Iustitia et Pax: Gedächtnisschrift für Dieter Blumenwitz [1 ed.] 9783428527458, 9783428127450

Der am 2. April 2005 verstorbene Staats- und Völkerrechtler Dieter Blumenwitz gehörte als Rechtswissenschaftler, akademi

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German Pages 1283 Year 2008

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Iustitia et Pax: Gedächtnisschrift für Dieter Blumenwitz [1 ed.]
 9783428527458, 9783428127450

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Schriften zum Völkerrecht Band 176

Iustitia et Pax Gedächtnisschrift für Dieter Blumenwitz

Herausgegeben von Gilbert H. Gornig, Burkhard Schöbener, Winfried Bausback und Tobias H. Irmscher

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Iustitia et Pax Gedächtnisschrift für Dieter Blumenwitz

Schriften zum Völkerrecht Band 176

Iustitia et Pax Gedächtnisschrift für Dieter Blumenwitz

Herausgegeben von Gilbert H. Gornig, Burkhard Schöbener, Winfried Bausback und Tobias H. Irmscher

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Für die großzügige Unterstützung der Drucklegung danken die Herausgeber Seiner Durchlaucht Fürst Hans-Adam II. von und zu Liechtenstein sowie dem Juristen Alumni Würzburg e.V.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2008 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0251 ISBN 978-3-428-12745-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Am 2. April 2005 verstarb Professor Dr. Dr. h. c. mult. Dieter Blumenwitz nach kurzer und schwerer Krankheit im 66. Lebensjahr. Als akademischer Lehrer hat er Generationen von völkerrechtlich interessierten Juristen an der JuliusMaximilians-Universität Würzburg geprägt und ihnen das rechtswissenschaftliche Rüstzeug mit auf den Berufsweg gegeben. Als Rechtswissenschaftler wirkte er über die akademische Gemeinschaft hinaus immer wieder auch in den politischen Bereich hinein, sei es als Gutachter oder aber unmittelbar in der Politikberatung. Seinem Andenken widmen Freunde und Kollegen, Schüler und Weggefährten diese Gedächtnisschrift, die unsere ehrende Anerkennung und Würdigung seines staats- und völkerrechtlichen Werkes zum Ausdruck bringen soll. Dass diese Gedächtnisschrift zustande gekommen ist, dafür gilt unser besonders herzlicher Dank vor allem den zahlreichen Autoren aus dem In- und Ausland. Daneben haben aber auch viele fleißige Mitarbeiter an diesem Band mitgewirkt, deren Namen im Autorenverzeichnis nicht erscheinen, die aber mit großem Engagement für technische und redaktionelle Aufgaben die Verantwortung übernommen haben. Ihnen gilt ebenfalls unser aufrichtiger Dank. Zu nennen sind Boris Pulyer, dem die Einrichtung und Pflege der Homepage für diese Gedächtnisschrift oblag, und Daniel Hauschildt (beide Würzburg), Dr. Aldona Szczeponek, LL.M., Ioana Rusu, Heike Speier und Diana Rogalski und vor allem Marianne Hösl, die das Manuskript perfekt betreute (alle Marburg), schließlich Clarissa Junge und Bettina Kock (beide Köln). Unseren tief empfundenen Dank möchten wir an dieser Stelle auch Frau Ruth Rupp aussprechen für die intensive Unterstützung bei der Erstellung dieser Gedächtnisschrift, mehr noch: für ihre jahrelange Fürsorge und Aufmunterung, für ihr Verständnis und ihre Ratschläge, die sie uns allen hat zuteil werden lassen, ebenso wie ihre – zwar seltene, aber dann berechtigte – Ungeduld. Sie war am Lehrstuhl eine „Wissenschaftsmanagerin“ der ersten Stunde, zu einer Zeit, als es einen Begriff dafür noch gar nicht gab. Ihre Verdienste um den Lehrstuhl für Völkerrecht der Universität Würzburg sind mit dem wissenschaftlichen Werk von Dieter Blumenwitz in den letzten fast zwei Jahrzehnten eng verbunden gewesen. Auch dafür gebührt ihr noch einmal unser herzlichster Dank! Seiner Durchlaucht Fürst Hans-Adam II. von und zu Liechtenstein danken wir für die großzügige Unterstützung der Drucklegung, ebenso sind wir dem Juristen Alumni Würzburg e. V. zu großem Dank verpflichtet. Marburg, Köln, Wuppertal und München, im Februar 2008

