie entstand ein Spannungsverhältnis zwischen traditioneller Philosophie und moderner Wissenschaft. Ein Grund für diese Entgegensetzung lag in dem Erkenntnisanspruch, den die neue hypothetisch-deduktiv verfahrende ‚Science‘ nicht nur für ‚naturwissenschaftliche‘ Phänomene, sondern für alle Wissensgebiete einforderte. 3. Deutsche Begriffe von ‚Wissenschaft‘ in der Aufklärung Eine ähnliche Umbruchsituation charakterisiert auch den Gebrauch des deutschen Begriffs von ‚Wissenschaft‘ im Verlauf des 18. Jahrhunderts, wobei die Diskussion ungleich komplizierter und die Tendenzen und Konzepte sehr viel weniger klar bestimmbar sind als im englischen Kontext. Johann Georg Walchs Philosophisches Lexicon (1726) – das erste dieser Art in deutscher Sprache – verzeichnet unter dem Eintrag ‚Wissenschafft‘ Definitionen und verschiedene Positionen zur Verwendung des Begriffs in seiner Zeit: „Es ist dies Wort in einer zweyfachen Absicht gewöhnlich, indem es entweder auf unsere Erkenntniß; oder auf die Lehre, die wir erkennen, gehet.“54 Und es wird unmittelbar deutlich, dass über keine der beiden Bedeutungen Einigkeit besteht. Hinsichtlich der ‚Erkenntniß‘ werden verschiedene Grade bestimmt, die in drei Unterpunkten abgehandelt werden. Zunächst gibt es eine allgemeine Erkenntnis, die „eine gemeine; oder gelehrte, eine ganz gewisse, oder eine wahrscheinliche seyn“ kann. In diesem Sinne pflege man zu sagen, „man habe keine Wissenschafft davon“.55 Weiterhin gebe es Erkenntnis, bei der nicht der „geringste Zweiffel“ bestünde. Diese wiederum gründe auf „die Erfahrung, die Vernunfft und die heilige Schrifft, die sich alle auf den General-Grund, welche die Empfindung ist, stützten.“56 Die Gewissheit über die Wahrheit der heiligen Schrift, schreibt der Theologe aus Jena, vermittle sich nicht nur über die Vernunft, sondern das christliche Zeugnis müsse 52 Vgl. Wolf Lepenies (1978), Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 17. 53 Vgl. Specht (1998), a.a.O., S. 47. In diesem Sinne auch Alexander Pope: „Reason’s at distance, and in prospect lie: That sees immediate good by present sense; Reason, the future and the consequence. Thicker than arguments, temptations strong, At best more watchful this, but that more strong. […] Let subtle schoolmen teach this friends to fight, More studious to devide than to unite.“ Alexander Pope (1950), a.a.O., Ep. II, V. 72–82, S. 61. 54 Johann Georg Walch (1733), (Art.) Wissenschafft, in: Johann Georg Walch (Hrsg.), Philosophisches Lexicon, 2. Aufl., Leipzig: Gleditsch, Sp. 2920–2922. 55 Ebd., Sp. 2920. 56 Ebd.

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auch empfunden werden.57 Im Gegensatz dazu würde die Erfahrung immer nur zu einer Erkenntnis führen, die an einzelnen äußerlichen oder innerlichen Dingen wahrgenommen werden kann.58 Die Bedingung dafür sei die zweifelhafte Annahme, dass man sich auf seine Sinne in der Wahrnehmung der Außenwelt verlassen könne. Doch das größte Problem sieht Walch in der Konstruktionsleistung des Verstandes angesichts des induktiven Befundes: Wie nun die Erfahrung mit einzelnen Sachen zu thun hat, die man unmittelbar empfindet; also ist die Vernunfft mit Ideen beschäfftiget, die sie betrachtet, und aus ihrer Natur einen Grund der Gewißheit an die Hand giebt. Denn sie macht Erklärungen der Dinge, und stellt sich deren Wesen und Beschaffenheit vor, daß wenn sie weiß, wie sich eine Idee gen die andere verhält, so urtheilt sie, und macht Sätze, welche sie wieder dazu brauchet, daß sie andere Weisheiten daraus folgert.59

Auf diese Weise erfolge statt einer Definition erst das ‚principium‘ und dann die ‚conclusio‘. Absolute Gewissheit bestünde ausschließlich im Hinblick auf die göttliche Wahrheit, die sich weder aus der Erfahrung noch aus der Vernunft erschließe, da sie auf die heilige Schrift gründe, „deren Ausspruch schlechterdings wahr, weil er von GOtt kommt, der nicht kann, noch will betriegen“60 Auch die zweite Bedeutung von ‚Wissenschafft‘, eine Lehre zu sein, lasse verschiedene Interpretationen zu. Besonders in der Frage der Wertung der verschiedenen Disziplinen der Philosophie habe unter ihren Vertretern schon immer darüber Streit bestanden, welche man als eine SCIENTIAM anzusehen habe. Denn was die Physic betrifft, so hat zwar Aristoteles, Cartesius und Gassendus nebst vielen andern davor gehalten, sie sei eine SCIENTIA, oder Wissenschafft; verschiedene neuere aber, sonderlich Rüdiger [...] haben sie vor [i. e. für] eine Lehre der Wahrscheinlichkeit ausgegeben, dem auch Thomasius beystimmte. Wie nun Aristoteles die Physic vor eine Wissenschafft hielte, also leugnete er hingegen die Gewissheit der Moral, und zwar aus der Ursach, weil er alle Gerechtigkeit und Ehrbarkeit bloß von bürgerlichen Gesetzen herleitete, welches aber von den neuern, als Pufendorfen, Buddeo und andern kräfftig widerlegt worden.61

57 Johann Georg Walch (1693–1775) bekleidete seit 1724 eine außerordentliche Professur für Theologie in Jena und seit 1734 das Amt eines herzoglichen sachsen-weimarischen Kirchenrats. Vgl. Johann Georg Meusel (1968), (Art.) Johann Georg Walch, in: Johann Georg Meusel, Lexikon der vom Jahr 1750 bis 1800 verstorbenen teutschen Schriftsteller, Bd. 14, Nachdruck, Hildesheim: Olms, S. 360–370. Besondere Bedeutung erlangte Walch als Herausgeber der Halleschen Lutherausgabe. Vgl. Anonym (2002), (Art.) Johann Georg Walch, in: Rudolf Vierhaus & Hans E. Bödeker (Hrsg.), Biographische Enzyklopädie der deutschsprachigen Aufklärung, München: Saur, S. 312. 58 Als Beispiele führt Walch die Ortung einer Magnetnadel oder die Willenskraft an. Vgl. Walch (1733), a.a.O., Sp. 2920. 59 Ebd. 60 Ebd., Sp. 2921. 61 Ebd., Sp. 2921f.

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Für Walch schien folglich die Möglichkeit, einen wissenschaftlichen Zugang zur Morallehre finden zu können, naheliegender – verbunden mit dem Anspruch notwendige und wahre Sätze festzulegen – als selbiges für einzelne physikalische Beobachtungen zu erreichen. Das Mitte des Jahrhunderts erscheinende Zedlers Universal-Lexikon (1732–1754)62 orientierte sich sehr eng und teilweise wortgetreu an Walchs Eintrag.63 Doch brachte das Folgewerk auch einen Bedeutungszuwachs, da im Zedler ganze 186 Spalten aufgewendet wurden, um sich dem ‚Wissenschaffts‘-Begriff zu nähern. Dabei ist auf die Erweiterung des Eintrags durch die neu hinzugekommene Pluralbildung der ‚Wissenschafften‘ zu verweisen, deren Hierarchie und adäquate Bearbeitung nun den überwiegenden Teil des Artikels ausmachten.64 Der inhaltliche Unterschied der beiden Lexika kann indessen darin gesehen werden, dass Walch seine Gewährsleute unter Thomasius, Pufendorf und Buddeus suchte, während das Zedlersche Lexikon als Großprojekt von Parteigängern der jüngeren Philosophie Christian Wolffs interpretiert worden ist.65 Erstgenannte Gruppe von Frühaufklärern war vor allem um eine klare Abgrenzung von der Schulphilosophie und um die Etablierung einer praktischen ‚Weltweisheit‘ bemüht, deren vorrangiges Ziel in der ‚Glückseligkeit‘ der Menschheit bestehen sollte. Wolff und seine Anhänger rückten hingegen das Problem des Wissens als solches und das Interesse an einer methodisch abgesicherten Erkenntnislehre oder ‚Wissenschaft‘ wieder stärker in den Vordergrund.66 62 Johann Heinrich Zedler (Hrsg.) (1732–1754), Grosses vollständiges Universal-Lexikon Aller Wissenschafften und Künste, Welche bishero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden, 64 Bände, Leipzig & Halle: Johann Heinrich Zedler. 63 Zum ‚Zedler‘ vgl. Ulrich J. Schneider (2008), Der Aufbau der Wissenswelt. Eine phänotypische Beschreibung der enzyklopädischen Literatur, in: Ulrich J. Schneider (Hrsg.), Kulturen des Wissens, Berlin & New York: de Gruyter, S. 81–104, S. 95ff. 64 Anonym (1748a), (Art.) Wissenschafft, Wissenschafften, in: Zedler (1732–1754), a.a.O., Bd. 57, Sp. 1346–1527. 65 Walch hatte seinen Schwiegervater Johann Franz Budde in dessen Bedencken über die Wolffianische Philosophie (1724) mit einer eigenen Schrift unterstützt: Bescheidener Beweis, dass das Buddeische Bedenken noch fest stehe (1725). Dagegen räumte der Leipziger Wolffianer und spätere Herausgeber des Zedler, Carl Günther Ludovici, den Einträgen ‚Wolf, Christian‘ und ‚Wolfische Philosophie‘ 477 Spalten im Lexikon ein. Vgl. Anonym (1748b), (Art.) Christian Wolf, in: Zedler (1732–1754), a.a.O., Bd. 58, Sp. 549–677 und Anonym (1748c), (Art.) Wolfische Philosophie, in: Zedler (1732–1754), a.a.O., Bd. 58, Sp. 883–1232. Günter Mühlpfordt interpretiert „das meistkonsultierte Nachschlagewerk der Hochaufklärung“ als wirkmächtigstes Medium der Wolffischen Philosophie. Vgl. Günter Mühlpfordt (1983), Radikaler Wolffianismus. Zur Differenzierung und Wirkung der Wolffischen Schule ab 1735, in: Werner Schneiders (Hrsg.) (1983), Christian Wolff. 1679–1754. Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung, Hamburg: Meiner, S. 237–265, S. 239. 66 Zu der Frage, was unter Philosophie im 18. Jahrhundert – zwischen Früh-, Hoch- und Spätaufklärung – zu verstehen sei, siehe die unverzichtbaren Schriften von Werner Schneiders (1983a), Deus est philosophus absolute summus. Über Christian Wolffs Philosophie und Philosophiebegriff, in: Werner Schneiders (Hrsg.) (1983), a.a.O., S. 9–30. Vgl. auch Werner Schneiders (1983b), Zwischen Welt und Weisheit. Zur Verweltlichung der Philosophie in der frühen Moderne, in: Studia Leibnitiana, 15:1, S. 2–18, S. 13f.

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An erster Stelle findet sich im Zedler ein ‚Gebäude der Wissenschafft‘, in dem sich in den ersten drei Rängen Philologie, Philosophie und Historie untergebracht finden. Die Philosophie wiederum wird unterschieden in die Lehre des Geistes und der Materie (‚Metaphysick‘), oder diejenige Wissenschafft, welche von den allgemeinen Wesen aller Dinge, und deren Hauptunterschied, des Geistes u. der materialischen Dinge, handelt.

Die ‚Natur-Lehre‘ oder ‚Physick‘ verhandelt hingegen die einzelnen und natürlichen Erscheinungen. Das bedeutet insbesondere die Phänomene des Menschen (‚Anthropologie‘) und die „ausser dem Menschen befindlichen Cörper[n]“.67 Die ‚Historie‘ bietet in ihren verschiedenen Verästelungen (‚historia sacra‘, ‚historia profana‘, ‚historia civilis‘, ‚historia naturalis‘, ‚historia artificialis‘, ‚historia res morum & rituum‘, ‚historia res experimentorum‘, ‚historia res effectuum curiosorum‘) die faktische Basis der anderen Wissenschaften, und dadurch „billig ein Universal-Studium soll und muß genennet werden, weil keine von den übrigen Disciplinen selbige entbehren kann“.68 Das Ideal der universellen Behandlung der Wissenschaften konnte vor dem Hintergrund der zunehmenden Spezialisierung kaum mehr verwirklicht werden und war auch nicht mehr ein unbedingtes Desiderat: „[S]o ist es nicht zu sehen, warum einer z. E. nicht eine vollkommene SittenLehre schreiben könne, ohne von der Poesie Wissenschafft zu haben.“69 Im Vordergrund steht vielmehr das Problem, auf welche Weise man sich Wissenschaft von den Dingen verschafft. Durch die Vernunft-Lehre kann man sich aus Eindrücken und Vorstellungen ‚Begriffe‘ von den Dingen machen. Das geschieht auf zweierlei Art: einmal durch ‚Abstraction‘ (vergleichen und auf Ähnlichkeit prüfen) und durch willkürliche Verbindung, die erst durch ‚Demonstration‘ oder ‚Erfahrung‘ zum eigentlichen ‚Begriff‘ von etwas wird.70 Die ‚Ungewißheit der Wissenschafften‘ liegt folglich zum einen in der Sprache und zum anderen in der formalen Logik. Dennoch würde man sich, bliebe man auf dem Wege einer immer kunstvoller werdenden Syllogistik, stetig weiter von einer möglichen ‚Verbesserung der Wissenschafften‘ entfernen. Der Weg zu einer möglichen Verbesserung bestünde vor allem darin, dass die Wissenschaften „vollständiger, gründlicher und leichter gemacht werden, wodurch sie also brauchbarer und nützlicher sind“.71 Dabei bietet jede Wissenschaft zwei Seiten zur Korrektur an: Materialität und Formalität. Um also eine neue ‚Erfindung‘ zu machen, braucht man ein gedoppeltes Mittel: Die Erfahrung und das Nachdencken. Jene macht Gelegenheit dazu, dass wie alle Philosophischen Disciplinen ihren ersten Anfang aus der Erfahrung haben; also müssen sie auch daraus verbessert werden.72 67 68 69 70 71

Anonym (1748a), a.a.O., Sp. 1401. Ebd., Sp. 1403. Ebd., Sp. 1405. Ebd., Sp. 1406f. Ebd., Sp. 1417. In dieser Argumentation lässt sich ein direkter und wörtlicher Bezug zu Wolff herstellen. Vgl. Christian Wolff (1740), Vernünfftige Gedancken Von den Kräfften des menschlichen Verstandes Und Ihren richtigen Gebrauche In der Erkäntniß der Wahrheit, 10. Aufl., Halle: Renger, S. 48ff. 72 Anonym (1748a), a.a.O., Sp. 1418.

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Dennoch bliebe „die Erfahrung an sich, wenn das Nachdenken damit nicht verknüpfet wird, [...] todt und nutzet nichts“. In der Urteilsfindung wird also unterschieden zwischen erstens synthetischen Urteilen – wenn man etwas aus Erfahrungsgründen beweist, diese Beweise mit Definitionen und Prinzipien abgleicht und daraus Schlüsse zieht – und zweitens analytischen Urteilen, „wenn man anderer ihre Gedancken prüfet“.73 So sehr auch die Verbesserung der Wissenschaften nach diesen Maximen zu wünschen sei, so solle man gleichzeitig „die Saiten der Vernunfft nicht allzu hoch spannen wollen“. Die Welt berge durchaus ihre unergründlichen Geheimnisse, und man solle sich nicht „in den Kopf setzten, alle zu eigentlich so genannten Wissenschafften zu machen und überall unleugbare Wahrheiten zu suchen“. Eine besondere Gefahr bestünde darin, „wenn man allenthalben die Mathematische Methode appliciren will.“74 Die Verbesserung der Wissenschaften ist weniger in der Übertragung fremder Methoden, als vielmehr in ihrer ungestört freiheitlichen Entfaltung zu suchen. Historisch gesehen habe die Wissenschaft immer dann stagniert, wenn sie am Gängelband einer vorherrschenden Lehre geführt worden sei, was für die jüngste Vergangenheit solange Stagnation hieß, „so lange als man nicht eines Nagels breit von der Aristotelisch-Scholastis. Philosophie abgehen durfte“.75 Es sei jedoch gerade förderlich von den Fußstapfen der Alten abzuweichen und, nach dem Vorbild des Baco de Verulamio, eigene Wege einzuschlagen. Jedem einzelnen stünde es offen, Wissenschaft durch Bücher, eigenes Nachsinnen, Unterricht und durch die Erfahrung zu erlangen. Die Feinde dieser sich frei entfaltenden Wissenschaft seien allen voran die „so genannten Pietisten“, aber auch die Philosophen, die weiterhin an den „unnützen Aristotelischen und Scholastischen Grillen“76 festhielten. Ein historischer Überblick schließlich, vom Wachstum der Wissenschaften seit der Entstehung der Welt, vermerkt mit der Durchsetzung des Buchdrucks im 16. Jahrhundert eine deutliche Verbesserung durch die Verbreitung fremdländischer Literatur. Im 17. Jahrhundert konnte dann durch die „Aufrichtung neuer Universitäten und Gelehrter Gesellschafften, theils durch das Wachsthum neuer Bibliotheken“77 die Wissenschaftslandschaft merklich ausgebaut werden. Die Ausarbeitung der deutschen Sprache durch Literaten und Gelehrte habe in dieser Zeit dazu beigetragen, sie als Wissenschaftssprache überhaupt einrichten zu können. Die Fortschritte in der Philosophie und zwar erstlich die Logick belangend, so fieng Franciscus Baco de Verulamio, Cantzler von Engelland, an, viel Verbesserungen darinn zu zeigen; Cartesius brachte die Lehre von den praejudiciis auf; Johann Locke, ein vortreflicher Philosoph in Engelland, hat in seiner Schrifft von dem menschlichen Verstande ein grosses in diesem Stücke prästiret.78

73 74 75 76 77 78

Ebd. Ebd., Sp. 1420. Ebd., Sp. 1425. Ebd., Sp. 1463. Ebd., Sp. 1485. Ebd., Sp. 1495.

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Und auch die ‚Weltweißheit‘ habe unter diesem Einfluss eine gründliche methodische und thematische Veränderung erfahren, die sich mit den Namen Thomasius, Gundling, Buddeus und anderen verbinde und ihre präziseste Formulierung in der Philosophie von Christian Wolff gefunden habe.79 Auch diese Zusammenfassung der lexikalischen Definitionen des Wissenschaftsbegriffs bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts erlaubt einige Rückschlüsse hinsichtlich der Etablierung und Bedeutung des Konzeptes von ‚Wissenschaft‘ im deutschsprachigen Raum. Zunächst ist festzuhalten, dass die Zuordnung Walchs und Zedlers zu verschiedenen Positionen der so genannten Früh- beziehungsweise Hochaufklärung sich nicht eindeutig an den Ausrichtungen der Artikel aufzeigen lässt. Vielmehr erschwert das Nebeneinander vermeintlich klar zu differenzierender früh- und hochaufklärerischer Positionen eine Unterscheidung und zeigt, besonders im Zedler, dass noch keinerlei definitorische Klarheit oder ideologische Festlegung bestand. Es ist hervorzuheben, dass verschiedene Einlassungen des Artikels ‚Wissenschafften‘ im Zedler, wie beispielsweise die Skepsis an der Übertragung der mathematischen Methode auf die Philosophie oder die offene Kritik am Pietismus, nur schwerlich mit Wolffs Positionen in Einklang zu bringen sind.80 Elementar ist jedoch, dass die Frage, welche Rolle Philosophie und Wissenschaft weiterhin spielen sollten, durch Christian Wolff (1679–1754) eine Zuspitzung erfahren hatte und seine Philosophie damit der Neukonzeption von Wissenschaft eine maßgebliche Ansatz- und Angriffsfläche bot.81 Im Unterschied zur traditionellen Scholastik behandelte Wolff die Philosophie nicht als die Lehre von den wirklichen Dingen, sondern setzte anstelle des Seins den Begriff der Möglichkeit des Seins. Demnach beschäftigten die Philosophie weniger die Dinge selbst als das Wissen von den Dingen.82 Neben der Seinsnotwendigkeit wurde gerade die Erkenntnisgewissheit in Frage gestellt, und an deren Stelle trat eine praktische Vernunft, die ihre Erkenntnisse aus der Erfahrung bezog. Damit wird Wissenschaft ein erschließender Konstruktionszusammenhang zwischen empirischen Daten und einer Annäherung an das eigentliche Wesen der Dinge, über deren Inhalt man niemals Gewissheit, aber wahrscheinliche Aussagen erlangen kann.

79 Ebd., Sp. 1504. 80 In diesem Sinne auch Horst Dreitzel, der gängige Allgemeinaussagen über den Zedler hinsichtlich des vorherrschenden Einflusses der Philosophie Christian Wolffs oder der Verbindung von Rationalismus und Pietismus stark in Zweifel zieht. Vgl. Horst Dreitzel (1994), Zedlers „Großes vollständiges Universallexikon“, in: Das Achtzehnte Jahrhundert, 18, S. 117–124, S. 117f. 81 Trotz der Problematik, klar abgegrenzte Schulen in der Aufklärung ausmachen zu wollen, ist der Feststellung, dass Christian Wolff ein neues philosophisches ‚System‘ schuf und dieses von seinen Gegnern auch als ‚scholastisch‘ empfunden wurde, zuzustimmen. Dazu Wolfgang Walter Menzel (1996), Vernakuläre Wissenschaft. Christian Wolffs Bedeutung für die Herausbildung und Durchsetzung des Deutschen als Wissenschaftssprache, Tübingen: Niemeyer, S. 87. 82 Zur Auseinandersetzung mit Wolffs Philosophie in den Jahren 1730–1760 vgl. Raffaele Ciafardone (1983), Von der Kritik an Wolff zum vorkritischen Kant. Wolff-Kritik bei Rüdiger und Crusius, in: Schneiders (Hrsg.) (1983), a.a.O., S. 289–305, S. 289.

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Dieses Wissen musste hinsichtlich seiner Einteilung in verschiedene Wissenschaften und einer sicheren Erlangung desselben differenziert werden.83 In der Folge fielen die beiden Bedeutungsinhalte von Wissenschaft als ‚Erkenntnis‘ einerseits und ‚Lehre‘ andererseits zunehmend in eins und traten dadurch mit der traditionellen Rolle der ‚philosophia‘ in Konkurrenz, die diese Ambiguität, gleichzeitig Erkenntnis und Lehre zu sein, stets in sich vereinigt hatte.84 Der Abgrenzungsgestus galt mithin in der Früh- als auch in der Hochaufklärung der traditionellen Schulphilosophie und dem Aristotelismus, die beide den Anforderungen des außerschulischen, realen Lebens nicht mehr gewachsen zu sein schienen und denen eine praktische und nutzbringende ‚Gelehrsamkeit‘ entgegengestellt werden sollte.85 Die Erlangung einer solchermaßen definierten ‚Weltweisheit‘ sollte wiederum jedem, durch Bücher, Erfahrung oder Unterricht, offen stehen, so dass auch hier von einer bewussten Öffnung eines vormals hermetischen Wissenschaftsbetriebs gesprochen werden kann. Die zur ‚Weltweisheit‘ gewandelte Philosophie entsprach damit dem modernen Wissenschaftsverständnis einer ‚theoriam cum praxi‘.86 Die Erfahrung, das Faktenwissen der ‚cognitio historica‘, erhielt dabei gegenüber der Scholastik eine deutliche Aufwertung, indem sie zur unabdingbaren Basis der meisten Wissenschaften wurde. Die Funktion der ‚cognitio historica‘ bestand darin, zwischen den unableitbaren Prinzipien und den durch Induktion gewonnenen allgemeinen Begriffen zu vermitteln. Gleichzeitig verblieb die Historie damit auf der Ebene der ‚notitia nudi facti‘ – der faktischen Einzelerkenntnis, deren Ergebnisse immer nur wahrscheinlich sein können – und hatte damit selber

83 In diesem Sinne stellt Christian August Crusius in seinem Weg zur Gewißheit und Zuverläßigkeit der menschlichen Erkenntniß (1747) das erste Kapitel unter den Titel Vorbericht von der Philosophie überhaupt und den Wissenschaften derselben. Vgl. Christian August Crusius (1747), Weg zur Gewißheit und Zuverläßigkeit der menschlichen Erkenntniß, Leipzig: Gleditsch, S. 3–61. 84 Vor dem Hintergrund dieser Analyse ist der Feststellung Wolfgang Hardtwigs zu widersprechen, dass der Wissenschaftsbegriff bis ins späte 18. Jahrhundert „auf die einzelne Person des Wissenden“ bezogen blieb. Vgl. Wolfgang Hardtwig (1982), Die Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung und die Ästhetisierung der Darstellung, in: Reinhart Koselleck, Heinrich Lutz & Jörn Rüsen (Hrsg.), Formen der Geschichtsschreibung, München: Deutscher Taschenbuch Verlag, S. 147–191, S. 149. 85 Der Begriff der ‚Gelehrsamkeit‘ war zunächst für die Schulphilosophie kennzeichnend und wird im Verlauf des 18. Jahrhunderts synonym mit ‚Wissenschaft‘ verwendet. Etwa bei Johann Andreas Fabricius (1754), Abriß einer allgemeinen Historie der Gelehrsamkeit, 2 Bände, Leipzig: Weidmannische Handlung. 86 Zur Definition von ‚Weisheit‘ als ‚Wissenschaft von der Glückseligkeit‘ bei Leibniz und Wolff vgl. Frank Grunert (1995), (Art.) Weisheit, in: Werner Schneiders (Hrsg.), Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa, München: C.H. Beck, S. 440–441. Diesem Anspruch entsprach auch die Konzeption des ‚Zedler‘, durch den „der Wissensstand der Zeit, das Wissenswerte und das Nützliche“ Verbreitung finden sollte. Vgl. Ulrich J. Schneider & Helmut Zedelmaier (2004), Wissensapparate. Die Enzyklopädistik der Frühen Neuzeit, in: Richard van Dülmen & Sina Rauschenbach (Hrsg.), Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft, Köln: Böhlau, S. 349–363, S. 361.

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nicht den Rang einer eigenen Wissenschaft.87 Die Historie behielt ihre doppelte Bedeutung und zweifache Funktion als Erkenntnisfundus der einzelnen Phänomene der Natur (‚historia naturalis‘) und spezieller der Erkenntnis über den Menschen und dessen Tun (‚historia moralis atque civilis‘). Der entscheidende Schritt, das bislang Kontingente einem wissenschaftlichen Verfahren zu unterziehen, bestand darin, auch in den ‚negotiis humanis‘ einen allgemeinen Zusammenhang, eine Gesetzmäßigkeit, erkennen zu wollen.88 Den Hintergrund für diese Operation bildete die Vorstellung einer göttlich gestalteten, gleichförmigen Ordnung der Welt, deren beiden Teile – die physische Welt, wie die moralische – von den gleichen Gesetzen regiert würden. 4. Gemeinsamkeiten und Differenzen Rekapituliert man die verschiedenen Elemente des Wissenschaftsbegriffs in Deutschland im 18. Jahrhundert und vergleicht sie mit denen im angelsächsischen Raum, fallen zunächst die Ähnlichkeiten auf. Interessanterweise formierten sich beide Wissenschaftskonzepte um 1700 aus einer generellen Skepsis in der Frage, was überhaupt gewusst werden kann. In der Krise des Aristotelismus und in Abgrenzung von der als dogmatisch empfundenen Scholastik vollzog sich eine freiwillige Restriktion des Wissens. Die Zurückhaltung bei den durch einen erheblichen Zuwachs von Erkenntnissen erschütterten Großdeutungen verschaffte grundsätzlichen Erörterungen von Wahrnehmungsweisen und Erkenntnisfähigkeit breiteren Raum. Der Vorbehalt gegenüber metaphysischen Systemen ließ die grundsätzliche Frage virulent werden, auf welchen Vorgängen menschliche Wahrnehmung überhaupt beruht, und warf damit die Philosophen auf ihre eigene Wahrnehmungsfähigkeit zurück – auf ihr Dasein als wahrnehmungsbeschränktes Gattungswesen ‚Mensch‘. Philosophie als Selbstbeobachtung machte das ‚Menschenstudium‘, als Lösung erkenntnistheoretischer Probleme, zu einer zentralen Aufgabe innerhalb der philosophischen Disziplinen. Die angelsächsische Philosophie hatte mit diesen psychologischen Themenstellungen gerade zur Grundlegung

87 Christian Wolff (1983), Philosophia rationalis sive logica, methodo scientifica pertractata et ad usum scientarum atque vitae aptata praemittitur discursus praeliminaris de philosophia in genere, Nachdruck der 3. Aufl. von 1740, Hildesheim: Olms, § 3–7, S. 2f. Vgl. dazu Horst Dreitzel (1981), Die Entwicklung der Historie zur Wissenschaft, in: Zeitschrift für Historische Forschung, 8:3, S. 257–284, S. 271. Vgl. auch Seifert (1976), a.a.O., S. 163–178. 88 Christian Wolff entwickelte ein entsprechendes Projekt. Vgl. Christian Wolff (1731), De nexu rerum in negotiis humanis, prudentiae fundamento, in: Christian Wolff, Horae subsecivae Marburgenses anni 1730, Frankfurt & Leipzig: Renger, S. 291–322, zitiert nach Dreitzel, (1981), a.a.O., S. 271.

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einer säkularen Moralphilosophie – mit Locke, aber auch mit Lord Shaftesbury und Francis Hutcheson – Pionierarbeiten und besonders erfolgreiche Exporte zu verzeichnen.89 Parallel zu dieser erkenntnistheoretischen Problemstellung gaben bahnbrechende Entdeckungen und Erfindungen in Physik und Astronomie Anlass zu der Hoffnung, auch in anderen Wissensbereichen – wie Ethik und Moralphilosophie – eine ‚kopernikanische Wende‘ erzielen zu können und dort ebenfalls anwendungsfähige Theorien zu entwickeln. Eine Aufwertung der Alltagserfahrung war damit einerseits Grundlage eines induktiv verankerten Wissenschaftskonzepts, wie dadurch andererseits die theoretische Voraussetzung für den Zugang und die Möglichkeit zur Teilhabe an den Wissenschaften für jedes denkende Individuum geschaffen wurde.90 Das Wahrheitskriterium in der Wissenschaft wich dem Wahrscheinlichkeitskriterium sowie der Prüfung durch Erfahrung. Mit diesem veränderten Focus auf ehemals kontingente Wissensbereiche erfährt die ‚cognitio historica‘ eine Aufwertung ihrer traditionellen Rolle als Namensgeberin der frühneuzeitlichen Empirie. Auch in dieser Hinsicht lässt sich eine parallele Entwicklung für das Wissenschaftskonzept im englisch- und deutschsprachigen Raum zeigen, der man mit einer jeweils einseitigen Zuordnung innerhalb des Rationalismus-EmpirismusSchema nicht nur Gewalt antäte, sondern damit auch den konstitutiven Zusammenhang von Induktion und Deduktion für die Neukonstituierung beider Wissenschaftskonzepte verkennen würde.91 Während das klassische Verständnis der ‚scientia‘ darauf ausgerichtet war, ein kategorisch-deduktives System absoluter Wahrheiten und Erkenntnisse zu schaffen, liegt das gemeinsame Ziel der modernen ‚Science‘ oder ‚Wissenschaft‘ darin, ein hypothetisch-deduktives System kon-

89 Reinhard Brandt betont insbesondere den Einfluss Lockes für die Verknüpfung des LeibnizWolffischen Rationalismus mit dem modernen Empirismus im 18. Jahrhundert, verweist aber gleichzeitig auf den stillschweigenden Metaphysikverzicht der angelsächsischen Philosophie durch den psychologischen Subjektivismus, der sich auf dem Kontinent nie völlig durchsetzen konnte. Vgl. Reinhardt Brandt (1992), Die englische Philosophie als Ferment der kontinentalen Aufklärung, in: Siegfried Jüttner & Jochen Schlobach (Hrsg.), Europäische Aufklärung(en). Einheit und nationale Vielheit, Hamburg: Meiner, S. 66–79, S. 66f. 90 Mit der Abgrenzung von den Schulen beginnt mit „Bacon und Descartes die Philosophie der Laien“. Vgl. Schneiders (1983b), a.a.O., S. 7. 91 Das philosophiegeschichtliche Schisma von Rationalismus und Empirismus korrespondiert mit einer Überbetonung der empirischen Anteile der angelsächsischen Philosophie einerseits und Verengung der deutschen Aufklärungsphilosophie auf den Standpunkt des ‚Rationalismus‘ andererseits. Schon Ernst Cassirer hebt die „Vereinigung und Versöhnung des ‚Positiven‘ und des ‚Rationalen‘“ als Signum aufklärerischen Denkens hervor. Vgl. Ernst Cassirer (1973), Die Philosophie der Aufklärung, 3. Aufl., Tübingen: Mohr, S. 10. Als generellen Deutungsrahmen der Aufklärung und zur Infragestellung eines vorherrschenden Rationalismus nutzt dieses Schema Panajotis Kondylis (1981), Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, Stuttgart: Klett-Cotta.

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ditioneller Sätze herzustellen.92 Die ‚Wissenschaftlichkeit‘ hypothetisch-deduktiv ermittelter Sätze erschließt sich nicht mehr aus absoluten Wahrheiten, sondern wird einem Sinnkriterium unterzogen, das wiederum an seiner Wahrscheinlichkeit gemessen wird. Das induktive Element in dem Verfahren besteht damit einerseits im erkenntnistheoretischen Austarieren dieser Plausibilität zwischen allgemeinen Prinzipien und der eigenen Erfahrung und andererseits im äußeren empirischen Befund. Diese methodisch-theoretischen Erwägungen können als grundlegend gemeinsames Thema der Konzepte von ‚Science‘ und ‚Wissenschaft‘ im 18. Jahrhundert gelten. Neben der Lösung des Problems, wie man Wissenschaft von etwas erlangen kann, gewann – sowohl für den angelsächsischen als auch für den deutschen Sprachbereich – die Frage an Bedeutung, was material unter ‚Sciences‘ und ‚Wissenschaften‘ zu fassen sei. Und auch hier ergibt sich ein ähnlich lautender Befund. In den formalen Konzepten von ‚Science‘ und ‚Wissenschaft‘ in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts sind kaum Restriktionen zu finden. Das enzyklopädische Interesse an einer genaueren Zuschreibung der Wissenschaften war vor allem den Anforderungen eines außeruniversitären Leserkreises geschuldet und zunächst nicht vordringlich auf eine Hierarchisierung der verschiedenen Wissenschaften ausgerichtet.93 Vielmehr sollte das festgefügte mittelalterliche System der Fakultäten aufgebrochen und neu geordnet werden: Religion, Philosophie, Physik, Naturkunde (knowledge of the things), Ethik und Moralphilosophie (the skill of right applying our own powers), sowie Logik und die Philologie (doctrine of signs) wurden in diesen Wissenschaftskonzepten mit einbezogen.94 Eine Verschiebung des Erkenntnisinteresses und die Neuformierung der Konzepte von ‚Science‘ und ‚Wissenschaft‘ sind daher weniger am Kanon der Disziplinen als vielmehr an einer neuen Orientierung innerhalb ihrer Gegenstände ablesbar. Die wissenschaftliche Neugier kreiste seit dem 17. Jahrhundert in erster Linie um den Themenkomplex ‚Natur‘ und erst dann galt das Interesse dem ‚Menschen‘. Anders formuliert, war die neuartige Auseinandersetzung mit der Natur – als einem inneren und äußeren Erfahrungsraum – die Grundlage der jungen Wissenschaften, während der Mensch erst im Verlauf des 18. Jahrhunderts zunehmend als

92 Diese Formel von ‚kategorisch-deduktiv‘ vs. ‚hypothetisch-deduktiv‘ zur Entgegensetzung ‚klassischer‘ und ‚moderner‘ Wissenschaftskonzepte benutzt Alwin Diemer (1970), Der Wissenschaftsbegriff in historischem und systematischem Zusammenhang, in: Diemer (Hrsg.) (1970), a.a.O., S. 3–20, S. 5. Auch Ernan McMullin stellt als dritte Position zwischen ‚Deductivism‘ und ‚Inductivism‘ die des ‚Hypothetico-deductivism‘ als moderne Wissenschaftskonzeption vor. Vgl. Ernan McMullin (1990), Conceptions of Science in the Scientific Revolution, in: David C. Lindberg & Robert S. Westman (Hrsg.), Reappraisals of the Scientific Revolution, Cambridge: Cambridge University Press, S. 27–92, S. 31f. 93 Richard Yeo hat die zugespitzte These entwickelt, dass im 18. Jahrhundert, im Vergleich zum Vorgängerzeitraum und vor allem zum 19. Jahrhundert, nur ein geringfügiger Beitrag zur Klassifikation der Wissenschaften zu verzeichnen sei und das Desiderat in der Einheit der Wissenschaften gelegen habe. Vgl. Yeo (2003), a.a.O., S. 246. 94 Chambers (1741–1743e), a.a.O., o. S.

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Teilbestand dieses Erfahrungsraums untersucht wurde.95 Dabei ist offenkundig, dass das Interesse für diese beiden Themenfelder nicht neu war. Dennoch hatte sich das Erkenntnisinteresse solcherart verändert, dass man insbesondere in der Naturlehre nicht mehr, wie im Gefolge der aristotelischen Philosophie, nach Universalien suchte, sondern sich zunächst auf die Sammlung und Interpretation einzelner Erscheinungen begrenzen wollte. 96 Ein maßgeblicher Aspekt für die Veränderung der Konzepte von ‚Science‘ und ‚Wissenschaft‘ im Verlauf des 18. Jahrhunderts bestand folglich darin, dass die Gegenstände ‚Natur‘ und ‚Mensch‘ zueinander in Beziehung gesetzt und ihre wissenschaftliche Erforschung homogenisiert wurde. ‚Natur‘ als Komplementärbegriff zum Transzendenten, als Synonym für das Wirkliche überhaupt, als Urprinzip der ‚Gesetze der Natur‘ wurde nicht mehr als Entgegensetzung zu allem Menschlichen interpretiert, sondern diente vielmehr dazu, dessen Wesenhaftigkeit neu zu bestimmen.97 Die solcherart ermittelte ‚Natur des Menschen‘ diente wiederum sowohl zur epistemologischen Grundlegung wie auch als Forschungsgegenstand eines erneuerten Wissenschaftsgebäudes; war also Subjekt und Objekt weiter Teile der Gelehrsamkeit zugleich.98 Während allerdings im deutschen Wissenschaftskonzept, wie etwa im Zedler vermittelt, die ‚Historie‘ als Propädeutik in den Artikel ‚Wissenschafften‘ miteinbezogen wurde, hielt Chambers in der Cyclopaedia für die mannigfaltigen Erscheinungen der Natur und denen des Menschen die Artikel ‚Natural History‘ und ‚History‘ bereit und billigte nur der ‚Natural Philosophy‘ den Status einer

95 Zum komplexen semantischen und erkenntnistheoretischen Einsatz des Naturbegriffs zur Bezeichnung der äußeren Naturdinge, dem inneren Wesen der Dinge und dem den Dingen innewohnenden Prinzip vgl. Thomas Leinkauf (2000), Der Natur-Begriff des 17. Jahrhunderts und zwei seiner Interpretamente: „res extensa“ und „intima rerum“, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, 23:4, S. 399–418, S. 403f. 96 Ich folge hier Lorraine Dastons These von der neuen Aufmerksamkeit für das Besondere als Grundlage der Transformation in der Naturphilosophie. Vgl. Lorraine Daston (2002), Die Lust an der Neugier in der frühneuzeitlichen Wissenschaft, in: Klaus Krüger (Hrsg.), Curiositas. Welterfahrung und ästhetische Neugierde in Mittelalter und Früher Neuzeit, Göttingen: Wallstein, S. 147–175, S. 161f. 97 Vgl. Leinkauf (2000), a.a.O., S. 400f. 98 In diesem Sinne dient Martin Schmeitzel eine Abhandlung über die Natur des Menschen in seiner „Historie der Gelehrtheit“ sowohl als Voraussetzung als auch zur Bestimmung ihres Subjekts: „Da auch die Gelehrtheit keine Substanz, sondern ein Accidens ist, welches in alio tanquam subjecto anzutreffen, so müssen wir nothwendig im Voraus de subjecto eruditionis reden [...]. Nun ist bekannt, daß einige deswegen eruditionem, cum addito: humanam nennen, weil der Mensch des subjectum erudiendum ist, dahero giebet sich’s von selbsten, dass wir zuvörderst den Menschen und dessen natürliche Beschaffenheit in Consideration ziehen müssen.“ Vgl. Martin Schmeitzel (1728), Versuch zu einer Historie der Gelehrtheit, Jena: Fickelscherrn, S. 26.

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‚Science‘ zu.99 Ein maßgeblicher Unterschied der beiden Wissenschaftskonzepte scheint daher in der jeweiligen Zuschreibungspraxis zu liegen. Während man im angelsächsischen Raum deutlich den Vorrang einer beschreibend-empirischen Vorgehensweise mit dem ‚Science‘-Begriff verband, waren die deutschen Begriffe von ‚Wissenschaft‘ weniger darauf festgelegt, was unter dem Bezeichnungsrahmen induktiv-deduktiv vermittelter Erkenntnis zu fassen sei. Das bedeutet konkret, dass die Vergabepraxis des englischen Wissenschaftsbegriffs engen Vorgaben und Grenzen folgte, während man in der deutschen Enzyklopädik allen Disziplinen die Chance einräumte, im Zuge einer methodischen Erneuerung als ‚Wissenschaft‘ auftreten zu können. Signifikant wird diese Differenz dadurch, dass in den deutschsprachigen Lexika der Pluralbildung ‚Wissenschafften‘ ein eigener Eintrag eingeräumt wird, während der englische ‚Science‘-Begriff im lexikalischen Gebrauch weniger als Bezeichnung verschiedener Disziplinen als zur Markierung einer bestimmten Erkenntnisform diente.100 Dennoch wäre es zu weit gegriffen, wollte man deshalb bereits Mitte des 18. Jahrhunderts von einer Begrenzung des Wissenschaftsbegriffs auf die Naturwissenschaften im angelsächsischen Raum sprechen, wie es ebenso unzutreffend wäre, dem Wissenschaftsbegriff im deutschen Sprachraum eine ausgesprochene Affinität zu philosophisch, historisch oder philologisch orientierten Disziplinen zu unterstellen. Das Wissen um die Entwicklung beider Wissenschaftskonzepte in verschiedene Richtungen hat den Blick für die überwiegenden Gemeinsamkeiten der methodischen und materialen Problemstellungen im 18. Jahrhundert verstellt. Die Wissenschaftsgeschichten beider nationaler Kontexte haben sich seit dem 19. Jahrhundert auf die jeweilig besonderen Entwicklungen ihrer Sphären kapriziert und damit meist eine restriktive Perspektive für die Entwicklung des eigenen Wissenschaftsraums eingenommen. Für den englischen Bereich hieß das in der Forschungsperspektive, dass sich die Auseinandersetzung mit ‚Science‘ im 17. und 18. Jahrhundert vorherrschend auf das Feld der nachmaligen Naturwissenschaften konzentrierte. Aus diesem Blickwinkel wurde der empiristisch-naturwissenschaftlich orientierten angelsächsischen Wissenschaftsentwicklung ein Beharren auf romantisch-mystischen, vor allem aber anti-szientistischen Traditionen im deutschen Raum antagonistisch gegenüber

99 Anonym (1748a), a.a.O., Sp. 1401. Ephraim Chambers (1741–1743c), (Art.) Natural History, in: Chambers (1741–1743a), a.a.O., Bd. 2, o. S.: „a description of the Natural Products of the earth“; Ephraim Chambers (1741–1743d), (Art.) Natural Philosophy, in: Chambers (1741–1743a), a.a.O., Bd. 2, o. S.: „that science which considers the powers of nature, the properties of natural bodies, and their mutual action on one another, otherwise called physics. SEE PHYSICS.“ 100 Vgl. William Smellie (1768–1771b), (Art.) Science, in: William Smellie (Hrsg.), Encyclopaedia Britannica. Or, A Dictionnary of Arts and Sciences, Compiled upon a New Plan, 3 Bände, Bd. 3, Edinburgh: Bell & MacFarquhar, S. 570.

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gestellt.101 Die deutsche Aufklärungsforschung hat sich ihrerseits gleichermaßen auf die geisteswissenschaftlichen Aspekte des 18. Jahrhunderts konzentriert, es zumeist bei der Erwähnung einer mehr allegorisch-formelhaften Berufung der untersuchten Autoren auf Newton belassen und dabei vernachlässigt, wie stark die deutsche Aufklärungsbewegung von den naturwissenschaftlichen Forschungen und Fragestellungen bestimmt war.102 Erst in neueren Untersuchungen ist der Versuch unternommen worden, die engen Grenzziehungen der jeweiligen Wissenschaftsauffassungen zugunsten eines systematischen Ansatzes zu überwinden, die dominierende Stellung der Figur Newtons in Frage zu stellen und vor allem die Bedeutung der vitalistisch-biologischen Konzepte seit Mitte des 18. Jahrhunderts für die Wissenschaftsentwicklung in Europa hervorzuheben.103 Ein systematischer Zugang über den Wissenschaftsbegriff – seine theoretischen Vorgaben und Methoden – bietet darüber hinaus nicht nur die Möglichkeit nationale Perspektiven zu hinterfragen, sondern auch die engen Grenzziehungen zwischen den späteren Fächern zu überwinden.104 Die verschiedenen Begriffe von ‚Wissenschaft‘ in ihrer Disparatheit anzuerkennen, deren Charakteristika nicht nur in philosophischen Grundlegungen, sondern vielmehr in ihren konkreten Praktiken zu suchen, ist das Verdienst der jüngeren angelsächsischen Forschung.105 Dennoch lässt sich auch noch in dieser Forschungsrichtung eine stärkere Akzentuierung der nachmaligen Natur- und Lebenswissenschaften feststellen, da auch nur sie vom heutigen Standpunkt aus in der angelsächsischen Terminologie als ‚Sciences‘ gelten.106 In der 101 In diesem Sinne etwa Rob Iliffe (2003), Philosophy of Science, in: Lindberg & Numbers (Hrsg.) (2003–2011), a.a.O., Bd. 4, S. 267–284, S. 282. 102 Diese Kritik findet sich bereits in der Studie von Fritz Wagner (1976), Der Wissenschaftsbegriff im Zeitalter der Aufklärung, in: Karl Hammer & Jürgen Voss (Hrsg.), Historische Forschung im 18. Jahrhundert. Organisation, Zielsetzung, Ergebnisse, Berlin: Röhrscheid, S. 14–26, S. 16. 103 Hier sind vor allem die Arbeiten von Peter Hanns Reill zu nennen, in denen, gegen die Dominanz der mechanistischen Deutung des 18. Jahrhunderts im Gefolge Newtons, der Einfluss eines vitalistisch-genetischen Weltbildes nach dem Modell von Buffons Histoire Naturelle hervorgehoben wird. Vgl. Peter H. Reill (2005), Vitalizing Nature in the Enlightenment, Berkeley: University of California Press. 104 Diesem Ziel verschreibt sich der Band von Christopher Fox, Roy Porter & Robert Wokler (Hrsg.) (1995), Inventing Human Science. Eighteenth-Century Domains, Berkeley: University of California Press. 105 Vgl. den Band von William Clark, Jan Golinski & Simon Schaffer (Hrsg.) (1999), The Sciences in Enlightened Europe, Chicago & London: University of Chicago Press. 106 Dieser Eindruck wird durch Gewichtung der meisten Sammelbände bestätigt, wie etwa auch in Charles W. J. Withers & Paul Wood (Hrsg.) (2002), Science and Medicine in the Scottish Enlightenment, East Linton: Tuckwell Press. Dennoch sind Ausnahmen hervorzuheben, wie die Einleitung von John R. R. Christie zum Sonderheft ‚Origins of the Human Sciences‘ der Zeitschrift History of the Human Sciences; vgl. John R. R. Christie (1993), The Human Sciences: Origins and Histories, in: John R. R. Christie (Hrsg.), Origins of the Human Sciences, (= History of the Human Sciences, Bd. 6, H. 1), London & Thousand Oaks/Cal.: Sage, S. 1–12; oder auch den Beitrag von Richard Olson (2003), The Human Sciences, in: Lindberg & Numbers (Hrsg.) (2003–2011), a.a.O., Bd. 4, S. 436–462. Allerdings birgt der Titel ‚Human Sciences‘ bereits eine Abgrenzung zur Bezeichnungen ‚Humanities‘.

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deutschen Forschung wurde der wissenschaftsgeschichtliche Ansatz erst mit einiger Verspätung wahrgenommen und zunächst im Hinblick auf einzelne Disziplinen fruchtbar gemacht. Mit der Orientierung am französischen und englischen Vorbild in der jüngeren deutschen Wissenschaftsgeschichtsschreibung ist neuerdings auch eine deutlichere Neigung zur Auseinandersetzung mit den Natur-, Technik- und Lebenswissenschaften bemerkbar.107 Der erfolgte Überblick über die Konzepte von ‚Science‘ und ‚Wissenschaft‘ bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts zeigt, dass die Untersuchung spezifisch aufklärerischer Forschungsfelder vor ihre Segmentierung in verschiedene Disziplinen im 19. Jahrhundert zurückgehen sollte. Die Feststellung einer weitgehend übereinstimmenden formalen Offenheit in der inhaltlichen Bestimmung, was unter ‚Science‘ und ‚Wissenschaft‘ zu verstehen sei, ermöglicht systematische Überblicke von Wissenschaftsfeldern jenseits ihrer nationalen und disziplinären Verengung. Die Bedeutung der im 18. Jahrhundert scheinbar neu entdeckten Forschungsbereiche, wie etwa die ‚Anthropologie’,108 liegt in der methodischen und theoretischen Offenheit ihrer Erschließung. Vorsichtig im Umgang mit metaphysischen Konzepten initiierten aufgeklärte Philosophen in beiden Wissenschaftsräumen eine deutliche Aufwertung induktiver Verfahrensweisen, was allerdings keine Verabschiedung von erkenntnisleitenden Prinzipien bedeutete. Sowohl der englische als auch der deutsche Wissenschaftsbegriff diente dazu, sich von den Methoden der traditionellen Philosophie abzugrenzen und sich den gleichen Themenstellungen aus einer anderen Richtung – nämlich von ihrer Partikularität statt ihrer Universalität aus – zu nähern. Im Interim zwischen dem festgefügten Fächerkanon der mittelalterlich, lateinisch geprägten Gelehrsamkeit und der Ausbildung der modernen national geprägten Fachdisziplinen des 19. Jahrhunderts stand sowohl der englische als auch der deutsche Begriff von ‚Wissenschaft’ synonym für einen unvoreingenommenen, experimentellen Blick auf die Welt, dessen Signum in seiner Revidierbarkeit lag. Bibliographie Anonym (1748a), (Art.) Wissenschafft, Wissenschafften, in: Johann Heinrich Zedler (Hrsg.) (1732–1754), Grosses vollständiges Universal-Lexikon Aller Wissenschafften und Künste, Welche bishero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden, Bd. 57, Leipzig & Halle: Johann Heinrich Zedler, Sp. 1346–1527.

107 Ganz in diesem Sinne versammelt Michael Hagner in der von ihm herausgegebenen Anthologie „klassische Texte“ angelsächsischer Autoren und neuere Beiträge der deutschen Wissenschaftsgeschichte. Vgl. Michael Hagner (Hrsg.) (2001), Ansichten der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag. 108 Dazu etwa der Sammelband von Georg Eckardt u.a. (Hrsg.) (2001), Anthropologie und empirische Psychologie um 1800. Ansätze einer Entwicklung zur Wissenschaft, Köln: Böhlau.

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Post-Mechanical Explanation in the Natural and Moral Sciences The Language of Nature and Human Nature in David Hume and William Cullen Tamás Demeter

Abstract It is common wisdom in intellectual history that eighteenth-century science of man evolved under the aegis of Newton. It is also frequently suggested that David Hume, one of the most influential practitioners of this kind of inquiry, aspired to be the Newton of the moral sciences. Usually this goes hand in hand with a more or less explicit reading of Hume’s theory of mind as written in an idiom of particulate inert matter and active forces acting on it, i.e. essentially that of Newton’s Principia. Hume’s outlook on the mental world is thus frequently described in terms of conceptual atoms whose association is compared to interparticulate attractions analogous with Newtonian forces in general, and gravity in particular. In the present paper I argue that Hume’s theory can indeed be understood in Newton’s wake, albeit not in the context of the Principa’s reception but that of the Opticks, which exerted a more significant influence on natural inquiry in eighteenthcentury Scotland. I intend to show that Hume speaks a language and represents an outlook on human matters convergent with “philosophical chemistry” in Scotland at that time, and particularly with the theories of his later friend and physician William Cullen.

1. Introduction There are various ways in which the world, and man’s place in it, can be described, and there is an intriguing history of the concepts in terms of which those descriptions are couched.1 This history shows that the various ways in which natural and human phenomena are conceptualized are not entirely independent – especially if man is taken to be part of the natural world. It is not only that some of the human phenomena, especially those of the human body, are natural phenomena themselves and as such are seen on a par with other natural phenomena. It is also that sometimes phenomena treated as distinctively human are seen through concepts that have affinities to those expressed in the idiom by which nature is represented. The languages in which one can talk about phenomena of nature and human nature sometimes reveal a remarkable convergence.

1

I am indebted for helpful comments and discussion to David Bloor, John Christie, Gábor Palló, Jeffrey Schwegman, Ursula Klein and Gábor Zemplén. My research has been supported by the Hungarian Scientific Research Fund OTKA No. 79193. Jahrbuch für Europäische Wissenschaftskultur, Bd. 7 (2012), 139–158

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In this paper I will argue that there are such convergences between the languages William Cullen (1710–1790) and David Hume (1711–1776) use to describe the phenomena of nature and human nature respectively. I do not mean to imply that there is a straight line of influence here from Cullen to Hume. This can be excluded on the basis that Hume had finished his Treatise of Human Nature (1739/40) well before Cullen took up the newly established lectureship in chemistry in Glasgow (1747), and made his chemical ideas public in his lectures.2 And while Cullen’s methodological commitments sometimes have a peculiarly Humean flavour,3 I will hardly touch upon this influence here; this is not what I intend to emphasise but the parallels between Cullen’s vision of nature and Hume’s vision of human nature. The main point I am to make here is that Hume and Cullen share a similar analytical outlook, and that it is defined and expressed by the language they find suitable for the representation of the phenomena they explore.4 Since at least Hegel, philosophers are frequently thought of as Minerva’s owls that begin their flight only after dusk: they are not in the forefront of developments but reflect on the consequences only when those already have taken place. In this vein it has become common wisdom in intellectual history that eighteenth-century moral philosophy evolved under the aegis of Newton. It is also frequently suggested that David Hume, one of the most influential practitioners of this kind of inquiry, aspired to be the Newton of the moral sciences.5 Usually this goes hand in hand with a more or less explicit reading of Hume’s theory of ideas, the foundation of his science of man, as written in an idiom of particulate inert matter and active forces acting on it – i.e. essentially in the language of Newton’s Principia. 2 3

4

5

Jan Golinski (1992), Science as Public Culture. Chemistry and Enlightenment in Britain, 1760–1820, Cambridge: Cambridge University Press, pp. 42–43. Several commentators point this out, e.g. John R. R. Christie (1981), Ether and the Science of Chemistry 1740–1790, in: Geoffrey N. Cantor & Michael J. S. Hodge (eds.), Conceptions of Ether. Studies in the History of Ether Theories 1740–1900, Cambridge: Cambridge University Press, pp. 85–110, p. 93; Roger Emerson (2009), ‘Our Excellent and never to be Forgotten Friend’ David Hume (26 April 1711 – 25 August 1776), in: Roger Emerson, Essays on David Hume, Medical Men and the Scottish Enlightenment, Aldershot: Ashgate, pp. 77–102, p. 81; John P. Wright (2000), Materialism and the Life Soul in Eighteenth-Century Scottish Physiology, in: Paul Wood (ed.), The Scottish Enlightenment. Essays in Reinterpretation, Rochester: University of Rochester Press, pp. 177–197, p. 191 et seq. The approach I am adopting here is introduced in more detail by Peter H. Reill (2005), Vitalizing Nature in the Enlightenment, Berkeley: University of California Press, pp. 4 et seq. By a ‘language’ here I mean, following Reill (ibid. p. 10.), a means of representation that “transcend[s] disciplinary boundaries” and whose “terms, metaphors, and explanatory strategies [are] easily translated into many spheres of human thought and activity”. Several examples could be mentioned, two prominent ones: Roy Porter (1995), Medical Science and Human Science in the Enlightenment, in: Christopher Fox, Roy Porter & Robert Wokler (eds.), Inventing Human Science, Berkeley: University of California Press, pp. 53–87, here: pp. 67 et seq; Theodore M. Porter (2003), Objects and Genres of Social Inquiry from the Enlightenment to 1890, in: Theodore M. Porter & Dorothy Ross (eds.), Cambridge History of Science, vol. 7: The Modern Social Sciences, Cambridge: Cambridge University Press, pp. 13–39, p. 33.

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Hume’s outlook on the mental world is thus frequently described in terms of conceptual atoms whose association is compared to interparticulate attractions modelled on Newtonian forces in general, and gravity in particular.6 In a different context it is also frequently acknowledged that natural inquiry in eighteenth-century Scotland in general, and chemistry in particular, was immensely influenced by Newton – especially by the Opticks compared to which the Principia played a secondary role.7 As Colin Maclaurin puts it in his account of Newton’s discoveries: while the Principia inquires into forces acting between bodies in great distance, the Opticks explores the “hidden parts of nature”, which are not so easily “subjected to analysis” because of the subtlety and minuteness of the agents.8 Cullen’s chemistry is aptly interpreted as Newtonian in this sense: as belonging to the research tradition the Opticks initiated: it pursued a project of discovering the internal micro-force relations of matter to be placed alongside with the intra-body macro-force of Newtonian gravity.9 It is important to see that while Newton’s name, due to his Principia, is primarily associated with dynamic (as opposed to kinetic) corpuscularism, the inspiration of a qualitatively oriented vitalistic approach might have come partly from the “Queries” of his Opticks: the ether hypothesis put forward in these passages provided the main inspiration for the idea of a natural world populated by active principles. Although initially ‘ether’ was interpreted as a mechanistic concept, and it was ascribed the role of transmitting forces between bodies, its reinterpretation first as a materialistic concept and then as a vitalistic active principle was widespread and increasingly popular among eighteenth-century naturalists – so much so that even Hume himself seems to favour the latter interpretation.10 Cullen’s chemical and medical investigations were at the forefront in this process of reinterpretation, and along with it the refocusing of natural inquiry. Cullen defined chemistry as a discipline whose proper field is the study of qualitative differences with the method of analysis of substances into constituent parts. He contrasts this method with the analysis of matter, respectable from the mechanical perspective, into homogeneous integrant parts distinguished only by their shape,

6

See e.g. Barry Stroud (1977), Hume, London: Routledge, p. 8. Some more recent examples: Howard O. Mounce (1999), Hume’s Naturalism, London: Routledge, pp. 15 et seq; Anthony E. Pitson (2002), Hume’s Philosophy of the Self, London: Routledge, pp. 6, 14 and 152; Helen Beebee (2006), Hume on Causation, London: Routledge, pp. 5 and 183 et seq. 7 Robert Schofield (1969), Mechanism and Materialism. British Natural Philosophy in an Age of Reason, Princeton: Princeton University Press, pp. 10 et seq. 8 Colin Maclaurin (1725), An Account of Sir Isaac Newton’s Philosophical Discoveries, 3rd ed., London, p. 21. 9 John R. R. Christie (1993), William Cullen and the Practice of Chemistry, in: Andrew Doig et. al. (eds.) (1993), William Cullen and the Eighteenth-Century Medical World, Edinburgh: Edinburgh University Press, pp. 98–109, p. 106. 10 Schofield (1969), op. cit, p. 207 et seq. and David Hume (2000), Enquiry concerning Human Understanding, ed. by Tom L. Beauchamp, Oxford: Clarendon, 7.25n16. (References to this work are in the form: Section.Paragraph.)

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size and quantity.11 The former method figures already in Query 31 of Newton’s Opticks as aiming at the analysis of compound rays of light into their constituents by comparing different rays with respect to various properties like “refrangibility, reflexibility, and colour, and their alternate fits of easy reflexion and easy transmission.” As he hopes, by following this method natural philosophy will be improved and thereby, “the bounds of moral philosophy will be also enlarged.”12 And Hume’s method is similar when he explores the principles of human nature by comparing human phenomena and subsuming their analogies under stable principles.13 In the present paper I argue that Hume’s theory can be understood in Newton’s wake, albeit not in the context of the Principa’s reception as it is usually read, but in that of the Opticks. I intend to show that Hume relies on a language when discussing moral phenomena that is convergent with that of Cullen’s “philosophical chemistry”. Both Hume and Cullen contribute to a language that provides an alternative to that of mechanical philosophies. They share an outlook, arguably inspired by Newton’s Queries in the Opticks, which is sensitive to qualitative differences and refer to internal active forces in both nature and human nature – a language, which would count as heretical from the perspective of the Principia’s dynamic corpuscularism, and even more so from the perspective of any kind of kinetic mechanism. Their common qualitative and vitalistic orientation can be seen as a new link between moral and natural inquiry, and it also connects Scottish philosophy to the contemporary European trends of “Enlightenment vitalism”.14 Thus far from being Minerva’s owl, Hume is a creative and imaginative thinker contributing to a new language and outlook for the autonomous study of human nature – a moral philosophy in the eighteenth-century sense of the term. In accordance with eighteenth-century classifications of knowledge,15 Humean moral philosophy is an explanatory enterprise – just like natural philosophy. But unlike the latter, moral philosophy is reserved for phenomena pertaining to moral beings qua moral beings. This is why Hume takes pain to separate his science of man from physiology and natural philosophy.16 His insistence on autonomy goes hand in hand with Cullen’s efforts to establish an autonomous chemistry detached from a mechanical outlook. This effort is motivated on Cullen’s part by his disap11 12 13

14

15

16

See Arthur L. Donovan (1975), Philosophical Chemistry in the Scottish Enlightenment, Edinburgh: Edinburgh University Press, p. 97 et seq. Isaac Newton (2004), Philosophical Writings, ed. by Andrew Janiak, Cambridge: Cambridge University Press, p. 139. David Hume (2007), A Treatise of Human Nature. A Critical Edition, ed. by David Fate Norton, Oxford: Clarendon, Appendix 3. (References to this work are normally in the form: Book.Part.Section.Paragraph.) For a detailed discussion see Tamás Demeter (2012), Hume’s Experimental Method, in: British Journal for the History of Philosophy, 20, (forthcoming). For background see e.g. Schofield (1969), op. cit.; Donovan (1975), op. cit.; Reill (2005), op. cit.; David B. Wilson (2009), Seeking Nature’s Logic: Natural Philosophy in the Scottish Enlightenment, University Park: Pennsylvania University Press. See Richard Yeo (2003), Classifying the Sciences, in: Roy Porter (ed.), Cambridge History of Science, vol. 4: Eighteenth-Century Science, Cambridge: Cambridge University Press, pp. 273–303. See Hume (2007), op. cit., 1.1.2. and 3.3.6.6.

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pointment with the explanatory resources a mechanical outlook could offer for properties relevant in chemical investigation. On Hume’s part a similar motivation came from the insight that previous moral philosophies can only offer a fanciful morality instead of real epistemic content and explanatory force. The main cause of their disappointment with their predecessors was their failure to adopt the proper outlook, and therefore to understand the proper method of their field of study. While politely acknowledging some earlier efforts, they both considered their own work as groundbreaking in their field.17 2. Criticising mechanism In the first decades of the eighteenth century Newtonianism, in one form or another, dominated the Scottish intellectual climate.18 The dominant language of nature was that of Newtonian mechanism – which quickly replaced Cartesianism after its short-lived triumph over Aristotelianism. This meant the adoption of what Peter Hanns Reill calls “the strong program of mechanical natural philosophy”,19 which had a double commitment to an ontology of qualitatively homogenous corpuscular matter on the one hand, and to mathematics as the model of reality on the other. Accordingly, explanations must have been couched in terms of particles different only in shape, size, mass and interparticulate forces between them. This program reached well beyond the boundaries of physics: it was also pursued in chemistry (by John Friend, John Keill and David Gregory), and in physiology (by Archibald Pitcairne and James Keill). Mechanical-mathematical explanations were sought for chemical reactions, and for the activities of living matter as well. But it was in these fields where the limitations of this program were clearly perceived:20 as Cullen’s early nineteenth-century biographer, John Thomson noted, “while they showed what might be achieved by mechanical principles and mathematical reasoning to physiology, indicated also what they were unable to accomplish.”21

17 For Cullen’s historical introduction to his lectures on chemistry see Donovan (1975), op. cit., pp. 93 et seq.; Hume (2007), op. cit., Introduction; David Hume (1932), Letters of David Hume, ed. by John Y. Greig, 2 volumes, vol. 1, Oxford: Oxford University Press, p. 32. 18 See Wilson (2009), op. cit., pp. 33–68. 19 Peter H. Reill (2003), The Legacy of the ‘Scientific Revolution’, in: Roy Porter (ed.), Cambridge History of Science, vol. 4: Eighteenth-Century Science, Cambridge: Cambridge University Press, pp. 23–43, p. 27. 20 For a concise summary see David Fenby (1989), Chemical Reactivity and Heat in the Eighteenth Century, in: Peter Jones (ed.), Philosophy and Science in the Scottish Enlightenment, Edinburgh: John Donald, pp. 67–86, here: pp. 69 et seq. 21 John Thomson (1832), An Account of the Life, Lectures and Writings of William Cullen, 2 volumes, vol. 2, Edinburgh, p. 677. See also William Cullen (1827b), Lectures Introductory to the Course on the Practice of Physic, in: William Cullen, The Works of William Cullen, vol. 1, London & Edinburgh: Blackwood & Underwood, p. 398.

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Cullen was dissatisfied with the extension of the strong program to chemical and medical investigation. While he appreciated its explanatory potential for “phenomena depending on the general properties of matter”,22 in chemistry he thought the mechanical hypothesis ill-founded because he saw the reducibility of chemical to mechanical phenomena far from being warranted, and he was unsure about its possibility – even in principle. There are phenomena seemingly unexplainable by reference to those general properties: in order, for example, to explain how ice turns into water mechanical accounts frequently return to the supposition that heat changes the angular particles of solid ice into spherical ones of fluid water, the latter being more “easily moved, which is fluidity”. But as we cannot deduce fluidity from spherical parts, nor vice versa, we have to appeal to some other cause,23 which may not fit the ideals of mechanists. Therefore, seeking explanations in terms of mechanical philosophy for chemical phenomena is neither possible nor desirable. Should we be able to find a mechanical basis for chemical phenomena, it would still fall short of an explanation in terms of proximal causes. And these, not the fundamental mechanisms, are the causes we are mostly interested in when pursuing philosophical chemistry whose chief use is to improve existing practices from agriculture to medicine. On similar grounds, Cullen considered relying on exclusively mechanical principles equally problematic in physiology, not only because we do not perceive the mechanical means of our internal functioning, but also because a mechanical outlook cannot lead to an explanation in too many cases: the stomach, for instance, “does not seem by any mechanical powers to contribute” to the food’s “division” while digesting; nor can the workings of the lungs be fully described in terms of the “mechanical powers of pressure, commonly spoken of.”24 Harvey’s discovery of the circulation of blood gave an impetus toward understanding animal economy as a “hydraulic system”, and thereby it contributed one aspect to its understanding as an “organic system”, but this approach could not supply the mathematical means with which to study physiological phenomena.25 And not only that: it also overshadowed the adequate complex outlook from which “the human system can only be viewed […] that is, as a chemical mixt, as a hydraulic machine, and as an animated nervous frame.”26 The combination of these three points of view can make “the system of physic” complete, but two of which, i.e. the chemical mixt and the animated nervous system, are hardly susceptible of understanding in mechanical terms. The language of mechanism, for Cullen, is not the universal language of nature. Hume shares Cullen’s reservations about the excesses of mechanical philosophy. He also acknowledges that it contributes to our knowledge about some parts of nature, which makes it all too easy to consider it as a model of the whole: it is 22 Quoted in Thomson (1832), op. cit., vol. 1, p. 665. 23 Donovan (1975), op. cit., p. 100. 24 William Cullen (1827a), Institutions of Medicine, in: William Cullen, The Works of William Cullen, vol. 1, London & Edinburgh: Blackwood & Underwood, pp. 111 and 191 et seq. 25 Cullen (1827b), op. cit., pp. 396 and 400 et seq. 26 Ibid., p. 409.

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“a theory, which, by discovering some of the secrets of nature, and allowing us to imagine the rest, is so agreeable to the natural vanity and curiosity of men”. While Newton “seemed to draw off the veil from some of the mysteries of nature, he shewed at the same time the imperfections of the mechanical philosophy; and thereby restored her ultimate secrets to that obscurity, in which they ever did and ever will remain.”27 Far from being an overarching theory of reality, mechanical philosophy is confined only to some parcels of nature. Introducing mechanism as the fundamental theory of the world overlooks not only its own imperfections, but our cognitive limitations as well. At most we can say that, as far as its imperfections allow us, we can provide explanations in terms of mechanical principles and properties, but we should not pretend that this amounts to a perfect knowledge of nature.28 Hume’s worries about mechanical philosophy are rarely put forward explicitly. Unlike Cullen, he rarely comments on mechanical theories at large, but his attitude is easy to read off from several of his arguments and passing remarks. Take the example of solidity, a compulsory member of the list of primary qualities on which mechanical philosophy is built.29 After having argued that the idea of motion depends on extension, and that the latter depends on that of solidity, Hume goes on to argue that we can have the idea of solidity only as a relational property: The idea of solidity is that of two objects, which being impell’d by the utmost force, cannot penetrate each other; but still maintain a separate and distinct existence. Solidity, therefore, is perfectly incomprehensible alone, and without the conception of some bodies, which are solid, and maintain this separate and distinct existence.30

This idea is inexplicable in terms of other allegedly primary qualities because they are all traced back to it. In order to understand the idea of solidity we need to understand the idea of two bodies keeping their distinct existence while pressed against each other, so it cannot be understood as the fundamental quality of a single body conceived in isolation. In Hume’s analysis it turns out that solidity is the most important quality of matter, which is commonly taken to be intrinsic, but it is in fact relational. Consequently, we are left with an idea of matter unsuited for the purposes of mechanical philosophy. Following Locke’s classification one could say that in Hume’s analysis solidity turns out to be a tertiary quality which can be understood only in terms of one body acting on another. And as such it cannot bear the burden of an allegedly fundamental explanatory theory.31

27 David Hume (1983), The History of England from the Invasion of Julius Caesar to the Revolution in 1688, reprint, 6 volumes, vol. 6, Indianapolis: Liberty Fund, p. 542. 28 John Locke (1975), An Essay concerning Human Understanding, ed. by Peter H. Nidditch, Oxford: Clarendon, 4.1.12. (References to this work are normally in the form Book.Chapter.Section.) 29 See ibid., 2.8.9. and also 2.4.1. 30 Hume (2007), op. cit., 1.4.4.10. 31 Locke (1975), op. cit., 2.8.23.

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After Newton gravity was added to the list of primary qualities.32 Some interpreters, like Richard Westfall and Howard Stein,33 suggest that by introducing gravity Newton indeed augments the traditional ontology of mechanical philosophy by forces. As Alan Janiak sees it, however, Newton never mentions gravity as a property of bodies – rather, he introduces mass. A force is just a quantity measurable by measuring other physical quantities, among which mass plays a crucial role – but Newton never commits himself concerning the ontological category in which to put it.34 On the first reading Newton is a realist about forces in very much the same way as he and other mechanists are realists about primary qualities like size, shape, motion and solidity. On the second reading Newton is also a realist about forces, but beyond his ontological commitment to some measureable quantity he refrains from committing himself as to whether it is a quality, a mode or even a substance.35 Understood either way, Hume begs to disagree. For him force belongs to the same family of concepts as power, energy and necessary connection,36 i.e. to the problem of the relation of cause and effect. Given that we have no direct experience, no impression of force or causal connection, the problem is to find the source from which these ideas can arise. Hume’s solution is that our natural inclination to see certain relations as that of cause and effect is based on nothing else but habit: we experience constant conjunctions and get used to them. This process gives rise to an impression of “a determination of the mind to pass from one object to its usual attendant”.37 This impression is the source of our idea of causal necessity, and this is the foundation of causal reasoning: as a philosophical relation (i.e. explanatory or theoretical), causation implies only “contiguity, succession and constant conjunction”. The ability to draw causal inferences hinges on the natural relation of cause and effect grounded in a determination of the mind38 – and not on forces or causal connections being perceived in the world. Thus, if Newtonian mechanical philosophy understands force as one among the primary qualities of matter, then Hume’s critique poses a serious challenge: we cannot have the idea of force as a primary quality.

32 For example, it emerges as such in George Berkeley (2008), Three Dialogues between Hylas and Philonus, in: George Berkeley, Philosophical Writings, ed. by Desmond M. Clarke, Cambridge: Cambridge University Press, pp. 151–242, p. 171, and also in Hume (2007), op. cit., 1.4.4.5. 33 Richard Westfall (1971), Force in Newton’s Physics, London: Macdonald, pp. 377–380 and 384; Howard Stein (1993), On Philosophy and Natural Philosophy in the Seventeenth Century, in: Midwest Studies in Philosophy, 18, pp. 177–201. 34 Andrew Janiak (2008), Newton as Philosopher, Cambridge: Cambridge University Press, pp. 81 et seq. 35 I explain the differences of these two kinds of realism in Tamás Demeter (2009), Two Kinds of Mental Realism, in: Journal for General Philosophy of Science, 40, pp. 59–71. 36 See Hume (2000), op. cit., 7.3. 37 Hume (2007), op. cit., 1.3.14.20. 38 Ibid., 1.3.6.16 and 1.3.14.29.

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Cullen sounds pretty Humean when talking about causal explanation, and goes on to undermine the ontology of the mechanical outlook. If we observe that some states “regularly and constantly succeed each other” then it is presumed that they are in the series of cause and effect with respect to one another. This we would hold as a matter of fact, even although we should not be able to explain in what manner, or by what mechanical means, these states severally produce each other.39

For Cullen, and for Hume, constant conjunction makes for an explanatory relation and it is suitable to build theories upon. There is thus no need for dubious mechanical hypotheses: causal explanations are perfectly in order at the phenomenal level. As Hume puts it: to penetrate into the nature of bodies, or explain the secret causes of their operations. […] I am afraid, that such an enterprize is beyond the reach of human understanding, and that we can never pretend to know body otherwise than by those external properties, which discover themselves to the senses.40

Regularities can be found and principles should be established without the metaphysical commitments of mechanical philosophy. Once acknowledged, this insight paves the way for understanding qualitative changes in their own terms – and not in terms of allegedly fundamental mechanical properties and interactions. Understanding force as a calculable quantity without deeper ontological commitments brings us near the second pillar of the “strong program of mechanical natural philosophy”, namely the role of mathematics in natural inquiry. Janiak’s reading suggests that it is enough for Newton’s theory if ‘force’ makes mathematical sense among other quantifiable properties. For Hume’s epistemology, however, making mathematical sense is not enough for natural philosophy to have empirical content. He draws a sharp distinction between two kinds of reasoning.41 Demonstrative reasoning is a priori, it is concerned with relations of ideas, and mathematics is one of its exemplary fields. Probable reasoning is based on the relation of cause and effect, it is a posteriori, and it provides the foundations of theorizing concerning all matters of fact. This means that a priori mathematical constructions cannot be taken as representations of reality as “the only objects of the abstract science or of demonstration are quantity and number, and that all attempts to extend this more perfect species of knowledge beyond these bounds are mere sophistry and illusion.”42 This does not entail, however, that mathematics is altogether useless in natural inquiry. As Hume says: Mathematics, indeed, are useful in all mechanical operations, and arithmetic in almost every art and profession: But ’tis not of themselves they have any influence. Mechanics are the art of regulating the motions of bodies to some 39 William Cullen (1827c), First Lines of the Practice of Physic, in: William Cullen, The Works of William Cullen, vol. 2, London & Edinburgh: Blackwood & Underwood, p. 492. 40 Hume (2007), op. cit., 1.2.5.25. 41 Ibid., 2.3.3.2. 42 Hume (2000), op. cit., 12.27.

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design’d end or purpose; and the reason why we employ arithmetic in fixing the proportions of numbers, is only that we may discover the proportions of their influence and operation.43

It seems that quantification is all right if it is about measuring proportions, or the magnitude of causes and effects. We can rely on mathematics as a useful tool in natural philosophy, and especially in its application, but we cannot proceed on a priori mathematical principles in our inquiries concerning matters of fact. Natural philosophy, being concerned with matters of fact, cannot be based on mathematical axioms, and we cannot have it as essentially mathematical. Given human cognitive capacities, mathematics just cannot be a meaningful language in which the book of nature is written. Cullen, whose knowledge of mathematics was admittedly limited,44 was not in disfavour of quantification and measurement either. As John Christie points out, it was Cullen who initiated a research program of thermometrical quantification, which characterised Scottish chemistry in the second half of the eighteenth century through the work of Joseph Black, John Robison and William Irvine.45 Cullen also shared Hume’s aversion to proceeding on mathematical principles concerning matters of fact. For example, he reluctantly acknowledges that the combination of Galileo’s mathematical and Bacon’s experimental approach had some role to play in the history of medicine: “we must observe, that whether it was with advantage or not, many improvements have been derived from mathematics to the system of physic: they have certainly contributed to put physic in the good condition in which it is at present.”46 But he also emphasizes that this contribution had been limited and mathematical principles in medical matters cannot have a bright future either: “it neither could, nor ever can be, applied to any great extent; in explaining the animal economy”.47 Just like its mechanization, the mathematization of animal economy could not deliver a complete system it promises, and for very much the same reason: only some parcels of medicine could be effectively treated this way. 3. A language of qualitative differences Both Cullen and Hume are dissatisfied with the means mechanical philosophy provides for representing phenomena. Cullen’s main worry concerns the explanatory deficiency of mechanical hypotheses; Hume’s worries are conceptual and epistemological. Cullen sees mechanical philosophy as one of the “dogmatic phases” in the development of medicine.48 Dogmatism for Cullen is a double-edged sword. On the one hand theory building is inevitable and it has an indispensable role in 43 44 45 46 47 48

Hume (2007), op. cit., 2.3.3.2. Thomson (1832), op. cit., vol. 1, p. 138. Christie (1993), op. cit., p. 106. Cullen (1827b), op. cit., p. 401. Ibid., p. 398. See Michael Barfoot (1993), Philosophy and Method in Cullen’s Medical Teaching, in: Doig et al. (eds.) (1993), op. cit., pp. 110–132.

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the growth of knowledge because this is where innovations come from.49 On the other hand theories easily become a Procrustean bed into which even those phenomena are forced that cannot find their place there with the hope of cognitive and practical benefit. And this is where the limits of mechanism are: beyond “general properties” characteristic to all bodies qua bodies, bodies also have “particular properties” characteristic only to some kinds of them.50 While the former are properly studied by mechanical and mathematical means, the latter – as we have seen – cannot be meaningfully reduced to them. This specifies the domain of an autonomous chemistry, and gives the threefold task it is faced with: i.e. to explore the particular properties of bodies, to induce such properties in bodies that do not have them, and to produce bodies with such properties.51 Due to the limitations of mechanical philosophy this task cannot be completed if matter is represented only as an aggregate of homogenous particles. The project’s focus on particular properties requires looking at it through an ontological scheme sensitive to qualitative differences. Therefore chemical inquiry cannot proceed by a mechanical analysis of bodies into “integrant parts”, by the division of matter into smaller parts with an attention to their “general properties”. As we have seen above, this approach leads us nowhere. Instead, chemistry studies those properties of bodies that depend on their mixture by means of analysis of compounds into “constituent parts”.52 This is qualitative analysis that focuses on the “particular properties” of the different constituents of which a given mixture is composed, and it aims at studying those components with respect to their “habits of mixture” and to the “properties of mixts from different ingredients”.53 Instead of dubious mechanical hypotheses, most of the explanatory work for Cullen’s chemical enterprise is done by elective attractions – described and classified on the phenomenal level because their underlying causes are proclaimed to be unknown. As a starting point for exploring them, Cullen uses and refines Etienne François Geoffroy’s famous affinity table (published in 1718), relying on which he developed his own technique of representing the relative strength of attraction between qualitatively different substances. Due to this work “he firmly believed that chemists were on the brink of determining the laws that govern the first cause of change in chemistry.”54 Elective attractions thus become the cement of the chemical universe, but not in a sense modelled on Newtonian gravity: while gravity is 49 Cullen (1827b), op. cit., p. 417. 50 Thomson (1832), op. cit., vol. 1, p. 665. 51 See Arthur L. Donovan (1982), William Cullen and the Research Tradition of EighteenthCentury Scottish Chemistry, in: Roy H. Campbell & Andrew S. Skinner (eds.), The Origins and Nature of the Scottish Enlightenment, Edinburgh: John Donald, pp. 98–114, p. 101. 52 The distinction is not Cullen’s own; it is also drawn by Stahl, Macquer, Show. See Georgette Taylor (2006), Unification achieved. William Cullen’s Theory of Heat and Phlogiston as an Example of his Philosophical Chemistry, in: British Journal for the History of Science, 39, pp. 477–501, p. 487. 53 Donovan (1975), op. cit., pp. 97–99. 54 See ibid., p. 131. On Geoffroy’s table in Ursula Klein & Wolfgang Lefèvre (2007), Materials in Eighteenth Century Science. A Historical Ontology, Cambridge, Mass.: MIT Press, pp. 147–154.

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a universal attraction, Cullen’s elective attractions are selective depending on the particular properties of substances and their relative attractions, and not on their density.55 The business of chemistry is thus to explore and arrange elective attractions systematically, and to account for various combinations and separations of substances in terms of general principles established by such classifications. The aims and methodology of Cullen’s project remain within the boundaries of possible human knowledge as drawn by Hume’s epistemology.56 But there is a deeper congruence here as well: the language in which Hume describes human nature also bears positive comparison with the language Cullen finds most suitable for the purposes of representing chemical phenomena. The Humean language of human nature is in several crucial respects convergent with that of Cullen’s chemistry. Let’s see a crucial example. It is frequently pointed out that the difference between the two kinds of perception Hume acknowledges as the only possible contents of the mind is only a matter of degree. Impressions (roughly: actual experience) and ideas (roughly: concepts and mental images) differ only in their “force and vivacity”, and this implies that there are no qualitative differences between the two kinds of perception. But on closer scrutiny it turns out that Hume does not really think them homogenous: Ideas may be compar’d to the extension and solidity of matter, and impressions, especially reflective ones, to colours, tastes, smells and other sensible qualities. Ideas never admit of a total union, but are endow’d with a kind of impenetrability, by which they exclude each other, and are capable of forming a compound by their conjunction, not by their mixture. On the other hand, impressions and passions are susceptible of an entire union and like colours, may be blended so perfectly together, that each of them may lose itself, and contribute only to vary that uniform impression, which arises from the whole. Some of the most curious phænomena of the human mind are deriv’d from this property of the passions.57

One could perhaps say that here Hume just echoes the then commonplace Cartesian dictum that passions are clear, i.e. vivid perceptions, but they are not distinct. But one should not overlook the language in which the distinction between ideas and impressions is drawn: the passage clearly suggests that there are, indeed, qualitative differences between them; their interactions follow different principles. On the one hand, ideas are ascribed mechanical properties that are preserved in their interactions: they are conceptual atoms. This also means that the formation of complex ideas is a reversible process, and the building blocks can be combined and recombined in various ways without losing their identity. Impressions, and especially passions, on the other hand, are susceptible of qualitative transformations, and they are characterized by properties and interactions that are not explained in a mechanical way. 55 See Schofield (1969), op. cit., p. 218; Klein & Lefèvre (2007), op. cit., pp. 38, 47 and 56 et seq. On Cullen’s view see Donovan (1975), op. cit., p. 130. 56 See e.g. ibid., pp. 59 et seq. 57 Hume (2007), op. cit., 2.2.6.1.

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It is frequently repeated by various commentators that the way Hume envisages the interaction of ideas and impressions is modelled on Newton’s gravity.58 It seems that the principles of association are especially susceptible of such an interpretation: they describe various attractions among ideas (and impressions), and their cause is equally unknown. And indeed, we have seen that ideas are partly characterized by a mechanical description, especially by their solidity and their capacity of forming a union only by conjunction, which preserves their atomistic identity, and not by mixture. Prima facie, it makes sense to say that out of the three principles of association between ideas, i.e. cause-effect, spatio-temporal contiguity, and resemblance, at least two, namely cause-effect and contiguity, seem to be mechanistically respectable. But resemblance should incite our suspicion immediately: it cannot be conceived as a mechanical, only as an intentional relation, which entails the active contribution of the mind. On second thought, causeeffect and contiguity do not fare much better against a mechanical background. Ideas are qualitatively different, they do not differ in shape, size and solidity but in content, i.e. in what they represent. Representational contents, and not mechanical features, are the properties on which possible associations depend, and it is also this content that determines the contribution they can make in complex ideas. I suggest that unlike universal gravity or external forces, the principles of association should be understood on the analogy of chemical processes directed by elective attractions between ideas that depend on representational contents. The principles of association are elective: they do not hold universally between all ideas, only between some, and there are, of course, pairs of ideas that do not stand in associative relations at all. The possible associative links between any two ideas depend on their content: the principle of cause-effect, for example, can connect two ideas that may not be connected by resemblance. If seen through a lens of mechanism, different chains of association cannot be adequately distinguished: focusing on the solidity, number and structure of ideas does not give a fine enough resolution for that purpose: one needs to take into account the representationally heterogeneous nature of ideas. Beside this qualitative heterogeneity, one should also consider the particular principle, “some associating quality”,59 by which ideas are linked in a chain of association. On any occasion indefinitely many ideas can be associated to an idea actually given to the mind. Only by pointing out the mind’s internal self-activity can one explain why a particular principle of association is applicable in any given case, and thus also why a particular idea (and not some other) is associated to the actually given one. Traces of a chemical language are even more conspicuous in Hume’s theory of passions. Passions are secondary impressions produced by the faculty of reflection, and are founded on the pleasant or unpleasant character that conjoins some ideas or primary impressions. The natural path of a single passion, conceived theoretically as a separate entity, is characterized as qualitative, directional change 58 See recently Jonathan Bennett (2001), Learning from Six Philosophers, 2 volumes, vol. 1, Oxford: Clarendon, p. 352; Pitson (2002), op. cit., p. 14; Beebee (2006), op. cit., p. 15. 59 Hume (2007), op. cit., 1.1.4.1.

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over time. Association by resemblance, the only way passions can be associated, determines its direction, and the association of ideas that play a role in the production of passions, either as their causes or as their objects, can strengthen the process. The actual dynamics of passions is, of course, more complex, as there are several passions at any time interacting in the mind, induced by legions of impressions and ideas present to it. This interaction is described with instructive similes: Upon the whole, contrary passions succeed each other alternately, when they arise from different objects: They mutually destroy each other, when they proceed from different parts of the same: And they subsist both of them, and mingle together, when they are deriv’d from the contrary and in compatible chances or possibilities, on which any one object depends. The influence of the relations of ideas is plainly seen in this whole affair. If the objects of the contrary passions be totally different, the passions are like two opposite liquors in different bottles, which have no influence on each other. If the objects be intimately connected, the passions are like an alcali and an acid, which, being mingled, destroy each other. If the relation be more imperfect, and consists in the contradictory views of the same object, the passions are like oil and vinegar, which, however mingled, never perfectly unite and incorporate.60

More than figurative speech, this description is perfectly consistent with the passage quoted above in which Hume draws a qualitative distinction between ideas and impressions. And it is now hardly surprising to see that there are qualitative differences between various passions as well, and that their interactions, which can again be seen in terms of elective attractions, are founded on those differences. The interaction of passions is like the chemical reaction of substances, a process in which they lose their old properties and acquire new ones. Unlike forces in Newton’s mechanics, the principles of interaction in Hume’s mental world are sensitive to differences in kind, resist mathematization, and belong more organically to the view championed by Buffon at the same time on the Continent with its emphasis “on the principles of comparison, resemblance, affinity, analogical reasoning” and its explanations in terms of “inner, active forces as central agents in nature”.61 4. A language of internal active forces Having amended the mechanical means of representation by chemical ones, Cullen needs to add one more point of view, namely that of the “animated nervous system” in order to reach his ideal of a “complete physic”. His physiology may be coupled with the vitalistic tradition of the Edinburgh Medical School represented by William Porterfield and Robert Whytt, the latter being his predecessor as professor of medicine there. Although they disagreed in several respects,62 they 60 Ibid., 2.3.9.17. 61 Reill (2005), op. cit., p. 69. 62 For a detailed discussion see John P. Wright (1990), Metaphysics and Physiology. Mind, Body, and the Animal Economy in Eighteenth-Century Scotland, in: Michael A. Stewart (ed.), Studies in the Philosophy of the Scottish Enlightenment, Oxford: Clarendon, pp. 251–302.

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agreed on at least one crucial point which may be called their common vitalistic stance: namely that living organisms are active in the sense that they respond with more energy than contained in the stimuli, so they cannot be studied along the same lines as dead matter. In the explanation of living matter the perspective of mechanical aggregation must give way to that of animal economy. This insight inspired a closer understanding of what specific forms the internal activity of a living body may take, i.e. “the state and affections of the primary moving powers in it.”63 Most of the crucial bodily functions Cullen ascribes to the “mechanism of the brain” which could not fulfil its various functions “without being united with a sentient principle or mind that is constantly present in the living system.”64 Without there being such a principle not even the mechanical functions of the body could be adequately explained: how can the heart keep pumping blood without running down? For Cullen the explanation came from the brain and its close connection to the mind, the sentient principle responsible for the effects greater than the stimuli. However, Cullen did not see this internal active force as centralized exclusively in the mind/brain, he distributed some of it throughout the various parts of the body: activity for him partly resides in the “inherent power” of the muscles. And thus, while the mind/brain is the central unit, some of the bodily activities depend on various local forces that together form an organic whole. Cullen’s outlook is well represented in a telling passage: opium, alcohol, mephitic air, applied to our bodies, induce a state of sleep; they are known to diminish the motions in general, and have got the appellation of sedatives. With regard to the chief of them all, opium, the question has been often put, quomodo opium facit dormire and the variety of theories offered by the mechanical physicians has amounted to little more than that of the Galenists, quia habet in se facultatem dormifaciendi. It has been alleged by some, that opium coagulates, and by others, that it rarifies the blood; but we say, that opium produces its effect independently of the fluids and of their circulation. Whatever difficulties Dr. Haller has raised upon this subject, I say that the experiments of Alston, Whytt, and Monro, our colleagues, upon animals, after the circulation of the blood had ceased, are quite conclusive; that though opium acts slower, it most certainly does act, after all motion of the fluids have ceased; nay, that it acts upon every separate and detached part, even when the communication with the brain is destroyed, that it acts upon the inherent power, so that we need not discuss the matter whether it coagulates or rarifies the blood, as its direct operation is upon the nervous power, the mobility, sensibility, and irritability of which, it destroys in every particular part to which it is applied.65

Beyond the diagnosis that mechanists do not fare better than Galenists as far as the intelligibility of their explanations go, Cullen here is convinced that the effect of the opium is local and does not presuppose circulations in the body. Its effect is to diminish the characteristic activity of some part of the body by influencing its 63 Cullen (1827b), op. cit., p. 409. 64 Ibid., p. 114. 65 Ibid., p. 124.

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local “nervous power” which Cullen considered to reside in the relevant muscles themselves.66 As such they belong to the “animated nervous frame”, partly decentralised, which is itself part of a harmonious mechanical, chemical and physiological whole. From an early letter to Francis Hutcheson, Hume repeatedly characterises his project as an anatomy of the mind, understood as the “delineation of the distinct parts and powers of the mind”.67 Cullen shares this understanding of the anatomist’s task when he says “from anatomy you know minutely the structure of the human body itself”, a knowledge to be augmented with physiology from which “you know the general laws by which the animal economy is governed, and these detailed in explaining the function of each particular part”.68 For Hume, even more than for Cullen, “parts and powers” cannot be separated. We have no direct empirical access to the mind’s anatomy: it cannot be introspected because introspection would disturb its normal functioning.69 Therefore we can have no knowledge of this anatomy as independent of the functioning of the mind’s different parts. So if we take Hume’s metaphorical characterisation seriously, it is through a physiology of the mind, i.e. through the study of its general laws, that we can have access to its anatomy – i.e. to mental faculties. This talk about the mind’s anatomy may seem to be at odds with passages where he says things like “they are successive perceptions only, that constitute the mind”,70 yet it would still miss the point of Hume’s project to stop just there. It is more appropriate to suggest that for Hume the contents of the mind consist entirely of perceptions; his central aim, as he frequently emphasizes, is to find the principles that describe the causal framework of how the perceptions follow one another. Perceptions are thus only half of the story: one can reveal systematic interconnections among them, and establish the relevant principles for the purposes of explaining why the perceptions follow one another in the order they do. Without some commitment to the existence and stability of such principles Hume’s project would lose its point. Hume’s principles are not scattered regularities, they are indeed structured, and in this sense analogous with the structure of the body. This structure is the universal anatomy of the human mind: “The case is the same with the fabric of the mind, as with that of the body. However the parts may differ in shape or size, their structure and composition are in general the same. There is a very remarkable resemblance, which preserves itself amidst all their variety.”71 On Hume’s classification some principles belong more closely together, and while charting them they are subsumed under various faculties, so he talks freely e.g. about the universal

66 William F. Bynum (1993), Cullen and the Nervous System, in: Doig et al. (eds.) (1993), op. cit., pp. 152–162, here: pp. 159 et seq. 67 Hume (1932), op. cit., vol. 1, p. 32; Hume (2000), op. cit., 1.13. 68 Cullen (1827b), op. cit., p. 440. 69 Hume (2007), op. cit., Introduction 10. 70 Ibid., 1.4.6.4. 71 Ibid., 2.1.11.5.

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principles of imagination, of sympathy,72 as well as of other faculties, their limits and imperfections. Talk about faculties is abundant throughout the text, sometimes Hume mentions them straightforwardly as the “organs of the human mind”.73 Hume’s faculties are decentralized: there is no faculty supervising the activity of the others, yet, in non-pathological cases, their interaction is harmonious. For him the human mind is composed of functional subsystems that can be characterized by their active contribution which frequently results in qualitative changes. The principles themselves are also qualitatively distinguished by the kind of activity they exert on perceptions, and by the kind of perception they exert it on. Specific principles apply to different kinds of impression, deriving either from the senses or reflection, and also to ideas depending on their content. The task is to explore qualitatively different principles identified through their distinctive causal contribution to the harmonious functioning of the organic system of faculties. Probably there is no better example of an active faculty in Hume’s Treatise than the operation of sympathy which “is nothing but the conversion of an idea into an impression by the force of imagination.”74 The process is simple: from external signs, gestures, speech, etc. we form an idea, via inferences, about what goes on in the other’s mind, and sympathy turns this idea into its corresponding impression so that we can literally feel what the other feels.75 When we form an idea of a passion that someone else is experiencing, it is the operation of sympathy that ‘converts’ this idea into an impression thereby making it possible to feel what the other feels.76 Were it not for the active and selective influence of sympathy on some ideas, but for a mechanical-causal relation between ideas and impressions, it would be impossible to explain why only ideas about others’ passions are turned into the corresponding impressions, and not, say, the idea of a table I imagine. Sympathy is thus an active principle, which transforms ideas into impressions, facilitating communication of opinions and affections. As it makes us sensitive to the feelings of others, this faculty can aptly be called the basis of sociability. Sympathy is responsible for the bonds in the social world, and as such it is analogous with the cohesive force in the world of living organisms: this is still more remarkable, when we add a sympathy of parts to their common end, and suppose that they bear to each other, the reciprocal relation of cause and effect in all their actions and operations. This is the case with all animals and vegetables; where not only the several parts have a reference to some general purpose, but also a mutual dependance on, and connexion with each other.77

72 73 74 75 76 77

Ibid., 1.1.4.1. and 2.2.5.14. Ibid., 2.1.5.6. Ibid., 2.3.6.8. Ibid., 2.1.11.3. See ibid., 2.1.11.3. and 3.3.1.7. Ibid., 1.4.6.12.

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Sympathy establishes similar reciprocal relations in human interaction, as it is due to it that “the minds of men are mirrors to one another”.78 It is thus by the concept of sympathy where the ideas of an organic nature and human nature, the language of chemical reactions and human interactions are contiguous: living things, human minds and society are all organized by the peculiar principles of their own economy into an organic whole.79 5. Conclusion In this paper I have tried to distance Hume’s science of human nature from his alleged affinities to Newton’s Principia, and to show eighteenth-century Scottish chemistry and physiology as its more natural context. Instead of focusing on the straightforward influences from contemporary natural philosophy on Hume, I emphasised that his outlook and language has significant affinities to those Cullen represents in his chemical and physiological investigations. Hume’s language is closer to the vitalistic tendencies in the Enlightenment than to mechanism of any kind. This vitalistic movement responded to problems, particularly those of living matter, that mathematized mechanical theories could not solve. This led to a revival of natural history, most importantly represented by Buffon – and in the domain of moral phenomena, by the Scottish Enlightenment.80 It is important to note, however, that despite the emphasis on Baconian roots, natural history now aspired to more than Bacon had originally envisaged. It aimed not only at collecting, describing and classifying phenomena for future philosophical processing, but made instant explanatory use of the insights gained by historical methods and this novel use of natural history was especially clear in chemistry. Affinity tables may be the best example of classification that provides explanatory potential due to the systematic arrangement of substances according to the relative strength of attraction. For Hume the task is similar: the basic structure of human nature is composed of faculties functionally understood and the science of man is the enterprise of charting their interactions. Appreciating this character of Hume’s project, and the language he is using while developing it, enables us to focus not on impressions and ideas, but on what was really important in it: the principles of human nature. Bibliography Barfoot, Michael (1993), Philosophy and Method in Cullen’s Medical Teaching, in: Andrew Doig et. al. (eds.), William Cullen and the Eighteenth-Century Medical World, Edinburgh: Edinburgh University Press, pp. 110–132. Beebee, Helen (2006), Hume on Causation, London: Routledge. 78 Ibid., 2.2.5.21. 79 See Reill (2005), op. cit., pp. 135 et seq. 80 See Paul Wood (1990), The Natural History of Man in the Scottish Enlightenment, in: History of Science, 28, pp. 89–123.

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Bemerkung und Revision Zur Steuerungsfunktion naturwissenschaftlicher Textsorten am Beispiel von Experimentalbericht und litterärhistorischer Erzählung um 1800 Daniel Ulbrich

Abstract The article focuses on the contribution of linguistic mechanisms and devices to the direction and management of research processes in chemistry around 1800. Taking texts of 18th century chemists A. N. Scherer and J. F. A. Göttling as its examples, it will examine in parallel the ways and workings of two different types of such devices: (1) the narrative of historia literaria or History of Learning (‘Revision’ or ‘review’) and (2) the genre of experimental essay (‘Bemerkung’ or ‘remark’). It will be argued that, from the point of view of speech act theory, both do not only serve constative purposes, but also exert performative tasks. Review and remark do, however, differ with respect to the dominating types of illocutionary force, their prototypical propositional content and the specific locutionary forms employed in pursuing their respective illocutionary point. Thus, in reviews recognition of illocutionary forces interpretable as counsel and guidance for future research will often afford cumbersome inferences from narrative structures, yielding directive speech acts whose propositional content will primarily consist in the description of general norms of scientific conduct and whose illocutionary forces will be at best of a recommendatory nature. In comparison, ties between locutionary form and illocutionary point in remarks are considerably stronger and provide for an illocutionary regime of questions and requests which take concrete laboratory operations and chemical reactions brought about by them as their propositional content.

In seiner Schrift De dignitate et augmentis scientiae (1623) hat Francis Bacon bekanntlich die Geschichte der Gelehrsamkeit mit dem Auge des Polyphem verglichen.1 Eine Geschichte der Welt, heißt es da, die nicht zugleich auch die Geschichte der Gelehrsamkeit (historia literarum) umfasse, sei einer Statue des Polyphem, der das Auge entfernt worden ist, nicht unähnlich – fehle ihr doch damit das, was dessen Geist (ingenium) und Eigentümlichkeit (indole) am besten kennzeichne.2 Im Laufe der Entwicklung dessen, was von nun an unter allfälliger Beru1

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Der vorliegende Beitrag ist im Rahmen der Teilstudie „Textpraktiken und disziplinäre Ausdifferenzierung“ des Teilprojekts E2 „Empirie vs. Spekulation? Begriffene und erfahrene Natur“ des SFB 482 „Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800“ an der Friedrich-Schiller-Universität Jena entstanden. Für wichtige Impulse und zentrale Einsichten in die Thematik möchte ich mich insbesondere bei Olaf Breidbach, Jan Frercks und Heiko Weber bedanken. Francis Bacon (1857a), De dignitate et augmentis scientiarum, in: Francis Bacon (1857–1874), The Works of Francis Bacon, hg. v. James Spedding, Robert Leslie Ellis & Douglas Denon Jahrbuch für Europäische Wissenschaftskultur, Bd. 7 (2012), 159–257

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fung auf den Lordkanzler unter dem Titel historia literaria und seinen deutschen Äquivalenten Geschichte der Gelehrsamkeit bzw. Litterärgeschichte Epoche machen sollte, wird sich der Skopus des Diktums zusehends auf die Wissenschaften verengen.3 Nicht mehr das Ganze der Geschichte, sondern die Wissenschaft selbst ist es, die ohne den Beistand der Litterärhistorie wie eine Bildsäule Polyphems mit entferntem Auge erscheint. Im Gleichschritt damit vereindeutigt sich das Verständnis des Gleichnisses, um sich auf die Aussage zu reduzieren, Wissenschaft ohne begleitende Geschichte der Gelehrsamkeit sei blind.4 Bei Bacon selbst liegt die Pointe hingegen gerade in der trickreichen Verschränkung der Ebenen von Referenz und Darstellung, so dass Polyphem in eben dem Maße blind erscheint wie seine Bildsäule durch das fehlende Auge unkenntlich geworden ist, und folglich die allgemeine Geschichte ohne Gelehrsamkeitsgeschichte im Sinne ihrer Verkörperung in (der Statue) Polyphem(s) ebenfalls zugleich blind und nicht mehr als solche (wieder-)zuerkennen ist. Das ist freilich eine Konstellation, die weder auf der Ebene des Gleichnisses noch auf der Ebene des Verglichenen ganz der Ironie entbehrt: Denn zum einen konstatiert Bacon ja gerade, dass eine solche Gelehrtengeschichte eigentlich noch gar nicht existiert und verspricht damit bzw. ruft dazu auf, künftig eine solche zu liefern: inter Desiderata referre visum est.5 Zum anderen – 2

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Heath, London: Longman u.a., Bd. 1, S. 414–837, S. 502f.: Atque certe historia mundi, si hac parte [i.e. historia literarum] fuerit destituta, non absimilis censeri possit statuae Polyphemi, eruto oculo; cum ea pars imaginis desit, quae ingenium et indolem personae maxime referat. „Und von einer Geschichte der Welt, die auf diesen Teil verzichten muss, ließe sich gewiss sagen, dass sie einer Bildsäule des Polyphem mit ausgestochenem Auge nicht unähnlich sei, da ihr damit doch genau das fehlt, wodurch Geist und Eigentümlichkeit der Persönlichkeit am deutlichsten bezeichnet werden.“ (Übersetzung hier und im Folgenden: D.U.). Eine knappere Darstellung des Konzepts der historia literarum, die dort unter dem Namen History of Learning figuriert, findet sich daneben bereits in Bacons Werk Of the Advancement of Learning aus dem Jahre 1605, vgl. Francis Bacon (1859b), Of the Proficience and Advancement of Learning Divine and Humane, in: Francis Bacon (1857–1874), a.a.O., Bd. 3, S. 259–491. Zur Tradition der historia literaria vgl. insgesamt Frank Grunert & Friedrich Vollhardt (Hrsg.) (2007), Historia literaria. Neuordnungen des Wissens im 17. und 18. Jahrhundert, Berlin: Akademie-Verlag. Eine komprimierte Überblicksdarstellung inklusive weiterer Literaturhinweise gibt neuerdings Tilo Werner (2011), (Art.) Historia literaria, in: Gert Ueding (Hrsg.) (1987–2011), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Tübingen: Niemeyer, Bd. 10, Sp. 361–365. So heißt es etwa 1735 in Zedlers Universal-Lexikon, dass „Baco Verulamio die Gelehrten Historie oculum Polyphemi zu nennen pfleget, weil […] die Wissenschaften derer Menschen, wenn sie auf die Historie nicht gegründet […] sind, eben wie der Leib des ungeheuren Polyphemi beschaffen sind, dem Ulysses das einzige Auge ausgestochen.“ Anonym (1735), (Art.) Gelehrten-Historie, in: Johann Heinrich Zedler (Hrsg.) (1732–1754), Grosses vollständiges Universal-Lexikon Aller Wissenschafften und Künste, Welche bishero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden, Leipzig & Halle: Johann Heinrich Zedler, Bd. 10, Sp. 725–730. Insgesamt gilt, dass Bacons Text im Verlaufe des 17. Jahrhunderts „so sehr zur Autorität in Sachen Historia literaria geworden“ war, dass das Gleichnis von Polyphems Auge schließlich „geradezu als ‚Markenzeichen‘ gelten konnte.“ Anette Syndikus (2007), Die Anfänge der Historia literaria im 17. Jahrhundert. Programmatik und gelehrte Praxis, in: Grunert & Vollhardt (Hrsg.) (2007), a.a.O., S. 3–36, S. 35. Bacon (1857a), a.a.O., S. 502: „man muss sie wohl unter das rechnen, an dem es noch fehlt.“

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und darin spiegelt sich gleichsam das intrikate Verhältnis von stets schon und noch nicht in Bacons Versuch, die historia literarum in das Definitionsfeld der allgemeinen Geschichte hineinzunehmen – wirft die Partizipialkonstruktion ‚mit ausgerissenem, ausgestochenem, geblendetem Auge‘ (eruto oculo) doch unweigerlich die Frage auf, ob denn Polyphems einstmalige Einäugigkeit tatsächlich als hinreichende Bestimmung seines Geistes und seiner Eigentümlichkeit gelten kann, oder ob nicht vielmehr erst das ihn zum unverwechselbaren Individuum gemacht hat, was die Odyssee im Neunten Gesang von ihm erzählt: die nachmalige Blendung durch den Listenreichen und den dadurch erfolgten Verlust seines Augenlichtes. Wenn ich daher im Folgenden auf die Frage nach der (Selbst-)Steuerung der Wissenschaften durch Mechanismen sprachlicher Natur zu sprechen komme, so gilt es das im Auge zu behalten: Denn obgleich die litterärhistorische Tradition um 1800 rein quantitativ gesehen noch keineswegs an ihr Ende gekommen ist, muss sie sich gleichwohl die Frage gefallen lassen, ob und in welcher Hinsicht sie – insbesondere in ihrer narrativen Variante – die ihr von Bacon im Gleichnis vom ‚Auge des Polyphem‘ zugedachte Funktion der Steuerung wissenschaftlichen Verhaltens (noch) erfüllen kann und inwieweit sie (zugleich) durch andere sprachliche Techniken und Dispositive komplementiert oder (womöglich bereits) zum Teil von ihnen abgelöst wird. Sollte die historia literaria einstmals das sehende Auge der Wissenschaften gewesen sein, so wäre demnach durchaus denkbar, dass sie nunmehr – um 1800 – dieses Auge eingebüßt haben. Die doppelte Frage, auf die zu antworten wäre, würde dann wie folgt lauten: Erstens: Ist die Wissenschaft erblindet? Und zweitens: Ist sie unkenntlich geworden? Dieser doppelten Frage möchte ich im vorliegenden Aufsatz am Beispiel der Publikationspraxis der zeitgenössischen Chemie nachgehen. Zu diesem Zwecke werde ich mich im Anschluss an einige einleitende Bemerkungen zur Tradition der historia literaria (Abschnitt I.) zunächst in einem ersten – und in Anlehnung an eine im ausgehenden 18. Jahrhundert für die narrativen Ausprägungen der Litterärhistorie gebräuchliche Bezeichnung gleichsam unter den Titel Revision gestellten – Ausgriff (Abschnitt II.–V.), dem von Alexander Nicolaus Scherer zwischen 1800 und 1802 herausgegebenen Archiv für die theoretische Chemie zuwenden, das sich allein schon durch die Wahl seines Namens als in der Tradition der historia literaria stehendes Projekt zu erkennen gibt,6 um dann in einem zweiten Ausgriff (Abschnitt VI.–VIII.) mit den in Johann Friedrich August Göttlings Almanach oder Taschenbuch für Scheidekünstler und Apotheker zwischen 1780 und 1803 publizierten – und von diesem als Bemerkungen apostrophierten – chemisch-pharmazeutischen Experimentalberichten das Steuerungspotential eines gänzlich anderen wissenschaftlichen Genres in den Blick zu nehmen,7 das dann in einem abschließenden dritten Ausgriff (Abschnitt IX.) unter sprechaktheoretischen Gesichtspunkten mit der Gattung der litterärhistorischen Erzählung verglichen werden soll. 6 7

Alexander Nicolaus Scherer (Hrsg.) (1800–1802), Archiv für die theoretische Chemie, 2 Bde., 4 Hefte, Jena: Voigt. Johann Friedrich August Göttling (Hrsg.) (1780–1803), Almanach oder Taschenbuch für Scheidekünstler und Apotheker, 24 Bde., Weimar: Hoffmann.

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I. Was im 17. und 18. Jahrhundert als historia literaria oder Litterärhistorie bezeichnet worden ist und sich folglich häufig auch durch die überkommene Bibliothekssignatur hist. lit. als solche zu erkennen gibt, ist vielgestaltig: Zu ihr zählen weitgehend unkommentierte bibliographische Werke zu bestimmten Themenbereichen ebenso wie einführende Kompendien in Einzeldisziplinen, große Überblicke über die Gesamtheit menschlichen Wissens in der Tradition der Polyhistorie im gleichen Maße wie Zeitschriftenliteratur – jedenfalls dann, wenn sie wie Friedrich Nicolais (Neue) Allgemeine Deutsche Bibliothek (1765–1806) oder die zunächst in Jena, später in Halle herausgegebene Allgemeine Literatur-Zeitung (1785–1849) vorwiegend die Funktion eines Referateorgans erfüllen.8 Diese Vielgestaltigkeit allerdings lässt sich, vereinfacht und im Sinne einer ersten Annäherung gesagt, darauf zurückführen, dass die Funktion der historia literaria stets eine doppelte gewesen ist. Im Sinne von historia als ‚Nachricht‘ oder ‚Kenntnis‘ erfüllt sie die Funktion von accessus ad auctores und Bibliographie, indem sie Suchpfade in die Bibliothek weist oder Neuigkeiten vom Buchmarkt mit sich bringt. Im Sinne von historia als ‚Geschichtsschreibung‘ versucht sie die Entwicklung eines Wissensbereiches nach dem Schema „Ursprung und Fortgang der Wissenschaften“ oder, um Francis Bacons ausführlichere Abfolge zu zitieren, antiquitates, progressus, etiam peragrationes per diversas orbis partes (migrant enim scientiae, non secus ac populi), rursus declinationes, obliviones et instaurationes scientiarum zu erzählen.9 Dabei mag einmal die bibliographische, mal die historiographische Komponente dominieren – oder aber beide liegen gleich auf. Auch ist es nicht ungewöhnlich, wenn die bibliographische Funktion sich der Historiographie als Ordnungsmuster bedient. Außerdem überwiegt mal eher das Interesse für die Ursprünge, mal (und zusehends) eher für den Fortgang. Welche spezifische Form und Gestalt diese litterärhistorischen Unternehmungen aber auch jeweils konkret annehmen mögen: Allen gemeinsam scheint im Sinne der Metapher vom ‚Auge der Wissenschaften‘ letztlich die Absicht zu sein, eine (genauere) Orientierung im Universum des Wissens und seinen einzelnen Sphären zu ermöglichen und unter möglichster Berücksichtigung von omnia quae ad statum literarum spectant10 eine Einteilung ihrer unendlichen Weiten gemäß dem Kriterium 8

Eine ausführliche Studie zur Allgemeinen Deutschen Bibliothek bietet Ute Schneider (1995), Friedrich Nicolais Allgemeine Deutsche Bibliothek als Integrationsmedium der Gelehrtenrepublik, Wiesbaden: Harrassowitz. Die Allgemeine Literatur-Zeitung findet sich umfassend behandelt in dem Sammelband von Stefan Matuschek (Hrsg.) (2004), Organisation der Kritik. Die Allgemeine Literatur-Zeitung in Jena (1785–1803), Heidelberg: Winter und in der Monographie von Mark Napierala (2007), Archive der Kritik. Die Allgemeine Literatur-Zeitung und das Athenaeum, Heidelberg: Winter. Dabei ordnet Napierala die ALZ besonders nachdrücklich in den Traditionszusammenhang der historia literaria ein. 9 Bacon (1857a), a.a.O., S. 503: „die Anfänge der Wissenschaften im Altertum, ihr Fortschreiten ebenso wie ihre Wanderungen durch die verschiedenen Weltteile (denn auch die Wissenschaften ziehen umher, nicht anders als die Völker), und umgekehrt auch ihr Absinken, ihr der Vergessenheit-Anheimfallen und ihre jeweilige Wiedereinrichtung.“ 10 Ebd.: „alles, was den Zustand der Gelehrsamkeit betrifft“.