Die Herausgeber

In Memoriam Dieter Blumenwitz Dieter Blumenwitz wurde am 11. Juli 1939 in Regensburg geboren. Eine in mehrfacher Hinsicht lebensprägende Erfahrung machte er schon 1956/57, als er – ausgestattet mit einem Stipendium des American Field Service – in die Vereinigten Staaten von Amerika reisen durfte, wo er noch vor dem Abitur ein Jahr in Pasadena (Kalifornien) verbrachte und dort einen Highschool-Abschluss erwarb. Das politische und rechtliche System der USA war für ihn später ein wichtiges Forschungsgebiet; erinnert sei nur an die aus seiner Feder stammende, höchst erfolgreiche „Einführung in das anglo-amerikanische Recht“. Noch wichtiger war aber sicherlich, dass er bei einem späteren Stipendiatentreffen des American Field Service seine Ehefrau Birgit kennen lernte und aus dem Kreis der Stipendiaten manche lebenslange Freundschaft entstand. An die Schulzeit schloss sich – nach einem von der EG-Kommission geförderten dreimonatigen Studienaufenthalt in Straßburg – das Studium der Rechte an der Universität München an. Zeitlich weitgehend parallel absolvierte er ein Studium der Politischen Wissenschaften, ebenfalls in München, an der Hochschule für Politik, der er danach als Dozent für den Lehrbereich Internationale Politik und als Senator über Jahrzehnte verbunden blieb. Zwischen den beiden Staatsprüfungen – 1962 und 1967 – wurde Dieter Blumenwitz 1965 an der Ludwig-Maximilians-Universität München bei Friedrich Berber promoviert. Die Schrift mit dem Titel „Die Grundlagen eines Friedensvertrages mit Deutschland. – Ein völkerrechtlicher Beitrag zur künftigen Deutschlandpolitik“ war mehr als nur eine Doktorarbeit; sie war auch programmatischer Ausdruck zukünftiger Forschungsinteressen und sie ist noch heute Beleg eines politischen und rechtlichen Weitblicks, der im historisch einmaligen Prozess der deutschen Wiedervereinigung Aufgabe und Erfüllung gefunden hat. Nach der Promotion arbeitete Dieter Blumenwitz am von Murad Ferid geleiteten Münchner Institut für Rechtsvergleichung. Schon 1970 – mit 30 Jahren – habilitierte er sich bei Friedrich Berber mit einer Arbeit über den Schutz innerstaatlicher Rechtsgemeinschaften beim Abschluss völkerrechtlicher Verträge; erteilt wurde ihm die venia legendi für die Fächer Öffentliches Recht, insbesondere Völkerrecht und Internationales Privatrecht. Wie schon die Doktorarbeit, so verdeutlicht auch die Habilitationsschrift nicht allein das Ergebnis vorangegangener wissenschaftlicher Befassung. Vielmehr gehörte das Kernthema dieser Untersuchung, der Bundesstaat in all seiner rechtlichen und politischen Vielgestaltigkeit, auch später zu seinen zentralen Forschungsgebieten.

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1972 folgte Dieter Blumenwitz dem Ruf an die kurz zuvor gegründete Universität Augsburg auf einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Völkerrecht und Europarecht. Von 1974 bis 1976 war er Dekan des Juristischen Fachbereichs der Universität Augsburg. 1975 erreichte ihn sowohl ein Ruf an die Freie Universität Berlin als auch an die Universität Würzburg. Er entschied sich für die Julius-Maximilians-Universität, wo er die Nachfolge von Friedrich August Freiherr von der Heydte auf dem Lehrstuhl für Völkerrecht, allgemeine Staatslehre, deutsches und bayerisches Staatsrecht und politische Wissenschaften antrat. Von 1987 bis 1989 bekleidete er auch an der Juristischen Fakultät der Universität Würzburg das Amt des Dekans. Seine Aufgaben in Forschung und Lehre nahm Dieter Blumenwitz mit größter Leidenschaft wahr. Als Berater und Prozessvertreter deutscher und ausländischer Staatsorgane sowie als Gutachter bot sich zudem regelmäßig die Möglichkeit, die Erträge der völker- und verfassungsrechtlichen Forschung in die Rechtspraxis einzubringen. Herausragend ist in diesem Zusammenhang nach wie vor die Vertretung des Freistaates Bayern im Streit um die Verfassungsmäßigkeit des Grundlagenvertrages. Mit nur 33 Jahren stand er hier in vorderster Verantwortung, als es um zentrale Fragen des Wiedervereinigungsgebots des Grundgesetzes, um Aktualität und Zukunft der Deutschen Frage ging. Es war auch sein persönlicher Erfolg, dass mit dem Urteil des Zweiten Senats in diesem Verfahren der juristische Weg zur Wiedervereinigung Deutschlands bis zu ihrer Vollendung am 3. Oktober 1990 offen gehalten wurde. 1977/78 vertrat er dann die Oppositionsparteien im Deutschen Bundestag im Verfassungsstreit über die Wehrpflichtnovelle; 1993/94 folgte gleichfalls vor dem Bundesverfassungsgericht die Prozessvertretung für die Bundesregierung im Awacs-Verfahren. Und in den letzten Jahren war es der „Liechtensteiner Bilderstreit“, in dessen Rahmen er sowohl vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als auch vor dem Internationalen Gerichtshof plädierte. Das Mitwirken in der Rechtspraxis beschränkte sich aber keineswegs auf die Bereiche des Völker- und Verfassungsrechts. Neben der Mitgliedschaft in internationalen Schiedsgerichten amtierte er mehrere Jahre auch als Vorsitzender sowohl des Bundesschiedsamtes für die Kassenvertragszahnärztliche Versorgung als auch des Landesschiedsamtes für Zahntechniker in Bayern. Einen besonderen Stellenwert besaß für Dieter Blumenwitz die verfassungsrechtliche Begleitung der Demokratisierungsprozesse etwa in Namibia, in Russland, aber auch in Südamerika. Als Gründungsmitglied der Universidad Autonóma del Sur in Temuco, Chile, übernahm er auch akademische Verantwortung für die Institutionalisierung dieses Prozesses. Sein Handeln beruhte auf der Überzeugung, dass es auch und gerade in dunklen Zeiten notwendig sei, mit konstruktiven, auf einem gesicherten demokratisch-rechtsstaatlichen Fundament ruhenden Verfassungsentwürfen in diese Staaten hinein zu wirken. Zahlreiche Vortragsreisen in die Vereinigten Staaten von Amerika, nach Kana-