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status quo vs. desiderata in bereits hinlänglich bekannte und noch weitgehend unerforschte Sektoren vorzunehmen, die als Entscheidungsgrundlage dafür dienen kann, wohin sich die Wissenschaft in ihrem Forschen künftig wenden soll, und die die historia literaria in diesem Sinne zu einer Instanz zur Steuerung von Forschungsprozessen macht.11 Und in der Tat (und gleichsam in einer zweiten Annäherung): Wer sich nicht auf die sinnfällige Evidenz des Gleichnisses vom Auge des Polyphems verlassen wollte, der konnte bei Bacon selbst ebendiese Funktionsbestimmung der historia literaria als Steuerungsinstanz auch in expliziter Form und gleichsam schwarz auf weiß lesen. Denn nachdem er vorsichtshalber darauf hingewiesen hat, dass der Zweck der historia literaria weder in überbordender Lobhudelei noch in detailverliebter Sammelwut zu suchen ist,12 beschreibt er ihre eigentliche Funktion – die folglich ‚sehr viel ernsthafteren und gewichtigeren Gründen‘ als den zuvor genannten genügt – wie folgt: Ea [i.e. historiae literarum conficiendi causa magis seria et gravis] est (ut verbo dicamus) quoniam per talem qualem descripsimus narrationem, ad virorum doctorum in doctrinae usu et administratione prudentiam et solertiam maximam accessionem fieri posse existimamus; et rerum intellectualium non minus quam civilium motus et perturbationes, vitiaque et virtutes, notari posse; et regimen inde optimum educi et institui. […] Casum enim omnino recipit et temeriati exponitur, quod exemplis et memoria rerum non fulcitur.13

Ohne Frage sind in dieser Passage mit administratio und regimen zwei zentrale Schlüsselwörter aufgerufen, die summarisch auf Konzepte wie die der ‚Leitung‘, 11

Die Funktion der historia literaria als Mechanismus zur Etablierung der Differenz zwischen status quo und desiderata betont insbesondere Herbert Jaumann, der sie mit Blick auf Bacons Konzeption als „Organon der Selbstbeschreibung und Selbstreflexion einer Forschungsdisziplin auf das je Geleistete und das noch zu Leistende“ bezeichnet, sowie Helmut Zedelmaier, der unter Bezug auf Bacon, Leibniz und Wolff (weniger jedoch mit Blick auf die an deutschen Universitäten des 17. Jahrhunderts übliche Lehrpraxis der Litterärgeschichte) insbesondere ihre Rolle für die „Bestandsaufnahme und Revision des Wissens“ und die Ausweisung von „Forschungsdesiderate[n]“ hervorhebt. Vgl. Herbert Jaumann (2007), Historia literaria und Formen gelehrter Sammlungen, diesseits und jenseits von Periodizität. Eine Reihe von Überlegungen, in: Grunert & Vollhardt (Hrsg.) (2007), a.a.O., S. 103–111, hier: S. 103; Helmut Zedelmaier (2007), Zwischen Fortschrittsgeschichte und Erfindungskunst. Gottfried Wilhelm Leibniz und Christian Wolff über Historia literaria, in: Grunert & Vollhardt (Hrsg.) (2007), a.a.O., S. 89–99, hier. S. 90 und S. 92. 12 Bacon (1857a), a.a.O., S. 504: [Historia literarum] non [scribenda est] ut honor literarum et pompa per tot circumfusas imagines celebretur; nec quia, pro flagrantissimo quo literas prosequimur amore, omnia quae ad earum statum quoquo modo pertinent usque ad curiositatem inquirere et scire et conservare avemus. „[Eine Geschichte der Gelehrsamkeit schreibt man] weder, um Ruhm und Gepränge der Gelehrsamkeit durch eine Vielzahl überschäumender Bilder zu verherrlichen, noch deshalb, weil man der leidenschaftlichen Liebe wegen, mit der man der Gelehrsamkeit nachgeht, alles, was auch nur von Ferne ihre Verfassung angeht, bis hin zur blanken Neugier zu erforschen, zu wissen und zu bewahren begehrt.“ 13 Ebd.: „Und dieser [sehr viel ernstere und gewichtigere Grund dafür, eine Geschichte der Gelehrsamkeit zu schreiben] liegt, um es auf den Punkt zu bringen, meiner Einschätzung nach eben darin, dass der Klugheit und Geschicklichkeit der Gelehrten beim Gebrauch und bei der

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der ‚Lenkung‘ oder der ‚Steuerung‘ verweisen. Bereits auf den ersten Blick fällt allerdings auf, dass administratio eher den operativen Aspekt der Leitung und Lenkung und Steuerung bezeichnet, während regimen eher die feste Einrichtung und Verfassung eines Regimes oder einer Regierung betont. Schaut man genauer hin, so zeigt sich, dass darüber hinaus auch keineswegs ganz klar ist, worauf diese Operationen der Lenkung, Leitung oder Steuerung sich eigentlich genau beziehen sollen. Genau genommen lässt die Passage nämlich drei unterschiedliche Lesarten bezüglich der Frage zu, was hier genau gelenkt und auf welche Art genau es jeweils gelenkt werden soll: Zum einen lässt sich eine eher forschungspragmatisch orientierte Lesart, zum anderen eine eher wissenschaftsethisch orientierte Lesart und schließlich eine gewissermaßen wissenschaftspolitisch motivierte Lesart erkennen. Dabei macht sich die eher forschungspragmatisch ausgerichtete Lesart insbesondere an der Fügung in doctrinae usu et administratione prudentia et solertia und damit an der ‚Klugheit und Geschicklichkeit im Gebrauch und in der Leitung (oder Verwaltung) der Wissenschaft (oder der Wissensinhalte)‘ fest und findet ihren stärksten Ausdruck zweifellos in der Vokabel solertia (‚Geschicklichkeit‘) – während der Terminus prudentia (‚Klugheit‘) je nach Kontext sowohl eine pragmatische als auch eine ethische, in jedem Fall aber eine (im Sinne von ἕξις) stark habituelle Färbung annehmen kann. Zugleich spiegelt sich diese forschungspragmatische Ausrichtung auf die Sache (‚ad rem‘) auch in dem abschließenden Nachsatz der Passage, nach dem casum enim omnino recipit et temeritati exponitur, quod exemplis et memoria rerum non fulcitur, wo sie ihr negatives Gegenbild gleichsam im Ausdruck casus (dem ‚Zufall‘ oder den ‚Wechselfällen‘) findet. Unter Bacons eigenen Schriften dürften dabei für diese Dimension aufgrund der in ihnen vermittels formelartig wiederkehrender Formulierungen vom Typus ‚to find, note, report, affirm as deficient or wanting‘ bzw. ‚inter desiderata omissave collocare, numerare, referre vel reponere‘ jeweils etablierten Differenz zwischen knowledge extant und knowledge deficient bzw. scientia reliqua und scientia desiderata zweifellos Of the Proficience and Advancement of Learning und De dignitate et augmentis scientiarum selbst am ehesten als Vorbild eingestanden haben.14 Die eher wissenschaftsethisch ausgerichtete Lesart wiederum deutet sich vor allem in der Formulierung rerum intellectualium […] vitia […] et virtutes notari an, durch die Bacon dazu aufruft, die ‚Laster und Tugenden in den Angelegenheiten des Geistes‘ anzumerken – wenngleich sich die Junktur vitia et virtutes sicher bis zu

13 Lenkung der Gelehrsamkeit eben genau kraft einer Erzählung von der von mir beschriebenen Art ein ungeheurer Zuwachs zu Teil werden kann, und dass die Umwälzungen und Wirrungen und Laster und Tugenden in den geistigen nicht anders als in den politischen Angelegenheiten aufgezeichnet werden können, um daraus schließlich die beste Art der Regierung abzuleiten und einzurichten. […] Bloßen Wechselfällen nämlich ist alles ausgesetzt und der Unbesonnenheit unterworfen, was nicht durch Beispiele und die Erinnerung an das Geschehene gestützt wird.“ 14 Vgl. für Formulierungen diesen Typus z.B. Francis Bacon (1859b), a.a.O., S. 374, S. 329, S. 349 bzw. S. 330 und Bacon (1857a), a.a.O., S. 732, S. 547, S. 521, S. 556 bzw. 725.

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einem gewissen Grade auch neutraler als ‚Fehler und Vorzüge‘ verstehen lässt.15 In dem abschließenden Nachsatz der Passage, wonach ‚bloßen Wechselfällen ausgesetzt und der Unbesonnenheit (oder der Tollkühnheit) unterworfen ist, was nicht durch Beispiele und die Erinnerung an das Geschehene gestützt wird‘, wiederum korrespondiert dieser wissenschaftsethischen Ausrichtung auf den Menschen (‚ad hominem‘) als Negativfolie der Begriff der ‚Unbesonnenheit‘ oder ‚Tollkühnheit‘ (temeritas). In Bacons eigenem Werk ist diese Dimension dabei vor allem durch die Äußerungen im Zusammenhang mit der Idolenlehre vertreten, wie Bacon sie bereits um 1603 in dem Fragment Temporis partus masculus exponiert und – unter besonderer Bezugnahme auf die idola theatri und die idola specus – im Rahmen einer für seine Verhältnisse ungewöhnlich scharfen Abrechnung mit Vorgängern und Zeitgenossen durchexerziert hatte, und im Folgenden – wenn auch in allgemeiner und weniger persönlich gehaltener Form – bis in das 1620 publizierte Novum Organum hinein stets aufs Neue anbringen sollte.16 Die wissenschaftspolitisch ausgerichtete Lesart schließlich, in der die beiden anderen Varianten letzten Endes konvergieren und in der sie – wenn man so sagen darf – in gewissem Grade aufgehoben sind, wird zunächst über die Analogie von res intellectuales und res civiles eingeführt und mündet dann in die Wendung regimen inde optimum educi et institui [posse], durch die der ultimative Endzweck der historia literarum letztlich in dem – wenn man so will ‚ad regiminem‘ (aus-)gerichteten – Auftrag lokalisiert wird, den Wissenschaften eine feste Verfassung zu geben, durch die sich der stets wechselhafte status literarum im Sinne von ‚Zustand‘ gleichsam in einen dauerhaften status literarum im Sinne von ‚Staat‘ verwandeln würde, in dem es im besten Falle womöglich gar nicht mehr einer nach-steuernden ad-hoc-Lenkung ‚ad rem et ad hominem‘ bedürfte, weil ihre Aufgaben stets von einer vor-steuernden Providenz staatlicher Provenienz erfüllt werden – ein Szenario, das der Lordkanzler bekanntlich ausführlich in seinem utopischen Fragment New Atlantis (1627) beschrieben hat.17 Die in diesem Zusammenhang aufgebrachte Rede von den exempla et memoria rerum, ohne die alles ‚bloßen Wechselfällen ausgesetzt und der Unbesonnenheit unterworfen wäre‘, scheint dabei auf den ersten Blick auf das Diktum von der historia magistra vitae zu verweisen, also auf die Vorstellung, dass die Geschichte – und 15 Das zweite in diesem Halbsatz verwendete Begriffspaar motus et perturbationes lässt sich dabei je nach Übersetzung und Interpretation letztlich allen drei Lesarten und Dimensionen der historia literarum gleichermaßen zurechnen: Gibt man es als ‚Umwälzungen und Wirrungen‘ oder gar als ‚Aufruhr und Unordnung‘ wieder, so betont man damit zweifellos die Analogie zwischen Wissenschaften und Politik; überträgt man es als ‚Gemüts- oder Triebkräfte und (ihre) Störungen oder Behinderungen‘, so verweist man hingegen in Parallele zu den ‚Lastern oder Fehlern und Tugenden oder Vorzügen‘ eher auf Fragen der Psychologie und der Persönlichkeit bzw. Probleme der Forschungsökonomie – und damit auf die wissenschaftsethische und forschungspragmatische Dimension. 16 Vgl. Francis Bacon (1857c), Temporis partus masculus, in: Francis Bacon (1857–1874), a.a.O., Bd. 3, S. 523–539; Francis Bacon (1857b), Novum Organum, in: Francis Bacon (1857–1874), a.a.O, Bd. 1, S. 71–365, hier: S. 163–181. 17 Vgl. Francis Bacon (1859a), New Atlantis, in: Francis Bacon (1857–1874), a.a.O., Bd. 3, S. 119–166.

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zwar in erster Linie in Form von (historisch wahren, das heißt nicht erfundenen) Exempla – eine ‚Lehrmeisterin des Lebens‘ sein soll – eine Vorstellung, die sich freilich bis zur Erfindung des „Kollektivsingular[s] der Geschichte“ im 18. Jahrhundert (durch die das Diktum in seiner Bedeutung, wenn nicht außer Kraft gesetzt werden, so doch eine erhebliche Uminterpretation erfahren sollte) für gewöhnlich auf die Darstellung von Handlungen in konkreten Einzelfallkonstellationen, denen man unmittelbar einen positiven oder negativen Vorbildcharakter zusprechen konnte, und eben gerade nicht auf ein abstraktes Ganzes der Geschichte oder einer Epoche zu beziehen pflegte.18 Allerdings lässt sich durchaus bezweifeln, ob diese Vorstellung tatsächlich noch den ausschließlichen oder überwiegenden Sinn dessen trifft, was Bacon vorschwebte. Zwar würde aus diesem Gesichtspunkt heraus unmittelbar einleuchten, warum Bacon für die historia literararum explizit eine narrative oder – vorsichtiger formuliert – eine nach dem Gesichtspunkt der zeitlichen Folge gegliederte Form vorsieht. Das Problem ist nur, dass die Gattung des historischen Exempels in eben dem Abschnitt, in dem Bacon seine Forderung nach einer narrativen bzw. temporalen Ordnung der Geschichte der Gelehrsamkeit aufstellt, selbst eigentlich gar keine Rolle spielt. Stattdessen finden sich dort zwei Anweisungen, die in der Artikulation der Ansprüche, die an eine litterärhistorische Abhandlung in formaler Hinsicht zu stellen sind, einerseits unterhalb der Anforderungen liegen, die an ein historisches Exempel im Sinne der historia magistra vitae zu richten wären, andererseits aber deutlich über diese hinausgehen, und die sich damit tendenziell gegenseitig in der Stoßrichtung und hinsichtlich der zu diesem Zwecke in Anschlag zu bringenden sprachlichen Mittel widersprechen: De modo autem hujusmodi historiae conficiendae, illud inprimis monemus; ut materia et copia ejus non tantum ab historiis et criticis petatur, verum etiam ut per singulas annorum centurias, aut etiam minora intervalla, seriatim (ab ultima antiquitate facto principio) libri praecipui qui per ea temporis spatia conscripti sunt in consilium adhibeantur; ut ex eorum non perlectione (id enim infinitum quiddam esset) sed degustatione, et observatione argumenti, stili, methodi, Genius illius temporis Literarius veluti incantatione quadam a mortuis evocetur.19

18 Siehe hierzu den mittlerweile klassischen Aufsatz von Reinhart Koselleck (1995), Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte, in: Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 3. Aufl., Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 38–66, hier: S. 53. 19 Bacon (1857a), a.a.O., S. 503f.: „Was aber die Art und Weise betrifft, in der man eine Geschichte von dieser Art abfassen sollte, so möchte ich insbesondere dazu raten, ihren Stoff und ihre Fülle nicht einfach bloß aus Historien und Kommentaren zu schöpfen, sondern die wichtigsten Bücher selbst, die in jenem Zeitraum geschrieben wurden, Jahrhundert für Jahrhundert, oder auch in kleineren Abständen, der Reihe nach (indem man vom frühesten Altertum ausgeht) zu Rate zu ziehen, so dass der Geist der Gelehrsamkeit dieser Zeiten, wenn auch nicht auf der Grundlage einer vollständigen Lektüre dieser Bücher (denn das käme einer unendlichen Aufgabe gleich), so aber doch auf der Grundlage ihrer Verkostung und durch die Beobachtung ihrer Gegenstände, ihres Stils und ihrer Methode gleichsam wie durch Zauberei von den Toten herbeigerufen wird.“

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In der Tat scheint Bacon zunächst für die Form der Chronik plädieren zu wollen, wenn er davon spricht, dass in einer Geschichte der Gelehrsamkeit „die wichtigsten Bücher […] Jahrhundert für Jahrhundert, oder auch in kleineren Abständen, der Reihe nach“ dargeboten werden sollen – und es liegt zweifellos nahe, diese Anweisung auf die an den Begriff der administratio gekoppelte forschungspragmatische Funktion der historia literarum zu beziehen, auch wenn man sich durchaus die Frage stellen kann, ob eine rein zeitliche Disposition des litterärhistorischen Materials eigentlich ein geeignetes Medium zur Darstellung eines zwischen reliqua und desiderata differenzierenden und damit quasi per definitionem synchron ausgerichteten Forschungsstands darstellt. Doch auch unabhängig davon, wie man diese Frage, auf die ich im Folgenden noch zurückkommen werde, beantwortet, gibt die zitierte Passage Anlass zu Irritationen. Denn nachdem Bacon sich in einem ersten Halbsatz zunächst klar für eine chronikalische Form ausgesprochen zu haben scheint, beginnt er im nächsten Halbsatz plötzlich ganz andere, um nicht zu sagen höhere, Ansprüche an die Form der historia literarum zu stellen – soll eine Geschichte der Gelehrsamkeit doch so geschrieben werden, dass (mit einer Formulierung, die zuweilen als einer der Erstbelege des Begriffs des ‚Zeitgeists‘ angeführt wird)20 der „Geist der Gelehrsamkeit dieser Zeiten“ höchstselbst in Erscheinung treten kann, und zwar (unter Verwendung eines Vergleichs, den Bacon ansonsten gern bemüht, um kritisch darauf aufmerksam zu machen, dass die Wissenschaften immer noch im Banne der Idole oder der Alten stehen) als ob er „wie durch Zauberei von den Toten herbeigerufen“ worden wäre.21 Dabei wird man davon ausgehen können, dass diese Forderung in Verbindung mit der wissenschaftspolitischen Dimension der historia literarum zu sehen ist, die sich zum Zwecke der ‚Ableitung und Einrichtung‘ (educ[tio] et institu[tio]) eines dauerhaften regimen wohl kaum mit der trockenen Aneinanderreihung von zwar aufeinander folgenden, aber gerade nicht als auseinander folgend dargestellten Ereignissen, wie sie eine Chronik zu bieten pflegt, begnügen kann, sondern auf die Zeichnung von so etwas wie dem (negativ oder positiv zu bewertenden) Gesamtbild einer Epoche und die Darstellung der Handlungen und 20 Vgl. etwa Theo Jung (2012), Zeichen des Verfalls. Semantische Studien zur Entstehung der Kulturkritik im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 98. 21 So heißt es etwa im Zusammenhang mit den idola fori, also der Institution der menschlichen Sprache, in De augmentis scientiarum (Bacon (1857a), a.a.O., S. 646), dass weder „Definitionen“ (definitiones) noch „Fachbegriffe“ (vocabula artium) „verhindern werden, dass das Blend- und Zauberwerk der Wörter seine vielfältigen Verführungskünste spielen lässt und dem Verstand in irgendeiner Form Gewalt antut, und die Wörter ihre Kraft (wie die Bumerang-Pfeilschüsse der Tataren) hinterrücks gegen den Verstand wenden werden, von dem sie ja ursprünglich ihren Ausgang genommen haben“ (attamen haec omnia non sufficiunt, quo minus verborum prestigiae et incantationes plurimis modis seducant, et vim quandam intellectui faciant, et impetum suum (more Tartarorum sagittationis) retro in intellectum (unde profecta sint) retorqueant). Und in einer verwandten Passage im Novum Organum (Bacon (1857b), a.a.O., S. 191), in der sich Bacon allerdings sehr viel eindeutiger negativ besetzter Ausdrücke für die Zauberei bedient, ist zum Beispiel davon die Rede, dass der ‚Zauber‘ oder die ‚Hexerei‘ des Altertums (fascina ista antiquitatis) die Kräfte (virtutem) der Menschen so sehr ‚gefesselt‘ hätten (ligaverint), dass sie sich ‚gleich einem Verhexten‘ (tamquam malificiati) nicht ‚mit den Dingen selbst‘ hätten ‚vertraut machen können‘ (cum rebus ipsis consuescere non potuerint).

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Geschehnisse, die zu ihrem Sosein beigetragen haben, angewiesen ist – so dass also, um es mit Bacons eigenen Worten zu sagen, der genau dies für Civilis Historia decus […], et quasi anima hält, cum eventis causae copulentur.22 Damit dürfte klar sein, dass in der fraglichen Passage eigentlich zwei miteinander unvereinbare Forderungen gestellt werden. Jedenfalls fällt es sehr schwer sich vorzustellen, dass es gerade die Textsorte der Chronik sein soll – eine Form, die erzählerisch so schlicht ist, dass ihr von modernen Erzähltheoretikern und Historiographen des Erzählens der Status als Erzählung im engeren Sinne (mit dem Argument, dass die Organisation eines Textes nach dem Prinzip der zeitlichen Folge als Kriterium zur Definition von Narrativität allein eben nicht hinreiche) zuweilen ganz bestritten worden ist23 –, in deren Medium sich die Erwartungen erfüllen sollen, die sich für Bacon mit der histo22 Bacon (1857a), a.a.O., S. 503: Ante omnia etiam id agi volumus (quod Civilis Historiae decus est, et quasi anima), ut cum eventis causae copulentur. „Vor allem aber möchte ich auch, dass man dabei so vorgeht (was die Zierde der bürgerlichen Geschichte ist, und gleichsam ihre Seele), dass mit den Ereignissen auch ihre Ursachen zusammengeführt werden.“ 23 Diese Tendenz, die Gattung der Chronik zu ihrem Vor- oder Nachteil zu einer Art degré zéro des Erzählens oder der Narrativität zu erklären, zieht sich im Grunde von Aristoteles bis in die moderne Erzähltheorie: Tatsächlich ist sie implizit bereits in der aristotelischen Unterscheidung zwischen Dichtung (ποίησις) und Geschichtsschreibung (ἱστορία) enthalten, der zufolge die letztere bloß von dem handelt, ‚was wirklich geschehen ist‘ (τὰ γενόμενα) und insofern nur das ‚Besondere‘ (τὰ καθ’ ἔκαστον) zum Gegenstand hat, die erstere hingegen von dem handelt, ‚was geschehen könnte‘ (οἷα ἂν γένοιτο) und also das ‚Allgemeine‘ (τὰ καθόλου) zum Gegenstand hat – und deshalb auch Anspruch darauf machen kann, als etwas ‚Philosophischeres und Ernsthafteres‘ (φιλοσοφώτερόν καὶ σπουδαιότερον) zu gelten (vgl. Aristoteles (1982), Poetik. Griechisch-Deutsch, hg. u. übers. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart: Reclam, 1415a37–1415b12, S. 28/29ff.). Denn der Begriff der Dichtung selbst setzt wiederum den Selektivität und Kausalität implizierenden Begriff der ‚Nachahmung einer geschlossenen und ganzen Handlung‘ (τελείας καὶ ὅλης πράξεως μίμησις) voraus, durch den sie als ‚Ganzes‘ (ὅλον) definiert ist, das einen ‚Anfang‘ (ἀρχή), eine ‚Mitte‘ (μέσον) und ein ‚Ende’ (τελευτή) aufweist (ebd., 1450b24–1450b34, S. 24/25), und in der ‚etwas‘ (τάδε) nicht nur ‚nach etwas anderem‘ (μετὰ τάδε) sondern ‚infolge von etwas anderem‘ (διὰ τάδε) geschieht (ebd., 1452a22, S. 34/35) und in der folglich die ‚Episoden‘ (ἐπεισόδια) nicht bloß ‚aufeinander‘ (μετ᾽ ἄλληλα), sondern auch ‚auseinander‘ (δι᾽ ἄλληλα) folgen (ebd., 1451b, S. 32/33), während der Geschichtsschreibung sowohl durch das Definiens ‚was wirklich geschehen ist‘ als auch durch die Erläuterung, dass das durch sie ausgedrückte ‚Besondere‘ in der Darstellung dessen bestehe, ‚was Alkibiades getan hat oder was ihm zugestoßen ist‘ (τί Ἀλκιβιάδης ἔπραξεν ἢ τί ἔπαθεν) sowohl das Merkmal der Selektivität wie der Kausalität letztlich bestritten wird (ebd., 1451b11f, S. 30/31). Damit aber rückt die Geschichtsschreibung im aristotelischen Sinne bereits unübersehbar in die Nähe dessen, was später als Chronik bezeichnet worden ist, und es ist nicht allzu verwunderlich, dass die Auffassung von der Chronik als einer erzählerisch defizitären Gattung terminologisch auch Eingang in die moderne Literaturtheorie gefunden hat. Explizit gilt dies etwa für die Unterscheidung zwischen „Chronik“ (хроника) „Fabel“ (фабула) und „Sujet“ (сюжет) des russischen Formalisten Boris Tomaschewski (1985), Theorie der Literatur. Poetik. Nach dem Text der 6. Auflage (Moskau–Leningrad 1931), hg. v. Klaus-Dieter Seemann, übers. v. Ulrich Werner, Wiesbaden: Harassowitz, S. 214f. Unter der Hand setzt es sich aber auch noch in der von Matías Martínez & Michael Scheffel (2007), Einführung in die Erzähltheorie, 7. Aufl. München: Beck, S. 25 und S. 156 vorgeschlagenen Unterscheidung zwischen „Geschehen“ und „Geschichte“ fort, wenn es von der letzteren heißt, dass in ihr „die Ereignisse nicht nur aufeinander, sondern auch auseinander folgen“ und das erstere explizit als „chronikalisch“ charakteri-

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ria literarum als einer Form verbindet, die sich der Intention nach bereits den historiographischen Darstellungsprinzipien annähert, die sich seit der „Sattelzeit“ an den Begriff der Geschichte als „Kollektivsingular“ knüpfen sollten – eine Form, die unter erzählerischen Gesichtspunkten zweifellos zu den komplexeren Varianten gehört und schließlich, wie bei den strukturgeschichtlichen Arbeiten der AnnalesSchule (die Bacons Vorschlag, auch der naturae regionum ac popularum und, mehr noch, der colendi et exercendi […] institut[orum] – als da wären scholae […], academiae, societates, collegia, ordines – als Faktoren zu gedenken,24 zumindest von Ferne bereits zu präfigurieren scheint), so komplexe Formen angenommen hat, dass ihr Status als Erzählung im engeren Sinne zuweilen von einer erzähltheoretisch interessierten Philosophie bereits wieder in Frage gestellt worden ist.25 23 siert wird. Besonders bemerkenswert ist es freilich, dass solche Gegenüberstellungen auch noch in Arbeiten ihren Platz finden, die es eigentlich auf eine Relativierung der strikten Unterscheidung zwischen Dichtung und Geschichtsschreibung abgesehen haben. Das trifft auch und gerade noch für den Ansatz von Hayden White zu, wenn dieser (zum Teil im Anschluss an Tomaschewski) innerhalb des Geschichtswerks analytisch zwischen den drei Konzeptualisierungsebenen der „Chronik“ (chronicle), der „Fabel“ (story) und der „Handlung“ (plot) unterscheidet, und diese Trichotomie selbst wiederum innerhalb eines Kontinuums zwischen dem ‚historischen Feld‘ und dem, was man vielleicht als ‚explanative Sphäre‘ bezeichnen könnte, verortet. Dabei beschränken sich die Transformationen, die in der „Chronik“ gegenüber dem ‚historischen Feld‘ vorgenommen werden, lediglich auf eine erste Auswahl und Anordnung von Ereignissen in „zeitlicher Reihenfolge“, wohingegen diese Ereignisse in der „Fabel“ bereits in einen (unter Umständen weitere Selektionen notwendig machenden) „Geschehniszusammenhang“ überführt werden, der einen „Anfang“, eine „Mitte“ und einen „Schluss“ erkennen lässt und insofern als „nachvollziehbare Geschichte“ basale Kausalitätsbeziehungen etabliert, die sich schließlich auf der Ebene der „Handlung“ durch die (letztlich den vier master tropes zuzuordnenden) Strategien der „narrative[n] Modellierung“ (emplotment), der „formale[n] Schlussfolgerung“ (formal argument) und der „ideologische[n] Implikation“ (ideological implication) zu einer ihrer Gesamtbedeutung erfassbaren und insofern bereits der ‚explanativen Sphäre‘ nahestehenden „vollständige[n] Geschichte“ fügen (vgl. Hayden White (1991), Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, übers. v. Peter Kohlhaas, Frankfurt/Main: Fischer, S. 19–21). Im Resultat führt diese Konzeptualisierung, in der sich erzählanalytische Begrifflichkeiten mit Gattungsbegrifflichkeiten vermischen, dann paradoxerweise dazu, dass die Chronik zwar als am wenigsten manipulierte Form der historischen Wirklichkeit (gleichsam zu ihrem Vorteil) am nächsten zu stehen scheint, sich daraus aber andererseits keinerlei Kapital schlagen lässt, weil sie als am wenigsten manipulierte Form (gleichsam zu ihrem Nachteil) zugleich auch am wenigsten verständlich ist. 24 Bacon (1857a), a.a.O., S. 503: [V]idelicet ut memorentur naturae regionum ac populorum. „Selbstverständlich soll dabei auch der unterschiedlichen Beschaffenheit der Gegenden und Völker gedacht werden.“ Observetur simul [...] colendi et exercendi ratio et instituta. [...] Notentur [...] scholae [...], academiae, societates, collegia, ordines. „Desgleichen sollen auch […] die Verfahren und Einrichtungen zu ihrer Pflege und Ausübung berücksichtigt werden. […] Auch sollen […] die Schulen […], Universitäten, Kollegien und Orden verzeichnet werden.“ 25 Vgl. Paul Ricœur (1983–1986), Temps et récit, Bd. 1: L’intrigue et le récit historique, Paris: Éditions du Seuil, der im Kapitel L’éclipse de l’événement dans l’historiographie française (Ebd., S. 173–199) den narrativen Charakter von Fernand Braudels La Méditerranée et le monde méditerranéen à l’époque de Philippe II (1949) angesichts des bewussten Verzichts auf menschliche Protagonisten und klar miteinander verknüpfte Ereignisfolgen zunächst (gleich-

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Hinzu kommt, dass diese beiden unterschiedlichen Formen sich auch unterschiedlich gut mit einer anderen von Bacon an die historia literarum gerichteten Forderung vertragen – nämlich der Voraussetzung, dass in einer Geschichte der Gelehrsamkeit alles „ganz sachlich“ (plane historice), ohne „in Lob und Tadel“ (in laude et censura) zu verfallen und nur, indem man das eigene „Urteil“ (iudicium) sehr sparsam einfließen lässt, berichtet werden soll – also kurz gesagt, dass man sich bei ihrer Abfassung vom Prinzip der Unvoreingenommenheit und Unparteilichkeit leiten lassen soll: At haec omnia ita tractari praecipimus, ut non criticorum more in laude et censura tempus teratur; sed plane historice res ipsae narrentur, judicium parcius interponatur.26

Ohne Frage lässt sich dieser Imperativ zur sachlichen und unparteiischen Berichterstattung relativ leicht mit einer chronikalischen Form vereinbaren, in der in erster Linie entsprechende Buchtitel in chronologischer Folge aufgeführt und gegebenenfalls durch kurze Inhaltsangaben ergänzt werden – jedenfalls solange man sich dabei im Wesentlichen darauf beschränkt, in der Welt des Wissens den Unterschied zwischen bereits beackerten Feldern und noch unberührtem Terrain hervortreten zu lassen und weitgehend darauf verzichtet, einzelne Wissensinhalte als wahr oder falsch bzw. aktuell oder obsolet zu deklarieren. Deutlich schwieriger dürfte es hingegen sein, sich diesem Imperativ in all denjenigen Darstellungsweisen zu beugen, die sich mehr oder weniger der Form des Kollektivsingulars Geschichte nähern. Denn entweder gilt es in diesem Zusammenhang, die Grenzen des plane historice (narrare) zugunsten einer mit gewissen Lizenzen zur poetischen Eigendynamik ausgestatteten historia literarum zu überschreiten, um ein lebendiges Bild des von den Toten wiederauferweckten Geistes der Gelehrsamkeit vergangener Zeiten zeichnen zu können, oder es gilt, über die Grenzen des plane historice (wenn auch nicht notwendig über die Schranken des ‚sine laude et censura‘) hinauszugehen, um den stärker theoretischen oder szientifischen Ansprüchen Genüge zu tun, die sich in dem Ziel der ‚eductio et institutio‘ einer künftigen Verfassung der Wissenschaften und in der Forderung nach einer ‚cum eventis causarum copulatio‘ andeutet, indem auf die eine oder andere Weise kausale Verbindungen zwischen Ereignissen etabliert bzw. insinuiert werden – sei es auf dem Wege der willkürlich eingeschalteten diskursiven Begründung, sei es auf dem Wege des Sich-Verlassens auf das sich im Medium des

25 sam mit und zugleich contra Braudel) in Frage stellt, um den Typus der strukturgeschichtlichen Darstellung schließlich im Kapitel L’intentionnalité historique (Ebd., S. 311–396), unter Einführung des Begriffs der „quasi-personnage“ und des „quasi-événements“ sowie des aus ihrer Kombination resultierenden Konzepts der „quasi-intrigue“ (Ebd., S. 320f.) in indirekter Form (und gleichsam gegen und zugleich pro Braudel) für das Reich der Erzählungen als „synthèse[s] de l’hétérogène“ (Ebd., S. 10) wiederzugewinnen. 26 Bacon (1857), a.a.O., S. 503. „Allerdings muss ich darauf bestehen, all dies nicht etwa so zu behandeln, dass man nach Art der Kritiker seine Zeit mit Lob und Tadel vergeudet, sondern so, dass man die Ereignisse selbst ganz sachlich berichtet und das eigene Urteil nur sehr sparsam einschaltet.“

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Erzählens unwillkürlich einstellenden Eindrucks eines post hoc propter hoc, oder sei es durch eine Kombination von beidem. Gänzlich inkompatibel dürfte der Imperativ zu sachlicher und unparteiischer Berichterstattung schließlich mit der Form des historischen Exempels sein. Denn ein Exempel ohne Beimischung von „Lob und Tadel“ stellt im Grunde eine contradictio in adiecto dar – handelt es sich hier doch gewissermaßen um eine geradezu intrinsisch urteilende Gattung. Zumindest aber ist nicht vorstellbar, dass ein Exempel nicht auf die eine oder andere Art und Weise mit bestimmten erzählerischen Mitteln arbeitet, durch die deutlich wird, welches Urteil sein Verfasser in letzter Instanz über das von ihm Berichtete und die Handlungen seiner Protagonisten fällt – soll doch der Leser aus ihm im Sinne der Idee von einer historia magistra vitae unmittelbar die Aufforderung oder die Empfehlung zur Nachahmung bzw. Vermeidung der geschilderten Handlungen im Allgemeinen oder unter vergleichbaren Umständen herauslesen können. Insgesamt wird man wohl davon ausgehen können, dass sich im Zuge der weiteren Entwicklung der historia literaria Textbeispiele finden lassen, die jeweils eine der drei bei Bacon nachweisbaren Lesarten der Gestalt (als ‚Chronik‘, als ‚Exempel(sammlung)‘, als ‚Geschichte‘ im Sinne des Kollektivsingulars) und/oder der Zielsetzung (der forschungspragmatischen, der wissenschaftsethischen, der wissenschaftspolitischen) nach gleichsam in Reinkultur verkörpern – oder doch wenigstens Instanziierungen, in denen eine der drei Alternativen der Form bzw. der Funktion nach klar dominiert. Häufiger aber werden in jedem Falle die Beispiele sein, in denen die drei Gestaltungsprinzipien bzw. einzelne ihrer Aspekte in irgendeiner Form miteinander kombiniert werden. Das bedeutet in der Konsequenz, dass die litterärhistorische Erzählung Wege finden muss, eine ganze Reihe von tendenziell widersprüchlichen Anforderungen miteinander zu vereinbaren und dieses Nebeneinander des Gegensätzlichen zu invisibilisieren. Schließlich soll sie zum einen als ‚Chronik‘ plane historice berichten und sich jeden Urteils enthalten, ist umgekehrt aber als ‚Exempel‘ dazu verpflichtet, eben gerade nicht bloß historice Bericht zu erstatten, sondern auch critice ein Urteil abzugeben – und selbst wenn es vielleicht nicht völlig unmöglich sein sollte, beides zugleich und dennoch in strikter Trennung voneinander zu tun, so wird sich ein solches Unterfangen doch in jedem Fall ausgesprochen schwierig gestalten. Zum anderen ist sie als ‚Chronik‘ eigentlich gehalten, ausschließlich davon Zeugnis abzulegen, wie das eine Ereignis auf das andere folgt, während ihr die Form als ‚Geschichte‘ im Sinne eines Kollektivsingulars gerade abverlangt, diese zeitliche Aufeinanderfolge in eine kausale Auseinanderfolge zu transformieren. Und anders als im Falle des ‚Exempels‘, auf dessen wissenschaftsethischen Lehrgehalte sie im Zweifel einfach beschließen könnte zu verzichten, kann sie eines Mindestmaßes an (wenn auch nicht unbedingt im engeren Sinne kausaler) Verknüpfung zwischen den einzelnen Ereignissen nicht gänzlich entbehren – jedenfalls dann nicht, wenn sie die ihr aufgetragene forschungspragmatische Funktion nicht gänzlich aus dem Auge verlieren will. Will sie nämlich die darin implizierte Aufgabe erfüllen, einen Forschungsstand im Sinne der Unterscheidung zwischen bereits beackerten Feldern und noch unberührtem Terrain ohne Rekurs auf explizite systematische Kriterien – jene partitio disciplinarum, die De augmentis scientiarum zwar selbst in großem Stile darbietet, jedoch bemerkenswerterweise an keiner ein-

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zigen Stelle als notwendige Voraussetzung (auch) der historia literarum benennt27 – abzubilden, so muss sie die in zeitlicher Folge als litterärhistorische Elementarereignisse präsentierten Publikationen zumindest soweit mit wechselseitigen Bezügen ausstatten, dass die Suggestion eines homogenen Raums entsteht, der sich sukzessive mit mehr oder minder benachbarten Bausteinen des Wissens füllt und in deren verbleibenden Zwischenräumen dann die Lücken und Desiderate offenbar werden. Und will sie darüber hinaus einen Forschungsstand im Sinne der Differenz zwischen bereits überholtem und nach wie vor in Geltung stehendem Wissen etablieren, so muss sie neben solchen Bezügen, die auf die Darstellung von Kontiguitätsbeziehungen zielen, zugleich auch für Verknüpfungen sorgen, durch die Verhältnisse des zeitlichen vorher und nachher fallweise in Verhältnisse eines anstelle von – und damit Folgebeziehungen in Substitutionsbeziehungen – überführt werden. Entscheidet sie sich schließlich, eher dem Auftrag zum Schreiben von ‚Geschichte‘ als dem Gebot zur Wahrung der Form der ‚Chronik‘ und dem darin implizierten Imperativ zur lebhaften Darstellung des wissenschaftlichen Zeitgeistes und/oder dem Nachzeichnen eines Prozesses der Wissensentwicklung durch die Knüpfung kausaler Bande zwischen Ereignissen im engeren Sinne Genüge zu tun, wird sich ihr darüber hinaus auch die Frage nach den Akteuren oder Subjekten stellen, denen sie die von ihr dargestellten Zustände und Entwicklungen durchgängig oder überwiegend zurechnen kann. Grundsätzlich kommen dafür sowohl konkrete natürliche Personen – also in erster Linie Gelehrte und Wissenschaftler – als auch nicht-natürliche Personen – also in erster Linie Institutionen – in Frage. Darüber hinaus stellt allerdings auch der Rückgriff auf abstrakte, im weitesten Sinne ‚über-natürliche‘, Entitäten oder Prinzipien wie ‚Gott‘ und ‚Vorsehung‘, ‚Geschichte‘ oder ‚System‘, ‚Geist‘ oder ‚Natur‘ (im Sinne einer natura naturans) oder – schlicht – ‚Wahrheit‘ als Subjekte dieser Entwicklungen stets eine Option dar. Wo dabei natürliche Personen als Akteure im Vordergrund stehen, liegt es zweifellos stets nahe, ihre Funktion als Zurechnungsadressen von Kausalität im Sinne von ‚Geschichte‘ mit der Funktion moralischer Belehrung im Sinne des ‚Exempels‘ zu kombinieren – wodurch sie aufgrund der Orientierung an und Ausrichtung auf eine (scheinbar) unmittelbare Lebenswirklichkeit fraglos gleichzeitig an erzählerischer Plausibilität oder followability und praktischer Umsetzbarkeit gewinnt, zugleich allerdings den Preis der Ver-

27 Insofern kann man sich nicht des Verdachts erwehren, dass überall dort, wo sich litterärhistorische Schriften in der Folge unter Berufung auf Bacon eine systematische Form gegeben haben, De augmentis scientiarum für eine Instanziierung der historia literarum gehalten worden ist, obgleich wortwörtlich genommen nichts in dieser Schrift darauf hindeutet, dass sie sich selbst für ein Beispiel derselben gehalten hat. Im Übrigen zeigt sich auch die aktuelle Forschungsliteratur von dieser widersprüchlichen Ausgangskonstellation irritiert: So erkennen Jaumann (2007), a.a.O., S. 103 und Zedelmaier (2007), a.a.O., S. 92 etwa in Bacons Programm der historia literarum in der Tat einen systematischen Anspruch, während Syndikus, a.a.O., S. 12 und S. 18 umgekehrt Bacons Überlegungen eher in der Traditionslinie von chronologisierend-chronikalischen Praktiken sieht.

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einfachung gemäß dem Schema gut/böse und vergleichbaren Dichotomien zu zahlen hat.28 Wo abstrakte Entitäten oder Prinzipien ins Spiel gebracht werden, kann dies fallweise zur formelhaften Sistierung vereinzelt auftretender Fragen nach der Kontingenz der Ereignisfolgen geschehen – ein erzählerisch vergleichsweise leicht zu bewerkstelligender Kunstgriff, der freilich im Zweifel auch ebenso leicht als bloße ad-hoc-Berufung zu durchschauen ist – oder aber von vorneherein als durchlaufendes Gestaltungsprinzip der Erzählung eingeplant sein – ein erzählerisch deutlich anspruchsvolleres Verfahren (wie es etwa in der sich im ausgehenden 18. Jahrhundert als eine Art spin off der historia literaria ausdifferenzierenden Literaturgeschichtsschreibung zum Einsatz gekommen ist), das allerdings auch nicht vor dem Eindruck allzu großer Schematizität gefeit ist.29 Für gewöhnlich werden auf die eine oder andere Art und Weise sowohl konkrete Personen als auch abstrakte Entitäten ihren Platz in einer solchen Erzählung finden, sei es, dass Personen bewusst und systematisch als Verkörperungen oder Agenten übergeordneter Prinzipien und ihr Handeln als Ausdruck ihres Wirkens dargestellt werden, oder sei es, dass den Handlungen konkreter Personen an ausgewiesenen Stellen (und gleichsam, wenn es besonders darauf ankommt) durch den Verweis auf ihr Ineinklangstehen mit höheren Prinzipien zusätzliche Legitimität verschafft wird – freilich, wie sich im weiteren Verlauf des vorliegenden Aufsatzes zeigen wird, stets auf die Gefahr hin, dass dort, wo sich der Versuch, eine wie immer rudimentäre ‚Geschichte‘ zu schreiben, mit der Aufgabenstellung, in irgendeiner Form positive oder negative ‚Exempel‘ aufzustellen, verbindet, der Darstellungscharakter des einen mit dem Appellcharakter des anderen kollidiert, oder, in sprechakttheoretischem Vokabular gesprochen, die kons-

28 Den Begriff der followability verwende ich in Anlehnung an Walter B. Gallie (2001), Narrative and Historical Understanding, in: Geoffrey Roberts (Hrsg.), The History and Narrative Reader, London: Routledge, S. 40–51. Vgl. auch die Diskussion bei Ricœur (1983–1986), a.a.O., Bd. 1, S. 265–276. Im Übrigen wird man davon ausgehen können, dass das Empfinden von Nähe zu einer ‚unmittelbaren Lebenswirklichkeit‘ sich selbst zu einem guten Teil der Vertrautheit mit den einfachen Erzählschemata von Alltagserzählungen verdankt. 29 Den genealogischen Zusammenhang, aber auch den epistemologischen Bruch, zwischen der hergebrachten (gelehrten) Litterärhistorie als Praxis der Verzeichnung von Literatur im Sinne von Schrifttum und der modernen (hermeneutischen) Literaturgeschichte, die sich auf Literatur im emphatischen Sinne von Dichtung richtet und dadurch allererst als eigenständigen Gegenstand konstituiert, hat vor allem Klaus Weimar (2002), Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, München: Fink, S. 107–148 und S. 257–348 betont, dessen Analyse sich im Übrigen indirekt auch einige der oben angestellten Überlegungen zu den ‚Akteuren‘ oder ‚Subjekten‘ der historia literaria verdanken – heißt es doch bei Weimar im Kontext von Friedrich Schlegels ersten Gehversuchen auf dem neuen Terrain der Literaturgeschichte: „Gesucht wurde demnach das Subjekt, das der Literaturgeschichte neuen Stils Zusammenhang geben könnte.“ (Ebd., S. 258). Dass Weimars Formulierung selbst wiederum terminologisch auf Hegel zurück- und damit vom historischen Ort der historia literaria aus über ihre Umschreibung zur Literaturgeschichte durch Schlegel auf Hegel vorausweist, dürfte klar sein.

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tative Ausrichtung der einen in einen Widerspruch mit der performativen Ausrichtung des anderen eintritt.30 Natürlich – so wäre an dieser Stelle zu ergänzen – ist die historia literaria in der Folge unter mehr oder weniger bewusster bzw. reflektierter Ignorierung des Baconschen role models nicht selten auch ganz vom Imperativ zur chronologischen Anordnung und des Erzählens abgewichen. Dabei dürfte überall dort, wo bibliographische Notwendigkeiten und das forschungspragmatische Bedürfnis nach der Abbildung eines Forschungsstandes, auf dessen Basis dann über die nächsten Schritte entschieden werden konnte, im Vordergrund des Interesses standen, im Zweifel eine (mal ad hoc stipulierte, mal stringent aus wohlerwogenen Prinzipien 30 Zur Sprechakttheorie allgemein sei an dieser Stelle angesichts der inzwischen unübersehbar gewordenen Literatur und zahlloser Einführungen nur auf die im Original 1962 und 1969 erschienenen Klassiker der beiden Diskursbegründer verwiesen: John L. Austin (1972), Zur Theorie der Sprechakte (How to do Things with Words), hg. u. übers. v. Eike von Savigny, Stuttgart: Reclam; John R. Searle (1971), Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay, übers. v. Renate & Rolf Wiggershaus, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Die Unterscheidung zwischen konstativen und performativen Sprechakten stammt von Austin, der sie allerdings im weiteren Verlauf von How to do Things with Words in gewisser Hinsicht wieder zurücknimmt – mit dem kuriosen Effekt, dass diese Rücknahme ihm aufgrund der Bereitschaft, die selbst aufgestellten Unterscheidungen wieder kollabieren zu lassen, einerseits einen gewissen Respekt im Kontext des Poststrukturalismus (wo die Dichotomie in der Folge nichtsdestotrotz zur gängigem Münze geworden ist) gesichert hat, während sie der analytischen Philosophie selbst zum Ansporn geworden ist, die tentativ an ihre Stelle gesetzte Differenzierung zwischen verdiktiven, exerzitiven, kommissiven, konduktiven und expositiven Sprechakten in eine strenge Taxonomie im Ruche zeitresistenter Lückenlosigkeit und Überschneidungsfreiheit zu überführen, die die Ausgangsopposition in konstative Repräsentativa auf der einen und performativen Direktiva, Kommissiva, Expressiva und Deklarativa auf der anderen Seite auseinanderlegt. Eine Reihe zentraler philosophischer Grundprobleme der Sprechakttheorie ist durch die sogenannte Derrida-Searle-Debatte zur Sprache kommen, die im Kern auf die Publikation von Jacques Derridas Text Signature, événement, contexte im Jahre 1972 und John Searles Erwiderung in dem Essay Reiterating the Differences aus dem Jahre 1977 zurückgeht, und für die Seite der Dekonstruktion dokumentiert ist in Jacques Derrida (1990), Limited Inc., hg. v. Elisabeth Weber, Paris: Galilée. Trotz seines philosophischen Gewichts ist der Streit in weiten Teilen allerdings ziemlich polemisch geführt worden und wirkt deshalb nicht selten so, als wäre es den Kontrahenten in erster Linie darum gegangen, sich gegenseitig die philosophische Satisfaktionsfähigkeit zu bestreiten. Leider kann man sich auch des Eindrucks nicht erwehren, dass es auch heutigen Vertretern der beiden Positionen nach wie vor an Willen zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit den Positionen des jeweils anderen fehlt. Das ist umso bedauerlicher, als die Sprechakttheorie als solche durch das eingehende Überdenken der seinerzeit in der Debatte aufgeworfenen Fragen nach der Rolle des Subjekts, der Konventionalität und der Interpretation bei etwas mehr Toleranz für das Begehren nach grundlegenden Taxonomien hüben und ein wenig mehr Duldsamkeit in Bezug auf das Begehren nach ihrer grundstürzenden Hinterfragung drüben durchaus hätte profitieren können. So bleibt es für gewöhnlich bei Aussagen, die zu bedenken geben, dass alle konstativen Sprechakte ja irgendwie stets auch schon performative Sprechakte seien auf der einen Seite, nur um auf der anderen Seite durch den Verweis auf die (darin gerade bestrittene) Unterscheidung zwischen Sprache und Metasprache gekontert zu werden – anstatt diese Unterscheidungen als prinzipiell mögliche, aber zugleich auch prinzipiell labile anzusetzen und vor diesem Hintergrund (sei es in diachroner oder sei es synchroner Perspektivierung) zwischen Institutionen (ein Ausdruck, der übrigens interessanterweise im

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abgeleitete) systematische Ordnung die Alternative der Wahl gewesen sein.31 Zugleich sind die existierenden Formen der historia literaria unter dem Druck exponentiell anwachsender Buchproduktion und im Zuge zunehmender Temporalisierung des Wissens (und zugleich als einer ihrer Katalysatoren) sukzessiv durch periodisch erscheinende, auf beständige Aktualität bedachte und gleichsam mit der Entwicklung des Wissens mitwandernde Varianten ergänzt worden, die sich dann im Medium ihrer Buch-Referate und -Rezensionen tendenziell eher der descriptio als der narratio als dominierenden Darstellungsmodus’ bedient haben.32 Gleichwohl hat man sich offenkundig auch um 1800 nicht allein auf die orientierende Kraft eines stets auf dem neuesten Stand befindlichen (und der Intention nach auf Vollständigkeit ausgehenden) Rezensionswesens verlassen wollen. Das zeigt nicht zuletzt das Beispiel der Allgemeinen Literatur-Zeitung, die ihr Korpus an Rezensionen von Neuerscheinungen33 – die neben Sacherwägungen im Übrigen durchaus auch zuweilen moralisierende Argumente bemühen, auch wenn sie grundsätzlich darauf 31 Hintergrund von Texten beider Kontrahenten eine wichtige Rolle spielt) oder Kontexten (wenn denn das Wort in diesem Kontext erlaubt ist), in denen (um nur zwei Extrempunkte eines Kontinuums zu benennen) ihrer strikten Aufrechterhaltung – und damit der Invisibilisierung der grundsätzlichen Möglichkeit ihres Zusammenbruchs – besonders große Bedeutung zukommt, und solchen Institutionen oder Kontexten zu differenzieren, in denen gerade ihr kalkuliertes Zusammenbrechenlassen – und damit die Offenlegung der grundsätzlichen Möglichkeit ihres Kollabierens – zum Prinzip erhoben wird, oder aber, allgemeiner gesprochen, das Universum der Sprechakte nach Konstellationen zu durchforsten, in denen Konventionalität jeweils eine stärkere oder einen schwächere Rolle spielt, in denen der Interpretation von Sprechakten engere oder weitere Grenzen gesetzt sind und/oder in denen die Modalitäten bei der Zurechnung von Sprechakten auf bestimmte Subjekte jeweils größeren oder geringeren Beschränkungen unterworfen sind. Für eine zumindest einigermaßen um Ausgewogenheit bemühte Rekonstruktion der Derrida-Searle-Debatte, die freilich ihre Herkunft aus der sprachwissenschaftlichen Aneignungstradition nicht ganz verhehlen will und kann, vgl. im Übrigen zuletzt Eckard Rolf (2009), Der andere Austin. Zur Rekonstruktion/Dekonstruktion performativer Äußerungen – von Searle über Derrida zu Cavell und darüber hinaus, Bielefeld: Transkript. 31 So bedient sich etwa Carl von Linné in seiner Bibliotheca botanica einer systematischen Ordnung. Albrecht von Haller hingegen bemüht in seinem litterärhistorischen Pendant ein zeitliches Ordnungsschema, das allerdings nach Epochen gegliedert ist, denen (im Sinne unterschiedlicher aufeinander folgender Forschungsparadigmen) zugleich eine gewisse systematische Bedeutung zukommt. Vgl. hierzu Nicolas Robin & Daniel Ulbrich (2007), Botanische Systematizität, botanische Historizität. Die litterärhistorische Gattung der ‚Bibliotheca botanica‘ zwischen philologischer und experimenteller Praxis in Früher Neuzeit und Aufklärung (Konrad Geßner, Carl von Linné, Albrecht von Haller), Vortragsmanuskript für die Tagung Die Disziplinen der Historia literaria vom 18. bis 20. Oktober 2007 des SFB 573 an der LudwigMaximilians-Universität München. 32 Diesem Prozess der ‚Aktualisierung‘ und ‚Periodisierung‘ der historia literaria geht am Beispiel der Allgemeinen Literatur-Zeitung und unter Weiterentwicklung einer Reihe von zentralen Überlegungen Herbert Jaumanns zur Umstellung von „Generizität“ auf „Periodizität“ als produktionsleitenden Kriterien insbesondere Napierala (2007), a.a.O., S. 43–51 nach. Vgl. auch Herbert Jaumann (1995), Critica. Untersuchungen zur Geschichte der Literaturkritik zwischen Quintilian und Thomasius, Leiden u. a.: Brill, S. 267–270. 33 Näheren Aufschluss über die Gattung der Rezension als Kern der Allgemeinen Literatur-Zeitung gibt Astrid Urban (2004), Kunst der Kritik. Die Gattungsgeschichte der Rezension von der Spätaufklärung bis zur Romantik, Heidelberg: Winter, S. 30–69.

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bedacht sind, allzu konkrete Argumentionen ad hominem zu vermeiden – nicht nur in Beziehung zu einem allgemeinen systematischen Ordnungsraster (dessen emblematische Bedeutung für das Gesamtprojekt in der Forschungsliteratur allerdings durchaus kontrovers diskutiert wird)34 gesetzt hat, sondern auch von Zeit zu Zeit durch einzelne Supplementbände mit dem Namen Revision der Literatur ergänzt hat, die neben nachgetragenen Einzelrezensionen vor allem auch litterärgeschichtliche Rückblicke auf die Entwicklung bestimmter Wissensfelder innerhalb eines bestimmten Zeitraums – eben die Revisionen im engeren Sinne, auf die sich der Titel des vorliegenden Aufsatzes als geläufiges Synonym der narrativen Variante der historia literaria um 1800 bezieht – enthielten, und damit offenkundig die Überzeugung zum Ausdruck brachte, dass weder die aktuelle Umschau noch die systematische Überschau hinreiche, um einen souveränen Überblick über das Wissen zu gewinnen, sondern dass diese stets auch durch den Überblick, den die historische Rückschau gewährt, zu komplementieren seien. II. Angesichts der anhaltenden Konjunktur litterärhistorischer Formen und Darstellungsweisen diesseits und jenseits periodischer Publikationsformate im ausgehenden 18. Jahrhundert, dürfte es kaum überraschen, dass sich ihr Einzugsbereich tatsächlich nicht nur auf große und tendenziell auf alle Fächer des Wissens gerichtete Periodika wie die Allgemeine Deutsche Bibliothek und die Allgemeine Literatur-Zeitung beschränkte, sondern sich zusehends auch auf die proliferierende Sphäre kleinerer, einem spezifischen Themen- oder Fachgebiet gewidmete, Zeitschriftenprojekte auszudehnen begonnen hat. Für den Bereich der sich allmählich zwischen (wissenschaftsfähiger) Physik und (handwerklicher) Pharmazie vereigenständigenden Chemie gilt dies etwa für das Archiv für die theoretische Chemie, das der Weimarer Bergrat und spätere Professor für Chemie in Halle, Dorpat und Sankt Petersburg Alexander Nicolaus Scherer (1771–1824) seinem eher empirisch ausgerichteten (Neuen) Allgemeinen Journal der Chemie (1798–1806) zwischen 1800 und 1802 an die Seite zu stellen versucht hat.35 Über den Namen des Periodikums hinaus, in dem 34 Der enzyklopädische Anspruch wird etwa von Horst Schröpfer (1995), „… zum besten der Teutschen Gelehrsamkeit und Literatur …“ Die „Allgemeine Literatur-Zeitung“ im Dienst der Verbreitung der Philosophie Kants, in: Norbert Hinske, Erhard Lange & Horst Schröpfer (Hrsg.), Der Aufbruch in den Kantianismus. Der Frühkantianismus an der Universität Jena von 1785–1800 und seine Vorgeschichte, Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, S. 85–99 betont, während Napierala (2007), a.a.O., S. 62ff. sich mit Blick auf die praktische Bedeutung dieses Anspruchs eher skeptisch zeigt. 35 Für die Biographie Scherers vgl. Susanne Zimmermann & Horst Neuper (2008a), (Art.) Alexander Nicolaus von Scherer, in: Susanne Zimmermann & Horst Neuper (Hrsg.), Professoren & Dozenten der Medizinischen Fakultät Jena und ihre Lehrveranstaltungen 1770–1820, Jena: Jenzig-Verlag, S. 221f. Ein etwas detaillierterer Lebensabriss findet sich bei Anonym (1989a), (Art.) Alexander Nikolaevich Scherer, in: Detlev Jena, Michael Platen & Rüdiger Stolz (Hrsg.) (1989), Chymia Jenensis. Chymisten, Chemisten und Chemiker in Jena, Jena: FriedrichSchiller-Universität, S. 48f. Die Publikation des Archivs für die theoretische Chemie fällt in die

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sich mit dem Ausdruck ‚Archiv‘ – wie schon erwähnt – bereits die litterärhistorische Ausrichtung andeutet,36 macht insbesondere die Vorrede, die Scherer unter dem Titel Veranlassung und Plan zu dieser Zeitschrift an den Anfang des im Jahre 1800 erschienenen ersten Heftes der Zeitschrift gestellt hat, unmissverständlich klar, dass dieses Unternehmen in der Tat in die Tradition der Litterärhistorie einzuordnen ist.37 Alle entscheidenden Schlüsselwörter aus dem Repertoire der Selbstbeschreibungen der historia literaria tauchen entweder selbst auf oder finden ihre entsprechenden Äquivalente. So erkennt Scherer die Funktion seiner Zeitschrift in der Tat darin, das entsprechende Schrifttum „von Zeit zu Zeit übersehen zu können“, um dadurch die „Fortschritte und Lücken im theoretischen Theile der Chemie sichtbar“ werden zu lassen,38 und verweist damit sowohl auf den synoptischen Anspruch litterärhistorischer Darstellungen im Allgemeinen, für den nicht zuletzt schon das Polyphem-Gleichnis einstehen konnte, als auch – spezifischer – auf das forschungspragmatische oder forschungsökonomische Bestreben, einen Forschungsstand abzubilden – mit anderen Worten: das jeweilige Wissenschaftsgebiet in bestellte Felder und unberührtes Terrain zu scheiden, es gemäß der Differenz status quo vs. desiderata zu ordnen. Eine unmittelbare wörtliche Entsprechung für die Formel „Ursprung und Fortgang“ findet sich dagegen zwar in der Vorrede nicht direkt. Doch gibt bereits der erste Beitrag, eine Geschichte der Ausbreitung der neuern Chemie in Teutschland, die ihren Nullpunkt bei den ersten Veröffentlichungen Antoine Laurent de Lavoisiers als dem Begründer eben dieser „neuern oder antiphlogistischen Chemie“ findet, zu erkennen, worin die Suche nach dem „Ursprung“ hier ihr Äquivalent findet.39 Dass es im Anschluss daran um die „Fortschritte und die festere Gründung 35 Zeit von Scherers Wechsel von Weimar, wo er es als chemisches Nachwuchstalent unter Herzog Carl Augusts und Johann Wolfgang von Goethes Förderung bis zum Bergrat gebracht hatte, nach Halle an der Saale, wo er 1800 eine ordentliche Professur für Physik, Chemie und Naturgeschichte annahm, die er allerdings schon im nächsten Jahr wieder aufgab, um Direktor einer Steingutfabrik bei Potsdam zu werden. Der weitere Lebensweg sollte ihn dann mit einem Umweg über die Universität Dorpat schließlich 1804 in der Funktion eines ordentlichen Professors für Chemie und Pharmazie in seine Geburtsstadt Sankt Petersburg zurückführen. Mit der Beziehung zwischen Scherer, Carl August und Goethe befassen sich unter wissenschaftssoziologischen Gesichtspunkten Ronny Tadday & Jan Frercks (2007), Scherer in Weimar. Das Scheitern als außeruniversitärer Chemiker, in: Hellmut Seemann (Hrsg.), Anna Amalia, Carl August und das Ereignis Weimar, Göttingen: Wallstein, S. 344–353. 36 Zum Ausdruck ‚Archiv‘ als Erkennungszeichen litterärhistorischer Formate siehe Napierala (2007), a.a.O., S. 27. Dem Bedeutungsspektrum des Terminus ‚Theoretische Chemie‘ um 1800 widmen sich Jan Frercks & Michael Markert (2007), The Invention of ‚Theoretische Chemie‘: Forms and Uses of German Chemistry Textbooks, 1775–1820, in: Ambix. Journal of the Society for the History of Alchemy and Chemistry, 54:2, S. 146–171. 37 Alexander Nicolaus Scherer (1800d), Veranlassung und Plan zu dieser Zeitschrift [Vorrede], in: Archiv für die theoretische Chemie, 1:1, S. III–VIII. 38 Ebd., S. IV. 39 Alexander Nicolaus Scherer (1800b), Geschichte der Ausbreitung der neuern Chemie [in] Teutschland, in: Archiv für die theoretische Chemie, 1:1, S. 3–34. Das entsprechende Äquivalent für „Ursprung“ in diesem Text lautet „Gründung“ – und findet im Weiteren dann noch einen gewissen Nachhall in der Semantik des ‚Grundlegenden‘: „Ehe wir diese [Geschichte der Ausbreitung der neuern Theorie in Teutschland] entwerfen, wird es nur Eines Rückblicks auf

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des [antiphlogistischen] Systems“ geht, weist die Vorrede denn auch wieder explizit aus.40 Mit der Vorstellung einer Übersicht im Rückblick – also im Wortsinne ihrer Revision – ist dabei zugleich auch die Vorstellung von Objektivation verbunden. In einem Feld, das Scherer vom „heftigsten Streite“ durchzogen sieht, und in dem jederzeit – denn „ununterbrochen ist der Geist des Widerspruchs rege“ – mit der Möglichkeit eines Umschlagens legitimer Refutationsversuche in illegitimen Personen- oder Parteienstreit gerechnet werden muss, wird die Frage nach einer unparteilichen Korrekturinstanz umso dringlicher.41 Und eben diese Funktion ist es denn auch, die Scherer im engeren Sinne durch sein Archiv gewährleistet sehen möchte. Das macht nicht zuletzt der von beredtem Schweigen kündende Satz „Wir wollen es ununtersucht lassen, in wie weit jeder Widerspruch der Wissenschaft Vortheil gewähre“ deutlich,42 den er der Formulierung seines Ansinnens, das Archiv als Forum zu gestalten, durch das es möglich wird, die entsprechenden Publikationen „von Zeit zu Zeit übersehen zu können“, vorausgehen lässt – scheint er damit doch zwischen einem Widerspruch als (Versuch des) Widerlegen(s) im logisch-epistemologischen Sinne und einem Widerspruch als polemischem Sichanlegen im Sinne einer (tunlichst zu vermeidenden) sozialen Praxis zu unterscheiden und die Aufgabe einer litterärhistorischen Übersicht gewissermaßen in der nachträglichen Reduktion des tatsächlich erfolgten (sachgerechten wie polemischen) Widerspruchs auf seine epistemologische Ausprägung zu verorten.43 Genau genommen ist es daher auch nicht einfach das Schrifttum zur „neuern Theorie“ im Allgemeinen, über das im Modus litterärhistorischer Darstellung retrospektiv eine objektivierende Gesamtübersicht hergestellt werden soll. Vielmehr sind Gegenstand der anvisierten Synopse auch und gerade Streitschriften. Ja, nimmt man Scherer, der sich an der fraglichen Stelle mit dem Ausdruck „Verhandlungen dieser Art“ auf eben diesen Typus der Publikation zurückzubeziehen scheint, beim Wort, so sind sie es eigentlich, von denen gesagt wird, dass eine Übersicht über sie dem Wissenschaftler dazu dienen

39 die Gründung der neuen Theorie selbst bedürfen. Lavoisiers erste Schrift, welche seine scharfsinnigen Versuche über die Bildung der Kohlenstoffsäure und über die Absorption der Luft während der Verkalkung erzählt, ist bekanntlich unter dem Titel: Opuscules physiques et chymiques Paris, 1774. 8 in 2 Bänden erschienen. Er entwickelt in derselben schon mit aller Klarheit die zum Brennen und Verkalken nothwendigen Bedingungen, und leitet aus diesen die natürlichen Folgerungen, welche bekanntlich seiner Theorie zum Grunde liegen.“ (Ebd., S. 4). Die Geschichte der Ausbreitung der neuern Chemie in Teutschland selbst wird im Übrigen als Beitrag zu einer eigens vorgesehenen Rubrik mit dem Titel „Geschichte der Ausbreitung der neuen chemischen Theorie“ geführt (Ebd., S. 1). 40 Scherer (1800d), a.a.O., S. VIII. 41 Ebd., S. IV. 42 Ebd. 43 Ob diese (unterlassenen) Überlegungen, „in wie weit jeder Widerspruch der Wissenschaft Vortheil gewähre“ darüber hinaus eine Anspielung auf frühidealistische Formen der Dialektik aus dem benachbarten Jena darstellen, muss hier gleichfalls „ununtersucht“ bleiben. Klar ist nur, dass Scheres „Geist des Widerspruchs“ bei aller (räumlichen) Nähe zu Goethe aus naheliegenden (zeitlichen) Gründen nichts mit Mephistopheles’ Selbstcharakterisierung als „Geist der stets verneint“ aus der Studierzimmerszene im Faust zu tun haben kann.

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könne, sich „mit den Fortschritten und Lücken, die durch sie im theoretischen Theile der Chemie sichtbar werden, vertrauter zu machen.“44 Der Anspruch einer unparteilichen, wenn nicht gar objektivierenden Darstellung spricht sich schließlich auch in der (im Zusammenhang mit einem Aufruf an die Leserschaft des Archivs, sich mit möglichen Einwendungen gegen und Ergänzungen zu den publizierten Beiträgen an der Zeitschrift zu beteiligen) artikulierten Überzeugung „Die Wahrheit gewinnt durch vielseitige Ansicht“ aus,45 durch die über den allgemeinen zeitgenössischen Perspektivismus hinaus ziemlich präzise die – von Rezensionsorganen wie der Allgemeinen Literatur-Zeitung explizit propagierte – Vorstellung aufgerufen sein dürfte, wonach der Umgangston der gelehrten Auseinandersetzung in einem Publikationsunternehmen, für das ein ganzes Kollektiv von Gelehrten und Wissenschaftlern verantwortlich zeichnet, gleichsam von selbst auf das angemessene Maß herabgestimmt wird und folglich dem Ideal der Unparteilichkeit auf diesem Wege am besten Genüge getan werden kann.46 Soweit der theoretische Anspruch des Archivs für die theoretische Chemie. Wie aber sieht es mit seiner praktischen Einlösung aus? Wie erzählt man, wenn man vom „Ursprung und Fortgang“ eines chemischen Systems oder Paradigmas erzählt? Wie und inwieweit gelingt es auf diesem Wege, die „Fortschritte und Lücken im theoretischen Theile der Chemie“ zu markieren und auszuzeichnen? Wie, inwieweit und vor allem in welcher Hinsicht kann man in dieser Form als Auge der Wissenschaft zur Steuerung der Wissenschaften beitragen? Welche Rolle kommt dabei dem Zusammen- und Widerspiel von ‚chronikalischer‘ Grundausrichtung, ‚geschichtlicher‘ Verknüpfung und ‚exemplarischer‘ Pointierung im Spannungsfeld zwischen ‚forschungspragmatischer‘ und ‚wissenschaftsethischer‘ (und in einem weiteren Sinne vielleicht auch ‚wissenschaftspolitischer‘) Dimension zu? Und schließlich: Ist es überhaupt möglich, dabei eine Position jenseits oder oberhalb der Parteien einzunehmen und der Gefahr, selbst in den „heftigsten Streit[.]“ hineinzugeraten oder ihn sogar noch weiter anzufachen, zu entgehen? Diese Fragen möchte ich im Folgenden

44 Ebd. 45 Ebd., S. VI. 46 Zum Ideal der Unparteilichkeit und des „guten Ton[s]“ als Zielvorgabe für die Rezensionen in der Allgemeinen Literatur-Zeitung vgl. Napierala (2007), a.a.O., S. 71–96, bes. S. 92ff. und S. 95f. sowie Stefan Matuschek (2004), Epochenschwelle und prozessuale Verknüpfung. Zur Position der Allgemeinen Literatur-Zeitung zwischen Aufklärung und Frühromantik, in: Matuschek (Hrsg.) (2004), a.a.O., S. 7–21, der die in der Norm der Recensionen der Allgemeinen Literatur-Zeitung anzitierte Metapher einer „Tonleiter“ der Kommunikation als „gestufte Lessingrezeption“ (Ebd., S. 15) beschreibt. In der Allgemeinen Literatur-Zeitung wird das Ideal der Unparteilichkeit darüber hinaus durch das Postulat der Anonymität der Autorenschaft ergänzt, das sich zum einen der Vorstellung verdankt, dass die Übertretung der Grenzen des guten Tons durch einen „Ungenannten“ der Durchsetzung der Wahrheit weniger abträglich als die einer anerkannten literarischen Autorität sei, und zum anderen auf der Suggestion einer anonymen „Stimme der Vernunft“ aufruht. Vgl. erneut Napierala (2007), a.a.O, S. 97–113, hier: S. 107 und S. 111 sowie Stephan Pabst (2004), Der anonyme Rezensent und das hypothetische Publikum. Zum Öffentlichkeitsverständnis der Allgemeinen Literatur-Zeitung, in: Matuschek (Hrsg.) (2004), a.a.O., S. 23–54.

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anhand der bereits genannten Geschichte der Ausbreitung der neuern Chemie im Rahmen einer eingehenden Lektüre, die diesen Text als Erzählung ernst nimmt und ihn zugleich unter dem Gesichtspunkt der Wissenschaftssteuerung auf die rhetorischen Strategien, derer er sich bedient, und auf die sprechakttheoretischen Implikationen, die aus seinem Status als Erzählung und rhetorisches Artefakt resultieren, hin durchleuchtet, zu klären versuchen. Denn ohne Frage handelt es sich bei diesem Text tatsächlich im engeren Sinne um eine narrativ verfahrende Variante der litterärhistorischen Abhandlung. Das Grundgerüst der Erzählung stellt dabei eine chronologisch nach Jahreszahlen geordnete Liste von bibliographischen Angaben dar. Grundelemente der Handlung sind also so etwas wie elementare Publikationsereignisse, die allerdings nicht einfach bloß aufgezählt werden, sondern häufig auch – wenn auch zumeist eher knapp – inhaltlich charakterisiert und evaluiert oder aber umgekehrt zur indirekten Charakterisierung ihrer Autoren eingesetzt werden. Zu diesen treten allerdings, und dies macht die Geschichte der Ausbreitung im Sinne einer tentativen Unterscheidung von der Gattung der reinen Chronik erst zu einer Erzählung im engeren Sinne, von Zeit zu Zeit allgemeiner gehaltene Erzählerkommentare über den Zustand der Chemie und die chemischen Zeitläufte hinzu. Folgt der Aufbau der Geschichte der Ausbreitung also insgesamt strikt chronologisch der Jahresfolge, so lässt sich dagegen innerhalb der einzelnen Jahre keine durchgängig wiederkehrende Ordnung erkennen. Weder folgt die Auflistung einer alphabetischen Anordnung nach Autornamen, noch ist ihr eine wiederkehrende systematische oder sachthematische Logik einbeschrieben. Auch liegt ihr offenkundig keine durchgängig auf der Basis eines vorher/nachher-Kriteriums erstellte zeitliche Abfolge zu Grunde, auch wenn Scherer nicht gänzlich auf die Nutzung dieses Kriteriums – und zuweilen wohl auch nur die Suggestion seiner Anwendung – verzichtet. Vielmehr steht die syntagmatische Anordnung innerhalb der einzelnen Jahre bereits im Dienst erzählerischer Erwägungen, etwa indem sie jeweils Gruppen von Akteuren zusammenordnet, Agonisten und Antagonisten einander innerhalb eines Jahres blockartig gegenüberstellt oder aber mehrfach miteinander abwechseln lässt, oder sie so arrangiert, dass ihnen eine spezifischere Bedeutung als handlungseröffnendes, handlungsfortsetzendes, handlungsschließendes oder auch suspensives Element zukommt.47 Insgesamt ist die im Medium dieser Präsentation generierte Erzählhaltung, wenig überraschend, durchgehend auktorial geprägt. Genauer gesagt scheint es zunächst so, als ob die Geschichte der Ausbreitung von einem heterodiegetischen Erzähler mit Nullfokalisierung erzählt würde, bevor sich gegen Ende des Textes schließlich herauskristallisiert, dass

47 Tatsächlich überschreiten solche Arrangements dann – wie im Folgenden noch näher deutlich werden wird – auch durchaus die durch die Struktur der Jahreschronik scheinbar vorgegebenen Grenzen: Auch wenn es sich nicht vermeiden lässt, eine bestimmte Publikation in dem einen Jahr, eine bestimmte andere Publikation hingegen in einem anderen Jahr zu listen, so ist es beispielsweise immer noch möglich, sie so anzuordnen, dass die erste Publikation innerhalb des ihr zugeordneten Publikationsjahres eine Handlungssequenz eröffnet, und die zweite Publikation innerhalb des ihr zuzuordnenden Jahres so zu positionieren, dass sie eine Handlungssequenz zu schließen scheint.

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es sich tatsächlich um einen homodiegetischen Erzähler handelt – tritt Scherer doch ab dem Jahre 1795 gleichfalls als Autor einschlägiger Publikationen in die erzählte Welt ein.48 Was den von der Geschichte der Ausbreitung abgedeckten Berichtszeitraum und die genauere zeitliche Einordnung des in ihr behandelten Stoffs betrifft, so gibt Scherer eingangs folgende Periodisierung der gesamten Geschichte der antiphlogistischen Chemie in Deutschland an die Hand: I. Ausbreitung derselben (Literarische Verdienste der Chemiker um die neue Theorie.) II. Streit über den Hauptpunkt derselben, über den Sauerstoffgehalt des Quecksilberkalks (Völliger Sturz des phlogistischen Systems.) III. Combinationsversuche der phlogistischen und antiphlogistischen Systeme (Versuchte Berichtigungen der neuern Theorie und daraus entstehende Spaltungen in: (a) reine Antiphlogistiker, (b) kombinierende Antiphlogistiker.)49

Allerdings stehen diese drei Epochen in einem komplizierten Verhältnis zu der narrativen Struktur von Scherers litterärhistorischer Abhandlung. Angesichts des gewählten Titels würde man eigentlich annehmen, dass sich Scherers Text nur auf die erste Periode der „Ausbreitung“ bezieht – zumal Scherer im Anschluss an seine Periodeneinteilung explizit erklärt, dass er „hier die erste Periode in literarischer Rücksicht darzustellen [sich] bemühen“ wolle.50 Tatsächlich erstreckt sich der von ihm abgedeckte Zeitraum aber auf die Jahre 1780 bis 1796 und umfasst damit zumindest formal vollständig die zweite Epoche, die Scherer im Jahre 1791 einsetzen lässt, und die ersten Jahre der dritten Epoche, die er mit dem Jahre 1794 beginnen lässt, und von der er anzunehmen scheint, dass sie auch noch zum Zeitpunkt der Publikation seiner Erzählung im Jahre 1800 grundsätzlich andauert. Trotz dieser Widersprüche, die auf eine übereilte Endredaktion des Textes schließen lassen, ist es naheliegend und wird von einem entsprechenden Erzählerkommentar, den Scherer zwischen die Darstellung der Publikationsereignisse der Jahre 1789 und 1790 einschaltet, auch tatsächlich nahegelegt, zwischen einer Epoche der Ausbreitung im engeren Sinne, in der die deutschen Chemiker sich zunächst in der Tat vor allem oder fast ausschließlich ‚literarische Verdienste um die neue Theorie‘ erworben haben, sich also in erster Linie auf die Verfügbarmachung der entsprechenden französischen Grundlagenschriften im deutschsprachigen Raum beschränkten, ohne sie 48 Vgl. für diese narratologische Begrifflichkeit Gérard Genette (1989), Die Erzählung, 2. Aufl., München: Fink, S. 134–149, 174–183 und S. 269–278. Die klassische Dichotomie von auktorialem Erzähler und Ich-Erzähler bzw. die Trichotomie von auktorialem, personalem und IchErzähler wird dabei in die Unterscheidung zwischen Erzählstimme (‚Wer spricht?‘) und Erzählmodus (‚Wer nimmt wahr?‘) auseinandergelegt. Die Opposition zwischen homodiegetischem und heterodiegetischem Erzähler betrifft dabei die Erzählstimme und bezieht sich vor allem auf die Frage, ob der Erzähler selbst in der erzählten Welt der Erzählung präsent ist oder nicht in ihr vorkommt. Die Differenzierung zwischen interner, externer und Nullfokalisierung bezieht sich hingegen auf den Erzählmodus, also die Frage, ob der Erzähler mehr (Nullfokalisierung), weniger (externe Fokalisierung) oder genau so viel (interne Fokalisierung) sagt, wie seine Figuren wissen. 49 Scherer (1800b), a.a.O., S. 3f. 50 Ebd., S. 4.

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einer intensiveren theoretischen Kritik oder gar einer experimentellen Überprüfung zu unterziehen, und einer Epoche der Ausbreitung im weiteren Sinne zu unterscheiden, in der zwar die Rezeption der Schriften der französischen Begründer der Sauerstofftheorie noch fortgesetzt wird, dabei aber – nicht zuletzt unter dem Eindruck der zum ‚völligen Sturz des antiphlogistischen Systems‘ führenden Ergebnisse des experimentum crucis über den ‚Sauerstoffgehalt des Quecksilberkalks‘ – eine stärkere Eigendynamik anzunehmen beginnt, die nicht nur dazu führt, dass man „die einzelnen Resultate“ nunmehr „im Zusammenhange zu übersehen [und] sie zu vereinigen“ beginnt, sondern schließlich zu wirklich autochthoner Forschung anhält und daher in der ‚Spaltung‘ der Chemikerzunft in ‚reine und kombinierende Antiphlogistiker‘ ausläuft.51 Bezieht man über diese von Scherer vermittels Erzählerkommentar explizit ins Spiel gebrachte Einteilung hinaus noch im engeren Sinne erzählerische Kriterien mit ein, so lässt sich insgesamt eine Art Vierteilung der Geschichte erkennen: Die Jahre 1780 bis 1789 sind zunächst einmal vor allem durch die Publikation von Schriften Lavoisiers durch weitgehend unparteiische Instanzen und durch den ersten Auftritt von Gegnern der Sauerstofftheorie gekennzeichnet, und lassen sich insofern als Periode der unparteiischen Publikationen bezeichnen. Die Jahreswende zwischen 1789 und 1790 stellt hingegen einen Einschnitt dar, der nicht nur von Scherer in einem Erzählerkommentar als solcher markiert wird, sondern sich darüber hinaus auch in einer Verlagerung des Gewichts der Erzählung und einer gegenüber der ersten Periode veränderten Erzählweise abbildet. Er leitet eine zweite, die Jahre 1790 bis 1792 umfassende, Periode ein, in der die Auseinandersetzung zwischen Befürwortern und Gegnern des Sauerstoffs besonders hohe Wellen schlägt. Innerhalb dieser Periode der Hauptauseinandersetzung, die als ganze eine erste Klimax markiert, erreicht dabei zunächst im Jahre 1790 der Handlungsstrang der publizistischen Aktivitäten und diskursiven Einlassungen der Gegner der Sauerstofftheorie seinen Höhepunkt, wohingegen der Handlungsstrang der Befürworter der Sauerstofftheorie erst im Jahre 1792 zu seinem Höhepunkt kommt. Eine zweite Klimax stellt dann, bezogen auf die Gesamthandlung der Erzählung, das durch eine erhebliche Beschleunigung der Ereignisfolgen und Vervielfältigung der Handlungsstränge gekennzeichnete Jahr 1793 dar. Dabei markiert das Ende dieser Periode der Handlungsbeschleunigung unter erzählerischen Gesichtspunkten betrachtet einen zweiten wichtigen Einschnitt. Die Jahre 1794 bis 1796 nämlich sind demgegenüber eher durch den Versuch bestimmt, den Eindruck einer allmählichen Beruhigung der Ereignisfolgen und Handlungsstränge zu vermitteln – und tragen damit die Kennzeichen einer Periode der Handlungsberuhigung an sich. 51 Ebd., S. 15. Dieser Konzeption einer Ausbreitung im weiteren Sinne entspricht denn auch der Zwischentitel „Uebersicht der Hauptmomente aus der Geschichte der Ausbreitung der neuen Theorie in Teutschland. Eine Skizze“, der das Incipit der eigentlichen litterärhistorischen Erzählung markiert (Ebd., S. 4). Die Rede von den ‚Hauptmomenten‘ bringt dabei durch ihren Verweis auf die willentliche Selektivität des Vorgehens und, mehr noch, aufgrund der zwischen ‚Zeitpunkt‘ und ‚Beweggrund‘ oszillierenden Semantik des Ausdrucks ‚Moment‘ den Charakter der Geschichte der Ausbreitung als auf dem Übergang von zeitlich reihender ‚Chronik‘ und kausal verknüpfender ‚Geschichte‘ anzusiedelndem Text im Übrigen ziemlich gut auf den Punkt.

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III. Die Darstellung der Periode der unparteiischen Publikationen, mit der Scherers Geschichte der Ausbreitung im Anschluss an die eher knapp gehaltenen Hinweise auf die ersten französischen Grundlagenschriften zur Sauerstofftheorie als Nullpunkt im eigentlichen Sinne anhebt, steht in der Tat vor allem unter dem Gesichtspunkt der „[l]iterarische[n] Verdienste der Chemiker um die neue Theorie.“52 Sie setzt mit der ersten Übersetzung einer kleineren Schrift Lavoisiers durch Lorenz von Crell im Jahre 1780 ein, zu der in den folgenden Jahren eine Reihe weiterer Übersetzungen einzelner kleiner Schriften Lavoisiers hinzutreten werden. Zu dieser stetigen – und stetig wachsenden – Reihe von Einzelpublikationen Lavoisiers in deutscher Sprache, die gleichsam den Rhythmus vorgibt, tritt ab 1783 die – in etwas größeren Abständen erfolgende – Publikation von Sammelpublikationen mit ins Deutsche übersetzten Kleineren Schriften Lavoisiers hinzu. Es entsteht so der Eindruck einer wachsenden Anzahl von Publikationen und parallelen Publikationstätigkeiten. Zugleich wird das Bild eines Personenkreises gezeichnet, der in strikt neutraler und unparteilicher Einstellung für die Verbreitung dieser Texte in Deutschland sorgt und sich mit den Namen Lorenz von Crell (1744–1816) und Christian Ehrenfried Weigel (1748–1831) verbindet, die durch diese Tätigkeit gewissermaßen zu den unbestechlichen Vorbildern wissenschaftlicher Neutralität stilisiert werden.53 Aus diesem Strom an gleichsam in neutraler Einstellung publizierten Texten (bei deren Nennung Scherer es sich freilich nicht nehmen lässt, von Zeit zu Zeit auf ihren verhältnismäßig späten Veröffentlichungszeitpunkt hinzuweisen oder aber sie umgekehrt zu ‚frühzeitigen Winken‘ zu stilisieren, die zum Zeitpunkt ihrer Publikation bereits zu einer viel intensiveren Auseinandersetzung mit der Sauerstofftheorie hätten anhalten können),54 lösen sich dann in der Folge sukzessive zwei Faktionen von Akteuren mit ihren entsprechenden Publikationshandlungen: Auf der einen Seite eine Reihe von Autoren, die man – nicht zuletzt, weil Scherer bei einigen von ihnen darauf hin52 Ebd., S. 6–15. 53 Dabei wird der in erster Linie auf dem bloßen Kontrast zwischen den publizistischen Aktivitäten Crells und Weigels – also der Tatsache, dass sie, ohne sich von etwaigen Einwendungen beirren zu lassen, „mit der Lieferung der einzelnen Abhandlungen Lavoisiers fort[fuhren]“ (Ebd., S. 7) – und den publizistischen Handlungen der Gegner der Sauerstofftheorie beruhende Eindruck der Existenz einer neutralen Wissenschaftlergruppe stellenweise auch durch explizite Erzählerkommentare verstärkt, etwa wenn Weigel beiläufig als „der unermüdliche Literator der Chemie“ charakterisiert wird (Ebd., S. 8) – eine Charakterisierung, durch die nebenbei zugleich auch das Rollenprofil des ‚Literators‘ als (nicht zuletzt aufgrund seiner neutralisierenden Funktion) nach wie vor unentbehrliche Gestalt des Wissenschaftsbetriebs stabilisiert wird. 54 In diesem Sinne artikuliert Scherer etwa gleich eingangs seine Überzeugung, dass zwei von Crell im Jahre 1780 übersetzte Abhandlungen Lavoisiers, die „die genauesten Untersuchungen über die Gewichtszunahme der Metalle, so wie die darauf sich gründende höchst evidente Zerlegung der atmosphärischen Luft, enthielten, […] damals schon weit größere Sensation in Teutschland oder wenigstens eine genauere Wiederholung derselben erregen [hätten] können“ (Ebd., S. 6f.), und gibt damit zu verstehen, dass er sich von der scientific community unter vergleichbaren Umständen eine größere Bereitschaft zur ernsthaften Auseinandersetzung mit Positionen wünschen würde, die dem herrschenden Wissenschaftsparadigma eindeutig wider-

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weist, dass sie sich vor Ort, das heißt in Paris, mit der Sauerstofftheorie bekannt gemacht haben55 – tendenziell eher zu den Befürwortern der neuen Theorie rechnen kann, auf der anderen Seite diejenigen, oder genauer gesagt: der Eine, von dem man mit seinem ersten Auftreten nicht bloß annehmen kann, dass er der Sauerstoffchemie kritisch gegenübersteht, sondern der von Anfang an unverhohlen als ihr „Gegner“ charakterisiert wird, und der, obgleich explizit als „erster Gegner“ bezeichnet, bis zu seiner schlussendlichen Konversion bzw. Re-Konversion zur Unparteilichkeit eigentlich so gut wie der einzige Gegner der Sauerstofftheorie in der erzählten Welt der Geschichte der Ausbreitung bleiben wird – nämlich Friedrich Albert Carl Gren (1760–1798).56 Dadurch dass die Seite der Gegner nur exemplarisch an einem Gegner verhandelt wird, entsteht von Anfang an ein klares Ungleichgewicht in der Darstellung. Zwar nehmen Scherers Einlassungen zu Grens Publikationen gerade in dieser ersten Periode einen relativ großen Raum ein. Doch wirkt es aufgrund dieses exemplarischen Vorgehens auf der Seite der Gegner der Sauerstofftheorie, dem auf der Seite der Befürworter ein alles andere als selektives Procedere gegenübersteht, von Anfang an und im weiteren Verlauf der Geschichte der Ausbreitung zunehmend so, als ob sich der Aufnahme der antiphlogistischen Chemie eigentlich nur einige wenige und zwar tendenziell verbohrte Chemiker entgegengestellt hätten. Zwar kommt Scherer in diesem Abschnitt seiner Erzählung, anders als in ihrem weiteren Verlauf, bei der Darstellung von Grens Publikationen wohl noch am ehesten dem Ideal einer weitgehend in der Sache argumentierenden und halbwegs auf Unpartei54 sprechen – vor allem wenn sie so metikulös und augenfällig belegt werden wie im vorliegenden Falle und/oder von einer Persönlichkeit von der Statur eines Lavoisier dargestellt werden. Einen vergleichbaren Appell lässt Scherer wenig später auch im Zusammenhang mit der Publikation des ersten Bandes von Lavoisiers Kleinen Schriften durch Weigel im Jahre 1783 in indirekter Form an die Chemikergemeinschaft ergehen, wenn er schreibt: „Dieser wichtige Schritt geschah also zehn Jahre nach der Gründung der neuen Theorie. Für Teutschland war es immer ein frühzeitiger Wink, die Untersuchungen Lavoisier’s aller Aufmerksamkeit zu würdigen. Wie wenig man ihm beytrat, ergibt sich aus dem Folgenden.“ (Ebd., S. 8). 55 So weist Scherer etwa darauf hin, dass sich der Übersetzer eines 1785 publizierten Werks von Antoine François de Fourcroy, der Mediziner Ernst Benjamin Gottlieb Hebenstreit, zuvor persönlich „in Paris aufgehalten und dort den chemischen Vorlesungen Fourcroy’s beygewohnt hatte“ (Ebd., S. 9) und vermerkt anlässlich der deutschen Übertragung von Martinus von Marums Schrift über seine Versuche mit der bis dato größten Elektrisiermaschine im Jahre 1786 mit kaum weniger offenkundigem Wohlwollen, dass der niederländische Naturforscher „sich ebenfalls mit Lavoisier’s Untersuchungen während seinem Aufenthalte in Paris bekannt gemacht“ hatte. (Ebd. S. 10). Dabei dienen diese Einschübsel offensichtlich nicht nur dazu, die entsprechenden Autoren oder Übersetzer als potentielle Parteigänger der Sauerstoffchemie auszuweisen, sondern artikulieren bzw. reiterieren damit zugleich implizit auch eine spezifische Erwartung an die Chemikerzunft als solche, nämlich dem autoptischen Prinzip zu gehorchen – wie es Hebenstreit und van Marum, die sich vor Ort mit eigenen Augen von der überaus augenfälligen Evidenz der Sauerstofftheorie überzeugt haben, gewissermaßen auf geradezu vorbildliche Weise vorgemacht haben. 56 Ebd., S. 9: „Der erste Gegner der Theorie Lavoisier’s der verstorbene Prof. Gren in Halle trat auf in seiner Dissertatio inaug[uralis] phys[ico] med[ica] sistens observationes et experimenta circa genesin aeris fixi et phlogisticati (9. Sept. 1786.) Halae, 100. S. gr. 8.“

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lichkeit bedachten Auseinandersetzung nahe und setzt, wie er es mit weiterem Fortschreiten seiner Erzählung zunehmend tun wird, nicht vorwiegend darauf, den Leser von der Wahrheit und rechtmäßigen Durchsetzung der Sauerstofftheorie durch die unvorteilhafte Charakterisierung ihrer Gegner, die Erzeugung des Eindrucks eines quantitativen Übergewichts ihrer Befürworter oder die Berufung auf äußere Autoritäten zu überzeugen. Gleichwohl ist auch hier bereits nicht zu übersehen, dass das Referat von Grens Positionen nicht ausschließlich im Dienste sachlicher Berichterstattung steht, sondern zugleich auch einer Reihe von narrativen Funktionen – eine wenigstens rudimentäre Charakterisierung des Personals und seiner Handlungsmotive und eine halbwegs nachvollziehbare Zerlegung der Handlungssequenz in plausibel aufeinander folgende Einzelschritte – zu erfüllen und zugleich für eine erste Einordnung dieses Verhaltens in moralischer Hinsicht zu sorgen hat. Insgesamt sind es dabei drei unterschiedliche Publikationen Grens, deren Inhalt Scherer über den Verlauf der Periode der unparteiischen Publikationen hinweg referiert, wobei es im Kern stets die gleichen drei Einwände sind, mit denen Scherer Gren in diesen drei Referaten zu Wort kommen lässt: Zum einen der Einwand, der Kohlenstoff sei mindestens genauso hypothetisch, wie es von seinen Verfechtern dem Phlogiston vorgeworfen werde, weshalb es sich bei Kohlenstoff und Phlogiston also womöglich gar um dieselbe Substanz handele, und die ganze Debatte daher letztlich auf einen „bloßen Wortstreit“57 hinauslaufe; zum anderen der Einwand, auch und gerade „der Sauerstoff sey bloß angenommen, nicht erwiesen“,58 denn es sei, auch wenn man eine Gewichtszunahme im „Rückstand der Körper nach dem Verbrennen“59 als Tatsache zugestehe (ein Problem, das sich im Rahmen der Phlogistontheorie jedoch lösen lasse, wenn man von einer „negativen Schwere“60 des Phlogistons ausgehe), offenkundig selbst „durch die stärkste Hitze“ nicht möglich, aus den „verbrannten Körper[n]“ irgendetwas von dem angeblichen Sauerstoff zu „entbinden und die Zunahme des Gewichts dadurch wieder zu vermindern“;61 und zum dritten der (mit der darin impliziten Frage nach den sogenannten Imponderabilien eine echte Achillesverse von Lavoisiers Theorie berührende und letztlich zu der von Scherer eingangs erwähnten ‚Spaltung der deutschen Chemiker‘ führende) Einwand, dass die Antiphlogistik nicht zu erklären vermöge, „wie Licht entstehen könne, wenn in der reinen Luft bloß Wärmestoff gebunden sei.“62 Diese Einwände werden von Scherer in den drei Einlassungen zu Gren zwar sachlich weitgehend richtig dargestellt und durchaus so referiert, dass sie eine Art Entwicklung und, wohlwollend betrachtet, vielleicht sogar eine Reifung von Grens Denken zu erkennen geben, die schrittweise von einer vorläufigen Formulierung seiner Einwände gegen Lavoisier in nuce über den Versuch ihrer Stützung durch empirische Evidenz bis hin zu ihrer vollen systematischen Entfaltung führen. Zugleich allerdings lässt sich in ihnen eine von Mal zu Mal wachsende Distanzierung Sche57 58 59 60 61 62

Ebd., S. 10. Ebd., S. 13. Ebd., S. 11. Ebd., S. 10. Ebd., S. 13. Ebd.

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rers feststellen, die vor allem im Medium der Formulierungen, durch die die einzelnen Referate jeweils eingeleitet werden, sowie durch den spezifischen Gebrauch erfolgt, den Scherer im Rahmen der Referate selbst von dem epistemischen Verb ‚glauben‘ macht. So bedient er sich zwar auch schon in seinem ersten Referat, das das ‚Auftreten eines ersten Gegners‘ in der Person Grens im Übrigen beinahe wie eine Naturnotwendigkeit hinnimmt, des Verbs ‚glauben‘, um seine Skepsis an Grens Einwänden zu artikulieren, wenn er unter Bezug auf die „von Lavoisier aufgestellte[.] Lehre“ schreibt, dass Gren „glaubt sie […] widerlegt zu haben.“63 Doch wird diese Distanznahme anderseits dadurch aufgewogen, dass das gleiche Verb kurz darauf zum Einsatz kommt, um ein gewisses Verständnis für die Motive zum Ausdruck zu bringen, die Gren zur Formulierung seiner Kritik an der Sauerstofftheorie bewogen haben mögen, indem diese als eine Art Verpflichtung zum Zweifel präsentiert werden, die aus einer bestimmten empirischen Faktenlage erwachsen: „Außerdem glaubte Gren sich auch deshalb gegen Lavoisier erklären zu müssen, weil er fand, daß Metallkalke bey ihrer Verglasung ihre Gewichtszunahme behalten, also keine Luft darin enthalten seyn könne.“64 In der zweiten Gren gewidmeten Intervention, die durch den Satz „Gren gab sein systematisches Handbuch der Chemie heraus, worin er sich gegen Lavoisier erklärte und seine Theorie durch folgende Einwürfe zu entkräften glaubte“65 eingeleitet wird und damit die Gegnerschaft Grens nicht von außen behauptet, sondern sie ihm regelrecht in den eigenen Mund legt, reduziert sich der Gebrauch des epistemischen Verbs hingegen ausschließlich auf die Funktion der bloßstellenden Abstandnahme. Zugleich wird dem in der ersten Einlassung noch eingeräumten Zugeständnis, Gren habe sich womöglich aufgrund der Existenz von empirischen Gegenbeweisen zur Kritik an der Sauerstofftheorie verpflichtet gefühlt, durch einen abschließenden Erzählerkommentar, in dem es von den von Gren inzwischen durchgeführten Versuchen heißt, dass sie „gegen die gehalten, welche Lavoisier angestellt hatte“, und die kurz zuvor noch explizit als ‚überaus genau‘ und ‚höchst evident‘ gelobt worden waren, „in jeder Rücksicht viel zu oberflächlich“66 ausgefallen seien, bereits wieder der Grund entzogen. In der dritten Einlassung schließlich referiert Scherer die die Sauerstofftheorie betreffenden Hauptthesen aus Grens Grundriß der Naturlehre zwar wieder in ganz sachlich gehaltenem Ton und ohne noch einmal auf der Tatsache herumzureiten, dass dieser ja nach wie vor nur glaube, Lavoisier widerlegen zu können. Doch reicht hier der an die Spitze des Referates gestellte Satz „Gren erklärte sich immer fort für einen bleibenden Gegner Lavoisier[’s]“, um sich endgültig von dessen Positionen zu distanzieren und den Hallenser Professor als weitgehend unbelehrbaren und überaus sturen Charakter zu desavouieren – und damit als Negativbeispiel wissenschaftsethisch angemessenen Verhaltens zu inthronisieren.67 Dabei dürfte es im Übrigen wohl kaum ein Zufall sein, dass sich Scherer hier, wie auch im weiteren Verlauf der 63 64 65 66 67

Ebd., S. 10. Ebd. Ebd., S. 11. Ebd. Ebd., S. 13.

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Geschichte der Ausbreitung bei der Darstellung der Positionen Grens ausnahmslos der indirekten Rede bedient, die Befürworter der Sauerstofftheorie hingegen später häufig in direkten Zitaten zur Rede kommen lässt – stellt die indirekte Rede doch ein bequemes rhetorisches Dispositiv dar, das es erlaubt, sich innerlich von den dargestellten Positionen zu distanzieren, dies aber auf eine unverdächtige Weise zu tun, weil dieser Modus des Referierens gleichsam von selbst eine Art Objektivitätssuggestion produziert. Wenig überraschend nimmt die Darstellung der Jahre 1790 bis 1792 als Periode der Hauptauseinandersetzung in erzählerischer wie rhetorischer Hinsicht gegenüber der Behandlung der Periode der unparteiischen Publikationen einen deutlich prononcierteren Charakter an.68 Das zeigt schon die Tatsache an, dass ihre Darstellung mit einem Erzählerkommentar anhebt, durch den die Darstellung der noch abzuhandelnden Jahre von der Darstellung der bereits abgehandelten Jahre explizit wie durch eine Wasserscheide getrennt werden: Mit diesem Iahre schließt sich eine Abtheilung in dieser Geschichte. Bis hieher wurden blos einzelne Abhandlungen Lavoisier’s in Uebersetzungen mitgetheilt, hin und wieder der darin enthaltenen Resultate nur beiläufig erwähnt, – eine vollständige Würdigung, eine Ansicht ihres Einflusses aufs Ganze des chemischen Systems war aber bisher vermißt worden. Man bemühte sich nicht, die einzelnen Resultate im Zusammenhange zu übersehen, sie zu vereinigen. Man begnügte sich nur damit, sie einzeln nur flüchtig zu bemerken. Lavoisier sah sich daher genöthigt, diese Arbeit selbst zu übernehmen. Er lieferte sie in seinem Traité élémentaire de chimie […]. Der Einfluß dieser Unternehmung ergiebt sich aus der folgenden Darstellung des Fortganges der zur Ausbreitung der neuern Theorie abzweckenden Bemühungen.69

Allerdings behauptet Scherer nicht nur in seinem Erzählerkommentar, dass hier ein Einschnitt vorliegt. Vielmehr wird dieser Einschnitt auch auf der Ebene der Handlungsführung nachvollziehbar durchexerziert. Tatsächlich verlagert sich das Gewicht der Erzählung: Während sie sich vor der Wasserscheide in erster Linie als ein langsames Dahingleiten der neutralen Geschehnisse in einer Art Hintergrund gestaltete, in die die Befürworter nur sehr schleppend und allmählich mit eigenen Handlungen einzugreifen beginnen, wohingegen – bevor dieser Handlungsstrang so richtig in Fahrt gekommen ist – die Gegnerseite plötzlich ziemlich vehement in die Handlung einbricht, was auf der Darstellungsseite dann auch relativ gesehen den größten Raum einnimmt, findet sich nach der Wasserscheide die Aktion quantitativ zunehmend und in erster Linie auf der Seite der Befürworter, während das Ausmaß an neutralen Aktionen zusehends abnimmt. Zwar spielt Gren als exemplarischer und letztlich (fast) einzig angeführter Gegner nach wie vor mit wichtigen Aktionen eine Rolle, doch treten diese zumindest in quantitativer Hinsicht klar hinter den Handlungen der Befürworter zurück. Und während sich Scherer – wie gesehen – bei der Darstellung der ersten Periode zumindest noch den Anschein der Unparteilichkeit gegeben hatte und ansatzweise bemüht schien, sich – im Medium des Referats in indirekter Rede – 68 Ebd., S. 15–28. 69 Ebd., S. 15f.

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auf die sachliche Widergabe der (gegnerischen) Positionen zu beschränken, treten in der zweiten Periode nunmehr zusehends mehr Personalia an die Stelle von unparteiischem Bericht und Sachauseinandersetzung bzw. werden mit dieser verwoben. Das lässt sich insbesondere an der Bekenntnisrhetorik der zunehmenden Zahl von Befürwortern ablesen, die denn kaum zufällig auch zumeist in direkter Rede wiedergegeben wird. Überhaupt geht Scherer nunmehr – nach der durch zitierten Erzählerkommentar markierten Wasserscheide und gleichsam nach seinem Vorbild – immer häufiger dazu über, die Darstellung der publizistischen Ereignisse innerhalb der einzelnen Jahre durch einen vorwegnehmend resümierenden Eingangskommentar einzuleiten, der als lesersteuerndes Element dazu auffordert, diese diskursiven Einlassungen mit dem narrativen Ablauf im engeren Sinne abzugleichen. Der Gang der Narration soll also gewissermaßen die in diesen Erzählerkommentaren geäußerten Thesen über den jeweils erreichten Zustand der Rezeption der antiphlogistischen Chemie und den Fortgang oder Fortschritt des fraglichen Forschungsprozesses belegen und/oder spezifizieren und steht somit im Dienste der diskursiven Einlassungen Scherers. Im Lichte dieser Eingangssentenzen und einiger weiterer mehr oder minder im Vorbeigehen fallengelassener Bemerkungen erhält somit jedes Jahr in diesem Zeitraum seine ganz spezifische Signatur.70 Innerhalb dieses Abschnitts, der als Darstellung der Periode der Hauptauseinandersetzung im Rahmen der Gesamterzählung – wie gesagt – insgesamt einen ersten Höhepunkt markiert, und vor dem Hintergrund eines durch explizite Erzählerkommentare in einzelne Entwicklungsstufen eingeteilten anwachsenden Stroms entsprechender Publikationen, erreicht dabei zunächst der Handlungsstrang der publizistischen Aktivitäten und diskursiven Einlassungen der Gegner der Sauerstofftheorie den Gipfel seiner Intensität im Jahre 1790, um in der Folge sukzessive von sich zunehmend intensivierenden Aktivitäten und Interventionen ihrer Befürworter in den Hintergrund gedrängt zu werden, die ihre eigene Klimax schließlich im Jahre 1792 finden werden. Zugleich allerdings nimmt die Verknüpfung der beiden Ereignisketten dabei den Charakter einer Art – durch die Aufzählung deutlich knapper kommentierter Publikationen unterbrochenen und dadurch gleichsam zeitlich zerdehnten – Wechselrede zwischen Befürwortern und Gegnern an. Dabei wird in die-

70 So erscheint das Jahr 1790 als das Jahr der ersten Bemühungen, insofern Scherer wiederholt davon spricht, dass die antiphlogistischen Autoren sich um die Darstellung bzw. Verbreitung des antiphlogistischen Gedankengebäudes „bemüht“ hätten – eine Formulierung, die offenkundig impliziert, dass diese Bemühungen nur sehr bedingt von Erfolg gekrönt waren (Ebd., S. 16–18). Das Jahr 1791 wird hingegen bereits als Jahr der lebhaften Erklärungen ausgezeichnet, lässt Scherer doch eingangs verlautbaren: „Jetzt fieng man lebhafter an, sich in Rücksicht der neuern Theorie bestimmt zu erklären. Waren es auch gleich nur einzelne Stimmen, so waren sie doch um so entscheidender, als sie von der Wahrheit allein geleitet sich hören ließen.“ (Ebd., S. 18–21, hier: S. 18f). Das Jahr 1792 schließlich erweist sich, folgt man Scherers expliziter Charakterisierung als Zeitabschnitt, in dem „unstreitig […] sehr vieles [geschah], was die allgemeinere Verbreitung der neuern Theorie sehr begünstigte“ als das Jahr der begünstigten Verbreitung, in dem die ‚ersten Bemühungen‘ und die ‚lebhaften Erklärungen‘ sozusagen die ersten Früchte zu tragen beginnen (Ebd., S. 21–24, hier: S. 21).

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sem insgesamt fünf Stationen umfassenden Text- und Zitat-Arrangement die ausführliche Kommentierung zweier dadurch in den Rang des Exemplarischen erhobenen Publikationen der Seite der Gegner gleichsam von drei als nicht minder beispielhaft gekennzeichneten und beinahe noch ausführlicher zitierten Einlassungen der Befürworter umschlossen. Insgesamt ergibt sich damit eine Konstellation, in der die beiden Parteiungen mit ihrer Einlassung jeweils auf die vorangegangene Einlassung ihres Gegners – und zwar vor allem, aber keineswegs ausschließlich, auf der konnotativen Ebene – zu antworten scheinen, es jedoch die Befürworter der Sauerstofftheorie sind, die am Ende das letzte Wort behalten – eine Tatsache, die angesichts einer Sachlage nur konsequent erscheint, in der sich ein hinsichtlich des Intensitätsgrades der reportierten (Sprech-)Handlungen der einzelnen Akteure und des (sich unter anderem daraus ergebenden) Eindrucks über das Ausmaß der Dominanz der jeweiligen Faktionen in der erzählten Welt im Aufwind befindlicher Erzählstrang gleichsam auf der Hälfte eines fünf Schritte umfassenden Weges mit einem Erzählstrang kreuzt, der soeben seine Klimax durchschritten hat und sich gewissermaßen schon wieder auf dem absteigenden Ast befindet. Bemerkenswert ist allerdings, dass Scherer in diesem Abschnitt nicht nur das Verhältnis zwischen den beiden antagonistischen Parteiungen dialogisch gestaltet, sondern auch die Beziehung zwischen den drei Einlassungen der Befürworter eine Form annehmen lässt, in der die jeweils späteren auf die jeweils früheren zu antworten, ja sie in gewisser Weise zu korrigieren, wenn nicht gar zu übertrumpfen scheinen. Trotz ihrer engen Verflechtung und wechselseitigen Ineinanderschachtelung möchte ich im Folgenden die beiden antagonistischen Handlungsstränge dieses Abschnittes jeweils separat darstellen und analysieren. Denn jeder für sich macht auf seine Weise auf die Schwierigkeiten und Grenzen aufmerksam, die die spezifisch narrative Logik der litterärhistorischen Erzählung ihrem funktionalen Gebrauch als Steuerungsinstanz der Wissenschaften auferlegt bzw. in den Weg stellt – und zwar sowohl durch das aus erzähltheoretischer Sicht Schlechteste, die Simplizität des zugrundeliegenden Erzählschemas, als auch durch das aus diesem Gesichtspunkt Beste, die erzählerische Komplexität, die trotz ihres grundsätzlich so einfachen Erzählschemas und selbst in einer scheinbar so schlichten und grobschlächtigen Erzählung wie der Geschichte der Ausbreitung zuweilen Platz zu greifen mag. Die Reihe der Kommentare zu Einlassungen der Gegner der Sauerstoffchemie eröffnet Scherer dabei wie folgt: Auch Gren stellte jetzt einen Auszug aus Lavoisier’s traité élémentaire in seinem Iournale der Physik […] auf und entwarf […] eine sehr ausführliche Prüfung derselben. War diese gleich mit vieler Heftigkeit und Ungerechtigkeit abgefasst, so diente sie doch dazu, die allgemeine Aufmerksamkeit der Chemiker auf diesen bisher vernachlässigten Gegenstand hinzuleiten und fernere Untersuchung desselben zu veranlassen. Sie wird nie aufhören ein eben so wichtiges Actenstück in dieser Geschichte zu bleiben, als sie von dem Verdienste Gren’s ze[u]gt, alles, was nur auf den Fortgang der Chemie Einfluß haben konnte, zur Sprache zu bringen.71 71 Ebd., S. 17f.

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Liest man diese trickreiche Passage, in der der direkte Angriff auf Gren im Vor- und im Nachgang jeweils durch eine concessio abgefedert und kaschiert wird,72 in der Folge der vorausgegangenen Charakterisierungen des publizistischen Verhaltens des Einen Gegners, so suggeriert sie in der Tat eine bislang nicht gekannte Intensität und Härte in der Art der Debattenführung und gibt sich damit als erster Höhepunkt in der Auseinandersetzung zwischen Phlogistikern und Antiphlogistikern zu erkennen. Denn nach den als mehr oder weniger berechtigt (wenn auch als zu oberflächlich belegt und nicht hinreichend durchdacht) gekennzeichneten Einwänden Grens gegen die Sauerstofftheorie zu Beginn seines Wirkens und seiner auf zunehmende Sturheit hindeutenden (wenn auch als diskursiv durchaus noch nachvollziehbar präsentierten) fortwährenden Oppositionshaltung in der Folge, scheint Scherers Darstellung zufolge nunmehr ein Stadium erreicht zu sein, in dem Gren offenkundig ausfällig geworden ist und folglich die Grenzen des guten Tons endgültig überschritten hat. Umso überraschender ist es dann allerdings, dass Scherer Gren nicht nur eingangs in einer eher beiläufigen concessio zubilligt, immerhin „auch“ einen Auszug aus Lavoisiers im Vorjahre erschienen Traité élémentaire de chimie geliefert zu haben und ihm damit zumindest implizit auch zugesteht, die zentrale Bedeutung dieses Werks erkannt zu haben, sondern dem auf einer individuellen Ebene unverkennbar missbilligten Verhalten der „Heftigkeit und Ungerechtigkeit“ – einem Prädikatenpaar, durch das im Übrigen zugleich eine Leerstelle für ein Antonymenpaar geschaffen wird, die kurz darauf durch die einem „von der Wahrheit allein geleitet[en]“ Befürworter der Sauerstoffchemie zugesprochenen „Gründlichkeit“ und „Ruhe“ gefüllt werden wird73 – im Medium einer weiteren concessio insgesamt, also gleichsam auf der Aggregatebene, gleichwohl gewisse positive Aspekte abzugewinnen weiß. Denn obwohl – oder gerade weil – Grens Intervention die Grenzen des guten 72 Vgl. die folgende Definition bei Heinrich Lausberg (1963), Elemente der literarischen Rhetorik. Eine Einführung für Studierende der klassischen, romanischen, englischen und deutschen Philologie, 2., wesentl. erw. Aufl., München: Hueber, S. 145, § 436: „Die concessio (συγχώρεσης) besteht im Eingeständnis […] der Tatsache, daß der Gegner im einen oder anderen Argument recht hat. Dies Eingeständnis wird aber meistens durch gewichtigere Gründe des Redners selbst wettgemacht, so daß sich die concessio nur auf belanglose […] Dinge bezieht und so in die Nähe der Ironie […] rückt.“ Die Tendenz dieser Gedankenfigur, ironisierende Züge anzunehmen, wird übrigens auch schon von Quintilian betont, der die concessio zusammen mit den artverwandten Figuren der confessio und der consensio unter dem Gesichtspunkt der simulatio zusammenfasst. Die von Quintilian in diesem Zusammenhang aus den CiceroReden in Verrem und pro Cluentio beigebrachten Beispiele machen darüber hinaus deutlich, dass es sich bei der concessio nicht nur um Zugeständnisse handelt, die Sachargumente des Gegners im engeren Sinne betreffen, sondern zugleich auch – wenn nicht sogar in erster Linie – um Zugeständnisse, die das Verhalten des Gegners betreffen. Siehe Marcus Fabius Quintilianus (1975), Institutionis oratoriae libri XII – Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher, Bd. 2, hg. und übers. von Helmut Rahn, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 288f., IX.2.51–54. Für eine eingehendere Darstellung dieses Tropus vgl. Wolfram Nitsch (1994), (Art.) Concessio, in: Gerd Ueding (Hrsg.) (1987–2011), a.a.O., Bd. 2, Sp. 309–311. 73 Scherer (1800b), a.a.O., S. 19: „Waren es auch gleich nur einzelne Stimmen, so waren sie doch um so entscheidender, als sie von der Wahrheit allein sich geleitet hören ließen. Hr. Prof. Mayer in Erlangen gehörte zu diesen Wenigen, die mit eben so vieler Gründlichkeit als Ruhe Gren’s Hypothese von der negativen Schwere des Phlogistons bestritten.“

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Tons überschritten hat, „diente sie doch dazu, die allgemeine Aufmerksamkeit der Chemiker auf diesen bisher vernachlässigten Gegenstand hinzuleiten und fernere Untersuchung desselben zu veranlassen“ und wird deshalb auch, wie Scherer in einem ausgesprochen doppelzüngigen Lob einräumt, das zugleich suggeriert, dass seine eigene Kritik an Gren natürlich keineswegs von Polemik geleitet ist, „nie aufhören ein eben so wichtiges Actenstück in dieser Geschichte zu bleiben, als sie von dem Verdienste Gren’s ze[u]gt, alles, was nur auf den Fortgang der Chemie Einfluß haben konnte, zur Sprache zu bringen.“ Was also bis zu diesem Punkt weder die erfolgte Publikationstätigkeit von Quellenschriften durch mehr oder minder neutrale Instanzen noch das wachsende Engagement von überzeugten Antiphlogistikern hatte leisten können, deren eher mäßigen publizistischen Erfolg Scherer im unmittelbaren Vorfeld dieser Passage nicht zuletzt noch einmal durch den wiederholten Gebrauch des Verbs ‚sich bemühen‘ deutlich gemacht hatte,74 das wird in dem fraglichen Zitat nunmehr also mit einer paradoxen Figur und in einer chiastischen Bewegung dem emblematischen Sauerstoffgegner Gren als unbeabsichtigtes und ungewolltes Verdienst zugesprochen. Die in der Kombination narrativer und rhetorischer Darstellungsmittel (der Umdeutung der publizistischen Ausgangslage in der erzählten Welt durch ein Verfahren, das eine gewisse Ähnlichkeit mit dem arguten concetto und dem urbanen Enthymem aufweist)75 und in dem Bemühen, den eigenen Text gegen den Vorwurf, Kritik an Polemik selbst wiederum polemisch vorzutragen, abzuschotten, gewonnene Einsicht in die Tatsache, dass individuelles Fehlverhalten auf der Aggregatebene durchaus positive Auswirkungen haben kann, unterläuft dabei unter der Hand gängige Moralvorstellungen und lässt zugleich erkennen, zu welchen (cum grano salis gesprochen) selbst- und erkenntniskritischen Höhen sich selbst eine so 74 So heißt es von den „ausführlichen Erläuterungen und Aufsätzen“, mit denen Johann Andreas Scherer die Übersetzung einer Schrift über die Wasserzerlegung begleitete, dass sich ihr Herausgeber darin „bemühte […] nicht nur die Theorie selbst, sondern auch diese ihr zur wichtigsten Stütze dienende Lehre ausführlich und deutlich zu beleuchten und auf alle aufgestellten Einwendungen genaue Rücksicht zu nehmen“ (Ebd., S. 17). Ganz ähnlich lautet auch die kurz darauf gestellte Diagnose zu einer Übersetzung einer knappen Überblicksdarstellung durch Friedrich Benjamin Wolff : „Hr. Prof. Wolff in Berlin bemühte sich ebenfalls für die Ausbreitung der neuern Theorie mitzuwirken“ (Ebd.). In beiden Fällen lässt Scherer keinen Zweifel daran, dass er diese Aktivitäten als grundsätzlich verdienstvoll bewertet wissen will – inwieweit sie von Erfolg gekrönt gewesen sind, lässt er hingegen wohl kaum zufällig offen. 75 Argutes concetto im Sinne (eines Ensembles) von rhetorischen Operationen, die einem bekannten oder vorausgesetzten Konzept oder Sachverhalt durch die spezifische Art der Darstellung eine neue, überraschende und zum Teil paradoxe Ansicht oder Wendung geben – etwa (im Einzugsbereich der Tropenlehre) durch die identifizierende und disjungierende Konfrontation mit einem zweiten Konzept bzw. Sachverhalt oder aber (im Einzugsbereich der Argumentationslehre) durch den kalkulierten Einsatz mehr oder minder leicht durchschaubarer Trugschlüsse und Paralogismen (den urbanen Enthymemen im engeren Sinne) – oder umgekehrt einen komplexen, rätselhaften oder paradoxen Sachverhalt einer überraschend einfach erscheinenden Auflösung zuführen, wobei sich diese Techniken namentlich im spanischen und italienischen Barock großer Beliebtheit erfreut haben: Vgl. vor allem Emanuele Tesauro (1960), Il cannocchiale aristotelico. Faksimile-Druck der Ausgabe Turin 1670, hg. u. eingel. v. August Buck, Bad Homburg u.a.: Gehlen, S. 494 und Baltasar Gracián (1987), Agudeza y arte de ingenio, hg. v. Evaristo Correa Calderón, 2 Bde., Madrid: Castalia. Dabei macht namentlich

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schlichte Erzählgattung wie die litterärhistorische Abhandlung – jedenfalls wenn man sie zu lesen versteht und ernst nimmt – aufschwingen kann. Doch eben weil sie – wenn man sie ernst nimmt – die mit erheblichem erzählerischem Aufwand allererst konstruierten Moralvorstellungen und das eigentliche Ansinnen des Textes, nämlich zur Sachlichkeit anzuhalten, unterläuft, ist mit ihrer Frage nach den allgemeinen Konsequenzen des Individuellen zugleich bis zu einem gewissen Grade auch das (moralische) Steuerungspotential dieser Gattung in Frage gestellt. Wie um diese Ambiguitäten vergessen zu machen und zugleich ad oculos zu demonstrieren, wie sehr die Verteidiger der phlogistischen Chemie inzwischen bereits argumentativ wie moralisch abgewirtschaftet haben, setzt Scherer denn auch bei der zweiten ausführlicher kommentierten Veröffentlichung aus dem Kreis der Gegner der Sauerstoffchemie, für die dies eine Mal nicht der eine Gegner und Lieblingspappkamerad Gren, sondern Johann Christian Wiegleb (1732–1800) einsteht, auf einen ungeschützten Frontalangriff und bedient sich dabei, um auch ja keine Zweifel an der Eindeutigkeit seines Urteils aufkommen zu lassen, zugleich der Holzhammermethode der expliziten Leseradresse: Wer indeß die Art kennen zu lernen begierig ist, wie man unter der Würde eines Wahrheitsforschers, blos fulminirend und radotirend über das neue System und das Verdienst seiner forschenden Gründer herfallen kann, dem gewährt dieses Iahr eine treffliche Probe an Hn. Wieglebs Beweisgründen des geläuterten Stahlischen Lehrbegriffs vom Phlogiston und der Grundlosigkeit des neuen chemischen Systems der Franzosen – welche weitschweifige Abhandlung ein ganzes Monatsstück der chemischen Annalen […] ausfüllt. Man hat sie ins französische übersetzt […] geliefert, aber nach Verdienst gewürdigt – d.h. unbeantwortet gelassen.76

Ganz wie zuvor bei Gren erfolgt die Bewertung auch in diesem Fall nicht nur anhand der Eigenschaften der fraglichen Schrift, sondern wird durch eine Evaluation ihrer Wirkung ergänzt. Während die Pointe bei Gren allerdings darin liegt, dass er durch seine „Heftigkeit und Ungerechtigkeit“ das Gegenteil von dem erreicht, was er eigentlich erreichen will, nämlich die Stärkung anstelle der Schwächung der Sauerstofftheorie, und ihm der Schuss also, bildlich gesprochen, nach hinten losgeht, liegt die Pointe bei Wiegleb darin, dass er durch sein ‚Fulminieren und Radotieren‘ überhaupt gar keine Wirkung mehr erzielt, der Schuss also, bildlich gesprochen, gar 75 das Beispiel Graciáns, der die fraglichen Kunstgriffe sowohl in seinen Werken zur Poetik als auch in seinen der Weltklugheit und Privatpolitik gewidmeten Schriften verhandelt, deutlich, dass diese keineswegs nur harmlosen poetischen Effekten, sondern durchaus auch der kalkulierenden Beugung und Umdeutung der Wahrheit dienen und im Dienste der Täuschung oder aber ihrer öffentlichen Aufdeckung stehen können. Es nimmt daher nicht Wunder, wenn auch Graciáns Agudeza y arte ingenio, die das fragliche Figurenarsenal grundsätzlich eher auf sein dichterisches Potential abzuklopfen versucht, unter den Rubra „[d]e las crisis irrisorias“ (Ebd., Bd. 1, S. 254–265) und „[d]e la agudeza crítica y maliciosa“ (Ebd., Bd. 1, S. 279) zugleich auch Verfahren benennt, durch die man die Torheit (‚necedad‘) oder Böswilligkeit (‚malicia‘) eines Dritten auf argute Weise aufdecken und in seinen Konsequenzen lächerlich machen kann – was ziemlich genau das ist, was Scherer, bei aller Reserviertheit des 18. Jahrhunderts gegenüber den fraglichen Figuren in der Theorie, im vorliegenden Falle ganz praktisch tut. 76 Ebd., S. 21.