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da, Südamerika, Afrika und Asien bezeugen zudem das hohe wissenschaftliche Ansehen, das Dieter Blumenwitz auch im Ausland genossen hat und das seine wissenschaftlichen Veröffentlichungen, die in zehn Sprachen erschienen sind, auch weiterhin genießen werden. Rechtswissenschaftliche Forschung und Lehre beschränkten sich für Dieter Blumenwitz nie auf die Hochschule und die Diskussion der Fachvertreter. Er hat seinen Auftrag auch darin gesehen, das Völkerrecht und das Verfassungsrecht den Bürgern nahe zu bringen, komplizierte rechtliche und politische, nicht zuletzt auch historische Zusammenhänge in einer für jedermann verständlichen Weise zu erläutern. Zumal die politischen Wissenschaften, und hier vor allem die internationalen Beziehungen und ihre historischen Grundlagen, waren für ihn notwendige Referenzgebiete auch der rechtswissenschaftlichen Forschung und Lehre. Er besaß die beeindruckende Fähigkeit, wie selbstverständlich aus den Quellen auch anderer wissenschaftlicher Disziplinen schöpfen zu können, denn auch in den Naturwissenschaften, in der Geschichte und der Geographie fühlte er sich gleichermaßen zuhause. Es überrascht nicht, dass auch das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland annähernd 20 Jahre seinen Rat als Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates gesucht hat. Ein Herzensanliegen von Dieter Blumenwitz als Hochschullehrer war immer auch die Förderung junger Menschen. In Augsburg und in Würzburg hat er seine Studenten vor allem im Völkerrecht geprägt und, darauf aufbauend, vielen den Weg in die berufliche Zukunft bereitet. Drei Schüler führte er zur Habilitation, weit mehr als 100 Doktorarbeiten konnten unter seiner Betreuung erfolgreich abgeschlossen werden. Besonders hervorzuheben sind die ausländischen Doktoranden. Etliche von ihnen haben eine wissenschaftliche Laufbahn eingeschlagen; sie vermitteln nun den Gedanken von Freiheit und Verantwortung in einer demokratischen Gesellschaft – ganz im Sinne von Dieter Blumenwitz – in ihren Heimatländern. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang auch sein Wirken als Vertrauensdozent der Konrad-Adenauer-Stiftung (seit 1978) und der Hanns-Seidel-Stiftung (seit 1983) – eine Aufgabe, die er immer mit großer Freude wahrgenommen hat, zum Wohle der deutschen wie auch der ausländischen Studenten und Doktoranden. Die herausragenden wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Verdienste von Dieter Blumenwitz fanden ihre Anerkennung in höchsten staatlichen und wissenschaftlichen Auszeichnungen, u. a. als Träger des Bayerischen Verdienstordens, der Bayerischen Verfassungsmedaille und des Bundesverdienstkreuzes am Bande sowie der Verleihung zweier Ehrendoktortitel. „Finis belli pax est!“ Dieser kurze Satz des klassischen Völkerrechts war das wissenschaftliche Lebensthema von Dieter Blumenwitz. Das Verständnis der Völkerrechtsordnung als einer Rechtsordnung des Friedens war das sein völkerrechtliches Werk beherrschende Generalthema. Freilich lässt sich das rechts-

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wissenschaftliche Gesamtwerk von Dieter Blumenwitz nicht auf das Völkerrecht beschränken. Auch das Staats- und Verfassungsrecht hat hier seinen festen, unübersehbaren Platz. Dennoch war es gerade das Völkerrecht, das zu seiner wissenschaftlichen und persönlichen Lebensaufgabe geworden ist. Das Verständnis des Völkerrechts als Friedensordnung, als einer internationalen Ordnung, die auf grundlegenden Gerechtigkeitsvorstellungen aufbaut, um die friedliche Koexistenz der Staaten zum Wohle der Menschen zu gewährleisten – dieses Verständnis beherrschte sein Ethos, es war wissenschaftlicher Antrieb und gab seinem Wirken eine unverwechselbare Prägung. Nicht zuletzt sein nachdrückliches Eintreten für die weltweite Durchsetzung der Menschenrechte und den Schutz von Volksgruppen und Minderheiten spiegelt dies wider. Dieter Blumenwitz war ein außerordentlich fruchtbarer Denker und Autor. Insgesamt bestimmte er über vier Jahrzehnte hinweg die internationale Rechtsentwicklung durch Beiträge aus seiner Feder mit. Er hinterlässt ein Werk, das in jeder Hinsicht geschlossen genannt werden kann. Aus seinen über 450 Schriften heben sich mehrere Themen heraus, die seine Stellung in der deutschen Staats- und Völkerrechtswissenschaft bestimmen: – Das Schicksal Deutschlands lag ihm stets am Herzen. Die Rechtslage Deutschlands, insbesondere auch seiner Gebiete östlich von Oder und Neiße, sowie Fragen der Enteignung und Entschädigung der Vertriebenen beschäftigten ihn bis in die letzten Stunden seines Lebens. – Ferner war seine Tätigkeit der Erforschung des bundesstaatlichen Gedankens gewidmet, seine Habilitationsschrift aus dem Jahre 1970 gibt davon Zeugnis. In der Erkenntnis des Bundesstaats als einheitliche Herrschaftsorganisation einerseits und in dem Wissen um die Selbstbehauptung der Länder andererseits, zeigte Blumenwitz sowohl das ganzheitliche als auch das bundesstaatliche Element als nebeneinander stehende Verfassungsgrundsätze auf. – Als einer der ersten erkannte er die wachsende Bedeutung des angloamerikanischen Rechts für Rechtspraktiker aufgrund der zunehmenden wirtschaftlichen Verflechtung, aber auch für den deutschen Rechtswissenschaftler, der sich dem Fallrecht und seiner Methode nicht entziehen kann, zumal auch in Deutschland ein Fallrecht heranwächst, das neue Perspektiven eröffnet und Vergleiche fordert. – Zahlreiche Publikationen widmen sich dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, dem Minderheitenschutz sowie den Menschenrechten. Der staatliche Umbruch in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa setzte viele Minderheitenprobleme in ein neues Licht, aber auch in Westeuropa fanden Minderheitenfragen zunehmend Beachtung. Die Achtung der Menschenrechte weltweit einzufordern, war stets ein zentrales Anliegen von Dieter Blumenwitz.

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– Das Problem der gegenseitigen Durchdringung von Recht und Politik und der Wirkung der gesellschaftlichen Zustände und Entwicklungen auf die internationale Ordnung waren ein weiterer großer Tätigkeitsbereich. Die Beschäftigung damit zieht sich wie ein roter Faden durch das beeindruckende Werk. Sie fand ihren äußeren Ausdruck im Jahrzehnte langen Engagement in der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht. Nach Ansicht von Dieter Blumenwitz konnte man die deutsche Frage nicht beantworten. Man konnte sie nur stellen. Diese für ihn allgemein konsensfähige Erkenntnis machte deutlich, dass es nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches 1945 noch ungelöste Probleme gab. Für ihn hatte der Jurist diese Probleme nach den Maßstäben staats- und völkerrechtlicher Normen zu analysieren, wobei er die Fragestellung schon mit seiner Untersuchungsmethode prägen müsse. Die staats- und völkerrechtlichen Normen und Begriffe seien auf den Staat bezogen; die deutsche Einheit sei damit – juristisch betrachtet – nicht ethnische oder kulturelle Einheit, sondern staatliche Einheit. Demgegenüber spielten Volk und Nation als unabhängig vom Staat gedachte politische Willensgemeinschaft für ihn eine relativ untergeordnete Rolle, da ihnen das Völkerrecht nur einen vergleichsweise ungesicherten Status einräumt. Am Anfang seiner Beschäftigung mit der deutschen Frage steht seine Dissertation mit dem Thema „Die Grundlagen eines Friedensvertrags mit Deutschland. Ein völkerrechtlicher Beitrag zur künftigen Deutschlandpolitik“. Schon im Untertitel seiner ersten Schrift zeigt sich die bereits erwähnte Verzahnung von Politik und Völkerrecht. Aufgabe der Arbeit war es, die völkerrechtlichen Grundlagen eines Friedensvertrags mit Deutschland näher zu behandeln. Ausgehend von der Interdependenz von Macht und Recht war es sein Ziel, eine Konzeption zu finden, die das Völkerrecht und die internationale Wirklichkeit verbindet. Das Besondere dieser Arbeit war, dass sich in jener Zeit viele Autoren entweder nur von so genannten juristischen Gesichtspunkten leiten ließen und politische Fragen ignorierten oder nur in die politische Erörterung eintraten und meinten, völkerrechtliche Erwägungen könnten in Anbetracht der damaligen Lage völlig außer Acht gelassen werden. Beide Versuche, die zwischenstaatlichen Fragen zu lösen, waren einseitig und deshalb wenig überzeugend. Die erste Methode lief nämlich Gefahr, in einen juristischen Illusionismus zu münden. Die großartig konstruierten und im System der selbst gesetzten Prämissen logisch unanfechtbaren Gedankengebäude – und das wusste Blumenwitz – erwiesen sich nämlich oft als Luftschlösser und Traumburgen, die sich mit der politischen Wirklichkeit nicht vereinbaren ließen. Die zweite Methode musste zur Leugnung einer rechtlichen Bindung zwischenstaatlicher Beziehungen führen. Sie leistete dem internationalen Leben auch keinen Dienst, sondern war selbst aus ihrer Sicht – nämlich von einer rein machtpolitischen Betrachtungsweise aus – wenig realistisch, verzichtete man doch auf die potentielle politische Macht, die einem Rechtsargument zukommt.