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nicht erst zündet. Und in der Tat erhält Wiegleb auf seine Schrift, deren buchstäbliche Unsäglichkeit und Nicht-der-Rede-wert-Sein Scherer in dieser gleichsam selbstredenden damnatio memoriae vorführt und genüsslich auskostet, gleich im doppelten Sinne des Wortes keine Antwort mehr. Denn genaugenommen hat man sie, wenn man denn Scherers Einschätzung ihrer Rezeption in Frankreich Glauben schenken darf, nicht nur jenseits des Rheins „unbeantwortet gelassen“.77 Vielmehr lässt Scherer, anders als zuvor bei der ähnlich gelagerten Invektive Grens, dessen Theorie der negativen Schwere des Phlogistons immerhin noch die Ehre zuteilgeworden war, in einer Einlassung Johann Tobias Mayers eine wenn auch vernichtend ausfallende Antwort zu erhalten,78 auch im weiteren Verlauf der Geschichte der Ausbreitung niemanden mehr direkt auf Wiegleb antworten. Ja mehr noch, er lässt ihm auch keine direkt zitierte oder referierte Äußerung, die sich weiterhin uneingeschränkt zur Phlogistik bekennt, mehr folgen. Tatsächlich handelt es sich um die letzte Äußerung dieser Art und mit ihr kommt gleichsam – wie nicht zuletzt auch der Gebrauch des Perfekts im letzten Satz des Zitats anzeigt – auch der Handlungsbogen der angriffslustigen Phlogistiker zum Abschluss. Insofern dürfte es umso weniger ein bloßer Zufall sein, dass Scherer in diesem Zusammenhang auf eine persönliche Ansprache des Lesers setzt: Hier gilt es deutlich zu machen, dass es, anders als vielleicht noch bei Gren, an einem Verhalten, wie es Wiegleb übt, überhaupt nichts mehr zu beschönigen gibt – und was könnte diese Tatsache besser unterstreichen als eine explizite Leseradresse, durch die der Leser geradezu mit der Nase darauf gestoßen wird, dass ihm eine verhaltensnormative Äußerung präsentiert wird, deren Erfüllung auch von ihm erwartet wird, und die der Leser somit relativ einfach als eine an ihn selbst gerichtete Aufforderung identifizieren kann, ohne dass es dazu noch umständlicher Inferenzen aus oder hermeneutischer Klimmzüge entlang der narrativen Struktur des Textes bedürfte? Deutlich subtilerer Strategien der Überzeugung bedient sich Scherer demgegenüber bei der Darstellung der Positionen der Befürworter der Sauerstofftheorie. Dabei lässt er im Rahmen der Darstellung der Periode der Hauptauseinandersetzung insgesamt drei Autoren – nämlich Heinrich Friedrich Link (1767–1851), Johann Tobias Mayer (1752–1830) und Georg Simon Klügel (1739–1812) – in direkter Rede zu Wort kommen. Eine Reihe von inhaltlichen und formulierungsmäßigen Motiven kehrt dabei wie schon im Falle der Folge von Referaten, die Scherer im Verlaufe der 77 Dabei stellt womöglich auch noch die Wahl der Verben fulminieren (‚wettern, toben, zänkisch sein, den päpstlichen Bannstrahl richten‘) und radotieren (‚albern reden, faseln oder geschwätzig sein‘) eine kleine ironisierende Stichelei Scherers dar: Schließlich handelt es sich bei ihnen um Ausdrücke französischer Herkunft, deren Semantik noch dazu durchaus mit dem zeitgenössischen Klischee des ebenso geschwätzig-effekthascherischen wie umstürzlerisch-diktatorischen Franzosen übereinkommt – Prädikate, die denn auch tatsächlich in der zeitgenössischen Debatte auf das ‚französische System in der Chemie‘ ihre Anwendung gefunden haben (vgl. Hellmut Vopel (1972), Die Auseinandersetzung mit dem chemischen System Lavoisiers in Deutschland, am Ende des 18. Jahrhunderts, Leipzig: Dissertation, S. 217–235). Die Pointe in Scherers Darstellung läge dann darin, dass er diese im doppelten Sinne als ‚französisch‘ konnotierten Epitheta bewusst auf den deutschen Kritikaster am französischen System der Chemie, und damit gleichsam auf einen ihrer Urheber, zurückwendet. 78 Vgl. Scherer (1800b), a.a.O, S. 19.

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Periode der unparteiischen Publikationen Grens Einwänden gegen die Sauerstofftheorie gewidmet hatte – mit der die vorliegende Reihe der Form nach ohnedies einiges gemeinsam hat und auf die sie in gewisser Hinsicht geradezu zu replizieren scheint – in allen drei Zitaten wieder, wodurch eine Art von gemeinschaftlicher Basslinie erzeugt wird. Das betrifft insbesondere die Semantik, derer sich die drei Autoren dabei zur Charakterisierung der Sauerstofftheorie bedienen – eine Semantik, die auf das Konzept von Ockhams Skalpell und das damit verbundene Ideal der ökonomischsten oder sparsamsten als der besten Erklärung verweist. Oberhalb dieser gemeinsamen Basslinie erhebt sich hingegen der Sirenengesang einer Steigerungsrhetorik, der sowohl die Ausdrucks- als auch die Inhaltsebene betrifft. Der Einsatz eines solchen Verfahrens der (auseinandergezogenen) gradatio oder des incrementums79 lässt sich dabei bereits an der unterschiedlichen Intensität des Einbezugs der Sprechersubjektivität in den Aussagegehalt der jeweiligen Eingangssätze der drei Einlassungen ablesen, die auf unterschiedliche Grade der Identifikation der drei Autoren mit der Sauerstofftheorie verweisen und in der gegebenen Abfolge den allmählichen Prozess einer allgemeinen Annäherung an den Punkt vollständiger Konversion nachzeichnen. Während sich die erste Einlassung bei aller erkennbaren Sympathie für die Sauerstoffchemie insgesamt nämlich noch als eher kühl abwägende und distanzierte Reflexion über den Nutzen und Nachteil der neuen Theorie

79 Die Begriffe der gradatio und des incrementums bezeichnen zwei verwandte (und deshalb seit der Neuzeit zuweilen miteinander identifizierte), aber grundsätzlich unterscheidbare Verfahren der Steigerung, die freilich auch miteinander kombiniert werden können. Tendenziell liegt der Akzent der gradatio oder κλίμαξ als einer auf dem Prinzip der Wiederholung basierenden Wortfigur eher auf dem Aspekt sprachlicher Gestaltung, während das incrementum als Sinnfigur stärker unter dem Gesichtspunkt seiner begriffsgestaltenden Wirkung diskutiert wird. In diesem Sinne lässt sich die gradatio im engsten Sinne als Figur der „Wiederholung eines Wortes in unmittelbarem Kontakt“ definieren, „so daß ein Komma oder Kolon mit dem Wort oder Ausdruck beginnt, mit dem das vorhergehende endigt“, wobei diese Definition häufig durch das Kriterium einer „stufenweise[n] Anordnung von einander jeweils überbietenden Begriffen […], die eine Steigerung der Intensität herbeiführt“ ergänzt wird, das die gradatio freilich bereits in die Nähe des incrementums bringt, zugleich allerdings latent auch das Erfordernis eines unmittelbaren Kontaktes von wiederholtem und wiederholendem Ausdruck lockert und insofern auch Formen legitimiert, in denen – wie in dem hier zu diskutierenden Falle – eine Wiederaufnahme über größere Distanzen erfolgt. Vgl. John Kirby & Carol Poster (1998), (Art.) Klimax, in: Ueding (Hrsg.) (1987–2011), a.a.O., Bd. 4, Sp. 1106–1115, hier: Sp. 1106f. Das incrementum lässt sich demgegenüber als Verfahren beschreiben, „das dem Redner dazu dient, ein Argument stufenweise zu entwickeln, indem er nach und nach dessen logische Bedeutung und dessen emotionalen Gehalt erweitert.“ Insofern betrifft denn auch das incrementum im Gegensatz zur gradatio „nicht nur den rein sprachlichen Ausdruck, sondern dreht sich sozusagen um die konzeptionelle Definition einer Sache.“ Vgl. Rosanna Valenti (1998), (Art.) Klimax, in: Ueding (Hrsg.) (1987–2011), a.a.O., Bd. 4, Sp. 322–324, hier: Sp. 322 und Sp. 323. Aus diesem Grund macht es daher, wie die folgende Lektüre zeigen wird, auch Sinn, das von Scherer verwendete Verfahren als eine Kombination einer gradatio im Sinne einer (zerdehnten) Folge von Wiederaufnahmen und eines incrementums im Sinne einer Steigerung von Ausdrücken oder genauer gesagt: Ausdrucksweisen (der Intensität nach) und einer Steigerung von Begriffen (ihrer Richtigkeit und Angemessenheit nach) zu beschreiben.

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unter den gegenwärtigen Umständen gibt,80 wirft der Verfasser des zweiten Zitats bereits sein eigenes Ich in die Waagschale und beschreibt die aktuelle eigene Haltung in der Auseinandersetzung als das Resultat eines Prozesses der bedachten Herausbildung einer neuen Überzeugung, die er freilich – wie eine begleitende Bescheidenheitsfloskel deutlich macht – vorläufig noch vom Anspruch einer widerspruchslosen Annahme durch die Allgemeinheit auszunehmen bemüht zu sein scheint.81 Einen noch stärkeren Einbezug des Subjekts findet man schließlich bei der dritten Äußerung von Klügel, die sich geradezu wie das Geständnis einer Konversion liest. Denn sie hebt direkt an mit dem Satz: „Ich habe das neue französische System in der chemischen Physik angenommen.“ 82 Vor diesem Hintergrund ist es daher nur konsequent, wenn sich das Stilmittel der chronologisch indizierten Steigerung auch auf der Ebene der Aussagegehalte der drei Zitate wiederfindet. Das betrifft zunächst einmal das Vokabular, das bei der Kennzeichnung des epistemologischen Status der Antiphlogistik Anwendung findet, die von der einen letzten Rest an Skepsis bewahrenden Bezeichnung der Sauerstofftheorie als „Hypothese“83 über ihre relativ neutrale Benennung als „neue Theorie“84 zu einer unverhohlen positiven Einlassung führt, die, indem sie einen bereits in der vorangegangenen Einlassung impliziten Gedanken explizit macht, für diese „neue Theorie“ selbstbewusst den Status eines fehlerfrei aus allgemeingültigen Sätzen deduzierbaren Aussagenexus reklamiert und dekretiert: „Sie ist also nicht sowohl eine Hypothese, als vielmehr eine Anwendung einiger allgemeiner Phänomene, sie wird Berichtigungen zulassen, aber schwerlich ganz umgestoßen werden.“85 Über das zur Kennzeichnung des epistemologischen Status der Antiphlogistik eingesetzte Vokabular hinaus erstreckt sich der Applikationsbereich der gradatio oder des incrementums aber schließlich auch auf eine – gleichsam einen fortschreitenden Erkenntnisprozess abbildende – konzeptuelle Ebene, wobei alle Zitate stets den Weg von einer Bewertung (einer mehr oder weniger intensiven Befürwortung) der Antiphlogistik bzw. des Sauerstoffs zur Bewertung (einer mehr oder weniger dezidierten 80 Scherer (1800b), a.a.O., S. 16: „Für den jetzigen Zustand der Chemie ist die antiphlogistische Hypothese gewiß die vortheilhafteste, so unbrauchbar sie auch gewiß zu Stahls Zeiten gewesen wäre.“ 81 Ebd., S. 19:„Ich habe durch langes Nachdenken über die Gründe für und wider das Phlogiston, wenigstens für meinen Theil mich überzeugt, daß die neue Theorie Lavoisiers […] die einfachste sey, die bisher bekannt geworden ist, und daß sich die Einwürfe dagegen […] hinreichend beantworten lassen.“ 82 Ebd., S. 23. Liest man bei Klügel selbst nach, so wird angesichts des von Scherer stillschweigend unterdrückten Nachsatzes „mit wie vielem Rechte, muß die Abhandlung selbst lehren“ freilich deutlich, dass ersterer den Ausdruck ‚annehmen‘ hier eher im Sinne von ‚Annahme‘ oder ‚Hypothese‘ denn im Sinne von ‚Bekehrung‘ oder ‚Konversion‘ verwendet. Vgl. Georg Simon Klügel (1792), Anfangsgründe der Naturlehre in Verbindung mit der Chemie und Mineralogie, Berlin & Stettin: Nicolai, o.S [Vorrede]. Gerade die Tatsache, dass Scherer diesen Einschub auslässt, verstärkt allerdings in seinem eigenen Text den Eindruck, Klügel habe sich in der Tat zu seiner Bekehrung bekannt. 83 Scherer (1800b), a.a.O., S. 16. 84 Ebd., S. 19. 85 Ebd., S. 23.

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Ablehnung) der Phlogistik bzw. des Phlogistons nehmen. Vergleichsweise tolerant gibt sich in diesem Zusammenhang noch die erste Einlassung Links, in der die ‚antiphlogistische Hypothese‘ als für „den jetzigen Zustand der Chemie“ zwar unumwunden als die „vortheilhaftetste“ bezeichnet wird, der ‚phlogistischen Hypothese‘ aber zumindest eine historische Existenzberechtigung zugesprochen wird, insofern zu bedenken gegeben wird, dass sie „zu Stahls Zeiten“ die Funktion „einigermaßen Einheit in den Haufen der Erscheinungen“ zu bringen, durchaus gut erfüllt habe, wohingegen „zu viel Distinctionen […] damals zu fein gewesen“ wären86 – und erst im Anschluss an diese concessio zum Schlag gegen den Gebrauch des Phlogistons in der gegenwärtigen Chemie ausgeholt wird, indem unter Verweis auf die Einsicht der Antiphlogistik in die „Verschiedenheit der Körper“ für den „Phlogistiker“ klargestellt wird: „Wie gezwungen muß dieser nicht alle Erscheinungen bey der Analyse der organischen Körper erklären, da hingegen jener statt des einen Phlogiston drey hat.“87 Demgegenüber liest sich die zweite Einlassung nicht nur als sehr viel nachdrücklicher formulierte Zurückweisung der Phlogistik und als explizite Antwort auf entsprechende Äußerungen ihrer Verteidiger, wie Scherer sie zuvor (folge-)richtig auch schon seinem Lieblingsgegner Gren in den Mund gelegt hatte, sondern wirft zugleich auch implizit ein kritisches Licht auf die zuvor zitierte Position, wenn er schreibt: „Auch kennen ohne Zweifel diejenigen Lavoisiers System nicht genug, welche behaupten, er nehme ja im Grunde doch das Phlogiston nur unter einem anderen Namen, nämlich den [sic!] von ihm sogenannten Kohlenstoff an.“88 Lässt diese Erklärung schon an Deutlichkeit gegenüber den Vertretern der Phlogistik kaum mehr etwas zu wünschen übrig, während sie zugleich den Verdacht schürt, dass in ihr – so wie sie hier von Scherer zitiert wird – durchaus auch die Position Links mitgemeint sein könnte, so setzt Klügels Stellungnahme schließlich, wenn man so sagen darf, in beiderlei Hinsicht noch einen drauf: Das Phlogiston der teutschen und englischen Physiker ist gar ein zu schwankender Begriff. Die vielen verschiedenen Bedeutungen, die man dem Worte Phlogiston beylegt, beweisen schon, wie wenig Realität es hat. Es stört wirklich den Zusammenhang der Erscheinungen und wird oft gezwungener Weise angenommen. 89

In der Tat wirkt dieser Kommentar wie eine Umkehrung der Argumentation der ersten Einlassung – also wie das, was in der rhetorischen Tradition zuweilen als Retorsion bezeichnet worden ist.90 Denn während Link letztlich noch die Auffassung 86 87 88 89 90

Ebd., S. 16. Ebd., S. 16f. Ebd., S. 19. Ebd., S. 23f. Vielleicht am besten auf den Punkt gebracht von Arthur Schopenhauer: „Ein brillianter Streich ist die retorsio argumenti: wenn das Argument, das er für sich gebrauchen will, besser gegen ihn gebraucht werden kann; z. B. er sagt: ‚es ist ein Kind, man muß ihm was zu gute halten‘: retorsio ‚eben weil es ein Kind ist, muß man es züchtigen, damit es nicht verhärte in seinen bösen Angewohnheiten.‘“ Vgl. Arthur Schopenhauer (1985), Eristische Dialektik, in: Arthur Schopenhauer, Der handschriftliche Nachlaß in fünf Bänden, hg. v. Arthur Hübscher, München: Deutscher Taschenbuch-Verlag, Bd. 3, S. 687, Kunstgriff 26.

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vertreten hatte, dass sich das Phlogiston in gewissem Grade verteidigen und in Schutz nehmen lässt, solange man sich bewusst hält, dass durch diesen Ausdruck mehrere Bedeutungen bzw. unterschiedliche Begriffe bezeichnet werden, deren Inhalt näherungsweise mit der begrifflichen Summe dreier verschiedener Substanzen im Rahmen antiphlogistischer Theoriebildung übereinkommt, stellt Klügel im Gegenteil klar, dass man das Phlogiston eben gerade deshalb in keinem Falle in Schutz nehmen kann, weil sein Begriff offenkundig mehrere Bedeutungen hat. Diese Reflexion enthüllt ein zugrundeliegendes Problem, nämlich, dass man immer noch nicht hinreichend verstanden hat, dass es nicht um einen bloßen Wortstreit geht – wobei die Pointe darin liegt, dass der Vorwurf, nicht verstanden zu haben, dass es nicht nur um einen bloßen Wortstreit geht, nunmehr nicht nur an die Position der Gegner der Sauerstofftheorie (unter diesen allen voran Gren) geht, sondern sich als ein Denkmuster enthüllt, das sich bis in die Reihen der Befürworter der Sauerstofftheorie erstreckt hat und damit (womöglich) in der Mitte der Befürworterschaft als systematisches (Rezeptions-)Missverständnis ein Erkenntnishindernis dargestellt haben könnte. Damit erweist sich diese im Modus einer dreistelligen gradatio/incrementums erzählte Geschichte von der zunehmenden epistemologischen Durchdringung der Grundlagen der Sauerstofftheorie durch die ihr grundsätzlich positiv gegenüberstehenden Chemiker und der sukzessiven (wenn nicht Aufhebung so doch) Überwindung der ihrem Verständnis und ihrer Verbreitung entgegenstehenden Erkenntnishindernisse also als eine durchaus ausgeklügelte Reflexion, die die schlichte moralische Erzählung von einer Sauerstoffchemie, der es vor allem aufgrund des unbotmäßigen Verhaltens ihrer Gegner schwer wird, sich durchzusetzen, dementiert und konterkariert und – jedenfalls dem, der sie zu lesen versteht – den Ratschlag an die Hand gibt, die Schwierigkeiten bei ihrer Durchsetzung auch auf der Seite ihrer Befürworter und in im engeren Sinne epistemologischen Problemen zu erkennen, und die so noch einmal zeigt, welch erkenntniskritisches Niveau sich im Medium einer doch eher simpel gehaltenen Narration wie der Geschichte der Ausbreitung durchaus auch erreichen lässt – auch wenn letztlich der Zweifel zurückbleibt, ob Überlegungen dieser Art am Ende nicht doch von der Eingängigkeit und Sinnfälligkeit der Gegnerschaftserzählung überdeckt worden sein dürften. Blickt man von diesem Punkt der Lektüre, an dem in der erzählten Welt der Geschichte der Ausbreitung mit dieser Klimax zweifellos ein erster Bruchpunkt erreicht ist, auf den bisherigen Gang der Narration zurück, so markiert die in eine explizite Leseradresse verwobene Charakterisierung (der Publikation) Wieglebs als eindeutiges Negativbeispiel zweifellos die endgültige moralische und damit indirekt auch die epistemologische Niederlage der Phlogistik(er), während der Abschluss der im Medium von Steigerungs- und Retorsionsrhetorik erfolgenden Schilderung des Prozesses eines sukzessiven Zu-sich-selbst-Kommens der Sauerstofftheorie und der allmählichen Überwindung der sich ihr in den Weg stellenden Erkenntnishindernisse als Positivbeispiel gleichsam den epistemologischen Sieg der Antiphlogistik(er) bezeichnet, in dem sich zugleich die Aussicht auch auf einen sozialen oder institutionellen Triumph anzudeuten beginnt. Vorbereitet wird diese Konstellation ihrerseits durch die Beschreibung von Grens polemischer und die Grenzen des wissenschaft-

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lichen Umgangstons eindeutig überschreitenden Auseinandersetzung mit Lavoisiers Traité élémentaire de chimie als einem weiteren Negativbeispiel, in dem die Reihe der bereits auf eine zunehmende Verhärtung hindeutenden Referate vorausgegangener Stellungnahmen Grens kulminiert. Alle drei Stationen stehen also im Dienste einer mehr oder weniger expliziten moralischen Bewertung diskursiver und publizistischer Verhaltensweisen im Feld der Wissenschaften und üben damit als ‚Exempel‘ in Scherers Geschichte der Ausbreitung die wissenschaftsethische Funktion litterärhistorischer Erzählungen aus. Unter einem sprechaktheoretischen Gesichtspunkt betrachtet erfüllen sie damit letztlich die Funktion von direktiven Sprechakten. Denn der illokutionäre Witz oder Zweck (illocutionary point) von direktiven Sprechakten besteht schließlich darin, „daß sie Versuche des Sprechers sind, den Hörer dazu zu bekommen, daß er etwas tut“ – sei es nun in der Form, oder genauer gesagt, mit dem Intensitätsgrad (degree of strength) einer Empfehlung, eines Wunsches, einer Bitte, einer Aufforderung oder aber eines Befehls.91 Dabei lassen sich solche Direktiva, deren propositionaler Gehalt (propositional content) darin besteht, dass „der Hörer eine künftige Handlung h vollzieht“, im Rahmen einer Taxonomie, die die unterschiedlichen Typen von Sprechakten oder illokutionären Kräften (illocutionary forces) nach dem – letztlich auf die alte Unterscheidung zwischen res und verba rekurrierenden – Kriterium der sich in ihnen realisierenden Ausrichtung (direction of fit) der Beziehung zwischen ‚Welt‘ und ‚Wörtern‘ klassifiziert, einer „Welt-aufWort“-Ausrichtung zuordnen, gehen sie doch darauf aus, „die Welt zu den Wörtern passen zu lassen“92 – im Gegensatz etwa zu den Assertiva, deren propositionaler Gehalt darin besteht, „daß etwas der Fall ist“, und deren Ausrichtung auf eine „Wortauf-Welt“-Ausrichtung hinausläuft, insofern sie darauf ausgehen „die Wörter […] zur Welt passen zu lassen.“93 Von daher lassen sich die drei angesprochenen Stationen der Periode der Hauptauseinandersetzung also in der Tat als mehr oder weni91 John R. Searle (1979), Eine Taxonomie illokutionärer Akte, in: John R. Searle, Ausdruck und Bedeutung. Untersuchungen zur Sprechakttheorie, übers. v. Andreas Kemmerling, Frankfurt/ Main: Suhrkamp, S. 17–50, hier: S. 32. 92 Ebd., S. 32 bzw. S. 19. 93 Ebd., S. 31 bzw. S. 19. Für eine erfolgreiche Ausführung (successful performance) eines direktiven Sprechakts kommt es im Übrigen nicht darauf an, dass der Aufforderung auch Folge geleistet wird. Ebensowenig spielt es für die erfolgreiche Äußerung einer Behauptung eine Rolle, ob sie (bzw. ihr propositionaler Gehalt) wahr ist, wenngleich die Äußerung einer Behauptung, wenn man über keine hinreichenden Gründe zum Beleg ihrer Wahrheit verfügt, nach Searle als fehlerhaft (defective) bezeichnet werden muss. Die bei Austin unter dem Begriff des (kausalen) perlokutionären Effekts (vgl. Austin (1972), a.a.O., S. 112–134) verhandelte Frage nach den Folgen von Sprechakten diskutiert Searle unter dem (aufgrund seiner Verwechselbarkeit mit der Opposition zwischen erfolgreicher und nicht-erfolgreicher Ausführung nicht wirklich glücklich gewählten) Begriffspaar von Erfolg und Scheitern der Welt-Wort-Ausrichtung (success or failure of direction of fit). Bei den Direktiva spricht er in diesem Zusammenhang auch davon, dass sie erfüllt bzw. nicht-erfüllt (fullfilled or unfullfilled) sein können. Oder um es im Sinne dieser Terminologie abschließend noch einmal auf den Punkt zu bringen: Ob ein Direktivum erfolgreich ist, ist gänzlich unabhängig davon, ob es erfüllt ist. Vgl. John R. Searle & Daniel Vanderveken (1985), Foundations of Illocutionary Logic, Cambridge u.a.: Cambridge University Press, S. 92–98.

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ger indirekte direktive Sprechakte von stärkerer oder schwächerer Intensität verstehen.94 Neben ihrer wissenschaftsethischen Funktion im engeren Sinne, der sie als direktive Sprechakte und somit gleichsam als ‚befolgbare‘ Teilerzählungen dienen, stehen alle drei Passagen zugleich allerdings auch mehr oder weniger unmittelbar im Dienste des narrativen Belegs der These, dass die Sauerstofftheorie gegenüber der Phlogistontheorie als ihrem Kontrahenten (bereits) den Sieg davongetragen hat oder aber (am Ende) davontragen wird und üben damit in Form einer (wie immer rudimentären) ‚Geschichte‘ die forschungspragmatische Funktion aus, im Medium einer plausiblen und gleichsam ‚verfolgbaren‘ Gesamterzählung den Eindruck eines sukzessive durch einzelne Wissenssegmente besetzten, zugleich aber auch verbleibende weiße Flecken offenbarenden chemischen Wissensfeldes zu etablieren und, mehr noch, ja sogar in erster Linie, die Vorstellung eines allmählichen oder plötzlichen Außer-Kraft-Setzens einzelner Wissenssegmente (bzw. des Forschungsparadigmas der Phlogistik) und des damit einhergehenden In-Geltung-Setzens anderer Segmente (bzw. des Paradigmas der Antiphlogistik ) zu erzeugen. Insofern könnte man sagen, dass sie – in sprechakttheoretischem Vokabular gesprochen – allesamt im Dienste eines großen deklarativen Sprechaktes stehen, der sich gleichsam auf die Gesamterzählung der Geschichte der Ausbreitung erstreckt und seine Geltung aus ihrem schlussendlichen Ausgang bezieht. Denn das „definierende Merkmal“ dieser Klasse von Sprechakten besteht eben darin, „daß der erfolgreiche Vollzug eines ihrer Elemente eine Korrespondenz von propositionalem Gehalt und Realität zustande bringt; der erfolgreiche Vollzug garantiert, daß der propositionale Gehalt der Welt ent94 Die Unterscheidung zwischen direkten und indirekten illokutionären Sprechakten bezieht sich dabei auf die Frage, ob sich der illokutionäre Zweck eines Sprechakts unmittelbar an der sprachlichen Struktur der Äußerung ablesen lässt (also etwa durch den Gebrauch des Imperativs bei einer Aufforderung) oder aber erst aus einer sprachlichen Form, durch die eigentlich ein anderer illokutionärer Sprechakt bezeichnet wird, erschlossen werden muss (etwa, wenn eine Aufforderung als Frage formuliert wird). Dabei können indirekte Sprechakte unterschiedlich stark konventionalisiert sein: So stellt die Frage „Kannst Du mir das Salz geben?“ (als sogenannte sekundäre Illokution) ein sehr stark konventionalisiertes Äquivalent für die Bitte „Gib mir bitte das Salz!“ (als sogenannte primäre Illokution) dar. Die Aussage „Es zieht!“ stellt hingegen bereits ein deutlich weniger konventionalisiertes und stärker kontextabhängiges Äquivalent der Bitte „Schließ bitte das Fenster!“ dar. Und ob die Frage „Wie sollen wir es denn heute mit dem Essen halten?“ in jedem Fall als eine sekundäre Illokution erkannt wird, die eigentlich die Aufforderung „Koch mir was!“ als primäre Illokution bedeuten soll, lässt sich mit Recht bezweifeln. Dabei deutet sich in diesen Beispielen allerdings auch schon an, dass der Intensitätsgrad einer illokutionären Kraft – anders als Searle anzunehmen scheint, der offenbar davon ausgeht, dass dieser sich ohne Weiteres an der lokutionären Form des fraglichen Sprechakts ablesen lässt – nicht wirklich unabhängig vom Grad der Indirektheit des Sprechakts ist, durch den er zum Ausdruck gebracht wird. Zwar gibt es natürlich auch hier eine Reihe von Regularitäten, mehr oder weniger konventionalisierten Anzeichen und entsprechenden Erfahrungswerten. So wird die Frage „Kannst Du mir das Salz geben?“ zumeist als Bitte, die Frage „Kannst Du endlich damit aufhören?“ hingegen eher als Befehl aufgefasst werden. In letzter Instanz allerdings – und insofern stellt die von Searle offenbar angenommene Unabhängigkeit zwischen Intensitätsgrad und Indirektheit eines illokutionären Sprechakts eigentlich nur eine Konsequenz aus der Tatsache dar, dass seine Version der Sprechaktheorie so gut wie aus-

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spricht.“ 95 Insofern zeichnen sie sich durch eine simultane Ausrichtung von „Wortauf-Welt“ und von „Welt-auf-Wort“ aus. Und wie die inzwischen klassisch gewordenen Beispiele „Hiermit sind Sie entlassen!“ und „Hiermit erkläre ich Sie zu Mann und Frau!“ illustrieren, führen sie in der Tat „allein kraft des Umstands, daß sie erfolgreich vollzogen wurden, eine Änderung im Status oder der Lage desjenigen Gegenstands […] herbei, über den […] gesprochen wird.“96 Nun könnte man gegen diese Sichtweise freilich einwenden, dass es sich bei dem vorliegenden Fall eigentlich nur um die Behauptung eines Sachverhaltes, und damit bloß um einen assertiven Sprechakt handelt, zumal der erfolgreiche Vollzug eines deklarativen Sprechakts zumindest Searle zufolge im Allgemeinen an die Existenz einer außersprachlichen Institution gebunden ist, in der der Sprecher eine bestimmte Position innehaben muss, die ihn allererst zum Vollzug des fraglichen Typus von Deklaration berechtigt – und zumindest auf den ersten Blick nicht erkennbar ist, im Dienste welcher Institution Scherer eigentlich stehen sollte und welche Position er einnehmen könnte, die ihn zur Äußerung eines entsprechenden deklarativen Sprechaktes berechtigen würde. Wenn ich nun trotzdem darauf beharre, dass es sich hier um einen deklarativen Sprechakt handelt, so geschieht das vor allem aus zwei Gründen. Zum einen räumt Searle selbst die Existenz von „Überschneidungen“ zwischen assertiven und deklarativen Sprechakten ein. Das gilt vor allem für jene Klasse von Sprechakten, die Searle mit dem Begriff der „assertiven Deklarationen“ belegt. Diese liegen immer dort vor, wo – wie etwa bei einem Schuldspruch vor Gericht – zwar bestimmte Personen in der Tat „die Autorität besitzen müssen, um endgültig darüber zu befinden, was der Fall ist“, diese Entscheidung aber im Anschluss an ein (wie immer rudimentäres) „Ermittlungsverfahren“ und auf der Basis von „Tatsachenbehauptungen“ erfolgt, die sich auch „in der Dimension der Wort-auf-Welt-Ausrichtung beurteilen lassen“, so dass die „asser95 schließlich von der Intention des Produzenten her konzeptualisiert ist, und die Rolle der Interpretation durch den Rezipienten beinahe vollständig ignoriert – kommt es damit immer auch darauf an, welchen Intensitätsgrad der jeweilige Rezipient an einem illokutionären Sprechakt wahrnimmt. Denn auch wenn etwa der Erfolg eines direktiven Sprechakts nicht davon abhängt, ob er befolgt oder nicht befolgt wird, so spielt es eben doch eine Rolle, ob er vom Rezipienten überhaupt als solcher verstanden und falls ja, welche Intensität ihm dabei zugemessen wird. Dass dies bei der Analyse der Sprechaktstruktur von Erzähltexten, die ihr handlungs- oder verhaltensbezogenes Anliegen in den meisten Fällen eben nur indirekt vortragen, ein systematisches Problem darstellt, dürfte auf der Hand liegen. Leider helfen hier auch die Arbeiten zum Zusammenhang von Sprechakttheorie und Literatur nicht sonderlich weiter, deren Produktion ohnedies nach einigen vielversprechenden Anfängen in den 1970er und 1980er Jahren, die sich in Deutschland etwa mit Wolfgang Isers Konzept der „Appellstruktur der Texte“ und international mit den Namen Mary Louise Pratt, Shoshana Felman, Stanley Fish und natürlich Paul de Man verbinden, inzwischen leider ziemlich ins Stocken geraten zu sein scheint. Aus der (halbwegs) rezenten Produktion zu dieser Thematik sei deshalb an dieser Stelle nur summarisch auf die Monographien von Sandy Petrey (1999), Speech Acts and Literary Theory, London & New York: Routledge, Michael Kearns (1999), Rhetorical Narratology, Lincoln: University of Nebraska Press und Joseph Hillis Miller (2001), Speech Acts in Literature, Stanford: Stanford University Press verwiesen. 95 Searle (1979), a.a.O., S. 36. 96 Ebd., S. 36f.

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tiven Deklarationen“ im Gegensatz zu anderen Deklarationen mit den Assertiva „eine Aufrichtigkeitsbedingung“ gemein haben.97 Zum anderen ist der historia literaria mit ihrer Bestimmung als Gattung, die der administratio oder dem regimen der Wissenschaften dienlich sein soll, eben stets schon nicht bloß eine rein epistemologisch-assertive, sondern auch eine normativ-deklarative Komponente einbeschrieben – schließlich geht es ihr nicht nur darum, einen Forschungsstand gewissermaßen aus reinem Selbstzweck abzubilden und gegebenenfalls auf seinen Wahrheitsgehalt hin zur Diskussion zu stellen, sondern diesen als Entscheidungsgrundlage für weiteres wissenschaftliches Handeln in Geltung zu setzen. Insofern ließe sich sagen, dass die historia literaria als gleichsam von der res publica literaria mit dieser Funktion belegte Gattung den Platz der von Searle für den erfolgreichen Vollzug von Deklarationen verlangten außersprachlichen Institution einnimmt, und ein Text, der sich als Instanziierung der Gattung historia literaria zu erkennen gibt, per se zumindest stets Anspruch auf den Status als (Gefüge von) Deklaration(en) macht – wobei die Frage, inwieweit dieser intendierte Vollzug einer Deklaration als erfolgreich gelten kann, zweifellos in höherem Maße von seiner nachträglichen Rezeption abhängig ist, als dies bei anderen (assertiven wie nicht-assertiven) Deklarationen der Fall ist. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen würde demnach also jede der drei Stationen – sei es in Form eines negativen oder eines positiven Beispiels – je für sich die Aufgabe eines spezifischen direktiven Sprechakts erfüllen und zugleich gemeinsam mit den beiden anderen im Dienste der einen großen übergreifenden Deklaration stehen, die die phlogistische Theorie ultimativ zum obsoleten Paradigma erklären wird. Während allerdings der direktive Sprechakt, der sich in der negativen Charakterisierung Wieglebs artikuliert (und aufgrund seiner Verknüpfung mit einer Leseradresse auch ziemlich leicht als solcher zu identifizieren ist) und der irgendwo zwischen delphischem nosce te ipsum und sokratischem scire te nihil scire anzusiedelnde direktive Sprechakt, der sich in der Darstellung der sukzessiven Überwindung der eigenen Erkenntnishindernisse ausspricht (und deutlich weniger stark als solcher markiert ist) jeweils im Einklang mit dem übergeordneten deklarativen Sprechakt steht und ihm geradezu zuarbeitet, insofern im einen Fall signalisiert wird, dass das Gute (eben weil es gut ist) den Sieg des Wahren befördert, und im anderen, dass das Böse (eben weil es böse ist) den Sieg des Wahren entweder behindert oder aber wirkungslos bleibt, gestaltet sich das Zusammenspiel von direktiver und deklarativer Funktion im Falle der Darstellung der unbeabsichtigten Folgen von Grens polemischer Auseinandersetzung mit Lavoisiers Traité deutlich weniger reibunglos. Vielmehr scheinen die beiden Dimensionen hier geradezu gegeneinander zu arbeiten. Schließlich wird in diesem Beispiel gerade das aus einem wissenschaftsethischen Gesichtspunkt heraus eindeutig zu tadelnde Verhalten von der Erzählung als ein Schritt vindiziert, der nicht unerheblich zum Aufstieg der Antiphlogistik und damit mittelbar eben auch zu jenem Sieg beigetragen hat, der es in letzter Instanz rechtfertigen wird, die Sauerstofftheorie im Sinne des forschungspragmatischen Anliegens der Geschichte der Ausbreitung zum wahren und rechtmäßig geltenden Paradigma und die Phlogistontheorie zum unwahren und berechtigtermaßen außer 97 Ebd., S. 39.

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Kraft gesetzen Paradigma zu erklären. Damit allerdings zerbricht die in den beiden anderen Stationen so sorgfältig gewahrte Allianz zwischen Wahrem und Gutem – zeigt sich hier doch, dass das Wahre sich zumindest auch dem gar nicht so Guten verdanken kann. Denkt man dies konsequent zuende, so bedeutet das, dass man entweder den zugrundeliegenden direktiven Sprechakt, der von „Heftigkeit und Ungerechtigkeit“ in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung abrät, nicht wirklich ernst nehmen muss, weil ein solches Verhalten, weit entfernt davon, die Durchsetzung der Wahrheit zu behindern, diese sogar befördern und beschleunigen kann, oder dass sich der übergeordnete deklarative Sprechakt deshalb in Frage gestellt sieht, weil der Zusammenhang von Wahrem und Guten nicht mehr gewähleistet ist und folglich auch nicht klar ist, ob denn das neue Paradigma gilt, weil es wahr ist, oder ob es einfach deshalb gilt, weil es sich hat durchsetzen können. Insofern zeigt die Lektüre der beiden ersten Perioden der Geschichte der Ausbreitung, dass die direktive und die deklarative Dimension und mit ihnen die wissenschaftsethische und die forschungspragmatische Funktion in litterärhistorischen Erzählungen zwar miteinander im Einklang stehen können, jedoch nicht unbedingt müssen, und zuweilen auch in einen latenten Widerspruch zueinander eintreten können. IV. Mit der Darstellung der literarhistorischen Ereignisse des Jahres 1793, die eine Art zweiten Höhepunkt darstellt, beginnt Scherers Erzählung schließlich einen stärker raffenden Charakter anzunehmen, durch den im Ganzen der Eindruck der Akzeleration und Multiplikation der (nunmehr zusehends ausschließlich den Anhängern der Antiphlogistik in die Hände spielenden) Ereignisfolgen entsteht – weshalb man sie in der Tat als Periode der Handlungsbeschleunigung bezeichnen kann.98 Dabei sind es vor allem zwei sprachliche Mittel, die zu diesem Eindruck beitragen: auf der einen Seite eine Kombination von Mechanismen der Aufzählung und Aussparung, auf der anderen Seite der verstärkte Einsatz von sprachlichen Mitteln der Rück- und Vorausschau. So fährt Scherer, um mit dem Instrumentarium enumerativer und elliptischer Rhetorik zu beginnen, die erzählerische Einbettung und kommentierende Einordnung der Publikationsereignisse aus diesem Jahr zum Teil auf das absolut notwendige Mindestmaß zurück, so dass stellenweise wenig mehr als eine nackte Aufzählung99 der – im Übrigen ausnahmslos auf der Seite der Befürworter der Sau98 Scherer (1800b), a.a.O., S. 24–28. 99 Dass die Rhetorik der nackten Aufzählung gleichsam schon immer zum Grundrepertoire des Erzählens gehört hat, macht dabei neben den seitenlangen Genealogien im Alten Testament nicht zuletzt das berühmte – und zumindest auf den zweiten Blick als möglicher Vergleichspunkt gar nicht so abwegige – Beispiel der Schiffskataloge im Zweiten Gesang der Ilias deutlich. Vgl. hierzu Sabine Mainberger (2003), Die Kunst des Aufzählens. Elemente zu einer Poetik des Enumerativen, Berlin: de Gruyter, insbesondere das Kapitel „Aufzählen und/oder Erzählen“ (Ebd., S. 233–248), in dem die Verfasserin unter anderem den Begriff der „[p]otentiellen Erzählungen“ einführt (Ebd., S. 237), sowie das Kapitel „Zeitdarstellung“ (Ebd., S.

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erstofftheorie zu verbuchenden – Buchtitel übrig bleibt, und die für sich genommen wahrlich kaum noch von einer bloßen Liste mit bibliographischen Einträgen zu unterscheiden ist, wie Scherer selbst sie etwa einige Jahre zuvor in einem Anhang seiner Grundzüge der neuern chemischen Theorie geliefert hatte.100 Insofern sie 100 248–261). Im Kontext der klassischen Rhetorik bezeichnet der Ausdruck enumeratio einerseits als partitio (also die vorausschickende Gliederung des zu behandelnden Stoffes) innerhalb des exordiums und als recapitulatio (also die kurze Zusammenfassung der im Zuge von narratio und argumentatio entwickelten Standpunkte) innerhalb der peroratio zwei feste Programmpunkte im Ablauf der Rede, andererseits eine an jedem beliebigen Ort der Rede einsetzbare Stilfigur der „koordinierende[n] Häufung“ von Einzelwörtern und Wortfügungen, die selbst wiederum einen (ausgedrückten oder nicht-ausgedrückten) übergeordneten (Kollektiv-)Begriff in Teilbegriffe zerlegen (Lausberg (1963), a.a.O., S. 97–100, hier: S. 97f.), und zwar zum Zwecke der „Veranschaulichung, Belebung und affektiven Verstärkung“ (Klaus Schöpsdau (1994), (Art.) Enumeratio, in: Gert Ueding (Hrsg.) (1987–2011), a.a.O., Bd. 2, Sp. 1231–1234, hier: Sp. 1232). 100 Vgl. Alexander Nicolaus Scherer (1795), Uebersicht der Literatur der neuern chemischen Theorie, in: Alexander Nicolaus Scherer, Grundzüge der neuern chemischen Theorie, Jena: Göpferdt, S. 297–384. Allerdings ist diese Bibliographie nicht chronologisch, sondern im weitesten Sinne systematisch geordnet. Während sich die „Allgemeine Literatur“ dabei in Quellen, Aufsatzsammlungen, systematische Übersichtsdarstellungen, Lehrbücher, polemische Schriften und Schriften zur Nomenklatur gliedert, ist die „Specielle Literatur“ im Großen und Ganzen zwar nach unterschiedlichen Stoffgruppen geordnet, kann dabei jedoch keine wirkliche systematische Stringenz entfalten, weil Scherer sie zugleich den einzelnen Paragraphen seines Werks zuordnet, dessen Dispositio zuweilen anderen Gesichtspunkten als rein systematischen folgt. Gleichwohl gehorcht die Gliederung der „Speciellen Literatur“ insgesamt mehr oder weniger dem Kriterium der zunehmenden Zusammengesetztheit der Substanzen, wobei sie dabei in gewisser Hinsicht auch noch die Ordnung nach den drei Naturreichen erkennen lässt: So folgt – um einen sehr groben und daher notwendig etwas unpräzisen Überblick zu geben – auf das Schrifttum zu Imponderabilien (Wärmestoff, Lichtstoff) als einfachen Substanzen zunächst die Literatur zu den Metallkalken, Gasen und Säuren (an die sich das Wasser gleichsam als Annex anschließt) als zweistelligen Verbindungen, sodann folgen die Publikationen zu den (aufgrund der Tatsache, dass sie Scherer größtenteils zuvor schon im Zusammenhang mit den Säuren verhandelt hat) als eigenständige Kategorie ziemlich stiefmütterlich behandelten Salzen als dreistelligen Verbindungen, die wiederum von Texten zu Verbindungen pflanzlicher und tierischer Provenienz gefolgt werden, um schließlich in die Verzeichnung von Abhandlungen zum Atemholen der Pflanzen und Tiere zu münden. Zum Teil lässt sich dabei in der Bezeichnung der einzelnen Sektionen noch entfernt die Bedeutung der alten Gliederung nach den vier Elementen Wasser, Feuer, Erde und Luft erkennen – ein Sachverhalt, der wohl dem didaktischen Grundanliegen von Scherers Werk und dem Ansinnen geschuldet sein dürfte, dem Leser sukzessive vor Augen zu führen, dass es sich bei diesen Entitäten eben gerade nicht um Elemente handelt. Unterbrochen wird die genannte Reihenfolge darüber hinaus zuweilen von Sektionen, die Literatur zu Kontroversen enthalten, die von systematischer Bedeutung für die Sauerstofftheorie sind, wie etwa – nicht ganz zufällig – der „Streit, ob der im Feuer bereitete Quecksilberkalk bey seiner Reduction Sauerstoffgas entbinde“ (Ebd., S. 323). Insgesamt macht die Tatsache, dass Scherer sich bemüßigt gefühlt hat, das Material dieses umfangreichen systematischen Überblicks über das Schrifttum zur Sauerstofftheorie (der im darauffolgenden Jahr noch durch einen Nachtrag auf den neuesten Stand gebracht wurde), fünf Jahre später in der Geschichte der Ausbreitung in selektiverer Form in chronologischer Ordnung zu präsentieren, im Übrigen indirekt auch deutlich, wie sehr man selbst um 1800 noch vom spezifischen Eigenwert der narrativen Variante der historia literaria überzeugt gewesen sein muss.

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dabei allerdings in einen Horizont ausführlicher abgehandelter Geschehnisse eingelassen bleiben, leisten sie in dieser Kontrastposition einen nicht unerheblichen Beitrag zum fraglichen Zeitraffereffekt. Komplementär zu dieser Strategie enumerativen Erzählens trägt zu diesem Effekt noch ein weiteres Erzählverfahren bei, das man als Technik der markierten Ellipse bezeichnen könnte und das darin besteht, den durch die enumeratio eigentlich bezeichneten Vollständigkeitsanspruch von Zeit zu Zeit durch Verweis auf die eigene Selektivität im Auf- und Erzählen zu dementieren.101 So entsteht in der Verknüpfung von forciertem Aufzählen und erkennbar gemachtem Auslassen der Eindruck einer sich zusehends beschleunigenden Folge von Veröffentlichungen, die sich die Propagation der Sauerstoffchemie auf die Fahne geschrieben haben – und 1793 erweist sich in der Sache zum einen als der Zeitpunkt, zu dem diese akzelerierten Publikationsaktivitäten das Genre der knappen (überwiegend) systemvergleichenden Überblicksdarstellung erfassen102 und zum anderen als das Jahr, in dem nach einigen (bereits zuvor geschilderten) Versuchen und – wie Scherer mithilfe der Wendung „[e]rst in diesem Jahre“ gleichsam im Vorbeigehen kritisch vermerkt – nicht ohne erhebliche Verspätung auch die neue antiphlogistische Nomenklatur Einzug hält.103 Das zweite Mittel, das den Eindruck der Akzeleration und insbesondere der Multiplikation der Ereignisfolgen bewirkt, ist die zunehmende Zahl von Formulierungen der Rück- und Vorausschau, der zum Teil ineinander verschränkten Analepsen und Prolepsen, durch die sich eine Mehrzahl teils paralleler Handlungsstränge zu überlagern beginnt.104 Dabei ergibt sich insgesamt das komplexe Bild dreier sich überkreuzender Handlungsäste: Zunächst einmal ein Handlungsast, der gewissermaßen auf einer Ebene mittlerer Distanz zwischen eigentlicher Vordergrund- und 101 Dies erfolgt vor allem durch Formulierungen, die eine Aufzählung durch die Einordnung einer Teilmenge von Publikationen aus einer bereits zuvor benannten Grundgesamtheit von Schriften eines bestimmten Typus einleiten, etwa wenn die Aufzählung von Überblicksdarstellungen mit der Satzfolge „Außerdem erhielten wir noch […]. Hierher gehören […]“ (Scherer 1800b) a.a.O., S. 24) anhebt (eine Formulierung, die übrigens später (vgl. ebd., S. 27) in anderem Zusammenhang erneut bemüht wird), oder wenn es nach vorangegangenem Aufruf des Gesamtfelds der Schriften zur chemischen Nomenklatur heißt: „Besonders kam auch heraus […]“ (Ebd., S. 25). Diese Instanziierungen ‚markierter Ellipsen‘ lassen sich im Übrigen als eine Unter- oder Nebenform dessen begreifen, was in der Narratologie als „explizite Ellipse“ bezeichnet und dort vor allem unter dem Gesichtspunkt der Zeitdarstellung und der Dauer bzw. Geschwindigkeit verhandelt worden ist (vgl. Genette, a.a.O., S. 76ff.) – ein temporaler Gesichtspunkt, den der narratologische Begriffsgebrauch übrigens interessanterweise mit seinem grammatisch-rhetorischen Vorbild der ἔλλειψις als einer der ‚Gedankenschnelligkeit‘ zuträglichen Auslassung syntaktisch eigentlich geforderter Satzteile teilt (vgl. Stefan Matuschek (1994), (Art.), Ellipse, in: Gert Ueding (Hrsg.) (1987–2011), a.a.O., Bd. 2, Sp. 1018–1024). 102 Vgl. Scherer (1800b), a.a.O., S. 24f. 103 Vgl. ebd., S. 25f., hier: S. 25. 104 Diese Ausdrücke zur Bezeichnung narrativer „Anachronie“ wiederum im Anschluss an Genette (1994), a.a.O., S. 25. Bei der Analepse handelt es sich um die „nachträgliche Erwähnung eines Ereignisses, das innerhalb der Geschichte zu einem früheren Zeitpunkt stattgefunden hat als dem, den die Erzählung bereits erreicht hat.“ Symmetrisch dazu besteht die Funktion der Prolepse darin, „ein späteres Ereignis im voraus zu erzählen oder zu evozieren.“

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eigentlicher Hintergrundhandlung den Prozess einer stetig, wenn auch nicht notwendig linear (und folglich zuweilen schneller und langsamer) zunehmenden Durchdringung des gesamten chemischen Schrifttums durch die Sauerstofftheorie ins Visier nimmt; zum anderen einen Handlungsast, der durch die explizit als eigentliches (da das „größte Aufsehen“ erregende und „besonders Epoche“ machende) Hauptereignis dieses Jahres ausgezeichnete – und damit in den Handlungsvordergrund gerückte – Publikation eines Werks von Jeremias Benjamin Richter (1762–1807) eröffnet wird, das als der „erste Versuch einer Combination des phlogistischen und antiphlogistischen Systems anzusehen ist“ und in dem sich die bereits in der Exposition der Geschichte der Ausbreitung angedeutete Spaltung der deutschen Chemiker in reine und kombinierende Antiphlogistiker ankündigt, von der sich bereits absehen lässt, dass sie zumindest im Hintergrund die folgenden Geschehnisse beeinflussen wird;105 und schließlich ein dritter Handlungsast, der die Folge von Ereignissen zum Gegenstand hat, die in der Exposition der Geschichte der Ausbreitung als „Streit über den Hauptpunkt“ der Sauerstoffchemie bezeichnet werden und infolge eines experimentum crucis zum „Sauerstoffgehalt des Quecksilberkalks“ Scherer zufolge schließlich zum „[v]öllige[n] Sturz des phlogistischen Systems“ führen sollten.106 105 Scherer (1800b), a.a.O., S. 27. 106 Ebd., S. 3. Zu den Hintergründen und zur sozio-epistemischen Bedeutung dieses „notorious reduction experiment[s]“ zum Sauerstoffgehalt des roten Quecksilberkalks vgl. Karl Hufbauer (1982), The Formation of the German Chemical Community (1720–1795), Berkeley, Los Angeles & London: University of California Press, S. 118–144 sowie Jan Frercks (2008a), Kommentar, in: Antoine Laurent de Lavoisier, System der antiphlogistischen Chemie, übers. v. Sigismund Friedrich Hermbstaedt, hg., ausgew. u. komm. v. Jan Frercks, Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 183–412, hier: S. 319–327. Während Hufbauer dabei die Auseinandersetzung über den Sauerstoffgehalt des Quecksilberoxids (HgO) tendenziell als manifeste Zuspitzung eines bereits länger latent schwelenden Konfliktes zwischen ‚Phlogistikern‘ und ‚Antiphlogistikern‘ versteht und damit im Grunde eine vergleichbar stark dichotomisierende Einteilung vornimmt, wie sie bereits der Darstellung Scherers zugrundeliegt, konzediert Frercks zwar die Intensität der Debatte und die Tatsache, dass ihr Gegenstand von den Beteiligten als experimentum crucis verstanden wurde, zeigt sich aber (über grundsätzliche Bedenken gegenüber dem Konzept eines kritischen Experiments hinaus) deutlich skeptischer, was ihren symptomatischen Stellenwert für die zeitgenössische Situation der Chemie in Deutschland und ihre Bedeutung für deren weitere Entwicklung betrifft, und betont letztlich eher ihren Ausnahmecharakter. So verweist er etwa darauf, dass dem Experiment in der deutschen Chemie weder vor dieser Auseinandersetzung noch in den unmittelbar auf sie folgenden Jahren ein derart hoher Stellenwert für die Überprüfung einer Theorie zugemessen worden sei oder, mehr noch, dass ein solch enger Zusammenhang zwischen Theoriebildung und Experiment als Überprüfungsrelation im dominierenden Modus eines „freien Theoretisierens“ jenseits dieser Debatte für gewöhnlich gar nicht hergestellt worden sei. Angesichts dieser Praxis eines freien – und damit grundsätzlich auch gegenüber alternativen Theorien vergleichweise liberalen und den Gedanken an absolute Inkommensurabilität gar nicht aufkommen lassenden – Theoretisierens stellt denn auch die scharfe Scheidung in ‚Phlogistiker‘ und ‚Antiphlogistiker‘ für die Zeit unmittelbar vor der Quecksilberkalk-Debatte (und in gewisser Hinsicht selbst noch nach ihr) für Frercks in der Sache eine unangemessene Vereinfachung der sozio-epistemischen Konstellation dar – auch wenn sie sich, wie das Beispiel Scherers zeigt, als Selbstbeschreibung (zumal in der Zeit nach 1794) in den Quellen natürlich problemlos nachweisen lässt.

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Trotz seiner im wahrsten Sinne des Wortes systematischen Bedeutung bleibt dieser letztere Ereignisnexus allerdings weitgehend im Hintergrund und ist nur andeutungsweise im Medium einer Reihe von ineinander verschränkten Analepsen und Prolepsen in der Geschichte der Ausbreitung präsent: So hebt die Darstellung des Jahres 1793 mit dem analeptischen Rückbezug auf den schon im „vorigen Jahr“ angegangenen (und dort selbst wiederum nur in Form einer Prolepse angedeuteten) „bekannten […] Streit über den Sauerstoffgehalt des Quecksilberoxyds“ an, nur um sogleich in einer weiteren – von Scherer im weiteren Erscheinungsverlauf seines Archivs bezeichnenderweise nie mehr eingelösten – Prolepse zu münden, in der darauf verwiesen wird, dass dieser Streit „einer eignen Betrachtung in der Folge gewürdigt werden soll.“107 Um die für den weiteren Verlauf der Geschichte der Ausbreitung der antiphlogistischen Chemie eigentlich unentbehrliche Auflösung des Ereignisnexus ‚kritisches Experiment‘ trotz seiner allenfalls hintergründigen und ansonsten gleichsam sine die vertagten Darstellung gleichwohl plausibilisieren zu können, bedient sich Scherer stattdessen eines metaleptischen Manövers, also der Substitution der Ursache durch die Wirkung,108 und lässt den in den Hintergrund gedrängten Handlungsast sein telos gleichsam ersatzweise im Vordergrund der Darstellung von einer Art kollektivem Besinnungsakt der führenden deutschen Chemiker finden, durch die eine weitgehende Beilegung der verschärften polemischen Auseinandersetzung suggeriert und somit ein vorläufiger Schlusspunkt unter den agonalen Handlungsstrang der Geschichte der Ausbreitung gesetzt wird. Dabei ist der Ausdruck ‚Schlusspunkt‘ durchaus wörtlich zu nehmen, denn Scherer bedient sich in diesem Zusammenhang explizit des telischen oder, genauer noch, finitiven Verbs per antonomasiam ‚beschließen‘ und lässt damit – übrigens durchaus kontrafaktisch, da sich die zugrunde gelegten Äußerungen tatsächlich über den gesamten Erscheinungsverlauf der in diesem Jahre publizierten Periodika erstrecken – die Schließung des Handlungsbogens in Wendungen, die von Ferne Assoziationen der weihnachtlichen Versöhnung und der inneren Einkehr und Besinnung zwischen den Jahren aufrufen, vollständig mit der Vollendung des Jahresrunds koinzidieren: Endlich wurde dieses Jahr mit mancherley Erklärungen beschlossen, die sich manche Chemiker in Rücksicht der neuern Theorie zu geben genöthigt sahen. Hierher gehören die von Hn. B. R. v. Crell, Gren, Westrumb, Trommsdorff u.a. Sie wurden auch zum Theil durch den zu Ende gehenden Streit über den Sauerstoffgehalt des Quecksilberoxyds bewirkt, der in manchem eine Reue über sein voriges anmaaßendes Betragen verursachte. Einer unter diesen gestand wenigstens mit einer ehrenvollen Offenheit: ‚Die neue Theorie hat viel Anziehendes – und giebt endlich wohl völlige Befriedigung; bis jetzt aber wage ich mich noch

107 Scherer (1800b), a.a.O., S. 24. 108 Metalepse also im Sinne der rhetorischen Tropenlehre als Unterbegriff oder Spezialfall der Metonymie, nicht im (letztlich daraus abgeleiteten) Sinne des narratologischen Begriffs einer fiktionsoffenlegenden Interaktion zwischen einem Erzähler und seinen Figuren in einer Art mise en abyme, wie er von Gérard Genette vorgeschlagen worden ist. Vgl. Arnim Burkhardt (2001), (Art.) Metalepse, in: Gert Ueding (Hrsg.) (1987–2011), a.a.O., Bd. 5, Sp. 1087–1096.

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nicht zu derselben zu bekennen; denn ich habe sie noch nicht gehörig durchdacht, noch nicht mit allen Phänomenen verglichen und geprüft.‘ Und doch hatte er vorher das System eifrig bestritten.109

Ohne Frage erfüllt die in den Vordergrund gerückte Darstellung dieses virtuellen kollektiven Canossa-Ganges die Funktion, die These vom ‚völligen Sturz des phlogistischen Systems‘ in diesem Zeitraum auch unter weitgehender Aussparung der – als bloßer Hintergrundhandlung präsenten – publizistischen Auseinandersetzung um das experimentum crucis plausibilisieren zu können. Zugleich allerdings nutzt sie Scherer, um die „Motivation von hinten“110 dieses Erzählabschnitts – also vulgo die ‚Moral der Geschichte‘ – noch ausgiebiger als bislang praktiziert zu explizieren. Im dichten Geflecht hochgradig moralisch aufgeladener Kategorien wie ‚Ehre‘ oder ‚Offenheit‘ und institutionalisierter Handlungs- oder Geschehensmuster, wie sie sich in der Reihe ‚Anmaßung‘, ‚Reue‘ und ‚Geständnis‘ bzw. ‚Bekenntnis‘ andeuten, vor allem aber in der mit dem Anschein edler Diskretion vorgebrachten wörtlichen Berufung auf einen anonymen Kronzeugen der antagonistischen Partei,111 dessen Aussage, das nunmehr als immerhin ‚anziehend‘ erkannte System ‚noch nicht gehörig durchdacht zu haben‘ in Scherers Darstellung einer weiteren moralischen Bankrotterklärung gleichkommt, schälen sich so im Medium der Erzählung einmal mehr die Konturen eines Modells angemessenen wissenschaftlichen Verhaltens heraus. 109 Scherer (1800), a.a.O., S. 27f. 110 Dieser Ausdruck nach Clemens Lugowski (1976), Die Form der Individualität im Roman, hg. v. Heinz Schlaffer, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Lugowski unterscheidet zwischen „vorbereitender Motivation“, in der „das Motivierende um des Motivierten willen da“ und „das Ergebnis […] durch die Prämissen der Handlung bestimmt“ ist (ebd., S. 67 und S. 75), und „Motivation von hinten“, in der die jeweiligen „Einzelzüge der Handlung durch das nur seine Enthüllung fordernde Ergebnis“ bestimmt sind: „Im Falle der ‚Motivation von hinten‘ gibt es strenggenommen nur ein Motivierendes, das Ergebnis und der Selbstwert [i.e. der Dichtung] liegt nicht in der Fülle des Einzelnen ausgebreitet, sondern diese Fülle des Konkreten ist nichts als das Transparent, durch das hindurch der Selbstwert scheint“ (ebd., S. 75). Infolgedessen wird die ‚Motivation von hinten‘ denn auch häufig im Dienste des anagogischen Sinnes, der Moral der Geschichte, stehen, auch wenn sie sich nicht ausschließlich auf diese Funktion beschränken lässt. Insgesamt gilt, dass die Motivierung in Erzähltexten stets „als ein Ineinander beider Motivationsarten aufzufassen“ ist (ebd., S. 68), auch wenn ihr jeweiliges Gewicht (wie Lugowski am Beispiel des Übergangs zwischen Erzähltexten des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit zeigt) historisch und (wie zu ergänzen wäre) auch unter Gattungsgesichtspunkten variiert. Lugowskis bereits aus den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts stammende Differenzierung ist später, wenngleich mit erheblicher Verzögerung, von der modernen Erzähltheorie wiederaufgenommen, weiterentwickelt und präzisiert worden, vgl. etwa Fotis Jannidis (2004), Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie, Berlin: de Gruyter, bes. S. 221–229. 111 Tatsächlich handelte es sich, wie jeder Zeitgenosse mit einem Blick in einen wenige Zeilen zuvor bereits angegebenen Aufsatz (vgl. Scherer (1800b), a.a.O., S. 28) in Crells Chemischen Annalen feststellen konnte, um niemand anderen als Johann Bartholomäus Trommsdorff. Vgl. Trommsdorff (1793), Hrn. Tromsdorf [sic!] letzte Erklärung wegen der phlogistischen und antiphlogistischen Systeme, in: Chemische Annalen für die Freunde der Naturlehre, Arzneygelahrtheit, Haushaltungskunst, und Manufakturen, 10:2, S. 335–34, hier: S. 337. In Wirklichkeit bezieht sich Trommsdorf mit dem Ausdruck „neue Theorie“ im Übrigen keineswegs auf Lavoisiers Fassung der Sauerstofftheorie, sondern bezeichnenderweise auf die von Scherer mit erheblichem Argwohn betrachtete „kombinierende Antiphlogistik“.

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Bemerkenswert bleibt dabei freilich, dass an dieser Stelle zum ersten Mal über Gren hinaus auch die Namen anderer Akteure genannt werden, die der Faktion der Gegner der Sauerstofftheorie zuzurechnen wären – darunter, wie der geneigte Leser nicht ohne eine gewisse Überraschung erfährt, neben Johann Friedrich Westrumb (1751–1819) und Johann Bartholomäus Trommsdorff (1770–1837) und einem verräterisch unspezifischen „u.a.“, übrigens auch der Name Crells, der bislang in Scherers Geschichte eigentlich eher die Rolle einer weitgehend neutralen und unbestechlichen Instanz gespielt hatte. Gleichsam im Nachgang kristallisiert sich damit für weniger geneigte Leser heraus, dass die bislang erzählte Geschichte – mit einem stets unparteiischen und jederzeit zur Publikation antiphlogistischer Beiträge bereiten Crell und einer stetig wachsenden Zahl von Befürwortern der Sauerstofftheorie, der eigentlich allein Gren als (zwar potenter, zugleich aber auch charakterlich zwielichtiger) Gegner entgegengestanden hatte – womöglich von Anfang an von einer allzu asymmetrischen Zeichnung der Gesamtlage und Figurenkonstellation geprägt gewesen sein könnte. Und der in dieser Hinsicht wohl weitgehend neigungsfreie Leser des 21. Jahrhunderts mag sich darüber hinaus zugleich die Frage zu stellen beginnen, inwieweit dieses einfache Erzählschema eigentlich über die Sistierung fundamentaler Verhaltensnormen hinaus eine wenigstens rudimentäre Einsicht in die komplexe Sachlage und soziale Konstellation erlaubt, durch die eine Handlungsentscheidung unter vergleichbaren Umständen – und somit ein Mindestmaß an Steuerung jenseits rein moralischer Kategorien – eigentlich erst möglich wird. Die Darstellung der Publikationsereignisse der Jahre 1794 bis 1796 schließlich fällt im Vergleich zu den vorangegangenen Jahren deutlich knapper aus.112 Gleichwohl wird durch diese Verknappung diesmal nicht so sehr ein Zeitraffereffekt bewirkt, sondern eher der Anschein einer sukzessiven Beruhigung des Handlungsgeschehens und der Konsolidierung der Verhältnisse erweckt. Die Erhöhung der Erzählgeschwindigkeit geht also nicht zugleich auch mit einer Beschleunigung des Erzähltempos einher.113 Insgesamt wirkt es daher so, als ob Scherer das endgültige dénouement einer Geschichte, die ihre Klimax bereits im Wesentlichen erreicht und durchschritten hat, nunmehr inklusive ihrer wichtigsten after effects noch rasch zu Ende erzählen wollte. Dabei beruht der Eindruck, dass der Handlungsverlauf zunehmend in ruhigere Fahrwasser gerät, die Handlungsträger die Früchte ihrer Anstrengungen und Auseinandersetzung zu ernten beginnen und die Erzählung also in der Tat in eine Periode der Handlungsberuhigung eingetreten ist, vor allem auf drei Effekten. Zunächst einmal – und dies betrifft in erster Linie die Ebene des Erzählten oder der story – hat Scherer bei der Auswahl der für diesen Zeitraum als repräsentativ erachteten Publikationsereignisse offenbar dafür gesorgt, dass ein ganz bestimmter Veröffentlichungstypus das Übergewicht erhält. Nicht nur werden nunmehr gar keine Arbeiten mehr angeführt, die der Sauerstoffchemie gänzlich negativ gegen-

112 Scherer (1800b), a.a.O., S. 28–32. 113 Vgl. für diese Differenzierung Jost Schneider (2003), Einführung in die Roman-Analyse, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 35f.

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überstehen. Vielmehr glänzen auch alle solchen antiphlogistischen Schriften durch Abwesenheit, die – sachorientiert oder kampfbetont – um den Nachweis oder die Widerlegung systemrelevanter Einzelsachverhalte bemüht wären. Anstelle dessen dominieren eindeutig Publikationstypen und Publikationsformen, die schon von sich aus die Konnotationen struktureller Normalisierung und Konsolidierung in sich tragen: So führt Scherer eine Reihe von Lehr- und Handbüchern auf, in die die Sauerstofftheorie mehr oder minder ausführlich Eingang gefunden hat oder sich gar „vollständig benutzt befindet.“114 Ergänzt wird der Anschein einer zunehmenden Festigung der Position der Antiphlogistik und Re-Konsolidierung der Verhältnisse durch die Nennung einer Anzahl an monographischen Darstellungen des neuen Systems, die sich um eine besonders stringente oder aber besonders eingängige Darstellung bemühen – und unter denen Scherers Grundzüge der neuern chemischen Theorie (1795) und sein Versuch einer populären Chemie (1795) wohl kaum zufällig einen besonders prominenten Platz einnehmen.115 Daneben trägt auch der Verweis auf Neuauflagen älterer monographischer Darstellungen der Sauerstoffchemie zur Vorstellung eines zunehmend fixierten und allenfalls von kleineren Veränderungen im Detail betroffenen Forschungsstandes bei. Und schließlich verweist die Aufnahme von bibliographisch-litterärhistorischen Arbeiten auf den Prozess einer Selbsthistorisierung, in der sich gleichfalls eine abschließende Sistierung andeutet. Parallel zu den auf der Ebene des Erzählten bereits durch die bloße Auswahl der fabelkonstituierenden Publikationsereignisse bewirkten Effekte, trägt auf der Ebene des Erzählens auch die spezifische Handlungsführung zum Eindruck einer Beruhigung und Konsolidierung bei. Es fehlt die beschleunigende Skansion der enumeratio durch die Technik markierter Aussparung, die im Zusammenspiel von Pro- und Analepsen generierte Suggestion einer Überlagerung mehrerer paralleler Handlungsstränge weicht (mit einer signifikanten Ausnahme) einer im Wesentlichen einlinigen narrativen Entwicklung des Geschehens – und insgesamt beginnen die Handlungsbögen sich zu schließen: So kommt die Publikation der Sammelpublikation von Lavoisiers Kleineren Schriften zum Abschluss,116 und der bislang gänzlich unbekehrbar scheinende Gren räumt 1794 in der (von Scherer darob als „vorzüglich merkwürdige Erscheinung“ ausgeflaggten) Neuauflage seines Systematischen Handbuchs der gesammten Chemie der Sauerstofftheorie nicht nur deutlich mehr Platz als vordem ein und behandelt sie – so jedenfalls wird insinuiert – offenbar auch mit deutlich mehr Unparteilichkeit und Gerechtigkeit als bislang,117 um ein Jahr später mit seinem Entwurf einer neuen chemischen Nomenclatur, die auf keine Hypothesen gegründet ist schließlich in den Schoß der – um es in dem von Scherer zuvor bemühten Vokabular zu sagen – ‚ruhigen, gründlichen und wahrheitsliebenden‘ Chemikergemeinschaft zurückzukehren und damit geradezu aktiv zu deren „allgemeinen Vereinigung in dieser Rücksicht“ beizutragen – eine Tat, die Scherer

114 115 116 117

Scherer (1800b), a.a.O., S. 33. Vgl. ebd. S. 30 und S. 31. Ebd., S. 29. Ebd.

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sich folglich auch nicht nehmen lässt als „sehr großes Verdienst“ zu loben.118 Mit diesen beiden Rück- bzw. Einkehr und Einsicht in die Notwendigkeit der Unparteilichkeit verheißenden Ereignissen deutet sich somit gegen Ende die Möglichkeit einer endgültigen Konversion des emblematischen Hauptgegners der Sauerstoffchemie zu einer – wie immer berichtigten – Antiphlogistik an: Der Kreis der Handlung beginnt sich zu schließen und ein echtes happy end scheint in Aussicht gestellt. Gleichsam nur für diejenigen, die nichtsdestoweniger immer noch Zweifel an der Dignität und dem bevorstehenden Sieg des neuen Systems oder aber an den Motiven und der Legitimität von Grens Verhalten im Ganzen hegen sollten, lässt Scherer in diesem Zusammenhang schließlich auch noch den zeitgenössischen Inbegriff des witzigen und selbstreflexiven Kopfes, Georg Christoph Lichtenberg, zu Worte kommen: Er gesteht daselbst [i.e. in der Vorrede der sechsten Auflage seiner Anfangsgründe der Naturlehre], ungeachtet seinen Nationalhaß, den er einmal gegen die Franzosen besaß, verbergen zu können, doch ein: „Wir haben jetzt aus Frankreich eine Revolution in der Chemie erhalten, die, wie ich hier mit Vergnügen gestehe, in ihrer Art ein Meisterstück ist, und der Widerstand, den sie in Teutschland gefunden hat, und den sie allmählig zu überwinden scheint, gereicht ihr gewiß am Ende zu größerer Ehre, als der unbedingte Beyfall mancher Freybeuter, die immer voraus sind, so lange es im Ganzen gut geht, aber von selbst verschwinden, wenn das Hauptcorps geschlagen ist.“119

Offenkundig soll mit diesem launigen wörtlichen Zitat, das unübersehbar die Stelle eines eigenen Erzählerkommentares vertritt und damit gleichsam eine Bestätigung der eigenen Position von außen liefert, nicht nur erneut klargestellt werden, dass die Antiphlogistik im Ganzen tatsächlich den Sieg über die Phlogistik davongetragen hat, sondern zugleich auch die Rolle ihrer Antagonisten – und nebenbei auch die schleppende (oder zumindest als schleppend empfundene) Rezeption der Sauerstoffchemie in Deutschland überhaupt – gleichsam nachträglich gerechtfertigt werden: weil sie Widerstände überwunden hat, hat sie zu Recht gesiegt. Solche Großzügigkeit und Freigiebigkeit ist freilich durchaus zweischneidig bis selbstwidersprüchlich. Schließlich hatte Scherer im Verlaufe der Geschichte der Ausbreitung immer wieder auf die verzögerte Rezeption des ausländischen Schrifttums zur Sauerstoffchemie hingewiesen und war nicht müde geworden, in Wendungen, in denen sich ziemlich unverhohlen die Erwartungshaltung artikulierte, die Wissenschaftsgemeinschaft möge in Zukunft unter vergleichbaren Umständen anders verfahren, die verspätete Veröffentlichung bestimmter (von bestimmten Forschungshandlungen Zeugnis ablegenden) Publikationsformate zu kritisieren. Vor allem aber hatte er einen erheblichen 118 Ebd., S. 32. Zu dieser Nomenklaturübersetzung vgl. Daniel Ulbrich (2008), Übersetzungen des Gehalts – Übertragungen der Benennung. Zur Rekonstruktion des Problematisierungsniveaus naturwissenschaftlichen Übersetzens um 1800, in: Jahrbuch für Europäische Wissenschaftskultur, 4, S. 161–181. Grundsätzlich gilt, dass die gegenwärtige Wissenschaftsgeschichtsschreibung sich – wie wohl auch so mancher Zeitgenosse – etwas schwerer damit tut, Grens explizit als „unpartheyisch“ ausgezeichnete Nomenklatur so sehr in die Nähe einer Konversion zu rücken, wie dies Scherer im Rahmen der Geschichte der Ausbreitung zu tun bemüht ist. 119 Ebd., S. 29f.

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Teil seiner diegetischen Energien darauf verwendet, die Gegner der Sauerstofftheorie – durch die Art der Handlungsführung (also die Auswahl, die Anordnung und das Arrangement entsprechender Publikationen und der daraus geschöpften Einlassungen ihrer Autoren) ebenso wie im Medium des expliziten Erzählerkommentars – als ausgesprochen selbstbezogene und parteiische und überaus rechthaberische, wenn nicht gar cholerische, kurz: als allzu obstinate Charaktere zu (kenn-)zeichnen, die – weit davon entfernt, Instanzen eines beharrlichen Widerstands zu sein, in dessen Ruhe die Kraft liegt, und ebenso weit davon entfernt, angesichts ständig erneuerter Prüfung nur so lange billig bei den alten Positionen zu verbleiben, bis das Gegenteil erhellt – aufgrund ihres Charakters oder ihrer konkreten Verhaltensweisen dem Fortschritt der Wissenschaft und der Durchsetzung der Wahrheit erhebliche Hindernisse in den Weg stellen, und somit eindeutig zum negativen, keinesfalls zur Nachahmung empfohlenen Vorbild stilisiert werden. Insofern treten auch hier, wie schon im Falle der die weitere Ausbreitung der Sauerstofftheorie ungewollt befördernden Polemik gegen Lavoisiers Traité durch Gren die deklarative und die direktive Funktion der litterärhistorischen Erzählung in einen latenten Widerspruch zueinander, die es einem aufmerksamen Leser schwer machen, eine eindeutige Handlungsanweisung aus der Geschichte der Ausbreitung herauszulesen. Dabei stellt sich das Problem hier sogar noch in schärferer Form: Denn während das Beispiel Grens nur deutlich machte, dass das Wahre und das Gute nicht immer miteinander im Einklang stehen müssen, und ein prinzipiell zu tadelndes Verhalten zuweilen wohl auch einmal der Wahrheit einen Dienst erweisen kann, rückt die Existenz des Gar-nicht-soGuten durch das Lichtenberg-Zitat unter der Hand beinahe schon in den Rang einer unhintergehbaren Voraussetzung des Wahren auf, insofern eine Reihe von eigentlich tadelnswerten Verhaltensweisen im Nachhinein – und, pointiert gesprochen, gleichsam als Konsequenz aus der Tatsache, dass Scherer es vor der Hand „ununtersucht“ gelassen hat, „in wie weit jeder Widerspruch der Wissenschaft Vortheil gewähre“120 – geradezu zum Prüfstein der Wahrheit der antiphlogistischen Theorie erklärt wird. Ein weiterer Punkt, der zu dem Eindruck einer zunehmenden Konsolidierung der Verhältnisse und einer zunehmenden Schließung der Handlung beiträgt, ist schließlich die Tatsache, dass der Erzähler selbst mit seinen eigenen Publikationen in die erzählte Welt der Geschichte der Ausbreitung eintritt – der heterodiegetische Erzähler sich somit schlussendlich als homodiegetischer Erzähler entpuppt. Allerdings ist der dadurch bewirkte Effekt tatsächlich zwiespältig. Denn einerseits wirkt es infolgedessen so, als würde die Entwicklung nun beinahe schon in so etwas wie eine Phase der Selbsthistorisierung eintreten – was im Umkehrschluss und zumal angesichts der Tatsache, dass Scherers Charakterisierung der eigenen Publikationen diesen Eindruck in der Tat noch bestärkt,121 bedeutet, dass die Geschichte eigentlich 120 Scherer (1800d), a.a.O., S. IV. 121 So kommentiert Scherer etwa seine Grundzüge der neuern chemischen Theorie von 1795 wie folgt: „Ich bemühte mich in dieser Schrift, was ich bisher vermißte, die Grundsätze der neuern Theorie aus den vorhandenen Erfahrungen synthetisch zu entwickeln, um jedem die Evidenz derselben zu erleichtern. Außerdem lieferte ich eine möglichst vollständige Uebersicht dessen, was in literarischer Hinsicht bisher für die neuere Theorie geleistet worden war, um die Kenntniß und das Studium der Quellen zu befördern.“ (Scherer (1800b), a.a.O., S. 30).

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so gut wie abgeschlossen ist. Auf der anderen Seite ist die durch den Eintritt des Erzählers in die erzählte Welt bewirkte Bestärkung des Eindrucks einer endgültigen Beilegung aller Streitigkeiten dadurch erkauft, dass dieser sich eben durch seinen Eintritt in die erzählte Welt zugleich als ein potentiell unzuverlässiger Erzähler zu erkennen gibt: Denn die vom Erzähler Scherer herausgegriffenen und kommentierten Publikationen weisen die Figur Scherer von Anfang an klar als Parteigänger der Antiphlogistik aus und sind deshalb durchaus geeignet, Zweifel an der vom Erzähler Scherer narrativ behaupteten These vom bereits erfolgten endgültigen Sieg der Sauerstofftheorie zu diesem Zeitpunkt zu nähren. Vor allem aber enthüllt sich am Beispiel dieser Homodiegetisierung der Erzählung ein ganz grundsätzlicher Widerspruch innerhalb der Konzeption der litterärhistorischen Erzählung, der ihr im Grunde bereits seit Bacons Programm der historia literarum einbeschrieben ist – nämlich, dass sie einerseits zwar dazu gehalten ist, einen unparteilichen Standpunkt weit oberhalb der streitenden Faktionen einzunehmen, ihr andererseits aber zugleich die zentrale Aufgabe zukommt zu deklarieren, was als bereits hinreichend erforscht und was als noch nicht hinreichend erforscht zu gelten hat und – schwerwiegender noch – was als bereits obsolete und was als nach wie vor gültige Forschungsaussage zu gelten hat, um im Anschluss daran aufzeigen zu können, welchen Weg die Forschung in Zukunft einzuschlagen hat. Es stellt sich also, mit anderen Worten, einmal mehr die Frage nach der grundsätzlichen Kompatibilität der konstativen Darstellungsfunktion und der performativen Steuerungsfunktion litterärhistorischer Erzählungen. Anders als bei den unbeabsichtigten Effekten der Übertretung der Grenzen gelehrter Umgangsnormen (im Falle Grens) oder ihrer überraschenden nachträglichen Rechtfertigung als Prüfstein der Wahrheit (durch das Lichtenberg-Zitat) steht dabei allerdings nicht nur die Verträglichkeit der direktiven, auf die Steuerung des Verhaltens der Wissenschaftsgemeinschaft in ethischer Hinsicht angelegten Dimension der historia literaria mit der deklarativen Aufgabenstellung, einen Forschungsstand in Geltung zu setzen, auf dem Spiel. Vielmehr offenbart sich an dieser Stelle – in der durch die Homodiegetisierung der Erzählung die Unparteilichkeit des Erzählers in Frage gestellt ist, und die Geschichte der Ausbreitung weiter denn je davon entfernt zu sein scheint, den sich in der selbstgewählten Devise „Die Wahrheit gewinnt durch vielseitige Ansicht“122 aussprechenden (und in einem überwiegend vom Herausgeber selbst verfassten Journal ohnedies nur schwer zu gewährleistenden) Ansprüchen Genüge tun zu können – die den Gelingensbedingungen einer „assertiven Deklaration“ immanente Notwendigkeit, die zu diesem Zwecke benötigte deklarative Kraft auf einer Folge von assertorischen Sprechakten aufruhen lassen zu müssen, in deren Medium sich die Erzählung vom schlussendlichen Triumph der Sauerstofftheorie entfaltet, und die als solche stets dem Vorbehalt der Glaubwürdigkeit unterworfen sind, als ein ganz grundsätzlich prekäres Unterfangen. Diese Problemlage macht sich schließlich auch im Zusammenhang mit einer Reihe von Indizien bemerkbar, durch die die Suggestion einer endgültigen Schließung der Handlungsbögen im Grunde zum Teil dementiert wird. Tatsächlich scheint

122 Scherer (1800d), a.a.O., S. VI.

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sich in diesem Zeitraum nämlich – was angesichts der Tatsache, dass dieser gemäß Scherers eingangs vorgeschlagener Periodisierung in die Epoche der „Combinationsversuche der phlogistischen und antiphlogistischen Systeme“ und der daraus resultierenden „Spaltungen“ in „reine Antiphlogistiker“ und „kombinierende Antiphlogistiker“ auch als solches nicht besonders verwunderlich ist – innerhalb der zunehmend geschlossenen und allinkludierenden Reihen der Befürworter selbst schon wieder der erste Streit anzubahnen – sich also gleichsam ein neuer Handlungsstrang zu öffnen. Dabei macht Scherer, wie sich etwa an der absprecherischen Kommentierung von Johann Friedrich August Göttlings Beytrag zur Berichtigung der antiphlogistischen Chemie, auf Versuche gegründet und dem Umgang mit dem sich auf Göttlings Theorie gründenden und darob von Scherer als ‚verfrüht‘ abgekanzelten nomenklatorischen Versuch einer systematischen Anordnung der Gegenstände der reinen Chemie von Philipp Edmund Gottlob Arzt ablesen lässt123 – keinerlei Hehl daraus, auf welche Seite – nämlich die der reinen Antiphlogistiker – er sich in diesem noch keineswegs entschiedenen Streit schlagen will. Insofern kollidiert auch hier der Versuch, das Forschungsfeld in weiterzuverfolgende und nicht-weiterzuverfolgende Forschungsrichtungen zu unterteilen, mit dem selbstgesetzten Ideal der Unparteilichkeit. Wichtiger als diese fast schon unvermeidliche und gleichsam systematische Kollision ist allerdings die Tatsache, dass Scherer sie an keiner einzigen Stelle mit einem in der Sache gegründeten Argument zu rechtfertigen sucht, sondern wie zuvor bei den Phlogistikern nun auch bei den Verfechtern der kombinierenden Antiphlogistik Anstalten zu machen scheint, in erster Linie auf das Mittel negativer Charakterzeichnung zu setzen. Und noch entscheidender ist, dass seine Erzählung, und vielleicht der narrative Modus der historia literaria überhaupt, abgesehen von einer sehr groben Richtungsentscheidung zugunsten der ‚reinen Antiphlogistik‘, für die sie zweifellos plädiert, offenbar weder in der Lage ist, Hinweise zu geben, wie vorzugehen ist, um zu einer sachgegründeten Entscheidung im nunmehr angegangenen Streit zwischen den reinen und kombinierenden Antiphlogistikern zu kommen, noch über die Mittel verfügt, die Punkte zu bezeichnen, die innerhalb des Paradigmas der ‚reinen Antiphlogistik‘, setzt man dieses denn als gültig voraus, in Angriff zu nehmen wären. Oder in sprechaktheoretischer Reformulierung: Sie vermag es nicht, die allgemeine Deklaration der ‚reinen Antiphlogistik‘ als grundsätzlich oder tendenziell richtige Theorie in einen direktiven Sprechakt umzumünzen, der über die sehr allgemein gehaltene Empfehlung hinausginge, sich bei der weiteren Forschung möglichst in ihrem Rahmen zu halten. Oder um es noch technischer zu formulieren: Sie beschränkt sich auf einen Sprechakt mit der illokutionären Kraft der ‚Empfehlung‘, dessen propositionaler Gehalt der Aussage ‚H forscht im Rahmen der reinen Antiphlogistik‘ entspricht, statt einen Sprechakt mit der illokutionären Kraft der ‚Aufforderung‘ zu formulieren, der die Proposition ‚H forscht, wie sich Sach-

123 Vgl. Johann Friedrich August Göttling (1794–1798), Beytrag zur Berichtigung der antiphlogistischen Chemie, auf Versuche gegründet, 2 Bde, Weimar: Hoffmann; Philipp Edmund Gottlob Arzt (1795), Versuch einer systematischen Anordnung der Gegenstände der reinen Chemie, Leipzig: Fleischer.

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verhalt x im Rahmen der Theorie der reinen Antiphlogistik verhält‘ oder gar ‚H erforscht anhand von Sachverhalt x, ob eher auf das Zutreffen der Theorie der reinen oder der kombinierenden Antiphlogistik zu schließen ist‘ zu seinem Gegenstand hätte. V. Angesichts dieser Lage, in der schon die These einer vollständigen Bekehrung der gesamten Chemikerzunft zur Sauerstoffchemie nur bedingt zu belegen,124 die Entscheidung für eine „reine Antiphlogistik“ aber definitiv noch nicht zu begründen ist, ist es denn auch konsequent, wenn Scherer diese abschließende Periode schließlich in einer gleichsam kompensatorischen Wendung überaus zuversichtlich (tatsächlich aber weitgehend unmotiviert) mit dem Jahre 1796 schließen lässt und den Gang seiner Erzählung wie folgt resümiert: Wir brauchen nur bis so weit die literarischen Ereignisse zusammenzustellen, welche die Ausbreitung des neuen Systems begünstigten, da sich nun immer mehr und mehr die ruhige Prüfung an die Stelle der tumultuarischen Verhöhnung einfand, die erhitzten Gemüter sich abgekühlt hatten, und man sich genöthigt sah, mit dem Anathema zurückzuhalten, mit dem man vorher jeden Freund der neuen Theorie begnadigte. Die Wahrheit hatte gesiegt, ihre Bekenner gehen nun in der Untersuchung derselben ruhig fort!125

Das ist in der Tat ein wahrlich erbaulicher Schluss, der die Geschichte der Ausbreitung vielleicht nicht ganz zufällig als eine Instanz jenes Typus „narrative[r] Modellierung“ ausweist, den Hayden White als „Geschichtsschreibung als Komödie“ identifiziert hat – steht am Schluss der Komödie doch eine „Versöhnung“, durch die „der Zustand der Gesellschaft […] reiner, vernünftiger und verbessert“ erscheint, und zwar als „Ergebnis des Konflikts zwischen scheinbar unveränderlich widerstreitenden Kräften, von denen sich jetzt herausstellt, daß sie auf lange Sicht miteinander vereinbar und mit sich selbst und untereinander eins sind.“126 In jedem Fall aber bestätigt sich in dieser Schlusssequenz noch einmal die ungebrochene Geltung der wissenschaftsethischen Funktion der Litterärhistorie, wie sie bereits von Francis Bacon in seiner im Dienste des Topos von der historia magistra vitae stehenden Forderung formuliert worden war, die historia literarum solle insbesondere auch die „Laster und Tugenden in den geistigen […] Angelegenheiten“ bezeichnen.127 Und 124 Das hatte Scherer im Übrigen selbst im ersten Satz der Vorrede zum Archiv (bei dessen Bewertung freilich auch die Funktion der captatio benevolentiae einzukalkulieren ist) eingeräumt: „Noch immer sind die Bemühungen Lavoisier’s und seiner Nachfolger nicht so allgemein anerkannt, daß das darauf gegründete System sich eines ungetheilten Beyfalls erfreuen könnte.“ Scherer (1800d), a.a.O., S. IIIf. 125 Scherer (1800b), a.a.O., S. 33f. 126 Vgl. die Ausführungen zu Romanze, Tragödie, Komödie und Satire als Grundformen der Geschichtsschreibung im Kapitel „Erklärung durch narrative Modellierung“ in Hayden White (1991), a.a.O., S. 21–25, hier: S. 23. 127 Bacon (1857), a.a.O., S. 503.

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wenn man ein Resümee ziehen wollte, was die Geschichte der Ausbreitung in Hinblick auf die litterärhistorische Aufgabe zur Steuerung der Wissenschaften leistet, so dürfte diese – über die grobe thematische Einordnung und selektive rezensionsartige Bewertung des fraglichen Schrifttums und die gleichsam nebenbei abfallende Aufstellung von so etwas wie einem publizistischen Normalmodell bei der Etablierung eines wissenschaftlichen Paradigmas (das von der Abfassung einzelner Schriften über ihre zunehmend kohärenter werdenden Gesamtdarstellungen und den Übergang in Lehrbücher bis hin zu (selbst-)historisierenden Texten führt) mitsamt dem dazu nötigen Ensemble von wissenschaftlichen Grundoperationen und Rollenbildern (wie dem Litterator, dem Autoptiker, dem Synoptiker oder dem Historiographen) hinaus128 – ihren Schwerpunkt in der Tat auf dem Gebiet des Wissenschaftsethos finden. Schließlich hatte Scherer ja immer wieder (um in Anlehnung an den klassischen christlichen Laster- und Sündenkatalog zu formulieren) allzu verstocktes, zorngesteuertes und hochmütiges Verhalten gegeißelt und auf die negativen Folgen desselben hingewiesen bzw. umgekehrt (um in Anlehnung an den klassischen ciceronianischen Tugendkatalog zu formulieren) die Vorzüge eines verständigen, maßvollen, gerechten und (ja selbst) tapferen Handelns herausgestrichen und dem Leser damit im Sinne einer Reihe indirekter direktiver Sprechakte nahegelegt, das eine zu vermeiden und sich des anderen zu befleißigen. Freilich ist in diesem Zusammenhang auch deutlich geworden, dass diese Verhaltensmaßregeln zumeist erst aus der Erzählung extrapoliert werden mussten. Dass sich dies bei vergleichsweise einfachen Verhaltensnormen wie dem Gebot zur Unparteilichkeit oder dem Verbot der Polemik sehr leicht bewerkstelligen lässt, liegt auf der Hand. Schwieriger hingegen dürfte es bei all jenen Anweisungen werden, die sich auf den richtig zu wählenden Zeitpunkt einer bestimmten Handlung beziehen: So verweist Scherer zwar, wie gesehen, mehrfach darauf, dass bestimmte Texte entweder zu spät oder zu früh publiziert worden sind und artikuliert damit den Wunsch, künftig in vergleichbaren Fällen ein anderes Zeitregime eingehalten zu sehen, gibt aber gleichsam keine Ausführungsregel dieser Anweisung mit an die Hand. In der Tat hat sich im Zusammenhang mit der Charakterisierung von Grens „mit vieler Heftigkeit und Ungerechtigkeit“ abgefassten Kommentar zu Lavoisiers Traité élémentaire de chimie als ein Ereignis, das den Befürwortern der Sauerstofftheorie im Nachhinein gesehen gleichsam malgré lui in die Hände gespielt hat, und im Zusammenhang mit dem Lichtenberg-Zitat, durch das die zuvor so beklagten und der Verstocktheit der Gegner zugerechneten Verzögerungen in der Rezeption der Sauerstofftheorie plötzlich gera128 In dieser Etablierung bzw. Reiteration eines Normalmodells wissenschaftskommunikativer Rollen und Abläufe mag man denn auch, mit etwas gutem Willen, ein entferntes Äquivalent oder, genauer genommen, eine Schwundstufe dessen sehen, was in Abschnitt I. dieses Aufsatzes mit Blick auf Bacon und seine utopiegewordene Intention, aus der historia literarum als ‚Geschichte‘ die Voraussetzungen für einen mit einer festen Verfassung ausgestatteten status scientiarum abzuleiten, als wissenschaftspolitische Dimension der Litterärhistorie bezeichnet worden ist. Dass die im Modus der Narration vorgetragenen Rollenskizzen selbst wiederum auch normativ aufgeladen sein können, dürfte – denkt man etwa an das Beispiel des gleichsam per se neutralen Litterators oder des per se nahe an den Dingen arbeitenden Autoptikers – auf der Hand liegen.

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dezu als Ausweis der besonderen Sorgfalt ihrer Prüfung, und die sich darin offenbarende Widerstandsfähigkeit derselben als bestes Anzeichen ihrer Wahrheit ausgeflaggt wurden, sogar gezeigt, dass hier tendenziell widersprüchliche Anweisungen in Scherers Erzählung am Werk sind. Und wo es – wie im Falle des als Überwindung von Erkenntnishindernissen auf der Seite der Befürworter inszenierten incrementums – vielleicht prinzipiell möglich wäre, zu einer Einsicht in den Verlauf erkenntnistheoretischer Prozesse im engeren Sinne zu kommen, da dürfte davon auszugehen sein, dass sie zumeist von den eingängigeren moralischen Anteilen der Erzählung überdeckt, oder gar von Vorneherein – wie im Falle des kollektiven Canossa-Gangs der Gegner der Antiphlogistik zum Ende des Jahres 1793, der den Prozess einer zwingend erscheinenden Bekehrung trotz der Aussparung der tatsächlichen Debatte um das als Ursache dieser Konversion identifizierte experimentum crucis zum Sauerstoffgehalt des Quecksilberkalks plausibilisieren soll – durch sie ersetzt werden. Was schließlich die wissenschaftspragmatische Funktion betrifft, so zeigte sich Scherers Geschichte der Ausbreitung zwar vergleichsweise stark darin, die Sauerstofftheorie in einem großangelegten deklarativen Sprechakt zum state of the art zu erklären, tat sich aber deutlich schwerer damit, die möglichen Lücken oder desiderata innerhalb dieses Paradigmas offenzulegen, und musste sie letztlich in ihrem Bemühen, die Antiphlogistik bzw. konkreter noch die reine Antiphlogistik ganz grundsätzlich zum geltenden Paradigma zu erklären, eher zudecken, als dass sie sie hätte aufdecken können. Insofern dürfte die Hauptleistung von Scherers Erzählung in der Tat vor allem in der Stabilisierung eines grundlegenden Wissenschaftlerethos liegen – und es ist daher nur folgerichtig, dass dieses Anliegen in der zitierten Schlusspassage noch einmal so unverhohlen vorgetragen wird. Zugleich allerdings wird in dieser Schlusssequenz auch noch einmal deutlich, dass es letztlich die Zauberformel System ist, die es Scherer erlaubt, die unübersehbare Tatsache zu überspielen, dass sein Archiv zwar behauptet, den Parteienstreit nur aus der Vogelschau zu beobachten und dadurch einer Objektivation zuzuführen, es tatsächlich – stets schon von der grundsätzlichen Wahrheit der Lavoisierschen Ansicht überzeugt – jedoch an der Durchsetzung dieses Systems arbeitet und insofern selbst Partei ist. Beides allerdings, zumal in dieser spezifischen Überlagerung, gibt zu denken. Denn wenn sich der plot der litterärhistorischen Erzählung so zusammenfassen lässt, dass die Wahrheit – und damit das System – sich ohnedies durchsetzt, weil auf die anfängliche Erhitzung der Gemüter unfehlbar stets eine allmähliche Wiederabkühlung folgen wird, dann ist weder zu verstehen, warum es der perennierenden Hinweise auf polemische Übertretungen im Sinne eines Lehrstückes zum Thema ‚Ethos des Wissenschaftlers‘ bedarf, noch warum zum Zwecke der Selbstorientierung überhaupt ein geschichtlicher Überblick vonnöten ist, da sich doch die Wahrheit – und zwar wie sich immer klarer herauskristallisiert: in Form eines Systems – die Bahn von alleine zu brechen scheint. Tatsächlich kommt an dieser Stelle, an der sich die Geschichte der Ausbreitung gleichsam im Nachgang als eine Erzählung zu erkennen gibt, in der die Folge der erzählten Ereignisse nicht einfach bloß menschlichen Akteuren – den Chemikern des ausgehenden 18. Jahrhunderts – als verursachenden Subjekten zugerechnet wird, sondern in der zu diesem Zwecke zugleich auch auf abstrakte Entitäten als kausale

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Zurechnungsinstanzen rekurriert wird – eine sich sukzessive zum System entfaltende „Wahrheit“, der sich die Befürworter der Sauerstofftheorie als Emissäre oder Avatare zuordnen lassen, und ein „Geist des Widerspruchs“, wie er von der Vorrede des Archivs benannt und als „ununterbrochen [...] rege“ charakterisiert wird, und als dessen Hauptagent oder Haupthypostase sich im Rückblick Friedrich Albert Carl Gren enthüllt –, eines der zentralen Grundprobleme der litterärhistorischen Erzählung zum Tragen. Zwar liegt es auf der Hand, dass Scherer diese Strategie der Doppelzurechnung in der Tat deshalb gewählt hat, weil sich in ihr die Möglichkeit, der wissenschaftsethischen Funktion durch die unmittelbaren Anschluss an die Lebenswirklichkeit versprechende Darstellung des Verhaltens menschlicher Akteure als (positiven oder negativen) ‚Exempeln‘, die zum Gegenstand einer Reihe indirekter direktiver Sprechakte werden, Genüge zu tun, mit der Möglichkeit verbindet, verbliebene Zweifel an der Faktizität der geschilderten Ereignisfolgen und gegebenenfalls aufkommende Fragen nach ihrer Kontingenz zu unterbinden oder stillzustellen und somit das So-Sein und Gut-so-Sein der Erzählung als ‚Geschichte‘ zu bekräftigen, die ihrerseits die Grundlage für den übergreifenden, im Dienste der forschungspragmatischen Funktion stehenden deklarativen Sprechakt der Geschichte der Ausbreitung abgibt.129 Tatsächlich aber geschieht dies hier unübersehbar um den Preis, dass die wissenschaftsethischen Steuerungsbedürfnissen verpflichtete direktive Ausrichtung des Textes auf der Zielgeraden endgültig in einen performativen Widerspruch mit seiner forschungspragmatischen Steuerungsaufgaben gehorchenden deklarativen Ausrichtung eintritt. Denn: Warum predigen, wenn sich auch ungepredigt alles zum Guten fügt? Und: Wie überhaupt predigen, wenn die Frage, wem gepredigt gehört, so eng mit der Frage verknüpft ist, ob der, der predigt, im Namen des Richtigen predigt, und die Beantwortung dieser Frage nur davon abhängt, ob man dem, der predigt, glaubt, was er erzählt? Und gleichwohl kann man nicht sagen, dass Scherer, der sich hier im Grunde nur an den Grundwidersprüchen der litterärhistorischen Erzählung als Gattung abarbeitet und ihnen seine eigene indivuelle Fassung gibt, in der Geschichte der Ausbreitung etwas anders tun würde, als er in der Vorrede zu seinem Archiv auch gepredigt hat – zumindest dann nicht, wenn man seine bereits eingangs bei der Darstellung des theoretischen Anspruchs der Zeitschrift zitierte Formulierung beim Wort nimmt, dass auch und gerade Streitschriften einen zentralen Gegenstand des Archivs ausmachen sollen, und dass es gerade der Überblick über diese ist, durch den die „Fortschritte[.] und Lücken [...] im theoretischen Theile der Chemie sichtbar“ werden.130 Tatsächlich ist damit nämlich ein zentrales Erzählprinzip der Geschichte der Ausbreitung ziemlich genau beschrieben: Denn in letzter Instanz sind es in der 129 In der Konsequenz dieser Konzentration auf natürliche und übernatürliche Personen als Subjekten der Erzählung liegt es denn auch, dass Institutionen als nicht-natürliche Personen in der Geschichte der Ausbreitung systematisch ausgespart werden, es sei denn, man würde die Benennung bestimmter Rollen im Wissenschaftsbetrieb oder aber die Aufzählung unterschiedlicher und einander im Zuge der Ausbreitung eines wissenschaftlichen Paradigmas sukzessive ablösender Publikationsformate als Ausdruck bzw. Effekt institutionellen Handelns dazu zählen wollen. 130 Scherer (1800d), a.a.O., S. IV.

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Tat vor allem die Streitschriften der Gegner des Systems, die durch die Darstellung des Ansteigens, Kulminierens und Wiederabflauens ihres jeweiligen Intensitätsgrades und in dem Maße, wie sie der moralischen Kritik unterzogen werden, die „Lücken“ im Ethos der scientific community offenbaren und zugleich damit an jedem Punkt der Erzählung markieren, wie es um die epistemologischen „Fortschritte“, die natürlich immer die des kommenden Systems sind, jeweils bestellt ist. Nichtsdestotrotz scheint mit diesem erbaulichen Schluss, an dem die Wahrheit sich stets schon durchgesetzt haben wird, bezeichnenderweise nicht nur die Erzählung, d.h. heißt die Geschichte der Ausbreitung der neuern Theorie, sondern in gewisser Weise auch das Erzählen selbst an sein Ende gekommen zu sein. Zwar lassen sich die Geschichten der Ausbreitung der Theorie multiplizieren, wie Scherer es mit einer Reihe von Beiträgen über Polemische Literatur oder Uebersicht der Streitschriften über die neuere chemische Theorie für unterschiedliche Länder beabsichtigt hat131 – und damit gewissermaßen der von Bacon geforderten Untersuchung der peragrationes [scientiarum] per diversas orbis partes versucht hat, Genüge zu tun.132 Eine wirkliche Fortsetzung der Geschichte der antiphlogistischen Chemie in narrativer Form, oder besser gesagt, die Füllung der in diesem ersten Teil gelassenen Lücken in der Erzählung, liefert das Archiv hingegen nicht mehr. Dieser Sachverhalt ist selbst angesichts der Tatsache, dass Scherers Zeitschrift ohnehin keine lange Existenz beschieden sein sollte, signifikant. Denn an die Stelle der versprochenen eingehenderen litterärhistorischen Erzählung vom „Streit über den Hauptpunkt“ der antiphlogistischen Chemie (von der man sich vielleicht einen über die Grenzen einer in erster Linie psychologisierenden Darstellung hinausgehenden Einblick in die Mechanismen, die zum „Sturz“ eines herrschenden wissenschaftlichen „Systems“ oder Paradigmas führen können, hätte versprechen können,133 und aus der man, den entsprechenden Glauben an eine historia magistra vitae vorausgesetzt, vielleicht auch seine Lehren hätte ziehen können) und die eingehendere Rekapitulation der Geschichte der „Combinationsversuche der phlogistischen und antiphlogistischen Systeme“134 (die vielleicht vergleichbare Aufschlüsse und Lehren hätten bieten können) treten vielmehr eine Reihe von Abhandlungen über die angeblich streitigen Gegenstände der neuern chemischen Theorie.135 Diese beziehen sich zwar immer noch vorwiegend auf das bereits publizierte Schrifttum, organisieren es aber nicht mehr in chronologischer Folge. Wurden die Schriften zuvor jeweils als Gesamtheiten angeführt und besprochen, werden sie nun zusehends in einzelne Frage- und Problemstellungen zerschnitten und auf verschiedene Traktate verteilt, die sich 131 So der Titel der eigens zu diesem Zwecke vorgesehenen Rubrik in Scherers Archiv. Davon realisiert worden ist lediglich ein Beitrag über englische Streitschriften. Vgl. Alexander Nicolaus Scherer (1800c), Uebersicht der englischen Streitschriften die neuere chemische Theorie betreffend, in: Archiv für die theoretische Chemie, 1:1, S. 35–46. 132 Bacon (1857a), a.a.O., S. 503. 133 Scherer (1800b), a.a.O., S. 3. 134 Ebd. 135 So der programmatische Titel der hierzu eingerichteten Rubrik. Vgl. Alexander Nicolaus Scherer (1800a), Abhandlungen über die angeblich streitigen Gegenstände der neuern chemischen Theorie [Sektionsvorrede], in: Archiv für die theoretische Chemie, 1:1, S. 47f.

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selbst wiederum in eine Art systematische Ordnung fügen. Entsprechend schlägt Scherer auf einer Überblicksseite, die er diesen Abhandlungen voranstellt, vor, die zugehörigen Beiträge künftig danach zu rubrizieren, ob sie als „allgemeine“ die „ganze Theorie umfassen“ oder ob sie nur „einzelne Gegenstände“ betreffen. Letzteres Rubrum wiederum teilt sich noch einmal in Abhandlungen „über die Existenz und Natur der chemischen Verbindungen“ (weiterhin aufgeschlüsselt nach Ponderabilien bzw. Imponderabilien) auf der einen Seite und Abhandlungen „über die Anordnung und Benennung derselben“ (also das System im eigentlichen Sinne und die Nomenklatur betreffend) auf der anderen Seite.136 Mit anderen Worten: Das litterärhistorische Material wird – um es in Anlehnung an Scherers eigene Formulierung zu sagen – nach den ‚Hauptpunkten des Streites‘ organisiert. Eines chronikalischen Überblicks über den ‚Streit um die Hauptpunkte‘ (also dem, was in der Tradition vielleicht dem „Fortgang der Wissenschaft“ entsprochen hätte) scheint die Darstellung hingegen nicht mehr fähig zu sein. Hier zeichnet sich also eine doppelte Bewegung ab. Der eine große litterärgeschichtliche Überblick zerfällt in eine Vielzahl kleinerer Episoden (unterschiedliche Hauptpunkte), die sich parallel abspielen. Zugleich damit aber – und dies ist nicht zuletzt auch ein Resultat aus Scherers bereits in der Vorrede geäußertem Ansinnen, „[m]it den Rückblicken auf die vergangenen streitigen Untersuchungen [die Behandlung] d[er] neuesten [zu] vereinigen“ – hat sich an Stelle (scheinbar) unparteilicher Beobachtung aus der Vogelperspektive endgültig der Wille, das neue System durchzusetzen, herausgeschält.137 Das aber bedeutet im Umkehrschluss, dass die vielen parallelen Geschichten nicht mehr eigentlich erzählt werden, sie werden gemacht.

136 Ebd. Tatsächlich gliedert sich das erste Heft dann im Weiteren in „Allgemeine Abhandlungen welche die ganze Theorie umfassen“ (Scherer (Hrsg.) (1800–1802), a.a.O., Bd. 1, S. 49–70) und „Untersuchungen über einzelne Gegenstände“ (Ebd., S. 71–183), die sich wiederum in „Untersuchungen über die Lehre von dem Wärmestoffe“ (Ebd., S. 71–155) und Untersuchungen über „Atmosphärische Luft“ (Ebd., S. 156–183) teilen. Das zweite Heft wiederum setzt die Untersuchungen über einzelne Gegenstände‘ mit Beiträgen zur „Lehre von der Verkalkung der Metalle“ (Ebd., S. 191–221) und zur Thematik „Wasser“ (Ebd., S. 222–293) fort. Nach einer Unterbrechung im dritten Heft, das vollständig von Jakob Friedrich Fries’ Versuch einer Kritik der Richterischen Stöchyometrie (Ebd., S. 313–446) eingenommen wird, wird im vierten Heft die Behandlung von ‚Untersuchungen über einzelne Gegenstände‘ schließlich mit weiteren Abhandlungen zur Thematik „Wasser“ (Scherer (Hrsg.) (1800–1802), a.a.O., Bd. 2, S. 1–24) sowie Beiträgen zur Thematik „Wärme und Licht“ (Ebd., S. 25–131) wiederaufgenommen. 137 Scherer (1800d), a.a.O., S. IV.

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VI. An dieser Stelle möchte ich einen Schnitt machen und den Fokus von der litterärgeschichtlichen Revision auf das Publikationsformat der Bemerkung verlagern. Zu diesem Zwecke werde ich mich im Folgenden dem Almanach oder Taschenbuch für Scheidekünstler und Apotheker zuwenden, den der Weimarer Apotheker und spätere Jenaer Professor für Philosophie (mit Lehrauftrag für Chemie) Johann Friedrich August Göttling (1753–1809) von 1780 bis 1803 alljährlich herausgegeben hat.138 Göttlings Almanach gliedert sich vor allem in zwei Rubriken: Eine erste Sektion liefert Abgekürzte Bemerkungen aus der Chymie, an die sich eine zweite Sektion mit dem Titel Weitläuftigere Nachrichten von verbesserten chymischen Operationen anschließt. In manchen Jahren werden diese zwei Rubriken durch eine dritte und vierte ergänzt, die Auszüge aus Korrespondenzen bzw. Kritiken erschienener Bücher respektive liefern. In seiner Version als Almanach – Göttling verfügte nicht in allen deutschen Territorien über das einträgliche Privileg, einen Almanach zu vertreiben, weshalb er es andernorts als Taschenbuch vertrieb139 – geht den Bemerkungen und Abhandlungen darüber hinaus ein Kalendarium voran, das dem Apotheker als Gedächtnisstütze für die jeweils zu bestimmten Terminen und Jahreszeiten oder Mondphasen auszuführenden Zubereitungen dient.140 Die Pointe der Bezeichnung Bemerkung für die erste Serie von Texten liegt dabei – wie Jan Frercks bemerkt hat – 138 Zur Biographie Göttlings vgl. den Eintrag von Susanne Zimmermann & Horst Neuper (2008b), (Art.) Johann Friedrich August Göttling, in: Zimmermann & Neuper (Hrsg.) (2008), a.a.O., S. 174f. sowie den etwas ausführlicheren Beitrag von Anonym (1989), (Art.) Johann Friedrich August Göttling, in: Jena, Platen & Stolz (Hrsg.) (1989), a.a.O., S. 38–45. Eine umfassende Würdigung von Göttlings Wirken findet sich in Walter Aigner (1985), Die Beiträge des Apothekers Johann Friedrich August Göttling (1755–1809) zur Entwicklung der Pharmazie und Sauerstoffchemie, München: Dissertation. 139 Während die Geschichte und Funktion des literarischen Almanachs vergleichsweise gut erforscht ist, scheint die Tradition des gelehrten, technologischen oder im weitesten Sinne wissenschaftlichen Almanachs trotz der engen Verbindung des Formats zur Astronomie tendenziell sowohl ein Stiefkind der medien- als auch der wissenschaftsgeschichtlichen Forschung geblieben zu sein. Einige wichtige Einsichten in das mediengeschichtliche Umfeld des Publikationsformates vermittelt allerdings immerhin der einem engen publizistischen Verwandten des Almanachs gewidmete Band von Klaus-Dieter Herbst (2010), Die Schreibkalender im Kontext der Frühaufklärung, Jena: Verlag HKD. 140 Für den apothekarisch-pharmazeutischen Hintergrund siehe etwa Bettina Wahrig (2003), Apotheke – Öffentlichkeit – Publikum. Zur Geschichte eines Dreiecksverhältnisses, in: Christoph Friedrich & Wolf-Dieter Müller-Jahncke (Hrsg.), Apotheke und Publikum, Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, S. 9–28 sowie, unter explizitem Verweis auf Göttling, Ursula Klein (2007), Apothecary-Chemists in Eighteenth-Century Germany, in: Lawrence M. Principe (Hrsg.), New Narratives in Eighteenth Century Chemistry, Dordrecht: Springer, S. 97–137. Einen guten Einblick in den Zusammenhang zwischen apothekarischer Praxis und der Erforschung von Sachverhalten der organischen Chemie gibt die Autorin darüber hinaus am Beispiel von Göttlings (nicht zuletzt in den Bemerkungen im Almanach vorangetriebenen) Beschäftigung mit der Gruppe der Ester („Naphte“) in Ursula Klein (2010), Blending Technical Innovation and Learned Natural Knowledge. The Making of Ethers, in: Ursula Klein & Emma C. Spary (Hrsg.), Materials and Expertise in Early Modern Europe. Between Market and Laboratory, Chicago u.a.: The University of Chicago Press, S. 125–157.