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Um die großen Zusammenhänge der Rechtslage Deutschlands zu erfassen, erörterte Dieter Blumenwitz in zahlreichen Schriften den Grund der damaligen Friedlosigkeit und die Aspekte einer allgemeinen Friedensordnung. Besondere Aufmerksamkeit wurde der gemeinsamen völkerrechtlichen Grundlage, der Sieger und Besiegte unterworfen waren, geschenkt. Einen verständlichen Überblick über die komplizierte Rechtslage Deutschlands gab er in einer Schrift mit dem Titel „Was ist Deutschland?“, die in mehreren Auflagen erschien. Die Bayerische Landeszentrale für Politische Bildungsarbeit publizierte eine erweiterte Fassung dieser Fragestellung unter dem Titel „Denk` ich an Deutschland. Antworten auf die deutsche Frage“ als Handreichung für Sozialkundelehrer an Bayerischen Schulen. Nach der Wende konnte die Schrift „This is Germany. Germany´s Legal Status after Unification“ eine Antwort geben. Blumenwitz war auch stets ein Befürworter der gesamtdeutschen Staatsangehörigkeit. Wie richtig er damit lag, wissen wir heute, denn ohne die Beibehaltung der deutschen Staatsangehörigkeit wäre wahrscheinlich die Wiedervereinigung nicht erfolgt, da die Bürger der DDR keine deutschen Pässe in Ungarn bekommen hätten. Er trat allen Versuchen, das gemeinsame Band der deutschen Staatsangehörigkeit zu zerschneiden, mit Entschiedenheit entgegen. Das galt auch in Bezug auf Überlegungen, man könne durch eine Beschränkung der deutschen Staatsangehörigkeit auf Bundesbürger punktuelle Konzessionen seitens des anderen deutschen Staates einhandeln. Denn Dieter Blumenwitz wusste um die elementare Bedeutung und das nach innen und außen wirksame Gewicht der deutschen Staatsangehörigkeit, die es nicht erlaubten, sie zum Gegenstand politischer Konzessionen werden zu lassen. Mit seinen staats- und völkerrechtlichen Beiträgen setzte er neue Maßstäbe in der rechtlichen Behandlung der Deutschlandfrage. Ende der 1970er und auch in den 1980er Jahre gehörte allerdings sehr viel Mut dazu, sich zu Deutschland und zum Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes zu bekennen. Die Kritik der Verfechter einer Aufrechterhaltung und Zementierung des politischen status quo von zwei Staaten auf deutschem Boden, teilweise maßlos in ihrer Diktion, blieb nicht aus. Dieter Blumenwitz ließ sich davon nicht beirren. Für ihn war es nicht verständlich, dass man sich mit dem Schicksal aller anderen Staaten und Völker auf der Welt und deren Rechtslage auseinandersetzen konnte, es jedoch auf Kritik stieß, wenn man sich mit der Rechtslage des eigenen Vaterlandes beschäftigte und sich für die Menschen einsetzte, die unter Verletzung zwingenden Völkerrechts ihre Heimat verloren hatten. Seine Ausführungen zur Rechtslage Deutschlands waren im Übrigen stets unpolemisch und vielleicht auch deswegen so schwer angreifbar. Vor diesem Hintergrund war es für Dieter Blumenwitz eine besondere Genugtuung, die deutsche Wiedervereinigung zu erleben und bestätigt zu sehen, dass seine Thesen von der Rechtslage Deutschlands bei allen Ungereimtheiten des Zwei-Plus-Vier-Vertrags bestätigt wurden. Deutschland war nicht unterge-

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gangen, weder 1945 noch später, und die Ostgebiete waren nicht aus dem Jurisdiktionsbereich Deutschlands entlassen worden. Erst mit dem Zwei-PlusVier-Vertrag 1990 verlor Deutschland die territoriale Souveränität über die Gebiete östlich von Oder und Neiße. Mit der Wiedervereinigung war Blumenwitz auch keineswegs ein Bereich wissenschaftlicher Befassung abhanden gekommen; vielmehr gab es viele Folgeprobleme zu lösen. Allerdings konnte man sich jetzt in ruhigerem politischen Fahrwasser, ohne politisch motivierte Anfeindung gewärtigen zu müssen, den Rechtsfragen widmen. Nun baute er mit an der Brücke, die von der Europäischen Gemeinschaft zu den Staaten Osteuropas führen musste, um dadurch zur Entwicklung der Demokratie in diesen Staaten und damit zur Einheit des ganzen Europas und zum Frieden beizutragen. Im Jahre 1971 legte Blumenwitz seine Habilitationsschrift mit dem Titel „Der Schutz innerstaatlicher Rechtsgemeinschaften beim Abschluss völkerrechtlicher Verträge“ vor. Die mit dem Abschluss völkerrechtlicher Verträge zusammenhängenden völkerrechtlichen sowie staats- und verfassungsrechtlichen Fragen standen seit Jahren im In- und Ausland im Brennpunkt des wissenschaftlichen Interesses. Um Frieden und Gerechtigkeit in den zwischenstaatlichen Beziehungen aufrecht zu erhalten, tendierte man dazu, innerstaatliche Rechtsgemeinschaften neben dem Gesamtstaat in die völkerrechtlich beachtliche Sphäre einzubeziehen. Blumenwitz beschränkte sich, im Gegensatz zu anderen wissenschaftlichen Arbeiten, in seiner Untersuchung im Wesentlichen auf einen Aspekt des Abschlusses völkerrechtlicher Verträge im Bundesstaat, nämlich auf den Schutz innerstaatlicher Rechtsgemeinschaften. Es war nicht das Ziel der Darstellung, das Bundesstaatsrecht verschiedener Verfassungsordnungen nacheinander zu untersuchen. Es wurden vielmehr übergeordnete typische Anknüpfungsmomente und Verfassungsmechanismen gefunden, durch die innerstaatliche Rechtsgemeinschaften vor der Überspielung durch den Ober- und Zentralstaat geschützt werden konnten. Die Untersuchung beschränkt sich nicht auf die Gliedstaaten der so genannten klassischen Bundesstaaten, sondern erfasst auch die modernen, in erster Linie durch die Dekolonisierung bedingten Formen verfassungsrechtlicher Dezentralisation der auswärtigen Gewalt, da gerade hier der Schutz der nicht in die volle Unabhängigkeit entlassenen Rechtsgemeinschaften vor Übergriffen des Mutterlandes relevant war. Die große Zahl der föderalen Staatsordnungen und der raschen Änderungen, denen das Bundesstaatsrecht im afroasiatischen und lateinamerikanischen Raum unterworfen war, stellte eine ganz besondere Herausforderung dar, zumal sich die föderalen Systeme in den Fragen der Kompetenzverteilung voneinander stark unterschieden. Immer wieder zog Blumenwitz Vergleiche zur US-amerikanischen Verfassungstradition und beleuchtete deren Einfluss auf die Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland. Im breiten wissenschaftlichen und geschichtli-