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darin, dass sie gleichermaßen auf das an einem bestimmten Naturphänomen oder während eines Versuchs Bemerkte (das Erfahrene, das Beobachtete also) verweist, als auch für die Textgattung der Bemerkung (als Variante der Anmerkung oder der Notiz) einstehen kann.141 Mit dieser inextrikablen Verschränkung von extratextueller Erfahrung auf der einen und text- bzw. gattungsinterner Logik auf der anderen Seite wird also im Folgenden zu rechnen sein. Hinzuzufügen wäre vielleicht noch, dass mit dem Epitheton ‚abgekürzt‘ auch die Tatsache nicht verhohlen bleibt, dass die Bemerkungen sich häufig bereits einem vorangegangenen Prozess intertextueller Umschrift verdanken. Dabei ist insbesondere zweierlei auffällig. Zum einen löst Göttling die Bemerkungen zumeist recht ungeniert aus ihrem ursprünglichen Kontext heraus. Er interessiert sich also für gewöhnlich nicht sonderlich dafür, in welchem erkenntnistheoretischen Zusammenhang die von ihm ausgewählten Experimente angestellt worden sind bzw. in welchem argumentativen Kontext die von ihm herausgegriffenen Versuche oder Beobachtungen von seinen Quellen präsentiert werden. Handelt es sich dabei etwa um relativ systematische Reihen von Untersuchungen, die beispielsweise der Frage nach der Wahlverwandtschaft einer bestimmten Substanz mit einer Reihe von anderen Stoffen oder Stoffgruppen nachgehen, so kann man deshalb zuweilen den Eindruck gewinnen, dass Göttlings Auswahlkriterium vor allem das des ‚Überraschenden‘ ist – sei es nun im ganz basalen Sinne eines sinnlich besonders eindrücklichen Ereignisses oder aber im Sinne einer im Lichte eines bereits etwas spezifischeren Vorwissens überraschenden Reaktion. Werden dann gleichwohl mehrere solcher Versuche oder Beobachtungen aus ein und derselben Reihe herausgegriffen, so zerstreut Göttling sie – beinahe als wolle er Gattungsgesetzlichkeiten genügen, wie sie zuweilen dem Aphorismus und dem (mit Friedrich Schlegel zu sprechen) ‚igelartigen‘ Fragment zugesprochen worden sind – häufig breit über die gesamte Untersektion des jeweiligen Heftes. Neben dieser Tendenz zur kontextkappenden Isolation scheint im Zuge der kürzenden Umschrift zum anderen zumeist auch schon eine erste Form von Verallgemeinerung des Textinhaltes als solchem stattzufinden: So werden gegenüber den Quellen die Charakterisierungen der Edukte und Produkte zum Teil erheblich eingekürzt, die Darlegung von Vorgehensweisen und die Beschreibung von Apparaturen auf ein Mindestmaß reduziert und auch die Darstellung der spezifischen Umstände simplifiziert. Insofern kann man zum Teil den ausgesprochen irritierenden Eindruck gewinnen, dass im Zuge dieser kürzenden Umschreibungsprozesse versucht werden soll, das weitgehende Fehlen gemeinsamer Stan141 Siehe hierzu den unentbehrlichen Beitrag von Jan Frercks (2008b), Techniken der Vermittlung. Chemie als Verbindung von Arbeit, Lehre und Forschung am Beispiel von J.F.A. Göttling, in: N.T.M. Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin, 16, S. 279–308. Vgl. außerdem Jan Frercks (2009), Epistemisches Theater. Die Dialektik von Forschung und Lehre bei Vorlesungsvorführungen in der Chemie um 1800, in: Sabine Schimma & Joseph Vogl (Hrsg.), Versuchsanordnungen 1800, Zürich & Berlin: Diaphanes, S. 17–38. Insofern die Bemerkungen sich häufig einfach zufällig gemachten Beobachtungen verdanken und nur in einzelnen Fällen auf eine explizit geplante Experimentalanordnung zurückgehen, stellt die im Titel dieses Aufsatzes aus pragmatischen Gründen vorgenommene Gleichsetzung von ‚Bemerkung‘ und ‚Experimentalbericht‘ im Übrigen genaugenommen eine Katachrese dar.

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dards hinsichtlich Stoffreinheit, Apparaturen und Vorgehensweisen durch eine Art von Standardisierung auf rein sprachlichem bzw. textuellem Wege zu kompensieren. Der Versuch, ein Mindestmaß an textextrinsischer Verallgemeinerbarkeit wenigstens durch die Standardisierung von Mengenangaben zu erreichen, unterbleibt hingegen durchgängig.142 Aus dem Gesagten geht im Übrigen schließlich auch hervor, dass die Bemerkungen sich in ihrer Machart erheblich von jener Art des Experimentalberichts unterscheiden, den Steven Shapin und Simon Schaffer am Beispiel von Robert Boyle für das 17. Jahrhundert als charakteristisch identifiziert haben.143 Zwar erfüllen Göttlings Bemerkungen auf ihre eigene Art zweifellos das Kriterium einer „modesty of experimental narrative“ und zeichnen sich ebenfalls durch einen „plain, ascetic, unadorned […] style“ aus.144 Die zentralen Merkmale des Boyleschen Experimentalberichts hingegen, nämlich eine gewisse „prolixity“ und „convoluted[ness]“ im Umfang, und vor allem das Schreiben mit „circumstantial detail“ zum Zwecke der Erzielung einer „vivid impression of the experimental scene“ (ein Verfahren, das in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts übrigens durchaus noch von einem Autor wie Christian Wolff empfohlen worden war), weisen sie gerade nicht auf – im Gegenteil.145

142 Als besonders instruktives Beispiel für dieses Procedere vgl. etwa die Veränderungen, die in Johann Friedrich August Göttling (1781b), Flüchtiges Vitriolsalz, in: Almanach für Scheidekünstler und Apotheker, 2, S. 1–3 gegenüber der Quelle von Johann Christian Bernhardt (1755), Das flüchtige Salz aus dem Vitriolöle zu machen [= Dritter Versuch], in: Johann Christian Bernhardt, Chymische Versuche und Erfahrungen, aus Vitriole, Salpeter, Ofenruß, Quecksilber, Arsenik, Galbano, Myrrhen, der Peruvianer Fieberrinde und Fliegenschwämmen Kräftige Arzneyen zu machen, Leipzig: Breitkopf, S. 45–47 eingeführt werden. Zum ausgesprochen schwach ausgeprägten Interesse an quantitativen Verhältnissen in der deutschen Chemie selbst nach der Rezeption Lavoisiers vgl. Frercks (2008a), a.a.O., S. 330. 143 Vgl. Steven Shapin & Simon Schaffer (1985), Leviathan and the Air-Pump. Hobbes, Boyle, and the Experimental Life, Princeton: Princeton University Press, S. 55–72. 144 Ebd., S. 65 und S. 66. 145 Ebd., S. 66 und S. 63f. Inwieweit dies daran liegt, dass sich das für das 17. Jahrhundert neue Evidenzkonzept der „matters of fact“ inzwischen bereits weitgehend durchgesetzt hatte, oder ob und inwieweit es auf den spezifischen Kontext der zeitgenössischen Pharmazie mit einer (noch) vergleichsweise voraussetzungslosen Praxis des Arbeitens und Experimentierens zurückzuführen ist, die in Apothekerkreisen noch dazu so verbreitet war, dass sie lange Umschreibungen häufig überflüssig machte, ließe sich abschließend wohl nur im Zusammenspiel von diskursgeschichtlichen, wissenschaftssoziologischen und textwissenschaftlichen Ansätzen und unter Heranziehung von Ergebnissen aus der experimentellen Wissenschaftsgeschichte klären. Vgl. zu letzterem Konzept Olaf Breidbach, Peter Heering, Matthias Müller & Heiko Weber (Hrsg.) (2010), Experimentelle Wissenschaftsgeschichte, München: Fink. Die erwähnte Empfehlung Christian Wolffs, sich einer möglichst umständlichen und vor Augen stellenden „Erzehlung“ eines Geschehens zu bedienen, um aus den Umständen dann auf die Ursachen schließen zu können, wird im Übrigen etwa in seiner Experimentalphysik (1721) am Beispiel einer Backofen-Verpuffung, von der der Philosoph nicht ohne Selbstironie anmerkt, dass die Bäcker sie „wenigstens bey uns in Breßlau, den Wolff zu nennen pflegen“ geradezu vorexerziert: vgl. Christian Wolff (1738), Allerhand nützliche Versuche, dadurch zu genauer Erkänntnis der Natur und Kunst der Weg gebähnet wird, Halle/Saale: Renger, Bd. 2, S. 355–367, hier: S. 355.

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Auf den ersten Blick scheinen die solchermaßen abgekürzten Bemerkungen, auf die ich mich im Folgenden konzentrieren möchte, in Göttlings Almanach formal ziemlich deutlich in zwei Typen zu zerfallen. Das gilt in ganz besonders hohem Maße für den ersten Jahrgang des Almanachs. Dabei lassen sich die beiden Typen jeweils relativ deutlich einer der beiden sprachlichen Sphären zuordnen, die Émile Benveniste als histoire bzw. discours und Harald Weinrich im Anschluss daran als erzählte bzw. besprochene Welt bezeichnet hat.146 Das zentrale sprachliche Merkmal der besprochenen Welt besteht dabei vor allem im Gebrauch des Präsens als Leittempus, durch das (im Verbund mit den anderen Tempora der besprochenen Welt) das „semantische Merkmal ‚Bereitschaft‘“ ausgedrückt wird, das dem Rezipienten die Notwendigkeit einer „gespannte[n] Rezeptionshaltung“ angesichts eines damit unmittelbar verbundenen „festen Geltungsanspruch[s]“ der fraglichen Äußerungen signalisiert.147 Das hört sich dann bezogen auf Göttlings Bemerkungen beispielsweise wie folgt an: Salz aus den Caßia-Blumen (calyx Cassiae Ceylanicae). Wenn man ein halb Pfund gut gestoßene Zimmtblumen, um das Wasser davon zu haben, aus einer Blase gehörig destilliret, und von dem ganz zuerst übergehenden Wasser, welches milchweiß aussehen wird, ohngefähr ein halbes Pfund, besonders in einem Glase wohlverwahret, ein halbes oder ganzes Jahr ruhig hinstellet, so wird man, nach Verlauf dieser Zeit am Boden des Glases hin und wieder Sterngen von cristallisirtem Zimmtsalze finden; das darüberstehende Wasser wird schwächer geworden seyn; das Salz aber wird einen sehr süßen stechenden Zimmtgeschmack haben. Diese Erfahrung hat D. Trommsdorf zuerst gemacht.148

Der zweite Typus hingegen ließe sich, um in der Begrifflichkeit Weinrichs zu bleiben, weitgehend umstandslos der Kategorie erzählte Welt zuordnen, dessen Leittempus das Präteritum darstellt, durch das (im Verbund mit den anderen Tempora der erzählten Welt) das „semantische Merkmal ‚Aufschub‘“ ausgedrückt wird, das dem Rezipienten die Notwendigkeit einer „entspannte[n] Rezeptionshaltung“ angesichts eines zunächst nur „provisorisch“ geltenden „Geltungsanspruch[s]“ der fraglichen Äußerung signalisiert und ihm die Bereitschaft zum Abwarten einer erst im weiteren Verlauf der Rede bzw. des Textes – ob nun vermittels der weiteren Entfaltung der Erzählung (und das heißt dann weiterhin im Medium erzählender Tempora) oder aber vermittels nachgeschobener expliziter Argumentation (und das heißt dann 146 Für die am Kriterium der Kovariation innerhalb der Tempus- und der Pronominalkategorie ausgerichtete Unterscheidung zwischen histoire und discours vgl. Émile Benveniste (1974), Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, München: List, S. 264–296. Die an die (nicht zuletzt für die weitere Entwicklung der Narratologie und die Debatte um den narrativen Charakter der Geschichtsschreibung folgenreiche) Unterscheidung Benvenistes anknüpfende, allerdings nicht vollkommen gleichgelagerte Opposition von besprochener Welt und erzählter Welt wird ausführlich behandelt in Harald Weinrich (2001), Tempus. Besprochene und erzählte Welt, 6., neubearb. Aufl., München: Beck. Eine bündigere und stärker aufs Deutsche zugeschnittene Darstellung findet sich daneben in Harald Weinrich (1993), Textgrammatik der deutschen Sprache, Mannheim u.a.: Dudenverlag, S. 198–239. 147 Weinrich (1993), a.a.O., S. 199. 148 Göttling (1780e), Salz aus den Caßia-Blumen, in: Almanach für Scheidekünstler und Apotheker, 1, S. 15.

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durch den Wechsel zu besprechenden Tempora) – einzulösenden „Begründungs- und Verteidigungspflicht“ des Geäußerten nahelegt.149 Die folgende Bemerkung folgt diesem Muster: Besondere Entzündung des Phosphors. Es wurde ein Quentgen Platina del Pinto, mit zwey Quentgen reiner Phosphorsäure in einer Retorte vermischt, eine Vorlage vorgelegt, die Fugen mit Pappier verwahret, und die Flüßigkeit abdestillirt. Als die Flüßigkeit übergegangen war, setzte man die Retorte auf Kohlen; da aber der in der Retorte gebliebene Rest zusammenschmelzen wollte, nahm man sie vom Feuer, und sobald dieses geschah, wurde auf einmal die Retorte und Vorlage mit einem starken Blitz angefüllt, und sie zersprang mit einem gewaltigen Knall in Stücken. Eine Marggräfische Bemerkung.150

Nun lässt sich beiden Texttypen eine grundlegend assertorische Lesart in der Tat schwerlich absprechen. Gleichwohl existieren – ganz im Sinne bzw. in Verlängerung von Weinrichs Unterscheidung zwischen unmittelbarem und aufgeschobenem Geltungsanspruch – Unterschiede hinsichtlich der Frage, was hier und wie es hier je behauptet wird.151 Während im ersten Textbeispiel nämlich explizit eine konditio149 Weinrich (1993), a.a.O., S. 199f. 150 Göttling (1780a), Besondere Entzündung des Phosphors, in: Almanach für Scheidekünstler und Apotheker, 1, S. 16. 151 Insgesamt liegt der spezifische Mehrwert der Weinrichschen Re-Analyse der Kategorien Tempus, Aspekt und Modus darin, dass sie das für die traditionelle nicht anders als für die strukturalistische und generativistische Grammatik anscheinend unverbrüchlich feststehende Junktim zwischen Zeit- und Tempus-Verhältnissen (Präsens gleich Darstellung von Gegenwärtigem, Präteritum gleich Darstellung von Vergangenem) mitsamt all ihren Folgeproblemen (unter denen die Tatsache, dass das Präteritum auch das Haupttempus fiktionaler Texte ist, nicht das geringste darstellt) auflöst und die Kategorie Tempus unter Berücksichtigung text- und pragmalinguistischer Gesichtspunkte und in vollständiger Unabhängigkeit vom Begriff der Zeit neu konstruiert – eine Sichtweise, der für die folgenden Überlegungen insofern angemessen erscheint, als dass in den beiden Typen von Bemerkungen der Gebrauch des Präsens und des Präteritums in der Tat so gut wie nichts mit der Darstellung von Gegenwärtigem bzw. Vergangenem zu tun hat. Dabei scheint mir allerdings die Unterscheidung zwischen einem endgültigen und vorläufigen Geltungsanspruch die vorliegende Problemlage insgesamt gesehen besser auf den Punkt zu bringen, als die (leicht heideggerianisch gestimmte) Opposition zwischen einer Haltung der „Entspanntheit“ und einer Haltung der „Gespanntheit“ (vgl. Weinrich (2001), a.a.O., S. 47) – nicht zuletzt auch deswegen, weil (wie sich im Folgenden zeigen wird) unter den Bemerkungen gerade dem der erzählten Welt zuzuordnenden Typus in gewisser Weise jener unmittelbare Handlungsbezug zukommt, der ihm in dieser Dichotomie gerade bestritten wird. Im Übrigen hat sich Weinrich selbst den Einwand gemacht, dass die Rede von „Entspanntheit“ der Rezeptionshaltung mit der herkömmlichen Vorstellung von einer ‚spannenden Geschichte‘ kollidiert. Der unmittelbar mitgelieferte Versuch einer Entkräftung unter Verweis auf das Gebot der Kürze in der narratio in der antiken Rhetorik und die Formulierung, dass ein Erzähler dann spannend erzählt, wenn er so erzählt „als ob er bespräche“, kann dann allerdings auch nur sehr bedingt überzeugen (Ebd., S. 49ff, hier: S 51). Für die Rolle von Weinrichs Tempus-Begriff für den Begriff der Erzählung im engeren Sinne siehe auch die eingehende Diskussion bei Ricœur (1983–1986), a.a.O., Bd. 2: La configuration dans le récit de fiction, S. 116–142, der dem Ansatz Weinrichs grundsätzlich sehr wohlwollend gegenübersteht, sich ihm aber in der Frage einer absoluten Unabhängigkeit zwischen Zeit und Tempuskategorie nicht gänzlich anschließen mag.

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nale Relation zwischen mehreren Ereignissen (Handlungen und Geschehnissen) bzw. Zuständen ausgesagt wird, ist die Relation, die im zweiten Textbeispiel herrscht, zunächst in erster Linie bloß temporaler Natur. Sie kann, sie muss aber nicht eine Interpretation im Sinne eines Bedingungsgefüges erfahren. Oder, im Sinne temporaler Logik reformuliert: Während in Texten vom Typus des ersten Beispiels, die ich im Folgenden provisorisch (und nicht ohne gewisse Vorbehalte) als deskriptiv bezeichnen werde, behauptet wird, dass die dargestellte Ereigniskette zu jedem möglichen Zeitpunkt t1 bis tn eintreten wird, machen Texte vom Typus des zweiten Beispiels, die ich im Folgenden provisorisch (und gleichfalls nicht ohne gewisse Vorbehalte) als narrativ bezeichnen werde, zunächst einmal nur eine Aussage über eine bestimmte Abfolge von Ereignissen zum konkreten Zeitpunkt ti. Um es also auf den Punkt zu bringen: Die deskriptive Bemerkung signalisiert durch ihre Form die zeitresistente Allgemeingültigkeit des Behaupteten und weist damit die betreffende Erfahrung als iterabel aus, während die narrative Bemerkung erkennen lässt, dass die Erfahrung noch der Überprüfung und Verallgemeinerung harrt.152 Dabei gilt es im Blick zu behalten, dass diese Differenz nicht notwendig an den grammatisch overten Gebrauch einer Konditionalkonstruktion gebunden ist. Allgemeingültigkeit im beschriebenen Sinne kann sich auch in Formulierungen des Typs Man nimmt x

152 Ich orientiere mich bei dieser in der Tat nicht ganz unproblematischen Namensgebung, abgesehen von der Anlehnung an die Terminologie Benvenistes bzw. Weinrichs, grob an der in textlinguistischen Arbeiten häufig herangezogenen Unterscheidung zwischen deskriptiven und narrativen Texttypen, für die in den meisten Modellen ebenfalls Unterschiede im Tempusgebrauch als wichtiges Unterscheidungskriterium zugrundegelegt werden. Vgl. als knappe Überblicksdarstellungen zu diesen beiden Texttypen Elisabeth Gülich & Heiko Hausendorf (2000), (Art.) Vertextungsmuster Narration, in: Klaus Brinker u.a. (Hrsg.) (2000), Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung, Berlin & New York: de Gruyter, Bd. 1, S. 369–385; Wolfgang Heinemann (2000), (Art.) Vertextungsmuster Deskription, in: Brinker u.a. (Hrsg.) (2000), a.a.O., Bd. 1, S. 356–369. Leider geht der überwiegende Teil der dort verhandelten Ansätze (die sich vor allem mit den Namen Egon Werlich, Wolfgang Heinemann, Dieter Viehweger, Klaus Brinker und Teun van Dijk verbinden) zumeist ziemlich aprioristisch und folglich auch weitgehend ahistorisch vor. Für eine relativ plausible Textsortenklassifikation, die sich die Kategorie des Historischen immerhin so weit bewahrt hat, dass sie bei der Darstellung nicht einfach so tut, als könne man erst seit Erfindung der Textlinguistik über diese Fragen nachdenken, sondern schlaglichtartig auch auf Meilensteine aus den davorliegenden zweitausendfünfhundert Jahren poetologischer Reflexion zu sprechen kommt, vgl. Jean-Michel Adam (2001), Les textes: types et prototypes. Récit, Description, Argumentation, Explication et Dialogue, 4. Aufl., Paris: Nathan. Grundsätzlich gilt, dass mit der Unterscheidung deskriptiv vs. narrativ, so wie sie in den meisten der genannten Modelle definiert wird, letztlich jeweils (ohne dabei ganz überschneidungsfrei sein zu können) spezifische Unterkategorien der Sphäre der besprochenen und erzählten Welt bezeichnet werden. Als alternative Begriffsbildung zu der Opposition von deskriptiven und narrativen Bemerkungen hätte sich im Übrigen vielleicht die Unterscheidung zwischen prozeduralen und eventualen Bemerkungen angeboten, durch die die primäre Funktion dieser beiden Typen zweifellos angemessen bezeichnet wäre. Allerdings ginge durch diese Bezeichnungen der Zusammenhang mit den zur Bewerkstelligung dieser Funktionen eingesetzten sprachlichen Mitteln und die Einbettung in einen entsprechenden textsortentheoretischen und gattungsgeschichtlichen Horizont weitgehend verloren.

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und y. Es entsteht z. oder Es wird x und y genommen. Es entsteht z. einstellen.153 Das gleiche gilt für imperativische, d.h. explizit performative Ausdrücke wie Nimm x und y! oder Man nehme x und y!154 – womit denn auch im Vorübergehen zumindest ein möglicher Vorbehalt gegenüber der Bezeichnung deskriptive Bemerkung benannt ist, scheint sich hier doch die starke Affinität des Deskriptiven zum Präskriptiven zu zeigen.155 In der Tat sind all dies Varianten, die sich, wenn auch zum Teil in deutlich geringerer Quantität, in Göttlings Almanach finden lassen. Wichtigste Voraussetzung für das Signalement von Allgemeingültigkeit ist demnach in erster Linie die Kombination präsentischer Tempora (oder allgemeiner: Tempora der besprochenen Welt) mit unpersönlichem Pronomen bzw. innerhalb von Konstruktionen mit unbesetzter Agens-Rolle. Gleichwohl ist es charakteristisch, dass Göttling, vor allem im ersten Jahrgang des Almanachs, die Konditionalität durch explizite Wenn-dann-Konstruktionen zu unterstreichen sucht – fast als wolle er in der resultierenden Formelhaftigkeit die zugrundeliegende logische Struktur auch auf der sprachlichen Oberfläche möglichst undeformiert zum Erscheinen bringen. Bezeichnend ist zugleich aber auch, dass er – wie im Folgenden noch weiter auszuführen sein wird – bald schon wieder von dieser Praxis Abstand zu nehmen beginnt. 153 Als Beleg für den Formulierungstypus Man nimmt x und y. Es entsteht z. siehe zum Beispiel Göttling (1781a), Bereitung des goldfarbenen Spießglas-Schwefels, aus der Stralsundischen Apotheker-Taxe, in: Almanach für Scheidekünstler und Apotheker, 2, S. 35f.: „Man vermischt gleiche Theile Spießglas und Schwefel, und noch einmal so viel gereinigte Potasche, als diese beyden zusammen betragen, und läßt diese Mischung wohlbedeckt in einem [sic!] Tiegel fließen, gießt sie alsdenn aus, löst sie in Wasser auf, und läßt diese Auflösung vier und zwanzig Stunden stehen. […] Auf diese Weise bekommt man nicht nur eine beträchtlichere Menge des schönsten Spießglasschwefels, sondern es findet auch zwischen diesem und dem Spießglasschwefel der so genannten dritten Niederschlagung nicht der geringste Unterschied statt.“ Ein Beispiel für den Strukturtyp Es wird x und y genommen. Es entsteht z. wiederum bietet etwa Göttling (1800b), Blauer Salpetergeist, in: Almanach für Scheidekünstler und Apotheker, 1, S. 13f.: „Wenn gleiche Theile Salpeter und Arsenik vermischt, und gehörig destillirt werden, so erhält man davon einen blauen Salpetergeist.“ 154 Als Beispiel für das (deutlich seltenere) Formulierungsschema Man nehme x und y! vgl. etwa Göttling (1780c), Ein violettes Salz, in: Almanach für Scheidekünstler und Apotheker, 1, S. 32: „Man löse cyprischen blauen Vitriol in Wasser auf, filtrire diese Auflösung, mische hernach etwas mit Laugensalz bereiteten Salmiakgeist dazu, so wird die Auflösung blaulicht werden, und sich am Boden etwas verdicken.“ Eine Instanziierung des (noch selteneren) Strukturtyps Nimm x und y! bzw. Nehmt x und y!, dessen Okkurrenz im Übrigen den Verdacht nahelegt, dass direkt oder indirekt eine lateinische Quelle zugrundeliegt, findet sich etwa in Göttling (1780d). Eine Mischung die sich von selbst entzündet, in: Almanach für Scheidekünstler und Apotheker, 1, S. 33: „Vermischt reine Eisenfeilspähne mit gleichen Theilen Operment zusammen, und sublimirt die Materie; werden nun zu diesem Sublimat zehn Theile Silbercrystallen in einem steinernen Mörser gemischt, und die Mischung auf ein Papier ausgeschüttet, so wird sie sich gleich entzünden.“ 155 Ohne Frage scheint die Tatsache, dass die deskriptiven Bemerkungen auch eine unmittelbar imperativische Form annehmen können, ihre Nähe zur Sphäre des Präskriptiven nahezulegen. Und in der Tat sind vergleichbare Texttypen wie Bedienungsanleitungen, Gebrauchsanweisungen oder Kochrezepte von textlinguistischer Seite denn auch häufig als direktive Textsorten klassifiziert worden, so etwa von Götz Hindelang (1978), Auffordern. Die Untertypen des Aufforderns und ihre sprachlichen Realisierungsformen, Göppingen: Kümmerle, S. 378–409, der

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Versucht man auf einer relativ abstrakten Ebene das Verhältnis zwischen diesen beiden Textsorten sprechakttheoretisch zu reformulieren, so lassen sich die deskriptiven Bemerkungen der Kategorie der Kommissiva als Klasse von Sprechakten zuordnen, deren illokutionärer Zweck oder Witz „es ist, den Sprecher […] auf ein bestimmtes Verhalten festzulegen“ und dessen propositionaler Gehalt folglich darin besteht, dass „der Sprecher S eine künftige Handlung h vollzieht“ – was zugleich bedeutet, dass sie gemeinsam mit der Klasse der direktiven Sprechakte die Ausrichtung „Welt-auf-Wort“ aufweisen.156 Und in der Tat könnte man sagen, dass es sich bei den deskriptiven Bemerkungen um eine Art konditioniertes Versprechen handelt – ein Versprechen, dass, wenn x befolgt wird, y eintreten wird. Eine solche Sichtweise wäre freilich zumindest aus dem Blickwinkel der in der Tradition John Searles stehenden Fassung der Sprechakttheorie eine zugegebenermaßen etwas unorthodoxe Sicht der Dinge: Ein Versprechen ist, legt man die von Searle aufgestellten Gelingens- bzw. Erfolgsbedingungen (felicity conditions bzw. conditions of success) ganz streng und wortwörtlich aus, eben ein Sprechakt, durch den sich ein Sprecher (also ein benennbares Subjekt) darauf festlegt, in der Zukunft eine bestimmte Handlung 155 sie unter der Kategorie „Anleitung“ führt, die sich gegenüber anderen direktiven Textsorten unter anderem dadurch auszeichnet, dass die in ihr artikulierten Aufforderungen „im Adressateninteresse“ geschehen – eine Einschränkung, die aufhorchen lassen sollte. Vgl. auch die relativ ausgewogene Diskussion bei Eckard Rolf (1993), Die Funktionen der Gebrauchstextsorten, Berlin & New York: de Gruyter, S. 231–238, der diese Textsorten zwar letztlich ebenfalls der direktiven Kategorie zuschlägt, dabei aber immerhin ihre Übergängigkeit zur assertiven Sphäre einräumt und ihre (implizite oder explizite) Konditionalität betont. Wie im Folgenden deutlich werden wird, kann ich mich einer entsprechenden Einordnung der deskriptiven Bemerkungen in die Kategorie der direktiven Textsorten mit Blick auf ihre konkrete Steuerungsfunktion im Almanach allerdings in keiner Weise anschließen, da mir direktive Aufgaben gerade umgekehrt eher von den narrativen Bemerkungen erfüllt zu werden scheinen. In historischer Hinsicht wäre zur besseren Einordnung der deskriptiven Bemerkungen im Übrigen ein Abgleich mit den Pharmakopöen oder Arzneimittelbüchern hilfreich, deren Rezepturen zweifellos im Hintergrund der deskriptiven Bemerkungen stehen, die sich allerdings insofern von ihnen unterscheiden, als in ihnen für gewöhnlich nur notwendige Inhaltsstoffe benannt, nicht hingegen die Art der Zubereitung beschrieben wird, und die (da ihnen zum Teil Gesetzeskraft zukam) in der Tat einen stark direktiven Charakter aufweisen. Da Forschungsliteratur zu den Pharmakopöen als Textsorte allerdings Mangelware ist, sei an dieser Stelle nur auf Literatur zur sprachlichen Gestalt eines zweiten Genres verwiesen, das als Orientierungspunkt für die deskriptiven Bemerkungen von Relevanz gewesen sein dürfte, nämlich das Kochrezept: Giuli Liebman Parrinello (1996), Einblicke in eine Textsortengeschichte: Kochrezepte seit frühneuhochdeutscher Zeit bis heute, in: Hartwig Kalverkämper & Klaus-Dieter Baumann (Hrsg.), Fachliche Textsorten. Komponenten, Relationen, Strategien, Tübingen: Narr, S. 292–320; Nicola Hödl (1999), Vertextungskonventionen des Kochrezepts vom Mittelalter bis in die Moderne (D-E-F-S), in: Eva Martha Eckrammer, Nicola Hödl & Wolfgang Pöckl, Kontrastive Textologie, Wien: Edition Präsens, S. 47–76. Unter stärker systematischen Gesichtspunkten stellt in diesem Zusammenhang – trotz seines, wenn man so sagen darf, extrem strukturalistischen Ansatzes – darüber hinaus der klassische Aufsatz von Algirdas Julien Greimas (1983), La soupe au pistou ou la construction d’un objet de valeur, in: Algiras Julien Greimas, Du sens II. Essais sémiotiques, Paris: Éditions du Seuil, S. 157–169 nach wie vor eine ausgesprochen inspirierende Lektüre dar. 156 Searle (1979), a.a.O., S. 33.

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selbst zu vollziehen:157 Eine Handlung von Dritten oder gar ein Ereignis, das von einem unbelebten Gegenstand ausgelöst wird, kann demnach nicht Gegenstand eines Versprechens sein. Im betrachteten Fall liegt aber eben nicht nur genau eine solche Konstellation vor. Vielmehr ist auch gar nicht erkennbar, welches Subjekt hier eigentlich ein Versprechen abgeben könnte: Der Sprecher kommt im Diskurs selbst gar nicht vor, da es sich bei ihm, einmal mehr narratologisch gesprochen, um einen heterodiegetischen Sprecher handelt. Wenn ich nun – wie schon im Falle der Diskussion des deklarativen Sprechakts als zentralem Mechanismus litterärhistorischer Erzählungen in der Lektüre von Scherers Geschichte der Ausbreitung – gleichwohl darauf beharre, dass die deskriptiven Bemerkungen eine Interpretation erlauben, die in ihnen zumindest eine Strukturähnlichkeit mit dem Sprechakt des Versprechens erkennen lässt (und sie in jedem Falle Dimensionen aufweisen lässt, die ihn jenseits der Kategorie des rein Assertorischen der Sphäre der Kommissiva annähern), so geschieht dies zum einen, um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass Göttling beim Vertrieb der von ihm entworfenen chemischen Probierkabinette gegenüber seinen Abnehmern in der Tat eine Verpflichtung zu größtmöglicher Reinheit der Chemikalien eingehen musste, wenn er den Erfolg der in den sie begleitenden (und den deskriptiven Bemerkungen in der Form sehr ähnlichen) Anleitungstexten beschriebenen Versuche gewährleisten wollte.158 Zum anderen geschieht dies aber auch, um ihre Wirkungsweise in Differenz zu den narrativen Bemerkungen deutlicher hervortreten zu lassen. Diese scheinen sich mir nämlich ziemlich eindeutig als Instanziierungen direktiver Sprechakte identifizieren zu lassen: So gehören – wenngleich mit unterschiedlichen Graden der Explizitheit – zweifellos sowohl die Aufforderung bzw. die Bitte als auch die Warnung und der Rat zum Repertoire der Sprechakte, die die narrativen Bemerkungen lizensieren. Insbesondere für die Funktion der Warnung scheinen sich die narrativen Bemerkungen ganz besonders zu eignen. Ihr zentrales Moment ist nämlich – wie bereits eingangs im Zusammenhang mit den Prozeduren intertextueller Umschrift angedeutet – häufig das einer gewissen Überraschung. Gerade im ersten Jahrgang des Almanachs ist dabei das Moment der Überraschung überproportional häufig mit sinnlich besonders eindrücklichen Ereignissen wie plötzlichen Entzündungen oder Detonationen verbunden. So wird das ‚unerhörte Ereignis‘ zum propositionalen Nukleus einer Warnung. Und dort, wo die Bemerkungen im Modus ihres Erzählens auch weniger Spektakuläres als überraschend ausmachen, liegt immer noch eine Interpretation als Aufforderung oder Bitte an den Rezipienten nahe, über die Gründe dieses überraschenden Ergebnisses nachzudenken, oder die Erfahrung unter gleichen oder veränderten Bedingungen zu wiederholen. 157 Vgl. auch die berühmte und (insbesondere von poststrukturalistischer Seite) vielkritisierte Analyse des Versprechens in Searle (1971), a.a.O., S. 88–99. 158 Vgl. Johann Friedrich August Göttling (1790h), Vollständiges chemisches Probir-Cabinet zum Handgebrauche für Scheidekünstler, Aerzte, Mineralogen, Metallurgen, Technologen, Fabrikanten, Oekonomen und Naturliebhaber, Jena: Mauke. Siehe dazu ausführlich Georg Schwedt (2001), Chemische Probierkabinette. Göttling (Jena 1790) und Trommsdorff (Erfurt 1818), Seesen: HisChymia sowie, unter expliziter Bezugnahme auf das Genre der Bemerkungen, Frercks (2008b), a.a.O., S. 290f.

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In diesem Sinne sind – um einem weiteren möglichen Vorbehalt gegenüber der provisorisch gewählten Benennung der zugrundeliegenden Opposition zu begegnen – für die narrativen Bemerkungen des Almanachs denn auch über den Gebrauch des Präteritums als Leittempus und das bloße Merkmal einer sich in seinem Medium darstellenden chronologischen Abfolge von Zuständen und Ereignissen hinaus eine Reihe von Kriterien von Narrativität im engeren Sinne erfüllt. So legen sie es nämlich in der Tat darauf an – um drei Merkmale zu nennen, die der Narratologe Meir Sternberg (letztlich in Anverwandlung des aristotelischen Begriffs der περιπέτεια) für literarische Erzählungen als unverzichtbar ausgemacht hat – beim Leser den Effekt oder Affekt von surprise als „the coincidental encounter with the unexpected“, von curiosity als „the search for the origins of the coincidence“ und von suspense als „a movement forward to the anticipation of the resolution of the puzzle“ zu produzieren bzw. hervorzurufen.159 Dabei zeichnen sich die narrativen Bemerkungen freilich durch den spezifischen Gebrauch, den sie von diesen drei Wirkungsmechanismen machen, und die spezifische Form, in der sie sie zum Einsatz kommen lassen, aus – ganz im Sinne der Konzeption Sternbergs, der zufolge ihr jeweiliges Gewicht und ihr jeweiliges Zusammenspiel von Autor zu Autor und von Genre zu Genre variieren kann und dabei insbesondere mit dem Problem der zeitlichen Anordnung des Erzählten auf der Ebene der Erzählung und damit mit der Frage zusammenhängt, wo der jeweilige Text auf dem Kontinuum zwischen dem Pol der weitgehend nach vorne erzählenden synthetischen Erzählung und der gleichsam rückwärts erzählenden analytischen Erzählung anzusiedeln ist.160 Während nämlich in einer synthetischen Erzählung, schematisch gesprochen, die (aufgrund des Nicht-Erzähltseins des Nachfolgenden) in steter Schwebe gehaltene Vorausschau auf die möglichen Folgen – den weiteren Fortgang und schlussendlichen Ausgang – des je (soeben) Erzählten im Zentrum des Wirkungsinteresses steht, deren tatsächlichem Eintreten durch die kalkulierte Aussparung bestimmter vorausliegender Ereignisse und die berechnende Vorenthaltung von Informationen über ihre je gegebenen Umstände ein besonders starker Überraschungseffekt abgewonnen werden kann, steht umgekehrt in einer analytischen Erzählung das Eintreten eines als rätselhaft und überraschend präsentierten Ereignisses am Eingang der Erzählung und folglich – mit ihrem weiteren Fortgang – die von der (aus dem NichtErzähltsein vorausliegender Ereignisse und Umstände resultierende) Wissbegier geleitete Rückschau auf die möglichen Ursachen des eingangs Erzählten im Lichte des je (soeben) Nacherzählten im Zentrum des Wirkungsinteresses. Wollte man in der Manier eines schlegelianischen Analogieschlusses zuspitzen, so könnte man daher sagen, dass die narrativen Bemerkungen ihrer erzählerischen Form nach Novellen, der von ihnen geforderten Rezeptionshaltung nach hingegen Whodunnits sind. Denn wie eine synthetisch erzählte Novelle, die unter Konzentration auf ein 159 So der Ansatz von Meir Sternberg (1992), Telling in Time II: Chronology, Teleology, Narrativity, in: Poetics Today, 13:3, S. 463–541, hier zitiert nach der bündigen Formulierung von Monika Fludernik (1996), Towards a ‚Natural‘ Narratology, London & New York: Routledge, S. 242. 160 Vgl. Sternberg (1992), a.a.O., S. 529–538.

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begrenztes Figurenrepertoire unaufhaltsam auf das ‚unerhörte Ereignis‘ zutreibt, läuft die prototypische narrative Bemerkung unter Beschränkung auf ein reduziertes Arsenal an Reagenzien auf eine unerwartete und überraschende Reaktion zu. Und wie das analytisch erzählte Whodunnit den Leser dazu animiert, mit Fortschreiten der Erzählung Zug um Zug Hypothesen darüber aufzustellen, wie sich das Rätsel eines vorausliegenden Verbrechens auflösen lässt, und aus einer relativ reduzierten Zahl an Verdächtigen und sozialen Umständen – ohne dass er sicher sein könnte, dass diese zum jeweiligen Erzählzeitpunkt bereits alle in der erzählten Welt aufgetaucht sind – provisorisch auf den Verbrecher zu schließen, so hält die prototypische narrative Bemerkung den Leser dazu an, im Anschluss an ihre Lektüre aus einer relativ reduzierten Anzahl an beteiligten Reagenzien und Umständen – ohne dass gesichert wäre, dass alle in der Bemerkung genannt, geschweige denn zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung bekannt sind – auf die Ursache der rätselhaften Reaktion zu schließen.161 Über die Anforderung hinaus, das Vorliegen des Ereignisses durch die Wiederholung des Versuchs allererst zu bestätigen, die zumindest im klassischen Whodunnit keine Entsprechung findet, liegt ein zentraler Unterschied allerdings darin, dass die narrative Bemerkung den Leser nicht nur dazu animiert, die Suche eines fiktiven Detektivs nach den Ursachen im Verlaufe der Lektüre Zug um Zug virtuell mit eigenen Annahmen zu begleiten, sondern ihn gewissermaßen als echten Detektiv aus Fleisch und Blut ganz real auf die Suche nach den Ursachen schickt und damit gleichsam das Spiel mit der Erwartung des Lesers in eine Erwartung an den Leser ummünzt. Jenseits der im Dienste einer sukzessiven Absicherung bzw. Demontage des induktiven Schlusses vom einzelnen Fall auf die Gesamtheit aller Fälle stehenden Erwartung, dass der eine oder andere Leser sich an der Replikation der dargestellten Erfahrung versuchen und dem Herausgeber seine Ergebnisse mitteilen möge, wird man das in diesem Zusammenhang geforderte Schlussverfahren wohl vor allem als das der Abduktion identifizieren können, die einem unerwarteten Ereignis den Charakter des Überraschenden zu nehmen (oder, was bis zu einem gewissen Grade dasselbe ist, es zu erklären) versucht, indem es im Modus des als ob eine Regel 161 Dass zwischen ‚Bemerkung‘ und ‚Novelle‘ über die bloße Analogie hinaus zumindest indirekt auch ein Zusammenhang in der Sache bestanden haben könnte, macht ein Blick in die Mediengeschichte deutlich. Schließlich nimmt die Entwicklung eines periodisch organisierten Zeitungs- und Zeitschriftenwesens in der Frühen Neuzeit ihren Ausgang nicht zuletzt vom Publikationsformat des Flugblatts, das unter anderem unter Namen wie ‚novel‘, ‚nouvelle‘, ‚novella‘ bzw. ‚novela‘ zu kursieren pflegte, und angesichts der Tatsache, dass es seinem Inhalt nach weder notwendigerweise ‚neu‘ noch unbedingt ‚wahr‘ sein musste und folglich sowohl das, was heute als (literarische) Novelle als auch das, was heute als (journalistische) Nachricht bezeichnet werden würde, umfassen konnte, seine Identität offenbar vor allem in der auf einen Überraschungseffekt abgestellten Erzählstruktur gefunden hat. Umgekehrt scheint sich im Laufe der Frühen Neuzeit auch der deutsche Ausdruck ‚Nachricht‘ als Äquivalent für die lateinische Vokabel ‚notitia‘ eingebürgert zu haben, die – wie heute noch ‚noticia‘ oder ‚notizia‘ als spanische bzw. italienische Ausdrücke für ‚Nachricht‘ – selbst wiederum einen klaren Zusammenhang mit dem Vorgang des ‚Bemerkens‘ erkennen lässt. Vgl. hierzu Lennard J. Davis (1983), Factual Fictions. The Origins of the English Novel, New York: Columbia University Press, insbesondere das Kapitel „News/Novels. The Undifferentiated Matrix“ (Ebd. S. 42–70).

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ansetzt, unter der das unerwartete Ereignis sich in eine erwartbare Folge verwandeln würde – und die in der Tat auch der Schlussmodus ist, der im Whodunnit im Vordergrund steht.162 Im Gegensatz zu diesem – und darin liegt ein weiterer zentraler Unterschied – kann es bei der narrativen Bemerkung natürlich nicht darum gehen, das überraschende und rätselhafte Ereignis durch die Rekonstruktion vorausliegender Ereignisse und Umstände dem Charakter oder den Handlungen menschlicher Akteure (also ‚natürlichen Personen‘ im juristischen Sinne des Wortes) zuzurechnen, die – soweit sie überhaupt benannt werden und nicht gänzlich hinter unpersönlichen man- oder Passivkonstruktionen verschwinden – ohnedies nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit der Bemerkungen stehen. Vielmehr besteht die Aufgabenstellung entweder darin, dieses Ereignis in einem abduktiven Prozess auf die konkreten Eigenschaften (beispielsweise die auf mögliche Verunreinigungen oder bestimmte Sondereigenschaften schließen lassende Herkunft) und die unmittelbaren Wirkungen der beteiligten Reagenzien (seien diese nun ausdrücklich benannt oder allererst aus den Umständen der Reaktion zu erschließen) als den eigentlichen – und daher in grammatikalischer Hinsicht auch häufig in der Position des agentiven Subjekts stehenden – Protagonisten (also gleichsam ‚natürlichen Personen‘ im Wortsinne) oder aber auf den Charakter und die Wirkung zugrundeliegender und in der eigentlichen narratio selbst gar nicht benannter abstrakter Entitäten und Prinzipien (mögen diese nun Brennstoff oder Sauerstoff, phlogiston oder oxygène, heißen) als ‚übernatürlichen Personen‘ und/oder ihre Interaktion im Sinne des Konzepts der Wahlverwandtschaft (dessen Name im Übrigen den ursprünglichen Anthropmorphismus noch 162 Vgl. die Abgrenzung, die Charles Peirce in einem Aufsatz aus dem Jahre 1878 zwischen den beiden Schlussweisen der Induktion und der (seinerzeit noch als ‚Hypothese‘ bezeichneten) Abduktion vorgenommen hat: „Induction is where we generalize from a number of cases of which something is true, and infer that the same thing is true of a whole class. Or, where we find a certain thing to be true of a certain proportion of cases and infer that it is true of the same proportion of the whole class. Hypothesis is where we find some very curious circumstance, which would be explained by the supposition that it was a case of a certain general rule, and thereupon adopt that supposition. Or, where we find that in certain respects two objects have a strong resemblance, and infer that they resemble one another strongly in other respects.“ (Charles S. Peirce (1931a), Deduction, Induction, and Hypothesis, in: Charles S. Peirce (1931–1958), The Collected Papers of Charles Sanders Peirce, hg. v. Arthur W. Burks, Charles Hartshorne & Paul Weiss, Cambridge: Harvard University Press, Bd. 2, §§ 619–644, hier: § 623). Die Betonung des Seltsamen, Merkwürdigen und Neugierheischenden – „some very curious circumstance“ – ist auch in die vermutlich meistzitierte Definition eingegangen, die Peirce der Abduktion (nunmehr auch unter diesem Namen) in einer Vorlesung aus dem Jahre 1903 gegeben hat: „The form of inference, therefore, is this: / The surprising fact, C, is observed; / But if A were true, C would be a matter of course, / Hence, there is reason to suspect that A is true.“ (Charles S. Peirce (1931b), Pragmatism and Abduction, in: Peirce (1931–1985), a.a.O., Bd. 5, §§ 180–212, hier: § 98). Der Vorschlag, das Whodunnit unter dem Gesichtspunkt der Abduktion zu betrachten, stammt im Wesentlichen von Umberto Eco, siehe etwa Umberto Eco (1999), Die Grenzen der Interpretation, 2. Aufl., München: Deutscher Taschenbuch-Verlag, bes. S. 326–336. In Deutschland hat sich vor allem Uwe Wirth mit der Rolle des abduktiven Schließens in und für die Literatur beschäftigt, vgl. inbesondere Uwe Wirth (1999), Diskursive Dummheit. Abduktion und Komik als Genzphänomene des Verstehens, Heidelberg: Winter.

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erkennen lässt) zurückzuführen. Oder um es in Anlehnung an die von Paul Ricœur im Zusammenhang mit der Frage nach dem Nexus zwischen Narrativität und Kausalität in strukturgeschichtlichen Darstellungen entwickelte Terminologie zu sagen: Die erwarteten abduktiven Schlüsse sollen gleichsam unter gänzlicher Absehung von menschlichen „personnages“ die für die dargestellten „quasi-événements“ der narrativen Bemerkung als „quasi-intrigues“ jeweils verantwortlichen Reagenzien als – noch relativ konkrete – „quasi-personnages“ erster (oder niedriger) Ordnung aus dem Text isolieren oder aber diese „quasi-événements“ auf – weitgehend abstrakte – Prinzipien als „quasi-personnages“ zweiter (oder höherer) Ordnung zurückführen – und dabei die (quasi-)erzählten Kontingenzen in eine (quasi-)logische Notwendigkeit überführen. Während den deskriptiven Bemerkungen also – um die bisherigen Überlegungen noch einmal zusammenzufassen – aufgrund des durch den Gebrauch von Tempora der besprochenen Welt signalisierten festen Geltungsanspruchs der von ihnen dargestellten und implizit oder explizit als konditional strukturiert ausgewiesenen Sachverhalte insgesamt die Funktion von kommissiven Sprechakten zukommt, in denen der Almanach sich gleichsam für ihre durch vorausliegende induktive Prozesse bereits weitgehend abgesicherte zeitresistente Geltung verbürgt, erfüllen die narrativen Bemerkungen aufgrund des sich im Gebrauch von Tempora der erzählten Welt artikulierenden bloß vorläufigen Geltungsanspruchs der dargestellten Sachverhalte die Funktion direktiver Sprechakte, in denen der Almanach seine Erwartung auf eine Überführung ihrer bloß temporalen Relation in eine übereinmalige konditionale Beziehung vermittels Induktion zu verstehen gibt und zugleich aufgrund ihres narrativen Charakters im engeren Sinne eine abduktive Suche nach den Ursachen des fraglichen Sachverhaltes anleitet. Das allerdings bedeutet in der Konsequenz, dass sich mit beiden Typen von Bemerkungen zugleich stets auch jeweils ein deklarativer Sprechakt verbindet – wird doch das im Medium der deskriptiven Bemerkung dargestellte Geschehen jeweils als stets gültiges und insofern bereits bestätigtes Reaktionsschema und das im Medium der narrativen Bemerkungen dargestellte Geschehen jeweils als nicht notwendig immer gültiges und insofern noch nicht bestätigtes Reaktionsschema ausgeflaggt.

VII. Diese bislang eher im Abstrakten gebliebenen Überlegungen möchte ich im Folgenden mit etwas Empirie unterfüttern. Dabei kommt mir die Tatsache zur Hilfe, dass Göttling ab 1799 fürs Erste die Fortsetzung seiner abgekürzten Bemerkungen (ebenso wie der weitläuftigeren Abhandlungen) unterbricht, um an ihre Stelle über mehrere Jahrgänge hinweg Neue Ansichten verschiedener in den bisherigen Taschenbüchern gesammelten Beobachtungen und Erfahrungen treten zu lassen – und damit eine Rubrik etabliert, deren Titel wohl nicht ganz zufällig wie die wortwörtliche Eindeutschung des Lehnwortes Revision klingt. Als zentrales Motiv für diese Vorgehensweise gibt Göttling selbst dabei die Lavoisiersche Revolution an:

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Ich liefere in dieser zwanzigsten Fortsetzung des Almanachs oder Taschenbuchs für Scheidekünstler und Apotheker, vorzüglich theoretische und praktische Berichtigungen mehrerer in den vorhergegangenen Jahrgängen aufgezeichneten Thatsachen, und werde solches auch in den nächsten Jahrgängen noch fortsetzen, weil sehr viele davon, nach dem jetzigen Zustande der Chemie, aus einem ganz anderen Gesichtspunkte betrachtet werden müssen, als es zu jener Zeit möglich war. Hoffentlich wird dieses den Lesern dieses Taschenbuchs eine nicht unangenehme Unterhaltung gewähren, zumal da ich mich bemüht habe, neuere Erfahrungen damit zu verweben, um dadurch für Leser, welche die Jahrgänge worauf sie bezogen werden müssen, nicht zur Hand haben, ein eigenes Interesse zu bewirken.163

Vordergründig besehen scheint es sich also vor allem um eine Reinterpretation der Bemerkungen im Lichte des neuen chemischen Paradigmas zu handeln. Tatsächlich wären diese Wiederaufnahmen mit dem Begriff der bloßen Reinterpretation im Lichte des neuen chemischen Paradigmas allerdings nur sehr ungenügend beschrieben. Genaugenommen gibt Göttling damit nämlich zunächst einmal nur einer bereits zuvor sporadisch ausgeübten Praxis der Wiederaufnahme eine gewissermaßen systematische Form: So hatte er zum einen von Anfang an immer wieder innerhalb der regulär fortgeführten Bemerkungen entsprechende Rückbezüge zu korrespondierenden Bemerkungen in vorangegangen Jahrgängen des Almanachs hergestellt und dem Leser darüber hinaus die Möglichkeit gegeben, diese intertextuellen Beziehungen über periodisch publizierte Registerbände nachzuvollziehen. Zum anderen hatte er zwischendurch auch mehrfach mit der Hinzufügung von entsprechend aktualisierten Anmerkungen und Fußnoten zu Neuauflagen einzelner Bände des Almanachs experimentiert.164 Entscheidender noch aber für die Einschätzung der Rolle der Neuen Ansichten über ihre Funktion einer Uminterpretation des bestehenden Wissens unter dem Gesichtspunkt des theoretischen Paradigmenwechsels hinaus ist allerdings, dass die Neuen Ansichten eben nicht nur im Modus des Konstativen neue Erklärungsmuster anbieten, sondern zugleich selbst wiederum auch eine performative Funktion erfüllen. Aus der Gesamtheit der möglichen Sprechaktformen, die – je auf ihre Weise – 163 Göttling (1799h), Vorbericht, in: Almanach für Scheidekünstler und Apotheker, 20, o.S. 164 So haben es etwa die Jahrgänge 1782 und 1783 jeweils insgesamt auf drei Auflagen gebracht. Die zweite (um 1783 publizierte) Auflage des Jahrgangs 1782 zählt dabei etwa ein gutes Dutzend Zusatzanmerkungen, während die dritte Auflage, die (wie man dem Vorbericht und den Verweisen auf das antiphlogistische Paradigma entnehmen kann) kurz vor Aufnahme der Publikation der Neuen Ansichten erschienen sein muss, bereits auf rund dreißig Zusatzanmerkungen kommt. Zum Teil werden dabei nur ganz neutral Literaturhinweise nachgetragen, überwiegend werden jedoch Erfahrungen und Räsonnements hingefügt, die der nachträglichen Bestätigung, Inzweifelziehung, Ergänzung oder Uminterpretation der Bemerkungen der ersten Auflage dienen oder aber Vorschläge zu künftigen Versuchen zur Überprüfung einzelner Sachverhalte machen. Für das Registerwerk vgl. zum Beispiel Johann Friedrich August Göttling (Hrsg.) (1785), Vollständiges Register über den Almanach oder Taschen-Buch für Scheidekünstler und Apotheker der Jahre 1780. 81. 82. 83. 84. 85., Weimar: Hoffmann. Eingehendere Ausführungen über die Rückbezüge in den regulär fortgeführten Bemerkungen finden sich in Abschnitt VIII.

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narrative bzw. deskriptive Bemerkungen erlauben, aktualisieren die Neuen Ansichten gleichsam im Nachhinein eine bestimmte Teilmenge. Denn die Neuen Ansichten setzen, selbst Ensembles von performativen Sprechakten, die Sprechakte der Bemerkungen fort, erneuern ihre Geltung oder setzen sie außer Kraft, erweitern oder verengen – mit einem Worte: konkretisieren – den Skopus der zugrundeliegenden Propositionen und spezifizieren sie im Idealfalle durch Explizitierung der performativen Ausrichtung. Mit anderen Worten: Sie leisten weit mehr, als es die Differenzierung zwischen vorwiegend narrativ und vorwiegend deskriptiv orientierten Textformen für sich allein gewährleisten könnte. Wenn ich im Folgenden zumindest holzschnittartig einen ersten Einblick in (oder einen Überblick über) die Funktionsweisen solcher Sprechaktverkettungen zu geben versuche, so ist damit weder ein Anspruch auf Vollständigkeit noch ein streng taxonomisches Ansinnen verbunden, dessen Sinn ich ohnedies zumindest dann bezweifeln würde, wenn dies bedeuten sollte, die einzelnen Segmente aus ihrem konkreten textuellen Umfeld zu isolieren. Gleichwohl lassen sich bei den Wiederaufnahmen der Bemerkungen in den Neuen Ansichten prinzipiell zwei Varianten extrapolieren, die sich – natürlich mit einer Reihe von Zwischenformen – als deklarative Sprechakte polar gegenüberstehen: So kann, einerseits, der Status des Überraschenden der ursprünglichen Bemerkung aufgehoben werden: So lautet die Neue Ansicht einer Bemerkung aus dem Jahre 1780 wie folgt: Das orangefarbene Produkt [...], war nach unsern jetzigen Begriffen wahrscheinlich nichts weiter als unvollkommene Phosphorsäure, die aber bey der Behandlung in einem Scherben unter einer Muffel noch so viel Sauerstoff annahm, um feuerbeständige vollkommene Phosphorsäure zu werden, die nun in Glasgestalt zurückblieb.165

Ganz ähnlich verhält es sich mit folgender Revision einer weiteren Bemerkung aus dem Jahre 1780, die Göttling neunzehn Jahre später folgendermaßen kommentiert: Die [...] bemerkte Entzündung des Phosphors [...] ist jetzt keine auffallende Erscheinung mehr, da man mit der Wirkung der Salpetersäure bekannter geworden ist.166

Umgekehrt kann, wie die folgenden Beispiele zeigen, die ursprüngliche Überraschung jedoch auch noch einmal wiederholt und bestätigt werden: Die von Marggraf beobachtete Entzündung und Zerschlagung des lutirten Glasgeräths, indem er ein Quentgen Platin mit zwey Quentchen Phosphorsäure behandelte, ist allerdings sonderbar.167 Die Erfahrung des D. Dehme, wo bey der Abdampfung eine Silberauflösung, die er zur Bereitung des Höllensteins bestimmt hatte, ein von ungefähr hinein-

165 Göttling (1799b), [Neue Ansicht der] Blumen aus Phosphor und Zink, in: Almanach für Scheidekünstler und Apotheker, 20, S. 15f. 166 Göttling (1799e), [Neue Ansicht der] Entzündung des Phosphors mit dem Salpetergeiste, in: Almanach für Scheidekünstler und Apotheker, 20, S. 16ff, hier: S. 16. 167 Göttling (1799a), [Neue Ansicht der] Besonderen Entzündung, in: Almanach für Scheidekünstler und Apotheker, 20, S. 59f., hier: S. 59.

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gefallener hölzener Spatel auf einmal eine Entzündung bewirkte, wobey das Gefäß zerschlagen wurde, ist allerdings merkwürdig.168

Insgesamt scheint mir, dass es neben bzw. innerhalb dieser deklarativen Funktion, die als Erneuerung bzw. Aufhebung des Status des Überraschenden oder als Erneuerung bzw. Außerkraftsetzung der Geltung eines Reaktionsschemas in mehr oder weniger ausdrücklicher Form in allen Neuen Ansichten zum Tragen kommt, vor allem vier Typen von Sprechakten sind, die in den Neuen Ansichten dominieren. Im gegenwärtigen Kontext möchte ich nur summarisch auf einige entsprechende Beispiele verweisen. Selbstverständlich gehören – wie das folgende Zitat illustriert – Fragen mit unterschiedlichem Grade der Offenheit oder Geschlossenheit bzw. des propositionalen Skopus als Instanziierungen eines nicht zufällig zwischen der assertiven und der direktiven Familie illokutionärer Kräfte oszillierenden Sprechakttypus169 zu den offensichtlichsten und häufigsten Sprechakten in den Neuen Ansichten: Wurde etwa dem Kupferkalke durch das Zinn ein Antheil geraubt und dadurch gewissermaßen reduzirt, damit es nun wieder dem vorhandenen Krystallwasser einen Antheil Sauerstoff rauben konnte, wobey dann Wasserstoffgas gebildet wurde, das sich, vielleicht durch einen Antheil Sauerstoff der Salpetersäure, zersetzte, und wieder Wasser wurde, und daher die Entzündung mit Explosion?170

168 Göttling (1799f), [Neue Ansicht der] Entzündung durch Silberkrystallen und Holz, in: Almanach für Scheidekünstler und Apotheker, 20, S. 65ff., hier: S. 65f. 169 Tatsächlich sind Fragen, und insbesondere Entscheidungsfragen, unter Verweis auf ihren unmittelbaren Bezug zur Wahrheitsfunktion zuweilen als assertive Sprechakte klassifiziert worden. Auch wenn sich dieser (intendierte) Bezug, von Grenzfällen abgesehen, nur schwer leugnen lässt, erscheint es insgesamt doch einleuchtender, sie als direktive Sprechakte anzusehen, wie es etwa auch John R. Searle & Daniel Vanderveken (1985), Foundations of Illocutionary Logic, Cambridge u.a.: Cambridge University Press, S. 199 vorschlagen: „Questions are always directives, for they are attempts to get the hearer to perform a speech act. In the simple directive sense ‚ask‘ names the same illocutionary force as ‚request‘. In the sense of ‚ask a question‘ it means that the hearer perform a speech act to the speaker, the form of which is already determined by the propositional content of the question. Thus if the question is a yes-no question requesting an assertive, the speaker expresses the propositional content of the answer in asking the question; and all the hearer is asked to do is affirm or deny that propositional content. [...] In wh-questions the form of the qeustion contains a propositional function, and the hearer is requested to fill in a value of the free variable in the propositional function in such a way as to produce a true complete proposition.“ Eben in dieser Nähe der Frage zur Aufforderung oder Bitte, die das Englische auch sprachlich in der entsprechenden Ambiguität des Verbs ‚ask‘ codiert, liegt denn auch in Fällen wie dem vorliegenden ihr Steuerungspotential begründet. Je nachdem, wie die Frage gestellt wird, kann der Spielraum der erwarteten Antwort dabei enger oder weiter, und der Steuerungsversuch damit gewissermaßen strikter oder laxer ausfallen. Vorstrukturiert durch den propositionalen Gehalt oder die propositionale Funktion wird die Antwort aber für gewöhnlich durchaus – außer im klassischen Fall des rhetorischen Kunstgriffs des Ausweichens oder im nicht minder klassischen Fall des Paradigmenwechsels, und es sei denn, der Rest wäre Schweigen. 170 Göttling (1799c), [Neue Ansicht der] Detonation ohne Feuer, in: Almanach für Scheidekünstler und Apotheker, 20, S. 74ff., hier: S. 76.

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Ebenso allgegenwärtig sind Wünsche oder Aufforderungen als Instanziierungen der Klasse der direktiven Sprechakte – wie sie sich etwa in den folgenden beiden Zitaten finden. Ich wünschte, daß diejenigen, welche diese Arbeit eben unter den Händen haben, einmal darauf mit Rücksicht nehmen mögen.171 Nun ist es zwar schon hinlänglich bekannt, daß Wärme eingesogen wird, wenn feste Körper in den Zustand der Flüssigkeit kommen, und man also dabei Kälte bemerkt; dagegen aber Wärme frey wird, wenn sich tropfbare Flüssigkeiten zu festen Körpern verdicken; aber so auffallende Beispiele davon scheinen mir ganz besondere Aufmerksamkeit zu verdienen.172

Das erste der beiden Zitate exemplifiziert dabei gleichsam einen explizit performativen, das zweite Zitat hingegen einen primär performativen Sprechakt. Daneben finden sich – wie in den beiden folgenden Zitaten – von Zeit zu Zeit mit Willensbekundungen oder Versprechen auch zwei wichtige Untertypen der Klasse der kommissiven Sprechakte, wobei man sich freilich fragen kann, ob die Ankündigung, eine Erfahrung selbst zu wiederholen, eher dem Zweck des Sprechers dient, sich die zu erwartende Lösung der dahinter stehenden Fragestellung bereits im Vorhinein als Eigenleistung zuzusprechen, oder ob der Akt der Willensbekundung auf einer zweiten Ebene wiederum eine Aufforderung an den Rezipienten darstellt: Die von Higgins [...] bemerkte Entzündung [...] erregte aufs neue meine Aufmerksamkeit, und veranlaßte mich, dieses zu wiederholen; aber ich kann mir nicht rühmen, daß es mir eben so gelungen sey. Weil es bey einem solchen Versuche oft auf Kleinigkeiten ankommt, so will ich zugeben, daß ich dabey vielleicht irgendwo gefehlt habe, und ich bin eben daher Willens, so bald ich dazu Muße finde, den Versuch mehrmals zu wiederholen.173

Schließlich stellen Warnungen (bzw. ihre Erneuerung) einen letzten dominierenden Sprechakt der Neuen Ansichten dar. Wie allerdings das folgende Zitat zeigt, kann durch eine solche Warnung aufgrund der Tatsache, dass es sich dabei um einen Sprechakt handelt, der ohnedies systematisch zwischen der direktiven und der assertiven Familie illokutionärer Kräfte oszilliert, zugleich auch stärker profiliert werden, welche Propositionen in Frage stehen, als dies durch die ‚unerhörten Ereignisse‘ in den narrativen Bemerkungen für sich alleine genommen, hätte geschehen können: Ich habe mir sehr viel Mühe gegeben, die von Wiegleb [...] bemerkte freywillige Entzündung der Schlacken von der Bereitung des eisenhaltigen Spiesglanzmetalls, ebenfalls einmal zu haben, aber es ist mir nicht gelungen, ungeachtet ich sie ausgewaschen und nicht ausgewaschen, bald an die Sonne, bald auf den warmen Stubenofen legte. Doch will ich die an jener Stelle angeführte Behutsamkeit

171 Göttling (1799f), a.a.O., S. 66f. 172 Göttling (1799g), [Neue Ansicht vom] Zinnsalz, in: Almanach für Scheidekünstler und Apotheker, 20, S. 72. 173 Göttling (1799c), a.a.O., S. 75.

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keinesweges als unnöthig betrachtet wissen, weil die Umstände, unter welchen die Entzündung geschehen kann, noch nicht bekannt sind.174

Genaugenommen nämlich wird in diesem Beispiel die Erneuerung der Warnung mit der Proposition ‚Die Bereitung des Spießglanzmetalls ist gefährlich, weil sich die Schlacken explosionsartig entzünden‘ durch die Ergänzung von Bedingungen, unter denen das durch die Proposition bezeichnete Ereignis bislang nicht (wieder) aufgetreten ist (und die folglich allenfalls notwendige aber keinesfalls hinreichende Bedingungen für das Wahrwerden der ursprünglichen Proposition darstellen können), bis zu einem gewissen Grade (‚ist potentiell gefährlich, weil sie sich einmal entzündet haben‘) explizit in der Geltung beschränkt und zugleich implizit mit der Aufforderung verbunden, systematisch nach Bedingungen zu suchen, unter denen die ursprüngliche Proposition wahr wird, oder aber zumindest auf die Bedingungen zu achten, unter denen sie wahr wird, falls das Ereignis sich aller Vorsicht zum Trotz doch wieder einstellt. Insofern enthüllt sich die zweifellos verfahrenstechnisch wichtige Warnung im Kontext der Neuen Ansichten häufig zugleich auch als epistemologisch relevante Frage. Ingesamt geben sich die Neuen Ansichten somit als zentraler Knotenpunkt in einem den gesamten Erscheinungsverlauf des Almanachs überspannenden intertextuellen Netzwerk von Sprechakten zu erkennen: Auf der einen Seite antworten sie auf die insbesondere von den narrativen Sprechakten aufgeworfenen impliziten Fragen nach der Geltung und den möglichen Ursachen bestimmter Reaktionsschemata, indem sie entweder im Sinne eines induktiven Procederes weitere Evidenz aus entsprechenden Replikationsversuchen anführen oder aber den Status des Überraschenden, wo immer dies möglich scheint, im Sinne einer abduktiven Vorgehensweise (ein Verfahren, das in den Neuen Ansichten angesichts des beschworenen Hintergrunds eines Paradigmenwechsels zweifellos dominiert) aufzuheben versuchen. Je nachdem, wie die Antwort ausfällt, fungiert sie dabei zugleich als (assertive) Deklaration, die das fragliche Reaktionsschema entweder als ‚inzwischen bestätigt‘ bzw. ‚inzwischen erklärt‘ und/oder als ‚nach wie vor nicht zu bestätigen‘ bzw. ‚nach wie vor nicht zu erklären‘ ausweist und damit zugleich den durch die Zugehörigkeit zum Darstellungsmodus der erzählten Welt deklarierten Status eines bloß provisorischen Geltungsanspruchs der ursprünglichen narrativen Bemerkung entweder erneuert oder außer Kraft setzt. Auf der anderen Seite werfen die Neuen Ansich-

174 Göttling (1799d), [Neue Ansicht der] Entzündung der martialischen Spiesglanzschlacken, in: Almanach für Scheidekünstler und Apotheker, 20, S. 56–59, hier: S. 56f. Zum sprechakttheoretischen Zwischenstatus von Warnungen und Ratschlägen vgl. die Darstellung bei Searle & Vanderveken (1985), a.a.O., S. 202f.: „Warning and advising P can be either directives or assertives about the state of affairs represented by P. [...] I can warn or advise you that such and such is the case or I can warn and advise you to do something. But the two uses are not independent. When I warn you that something is the case I am normally warning you that it is the case with a view to getting you to do something about it. [...] On the other hand when I warn you to do something, I would normally be asking to do it (directive) while implying that if you do not do it, it would be bad for you (assertive).“

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ten aber auch selbst wieder Fragen auf, sei es, dass sie sie (angesichts einer nach wie vor fehlenden Bestätigung oder Erklärung) einfach mit weitgehend identischem propositionalem Gehalt in expliziter Form wiederholen, sei es, dass sie sie (vor dem Hintergrund einer partiellen Bestätigung oder genaueren Einsicht in deren Randbedingungen) in ihrem propositionalen Gehalt konkretisieren und präzisieren, oder sei es, dass sie ihnen (vor dem Hintergrund einer bestimmten Schlussfolgerung) einen ganz neuen propositionalen Gehalt geben. Wie immer diese Fragen aber auch jeweils konkret ausfallen mögen: Sie werden stets in der Erwartung gestellt, dass sie zu einem späteren Zeitpunkt im Medium des Almanachs selbst wiederum eine Antwort finden werden – einerlei, ob dies nun durch den sich kommissiv selbst dazu verbundenen Herausgeber oder sein direktiv dazu verbundenes Publikum geschieht. VIII. Diese Tendenz zur intertextuellen Verkettung von Sprechakten, die in den Neuen Ansichten seit 1799 – nicht zuletzt auch, weil sie von dem neuen terminologischen Paradigma der Sauerstoffchemie profitieren – besonders deutlich zu verfolgen ist, hatte im Zuge der Entwicklung des Almanachs freilich zuvor auch schon die abgekürzten Bemerkungen selbst ergriffen. So ist über die Jahre hinweg vor allem eine Verschiebung im Verteilungsmuster der beiden Typen von Bemerkungen zu beobachten. Liegen in den ersten Jahrgängen die deskriptiven und die narrativen Formen in der Häufigkeit noch weitgehend gleichauf, so scheinen später klar die narrativen Formen Überhand zu nehmen.175 In der Konsequenz bedeutet das zum einen, dass der Almanach sich immer stärker aus einem Medium apothekarischer Arbeit in eine chemische Forschungsinstanz verwandelt,176 und zum anderen, dass die unmittelbare Assoziation zwischen narrativem Modus und sinnlich besonders auffälligen Ereignissen schwä175 Das legen jedenfalls die Ergebnisse einer kleinen und (angesichts eines gewissen interpretativen Spielraums bei der Zuordnung) zugegebenermaßen nur bedingt aussagekräftigen Auszählung der Texttypen in den Jahrgängen 1780 bis 1782, 1788 bis 1790 und 1796 bis 1798 nahe. So lassen sich über den Verlauf der ersten drei Jahrgänge aus den Jahren 1780 bis 1782 insgesamt jeweils rund 40% der Bemerkungen ziemlich eindeutig entweder der narrativen oder der deskriptiven Variante zuordnen, wobei die verbleibenden rund 20% Mischformen darstellen oder den beiden Termen der Opposition aus anderen Gründen nur schwer zuzuordnen sind. In den Jahrgängen zwischen 1788 bis 1790 steigt der Anteil der Bemerkungen mit einem klar erkennbaren narrativen Nukleus bereits auf rund 57% an, während der Anteil der Bemerkungen mit einem klar zu identifizierenden deskriptiven Kern auf etwa 22% zurückgeht, und der Anteil der nicht klar zuzuordnenden Bemerkungen sich mit ungefähr 21% weitgehend konstant hält. In den drei Jahrgängen 1796 bis 1798 schließlich, die der Unterbrechung der fortlaufenden Reihe von Bemerkungen durch die Neuen Ansichten unmittelbar vorausgehen, hat sich (bei annähernd gleichbleibenden 21% Anteil an nicht klar zuzuordnenden Formen) der Prozentsatz an narrativen Bemerkungen schließlich auf rund 67% erhöht, während die deskriptiven Bemerkungen nur noch auf einen Anteil von etwa 12% kommen. 176 Vgl. hierzu erneut die Ausführungen von Frercks (2008b), a.a.O., S. 285, der in Göttlings Almanach insgesamt den emblematischen Ort eines systematischen „Übergang[s] von Chemie

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cher wird. Zugleich verändert sich auch die Form der deskriptiven Bemerkungen. Sie werden nicht nur deutlich länger und explikativer, sondern büßen zugleich auch die grammatisch overte Markierung ihrer konditionalen Struktur ein, die nunmehr nur noch erschlossen werden kann. Mit anderen Worten: Ihre Formelhaftigkeit geht verloren. In ihrer stärkeren Detaillierung bieten sie dadurch auch mehr Angriffsflächen für einhakende Nachfragen. Sie öffnen sich also gewissermaßen einem größeren Feld an Sprechakten, die an sie angeschlossen werden können. Zugleich wird auch die Struktur der narrativen Bemerkungen komplexer. So werden die im engeren Sinne narrativen Passagen immer häufiger in eine umfassendere Struktur integriert, die beispielsweise dem Muster ‚Hypothese-narratio‘ bzw. ‚narratio-Schlussfolgerung‘ oder dem Muster ‚narratio-explizite Frage‘ folgen, oder aber den Erzählfluss durch argumentative Passagen unterbrechen. Grundsätzlich können sich Fragen, Hypothesen und Schlussfolgerungen dabei sowohl – im Sinne eines induktiven Verfahrens – auf die wiederholbare Geltung des dargestellten Reaktionsschemas als solches als auch – im Sinne eines abduktiven Procederes – auf seine theoretischen Implikationen, also die theoretische Erklärung des Geschehenen oder seine möglichen Folgen für die chemische Theorie beziehen. Ein besonders aufschlussreiches Beispiel für das Schema ‚narratio-explizite Frage‘ findet sich dabei etwa in der Bemerkung Zersetzung des Schwefels durch wesentliche Oele aus dem Jahre 1789, in der von der angeblichen Darstellung von Schwefelsäure („Vitriolsäure“) aus Schwefel und „frischem Terpentin- oder einem anderen destillirten Oele“ durch Wilhelm Homberg berichtet wird – kombiniert sie doch die Frage nach der Geltung und nach der Interpretation miteinander und überführt sie zugleich in eine Aufforderung.177 Darüber hinaus ist sie nicht zuletzt auch deswegen bemerkenswert, weil sich in ihr die ersten Spuren von Göttlings Rezeption der Sauerstofftheorie finden. Die eigentliche narratio schließt dabei mit einem von Homberg angewendeten Prüfverfahren zur Bestimmung des Säuregehalts des fraglichen Produkts, dessen Reliabilität wenn nicht gar Validität zunächst durch einen eingeschobenen Aussagesatz einer impliziten geschlossenen Frage – ‚(Teil-)Verfahren zuverlässig oder unzuverlässig?‘ – unterworfen wird, an die sich sofort die explizite geschlossene Frage nach der tatsächlichen Identität des Produkts – ‚Vitriolsäure ja oder nein?‘ – anschließt, durch die zugleich die Geltung der Erfahrung als solche in Zweifel gezogen wird, um schließlich in eine Formulierungskette zu münden, in der sich die Artikulation einer wiederum implizit gestellten offene(re)n Frage nach den theoretischen Implikationen der betref-

176 als Arbeit zur Chemie als Forschung“ sieht, zugleich allerdings die Auffassung vertritt, dass der Charakter der Bemerkungen über den Erscheinungsverlauf des Almanachs hinweg keine entscheidenden Veränderungen zeige. 177 Als Beispiele für Bemerkungen, in denen jeweils nur einer der beiden Aspekte zum Gegenstand einer expliziten Frage wird vgl. etwa Göttling (1787), Höllenstein, in: Almanach für Scheidekünstler und Apotheker, 8, S. 16ff. (Allgemeingültigkeit des Reaktionsschemas) und Göttling (1798b), Erfahrung mit dem weinsteinsaueren Pflanzenalkali, in: Almanach für Scheidekünstler und Apotheker, 19, S. 22ff. (theoretische Implikationen).

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fenden Erfahrung – ‚Bedeutung im Rahmen von bzw. für Phlogistik und Antiphlogistik?‘ – mit einer relativ expliziten Aufforderung verbindet, zur Klärung dieser Frage beizutragen: Homberg sättigte das saure Wasser mit Laugensalz, um dadurch die Menge der erhaltenen Säure zu bestimmen – mir scheint aber diese Bestimmung noch nicht zuverlässig zu seyn – auch ist noch nicht durch mehrere Versuche sorgfältig aus einandergesetzt, ob diese Säure wirklich alle Eigenschaften einer vollkommenen Vitriolsäure habe. Ist aber bey diesem Versuch eine Trennung der Vitriolsäure aus dem Schwefel geschehen, so ist solches schwer nach Lavoisier’s Theorie zu erklären, wo dem Schwefel blos das sauermachende Principium (principe oxygene) fehlt, um Vitriolsäure zu seyn. Es wäre sehr wichtig hierüber noch mehr Versuche anzustellen, und solche auf die Auseinandersetzung der Stahlischen und Lavoisierschen Theorie anzuwenden.178

Ein interessantes Beispiel für das Schema ‚Hypothese-narratio‘ stellt demgegenüber etwa eine Bemerkung zum Leuchten des Phosphors in reinem Stickgas aus dem Jahre 1798 dar, die auf eine Beobachtung rekurriert, die Göttling im Zusammenhang mit einer Reihe von Versuchen gemacht hat, die seine Theorie belegen sollten, dass Sauerstoff- und Stickstoffgas nicht etwa – wie von Lavoisier vermutet – als eine Verbindung von (wahrscheinlich) elementarem Sauerstoff (oxygène) bzw. Stickstoff (azote, radical nitrique) und imponderablem Wärmestoff (calorique), sondern vielmehr (als „Feuerstoffluft“) als eine Verbindung aus Sauerstoff und imponderablem Feuerstoff bzw. (als „Lichtstoffluft“) als eine Verbindung aus Stickstoff und imponderablem Lichtstoff anzusehen seien. Empirisches Kernstück dieser zwischen 1794 und 1798 in monographischer Form als Beytrag zur Berichtigung der antiphlogistischen Chemie publizierten Theorie, die Göttling als Beispiel dessen ausweisen, was Scherer einige Jahre später als „kombinierende[n] Antiphlogistiker“ bezeichnen sollte, waren Experimente zur Chemolumineszenz des Phosphors in ‚reinem‘ Sauerstoff, in atmosphärischer Luft und in ‚reinem‘ Stickstoff, deren Resultate – vereinfacht gesagt: ‚leuchtende Hitze‘ im ersten, ‚leuchtende Wärme‘ im zweiten, ‚Leuchten ohne Wärme‘ im dritten Fall, und zwar jeweils unter Entstehung gewisser Mengen an Phosphorsäure – in der Tat eine solche Auffassung zu stützen schienen.179 Allerdings bestritten eine Reihe von zeitgenössischen Chemikern, darunter nicht zuletzt Scherer, dass sich eine Lumineszenz des Phosphors unter Stickstoff unter normalen Umständen überhaupt beobachten lasse oder gaben zu bedenken, dass dieses Phänomen auf Sauerstoffverunreinigungen des durch Einsatz von Schwefelleberauflösung aus

178 Göttling (1789), Zersetzung des Schwefels durch wesentliche Oele, in: Almanach für Scheidekünstler und Apotheker, 10, S. 20ff., hier: S. 21f. 179 Vgl. Göttling (1794–1798), a.a.O., Bd. 2, bes. S. 221–227. Hilfreich zur näheren Einordnung in die zeitgenössische Diskussion sind die Ausführungen bei Johann Samuel Traugott Gehler (1798–1799), (Art.) Verbrennung, in: Johann Samuel Traugott Gehler, Physikalisches Wörterbuch oder Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre, 5 Bde., Leipzig: Schwickert, Bd. 5, S. 906–918, hier: S. 911ff.

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der atmosphärischen Luft gewonnenen Stickstoffs zurückzuführen sein könnte.180 Auf diese Ausgangslage reagiert nun die fragliche Bemerkung (ohne dies explizit zu machen), indem sie die Schwierigkeiten bei der Replikation dieser Ergebnisse in einer eingangs artikulierten Hypothese nun ihrerseits auf mögliche Verunreinigungen des mithilfe von Schwefelleberauflösung gewonnenen Stickstoffs durch Ammoniak (dessen lumineszenzunterdrückende Effekte weitgehend anerkannt waren) zurückführt und anschließend in einer Mikroerzählung einen entsprechenden Beleg für diese Vermutung anführt: Weil das Ammoniak das Leuchten des Phosphors im Stickgas hindert, so leuchtet auch aus eben dem Grunde der Phosphor in dem Stickgas nicht, welches durch die Wegnahme der Sauerstoffluft aus der atmosphärischen Schwefelleber erhalten worden ist, weil auch da etwas Ammoniak im Stickgas verbreitet bleibt. Wendet man aber hierzu die feuerbeständige Schwefelleber an, so wird das Leuchten darin immer Statt finden. Ich habe jetzt ein ganzes Jahr atmosphärisches Stickgas über Schwefelleberauflösung stehen, die durch eudiometrische Versuche auch nicht die geringste Spur von Sauerstoffgas zeigt und demungeachtet ist sie noch immer so gut wie vor einem Jahr geschickt, das Leuchten am Phosphor zu bewirken.181

Dabei lassen diese beiden Beispiele für Einbettungen der eigentlichen narratio in ein übergreifendes Argumentationsverfahren im Übrigen auch erkennen, dass für gewöhnlich immer dort, wo einer narratio eine Hypothese vorausgeht, der Sachverhalt zugleich als weitgehend bestätigt bzw. geklärt deklariert wird, während umgekehrt durch eine explizite Frage, die sich an eine narratio anschließt, der Sachverhalt für gewöhnlich als nach wie vor unbestätigt bzw. ungeklärt ausgewiesen wird. Darüber hinaus allerdings lässt sich an ihnen vor allem auch ablesen, dass die die narrativen Bemerkungen nach und nach erfassende Entwicklung zu einer stärkeren argumentativen Kontextualisierung zugleich auch mit einer Tendenz zu größerer intertextueller Komplexität einhergeht. Das betrifft zum einen die Referenz auf externe Texte: Statt wie zu Beginn des Erscheinungsverlaufes zumeist nur auf eine einzige Quelle zu rekurrieren, beziehen sich die Bemerkungen nunmehr immer häufiger auf mehrere (und zuweilen auch unterschiedliche Auffassungen vertretende) Gewährsleute für die dargestellten Sachverhalte oder diesbezügliche Schlussfolgerungen zurück. Zum anderen aber betrifft es vor allem auch die Referenzen innerhalb des Almanachs selbst: Immer häufiger wird in den Bemerkungen auf vorangegangene Bemerkungen aus früheren Jahrgängen des Almanachs zurückverwiesen. Dabei können bisweilen ziemlich eindrucksvolle Ketten von Wiederaufnahmen entstehen, die sich manchmal beinahe über den gesamten Erscheinungsverlauf von Göttlings Almanach erstrecken.182 180 Vgl. zu dieser Debatte Anonym (1799), (Rez.) Beytrag zur Berichtigung der antiphlogistischen Chemie, auf Versuche gegründet von J.F.A Göttling, Professor zu Jena. Zweytes Stück, in: Erlangische Litteratur-Zeitung, 1:5, S. 33–36. 181 Göttling (1798c), Leuchten des Phosphors in reinem Stickgas, in: Almanach für Scheidekünstler und Apotheker, 19, S. 16f. 182 In der überwiegenden Zahl der Jahrgänge des Almanachs lassen sich die Rückverweise auf frühere Bemerkungen dabei zwar an einer Hand abzählen. Einzelne Jahrgänge, insbesondere

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Dabei lassen sich insbesondere drei immer wiederkehrende Grundkonstellationen intertextueller Bezugnahme zwischen Ausgangsbemerkungen (als almanachinternen Hypotexten) und Wiederaufnahmen in späteren Bemerkungen (als almanachinternen Hypertexten) erkennen, deren Existenz ich zum Abschluss meiner Analyse von Göttlings Almanachs und angesichts offensichtlicher Parallelen zu den Funktionen der Neuen Ansichten nurmehr durch einige eher knapp charakterisierte Beispiele aus dem sich durch eine besonders hohe Zahl an Wiederaufnahmen auszeichnenden Jahrgang 1790 belegen möchte.183 So kann eine Erfahrung aus einer früheren Bemerkung (als Hypotext) natürlich zum einen im Sinne eines induktiven Erkenntnisinteresses durch eine Erfahrung in einer späteren Bemerkung (als Hypertext) als ganz oder teilweise bestätigt bzw. als gar nicht oder allenfalls sehr bedingt zu bestätigen ausgewiesen werden – wobei diese vom Hypertext angeführte Erfahrung vom Herausgeber selbst gemacht, ihm von einem Leser privat mitgeteilt worden oder aber einer anderorts publizierten Darstellung Dritter als Lesefrucht entnommen sein kann. In diesem Sinne stellt etwa die Bemerkung Besondere übersinnterte eiserne Nägel, in der eine im internen Hypotext dargestellte Erfahrung Dritter zunächst durch den Verweis auf eine inzwischen gemachte eigene Erfahrung Göttlings bekräftigt wird und anschließend noch auf weitere vergleichbare Ergebnisse anderer Autoren aus externen Hypotexten verwiesen wird, ein einschlägiges Beispiel für den Fall der vollständigen Bestätigung dar.184 Die Bemerkung Verhalten des Eisenkalks mit Salpeter, in der eine in einer früheren Bemerkung dargestellte Erfahrung Dritter als durch eigene Versuche nicht replizierbar ausgewiesen wird, exemplifiziert hingegen den umgekehrten Fall der vollständigen Nicht-Bestätigung des Hypotexts durch den Hypertext.185 Eine Instanziierung einer allenfalls bedingten Bestätigung einer im Hypotext dargestellten Erfahrung durch den Hypertext findet sich schließlich in der Bemerkung Behand182 gegen Mitte des Erscheinungsverlaufs, überschreiten die Fünfzahl allerdings zum Teil deutlich. Spitzenreiter ist zweifellos der Jahrgang 1790 mit einem guten Drittel – nämlich siebzehn von achtundvierzig – Bemerkungen, in denen mindestens einmal auf frühere Bände des Almanachs zurückverwiesen wird. Als Beispiel für besonders ausgedehnte Ketten von Wiederaufnahmen seien hier nur zwei Instanziierungen genannt: zum einen die Bemerkung Ausgewittertes Bittersalz aus dem Jahre 1790, die über zwei Stationen in den Jahren 1788 und 1787 auf eine Ursprungsbemerkung aus dem Jahre 1786 zurückverweist (vgl. Göttling (1790a), Ausgewittertes Bittersalz, in: Almanach für Scheidekünstler und Apotheker, 11, S. 17f.) und zum anderen die Bemerkung Bononischer Leuchtstein aus dem Jahre 1798, die sich über eine Bemerkung im Jahre 1790 bis zu einer Ausgangsbemerkung im ersten Jahrgang 1780 zurückverfolgen lässt (vgl. Göttling (1798a), Bononischer Leuchtstein, in: Almanach für Scheidekünstler und Apotheker, 19, S. 14f.). 183 Die Ausdrücke ‚Hypertext‘ und ‚Hypotext‘ verwende ich im Folgenden in Anlehnung an Gérard Genette (1993), Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 14, allerdings ohne dabei die von Genette vorgeschlagene Differenzierung zwischen ‚Hypertext‘ und ‚Metatext‘ (ein Begriff, der in etwa dem des Kommentars entspricht) zu berücksichtigen. 184 Vgl. Göttling (1790c), Besondere übersinnterte eiserne Nägel, in: Almanach für Scheidekünstler und Apotheker, 11, S. 69f. 185 Vgl. Göttling (1790g), Verhalten des Eisenkalks mit Salpeter, in: Almanach für Scheidekünstler und Apotheker, 11, S. 44.

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lung des Rosmarienoels mit ungelöschtem Kalke: War nämlich im Hypotext die Behauptung Dritter referiert worden, dass man Kampfer vermittels Destillation von Rosmarinöl und ungelöschtem Kalk „durch die Kunst“ darstellen könne, so berichtet der Hypertext von einer eigenen Erfahrung, nach der auf diesem Wege nur ein „nach Camphor riechendes weißes Oel, aber kein wahrer Camphor“ entstanden sei – ein Ergebnis, das Göttling freilich (wie man dem weiteren Verlauf der Bemerkung entnehmen kann) nicht von dem Versuch abgehalten hat, durch Überprüfung des Verhaltens des Produkts unter Zusetzung von „rauchende[r] Salpetersäure“ bzw. „Salpetergeist und Vitrioloel“ und Vergleich mit dem Verhalten des Rosmarinöls als einem der Edukte unter den gleichen Bedingungen, herauszufinden, ob in dem fraglichen Produkt nicht doch vielleicht in irgendeiner Form echter Kampfer präsent sein könnte.186 Daneben kann es sich natürlich, zum anderen, im Sinne eines abduktiven Procederes auch um eine Schlussfolgerung aus einem Hypotext handeln, die in einem Hypertext als ganz oder teilweise bestätigt bzw. als nicht oder nur bedingt zu bestätigen deklariert wird. Auffällig ist in diesem Zusammenhang allerdings, dass in solchen Fällen häufig in expliziterer oder weniger expliziter Form zwei konkurrierende Schlussfolgerungen im Spiel sind, so dass die Bestätigung der einen in der Regel mit der Ablehnung der anderen einhergeht – wobei es nicht verwundern dürfte, dass die jeweils bestätigte Schlussfolgerung zumeist auf den Herausgeber zurückgeht, während die abgelehnte meistens von anderen Autoren stammt. Ein instruktives Beispiel für eine solche Konstellation gibt unter den Beiträgen des Jahres 1790 etwa die Bemerkung Krystallisiertes Vitrioloel, die mit dem Referat eines in Crells Chemischen Annalen publizierten Beitrags (als externem Hypotext) anhebt, in dem sein Autor im Zusammenhang mit dem Vorschlag für ein Verfahren, durch das der bei der Herstellung von Hoffmannstropfen anfallenden Schwefelsäurerückstand („Rückbleibsel“) wieder in verwertbare Schwefelsäure („Vitriolöhl“) verwandelt werden sollte, von der partiellen Kristallisation des Produkts bei Kälte berichtet hatte und daraus auf die Identität desselben mit dem sogenannten Nordhäuser Vitriolöl geschlossen hatte. In dem Hypertext Krystallisiertes Vitrioloel weist Göttling nun diese Schlussfolgerung zurück und erkennt im Resultat und den Umständen des Verfahrens (nämlich dem Einsatz von Salpetersäure) vielmehr eine Bestätigung seiner eigenen Schlussfolgerungen aus einer im Jahre 1789 berichteten Erfahrung (als erstem internem Hypotext), wonach eine partielle Kristallisation bei dem – nach dem sogenannten Bleikammerverfahren durch Verbrennung von Salpeter und Schwefel hergestellten – englischen Vitriolöl 186 Vgl. Göttling (1790b), Behandlung des Rosmarienoels mit ungelöschtem Kalke, in: Almanach für Scheidekünstler und Apotheker, 11, S. 86f. Hintergrund dieser Versuche dürfte die Beobachtung gewesen sein, dass sich Kampfer im Gegensatz zu ‚anderen‘ ätherischen Ölen bei Behandlung mit Salpetersäure (und zum Teil auch bei Behandlung mit einer Mischung aus Salpeterund Schwefelsäure) kaum erhitzte und nicht entzündete, vgl. Karl Gottfried Hagen (1790), Grundriß der Experimentalchemie zum Gebrauch bey dem Vortrage derselben, 2. Aufl., Königsberg & Leipzig: Hartung, S. 187f. Ein weiterer Hintergrund könnte darüber hinaus auch die 1785 erfolgte Entdeckung der ‚Kampfersäure‘ gewesen sein, deren genaue Identität allerdings unter den Zeitgenossen ziemlich umstritten war.

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auf Verunreinigungen mit „leicht durch Säure übersättigten vitriolisierten Weinstein oder Polichrestsalz“ zurückzuführen sei, und dieses deshalb gerade nicht mit der vollständigen Kristallisation bzw. Erstarrung des – vermittels des sogenannten Vitriolverfahrens durch Destillation von Eisensulfat gewonnenen – Nordhäuser Vitriolöls bei Kälte zu vergleichen sei, von der Göttling bereits 1785 (in einem zweiten internen Hypotext) berichtet hatte, und aus deren Unterbindung durch die Behandlung mit Salpetersäure er seinerzeit auf die Präsenz von Phlogiston in der Nordhäuser Variante geschlossen hatte.187 Einen in intertextueller Hinsicht ähnlich komplexen Fall einer Konfrontation zweier Schlussfolgerungen bietet daneben auch die Bemerkung Krystallen in der Salpeternaphte. In ihrem Hypotext, einer von einem anderen Apotheker eingeschickten Bemerkung aus dem Jahre 1787, hatte dessen Autor die These vertreten, dass es sich bei einigen Kristallen, die aus einer „Salpeternaphte“ ausgefällt worden waren, um „Selenit“ handeln müsse – eine Schlussfolgerung, die Göttling selbst in einer Fußnote zu dieser Bemerkung als für unter normalen Umständen unmöglich erklärt hatte. Diese zwei sich diametral gegenüberstehenden Schlussfolgerungen werden nun von der Bemerkung Krystallen in der Salpeternaphte als Hypertext wieder aufgenommen und mit einer dritten Schlussfolgerung konfrontiert, die 1788 wiederum in den Chemischen Annalen als externem Hypotext publiziert worden war, und zu der ihr Verfasser anlässlich des Vergleichs einer eigenen Beobachtung mit der zuvor im Almanach veröffentlichten Bemerkung gekommen war. Dieser dritten Schlussfolgerung, nach der es sich bei den fraglichen Kristallen in der Tat nicht um „Selenit“, sondern um Ausfällungen aus „Zuckersäure“ handeln könnte, schließt sich Göttling in seinem Hypertext nun als gleichsam enger gefasster Formulierung seiner eigenen Schlussfolgerung an, und sucht diese dann durch eine „eigene Beobachtung“ zu belegen, „die wirklich das Daseyn der Zuckersäure in der Salpeternaphte bestätiget.“ 188 Schließlich kann der Hypertext, zum dritten, auch das Wissen über das in einem Hypotext dargestellte Reaktionsschema oder die darin involvierten Edukte bzw. Produkte bzw. die Klasse von Substanzen, denen sie sich möglicherweise zurechnen lassen, erweitern, ohne dabei unmittelbar der Bestätigung bzw. NichtBestätigung der Geltung einer Erfahrung oder Schlussfolgerung zu dienen. In diesem Sinne wird etwa in der Bemerkung Erfahrung über den künstlichen Moschus 187 Vgl. Göttling (1790f), Krystallisiertes Vitrioloel, in: Almanach für Scheidekünstler und Apotheker, 11, S. 65ff. Anders als die aus dem Vorjahr stammende Schlussfolgerung auf Verunreinigungen der im Bleikammerverfahren hergestellten Schwefelsäure durch Kaliumsulfat wird der fünf Jahre zuvor formulierte Schluss auf die Präsenz von Phlogiston in der durch das Vitriolverfahren gewonnenen Schwefelsäure in der fraglichen Bemerkung übrigens bezeichnenderweise nicht mehr wiederholt. Für die von Göttling kritisierte These vgl. Georg Heinrich Piepenbring (1788), Ueber die Herstellung des Rückbleibsels von den Hoffmannischen Tropfen zu brauchbarem Vitriolöhle, in: Chemische Annalen für die Freunde der Naturlehre, Arzneygelahrtheit, Haushaltungskunst und Manufacturen, 11:1, S. 219–223. 188 Vgl. Göttling (1790e), Krystallen in der Salpeternaphte, in: Almanach für Scheidekünstler und Apotheker, 11, S. 26–29, hier: S. 27. Vgl. auch Tuthen (1788), Ueber einige von der Salpeternaphte abgesetzte Krystallen, Chemische Annalen für die Freunde der Naturlehre, Arzneygelahrtheit, Haushaltungskunst und Manufacturen, 11:2, S. 411ff.

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von einer Beobachtung an dem Produkt eines in einer vorausgegangenen deskriptiven Bemerkung dargestellten Verfahrens berichtet, ohne dass dadurch die Geltung der Prozedur erneut bekräftigt oder aber nachträglich in Zweifel gezogen würde. Vor allem aber steht die Frage nach der Verallgemeinerbarkeit oder Übertragbarkeit einzelner Ergebnisse im Zentrum dieses dritten Typus von Beziehungen zwischen Hypotexten und Hypertexten. So wird in der Bemerkung Verkalkung des Bleyes durch die Luftsäure beispielsweise eine in einem Hypotext dargestellte zufällige Beobachtung zum Anlass genommen, zu überprüfen, ob diese sich auch auf eine offenbar als potentieller Parallel- oder Spezialfall empfundene Konstellation übertragen lässt – hier die (vermutete) „Verkalkung“ von bleiernen Orgelpfeifen zu „Bleiweiß“ an der atmosphärischen Luft, die ein Experiment anleitet, in dem eine Bleiplatte „Luftsäure“ ausgesetzt und anschließend einerseits überprüft wird, ob dabei gleichfalls „Bleiweiß“ entsteht, und andererseits auf Indizien geachtet wird, die belegen könnten, dass es sich tatsächlich um einen Vorgang der „Verkalkung“ handelt. Umgekehrt sucht die Bemerkung Ausgewittertes Bittersalz der Verallgemeinerung, dass die an „Gebäuden von Backsteinen […] aufgewitterten Krystallen“ entweder immer „erdigten Salpeter“ oder „mineralisches Laugensalz“ darstelle, die sich im Verlaufe mehrerer vorausgegangener Bemerkungen zu verfestigen begonnen hatte, durch den Verweis auf die Existenz von aufgewittertem „Glaubersalz“ einen Riegel vorzuschieben.189 Und in der Bemerkung Bononischer Leuchtstein schließlich wird das Wissen über ein im Hypotext beschriebenes Verfahren zur Herstellung des besagten Leuchtsteins dadurch erweitert, dass im Hypertext zunächst auf die inzwischen bekanntgewordene Tatsache verwiesen wird, dass die Zubereitung auch unter weniger strikten Bedingungen als den bisher angenommenen (im konkreten Fall die Verwendung eines aus einer bestimmten Region stammenden Schwerspats) funktioniert, diese Verallgemeinerung allerdings im Folgenden wiederum unter Rekurs auf eigene Erfahrungen Göttlings gewissen Einschränkungen in der Art der Zubereitung unterworfen wird.190 Angesichts der zunehmenden Einbettung ihres narrativen Kerns in umfassendere argumentative Strukturen – einerlei, ob diese nun eher dem Schema ‚Hypothese-narratio‘ oder eher dem Schema ‚narratio-Frage‘ folgen – und angesichts ihrer fortschreitenden intertextuellen Vernetzung untereinander – einerlei, ob diese nun eher im Dienste eines induktiv motivierten Interesses an weiterer Bestätigung eines Reaktionsschemas oder eher im Dienste eines abduktiven Interesses seiner möglichen (mehr oder weniger) theoretischen Ursachen stehen – vermitteln die Bemerkungen in den späteren Jahrgängen des Almanachs also zusehends weniger den Eindruck, dass sie gleichsam ab ovo starten. Diese sprachlich insgesamt deutlich komplexeren Strukturen aber ermöglichen eine sehr viel stärkere und feinere Steuerung des Forschungsprozesses, als dies durch die sich in der sprachlichen Differenz zwischen deskriptiven und narrativen Bemerkungen artikulierende deklarative 189 Göttling (1790a), a.a.O., S. 17f. 190 Göttling (1790d), Bononischer Leuchtstein, in: Almanach für Scheidekünstler und Apotheker, 11, S. 19f.

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Unterscheidung zwischen bereits bestätigten und noch nicht bestätigten Reaktionsschemata und durch die in den narrativen Bemerkungen implizierten, ihrem propositionalen Gehalt nach jedoch noch ausgesprochen weit gefassten Fragen nach den möglichen Ursachen des betreffenden Reaktionsschemas für sich alleine genommen möglich wäre. Insofern unterscheiden sich diese in sprachlicher Form wie intertextuellem Verknüpfungsgrad komplexeren Bemerkungen, die in den späteren Jahrgängen des Almanachs zusehends häufiger auftauchen, ihrer Funktion nach grundsätzlich nicht von den Neuen Ansichten als zentralem Knotenpunkt eines intertextuellen Netzwerks von Sprechakten, das den gesamten Erscheinungsverlauf des Almanachs überspannt – sieht man einmal davon ab, dass die Neuen Ansichten es vor dem Hintergrund des zunehmenden Einflusses der Sauerstofftheorie sicherlich in höherem Maße auf eine Rückführung der fraglichen Reaktionsschemata auf „quasipersonnages“ höherer Ordnung anlegen als die durchschnittliche Bemerkung von komplexerer Struktur zuvor. Was hingegen die komplexeren Bemerkungen von den Neuen Ansichten unterscheidet, ist der schnellere Rhythmus, in dem ein Steuerungsversuch auf den anderen folgen kann, und der sich nichts anderem als der Tatsache verdankt, dass die Möglichkeiten der Periodizität des Erscheinens vom Almanach für Scheidekünstler und Apotheker konsequent genutzt werden. IX. An diesem Punkt gilt es zurückzublicken und die am Beispiel von Alexander Nicolaus Scherers Geschichte der Ausbreitung unter dem Rubrum Revision behandelte Gattung der litterärhistorischen Erzählung mit der anhand von Johann Friedrich August Göttlings Bemerkungen exemplifizierte Textsorte des Beobachtungs- bzw. Experimentalberichts abschließend vergleichend ins Visier zu nehmen und auf ihre potentielle Leistung für die Steuerung von wissenschaftlichen Forschungsprozessen zu befragen. Wie deutlich geworden sein sollte, erschöpft sich die kommunikative Funktion beider Gattungen keineswegs in der Erfüllung rein konstativer (also assertorischer bzw. repräsentativer) Funktionen, sondern dient zugleich jeweils auch bestimmten performativen (also kommissiven, direktiven, expressiven oder deklarativen) Aufgaben. Im Sinne der Frage nach ihrem möglichen Beitrag zur Steuerung des Forschungsprozesses spielt dabei bei der Revision wie bei der Bemerkung vor allem die direktive und die deklarative Dimension eine zentrale Rolle: Beide suchen ihre Leser zu einem bestimmten Verhalten anzuhalten oder zu bestimmten Handlungen zu bewegen und beide verfolgen die Absicht, bestimmte Regionen im Universum möglicher chemischer bzw. pharmazeutischer Forschungsgegenstände als (zumindest in bestimmter Hinsicht) bereits beackertes oder erst noch zu beackerndes Feld auszuweisen bzw. zum Königs- oder Holzweg künftiger Forschung zu erklären. Gleichwohl unterscheiden sich (um es in der Terminologie John Searles auszudrücken, der in seiner Illocutionary Logic den Sprechakt als Funktion F (P) zu formalisieren vorgeschlagen hat)191 die beiden Textsorten hin191 Vgl. Searle & Vanderveken (1985), a.a.O., S. 2.

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sichtlich der spezifischen Untertypen von illokutionären Rollen oder Kräften, die in ihnen dominieren, hinsichtlich des prototypischen propositionalen Gehaltes, auf die sich diese illokutionären Kräfte beziehen, und hinsichtlich der spezifischen sprachlichen (oder lokutionären) Formen, die im Dienste der jeweils mit ihnen verfolgten illokutionären Zwecke stehen. Infolgedessen differieren Revision und Bemerkung auch hinsichtlich des Regimes intertextueller Vernetzung oder Verkettung, in das sie jeweils eingelassen sind oder das durch sie vermittels der in ihnen wirkenden illokutionären Kräfte allererst etabliert wird. So scheint sich – wie am Beispiel von Scherers Geschichte der Ausbreitung deutlich wurde – der Skopus propositionaler Gehalte, die zum Gegenstand von Anweisungen und Ratschlägen für künftige Forschung werden bzw. vom Leser als solche gedeutet werden können, im Falle von Erzählungen, die sich der Tradition der Gelehrtengeschichte zurechnen lassen, im Wesentlichen auf das Umreißen bestimmter – und zwar vorwiegend diskursiver – Handlungen und typischer Rollen, die es im Verlaufe des Forschungsprozesses durchzuführen bzw. anzunehmen gilt, und die mehr oder minder explizite Propagierung eher allgemeiner und wenig spezifischer Normen wissenschaftlichen oder gelehrten Verhaltens zu beschränken. Dabei weisen die direktiven illokutionären Kräfte, die hier im Spiel sind und auf die propositionalen Gehalte einwirken, zumeist allenfalls einen empfehlenden Charakter auf. Vor allem aber sind sie – was ihre lokutionäre Form betrifft – von eher implizitem und vergleichsweise wenig institutionalisiertem Charakter, so dass es zum Teil komplizierter inferenzieller oder hermeneutischer Prozesse bedarf, um sie überhaupt als potentielle direktive Sprechakte zu identifizieren. Zudem führen sie, nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass sie stets erst aus einem narrativen Text heraus erschlossen werden müssen, nicht selten sogar zu tendenziell widersprüchlichen Anweisungen. Daneben können die Stärken der litterärhistorischen Erzählung durchaus auch darin liegen, einen vergleichsweise allgemeinen status quo des aktuellen Forschungsstandes im Sinne eines großangelegten deklarativen Sprechaktes zu behaupten – wie sich nicht zuletzt an der Tatsache ablesen ließ, dass Scherers Geschichte der Ausbreitung einen großen Teil seiner narrativen ‚Motivation von hinten‘ aus dem Versuch bezog zu demonstrieren, dass die Sauerstoffchemie gegenüber der phlogistischen Chemie bereits endgültig und definitiv den Sieg davon getragen hat. Allerdings hat sich in diesem Zusammenhang auch gezeigt, dass das performative Ansinnen, einen solchen Forschungsstand zu deklarieren, offenkundig auf Kosten des von Scherer nicht minder als vom Ahnherrn der litterärhistorischen Erzählung selbst, Francis Bacon, verfochtenen Prinzips der unparteiischen Darstellung geht. Noch entscheidender ist in diesem Zusammenhang allerdings, dass die im Dienste dieses deklarativen Ansinnens stehende Erzählung in dem Versuch, die Überwindung des phlogistischen Paradigmas zum status quo zu erklären, letztlich eher dazu tendiert, die möglichen Lücken und Desiderata innerhalb dieses Paradigmas zuzudecken, anstatt sie, wie eigentlich gefordert, offenzulegen – mit dem Effekt, dass die litterärhistorische Erzählung zwar unvermeidlicherweise einen intertextuellen Reflex auf das ihr vorausgehende Schrifttum darstellt, selbst aber nur schwer in der Lage zu sein scheint, ein in die Zukunft gerichtetes Regime intertextueller Bezüge zu etablieren.

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Insgesamt erscheinen demgegenüber – wie das Beispiel von Göttlings Bemerkungen zeigt – die Sprechakte, die im Kontext von Experimentalberichten am Werk sind, sowohl als zwingender und nachdrücklicher hinsichtlich der Verfolgung ihres illokutionären Zwecks als auch als konkreter hinsichtlich ihres propositionalen Gehaltes – und insofern hinsichtlich der möglichen Arten von Handlungen, die im Verlaufe künftiger Forschung durchzuführen oder zu unterlassen sind. Denn ohne Frage sind es stets konkrete Laboroperationen bzw. konkrete, durch sie ausgelöste chemische Reaktionen oder im Zuge ihrer Durchführung entstandene chemische Produkte, die als propositionale Gehalte zum Gegenstand der sich im Medium der Bemerkungen artikulierenden Sprechakte werden. Dabei werden diese propositionalen Gehalte durch die spezifische, vor allem an der basalen Kategorie Tempus festzumachenden sprachlichen Form der beiden unterschiedlichen Grundtypen von Bemerkungen, ihrer deskriptiven und ihrer narrativen Variante, im Sinne eines deklarativen Sprechaktes jeweils zu bereits hinreichend bestätigten (im Falle der deskriptiven Bemerkungen) oder aber (im Falle der narrativen Bemerkungen) zu noch nicht hinreichend bestätigten Sachverhaltsaussagen erklärt und simultan damit entweder einem kommissiven Sprechakt – einer Art Versprechen, dass die beschriebenen Operationen stets zu den dargestellten Reaktionen oder Produkten führen werden – oder aber einem direktiven Sprechakt – der Bitte oder der Aufforderung die erzählten Operationen zu wiederholen und die Replizierbarkeit der dargestellten Reaktionen oder Produkte zu überprüfen – unterworfen. Über die mit der (im Dienste eines induktiven Anliegens stehenden) Aufforderung zur Wiederholung der fraglichen Operationen verbundenen geschlossenen Frage nach der Replizierbarkeit des Geschehenen hinaus artikuliert sich vor allem in den narrativen Bemerkungen zugleich allerdings auch stets die (im Dienste eines abduktiven Interesses stehende) offene Frage nach seinen Gründen oder Ursachen im weitesten Sinne und damit verbunden die Bitte oder Aufforderung, über das Geschehene im Lichte anderer Erkenntnisse nachzudenken oder vermittels Variation des fraglichen Versuchs auf sie zurückzuschließen. Diese Aufforderung zur Beantwortung einer offenen Frage wird dem Rezipienten zwar vor allem dann nahegelegt, wenn das Geschehene durch die Form ihrer erzählerischen Darstellung als besonders überraschend präsentiert wird, stellt aber offenbar ein ganz grundsätzliches Anliegen der narrativen Bemerkungen dar, und erstreckt sich, wenn auch mit deutlich geringerem Nachdruck, letztlich auch auf die deskriptiven Bemerkungen, bei denen sich – wie sich zeigen ließe – allerdings daneben auch die offene Frage nach möglichen alternativen Verfahrensweisen artikuliert. Die im Modus eines indirekten performativen Sprechakts gestellte offene Frage nach den Ursachen des Geschehenen wird dann in späteren Wiederaufnahmen der Bemerkungen – sei es nun in Form der Hinzufügung entsprechender Anmerkungen und Fußnoten in Neuauflagen einzelner Bände des Almanachs, in Form der expliziten Wiederaufnahme innerhalb der regulär fortgeführten Bemerkungen in späteren Jahrgängen oder sei es im Medium der Neuen Ansichten der Bemerkungen – wiederum entweder vermittels eines der Form nach assertorischen Sprechakts (der eine entsprechende Aussage über mögliche Gründe oder Ursachen des Geschehenen zu seinem propositionalen Gehalt hat) als bereits vollständig geklärt oder vermittels eines nicht minder assertorischen Sprechakts (der im Kern

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die Aussage eines Nicht-Wissens zu seinem propositionalen Gehalt hat) als noch vollständig ungeklärt deklariert – oder aber vermittels eines dann auch häufig der lokutionären Form nach explizit als Frage ausgewiesenen Sprechakts simultan als teilweise geklärt deklariert und in eine (zumeist) geschlossene Frage (die natürlich zugleich mit einer entsprechenden Aufforderung zu ihrer Beantwortung assoziiert ist) überführt, die die vorausliegende offene Frage nach den Ursachen des Beobachteten (indem eine Aussage zu ihrem propositionalen Gehalt gemacht wird, die einen speziellen Aspekt des in Frage stehenden Gesamtsachverhalts herausgreift oder isoliert) im Skopus präzisiert und/oder (indem ein Aussagengefüge zu ihre propositionalen Gehalt gemacht wird, das das Vorliegen einer abschließend begründenden Antwort unter der Voraussetzung des Vorliegens einer noch zu überprüfenden Randbedingung behauptet) konditioniert oder aber (wenn ihr propositionaler Gehalt ein konditionales Aussagengefüge darstellt, das eine andere Sachverhalte betreffende Schlussfolgerung aus einer bereits als gültig ausgewiesenen Begründung zum Gegenstand hat) durch eine weiterführende Frage ersetzt. Angesichts dieser Eigenschaften lässt sich für das sich im Medium von Göttlings Almanach entfaltende Regime direktiver und deklarativer Sprechakte und das durch sie zwischen den Bemerkungen und den diversen Formen ihrer Wiederaufnahme geknüpfte Netzwerk intertextueller Beziehungen in der Tat konstatieren, dass es die von Francis Bacon einst der historia literaria angesonnene forschungspragmatische Aufgabe, das bzw. ein wissenschaftliches Forschungsfeld entsprechend einer Unterscheidung von status quo und desiderata in bereits Bekanntes und Gewusstes einerseits und noch Unbekanntes und Ungewusstes andererseits einzuteilen und daraus Ratschlüsse für den künftigen Gang der Forschung abzuleiten oder, mit anderen Worten, den wissenschaftlichen Forschungsprozess zu steuern und anzuleiten, in der Tat ziemlich effektiv, und in der Tat deutlich effektiver als die in der Tradition Bacons stehende litterärhistorische Erzählung, wie sie Scherer in seinem Archiv liefert, erfüllt – und insofern geben sich die Neuen Ansichten vor diesem Hintergrund gewissermaßen als eine andere, nicht-litterärhistorisch organisierte, vor allem aber zumindest der Intention nach auf Permanenz ausgelegte Form der Revision zu erkennen. X. Vor diesem Hintergrund sei zum Abschluss noch einmal zu den beiden eingangs formulierten Ausgangsfragen zurückgekehrt. Viel spricht dafür, dass die Wissenschaften um 1800 begonnen haben, die historia literaria als ihr Augenlicht zu verlieren, so wie es einst Polyphem durch die Hand Odysseus’ widerfuhr. Sind sie also – das war die erste Frage – erblindet? Und sollte dies der Fall sein – so lautete die zweite Frage – sind sie darum unkenntlich geworden? Die Antwort könnte vielleicht wie folgt lauten: Sie mögen blind geworden sein – jedenfalls dann, wenn der eine große Überblick als Maßstab der Sehkraft gilt. Kenntlichkeit als Wissenschaften dürften sie hingegen eher hinzugewonnen haben – und zwar genau in dem Maße, wie an die Stelle der Aufforderung zur globalen Nachahmung gelehr-

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samer Tugenden eines virtuoso, die Bacon noch als eine der zentralen Aufgaben der history of learning ansah und wie sie sich auch in Scherers Geschichte der Ausbreitung noch weitgehend ungebrochen am Werk zeigte, sukzessive die ebenso anonymen wie tastenden Anweisungen und Rejustierungen im Spiel von Bemerkung und auf Dauer gestellter Neuer Ansicht treten. So teilen die Wissenschaften bis zu einem gewissen Grade das Schicksal Polyphems: Wirklich unverwechselbar unter allen Zyklopen wurde der Einäugige – wie die Odyssee erzählt und wie Bacon wusste – erst, nachdem ihm der Listenreiche das Augenlicht geraubt hatte. Oder sollte etwa niemand ihn je geblendet haben? Bibliographie Adam, Jean-Michel (2001), Les textes: types et prototypes. Récit, Description, Argumentation, Explication et Dialogue, 4. Aufl., Paris: Nathan. Aigner, Walter (1985), Die Beiträge des Apothekers Johann Friedrich August Göttling (1755–1809) zur Entwicklung der Pharmazie und Sauerstoffchemie, München: Dissertation. Anonym (1735), (Art.) Gelehrten-Historie, in: Johann Heinrich Zedler (Hrsg.) (1732–1754), Grosses vollständiges Universal-Lexikon Aller Wissenschafften und Künste, Welche bishero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden, Leipzig & Halle: Johann Heinrich Zedler, Bd. 10, Sp. 725–730. Anonym (1799), (Rez.) Beytrag zur Berichtigung der antiphlogistischen Chemie, auf Versuche gegründet von J.F.A Göttling, Professor zu Jena. Zweytes Stück, in: Erlangische Litteratur-Zeitung, 1:5, S. 33–36. Anonym (1989), (Art.) Johann Friedrich August Göttling, in: Detlev Jena, Michael Platen & Rüdiger Stolz (Hrsg.) (1989), Chymia Jenensis. Chymisten, Chemisten und Chemiker in Jena, Jena: Friedrich-Schiller-Universität, S. 38–45. Anonym (1989a), (Art.) Alexander Nikolaevich Scherer, in: Detlev Jena, Michael Platen & Rüdiger Stolz (Hrsg.) (1989), Chymia Jenensis. Chymisten, Chemisten und Chemiker in Jena, Jena: Friedrich-Schiller-Universität, S. 48f. Aristoteles (1982), Poetik. Griechisch-Deutsch, hg. u. übers. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart: Reclam. Arzt, Philipp Edmund Gottlob (1795), Versuch einer systematischen Anordnung der Gegenstände der reinen Chemie, Leipzig: Fleischer. Austin, John L. (1972), Zur Theorie der Sprechakte (How to do Things with Words), hg. u. übers. v. Eike von Savigny, Stuttgart: Reclam. Bacon, Francis (1857a), De dignitate et augmentis scientiarum, in: Francis Bacon (1857–1874), The Works of Francis Bacon, hg. v. James Spedding, Robert Leslie Ellis & Douglas Denon Heath, London: Longman u.a., Bd. 1, S. 414–837. Bacon, Francis (1857b), Novum Organum, in: Francis Bacon (1857–1874), The Works of Francis Bacon, hg. v. James Spedding, Robert Leslie Ellis & Douglas Denon Heath, London: Longman u.a., Bd. 1, S. 71–365. Bacon, Francis (1857c), Temporis partus masculus, in: Francis Bacon (1857–1874), The Works of Francis Bacon, hg. v. James Spedding, Robert Leslie Ellis & Douglas Denon Heath, London: Longman u.a., Bd. 3, 523–539.

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Le vocabulaire de l’organisation chez Auguste Comte Andrea Cavazzini

Abstract The article deals with the role of French Positivism’s founder Auguste Comte in creating a concept of organisation valid for both political, biological and sociological thought. Comte’s political aim was the re-organization of post-revolutionary society by a systematisation of scientific thought in order to determine unity and convergence in human minds. Re-organization of science demands specific conceptualisation of the autonomous field of two sciences whose object is eminently organized: biology and sociology. Comte’s ideas on the conceptual structure of life and social sciences, his anti-individualism opposed to post-Smithian political economy, his refusal of reductionism both in biology and sociology will play an important role in the history of both biology (Claude Bernard) and social sciences (Durkheim and ‘structuralism’). Both the richness of Comte’s philosophical work and its influence on posterior theoretical endeavours depend deeply on its concept of organisation that enabled ‘positive philosophy’ to circulate between scientific and political issues.

L’entrée organisation du célèbre Dictionnaire d’Emile Littré assigne ce terme à l’espace conceptuel des sciences de la vie : « Organisation: état d’un corps organisé ; ensemble des parties qui le constituent, et qui régissent ses actions. L’organisation de l’homme, des végétaux ».1 Il en va de même pour des mots appartenant à la même sphère sémantique : organisme, « Terme de biologie. Disposition en substance organisée », organisé(e) « qui a reçu une organisation, composé d’organes »2 et organique « Terme de biologie. Qui a rapport à l’organisation ».3 Cette constellation sémantique renvoie également au domaine politique et social, mais uniquement au sens figuré : organisation peut être aussi synonyme de « Constitution d’un Etat, d’un établissement publique ou particulier », et organisé(e) peut indiquer ce qui est « disposé(e) suivant un ordre comparé à l’organisation des êtres vivants. Une administration bien organisée ».4 Le vocabulaire de l’organisation est donc, selon le Dictionnaire de Littré – ce véritable monument de la culture française du XIXe siècle – essentiellement lié à la sphère du savoir biologique. Un tel choix de la part de Littré représente une mutilation considérable de l’épaisseur sémantique que des notions comme organisation, organique, etc. possédaient pour le principal inspirateur philosophique d’Emile Littré, à savoir le fondateur du Positivisme, Auguste Comte (1798–1857) : entre 1822 et 1842, A. Comte avait fait de l’espace conceptuel défini par le vocabulaire de l’organisation le pivot d’une très1 2 3 4

Emile Littré (1873–1874), Dictionnaire de la langue française (1873–1874), t. III, p. 856. Ibid. Ibid., p. 855. Ibid., p. 856. Jahrbuch für Europäische Wissenschaftskultur, Bd. 7 (2012), 259–273

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complexe stratégie théorique et politique dont les différents aspects étaient reliés les uns aux autres justement par ledit vocabulaire. Pour A. Comte, les acceptions politiques et sociales de la constellation sémantique représentée par organisation, organique, etc. ne sont nullement des emprunts occasionnels et extérieurs, l’usage du vocabulaire de l’organisation en biologie étant au contraire toujours-déjà surdéterminé par des enjeux politiques (ce qui est cohérent avec la matrice originairement politique de l’entreprise épistémologique comtienne). Nous allons étudier l’usage théorique que Comte fait du vocabulaire de l’organisation selon ses propres visées systématiques.5 D’abord, il nous faut esquisser de façon sommaire les différentes problématiques que ledit vocabulaire permet de traduire les unes dans les autres : premièrement, le projet politique de Comte, ancien disciple et secrétaire de Saint-Simon, vise la réorganisation politique de la société française et européenne secouées par la tourmente révolutionnaire – il s’agit, selon la terminologie sansimonienne que Comte n’aura de cesse de retraduire dans son propre système, de donner vie à une nouvelle époque organique qui en finirait avec la période critique pourtant nécessaire pour briser l’organicité incomplète de la civilisation médiévale. Ce projet implique l’organisation des savoirs scientifiques – visée encyclopédique à la fois historique et systématique, dont le monumental Cours de philosophie positive6 représente la réalisation finale : l’organisation des sciences est la condition de toute organisation de la société parce que toute société fonde sa propre unité sur des idées ; par conséquent, la systématisation des savoirs accessibles à l’humanité moderne est nécessaire pour mettre un terme à l’anarchie intellectuelle qui alimente le désordre politique. Mais l’organisation des savoirs ne pourra pas être réellement effectuée tant que les sciences dont l’objet propre est caractérisé par des propriétés d’organisation ne bénéficieront pas d’une systématisation conceptuelle adéquate. Les sciences de la réalité organisée sont la biologie 5

6

Cette constellation sémantique est fréquemment utilisée en sciences de la vie dans la période qui précède l’élaboration de la ‘philosophie positive’. Littré cite comme références pour l’usage de organisation et organisé les œuvres suivantes de Charles Bonnet (1720–1793), auteur des Considérations sur les corps organisés, (1762), Contemplation de la nature (1764), et Palingénèsie philosophique (1769) et, plus rarement, Buffon et Condorcet. Pour l’acception politique d’organisation il renvoie à François Guizot (1787–1874), Histoire de la civilisation en France (1830). Une source directe de Comte est Henri Ducrotay de Blainville (1777–1850), maître et ami du philosophe dans ses années de jeunesse. Déjà chez le catholique et légitimiste Blainville le statut du concept d’organisation est à la fois biologique et politique, renvoyant à l’opposition entre, d’un côté, l’ordre et la hiérarchie, et, de l’autre, l’individualisme libéral. Le rôle que le concept d’organisation joue dans la construction systématique comtienne est cependant beaucoup plus décisif que chez ses prédécesseurs. Cf. Henri Ducrotay de Blainville, De l’organisation des animaux (1822). Sur les rapports entre Comte et Blainville, cf. Henri Gouhier (1979), Blainville et Auguste Comte in : Henri Gouhier (éd.), (1987), La philosophie d’Auguste Comte. Esquisses, Paris : Vrin, pp. 165–178. Notre étude se limitera à analyser le Plan des travaux et le Cours. Les développements ultérieurs des théories biologiques, sociologiques et politiques comtiennes présentent en effet un très grand intérêt théorique. Cependant, leur influence réelle sur la constitution des corpus conceptuels et terminologiques des sciences au XIXe siècle est très indirecte, parfois douteuse, et de toute façon sans comparaison possible avec celle que le Cours a exercée sur la culture européenne.

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– qui existe déjà, certes, mais dans un état de dispersion auquel mettra un terme l’élaboration d’un appareil théorique cohérent et adéquat à l’autonomie de son objet – et la sociologie qui, elle, n’existe pas et qu’il s’agit de créer à partir de la systématisation des savoirs déjà disponibles. Il faut rappeler que le terme de biologie est, à l’époque où Comte écrit, très récent, ne datant que des premières années du XIXe siècle. Le terme de sociologie, en revanche, ne sera créé que par Comte lui-même en 1839, dans la quarante-septième leçon du Cours, publié entre 1830 et 1842. Dans le principal parmi ses Opuscules de jeunesse, le Plan de travaux scientifiques nécessaires pour réorganiser la société de 1822, Comte parle de « physique sociale », expression qu’il abandonnera après la publication par Adolphe Quételet de son livre Sur l’homme et le développement des facultés, ou Essai de physique sociale (1835), ouvrage décisif pour l’utilisation des méthodes statistiques dans les études sociales et politiques. Comte considérait comme stériles les méthodes statistiques en sociologie, incapables selon lui de saisir ces aspects de la vie sociale irréductibles à des interactions extérieures entre des unités isolées – les aspects, justement, organisés de la réalité sociale. En outre, et par conséquent, Comte veut démarquer nettement les études sociologiques vis-à-vis des concepts physico-mathématiques, pour les rapprocher davantage de la biologie, cette autre science de l’organisé dont il considère comme urgent de définir l’autonomie vis-àvis de la physique. La réorganisation sociale suppose une organisation du savoir ; mais cette construction encyclopédique suppose en revanche de donner des fondements rigoureux aux sciences de l’organisé : après avoir obtenu son autonomie et son objet spécifique, la sociologie pourra guider la marche de l’humanité en direction d’une nouvelle époque organique. La boucle sera bouclée, et le projet encyclopédique débouchera sur la réalisation du projet politique qui l’oriente. Le vocabulaire de l’organisation permet de circuler entre ces différents domaines, tout en restant assez souple pour éviter toute réduction du social et du culturel aux lois biologiques. En 1822, ledit vocabulaire est d’abord utilisé comme clé de lecture de la conjoncture historique actuelle : « Deux mouvements de nature différente agitent aujourd’hui la société: l’un de désorganisation, l’autre de réorganisation ».7 L’effondrement de l’Ancien Régime, de la Monarchie divine, de l’économie des corporations, de l’omniprésence de la foi religieuse et de son orthodoxie, représente la désorganisation anarchique qu’il faut à tout prix remplacer par une réorganisation capable d’assurer la concorde entre les différentes strates de la société et la coopération harmonieuse des puissances matérielles et spirituelles. ‘Réorganisation’ et ‘désorganisation’ sont deux tendances historiques opposées : leur structure conceptuelle implique l’idée d’organisation en tant que fonction moyennant laquelle toute société réalise activement sa propre unité :

7

Auguste Comte (1822), Plan des travaux scientifiques nécessaires pour la réorganisation de la société, in : Auguste Comte (1996), Philosophie des sciences, éd. par Juliette Grange, Paris : Gallimard, pp. 227–347, p. 236.

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La formation d’un plan quelconque d’organisation sociale se compose nécessairement de deux séries de travaux […] L’une, théorique ou spirituelle, a pour but le développement de l’idée-mère du plan, c’est-à-dire du nouveau principe suivant lequel les relations sociales doivent être coordonnées, et la formation du système d’idées générales destiné à servir de guide à la société. L’autre, pratique ou temporelle, détermine le mode de répartition du pouvoir et l’ensemble d’institutions administratives les plus conformes à l’esprit du système, tel qu’il a été arrêté par les travaux théoriques.8

Plus explicitement : « Un système quelconque de société […] a pour objet définitif de diriger vers un but général d’activité toutes les forces particulières ».9 Pourtant, si toute société ne conserve son existence que grâce à son propre plan d’organisation, les différentes organisations ne sont pas toutes également organiques. Les organisations réellement organiques sont les organisations dont le plan résiste mieux que les autres à la désorganisation : autrement dit, un plan d’organisation n’est réellement organique que s’il réussit à opérer une convergence harmonieuse des forces sociales. La crise sociale à laquelle Comte veut mettre un terme est aggravée par l’incapacité des rois et des peuples – c’est-à-dire des orientations respectivement légitimistes et républicaines – à proposer une « nouvelle doctrine vraiment organique ».10 Comte rejette toute tentation de « présenter comme principes organiques les principes critiques qui ont servi à détruire le système féodal et théologique »11; tout en détruisant définitivement le principe de la volonté arbitraire du Monarque, les deux dogmes de la liberté de conscience illimitée et de la souveraineté populaire supposent, tout comme l’idée monarchique, « la souveraineté de chaque raison individuelle » ; ils sont donc impuissants à établir « un système quelconque d’idée générales » réellement capable d’ organiser la société.12 Pour Comte, les ‘légistes’, les politiciens professionnels, et les philosophes des Lumières sont les groupes sociaux qui ont dominé la scène politique depuis la Révolution, s’inspirant des principes critiques et négatifs, donc éminemment ‘désorganiques’, de l’Opinion et de la Volonté ; le moment de la réorganisation, où « ce n’est plus l’éloquence, c’est-à-dire la faculté de persuasion, qui doit être spécialement en activité, c’est le raisonnement, c’est-à-dire la faculté d’examen et de coordination »,13 suppose en revanche l’hégémonie des savants. La valeur des sciences, et par conséquent le rôle social des opérateurs scientifiques, consiste dans la capacité que la rationalité scientifique possède de confronter les intelligences avec un ordre, en opérant leur convergence moyennant leur soumission à des idées communes et générales soustraites à l’arbitraire des opinions individuelles :

8 9 10 11 12 13

Ibid., p. 254. Ibid., p. 255. Ibid., p. 250. Ibid., p. 241. Ibid., p. 242. Ibid., p. 263.

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Il est sensible que les savants seuls forment une véritable coalition, compacte, active, dont tous les membres s’entendent et se correspondent avec facilité et d’une manière continue, d’un bout de l’Europe à l’autre. Cela tient à ce qu’eux seuls aujourd’hui ont des idées communes, un uniforme, un but d’activité général et permanent.14

Les sciences existantes ne peuvent pas constituer le nouveau système organique des idées générales : elles n’en sont qu’un préambule indispensable, nécessaire pour opérer la constitution et la montée en puissance d’une classe sociale scientifique au sein des sociétés ; mais la ‘nouvelle doctrine sociale’ ne sera réalisée que par la systématisation complète et définitive du corpus des savoirs qui ont déjà reçu des bases suffisamment solides. Le Plan de travaux assigne au mot organisation une signification directement liée à la spécificité épistémologique de la biologie ; et la spécificité des sciences de la vie va jouer un rôle décisif dans la délimitation du domaine de la sociologie (que Comte appelle en 1822 physique sociale ou politique scientifique). D’abord, le rapport entre connaissance de la vie et connaissance de la société ne consiste que dans un transfert de concepts qui reste métaphorique : Il en est, en politique, des divers états de civilisation, comme des organisations diverses en physiologie. Seulement, les motifs qui obligent à considérer les différentes époques de civilisation sont encore plus directs que ceux qui ont porté les physiologistes à établir la comparaison de toutes les organisations.15

L’organisation est la propriété par laquelle le savoir physiologique définit les êtres vivants ; l’objet de la physiologie est la totalité des fonctions qui entretiennent la vie de l’organisme dans son milieu, une telle totalité coïncidant en dernière instance avec l’organisme en tant que tel. Selon Comte, un état de civilisation peut être rapproché de l’objet de la physiologie et être étudié par une approche visant la saisie globale des relations internes à une totalité irréductible à ses éléments. Mais le rapport entre ordre social et ordre biologique a d’autres implications. Toute organisation sociale suppose une ‘strate’ biologique qui lui préexiste : La supériorité de l’homme sur les autres animaux ne pouvant avoir et n’ayant en effet d’autre cause que la perfection relative de son organisation, tout ce qu’a fait l’espèce humaine et tout ce qu’elle peut faire doit, évidemment, être regardé, en dernière analyse, comme une conséquence nécessaire de son organisation, modifiée, dans ses effets, par l’état de l’extérieur. En ce sens, la physique sociale, c’est-à-dire l’étude du développement collectif de l’espèce humaine, est réellement une branche de la physiologie, c’est-à-dire de l’étude de l’homme, conçue dans toute son extension. En d’autres termes, l’histoire de la civilisation n’est autre chose que la suite et le complément indispensable de l’histoire naturelle de l’homme.16

14 Ibid., p. 269. 15 Ibid., p. 299. 16 Ibid., p. 333.

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Cependant, Comte n’est aucunement réductionniste. L’organisation sociale et l’organisation biologique restent distinctes ; elles ne fonctionnent pas de la même manière, chacune étant l’objet d’une science indépendante : Sans doute, les phénomènes collectifs de l’espèce humaine reconnaissent pour dernière cause la nature spéciale de son organisation. Mais l’état de la civilisation humaine à chaque génération ne dépend immédiatement que de celui de la génération précédente, et ne produit immédiatement que celui de la suivante.17

L’ordre social humain est réalisé par des pratiques culturelles de transmission et par des institutions indépendantes vis-à-vis du déterminisme biologique. Pourtant, cette autonomie du social n’est jamais absolue : les rapports entre le social et le biologique sont analysés par Comte avec une extrême finesse qui témoigne de la richesse et de la complexité de ses théories biologiques. Premièrement, l’autonomie des structures sociales est conditionnée par la complexité de la structure biologique humaine qui rend possible un développement singulier de l’intelligence et un rapport extrêmement actif avec la nature : La doctrine scientifique de la politique considère l’état social sous lequel l’espèce humaine a toujours été trouvée par les observateurs comme la conséquence nécessaire de son organisation. Elle conçoit le but de cet état social comme déterminé par le rang que l’homme occupe dans le système naturel […] Elle voit, en effet, résulter de ce rapport fondamental la tendance constante de l’homme à agir sur la nature, pour la modifier à son avantage. Elle considère ensuite l’ordre social comme ayant pour objet final de développer collectivement cette tendance naturelle, de la régulariser et de la concerter pour que l’action utile soit la plus grande possible.18

L’autonomie de l’organisation sociale humaine dépend des caractères spécifiques de l’organisation biologique de l’organisme humain : sa complexité interne et la variété de ses possibilités d’action. Un glissement ultérieur permet d’opérer le passage de cette problématique de la double organisation à une dimension proprement politique : la variété des forces dont l’homme est le possesseur, grâce à laquelle d’ailleurs l’ordre social peut se soustraire à l’emprise de l’ordre biologique, rend nécessaire l’organisation consciente de ces forces afin d’en réaliser la cohérence réciproque et d’en opérer la coordination en vue d’améliorer le bien-être de l’espèce humaine. La complexification des différents ordres demande une complexification des fonctions régulatrices des processus et des activités, une coordination supplémentaire de la multiplicité : un surcroît d’organisation biologique déclenche l’autonomisation du social, et la complexification du social demande un supplément de régulation – un plan. Deuxièmement, bien que l’ordre social se fonde sur l’ordre biologique, les phénomènes biologiques présentent déjà des traces de la complexité supplémentaire du social. Comte n’affirme pas que les animaux non-humains seraient dépourvus de toute organisation proprement sociale ;

17 Ibid., p. 334. 18 Ibid., p. 274–275.

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il affirme tout simplement que les degrés respectifs de complexité des deux ordres biologique et social ne permettraient pas de les distinguer analytiquement chez les espèces non-humaines : Quand les physiologistes étudient l’histoire naturelle d’une espèce animale douée de sociabilité […] ils y comprennent avec raison l’histoire de l’action collective exercée par la communauté. Ils ne jugent pas nécessaire d’établir une ligne de démarcation entre l’étude des phénomènes sociaux de l’espèce et celle des phénomènes relatifs à l’individu isolé. Un tel défaut de précision n’a dans ce cas aucun inconvénient réel, quoique les deux ordres de phénomènes soient distincts.19

Les phénomènes sociaux chez les animaux gardent l’autonomie vis-à-vis de l’ordre biologique qui les caractérise chez l’homme, mais cette autonomie reste généralement indiscernable pour la connaissance : chez les espèces non-humaines les régulations biologiques suffisent à instituer un rapport viable avec le milieu, si bien que le supplément de régulation fourni par l’ordre social ne peut exercer qu’une influence très faible dans l’activité globale de l’organisme. Troisièmement, Comte reconnaît l’existence d’une analogie entre, d’une part, le rapport de l’organisation sociale avec l’ordre biologique, et, d’autre part, le rapport qui relie les différents moments diachroniques de la vie de l’organisme individuel. L’ordre social ne peut pas être correctement saisi par l’étude exclusive de l’ordre biologique ; d’une manière analogue, commettrait une grave faute épistémologique tout savant qui « considérant que les divers phénomènes des âges successifs sont uniquement la conséquence et le développement nécessaire de l’organisation primitive, s’efforcerait de déduire l’histoire d’une époque quelconque de la vie de l’état de l’individu à sa naissance ».20 Des processus dont la logique commune est celle de l’épigénèse relient les différentes étapes ou strates de l’ordre biologique, d’un côté, et, de l’autre, l’ordre biologique tout entier et l’ordre social. L’épigénèse, postulant la formation progressive de structures multiples et hiérarchisées, interdit toute prédictibilité des formations successives à partir des lois qui gouvernent les strates précédentes. Cette imprédictibilité relative propre aux phénomènes sociaux et biologiques marque leur autonomie épistémologique et dépend de leur nature organisée. Les concepts théoriques, et dans une certaine mesure les choix terminologiques, du Plan de travaux ne seront jamais abandonnés par Comte. Le Cours de philosophie positive opérera systématiquement la construction conceptuelle des sciences de l’organisation, dont Comte se souciera toujours d’assurer l’autonomie épistémologique vis-à-vis des autres domaines de l’encyclopédie positiviste. Dans la Leçon inaugurale du Cours Comte affirme que « la philosophie positive offre la seule base solide de la réorganisation sociale qui doit mettre fin à l’état de crise dans lequel se trouvent encore les nations les plus civilisées ».21 L’organisation du savoir scientifique ne peut aucunement être réduite à une simple, et chimérique, unification : l’incorporation de tout ordre de phénomènes à un seul ensemble de 19 Ibid., p. 333. 20 Ibid., p. 334.

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lois ‘locales’ est destinée à rester un rêve métaphysique. La construction de l’encyclopédie devra être particulièrement attentive aux rapports qui s’instaurent entre des domaines scientifiques dont la pluralité reste pourtant irréductible.22 L’enjeu de cette position pluraliste est justement l’autonomie des sciences de la réalité organisée. En particulier, il faut à tout prix détacher les lois biologiques de celles qui gouvernent le monde physique inorganique : Nous sommes tout d’abord frappés par la division évidente de tous les phénomènes naturels en deux classes: celle des corps organiques et celle des corps organisés. Ces derniers sont évidemment plus complexes et moins généraux que les premiers, et ils dépendent d’eux sans que ceux-ci soient sous leur dépendance. De là résulte la nécessité de n’étudier les phénomènes physiologiques qu’après ceux des corps inorganiques, puisque les corps vivants présentent, outre tous les phénomènes de l’ordre inorganique, des phénomènes particuliers: les phénomènes vitaux qui appartiennent à l’organisation.23

Afin de saisir la fonction stratégique du concept d’organisation, il faut comprendre la double opposition de Comte tant au vitalisme du XVIIIe siècle (Stahl, l’Ecole de Montpellier) qu’au réductionnisme mécaniste. L’autonomie des phénomènes de la vie vis-à-vis du monde inorganique ne se fonde pas sur l’existence d’une force vitale ou autres qualités occultes : afin de sauver à la fois l’autonomie et la ‘positivité’ desdits phénomènes, il faut relier leur singularité à une réalité observable, gouvernée par des lois objectives. L’organisation représente justement cette réalité positive que Comte recherche. Les effets conceptuels immédiats de cet aspect objectif que certains phénomènes présentent consistent d’abord dans la possibilité de saisir les limites du recours aux mathématiques – qui démontrent incessamment leur puissance et fécondité dans les sciences de la nature inorganique – dans le domaine des sciences de la vie. Pour Comte « l’esprit mathématique consiste à regarder toujours comme liées entr’elles toutes les quantités que peut présenter un phénomène quelconque, dans la vue de les déduire les unes des autres ».24 La mathématique consiste de deux parties : la mathématique concrète, dont la tâche consiste à « découvrir des relations précises entre les quantités coexistantes dans les phénomènes étudies, l’établissement de ces équations des phénomènes étant le point de départ nécessaire de tous les travaux analytiques »25; et la mathématique abstraite, qui opère les calculs des équations aptes à analyser les relations des phénomènes concrets, et dont l’objet serait la solution de 21 Auguste Comte (1830b), Leçon inaugurale du Cours de philosophie positive, in : Auguste Comte (2007), Premiers cours de philosophie positive. Préliminaires généraux et philosophie mathématique, éd. par Yann Clément-Colas, Postface et notes de Jean Dhombres, Paris : PUF, pp. 57–75, p. 72. 22 Auguste Comte (1830a), Deuxième leçon. Exposition du plan de ce cours, ou considérations générales sur la hiérarchie fondamentale des sciences positives, in : Comte (2007), op. cit., pp. 76–93, ici : pp. 76–77. 23 Auguste Comte (1830c), Troisième leçon. Considération philosophiques sur l’ensemble de la science mathématique, in : Comte (2007), op. cit., pp. 97–124, ici : pp. 84–85. 24 Ibid., pp. 104–105. 25 Ibid., p. 117.

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toutes les questions de nombres. Son point de départ est […] la connaissance des relations précises, c’est-à-dire d’équations, entre les diverses grandeurs que l’on considère simultanément, ce qui est, au contraire, le terme de la mathématique concrète. Quelque compliquées ou indirectes que puissent être d’ailleurs ces relations, le but final de la science du calcul est d’en déduire toujours les valeurs des quantités inconnues par celles des quantités connues.26

La possibilité de soumettre un ordre donné de phénomènes à un traitement mathématique dépend de la possibilité concrète de déterminer les équations qui décrivent, et permettent de prévoir, le comportement des relations dynamiques internes audit ordre – ce qui dépend de la structure spécifique des phénomènes examinés : « Il est impossible d’établir de véritables méthodes générales qui, par une marche déterminée et invariable, assure dans tous les cas la découverte des relations existantes entre les quantités, relativement à des phénomènes quelconques ».27 La mathématique est universelle, car « il n’y a pas de question quelconque qui ne puisse finalement être conçue comme consistant à déterminer des quantités les unes par les autres, d’après certaines relations »28 ; mais cette universalité n’est que ‘logique’, c’est-à-dire dépendant d’une idéalisation qui ne considère que les possibilités-limites. Dans la construction effective des connaissances, au fur et à mesure que la complexité des phénomènes considérés augmente, la difficulté d’établir des relations précises entre les grandeurs propres aux phénomènes grandit en proportion. Ce n’est qu’à partir de cette complexité que Comte introduit l’idée de la spécificité des phénomènes de la vie : La première condition pour que des phénomènes comportent des lois mathématiques susceptibles d’être découvertes, c’est évidemment que les diverses quantités qu’ils présentent puissent donner lieu à des nombres fixes. Or, en comparant, à cet égard, les deux grandes sections principales de la philosophie naturelle, on voit que la physique organique toute entière, et probablement aussi les parties les plus compliquées de la physique inorganique, sont nécessairement inaccessibles, par leur nature, à notre analyse mathématique, en vertu de l’extrême variabilité numérique des phénomènes correspondants.29

L’instabilité est étroitement liée au degré d’organisation des phénomènes en question : Les différentes propriétés des corps bruts […] n’éprouvent que des variations simples, séparées par de longs intervalles d’uniformité, et qu’il est possible, en conséquence, d’assujettir à des lois précises et régulières. Ainsi, les qualités physiques d’un corps inorganique […] présentent, pour un temps considérable, une fixité numérique remarquable, qui permet de le considérer réellement et utilement sous un point de vue mathématique.30

26 27 28 29 30

Ibid., pp. 112–113. Ibid., p. 109. Ibid., p. 115. Ibid., p. 118. Ibid.

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En revanche, on peut constater dans les phénomènes organiques un état d’agitation intestine continuelle de leurs molécules, qui constitue essentiellement ce que nous nommons la vie […] En effet, un caractère éminemment propre aux phénomènes physiologiques […] c’est l’extrême instabilité numérique qu’ils présentent.31

Plus précisément : Chaque propriété quelconque d’un corps organisé, soit géométrique, soit mécanique, soit chimique, soit vitale, est assujettie, dans sa quantité, à d’immenses variations numériques tout-à-fait irrégulières, qui se succèdent aux intervalles les plus rapprochés sous l’influence d’une foule de circonstances, tant extérieures qu’intérieures, variables elles-mêmes, en sorte que toute idée de nombres fixes, et, par suite, de lois mathématiques que nous puissions espérer d’obtenir, implique réellement contradiction avec la nature spéciale de cette classe de phénomènes. Ainsi, quand on veut évaluer avec précision, même uniquement les qualités les plus simples d’un être vivant, par exemple sa densité moyenne, ou celle de l’une de ses principales parties constituantes, sa température, la vitesse de sa circulation intérieure, la proportion des éléments immédiats qui composent ses solides ou ses fluides, la quantité d’oxygène qu’il consomme en un temps donné, la masse de ses absorptions ou de ses exhalaisons continuelles, etc., et, à plus forte raison, l’énergie de ses forces musculaires, l’intensité de ses impressions, etc., il ne faut pas seulement […] faire, pour chacun de ces résultats, autant d’observations qu’il y a d’espèces et de variétés dans chaque espèce ; on doit encore mesurer le changement qu’éprouve cette quantité en passant d’un individu à un autre, et, quant au même individu, suivant son âge, son état de santé ou de maladie, sa disposition intérieure, les circonstances de tout genre incessamment mobiles sous l’influence desquelles il se trouve placé.32

La variabilité des effets dépend directement de la complexité des phénomènes organiques : « Ce qui engendre la variabilité irrégulière des effets, c’est le grand nombre d’agents divers déterminant à la fois un même phénomène, et d’où il résulte que, dans les phénomènes très-compliqués, il n’y à peut-être pas deux cas rigoureusement semblables ».33 L’organisation n’implique pas que complication et variabilité grandissantes dans les relations internes aux phénomènes ; elle entraîne également une individualisation grandissante desdits phénomènes. L’individualisation entraîne l’imprédictibilité des effets globaux des phénomènes considérés. Le concept d’organisation permet à Comte de critiquer le rêve de la prédictibilité universelle de la manière la plus immanente possible à la logique épistémologique qui alimente ledit rêve – c’est-à-dire du point de vue de l’hypothèse-limite consistant à postuler une mathématisabilité universelle des phénomènes dynamiques. Le schéma épigenétique qui postule la stratification de structures relativement autonomes est utilisé également pour définir la spécificité de la sociologie. L’objet de cette nouvelle science est l’Humanité, dont la structure collective est irréduc31 Ibid., p. 119. 32 Ibid., pp. 119–120. 33 Ibid., p. 121.

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tible aux individus : « L’homme proprement dit n’est, au fond, qu’une pure abstraction; il n’y a de réel que l’humanité, surtout dans l’ordre intellectuel et moral ».34 L’étude du comportement humain individuel ne saurait être capable de saisir « l’évolution totale de l’humanité», qui n’est accessible qu’à l’« étude directe de l’espèce ».35 Comte critique deux tentatives de réduire l’Humanité à ses composants individuels : l’Economie politique et la psychophysiologie sensiste des Idéologues. D’une part, Cabanis et Destutt de Tracy oublient que, bien que les formes collectives de la pensée et de l’activité humaine se fondent sur l’organisation biologique, et notamment sur l’organisation cérébrale, leur mode de fonctionnement concret ne saurait être déduit des seuls phénomènes de la vie ; d’autre part, l’Economie politique ne permet pas de comprendre que « dans les études sociales, comme dans toutes celles relatives aux corps vivants, les divers aspects généraux sont, de toute nécessité, mutuellement solidaires et rationnellement inséparables, au point de ne pouvoir être convenablement éclaircis que les uns par les autres ».36 Le comportement purement économique que l’Economie politique imagine pouvoir isoler et étudier dans son autonomie n’est qu’une abstraction métaphysique ; la rationalité effective de l’action dépend de son incorporation à l’ensemble des activités humaines et à leur développement historique : « L’analyse économique ou industrielle ne saurait être positivement accomplie, abstraction faite de son analyse intellectuelle, morale et politique, soit au passé, soit même au présent ».37 L’Economie politique ne saurait fournir un principe d’orientation en vue de la réorganisation sociale, parce qu’elle est incapable de saisir la société comme un tout ; par sa prétention chimérique de déduire les rapports sociaux des actions individuelles, elle est destinée à rester une pseudo-science, et finit par « ériger en dogme universel l’absence nécessaire de toute intervention régulatrice quelconque »38 ; en revanche, ce n’est que par la conception des phénomènes sociaux comme réalités organisées qu’il deviendra possible de réguler la « coordination spontanée » des activités humaines, ce qui entraînera la formation d’une « discipline industrielle » capable d’exercer un contrôle social sur la production économique, le développement technique et l’exploitation des ressources. L’une des tâches les plus cruciales que la sociologie est appelée à accomplir du fait de son approche globale de la société consiste à organiser l’encyclopédie des sciences contemporaines : la boucle est donc bouclée, les savoirs de l’organisation débouchant sur l’organisation des savoirs. Comte vise la rectification des pratiques scientifiques de son époque, dont l’état de dispersion ne peut fournir que des séries 34 Auguste Comte (1842), Cinquante-huitième leçon. Appréciation finale de l’ensemble de la méthode positive, in : Auguste Comte (2003), Science et politique, éd. par Michel Bourdeau, Paris : Pocket, pp. 57–123, p. 84. 35 Ibid., p. 86. 36 Auguste Comte (1839), Quarante-septième leçon. Appréciation sommaire des principales tentatives philosophiques entreprises jusqu’ici pour constituer la science sociale, in : Auguste Comte (1995), Leçons de sociologie, éd. par Juliette Grange, Paris : Flammarion, pp. 37–75, p. 66. 37 Ibid. 38 Ibid., p. 68.

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de faits isolés dépourvues de toute coordination à la fois historique et rationnelle : « La véritable science […] se compose essentiellement de lois, et non de faits […] en sorte que aucun fait isolé ne saurait être vraiment incorporé à la science, jusqu’à ce qu’il ait été convenablement lié à quelque autre notion ».39 La systématisation des sciences compte parmi les objets de la sociologie dans la mesure où l’organisation des pensées forme la base de tout ordre mental partagé censé produire la convergence des esprits. Mais le rapport entre la ‘raison sociologique’ et la tâche épistémologique de la philosophie positive présente encore un autre aspect : « La méthode positive est nécessairement […] l’œuvre continue de l’humanité toute entière, sans aucun inventeur spécial ».40 Le sujet supposé au savoir scientifique est un sujet collectif, coïncidant en dernière instance avec l’espèce humaine dans la variété de ses activités et la durée de son histoire : « Ainsi, on ne peut se former une juste idée de l’ensemble effectif des études positives qu’en y voyant, soit dans le passé, soit dans l’avenir, le résultat continu d’une immense élaboration générale, à la fois spontanée et systématique à laquelle participe nécessairement l’humanité tout entière ».41 Comte semble parfois faire allusion à une résorption partielle de la division du travail, et notamment des séparations entre direction et exécution, théorie et application : « Cette adjonction normale de la masse pensante à l’association scientifique constitue certainement l’un des caractères distinctifs de la philosophie positive ».42 Le point de vue sociologique sur l’Humanité, dont la construction de la philosophie positive représente l’avènement, permet d’impulser la convergence de toutes les formes d’activité, constituant tendanciellement un patrimoine scientifique et technique unitaire dont l’ensemble est immédiatement impliqué et requis par toute réalisation locale théorique ou pratique. L’Humanité elle-même pense et agit moyennant les sciences et les techniques qui sont ses organes: la science est une œuvre collective, résultat de l’activité commune de l’espèce humaine. Au fur et à mesure que cette activité multiforme s’organise et devient de plus en plus cohérente, grâce à la convergence organisée de ses différents composants, la science devient elle aussi de plus en plus systématique, de manière à faire prévaloir les liaisons théoriques entre les concepts et les différentes disciplines sur l’accumulation des faits et les découvertes individuelles. L’organisation des sciences est à la fois cause et effet de l’organisation de la société ; l’unité des esprits induite par la systématisation encyclopédique permet de généraliser et de perfectionner le travail de systématisation : l’unité du genre humain et l’unité des savoirs sont unies par une circularité vertueuse indissociable. La postérité des théories d’Auguste Comte est extrêmement contradictoire. Du point de vue des doctrines épistémologiques, le Positivisme devint synonyme d’une attitude scientifique consacrée au culte des faits et méfiante vis-à-vis des théories, ce contre quoi Comte avait entrepris sa systématisation des sciences. Néanmoins, sa réflexion sur la notion d’organisation – à la fois épistémologique, 39 40 41 42

Comte (1842), op. cit., p. 94. Ibid., p. 97. Ibid., p. 99. Ibid.

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sociale et biologique – sera réactivée au XXe siècle : Gaston Bachelard insistera d’une part sur la nature organisée de la connaissance – renvoyant à la fois au travail tant technique que conceptuel de la pratique scientifique et à l’organisation sociale et pédagogique de l’entreprise scientifique – et d’autre part sur l’unité et la cohérence interne que les connaissances organisées imposent aux esprits.43 Un autre style de problématisation des sciences, associé aux noms de Louis Althusser, Georges Canguilhem et Michel Foucault, reprendra l’idée que les sciences sont des structures sociales, articulées à d’autres structures et pratiques non-scientifiques, et dont les règles systématiques imposent un ordre transindividuel aux pensées, si bien que les connaissances scientifiques sont toujours analysables en termes d’agencements déterminés de gestes, techniques et discours déterminant un sujet-du-savoir historiquement marqué.44 La postérité philosophique d’Auguste Comte – représentée par ces épistémologies dont l’objet est la science en tant qu’organisation collective des pratiques et des concepts – ne doit pas faire oublier les effets de sa pensée dans le domaine des théories politiques et sociales. L’idée selon laquelle la réalité sociale est une réalité organisée autonome vis-à-vis des actions individuelles, et dont l’organisation relève de lois structurales indépendantes de l’ordre vital, exercera une influence souvent souterraine mais incontestable sur les sciences sociales. Si la sociologie durkheimienne tendra à refouler sa dette à l’égard de l’ancêtre positiviste, tout en réactivant incessamment ses positions concernant notamment le rapport entre la pensée individuelle et les représentations sociales, les linguistes parisiens élèves45 de F. de Saussure seront profondément marqués par la notion d’une réalité sociale à la fois non« naturelle », c’est-à-dire soustraite au déterminisme biologique, et gouvernée par des principes d’ordre analysables objectivement, dont la langue représente le paradigme. Au XXe siècle, cette idée sera relayée par une série de véritables révolutions dans les sciences sociales, qui finiront par se donner comme objets les formes d’organisation propres aux systèmes symboliques constituant les différentes cultures, aux savoirs et aux disciplines, aux mythes et aux traditions, aux modes de production et reproduction des rapports sociaux, aux structures sociales et mentales exerçant des effets spécifiques sur les phénomènes ‘biologiques’ (démographie, agriculture et élevage, transformation du paysage, technologie du corps, etc.).46 L’idée d’une organisation immanente aux phénomènes sociaux, irréductible tant aux agissements du sujet individuel poursuivant une stratégie gui43 Gaston Bachelard (1970), Etudes, Paris : Vrin. 44 Louis Althusser et al. (1965), Lire « Le Capital », Paris : Maspéro ; Georges Canguilhem (1970), Etudes d’histoire et de philosophie des sciences, Paris : Vrin ; Michel Foucault (1963), Naissance de la clinique, Paris : PUF. Sur ces approches cf. Andrea Cavazzini & Alberto Gualandi (éds.) (2006), L’epistemologia francese e il problema del trascendentale storico, Macerata : Quodlibet, et Andrea Cavazzini (2009), Scienze epistemologia, società. La lezione di Louis Althusser, Milan : Mimesis. 45 Notamment Antoine Meillet ; cf. Jean-Claude Milner (1995), Introduction à une science du langage, Paris : Seuil, p. 105. 46 Cf. Jean-Claude Milner (2002), Le périple structurel, Paris: Seuil, pour une introduction à la séquence structuraliste en sciences humaines.

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dée par une rationalité moyens-fins qu’aux déterminismes biologiques, a été décisive pour de nombreuses entreprises de construction de l’objet des sciences humaines, soucieuses de se démarquer à la fois de l’individualisme méthodologique et du biologisme, tant darwiniste-social (centré sur la compétition et la sélection) qu’organiciste (postulant l’identité immédiate entre ordre social et ordre biologique) : ces positions héritent de ce geste de mise en évidence d’une organisation spécifique des faits sociaux. La postérité de l’autre geste comtien de démarcation, portant sur l’autonomie de l’organisation vitale vis-à-vis des phénomènes physiques, est plus directe. En France, à partir du XIXe siècle, la plupart des tentatives de définir les sciences de la vie et d’en unifier les concepts refuseront tant le vitalisme que la réduction aux lois physiques. L’invention par Claude Bernard de la notion de milieu intérieur et l’étude physiologique des régulations impliquent l’idée du vivant comme organisation : la matière vivante est matière organisée, et ce caractère impose aux processus physiques des lois propres à la vie. La tendance à considérer l’organisation comme le phénomène central du domaine biologique est une des raisons de l’actualité épistémologique de la physiologie bernardienne : la considération de l’organisme comme un tout unifié par des processus de régulation est au cœur tant des recherches Evo-Devo, qui réactivent dans un cadre post-génomique les études sur l’épigénèse, que des approches du vivant fondées sur la physique des systèmes dynamiques, qui recherchent les outils mathématiques adéquats aux propriétés liées à l’organisation.47 Les plus récents parmi ces développements ne gardent guère de traces d’un lien historique explicite avec Auguste Comte ; mais les effets directs ou indirects des problématiques qu’il a ouvert par le biais du concept – intensément surdéterminé – d’‘organisation’ restent reconnaissables chez nombre d’entreprises contemporaines dans les trois domaines de la philosophie des sciences, de la théorie sociale et de la théorie biologique. Bibliographie Althusser, Louis et al. (1965), Lire « Le Capital », Paris : Maspéro. Bachelard, Gaston (1970), Etudes, Paris : Vrin. Canguilhem, Georges (1970), Etudes d’histoire et de philosophie des sciences, Paris : Vrin. Cavazzini, Andrea & Alberto Gualandi (éds.) (2009) Logiche del vivente. Evoluzione sviluppo cognizione nell’epistemologia francese contemporanea, Macerata : Quodlibet. Cavazzini, Andrea (2006), Razionalità e storia nell’opera di Auguste Comte, in : Andrea Cavazzini & Alberto Gualandi (éds.), L’epistemologia francese e il problema del trascendentale storico, Macerata : Quodlibet, pp. 75–113.

47 Cf. Alain Prochiantz (1997), Les anatomies de la pensée, Paris : Odile Jacob, pp. 29–33. Sur les recherches biologiques contemporaines, cf. Andrea Cavazzini & Alberto Gualandi (éds.) (2009), Logiche del vivente. Evoluzione sviluppo cognizione nell’epistemologia contemporanea, Macerata : Quodlibet et Andrea Cavazzini (éd.) (2009), op. cit.

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Cavazzini, Andrea (éd.) (2009), Scienze, epistemologia, società. La lezione di Louis Althusser, Milan : Mimesis. Comte, Auguste (1822), Plan des travaux scientifiques nécessaires pour la réorganisation de la société, in : Auguste Comte (1996), Philosophie des sciences, éd. par Juliette Grange, Paris : Gallimard, pp. 227–347. Comte, Auguste (1830a), Deuxième leçon. Exposition du plan de ce cours, ou considérations générales sur la hiérarchie fondamentale des sciences positives, in : Auguste Comte (2007), Premiers cours de philosophie positive. Préliminaires généraux et philosophie mathématique, éd. par Yann Clément-Colas, Postface et notes de Jean Dhombres, Paris : PUF, pp. 76–93. Comte, Auguste (1830b), Leçon inaugurale du Cours de philosophie positive, in : Auguste Comte (2007), Premiers cours de philosophie positive. Préliminaires généraux et philosophie mathématique, éd. par Yann Clément-Colas, Postface et notes de Jean Dhombres, Paris : PUF, pp. 57–75. Comte, Auguste (1830c), Troisième leçon. Considération philosophiques sur l’ensemble de la science mathématique, in : Auguste Comte (2007), Premiers cours de philosophie positive. Préliminaires généraux et philosophie mathématique, éd. par Yann Clément-Colas, Postface et notes de Jean Dhombres, Paris : PUF, pp. 97–124. Comte, Auguste (1839), Quarante-septième leçon. Appréciation sommaire des principales tentatives philosophiques entreprises jusqu’ici pour constituer la science sociale, in : Auguste Comte (1995), Leçons de sociologie, éd. par Juliette Grange, Paris : Flammarion, pp. 37–75. Comte, Auguste (1842), Cinquante-huitième leçon. Appréciation finale de l’ensemble de la méthode positive, in : Auguste Comte (2003), Science et politique, éd. par Michel Bourdeau, Paris : Pocket, pp. 57–125. Comte, Auguste (1995), Leçons de sociologie, éd. par Juliette Grange, Paris : Flammarion. Comte, Auguste (1996), Philosophie des sciences, éd. par Juliette Grange, Paris : Gallimard. Comte, Auguste (2003), Science et politique, éd. par Michel Bourdeau, Paris : Pocket. Comte, Auguste (2007), Premiers cours de philosophie positive. Préliminaires généraux et philosophie mathématique, éd. par Yann Clément-Colas, Postface et notes de Jean Dhombres, Paris : PUF. Foucault, Michel (1963), Naissance de la clinique, Paris : PUF. Gouhier, Henri (1987), La philosophie d’Auguste Comte. Esquisses, Paris : Vrin. Littré, Emile (1873–1874), Dictionnaire de la langue française (1873–1874), t. III, p. 856. Milner, Jean-Claude (1995), Introduction à une science du langage, Paris : Seuil. Milner, Jean-Claude (2002), Le périple structurel, Paris : Seuil. Prochiantz, Alain (1997), Les anatomies de la pensée, Paris : Odile Jacob.

Das Begriffsfeld ‚Wissenschaft(en)‘ in den großen europäischen Sprachen Ein enzyklopädisches Stichwort Daniel Ulbrich Abstract The article provides a brief overview of the semantic relations between terms that refer to the body of academically produced and sanctioned knowledge in six major European languages. In particular, it will examine the dichotomy between the two spheres of knowledge that have come to be called ‘science’ and ‘humanities’ in English and the concepts used to refer to their possible unity. It will be argued that the different shapes the semantic field in question takes on in German and English with both respect to semantic criteria and principles of word formation can be conceived of as representing opposing poles of a linguistic continuum along which their French, Spanish, Italian, and Russian counterparts can be placed respectively. In fact, as a predominantly synchronic comparative analysis of present-day language will reveal, the specific design of the field still varies widely cross-linguistically, both in view of the denotative and connotative content of the expressions involved and with regard to the existence of a common generic term encompassing both spheres of knowledge and, if applicable, the degree of asymmetry induced into the field through possible overlaps in meaning between superordinate and subordinate terms. In spite of a series of conceptual realignments brought about by progressive internationalisation in the last decades, the language specific semantics of these concepts therefore continue to shape and influence the course of – and discourse on – academic knowledge production even today. Einsteinek sortu zuen erlatibitatearen teoria, inork ulertzen ez duen formula enigmatiko baten bidez adierazten dena. Euskaldunok, noski, bat egiten dugu berarekin, galdera egiten duenaren arabera aldatzen baita gure jatorria. Euskaldunok eta zientzia! Euskaldunok eta zientzia! Negu Gorriak: Euskaldunok eta zientzia.1

Eines der vielleicht handgreiflichsten Zeichen für die Relevanz sprachlicher Gegebenheiten für die Geschichte wissenschaftlicher Nationalisierungs- und Entnationalisierungsprozesse und für die Analyse unterschiedlicher nationaler oder nationalsprachlich geprägter Wissenschaftsstile dürfte wohl die Existenz von zum 1

Negu Gorriak (1993), Euskaldunok eta zientzia, auf: Negu Gorriak, Borreroak baditu milaka aurpegi, Irun: Esan Ozenki Records, Track 16: „Einstein entwickelte einst die Theorie der Relativität, / die ihren Ausdruck in einer jedermann rätselhaften und gänzlich unverständlichen Formel findet. / Und wir Basken sind mit ihm, wie könnte es anders sein, ganz einer Meinung. / Denn in Abhängigkeit von der Identität desjenigen, der uns danach fragt, verändern sich auch unsere Abstammung und der Ort unserer Herkunft. / Wir Basken und die Wissenschaft! Wir Basken und die Wissenschaft!“ (Übers.: D.U.). Jahrbuch für Europäische Wissenschaftskultur, Bd. 7 (2012), 275–320

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Teil erheblich voneinander abweichenden Wissenschaftsbegriffen in den unterschiedlichen Sprachen der Welt darstellen. Umso überraschender mutet es an, dass es nach wie vor nur sehr wenige Untersuchungen zu geben scheint, die es sich zur Aufgabe machen, sprachspezifische Entwicklungen des Wissenschaftsbegriffs oder auch nur seine aktuelle semantische Gestalt in einer Reihe von Sprachen vergleichend in den Blick zu nehmen.2 Angesichts dieser Forschungslage versteht es sich, dass der vorliegende Beitrag diese Lücke auch nicht im Ansatz füllen kann. Er beabsichtigt lediglich, dem Leser des vorliegenden Themenschwerpunkts die wichtigsten Fakten an die Hand zu geben oder ins Gedächtnis zurückzurufen und 2

So findet sich etwa im Flaggschiff der begriffsgeschichtlichen Forschung, den Geschichtlichen Grundbegriffen, bemerkenswerterweise kein eigenständiger Eintrag zum (deutschen) Wissenschaftsbegriff, ein Manko, das nur sehr bedingt durch die Existenz des Artikels Soziologie, Gesellschaftswissenschaften und die Aufnahme von Stichworten wie ‚Wissenschaft‘ oder ‚science‘ in die beiden Registerbände gehoben wird. Vgl. Eckart Pankoke (1984), (Art.) Soziologie, Gesellschaftswissenschaften, in: Otto Brunner, Werner Conze & Reinhart Koselleck (Hrsg.) (1972–1997), Geschichtliche Grundbegriffe: Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland, Stuttgart: Klett-Cotta, Bd. 5., S. 997–1082. Auch dem Archiv für Begriffsgeschichte scheint sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die Frage nach dem Wissenschaftsbegriff bislang noch kaum in dieser Form gestellt zu haben. Im Artikel Wissenschaft des Historischen Wörterbuchs der Philosophie hingegen finden sprachspezifische Überlegungen am Rande zwar durchaus Erwähnung, verschwinden jedoch weitgehend hinter der – angesichts der Zielsetzung des Werks freilich verständlichen – paradigmenorientierten Sortierung der Terminologie. Vgl. Helmut Hühn, Stephan Meier-Oeser & Helmut Pulte (2005), (Art.) Wissenschaft, in: Joachim Ritter, Karlfried Gründer & Gottfried Gabriel (Hrsg.) (1971–2007), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Bd. 12, Sp. 902–948. Die Beiträge von Alwin Diemer (1974), (Art.) Geisteswissenschaften, in: Ritter, Gründer & Gabriel (Hrsg.) (1971–2007), a.a.O., Bd. 3, Sp. 211–215; Gert König (1984), (Art.) Naturwissenschaften, in: Ritter, Gründer & Gabriel (Hrsg.) (1971–2007), a.a.O., Bd. 6, Sp. 641–650; Eckart Pankoke (1995), (Art.) Sozialwissenschaft, Gesellschaftswissenschaft, in: Ritter, Gründer & Gabriel (Hrsg.) (1971–2007), a.a.O., Bd. 9, S. 1249–1257 weisen zwar durchgängig auf zwischensprachliche Differenzen hin, gehen diesen aber nicht systematisch nach. Auch von sprachwissenschaftlicher Seite scheint bis dato wenig auf diesem Feld getan worden zu sein. So konstatiert der Sprachwissenschaftler Karol Janicki im Jahre 2006, dass „no analyses of the meaning of the word science along cognitive linguistic lines have been carried out.“ Vgl. Karol Janicki (2006), Language misconceived. Arguing for applied cognitive sociolinguistics, London: Routledge, S. 148. Daran hat sich, soweit ich sehe, auch wenn man das Beiwort ‚kognitiv‘ weglässt, bis heute kaum etwas geändert. Auch der ausgesprochen einschlägig klingende (deutsche) Titel der Monographie von Søren Kjørup (2001), Humanities. Geisteswissenschaften. Sciences humaines. Eine Einführung, übers. v. Elisabeth Bense, Stuttgart & Weimar: Metzler verspricht leider mehr, als er in dieser Hinsicht halten kann und, wie schon der Originaltitel Menneskevidenskaberne. Problemer og traditioner i humanioras videnskabsteorie zeigt, ursprünglich wohl auch gar nicht unbedingt beabsichtigt hat. Eine der ganz seltenen Arbeiten, die sich explizit für den Zuschnitt des Wissenschaftsbegriffs in unterschiedlichen europäischen Sprachen interessieren, scheint daher – selbst wenn man über den deutschen Tellerrand hinausblickt – nach wie vor der über dreißig Jahre alte Band von Alwin Diemer (Hrsg.), Der Wissenschaftsbegriff. Historische und systematische Untersuchungen. Vorträge und Diskussionen im April 1968 in Düsseldorf und im Oktober 1968 in Fulda, Meisenheim am Glan: Hain zu sein, der freilich auch nur den Charakter eines ersten Aufrisses an sich trägt.

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unter Heranziehung des am leichtesten zugänglichen Materials – also neben den wenigen nicht allzu abseitig publizierten expliziten Beiträgen zum Thema und der stichprobenartigen Überprüfung des Sprachgebrauchs im Netz insbesondere die einschlägigen aktuellen und/oder historischen Wörterbücher und Nachschlagewerke3 – und unter Beschränkung auf einige wenige zentrale Gesichtspunkte einen ersten heuristischen Überblick über die aktuelle semantische Gestalt des Wissenschaftsbegriffs in den (nach innereuropäischen Sprecherzahlen gerechnet) größten europäischen Sprachen – dem Deutschen, Englischen, Französischen, Italienischen, Russischen und Spanischen – zu geben. Zugleich versteht er sich aber durchaus auch als allgemeines Plädoyer für eine vertiefende Beschäftigung mit der Thematik. Das betrifft vor allem auch die diachrone Perspektive, die im Folgenden nur sehr punktuell zur Sprache kommen kann, und insbesondere die sprachliche Situation in der Formationsphase des modernen Wissenschaftssystems, die vielleicht wie keine andere Epoche von zwischensprachlichen Divergenzen hinsichtlich des Wissenschaftsbegriffs geprägt sein dürfte. Gleichwohl würde man fehlgehen, wenn man Differenzen zwischen den Wissenschaftsbegriffen der einzelnen europäischen Sprachen in erster Linie als ein Phänomen der Vergangenheit ansehen wollte. Vielmehr weist das Begriffsfeld Wissenschaft(en) allen Tendenzen zu einer gewissen Angleichung im Zuge der fortschreitenden Internationalisierung der vergangenen Jahrzehnte zum Trotz auch heutzutage noch zwischensprachlich erhebliche Unterschiede auf, denen im Folgenden in zwei Schritten nachgegangen werden soll. Ein erster Ausgriff ist der allgemeinen lexikalischen Definition des Wissenschaftsbegriffs gewidmet, so wie sie einem in den Wörterbüchern und Enzyklopädien der verschiedenen Sprachen entgegentritt. In einem zweiten Ausgriff rückt dann die sprachspezifische Gestalt jener Dichotomie in das Zentrum der Untersuchung, durch die sich der Wissenschaftsbegriff in die zwei großen Wissensfelder teilt, die im Deutschen zumeist mit den Ausdrücken ‚Naturwissenschaften‘ und ‚Geisteswissenschaften‘ belegt worden sind – wobei 3

Eine vollständige Liste der von mir zu Rate gezogenen Artikel und Lemmata in Enzyklopädien und einsprachigen Wörterbüchern findet sich, jeweils alphabetisch nach Einzelsprache und Siglen geordnet, im Literaturverzeichnis unter Abschnitt 1.1. Nachweise in den Fußnoten des vorliegenden Beitrags folgen dabei stets dem Muster: Wörterbuchsigle (Jahr), Artikelname, Seitenangabe. An zweisprachigen Wörterbüchern (vgl. Literaturverzeichnis, Abschnitt 1.2.), auf die ich im Folgenden für gewöhnlich nicht einzeln verweise, habe ich insbesondere konsultiert: Otto Springer (Hrsg.) (2002), Langenscheidts enzyklopädisches Wörterbuch der englischen und deutschen Sprache. Der große Muret-Sanders, 9. Aufl, 4 Bände, Berlin u.a.: Langenscheidt; Veronika Schorr u.a. (Hrsg.) (1996), Pons Großwörterbuch. Französisch – Deutsch. Deutsch – Französisch. Vollständige Neuentwicklung, 1. Aufl., Stuttgart & Dresden: Klett; Paolo Giovanelli & Walter Frenzel (Hrsg.) (1995), Langenscheidts Handwörterbuch Italienisch. Italienisch – Deutsch. Deutsch – Italienisch, 10. Aufl. 2 Bände, Berlin u.a.: Langenscheidt; Edmund Daum u.a. (Hrsg.) (2009), Handwörterbuch Russisch. Russisch – Deutsch. Deutsch – Russisch. Begründet von Edmund Daum und Werner Scheck. Völlige Neubearbeitung, 1. Aufl., Berlin u.a.: Langenscheidt; Rudolf J. Slabý & Rudolf Grossmann (Hrsg.) (1989), Wörterbuch der spanischen und deutschen Sprache. Neu bearbeitet und erweitert von José Manuel Banzo y Sáenz de Miera und Carlos Illig, 4. Aufl., 2 Bände, Wiesbaden: Brandstetter.

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diese Analysen punktuell durch Ausführungen zu der Trichotomie ergänzt werden, zu der sich das Begriffspaar entfaltet, wenn man die sogenannte „dritte Kultur“ der ‚Sozialwissenschaften‘ mitberücksichtigt.4 1. Allgemeine Definitionen von Wissenschaft Auf den ersten Blick scheint sich die allgemeine lexikalische Grunddefinition von ‚Wissenschaft‘ von sprachspezifischen Eigenheiten im Bedeutungsspektrum vergleichsweise wenig affiziert zu zeigen. Tatsächlich wird sie in den aktuellen großen Wörterbüchern der unterschiedlichen Sprachen grundsätzlich ziemlich übereinstimmend als ‚systematisch geordnetes und nach geregelten Verfahren produziertes Korpus von Kenntnissen‘ angegeben – eine Bestimmung, die im Übrigen relativ durchgängig um die Mitte des 19. Jahrhunderts in die einzelsprachliche Lexikographie Einzug gehalten zu haben scheint. Einmal abgesehen davon, dass die Präsenz und Relevanz einer solchen Begriffserklärung für das wissenschaftliche Alltagsbewusstsein vielleicht ohnehin nicht allzu sehr überbewertet werden sollte, gibt allerdings schon ein knapper Überblick über die entsprechenden Einträge in den großen lexikographischen Werken der einzelnen Sprachen eine Reihe von Indizien für die Vermutung an die Hand, dass sich unter der scheinbar homogenen Oberfläche ähnlich lautender Grundbestimmungen sehr wohl auch von Sprache zu Sprache variierende Nebenvorstellungen verbergen. Besonders deutlich wird dies, wenn man die Darlegungen in deutschen und englischen Nachschlagewerken miteinander vergleicht. So definiert etwa Wahrigs deutsches Wörterbuch ‚Wissenschaft‘ im Jahre 2007 bündig als „geordnetes, folgerichtig aufgebautes, zusammenhängendes Gebiet von Kenntnissen.“5 Auf der gleichen Linie liegen die entsprechenden Einträge in den Publikationen der zwei (inzwischen fusionierten) großen deutschen enzyklopädischen Unternehmungen. Obgleich deutlich ausführlicher bleibt der zentrale definitorische Kern doch erhalten und wird in erster Linie bloß um Verweise auf den Prozess der Wissensproduktion und die institutionelle Verankerung als ebenfalls gebräuchlichen Bedeutungsaspekten erweitert. So erklärt Meyers Taschenlexikon von 1992 – das hier herangezogen sei, weil die letzte Auflage von Meyers enzyklopädischem Lexikon interessanterweise auf eine knappe und handhabbare Definition zugunsten eines fast schon essayistisch zu nennenden Einstiegs in das Themenfeld verzichtet6 – den Ausdruck ‚Wissenschaft‘ etwa wie folgt: 4 5 6

Vgl. für diesen Ausdruck Wolf Lepenies (1985), Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, München u.a.: Hanser. WDW (2007), Wissenschaft, S. 1403. MEL (1979), Wissenschaft, S. 343. Die zwei Formulierungen, die einer Definition im klassischen Sinne noch am nächsten kommen, lauten einerseits: „Lebens- und Weltorientierung, die auf eine spezielle (meist berufsmäßig ausgeübte) Begründungspraxis aufgebaut ist“ und andererseits (fast schon, wenn auch vielleicht kalkuliert, tautologisch): „Tätigkeit die das wissenschaftl[iche] Wissen hervorbringt.“ Dazu passt, dass man „Sir Karl Popper“ einen ab der gegenüberliegenden Seite eingeschalteten „Sonderbeitrag“ zum Thema „Die moralische Verantwortlichkeit des Wissenschaftlers“ beisteuern lässt.

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Inbegriff des durch Forschung, Lehre und überlieferte Literatur gebildeten, geordneten und begründeten, für sicher erachteten Wissens einer Zeit; auch die für seinen Erwerb typ[ische] methodisch-systemat[ische] Forschungs- und Erkenntnisarbeit, sowie ihr organisatorisch-institutioneller Rahmen.7

Und die letzte gedruckte Auflage des Großen Brockhaus aus dem Jahre 2006 wiederum bestimmt im entsprechenden Beitrag (der sich im Übrigen weitgehend unverändert auch in der aktuellen Online-Ausgabe des Werks wiederfindet) ‚Wissenschaft‘ als das jeweils historisch, sozial oder sonst wie kollektiv bezogene System menschl[ichen] Wissens, das nach je spezif[ischen] Kriterien erhoben, gesammelt, aufbewahrt, gelehrt und tradiert wird; eine Gesamtheit von Erkenntnissen, die sich auf einen Gegenstandsbereich beziehen, nach bestimmten Regeln erworben und nach bestimmten Mustern, g[egebenenfalls] institutionell organisiert bzw. geordnet werden und in einem intersubjektiv nachvollziehbaren Begründungszusammenhang stehen.8

Unverkennbar ist man in allen drei deutschen Wörterbüchern um eine möglichst allgemeine und weitgefasste Begriffsbestimmung von ‚Wissenschaften‘ bemüht, die soweit wie möglich kein untergeordnetes Wissensgebiet oder einen bestimmten methodischen Zugriff von vorneherein ausschließt und deshalb – insbesondere im Falle des Brockhaus – beinahe schon als (kultur-)relativistisch zu bezeichnende Untertöne annimmt.9 Umso deutlicher fallen die Unterschiede in der Akzentuierung aus, von denen sich – allen Übereinstimmungen im eigentlichen Nukleus der Definition, der sich auch hier problemlos auf die Formel ‚systematisch geordnetes und nach geregelten Verfahren produziertes Korpus von Kenntnissen‘ bringen lässt, zum Trotz – die entsprechenden Lemmata in englischsprachlichen Wörterbüchern geprägt sehen. Das lässt sich bereits an der Fixierung auf ‚law‘, ‚truth‘ und ‚generality‘ ablesen, von der (selbst noch) die am allgemeinsten gefasste definitorische Phrase im Eintrag Science von Merriam-Webster’s Collegiate Dictionary, einem insbesondere in den Vereinigten Staaten sehr verbreiteten und im Umfang etwa mit dem Wahrig vergleichbaren Werk, gezeichnet ist: „Science“, heißt es dort nämlich, sei zu bestimmen als „knowledge or a system of knowledge covering general truths or the operation of general laws esp[ecially] as obtained and tested

7 8 9

MGT (1992), Wissenschaft, S. 143. BE (2006), Wissenschaft, S. 202. Für eine Geschichte des deutschen Wissenschaftsbegriffs im engeren Sinne siehe insgesamt Waltraud Bumann (1970), Der Begriff der Wissenschaft im deutschen Sprach- und Denkraum, in: Diemer (Hrsg.) (1970), a.a.O., S. 64–75, die allerdings einen vorwiegend etymologischen Ansatz verfolgt und entsprechend weit in der deutschen Sprachgeschichte zurückgeht, sowie Hühn, Meier-Oeser & Pulte (2005), a.a.O., Sp. 902–948. Vgl. auch im vorliegenden Band den Beitrag von Annette Meyer (2012), Zwei Sprachen – zwei Kulturen? Englische und deutsche Begriffe von Wissenschaft im 18. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Europäische Wissenschaftskultur, 7, S. 107–137.

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through scientific method.“10 Noch deutlicher wird diese Tendenz, wenn man das traditionell eher am Sprachgebrauch im Vereinigten Königreich orientierte, vor allem aber sehr viel umfänglichere Oxford English Dictionary konsultiert. Dieses nämlich bestimmt als den „dominant sense in ordinary use“ von science in der Gegenwartssprache unmissverständlich „those branches of study that relate to the phenomena of the material universe and their laws“ und bringt damit einen allgemeineren Begriffsgebrauch im Grunde schon im Vorhinein implizit in die Nähe von Archaismus, Solözismus oder Tropus.11 Deshalb kann es auch nicht überraschen, wenn selbst noch der Versuch einer weniger engen Definition nach wie vor deutliche Spuren einer strengeren und (angesichts der Betonung von Faktizität, Veridizität, Demonstrabilität und Nomothetizität) eindeutig eher von mathematisch-naturwissenschaftlich inspirierten Vorgaben geprägten Wissenschaftsauffassung an sich trägt: A branch of study which is concerned either with a connected body of demonstrated truths or with observed facts systematically classified and more or less colligated by being brought under general laws, and which includes trustworthy methods for the discovery of new truth within its own domain.12

In der Summe repräsentieren das Deutsche und das Englische damit gewissermaßen bereits aufgrund der unterschiedlichen Akzentuierungen, mit denen sie einen grundsätzlich geteilten allgemeinen Definitionsraum beschweren, zwei gegensätzliche Paradigmen oder Extreme, in deren Zwischenraum sich dann die vier übrigen Sprachen mit ihren entsprechenden Begriffsbestimmungen in unterschiedlichen Distanzen ansiedeln. Hier gilt: Keine dieser Sprachen tendiert zu einer so extremen Ausrichtung seines allgemeinen Wissenschaftsbegriffs am mathematisch-naturwissenschaftlichen Paradigma wie das Englische. Es gilt zugleich aber auch: Keine weist eine derartig um eine vollständige Inklusion aller denkbaren Wissensformen und Wissensgebiete bemühte und daher zuweilen fast schon relativistisch anmutende Definitionskultur wie das Deutsche auf. Das hat freilich zur Folge, dass die entsprechenden Belege aus diesen Sprachen zum Teil eine doppelte Lesart zulassen oder aber dass zwei gleichermaßen kanonische Wörterbücher einer Sprache jeweils unterschiedliche definitorische Präferenzen erkennen lassen, die einen Ausschlag in die eine oder andere Richtung geben. Gleichwohl bemühen sie

10 MWCD (2003), Science, S. 1112. 11 OED (1989), Science, S. 649. Für die Genese dieses gegenwärtig dominierenden Gebrauchs des englischen Wissenschaftsbegriffs ist als Überblicksdarstellung nach wie vor Wilhelm Risse (1970), Der Wissenschaftsbegriff in England im 17. und 18. Jahrhundert, in: Diemer (Hrsg.) (1970), a.a.O., S. 90–98 heranzuziehen. Vgl. daneben vor allem auch den Beitrag von Annette Meyer (2012), a.a.O., S. 107–137 im vorliegenden Band. Einige wertvolle Hinweise enthält auch der Artikel von John Henry (1992), The Scientific Revolution in England, in: Roy Porter & Mikuláš Teich (Hrsg.), The Scientific Revolution in National Context, Cambridge: Cambridge University Press, S. 178–209. 12 OED (2011), Science, S. 649.

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bei der Bedeutungsfestsetzung stets zumindest ein Element aus der Begriffsreihe ‚Gesetzmäßigkeit‘, ‚Objektivität‘ oder ‚Wahrheit‘ – also eben den Konzepten, deren Präsenz oder Fehlen gleichsam an der Wurzel der Komplementaritätsbeziehung zwischen dem Englischen und dem Deutschen steckt, weil sie in den englischen Belegen geradezu in Häufung anzufallen scheinen, während die deutschen Zitate offenbar gänzlich ohne sie auszukommen suchen. Am eindeutigsten stellt sich vor diesem Hintergrund noch die Situation im Russischen dar, das mit seinen allgemeinen Begriffsbestimmungen zugleich auch der vollintegrativen Definitionskultur des Deutschen am nächsten zu kommen scheint. So bestimmt etwa das im Kern auf dem Großen Akademischen Wörterbuch der modernen Literatursprache (Большой академический словарь современного русского литературного языка) basierende, aber nach wie vor regelmäßig aktualisierte vierbändige Kleine Akademische Wörterbuch der russischen Sprache (Малый академический словарь русского языка) den Ausdruck наука (nauka) ‚Wissenschaft‘ als „[c]истема знаний, вскрывающая закономерности в развитии природы и общества и способы воздействия на окружающий мир“, d.h. als ‚Wissenssystem, das die Gesetzmäßigkeiten in der Entwicklung der Natur und der Gesellschaft und die Möglichkeiten zur Einwirkung/Einflussnahme auf die Umwelt/Mitwelt aufdeckt‘13 und liefert damit – sieht man einmal von der Nennung der закономерность (sakonomernost) ‚Gesetzmäßigkeit, Regularität‘ und der Hervorhebung der Möglichkeit zur Veränderung der menschlichen und natürlichen Umwelt ab, die sich vermutlich aus dem Vorstellungskomplex eines wissenschaftlichen Marxismus-Leninismus herschreibt – eine ähnlich weite Begriffsbestimmung wie die deutschen Nachschlagewerke. Deutlich komplizierter stellt sich die Lage im Französischen und Spanischen dar, für die sich jeweils eine Art Arbeitsteilung zwischen den großen kanonischen Diktionarien feststellen lässt, die dazu führt, dass einmal eine etwas engere und einmal eine etwas weitere Definition jeweils die Oberhand gewinnt. Einerseits zeugen etwa die zwei einschlägigen lexikographischen Großunternehmungen des Französischen zwar von dem gemeinschaftlichen Bemühen um eine relativ allgemeine und einigermaßen disziplinenunabhängige Definition, die denn auch in der Tat – auch wenn in beiden immerhin schon jeweils zwei der oben genannten drei Elemente (‚Gesetzmäßigkeit‘, ‚Objektivität‘, ‚Wahrheit‘) eine gewisse Rolle spielen – im Vergleich mit dem Englischen recht unbiased ausfällt. Andererseits jedoch lassen sich eindeutig unterschiedliche Nuancierungen ausmachen. Während nämlich der Trésor de la langue française den Ausdruck science als „[e]nsemble structuré de connaissances qui se rapportent à des faits obéissant à des lois objectives (ou considérés comme tels) et dont la mise au point exige systématisation et méthode“14 bestimmt, und somit das definitorische Merkmal der

13 MAS (1999), Nauka, S. 409. 14 TLF (1991), Science, S. 180.

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‚objektiven Gesetzmäßigkeit‘ unverkennbar in Parenthese setzt und lediglich als Kann-Vorschrift ausweist, mag der Grand Robert zumindest in seiner am stärksten am aktuellen Sprachgebrauch orientierten Definition offenkundig nicht auf ‚objektive und wahrheitsfähige Beziehungen‘ verzichten und bekennt sich ohne Umschweife zu der strengeren und vorgabenreicheren Bestimmung als „[e]nsemble de connaissances, d’études d’une valeur universelle, caractérisées par un objet et une méthode déterminées, et fondées sur des relations objectives vérifiables.“15 Ähnlich liegen die Dinge im Spanischen: Auch hier verteilen sich – wiederum arrangiert um einen gemeinsamen definitorischen Nukleus vom Typus ‚Gefüge oder Gesamtheit von (Er-)Kenntnissen‘ – eine etwas engere, eher am naturwissenschaftlichen Paradigma orientierte und eine etwas breiter angelegte, auch die Geisteswissenschaften (und zwar bemerkenswerterweise sogar unter Aufruf der semantischen Komponente ‚Geist‘) explizit einbeziehende Begriffsbestimmung auf die beiden einflussreichsten lexikographischen Unternehmungen der Sprache, wobei die tatsächliche Zuordnung der jeweiligen Präferenzen durchaus nicht der Ironie entbehrt. Denn es ist gerade das traditionsreiche und nach wie vor von einem gewissermaßen humanistischen Nimbus zehrende Diccionario de la Real Academia Española, das in seiner Definition von ‚ciencia‘ als „[c]onjunto de conocimientos obtenidos mediante la observación y el razonamiento, sistemáticamente estructurados y de los que se deducen principios y leyes generales“16 durch den Einsatz von lexikalischen Elementen wie ‚Beobachtung‘, ‚Schluss‘, ‚deduzieren‘, ‚Prinzip‘ und ‚allgemeines Gesetz‘ eine stärkere Orientierung an experimentell-nomothetischen Disziplinen vermuten lässt. Und umgekehrt ist es gerade das nicht zuletzt vom Strukturalismus geprägte und insofern von einem eher szientifi(sti)schen Selbstverständnis getragene Diccionario del uso del español, das hingegen mit seiner entsprechenden Begriffsbestimmung „[c]onjunto de los conocimientos poseídos por la humanidad acerca del mundo físico y del espiritual, de sus leyes y de su aplicación a la actividad humana para el mejoramiento de la vida“17 unverkennbare Sympathien auch für das nicht-naturwissenschaftliche Wissen erkennen lässt und es in einer Mischung aus (möglicherweise orteguianisch inspirierten) lebensphilosophischen Konzepten und allgemeineren Perfektibilitätsvorstellungen – die ihren Niederschlag in der Massierung von Ausdrücken wie ‚geistige Welt‘, ‚Menschheit‘, ‚menschliches Tätigsein‘ und ‚Verbes-

15 GRLF (2001), Science, S. 255. Für eine Geschichte des französischen Wissenschaftsbegriffs ist nach wie vor unverzichtbar Ulrich Ricken (1961), ‚Gelehrter‘ und ‚Wissenschaft‘ im Französischen. Beiträge zu ihrer Bezeichnungsgeschichte vom 12. bis 17. Jahrhundert, Berlin: Akademie-Verlag. Siehe daneben auch den knapperen Beitrag von Lutz Geldsetzer (1970), ‚Science‘ im französischen Sprach- und Denkraum, in: Diemer (Hrsg.) (1970), a.a.O., S. 76–89. 16 DRAE (2001), Ciencia, S. 372. 17 DUE (1992), Ciencia, S. 625.

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serung des Lebens‘ (hinter der die Referenz auf die ‚physische Welt‘ und deren ‚Gesetze‘ beinahe zu verschwinden droht) und der Hervorhebung des bloßen Dienstbarkeitscharakters der Wissenschaften finden – mit den Naturwissenschaften zu einem harmonischen Ganzen zu amalgamieren versucht.18 Einen nicht ganz unproblematischen Fall stellt schließlich die Situation im Italienischen dar. Jedenfalls lässt – wie dies übrigens ansatzweise auch schon bei den Lemmata in den spanischen Diktionarien der Fall war – der entsprechende Eintrag in Salvatore Battaglias Grande dizionario della lingua italiana, durch den scienza als „[i]nsieme di conoscenze rigorosamente controllate e sistematicamente ordinate che consente di giungere a verità obiettive intorno a un determinato ordine di fenomeni o di concetti“ bestimmt wird, einiges an Interpretationsspielraum zu, der es schwer macht, eine klare Richtung auszumachen.19 Zwar scheint angesichts der Präsenz von definitorischen Versatzstücken wie ‚streng kontrollierte (Er-)Kenntnisse‘ und ‚objektive Wahrheit‘ zunächst alles für einen engeren und eher am mathematisch-naturwissenschaftlichen Paradigma orientierten Zuschnitt des Wissenschaftsbegriffs zu sprechen. Doch diese Eindeutigkeit büßt zumindest ein wenig an Plausibilität ein, wenn man den zweiten Teil des Satzes genauer unter die Lupe nimmt, in dem von der Möglichkeit die Rede ist ‚hinsichtlich einer bestimmten Abteilung von Phänomenen oder Konzepten zu objektiven Wahrheiten zu gelangen‘, weil er eine prosaische Interpretation der Vorstellung der Annäherung an die Wahrheit im Sinne eines Popperschen Falsifikationismus ebenso zulässt wie eine eher romantische Idee von unendlicher Annäherung und weil er sich auch so lesen lässt, dass die realen ‚Phänomene‘ schließlich zugunsten der epistemolo-

18 Eine einschlägige Überblicksdarstellung zur Geschichte des spanischen Wissenschaftsbegriffs existiert, soweit ich sehen kann, bislang nicht. Eine Reihe von anregenden Hinweisen bietet jedoch die Studie von Ramón Trujillo Carreño (1970), El campo semántico de la valoración intelectual en español, La Laguna: Universidad de La Laguna, auch wenn sie sich in erster Linie mit Adjektiven zur Bezeichnung des intellektuellen Vermögens oder Habitus (wie sabio, erudito oder científico) und nicht so sehr mit den entsprechenden Substantiven (wie saber/sabiduría, erudición oder ciencia) und der zugehörigen Frage befasst, welche von diesen sich über die bloße Benennung eines individuellen Habitus jeweils auch zur Bezeichnung eines institutionellen Komplexes oder Gegenstandsbereichs eignen. Instruktiv ist die Monographie Trujillos aber gleichwohl nicht zuletzt deshalb, weil sie besser verstehen hilft, wie die sukzessive Herauslösung von Ausdrücken zur Bezeichnung erkenntnistheoretischer Vermögen im engeren Sinne aus dem Feld von Bezeichnungen, die zugleich auch soziale Fähigkeiten – wie sie der frühneuzeitliche Diskurs der Privatklugheit propagiert und ein Baltasar Gracián (für die agudeza und prudencia oder den discreto und den político) in den Rang von Buchtiteln erhoben hat – implizieren, von Statten gegangen ist. Einige verstreute Winke, nicht zuletzt auch zu der im 18. Jahrhundert anhebenden Polémica sobre la ciencia española, gibt darüber hinaus auch Josep Lluís Barona Vilar (1994), Ciencia e historia. Debates y tendencias en la historiografía de la ciencia, Godella: Seminari d’Estudis sobre la Ciencia, bes. S. 11–20 und S. 109ff. 19 GDLI (1996), Scienza, S. 32.

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gisch zweideutigen ‚Konzepte‘ – die als concetti zudem auch noch einen Schweif von renaissance-humanistischen Assoziationen hinter sich herschleppen – zurückgenommen oder relativiert werden.20 2. Die Dichotomie Naturwissenschaften vs. Geisteswissenschaften Tatsächlich zeigt sich also selbst schon bei diesen allgemeinen lexikalischen Grundbestimmungen trotz eines übersprachlich stets übereinstimmenden Definitionskerns eine gewisse Variabilität, die sicher nicht ganz zufällig ist. Sehr viel deutlicher noch zeigt sich das, wenn man das semantische Netz von Kontiguitäts- und Subordinationsbeziehungen zwischen den Ausdrücken zur Bezeichnung der großen Felder des Wissens bzw. zwischen den Benennungen dieser Felder und den Begriffen zur Bezeichnung ihrer möglichen Einheit in den einzelnen Sprachen und die Art und das Ausmaß in den Blick nimmt, in denen die in diesen Ausdrücken aufgerufenen denotativen oder konnotativen Bedeutungskomponenten gleichsam an die Oberfläche der Sprache treten und sich manifest in spezifischen Mustern der Wortbildung abbilden. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang weniger das Verhältnis zu bestimmten Einteilungen auf der Ebene formaler Organisation, als deren zuweilen ziemlich träger Reflex sich diese Beziehungen der Nachbarschaft und Unterordnung zwar erweisen können und auf die sie zweifelsohne auch wieder zurückwirken, zu denen sie aber andererseits auch nicht selten ziemlich quer stehen dürften, sondern eher die Frage, wie solche Begriffsnetze die Wahrnehmung und das Verständnis dieser großen Wissensfelder in und außerhalb des institutionalisierten Wissenschaftsbetriebs vorstrukturieren, wie sie die Mechanismen der Selbst- und Fremdzuordnungen einzelner kleinerer Wissenssegmente zu diesen großen Feldern bis hin zu Initiativen zur offiziellen oder offiziösen Neuzuordnung oder Neuetikettierung des eigenen Sektors – wenn nicht gar des gesamten übergeordneten Feldes – prägen, wie sie – indem sie grundlegende Inkompatibilitäten oder Über-

20 Auch zur Geschichte des italienischen Wissenschaftsbegriffs habe ich bislang keine einschlägige synoptische Darstellung nachweisen können. Verstreute Hinweise (insbesondere für die Entwicklungen auf Seiten der ‚Naturwissenschaften‘ in der Frühen Neuzeit) finden sich immer wieder in dem monumentalen und immer noch lesenswerten Werk von Leonardo Olschki (1919–1927), Geschichte der neusprachlichen wissenschaftlichen Literatur, 3 Bände, Leipzig u.a.: Winter u.a. Hilfreich ist daneben (für die eher ‚geisteswissenschaftliche‘ Seite) der Artikel von August Buck (1973), Der Wissenschaftsbegriff des Renaissance-Humanismus, in: Wolfenbütteler Beiträge, 2, S. 45 –63. Im Übrigen wird man sich zur weiteren Aufarbeitung vermutlich zunächst im Wesentlichen an die Fachliteratur zu einzelnen Autoren, etwa (um nur drei Namen zu nennen) Giacomo Zabarella, Galileo Galilei oder Giambattista Vico, wenden müssen.

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brückbarkeiten zwischen verschiedenen Segmenten nahelegen – bei der Bestimmung dessen, was Gegenstand und Vorgehensweise innerhalb der jeweiligen Felder sein oder werden kann, zumindest untergründig mitwirken und somit nicht zuletzt auch – sei es verhindernd, beschränkend, transponierend oder aber erweiternd und befruchtend – in zwischensprachliche Rezeptionsprozesse eingreifen und Eingang finden können. In der Tat offenbart bereits ein relativ oberflächlicher Blick auf die Art und Weise, wie sich die zentrale Dichotomie zwischen Naturwissenschaften und Nicht-Naturwissenschaften (also zwischen dem, was im Deutschen traditionell als Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften bezeichnet worden ist) und ihr Verhältnis zu möglichen Begriffen zur Bezeichnung der Einheit ihrer Differenz über weite Strecken des 20. Jahrhunderts und vielfach noch bis ins 21. Jahrhundert hinein in den sechs fraglichen Sprachen gestaltet hat, eine Reihe von signifikanten Unterschieden, die sowohl für Analysen von Konsensen oder Auseinandersetzungen innerhalb als auch zwischen einzelnen nationalen oder durch bestimmte Einzelsprachen geprägten Wissenschaftskontexten aufschlussreich sein könnten. Noch interessanter – zugleich aber auch deutlich komplexer, weshalb hierauf im Folgenden nur sehr punktuell bzw. summarisch eingegangen werden kann – wird es, wenn man zugleich auch noch die Konsequenzen jenes Prozesses berücksichtigt, durch den diese im Kern noch auf die Zeit um 1800 zurückgehende Ausgangsdichotomie sukzessive durch die Einführung eines dritten Elements – dem im Deutschen für gewöhnlich der Begriff der Gesellschaftsoder Sozialwissenschaften korrespondiert – aufgebrochen und zur Trichotomie erweitert wird, deren jeweiliger Zuschnitt länder- und sprachenspezifisch gleichfalls sehr stark variieren kann und im Einzelnen gehörige Unterschiede in der Schärfe der Grenzziehung, der Breite wechselseitiger Überlappung, der Betontheit hierarchischer Beziehungen und folglich – in der Terminologie der strukturalistischen Semantik gesprochen – in den Modalitäten der kontextbedingten Neutralisierbarkeit gegensätzlicher semantischer Merkmale dieser drei Terme nach sich zieht. Insbesondere auf die zentrale begriffliche Dichotomie und die Einheit ihrer Differenz bezogen repräsentieren die Begriffsfelder im Deutschen und Englischen dabei sowohl mit Blick auf das Wortbildungsmuster im Ganzen als auch hinsichtlich der Frage nach dem sprachlich manifesten Ausdruck von semantischem Zusammenhang zwischen den einzelnen Gliedern des Feldes wiederum gewissermaßen zwei Extreme oder Pole, zwischen denen sich die entsprechenden Begriffskonstellationen im Französischen, Spanischen, Italienischen und Russischen gleichsam wie auf einem Kontinuum ansiedeln. 2.1. Deutsch und Englisch So verfügt das Deutsche mit dem Lexem Wissenschaften ohne Zweifel über einen umfassenden Oberbegriff, das die beiden Determinativkomposita Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften als gemeinsame Unterbegriffe unter sich begreift, die durch das rekurrente Element ‚Wissenschaften‘ wortbildungsmäßig in

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einer symmetrischen Opposition zueinander stehen und zugleich ihre gemeinschaftliche subordinative Beziehung zum Oberbegriff sprachlich overt bezeichnen.21 Zumindest was den allgemeinen Sprachgebrauch betrifft, hat sich diese Grundkonstellation im Übrigen auch nicht entscheidend dadurch verändert, dass der Begriff der Geisteswissenschaften in den vergangenen dreißig oder vierzig Jahren zunehmend unter Beschuss geraten und in wiederkehrenden Wellenbewegungen diversen Austreibungsversuchen – am prominentesten durch Friedrich A. Kittler – oder Umetikettierungsinitiativen – am nachhaltigsten durch die Begriffe Kulturwissenschaften und Humanwissenschaften – unterworfen worden ist. Im

21 Entsprechend bestimmt der Wahrig auch noch im Jahre 2007 Naturwissenschaft knapp als „Wissenschaft von der Natur, ihren Vorgängen u[nd] Erscheinungen u[nd] deren gesetzmäßigen Zusammenhängen; G[egensatz] Geisteswissenschaft“ (WDW (2007), Naturwissenschaft, S. 912), Geisteswissenschaft hingegen als „jede Wissenschaft, die sich mit einem Gebiet der Kultur befasst, z.B. Geisteswissenschaft; G[egensatz] Naturwissenschaft“ (WDW (2007), Geisteswissenschaft, S. 531). Dabei wird der durch den Wechselverweis erweckte Anschein perfekter Symmetrie bei genauerem Hinsehen freilich nicht unerheblich dadurch getrübt, dass man – statt beide Komposita streng analog unter Rückgriff auf die Bedeutung ihrer determinativen Komponenten zu explizieren – bei den Geisteswissenschaften zugunsten des offenbar als unbelasteter empfundenen ‚Kultur‘ lieber auf die Aufnahme des Ausdrucks Geist in das Definiens verzichtet hat. In Meyers Taschenlexikon von 1992 und der BrockhausEnzyklopädie aus dem Jahre 2006, die im Übrigen in einem Verhältnis engster textueller Abhängigkeit zueinander stehen, fällt die Kennzeichnung der beiden Terme als wechselseitige Antonyme hingegen von vorneherein nicht so symmetrisch aus. Zwar bemühen die beiden Nachschlagewerke in den entsprechenden Artikeln jeweils die – als Zitate ausgezeichneten, ihrer Herkunft nach aber nicht näher bestimmten – Ausdrücke ‚Verstehen‘ bzw. ‚Erklären‘ als mögliche Definienten, machen aber an keiner Stelle auf ihren gegenbegrifflichen Stellenwert aufmerksam und beschränken darüber hinaus die Okkurrenz von Querverweisen auf denkbare Antonyme ausschließlich auf das Lemma Geisteswissenschaften – ganz so, als ob die Definition von Naturwissenschaften durch die Nennung eines korrespondierenden Gegenbegriffs ohnedies nicht viel zu gewinnen hätte. Daneben fällt auf, dass die Darstellung der Naturwissenschaften in den knapp anderthalb Jahrzehnten zwischen 1992 und 2006 in der Sache so gut wie überhaupt keine Veränderung erfahren hat. Von einigen minimalen Umformulierungen und wenigen – dem größeren Umfang geschuldeten – Ergänzungen abgesehen übernimmt der große Brockhaus den Text des kleinen Meyer beinahe unbesehen. So lautet der erste Satz in beiden Enzyklopädien vollkommen textidentisch „Oberbegriff für die einzelnen empir[ischen] Wiss[enschaften], die sich mit der systemat[ischen] Erforschung der Natur (bzw. eines Teils von ihr) und dem Erkennen von Naturgesetzen befassen“ (MGT (1992), Naturwissenschaft, S. 183; BE (2006), Naturwissenschaft, S. 412), und auch die folgenden Ausführungen zur Unterscheidung von exakten und biologischen Naturwissenschaften und den allgemeinen Nutzen der angewandten Wissenschaften für den Menschen unterscheiden sich lediglich in unerheblichen Formulierungsdetails. Anders stellt sich die Sache bei den Einträgen zu den Geisteswissenschaften dar. Zwar ist auch hier unverkennbar, dass der große Brockhaus den kleinen Meyer als Textvorlage benutzt, im Gegensatz zu den Naturwissenschafts-Definitionen jedoch fallen hier auch kleinere Veränderungen bereits ins Gewicht. Während der Taschenmeyer den Ausdruck nämlich als „seit etwa Mitte des 19. Jh. in der Sprache der Philosophie

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Englischen hingegen existiert weder ein geläufiger Ausdruck, der als Hyperonym sowohl das Lexem sciences – durch den (beinahe exklusiv) diejenigen Wissensfelder bezeichnet werden, die sich mit den Fakten und Gesetzmäßigkeiten der Natur befassen – als auch das Lexem humanities – durch das (gleichfalls weitgehend exklusiv) diejenigen Wissensfelder bezeichnet werden, die sich mit den menschengemachten (Arte-)Fakten und (bedingt) mit den Gesetzmäßigkeiten von menschlichen Akten befassen – unter sich fassen könnte, noch weisen diese beiden Lexeme Elemente auf, die ihre semantische Zusammengehörigkeit in Form von rekurrenten Mitteln der Wortbildung erkennen lassen würde. Oder um es in der Begrifflichkeit der strukturalistischen Semantik zu formulieren: Während im Deutschen die zwei in Opposition stehenden Sememe bzw. Lexeme Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften ein gemeinsames Archisemem aufweisen, das zugleich auch sprachlichen Ausdruck in einem gemeinschaftlichen Archilexem findet, das selbst wiederum symmetrisch als Element der Wortbildung in die beiden Lexeme eingeht, verfügt das Englische zwar über zwei Sememe bzw. Lexeme sciences und humanities, die in Opposition zueinander stehen, und somit möglicherweise über ein gemeinschaftliches Archisemem als mentales Konzept ihrer Einheit, nicht jedoch über ein eingeführtes Archilexem zum sprachlichen Aus-

und einzelner Fachwissenschaften in Konkurrenz zu anderen Begriffen […] verwendete[n] wissenschaftstheoret[ischen] Begriff zur Bez[eichnung] einer method[isch] und systemat[isch] zusammengehörigen Klasse von Wissenschaften, die nach Gegenstandsbereich und Methodik durch ihren G[egensatz] zu den Naturwissenschaften bestimmt sind“ definiert (MGT (1992), Geisteswissenschaften, S. 56), ergänzt der Brockhaus nicht nur (dem zunehmenden Interesse für Institutionalisierungsprozesse entsprechend), dass diese Disziplinen sich überhaupt erst „im Laufe des 19.Jahrhunderts akademisch etabliert haben“, sondern sucht – seiner historisch-relativistischen Tendenz im Artikel Wissenschaft analog – die Dichotomie gleichsam zu einem (halb-)vergangenen Phänomen zu machen, indem er präteritisch davon spricht, dass die Geisteswissenschaften (gewissermaßen ‚bislang‘) durch „ihren Gegensatz zu den Naturwissen[schaft]en bestimmt wurden“ (BE (2006), Geisteswissenschaften, S. 357f.). Und wo der Taschenmeyer formuliert: „[d]ie G[eisteswissenschaften] werden verstanden als histor[isch]-philolog[ische] bzw. als hermeneut[ische] Wissenschaften, die die Welt des menschl[ischen] Geistes in ihren Ausprägungen Sprache, Technik, Kunst, Literatur, Philosophie, Religion, Recht und Moral u.a. ohne Normen und Wertskalen ‚verstehen‘ und ‚auslegen‘ (interpretieren) wollen“ (MGT (1992), Geisteswissenschaften, S. 56), da schreibt der Brockhaus wiederum präteritisch: „Die Geisteswissenschaften wurden so als historisch-philolog[ische] beziehungsweise hermeneut[ische] Wissenschaften aufgefasst, die die Welt des Geistes in seinen geschichtl[ichen] Ausprägungen (Sprache, Kunst, Literatur, Philosophie, Religion, Recht, Moral u.a.) verstehen und interpretieren“ (BE (2006), Geisteswissenschaften, S. 358). Als ersten Überblick über die Ursprünge der Opposition Geisteswissenschaften/ Naturwissenschaften im deutschsprachigen Raum vgl. im Übrigen Ulrich Dierse (2003), Das Begriffspaar ‚Naturwissenschaften‘ – ‚Geisteswissenschaften‘ bis zu Dilthey, in: Gudrun Kühne-Bertram, Hans-Ulrich Lessing & Volker Steenblock (Hrsg.), Kultur verstehen. Zur Geschichte und Theorie der Geisteswissenschaften, Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 15–34.

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druck dieser Einheit.22 Dieser Gegensatz zwischen dem deutschen und dem englischen Begriffsfeld bedeutet nun natürlich keineswegs, dass im Englischen überhaupt kein Zusammenhang zwischen den beiden Ausdrücken sciences und humantities (oder dem gleichfalls recht verbreiteten Ausdruck human studies) bestünde – der vielmehr schon dadurch gegeben ist, dass sie als Glieder ein und derselben semantischen Opposition fungieren – oder es gar gänzlich undenkbar wäre, die Einheit ihrer Differenz zu denken. Und es bedeutet noch weniger, dass die Einheit und Zusammengehörigkeit von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften als zwei gleichrangigen Ausprägungen von Wissenschaften im Deutschen nun ein für alle Mal festgesetzt wäre und unbestreitbar bliebe – so wenig, dass diese Einheit und Zusammengehörigkeit vielleicht im Gegenteil viel eher der Gefahr ausgesetzt ist, immer wieder Gegenstand von Auseinandersetzungen zu werden. Es bedeutet nur, dass diese Einheit in der Struktur des deutschen Begriffsfeldes und des deutschen Wortbildungsmusters stets schon behauptet ist und insofern intrinsisch nach Bestätigung und Präzisierung verlangt, während ihre Existenz und ihr Wesen im Englischen allenfalls als prinzipielle Möglichkeit unterstellt ist und somit im Wortsinne der Nichtnotwendigkeit kontingent und gleichsam ein Adiaphoron bleibt. 22 Als Beleg dafür, dass der Ausdruck science im modernen Englisch in erster Linie als „synonymous with ‚Natural and Physical Science‘“ zu gelten hat, vgl. erneut OED (1989), Science, S. 649 und MWCD (2003), Science, S. 1112. Am bündigsten artikuliert den Gegensatz zwischen sciences und humanities der Eintrag humanity im Webster, der die Pluralform dieses Ausdrucks als „the branches of learning (as philosophy, arts, or languages) that investigate human constructs and concerns as opposed to natural processes (as in physics or chemistry) and social relations (as in anthropology or economics)“ definiert (MWCD (2003), Humanity, S. 605). Ähnlich deutlich wird die Encyclopaedia Britannica, wenn sie erklärt: „As a group of educational disciplines, the humanities are distinguished in content and method from the physical and biological sciences, and somewhat less decisively from the social sciences“ (NEB (2005), Humanities, S. 138). Entsprechend werden als Methoden dann etwa „primarily analytical, critical, or speculative [ones]“ identifiziert, „as distinguished from the mainly empirical approaches of the natural sciences“ (WPEN (2011), Humanities, o.S.) – eine Definition, die die Encyclopaedia Britannica interessanterweise noch durch die (im weiteren Verlauf des Artikels dann zum Teil historisch relativierte) Bestimmung ergänzt, dass sich diese Methoden einer pädagogisch informierten und orientierten „appreciation of human values and of the unique ability of the human spirit to express itself“ verdanken (NEB (2005), Humanities, S. 138f.). Auch hinsichtlich des Kanons der von den humanities abgedeckten Fächer und Disziplinen stimmen die von mir herangezogenen Nachschlagewerke weitgehend überein. So erklärt beispielsweise die Encyclopaedia Britannica „all languages and literature, the arts, history and philosophy“ (NEB (2005), Humanities, S. 138) zu relevanten Gegenständen – eine Liste, die die englischsprachige Wikipedia noch durch Religion und (in einer Formulierung, die offenlässt, inwieweit dies neben der Analyse auch die praktische Ausübung miteinschließt) die „visual and performing arts such as music and theatre“ ergänzt (WPEN (2011), Humanities, o.S.). Eine gewisse Ausnahme stellt nur die extrem konservative Erklärung im Oxford English Dictionary dar, das die Bedeutung von humanities nicht nur – wenn nicht fälschlich, so doch auf einen im Veralten begriffenen Wortgebrauch bezugnehmend – mit der von französisch humanités gleichsetzt, sondern auch auf das Studium der „various branches of polite scholarship, as grammar, rhetoric, poetry, and esp[ecially] the study of the ancient Latin and Greek classics“ beschränkt (OED (1989), Humanity, S. 476).

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2.2. Französisch Zwischen den beiden Polen des Deutschen und Englischen und im Feld der drei anderen Sprachen hält das Französische nun ziemlich genau die Mittelposition. Mit dem Deutschen teilt es die Existenz eines gemeinsamen Oberbegriffs für die beiden Wissensfelder, mit dem Englischen die semantischen Grundkomponenten zur Bezeichnung dieser Felder und die Tendenz, sie in wortbildungsmäßiger Hinsicht auseinandertreten zu lassen, und infolgedessen mit dem Italienischen und Spanischen eine gewisse wortbildungsmäßige Asymmetrie des Begriffsfeldes im Ganzen. Auf den ersten Blick nämlich scheint der Ausdruck sciences (ganz wie im Deutschen) als das gemeinschaftliche Hyperonym der zwei Kohyponyme sciences naturelles und sciences humaines zu funktionieren, das (wiederum ganz wie im Deutschen) seine Zeichengestalt zudem als näher zu determinierendes Element vollständig und symmetrisch auf die ihm subordinierten Determinativkomposita vererbt23 – freilich mit dem offenkundigen Unterschied, dass der nature nicht der esprit, sondern der homme entgegengesetzt wird.24 Auf den zweiten Blick allerdings offenbart sich schnell eine fundamentale Asymmetrie im Begriffsgebrauch: Denn das Einzelwortlexem sciences bezeichnet eben nicht nur den gemeinschaft23 Als Wortzusammensetzungen zur „qualification des sciences d’après […] leur objet“ nennt etwa der Gran Robert zum einen „[s]ciences naturelles, sciences d’observation, qui étudient les êtres vivants (y compris l’homme en tant qu’animal et les corps dans la nature)“ und zum anderen „sciences humaines, qui étudient l’homme (ex. anthropologie, psychologie, sociologie, linguistique)“ (GRLF (2001), Science, S. 255). Analog dazu benennt der Trésor als Komposita „[a]vec déterm[ination] spécifiant ou évoquant nettement le domaine ou la catégorie de faits“ die adjektivischen Wendungen „sciences humaines“ und „sciences naturelles“ und ihre präpositional gebildeten Varianten „science de l’homme“ und „sciences de la nature“. (TLF (1992) Science, S. 181f.) Anders als Robert und Trésor, die innerhalb des Stichworts humain für sciences humaines (vgl. GRLF (2001), Humain, S. 1940; TLF (1983), Humain, S. 974) im Grunde nur auf das Lemma sciences zurückverweisen, gibt die französische Wikipedia eine etwas ausführlichere (zugleich aber schon als vereinfachend gekennzeichnete) Definition: „[L]es sciences humaines ont pour objet d’étude ce qui concerne les cultures humaines, leur histoire, leurs réalisations, leurs modes de vie et leurs comportements individuels et sociaux“ – um im Anschluss daran dann klarzustellen: „Les sciences humaines […] s’opposent […] aux sciences de la nature de l’environnement.“ (WPFR (2011), Sciences humaines et sociales, o.S.). 24 Es liegt nahe zu vermuten (bedürfte aber natürlich genauerer Überprüfung), dass sich die Semantik des französischen Ausdrucks esprit im Laufe der Aufklärung zu sehr in einen im engeren Sinne theologischen Begriff einerseits und einen ebenfalls recht eng gefassten Begriff zur Bezeichnung eines sehr spezifischen psychologischen Vermögens andererseits dissoziiert hat, um für das breite, die Gesamtheit aller mentalen und/oder psychischen Vermögen des Menschen ebenso wie die Gesamtheit aller historischen Äußerungen eines gewissermaßen säkularisierten ersten Bewegers umfassende Bedeutungsspektrum des deutschen Wortes Geist sonderlich empfänglich zu sein. In jedem Falle liegt die (mehr als bloß episodische) Präsenz von Ausdrücken wie science de l’esprit im Französischen – anders als im Spanischen und Italienischen, in die der Begriff der Geisteswissenschaften (als scienza dello spirito bzw. ciencia del espiritú) im späten 19. oder frühen 20. Jahrhundert offenbar bewusst entlehnt worden ist, und in denen er zumindest in bestimmten Kreisen und zu bestimmten Zeiten auch eine gewisse Verbreitung gefunden hat – gleichsam unter der Nachweisgrenze.

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lichen Oberbegriff aller Wissenschaften, sondern kann in einer Vielzahl von Kontexten ebenso gut bloß auf die Naturwissenschaften referieren, so dass sich also nicht so sehr sciences naturelles und sciences humaines als symmetrisch gebaute Unterbegriffe, sondern vielmehr sciences (ohne weitere Beiwörter) und sciences humaines (mit einem Epitheton) als asymmetrisch gebildete Kohyponyme gegenüberstehen. Oder um noch einmal die Begrifflichkeit der strukturalistischen Semantik zu bemühen: Sciences fungiert sowohl als (subordinierendes) Archilexem, durch den der unmarkierte (d.h. merkmalsärmere) Gebrauch des Ausdrucks bezeichnet wird, als auch als (subordiniertes) Lexem, durch den der markierte (d.h. merkmalsreichere) Gebrauch des Ausdrucks bezeichnet wird, und in einer Beziehung der Neutralisierbarkeit bestimmter Merkmale zum Archilexem steht.25 Der Effekt dessen ist, dass die science naturelles als Wissenschaften im engeren und eigentlichen, die sciences humaines (wie übrigens auch die sciences sociales) hingegen bloß als Wissenschaften in einem weiteren oder gar übertragenen Sinne, d.h. gleichsam als bloß „epithetische“ oder „auch-Wissenschaften“ dastehen.26 Hinzu kommt, dass sich die Dichotomie zwischen sciences (naturelles) und sciences humaines im Französischen (und bis zu einem gewissen Grade auch in den anderen romanischen Sprachen), die in dieser Form erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gebräuchlich geworden zu sein scheint und wohl nicht zuletzt im Zuge der Ereignisse des Jahres 1968 und der darauf folgenden institutionellen Reformen erheblich an Bedeutung gewonnen hat, mit der älteren, spätestens seit dem 19. Jahrhundert üblich gewordenen Fundamentalopposition zwischen (les) sciences und (les) lettres überlagert.27 Dadurch verkompliziert sich die Gesamt25 Entsprechend verzeichnet der Trésor für den Gebrauch des Ausdrucks science im Plural mit vorangestelltem Definitartikel und ohne weitere Determinativa die Bedeutung „Ensemble des sciences fondées essentiellement sur le calcul et l’observation“ und verweist zugleich auf die Möglichkeit, das Lexem in diesem Zusammenhang – wie etwa in der Fügung „[l]es humanités et les sciences“ – kontrastiv „d’autres activités intellectuelles“ gegenüberzustellen (TLF (1992), Science, S. 181). Ganz ähnlich lautet der Eintrag für „[l]es sciences (sans qualification)“ im Gran Robert: „Les sciences, où le calcul, l’observation, ont une grande partie: mathématiques, astronomie, physique, chimie, sciences de la vie“ (GRLF (2001), Science, S. 255). 26 Diese Ausdrücke nach Lutz Geldsetzer (1970), ‚Science‘ im französischen Sprach- und Denkraum, in: Diemer (Hrsg.) (1970), a.a.O., S. 76–89, S. 82. In diesem Sinne weist denn auch der Gran Robert für die engere Lesart von „[l]es sciences (sans qualification)“ als ‚Naturwissenschaften‘ – die er im Übrigen für älter als den weiteren Begriffsgebrauch in den Fügungen sciences humaines (mit Ausnahme früherer Belege, die diese den sciences divines entgegenstellen) und sciences naturelles hält – explizit darauf hin, dass „[c]et emploi, antérieur à la généralisation des méthodes scientifiques, crée un flottement dans l’usage universitaire“ (GRLF (2001), Science, S. 255). 27 So definieren die zwei großen französischen Wörterbuchunternehmen die Pluralform lettres „comme ensemble de connaissances“ (Trésor) bzw. „connaissances ou études littéraires“ (Gran Robert) beide jeweils „par oppos[ition] aux sciences“ (GRLF (2001), Lettre, S. 761) bzw. „aux sciences et techniques“ (TLF (1983), Lettre, S. 1118f.). Das gleiche gilt für die Encyclopédie Larousse, die in ihrer Definition der lettres als „[é]tudes scolaires et universitaires“ (GDEL (1984), Lettre, S. 6245) darüber hinaus insbesondere den institutionellen Kontext betont.

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konstellation im französischen Begriffsfeld gegenüber seinem deutschen und englischen Pendent erheblich. Denn damit existieren gleichsam zwei Fundamentaloppositionen nebeneinander, die zwar nicht mehr unbedingt gleichen Rang und gleiche Stellung behaupten können, aber definitiv auch noch keinen endgültigen Wachwechsel vollzogen haben, und von denen die eine – ältere – in der semantischen Tiefendimension wie an der Oberfläche der Wortbildungslogik einen sehr viel tieferen Graben zwischen den zugehörigen Gliedern unterstellt, als es die andere – neuere – intendiert. Vor allem aber besteht das Problem darin, dass diese beiden Fundamentaloppositionen zwar hinsichtlich des Bedeutungsumfangs ihrer jeweiligen Terme keineswegs vollständig zur Deckung kommen, umgekehrt aber auch keinerlei Anspruch auf vollständige semasiologische Überschneidungsfreiheit zwischen ihren onomasiologisch nicht-identischen Gliedern – sciences humaines und lettres – geltend machen können. Nicht deckungsgleich sind die beiden Dichotomien deshalb, weil es die Philologien sind, die nach wie vor im absoluten Zentrum der Bedeutung von lettres stehen, während sie aus den sciences humaines für gewöhnlich entweder vollständig herausfallen oder nur sehr bedingt und erkennbar uneigentlich von ihnen mitbezeichnet werden.28 Nicht überschneidungsfrei wiederum sind sie, weil insbesondere die Fächer Philosophie und 28 Am prägnantesten fällt die Beschreibung des disziplinären Kerns von lettres in der französischen Wikipedia aus, die als beteiligte Fächer „la littérature, classique et moderne […], la philosophie […,] l'histoire […], les langues modernes et anciennes […]“ anführt (WPFR (2011), Lettre (culture), o.S.). Die anderen von mir zu Rate gezogenen Wörterbücher gliedern diese Liste zum Teil noch durch (nicht immer ganz konsistent gewählt erscheinende) Nebenoder Unterdisziplinen auf, indem sie sie etwa durch „la philologie“ (GDEL (1984), Lettre, S. 6245) oder „la grammaire, la linguistique“ und „la géographie“ (TLF (1983), Lettre, S. 1119) ergänzen. Klar ist demnach jedenfalls, dass die Philologien gemeinsam mit der Philosophie und der Geschichtswissenschaft im Zentrum der lettres stehen. Deutlich schwieriger ist es hingegen, einen klaren Fächernukleus der sciences humaines auszumachen. Am ehesten dürfte dieser noch durch die Reihe von Disziplinen bezeichnet werden, die der Gran Robert in diesem Zusammenhang benennt, zugleich allerdings explizit als (bloß) exemplarisch ausflaggt. Dort heißt es, unter die sciences humaines bzw. sciences de l’homme fielen „anthropologie, psychologie, sociologie, linguistique“ – zweifellos eine in sich schlüssige Aufzählung, sieht man einmal von der Linguistik ab, die ihren Platz in dieser Reihe wohl entweder aufgrund der traditionellen Annahme, dass Sprache einen ‚trait distinctif de l’homme‘ darstellt, oder aber aufgrund der strukturalistischen Auffassung, dass es sich bei ihr um einen ‚fait social‘ avant la lettre – um nicht zu sagen (d)’après les Lettres – handelt, gefunden haben dürfte. Um dieses Gravitationszentrum gruppieren sich natürlich eine große Zahl weiterer Disziplinen, wie etwa der entsprechende Eintrag in der französischen Wikipedia deutlich macht, der die sciences humaines übrigens gleich mit den sciences sociales zu den (offen als „ensemble de disciplines diverses et hétérogènes“ bezeichneten) sciences humaines et sociales zusammenfasst und in einer deutlich ausführlicheren Liste (die mit den Worten „par exemple et dans le désordre“ gleichwohl immer noch als (bloß) exemplarisch gekennzeichnet und zugleich als offenkundig schwer zu ordnen ausgewiesen wird) die folgende Reihe von Fächern als relativ unbestritten zu diesem Wissensfeld gehörig präsentiert: „la sociologie, l’économie, l’ethnologie, l’anthropologie, la psychologie, l’histoire, la géographie, la démographie, les sciences politiques (science administrative, théorie politique, sociologie politique), l’archéologie et l’histoire de l’art, la linguistique“ (WPFR (2011), Sciences humaines et sociales, o.S.). Sieht man einmal mehr von der Linguistik ab, so ist damit zumindest klargestellt, dass die Philologien nicht zum

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Geschichte ebenso gut als lettres wie als sciences humaines klassifiziert werden können und die von den beiden Ausdrücken vertretenen Wissensfelder nicht selten als Lettres et Sciences humaines zusammengebunden und institutionell in ein und derselben Fakultät verankert werden – mit dem Effekt, dass die lettres, aller verbleibenden Uneigentlichkeit solchen Begriffsgebrauchs zum Trotz, zuweilen eben doch als Teilbereich oder Unterbegriff der sciences humaines erscheinen können.29 Zugleich bedeutet diese Sachlage, in der sich zwei distinctions directrices unterschiedlichen historischen Ursprungs, die weder miteinander zur Deckung kommen noch völlig frei von Überschneidungen sind, überlagern, dass sich die Reihe sciences (naturelles), sciences humaines und lettres nicht zu einer echten ternären Begriffsstruktur entfaltet, wie sie etwa das Deutsche in die vergleichsweise überschneidungsfreie Trichotomie von Naturwissenschaften, Sozialwissenschaften und Geisteswissenschaften fasst, und sich gerade aufgrund dieser 29 engeren Kreis der sciences humaines zählen, ein Sachverhalt, den die französische Wikipedia wenig später auch explizit ausspricht, wenn es heißt, dass unter die sciences humaines et sociales „[rien de] ce qui est du domaine des ‚arts et lettres‘ (dans le sens des pratiques fondées sur la subjectivité, incompatibles avec une objectivité)“ falle. Unverkennbar ist allerdings zugleich auch, dass die Geschichtswissenschaften – und mit ihr die in der Romania nach wie vor generell stärker mit der Geschichte assoziierte (Human-)Geographie – sowohl von den Seiten der lettres als auch von Seiten der sciences humaines als eigenes Terrain beansprucht werden. Zu diesem Ergebnis kommen auch Beátrice Durand, Stefanie Neubert, Dorothee Röseburg & Virginie Viallon (2007), Étudier en France et en Allemagne: approche comparée des cultures universitaires, Villeneuve d’Ascq: Presses Universitaires du Septentrion, S. 76, bei denen man lesen kann: „L’histoire [en France] se rattache aux lettres, mais elle est aussi une science humaine et même sociale, alors qu’elle relève en Allemagne des Geisteswissenschaften (et non des Sozialwissenschaften).“ Eine ähnliche Situation trifft schließlich auch für die Philosophie zu, die beispielsweise von der digitalen Enzyklopädie mit der Formulierung „parfois même la philosophie“ zumindest zum weiteren Kreis der sciences humaines gerechnet wird (WPRF (2011), Sciences humaines et sociales, o.S.). 29 In diesem Zusammenhang erinnert etwa der Trésor in einer Anmerkung innerhalb des Lemmas lettre daran, dass „Les Facultés des Lettres ont pris à partir de 1950 environ la dénomination Facultés des Lettres et Sciences Humaines“ (TLF (1983), Lettre, S. 1119). Etwas später sehen diesen Prozess und seine Konsequenzen Durand, Neubert, Röseburg & Viallon (2007), a.a.O., S. 75f. einsetzen bzw. zur Entfaltung kommen, wenn sie schreiben: „En France, les discussions autour du statut des sciences dites ‚humaines‘ ou ‚sociales‘ et leur définition comme ‚sciences‘ sont plus récentes [qu’en Allemagne]: elles remontent à la deuxième moitié du XXe siècle, et surtout aux années 1970 qui ont vu l’institutionalisation de l’étiquette ‚lettres et sciences humaines‘.“ Zugleich konstatieren sie in diesem Zusammenhang auch noch einmal: „En outre, le fossé entre les ‚lettres‘ au sens restreint (langues et littératures, philosophie) et les sciences ‚humaines‘ ou ‚sociales‘ est moins profond. Il ne remet pas aussi fondamentalement en question la vieille opposition des ‚lettres‘ et des ‚sciences‘.“ (Ebd., S. 76). Wie durchlässig sich hier die Semantik zum Teil gestalten kann, zeigt im Übrigen die Tatsache, dass der Gran Robert in der bereits zitierten Bemerkung zum „flottement“ des Begriffs science „dans l’usage universitaire“ (vgl. oben Anmerkung 26) das Lexem lettres nicht etwa als über die Junktur Lettres et Sciences humaines vermittelten und insofern eher uneigentlichen Unterbegriff des Ausdrucks sciences humaines, sondern umgekehrt – und offenkundig leicht anachronistisch – als potentiellen Oberbegriff derselben identifiziert: „certaines sciences, et notamment les sciences humaines et les sciences sociales, sont parfois considérées comme appartenant aux ‚lettres‘“ (GRLF (2001), Science, S. 255).

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Konstellation vielleicht auch gar nicht entfalten kann – zumal das Französische außerdem auch noch über den Terminus sciences sociales verfügt, der selbst wiederum in einer komplexen Beziehung zum Begriff der sciences humaines steht.30 Für die Philologien als dem Kernbereich der lettres folgt aus dieser Konstellation ohne Frage, dass sie zusehends mit der Möglichkeit konfrontiert sind, nur noch als Restkategorie und akademischer Atavismus wahrgenommen zu werden und vollständig und endgültig aus dem Feld der Wissenschaften herauszufallen – ein Zustand, in dem sie sich (polemisch gesprochen) zwar vielleicht selbstvergessen wie in einem Idyll voll orchideenhafter Existenzen gefallen oder den sie selbstbewusst zum Hort des einzig aufrechten antihumanistischen Gegendiskurses erklären mögen, wahrscheinlicher aber aus mehr oder weniger großer Furcht vor dem großen finalen Streichkonzert durch die langfristig auf Erlangung humanwissenschaftlichen Bürgerrechts angelegte Andienung an die sciences humaines zu überwinden zu trachten dürften. Für die sciences humaines wiederum haben die genannten Unschärfen zur Folge, dass sie aufgrund der nach wie vor bestehenden Verbindungen gleichsam beständig Gefahr laufen, in den Sog der Unwissenschaftlichkeit der lettres zu geraten und die schon in der Entgegensetzung von sciences im eigentlichen Sinne und epithetischen sciences humaines angelegte Grundasymmetrie zu verstärken,31 worauf sie gleichermaßen durch schärfere Abgrenzung aber auch durch generöse Eingemeindung reagieren können – und vom Existenzialismus und Marxismus angefangen über den Strukturalismus und Poststrukturalismus bis hin zur vor- und nachfoucaultianischen Épistémologie wohl auch auf ihre je eigene Art und Weise getan haben.32 30 Die Schwierigkeiten der Abgrenzung bringt, um an dieser Stelle nur den salomonischsten Lösungversuch zu benennen, der Gran Robert wohl am besten auf den Punkt, wenn er die sciences sociales wie folgt definiert: „les sciences humaines envisagée sous un point de vue sociologique (économie, politique, droit, géographie, psychologie sociale)“ (GRLF (2001), Social, S. 496). Vom Deutschen aus gesehen bedeutet diese Gesamtkonstellation im Übrigen, dass der Ausdruck sciences humaines für gewöhnlich auf der einen – wenn man so will: philologischen – Seite weniger, auf der anderen – gewissermaßen: sozialwissenschaftlichen – Seite hingegen mehr als sein deutsches Pendant Geisteswissenschaften umfasst. 31 In diesem Sinne konstatiert etwa der Gran Robert im Unterpunkt sciences humaines bzw. sciences de l’homme seines Eintrags zu science ausdrücklich: „De nos jours, le caractère scientifique des ‚sciences de l’homme‘ (ou ‚sciences sociales‘) est fréquemment contesté.“ (GRLF (2001), Science, S. 255). 32 Einen äußerst aufschlussreichen Reflex dieser Konstellation stellt in diesem Zusammenhang der im Schlüsseljahr 1968 erschienene Eintrag zu den sciences humaines in der von Claude Grégory begründeten und unter anderem von Raymond Aron herausgegebenen und offenkundig als Speerspitze zur Popularisierung der neueren Epistemologien und zum Zwecke der Propagierung von daraus resultierenden Ideen zur Universitätsreform konzipierten Encyclopædia Universalis dar. Verfasst hat diesen Eintrag Georges Gusdorf, der bereits 1960 mit einer Introduction aux sciences humaines hervorgetreten war, und sein weiteres Leben vor allem der Publikation eines vielbändigen historischen Werks mit dem Titel Les sciences humaines et la pensée occidentale widmen sollte – zwei Unternehmungen, die im Übrigen gleichermaßen als Zeugnis und Katalysator der Entwicklung des französischen Wissenschaftsbegriffs im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts wie als eigenständige Analyse der (Vor-)Geschichte der sciences humaines eine eingehendere Lektüre und Auseinandersetzung lohnen würden (vgl. Georges

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2.3. Spanisch Nun stellt das Vorliegen einer solchen doppelten Fundamentalopposition im Französischen im Kanon der europäischen Sprachen freilich kein echtes Alleinstellungsmerkmal dar. Tatsächlich lässt es sich etwa auch für das Spanische nachGusdorf (1960), Introduction aux sciences humaines. Essai critique sur leurs origines et leur développement, Paris: Les Belles Lettres; Georges Gusdorf (1966–1988), Les sciences humaines et la pensée occidentale, 14 Bände, Paris: Payot & Rivages). Dabei stellt Gusdorfs theoretische Position eine bemerkenswerte Kombination aus französischer Épistémologie (Gaston Bachelard), deutscher Hermeneutik (Wilhelm Dilthey) und Links-Phänomenologie (Maurice Merleau-Ponty) dar. Zugleich zählt Gusdorf selbst wiederum zu den Lehrern von Louis Althusser und Michael Foucault – eine Tatsache, die man seinem Beitrag in der Encyclopædia Universalis angesichts der unverkennbaren Nähe, aber auch angesichts der ebenso unverkennbaren Distanznahmen zu den Positionen dieser beiden Autoren sehr deutlich anmerken kann. Wie zum Zeitpunkt der Publikation des Artikels kaum anders zu erwarten konstatiert nun auch Gusdorf insgesamt einen nicht mehr rückgängig zu machenden Geltungsverlust der lettres bzw. der traditionellen humanités: „Les ‚humanités classiques‘ occupaient naguère, dans le programme des études, une place d’honneur, qu’elles ont aujourd’hui perdue.“ Darin trifft er sich mit Aussagen, die sich im Kern auch in anderen Wörterbüchern finden lassen, wenn sie von dem zeitgenössischen Verhältnis zwischen lettres bzw. humanités und sciences humaines Rechenschaft abzulegen versuchen. Im Gegensatz zu diesen beschränkt er sich allerdings nicht auf die bloße Feststellung dieses Sachverhalts. Andererseits verfällt er aber auch nicht in ein naiv-positivistisches Loblied auf die wissenschaftlichen Errungenschaften der sciences humaines, und schon gar nicht in eine sentimentalisch-humanistische Elegie auf die kulturellen und zivilisatorischen Ideale der humanités. Vielmehr nimmt er die Frage nach dem Verhältnis von sciences humaines und humanités zum Anlass, um den Wissenschaftscharakter der sciences humaines als „investigation scientifique (ou pseudoscientifique) du domaine humain“ in Frage zu stellen und ihren epistemologischen Status auf seine sozio-epistemischen Folgen hin zu durchleuchten. In diesem Sinne vermerkt er gleich eingangs, dass die sciences humaines heutzutage in Form von „[e]nquêtes et sondages d’opinions“, „tests psychotechniques sous forme de jeux“ und „publicité et […] propagande“ ein „objet de consommation courante“ darstellen – mit der Folge, dass „les thèmes préfabriqués par la psychologie, la sociologie, le marketing économique politique ou intellectuel s’imposent à notre langage, à notre pensée, à notre conscience.“ (EU (1968), Sciences humaines, S. 767). Ganz im Sinne der von Michel Foucault in der Ordnung der Dinge vertretenen Thesen kommt er im Anschluss daran dann zu der folgenden Diagnose: „L’homme n’est pas seulement l’objet des sciences humaines, en toute neutralité épistémologique. Tout se passe comme s’il en était aussi le moyen et la fin, et peut-être la proie. La civilisation contemporaine semble avoir inventé ainsi de nouvelles formes d’aliénation, d’exploitation de l’homme par l’homme“. Allerdings zieht Gusdorf aus dieser Feststellung etwas andere Schlussfolgerungen als Foucault. Das lässt sich bereits an dem unterschiedlichen Gebrauch ablesen, den Foucault und Gusdorf von der Metapher bzw. der Metonymie des ‚Gesichts‘ machen, um den Status bzw. die Situation des ‚Menschen‘ im Zeitalter der sciences humaines zu bezeichnen. Während sich für Foucault mit dem im berühmten Schlusssatz („alors on peut bien parier que l’homme s’effacerait, comme à la limite de la mer un visage de sable“) von Les mots et les choses angebrachten Bild vom Menschen als einem gleichsam unter der Ägide der sciences humaines in den Sand gezeichneten Gesicht bekanntlich die Hoffnung verbindet, dass dieses eines nicht allzu fernen Tages von den Wellen des nahen Meeres hinweggespült werden wird und somit auch der ‚Mensch‘ als allererst von den (in ein komplexes Dispositiv von Mechanismen der Disziplin(aris)ierung eingebundenen) sciences humaines konstituierte Einheit wieder verschwinden kann (Michel Foucault (1966), Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines, Paris: Gallimard, S. 398), erkennt Gusdorf das Problem eher darin, dass die

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weisen, wo es seine entsprechende Ausprägung in Gestalt der zwei Dichotomien ciencias/humanidades und ciencias/letras findet. Gleichwohl fällt dies im Spanischen schon deshalb nicht so sehr ins Gewicht, weil in keiner der beiden Dichotomien das jeweils zur Bezeichnung des nicht-naturwissenschaftlichen Feldes gesciences humaines das Gesicht des Menschen ‚zerstückeln‘ oder ‚verschwimmen lassen‘ (brouiller) und setzt den ‚Menschen‘ damit tendenziell wieder als stets schon existierende Einheit voraus: „Le déchainement incontrôlé de rationalités partielles et contradictoires a fait des sciences humaines la forme moderne de l’inhumanité. Les sciences de l’homme brouillent le visage de l’homme; elles semblent l’avoir si bien perdu de vue que la plupart des spécialistes seraient incapables de définir leur propre discipline et d’en marquer la portée et les limites“ (EU (1968), Sciences humaines, S. 767). Tatsächlich resultiert diese Inhumanität der Humanwissenschaften, die sie in letzter Instanz zu einem „amas inextricable de techniques pour la manipulation d’individus“ macht, für Gusdorf aus der Inhomogenität und Selbstwidersprüchlichkeit ihrer Erkenntnisprinzipien, und mehr noch, aus ihrer mangelhaften Selbstreflexion: „L’épistémologie des sciences humaines, la réflexion générale sur leurs objets et sur leurs méthodes, est encore dans l’enfance.“ Vor diesem Hintergrund wird es verständlich, dass Gusdorf das Heil der sciences humaines in ihrer weiteren Verwissenschaftlichung sucht und – anders als Foucault, der nur auf irgendein „événement dont nous pouvons tout au plus pressentir la possibilité, mais dont nous ne connaissons pour l’instant encore ni la forme ni la promesse“ spekulieren konnte, das ihre disziplinierenden und platzanweisenden Wirkungen eines Tages wieder ins Wanken bringen würde (Foucault, a.a.O., S. 398) – der Überzeugung ist, dass ihre ausbeuterischen und entfremdenden Effekte durch ein spezifisches Reformprogramm ebendieser sciences humaines aufzuheben sind, die dann – womit sich der Kreis von Gusdorfs Argumentation schließt – mit vollem Recht jenen ‚Ehrenplatz‘ (place d’honneur) einnehmen könnten, der ‚einstmals‘ oder ‚bis vor kurzem‘ (naguère), den mittlerweile abgehalfterten „humanités classiques“ zugestanden wurde: „Cette place vide, les sciences humaines pourraient l’occuper, à condition de devenir enfin conscientes de leur vocation spécifique et de travailler résolument à la désaliénation d’une humanité qu’elles contribuent trop souvent à aliéner.“ (EU (1968), Sciences humaines, S. 767). Zu diesem Zwecke unterscheidet Gusdorf dann im Folgenden zwischen drei „grands axes épistémologiques“ in die sich die sciences humaines notwendig zu teilen haben werden – eine „axe de la science rigoureuse“ (bzw. „perspective axiomatique“), eine „axe de la biologie“ (bzw. „perspective vitaliste“) und eine „axe de la culture et de l’histoire“ (bzw. „perspective historico-culturelle“, in die dann in veränderter Form auch wieder die lettres und humanités Eingang finden werden (EU (1968), Sciences humaines, S. 768f. und S. 769f.)) – die jede für sich „une incontestable validité“ aufweisen und deshalb gleichzeitig in scharfer Konkurrenz zu- und in engem Kontakt miteinander stehen sollen: „Pour sortir de l’impasse, il faut reconnaître la validité simultanée des trois cheminements qu’on a distingués. Leur entrelacement est une constante dans le devenir des sciences humaines.“ (EU (1968), Sciences humaines, S. 769). Wenngleich dieses Programm der Verwissenschaftlichung in erkenntnistheoretischer Hinsicht damit also keineswegs so naiv ist, wie man vielleicht den Verdacht haben könnte, so mutet die darin implizierte Neuordnung der Gesamtheit der Fächer zumindest im ersten Rückblick aus rein pragmatischem Blickwinkel durchaus ein wenig utopisch an. Doch übersieht ein solches Urteil, was ein zweiter Rückblick aus sprach- und institutionengeschichtlicher Perspektive vielleicht enthüllen könnte: nämlich, dass es Diskurse wie die von Gusdorf gewesen sein dürften, die in den folgenden Jahren maßgeblich zur weiteren Karriere der science humaines – der Sache wie des Begriffs – in Frankreich und zu ihrer Legitimität auch und gerade unter den Vertretern der neueren Epistemologien beigetragen haben – auch wenn der prekäre Status der Philologien und ihr problematisches Verhältnis zu den sciences humaines mitnichten durch sie gelöst worden ist, und man mit Fug und Recht bezweifeln darf, dass Gusdorf seine Hoffnungen auf eine Überwindung von Manipulation und Ausbeutung durch die sciences humaines durch die tatsächlich erfolgten Universitätsreformen in den 1970er Jahren erfüllt gesehen hat.

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brauchte Vokabular allein schon aufgrund der äußeren Zeichengestalt eine intrinsische Wissenschaftlichkeit ebendieses Feldes unterstellt. Hinzu kommt, dass sich die Beziehung zwischen den beiden betreffenden spanischen Ausdrücken – wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird – sehr viel leichter und unproblematischer als im Französischen als Verhältnis der vollständigen Synonymie oder aber der eindeutigen Hyponymie interpretieren lässt. Insgesamt allerdings scheint mir die Relation ciencias/humanidades dabei heutzutage im Großen und Ganzen die wichtigere oder doch wenigstens umfassendere zu sein. Bezieht man sich also vor allem auf diese Dichotomie, so zeigt sich, dass sich das Begriffsfeld im Spanischen insgesamt zwischen seinem englischen und französischen Widerpart verorten lässt. Mit dem Englischen teilt es zunächst einmal die Tendenz, die beiden einander gegenüberstehenden Wissensfelder mit zwei wortbildungsmäßig gänzlich heterogenen Ausdrücken zu bezeichnen, die im Falle von ciencias und humanidades sogar das gleiche signifizierende Ausgangsmaterial wie im Englischen zugrundelegt.33 Mit dem Französischen wiederum stimmt es insofern überein, als sich die zentrale Gegenbegrifflichkeit grundsätzlich in dem gemeinsamen Ausdruck ciencias zusammenfassen lässt, dessen Gebrauch auch weitgehend den gleichen semantischen Regeln wie im Französischen gehorcht. Denn wie sciences kann auch das Lexem ciencias zumindest im Prinzip ebenso gut als Ausdruck für einen der beiden Unterbegriffe des Begriffsfeldes (der sich im Zweifel durch Hinzufügung eines Beiwortes zur Junktur ciencias naturales präzisieren lässt) wie als Ausdruck für den gemeinschaftlichen Oberbegriff der Dichotomie fungieren, also – in strukturalistische Terminologie übersetzt – als markiertes Lexem, das seine Markiertheit unter bestimmten Bedingungen ablegen und neutralisieren kann und dann die Bedeutung des übergeordneten unmarkierten Archilexems annimmt. Infolgedessen weist auch das Spanische eine unverkennbare, die ciencias naturales semantisch privilegierende Asymmetrie in seinem Begriffsfeld auf, die – eben weil die Dichotomie selbst eher dem englischen Wortbildungsmuster folgt und zumindest dann, wenn man ausschließlich die Dichotomie sciences (naturelles)/sciences humaines als Vergleichspunkt heranzieht – sogar ein wenig deutlicher als im Französischen ausfällt.34 33 Damit ist natürlich in keiner Weise eine direkte Lehnbeziehung zwischen dem Englischen und Spanischen impliziert. Vermutlich wird man eher davon ausgehen können, dass sich humanities und humanidades jeweils autonom aus einer Lehnbildung zu lateinisch studia humanitatis entwickelt haben, die allenfalls zwischenzeitlich in beiden Sprachen eine gewisse Verstärkung durch den Einfluss von französisch humanités erfahren haben könnte – ein Terminus, der selbst dann allerdings nicht mehr die zentrale Bedeutungserweiterung (die Inklusion auch der neuen Sprachen und Literaturen) mitgemacht hat, durch die sich seine spanischen und englischen Entsprechungen auszeichnen. 34 Folgerichtig definiert das Diccionario de la Real Academia Española im Rahmen des Lemmas ciencia die Pluralform ciencias als „[c]onjunto de conocimientos relativos a las ciencias exactas, fisicoquímicas y naturales“ (DRAE (2001), Ciencia, S. 372). Die Fügung ciencias naturales wiederum wird in ihm als „[l]as [ciencias] que tienen por objeto el estudio de la naturaleza“ erklärt. Allerdings hält die vergleichsweise traditionalistische Real Academia, wie die Beispielsreihe „la geología, la botánica, la zoología, etc.“ deutlich macht, vor allem die (Nachfolge-)Fächer der Naturgeschichte für den disziplinären Kern der ciencias naturales,

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Was nun das Verhältnis zwischen humanidades und letras betrifft, so zeichnen sich in den von mir konsultierten Quellen zwei Lesarten ab: Zum einen eine inzwischen zusehends dominierende Lesart, nach der das Ensemble der durch das Lexem letras bezeichneten Fächer als echte Teilmenge der durch den Ausdruck humanidades bezeichneten Disziplinen erscheint, so dass humanidades zusehends in extensionaler Hinsicht die Funktion eines Oberbegriffes von letras

34 während den anderen naturwissenschaftlichen Fächern mit den Worten „[a] veces se incluyen la física, la química, etc.“ allenfalls ein uneigentliches Bürgerrecht in ihrem Reiche zugestanden wird (DRAE (2001), Ciencia, S. 372). Dieser Sachverhalt, dem zufolge die Pluralform des Einzelwortlexems ciencias als extensional umfänglicher als die Junktur ciencias naturales erscheint, bildet sich auch in dem stärker am Sprachgebrauch orientierten Diccionario de uso del español von María Moliner ab, insofern in ihm zwischen einem engeren und einem weiteren Begriffsgebrauch der Fügung unterschieden wird. Im Unterschied zur Real Academia scheint Moliner dabei allerdings keiner der beiden Fassungen den Vorzug zu geben, wenn sie formuliert: „En sentido amplio, todas las de la naturaleza: ‚astronomía, meteorología, geología, biología, física, mineralogía y química‘. En sentido restringido, ‚historia natural‘, o sea, geología, mineralogía y biología.“ (DUE (1992), Ciencia, S. 625). Insofern liegt die (freilich genauer zu überprüfende) Vermutung nahe, dass man es hier mit den Spuren einer historischen Entwicklung zu tun hat, in der sich ciencias naturales zunächst als Syonym von historia natural etablieren konnte, während die Pluralform ciencias in ihrer Frontstellung zu letras entweder von Anfang an alle Naturwissenschaften oder aber sogar in erster Linie die physikalischchemischen Fächer unter sich begriff, und in der es dann sukzessive zu einer Angleichung der Bedeutungen von ciencias und ciencias naturales gekommen ist. In jedem Fall listet die spanische Wikipedia, die die ciencias naturales im Übrigen als „aquellas ciencias que tienen por objeto el estudio de la naturaleza siguiendo la modalidad del método científico conocida como método experimental“ definiert und im Weiteren erläutert, dass diese „los aspectos físicos, y no los aspectos humanos del mundo“ erforschen, inzwischen alle großen naturwissenschaftlichen Disziplinen unter dem entsprechenden Eintrag und zeigt damit, dass die Junktur mittlerweile im Begriff ist, ihre frühere Orientierung am Begriff der Naturgeschichte abzulegen (WPES (2011), Ciencias naturales, o.S.). Was den Begriff der humanidades anbetrifft, so wird in den beiden klassischen spanischen Diktionarien der nach wie vor enge Bezug zum Ausdruck letras deutlich (vgl. dazu ausführlicher Anmerkungen 35 und 36). Während die Real Academia sich selbst noch zu Beginn des neuen Jahrtausends mit der Formulierung „letras humanas“ als Definition für humanidades begnügen zu können glaubt (DRAE (2001), Humanidad, S. 839), liefert das Diccionario de uso de español schon deutlich früher eine eigenständige Erklärung, die allerdings – wenn man so sagen darf – erhebliche geistige Einflüsse aus dem deutschen Sprachraum erkennen lässt, wenn es heißt, bei den humanidades handele es sich um „[c]onocimientos o estudios que enriquecen el espíritu, pero no son de aplicación práctica inmediata“. (DUE (1992), Humanidades, S. 75). Deutlich neutraler gibt sich schließlich die spanische Wikipedia, wenn sie erklärt, die humanidades seien „el conjunto de disciplinas relacionadas con el conocimiento humano y la cultura“, und im Anschluss daran ihren „carácter ideográfico“ herausstreicht (WPES (2011), Humanidades, o.S.). Die Tatsache, dass die Netzenzyklopädie den Ausdruck humanidades zum Haupteintrag für das Ensemble der nicht-naturwissenschaftlichen Fächer macht, während der Terminus letras nur in Form eines knappen Eintrags auf einer „página de disambiguación“ erscheint, von der dann auf den Begriff humanidades zurückverwiesen wird, mag dabei zugleich als Hinweis darauf gelten, dass letzterer inzwischen offenbar größere Bedeutung als ersterer erlangt hat.

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annimmt.35 Und zum anderen eine Lesart, der zufolge sich die Kanones der durch die Ausdrücke humanidades und letras bezeichneten Disziplinen wie unechte Teilmengen zueinander verhalten, die beiden Ausdrücke also zumindest vom Gesichtspunkt des Begriffsumfanges her gesehen vollständig miteinander synonym sind. Auffällig ist freilich in diesem Zusammenhang, dass dieser Zustand der Synonymie selbst wiederum auf zwei Arten zustande kommen bzw. zwei unterschiedliche Formen annehmen kann, da sowohl letras als auch humanidades in einem engeren und in einem weiteren Sinne gebraucht werden können.36 Es liegt daher nahe zu vermuten, dass die beiden Ausdrücke letras und humanidades in historischem Hinblick zunächst einen weitgehend parallel zueinander verlaufenden Prozess der Bedeutungsausweitung durchlaufen haben, der sie zunächst von der engeren Bedeutung als ‚klassische Philologie‘ zu der weiteren Bedeutung ‚Philologien im Allgemeinen‘ geführt hat, um im Anschluss dann grundsätzlich auch das Ensemble von ‚Philologien, Geschichtswissenschaften und Philosophie‘ bezeichnen zu können – wobei allerdings der Terminus humanidades diese Disziplinenreihe erkennbar eigentlicher als der Ausdruck letras bezeichnet und darüber hinaus noch eine Reihe weiterer Disziplinen umfassen kann, die sie in Kontakt mit den ciencias sociales bringen, ohne allerdings so weit mit ihnen zu verschmelzen, wie dies im Falle der sciences humaines et sociales der Fall zu sein scheint, und von denen sie daneben vor allem auch die Tatsache unterscheidet, dass sie definitiv immer das Feld der Philologien miteinschließen.37 35 In diesem Sinne definiert etwa die spanische Wikipedia den Ausdruck letras als Unterbegriff von humanidades: „Los estudios llamados de letras (humanidades o ciencias humanas o sociales), especialmente cuando se producen en una Facultad de Filosofía y Letras.“ (WPES (2011), Letras (desambiguación), o.S.). Die Tatsache, dass in diesem Zusammenhang auch der Ausdruck ciencias sociales und, insbesondere, der offenkundig nach französischem Vorbild gebrauchte Terminus ciencias humanas fällt, gibt freilich zugleich auch zu erkennen, dass sich das Spanische in Hinblick auf den Begriff der humanidades weiterhin oder nach wie vor in einer Phase der Umetikettierungsversuche befindet. 36 Ein Beispiel für die Identifikation eines weiter gefassten Begriffs von letras mit einem in etwa gleichumfänglichen Begriff von humanidades bietet dabei etwa das Diccionario de uso del español – erklärt es doch im Eintrag letra die entsprechende Pluralform „por oposición a ‚ciencias‘“ als „conjunto de conocimientos que se refieren a las cosas no sometidas a leyes fijas naturales; como la historia, la literatura, las lenguas o la filosofía“ (DUE (1992), Letra, S. 243), nur um dann im zugehörigen Lemma die humanidades ohne Weiteres mit letras gleich zu setzen (DUE (1992), Humanidades, S. 75). Eine vergleichbare Konstellation zeichnet sich im Übrigen auch ab, wenn man die fraglichen Einträge in der Enciclopedia universal miteinander abgleicht (vgl. EUIEA (2003), Humanidad, S. 3623 und EUIEA (2003), Letra, S. 4213). Ein Beispiel für ein Synonymieverhältnis von letras und humanidades auf extensional niedriger rangierender Ebene findet sich hingegen im (vom Veröffentlichungsdatum gesehen zwar jüngeren, aber sprachlich tendenziell konservativer ausgerichteten) Diccionario de la Real Academia Española, das den Ausdruck humanidades im entsprechenden Eintrag als „letras humanas“ definiert (DRAE (2001), Humanidad, S. 839), und unter letras humanas an korrespondierender Stelle wiederum „literatura, y especialmente la clásica“ versteht (DRAE (2001), Letra, S. 926f.). 37 Was das semantische Verhältnis zwischen den Lexemen ciencias sociales und humanidades betrifft, so zeichnet sich im Belegmaterial die Existenz zweier dominierender Lesarten ab, denen zufolge die beiden Lexeme entweder bloß partielle Synonyme darstellen – ciencias

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2.4. Italienisch Lässt sich das Spanische somit also in Hinblick auf das fragliche Begriffsfeld insgesamt zwischen dem Englischen und dem Französischen verorten, so gilt dies im Grundsatz auch für das Italienische. Allerdings nähert sich die Begriffskonstellation im Ganzen gesehen (noch) stärker dem englischen Muster als dies bei seinem spanischen Pendant der Fall ist – und dies obwohl die zentrale Dichotomie anders als im Spanischen hinsichtlich des Signifikantenmaterials keine eins-zueins-Entsprechung mit dem Englischen aufweist. Denn natürlich stehen dem Terminus scienze, der wie seine Entsprechungen in den anderen romanischen Sprachen sowohl die (Gesamtheit aller) Wissenschaften im Allgemeinen als auch die 37 sociales mit humanidades also einen Durchschnitt (von gegebenenfalls variabler Mächtigkeit) bildet – oder aber ciencias sociales als Unterbegriff – und in diesem Sinne als echte Teilmenge – von humanidades aufzufassen ist. Das Modell partieller Synonymie repräsentiert dabei beispielsweise das Ensemble der entsprechenden Einträge in Moliners Diccionario de uso del español: Zwar werden durch die allgemeine (tendenziell intensional angelegte) Beschreibung des Gegenstandsbereichs und Leistungsprofils der beiden Wissensgebiete, durch die die ciencias sociales als „[l]as que estudian al hombre atendiendo a su comportamiento tanto a nivel individual como social“ (DUE (1992), Ciencia, S. 625) und die humanidades als „[c]onocimientos o estudios que enriquecen el espíritu, pero no son de aplicación práctica inmediata“ (DUE (1992), Humanidades, S. 75) bestimmt werden, zunächst einmal sehr unterschiedliche, wenn nicht gar disparate (in ihrer Disparität aber dennoch nicht gänzlich unerwartbare) Gesichtspunkte ins Feld geführt. Die sich anschließenden Aufzählungen disziplinärer Instantiierungen machen hingegen deutlich, dass im Hintergrund dieser Definitionen zugleich auch die (extensionale) Vorstellung von zwei Wissenskreisen steht, die zwar jeweils über einen eigenen Kernbereich verfügen, zugleich aber auch Zonen des Übergangs miteinander teilen, die Moliner offenbar vor allem im Umfeld der Geschichtswissenschaften situiert – nennt sie doch für die ciencias sociales „la sociología, la historia, la economía“ (DUE (1992), Ciencia, S. 625) und für die humanidades „las lenguas clásicas, la historia o la filosofía“ (DUE (1992), Humanidades, S. 75) als mögliche Beispiele. Ein ähnliches Verständnis des Verhältnisses zwischen den beiden Ausdrücken scheint auch der Artikel ciencias sociales in der spanischen Wikipedia zugrunde zu liegen – nur dass die Schnittmenge gegenüber der in Moliners Wörterbuch deutlich größer ausfällt. Hier nämlich werden zwei Listen präsentiert, von der die eine (ziemlich umfänglich) all diejenigen Disziplinen oder Fachbereiche aufzählt, die nach dem Verständnis der Autoren ausschließlich den ciencias sociales zuzuordnen sind, während die andere (kaum weniger umfänglich) eine Reihe von Fächern und Fachgebieten benennt, die genauso gut auch unter die humanidades gerechnet werden könnten – darunter zum Beispiel Philosophie und Jura, bemerkenswerterweise aber nicht eine einzige der Philologien (vgl. WPES (2011), Ciencias sociales, o.S.). Eher von einem Sprachgebrauch, der ciencias sociales letztlich als einen Unterbegriff von humanidades versteht, zeugt hingegen der – zumindest zum Recherchezeitpunkt zugegebenermaßen eher inkohärent wirkende – Eintrag humanidades der Netzenzyklopädie, wenn er verlautbaren lässt: „Las humanidades están conformadas, al menos, por las siguientes disciplinas de estudios: Antropología. [...] Sociología. Musicología. Historia. Filología. Semiología. Geografía. Economía. Derecho“ und dann im Folgenden bemerkt, dass für einige dieser Disziplinen gelte „[que] son clasificadas como las ciencias sociales“ (WPES (2011), Humanidades, o.S.). Wie immer aber auch im Einzelnen das Verhältnis zwischen den beiden Termen genau bestimmt wird – als partielle oder als hyponymische Synonymie: Stets zeigt es sich von einem erheblichen Maß an semantischer Durchlässigkeit geprägt.

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Naturwissenschaften im Besonderen bezeichnen und in unterscheidungsrelevanten Kontexten durch den Zusatz des Adjektivs naturali disambiguiert werden kann, 38 die Begriffe discipline umanistiche bzw. studi umanistici gegenüber39 – und nicht etwa, oder zumindest nicht mehr, der Ausdruck (le) umanità.40 Entscheidend für die postulierte Nähe des Italienischen zum Englischen ist in diesem Zusammen38 In diesem Sinne erklärt etwa Battaglia in seinem Gran dizionario della lingua italiana, dass die Pluralbildung scienze „[s]econdo la terminologia scolastica convenzionale“ für die „materia d’insegnamento che comprende le scienze naturali“ stehe (GDLI (1996), Scienza, S. 33). Das Dizionario Garzanti della lingua italiana wiederum sekundiert, dass es sich bei scienze um ein „insegnamento che comprende le scienze naturali, la biologia, la chimica e la geografia, nelle scuole medie superiori“ handle – und fügt ergänzend hinzu: „nell’ordinamento universitario: le scienze naturali.“ (DGLI (1976), Scienza, S. 1566). Als weiteres Indiz für diesen Sachverhalt mag schließlich auch gelten, dass die Enciclopedia Agostini für den Plural scienze, den er als „[u]n complesso di discipline scientifiche tra loro afini“ definiert, als prototypisches Beispiel die „s[cienze] naturali “ anführt (NEGA (1995), Scienza, S. 6420). 39 Die prägnanteste Definition der discipline umanistiche in intensionaler wie extensionaler Hinsicht und zugleich den besten Beleg für die Dominanz dieser Junktur als zentraler Gegenbegrifflichkeit zum Ausdruck scienze naturali bietet dabei die italienische Wikipedia: „Le discipline umanistiche sono quelle discipline accademiche che studiano l’uomo e la condizione umana, principalmente in modo analitico, critico o speculativo, in netto contrasto con le scienze naturali e le scienze umane, che impiegano il metodo empirico. Nel loro complesso esse includono le discipline storiche, quelle speculative come la filosofia, la religione, il diritto, le discipline linguistiche, come la linguistica, la filologia e la semiotica, e le varie discipline artistiche, come la letteratura, le arti visive e le arti performative.“ (WPIT (2011), Discipline umanistiche, o.S.). 40 In diesem Sinne weisen sowohl Battaglia als auch die Enciclopedia Agostini den Ausdruck umanità („anche con uso plur[ale]“) als ‚nicht mehr gebräuchlich‘ („disus[ato]“) bzw. veraltet („ant[iquato]“) aus (GDLI (2002), Umanità, S. 522, NEGA (1995), Umanità, S. 7242). Dabei lässt sich aus den von den beiden Nachschlagewerken angeführten Definitionen nicht nur ansatzweise die semantische Entwicklung des Lexems rekonstruieren, sondern zugleich auch erkennen, dass es sich zu einem bestimmten Zeitpunkt wohl durchaus als Alternative zu den heutzutage dominierenden Lexemen discipline umanistiche bzw. studi umanistichi angeboten hätte. So kann man dem Eintrag bei Battaglia entnehmen, dass umanità einst im engeren Sinne die trivialen Fächer „grammatica e retorica“ und in der Folge bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert das Bündel sprachlich-literarischer Fächer in der Mittelschule bezeichnet habe. Die Erklärung, die das Wörterbuch als (gleichfalls im Verblassen begriffene) Hauptdefinition anführt („[l]’insieme delle materie umanistiche, letterarie“), macht freilich deutlich, dass umanità zwischenzeitlich in der Tat als Kandidat zur Benennung des heute vornehmlich durch discipline umanistiche und studi umanistichi bezeichneten und in (mehr oder weniger expliziter) Abgrenzung zu den scienze naturali stehenden Wissensgebiets zur Verfügung gestanden hätte (GDLI (2002), Umanità, S. 522). Dieselbe Tendenz zur definitorischen Gleichsetzung ex post findet sich auch im entsprechenden Lemma der Enciclopedia Agostini, in dem die einstmalige Bedeutung von umanità als „[g]li studi letterari in quanto considerati indispensabili per lo sviluppo della personalità“ angegeben wird (NEGA (1995), Umanità, S. 7242). Allerdings macht diese Formulierung trotz der Überhöhung des trivialen bzw. schulischen Ausbildungskontexts zum Inbegriff dessen, was sich im Deutschen wohl am besten mit dem Begriff der Bildung einfangen lässt, zugleich auch deutlich, dass der Ausdruck umanità sich ähnlich wie sein französisches Pendant humanités nie gänzlich von seiner Funktion zur Bezeichnung des Bereichs grundständiger Didaxe emanzipieren und gleichsam höhere akademische Weihen hat empfangen können.

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hang allerdings nicht so sehr eine mehr oder minder zufällige Übereinstimmung auf onomasiologischer Ebene, sondern das Verhältnis, das der Begriff der discipline umanistiche in semasiologischer Hinsicht zum Ausdruck scienze unterhält. Denn auch wenn der Ausdruck scienze in der Tat ähnlich wie seine Entsprechungen in den anderen romanischen Sprachen sowohl als Archilexem oder unmarkierter Oberbegriff eines semantischen Feldes als auch als markiertes Lexem oder Unterbegriff innerhalb dieses semantischen Feldes fungieren und somit wahlweise die Wissenschaften im Allgemeinen als auch die Naturwissenschaften im Besonderen bezeichnen kann, so erstreckt sich der Bedeutungsumfang des Archilexems scienze bzw. scienza – anders als bei seinem spanischen Pendant – nicht oder allenfalls sehr mittelbar auch auf das durch den Ausdruck discipline umanistiche bezeichnete Wissensfeld. So lassen sich zwar neben den scienze naturali durchaus auch die scienze sociali (bzw. scienze umane), denen damit eine grundsätzliche Wissenschaftsfähigkeit zugestanden wird, als Unterbegriff des Terminus scienze begreifen, nicht hingegen oder nur mit einem erheblichen Maß an Uneigentlichkeit die discipline umanistiche, denen somit das Prädikat intrinsischer Wissenschaftlichkeit weitgehend abgesprochen wird.41 Im Resultat bedeutet das aber nichts anderes, als dass die scienze (naturali) und die discipline umanistiche beinahe wie im Englischen als zwei gänzlich unverbundene und nicht auf eine unmittelbare Einheit ihrer Differenz zu bringende Sphären erscheinen. Verschärft wird dieser Disjunktionseffekt, der allenfalls dadurch ein wenig relativiert wird, dass der Ausdruck scienza im Italienischen – im Einklang mit den meisten anderen romanischen Sprachen, aber im Gegensatz zum Englischen – zumindest ansatzweise die einstmals dominierende Bedeutung von ‚Wissen‘ bewahrt hat, noch durch den terminologischen Variationsreichtum, der als Gegenbegriff zu scienze gleich drei unterschiedliche Ausdrücke (discipline umanistiche, studi umanistici und zuweilen auch materie umanistiche) zulässt, sowie durch die Tatsache, dass alle diese Ausdrücke (anders etwa als im Spanischen, wo dem Einzelwortlexem ciencia in klarer morphologischer Symmetrie das Einzelwortlexem humanidades gegenübersteht) Determinativkomposita darstellen – scheint doch damit schon der Signifikantenkörper zu verstehen zu geben, dass es sich bei dem 41 Davon legt etwa der knappe sprachhistorische Abriss im Eintrag scienza bei Battaglia Zeugnis ab, in dem es heißt, dass „lo stesso termine [i.e. scienza] subì una progressiva restrizione riferendosi in modo particolare alla matematica e alla ricerca intorno ai fenomeni della natura […], giungendo infine a designare le discipline sperimentali ed esatte contrapposte a quelle umanistiche, benché oggi si tenda, coerentemente con la riflessione filosofica ottocentesca, a ricuperare il termine anche in relazione con le discipline che si occupano dell’uomo e della società in cui vive e, più in generale, con tutte quelle le cui metodologie cerchino di avvicinarsi a quelle delle discipline scientifiche.“ (GDLI (1996), Scienza, S. 32) Bemerkenswert ist dabei nicht zuletzt, dass die für die Gegenwart diagnostizierte neuerliche Öffnung des Begriffs in erster Linie den Gegenstandsbereich der scienze sociali bzw. umane („l’uomo e la società in cui vive“), und zwar – zugespitzt formuliert – insofern diese mit quantitativen Methoden arbeiten und ein nomothetisches Ziel verfolgen („tutte quelle le cui metodologie cerchino di avvicinarsi a quelle delle discipline scientifiche“), nicht aber die klassischen Gegenstände und Herangehensweisen der discipline umanistiche zu betreffen scheint (GDLI (1996), Scienza, S. 32).

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von ihm Bezeichneten nicht nur um einen von den scienze kategorial verschiedenen, sondern womöglich auch in sich nicht wirklich geschlossenen und kohärenten Wissensbereich handelt. Das mag einerseits die gelegentliche Konjunktur von Umwidmungsbestrebungen in diesem Feld erklären, mit denen man – wie etwa durch das am deutschen Begriff der Geisteswissenschaften orientierte Lehnwort scienza dello spirito in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts oder neuerdings durch die forcierte Propagation des Ausdrucks scienze umanistiche – immer wieder einmal versucht hat, intrinsische Wissenschaftlichkeit auch für die discipline umanistiche zu vindizieren. Andererseits stellt die morphologische und semantische Singularität der fraglichen Ausdrücke durchaus auch ein Pfund dar, mit dem sich zum Zwecke der Reklamation von Eigenständigkeit und Spezifizität des Wissensfeldes wuchern lässt. Immerhin verweist das Lexem studio auf ein Ensemble althergebrachter Kulturtechniken und mag daher unter der Hand den einen oder anderen Distinktionsgewinn durch die Suggestion von Anciennität erzielen. Und auch wenn sich das Gleiche – spätestens seit 1968 – nicht ganz so einfach für den Terminus disciplina behaupten lässt, so bleibt doch immer noch das Bestimmungswort umanistico, das – anders als die scienze umane – nicht bloß auf den Menschen, sondern zugleich auf die lange Tradition des Humanismus verweist, in die man sich als Discipulus oder Student der discipline umanistiche bzw. studi umanistici stellen kann – und als dessen Geburtsland im kulturellen Gedächtnis der Menschheit überdies für gewöhnlich Italien gilt. Ähnlich wie die anderen romanischen Sprachen verfügt schließlich auch das Italienische in Form des Gegensatzpaares scienze vs. lettere prinzipiell über eine Alternative zur Hauptdichotomie scienze (naturali) vs. discipline umanistiche. Allerdings lassen es zumindest die von mir konsultierten lexikographischen Quellen fraglich erscheinen, ob dieses Begriffspaar im Italienischen den Gegensatz zwischen den beiden dadurch bezeichneten Wissensbereichen bzw. Zugriffsformen jemals mit ebender Schärfe artikuliert hat, wie dies einst im Französischen der Fall gewesen ist und zum Teil – zumindest dort, wo die Opposition ciencias/ letras (noch) gleichbedeutend mit dem Gegensatzpaar ciencias/humanidades gebraucht wird – bis heute im Spanischen der Fall ist. Jedenfalls zeichnet sich in den von mir konsultierten Quellen, wo das Lexem lettere nicht bloß als stilistisch höher stehendes (da nach wie vor verblümter wirkendes) Synonym für letteratura und als Ausdruck für das damit verbundene Schul- oder Studienfach verbucht wird oder gar von vorne herein als obsolet gekennzeichnet wird, allenfalls eine sehr schwach artikulierte Kontraststellung desselben zum Ausdruck scienze ab.42 42 Entsprechend steht die Definition als stilistisch höher anzusiedelnde Variante von letteratura zumeist an erster Stelle, häufig unmittelbar gefolgt vom Verweis auf die damit verbundenen Schul- oder Studienfächer und (nicht selten als Anwendungsbeispiel) die Universitätsfakultät, in denen diese Fächer gelehrt werden. So definiert etwa das Grande dizionario illustrato die Pluralform lettere knapp als „la letteratura, gli studi umanistici“ und gibt als Beispiele unter anderem die Reihe „facoltà, studente, professore di lettere“ an (GDIG (1989), Lettera, S. 1981). Ähnlich lautet die Definition bei Sabattini-Coletti: „Letteratura, studi umanistici; facoltà universitaria dove si studiano queste materie“ (DISC (1997), Lettera, o.S.). Jenseits des institutionell vermittelten Zusammenhalts dieser Fächer in einer Facoltà di Lettere – die als

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2.5. Russisch Vom Wortbildungsmuster her gesehen scheint das entsprechende Begriffsfeld im Russischen schließlich grundsätzlich sehr ähnlich wie im Deutschen zu funktionieren: Das Lexem науки (nauki) ‚Wissenschaften‘ stellt den umfassenden Oberbegriff dar, der sich dichotomisch in die beiden Unterbegriffe естественные науки (jestestwennyje nauki) – also ‚die natürlichen oder die Natur betreffenden Wissenschaften‘ – und гуманитарные науки (gumanitarnyje nauki) – also ‚die menschlichen oder die Menschheit betreffenden Wissenschaften‘ – verzweigt, die sich ganz wie im Deutschen in vollständiger Symmetrie gegenüberstehen und als strikt parallel gebildete Determinativkomposita die Einheit ihrer Differenz – ihre gemeinsame научность (nautschnost) ‚Wissenschaftlichkeit‘ – durchgängig mitbezeichnen.43 In semantischer Perspektive, nämlich was die qualifizierenden Adjektive in diesen Junkturen betrifft, steht das Russische hingegen den romani„facoltà universitaria nella quale si coltivano gli studi umanistici“ auch den definitorischen Schlusspunkt unter den (insgesamt deutlich ausführlicheren und historisch profunderen) Eintrag bei Battaglia setzt (GDLI (1973), Lettera, S. 979) – scheint sich die italienische Lexikographie allerdings eher schwer damit zu tun, die lettere (noch) als Konzept zu erkennen, die ein eigenständiges oder gar in Konkurrenz mit anderen Wissensformen stehendes Wissensgebiet bezeichnet. So verwundert es zwar keineswegs, dass das Dizionario Garzanti die Bedeutung „studi, cultura in generale“ als obsolet bezeichnet (GIGD (2003), Lettera, S. 1208); umso überraschender ist es hingegen, wenn die Enciclopedia Agostini mit den Worten „[d]ottrina, istruzione, in partic[olare] quella che si acquista con studi letterari“ auch für den aus dem Studium der Literatur(en) erwachsenden spezifischen intellektuellen Habitus zu dem gleichen Ergebnis kommt (NEGA (1995), Lettera, S. 4134). Anders stellt sich die Sachlage da schon in dem (freilich stärker historiographisch orientierten) Wörterbuch Battaglias dar, das auf die fundamentale Einheit der lettere als Wissensfeld und Wissenshabitus verweisende Bedeutungsschichten rekurriert, wie sie etwa in der Definition als „[c]omplesso di nozioni acquisite mediante i buoni studi e le assidue letture“, „cultura (per lo più di tipo umanistico e letterario), vasta, profonda, raffinata“ oder – enger gefasst – als „complesso di studi, di cognizioni e di opere che riguardano la lingua, la letteratura, l’eloquenza, la storia“ zum Ausdruck kommen. Mit der Feststellung einer bipolaren Frontstellung zwischen scienze und lettere scheint sich allerdings auch Battaglia schwer zu tun, der die lettere – offenkundig historisierend – vielmehr in einen Dreifrontenkrieg mit den Wissenschaften, den bildenden Künsten und der Kriegskunst verwickelt zu sehen scheint, wenn er schreibt, der Ausdruck könne sich auch auf „l’attività svolta da chi si applica alle discipline umanistiche, e in partic[olare], alla letteratura“ beziehen und dann in Parenthese die Anmerkung folgen lässt diese „attività“ befinde sich „per lo più in contrapposizione all’esercizio delle scienze, delle arti, e delle armi.“ (GDLI (1973), Lettera, S. 979). Nur eines der von mir konsultierten sechs Diktionarien und Enzyklopädien, nämlich das Dizionario Hoepli, kommt ohne Umschweife zu der Definition, die in spanischen und französischen Nachschlagewerken gleichsam zum Standard zu gehören scheinen: „Le materie letterarie, quali la letteratura, la storia, la filosofia, la lingua, la filologia e sim[ili], considerate nel loro complesso e in contrapposizione a quelle scientifiche“ (GDHI (2011), Lettera, o.S.).43 43 Entsprechend findet der Ausdruck естественные науки im Kleinen Akademischen Wörterbuch seinen Platz als zentrales Anwendungsbeispiel des Adjektivs естественный, das seinerseits als „[с]вязанный с изучением природы“ (‚das Studium der Natur betreffend‘) definiert wird (MAS (1999), Jestestwenny, S. 467). Ganz ähnlich lautet der Eintrag im Großen Bedeutungswörterbuch der russischen Sprache, das die Bestimmung des fraglichen Adjektivs noch

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schen Sprachen und dem Englischen näher als dem Deutschen. Denn das Determinans гуманитарный (gumanitarny), das offenkundig eine Lehnbildung zum französischen humanitaire darstellt, verweist natürlich keineswegs auf irgendein Äquivalent des deutschen Wortes ‚Geist‘, obwohl eine Auseinandersetzung mit diesem Konzept um 1900 in Russland durchaus nachweisbar ist, sondern auf den ‚Menschen‘ oder die ‚Menschheit‘.44 Allerdings wird diese grundsätzliche Symmetrie ein wenig durch die Existenz des echten Kompositums естествознание (jes43 um die Junktur „и её [i.e. природы] законов“ (‚und ihre Gesetze‘) ergänzt und zugleich erläutert, dass es sich bei естественные науки um den „общ[ие] названи[я] геологии, биологии и др.“ (‚den Oberbegriff von Geologie, Biologie etc.‘) handelt (BTS (1998), Jestestwenny, o.S.). Spiegelsymmetrisch dazu stellen die гуманитарные науки das wichtigste Anwendungsbeispiel der entsprechenden Einträge zum Adjektiv гуманитарный dar. Auffällig ist dabei, dass dieses Adjektiv häufig nicht nur – wie etwa im Großen Enzyklopädischen Wörterbuch, das freilich neben „гуманитарные науки“ auch noch „гуманитарные проблемы“ (‚humanitäre Fragen‘) und „гуманитарная помощь“ (‚humanitäre Hilfe‘) als exemplarische Determinativkomposita listet – als allgemeines Eigenschaftswort „обращенный к человеческой личности, к правам и интересам человека“ (‚die menschliche Persönlichkeit/ Wesen, die Rechte und Interessen der Menschen betreffend‘) (BES (1997), Gumanitarny, o.S.), sondern als ein Epitheton bestimmt wird, durch das diese Eigenschaften als Gegenstand der Wissenschaften erscheinen. Dabei kann die genauere Bestimmung dieser Gegenstände freilich variieren: Während das aus den 1930er Jahren datierende Bedeutungswörterbuch von Dmitri Uschakow diese lediglich als „[о]тносящийся к циклу наук о человеке и культуре“ (‚den Kreis der Wissenschaften vom Menschen und der Kultur betreffend‘) identifiziert (TSJ (1935), Gumanitarny, S. 638f.), definiert das Große Bedeutungswörterbuch aus den 1990er Jahren sie als „[о]тносящийся к наукам, изучающим историю и культуру человеческого общества“ (‚die Wissenschaften betreffend, die sich dem Studium der Geschichte und Kultur der menschlichen Gesellschaft widmen‘) und setzt parallel dazu гуманитарные науки in einer Parenthese mit dem Ausdruck общественные науки (‚Gesellschaftswissenschaften‘) – der seinerseits durch „философия, история, литературоведение, языкознание и т.п.“ (‚Philosophie, Geschichte, Literatur(wissenschaft), Linguistik etc.‘) exemplifiziert wird – gleich (BTS (1998), Gumanitarny, o.S.). Und das Kleine Akademische Wörterbuch bestimmt das Adjektiv gleich ganz als „[о]тносящийся к общественным наукам, изучающим человека и его культуру“ (‚die Gesellschaftswissenschaften betreffend, die sich dem Studium der Menschen und ihrer Kultur widmen.‘) (MAS (1999), Gumanitarny, S. 357). Vollständig einig sind sich die Wörterbücher allerdings in der Oppositionsbeziehung des Terminus гуманитарные науки zum Begriff естественные науки, wenn sie ihn als „в противоп[оложность] наукам о природе“ (‚im Gegensatz zu den Wissenschaften von der Natur‘) (TSJ (1935), Gumanitarny, S. 638f.) bzw. „в отличие от естественных [i.e. науках]“ (‚im Unterschied zu den Naturwissenschaften‘) stehend definieren (BTS (1998), Gumanitarny, o.S.). 44 Für die Etymologie vgl. etwa das Große Enzyklopädische Wörterbuch, das zu Beginn des Lemmas гуманитарный klarstellt: „франц. humanitaire – от лат. humanitas“ (BES (1997), Gumanitarny, o.S.). Damit ergibt sich freilich die kuriose Situation, dass im Russischen die Geisteswissenschaften unter Verwendung eines Lehnworts (гуманитарный) und die Naturwissenschaften unter Rekurs auf ein Erbwort (естественный) bezeichnet werden, und damit gleichsam in spiegelbildlicher Verkehrung zum Deutschen, wo das Erbwort Geist dem (freilich kaum noch als solches empfundenen) Lehnwort Natur gegenübersteht. Zur Rezeption des deutschen Geist-Begriffes in Russland um 1900 vgl. Michael Dewey (2004), „Wir sind ohne den ‚Geist‘ der Deutschen ausgekommen…“ Zum ambivalenten Verhältnis der russischen Formalisten zu den deutschen Geisteswissenschaften, in: Scientia Poetica. Jahrbuch für Geschichte der Literatur und der Wissenschaften, 8, S. 69–96.

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testwosnanije) gestört, das im Laufe des 19. Jahrhunderts als Ausdruck zunächst für die als mathematisierbar geltenden Naturwissenschaften in Gebrauch gekommen zu sein scheint45 und sich im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einem allgemein gebräuchlichen Ausdruck zur Bezeichnung der Gesamtheit aller naturwissenschaftlichen Fächer gewandelt und insofern als Synonym für ‚Naturwissenschaften‘ fest etabliert hat.46 Denn zumindest auf den ersten Blick scheint ihm auf der Seite der ‚Geisteswissenschaft‘ kein wirklich gebräuchliches Äquivalent zu korrespondieren47 – mit dem Effekt, dass sich gewissermaßen eine zu den asymmetrischen Verhältnissen im 45 So betont etwa das Enzyklopädische Wörterbuch Brockhaus und Efron im ausgehenden 19. Jahrhundert in seiner Definition von естествознание eingangs die mathematisch-mechanistische Grundausrichtung, zählt im weiteren Verlauf des Artikels dann aber auch die naturgeschichtlichen Fächer zum Kreis der durch естествознание bezeichneten Fächer dazu (EBJ (1894), Jestestwosnanije, S.687ff.). Im 18. Jahrhundert scheint der Ausdruck hingegen noch nicht gebraucht worden zu sein, wie sich der Tatsache entnehmen lässt, dass das Wörterbuch des 18. Jahrhunderts ihn nicht unter seine Lemmata aufgenommen hat. Tatsächlich dürfte zu dieser Zeit so etwas wie die Gesamtheit aller Naturwissenschaften im heutigen Sinne, wenn überhaupt, am ehesten durch den Ausdruck естествословие bezeichnet worden sein (vgl. SWW (1992), Jestestwoslowije, S. 85). Daneben findet sich in einem Zitat allerdings auch schon ein Nachweis für den Ausdruck естественная наука, als die in einer russischen LinnéÜbersetzung des 18. Jahrhunderts etwa die Botanik identifiziert wird. Üblicher scheint es freilich gewesen zu sein, dieses Fach (wie andernorts auch) gemeinsam mit Mineralogie und Zoologie unter dem Begriff der естественная история zu subsumieren (vgl. SWW (1992), Jestestwenny, S. 82f.). 46 So definieren das Große Akademische Wörterbuch und das Kleine Akademische Wörterbuch естествознание textidentisch als „Система наук о явлениях и закономерностях природы“, also als ‚System der Wissenschaften von den Phänomenen und Gesetzen der Natur‘ (MAS (1999), Jestestwosnanije, S. 467; BTS (1998), Jestestwosnanije, o.S.). Das Große Enzyklopädische Wörterbuch, das den Ausdruck recht ähnlich als „совокупность наук о природе“, also als ‚Gesamtheit der Wissenschaften von der Natur‘ erklärt, verweist darüber hinaus explizit auf die Synonymie mit dem Ausdruck естественные науки und betont außerdem den Gegensatz des Begriffs zu den – hier unter dem Namen обществоведение firmierenden – Gesellschaftswissenschaften (BES (1997), Jestestwosnanije, o.S.). 47 Zwar findet sich in zweisprachigen Wörterbüchern jüngeren Datums zuweilen neben гуманитарные науки auch das Einzelwortlexem человековедение als mögliches russisches Äquivalent des deutschen Ausdrucks ‚Geisteswissenschaften‘ (vgl. WPRU (2011), Nauka, o.S.). Der tatsächliche Gebrauch dieses Lexems ist allerdings sehr schwankend und kommt nur sehr bedingt mit dem Fächerkanon, der traditionell durch den Begriff гуманитарные науки bezeichnet wird, zur Deckung. Tatsächlich findet er ebenfalls sowohl Anwendung im schuldidaktischen Kontext (in dem er wohl am ehesten durch den Ausdruck ‚Lebensführung‘ wiederzugeben ist) als auch in erkenntnistheoretischen Zusammenhängen (wo er einen spezifischen wissenschaftlichen Habitus bezeichnet). Darüber hinaus hat er allerdings als wissenschaftspolitisches catchword auch Einzug ins Hochschulwesen gehalten, wo er (teils in Konkurrenz mit dem Ausdruck человекознание, der seinerseits zuvor bereits als puristisches Synonym für антропология im Gebrauch gewesen zu sein scheint) als klangvolle Benennung für bestimmte neu eingerichtete Studiengänge, die andernorts vielleicht Namen wie Human Studies oder Humanwissenschaften tragen würden, in Mode zu kommen scheint. Vgl. etwa die Informationen zu einem entsprechenden Studiengang an der kirgisisch-kasachisch-tadschikischen Universität Zentralasien unter Университет Центральной Азии (ред.) (2012), Проект Ага Хана «Человековедение» (ПАХЧ), URL: http://www.ucentralasia.org/downloads/brief_akhp_russian.pdf.

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Italienischen und Spanischen in onomasiologischer Hinsicht spiegelverkehrte Situation ergibt, die freilich in semasiologischer Hinsicht denselben Effekt zeitigt: Während nämlich in den beiden romanischen Sprachen die Wissenschaftlichkeit der Naturwissenschaften in der Signifikantengestalt der Ausdrücke ciencias bzw. scienze explizit behauptet, die Wissenschaftlichkeit der Geisteswissenschaften dagegen in ihrer Benennung als discipline umanistiche bzw. humanidades implizit in Frage gestellt wird, wirkt es im Russischen beinahe so, als ob die Wissenschaftlichkeit der Geisteswissenschaften im Ausdruck гуманитарные науки ausdrücklich betont werden müsste, während sich die Naturwissenschaften gleichsam ihrer intrinsischen Wissenschaften so gewiss sein können, dass sie sich auch mit dem sich im Kompositum естествознание verbergenden Charakter als знание (snanije), d.h. also als (nicht notwendig wissenschaftliches) ‚Wissen‘ oder einer (bloßen) ‚Kunde‘ als Bezeichnung begnügen können. Allerdings relativiert sich dieses onomasiologische Ungleichgewicht ein wenig angesichts der Tatsache, dass im Russischen so gut wie nicht zwischen dem Bereich der ‚Geisteswissenschaften‘ einerseits und dem Bereich der Gesellschafts- oder Sozialwissenschaften andererseits unterschieden wird. Tatsächlich wird der Ausdruck гуманитарные науки nicht selten annähernd synonym mit den beiden (ihrerseits zumindest auf der denotativen Ebene weitgehend gleichbedeutenden) Junkturen общественные науки (obschtschestwennyje nauki) (‚die die Gesellschaft oder Öffentlichkeit betreffenden Wissenschaften‘) und социальные науки (sozijalnyje nauki) gebraucht.48 Als Synonym für обществен48 So erklärt etwa das Große Bedeutungswörterbuch, dass es sich bei den общественные науки um „науки[.], изучающие историю общества и закономерности его развития“ (‚Wissenschaften, die sich dem Studium der Geschichte der Gesellschaft und der Gesetze ihrer Entwicklung widmen‘) handelt. Als Beispiele gibt sie „история, политическая экономия, философия и т.п.“ (‚Geschichte, politische Ökonomie, Philosophie etc.‘) an, und listet damit mindestens zwei Fächer, die beispielsweise im Deutschen traditionellerweise tendenziell (Geschichte), wenn nicht gar definitiv (Philosophie), zu den Geisteswissenschaften gerechnet werden würden (BTS (1998), Obschtschestwenny, o.S.). Das Kleine Akademische Wörterbuch setzt die общественные науки sogar vollkommen mit den гуманитарные науки gleich und exemplifiziert diesen geistes- und sozialwissenschaftlichen Gesamtkomplex vermittels der Fächerreihe „история, политическая экономия, филология и др.“ (‚Geschichte, Ökonomie, Philologie, etc.‘) (MAS (1999), Obschtschestwenny, S. 576). Daneben identifiziert es im entsprechenden Eintrag zugleich auch die социальные науки mit den общественные науки (vgl. MAS (1999), Sozijalny, S. 214). Im Übrigen ist es angesichts der Tatsache, dass sich durch die zentrale Dichotomie von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften mit ihrem Rekurs auf die Adjektive гуманитарный und естественный die Differenz zwischen lehnwort- und erbwortbasierter Wortbildung zieht, gewissermaßen nur konsequent, wenn auch die Bezeichnungspraxis bei den Gesellschafts- bzw. Sozialwissenschaften mit den auf einer gelehrten Neubildung des ausgehenden 19. Jahrhunderts basierenden общественные науки einerseits und den auf einem ungefähr zeitgleich entlehnten Adjektiv basierenden социальные науки durch diese Differenz markiert wird – eine Differenz, die im Übrigen trotz der weitgehenden Synonymie in denotativer Hinsicht, auf der konnotativen Ebene gleichwohl in ein komplexes Spannungsfeld von sprachpolitischen und politideologischen Präferenzen eingebettet zu sein scheint, wie sich beispielsweise dem (teils als expliziter Diskussionsbeitrag und teils als bloßer Reflex dieser Verhältnisse zu wertenden) Eintrag zum Lemma ‚Gesellschaftswissenschaften‘ in der russischen Wikipedia entnehmen lässt (vgl. WPRU (2011), Obschtschestwennyje nauki, o.S.).

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ные науки wiederum steht das echte Kompositum обществоведение (obschtschestwowedenije) zur Verfügung, durch das in der Sowjetunion zwar alternativ zum Ausdruck обществознание (obschtschestwosnanije) auch der Staatsbürgerkundeunterricht in den Primar- und Sekundarschulen bezeichnet werden konnte, der zugleich stets aber auch auf die Gesamtheit der Naturwissenschaften im Hochschulsektor Anwendung gefunden hat, so dass der Opposition der Junkturen естественные науки vs. общественные науки in letzter Instanz die Opposition der Komposita естествознание vs. обществоведение doch einigermaßen symmetrisch gegenübersteht.49 Klar ist allerdings auch, dass diese bezeichnungsmäßige Symmetrie von Natur- und Gesellschaftwissenschaften letztlich auf Kosten des klassisch-humanistischen Traditionszusammenhangs und der historisch-philologischen Grundhaltung geht, wie sie in dem Adjektiv гуманитарный zumindest noch als entferntes Echo enthalten ist. Das zeigt sich nicht zuletzt an der historischen Entwicklung der Beziehung zwischen dem Ausdruck гуманитарные науки auf der einen und den Bezeichnungen социальные bzw. общественные науки und обществознание auf der anderen Seite. So erscheinen die гуманитарные науки in der russischen Lexikographie bzw. Enzyklopädistik um 1900 noch klar als Oberbegriff der социальные науки, die dort ihrerseits als Gesamtheit der ‚Wissenschaften von der Gesellschaft‘ definiert werden (während die Einzahl zum Teil auch als Synonym von ‚Soziologie‘ gelistet wird). In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hingegen haben sich die социальные bzw. общественные науки offenkundig bereits in den Rang eines vollgültigen Synonyms der гуманитарные науки vorgearbeitet, wenn sie nicht zuweilen sogar als Oberbegriff der letzteren empfunden

49 In diesem Sinne definiert das aus den 1930er Jahren datierende Bedeutungswörterbuch обществоведение als „[с]овокупность наук об обществе, гуманитарные науки“ (‚die Gesamtheit der Wissenschaften von der Gesellschaft‘), wobei es sie freilich zugleich mit den гуманитарные науки identifiziert (TSJ (1938), Obschtschestwowedenije, S. 731). Bündiger noch lautet in den 1990er Jahren die entsprechende Definition im Kleinen Akademischen Wörterbuch: „[н]аука об обществе“ (‚Wissenschaft von der Gesellschaft‘) (MAS (1999), Obschtschestwowedenije, S. 577). Hingegen wird der Ausdruck обществознание, wie hier im Großen Bedeutungswörterbuch aus den 1990er Jahren, heutzutage zumeist durch Formulierungen wie „[с]овокупность наук об обществе, изучаемых в средней школе“ (‚Gesamtheit der Wissenschaften von der Gesellschaft, die an weiterführenden Schulen studiert werden‘) erläutert (BTS (1998), Obschtschestwosnanije, o.S.). In der in diesem Zusammenhang genannten Reihe von zugehörigen Fächern findet neben den Äquivalenten für den Geschichts- (история), Wirtschafts- (экономика) und Ethik-Unterricht (этика) allerdings auch der Ausdruck обществоведение seinen Platz. Insofern wird deutlich, dass dieser Ausdruck in der Tat neben seiner hyperonymischen Funktion als Bezeichnung für die Gesamtheit aller Gesellschaftswissenschaften (im akademischen Sinne) zugleich stets auch eine hyponymische Funktion als Bezeichnung für ein spezielles Schulfach zu erfüllen hatte, das wohl am besten durch die deutschen Begriffe ‚Gemeinschaftskunde‘ oder ‚Staatsbürgerkunde‘ wiedergegeben sein dürfte. Der russischen Wikipedia kann man darüber hinaus entnehmen, dass der Terminus обществознание in der Russischen Föderation inzwischen offiziell den Ausdruck обществоведение als Bezeichnung für dieses zur Zeiten der Sowjetunion gelehrte Schulfach ersetzt hat (WPRU (2011), Obschtschestwosnanije, o.S.).

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werden.50 Dabei spricht einiges dafür, dass sich diese Entwicklung im Russischen, auch zu einem guten Teil (wenn auch angesichts vergleichbarer Entwicklungen in anderen europäischen Sprachen sicherlich nicht ausschließlich) der sozialistischen Tradition verdankt – wird in dieser Bezeichnungspraxis doch implizit die weitgehende Gleichrangigkeit der Erforschung der Gesetze der Natur und die Erforschung der Gesetzmäßigkeiten der Gesellschaft behauptet, der sich die traditionell eher idiographisch ausgerichteten Wissensformen, die den ursprünglichen Kern der гуманитарные науки ausgemacht hatten, im Sinne des Basis-Überbau-Schemas quasi als Wissenschaften gesellschaftlicher Epiphänomene unterzuordnen haben. Darüber hinaus dürfte die sozialistische Tradition schließlich auch für eine weitere Besonderheit des Russischen mitverantwortlich sein,51 nämlich den im Vergleich zu anderen Sprachen deutlich stärker als eigenständig markierten Status der Ingenieurs- oder Technikwissenschaften (технические науки, technitscheskije nauki),52 50 In diesem Sinne betont etwa das Enzyklopädie Wörterbuch Brockhaus und Efron im Jahre 1900 die ‚enge Verwandtschaft‘ der социальные bzw. общественные науки mit den гуманитарные науки (die selbst wiederum als ‚dem Studium der geistigen Aspekte des menschlichen Lebens‘ gewidmete Wissenschaften erscheinen) und erklärt dann, dass die социальные науки von einigen ‚als besonderer Zweig der гуманитарные науки‘ angesehen werden: „В ближайшем родстве науки находятся с науками гуманитарными, изучающими духовную сторону жизни человека; некоторые видят в них лишь особый отдел гуманитарных наук.“ (EBJ (1900), Sozijalnyje nauki, S. 76f.). Und auch in Uschakows Bedeutungswörterbuch aus den 1930er Jahren erscheinen die гуманитарные науки schon als vollwertiges Synonym der обществоведение in ebendiesem Eintrag. Umgekehrt findet sich allerdings noch kein Verweis auf обществоведение oder die (übrigens als Kultismus geführten) общественные науки innerhalb des Lemmas гуманитарный (vgl. TSJ (1938), Obschtschestwowedenije, S. 731; TSJ (1935),Gumanitarny, S. 638f.). Anders verhält es sich (wie in Anmerkung 43 gesehen) mit den aus den 1990er Jahren datierenden Ausgaben des Großen Bedeutungswörterbuchs und des Kleinen Akademischen Wörterbuchs, die in den den гуманитарные науки gewidmeten Lemmata dieselben mehr oder weniger klar mit den общественные науки identifizieren, umgekehrt aber in den Einträgen zu den общественные науки bzw. Обществоведение auf einen Querverweis auf die гуманитарные науки verzichten (vgl. BTS (1998), Gumanitarny, o.S.; MAS (1999), Gumanitarny, S. 357). 51 Immerhin betont schon das Kommunistische Manifest den zentralen Zusammenhang zwischen technologischer und gesellschaftlicher Entwicklung. Vgl. Karl Marx & Friedrich Engels (1959), Manifest der Kommunistischen Partei, in: Karl Marx & Friedrich Engels (1956–1990), Marx-Engels-Werke, Berlin: Karl Dietz-Verlag, Bd. 4, S. 495–493, hier: S. 463f. und 466f. 52 Im Sinne einer solchen quaternären Wissenschaftsgliederung heißt es etwa im Großen Enzyklopädischen Wörterbuch explizit, dass sich das System der Wissenschaften insgesamt in естественные науки ‚Naturwissenschaften‘, технические науки ‚Technikwissenschaften‘, общественные науки ‚Gesellschaftswissenschaften‘ und гуманитарные науки ‚Geisteswissenschaften‘ gliedert (BES (1997), Nauka, o.S.). Alternativ findet sich in neueren lexikographischen Werken zuweilen auch die analoge Reihe естествознание, технознание, обществознание, человековедение, in der die adjektivischen Determinativkomposita unter Verwendung des Elements знание ‚Wissen, Kenntnis, Kunde‘ bzw. ведение ‚Kompetenz, Führung, Leitung‘ in Komposita aufgelöst scheinen, und die sich wohl respektive am besten durch ‚Naturkunde‘, ‚Technikkunde‘, ‚Gesellschafts- oder Sozialkunde‘ und ‚Menschenkunde‘ (oder vielleicht auch, weniger wörtlich, als ‚Lebensführung‘) wiedergeben lassen (vgl. etwa WPRU (2011), Nauka, o.S.).

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die damit im Kanon der Bezeichnungen der Wissensfelder eine vergleichbar herausgehobene Stellung wie im Französischen die als sciences politiques apostrophierten politisch-administrativen Fächer einnehmen,53 und deren Abgrenzung von den Naturwissenschaften im Wesentlichen über das Kriterium der Anwendungsbezogenheit und unmittelbaren industriell-ökonomischen Verwertbarkeit erfolgt. 3. Zusammenfassung und Ausblick Ohne Frage also bestehen aller Internationalisierung in den letzten Jahrzehnten zum Trotz auch heutzutage noch erhebliche Unterschiede in Gestalt und Zuschnitt des Wissenschaftsbegriffs in den sechs Sprachen, die im Zentrum des vorliegenden Beitrags standen, und man darf annehmen, dass die sprachspezifischen Ausprägungen des Wissenschaftsbegriffs in ihrem jeweiligen Einzugsbereich nach wie vor in nicht unerheblichem Ausmaß den jeweiligen Kurs akademischer Wissensproduktion und den Diskurs über dieselbe mitgestalten. Deutlich werden diese sprachspezifischen Unterschiede bereits bei der vergleichenden Betrachtung der formalen Definition des Wissenschaftsbegriffs in einschlägigen Wörterbüchern und Enzyklopädien der einzelnen Sprachen, für die sich trotz eines grundsätzlich gemeinsamen Definitionskerns eine Reihe von zwischensprachlichen Varianzen hinsichtlich des vom jeweiligen Wissenschaftsbegriff sanktionierten Methodenarsenals und der Reichweite ihres kanonischen Gegenstandsbereichs feststellen lassen. Am weitesten scheinen dabei der englische und der deutsche Wissenschaftsbegriff auseinanderzuliegen, insofern der deutsche Terminus das gesamte methodische Spektrum zwischen nomothetisch-explanativem und ideographisch-interpretativem Zugriff als zulässig erscheinen lässt, während sein englisches Äquivalent im Grunde nur einen nomothetisch-explanativen Operationsmodus als wissenschaftlich gelten lässt. Dieser anhand der Analyse der formalen Definitionen des Wissenschaftsbegriffs gewonnene Befund hat sich im Weiteren dann auch im Zuge der Untersuchung der sprachspezifischen Gestalt der großen Dichotomie bestätigt, durch die sich der Wissenschaftsbegriff in zwei große untergeordnete – im Deutschen für gewöhnlich als natur- und geisteswissenschaftlich apostrophierte – Wissenssphären teilt. Tatsächlich erweisen sich die zwischensprachlichen Unterschiede in dem fraglichen Begriffsfeld in diesem Zusammenhang sogar als noch ausgeprägter. Dabei betreffen die Varianzen sowohl den jeweiligen denotativen und konnotativen Gehalt der beiden Glieder der Dichotomie als auch die Frage nach der Existenz bzw. dem Fehlen eines beide Wissenssphären gemeinschaftlich umfassenden Oberbegriffs. Diejenigen Sprachen wiederum, die über ein beide Terme der Opposition überdachendes Hyperonym verfügen, unterscheiden sich zum Teil erheblich hinsichtlich des im Begriffsfeld herrschenden Symmetriegrades. Denn dort, wo die zwei Unterbegriffe nicht durch einen neutralen oder sich als morphologisches Element symmetrisch auf beide Unterbegriffe vererbenden Oberbegriff zusammengebunden werden, 53 Zur Rolle der sogenannten sciences po in Frankreich siehe zur ersten Orientierung Durand, Neubert, Röseburg & Viallon (2007), a.a.O., S. 77.

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kommt es aufgrund der Überlappung zwischen übergeordneten und untergeordneten Termen unweigerlich zu Asymmetrien im Begriffsfeld – mit der Folge, dass einige Sprachen gleichsam bereits auf der Signifikantenebene die Auffassung manifestieren, dass sich in Wirklichkeit nicht zwei grundsätzlich gleichberechtigte Wissenssphären gegenüberstehen, sondern ein eigentliches substantiell-substantivisches Wissenschaftsfeld allenfalls die Existenz eines zweiten akzidentiellepithetischen Wissenschaftsfeldes im übertragenen Sinne duldet. Schließlich differenziert sich der sprachliche Fächer noch dadurch weiter, dass in einigen – und zwar vor allem in den drei romanischen – Sprachen ein zentrales aktuelles Gegensatzpaar, das etymologisch an die beiden lateinischen Ausdrücke scientia und humanitas anknüpft, mit einem älteren Begriffspaar konkurriert, das in der Tradition einer Opposition von scientia und litterae steht und hinsichtlich der Frage nach fortgesetzter Geltung wie auch hinsichtlich der Frage, inwieweit es mit seinem jüngeren Konkurrenten zur Deckung kommt, unterschiedliche Werte annehmen kann. Auf der Basis dieser Kriterien erscheinen das Englische und Deutsche somit insgesamt wie zwei gegensätzliche Pole, zwischen denen sich seine französischen, spanischen, italienischen Äquivalente wie auf einem Kontinuum ansiedeln. Während die Dichotomie im Französischen dabei gleichsam die Mittelstellung zwischen ihrem deutschen und englischen Widerpart behauptet, nähert sich die Konstellation im Russischen eher der Situation im Deutschen und der Zuschnitt des Feldes im Spanischen und Italienischen eher dem im Englischen. Dabei darf man davon ausgehen, dass sich die Differenzen zwischen den unterschiedlichen Sprachen noch größer ausnehmen würden, wenn man in die Untersuchung auch noch die sogenannte „dritte Kultur“ einbeziehen und die Analyse auf also das trichotomische Verhältnis von Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften ausdehnen würde. Darauf konnte im Rahmen dieses Enzyklopädischen Stichworts angesichts der ziemlich komplexen semantischen und – wie es scheint – auch historisch deutlich größeren Schwankungen unterworfenen Beziehungen innerhalb dieser Trichotomie nur am Rande eingegangen werden. Einige Vorüberlegungen und vorläufige Hypothesen zu dieser Thematik seien daher an dieser Stelle abschließend gleichsam in Thesenform präsentiert. Dabei ist freilich zunächst einmal zu berücksichtigen, dass sich die sechs Sprachen unter dem doppelten Gesichtspunkt der jeweiligen Signifikantengestalt der drei Begriffe und der Beziehungen der Signifikate dieser Begriffe untereinander nach einem etwas anderen Muster als unter dem Blickwinkel des Verhältnisses zwischen der zentralen Dichotomie von Natur- und Geisteswissenschaften und ihrem gemeinsamen Oberbegriff anordnen. Denn unter diesen Voraussetzungen reicht die Vorstellung von zwei entgegengesetzten Polen, unter Bezug auf die sich die einzelnen Sprachen verorten ließen, naturgemäß nicht mehr zur Darstellung der entsprechenden Verhältnisse aus. Stattdessen wäre wohl eher von vier Polen auszugehen, die die Extrempunkte zweier orthogonal aufeinander stehendender Achsen konstituieren, und an denen (oder zwischen denen) sich die jeweiligen Sprachen ansiedeln. In der Logik eines solchen Schemas und gleichsam in binaristischer Zuspitzung formuliert, stünden sich dann – so jedenfalls zeichnet es sich nach einem ersten groben Überblick ab – auf der einen Seite das Deutsche und das Spanische und auf

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der anderen Seite eine Gruppe, die das Englische und Italienische enthält, und eine Gruppe, die das Französische und Russische umfasst, jeweils nach Art einer Komplementärverteilung diametral gegenüber, insofern die diesen vier Polen zugeordneten Gruppen von Sprachen jeweils paarweise sowohl hinsichtlich der Signifikantengestalt als auch hinsichtlich der Signifikatsverhältnisse sozusagen vollständig entgegengesetzte Werte annehmen. Denn in der Tat scheint die Situation im Deutschen (mit der Reihe Naturwissenschaften, Sozialwissenschaften und Geisteswissenschaften) insgesamt durch eine starke morphologische Homogenität (also die durchgängige Rekurrenz wortbildungsmäßiger Elemente in allen drei Begriffen) auf der Signifikantenseite und zugleich durch einen relativ hohen Grad von wechselseitiger semantischer Undurchlässigkeit (also eine weitgehende Überschneidungsfreiheit der Bedeutungsgehalte der betreffenden Begriffe) auf der Signifikatsseite gekennzeichnet zu sein, wohingegen das Spanische (mit der Reihe ciencias (naturales), ciencias sociales und humanidades) signifikantenseitig eine starke morphologische Inhomogenität und zugleich einen relativ hohen Grad wechselseitiger semantischer Durchlässigkeit auf der Signifikatsseite aufweist. Das Französische (mit der Reihe Sciences (naturelles), Sciences sociales und Sciences humaines) und das Russische (mit der Reihe естественные науки, общественные bzw. социальные науки und гуманитарные науки) wiederum scheinen sowohl signifikantenseitig durch eine vergleichsweise starke morphologische Homogenität als auch durch einen ziemlich hohen Grad von semantischer Durchlässigkeit auf der Signifikatsseite geprägt zu sein, während umgekehrt dem Englischen (mit der Reihe sciences, social sciences und humanities) und dem Italienischen (scienze (naturali), scienze sociali und discipline umanistiche) gleichermaßen die Eigenschaft starker morphologischer Inhomogenität auf der Signifikantenseite und eines recht hohen Grads an semantischer Undurchlässigkeit auf der Signifikatsseite zukommt. Wie sich die Wissenschaftsbegriffe in den unterschiedlichen Sprachen, sei es nun im Sinne ihrer grundsätzlichen Definition oder im Sinne ihres Verhältnisses zu ihren potentiellen Unterbegriffen, in Zukunft weiter entwickeln werden, ob sie sich im Zuge der Internationalisierung und Europäisierung (deren Schicksal angesichts der aktuellen Renationalisierungsbestrebungen im Gefolge der europäischen Finanz- und Staatsschuldenkrise ohnedies ungewisser denn je erscheint) zwischensprachlich eher angleichen oder eher weiter auseinanderdriften werden, ist naturgemäß nicht abzusehen – und dürfte abseits futurologischer Kongresse allen regionalen und sprachlichen Unterschieden in der Begrifflichkeit zum Trotz wohl durchgängig auch nicht als wissenschaftliche Fragestellung angesehen werden. Wie der Wissenschaftsbegriff allerdings seit Ablösung des alteuropäischen Begriffs der scientia durch entsprechende nationalsprachliche Äquivalente jeweils die Bedeutung angenommen hat, die ihm heute in den unterschiedlichen europäischen Sprachen zukommt, wie sein jeweiliger Zuschnitt die Entwicklung in den jeweiligen sprachspezifischen Forschungskontexten und die darüber jeweils geführten Diskurse geprägt hat, und wie er in seiner Multiformität Rezeptionsprozesse auf internationaler Ebene beinflusst hat bzw. umgekehrt durch diese beeinflusst worden ist – das könnte durchaus eine wichtige Frage für eine Geschichte

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der Wissenschaften sein. Schließlich macht es, um mit einem vielzitierten Bild der jüngeren Wissensgeschichte zu schließen, durchaus einen Unterschied, ob das Gesicht des Menschen eher an wissenschaftlichen oder eher an nicht-wissenschaftlichen Gestaden zu finden ist und ob es in Sand von buchstäblicher, menschlicher oder geistiger Konsistenz gezeichnet ist – jedenfalls solange nicht sicher ist, ob es eines fernen Tages von den Wellen hinweggewaschen oder aber in Beton gegossen werden wird.

Bibliographie 1. Allgemeine Wörterbücher und Nachschlagewerke 1.1. Einsprachige Wörterbücher 1.1.1. Deutsch BE (2006), Geisteswissenschaften

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Artikel / Papers / Articles

Monstrous Medicine A Study of British Teratology in the Nineteenth Century Katherine Angell

Abstract In this paper, I provide evidence of an inconsistency within the concept of monstrosity within nineteenth century medical debate. Using medical reports and journals alongside the autobiography of Joseph Merrick, I concentrate on three areas: the use of classification systems in the diagnosis of monstrosity, the explanations given for the causes of monstrosity and experimental embryology. Expanding on the existing research of Eveleen Richards and Jane Oppenheimer who identify the monster as a site of contestation within the nineteenth-century British medical profession, I argue, that there was no clear definition of monstrosity in medicine at this time; instead, a space was created where monsters had multiple aetiologies, had different diagnoses and were analysed as individuals.1 The science of teratology encouraged wide ranging debate which led to a transformation in the understanding of monstrosity in the nineteenth century. The new discourse of monstrosity was characterised by the attempted removal of mythical explanations and an uneasy acceptance of experimental science. Joseph Merrick illustrates the inconsistency of teratological classification and diagnosis. Presented with an absence of universal medical opinion, he promoted alternative explanations for his disorder which conflicted with teratological theory. His life as an exhibit in a freak show also questioned his place within medicine and the academic legitimacy of those who treated him. His case highlights the divergence in medical opinion on monstrosity towards the end of the century.

I. Monstrosity and the Nineteenth Century In our day the taste seems to be insatiable, and hardly any medical journal is without its rare or ‘unique’ case, or one noteworthy chiefly by reason of its anomalous features. A curious case is invariably reported, and the insertion of such a report is generally productive or correspondence and discussion with the object of finding a parallel for it.2

The nineteenth century saw an increased interest within medicine in human monstrosity and its causes. Cases of abnormality were regularly displayed before pathological societies and described in medical journals. Indeed the century saw 1

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Cf. Eveleen Richards (1994), A Political Anatomy of Monsters Hopeful and Otherwise, in: Isis, 85, S. 377–411; Jane M. Oppenheimer (1968), Some Historical Relationships between Teratology and Experimental Embryology, in: Bulletin of the History of Medicine, 42, pp. 145–159. George M. Gould & Walter Pyle (1897), Anomalies and Curiosities of Medicine, London: Rebman, p. 2. Jahrbuch für Europäische Wissenschaftskultur, Bd. 7 (2012), 323–343

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the creation of two new strands of medicine in teratology (the biological study of the development, anatomy or abnormalities of monsters) and embryology (the science of the formation, early growth and development of living organisms). In this article, I argue that medicine in the nineteenth century attempted to replace traditional beliefs of monstrosity with alternative scientific explanations. However, monstrosity became contested within British medical debates which ranged from the development of classification systems to possible causes and effective treatments. Unable to provide an agreed scientific alternative to explain, diagnose and treat monstrosity, teratology became a scientific ‘limbo’. As the prominent physician William Arbuthnot-Lane explained, “[t]here is perhaps, no branch of surgery about which so many theories of causation have been evolved, and about which so much obscurity and ignorance exist even in the best standard works on surgery.”3 This article follows the debate between British teratologists attempting to classify monstrosity and find its cause and argues that Joseph Merrick’s experience of the medical profession reveals the instability of monstrous terminology. In this paper, I use the words ‘monster’ and ‘freak’. I do not use these words as pejoratives but to explain a medical concept. Interestingly, teratology retained ‘monster’ as a scientific term, and I use it only within that context. ‘Freak’ is a word only used to describe a monster who worked as a performer, and this was in keeping with descriptions and language used by the medical professionals at the time. Where other descriptions may be used without losing any historical accuracy I have done so. II. The Birth of Teratology Teratology derived from the epigenesist study of embryology, the theory that the individual is developed by structural elaboration of the unstructured egg (rather than by a simple enlarging of a preformed entity). It grounded the study of monstrous development and abnormalities firmly within scientific method and argued that human monstrosity was a result of an arrest in the evolution of the foetus in the womb.4 Teratology’s aim was to appreciate monstrosity as a natural rather than a supernatural phenomenon. An established distinction between deformity and monstrosity was made and an extensive vocabulary was developed for each; however, the boundaries of these distinctions were often contested. In the late eighteenth century teratology made many attempts to diagnose, categorise and classify human monsters. The French and German medical schools were the most prolific in their research and publications, having more developed teaching and

3

4

William Arbuthnot-Lane (1900), Cleft Palate and Adenoids. Treatment of Simple Fractures by Operation. Diseases of Joints. Operative Treatment of Cancer. Aquired Deformities, Antrectomy, Hernia, etc, 2nd ed., London: The Medical Publishing Co., p. 25. John W. Ballantyne (1896a), Teratogenesis. An Inquiry into the Causes of Monstrosities I, in: Edinburgh Medical Journal, 41, pp. 593–603.

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research methods.5 Many historians have seen British developments as having alternative influences to Europe.6 The tradition of British scientific investigation, particularly in the natural sciences, had been closer to empiricism than romanticism, which influenced much of European teaching practices.7 Empiricism emphasizes those aspects of scientific knowledge that are closely related to evidence, especially as discovered in experiments and unlike its European colleagues encouraged specialist research. It became a fundamental part of scientific method that all hypotheses and theories must be tested against observations of the natural world rather than resting solely on a priori reasoning, intuition, or revelation. Indeed romantic thinkers such as von Hardenberg found themselves criticised for a “failure to penetrate with sufficient discernment into empirical realities of natural science.”8 The refusal to presuppose a spiritual and biological unification of all worldly things created an alternative approach to teratology in Britain. Indeed medical historian Roy Porter has argued that British doctors felt pride in not being sensationalist with monsters and removing their senses from their research which is in direct opposition to the values of romantic science. In the early nineteenth century British medical journals regularly reported cases of human monstrosity, however there was no prolonged in-depth study by medical schools or the creation of expansive specimen collections that was seen in European universities. Britain was playing catch-up to the expansive research conducted in European medical schools as British medicine was still very much a profession in its infancy. Outside of the Royal College of Surgeons and the Royal College of Physicians few institutions provided resources for collective research and any scientific investigations were performed alone by enthusiasts. In comparison, Britain’s medical schools were relatively new and primarily interested in the instruction of trainee doctors in surgery. Any teratological research in Britain was often unpublished and carried out by individuals in their private surgeries and collections.9 Due to anatomical restrictions placed on British medical schools, only a small number of cadavers were available, and they were prioritised for instruction in the most common diseases. Teratology or any study of human deformity was not taught to trainee doctors in British medical schools.10 In response to the lack of resources, many 5

Gould & Pyle (1897), op. cit., p. 166. For a direct comparison of research methods, the structure of teaching practices and the medical professions themselves see also Floret Palbult (2003), Medical Students in England and France 1815–1858: A Comparative Study, unpublished PhD, University of Oxford. 6 Andrew Cunningham & Nicholas Jardine (1990), Romanticism and the Sciences, Cambridge: Cambridge University Press, p. 19. 7 Ibid., p. 19. 8 Lydia E. Wagner (1937), The Scientific Interest of Friedrich von Hardenberg (Novalis), Michigan: Edwards Brothers Inc., p. x. 9 The Grand Collectors in Britain were heavily influenced by eighteenth-century European research methods. Physicians such as John Hunter, Alexander Monro and eccentrics such as Benjamin Rackstrow created famous collections with tens of thousands of specimens. 10 Richard W. Tamplin (1846), Lectures on the Nature and Treatment of Deformities, delivered at the Royal Orthopaedic Hospital, Bloomsbury Square, London: Royal Orthopaedic Hospital, p. 1.

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doctors spent time training in Germany and France. Through European training, teratology became known within the British medical profession; however, the support for teratology within the profession never arose. The traditional arena for monstrosity was within public entertainment, not within medicine and scientific study. The refusal to recognise teratology within the profession caused suspicion to fall on those who were researching the area, and their academic legitimacy was questioned. In one editorial the British Medical Journal launched an attack on the Lancet medical journal for featuring a human monster claiming their discussion of the physiology was “a mere mask for obscenity [...] pandering to the lowest and foulest tastes.”11 The controversy surrounding the study of foetal monstrosities resulted in many doctors privately collecting work, rather than publishing it, and those who did publish risked criticism from their colleagues. The outcome was teratological research described as “widely scattered and often most unsatisfactory.”12 Prior to the classifications of monstrosity in teratology, it was generally accepted in medicine to be an extreme case of an incurable deformity. There was no definite classification for monstrosity or deformity; it was subject to the individual doctor’s opinion and their subsequent diagnosis. Many doctors found themselves explaining monstrosities through folklore or mythical tales.13 Ambroise Paré was the first to attempt a classification of monsters in the sixteenth century; he described mainly mythical monsters and creatures from folklore and provided a list of causes including the following: The glory of God, that his immense power may be manifested to those which are ignorant of it [...] Another cause is, that God may punish men’s whickednesse, or show signs of punishment at hand [...] The third cause is, an abundance of seed and overflowing matters [...] If, on the contrary, the seed be anything deficient in quantity, some or other members will be wanting, or some short and decrepit [...] The ancients have marked other causes of the generation of monsters [...] the force of imagination hath much power of the infant [...] Monsters are bred and caused by the straightnesse of the womb [...] by the ill placing of the mother in sitting, lying downe or any other site of the body in the time of her being with child [...] By the injury of hereditary diseases, infants grow monstrous, for crooke-backt produce crooke-backt, lame produces lame, flat-nosed their like [...] Monsters are occasioned by the craft and subtlety of the Devill.14

The origins of monstrosity listed by Paré were widely repeated within medical literature throughout the following centuries. Indeed, some British teratologists believed that up until the nineteenth century no medical causes had been identi11

Lisa A. Kochanek (1997), Reframing the Freak. From Sideshow to Science, in: Victorian Periodical Review, 30:3, pp. 227–243. 12 Barton C. Hirst & George A. Piersol (1891–1893), Human Monstrosities, Philadelphia: Lea, p. 1. 13 Gould & Pyle (1897), op. cit., p. 4. 14 Thomas Johnson (1678), The Works of that Famous Chirurgeon Ambroise Parley. Translated out of Latin and compared with the French, London: Clark, p. 585.

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fied. George Gould and Walter Pyle published Britain’s first classification of monsters in Anomalies and Curiosities of Medicine in 1896 (notably much later than similar European classifications), and wrote extensively on Paré, admitting that since his publication in the sixteenth century “[t]here has been little improvement in the mode of explanation of monstrous births until the present century”,15 revealing just how far British teratology was removed not only from research on the continent but also from British research in evolution and embryology. In truth, throughout the nineteenth century British physicians were debating and theorising on teratology, and were influenced by continental classifications published throughout the eighteenth-century. However, despite these early interests in monstrosity, teratology was only firmly established within European medicine until the early nineteenth century by Étienne Geoffroy Saint-Hilaire. Étienne Geoffroy St. Hilaire (1772–1844) was a French naturalist and a colleague of Jean-Baptiste Lamarck. He expanded and defended Lamarck’s evolutionary theories. He believed in the underlying unity of organismal design and amassed evidence for his claims through research in comparative anatomy, palaeontology and embryology. He first began to look at the biological causes of monstrosity in the late eighteenth century. In 1818, he published the first part of his celebrated Philosophie anatomique, the second volume of which, published in 1822, accounted for the formation of monstrosities on the principle of an arrest in development of the foetus.16 He demonstrated through anatomical studies that the cause of monstrosity was an arrest in development of the foetus. His first book of classifications, Considérations générales sur les monstres, comprenant une théorie des phénomènes de la monstruosité [...], was published in 1826, where he created a new classification system emphasizing the physical symptoms of monstrosity rather than the individual monster.17 His son Isidore Geoffroy St. Hilaire (1805–1861) continued his father’s research and coined the term ‘teratology’ in 1830 (‘terra’ meaning monster or marvel and ‘olog’ meaning to speak).18 He established a categorisation system more elaborate than his father’s, which had limited monstrosity to extreme deformities, and incorporated monstrosities that were less elaborate. He also argued that monsters should be incorporated into medical pathology and treated like any other patient.19 The St. Hilaires diagnosed monstrosity as a purely congenital phenomenon. This was for three reasons: first, 15 Gould & Pyle (1891–1893), op. cit., p. 4. 16 Dudley Wilson (1993), Signs and Portents. Monstrous Births from the Middle Ages to the Enlightenment, London: Routledge, p. 3. 17 Geoffroy St. Hilaire (1826), Considérations générales sur les monstres, comprenant une théorie des phénomènes de la monstruosité (Extrait du Dictionnaire Classique de l’Histoire Naturelle), Paris: J. Tastu. 18 These definitions are taken from the Oxford English Dictionary, see Anonymous (1989), (Art.) Teratology, in: John Simpson & Edmund Weiner (eds.), The Oxford English Dictionary, 2nd ed., vol. 17, Oxford: Clarendon, p. 674. 19 New York Academy of Medicine (2006), A Telling of Wonders: Teratology in Western Medicine through 1800. Online Exhibit of the New York Academy of Medicine. URL: http:// www.nyam.org/initiatives/im-histe_ter1.shtml (accessed December 2009).

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because extreme deformities were generally visible at birth, and it made sense to study the monstrosity where it first appeared; second, since it distanced teratology from the mythical studies of monsters, which concentrated on adults with fantastic distortions and hybrid bodies (as seen in Paré); and finally, as it encouraged the St. Hilaires’ theory that monstrosity was caused by the arrested development of the foetus in the womb. Their new classifications included a new vocabulary of scientific terminology and a detailed analysis of congenital foetal deformities. However, some British doctors struggled to accept the St. Hilaires’ diagnosis of congenital deformities being the only medical definition of human monstrosity. One such doctor was Dr William Little, an orthopaedic surgeon in the first half of the nineteenth century, who raises concern over the definition of the St. Hilaires’ monster. He argued that “[n]umerous deformities are congenital, [but] a still larger number are acquired or developed after birth.”20 Monstrosity gained after birth is not included in the St. Hilaires’ classification. Those with skin, cell and bone conditions, such as fibromas, dermatolysis (also called ‘elastic-skin’), neurofibromatosis and the proteus syndrome (Joseph Merrick’s most recent diagnosis), could not have been diagnosed at birth – as their symptoms do not show until they get older – and would not have been classified as monstrosities in this instance. Little was concerned that if the St. Hilaires are making a case for congenital monstrosities to be treated within medicine, then the case for non-congenital monstrosities needed to be made, too. The division between congenital and non-congenital monstrosities within medicine caused concern amongst some doctors who were attempting to diagnose monstrosities from diseases, accidents and self-inflicted wounds. III. Joseph Merrick ‘The Elephant Man’ Joseph Merrick was a non-congenital monster born to Joseph Rockley Merrick and Mary Jane Merrick in Leicester, England in 1862. The 1860s was a popular era for travelling fairs, freak shows, circuses, the music hall and public anatomy museums. Indeed as Richard Altick has shown, there had never been so many different opportunities for the public to view human monstrosities.21 Joseph was born into this era perfectly normal and survived his early years despite a smallpox epidemic that raged through Leicester and killed many new-born children. There is some confusion over the onset of Joseph’s symptoms as medical reports suggest that he must have been born with an enlargement of the head, right arm and feet; however, he insisted that his deformity “was not perceived much at birth, but began to develop itself when at the age of five years”; more contemporary medical research on similar deformities suggest that abnormal growths would not have 20 William J. Little (1843), On the Nature and Treatment of the Deformities of the Human Frame. Being a course of lectures, delivered at the Royal Orthopaedic Hospital, London: Royal Orthopaedic Hospital, p. 7. 21 Richard D. Altick (1978), The Shows of London, Harvard: Harvard University Press, p. 339.

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been visible at birth, but it would have shown earlier in infancy.22 When Joseph was ten, his mother died after a short battle with bronchopneumonia, and this greatly affected his life. Joseph regularly spoke of his mother and the kindness she showed him to Treves and others who cared for him at the London Hospital; and he always carried a small portrait of Mary with him wherever he went. Without his mother’s protection, Joseph’s childhood was at an end, and he was expected to go to work and earn his keep. The Merrick family moved house, and Joseph’s father remarried. Joseph wrote about the treatment he received from his new stepmother in his autobiography, “I was taunted and sneered at so that I would not go home to my meals, and used to stay in the streets with a hungry belly, rather than return for anything to eat, what few half-meals I did have, I was taunted with the remark – ‘That’s more than you have earned.’”23 Joseph attempted work as a hawker on the streets of Leicester, selling haberdashery door to door; however, his appearance scared off customers and attracted a following of gawking spectators. He eventually ran away from the tongue-lashings of his stepmother and stayed with his uncle Charles Merrick and his family for two years before his hawker’s license was refused renewal by the local authorities. As Joseph grew older, his deformity prevented him from finding any work, and, aged 16 he was forced to enter the Leicester Union workhouse. Joseph stayed at the workhouse for five years in intolerable conditions until he came across the idea of contacting a local showman to see if he could work as an exhibit in a freak show. Joseph wrote a letter to a local entertainment manager named Sam Torr who visited the workhouse and signed Joseph on the spot. Due to Joseph’s unique appearance, Sam decided to create a travelling show around him. Joseph left the workhouse in 1884 and began touring the country in his own show. Joseph started in the Midlands and the North of England exhibiting his deformed body for the shock and horror of paying audiences. This seems humiliating to a contemporary reader; however, at that time, it was the only way for Joseph to earn money independently. Unfortunately for Joseph and Sam, attitudes were changing and the police were regularly closing down shows that were judged indecent. When Joseph was sent to London under the tutorage of Tom Norman (an expert showman on the London circuit), it was expected that Joseph would be a smash hit. Still, despite being cleverly marketed in the east end of London where the more extreme freak shows were popular with the hardened audiences, Joseph’s show was still closed for indecency. Whilst in the east-end, Joseph had been visited by many trainee doctors from the London hospital (later re-named the Royal London Hospital). His case was discussed and reported back to physicians working at the hospital. One of these physicians was Frederick Treves, and he examined Joseph in a shop on the Whitechapel Road. Joseph was then taken to the hospital, examined, photographed and displayed before the Pathological Society of London supporting a lecture on deformity given by Treves. Frede22 Michael Howell & Peter Ford (1983), The True History of The Elephant Man, Middlesex: Penguin, p. 56. 23 Joseph C. Merrick (s. a.), The Autobiography of Joseph Carey Merrick, in: Howell & Ford (1983), op. cit., pp. 182–184, p. 183.

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rick Treves gave Joseph a copy of the medical photographs (which he later used as the front cover for his autobiography) and his card for him to return to the hospital for further examination. However, the show had already been closed, and Joseph had to leave.24 For the showmen and their managers, any exhibit that was going to attract attention from the police and magistrates became less and less desirable, and Joseph found himself sold to another showman for a tour of Belgium. Unfortunately, the Belgian police were no more understanding and the show was once again ordered to close for indecency. Joseph found himself robbed of his savings and left stranded in Brussels by his manager who had cut his losses and travelled back to Britain. As Howell and Ford documented “fate had brought Joseph Merrick into his chosen profession a little too late.”25 Joseph then somehow managed a perilous solo voyage back to London from Brussels on a steam boat and then a train.26 It was at Liverpool Street Station that Joseph, exhausted by his journey, finally found some luck. He had kept Treves’ card from his initial meeting with him at the shop and presented this to a policeman after being pursued by a group of curious commuters. Treves was duly contacted and collected Joseph, bringing him back to the London Hospital. Treves broke hospital rules by housing Joseph in an isolation ward in the attic of the hospital and nursed him back to full health. Because Joseph had no home and no opportunity of earning a living and supporting himself, Treves asked permission from the hospital committee to keep Joseph within the hospital. Permission was granted on the guarantee that no hospital funds money would be provided for his keep; in response, a public campaign was instigated by the Hospital Chairman Mr Carr Gomm.27 Joseph’s case was reported within The Times, and money to provide Joseph with hospital accommodation was requested. The public response was great, and the London Hospital was soon receiving enough funds to provide Joseph with a permanent residence of his own. He lived within the hospital grounds until his death in April 1890. His skeleton continues to reside within the pathology museum at the Royal London Hospital today. Joseph Merrick was a monster; he worked as one as an exhibit in the entertainment industry and was classified as one within medicine. However his life story made this an uncomfortable title with audiences in entertainment and his undiagnosed deformity made it an unstable one in science.

24 25 26 27

Howell & Ford (1983), op. cit., p. 89. Ibid., p. 93. Ibid., pp. 94–96. Francis C. Carr Gomm (1886), The Elephant Man, in: The Times, 4 December 1886, p. 21.

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IV. The Trouble with Monsters When Joseph entered into the London Hospital, he would not have been aware of the wide ranging debate within medical science concerning human monstrosity. Teratology had attempted not only to ‘medicalise’ monstrosity but also to define it into two very different types. The history of British teratology can be read through the separation of congenital and non-congenital monstrosities. The first two English language classifications of monstrosity published in the 1890s, Barton CookeHirst and George Piersol’s Human Monstrosities, and George Gould and Walter Pyle’s Anomalies and Curiosities of Medicine, show a clear divide in the concept of monstrosity. Cook-Hirst and Piersol only classified foetal monstrosities that were still born or aborted as monsters due to their “graver anomalies of development.”28 The monsters were placed into groups and classified depending on the physical deformities that they displayed. By contrast, Gould and Pyle classified “only those monsters that have lived after birth, and who have attracted general notice or attained some fame in their time, as attested by accountants in contemporary literature.”29 Their monsters were grouped and classified on their physical deformities as well as their chronological appearance and the fame that they achieved. Despite their obvious differences in what they define to be human monstrosity, both classifications align themselves with teratology. The separation was intended to simplify the study of monstrosities; conversely, it only produced more uncertainty in the subject. The troubling concept of human monstrosity within medicine is further confused as classifications by doctors occasionally included monsters that did not have a recognisable human form; for example, Gould and Pyle, amongst others, have classified dermoid cysts as monsters.30 The cysts were membranous sacs found within the human body that contained liquid, hair and fully formed body parts such as, teeth, eyes and skin. In addition, some doctors classified those with externally normal bodies as being monstrous; Hirst and Piersol classify a monster “in which not only were throat, trunk and the lower body surface apparently normal, but also the upper extremities were relatively well developed.” Unfortunately, the foetus studied had been born without a heart.31 The foetus would not have been classified as monstrous until after an autopsy had been performed, and the missing organ had been identified. This further demonstrates how unstable the term had become. With the difficulties in finding an agreed medical concept of monstrosity amongst professionals, the practical use of classifying individuals as monsters was also questioned. Dr John Bland-Sutton trained under Frederick Treves at the London Hospital and examined Joseph when he was a patient. Bland-Sutton later used his experience with Joseph and specialised in human and animal deformities, sta28 29 30 31

Hirst & Piersol (1891–1893), op. cit., p. 1. Gould & Pyle (1897), op. cit., pp. 166 et seq. Gould & Pyle (1897), op. cit., pp. 203 et seq. Hirst & Piersol (1891–1893), op. cit., p. 26.

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ting “[w]ith bodily conditions, it is impossible to state definitely the borderland between health and disease, either in relation with functional aberration or textural alteration. And in many instances we shall find conditions which we regard as abnormal in man, presenting themselves as normal states in other animals.”32 Bland-Sutton portrays monstrosity as a concept which blurs the boundaries between health and disease and between animals and humans. Through nineteenth century debate, monstrosity found itself becoming reconfigured as a fluid concept within medicine, which ruptures scientific boundaries instead of helping define them through classification. However, for those who wanted to attempt classification, an ever expanding and highly complex vocabulary for monstrosity was being developed. Newly diagnosed conditions such as acephalon, paracephalon, cyclops, pseudencephalon, janiceps, prosopthoracopagus, and diprosopus, found their way into medical dictionaries of the day. The introduction of the new vocabulary served two purposes: firstly, it categorised different monstrosities into distinct groups and diagnosed them; secondly, the scientific language helped validate teratology within science and linguistically placed it firmly within the realm of medicine. However, even with a new vocabulary, many different interpretations were garnered from classifications, and different diagnosis would be offered for the same disorder. When Joseph was presented by Treves to the Pathological Society of London in 1884, many doctors and colleagues attempted to diagnose his condition. The diagnoses ranged from “elephantitis” (an extreme enlargement and hardening of the cutaneous and subcutaneous tissue, especially of the legs and the scrotum, resulting from lymphatic obstruction and usually caused by a nematode worm),33 to “leontiasis” (a disorder which causes overgrowth of the facial and cranial bones).34 Frederick Treves offered a broad diagnosis of a “congenital condition,”35 and another doctor claimed it to be “a ghastly genetic mutation”, although how the mutation occurred was not identified.36 The range of terminology used and the vague diagnosis offered by Treves and his colleagues illustrate the difficulty medicine found implementing the new vocabulary in order to correctly diagnose a monster. Despite the different models of classification and the debates around the vocabulary used, the nature of human monstrosities caused teratologists even more difficulties. Monstrous births were rare, and the parents did not always report such a birth to a doctor, let alone report to a teratologist. Monstrous births usually resulted in the death of the new-born, and it was even rarer for a monster to live into adulthood. The lack of physical evidence needed for comprehensive research 32 John Bland-Sutton (1890), Evolution and Disease, London: Walter Scott, p. 2. 33 Denis G. Halstead (1959), A Doctor in the Nineties, London: Christopher Johnson, pp. 37 et seq. 34 Wilfred T. Grenfell (1929), A Labrador Doctor. The Autobiography of Sir Wilfred Thomason Grenfell, London: Hodder & Stroughton, p. 60. 35 Frederick T. Treves (1885), A Case of Congenital Deformity, in: Transactions of the Pathological Society of London, 34, pp. 494–498, p. 494. 36 Halstead (1959), op. cit., pp. 37 et seq.

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and classification was problematic for teratology. It was exacerbated by the burning or burying of monsters by their superstitious families, and more damaging was the high price paid for monsters by travelling showmen and collectors and the curiosity of medical practitioners themselves. The most prolific British teratologist J.W. Ballantyne writes in The Diseases and Deformities of the Foetus: In the case of such forms of foetal monstrosity as the peromelous or phocomelous, the anencephalic, and the cyclopean, it is not uncommon to find that no dissection has been made. They have been bottled and catalogued, and placed upon the shelves of some museum, private or public. Sometimes that has not even been done. And they have either been destroyed or kept in the medical man’s own possession for the benefit of his professional friends alone. In this way much information of a valuable kind has been lost to science.37

Without regular opportunities to categorise and diagnose monstrosities, teratologists often found themselves diagnosing retrospectively or diagnosing famous monsters. Ballantyne demonstrates this in an article for the Edinburgh Medical Journal when reporting on an abnormal foetus born in Germany. Ballantyne translates the case originally written in a German medical journal and then retrospectively diagnoses a foetus as “a paracephalic foetus [...] paracephalus cardiacus.”38 Diagnosing retrospectively from a colleagues foreign narration carries with it an understandable risk of error.39 V. The Return of the Show Gould and Pyle restricted their classifications to famous cases of monstrosity from across the centuries, but, during the nineteenth century, many teratologists were inclined to diagnose famous cases, as new cases were rarely reported. J.W. Ballantyne retrospectively diagnoses famous monsters to identify possible diseases or deformities they would have developed as a foetus. He uses the example of Claude Ambroise Seurat, the so-called ‘living skeleton’, who performed across Europe in travelling shows. Ballantyne quotes directly from Seurat’s advertising hoardings as evidence of his illness and past medical treatments. In addition, to demonstrate dermatolysis (the extensibility of the skin), he describes the ‘Elastic-skinned men’ who used to perform at freak shows by stretching their skins away from and around their bodies.40 Some doctors even went in search of monsters to display before their colleagues by attending travelling fairs and freak shows. They paid higher prices to the showmen for private viewings so they could study the monster’s case before bringing them before their colleagues. 37 John W. Ballantyne (1892–1895), The Diseases and Deformities of the Foetus. An Attempt toward a System of Antenatal Pathology, 2 volumes, vol. 1, Edinburgh: Oliver and Boyd, p. 15. 38 Ibid., pp. 137 et seq. 39 Heather McHold (2002), Diagnosing Difference. The Scientific, Medical, and Popular Engagement with Monstrosity in Victorian Britain, Illinois: Evanston, p. 3. 40 Ibid., pp. 81–86.

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Dr William Thomason Grenfell attempted a retrospective diagnosis of Joseph Merrick when he published his second edition of his autobiography A Labrador Doctor in 1929. The new edition was published ten years after the first edition and, importantly, six years after Treves’ own memoirs The Elephant Man, and Other Reminiscences in 1923. Treves’s book had reignited public interest in Joseph Merrick and his life; and consequently, sold very well. In the new edition, Grenfell included a paragraph about his time working at the London Hospital under Frederick Treves and examining Joseph Merrick. Grenfell’s description does include inaccuracies; he claims the diagnosis given for Joseph’s disorder as a “disease [...] called leontiasis.”41 Indeed a diagnosis of Joseph’s disorder had never been agreed upon, even arguably to the present day. He also described Joseph’s head and face as “so deformed as to really resemble a big animal’s head with a trunk.”42 This also proves inaccurate as it is clear from viewing the medical photographs taken upon Joseph’s admission to the hospital that, despite his showname, Joseph did not have any facial deformity which resembled a trunk. Grenfell makes obvious the dangers of retrospective diagnosis and of examining famous monsters, as it is prone to inaccuracies and the incorporation of folklore and a showman’s patter. Freak shows exhibiting monsters were increasingly popular in the nineteenth century. In 1847, Punch Magazine suggested the existence of an epidemic of a new disease amongst the British public termed deformito-mania and published a cartoon satirising the placards advertising the range of monsters decorating the Egyptian Hall’s facade.43 The Egyptian Hall housed many of the most popular exhibitions in London; however, there were many more exhibition houses across the city varying in size, price and quality. The shows attracted audiences from all parts of society, including trainee doctors who were offered private viewings to scientifically observe the distortion of the human body. Whilst a doctor at the London Hospital John Bland-Sutton explains, “in my early days I often visited the Mile End Road, especially on Saturday Nights, to see dwarfs, giants, fat women, and monstrosities at the freak shows.”44 The position of the London Hospital on the Whitechapel Road opposite the exhibition houses is especially worth noting in this respect as it made the shows easily accessible to young doctors. From these visits Bland-Sutton and other trainee doctors became interested in the medical causes of human monstrosity and teratology. The use of performers in medical classification was dangerous to the reputation of teratology, as it realigned monstrosity with the entertainment industry. This did not help teratology’s claim that it was a legitimate science and not just voyeur-

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Grenfell (1929), op. cit., p. 60. Ibid., p. 60. Howell & Ford (1983), op. cit., p. 22. John Bland-Sutton (1931), The Story of a Surgeon, 4th ed., London: Methuen & Co. Ltd, p. 139.

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ism. Dr Chance worked closely with patients who lived with deformities in a range of severity; he explained the difficulties that doctors face defending their science from their colleagues’ criticism: So little was known of pathology, or of the appropriate and scientific treatment of bodily deformities, that the medical profession as a body considered the subject so beneath their notice, that only a solitary individual here and there was fond possessed of sufficient hardihood of character to encounter the deriding sneer of his professional brethren, that was conveyed in the words, ‘Oh, he is a specialist’, or its then synonym, ‘quack’.45

One man with sufficient hardihood of character was Frederick Treves, the physician who cared for Joseph Merrick at the London Hospital. Treves was the son of an upholsterer in Dorchester, Dorset. After his medical training he became a surgeon specializing in abdominal surgery at the London Hospital in the late nineteenth century. Treves took advantage of the location of the London Hospital and regularly visited the freak shows opposite and exhibited the most interesting cases for discussion at the Pathological Society of London. He developed a reputation with his peers for discovering more unusual cases of deformity than anyone else, and was so prolific in his discoveries that, by the time he exhibited Joseph, his cases were only receiving recognition in the meeting minutes.46 Treves’s interest in monsters was not in finding a cause or in an attempt to diagnose them; his displays were usually descriptive, and it has been acknowledged that they “did not add much to the canon of medical knowledge.”47 Treves’s interest was pure curiosity and fascination for the distortion of the human body. It is not surprising that in the 1980 film by David Lynch, The Elephant Man, Treves is compared to a showman enjoying the praise his discovery has brought him.48 Demonstrations such as these by Treves made it even more difficult for teratologists to legitimise their work as, despite the medical interest, no scientific theory was being produced, and the monster remained a figure of entertainment. With no clear classification of monstrosity, the incorporation of performers into their research, and retrospective diagnosis with conflicting vocabularies, the concept of monstrosity was less certain than it had ever been before. With no conclusive evidence that arrested foetal development caused human monstrosities, teratology saw a rise in traditional theories amongst doctors and the wider public. Many doctors found themselves explaining monstrosities through folklore and traditional tales. The influence of these traditional beliefs affected the progression of teratology in two ways. Firstly, teratologists had to acknowledge the mythical explanations to debunk them; they had to contrast traditional explanations against 45 Edward J. Chance (1862), On the Nature, Causes and Variety and Treatment of Bodily Deformities. In a Series of Lectures delivered at the City Orthopaedic Hopital in the Year 1852 and subsequently, London: Lemare, p. xv. 46 Steven Trombley (1989), Sir Frederick Treves. The Extra-ordinary Edwardian, London: Routledge, p. 35. 47 Ibid., p. 35. 48 David Lynch (dir.) (1980), The Elephant Man, perf. John Hurt & Sir Anthony Hopkins, Brooksfilms.

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their new scientific theories to prove their inaccuracy. Secondly, due to the rarity of monsters, teratologists once again found themselves returning to historical reports of monstrosities to try and determine a scientific cause. Although Gould and Pyle never debated the possible causes of monstrosity, they were well aware of the dangers of sourcing scientific evidence and arranging classifications from traditional beliefs; they said, “it is manifestly impossible for us to guarantee the credibility of [the traditional] chronicles given.”49 Teratologists were once again at risk of grounding their classifications in tradition and folklore. Indeed, the fantastic language of myth and folklore can be seen entering medical discourse on monstrosities. When Joseph was discovered by Frederick Treves and others in 1884 on the Whitechapel road opposite the London Hospital, he was exhibiting as The Elephant Man. Outside was a huge canvas sheet painted with an extraordinary image of a man half-human and half-elephant that was described by Treves as a “frightful creature that could only have been possible in a nightmare.”50 Treves along with John Bland-Sutton, William Grenfell and Dr D. G. Halsted, all wrote about their first observations of Joseph; Halsted referred to him as “some science-fictional monster.”51 Joseph’s appearance brought out the hyperbole in the London Hospital’s medical establishment; he was described as a “beast,” “a perverted version of a human being,”52 “loathsome,”53 “[a] mutation”54 and “the most disgusting specimen of humanity I had ever seen.”55 This language plays into the theatricality and performative elements of Joseph’s condition, but it is made without any medical insight into the cause of his deformity. It added as much to the advancement of teratological research as a showman’s patter. During his time in hospital, Joseph was studied by Treves and other doctors who were unable to diagnose his disorder, decipher a cause for his deformity or administer any treatment. As a patient, he was a constant reminder of the failure of teratology and the instability of the medical concept of monstrosity in the late nineteenth century. Joseph was a performer, an exhibit at a freak show, and the connection between medicine and entertainment was not lost on medical professionals at the time. Joseph was not welcome by the board at the London Hospital, and the Chairman Mr Carr Gomm and Frederick Treves had to campaign fiercely to keep him cared for. Joseph as a monstrous exhibit represented all the traditional theories that teratology had been trying to negate.

49 Gould & Pyle (1897), op. cit., p. 4. 50 Frederick C. Treves (1923), The Elephant Man, in: Howell & Ford (1983), op. cit., pp. 190–210, p. 190. 51 Halstead (1959), op. cit., pp. 37 et seq. 52 Treves (1923), op. cit., p. 191. 53 Bland-Sutton (1931), op. cit., p. 140. 54 Halstead (1959), op. cit., pp. 37 et seq. 55 Treves (1923), op. cit., p. 191.

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VI. The Battle with Tradition The traditional belief that was most problematic for teratology was maternal impression theory. Maternal impression theory claimed a similarity between an image that produces an emotional impression on the mother and the defect resulting on the foetal form. Joseph Merrick describes this process happening to his mother in his autobiography: The deformity which I am now exhibiting was caused by my mother being frightened by an elephant; my mother was going along the street when a procession of animals were passing by, there was a terrible crush of people to see them, and unfortunately she was pushed under the elephants feet, which frightened her very much: this occurring during a time of pregnancy was the cause of my deformity.56

Doctors who treated Joseph dismissed his self-diagnosis as representative of his simple mental state. However, Joseph later proved himself “highly intelligent,” and he was not alone in his rejection of medical explanations of monstrosity for traditional ones.57 Many doctors continued to diagnose maternal impression as a cause of monstrosity, and up until the turn of the century, there were articles published in medical journals providing evidence of its existence. Indeed, one of the arguments used to close the travelling fairs across London and later the rest of Britain was the fear that viewing monsters would cause “psychologic discussion and speculation” among pregnant women that could result in the production of monstrous children.58 J. W. Ballantyne strenuously denied that maternal impression was an attributing factor to monstrosity. He was dismayed in the constant recurrence of the debate within his own profession and that teratology was being dragged back to its mythical heritage.59 Few British teratologists were as confident as Ballantyne to discard the power of a mother’s imagination over the development of her child, and some doctors even grounded their belief in anatomical ‘evidence’, Dr Chance explained that the presence of the umbilical cord was “generally regarded as the channel through which mental impressions can be conveyed from the mother to the offspring.”60 In the face of such strong opposition, some teratologists conceded to define a middle ground through the theory of ‘mental emotion’. It was argued that excessive emotions of the mother could produce a malformed foetus but not a monster formed from a vision. Dr Chance explains, “that [...] passions, such as excessive

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Merrick (s. a.), op. cit., p. 182. Treves (1923), op. cit., p. 194. Gould & Pyle (1897), op. cit., p. 185. John W. Ballantyne (1986d), Teratogenesis. An Inquiry into the Causes of Monstrosities III cont., in: Edinburgh Medical Journal, 42, pp. 307–315, here: p. 312. 60 Chance (1862), op. cit., p. 111.

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anger, joy, fear, grief, etc, may indirectly injure the foetus in utero by exciting disease in the mother.”61 However, such a disease does not explain Joseph’s deformity as he showed no signs of physical deformity at birth. The importance of the mother in protecting her unborn child against monstrosity is a recurring theme in medicine at this time, and one I unfortunately cannot discuss further. However, it was a theme Joseph thought about deeply in relation to his own mother. He viewed her as an innocent victim of fate and refused any explanation that would have blamed her for his condition; indeed, Treves (who was unaware of Mary’s death) harboured very angry feelings towards her and her treatment of Joseph but would never dare mention them in Joseph’s presence. The theory of maternal imagination best served Joseph’s view of his mother as a victim of fate and removed any association between her actions and his deformity. Another traditional theory for human monstrosity that captured the imagination of the public and the medical profession alike was hybridism. Ballantyne explains that the “[h]ybridist theory of teratogenesis [...] is founded upon the notion that animals of different kinds may be fertile with one another: the products of such unions are, however, monstrous.”62 Once again, Ballantyne found himself battling not only with mythical tradition, but also with his own profession. In 1896 he wrote, “[e]ven at the present day, [...] there still exists a strong popular belief in the old theory, and even in the ranks of the profession I have met with its adherents.”63 Hybridism was a popular belief within the public consciousness, and many monsters, including Joseph, traded on this interest to advertise their freak shows. As The Elephant Man, Joseph embodied the public’s fascination with the shared biology of humans and animals and employed it as another explanation for his monstrous appearance. Others such as the Toad-man, Lobster Boy and The Penguin Man joined him. Hybridism is explored in a terrifying portrayal in David Lynch’s film adaptation; in the opening scenes, Joseph’s mother can be seen lying on her back screaming hysterically as an elephant descends upon her, matching her screams with its bark and whipping its trunk back and forth over her. Lynch blurs the boundaries between animal and human, directing a rape scene between the elephant and Mary. He uses the public’s understanding of hybridism and monstrosity as fluid concepts to explain Joseph’s deformity. A third theory was that of heredity. In teratological research the health of the parents was often investigated, but it was rare to find monsters in both parents and offspring. Heredity was not championed by teratology, as it did not explain monsters that were born to physically normal parents. However a discussion over the reliability of heredity theory followed and alternative factors were raised as a possible cause. When discussing the causes of albinism, Geoffroy St. Hilaire argued that, in addition to heredity, “it can also be the consequence of a pathologic condition having its origin in adverse surroundings, the circumstances of the parents, 61 Ibid., p. 117. 62 John W. Ballantyne (1986b), Teratogenesis. An Inquiry into the Causes of Monstrosities II, in: Edinburgh Medical Journal, 42, pp. 1–12, here: p. 8. 63 Ibid., p. 11.

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such as the want of exercise, nourishment, light etc.”64 Heredity theory was not long debated by teratologists before it was agreed that deformities could be inherited, but not the extreme monstrous forms being discussed in teratology. Gould makes reference to this theory only when discussing minor deformities; he describes the inhabitants of a village in France who “nearly all had supernumerary digits either on their hands or feet. Being isolated in an inaccessible and mountainous region, they had for many years intermarried and thus perpetuated the anomaly.”65 Despite teratology’s distrustfulness of heredity theory, the monster makes a common appearance in evolutionary debate. Both Lamarck and Darwin directly address the production of monsters within heredity theory. For Darwin, monsters were produced outside the regulations of heredity, but were still subject to them if they attempted to reproduce, which for the majority he argued was impossible. However, in the small cases when monsters were fertile they would be subject to the laws of heredity and produce monstrous offspring. However, Darwin’s relationship with monsters became more complex when he used them as major agents in his demonstration of species transmutation and the principles of natural selection, despite not viewing them as ‘hopeful’.66 In The Origin of Species he presents monsters as startling deviations from type, which provide evidence of the instability of species’ boundaries. By stating that “[m]onstrosities cannot be separated by any clear line of distinction from mere variations” he indicates that the monster destabilises the concepts of species and type, by at once being within and outside of these concepts.67 Monstrosity brings disruption to scientific order and ruptures evolutionary thought, dissolving any boundaries between classifications. Darwin concludes: Certainly no clear-line of demarcation has as yet been drawn between species and sub-species [...] or, again, between sub-species and well marked varieties, or between lesser varieties and individual differences. These differences blend into each other in an insensible series; and a series impresses the mind with the idea of an actual passage.68

This instability of the monster instigated teratology’s rejection of heredity theory, however, without another scientific theory to support teratology’s claims, tradition once again returned to fill the gaps of knowledge.69 This can be seen in Joseph’s

64 Gould & Pyle (1897), op. cit., p. 220. 65 Ibid., p. 275. 66 Richard Goldschmidt uses the term “hopeful” to express the idea that monstrosities have played a considerable role in evolution, see Richard Goldschmidt (1940), The Material Basis of Evolution, New Haven: Yale University Press, p. 3. 67 Charles Darwin (2004), The Origin of Species. London: Penguin, p. 9. 68 Ibid., p. 44. 69 It is worth noting that teratologists who questioned heredity theory, did not align themselves with theorists such as William Bateson or return to the theories of Mendel or Cuvier, who argued that non-gradual changes could occur in species evolution. British teratologists attempted to discover their own cause of monstrosity.

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recollections about his mother. He was very proud of his mother’s physical appearance and spoke about her to whoever would hear, Treves recollects Joseph’s passion for his mother and his insistence that she was physically perfect: It was a favourite belief of his that his mother was beautiful. The fiction was, I am aware, one of his own making, but it was a great joy to him. His mother, lovely as she may have been, basely deserted him when he was very small, so small that his earliest clear memories were of the workhouse to which he had been taken. Worthless and inhuman as this mother was, he spoke of her with pride and even with reverence. Once, when referring to his own appearance, he said: ‘It is very strange, for, you see, mother was so beautiful.’70

Joseph’s refutation of heredity theory and his alignment with maternal imagination theory and hybridity (through his stage-name) illustrate his rejection of scientific explanations of monstrosity and his faith in traditional accounts, even if these fictional accounts sensationalised his deformity and dramatised his life. Some teratologists attempted to take practical measures to establish the scientific cause of monstrosity in the face of traditional arguments. This was mainly attempted through teratogenesis, the artificial production of monsters in bird’s eggs. The fertilised eggs were subjected to different environmental factors that could arrest the development of the chick: such as temperature change, blocking of air-holes, producing additional air-holes and increased movement. The eggs were then studied to see if these factors had caused any abnormalities or monstrosities within the foetus. Indeed the chicks treated were then hatched showing deformities similar to human monstrosities. Ballantyne claimed that these experiments “clearly demonstrated that teratology is not an isolated subject of little interest save to the curious, but an integral and important part of pathology, with practical bearings upon many of the problems of medicine and surgery.”71 Teratogenesis firmly grounded teratology within science, and the experiments did support the theory that arrested foetal development caused monstrosities and environmental factors can affect the development of the foetus. However, teratogenesis was not the breakthrough teratology needed to silence its critics or the traditional arguments. Many doctors were sceptical of the experiments that had taken place and their results. They had three concerns: firstly, the bird’s egg does not simulate the human womb (for example it does not contain a placenta and a direct connection with the mother); secondly, the experiments could not be replicated on humans; thirdly, they did not explain monstrosities that appeared after birth (for example Joseph’s own disorder). J.W. Ballantyne himself agreed and stated that even with the progress of the last century in teratology and embryology, without access to the mother’s womb during pregnancy, identifying and proving the cause of human monstrosity would be very difficult indeed.72 Some teratologists turned towards embryology to find the answers they needed within the sex cells, and further research was continued, whilst others conceded 70 Treves (1923), op. cit., p. 198. 71 Ballantyne (1896a), op. cit., p. 593. 72 Ballantyne (1896b), op. cit., p. 3.

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defeat. Geoffroy St. Hilaire compromised and left his records to future generations of teratologists; he wrote, “let us produce more and more monographs and leave them to time and to our successors [...] Later, relationships between them will be realised.”73 The hope that teratology would continue as a science was never questioned, and Frederick Treves depended on it to provide answers about Joseph’s condition. Treves performed the autopsy of Joseph shortly after his death; he preserved the soft tissue of Joseph’s growths in specimen jars and placed them in storage. His hope was that one day future generations of doctors will be able to apply new research to the specimens and diagnose the condition correctly. Unfortunately for Treves and teratology, the soft tissue was destroyed during the bombing of London in the Second World War, and, without the evidence, in the specimens a diagnosis has never been collectively agreed upon. The wider concern of monstrosity within medicine was further demonstrated by Joseph when he was admitted into the London Hospital in 1886. Within the medical system, no suitable place of treatment for Joseph could be found; he could not be admitted to a public hospital as his condition was incurable, and public hospitals could only admit curable cases; and, he could not enter the hospital for the chronic sick as he was not terminally ill. Indeed, when Treves first examined Joseph he remarked on the patient’s good health.74 Monsters had traditionally retired within the travelling fairs they worked in. If they became too ill or old to perform, they cared for the other performers and undertook odd jobs behind the scenes, keeping out of public view. It was within the interest of the fair to keep monsters rare and worth paying to see, and, in return, the monsters had a comfortable retirement; as Mr Vuffin explains in Dickens’ Old Curiosity Shop, “once make a giant common and giants will never draw again.”75 However, with more fairs being closed by reformers for being indecent, a comfortable retirement was looking ever more elusive for the performers. Joseph set a precedent by entering the hospital, and he raised the case for a place for monsters within medicine. Indeed, if the hospital had not agreed to accommodate Joseph, the only other suggestions made by the public (which illustrate the unusual circumstances in finding accommodation for a monster) were to house him in a hospital for the blind, in lighthouses away from the city, or to send him to Dartmoor to live in solitude.76 Joseph and Treves made it medicine’s responsibility to accommodate monsters who were being made homeless by obscenity laws; whether medicine liked it or not, monsters had found a new home there.

73 Geoffroy St. Hilaire (1827) (Art.) Monstres, in: Bory de Saint-Vincent et al. (eds.) (1822 et seq.), Dictionnaire Classique d’Histoire Naturelle, vol. 11, Paris: Rey et Gravier, pp. 108–151, p. 119: “[M]ultiplions à leur sujet les travaux monographiques et laissons faire au temps et à nos successeurs [...]. Plus tard des rapports seront saisis.” 74 Anonymous (1886), The Elephant Man, amplified from an account published in the British Medical Journal, in: Howell & Ford (1983), op. cit., pp. 185–189, here: pp. 186 et seq. 75 Charles Dickens (1950), The Old Curiosity Shop, London: Heron Books, pp. 188 et seq. 76 Howell & Ford (1983), op. cit., p. 107.

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In conclusion, my paper provides a summary of evidence that suggests there is an inconsistency and an absence of a definite concept of monstrosity within nineteenth century medicine. Using medical debates from the time and the information surrounding the life of Joseph Merrick, I have shown a questioning of scientific reasoning and a renewed interest in traditional theories within and outside medicine. The debate between doctors themselves and tradition created a space where monsters had multiple causes and diagnoses and were studied as individuals. In the nineteenth century, there was wide ranging debate and experimental science, which led to a transformation of the understanding of monstrosity within medicine. This new understanding spread across medicine into the social consciousness. Through characters such as Joseph Merrick, monstrosity was shown to the public to be something complex enough to influence medical classifications and practice, and fluid enough to subdue them at the same time. Bibliography Altick, Richard D. (1978), The Shows of London, Harvard: Harvard University Press. Anonymous (1886), The Elephant Man, amplified from an account published in the British Medical Journal, in: Michael Howell & Peter Ford (1983), The True Story of the Elephant Man, Middlesex: Penguin, pp. 185–189. Anonymous (1989), (Art.) Teratology, in: John Simpson & Edmund Weiner (eds.), The Oxford English Dictionary, 2nd ed., vol. 17, Oxford: Clarendon, p. 674. Arbuthnot-Lane, William (1900), Cleft Palate and Adenoids. Treatment of Simple Fractures by Operation. Diseases of Joints. Operative Treatment of Cancer. Acquired Deformities. Antrectomy. Hernia, etc., 2nd ed., London: The Medical Publishing Co. Ballantyne, John W. (1892–1895), The Diseases and Deformities of the Foetus: an attempt towards a system of antenatal pathology, 2 volumes, vol. 1, Edinburgh: Oliver and Boyd. Ballantyne, John W. (1896a), Teratogenesis. An Inquiry into the Causes of Monstrosities I, in: Edinburgh Medical Journal, 41, pp. 593–603. Ballantyne, John W. (1896b), Teratogenesis. An Inquiry into the Causes of Monstrosities II, in: Edinburgh Medical Journal, 42, pp. 1–12. Ballantyne, John W. (1896c), Teratogenesis. An Inquiry into the Causes of Monstrosities III, in: Edinburgh Medical Journal, 42, pp. 240–255. Ballantyne, John W. (1896d), Teratogenesis. An Inquiry into the Causes of Monstrosities III cont., in: Edinburgh Medical Journal, 42, pp. 307–315. Bland-Sutton, John (1890), Evolution and Disease, London: Walter Scott. Bland-Sutton, John (1931), The Story of a Surgeon, 4th ed., London: Methuen & Co Ltd. Carr Gomm, Francis C. (1886), The Elephant Man, in: The Times, 4 December 1886, p. 21. Chance, Edward J. (1862), On the Nature, Causes and Variety and Treatment of Bodily Deformities. In a Series of Lectures delivered at the City Orthopaedic Hospital in the Year 1852 and subsequently, London: Lemare. Cunningham, Andrew & Nicholas, Jardine (1990), Romanticism and the Sciences, Cambridge: Cambridge University Press. Darwin, Charles (2004), The Origin of Species, Penguin: London. Dickens, Charles (1950), The Old Curiosity Shop, London: Heron Books.

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Les Annales de mathématiques pures et appliquées de Gergonne et l’émergence des journaux de mathématiques dans l’Europe du XIXe siècle : un bicentenaire Christian Gérini

Abstract During the 19th century, Mathematics in Europe benefited from a new form of communication that radically changed exchanges amongst mathematicians of all grades and of many countries: the regular specialized periodicals specifically dedicated to this science. These journals have helped the specialization of this science in an age of rapid technological and scientific developments. In 1810, the French mathematician Joseph-Diez Gergonne published the Annales de mathématiques pures et appliquées, the first notable monthly journal of mathematics published on the continent. So we celebrate in 2010 the bicentenary of this important journal of the history of European science. We first consider the attempts of periodic publications that preceded the Annales, in order to prove that those Annales were the first international and regular journal introducing a kind of modernity in the communication between mathematicians. We then examine their impact: populations of French and foreign authors, contents, theoretical advances, etc. In our conclusion, we give an overview of the initiatives the Annales provoked in France and in Europe, from Crelle’s Journal für die reine und angewandte Mathematik (1826) to the Journal de Liouville (1836) and the Nouvelles annales of Terquem and Gerono (1842).

Introduction. Les mathématiques ont bénéficié, dans l’Europe du XIXe siècle, d’une nouvelle forme de diffusion qui changea radicalement la communication et les échanges entre les mathématiciens de tous horizons : les périodiques qui leur ont été spécifiquement dédiés. Le premier journal d’importance édité sur le continent le fut à partir de 1810 par le mathématicien Français Joseph-Diez Gergonne (1771–1859) sous le titre : Annales de mathématiques pures et appliquées, publiées mensuellement jusqu’en 1832, et que l’on nomme aujourd’hui Annales de Gergonne. Nous fêtons donc en 2010 le bicentenaire du lancement de ce journal que nous présenterons dans la partie centrale de notre texte (parties 2 et 3). Pour preuve du changement radical que les Annales provoquèrent dans le paysage éditorial des mathématiques européennes, nous conclurons notre exposé sur les initiatives qu’elles suscitèrent en France et dans l’ensemble de l’Europe, et plus particulièrement sur : ƒ Le Journal für die reine und angewandte Mathematik (Journal de mathématiques pures et appliquées), aujourd’hui connu sous le nom de Journal de Crelle, édité à Berlin à partir de 1826 par Léopold Crelle (1780–1855). Jahrbuch für Europäische Wissenschaftskultur, Bd. 7 (2012), 345–376

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ƒ La Correspondance mathématique et physique que Jean-Guillaume Garnier (1766–1840) et Adolphe Quételet (1796–1874) publièrent en Belgique de 1825 à 1839. ƒ Le Journal de Mathématiques Pures et Appliquées, connu sous le nom de Journal de Liouville, publié par Joseph Liouville (1809–1882) à partir de 1836. ƒ Les Nouvelles Annales, journal des candidats aux écoles Polytechnique et Normale, nommé à présent Nouvelles Annales, que lancèrent Orly Terquem (1782–1862) et Camille Gerono (1799–1891) en 1842. Certes, des tentatives avaient déjà vu le jour au XVIIIe siècle, mais elles ne durèrent que peu de temps et ne permirent pas une pérennité sur le long terme dans les échanges entre les savants qui s’occupaient de mathématiques. Nous nous arrêtons à présent dans notre première partie sur cette production éditoriale antérieure aux Annales de Gergonne en distinguant deux périodes : les journaux publiés essentiellement hors de France jusqu’en 1794, puis les deux premiers journaux français laissant une place non négligeable aux mathématiques à Image 1 : Joseph-Diez Gergonne (1771–1859) partir de 1794. 1. Avant les Annales. La question que nous devrions poser a priori avant de nous intéresser aux journaux de mathématiques est celle de la définition du champ mathématique luimême (et donc du mot « mathématiques ») avant l’édition du premier numéro des Annales de Gergonne comme à l’époque de celle-ci. Cette question serait trop longue à développer ici, mais un travail déjà effectué par Jean Dhombres sur la période concernée nous permet de fixer à peu près les limites de l’acception du

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terme « mathématiques » et des sciences qui les composaient au début du XIXe siècle (sciences aussi appelées, par exemple par Gergonne lui-même dans l’ensemble de ses écrits, « sciences exactes »). Un document de référence, et concomitant à l’apparition des Annales (puisque publié en 1810, bien que remis à Napoléon 1er en 1808) permet de situer ce que l’on entendait officiellement par « mathématiques » depuis 1789 : il s’agit du Rapport à l’Empereur sur le progrès des sciences, des lettres et des arts depuis 1789, de Jean-Baptiste Delambre (1749–1822), et plus particulièrement de sa section I (mathématiques). Jean Dhombres a republié une édition critique de ce rapport en y adjoignant une comparaison de la classification des sciences mathématiques faites à l’Institut en 1808 avec celle établie par Delambre lui-même.1 Nous lui empruntons la classification suivante, qui donne un aperçu de ce qui constituait à l’époque (et depuis au moins 1789) les mathématiques : Géométrie, Géodésie et tables, Algèbre, Mécanique analytique, Astronomie, Géographie et voyages, Physique mathématique, Mécanique, Manufactures et arts. Cela permet a minima de faire une distinction, parmi les publications périodiques de la deuxième moitié du XVIIIe siècle et de la première moitié du XIXe siècle, entre celles qui s’intéressaient véritablement aux mathématiques au sens où l’on définissait celles-ci à l’époque et celles qui ne leur donnaient qu’une place secondaire, voire négligeable. Nous avons donc globalement retenu dans cette première partie les périodiques entrant dans la première catégorie. Le mot « périodiques » est d’ailleurs lui aussi sujet à caution : il existait des journaux à parution semestrielle, voire annuelle, mais que l’on peut malgré tout appeler « périodiques » puisque gardant le même titre et étant indexés par des numéros. 1.1. Jusqu’en 1794 : essentiellement des journaux non français. On peut noter parmi les premiers journaux dédiés a priori aux mathématiques et publiés en Europe antérieurement aux Annales de Gergonne : ƒ Les Beyträge zur Aufnahme der theoretischen Mathematik publié en Allemagne de 1758 à 1761 par W. J. G. Karsten. ƒ Les cahiers du Leipziger Magazin für reine und angewandte Mathematik publiés trimestriellement de 1786 à 1788 par Jean Bernoulli et Carl Friedrich Hindenburg. ƒ Les onze cahiers de l’Archiv der reinen und angewandten Mathematik publiés semestriellement par C. F. Hindenburg seul de 1795 à 1800. On peut voir dans ce journal les prémisses de ce que Gergonne parviendra à imposer dix ans plus tard avec ses Annales, ce qui fait dire à Marteen Bullynck : « Les journaux de 1

Jean-Baptiste Delambre (1989), Rapport à l’Empereur sur le progrès des sciences, des lettres et des arts depuis 1789 et leur état actuel, vol. 1: Sciences mathématiques, édition critique du texte de 1810, préface de Denis Woronoff, présentation et notes de Jean Dhombres, Paris : Belin.

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Hindenburg, enfin, sont les premiers exemples d’un journal spécialisé, forme de communication qui ne s’établirait définitivement qu’au XIXième siècle. ».2 Il est vrai qu’on y trouve une périodicité respectée sur la courte durée de publication : Hindenburg, qui souhaitait à la base un journal paraissant quatre fois par an, parvint à maintenir une publication semestrielle de son journal. La population d’auteurs s’élargit aussi, même si elle resta géographiquement située dans le nord de l’Allemagne. Elle était représentative d’une nouvelle génération de mathématiciens et pas seulement de ceux qui, jusque là, partageaient avec Hindenburg la passion de l’analyse combinatoire et avaient rédigé avec lui la majorité des articles du Leipziger Magazin : The Archiv did, however, not become a mere vehicle of combinatorial analysis. It included a large variety of contributions and contributors. Not only did the old generation that already wrote for the Magazin (Kästner, Klügel, Hennert) continue to contribute, but also professors, teachers and enthusiasts from the new generation filled the Archiv’s pages.3

ƒ En Angleterre, à la fin du XVIIIe siècle, le Leybourn’s Mathematical Repository, publié par Thomas Leybourn, professeur au Royal Military College de Great Marlow, fut aussi l’un des premiers journaux à installer durablement le principe de la publication périodique en mathématiques. Mais ses auteurs étaient essentiellement Anglais, du moins sur la période qui précéda le lancement des Annales de Gergonne. En témoigne la liste des auteurs d’articles originaux du volume III publié en 1814 : Gough, Knight, Cunliffe, Barlow, J. F. W. Herschel (le découvreur de la planète Uranus), Bransby, White et le baron Maseres. Ce ne fut donc pas un journal largement diffusé et ouvert à l’ensemble de la communauté mathématique européenne. En outre, seulement 14 numéros parurent dans la première série (1795–1804) et 24 dans la seconde (1804–1835),4 ce qui représente en moyenne environ un numéro par an : on est donc loin d’une périodicité mensuelle comme celle des Annales de Gergonne. Nous ne mentionnerons pas ici les journaux qui, bien que publiant dans leurs colonnes des textes de mathématiques ou plutôt plus souvent des textes sur les mathématiques, étaient très majoritairement consacrés à d’autres informations. Citons seulement pour mémoire le Journal des savants,5 publié en France depuis

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Marteen Bullynck (2010), Stages towards a German Mathematical Journal (1750–1800), in : Jeanne Peiffer & Jean-Pierre Vittu (éds.), Les journaux savants dans l’Europe des XVIIe et XVIIIe siècles. Formes de la communication et agents de la construction des savoirs, Amsterdam : Brepols [à paraître]. Ibid. Ces chiffres nous sont fournis par Joe Albry et Scott H. Brown dans : Joe Albree & Scott H. Brown (2009), A Valuable Monument of Mathematical Genius : The Ladies’ Diary (1704–1840), in : Historia Mathematica, 36, pp. 10–47. Successivement orthographie « sçavans », « savans » et « savants ». Cf. Jeanne Peiffer & Jean-Pierre Vittu (éds.) (2010), Les journaux savants dans l’Europe des XVIIe et XVIIIe siècles. Formes de la communication et agents de la construction des savoirs, Amsterdam : Brepols [à paraître].

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1665, le Ladies’ diary publié en Angleterre de 1704 à 1841,6 ou les périodiques généralistes ou populaires allemands qui ne publiaient que très peu d’informations sur les mathématiques (en général des comptes-rendus de lecture) et étaient diffusés dans des cercles restreints : par exemple les Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen (Göttingen, 1753–1801), l’Allgemeine deutsche Bibliothek, publiée à Berlin par Friedrich Nicolaï de 1765 à 1796, la Neue Bibliothek der Schönen Wissenschaften (Leipzig, 1765–1806) ou l’Allgemeine Literatur-Zeitung de Bertuch publiée à Yéna de 1785 à 1803.7 Les journaux des académies ou des universités avaient quant à eux une périodicité aléatoire (mais souvent seulement annuelle) et ne traitaient que minoritairement des mathématiques, comme par exemple les Acta Eruditorum de Leipzig, et les Mémoires de l’Académie de Berlin. On peut donc sur ce constat avancer l’hypothèse que, historiquement, les Annales de Gergonne furent le premier journal consacré uniquement aux mathématiques et qui posséda les qualités à la fois de stabilité et de périodicité rapprochée (pas d’interruption dans la publication, périodicité mensuelle), de durée (vingt et une années de parution) et d’envergure internationale (nous la mesurerons dans la deuxième partie de cet exposé) : ce sont donc ces Annales qui inaugurèrent véritablement le principe de journal international de spécialité dans ce champ disciplinaire. Elles participèrent ainsi de façon essentielle à l’entrée des mathématiques dans la spécialisation et dans la modernité même si, comme nous le verrons, elles s’inscrivaient dans une période de transition qui voyait les mathématiques se constituer peu à peu en science autonome et structurée et se détacher progressivement de la philosophie. A partir de 1794, la création en France de l’École polytechnique, accompagnée de son Journal (que nous noterons par la suite JEP, pour « Journal de l’École polytechnique »), modifia le paysage éditorial mathématique. Jusque là, le seul Journal des savants n’abordait que de manière très mineure la discipline et il ne peut donc pas être considéré comme un organe de diffusion de cette science. Le JEP fut rapidement suivi par une autre initiative éditoriale, la Correspondance sur l’École Polytechnique de Jean Nicolas Pierre Hachette (1679–1834), mais nous allons voir dans ce qui suit que le constat que fit Gergonne en 1810 de l’absence de véritables journaux dédiés aux mathématiques était malgré tout pertinent.

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Voir par exemple : Shelley Costa (2002), The Ladies’ Diary : Gender, Mathematics, and Civil Society in arly-eighteenth-century England, in : The History of Science Society, 17, pp. 49–73. Maarten Bullynck a montré que l’on n’y trouvait qu’environ 2% d’articles consacrés à des comptes-rendus d’écrits mathématiques : Maarten Bullynck (s. a.), Les interactions entre Rezensionszeitschriften, périodiques scientifiques et périodiques spécialisés. Le cas des mathématiques dans l’Allemagne des Lumières (1760–1800), URL : http://www.histnet.cnrs.fr/research/periodiques-savants/article.php3?id_article=75, site du programme de recherche « Les périodiques savants dans l’Europe des XVIIe et XVIIIe siècles », France, CNRS, avec le soutien de l’European Science Foundation.

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1.2. Du Journal de l’Ecole Polytechnique aux Annales de mathématiques pures et appliquées : la première raison de l’initiative éditoriale de J.-D. Gergonne en 1810. A la fin de la première décennie du XIXe siècle, Joseph Diez Gergonne, alors professeur de mathématiques transcendantes au lycée de Nîmes (sud de la France, département du Gard) et grand admirateur des savants éclairés de la Révolution (Monge, Bailly, Laplace, Lacroix, etc.), tenta de les convaincre de fonder un journal scientifique spécifiquement dédié aux mathématiques. Lacroix avait été son examinateur lors du concours d’entrée à l’Ecole d’Artillerie de Châlons en 1794 et le candidat Gergonne avait alors impressionné l’examinateur, ce qui lui valut plus tard, malgré son éloignement de Paris, d’être entendu par les grands noms de la science de son époque et plus particulièrement par les « géomètres » de l’École polytechnique (dont fit partie Lacroix) qu’il admirait et qui fut fondée la même année. Gergonne put donc solliciter ces éminents savants comme il nous le dit luimême dans son « Prospectus » d’introduction au premier numéro des Annales.8 Il y déplore le fait que : « les Sciences exactes, cultivées aujourd’hui si universellement et avec tant de succès, ne comptent pas encore un seul recueil périodique qui leur soit spécialement consacré ». Il ajoute : On ne saurait, en effet, considérer comme tels, le Journal de l’école Polytechnique, non plus que la Correspondance que rédige M. Hachette : recueils très précieux sans doute, mais qui, outre qu’ils ne paraissaient qu’à des époques peu rapprochées, sont consacrés presque uniquement aux travaux d’un seul établissement.9

Ce constat est pertinent, comme nous l’avons dit et comme nous allons le démontrer dans ce qui suit, et c’est l’une des raisons de l’initiative de Gergonne en 1810. 1.2.1. Le Journal de l’École polytechnique. En ce qui concerne le Journal de l’École Polytechnique, comme le note Loïc Lamy, « le rythme mensuel, ordonné par l’arrêté du 24 prairial an III, était sans doute bien adapté pour une exposition régulière des progrès provoqués par l’École. Malheureusement, cette périodicité n’a jamais été atteinte, loin s’en faut, de 1795 à 1831, puisque seuls vingt cahiers ont paru, soit une moyenne d’environ un tous

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Joseph-Diez Gergonne (1810), Prospectus, in : Annales de Mathématiques Pures et Appliquées (dorénavant : AMPA), 1, pp. i–iv. Ibid., p. i. Le « Prospectus » dont nous citerons souvent comme ici des extraits fut en fait l’éditorial dans lequel Gergonne et son collaborateur Thomas Lavernède (professeur comme lui à Nîmes, il participa durant seulement deux ans à la rédaction des Annales) annonçaient leurs intentions, le champ couvert par le journal, et en fixaient en quelque sorte la ligne éditoriale.

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les deux ans ».10 A y regarder de plus près, on constate que cette moyenne est même une réalité sur la période de lancement des Annales puisque le cahier 15 parut en décembre 1809, le suivant, à savoir le cahier 10, en novembre 1810 (les Annales existaient donc déjà), et enfin le cahier 16 en mai 1813 : on comprend l’expression « peu rapprochée » utilisée par Gergonne. En outre, à partir de 1802 (cahier 11), les mémoires académiques prirent le pas sur les articles dans le JEP et la communauté des élèves et anciens élèves de l’École polytechnique n’y était que très minoritairement représentée. De plus, le JEP « n’était initialement qu’un bulletin destiné à rendre compte de l’enseignement et du progrès des élèves aux trois comités »11et fut tout d’abord « résolument dirigé vers l’enseignement ». Si l’on considère par exemple l’année qui précède le lancement des Annales, on constate que si neuf des onze articles (ou plutôt « mémoires ») du cahier 15 sont classés sous des appellations relevant des mathématiques au sens actuel du terme, « Analyse » et « Géométrie analytique » (les trois autres sont de la « Mécanique » et de la « Physique »), un seul est signé par un membre de cette communauté d’élèves ou anciens élèves : il s’agit d’un Mémoire sur la méthode du plus grand commun diviseur, appliquée à l’élimination (classé dans la rubrique « Analyse ») de « M. Bret, professeur de mathématiques transcendantes au lycée de Grenoble, et ancien élève de l’Ecole Polytechnique ».12 On retrouvera le même Bret dans les Annales de Gergonne, où il publiera de nombreux articles avec les mêmes titres de noblesse. Quand on sait qu’à cette époque trente élèves sortis de l’École faisaient carrière dans l’enseignement et au bureau des longitudes et que, parmi les centaines de militaires et ingénieurs sortis aussi de l’École polytechnique, nombreux furent ceux qui poursuivirent une activité scientifique, on peut estimer à quel point la présence du seul Bret dans ce cahier est signifiante sur la fermeture du JEP et sur son repli sur une élite. Nous verrons plus loin que ces mêmes anciens polytechniciens qui ne publiaient pas dans le journal de leur ancienne école – ou ne pouvaient pas y publier – profitèrent grandement des Annales de Gergonne pour soigner leur frustration. Replis sur une élite… Dans le même cahier, trois longs mémoires de Poisson sont en fait des reprises de communications qu’il avait faites à l’Institut, et tous trois classés dans la rubrique « Analyse » : ƒ Mémoire sur les inégalités séculaires des moyens mouvements des planètes, lu à l’Institut le 20 juin 1808, pp. 1–56. 10 Loïc Lamy (1995), Le Journal de l’École Polytechnique de 1795 à 1831, journal savant, journal institutionnel (= Sciences et Techniques en Perspective, vol. 32), Nantes : Centre François Viète, pp. 15–19. 11 Les comités qui eurent en charge l’organisation et la surveillance de l’École à sa création sous la Convention : le comité de Salut public, d’Instruction publique et des Travaux publics. Cf. Pierre Miquel (1994), Les polytechniciens, Paris : Plon, pp. 35–69. 12 Cf. Jean-Jacques Bret (1809), Mémoire sur la méthode du plus grand commun diviseur, appliquée à l’élimination, in : Journal de l’École polytechnique, 8 : 15, pp. 162–197.

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ƒ Mémoire sur le mouvement de rotation de la terre, lu à l’Institut le 20 mars 1809, pp. 198–218. ƒ Mémoire sur la variation des constantes arbitraires dans les questions de mécanique, lu à l’Institut le 16 octobre 1809, pp. 266–344. Les quatre autres articles sont des mémoires de personnalités de premier rang, enseignant ou ayant enseigné à l’Ecole : ƒ Eclaircissement d’une difficulté singulière qui se rencontre dans le calcul de l’attraction des sphéroïdes très peu différents de la sphère, par M. Lagrange, pp. 57–67, classé « Analyse ». ƒ Essai d’application de l’analyse à quelques parties de la géométrie élémentaire, par M. Monge, pp. 68–117, classé « géométrie analytique ». ƒ Construction de l’équation des cordes vibrantes, par M. Monge, pp. 118–145, classé « géométrie analytique ». ƒ Mémoire sur divers points d’analyse, par M. Laplace, pp. 229–265, classé « Analyse ».13 Le Journal de l’École polytechnique était donc devenu un recueil académique, les mémoires dont nous venons de donner l’exemple pour le cahier de 1809 y occupant une place largement majoritaire (pour ne pas dire exclusive) en nombre comme en volume (nombre de pages). Il était en fait l’unique tribune où les mathématiciens reconnus (et au-delà même des mathématiques) pouvaient exposer leurs travaux à un public relativement large ou du moins averti. Ces savants communiquaient souvent d’abord à l’Académie des Sciences, mais celle-ci ne diffusait pas ou diffusait peu ces textes : Gergonne ne mentionne d’ailleurs pas les publications très épisodiques et réservées à ses membres de cette institution, publications où les mathématiques n’occupaient en outre qu’une place relativement modeste dans l’ensemble des communications. 1.2.2. La Correspondance sur l’École Polytechnique de Hachette. Il cite en revanche la Correspondance sur l’École Polytechnique de Jean Nicolas Pierre Hachette (1679–1834).14 Cette Correspondance était publiée pour combler une lacune déjà dénoncée dès le cahier 4 du JEP (1796). Il manquait aux anciens élèves un moyen « d’entretenir une correspondance avec la mère Ecole ».15 Mais là aussi cette publication fut très étalée dans le temps : le numéro 1 parut en avril 1804, le numéro 4 en juillet 1805, le numéro 10 en avril 1809. Elle était en grande partie composée de listes de noms (élèves admis, affectations, etc.), de lettres à 13 Imposant mémoire où Laplace revient lui aussi sur les développements en séries des différentielles, mais traite en outre du cas complexe et des équations non linéaires aux différences finies. 14 Nommé adjoint de Monge dès 1794 dans le département consacré à la géométrie descriptive de l’École Polytechnique, il a comme élèves célèbres Poisson, François Arago et Fresnel. 15 Cité par Lamy (1995), op. cit., p. 15.

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caractère non nécessairement lié aux sciences enseignées à l’École, d’annonces de textes officiels et règlementaires, de plans de cours, etc. Les articles de mathématiques y occupaient donc une part très relative et étaient souvent soit des reprises de cours de l’École, soit des prolongements de ces cours. Sur l’ensemble des 10 premiers numéros, le nombre d’articles de mathématiques – lettres au rédacteur, solutions de problèmes et problèmes résolus compris – atteint tout juste la soixantaine comme le montre une étude exhaustive que nous avons réalisée à partir des tables de ces fascicules. Même s’il ne contient pour ce qui concerne les mathématiques que de la géométrie et de la géométrie analytique, le n° 10, paru peu avant que Gergonne ne s’engage dans son projet, peut être regardé comme référence pour se faire une idée là aussi des lacunes de ce journal justifiant justement le projet du mathématicien Nîmois et son constat reproduit plus haut. Pour son volume tout d’abord : les numéros précédents étaient très « minces » (35 pages par exemple pour le n° 5, 77 pages dans ce n° 10). Pour le nombre d’articles de mathématiques : onze ici, contre par exemple trois dans le n° 5. Pour la variété des auteurs : huit ici, mais seulement deux au n° 5. Et là encore, pour ce n° 10 de la Correspondance de Hachette, on constate, outre les lacunes relevées ci-dessus, la fermeture de cette publication finalement réservée à la même élite que le JEP. Les contributeurs y sont Poisson, Hachette et Monge (professeurs à l’école), Livet (qui y est répétiteur), Lefebvre (qui y est adjoint), François et Brianchon (anciens élèves), et enfin Puissant : ingénieur géographe et futur académicien (en 1828, au siège de Laplace), c’est un proche de Monge et de l’École qui enseigne à cette époque à l’École militaire de Fontainebleau. Relevons pour finir ce fait exceptionnel dans les dix premiers numéros de la Correspondance : on y voit apparaître deux élèves, Petit et Duleau, pour deux courtes solutions d’un problème sur les surfaces du second degré. Petit avait déjà rédigé pour son professeur Poisson une démonstration parue dans le n° 9. Ce sont là les seules contributions d’élèves dans la Correspondance sur ces dix numéros. Celles des anciens élèves ne sont pas si nombreuses non plus. Outre les deux articles de Français et Brianchon déjà signalés au n° 10, on n’en compte que 5 au total sur les 58 articles de mathématiques de la période 1804–1809 : Berthot, professeur au lycée de Dijon, signe un article ; Français, officier du génie signe deux articles ; Roche, officier d’artillerie de mer signe un article ; Dubois, ingénieur des ponts et chaussées, signe un article. Pour toutes ces raisons, la Correspondance de Hachette ne pouvait donc pas non plus être considérée comme un périodique de diffusion en mathématiques. En outre, comme le JEP, elle laissait de côté toute une population de mathématiciens qui n’étaient pas passés sur les bancs de l’École, et ne donnait pas beaucoup la parole, on l’a vu, à ceux qui y étaient passés. Et évidemment, elle n’offrait aucun espace aux mathématiciens étrangers. Mais un autre facteur d’importance explique aussi le fait que Gergonne ait lancé son journal depuis sa lointaine province nîmoise : l’isolement dans lequel il se sentait, comme celui de nombre d’autres mathématiciens enseignant en province

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ou de militaires isolés dans leurs cantonnements ou écoles (et y enseignant parfois les mathématiques ou des techniques y faisant appel) et qui souhaitaient eux aussi enrichir leur science de leurs propres avancées (résolution de problèmes, démonstrations de théorèmes, etc.). C’est ce que nous allons à présent développer dans la partie 2, tout en montrant l’évolution de l’autorat au fil des années de parution. 2. Les auteurs des Annales. Gergonne ne parvint pas au départ à intéresser les élites parisiennes à son projet : son éloignement de la capitale et la concentration dans celle-ci de ces élites qui fréquentaient les mêmes cercles (Ecole polytechnique, Institut, Faculté des sciences de Paris) et se contentaient donc des organes de diffusion qu’elles partageaient, à savoir les deux publications que nous avons citées et les comptes-rendus des académies nationales européennes, expliquent le peu d’attention que suscita au départ son projet. S’il s’obstina, c’est justement en raison de l’isolement où il se sentait et que partageaient avec lui tous les mathématiciens, professeurs, officiers, ingénieurs ˗ anciens élèves ou pas de l’École polytechnique ˗ qui, dans leurs établissements de province ou dans leurs cantonnements, aspiraient comme lui à échanger leurs savoirs et leurs avancées. Sa carrière avant 1810 explique sa connaissance des deux milieux (enseignant et militaire). Avant d’être recruté à Nîmes par concours en 1795 sur un poste de professeur de mathématiques à l’école centrale, puis de mathématiques transcendantes au lycée de la même ville (il y fut nommé par décret impérial en 1804),16 il avait en effet effectué une courte mais riche carrière militaire sous la Révolution à partir de 1792. Il était alors âgé de vingt-deux ans et possédait déjà un solide niveau en mathématiques dû aux cours donné par les frères des écoles chrétiennes de sa ville natale (Nancy) et à ses prédispositions aux sciences exactes.17 Sa brillante réussite au concours de l’école d’artillerie de Châlons en 1794 le vit sortir un mois plus tard de celle-ci avec le grade de lieutenant d’artillerie. Gergonne fait donc partie, comme nombre de ses correspondants,18 d’une génération qui connut successivement l’engagement militaire et l’enseignement.

16 Nous avons pu retracer l’ensemble de sa carrière grâce au volumineux dossier administratif que l’on trouve à son nom aux Archives Nationales Françaises (CARAN) sous la référence : F17 20829. 17 Il donnait déjà des leçons de mathématiques à l’âge de dix-sept ans en qualité de précepteur. Sur l’ensemble de sa biographie, voir : Christian Gerini (2003), Les Annales de Gergonne. Apport scientifique et épistémologique dans l’histoire des mathématiques, Villeneuve d’Ascq : éditions du septentrion, pp. 19–39. 18 De nombreux professeurs de sciences, et plus particulièrement de mathématiques, furent recrutés après 1800 dans les rangs des militaires qui avaient participé aux différentes campagnes sous la Révolution et le Consulat, au point que Louis XVIII dut décréter en leur faveur, par ordonnance du 8 juillet 1818, le droit au cumul des retraites de militaire et d’enseignant.

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2.1. A priori un journal « au service d’une communauté naissante de professeurs ».19 Si son autorat s’élargit rapidement, l’initiative de Gergonne s’adressait initialement à la communauté des enseignants dont il faisait partie et qui, on l’a vu, n’avait pas sa place dans le JEP ni dans la Correspondance de Hachette. Du fait de sa carrière militaire antérieure à celle de professeur de mathématiques, il est clair que Gergonne visait aussi cette seconde catégorie constituée de militaires, anciens polytechniciens ou pas. On considère donc souvent les Annales de Gergonne comme « le journal d’un homme seul au profit d’une communauté enseignante »,20 ce qu’elles furent à leurs débuts avant d’atteindre une notoriété en France et à l’étranger qui attira dans leurs pages des personnalités de premier rang. Gergonne a donc connu dès le début de sa carrière dans l’enseignement les nouveaux établissements et cadres institutionnels mis en place après la Révolution : Image 2 : La une du tome premier des lycées depuis 1802, académies Annales de Gergonne depuis les lois napoléoniennes de mars 1808, etc. Il devint d’ailleurs lui-même recteur de l’académie de Montpellier sous la Monarchie de Juillet, de 1830 à 1844.21 Cette nouvelle génération de professeurs, mieux identifiée et plus contrôlée que sous l’Ancien régime, devait se soumettre à des programmes plus précisément définis et était dorénavant inspectée sous l’autorité des recteurs et du ministère de l’instruction publique (aussi appelé Université 19 Expression empruntée à M. Otero dans : Mario Otero (1997), Joseph-Diez Gergonne (1771–1859). Histoire et philosophie des sciences (= Sciences et Techniques en Perspective, vol. 37), Nantes : Centre François Viète, pp. 52. 20 Jean Dhombres & Mario Otero (1993), Les Annales de mathématiques pures et appliquées : le journal d’un homme seul au profit d’une communauté enseignante, in : Elena Ausejo & Mariano Hormigon (éds.), Messengers of Mathematics : European Mathematical Journals (1800–1946), Madrid : Siglo XXI de España Editores, pp. 3–70. 21 Cf. Christian Gerini (2008), Le recteur de la Monarchie de juillet et la culture des élites. Joseph-Diez Gergonne (1771–1859). Le zèle d’un fonctionnaire et l’esprit critique d’un libre penseur, in : Jean-François Condette & Henri Legohérel (éds.), Le recteur d’académie. Deux cents ans d’histoire, Paris : Cujas, pp. 53–74.

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impériale lors de sa création sous le règne de Napoléon) : les institutions françaises mettaient progressivement en place le corps professoral que nous connaissons aujourd’hui et qui se trouva donc devant le besoin d’une information plus précise sur les programmes et d’une communication que les journaux de mathématiques allaient lui fournir (et à laquelle il désirait participer). Gergonne, personnage représentatif de cette génération, répondit donc avec ses Annales à cette attente qu’il partageait avec ses condisciples, et c’est là la deuxième raison importante de son initiative. Il était aussi, on l’a vu, conscient du défaut que représentait le manque de périodicité et de régularité qui touchait le JEP et la Correspondance de Hachette : il fallait donc créer un périodique aux éditions assez rapprochées et il choisit de faire des Annales un mensuel. Il prit en outre la précaution d’en appeler à toutes les bonnes volontés dans son « Prospectus », annonçant : Un recueil qui permette aux Géomètres d’établir entre eux un commerce ou, pour mieux dire, une sorte de communauté de vues et d’idées ; un recueil qui leur épargne les recherches dans lesquelles ils ne s’engagent que trop souvent en pure perte, faute de savoir que déjà elles ont été entreprises ; un recueil qui garantisse à chacun la priorité des résultats nouveaux auxquels il parvient ; un recueil enfin qui assure aux travaux de tous une publicité non moins honorable pour eux qu’utile au progrès de la sciences.22

En sa qualité de professeur, et soucieux d’intéresser les enseignants, il mit en avant dans son « Prospectus » le souci pédagogique : « Ces Annales seront principalement consacrées aux Mathématiques pures, et surtout aux recherches qui auront pour objet d’en perfectionner et d’en simplifier l’enseignement.».23 La référence à l’enseignement, et donc l’appel aux professeurs de toutes catégories, est explicite, mais Gergonne laissa largement la porte ouverte aux avancées théoriques et pas seulement utiles à la pédagogie. Le terme « surtout » de la citation précédente est en effet trompeur : il publia de fait en majorité des articles purement mathématiques souvent novateurs et importants pour la circulation des idées et concepts nouveaux, mais dont les retombées sur l’enseignement de la discipline étaient loin d’être évidentes à l’époque. L’entreprise de Gergonne connut rapidement le succès et toucha effectivement d’abord le monde enseignant, comme le montre la liste des auteurs de l’année 1811–1812 : ƒ Raimond, principal du collège de Chambéry ; membre de plusieurs sociétés savantes et littéraires ƒ Pilatte, professeur de mathématiques au lycée d’Angers ƒ Thomas-Lavernède, professeur au lycée de Nîmes, membre de la Société Libre des Sciences, Lettres et Arts du Département du Gard ƒ Bourguet, professeur de mathématiques spéciales au Lycée Impérial 22 Gergonne (1810), op. cit., pp. i–ii. 23 Ibid., p. ii.

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ƒ Servois, professeur de mathématiques aux écoles d’artillerie de Lafère ƒ Tédenat, correspondant de la première classe de l’Institut ; recteur de l’Académie de Nîmes ƒ Lhuilier, professeur de mathématiques à l’Académie Impériale de Genève ƒ Français, professeur aux écoles d’artillerie de Metz, ancien élève de l’Ecole Polytechnique ; mémoire communiqué aux rédacteurs par Jacques-Frédéric français, son frère, lui-même professeur aux mêmes écoles ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ

Bret, professeur à la faculté des sciences de l’Académie de Grenoble Labrousse, professeur de mathématiques à Montélimar Flaugergues, astronome, correspondant de la première classe de l’Institut Bidone, professeur de mathématiques à l’Académie de Turin Peschier, professeur de philosophie, Inspecteur de l’Académie Impériale de Genève ƒ Labrousse, maître de mathématiques à Nîmes ƒ Ferriot, principal du collège de Baume (il s’agit de Baume-les-Dames) ƒ Ajasson, élève du lycée d’Angers ƒ Penjon, professeur du lycée d’Angers ƒ Pouzin, professeur de mathématiques à Montpellier ƒ Lehault, élève du lycée d’Angers Cela se confirme sur l’ensemble des Annales et on voit bien là une première lacune comblée : les auteurs des provinces françaises représentent environ 37% de la population totale d’auteurs et ils écrivent environ 63% de la totalité des articles. Ils sont majoritairement professeurs dans des collèges et lycées, plus rarement dans des facultés, et signent au total 676 articles24 sur les quelques 900 que comptent les Annales.25 Ce rapide impact auprès d’une population qui n’avait jusqu’alors que peu d’occasions de faire connaître ses travaux eut une première conséquence non négligeable. Alors qu’il était extrêmement difficile de se faire lire et publier, donc reconnaître, par le canal très réservé du JEP et celui très fermé et sélectif de l’Académie des sciences, les Annales offrirent à des mathématiciens de qualité de faire connaître des travaux qui n’auraient peut-être pas trouvé sans elles l’écho qu’ils méritaient (certains de ces auteurs devinrent plus tard académiciens : Sturm, Poncelet, Chasles, Lamé, Liouville).

24 D’après un recensement effectué par Otero (1997), op. cit., p. 25. 25 Si l’on n’a malheureusement pas retrouvé d’archives personnelles de Gergonne permettant de chiffrer le nombre d’abonnés à son journal (ni d’archives de son éditeur Bachelier à Paris), ces chiffres, additionnés aux effectifs et nombre d’articles d’élèves, de professeurs des institutions parisiennes, de militaires et d’étrangers, laissent deviner une diffusion rapide et importante des Annales sur le territoire français puis en dehors de ses frontières.

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Notons que Gergonne lui-même est comptabilisé dans ces statistiques, et qu’il écrivit pas moins de 180 articles dans son journal, sans compter les innombrables notes de bas de pages et commentaires qu’il ajoutait aux textes de ses auteurs et les articles anonymes dont on peut penser qu’ils étaient de sa plume : Gergonne trouvait par ce subterfuge un moyen de polémiquer, d’apporter la contradiction, et on sait au moins, grâce à l’exemplaire de ses Annales annoté de sa main (et qui se trouve à la bibliothèque municipale de Nancy), que les articles signés « un abonné » sont de lui. La participation massive d’anciens élèves de Polytechnique montra rapidement que leur frustration perçue par Gergonne face à la « fermeture » du JEP fut aussi corrigée par son journal. D’après Jean Dhombres et Mario Otero, « peut-être 50% d’entre eux [les auteurs français] sont en effet professeurs ou répétiteurs à l’Ecole, élèves ou anciens élèves ».26 Le « peut-être » tient au fait que la qualité (professeur à l’École polytechnique, élève ou ancien élève) n’était pas toujours indiquée : Gergonne ne mentionnait que les renseignements fournis pas ses auteurs, et certains devaient peut-être oublier ces précisions ou simplement ne pas vouloir les faire connaître. Par exemple, sur les cent trente six auteurs que nous avons recensés dans les Annales, seize sont désignés avec leur qualité d’ancien élève de l’École polytechnique, ce qui représente un pourcentage minimal de 12% ; mais les professeurs des universités, des école supérieures civiles ou militaires, les ingénieurs et les officiers pouvaient être aussi sortis de ses rangs sans le mentionner (ils représentent 43% des auteurs, qui recoupent en partie les 12% précédents). Bien qu’incertains, ces chiffres sont malgré tout éloquents quand on se souvient de l’unique article d’un ancien élève de l’École publié dans le JEP en 1809. La répartition statistique des articles selon l’origine géographique des auteurs, comme celle des auteurs provinciaux, montre bien aussi la réussite de l’ambition de Gergonne de donner la parole à une large communauté de mathématiciens qui, on l’a vu, ne pouvaient prétendre ou n’avait que peu d’espoir à être publiés ailleurs. Gergonne souhaitait en outre provoquer une émulation au sein de cette communauté mathématique isolée et privée de moyen de communication. Il l’exprime clairement dans son « Prospectus » : Chaque numéro des Annales offrira un ou plusieurs Théorèmes à démontrer, un ou plusieurs problèmes à résoudre. Les Rédacteurs, dans le choix de ces théorèmes et problèmes, donneront la préférence aux énoncés qui pourront leur être indiqués par leurs correspondans ; et ils consigneront, dans leur recueil, les démonstrations et solutions qui leur seront parvenues ; ils espèrent ainsi provoquer chez les jeunes géomètres une utile et louable émulation. Personne n’ignore d’ailleurs combien ces sortes de défis ont ajouté de perfectionnement à l’analise, au commencement du dernier siècle ; et il n’est point déraisonnable de penser qu’en les renouvelant, on peut, peut-être, lui préparer encore de nouveaux progrès.27 26 Dhombres & Otero (1993), op. cit., p. 20. 27 Gergonne (1810), op. cit., p iii.

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Il instaura donc le principe des « problèmes à résoudre », « questions posées » et « théorèmes à démontrer » que reprendra la quasi totalité des rédacteurs des journaux qui paraîtront ensuite. Mais l’émulation et les controverses s’exercèrent bien au-delà des simples défis que représentaient les théorèmes non démontrés ou les problèmes à résoudre. De simples professeurs de lycée, polémiquant parfois sur des questions de paternité de démonstrations de théorèmes ou d’avancées théoriques, firent de la sorte progresser les mathématiques. Citons pour exemple un long débat qui courut de janvier 1812 à août 181328 et qui impliqua quatre enseignants, Bret (professeur de mathématiques transcendantes au lycée de Grenoble), Bérard (professeur de mathématiques au collège de Briançon), Rochat (professeur de navigation à Saint Brieux) et Dubourguet (professeur de mathématiques spéciales au lycée impérial à Paris) : parti d’une polémique entre les deux premiers sur la paternité de formules relatives aux lignes du second ordre, le débat enrichit les mathématiques puisque, chacun des protagonistes voulant à tour de rôle montrer qu’il faisait mieux et davantage que les autres, on précisa les calculs à chaque nouvelle étape de la rixe, on élargit le champ d’application (les premiers articles considèrent les lignes du second ordre dans un repère orthogonal, et on passe ensuite à des axes non forcément rectangulaires) et on glissa progressivement des lignes aux surfaces, généralisant donc les applications du théorème fondamental de l’algèbre. Ce théorème et sa démonstration par Gauss y gagnèrent en généralité. Le plus bel exemple de cet enrichissement dû à la polémique est l’article de Bérard : Application de la méthode des maximis et minimis à la recherche des grandeurs et direction des diamètres principaux, dans les lignes et surfaces du second ordre qui ont un centre.29 L’anecdote, si négligeable puisse-t-elle paraître, a donc finalement servi l’histoire et les progrès des mathématiques. L’Histoire a sur cet aspect polémique retenu essentiellement deux exemples qui ont grandement fait avancer les mathématiques : les articles d’Argand, Français et Servois sur la représentation géométrique des nombres imaginaires en 1813–181430

28 AMPA, 2, 3 et 4. 29 Joseph-Balthazard Bérard (1812–1813), Application de la méthode des maximis et minimis à la recherche des grandeurs et direction des diamètres principaux, dans les lignes et surfaces du second ordre qui ont un centre, in : AMPA, 3, pp. 105–113. 30 Jean-Robert Argand (1813–1814), Essai sur une manière de représenter les quantités imaginaires, dans les constructions géométriques, in : AMPA, 4, pp. 133–147 ; Joseph-François Français (1813–1814a), Nouveaux principes de géométrie de position, et interprétation géométrique des symboles imaginaires, in : AMPA, 4, pp. 61–71 ; Joseph-François Français & François-Joseph Servois (1813–1814), Sur la théorie des quantités imaginaires. Extrait de deux lettres, l’une de M. J. F. Français, professeur à l’école impériale de l’artillerie et du génie, et l’autre de M. Servois, professeur aux écoles d’artillerie, au Rédacteur des Annales, in : AMPA, 4, pp. 222–227 ; Joseph-François Français (1813–1814b), Sur la théorie des imaginaires. Extrait d’une lettre adressée au rédacteur des Annales, in : AMPA, 4, pp. 364–367 ; Jean-Robert Argand (1814–1815), Réflexions sur la nouvelle théorie des imaginaires, suivies d’une application à la démonstration d’un théorème d’analise, in : AMPA, 5, pp. 197–209.

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et les échanges entre Gergonne et Poncelet sur l’opposition entre la géométrie synthétique et la géométrie analytique en 1817–181831 et surtout sur la paternité du principe de dualité en 1827–1828.32 2.2. L’arrivée des élites françaises et des correspondants étrangers. Les figures majeures des mathématiques de l’époque, ou des mathématiciens qui allaient atteindre rapidement une notoriété que leurs publications dans les Annales facilita, ne s’y trompèrent pas puisqu’ils finirent par alimenter eux aussi à partir de 1820 le journal de Gergonne en articles et essais, sachant que l’impact et la diffusion de leurs écrits, en France comme dans le reste de l’Europe, seraient ainsi nettement supérieurs à ceux obtenus jusqu’alors par leurs communications auprès de différentes académies ou dans l’éphémère et multidisciplinaire Bulletin des sciences mathématiques, astronomiques et chimiques (1824–1831)33 ou bien encore le Bulletin de la société philomathique.34 Citons parmi cette population d’auteurs : Ampère, Cauchy, Dupin, Lacroix, Francoeur, Poncelet, Poisson, Chasles, Poncelet.35 Ampère est un exemple représentatif de cette catégorie. S’il apparaît dès le tome 8 (1817–1818), c’est seulement parce que Gergonne y reproduit un rapport qu’il avait fait à l’Académie des sciences sur un mémoire de Bérard concernant des questions de quadrature, mémoire qui avait auparavant été publié dans les Annales.36 Mais en revanche, à partir du tome 15 (1824–1825) et jusqu’en 1831 (tome 22, 1831–1832), Ampère produisit quatre importants essais relevant de

31 Jean-Victor Poncelet (1817–1818), Réflexions sur l’usage de l’analise algébrique dans la géométrie ; suivies de la solution de quelques problèmes dépendant de la géométrie de la règle, in : AMPA, 8, pp. 141–145 ; Joseph-Diez Gergonne (1817–1818), Réflexions sur l’article précédent, in : AMPA, 8, pp. 156–161. 32 Jean-Victor Poncelet (1827–1828), Note sur divers articles du bulletin des sciences de 1826 et de 1827, relatifs à la théorie des polaires réciproques, à la dualité des propriétés de situation de l’étendue, etc., in : AMPA, 18, pp. 125–142. 33 Cf. René Taton (1947), Les mathématiques dans le Bulletin de Férussac, in : Archives internationales d’histoire des sciences, 26, pp. 100–125. 34 Cette société privée est, pour reprendre l’expression de Norbert Verdier, « l’antichambre de l’Académie », mais s’intéresse aussi à l’ensemble des sciences et pas seulement aux mathématiques. Cf. Norbert Verdier (2009), Le Journal de Liouville et la presse de son temps : une entreprise d’édition et de circulation des mathématiques au XIXe siècle (1824–1885), Thèse de doctorat de l’université Paris-Sud 11, Paris : Université Paris 11, pp. 15–16. 35 On sait par exemple que la controverse entre Poncelet et Gergonne sur le principe de dualité dont nous avons parlé plus haut servit la reconnaissance académique du premier, reconnaissance qui lui avait été refusée dans un premier temps. Cette reconnaissance passa donc en partie par l’échange très vif entre les deux hommes dans les Annales. 36 André-Marie Ampère (1817–1818), Rapport à l’académie royale des sciences, sur le mémoire de M. Bérard, inséré à la page 110 du VIIe volume de ce recueil, in : AMPA, 8, pp. 117–124.

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l’ « analyse transcendante » (et du calcul différentiel en l’occurrence),37 deux articles de dynamique et un article d’astronomie.38 Les auteurs étrangers commencèrent plus tôt à alimenter les Annales en articles, preuve de l’influence et de la connaissance de celles-ci hors des frontières françaises. On trouve par exemple dès les tomes 1, 2 et 3 des Annales des articles de Simon Lhuillier, alors professeur à l’Académie de Genève.39 En revanche, on ne voit apparaître qu’à partir de 182040 des mathématiciens tels que Schmidten, Querret, Quételet, Plucker, Libri, et bien évidemment le jeune Niels Henrik Abel (1806–1829), recommandé par Crelle en 1826.41 L’internationalisation des Annales participe aussi à notre thèse qui soutient que le journal de Gergonne est le premier périodique de l’histoire des mathématiques au sens où l’on entend aujourd’hui l’expression « périodique scientifique spécialisé » et qu’il contribua, par cet élargissement au-delà des frontières de la seule France, à l’émergence de ce que l’on appelle la « modernité » dans les mathématiques. Jean Dhombres et Mario Otero avaient déjà souligné ce fait en 1993 : « Avec vingt huit auteurs et cent vingt deux articles, les étrangers sont assez bien représentés aux Annales, et ceci constitue une réussite car une communauté internationale n’existait pas encore. »42 Le scientifique écossais William Henry Fox Talbot ne s’y trompa d’ailleurs pas au début de sa carrière. Alors qu’existait en Angleterre avant les Annales de Gergonne, nous l’avons vu, le Leybourn’s Mathematical Repository, il choisit le journal français pour publier ses six premiers travaux en mathématiques,43 rencontra Gergonne à Montpellier, et entretint avec lui une correspondance sur plusieurs années.44 37 En particulier André-Marie Ampère (1825–1826b), Exposition du principe du calcul des variations, in : AMPA, 16, pp. 133–167, et surtout André-Marie Ampère (1825–1826a), Essai sur un nouveau mode d’exposition des principes du calcul différentiel, du calcul aux différences et de l’interpolation des suites, considérées comme dérivant d’une source commune, in : AMPA, 16, pp. 329–349. 38 Sur la stratégie de publication d’Ampère et pour comprendre son implication dans les Annales de Gergonne dans les années 1820, cf. Verdier (2009), op. cit., pp. 29–32. 39 Mais il est vrai que les registres de l’Académie de Nîmes de 1806 à 1809 ont permis de constater que Gergonne entretenait avant le lancement de ses Annales une correspondance régulière avec le mathématicien genevois. 40 AMPA, 11. 41 Niels Henrik Abel (1826–1827), Recherche de la quantité qui sert à la fois à deux équations algébriques données, in : AMPA, 17, pp. 204–213. 42 Dhombres & Otero (1993), op. cit., p. 39. 43 Le premier fut présenté par Gergonne (anonymement) sous le titre William Henry Fox Talbot (1822–1823), Rectification de l’énoncé du problème de géométrie proposé à la page 321 du XIIème volume des Annales, et traité à la page 115 du présent volume, et solution complète de ce problème, in : AMPA, 13, pp. 242–247. Il est présenté aujourd’hui en Grande Bretagne sous le titre : On the Properties of a Certain Curve Derived from the Equilateral Hyperbola (cf. H. J. P. Arnold (1977), William Henry Fox Talbot. Pioneer of Photography and Man of Science, Londres : Hutchinson Benham, pp. 365–367). 44 Disponible sur le site dirigé par Larry J. Schaaf (éd.) (1999 et seq.), The Correspondence of William Henry Fox Talbot, URL : http://foxtalbot.dmu.ac.uk/project/project.html.

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2.3. Gergonne, le premier auteur de son journal. Nous l’avons vu plus haut, avec pas moins de cent quatre vingt articles Gergonne fut le premier auteur de son journal : ses Annales lui permirent de montrer ses travaux autant que de diffuser ses vues philosophiques et didactiques, voire même politiques.45 Il resta en outre fidèle à son souci didactique puisqu’il publia jusque dans les dernières années de parution des Annales des articles ou essais dans ce sens, comme par exemple son « Exposition élémentaire des principes du calcul différentiel » en 1830,46 ses « Préliminaires d’un cours de mathématiques pures » et sa « Première leçon sur la numération » un an plus tard.47 Le souci pédagogique, teinté souvent de vues philosophiques bien affirmées, fut une constante dans l’œuvre de Gergonne, de ses comptes-rendus de lectures dans les registres de l’académie du Gard au début de sa carrière48 à ses articles de didactique dans les Annales, en passant par ses critiques acerbes et intransigeantes à l’encontre de ses propres auteurs lorsqu’il considérait que, loin de servir la clarté d’exposition des mathématiques, leurs travaux au contraire semblaient à ses yeux rendre celles-ci plus opaques. Il fut aussi fidèle à ses positions philosophiques : ardent pourfendeur du sensualisme de Condillac et de ses effets néfastes (de son point de vue) sur l’enseignement, il n’eut de cesse de les combattre en défendant une rigueur pour lui largement perfectible dans des domaines aussi variés que la « langue des sciences »,49 l’ « analyse et la synthèse dans les sciences mathématiques »50 la « dialectique rationnelle »51 ou la « théorie des définitions ».52 On le vit aussi par

45 Par exemple dans deux articles d’arithmétique politique, prétextes à critiquer le vote censitaire alors en vigueur : Joseph-Diez Gergonne (1815–1816), Quelques remarques sur les élections, les assemblées délibérantes et le système représentatif, in : AMPA, 6, pp. 1–11 et Joseph-Diez Gergonne (1819–1820), Sur les élections et le système représentatif, in : AMPA, 10, pp. 281–288. 46 Joseph-Diez Gergonne (1829–1830), Exposition élémentaire des principes du calcul différentiel, in : AMPA, 20, pp. 213˗284. 47 Joseph-Diez Gergonne (1830–1831a), Préliminaires d’un cours de mathématiques pures, in : AMPA, 21, pp. 305–326. 48 Par exemple dans Joseph-Diez Gergonne (1805), Rapport à l’Académie du Gard sur l’ouvrage intitulé Elémens Raisonnés d’Algèbre dont M. Simon Lhuillier son associé lui a fait hommage, lu à la séance du 30 nivôse an XIII, in : Bulletins de l’Académie du Gard, 20 janvier 1805, non paginé [Nîmes, Bibliothèque municipale, salle Séguier]. 49 Joseph-Diez Gergonne (1821–1822), Dissertation sur la langue des sciences, et en particulier sur celles des sciences exactes, AMPA, 12, pp. 322–359. 50 Joseph-Diez Gergonne (1816–1817a), De l’analyse et de la synthèse, dans les sciences mathématiques, in : AMPA, 7, pp. 345–372. 51 Joseph-Diez Gergonne (1816–1817b), Essai de dialectique rationnelle, in : AMPA, 7, pp. 189–228. 52 Joseph-Diez Gergonne (1816–1817c), Essai sur la théorie des définitions, in : AMPA, 9, pp. 1–35.

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exemple pourfendre le kantisme de Wronski lors de la publication de son Introduction à la philosophie des mathématiques et technie de l’algorithmie53 ou de la parution de sa Réfutation de la théorie des fonctions analytiques de Lagrange54 et d’un article de Servois sur le même sujet dans les Annales.55 La contribution de Gergonne à l’histoire des idées et à la philosophie a depuis lors été quelque peu oubliée, mais un témoignage nous est resté sur le cours de philosophie des sciences qu’il donna à l’Université de Montpellier après qu’il y fut recruté en 1816 : le philosophe anglais John Stuart Mill fut l’élève de Gergonne en 1820 et écrivit dans son propre journal intime une note sur cet enseignement qui permet de reconstruire le plan du cours de son maître.56 En outre, son rejet des métaphysiques héritées du XVIIIe siècle conduisit Gergonne à afficher un positivisme qui annonçait les travaux d’Auguste Comte, comme en témoigne par exemple cet extrait : « sous l’influence ou plutôt à l’abri de l’influence des systèmes métaphysiques les plus disparates, les sciences positives ont toujours marché du même pas vers leur perfection, tandis que les autres ont constamment résisté à nos efforts ».57 Mais Gergonne publia aussi des articles de mathématiques majeurs. Nous ne reviendrons pas sur sa contribution à la géométrie projective et au concept de dualité déjà évoquée, et nous n’avons pas la place ici de détailler l’ensemble de ses contributions, mais son apport dans les problèmes de géométrie analytique sont connus,58 du même que ses travaux de géométrie pure (le « point de Gergonne »,

53 Hoëne de Wronski (1811), Introduction à la philosophie des mathématiques et technie de l’algorithmie, Paris : Courcier. Critique de Gergonne : Joseph-Diez Gergonne (1811–1812), Introduction à la philosophie des mathématiques, par M. Hoëné de Wronski. Annonce par les rédacteurs des Annales, in : AMPA, 2, pp. 65–68. 54 Hoëne de Wronski (1812), Réfutation de la théorie des fonctions analytiques de Lagrange, Paris : Blankenstein. 55 François-Joseph Servois (1814–1815a), Essai sur un nouveau mode d’exposition des principes du calcul differentiel, in : AMPA, 5, pp. 93–140 ; François-Joseph Servois (1814–1815b), Réflexions sur les divers systèmes d’exposition des principes du calcul différentiel, et, en particulier, sur la doctrine des infiniment petits (Philosophie mathématique), in : AMPA, 5, pp. 141–170. 56 Anna Jean Mill (1960), John Mill’s Boyhood Visit to France : Being a Journal and Notebook written by John Stuart Mill in France, 1820–1821, Toronto : University of Toronto Press, pp. 77–96. Voir aussi : Carol de Saint Victor (1990), La fâcheuse lacune : John Stuart Mill à Montpellier, in : Bulletin historique de la ville de Montpellier, 14, pp. 18–24. 57 Joseph-Diez Gergonne (1809), De la méthode dans les sciences en général, et en particulier dans les sciences exactes, in : Notices des travaux de l’Académie du Gard pour l’année 1809, non paginé [Nîmes, Bibliothèque municipale, salle Séguier, accès libre]. Voir aussi : Gerini (2003), op. cit., pp. 140–234. 58 Par exemple dans Joseph-Diez Gergonne (1813–1814a), Recherche du cercle qui en touche trois autres, soit sur un plan, soit sur une sphère, et de la sphère qui en touche quatre autres dans l’espace, in : AMPA, 4, pp. 349–359, investigation reprise trois ans plus tard dans JosephDiez Gergonne (1816–1817d), Recherche du cercle qui en touche trois autres sur un plan, in : AMPA, 7, pp. 289–305.

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par exemple).59 Les historiens de la théorie des jeux ont retenu aussi son article Recherches sur un tour de cartes60qui a donné lieux à de multiples développements jusqu’à nos jours.61 Les Annales de Gergonne furent donc une entreprise éditoriale originale en même temps qu’un laboratoire d’idées, d’échanges et d’avancées et une tribune pour une population de mathématiciens qui s’élargit au fil des vingt-deux années de parution. Il est temps à présent de nous intéresser au journal lui-même et à ces différents aspects.

3. Les contenus des Annales. Gergonne nous le dit lui-même dans son « Prospectus », ses Annales « seraient être consacrées » : ƒ Aux mathématiques pures. Il précise à ce sujet : Le titre de l’ouvrage annonce assez d’ailleurs que, si l’on n’y doit rien rencontrer d’absolument étranger au Calcul, à la Géométrie et à la Méchanique rationnelle, les rédacteurs sont néanmoins dans l’intention de n’en rien exclure de ce qui pourra donner lieu à des applications de ces diverses branches des sciences exactes.

ƒ Aux mathématiques appliquées, comme le laisse entrevoir la fin de la phrase précédente et comme il le précise aussi ensuite : Ainsi, sous ce rapport, l’Art de conjecturer, l’Economie politique, l’Art militaire, la Physique générale, l’Optique, l’Acoustique, l’Astronomie, la Géographie, la Chronologie, la Chimie, la Minéralogie, la Météorologie, l’Architecture civile, la Fortification, l’Art nautique et les Arts mécaniques, enfin, pourront y trouver accès. On aura soin, au surplus, de consulter, à cet égard, le vœu du plus grand nombre des souscripteurs, et de s’y conformer scrupuleusement.

Gergonne n’annonce pas dans son « Prospectus » la « philosophie mathématique » dont il fit pourtant une rubrique sur la totalité de la durée de son journal.

59 Cf. Laura Guggenbuhl (1957), Note on the Gergonne Point of a Triangle, in : American Mathematical Monthly, 64 : 3, pp. 192–193. 60 Joseph-Diez Gergonne (1813–1814b), Recherches sur un tour de caries, in : AMPA, 4, pp. 276–283. 61 Voir : Roy Quintero & Christian Gerini (2010), Le « tour de cartes » de Gergonne : d’un article datant de près deux cents ans à une généralisation en plusieurs étapes, in : Quadrature, 77, juillet˗septembre 2010 [à paraître]. Voir aussi : Roy Quintero (2006), El problema de m pilas de Gergonne y el sistema de numeración de base m, in : Boletín de la Asociación Matemática Venezolana, 13 : 2, pp. 165–176.

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3.1. Classer pour spécialiser ? On voit dès le premier numéro la volonté de Gergonne de faire des mathématiques une vraie spécialité, avec ses catégories. Son « Prospectus » l’affirme, on l’a vu. Et l’organisation même de son journal en rubriques très spécialisées va dans le même sens, donnant l’impression d’une excessive dispersion tant sa volonté de classification, qui était selon lui la première condition toute aristotélicienne à l’organisation de savoirs scientifiques, le pousse à multiplier les rubriques. On trouvera dans ce qui suit trois tableaux illustrant cet état de fait :

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Tome 18

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Tome 6

Tome 4

Tome 2

ƒ Un premier tableau (Graphique 1) fait apparaître l’évolution sur les vingt-deux années de parution du nombre de rubriques. Il faut ajouter à cela le fait qu’au total les Annales comptèrent pas moins de quarante-huit rubriques différentes. ƒ Les deux autres tableaux montrent les subdivisions en rubriques spécifiques des deux grands domaines de l’analyse et de la géométrie. L’analyse fut partagée en six domaines, mais il faut noter la prédominance de l’analyse transcendante, c’est-à-dire du calcul différen20 tiel et intégral (Graphique 2). 18 Le cas de la géométrie nous 16 renseigne aussi sur le contexte 14 12 mathématique de l’époque. Le 10 nombre de subdivisions (treize 8 au total) est en lui-même signi6 ficatif d’un foisonnement de 4 2 cette partie des mathématiques 0 et de la difficulté de classer les contributions en grandes catégories (Graphique 3). Il nous montre aussi que la géométrie Graphique 1: dominait alors les mathéNombre total de rubriques des Annales par année matiques : on compte deux fois plus d’articles de géométrie que d’analyse. Mais le nombre d’articles relevant de la géométrie pure (ou synthétique), que l’on retrouve essentiellement dans les rubriques de « géométrie », « géométrie élémentaire », « géométrie descriptive », « géométrie pure », « géométrie de la règle », et « géométrie de situation » n’est pas significativement beaucoup plus élevé que le nombre d’articles relevant de la géométrie analytique (et que l’on trouve dans les rubriques de « géométrie analytique », « géométrie des courbes et des surfaces », « géométrie des surfaces courbes » et « géométrie transcendante »). L’influence de Monge, de la géométrie descriptive et de la géométrie synthétique se ressentent effectivement dans ces statistiques, mais pas au point d’écrire, comme nous l’avons lu, que les Annales de Gergonne leur étaient presque exclusivement consacrées.

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On constate finalement que le consensus plus large autour de l’analyse évita à Gergonne de subdiviser autant celle-ci que la géométrie, où s’affrontaient régulièrement les défenseurs des deux courants de géométrie synthétique et de géométrie analytique. L’exercice de classification était donc délicat (Gergonne fut souvent amené à classer un même article dans plusieurs rubriques), mais il offrait (et offre encore aujourd’hui) l’avantage d’un accès facilité aux contenus : les tables de fin de volumes sont en effet claires, détaillées, et permettent en outre de connaître les qualités et origines d’un grand nombre d’auteurs.62 Les notes de bas de pages, ou les articles intitulés « notes sur l’article précédent » ajoutés par le rédacteur apportent de plus des informations de deux types : 1. il peut compléter l’article par des précisions sur les lacunes, ou au contraire les avancées notables, des démonstrations, ou apporter des références historiques le reliant à d’autres contributions sur le même sujet. 2. il se pose souvent en critique intransigeant, autant sur la forme que sur le fond (il fait de même dans ses comptes-rendus de lectures d’ouvrages parus). Enfin, les articles de « mathématiques appliquées » (optique, catoptrique, gnomonique, dynamique, hydrodynamique, météorologie, statique) répondent bien à l’intention première des éditeurs : ne « rien exclure de ce qui pourra donner lieu à des applications de 90 82 80 70 ces diverses branches des sciences 60 50 exactes ». 38 40 8 26 30 22 5 On est donc en principe devant ce 20 10 que l’on peut considérer comme le 0 premier journal consacré aux mathématiques en tant que spécialité scientifique à part entière, et animé et alimenté par un rédacteur et des auteurs qui préfigurent ce que nous nommons aujourd’hui des « spéciaGraphique 2: listes ». L’exemple du journal de Nombre d’articles des six rubriques de l’analyse Gergonne inspira l’allemand Crelle qui fonda en 1826 son propre journal, et les échanges d’articles entre les deux journaux marquent une globalisation, une internationalisation des connaissances et de leur spécialisation. Les mathématiques devinrent aussi une science autonome, se dégageant peu à peu, sous l’influence d’un positivisme de plus en plus affirmé, des influences de la métaphysique et de la philosophie. Mais il y a encore une ambivalence qui rattache les Annales de Gergonne aux journaux littéraires et savants du XVIIIe siècle. 62 Cela a facilité notre travail et celui du programme NUMDAM (Numérisation des Archives de Mathématiques) du CNRS (Centre National de la Recherche Scientifique) lorsque nous avons numérisé, indexé et mis en ligne l’ensemble des Annales de Gergonne : http:// www.numdam.org/numdam-bin/feuilleter?j=AMPA&sl=0 .

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Graphique 3: Nombre d’articles des treize rubriques de la géometrie

3.2. Mathématiques et philosophie. Un élément déterminant pour la compréhension de cette ambivalence et de ce polymorphisme du journal est l’étude de sa rubrique de « philosophie mathématique », présente tout au long de la publication. Les contenus de cette rubrique peuvent se répartir en quatre catégories délimitées comme suit (cf. Graphique 4) : 1. Les articles que l’on peut qualifier de « pure philosophie », et qui étaient majoritairement de la main de Gergonne : nous les avons déjà signalés dans la partie 2. 2. Les articles de mathématiques pures qui, du fait des nouveautés conceptuelles qu’ils présentaient, étaient en rupture avec des habitudes méthodologiques ou des courants dominants d’approche philosophique encore en cours, ou au contraire tentaient de ramener certains concepts dans le giron des visions philosophiques paradigmatiques du rapport des mathématiques à la réalité. Un exemple représentatif de cette dernière question est celui de la représentation géométrique des nombres imaginaires par Argand au tome 4. On y voit s’affronter deux conceptions d’ordre épistémologique. Argand justifie sa construction (dont on connaît l’utilité et la pertinence aujourd’hui) par son ancrage dans

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le réalisme géométrique hérité des Anciens, ce qui lui permet de proposer de nouveaux outils encore trop en avance sur son temps, à savoir ses « lignes dirigées » qui ne sont rien d’autre que nos vecteurs. Et François-Joseph Servois lui répond par une lettre très critique,63 où il juge, au nom de l’algébrisme qu’il affiche dans tous ses travaux, qu’une telle référence à la géométrie dans l’emploi des nombres complexes et dans la re-démonstration de tous les théorèmes établis avant Argand par la simple puissance du calcul algébrique encombre inutilement les mathématiques dans leur avancée idéale. 3. Les articles « mixtes », qui relèvent à la fois de l’invention mathématique et du discours philosophique (et souvent polémique) sur cette invention. Là aussi, c’est par Servois (et Gergonne) que l’on assiste à une démonstraDidac- Philotion de cette mixité du philosophique sophie que et du mathématique dans deux 9% 14,7 % articles successifs au tome 5 : un Essai de calcul différentiel de Servois,64 construit sur le rejet alors Mathé Mixte très en vogue de toute référence à maques 44% l’infiniment petit (et qu’il accom32,3% pagne d’une généralisation conceptuelle d’importance : les opérateurs fonctionnels et les qualités relationnelles dans des classes de Graphique 4: fonctions), essai suivi par une lonComposition de la rubrique gue critique,65 appuyée par GerPhilosophie mathématique gonne, des philosophes qui défendent l’infini actuel dans les calculs, et plus particulièrement du mathématicien Wronski (à cause de sa Réfutation de la théorie des fonctions analytiques de Lagrange) et de sa référence à Kant et à son « transcendantalisme ».66 4. Les articles de didactique de Gergonne et ses débuts de rédactions de cours dont nous avons aussi déjà parlé plus haut.

63 Lettre datée du 23 novembre 1813 dans la rubrique « Philosophie mathématique », cf. François-Joseph Servois (1813–1814), Lettre de M. Servois, in : AMPA, 4, pp. 228–235. Cette lettre est largement annotée et critiquée par Gergonne. 64 François-Joseph Servois (1814–1815a), op.cit., (classé « Analyse transcendante »). 65 François-Joseph Servois (1814–1815b), op.cit., (classé « Philosophie mathématique »). 66 Cf. Jean-Pierre Friedelmeyer (1994), Le calcul des dérivations d’Arbogast dans le projet d’algébrisation de l’analyse à la fin du XVIIIème siècle (= Cahiers d’histoire et de philosophie des sciences, vol. 43), Université der Nantes : diffusion A. Blanchard ; et Gerini (2003), op. cit., pp. 330–415.

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3.3. L’œuvre d’un mathématicien-philosophe. C’est donc un « mathématicien-philosophe » qui lança en Europe le premier journal d’envergure en mathématiques. Comme nombre de ses auteurs, Gergonne était un personnage de transition entre un XVIIIe siècle où les mathématiques étaient encore largement imprégnées de philosophie et un XIXe siècle où elles se constituèrent en véritable champ scientifique spécialisé.67 Ses Annales, bien qu’encore souvent teintées de philosophie, furent aussi le lieu d’un découpage de la science mathématique en de très nombreuses subdivisions : il tentait d’organiser son champ disciplinaire en suivant une classification à ses yeux conforme à sa vision générale et philosophique du savoir scientifique détaillée dans les essais que nous avons mentionnés plus haut. On voit donc au fil des années de parution se défaire le lien entre mathématiques et philosophie et se constituer une science mathématique plus structurée et plus théorique, en particulier en raison de l’élargissement de la population d’auteurs aux élites françaises et étrangères. 4. Conclusion : l’exemple à suivre et à perfectionner. En conclusion, et pour bien faire voir cette spécialisation des mathématiques au cours des trente premières années du XIXe siècle à laquelle Gergonne participa avec son journal, il n’est qu’à comparer ses contenus avec ceux de son successeur français, le Journal de mathématiques pures et appliquées de Liouville, publié à partir de 1836 sous une forme héritée des Annales et connu sous le nom de Journal de Liouville. Comme l’a montré une étude des politiques éditoriales et de l’organisation de ces deux journaux que nous avons effectuée avec Norbert Verdier, spécialiste du Journal de Liouville,68 la philosophie mathématique n’existe plus dans ce dernier et le souci didactique cède vite la place à des mathématiques quasi exclusivement théoriques et novatrices : Si Liouville se réclame de Gergonne pour sa propre entreprise, et s’il a pour ambition d’offrir aux mathématiciens de son temps un outil comparable aux Annales, on voit apparaître dès son ‚avertissement‘ certaines lignes de rupture en matière éditoriale entre les deux périodiques. Liouville annonce un journal de recherche qui n’exclut pas des articles didactiques, mais il discerne bien les deux aspects : ‚On y traitera indifféremment et les questions les plus nouvelles soulevées par les géomètres, et les plus minutieux détails de l’enseignement 67 Il participait par exemple encore en 1813, trois ans après le lancement de son journal, à un « concours » proposé par l’Académie de Bordeaux dont le sujet était : « Caractériser la synthèse et l’analyse mathématique et déterminer l’influence qu’ont eue ces deux méthodes sur la rigueur, les progrès et l’enseignement des sciences exactes » (il reçut le premier prix). Cf. Amy Dahan-Dalmedico (1986), Un texte de philosophie mathématique de Gergonne. Mémoire inédit déposé à l’Académie de Bordeaux, in : Revue d’histoire des sciences, 39 : 2, pp. 97–126. 68 Verdier (2009), op. cit.

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mathématique des collèges.‘ Mais il veut éviter ‚les répétitions fastidieuses d’objets trop connus ; car s’il est bon de revenir de temps à autre sur les élémens des sciences, il faut que ce soit pour les perfectionner, et non pour y changer çà et là quelques mots et quelques phrases ; ce qui par malheur est arrivé trop souvent.‘69

En outre, Liouville renonça à classer en rubrique les contributions de ses auteurs, autre différence majeure avec les choix de son prédécesseur. La volonté de Gergonne d’organiser les mathématiques en de nombreux champs de spécialités l’avait conduit à une telle profusion de rubriques que son successeur ne voulut pas reprendre ce principe : pour voir réapparaître une classification en rubriques détaillées, il fallut attendre la parution à partir de 1842 des Nouvelles Annales, journal des candidats aux écoles Polytechnique et Normale, nommé à présent Nouvelles Annales : elles durèrent jusqu’en 1927, sous la direction de nombreux rédacteurs. Entre temps, l’initiative de Gergonne inspira grandement August Léopold Crelle qui lança à Berlin en 1826 son Journal für die reine und angewandte Mathematik (Journal de mathématiques pures et appliquées), aujourd’hui connu sous le nom de Journal de Crelle. Il citait d’ailleurs les Annales dans sa préface :70 « Depuis 16 ans existe sans interruption en français un journal mathématique : ‚Les Annales de mathématiques pures et appliquées‘, ouvrage périodique rédigé par M. Gergonne à Montpellier […] ». Il s’inspira grandement de l’initiative de Gergonne et les deux hommes échangèrent de 1826 à 1832 (année de la fin des Annales) de nombreuses informations et articles, se faisant dans leurs journaux une mutuelle publicité. Crelle continua ce type de collaboration avec Liouville puis avec Terquem. En 1825, Jean Guillaume Garnier et Adolphe Quetelet publièrent en Belgique (alors partie du Royaume des Pays-Bas) la Correspondance mathématique et physique dans laquelle les mathématiques occupaient une place non négligeable. Elles parurent jusqu’en 1835. Ces deux initiatives ainsi inspirées de l’exemple des Annales firent écrire à Gergonne, dans une lettre à W.H.F. Talbot datée du 16 décembre 1826 : Depuis l’interruption de nos relations, vous aurez sans doute remarqué, Monsieur, la naissance de deux recueils à l’imitation du mien : l’un est la Correspondance publiée à Bruxelles par MM. Quételet et Garnier, et dans laquelle ce dernier m’a souvent copié textuellement sans me citer. Ils ont là parmi leurs collaborateurs un M. Dandelin qui a du mérite. L’autre recueil est celui que M. 69 Christian Gerini & Norbert Verdier (2008), Les deux premiers journaux mathématiques français : Les Annales de Gergonne (1810–1832) et le Journal de Liouville (1836–1875), site expert de la Direction de l’Enseignement Scolaire (DESCO) et les Écoles Normales Supérieures, URL : http://www.dma.ens.fr/culturemath/. 70 August Leopold Crelle (1826), Vorrede, in : Journal für die reine und angewandte Mathematik, 1, pp. 1–4, p. 1: « Im Französischen existirt seit sechzehn Jahren ununterbrochen eine mathematische Zeitschrift: Annales de mathémathiques pures et appliqueés, ouvrage périodique rédigé par M. Gergonne à Montpellier [...]. » Cité par Norbert Verdier dans : Christian Gerini & Norbert Verdier (2008), op. cit.

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Crelle publie en allemand à Berlin. Je viens d’en recevoir les trois premiers cahiers dont je n’ai encore lu que la table des matières. M. Schmidten y a reproduit ce me semble un mémoire qu’il avait déjà publié dans mes annales.71

« A l’imitation du mien » : derrière la fierté de l’homme (et sa rancœur exprimée dans l’expression « m’a copié textuellement sans me citer ») se cache une réalité historique. Les Annales de Gergonne inspirèrent en effet les publications postérieures à 1810 et modifièrent définitivement le paysage éditorial en matière de périodiques consacrés aux mathématiques. Tous les ingrédients qui font les revues spécialisées d’aujourd’hui avaient en effet été réunis pour la première fois par Gergonne avec son journal : rapidité des échanges entre mathématiciens grâce à une périodicité mensuelle, mixité mathématiques pures ˗ mathématiques appliquées, internationalisation du lectorat et de l’autorat, constitution d’un champ de spécialité mieux défini, revendications en paternité de concepts nouveaux ou d’avancées théoriques importantes. Après (et même pendant) la publication des Annales, il ne restait plus aux rédacteurs des nouvelles revues qu’à en perfectionner le principe comme la qualité (typographique par exemple), ce que firent Crelle et Liouville. Nous laissons la parole à ce dernier pour conclure sur cette occasion de marquer ici le bicentenaire de la parution du premier numéro des Annales de mathématiques pures et appliquées de Joseph-Diez Gergonne et de l’invention des journaux modernes dans cette discipline : Toutes les personnes qui ont une teinture même légère des Mathématiques connaissent le succès mérité qu’ont obtenu les Annales fondées en 1810 par M. Gergonne, et continuées par lui pendant vingt ans avec un zèle qu’on ne peut trop louer, et un talent qui a triomphé des plus grands obstacles.72

Bibliographie et sitographie 1. Journaux mathématiques Bernoulli, Jean & Carl Friedrich Hindenburg (éds.) (1786–1787), Leipziger Magazin für reine und angewandte Mathematik, Leipzig: Müller, en cours de numérisation, prochainement disponible en open source sur : http://gdz.sub.uni-goettingen.de/index.php?id=146&ppn=PPN598943390. Crelle, August Leopold (éd.) (1826 à nos jours), Journal für die reine und angewandte Mathematik, Berlin, disponible en open source sur : http://www.digizeitschriften.de/main/dms/toc/?PPN=PPN24 3919689. Conseil d’instruction de l’École polytechnique (éds.) (1795–1939), Journal de l’École polytechnique, Paris, disponible en open source sur : http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/cb34378280v/date.r=.la ngFR?&lang=EN. 71 Lettre disponible dans l’ensemble de la correspondance de W. H. F. Talbot sur le site dirigé par Schaaf (éd.) (1999 et seq.), op. cit. 72 Joseph Liouville (1836), Avertissement, in : Journal de mathématiques pures et appliquées, 1, pp. 1–4, p. 1.

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Garnier, Jean-Guillaume & Adolphe Quételet (1825–1839), Correspondance mathématique et physique, Gand puis Bruxelles. Gergonne, Joseph-Diez (éd.), (1810–1832), Annales de mathématiques pures et appliquées, 22 volumes, Nîmes puis Montpellier : Veuve Courcier puis Bachelier, disponible en open source sur : http://www.numdam.org/numdam-bin/feuilleter?j=AMPA&sl=0. Hindenburg, Carl Friedrich (éd.) (1795–1800), Archiv der reinen und angewandten Mathematik, Leipzig : Schäfer, en cours de numérisation, prochainement disponible en open source sur : http:// gdz.sub.uni-goettingen.de/index.php?id= 146&ppn=PPN599212578. Karsten, Wenceslaus J. G. (éd.) (1758–1761), Beyträge zur Aufnahme der theoretischen Mathematik, Rostock : Röse. Leybourn, Thomas (éd.) (1795–1835), The Mathematical Repository, Londres : Glendinning. Liouville, Joseph (éd.) (1836 à nos jours), Journal de mathématiques pures et appliquées, Paris : Gauthier-Villars, disponible en open source sur : http://math-doc.ujf-grenoble.fr/JMPA/. Terquem, Orly & Camille Gerono (éds.) (1842–1927), Nouvelles Annales de mathématiques, journal des candidats aux écoles Polytechnique et Normale, Paris : Gauthier-Villars, en cours de numérisation, disponible en open source sur : http://www.numdam.org/numdam-bin/feuilleter?j= NAM&sl=0.

2. Contributions aux Annales de Gergonne et au Journal de l’École polytechnique Abel, Niels Henrik (1826–1827), Recherche de la quantité qui sert à la fois à deux équations algébriques données, in : AMPA, 17, pp. 204–213. Ampère, André-Marie (1817–1818), Rapport à l’académie royale des sciences, sur le mémoire de M. Bérard, inséré à la page 110 du VIIe volume de ce recueil, in : AMPA, 8, pp. 117–124. Ampère, André-Marie (1825–1826a), Essai sur un nouveau mode d’exposition des principes du calcul différentiel, du calcul aux différences et de l’interpolation des suites, considérées comme dérivant d’une source commune, in : AMPA, 16, pp. 329–349. Ampère, André-Marie (1825–1826b), Exposition du principe du calcul des variations, in : AMPA, 16, pp. 133–167. Argand, Jean-Robert (1813–1814), Essai sur une manière de représenter les quantités imaginaires, dans les constructions géométriques, in : AMPA, 4, pp. 133–147. Argand, Jean-Robert (1814–1815), Réflexions sur la nouvelle théorie des imaginaires, suivies d’une application à la démonstration d’un théorème d’analise, in : AMPA, 5, pp. 197–209. Bérard, Joseph-Balthazard (1812–1813), Application de la méthode des maximis et minimis à la recherche des grandeurs et direction des diamètres principaux, dans les lignes et surfaces du second ordre qui ont un centre, in : AMPA, 3, pp. 105–113. Bret, Jean-Jacques (1809), Mémoire sur la méthode du plus grand commun diviseur, appliquée à l’élimination, in : Journal de l’École polytechnique, 8 :15, pp. 162–197. Fox Talbot, William Henry (1822–1823), Rectification de l’énoncé du problème de géométrie proposé à la page 321 du XIIème volume des Annales, et traité à la page 115 du présent volume, et solution complète de ce problème, in : AMPA, 13, pp. 242–247. Français, Joseph-François (1813–1814a), Nouveaux principes de géométrie de position, et interprétation géométrique des symboles imaginaires, in : AMPA, 4, pp. 61–71. Français, Joseph-François (1813–1814b), Sur la théorie des imaginaires. Extrait d’une lettre adressée au rédacteur des Annales, in : AMPA, 4, pp. 364–367.

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Poisson, Siméon-Denis (1809b), Mémoire sur le mouvement de rotation de la terre, lu à l’Institut le 20 mars 1809, in : Journal de l’École Polytechnique, 8 : 15, pp. 198–218. Poisson, Siméon-Denis (1809c), Mémoire sur les inégalités séculaires des moyens mouvements des planètes, lu à l’Institut le 20 juin 1808, in : Journal de l’École Polytechnique, 8 : 15, pp. 1–56. Poncelet, Jean-Victor (1817–1818), Réflexions sur l’usage de l’analise algébrique dans la géométrie ; suivies de la solution de quelques problèmes dépendant de la géométrie de la règle, in : AMPA, 8, pp. 141–145. Poncelet, Jean-Victor (1827–1828), Note sur divers articles du bulletin des sciences de 1826 et de 1827, relatifs à la théorie des polaires réciproques, à la dualité des propriétés de situation de l’étendue, etc., in : AMPA, 18, pp. 125–142. Servois, François-Joseph (1813–1814), Lettre de M. Servois, datée du 23 novembre 1813, in : AMPA, 4, pp. 228–235. Servois, François-Joseph (1814–1815a), Essai sur un nouveau mode d’exposition des principes du calcul differentiel, in : AMPA, 5, pp. 93–140. Servois, François-Joseph (1814–1815b), Réflexions sur les divers systèmes d’exposition des principes du calcul différentiel, et, en particulier, sur la doctrine des infiniment petits, in : AMPA, 5, pp. 141–170.

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Les collections d’autographes chez les botanistes – un exemple : les collections de Gustave Thuret, Edouard Bornet et de Casimir Roumeguère Denis Lamy

Abstract The practice of a botanist generates, in a recurring way, a collection of dry plants (the own collectings of the botanist and those that he obtained for comparison), associated with notes of observations and a correspondence. These collections reflect the network inside which the botanist worked. They are not exclusive but complementary if we want to appreciate this practice for the XVIIth century until our days. So as to be able to interpret the labels of exchanged herbariums, certain botanists form a collection of autographs. Based generally on its correspondents' own network, this collection is enriched by purchases, gifts or still exchanges of authenticated parts. Collections formed on one side by Gustave Thuret and Edouard Bornet and on the other hand by Casimir Roumeguère, analyzed for the first time, exemplify. The contents of these collections of autographs often go beyond the simple specimen of writing and can form an original source for the history of the botany, offering the face of the botanist in action.

Introduction De façon générale, le 19e siècle est considéré comme le siècle des collectionneurs dans la sphère sociale et intime, avec l’émergence de collectionneurs suite à l’éparpillement des cabinets de curiosités des aristocrates à la Révolution, et de la diffusion d’une pratique sociale.1 La collection d’autographes fait partie de ce mouvement. Le Dictionnaire culturel en langue française2 définit ainsi l’autographe : Autographe (adj. et n. m.) qui est écrit de la main de l’auteur. Lettre, manuscrit autographe […] N.m. (plus cour.) Texte écrit à la main par une personne célèbre. Une collection d’autographes. ‘Il attend Kleist, il attend Thomas Mann, il attend sa lettre de Gorki, sa lettre d’Anatole France ! Les dictateurs collectionnent les autographes et disparaissent’ (Giraudoux, Siegfried et le Limousin).

Cette définition associe l’autographe à la célébrité et peut s’appliquer, par exemple, à l’édition des lettres significatives d’hommes célèbres sous le titre Isographie

1 2

Cf. Michelle Perrot (éd.) (1987), De la grande révolution à la grande guerre, in : Philippe Ariès & Georges Duby (éds.) : Histoire de la vie privée, vol. 4, Paris : Editions du Seuil. Alain Rey & Danièle Morvan (éds.) (2005), Dictionnaire culturel en langue française, Paris : Le Robert, p. 655. Jahrbuch für Europäische Wissenschaftskultur, Bd. 7 (2012), 377–412

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des hommes célèbres en 1828–1830.3 Mais dans le réseau des naturalistes, il existe toutes sortes de collections d’autographes pouvant réunir des pièces écrites par des personnes célèbres ou non. C’est le cas pour les collections d’autographes de botanistes qui ne sont pas réunies dans le seul but de la collection, mais dans celui d’être un outil au service d’une meilleure connaissance de leurs études botaniques. En effet, les collections naturalistes, formées dès le 18e siècle sur la base des grands voyages d’exploration et sur celle des réseaux de correspondants (autour de Georges Leclerc comte de Buffon, Albrecht von Haller ou Carl von Linné, par exemple), sont généralement accompagnées de documents en lien direct avec les récoltes, comme des notes de terrain, des observations en cabinet, des illustrations, etc. La correspondance scientifique qui découle de ces réseaux procède de la transmission du savoir entre spécialistes ou entre collecteurs et spécialistes ou entre amateurs. Le réseau génère une correspondance dont le contenu porte le plus souvent sur des déterminations et aussi des commentaires politiques, sociaux etc., des informations bibliographiques. Le botaniste conserve cette correspondance, expression de son réseau ; il pourra s’enorgueillir d’avoir entretenu des relations avec des botanistes reconnus qui ont observé et commenté son herbier, donnant ainsi plus de valeur à sa collection. Il faut souligner que ce réseau de sociabilité est nécessaire au botaniste amateur ou professionnel pour la construction de son savoir. Nous nous appuyons ici sur une organisation de la communauté scientifique fondée non pas sur le statut social des acteurs, au sein de ces réseaux, mais sur leurs pratiques même des sciences de la nature. La connaissance de ces pratiques s’avère essentielle pour une compréhension des spécimens conservés et de l’évolution des concepts dans les différentes disciplines naturalistes. Elles font l’objet de diverses études soit de façon générale notamment en ce qui concerne la République des lettres au 18e siècle,4 soit de façon spécifique autour de tel ou tel naturaliste.5 La collection de plantes séchées est non seulement un lieu mémoriel, un outil de référence pour le botaniste, elle est aussi le résultat de sa pratique. Les spécimens sont montrés, échangés au sein des réseaux qui s’entrecroisent (collecteur / collectionneur / botaniste), leurs déterminations sont revues ; les étiquettes asso3 4 5

Auguste Simon Louis Bérard et al. (éds.) (1828–1830), Isographie des hommes célèbres ou collection de fac-similé de lettres autographes et de signatures, Paris : Mesnier. Cf. Daniel Roche (1988), Les Républicains des lettres, gens de culture et Lumières au XVIIIe siècle, Paris : Fayard. Cf. Nicolas Robin (2003b), Der Briefwechsel Jean-Daniel Buchinger (Bestandsübersicht). Ein deutsch-französischer Beitrag zur Geschichte der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert, in : Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, 26, pp. 57–66 ; Nicolas Robin (2006), Die Pflanzentauschbörsen. Das Austauschkonzept und die Netzwerke des botanischen Wissens im 19. Jahrhundert, in : Verhandlungen zur Geschichte und Theorie der Biologie, 12, pp. 123–135 ; Denis Lamy (1984), A propos de la correspondance de E. Boudier à P. V. A. Feuilleaubois, in : Bulletin de la société mycologique de France, 100 : 3, pp. cxxxix–clxi; Denis Lamy (1989), Correspondence between Miles Joseph Berkeley (1803–1889) and Camille Montagne (1784–1866), in : The mycologist, 3, pp. 162–166.

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ciées à ces spécimens sont alors le témoin de ces hésitations et de ces révisons. En outre, le concept de « spécimen type »6 appliqué au spécimen qui a été utilisé pour la première description d’un nouveau taxon encourage la collection par elle-même, dans la mesure où ce spécimen doit demeurer accessible pour des observations/ comparaisons futures. Ces collections de plantes séchées, composées d’objets biologiques, réobservables bien des années après leur récolte, acquièrent donc un statut de référence, nomenclatural ou régional, incontournable face aux flores et aux manuels sans illustration, du moins jusqu’au début du 19e siècle. Au tournant 1800, les botanistes se trouvent confrontés à de nombreux spécimens, acquis par achats ou par échanges, dont les étiquettes portent des informations variées sur le nom de la plante, son lieu de récolte, etc., rédigées par des mains différentes. Il devient alors nécessaire, pour le botaniste, de savoir interpréter ces étiquettes, afin de retracer le chemin du spécimen à travers différentes collections et comprendre son histoire botanique. Dans ce but, les botanistes constituent des séries de références de spécimens d’écriture, appelées aussi collections d’autographes. Cesati7 en 1869 définit la collection d’autographe comme le parangon tant recherché pour se tirer d’affaires dans la lecture et l’interprétation des étiquettes d’herbier : Per fermo non occorre, Chmi Colleghi, ch’ io dica trovarsi precisamente in una collezione di autografi ben accertati la sola pietra del paragone per verificare que’ caratteri e far constare gli autori. Non intendo per autografi in questo significato soltanto manoscritti di maggior rilevanza; piccole note, una schedina, la sola firma – purchè ben avverate in punto legittimità – constituiscono un autografo nel concetto da me divisato.8

Deux questions s’offrent à nous : pourquoi et comment certains botanistes organisent des collections d’autographes ? Quel intérêt peut-on tirer de ces collections dans le cadre même de cet objet ou dans celui du contenu des documents. Des collections d’autographes : comment et pourquoi ? Collections d’autographes et correspondances scientifiques sont deux pratiques différentes mais interdépendantes. La possibilité d’augmenter sa collection d’auto6 7

8

La notion de spécimen type n’apparaît qu’en 1935 dans le Code international de nomenclature botanique, mais s’applique avec un effet rétroactif. Vincenzo Cesati (1869), De’ vantaggi che lo studio della botanica può ritrarre da una collezione di autografi, aggiunto un cenno storico sovra il Cirillo, letto all’ Accademia Pontaniana nella tornata del di 28 Febbraio 1869 dal socio ordinario Vincenzo Cesati, Napoli : Stamperia della Regia Università, p. 6. Ce qui peut se traduire : « Éminents collègues, il est sûr que l’unique référentiel pour vérifier les caractères de l’écriture manuscrite et de leurs auteurs est une collection d’autographes originaux dont l’authenticité a été bien vérifiée. Il ne faut pas entendre une collection d’autographes par sa seule importance (par sa valeur ou sa dimension) mais le fait qu’elle contienne aussi bien des petites notes, des fiches, même une seule signature – mais dont leur authenticité est bien prouvée : c’est comme cela que j’envisage une collection d’autographes originaux ».

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graphes dépendra de l’importance de son réseau de correspondants. Il s’agit pour de nombreux naturalistes de satisfaire un besoin de représentation, car la possession par exemple d’un document de la main de Carl von Linné, de Jean-Jacques Rousseau ou d’Alexander von Humboldt ne peut en aucun cas nuire à la réputation de sa propre collection épistolaire. La correspondance étant au même titre que le spécimen un objet-savoir, un outil de travail pour le scientifique, elle autorise à s’insérer dans une communauté, à être reconnu d’elle, et à échanger voire à acquérir un savoir, une pratique, non disponibles sous forme imprimée. Dans le cas de la botanique, la collection d’autographes est d’abord un outil pour l’interprétation des étiquettes d’herbier (reconnaissance des différentes écritures pouvant aider à l’histoire de la connaissance de la plante ; preuve de l’authenticité d’un spécimen, etc.). Mais elle peut aussi constituer un ensemble qui se suffit à lui-même. Le baron Vicenzo baron de Cesati (1806–1883), dans une lettre à Roumeguère du 13 décembre 18739 indique que la collection, qu’il a constituée à Naples, comporte plus de 1800 botanistes, tout en déplorant que certains botanistes méridionaux (comme Pierre Magnol) lui fassent défaut (Fig. 1). Cesati expose clairement l’ensemble de ses objectifs comme un véritable programme de recherche prosopographique : Et réellement si les premiers essais de me former un Autographarium de botanistes et botanophiles de tous degrés visaient à me procurer un reliquaire de toutes les personnes bien méritantes de la science en quelque façon que ce soit (auteurs, amateurs, collectionneurs, dessinateurs scientifiques etc.) bientôt il m’arriva de m’apercevoir, que je pourrais tirer vaillamment profit de ma collection dans un double point de vue ; savoir : d’arriver à déchiffrer, à dessiner à authentiquer [sic] des étiquettes anonymes dans les herbiers d’ancienne date, ou bien des postilles [sic] et des notes insérées dans des ouvrages que l’on achète chez les antiquaires. J’ai cité quelques exemples remarquables dans une brochure dont je vais vous adresser une copie par la poste. Et encore, de réunir les matériaux pour une future biographie générale des botanistes, moyennant des notes rapportées sur l’enveloppe de chaque autographe et regardant la naissance, la mort, la vie littéraire et scientifique, l’énumération des ouvrages, les honorificences [sic], les possesseurs actuels des manuscrits, des herbiers, etc. du titulaire du dit autographe.

Le même désir de constituer, aux côtés d’une collection de plantes, un référentiel d’écritures anime Benjamin Delessert, dont les collections botaniques sont admirées de tous. Son conservateur, Antoine Lasègue,10 en en dressant l’inventaire, précise : M. Delessert s’occupe, depuis plusieurs années de réunir, autant qu’il peut se les procurer, les lettres, manuscrits ou étiquettes autographes de toutes les personnes qui se sont fait un nom dans la botanique. Cette collection est devenue assez considérable pour fournir de nombreuses et précieuses indications. In9

Muséum national d’histoire naturelle, Collection Bibliothèque de Botanique (cité dorénavant : MNHN, CBB), Ms CRY 492, p. 592. 10 Antoine Lasègue (1845), Musée botanique de M. Benjamin Delessert, Paris : de Fortin, pp. 251–252.

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Figure 1 : Extrait de la lettre du baron V. de Cesati à C. Roumeguère, 13 décembre 1873 (Muséum national d’histoire naturelle, Collection de la bibliothèque de botanique, Ms CRY 492, pièce 592 ; cliché F. Bouazzat)

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dépendamment des notes que l’on trouve éparses dans l’herbier, plus de 200 étiquettes conservées à part et les autographes de près de 300 botanistes de toutes les époques, de toutes les célébrités, sont classées soigneusement dans la collection dont il s’agit.

Le comte Jaubert visitant les collections de Benjamin Delessert en 185911 insistera sur cette unité : En première ligne figurent les grands herbiers, les collections publiques et particulières, celles du Muséum et de M. Delessert, riches de tant de travaux accumulés. On ne s’y reconnaîtra, on y travaillera soi-même avec profit qu’après s’être bien rendu compte des dispositions matérielles, quelquefois défectueuses, que plusieurs de ces collections peuvent présenter ; on devra aussi se familiariser avec diverses écritures de maîtres, dont M. Lasègue a fait un recueil qu’il importerait de propager par lithographie ; on s’en servirait pour remarquer partout au passage les étiquettes dignes de confiance.

Par ailleurs, Ernest Cosson12 indique que la collection d’Achille Richard n’est pas différemment constituée : [Il y a] à côté de l’immense herbier (commencé en 1760 par Richard, grand oncle d’Achille Richard) un album de botanique renfermant des plantes étiquetées par des botanistes connus par leurs travaux et formant ainsi une collection d’autographes.

Apollinaire Fée13 (à Strasbourg), Alfred Moquin-Tandon (à Toulouse), Sébastien René Lenormand (à Vire), Joseph Decaisne (à Paris), Auguste Le Jolis (à Cherbourg) et Adrien de Jussieu (à Paris)14 tous et bien d’autres ont à cœur de placer en regard de leurs collections de plantes une collection d’autographes contenant des lettres, mais aussi des étiquettes d’herbier dont l’écriture a été authentifiée. Cette idée de collection d’autographes a plus ou moins perduré dans les grandes institutions comme le Muséum national d’Histoire naturelle (Paris). Ainsi la bibliothèque de l’ancien laboratoire de Cryptogamie possédait une collection d’autographes, constituée à partir de correspondances scientifiques déposées au laboratoire, telles celles de Ferdinand Renauld, Camille Montagne ou bien encore Emile Bescherelle, Fernand Camus ou Louis Mangin. Pour couronner le tout, un 11

Hippolyte Comte Jaubert (1859), Une lacune dans les institutions botaniques, in : Bulletin de la Société botanique de France, 6, pp. 284–290, p. 286. 12 Ernest Cosson (1858), Notice sur l’herbier d’A. Fée, in : Bulletin de la Société botanique de France, 5, pp. 553–555, p. 553 (publié en 1859). 13 Fée parle de sa collection dans une lettre à Roumeguère, citée par ce dernier, cf. Casimir Roumeguère (1872a), Les botanistes du XVIIIe siècle et du commencement du XIXe. Biographies, autographes et portraits, in : Bulletin de la Société botanique de France, 19, pp. 284–286 (publié en 1873). La collection de Lenormand est conservée à la bibliothèque de Botanique du Muséum national d’Histoire naturelle, celle de Decaisne est à la bibliothèque de l’Institut de France, celle de Le Jolis est conservée par la Société des sciences naturelles et mathématiques de Cherbourg. 14 Cf. Guixiang Zhou (2009), La collection de correspondances des Jussieu : entre correspondance scientifique et collection d’autographes, Mémoire de Master 2 pro Histoire et philosophie des sciences, Université Paris Diderot, Paris 7, Paris.

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« tas » d’étiquettes d’herbier sans indication de provenance et de détermination d’écriture. Il en est de même dans la bibliothèque de l’ancien laboratoire de Phanérogamie où deux voire trois séries d’autographes ont été constituées.15 Ces collections d’autographes sont donc formées, presque naturellement, comme un complément indispensable à la connaissance et à l’utilisation des herbiers conservés. Mais ces collections diffèrent les unes des autres dans leurs modes d’acquisitions, leurs formes et leurs contenus. Pour se donner une idée de ces différences nous étudierons deux collections d’autographes formées toutes deux au 19e siècle en France : celle de Gustave Thuret et Edouard Bornet et celle de Casimir Roumeguère. La bibliothèque de Botanique du Muséum national d’histoire naturelle possède deux collections d’autographes constituées au 19e siècle. La première16 a été constituée par Gustave Thuret17 et Edouard Bornet,18 deux spécialistes des algues dont les travaux sur le cycle de reproduction des algues en lien avec la systématique marquent une étape importante dans l’histoire de la phycologie.19 La deuxième20 est l’œuvre de Casimir Roumeguère,21 botaniste à Toulouse. La collection formée par Thuret et Bornet se singularise d’une part par la valeur scientifique et/ou historique des pièces qu’elle contient, et d’autre par l’inventaire rigoureux qui l’accompagne (Fig. 2) ; cet inventaire permet de connaître pour chaque pièce les lieux, dates et modes d’acquisitions. En cela son intérêt va au-delà de la seule collection d’autographes. La collection réalisée par Roumeguère est conforme à l’esprit même de celle que Cesati rassemble à Naples, et dont nous avons déjà évoqué les objectifs. Peu avant la mort de Cesati, cette collection contient 2500 botanistes. Par circulaire imprimée, l’herbier et la collection d’autographes sont proposés à la vente. A la

15 Ces deux bibliothèques n’en forment qu’une seule maintenant et les collections de manuscrits sont en cours d’inventaire. 16 MNHN, CBB, Ms CRY 500–511. 17 Gustave Thuret (1817–1875) s’oriente d’abord vers la diplomatie, puis vers la botanique sur les conseils de Joseph Decaisne. Il s’intéresse particulièrement à la reproduction des cryptogames, puis spécifiquement à celle des algues. Il s’établit, avec E. Bornet, à Antibes en 1857, fondant un centre de recherches tant sur les cryptogames que sur l’acclimatation. 18 Edouard Bornet (1828–1911), docteur en médecine, travaille dès 1852 avec G. Thuret. A la mort de Thuret, il reviendra sur Paris avec leurs collections de cryptogames qu’il lègue au Muséum en 1911. 19 Sur le rôle de l’œuvre scientifique de Thuret et Bornet dans l’histoire de la phycologie, on se reportera à Denis Lamy & William Jean Woelkerling (1998), The Paris Museum and Nongeniculate Coralline Systematics, in : William Jean Woelkerling, & Denis Lamy (éds.) (1998), Non-geniculate Coralline Red Algae (Rhodophyta) and the Paris Museum: Systematics and Scientific History, Paris : Publications du Muséum national d’Histoire naturelle/ADAC, pp. 15–242. 20 MNHN, CBB, Ms CRY 490–495. 21 Casmir Roumeguère (1828–1892), cryptogamiste, fondateur de la Revue mycologique à Toulouse, éditeur d’un important exsiccata de 7400 champignons de France et d’un exsiccata de 600 lichens de France (voir aussi Boudier (1892)).

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Figure 2 : Les cahiers d’inventaire de la collection d’autographes de G. Thuret et E. Bornet (MNHN, collection de la bibliothèque de botanique, Ms CRY 509-511 ; cliché F. Bouazzat)

vue de cette annonce, Roumeguère22 déplore « qu’une telle collection fut dispersée. Là est le fruit de toute une existence vouée à l’étude et de bien des sacrifices. Sa conservation homogène intéresse la prospérité et l’avenir ». Il espère que cette collection restera à Naples, comme celle de Guiseppe de Notaris est à Rome.23 La collection Thuret/Bornet forme un seul ensemble (voir annexe), dans la mesure où Bornet a jugé bon de ne pas conserver une série pour les célébrités et/ou les naturalistes décédés et une série pour les contemporains. Après la mort de Thuret en 1875, Bornet intègre à cette collection ses correspondants (soit plus de 176 botanistes) et aussi des lettres adressées à Thuret. De telle façon que nous retrouvons 85 correspondants de Thuret et 194 de Bornet. Ce dernier explique sa décision dans la présentation du premier cahier d’inventaire : G. Thuret avait séparé les lettres en deux catégories suivant qu’elles étaient anciennes, rares ou provenaient d’auteurs renommés. Pour la commodité des recherches j’ai fusionné les deux séries en une seule. La limite entre les deux catégories n’était pas facile à établir et était sujette à changer. Le débutant placé d’abord parmi les dii minores pouvait être appelé à passer plus tard dans la première catégorie. En cas de vente il serait indispensable de retirer les lettres écrites par les personnes encore vivantes.24

22 Casimir Roumeguère (1882), Vente des collections du Baron Vincent de Cesati, in : Revue mycologique (Toulouse), 4, p. 262. 23 En définitive, l’institut botanique de Genève acquiert cette collection. 24 MNHN, CBB, Ms CRY 509.

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L’absence de vénération de certains botanistes dont les autographes étaient dans la collection, sans doute et le pragmatisme certainement ont donc prévalu pour ne constituer qu’une seule série d’autographes. La collection de Casimir Roumeguère, quant à elle, préserve l’élite des naturalistes. Elle est formée de 6 volumes dont les deux premiers constituent pour Roumeguère l’excellence de sa collection, le « Corona » ou « Bouquet » (Fig. 3), réunissant pour chaque auteur des informations bio-bibliographiques, une lettre et si possible un portrait. Les quatre autres volumes rassemblent toutes sortes de pièces, dont de nombreuses étiquettes d’herbier.

Figure 3 : Les deux volumes ‘Corona’ de la collection d’autographes de C. Roumeguère (MNHN, collection de la bibliothèque de botanique, Ms CRY 490–491 ; cliché F. Bouazzat)

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Deux modes d’acquisition différents L’inventaire constitué par Gustave Thuret permet de répartir les modes d’acquisitions en trois groupes : les achats, les échanges et des lettres adressées à Gustave Thuret ou Edouard Bornet (ces dernières pour la partie des contemporains desdeux botanistes). Il apparaît que près d’un tiers des pièces de cette collection ont été achetées soit chez des libraires spécialisés, soit lors de ventes publiques. Ce fait dénote, de la part de Gustave Thuret qui est le financier de l’affaire, une volonté d’acquérir des pièces anciennes et rares afin de constituer une collection de prestige. Ainsi il se trouve plus de 10% de pièces antérieures à 1800. La pièce la plus ancienne de la collection Thuret/Bornet est une note autographe signée (Fig. 4) d’André Césalpin, botaniste italien qui proposa une des premières classifications des plantes ; datée de 1566, elle a été acquise pour 80 Fr à une vente publique (s.d.). En outre il faut souligner l’acquisition en 1847 d’une partie des collections botaniques de J. B. Bory de Saint-Vincent25 qui comprennent aussi sa correspondance. Thuret intègre à sa collection plus de 170 lettres (dont 38 adressées par Jean Thore, botaniste à Dax), soit près d’un dixième de l’ensemble de sa collection ; il en conservera d’autres en réserve pour des échanges.26 Le réseau de correspondants pour alimenter la collection témoigne aussi de la collection d’autographes par de nombreux botanistes. Thuret et Bornet d’une part, Roumeguère d’autre part, ont conservé dans leur collection d’autographes des lettres qui permettent d’attester de la réalité des échanges d’autographes. Ainsi, Gustave Thuret profite des liens étroits qu’il entretient avec certains botanistes collectionneurs ou non. En premier lieu vient Joseph Decaisne (1807–1882), son maître, qui d’abord aide-naturaliste d’Adolphe Brongniart deviendra professeur de la chaire de Culture du Muséum. En correspondance assidue avec les botanistes du monde entier pour l’échange de graines, l’acclimatation de plantes, Decaisne accueillait avec amabilité ses visiteurs au Muséum. Comme d’autres botanistes de son époque, Decaisne constitue une collection d’autographes. Dans un premier temps, il envisagera de léguer sa collection à Thuret, mais ce dernier meurt. Decaisne décidera alors de la léguer à l’Institut de France. Cette collection de plus de 12000 pièces contient sa correspondance, des lettres ou manuscrits achetés et aussi des pièces obtenues en échange avec Adrien de Jussieu ou Thuret. Thuret échange aussi beaucoup avec Sébastien René Lenormand (1796–1871), notaire à Vire, botaniste et grand collectionneur, mais aussi diffuseur de collections, sorte de plaque tournante au sein des botanistes.27 Lenormand a rangé sa correspondance selon les pays d’origine, puis par auteurs. Son réseau comprenait 25 Jean Baptiste Bory de Saint-Vincent (1778–1846), homme politique et naturaliste, dirige deux explorations scientifiques (Grèce et Algérie). Il est l’éditeur du Dictionnaire classique d’histoire naturelle. 26 Une dizaine est intégrée par Bornet dans sa propre correspondance ; une soixantaine laissée de côté par Thuret est conservée à la bibliothèque de botanique du Muséum sous la cote Ms CRY 319. 27 Lenormand demande à Auguste Glaziou, botaniste au Brésil, des plantes sèches, des plantes vivantes, etc. et aussi des timbres postes (cf. MNHN, CBB, lettres à Glaziou, non classées).

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Figure 4 : Note autographe d’A. Cesalpin, 1566 (MNHN, Collection de la bibliothèque de botanique, Ms CRY 501, pièce 250 ; cliché F. Bouazzat)

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170 botanistes français (3533 lettres) et 128 botanistes étrangers (1505 lettres). Cette correspondance est conservée à la bibliothèque de botanique du Muséum. Thuret a aussi profité des largesses d’Adrien de Jussieu (1797–1853), dernier titulaire de la chaire de botanique au Muséum et qui a donné des lettres adressées à son père Antoine-Laurent de Jussieu (1748–1836) ou à son grand-oncle Bernard de Jussieu (1699–1777), tous deux professeurs au Jardin du Roi. Dans une note autographe signée, datée de 1844,28 Adrien de Jussieu présente son envoi : Voici les lettres que j’ai pu mettre à part pour M. Thuret et je regrette bien que la collection soit si exiguë ; mais cette revue m’a prouvé que la source commençait à s’épuiser, à force d’y puiser et, comme probablement il ne me reviendra pas de lettres des botanistes défunts, ce n’est que de la part des vivants que je puis espérer un supplément qui sera toujours fort à son service. J’ai par la même occasion et avec un indicible plaisir installé dans le carton R le précieux autographe du botaniste J.J. Rousseau, pour lequel j’offre de nouveau à M. Thuret tous mes remerciements, avec l’expression de mes sentiments dévoués.

Suit une liste de 44 botanistes (Fig. 5), parmi lesquels seuls 37, représentés par 42 pièces, ont été intercalés par Thuret. Les largesses d’Adrien de Jussieu ont alimenté d’autres collections comme celle de Decaisne. Elles ont pour conséquence la transformation d’une correspondance scientifique durant près de 150 ans, celle de la dynastie des Jussieu, en un mélange correspondance scientifique/collection d’autographes ; appauvrissant d’autant plus la richesse originelle de cette correspondance.29 Parmi les fournisseurs de Thuret et Bornet, nous pouvons remarquer aussi les amis intimes comme Auguste Le Jolis (1823–1904), commerçant et phycologue à Cherbourg, avec qui Thuret et Bornet ont entretenu une longue amitié (en attestent les 233 pièces adressées à Thuret puis à Bornet, conservées dans la correspondance de Bornet).30 Dans une lettre du 20 novembre 1869,31 après avoir parlé des problèmes rencontrés dans le rangement de ses algues, Le Jolis écrit à Thuret : Voici la liste de mes autographes, que vous m’aviez invité à vous remettre. Dans le nombre il en a qui ne consistent qu’en de simples notes ou des étiquettes d’herbier, et non en des lettres. Parmi les botanistes avec lesquels j’ai été en correspondance, il en est peut être dont vous n’avez pas d’autographes ; veuillez me les indiquer afin que je vous envoie ce que j’ai de disponible.

Une liste de plus de 520 noms accompagne cette lettre (Fig. 6). Joseph Henri Léveillé (1796–1870), médecin et mycologue, dont la maison accueillait régulièrement les familiers de la botanique, et enfin Charles Flahault (1852–1935), professeur de botanique à Montpellier, mais avant tout élève de Bornet, ont contribué à l’augmentation de cette collection. Dans ce dernier cas, il 28 29 30 31

MNHN, CBB, Ms CRY 504, pièce 875. Sur cette correspondance, on consultera le récent mémoire de Zhou (2009), op. cit. MNHN, CBB, Ms CRY 538. MNHN, CBB, Ms CRY 538, pièces 1806–1808.

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Figure 5 : Liste d’autographes de botanistes proposés par Adrien de Jussieu à G. Thuret, en date de 1844 (MNHN, Collection de la bibliothèque de botanique, Ms CRY 504, pièce 875 ; cliché F. Bouazzat)

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Figure 6 : Première page de la liste d’autographes de botanistes proposés par Auguste Le Jolis à G. Thuret, en novembre 1869 (MNHN, Collection de la bibliothèque de botanique, Ms CRY 538, pièce 1808 ; cliché F. Bouazzat)

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s’agit surtout de lettres adressées à Joseph Duval-Jouve (1810–1883), inspecteur d’Académie à Strasbourg puis à Montpellier. Nous pourrions continuer l’énumération et constater les liens, très étroits la plupart du temps, qui unissaient Thuret et Bornet avec leurs pourvoyeurs. Mais il faut aussi remarquer que certaines pièces acquises ne seront pas intégrées dans la collection et serviront de réserve pour de futurs échanges avec d’autres collectionneurs. Par contre, nous n’avons aucune trace pour connaître les critères qui ont gouverné les choix de Thuret et Bornet. La collection de Roumeguère est en premier lieu basée sur une partie de la correspondance de Philippe Picot de Lapeyrouse32 ; collection qu’il sauve de la destruction en 1872. Il en conserve 113 pièces33 qui constitueront 10% de l’ensemble de la collection de Roumeguère. Puis il procède en de deux façons : d’une part il sollicite ses amis, d’autre part il lance, en 1872, un appel34 en expliquant le pourquoi de sa collection d’autographes, et en se référant implicitement à la pratique de Cesati. Il demande à chacun des botanistes, qui voudront bien lui répondre, une simple lettre signée et si possible une photographie. L’échange de portraits avec l’essor de la photographie est devenu une habitude entre les botanistes. Il affiche ses ambitions en ces termes : Je m’impose la tâche agréable de donner, dans le courant de l’année 1873, la nouvelle biographie botanique, mais j’aurais besoin du concours de tous mes confrères de la Société botanique, et c’est par votre entremise que j’ose le solliciter. Ce concours est de deux genres : d’abord la bienveillante communication des documents en leur pouvoir et propres à compléter ou à perfectionner mon ouvrage ; ensuite la souscription à mon livre, exigible seulement à sa réception.

Le résultat est que l’ensemble des lettres qui lui ont été adressées représente 15% de sa collection et qu’elles sont souvent accompagnées de photographies. Ces réponses élargissent le cadre naturel du réseau de Roumeguère. Auguste Le Jolis lui propose le 31 octobre 1872 une longue liste de lettres adressées à lui ou qu’il a obtenues en échange.35 Malheureusement nous n’avons pas cette liste. Toutefois, si l’on se réfère à l’inventaire de la collection de Roumeguère, les auteurs proposés ne sont pas ceux que Le Jolis avait proposés à Thuret, hormis pour Pietro Savi. En outre, la lettre de Thuret de la collection Roumeguère est une lettre adressée à Le Jolis ! Il n’y aurait donc pas eu de lien entre Thuret et Roumeguère. Alexandre Victor Roussel (1795–1874), pharmacien militaire, botaniste à Melun, lui propose dans une lettre du 30 novembre 1872,36 des autographes de Jules Sébastien César Dumont d’Urville, grand voyageur, tandis que Odon

32 Philippe Picot de Lapeyrouse (1744–1818), le premier floriste pyrénéen. 33 Roumeguère se dessaisit des autres pièces au profit d’un libraire. Ce fonds aurait été en partie acquis par l’Institut de France et en partie par le Muséum national d’histoire naturelle. Cf. lettre de J. Desnoyers à Roumeguère (MNHN, CBB, Ms CRY 493, pièce 656). 34 Roumeguère (1872a), op. cit., p. 284. 35 Trois ans auparavant Le Jolis avait fait une proposition semblable à Thuret, cf. note 31. 36 MNHN, CBB, Ms CRY 491, pièce 339.

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Debeaux (1826–1910), botaniste et malacologiste à Toulouse, lui précise37 le 7 mai 1873 à propos de l’autographe de Ph. Becker : « J’ai choisi la lettre la plus intéressante ; celle où il parle de la Société de Mulhouse dont il a été président pendant toute cette existence ». D’autres contributions sont spontanées, confirmant en cela l’engouement ou la nécessité de constituer une collection d’autographes. Ainsi Johannes Groenland38 qui entre en relation avec lui en ces termes : Depuis longtemps déjà je m’étais proposé d’entrer en correspondance avec vous. Mon ami, M. Nylander m’avait dit que vous avez une collection très riche d’autographes de botanistes et cela me donne l’idée que peut-être il pouvait vous être agréable de recevoir quelques écritures de botanistes allemands avec lesquels je suis en relation.39

Nous pourrions continuer les citations avec Henri van Heurck qui lui adresse essentiellement des doubles d’étiquettes de plantes de Linné et d’autres. Mais deux botanistes se singularisent par leur « piété » filiale ; piété qui ne les empêche pas de satisfaire les besoins des collectionneurs. Il s’agit de John Booth et de Edouard Morren, qui ont rangé les manuscrits et correspondance de leurs pères respectifs : James Booth (1801–1847), Schotten à Flottbeck, et Charles Morren (1807–1858), professeur de botanique à Gent. Les deux hommes ont des positions différentes quant à la gestion des collections paternelles. Ed. Morren offre beaucoup à Roumeguère, ainsi que nous le montre sa lettre du 23 avril 187540 : J’ai été sensible à votre aimable lettre du 2e de ce mois à laquelle je ne veux pas tarder de répondre. J’accepte avec empressement toutes les propositions que vous avez la bonté de m’adresser, mais en fait, je rencontre quelques petites difficultés. Je ne trouve pas sous la main un autographe de mon cher et regrette père qui me semble convenable pour vous être envoyé. Je conserve tous ses manuscrits avec un soin pieux, mais, malgré toute ma bonne volonté, il n’a pas été possible de les mettre en ordre. Je chercherais encore les jours prochains, et je ne manquerais pas de vous choisir un document autographe quelque peu intéressant. A propos d’autographes, j’ai moi même classé les lettres que mon père a reçu de botanistes avec lesquels il a été en relation ; sa correspondance était fort étendue et j’ai ainsi un assez grand nombre d’autographes. Si cela vous intéresse je pourrais vous en faire le relevé. J’ai aussi une lettre de l’Escluse, un dessin de lui, une signature autographe de Linné et une autre au bas d’un portrait de lui et dessiné à la plume.

Morren poursuit en lui indiquant qu’il a préparé à son intention des tirés-à-part, des portraits, des biographies, soit un paquet de 2kg.

37 MNHN, CBB, Ms CRY 493, pièce 640. 38 Johannes Groenland (1824–1891), botaniste allemand, vient à Paris dès 1852. Il est l’assistant de Vilmorin pour la Revue horticole et un des membres fondateurs de la société botanique de France en 1854. 39 MNHN, CBB, Ms CRY 493, pièce 640. Lettre du 24 janvier 1856. 40 MNHN, CBB, Ms CRY 494, pièce 972.

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John Booth, quant à lui, apparaît plus intéressé et plus au fait de la rareté de certaines pièces. Il propose d’échanger ou même de vendre certaines pièces autographes : Dans l’Illustration horticole 7ème livraison je trouve une note de Mr André concernant des lettres autographes des botanistes que vous collectionnez. J’ai l’honneur de vous donner à l’autre côté d’une spécification de doublettes que je possède et dont vous voulez bien me dire si vous les désirez. Comme vous voyez il y a des lettres bien intéressantes et très rares. Dites-moi s.v.p. si vous avez des autographes pour me donner en échange, il me reste d’ajouter que les botanistes sont représentés très complets dans ma collection, p. e. des lettres de Linnaeus (père) ! Combien payez-vous pour une belle rareté ? Peut-être je pourrais vous en procurer ?41

Cette lettre est accompagnée d’une liste de 34 botanistes (Fig. 7), dont il propose des pièces autographes et pour certains le portrait. Les réseaux de relations de Thuret et Bornet d’une part et de Roumeguère d’autre part sont donc une source quasi inépuisable pour compléter leurs deux collections d’autographes. Mais cela se fait au détriment de l’intégrité des correspondances scientifiques de leurs correspondants et relations (notamment Adrien de Jussieu et Auguste Le Jolis, mais aussi d’une autre manière les fonds Bory de Saint-Vincent et Picot de Lapeyrouse). La collection d’autographes répond-elle aux objectifs ? Achats, dons, échanges sont les maîtres mots non seulement de la collection d’autographes, mais aussi de toute collection botanique. Thuret et Bornet, Roumèguère, mais aussi Decaisne, Adrien De Jussieu et d’autres, que nous avons évoqués, mettent en œuvre leurs capacités financières et leurs réseaux de correspondants qui s’entrecroisent, pour constituer de façon affichée un référentiel d’écritures de botanistes. Mais nous sommes en droit de nous demander si cet objectif est le seul et surtout si la collection formée répond à cet objectif. Nous avons vu que Roumeguère comme Thuret constituent en premier lieu une série d’excellence pour laquelle la qualité des auteurs et la rareté et l’intérêt du contenu des pièces sont les principaux critères de sélection. Et par conséquent, ils dénaturent le premier but affiché, à savoir, réaliser un échantillonnage d’écritures utile à la détermination des écritures sur les étiquettes. De fait, si nous observons de près la nature des pièces conservées, nous trouvons des pièces remarquables, tant par la célébrité de leur auteur que par leur contenu. Ainsi nous trouvons dans la collection Thuret/Bornet : « les Instructions pour le voyage de Freycinet » rédigées par René-Louiche Desfontaines42 ou le compte41 Lettre de John Booth à Roumeguère, du 5 décembre 1874. MNHN, CBB, Ms CRY 492, pièce 534. 42 MNHN, CBB, Ms CRY 502, pièce 436.

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Figure 7 : Deuxième page de la liste d’autographes de botanistes proposés par James Booth à C. Roumeguère, 5 décembre 1874 (MNHN, Collection de la bibliothèque de botanique, Ms CRY 492, pièce 534 ; cliché F. Bouazzat)

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rendu de Christian Heinrich Persoon sur un ouvrage de Thore concernant les champignons des Landes43 ou encore la correspondance complète entre Thore et Bory de Saint-Vincent ; au côté de pièces prestigieuses écrites par André Césalpin, Charles Bonnet ou Marcello Malpighi dans la collection Thuret. Dans la collection de Roumeguère se trouvent des pièces signées de Jean-Baptiste Lamarck et de Daubenton. Dans celle de Joseph Decaisne nous pourrions citer le manuscrit de Lamarck sur les champignons de la région parisienne, illustré d’aquarelles originales. Dans cette recherche du rare nous pouvons associer des pièces plus anecdotiques comme la quittance de rentes à l’Hôtel de Ville, en date du 16 avril 1730 et signée Denis Dodart,44 ou bien enfin la feuille d’émargement du 10 mai 1793 de la Société de Médecine, qui est en fait le « Serment de haine à la royauté du Bureau de Bienfaisance de la Division des Plantes » (Fig. 8), signé par Claude Siau, Jean Jacques Gallet, Jean François Pigeron, A. François, Robert Daubet, Charles Louis Seigneur, Joseph Petit, Antoine-Laurent de Jussieu, Jean Marie Deschamps, Jean François Petit, Jean François Brunet.45 Nous pouvons aussi rappeler la remarque d’Adrien de Jussieu concernant un autographe de Rousseau. Nous sommes bien là en présence de l’excellence, envisagée par Thuret dans la formation première de sa collection et mise en valeur par Roumeguère dans son « Corona ». Alors, qu’en est-il des belles déclarations de Cesati, de Jaubert ou de Cosson à propos, respectivement, des collections de Cesati, de Delessert ou d’Achille Richard ? La collection d’autographes se transforme le plus souvent et très rapidement en une collection de célébrités. Au vu des échanges que nous avons évoqués, l’acquisition d’écritures prestigieuses est beaucoup plus recherchée qu’une acquisition en vue de constituer un échantillonnage d’écritures le plus large possible. Et pourtant la collection de Thuret et Bornet offre un grand éventail de botanistes sur une très large diachronie, depuis 1566 jusqu’au delà de 1900, avec une très large majorité pour le 19e siècle ; mais cela après l’intervention de Bornet. Celle de Roumeguère couvre un spectre moins large puisqu’elle s’arrête à 1875 ; mais surtout elle se signale par l’abondance d’étiquettes d’herbier dans la partie des ‘dii minores’. Ces étiquettes d’herbiers (Fig. 9) considérées comme de moindre importance sont pourtant plus significatives pour constituer un outil d’aide à la reconnaissance d’écritures dans un herbier. En effet, les étiquettes sont rédigées de façon moins appliquée qu’une lettre, il est donc plus cohérent de comparer les étiquettes entre elles. Avoir constitué un ensemble de plus de 900 botanistes, selon un ordre alphabétique, est-il adapté pour assurer une bonne identification ? Il s’avère que la pratique répond par un mode opératoire différent. Au lieu de comparer à l’aveugle une écriture au sein de cet ensemble, la connaissance de la collection, des collecteurs, des lieux et dates de récoltes, liée à l’habitude du travail dans les collec43 MNHN, CBB, Ms CRY 506, pièces 1321–1322. 44 MNHN, CBB, Ms CRY 502, pièce 450. 45 MNHN, CBB, Ms CRY 504, pièces 865–866.

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Figure 8 : Première page du « Serment de haine à la royauté » 10 mai 1793 (MNHN, Collection de la bibliothèque de botanique, Ms CRY 504, pièce 866 ; cliché F. Bouazzat)

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Figure 9 : Autographe d’Hermann Boerhaave sur une étiquette d’herbier (MNHN, Collection de la bibliothèque de botanique, Ms CRY 492, pièces 525–526 ; cliché F. Bouazzat)

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tions, permet de s’orienter sur une voire quelques personnes, et ainsi de circonscrire le nombre de pièces à comparer. Cette comparaison pourrait alors se faire tout aussi bien au sein d’une correspondance scientifique. Si les collections d’autographes ne servent pas de façon simple, voire évidente, à la connaissance des collections de plantes, à quoi peuvent-elles servir ? Une collection d’autographes, formée selon le programme de Cesati, devrait comporter des informations bio-bibliographiques sur chacun des botanistes représentés. Il en est ainsi de la collection formée par Roumeguère, qui offre à l’utilisateur des données sur la vie, les publications et les collections des botanistes ; informations importantes non seulement parce que certaines sont inédites, mais aussi parce que d’autres proviennent de sources difficiles à retrouver. Nous retrouvons cet objectif quand Burdet46 publie des reproductions des écritures de botanistes avec leurs variantes et avec un commentaire biographique. La collection de Thuret et Bornet présente, comme nous l’avons remarqué plus haut, de nombreuses pièces anciennes à caractère historique. En outre, les lettres adressées à Thuret ou à Bornet, intégrées par Bornet dans cette collection, viennent en complément de la correspondance scientifique de Bornet. A l’occasion du travail sur l’histoire de l’étude des corallines,47 nous avons mis à profit, sans distinction, les deux fonds qui sont en étroite relation. Enfin, les lettres adressées à Bory de Saint-Vincent, formant un ensemble assez homogène au sein de cette collection Thuret-Bornet, ont été publiées, avec d’autres provenant de divers fonds, par Philippe Lauzun.48 Sans pour autant s’orienter dans la même voie que Roumeguère qui fait réaliser des expertises graphologiques de certaines lettres,49 ces collections offrent donc à l’historien une source d’informations qu’il ne peut négliger. Cette source, hétérogène peut être mise en valeur de façons différentes, comme le font Edouard Timbal-Lagrave50 en publiant la correspondance entre Dominique Villars et Philippe

46 Hervé Burdet (1972–1979), Cartulae ad botanicorum graphicem, in : Candollea, 1972 : 27, pp. 307–340 ; 1973 : 28, pp. 137–170 et pp. 407–440 ; 1974 : 29, pp. 207–240 et pp. 489–522 ; 1975 : 30, pp. 203–234 et pp. 379–410 ; 1976 : 31, pp. 128–158 et pp. 319–360 ; 1977 : 32, pp. 165–206 et pp. 377–418 ; 1978 : 33, pp. 139–180, pp. 365–408 et pp. 409–454 ; 1979 : 34, pp. 167–218. 47 Lamy & Woelkerling (1998), op. cit. 48 Philippe Lauzun (1908–1912), Correspondance de Bory de St.-Vincent publiée et annotée, 2 vol., Agen : Maison d’édition et imprimerie moderne. 49 Les deux expertises sont réalisées par J. H. Michon (cf. MNHN, CBB, Ms CRY 494, pièce 946a) ; elles concernent Philippe Picot de Lapeyrouse (Ms CRY 491, pièce 215) et Matheo Orfila (Ms CRY 491, pièce 288). 50 Edouard Timbal-Lagrave (1860), Villars et Lapeyrouse. Extraits de leurs correspondance, in : Bulletin de la Société botanique de France, 7, pp. 680–690 (publié en 1862); Edouard TimbalLagrave (1864), Villars et Lapeyrouse. Extrait de leur correspondance, in : Bulletin de la Société botanique de France, 11, pp. xlix–lvi (publié en 1868).

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Picot de Lapeyrouse, A. Gras51 celle de ce dernier avec Carlo Allioni et à leur suite Roumeguère lui-même.52 Mais, les collections d’autographes et les collections de correspondances scientifiques, dont elles sont issues, ne sont pas de simples réservoirs d’anecdotes. Elles sont le reflet de l’histoire naturelle en action, elles éclairent ‘en direct’ les épisodes de la vie et l’évolution des concepts d’un naturaliste. En les replaçant dans leur contexte, elles permettent de rétablir de façon plus sûre la réalité. Ainsi en est-il de la correspondance entre Jean François Séguier, naturaliste et « antiquaire » nîmois (1703–1784) et son ami d’enfance Pierre Baux (1708–1790) médecin nîmois. En publiant ces lettres échangées par ces deux hommes entre 1733 et 1756, Samuel Cordier53 montre leur intérêt primordial par l’apport de nouveaux éléments éclairant les zones d’ombre de l’hagiographie courante concernant Séguier. Le récit que fait Séguier de son voyage en Angleterre (1736) met en lumière le rôle du cabinet d’histoire naturelle de Hans Sloane (médecin, 1660–1753) dans la sociabilité des savants de l’Europe. Une lecture attentive de ces lettres permet de réévaluer l’œuvre naturaliste de Séguier tant en botanique qu’en paléontologie ; elle explique, notamment, comment Séguier est passé de la classification des plantes de Joseph Pitton de Tournefort à celle de Carl von Linné. Enfin, ces lettres offrent un nouveau regard sur les collections, les modalités de collectes et d’échanges d’objets et sur la façon dont Séguier forme son cabinet de curiosités, notamment en antiques et en botanique. Mais s’il est important de n’en traiter qu’une partie, la correspondance scientifique prend tout son sens si elle a pu être conservée dans sa totalité. Elle permet, 51 Auguste Gras (1864), Sur la correspondance inédite de Lapeyrouse avec Allioni, in : Bulletin de la Société botanique de France, 11, pp. xxxix–xlvi (publié en 1868). 52 Casimir Roumeguère (1872b), Lettre inédite de Barrera (de Prades) à Picot de Lapeyrouse. Itinéraire botanique dans les Pyrénées orientales, in : Bulletin de la Société botanique de France, 19, p. xx (publié en 1874); Casimir Roumeguère (1872c), Lettres inédites de Ch. de Linné, de Gouan, du chevalier de Lamarck et d’Acharius adressées à Picot de Lapeyrouse, et lettres ou réponses inédites de l’auteur de la flore des Pyrénées à ces botanistes, in : Bulletin de la Société botanique de France, 19, pp. xxii–xlvii (publié en 1874); Casimir Roumeguère (1873), Florule des Pyrénées orientales. Itinéraire de Pierre Barrera. Autographes inédits de botanistes méridionaux, in : Bulletin de la Société d’Agriculture des Sciences, et des lettres des Pyrénées orientales, 20, pp. 49–70 ; Casimir Roumeguère (1874a), Correspondance inédite échangée entre Alexandre de Humboldt et Auguste Broussonet au sujet de l’histoire naturelle des îles Canaries, in : Bulletin de la Société botanique de France, 21, pp. 146–151 et pp. 154–158 ; Casimir Roumeguère (1874b), Lettre intime inédite de Claude Gay, page pour sa biographie, in : Bulletin de la Société botanique de France, 21, pp. 55–58 ; Casimir Roumeguère (1874c), Quel est le physiologiste qui le premier au milieu du XVIIe siècle a fait connaître le mode de nutrition des lichens ? Documents intéressant l’histoire de ces végétaux, in : Bulletin de la Société botanique de France, 21, pp. 195–201 ; Casimir Roumeguère (1876), Nouveaux documents sur la botanique pyrénéenne ; correspondances scientifiques inédites échangées par Picot de Lapeyrouse, de Candolle, et Léon Dufour avec P. Barrera, Coder et Xatart. […], in : Bulletin de la Société d’Agriculture, des Sciences et des lettres des Pyrénées orientales, 2, pp. 90–248. 53 Samuel Cordier & François Pugnière (2006), Jean François Séguier, Pierre Baux. Lettres 1733–1756, Avignon : Editions A. Barthélemy, p. 192.

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ainsi, la compréhension des réseaux, les modes d’échanges de plantes, les influences épistémologiques. En signalant l’importance de la correspondance de JeanBaptiste Mougeot, médecin et naturaliste vosgien, Laissus54 donne une première idée du réseau national et international sur lequel le médecin de campagne s’appuie à la fois pour parfaire ses connaissances en cryptogames et pour diffuser un des premiers exsiccata de cryptogames.55 Un ensemble comparable est formé par la correspondance de Jean-Daniel Buchinger, qui, par le comptoir d’histoire naturelle qu’il crée à Strasbourg, est à la croisée des informations, objets, documents et plantes entre l’Allemagne et la France.56 Aussi, ces collections d’autographes et de correspondances doivent être portées à la connaissance de l’historien avec la valeur ajoutée nécessaire, à savoir un corpus d’informations portant sur la période considérée et sur les disciplines scientifiques abordées. Elles forment des entités non dissociables dont les contenus sont intimement liés. Conclusion L’étude de deux collections d’autographes de botanistes, à la lumière d’une pratique courante au 19e siècle, démontre une certaine ambiguïté de l’objet, scientifique et de prestige. La priorité d’un de ces deux adjectifs diffère d’une collection à l’autre. Néanmoins, Casimir Roumeguère, en présentant sa collection d’autographes, résume quelques-uns des points forts qui l’ont guidé dans cette réalisation (Fig. 10). Ce recueil ci, en deux volumes, est une sorte de Corona, ou Bouquet extrait de ma collection et dans la seule catégorie des Botanistes décédés. Bien qu’inséparable du restant de la collection, pour un sujet d’études, il offre un tout assez complet au simple point de vue de la comparaison des écritures. Un album de Botanique, m’écrivait naguère mon bien regretté correspondant A. Fée, est une source de jouissance, il met en rapport avec le passé ; moins durable que les médailles, il consacre des faits qui ont leur intérêt. On regarde avec un sentiment pieux les caractères tracés par les botanistes qui nous ont précédés dans la carrière et avec un sentiment bienveillant et souvent affectueux l’écriture de ceux de nos contemporains avec lesquels nous avons été en

54 Yves Laissus (1978), Les papiers du Docteur J. B. Mougeot (1776–1858) : un fonds important pour l’histoire des sciences naturelles de Lorraine, in : Ministère des Universités et al. (éds.), Comptes rendus du 103e Congrès National des Sociétés Savantes. Section des Sciences, Nancy 1978, fasc. 5 : Histoire des sciences et techniques, médecine, Paris : Bibliothèque Nationale, pp. 233–240. 55 Sur cette diffusion, on se reportera à la thèse de Nicolas Robin (2003a), De l’étude des réseaux et des pratiques naturalistes au dix-neuvième siècle : biographie d’un médecin et naturaliste vosgien Jean-Baptiste Mougeot (1776–1858), Thèse doctorat, École des hautes études en sciences sociales, Paris. 56 Cf. Robin (2003b), op. cit. et Robin (2006), op. cit.

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Figure 10 : Texte de C. Roumeguère introduisant sa collection d’autographes (MNHN, Collection de la bibliothèque de botanique, Ms CRY 490 ; cliché F. Bouazzat)

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rapport. Voilà la part du sentiment et cette part est grande pour mon cœur lorsque mes yeux rencontrent dans ma collection la pensée de mes excellents correspondants ; celle surtout renfermée dans ce recueil ci où j’ai déposé une écrit de mes correspondants aimés entre tous : Fée, Cte Jaubert, Moquin-Tandon, Roussel, Companyo &c trop tôt ravis à leurs études et à mon affection. La collection des autographes offre aussi la part utile s’il s’agit de remarquer au passage dans l’examen des anciens herbiers où les collecteurs ne se nommaient pas avec le même soin qu’ils prennent aujourd’hui de le faire, les étiquettes les plus dignes de confiance. Les nombreux visiteurs du Musée Delessert (fondu en partie aujourd’hui dans les collections du Jardin des plantes de57 Paris) ont toujours tiré un très grand avantage de la collection d’autographes formée par Lasègue, qui leur permettait de citer sans hésitation le nom de l’auteur d’une étiquette ou d’une observation dont l’écriture n’était pas toujours bien connue.

Puis il cite les remarques du Comte Jaubert, que nous avons signalées plus haut, et il poursuit : « En effet on ne peut espérer de travailler soi même avec profit dans les grandes collections botaniques qu’après s’être bien rendu compte des dispositions matérielles quelquefois défectueuses que ces collections peuvent présenter. »58 Pour Roumeguère, la collection d’autographes n’est donc pas seulement un catalogue d’écritures, aide à l’identification des étiquettes d’herbier, elle est aussi un lieu mémoriel, voire affectif. Cette position fait écho à la remarque de Bory de Saint-Vincent, qui, à la fin de sa vie, définit son herbier à la fois comme un objet scientifique et comme un album de souvenirs : Quand je regarde mes collections, il n’est pas un seul échantillon qui ne réveille en moi des multitudes de petits et même de grands événements qui s’y rattachent. Je vois où je le récoltai, les lieux où elle croissait, ce qui croissait autour, avec qui j’étais ou qui me l’a donné, etc. C’est vraiment une chose prodigieuse. On dirait que toutes ces idées, véritablement oubliées pendant des années, sont aussi en feuilles comme les plantes et se reproduisent en l’esprit avec toute leur fraîcheur quand on parcourt les cartons où elles sont casées59.

La collection d’autographes comme la collection de plantes séchées répondent à des objectifs comparables quant à leur scientificité et à leur sociabilité. Tout comme l’herbier, la collection d’autographes reflète le réseau dans lequel son créateur s’insère. Donc au delà d’une collection de prestige, elle offre une source d’informations pour l’historien, au même titre que l’herbier ou la correspondance scientifique.

57 Assertion fausse, puisque la collection de Benjamin Delessert a été acquise par le Conservatoire botanique de Genève. 58 Introduction du premier volume de la collection d’autographes de C. Roumeguère. MNHN, CBB, Ms CRY 490. 59 Lettre de Bory de Saint-Vincent à Léon Dufour, Paris, 31 octobre 1846. Citée par Lauzun (1912), op. cit., vol. 2, lettre LX, p. 97.

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Ces collections, herbiers – correspondances – autographes, nous montrent le botaniste en action au sein de son réseau, de façons différentes mais complémentaires. Elles sont des preuves de ses doutes/hésitations, de l’apport d’une tierce personne, dans l’utilisation et la formulation de ses concepts. L’exploitation de leurs contenus éclaire le botaniste de façon plus intime, alors que les publications sont le plus souvent un reflet voulu et orienté de la part du botaniste. Remerciements Je tiens à remercier vivement Pascale Heurtel, Conservateur en chef à la Bibliothèque centrale du Muséum national d’Histoire Naturelle, et Nicolas Robin, historien des sciences à l’Institut Scaliger de l’Université de Leyde, pour leurs commentaires pertinents qu’ils ont faits à la lecture de ce texte. Je remercie particulièrement Françoise Bouazzat, responsable de l’iconographie (UMR 7502, MNHN), pour les prises de vue et les reproductions de documents. Sources manuscrites Bibliothèque de l’Institut de France : ƒ Correspondance de J. Decaisne, Ms 2436–2465 Muséum national d’histoire naturelle, Bibliothèque de Botanique : ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ

Collection d’autographes constituée par G. Thuret et E. Bornet (Ms CRY 500–511) Correspondance adressée à J.B. Bory de Saint-Vincent (Ms CRY 319) Correspondance scientifique d’E. Bornet (Ms CRY 530–544) Collection d’autographes constituée par C. Roumeguère (Ms CRY 490–495) Correspondance des Jussieu (en cours d’inventaire, Ms BOT) Correspondance scientifique de S.R. Lenormand (en cours d’inventaire, Ms BOT) Les papiers A. Glaziou (en cours d’inventaire, Ms BOT)

Bibliographie Bérard, Auguste Simon Louis et al. (éds.) (1828–1830), Isographie des hommes célèbres ou collection de fac-similé de lettres autographes et de signatures, Paris : Mesnier. Boudier, Emile (1892), Notice sur M. Roumeguère, in : Bulletin de la société mycologique de France, 10, p. 70. Burdet, Hervé (1972–1979), Cartulae ad botanicorum graphicem, in : Candollea, 1972 : 27, pp. 307–340 ; 1973 : 28, pp. 137–170 et pp. 407–440 ; 1974 : 29, pp. 207–240 et pp. 489–522 ; 1975 : 30, pp. 203–234 et pp. 379–410 ; 1976 : 31, pp. 128–158 et pp. 319–360 ; 1977 : 32, pp. 165–206 et pp. 377–418 ; 1978 : 33, pp. 139–180, pp. 365–408 et pp. 409–454 ; 1979 : 34, pp. 167–218.

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Cesati, Vincenzo (1869), De’ vantaggi che lo studio della botanica può ritrarre da una collezione di autografi, aggiunto un cenno storico sovra (sic) il Cirillo, letto all’ Accademia Pontaniana nella tornata del di 28 Febbraio 1869 dal socio ordinario Vincenzo Cesati, Napoli : Stamperia della Regia Università. Cordier, Samuel & François Pugnière (2006), Jean François Séguier, Pierre Baux. Lettres 1733–1756, Avignon : Editions A. Barthélemy. Cosson, Ernest (1858), Notice sur l’herbier d’A. Fée, in : Bulletin de la Société botanique de France, 5, pp. 553–555 (publié en 1859). Gras, Auguste (1864), Sur la correspondance inédite de Lapeyrouse avec Allioni, in : Bulletin de la Société botanique de France (session extraordinaire à Toulouse, juillet 1864), 11, pp. xxxix–xlvi (publié en 1868). Jaubert, Hippolyte Comte (1859), Une lacune dans les institutions botaniques, in : Bulletin de la Société botanique de France, 6, pp. 284–290. Laissus, Yves (1978), Les papiers du Docteur J. B. Mougeot (1776–1858) : un fonds important pour l’histoire des sciences naturelles de Lorraine, in : Ministère des Universités et al. (éds.), Comptes rendus du 103e Congrès National des Sociétés Savantes. Section des Sciences, Nancy 1978, fasc. 5 : Histoire des sciences et techniques, médecine, Paris : Bibliothèque Nationale, pp. 233–240. Lamy, Denis (1984), A propos de la correspondance de E. Boudier à P. V. A. Feuilleaubois, in : Bulletin de la société mycologique de France, 100 : 3, pp. pp. cxxxix–clxi. Lamy, Denis (1989), Correspondence between Miles Joseph Berkeley (1803–1889) and Camille Montagne (1784–1866), in : The mycologist, 3, pp. 162–166. Lamy, Denis & William Jean Woelkerling (1998), The Paris Museum and Non-geniculate Coralline Systematics, in : William Jean Woelkerling, & Denis Lamy (éds.) (1998), Non-geniculate Coralline Red Algae (Rhodophyta) and the Paris Museum: Systematics and Scientific History, Paris : Publications du Muséum national d’Histoire naturelle/ADAC, pp. 15–242. Lasègue, Antoine (1845), Musée botanique de M. Benjamin Delessert, Paris : de Fortin. Lauzun, Philippe (1908–1912), Correspondance de Bory de St-Vincent publiée et annotée, 2 vol., Agen : Maison d’édition et imprimerie moderne. Perrot, Michelle (éd.) (1987), De la grande révolution à la grande guerre, in : Philippe Ariès & Georges Duby (éds.) : Histoire de la vie privée, vol. 4, Paris : Editions du Seuil. Rey, Alain & Danièle Morvan (éds.) (2005), Dictionnaire culturel en langue française, Paris : Le Robert. Robin, Nicolas (2003a), De l’étude des réseaux et des pratiques naturalistes au dix-neuvième siècle : biographie d’un médecin et naturaliste vosgien Jean-Baptiste Mougeot (1776–1858), Thèse doctorat, École des hautes études en sciences sociales, Paris. Robin, Nicolas (2003b), Der Briefwechsel Jean-Daniel Buchinger (Bestandsübersicht). Ein deutsch-französischer Beitrag zur Geschichte der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, 26, pp. 57–66. Robin, Nicolas (2006), Die Pflanzentauschbörsen. Das Austauschkonzept und die Netzwerke des botanischen Wissens im 19. Jahrhundert, in : Verhandlungen zur Geschichte und Theorie der Biologie, 12, pp. 123–135. Roche, Daniel (1988), Les Républicains des lettres, gens de culture et Lumières au XVIIIe siècle, Paris : Fayard. Roumeguère, Casimir (1872a), Les botanistes du XVIIIe siècle et du commencement du XIXe. Biographies, autographes et portraits, in : Bulletin de la Société botanique de France, 19, pp. 284–286 (publié en 1873).

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Roumeguère, Casimir (1872b), Lettre inédite de Barrera (de Prades) à Picot de La Peyrouse. Itinéraire botanique dans les Pyrénées-orientales, in : Bulletin de la Société botanique de France (session extraordinaire à Prades-Mont-Louis, juillet 1872), 19, pp. xx (publié en 1874). Roumeguère, Casimir (1872c), Lettres inédites de Ch. de Linné, de Gouan, du chevalier de Lamarck et d’Acharius adressées à Picot de Lapeyrouse, et lettres ou réponses inédites de l’auteur de la flore des Pyrénées à ces botanistes, in : Bulletin de la Société botanique de France (session extraordinaire à Prades-Mont-Louis, juillet 1872), 19, pp. xxii–xlvii (publié en 1874). Roumeguère, Casimir (1872d), Notice sur J. L. Companyo, in : Bulletin de la Société botanique de France (session extraordinaire à Prades-Mont-Louis, juillet 1872), 19, pp. x–xix (publié en 1874). Roumeguère, Casimir (1873), Florule des Pyrénées orientales. Itinéraire de Pierre Barrera. Autographes inédits de botanistes méridionaux, in : Bulletin de la Société d’agriculture, des sciences, et des lettres des Pyrénées-orientales, 20, pp. 49–70. Roumeguère, Casimir (1874a), Correspondance inédite échangée entre Alexandre de Humboldt et Auguste Broussonet au sujet de l’histoire naturelle des îles Canaries, in : Bulletin de la Société botanique de France, 21, pp. 146–151 et pp. 154–158. Roumeguère, Casimir (1874b), Lettre intime de Claude Gay, page pour sa biographie, in : Bulletin de la Société botanique de France, 21, pp. 55–58. Roumeguère, Casimir (1874c), Quel est le physiologiste qui le premier au milieu du XVIIe siècle a fait connaître le mode de nutrition des lichens ? Documents intéressant l’histoire de ces végétaux, in : Bulletin de la Société botanique de France, 21, pp. 195–201. Roumeguère, Casimir (1876), Nouveaux documents sur la botanique pyrénéenne, correspondances scientifiques inédites échangées par Picot de Lapeyrouse, Pyr. de Candolle et Léon Dufour avec P. Barrera, Coder et Xatart, mises en lumière et annotées par M. C. Roumeguère, précédées d’une introduction par M. Ch. Naudin, in : Bulletin de la Société agricole, scientifique et littéraire du département des Pyrénées-orientales, 22, pp. 90–248. [Cet article a été publié indépendamment sous le titre Casimir Roumeguère (1876), Nouveaux documents sur l’histoire des plantes cryptogames et phanérogames des Pyrénées. Correspondances scientifiques inédites échangées par Picot de Lapeyrouse, Pyrame de Candolle, Léon Dufour, C. Montagne, Auguste de Saint-Hilaire et Endress avec P. de Barrera, Coder et Xatart, mises en lumière et annotées par Casimir Roumeguère (…), précédées d’une introduction par M. Charles Naudin (…), Paris : J. B. Baillière et Fils]. Roumeguère, Casimir (1880), A propos d’une collection de 3000 portraits, constituée par Dr Vander Willigen, librairie Frederic Muller et Cie, Amsterdam, in : Revue Mycologique (Toulouse), 2, pp. 111. Roumeguère, Casimir (1882), Vente des collections du baron Vincent de Cesati, in : Revue Mycologique (Toulouse), 4, p. 262. Timbal-Lagrave, Edouard (1860), Villars et Lapeyrouse. Extraits de leur correspondance, , in : Bulletin de la Société botanique de France (session extraordinaire à Grenoble, août 1860), 7, pp. 680–690 (publié en 1862). Timbal-Lagrave, Edouard (1864), Villars et Lapeyrouse. Extrait de leur correspondance, in : Bulletin de la Société botanique de France (session extraordinaire à Toulouse, Juillet 1864), 11, pp. xlix–lvi (publié en 1868). Zhou, Guixiang (2009), La collection de correspondances des Jussieu : entre correspondance scientifique et collection d’autographes, Mémoire de Master 2 pro Histoire et philosophie des sciences, Université Paris Diderot, Paris 7, Paris.

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Annexe 1 : La collection d’autographes de Gustave Thuret et Edouard Bornet conservée à la bibliothèque de botanique du Muséum national d’histoire naturelle. Présentation et composition : La collection d’autographes de Gustave Thuret et Edouard Bornet se composait de neuf dossiers (incluant des gravures et des photographies de botanistes) accompagnés de 3 cahiers d’inventaire. Elle fait partie du legs de l’herbier cryptogamique par Edouard Bornet en 1910. Sur la base de ces cahiers, dans lesquels Thuret puis Bornet ont inscrit, pour chaque auteur, la nature et la provenance de chaque pièce, nous avons constaté que cette collection avait subi quelques transformations. D’une part, Bornet y avait adjoint, sans les porter à l’inventaire, des pièces provenant du rebut des acquisitions de Thuret ; d’autre part, après son dépôt en 1911, des pièces postérieures à la collection avaient été insérées, notamment la correspondance de Paul Hariot (assistant de la chaire de cryptogamie), de façon à actualiser la collection. En outre, certains portraits (lithographies ou photographies) n’étaient plus dans la collection ou avaient été remplacés par d’autres. Nous avons donc procédé à la reconstitution du fonds selon l’inventaire et à la conservation des portraits dans une série à part. Ces portraits forment la base d’une galerie de portraits de botanistes conservée dans la bibliothèque de botanique du Muséum. Ainsi, cet ensemble de 1902 pièces autographes représentant 930 botanistes, acquises et réunies entre 1849 et 1910 (conservées à la bibliothèque sous les cotes MS CRY 500–511), correspond à la description qu’en donne Bornet au début des cahiers d’inventaire : La collection d’autographes de botanistes se compose de 9 volumes contenant des lettres de plus de 900 botanistes ou dessinateurs de plantes. Un catalogue de trois volumes est joint à la collection. G. Thuret avait séparé les lettres en deux catégories suivant qu’elles étaient anciennes, rares ou provenaient d’auteurs renommés. Pour la commodité des recherches j’ai fusionné les deux séries en une seule. La limite entre les deux catégories n’était pas facile à établir et était sujette à changer. Le débutant placé d’abord parmi les dii minores pouvait être appelé à passer plus tard dans la première catégorie. En cas de vente il serait indispensable de retirer les lettres écrites par les personnes encore vivantes. A côté de cette collection, Bornet a classé soigneusement sa correspondance scientifique, reliant les lettres par auteurs (3176 pièces, 253 correspondants ; Ms 530–544). Il y a inclus quelques lettres que Thuret n’avait jugées dignes de faire partie de la collection, ainsi qu’une partie de la correspondance adressée à Thuret ; inversement il a inséré dans la collection d’autographes un exemplaire de chacun de ses correspondants.

En 2007, Daniel Thuret a fait don à la bibliothèque de botanique de deux ensembles : une correspondance entre Joseph Decaisne et Gustave Thuret (278 lettres en 1839 et 1875, actuellement sous la cote Ms CRY 545) et un ensemble d’autographes (sous la cote Ms CRY 544).

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Pièces achetées par Gustave Thuret soit chez des libraires, soit lors de ventes publiques, entre 1843 et 1869 : ƒ Alliance des Arts : 10 pièces [1846 : 1 ; 1847 : 9] ƒ Charon : 89 entre 1843 et 1849, avec majorité en 1845 (68 lettres) [1843 :2 ; 1844 : 10 ; 1845 : 68 ; 1846 : 2 ; 1847 : 4 ; 1849 : 3] ƒ Charavay : 50 entre 1845 et 1861, avec deux pics de 8 pièces en 1845 et de 14 pièces en 1861 [1845 : 8 ; 1846 : 1 ; 1848 : 6 ; 1847 : 1 ; 1849 : 1 ; 1851 : 1 ; 1858 : 3 ; 1861 : 14 ; +5] ƒ Lalande : 3 pièces [1844 : 2 ; 1850 : 1] ƒ Laverdet : 22 pièces entre 1855 et 1863, pic de 14 pièces en 1855 [1855 : 14 ; 1856 : 1 ; 1857 : 2 ; 1858 : 2 ; 1863 : 3] ƒ Lefèvre : 20 pièces en 1844/45 [1844 : 11 ; 1845 : 9] ƒ Ventes diverses : 13 mars 1843 (2) ; 5 février 1844 (1) ; 18 mars 1844 (1) ; 9 décembre 1844 (14) ; 4 novembre 1844 (2) ; 6 février 1845 (2) ; 10 mars 1845 (2) ; 14 mai 1845 (2) ; 6 juin 1849 (5) ; 20 mars 1851 (7) ; 26 février 1852 (1) ; 25 mai 1852 (12) ; 11 mai 1861 (2) ; 15 avril 1862 (14) ; 24 avril 1862 (1) ; s.d. (5). Ventes publiques : Nom de la vente Berthevin Bignon Chateaugiron Coralli Duchesne Feuillet Gay J. Lacarelle Lacoste Loss Lucas de Montigny Morelli Naudet St Martin Succi Thiébaut de Berneaud Vic de F. Villenave Virey

Date de la vente 7 mai 1863 1849 10 mai 1851 Novembre 1866 30 mai 1855 10 mars 1847 Mai 1864 4 février 1847 1846 1847 mai 1860 8 mars 1869 25 mai 1847 mai 1868 7 mai 1863 20 avril 1850 mars 1867 22 janvier 1850 9 décembre 1850

Nombre de pièces 9 1 12 1 10 2 75 12 1 1 18 122 1 1 7 75 1 19 1

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Dans les achats, certaines pièces sont remarquables : ƒ Lettre autographe signée de J.J. Dillen à Targioni, 22.11.1738 (achetée 78Fr à la vente Succi) ƒ Lettre autographe signée d’A. Cesalpino à Vittori, 07.09.1566 (achetée 80Fr dans une vente publique) ƒ Lettre autographe signée de J.J. Rousseau à Malesherbes avec minutes de Malesherbes (achetées 100Fr chez Charavay en 1858) (Fig. 11) ƒ huit lettres autographes signées de Carl Linné (acquises de 12 à 45FR lors de diverses ventes). ƒ Nous pouvons regretter de ne pas connaître le montant des 122 pièces acquises à la vente Morelli. Provenance des pièces acquises par dons (445 pièces) : Papiers J.B. Bory de Saint-Vincent : 187 pièces ; J. Decaisne : 80 pièces ; S.R. Lenormand : 46 pièces ; Adr. De Jussieu : 42 pièces ; A. Le Jolis : 16 pièces ; J.H. Léveillé : 17 pièces ; Ch. Flahault : 14 pièces ; J. Planchon : 10 pièces ; Cte de Reculot, J. Montolivo, Buchon, E.A. Zuchold, W.G. Farlow, H. Giraudy, G. DeNotaris, E. Burnat, J. Gay, Mme A. Gray, A. Riocreux, Vte de l’Espine, A. de Villers, F.A. Pelvet, A. de Bary, Feuillet de Conches (de 1 à 5 pièces chacun). Noter l’importance du fonds Bory de Saint-Vincent, dont Bornet en était le dépositaire. Il forme le plus gros apport avec 187 pièces, dont une correspondance avec J. Thore (plus de 50 pièces). Noter aussi un reliquat de la correspondance adressée à Bory, qui a été intégré sous la cote Ms CRY 319. L’apport d’Adrien de Jussieu est indiqué dans la pièce 875 (Ms CRY 504); celui d’Auguste Le Jolis dans une lettre adressée le 20 novembre à Thuret (Ms 538, p. 1826). Lettres adressées à Thuret ou à Bornet : 828 pièces Répartition diachronique des pièces : ƒ 1550–1599 : 4 pièces dont des autographes de : A. Cesalpinus (1566) ; Ch. de l’Escluse (1573) ƒ 1600–1649 : aucune pièce ƒ 1650–1699 : 5 pièces dont des autographes de : P. Boccone, A. Le Nostre, M. Malpighi ƒ 1700–1749 : 40 pièces dont des autographes de : H. Boerhaave, Ch. Bonnet, G. Caldesi, J.J. Dillen, D. Dodart, G.C. Fagon, F.A. Ghedini, D. d’Isnard, A. de Jussieu, B. de Jussieu, C. Linné, L. Magalotti, G. Marsilli, P.A. Micheli, G. Monti, R.A. Réaumur, M. Sarrasin, J.J. Scheuchzer, H. Sloane, M.A. Tilli, J.P. de Tournefort, S. Vaillant, A. Vallisneri, A.Van Royen ƒ 1750–1799 : 208 pièces

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ƒ 1800–1849 : 725 pièces ƒ 1850–1899 : 617 pièces ƒ 1900– : 51 pièces Annexe 2 : La collection d’autographes de Casimir Roumeguère conservée à la Bibliothèque de botanique, Muséum national d’histoire naturelle La collection de Casimir Roumeguère, dont la date et le mode d’entrée à la bibliothèque de botanique n’ont pu être éclaircis, se présente sous la forme de 6 gros volumes reliés. Les deux premiers constituent pour lui l’excellence de sa collection, le « Corona » ou « Bouquet » soit 422 pièces, provenant de 312 botanistes. Dans le premier volume, il présente sa collection, ainsi que lui-même avec deux portraits. Pour chaque auteur, il donne des informations bio-bibliographiques, dont certaines sont inédites et si possible un portrait. Certaines pièces ont visiblement été retirées. Ces 6 volumes comportent un ensemble de 1132 pièces (en fait 950 lettres et notes autographes signées ou non, si l’on déduit les portraits) représentant 950 botanistes, constitué de 1845 à 1890. Les pièces antérieures à 1800, le « Corona » de la collection de Roumeguère, proviennent en majeure partie au fonds Philippe Picot de Lapeyrouse ; tandis que l’apport de la propre correspondance de C. Roumeguère est significative dans la tranche 1850–1875 (1899) et placée dans les ‘dii minores’. Le nombre élevé de pièces non datées dans cette collection s’explique par un nombre important d’étiquettes d’herbiers présents dans la deuxième partie de la collection. Ainsi nous pouvons dresser le tableau suivant : Répartition des 950 pièces par types de pièces :

15 15 2 172

Sans destinataire notes autographes 148 extraits de textes autographes dessins lettres autographes 113

Avec destinataire lettres adressées à Roumeguère

lettres adressées à Picot de Lapeyrouse étiquettes 334 adressées à d’autres destinataires TOTAL TOTAL 595

151 355 Répartition chronologique :

Corona Le reste TOTAL

1628 1735 1750–1799 1800–1849 1850–1875 Sans date Herbier 1 49 173 66 32 1 1 52 377 72 138 1 1 50 225 443 104 138

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Figure 11 : Lettre autographe de J.J. Roussseau à C.G. Lamoignon de Malesherbes du 11 novembre ((MNHN, Collection de la bibliothèque de botanique, Ms CRY 506, pièce 1471 ; cliché F. Bouazzat).

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Provenance des pièces acquises par dons : Fonds Ph. Picot de Lapeyrouse : 113 pièces ; Rév. W. Leighton : 50 pièces ; A. Le Jolis : 33 pièces ; V. Cesati : 29 pièces ; A. Fée : 23 pièces ; M. Ténore : 18 pièces ; J.M. Holzinger : 17 pièces ; O. Debeaux : 17 pièces ; Roger d’Ostin : 15 pièces ; A. de Franqueville : 13 pièces ; J. Booth : 8 pièces ; H. Van Heurck : 8 pièces ; L. Caldesi: 7 pièces ; A.V. Roussel : 7 pièces ; G. Jan : 7 pièces ; E. Duby : 6 pièces ; et 52 botanistes représentés par 1 à 5 pièces. Informations sur le fonds Philippe Picot baron de Lapeyrouse : Le colonel Louis Emmanuel Marie Dupuy,60 ami intime de Philippe Picot de Lapeyrouse, en fut l’exécuteur testamentaire. Il fit un inventaire de la correspondance de Picot de Lapeyrouse (Fig. 12) et offrit l’herbier des Pyrénées à la ville de Toulouse. Après la mort de Dupuy ses collections passèrent dans les mains de son neveu Le Dr Judan étranger aux sciences naturelles. Les minéraux et les mollusques, les herbiers et la belle bibliothèque furent dispersés. La collection d’autographes de savants ayant appartenu à Lapeyrouse fut délaissée et je pus réussir et préserver de la destruction ce véritable trésor historique. Je fis un triage qui vint accroître mon album, le restant remis à un libraire vint me couvrir de mes débours. Ce fut la bibliothèque de l’Institut qui acquit à mon grand regret ma part répudiée.61

En fait cette partie se trouve à la bibliothèque centrale du Muséum, sous les cotes Ms 1990–1994.62 Les lettres adressées à Picot de Lapeyrouse dans la collection Roumeguère proviennent de 112 botanistes. En comparant les collections de la bibliothèque centrale du Muséum et de la bibliothèque de botanique, nous remarquons que 74 botanistes sont présents dans les deux collections, et que 37 botanistes ne sont présents que dans la collection Roumeguère.

60 Louis Emmanuel Marie Dupuy (Toulouse 17 avril 1777–25 juillet 1845), colonel de génie en retraite, membre de l’académie des sciences de Toulouse, administrateur du jardin des plantes, député du peuple. 61 Les renseignements sont donnés pas C. Roumeguère en introduction de sa collection d’autographes. MNHN, CBB, Ms CRY 490. 62 Dans une lettre à Roumeguère (11 septembre 1872), J. Desnoyers donne des informations à propos de cette acquisition (MNHN, CBB, Ms CRY 493, pièce 656).

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Figure 12 : Extrait de l’inventaire de la correspondance de P. Picot de LaPeyrouse par le Colonel L.E.M. Dupuy (MNHN, Collection de la bibliothèque de botanique, Ms CRY 490, pièce 113 ; cliché F. Bouazzat)

Nuclear Energy Programs in Austria Christian Forstner

Abstract This paper analyses the evolution of Austria’s nuclear energy programs in the context of changing international networks from World War II until the late 1980. Several Austrian physicists were engaged in the first Austrian attempt to establish nuclear energy within the German Uranverein during World War II. After the war, the vague idea of energy production by nuclear fission was still apparent, but a great lack of financial resources prevented the development of a national nuclear energy program. This changed with the launch of the American Atoms for Peace program. In 1955, the Austrian Council of Ministers decided to build a research reactor with US support. Finally, three research reactors were brought into service with the aim of developing a nuclear energy program in Austria. This attempt resulted in the decision to build a nuclear power plant near Zwentendorf in Lower Austria in 1971. However, this plant never went into operation. After it was finished in 1978, the Austrian people voted against the startup of the plant in a plebiscite with a slight majority of 50.47%. Today, the idea of freedom from nuclear energy is a central part of the Austrian identity.

Introduction “Nuclear energy in Austria?” one may ask surprised. Austria became famous for hydro energy and “green” energy production after 1945 but not for the successful establishment of nuclear energy. Moreover, the completion of the large-scale project of the Alpine hydropower plant in Kaprun in 1955 against the objections of the allied forces became one of the founding myths of the second Austrian Republic – it was the Austrian “Yes we can!” The construction of the hydro energy plant commenced shortly after the Nazis had seized power in Austria but could not be finished until the end of World War II and was then resumed. Likewise, many Austrian physicists were engaged in the first Austrian attempt to establish nuclear energy after the annexation by Germany in the German Uranverein after 1941. This Austrian-German cooperation and therefore, the whole program, failed with the defeat of the German Reich and its allies. Nevertheless, the vague idea of energy production by nuclear fission was still apparent in Austria’s postwar politics, but there was a great lack of money which prevented the development of a national nuclear energy program. This changed with the launch of the American Atoms for Peace program with Eisenhower’s famous speech in December 1953. Already before Austria had regained its full national sovereignty in July 1955, the Austrian Council of Ministers decided to build a research reactor with American support. But it took another seven years until the research reactor of the Austrian universities finally went into operation. This is what I call Austria’s second attempt to establish nuclear energy, specifically nuclear energy research. In the Jahrbuch für Europäische Wissenschaftskultur, Bd. 7 (2012), 413–432

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course of this attempt, three research reactors were brought into service with the aim of developing a nuclear energy program in Austria. This attempt resulted in the decision of the Austrian government under Chancellor Bruno Kreisky in 1971 to build a nuclear power plant near Zwentendorf in Lower Austria. However, this plant never went into operation. After it was finished in 1978, the Austrian people voted against the start-up of the plant in a plebiscite with a slight majority of 50.47%. Finally in 1978, the third Austrian attempt to establish nuclear energy failed, and today, the idea of freedom from nuclear energy is a central part of the Austrian identity. The first attempt: Austria’s engagement in the German Uranverein In contrast with Germany’s dominant role in the Uranverein, Austrian contribution has attracted only little attention and is currently being investigated in an independent research project by Carola Sachse and Silke Fengler located at the University of Vienna.1 Therefore, only a brief sketch of the Austrian activities will be given here. In Vienna, two centers of nuclear research existed. One was located at the 2nd Institute for Physics of Vienna University and the other at the Institute for Radium Research of the Austrian Academy of Science. The Radium Institute was opened in 1910 and, due to Austria’s monopoly on pitchblende, the raw material for radium production in the mines of St. Joachimthal in Bohemia, became one of the centers for an international network of the so called “radium-activists”. One of the astonishing features of the institute at that time was the high percentage of female staff, which historian Maria Rentetzi tried to trace back to the social and political milieu of the “Red Vienna” of the 1920s and 1930s.2 After the Anschluss (annexation) of Austria into Germany in 1938, about a fourth of all Austrian nuclear researchers lost their jobs, principally due to the antiJewish sanctions. Additionally, the number of women employed at the Radium Institute plummeted by fifty percent within the course of a year. Two positions for full-time professors and two for associate professors in the physics departments at the University of Vienna were subsequently filled by the appointment of NS-scientists or opportunistic fellow travelers. These individuals assured themselves of the support of the Third Reich and proceeded to reorganize nuclear research in Vienna; in 1943, the 2nd Institute for Physics and sections of the Institute for Radium Research merged, creating the Four-Year-Plan Institute for Neutron Research.3 1 2 3

Silke Fengler & Christian Forstner (2008), Austrian Nuclear Research 1900–1960 – A Research Proposal, in: Jahrbuch für Europäische Wissenschaftskultur, 4, pp. 267–276. Maria Rentetzi (2004), Gender, Politics and Radioactivity Research in Interwar Vienna. The Case of the Institute for Radium Research, in: Isis, 95, pp. 359–393. Wolfgang L. Reiter (2001a), Die Vertreibung der jüdischen Intelligenz. Verdopplung des Verlustes – 1938/1945, in: Internationale mathematische Nachrichten, 187, pp. 1–20; Rentetzi (2004), op. cit., pp. 391–392.

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Already before the founding of the Four-Year-Plan-Institute, the discovery of nuclear fission attracted the interest of Austrian physicists, and the German Uranverein opened new possibilities for their research, which the Austrians embraced. The Austrian research carried out in the Uranverein mainly had the characteristics of fundamental research, sometimes specifying the Uranmaschine (uranium nuclear reactor) as the aspired application.4 Scattering cross sections of neutrons in uranium and the increase of neutrons in fission reactions were a central topic of the investigations. For this analysis, spherical symmetric geometries with layers of paraffin and uranium were used in the experiments. Also (n, 2n)-processes in lead were analyzed and extrapolated to reactions in uranium.5 Later, in the postwar era, the same experimental setups and geometries were used, e.g. in the postdoctoral lecture qualification of Karl Lintner,6 the then-assistant of the head of the FourYear-Plan Institute, Georg Stetter. However, aside from all kinds of fundamental research, a nuclear reactor was the central aim of all Austrian activities, as Georg Stetter’s application for a patent for a reactor shows.7 This thesis is supported by a statement at the end of a report about the engagement of the 2nd Physical Institute of the University of Vienna in the German Uranverein, in which the authors claim that for a continuation of large-scale experiments for the uranium machine, about two tons of uranium metal, one ton of paraffin, and possibly 500kg heavy water would be needed.8 At the end of the war, main segments of the equipment and staff were transferred to the western parts of Austria to safeguard them from bombings and, 4

5

6 7

8

In the course of the American ALSOS mission, the reports of the Uranverein were confiscated and transferred to the United States. Today the “G-reports” are disclosed for research in the Archives of the Deutsches Museum in Munich and enlighten the Austrian role in the Uranverein: Josef Schintlmeister, Die Aussichten für eine Energieerzeugung durch Kernspaltung des 1,8 cm Alphastrahlers, February 26, 1942, Archiv des Deutschen Museums München, Museumsinsel 1, 80538 München (henceforth ADMM), and Willibald Jentschke und Karl Kaindl, Vorläufige Mitteilung über die Abhängigkeit der Größe der Resonanzabsorption bei verschiedenen Temperaturen, September 5, 1944, ADMM, as well as Bericht über die Tätigkeit des II. Physikalischen Institutes der Wiener Universität und des Institutes für Radiumforschung der Wiener Akademie der Wissenschaften. July 1945, ADMM. Georg Stetter und Karl Lintner, Schnelle Neutronen in Uran (I). Der Zuwachs durch den Spaltprozess und der Abfall durch unelastische Streuung, Schnelle Neutronen in Uran (II): Genaue Bestimmung des unelastischen Streuquerschnittes und der Neutronenzahl bei „schneller“ Spaltung, Schnelle Neutronen in Uran (III.): Streuversuche, September 1942, as well as Georg Stetter und Karl Kaindl, Schnelle Neutronen in Uran (VI): Der (n, 2n)-Prozess in Blei und die Deutung der Vermehrung schneller Neutronen in Uran, not dated, probably late 1942, ADMM. Karl Lintner (1949), Wechselwirkung schneller Neutronen mit den schwersten stabilen Kernen (Hg, Tl, Bi und Pb), Habilitation, Universität Wien. Sondersammlung der Österreichischen Zentralbibliothek für Physik, (henceforth: ZBP), Nachlass Georg Stetter, Patentantrag beim Reichspatentamt vom 14. Juni 1939. After the war Stetter made demands because of his patent application, however they were denied in the lawsuit, cf. also Archiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Wien, (henceforth: AÖAW), FE-Akten, Radiumforschung, XIII. Nachlass Berta Karlik, Karton 55, Fiche 812. ADMM, G-Report 345, p. 23.

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presumably, from the Soviet troops. The reasons for the failure of this program were the same as in Germany9: in comparison to other war projects, the priority level was low, and at the end of the war, the lack of resources led to massive delays. For example, in November 1940, the Austrian Academy of Science decided to build a neutron generator for the Radium Institute. The generator was ordered in 1941 with a delivery period of 36 months. In June 1942, a new priority level was granted, and the delivery time was reduced to 22 months. Delivery problems of German suppliers delayed the project again and again. Finally, the city of Vienna declined the building license for the necessary modification of the institute building, and at the end of 1944, a new site for the generator had to be found. In March 1945, a gym in Krems, a city about 60km to the west of Vienna, was chosen as the new location for the neutron generator. However, the liberation by the allied forces ended all installation plans for the generator and stopped other segments of Austria’s first attempt to nuclear energy.10 Another mysterious topic should not be forgotten: the production of heavy water in Austria. In 1950, Colonel Goussot, a member of the French forces in Tyrol, asked the theoretical physicist Ferdinand Cap from Innsbruck University for his expertise concerning the production of heavy water in Tyrol during the war. In his report, Cap described an “apparatus” for the production of heavy water on the basis of electrolytic separation, similar to the method of the Norsk-Hydro A.G. in Norway. Furthermore, he mentions test plants for the production of heavy water in Tyrol that were built during the war. From the report, it seems that these test plants never reached a level of a large-scale production. However, as Prof. Cap, who provided the report to the author, stated, all production facilities were destroyed by the French forces, and no further evidence for the existence of the production of heavy water in Tyrol could be found.11 Liberation, Reorganization and Reconstruction The efforts that were made after the liberation by the allied forces in 1945 can be described best as “back to 1938” before the Anschluss – at least if one is to disregard the fact that there had already been an authoritarian and politically repressive regime in Austria from 1934 onwards. These efforts took into consideration the 9

Mark Walker (1990), Die Uranmaschine. Mythos und Wirklichkeit der deutschen Atombombe, Berlin: Siedler; Mark Walker (2005), Eine Waffenschmiede? Kernwaffen- und Reaktorforschung am Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik, Berlin, in: Preprint No. 26 of the research program Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. 10 AÖAW, FE-Akten, Radiumforschung, XIII, Karton 32, Fiche 444–447, Correspondence of Gustav Ortner with the Helmholtz-Gesellschaft, Düsseldorf, the C.H.F. Müller AG, Hamburg, and the Reichsamt für Wirtschaftsaufbau in Berlin (1940–1945). 11 Bericht von Ferdinand Cap für Colonel Gousset über eine Anlage zur Produktion von schwerem Wasser in Tirol, 24. November 1950. Archive of the Author, kindly handed over by Prof. Dr. Ferdinand Cap. Interview with Ferdinand Cap conducted by the author, Innsbruck, 3 August, 2007.

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personnel changes in the course of denazification and changes in the structure and organization of research. One of the first tasks was the liquidation of the FourYear-Plan Institute for Neutron research and restoration of the former organization of the university and academy institutes. In the course of denazification, former members of the national socialist party were removed from the institutes, among them Georg Stetter and Gustav Ortner, the head of the Radium Institute, who had both received their position after 1938 because of the anti-jewish measures of the Nazis. On the other hand, some of the forced emigrants were invited to come back. Stefan Meyer, the former head of the Radium Institute before 1938, was appointed as director of the institute once again, while Berta Karlik became managing director of the institute.12 In 1947, Stefan Meyer retired, and Berta Karlik was appointed as the new director, which also marked the beginning of a new era for the institute. She had finished her PhD at the University of Vienna in 1928 and started her research at the Radium Institute in 1929/30. She then took a position as a graduate assistant in 1933. In the meantime, she studied a year under William Bragg at the Royal Institution in London with the help of a fellowship of the International Federation of University Women from November 1930 to December 1931. In 1935, she was invited to Sweden for several months for research. After finishing her postdoctoral lecture qualification, the University of Vienna awarded her the venia legendi in 1937. She received several fellowships until she was appointed as lecturer with per diem in 1942. She never took part in the research program of the German Uranverein and tried to define her own field of activity within the institute. It was not clear at all that she could continue her work after the Nazis had seized power in Austria. Her request for an extension of her fellowship was denied by the Deutsche Forschungsgemeinschaft with the argument, that there were no chances for females for a continual university career. Thanks to an intervention of the director of the institute, Gustav Ortner, it was possible for her to stay at the Radium Institute with regular benefits. In a report of the NS-Dozentenführer (leader of the NS organization for university lecturers) she is described as not interested in politics.13 All in all, it seems that she tried to find her own scientific way without attracting any political attention – neither positive nor negative for the NS-government. Her unobtrusive behavior during the NS-era made her postwar career possible. In contrast to the situation in Germany, there seemed to be no formal restrictions for nuclear research in Austria after the liberation in 1945. Moreover, the allied and, initially, the American troops supported the Austrian scientists in the reorganization of their research facilities, especially with the backhaul of the radium standard compounds and instruments that were stored in the Western parts 12 Wolfgang L. Reiter & Reinhard Schurawitzki (2005), Über Brüche hinweg Kontinuität. Physik und Chemie an der Universität Wien – eine erste Annäherung, in: Margarete Grandner, Gernot Heiss & Oliver Rathkolb (eds.), Zukunft mit Altlasten. Die Universität Wien 1945 bis 1955, Wien: Studienverlag, pp. 236–259, here: p. 243–251. 13 Archiv der Universität Wien, Postgasse 9, A-1010 Wien, Personalakte Berta Karlik, Aktnr. 2152.

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of Austria at the end of the war.14 Contemporary witnesses, like Karl Lintner, who had been the assistant of Stetter during wartime, do not remember any restrictions on nuclear research. Lintner himself, for example, was able to finish his postdoctoral lecture thesis on the interaction of fast neutrons with the heaviest stable nuclei (Hg, Tl, Bi and Pb) in 1949.15 His postwar research was mainly based on the work that was carried out in the German Uranverein.16 Also, Ferdinand Cap did not remember any restrictions.17 The testimonials of contemporary witnesses are supported by documents found in the Archive of the Austrian Academy of Science. For example, in 1947, Berta Karlik asked the German contractor of the abovementioned neutron generator to fulfill their commitments and deliver the generator. However, this request was denied due to the restrictions for nuclear research in Germany. Some parts of the equipment had already been disassembled and confiscated by the allied forces.18 A curiosity should not be overlooked: In 1966, Karlik offered 400kg pure uranium nitrate for sale, which was owned by the Radium Institute since the war and was at that time provided by the Germans for the extraction of uranium isotopes.19 Considering all these aspects, it seems plausible that there were no legal restrictions for nuclear research in Austria after the war. While the reconstruction of the Radium Institute was still in progress, the oldnew director Stefan Meyer started to resurrect the old networks from the prewar era. Together with Paris, the Radium Institute in Vienna was one of the two depositories of a primary radium standard, and Stefan Meyer was elected as secretary of the International Radium Standard Committee after its founding in 1910 and later as its president.20 Networks are based on mutual confidence and trust in the competence, professional skills, methods, and reliability of each member of the network. Measurements and a publication completed by a member of the German Physikalische-Technische Reichsanstalt in Berlin seemed to challenge the exactness of the Austrian radium standard and the competence of the members of the Radium Institute.21 Therefore Meyer’s first task was to restore the reliability and credibility of the institute as keeper of the second radium standard. In the course of 14 AÖAW, FE-Akten, Radiumforschung, XIII, Karton 8, Fiche 138. Wie das Radium nach Wien zurückkam. Ein 10-Tonnen-Lastkraftwagen war zum Transport von zwei Gramm nötig, von Adrienne Janisch (Radio Wien, 18 May 1946). See also the correspondence between Berta Karlik and the Allied Forces, AÖAW, FE-Akten, Radiumforschung, XIII, Karton 55, Fiche 812. 15 Lintner (1949), op. cit. 16 Interview with Karl Lintner conducted by the author, Vienna, 9 June 2007. 17 Interview with Ferdinand Cap, conducted by the author, Innsbruck, 3 August 2007. 18 AÖAW, FE-Akten, Radiumforschung, XIII, Karton 32, Fiche 448. Letter from Hans Suess to Berta Karlik, 20 April 1947, and letter from C.H.F. Müller Aktiengesellschaft to Berta Karlik, 8 June1949. 19 AÖAW, FE-Akten, Radiumforschung, XIII, Karton 50, Fiche 722. Letter from Berta Karlik to the Austro-Merck G.m.b.H., 7 October 1966. 20 Wolfgang L. Reiter (2001b), Stefan Meyer. Pioneer of Radioactivity, in: Physics in Perspective, 3, pp. 106–127, here: p. 113 et seq. 21 AÖAW, FE-Akten, Radiumforschung, XIII, Karton 31, Fiche 427–428. See also the correspondence between Stefan Meyer and Gustav Ortner, Karton 17, Fiche 271.

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this project, he assigned two PhD students to this task, asking them to probe the exactness of the Viennese radium standards. In the end the exactness was proved and the credibility of the Radium Institute was renewed.22 Meyer’s efforts to revive and reorganize the International Radium Standard Committee to the Joint Commission on Standards Units, and Constants of the International Council of Scientific Unions can be seen as part of the activities to reintegrate the Viennese scientists into the old networks. In the course of these tasks, the exactness of the Viennese standards was called into question and Meyer emphasized their reliability in the discussions.23 The success of Meyer’s and also Karlik’s endeavors can be recognized in the appointment of the Radium Institute as Austrian distribution center for radioactive isotopes (Isotopenstelle), which controlled the import and distribution of radioactive material in Austria from Harwell (UK) since 1949 and from the US since 1952.24 Nevertheless, cold winters and lack of resources and money delayed regular business at the institute until the end of the 1940s. There was no chance of establishing a new nuclear energy program in the foreseeable future due to material reasons.25 This is also illustrated by a speech about international research on nuclear physics given by the experimental physicist Fritz Regler from the Technical University of Vienna for the Industrialists’ Federation in 1949. Regler emphasized the new possibilities of nuclear physics and its application, e.g. in the non-destructive examination of materials. However, the intention of a nuclear energy program seemed unrealistic to him because of the large amount of the necessary investments.26 Coming back to Europe – Austria and CERN Before 1938, the Viennese radium research had been integrated in a European-wide network of local centers of radioactivity and nuclear research with mutual exchange and collaboration. After the Anschluss or, at the latest, with the beginning of the Second World War, the ties of the old networks were cut. The Austrian scientists were searching for new alliances with Germany, which resulted in the Austrians’ contribution to the Uranverein. After the liberation, these new ties broke down. 22 Stefan Meyer (1945), Über die Radium-Standard-Präparate (29. Nov./13. Dez. 1945), in: Anzeiger der math-nat. Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 82, pp. 25–30; Berta Kremenak (1948), Zur Frage der Genauigkeit der Radiumstandardpräparate (12. Dez. 1947), in: Acta Physica Austriaca, 2, pp. 299–311. 23 AÖAW, FE-Akten, Radiumforschung, XIII, Correspondence between Stefan Meyer and Frederic Joliot-Curie 1945–1949, Karton 22, Fiche 352–354. 24 Berta Karlik (1950), 1938–1950, in: Festschrift des Institutes für Radiumforschung anlässlich seines 40jährigen Bestandes (1910–1950), in: Sitzungsberichte der math.-nat. Klasse IIa der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 159, pp. 35–41, here: p. 40, as well as AÖAW, FE-Akten, Radiumforschung, XIII, Karton 55, Fiche 816–818, and Reiter & Schurawitzki (2005), op. cit., p. 250. 25 Karlik (1950), op. cit., pp. 37–41. 26 Fritz Regler (1949), Die Atomforschung und ihre Nutzanwendung in Österreich, in: Die Industrie, 2, p. 49.

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Therefore, Meyer and Karlik tried to revive the old networks, but it was a long and bumpy road to success, and the intensive level of the previous cooperation before 1938 was never reached again. At least in hindsight, the missing results of these endeavours have to been seen critically, as the structures of nuclear research, and particle physics in particular, had already started to change with the birth of big science and were to be transformed even more radically in the years to come. Far from entering into considerations of this kind, the primary task after the liberation, in addition to all kinds of networking, consisted above all in the reorganization of science on a local level. This meant the backhaul of instruments as well as enforcing claims that went back to the NS-era. However, as the example of the neutron generator shows, these enforcements were not successful. After the reorganization along general lines was finished, one of the first PhD theses was the construction of a small neutron generator. Rudolf Waniek started his thesis in May 1948 at the Radium Institute Picture 1: The picture shows the neutron generator built by Hans Wa- and finished the construction of an ion source niek for his PhD thesis in 1950 and and a neutron generator in 1950, shown in picis taken from his thesis.29 The acce- ture 1.27 In the course of further studies, the ion leration tube had a length of 170 cm source and the generator were improved and with an effective voltage of 90 kV upgraded, but nevertheless, the necessary level and worked on the basis of a D + D → T + n reaction. The main pro- to carry on modern particle physics could not be blem lay in the pulsed alternating reached at this level. Therefore the Austrian current which prevented a high effi- physicists showed great interest when the disciency of the generator. cussion concerning CERN arose.28 29 The discussion about CERN started in Austria at the end of 1951, but the policy-makers did not stress the importance of the project and only informed the scientists from the Technical University in Vienna and not the members of the University and the Radium Institute about the initiatives of the other European countries. This led to discord between the department of education and Karlik, who felt it appropriate to contact the Radium Institute in this

27 Rudolf Waniek (1950), Über den Bau eines Neutronengenerators und die Anwendung einer Hochfrequenz Ionenquelle, Dissertation, Universität Wien. 28 Waniek (1950), op. cit., p. 102. 29 Hans Warhanek (1953), Bau einer Hochfrequenzionenquelle und einer zu ihrer Untersuchung geeigneten Apparatur, Dissertation, Universität Wien. See also: Reiter & Schurawitzki (2005), op. cit., pp. 250 et seq.

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case.30 In October 1952, she argued in a memorandum that Austria’s participation in the newly founded Council of Representatives of European States for Planning an International Laboratory and Organizing Other Forms of Cooperation in Nuclear Research would be essential for the future of Austrian research and that the absence of Austria in the council would damage its reputation as a nation of cultural heritage.31 On the one hand, Karlik asked to reduce the Austrian contribution to a symbolic fee ranging between $500 and $1000. On the other hand, she tried to impact the politicians by placing emphasis on the importance of CERN for the research possibilities of Austrian scientists, as well as for the European integration of Austria as a nation.32 The negotiations about Austria joining CERN were prolonged mainly because of the discussion of the amount of the Austrian contribution. In 1953, for example, Austria offered 10.000 öS. In fact, the standard fee would have been 312.000 öS. Nevertheless, Austria was finally offered a reduced fee of 100.000 öS, but this was obviously still ten times more than the department of education was willing to pay. In 1955, it seemed that an agreement about the amount had been reached at last, but in the meanwhile the members of CERN had decided not to accept any more new members and, instead, offered fellowships for Austrian scientists as a preliminary compromise until Austria could become a full member of CERN. To make a long story short, after many delays, Austria became a full member of CERN in 1959.33 The process of Austria joining CERN may be seen as a completion of both the reintegration of Austrian nuclear physics into Western Europe and of Austrian scientists into a European-wide network of nuclear research. As I pointed out at the beginning of this section, the structure of nuclear research had changed after the war, or more precisely already within the Second World War. Networks of local groups of nuclear physicists that were scattered all over Europe transformed into one research group, creating one big laboratory supported by the respective national states. A major international science project was formed with last, but not least, Austria as a part of it.

30 AÖAW, FE-Akten, Radiumforschung, XIII, Karton 55, Fiche 818. Letters from Berta Karlik to Bundesministerium für Unterricht, Abteilung für Unesco Angelegenheiten, 11 January 1952 and 17 March 1952. 31 AÖAW, FE-Akten, Radiumforschung, XIII, Karton 55, Fiche 818. Berta Karlik, Pour Memoire in Angelegenheit der Teilnahme Österreichs an dem Europäischen Forschungsrat für Atomkernphysik. 32 AÖAW, FE-Akten, Radiumforschung, XIII, Karton 55, Fiche 818. Letter of Berta Karlik to Paul Scherrer, 8 January 1953, and letter of Berta Karlik to Sektionsrat Hoyer, Bundesministerium für Unterricht, 11 January 1953. 33 AÖAW, FE-Akten, Radiumforschung, XIII, Karton 55, Fiche 818–824. Thematische Korrespondenz CERN.

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The second attempt: Atoms for Peace The peaceful use of atomic energy was one of the central ideas in the 1950s, in which technology-mindedness and a naive belief in progress widely dominated public opinion and discourse.34 However, it required an external incentive to transfer these vague ideas into real possibilities for a small country like Austria. This spark was given by US President Eisenhower’s famous “Atoms for Peace” speech at the UN General Assembly in December 1953.35 Actually, Eisenhower’s program fell on the most fertile ground in the discussions amongst engineers. Already before the speech, the Austrian Electro-Technical Society (Elektrotechnischer Verein Österreichs, EVÖ) had initiated a series of lectures on nuclear physics in 1953 and 1954. It seems that a study group had already been planned at that time, but practical purposes, like the relocation of the society to another building as well as the vague perspectives of such a group, delayed the establishment of the group. Nevertheless, in December 1954, such a study group was finally founded with both members of the Technical University (TH), among them Heinrich Sequenz (the former president of the TH until 1945), and members of the University, such as Georg Stetter (the former head of the FourYear-Plan Institute for Neutron Research), Hans Thirring, Erich Schmid, and Karl Lintner (physicists from Vienna University). Of course, Berta Karlik, the head of the Radium Institute who had already been a co-organizer of the first meeting, was also in the board, while Senior Legal Secretary Alexander Koci participated as the relevant government representative.36 Only five days after the establishment of the study group at the EVÖ, the first government meeting on international cooperation for the peaceful use of atomic energy took place with participants of several ministries, except the military or defense ministries, and only one representative of academia, namely Berta Karlik from the Radium Institute. In this meeting, it was decided to establish an advisory expert commission for the peaceful use of atomic energy, which was assigned to evaluate the possibilities and expenses of a research reactor in cooperation with the USA. Also, electricity production through nuclear energy was discussed, but at that time, it seemed to be only a future possibility to complement other forms of electricity production.37 After a meeting of the Council of Ministers in January 1955 and several other inter-ministerial discussions, the Minister of Education sent 34 Ernst Hanisch (2005), Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Wien: Ueberreuter, p. 429. See also: Helmut Lackner (2000), Von Seibersdorf bis Zwentendorf. Die ‚friedliche Nutzung der Atomenergie‘ als Leitbild der Energiepolitik in Österreich, in: Blätter für Technikgeschichte, 62, pp. 201–226. 35 For a detailed analysis of the American postwar science policy see especially John Krige (2006), American Hegemony and the Postwar Reconstruction of Science in Europe, Cambridge: MIT Press. 36 AÖAW, FE-Akten, Radiumforschung, XIII, Karton 51, Fiche 750. Sitzungsbericht über die Gründung einer „Studiengruppe Atomenergie im EVÖ“ am 16.12.1954 vom 10.01.1955. 37 Archiv der Republik, Österreichisches Staatsarchiv, Nottendorfer Gasse 2, A–1030 Wien, (henceforth: ARÖS), Bestand BMU Atom, Zahl 157.959–INT/54.

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out a circular letter to all Austrian Universities in February 1955, in which he asked for expert reports of a research reactor and the possibility of energy production by nuclear fission.38 Another month later, the universities had named the delegates for the commission, and it was founded with subcommittees for experimental and theoretical nuclear physics, the application for nuclear energy in physics, chemistry, medicine, biology, and one for technical questions. This time, all the delegates were from the university except the one for technical questions, and one may, therefore, suspect that there existed heavy debates between the different institutions in the progress of the project. Berta Karlik was assigned to conceptualize all necessary memoranda, which underlined her central role once again.39 In her report concerning the expediency of a construction of a nuclear reactor in Austria, Karlik expounded the different kinds of nuclear reactors and the costs involved. Furthermore, she gave a short analysis of the situation in other European states like France, Norway, the Netherlands, Sweden, Switzerland, Italy, West Germany, and Belgium. Great Britain and the United States were explicitly excluded from this analysis because of the engagement of the military. Karlik pointed out that all these European states had only installed or only aspired research reactors and that the financial situation in Austria would only allow the construction of such a research reactor. However, she considered the financial requirements too high for the ministry of education, even in the case of a research reactor. Therefore, she recommended an alliance of all ministries, academia and industry concerned. Besides that, she pointed out another problem concerning the lack of qualified personnel for operating a reactor. For this reason she once again recommended the construction of a research reactor, where specialists could be trained for the assignment in a nuclear power plant.40 The lack of qualified personnel was one of the main problems for the forthcoming project. Therefore, the ministry of education initiated a search for Austrian nuclear physicists abroad. Among them, one of the central figures of Austrian nuclear research got the chance for a comeback. Gustav Ortner, the former director of the Radium Institute from 1939 to 1945, was suggested by Karlik as coordinator of the project.41 Ortner held a position as a professor for experimental physics in Cairo since 1950 and had regular correspondence with Karlik to the point of exchanging material samples, which Karlik had sent to Ortner in Cairo.42 Concerned about losing the opportunity, Ortner wrote a very gentle letter to the ministry 38 AÖAW, FE-Akten, Radiumforschung, XIII, Karton 56, Fiche 829. Rundschreiben des Bundesministeriums für Unterricht an die Rektorate der österreichischen Universitäten und Hochschulen, 11 February 1955. 39 AÖAW, FE-Akten, Radiumforschung, XIII, Karton 56, Fiche 829. Correspondence between the Ministry for Education [Bundesministerium für Unterricht] and the University of Vienna [Universität Wien], February and March 1955. 40 AÖAW, FE-Akten, Radiumforschung, XIII, Karton 49, Fiche 706. Gutachten über die Zweckmäßigkeit der Errichtung eines Reaktors in Österreich, verfasst von Berta Karlik, April 1955. 41 AÖAW, FE-Akten, Radiumforschung, XIII, Karton 56, Fiche 829. Letter from Berta Karlik to the Bundesministerium für Unterricht, 28 April 1955.

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abstaining from any salary claims, while Karlik, on the other hand, refused a request from the ministry to name a second candidate.43 In the end, everything went fine for Ortner: He received the position of project coordinator, was sent to the US for training courses on the technique of nuclear reactors, and was belatedly nominated as Austrian expert for the atomic energy conference in Geneva in August 1955.44 The Austrian Council of Ministers, the highest decision-making body in the Second Republic, accepted the suggestions of the expert committee based on Karlik’s recommendations shortly before Austria regained its full sovereignty in July 1955 and made the decision to build a research reactor, perhaps with American support. One has to remember that all this happened during the Cold War, and Austria, which was occupied by the Allies until then, regained its sovereignty only for political neutrality. Therefore, it is not astonishing that Austria also received offers to build a nuclear reactor from the Soviet Union and the Republic of Yugoslavia. These offers were noticed and forwarded to the scientists, but nothing more happened, which is in agreement with the expectations in the context of the aspired integration of Austria into the western bloc.45 Karlik recommended the American technology for the comprehensive offer of training, supply of fuel elements and disposal of nuclear waste.46 However, already in December 1954 in an inter-ministerial meeting, only the American option was discussed even before the scientific advisory group was founded and the scientists were heard.47 Therefore, one may assume that the scientists also followed the political requirements. In contrast to the communication concerning CERN, this time around, Berta Karlik, surrounded by the Radium Institute and the members of the university, was the central figure in the whole organization of the projects from the beginning. The Technical University seemed to only play the role of supporting actor in this story. This development led to the foundation of an independent study group at the Technical University in December 1955 to articulate the interests of the TH on the prospects of new research resources.48 These interests were clearly formulated half a year later in a letter from this study group to the Ministry of Education. Its author

42 AÖAW, FE-Akten, Radiumforschung, XIII, Karton 46, Fiche 665. Correspondence between Berta Karlik and Gustav Ortner. 43 AÖAW, FE-Akten, Radiumforschung, XIII, Karton 56, Fiche 829. Letter to the Bundesministerium für Unterricht, 28 April 1955. Letter from Berta Karlik to the Bundesministerium für Unterricht, 4 May 1955 and Letter from Gustav Ortner to Berta Karlik, 17 May 1955. 44 AÖAW, FE-Akten, Radiumforschung, XIII, Karton 56, Fiche 830. Letter from Berta Karlik to the Bundesministerium für Unterricht, July 16, 1955. 45 AÖAW, FE-Akten, Radiumforschung, XIII, Karton 56, Fiche 830. Letters from the Bundeministerium für Unterricht to Berta Karlik, 21 June 1955 and 5 July 1955. 46 AÖAW, FE-Akten, Radiumforschung, XIII, Karton 56, Fiche 830. Letter from Berta Karlik to H. Küpper, 10 November 1955. 47 ARÖS, Bestand BMU Atom, Zl. 157.605–INT/54. Letter from Bundeskanzleramt – Auswärtige Angelegenheiten to Bundesministerium für Unterricht, 6 December 1954. 48 Archiv der Technischen Universität Wien, Karlsplatz 13, A–1040 Wien, (henceforth: ATUW), R.Z. 2787/55, p. 31. Minutes of the meeting, December 19, 1955.

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Sequenz states the importance of engineers for the new developments in nuclear energy and that a new institute with a research reactor should not be assigned exclusively to the Viennese University and that the TH should not be outdone by the University, for it did in principle dispose of the same rights.49 This latent conflict entered a hot phase in the 1960s, when the question of access to new resources arose. Before this internal conflict broke up, however, the Austrian scientists had demonstrated unity to the rest of the world at the First International Conference on the Peaceful Uses of Atomic Energy in Geneva in 1955. In the preparations for the conference, the Ministry of Foreign Affairs asked for a memorandum “that shows the world, that Austria has been using atomic energy for peaceful purposes for many years and is one of the leading nations in that area.”50 In comparison to the debates about Austria joining CERN, it seems that the scientists were successful with their reasoning, as it was now taken over by the politicians. It was again Berta Karlik who was asked to compose such a report. Most of the report discusses the use of radioactive isotopes in all kind of fields: from medical, to scientific, to industrial applications. The last section focuses on the plans concerning a reactor, where she states: Austria is considering building a research reactor as a joint project of science and industry and is engaged in preparations. It is expected that within a period of one year, it will be possible to clear the major problems, as there are [sic!] the juridical forms of cooperation for the partners in the project, the financial problem, the coordination of the research programs as well as the reactor type, a time schedule, etc. – The construction of a power reactor is not considered advisable at the moment.51

The conference took effect on the Austrian development as a catalyst, but not in the way it was aspired to by the scientists. Parallel to the academic study groups, an alliance between energy economy, industry and politics had been established. This alliance led to the founding of the Österreichische Studiengesellschaft für Atomenergie GmbH (Austrian Society for Atomic-Energy Studies Ltd.) on May 15, 1956. The society held a capital stock of 6 Mio öS, with 51% owned by the state and 49% by the industry, all in all more than 80 companies, but in the society’s board of management, only one scientist (Gustav Ortner) was present. However, scientists were invited to participate in the newly founded research groups, e.g. on biology, medicine, safety issues, research and power reactors, metallurgy,

49 ATUW, R.Z. 2787/55, pp. 32–33. Letter from Heinrich Sequenz to the Bundesministerium für Unterricht, 6 July 1956. 50 AÖAW, FE-Akten, Radiumforschung, XIII, Karton 50, Fiche 727. Bundeskanzleramt für Auswärtige Angelegenheiten to Institut für Radiumforschung, 27 January 1955: „Der Welt soll gezeigt werden, dass Österreich seit Jahren Atomenergie für friedliche Zwecke verwendet und auf diesem Gebiet zu den führenden europäischen Nationen gehört.“ (English translation by the author). 51 AÖAW, FE-Akten, Radiumforschung, XIII, Karton 55/56, Fiche 825. Draft of a memorandum.

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physics, chemistry, legal questions, etc.52 In June 1956, a contract concerning the cooperation for the civil uses of atomic energy was signed between the United States and Austria, and the decision was made to construct a reactor center with a swimming-pool reactor of the type ASTRA in Seibersdorf near Vienna. 40% of the necessary investments of 102 Mio öS were covered by the European Recovery Program fund, while an amount of 9 Mio öS was directly subsidized by the American Atomic Energy Commission.53 In the course of the planning, the academic scientists were heard, but they had the weakest position in the struggle for financial and personnel resources and in the discussion of who would define the areas of future research. Finally, the close cooperation between academia and industry failed in May 1957, when the decision was made that the new reactor center should no longer be organized as an institute of the universities.54 On the other hand, the universities enforced their claims on the construction of their own research reactor project, which was approved at the end of August 1957.55 This led to the foundation of the Atomic Institute of the Austrian Universities in 1959, which received a TRIGA MARK II called “Austria 30” reactor, supplied by General Dynamics for US$ 258.625.56 The location of the Atomic Institute and the research reactor of the Austrian universities was heavily debated in public because the scientists’ first choice was a flak tower, an aboveground bunker built during the NS era in the Augarten, a central recreational area in Vienna. But due to massive public protest, it was relocated to the Prater, which is a green area in the outskirts.57 The new institute was formally attached to the Technical University for administration, but the rules of procedure determined that the new Atomic Institute should be open for research to members of all Austrian universities.58 Nevertheless, the two directors that were nominated in March 1961 – the construction was still in progress – were from the Technical University, namely Gustav Ortner and Fritz Regler.59 The discussions about the rules of pro52 AÖAW, FE-Akten, Radiumforschung, Karton 56, Fiche 832. Bundesministerium für Unterricht to Berta Karlik, 23 August 1956. 53 Peter Müller (1977), Atome, Zellen, Isotope. Die Seibersdorf-Story, Wien: Jugend und Volk, pp. 83–87; Lackner (2000), op. cit., pp. 209–212. 54 AÖAW, FE-Akten, Radiumforschung, XIII, Karton 56, Fiche 832. Bundesministerium für Unterricht an die Rektorate aller wissenschaftlichen Hochschulen, 24 May 1957. 55 AÖAW, FE-Akten, Radiumforschung, XIII, Karton 56, Fiche 833. Bundesministerium für Unterricht an die Rektorate aller wissenschaftlichen Hochschulen und das Dekanat der Katholisch-theologischen Fakultät in Salzburg, 30 August 1957. 56 AÖAW, FE-Akten, Radiumforschung, XIII, Karton 56, Fiche 834–835. Vertrag zwischen dem Bundesministerium für Unterricht und der General Dynamics Cooperation. 57 ATUW, R.Z. 1250/58, p. 70. Gedächtnisprotokoll über die Sitzung des Aktionskommitees für Atomenergie, Dienstag 1. April 1958 im kleinen Sitzungssaal des Bundesministeriums für Unterricht, verfasst von Fritz Regler, 2 April 1958. 58 AÖAW, FE-Akten, Radiumforschung, XIII, Karton 56, Fiche 834. Entwurf eines Erlasses des Bundesministeriums für Unterricht betreffend der Zuordnung des Atominstituts, 2 February 1959; Erlass des Ministeriums 20. Februar 1959. 59 AÖAW, FE-Akten, Radiumforschung, XIII, Karton 56, Fiche 836. Protokoll der 5. Sitzung der Atomkommission der österreichischen Hochschulen am 11. März 1961 um 10:00 Uhr im großen Sitzungssaal der Technischen Hochschule Wien.

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cedures, especially about access to the new research and teaching resources, led to heavy debates between the TH and other universities – to the point where the University of Vienna asked the Faculty of Law for legal support. However, in the long run, the universities lost, and the Atomic Institute was incorporated into the TH at the beginning of the 21st century.60 Finally, three research reactors went into operation: The ASTRA reactor of the industry-dominated Studiengesellschaft at Seibersdorf in 1960, the TRIGA MARK II of the Austrian universities at the Prater in Vienna in 1962, and a small reactor of the Technical University in Graz in 1963. The latter was financed by the federal state Styria and local industry and developed silently apart from the main negotiations in Vienna. Thus, Austria’s second attempt to establish nuclear reactors was a success, but the research reactors were only an intermediate stage for the actors, who aimed toward nuclear energy production in the long run. The Third Attempt: The Nuclear Power Plant in Zwentendorf Until the late 1980s, energy production in Austria was a government monopoly organized in the 1947 founded Verbund (Österreichische ElektrizitätswirtschaftsAktiengesellschaft, Austrian Industry Electricity Stock Corporation) which was controlled by the federal government. On the other hand, there was one electricity provider in each state that was controlled by that particular federal state. When the research reactors were constructed and started up at the beginning of the 1960s, electrical energy production from nuclear fission was still a dream of the future, as the necessary investments seemed too high for profitable energy production in comparison to hydro-energy or thermal power plants based on oil and coal. In fact, not even a predicted doubling of the energy consumption in Austria within a decade from the mid-fifties to the mid-sixties was able to change the mind of the energy industry. This is not to say that signs of a stronger commitment in favor of the new form of energy production were missing altogether: Already in 1960, for example, the Verbund Corporation had asked for a report about possible locations for a nuclear power plant.61 But on the whole, the commitment of the industry in this field remained a rather weak one. Thus, when the predictions concerning the consumption of electrical energy finally proved approximately right, Austria found itself confronted with the problem that hydro-energy alone could not cover the increasing consumption. As a result, the percentage of electricity production through thermal energy had to be increased time and again.62 60 AÖAW, FE-Akten, Radiumforschung, XIII, Karton 56, Fiche 836–838. See especially Fiche 838: Gutachten des Dekans der Rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, 27 March 1962. 61 Christian Schaller (1987), Die österreichische Kernenergiekontroverse. Meinungsbildungsund Entscheidungsfindungsprozesse mit besonderer Berücksichtigung der Auseinandersetzung um das Kernkraftwerk Zwentendorf bis 1981, Dissertation, Salzburg, pp. 112–114. 62 Lackner (2000), op. cit., pp. 216 et seq.

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At the end of the 1960s, the time had come for the electricity companies to join together with the conservative government to start an initiative for nuclear energy production in Austria. In October 1967, the Ministry of Transport and State-Owned Companies63 arranged a hearing concerning atomic energy in Austria – and this time, atomic energy explicitly implied electricity production by nuclear fission. The positions in the electricity companies still seemed to be heterogeneous at that time, especially at the point in time of the realization of a power plant, in contrast to the conservative government who forced a quick start of the beginning of the construction.64 One of the results of the experts hearing was the foundation of the Kernkraftwerksplanungsges.m.b.H (Nuclear Power Plant Planning Corporation Ltd.) in April 1968. Later, after the location was chosen, a constructing society named after the area Tullnerfeld, the Gemeinschaftskraftwerk Tullnerfeld Ges.m.b.H. (Corporation Power Plant Tullnerfeld Ltd.), was founded. Problems in the distinction of the responsibilities of the two companies led to the decision that the latter would be the authority for the concrete planning of the plant in Zwentendorf in the area Tullnerfeld, while the former would be going to plan all future Austrian nuclear power plants. The central Verbund held 50% of each corporation; the other 50% were divided among seven federal state companies. Quarrels between these companies considerably delayed the start of the construction. Finally, the Austrian government under Chancellor Kreisky made a planning and building decision in March 1971, and an association of the Austrian Siemens Ges.m.b.H, the Austrian Elin Union AG, and the German Kraftwerk Union AG. The offer for a ready-for-use boiling water reactor of the consortium was not the best – the Swedish ASEA made the best offer – but it was a chance for the Austrian industry to prove its abilities in the construction of nuclear power plants, and last, but not least, it can also be seen as a part of Keynesian economic policy in the Kreisky era.65 After several hearings, the building permit was granted, and the construction started in March 1972. In 1976, two further nuclear power plants were planned to join the grid by the year 1990. At the beginning of the construction, criticism of the project was widely ignored. Only after the Swedish Social Democrats lost their majority, probably because of their atomic policy, a public discussion process was initiated, and supporters as well as opponents were heard. Time after time, the start-up of the plant in Zwentendorf was delayed. Finally, Kreisky initiated a referendum about the launch connected with a promise to resign if the referendum should fail. What happened is well known: 50.47% voted against the start-up, among them probably also conservatives who supported nuclear technology but hoped to get rid of Kreisky. However, they failed, too. Kreisky reacted quickly, and a month after the referendum, the parliament passed the Atomsperrgesetz unanimously. This law forbade the use of nuclear fission in Austria for energy production, and only a two-thirds majority in parliament and another referendum 63 Bundesministerium für Verkehr und verstaatlichte Betriebe. 64 Schaller (1987), op. cit., pp. 116–118. 65 Ibid., and Lackner (2000), op. cit., p. 219 et seq.

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would have been able to change this law again. Nevertheless, research was excluded from this ban. After the accident in the nuclear power station Three Mile Island, near Harrisburg, PA, in the USA in 1979 and Chernobyl in the USSR in 1986, the anti-nuclear power movement received more and more acceptance and popularity.66 This development led to a new law, now as part of the Austrian constitution:67 The Bundesverfassungsgesetz für ein atomfreies Österreich (Constitutional Law on a Nuclear-Free Austria) determined that in Austria ƒ nuclear weapons must not be produced, tested, stored, or transported, ƒ nuclear power plants must not be constructed, and those that are already built must not be launched, ƒ transport and storage of compounds for nuclear fission are forbidden, excepting those for peaceful use, although not for energy production, ƒ the Republic of Austria is liable for any injuries due to accidents with radioactive compounds or has to enforce the claims from foreign causers, ƒ the Federal Government is responsible for the implementation of the law. Today it is a widely accepted consensus that there is no future for nuclear energy in Austria. But what happened to the ready-to-operate plant in Zwentendorf (see picture 2)? After a legislative initiative of the social democrats failed in 1985, it was decided to use the power plant Zwentendorf in the best possible way. Later on, the power plant was transformed into a stock of spare parts for West German plants of the same type and used as a training area for nuclear Picture 2: The ready-to-operate power plant in Zwentendorf engineers. What remains is a model of a power plant at the cost of 14 billion öS. A short anecdote should not be missed: The power plant was also used for a film setting with the Swedish actor Dolph Lundgren. However, the production company ran out of money, and the film was never finished …68

66 Ibid., pp. 223–226. 67 Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich, ausgegeben am 13. August 1999, 149. Bundesverfassungsgesetz für ein atomfreies Österreich, URL: http://www.salzburg.gv.at/1999a149.pdf (accessed 26 March 2009). 68 Renner (2008), Science Fiction à la 70er, in: Die Presse, 13 October 2008.

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What remains? A preliminary conclusion. What remains of the Austrian nuclear energy programs? More than an industrial hulk? From the beginning of radioactive research in Austria in the early twentieth century, up to the point of time when the Nazis seized power, the Austrian scientists had been integrated in a European-wide network of radio-activists. With Austria as a part of the German Reich, these networks partly broke down and were reorganized into a new formation. The German Uranverein offered the Austrian scientists new possibilities for their first program to establish nuclear energy, and these possibilities were willingly accepted. However, with the defeat of the German Reich, these first attempts came to a sudden end. The liberation, the postwar depression, personnel breaks, and lack of resources prevented a continuation of the program. Nevertheless, it seems that in contrast to Germany, there were no formal restrictions for nuclear research given by the Allies, and it was one of the first tasks to establish the old international networks again. But we can also find a network inside the Austrian community that worked all the time, regardless of all political breaks. After 1938, in many cases the contact was kept with the former institute members which had been expelled due to the racist NS-measures. Also after 1945, the contact was kept with those who had to leave their jobs because of the denazification. Were these persons Nazis? In a few cases one could answer this question with a “yes”, but in most of the cases there are all different shades of grey, including people like Berta Karlik who tried to define her own fields of research independent from all NS-research. She kept the ties all the time, regardless of all kinds of breaks, and became the key figure in Austria’s post war research. Austria’s second attempt to establish nuclear energy must be seen in the context of Cold War Europe and cannot be isolated from the advancing integration of Austria into the western bloc. This process can clearly be seen in Austria joining CERN, as well as the quick acceptance of the US Atoms for Peace program. Since March 1955, Austria acted as a sovereign and neutral country. But in comparison to other politically neutral countries, it seems that Austria made no use of its neutrality, quickly accepted the American offer, and neglected the Soviet and Yugoslavian offers. Nevertheless, in contrast to other European states, the military played no role in any of the Austrian developments. How did the scientists act? Two main motivations for their behaviour can be distinguished. On the one hand, the Cold War offered a comeback for many of those who were dismissed because of their NS-relationships. The most recent of them was Gustav Ortner in 1955, who later became the first director of the Atomic Institute of the Austrian Universities. Most of the scientific cooperation was carried out with scientists of nations of the western bloc both before and after World War II. Additionally, only very, very few scientists had positive attitudes toward the Soviet system. For these two reasons, the scientists uniformly welcomed western integration in the course of the American program. On the other hand, like the Uranverein, the Atoms for Peace program offered new possibilities and resources for research to the scientists. They took this chance and forced the program in the

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beginning. But their influence in comparison to other social groups should not be overestimated, even if we find enthusiasm and euphoria concerning technical progress in the public opinion. The scientists could only partially make use of the public sentiment and lost in the first reactor project in Seibersdorf in making their claims against the industrial needs. However, two small research reactors were built for the universities and their tasks. From this point of view, Austria’s second attempt seems to have been a success. In contrast to that, the attempt to establish nuclear energy for electricity production ended in a disaster for politics and energy companies. The public opinion had turned and with a small majority in a referendum the start-up of the ready-tooperate plant was prevented. What remains is a training area and a spare part stock room as well as a monument for a new meaningful narrative: “Austria is free of nuclear energy.” Archival Sources Archiv der Republik Österreichisches Staatsarchiv Nottendorfer Gasse 2 A-1030 Wien Archiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Ignaz-Seipl-Platz 1 A-1010 Wien Archiv der Technischen Universität Wien Karlsplatz 13 A-1040 Wien Archiv der Universität Wien Postgasse 9 A-1010 Wien Archiv des Deutschen Museums München Museumsinsel 1 D-80538 München

Bibliography Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich, ausgegeben am 13. August 1999, 149. Bundeverfassungsgesetz für ein atomfreies Österreich, URL: http://www.salzburg.gv.at/1999a149.pdf (accessed 26 March 2009). Fengler, Silke & Christian Forstner (2008), Austrian Nuclear Research 1900–1960 – A Research Proposal, in: Jahrbuch für Europäische Wissenschaftskultur, 4, pp. 267–276.

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Autorenverzeichnis / List of Contributors / Liste des auteurs Gastherausgeber / Guest Editor / Éditeur invité Daniel Ulbrich, M.A. Friedrich-Schiller-Universität Jena Institut für Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik „Ernst-Haeckel-Haus“ Berggasse 7 07745 Jena Germany E-Mail: [email protected] Autoren / Contributors / Auteurs Dr. Katherine Angell Queen Mary College, University of London School of English and Drama Queen Mary, University of London Mile End Road London E1 4NS United Kingdom E-Mail: [email protected] Dr. Andrea Cavazzini Chercheur invité auprès de l’équipe ERRAPHIS (Toulouse 2 Le Mirail) 11, rue du bouloi 75001 Paris France E-Mail: [email protected] Dr. Tamás Demeter Max Planck Institut für Wissenschaftsgeschichte Boltzmannstraße 22 14195 Berlin Germany E-Mail: [email protected]

Dr. Christian Forstner Friedrich-Schiller-Universität Jena Institut für Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik „Ernst-Haeckel-Haus“ Berggasse 7 07745 Jena Germany E-Mail: [email protected] Dr. Christian Gérini Université du Sud – Toulon Var Institut universitaire de technologie Génie de mécanique et productique Boîte Postale 20132 83957 La Garde Cedex France E-Mail: [email protected] Dr. Sebastian Kühn Freie Universität Berlin Friedrich-Meinecke-Institut Koserstr. 20 14195 Berlin Germany E-Mail: [email protected] Denis Lamy UMR CNRS/MNHN 7502, CP 39 57, rue Cuvier 75231 Paris Cedex 05 France E-Mail: [email protected] Dr. Annette Meyer Center for Advanced Studies Ludwig-Maximilians-Universität München Geschwister-Scholl-Platz 1 80539 München Germany E-Mail: [email protected]

Olaf Breidbach / Kerrin Klinger / Matthias Müller

Camera Obscura Die Dunkelkammer in ihrer historischen Entwicklung Die Camera obscura war das erste Bildsichtgerät. Übermittelt ist die Idee schon aus der Antike. Auch die Chinesen wussten bereits im 4. Jahrhundert v. Chr. mittels einer kleinen Öffnung invertierte Bilder erleuchteter Objekte zu projizieren. Über die Jahrhunderte bis zur Renaissance wurden mit der Camera obscura Sonnenfinsternisse beobachtet und mit verschiedenen Lochformen und Bildabständen experimentiert. Nach technischen Verbesserungen wie der Einfügung von Linsen und der Umlenkung des Lichtstrahls durch Spiegel gewann das Gerät vom 16. bis zum 19. Jahrhundert ein breites Anwendungsfeld. Erst nach der Erfindung der Photographie verlor es an Bedeutung. Olaf Breidbach / Kerrin Klinger / Matthias Müller Camera Obscura 2013. 227 Seiten mit 185 Abbildungen. Kart. ISBN 978-3-515-10005-2

Dieser Band behandelt die Hochzeit der Camera obscura und beschreibt ihre Konstruktion und technische Entwicklung. Im Fokus stehen dabei die Berichte zum Umgang mit dem Gerät: Die Autoren rekonstruieren, was mit der Camera obscura wie gesehen wurde, vergleichen Darstellungsverfahren und Darstellungstechniken mit seinerzeitigen Beschreibungen und Bildproduktionen und liefern so einen Beitrag zur Wahrnehmungskultur der Frühen Neuzeit. .............................................................................

Aus dem Inhalt Vorwort | Historie und Apparat | Bildwelten der Camera obscura | Nachbauten | Reflexionen zur visuellen Wahrnehmung | Katalogteil | Literaturverzeichnis

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Alfred Lohr

Der Computus Gerlandi Edition, Übersetzung und Erläuterungen Sudhoffs Archiv – Beiheft 61

Der Komputist Gerland, der in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts wirkte, galt als einer der ganz Großen seines Fachs. Seine Jahreszählung, nach der die Jahre des Herrn um sieben kleiner anzusetzen sind, und sein „natürlicher Computus“ mit Neumondtafeln, die an einer Sonnenfinsternis 1093 ausgerichtet sind, genossen über Jahrhunderte hohes Ansehen. Hätte sich Gerlands Zählung durchgesetzt, würden wir jetzt statt 2013 das Jahr 2006 schreiben.

Alfred Lohr Der Computus Gerlandi 2013. 493 Seiten mit zahlreichen Abbildungen und Tabellen sowie CD-ROM. Kart. ISBN 978-3-515-10468-5

Sein aus zwei Büchern bestehendes Hauptwerk ist hier erstmals in einer Edition zugänglich. Auf 36 Handschriften basierend enthält sie einen vollständigen kritischen Apparat. Die Abhängigkeiten zwischen den Handschriften werden mit aus der Biologie entlehnten kladistischen Methoden untersucht. Die Edition wird durch weitere Texte, die mit Gerlands Computus abgeschrieben wurden, sowie mit Übersetzung und Erläuterungen ergänzt. Der Anhang enthält ferner eine auf 19 Handschriften basierende Edition von Gerlands Abakus-Traktat und eine CD mit vollständigen Abschriften aus den einzelnen Handschriften sowie Wortkonkordanzen. .............................................................................................................

Aus dem Inhalt Einleitung: Computus Gerlandi | Gerlandus Compotista | Einrichtung der Edition | Handschriften | Abkürzungsverzeichnis | Literaturverzeichnisse p Edition: Liber primus | Liber secundus | Appendix p Übersetzung und Erläuterungen: Erstes Buch | Zweites Buch | Anhang p Anhang: Gerlands Abakus-Traktat | KWIC-Indizes und Abschriften auf CD p Register: Handschriften | Quellen | Personen und Orte | Wörter und Sachen

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Samia Salem

Die öffentliche Wahrnehmung der Gentechnik in der Bundesrepublik Deutschland seit den 1960er Jahren Pallas Athene – Band 47

Samia Salem Die öffentliche Wahrnehmung der Gentechnik in der Bundesrepublik Deutschland seit den 1960er Jahren 2013. 315 Seiten mit 8 Tabellen. Geb. ISBN 978-3-515-10488-3

Während jede Technik nach einer Abwägung ihres Nutzens und Schadens für die Gesellschaft verlangt, zog die zunehmende Technisierung des menschlichen Körpers eine Unschärfe der Grenzen zwischen dem Natürlichen und Technischen nach sich. Dies führte zu Unsicherheiten und im Kontext der Gentechnologie zu jahrzehntelangen Kontroversen über ihre Bewertung. In einer historischen Diskursanalyse erfasst Samia Salem die Auseinandersetzungen über die Rote und Grüne Gentechnologie in ihrer gesamten Breite. Die Betrachtung der augenscheinlich unüberschaubaren Diskussionen aus der Vogelperspektive ermöglicht die Identifizierung von Kontinuitäten und Diskontinuitäten sowie ihre Zusammenhänge mit anderen Technikdiskursen. Die Analysen konzentrieren sich auf die bedeutenden Akteursgruppen und ihre Rolle für die Diskussion, darunter Mediziner, Biowissenschaftler, Politiker, Interessenverbände, Kirchenvertreter und Theologen sowie Bauern und Landwirte. Begleitet wird die Diskursanalyse u. a. von Fragen nach der Beeinflussung durch die Reproduktionstechnologie oder Kernenergie. .............................................................................................................

Aus dem Inhalt Verortung der Gentechnik innerhalb der Technikgeschichte | Begriffsbestimmungen | Vom Ciba-Symposium (1962) bis zu den Anfängen der Gentechnologie (1972) | Von der AsilomarKonferenz (1975) bis zu den ersten deutschen GentechnikRichtlinien (1978) | Von der Einsetzung der Benda-Kommission (1983) bis zur Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages (1987) | Vom Human Genome Project (1990) bis „Dolly“ (1997) | Von der humanen Stammzellforschung (1998) bis zur dritten Änderung des Gentechnikgesetzes (2006) | u.a.

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Inhalt Daniel Ulbrich: Wissenschaftssprache ­zwischen sprachlicher Differenzierung und wissenschaftlicher Nationalisierung. Ein ­einleitender Essay Sebastian Kühn: „Saturn – als ein run­ des Küglein in einer Schüssel.“ Spuren mündlicher Kommunikation in natur­ forschenden Aufzeichnungen um 1700 Annette Meyer: Zwei Sprachen – zwei Kul­ turen? Englische und deutsche Begriffe von Wissenschaft im 18. Jahrhundert Tamás Demeter: Post-Mechanical Explana­ tion in the Natural and Moral Sciences. The ­Language of Nature and Human Nature in David Hume and William Cullen Daniel Ulbrich: Bemerkung und Revision. Zur Steuerungsfunktion naturwissenschaftlicher Textsorten am Beispiel von Experimental­

bericht und litterärhistorischer Erzählung um 1800 Andrea Cavazzini: Le vocabulaire de l’organisation chez Auguste Comte Daniel Ulbrich: Das Begriffsfeld ‚Wissen­ schaft(en)‘ in den großen euro­päischen ­Sprachen. Ein enzyklopädisches Stichwort Katherine Angell: Monstrous Medicine. A Study of British Teratology in the Nine­ teenth Century Christian Gérini: Les Annales de mathématiques pures et appliquées de Gergonne et l’émergence des journaux de mathématiques dans l’Europe du XIXe siècle: un bicentenaire Denis Lamy: Les collections d’autographes chez les botanistes – un exemple: les collec­ tions de Gustave Thuret, Edouard Bornet et de Casimir Roumeguère Christian Forstner: Nuclear Energy Programs in Austria

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ISBN 978-3-515-10684-9