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chen Spektrum vielfältiger Verflechtungen zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland spielt zwar das spezifisch gemeinsame Verfassungserbe, also Gemeinsamkeiten, die nicht nur in einer allgemeinen freiheitlichen und demokratischen Tradition wurzeln, eine relativ bescheidene Rolle. Die deutschamerikanische Partnerschaft zeigte sich aber für Blumenwitz in ihren übergreifenden kulturellen Beziehungen als ein Dialog zwischen zwei Kulturen, einer älteren, der deutschen, und einer jüngeren, der US-amerikanischen. Bei der Entwicklung der Verfassungsordnung sei es umgekehrt, wie er immer wieder betonte. Die US-amerikanische Verfassung sei die ältere, die spendende Kraft, die deutsche parlamentarisch-demokratische Rechtsordnung die jüngere, die rezipierende Seite. Die deutsch-amerikanischen Beziehungen sollten nach Ansicht von Blumenwitz weiterhin von der gegenseitigen Kenntnis der großen Bandbreite der politischen und geistigen Gemeinsamkeiten getragen werden. Gerade in einer krisenreichen Zeit wie der unsrigen musste nach Ansicht von Blumenwitz den jungen Bürgern beiderseits des Atlantiks die Möglichkeit eröffnet werden, diese Gemeinsamkeit für sich selbst neu zu entdecken, ihre Horizonte zu erweitern, Klischees und Vorteile abzubauen, um so vor allem die geschichtliche Tiefe deutsch-amerikanischer Beziehungen zu begreifen. Dazu trug auch seine Einführung in das anglo-amerikanische Recht bei, die in sieben Auflagen erschienen ist. Gerade die enge Freundschaft, die Blumenwitz auch immer wieder zu den Vereinigten Staaten beschwor, hielt ihn aber niemals davon ab, sehr kritisch auch die Völkerrechtswidrigkeit US-amerikanischer Vorgehensweisen zu brandmarken. Das geteilte Deutschland stand nach Blumenwitz im Mittelpunkt des Weltgeschehens als eine Art Mikrokosmos, der auch das weltumspannende Problem der Anwendung des Selbstbestimmungsrechts in einer besonderen Weise reflektierte. Das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes konnte seiner Ansicht nach weder durch die Anwendung von Gewalt noch durch Stimmzettel entschieden werden. Dies durfte aber nicht zur Tatenlosigkeit verleiten. Rechtsargumente, wenn sie richtig geführt wurden, vermochten seiner festen Überzeugung nach sehr lange zu überleben und die politische Wirklichkeit als Integrationspunkte, als Staatsidee oder Staatsideal zu beeinflussen. Auch hier hat ihn die mittlerweile historisch gewordene Entwicklung in Mittel- und Osteuropa in jeder Hinsicht bestätigt. Während der individuelle Minderheitenschutz heute weltweit auf Zustimmung stößt, wird der kollektive Minderheitenschutz von vielen Staaten, auch in der westlichen Welt, abgelehnt. Der individuelle Minderheitenschutz reicht aber, das hat Blumenwitz immer wieder betont, nicht aus, um ethnische Minderheiten, die in ihrer angestammten Heimat unter der Herrschaft eines ethnisch differenten Mehrheitsvolkes leben, in ihrer Existenz, in der Bewahrung ihrer kulturellen Besonderheiten und ihrer spezifischen Lebensformen zu schützen; dies gilt besonders für die Erhaltung der eigenen Sprache. Insoweit

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sind kollektive Rechte – Gruppenrechte – notwendig, die je nach den Besonderheiten von Kultur, Geschichte, Größe oder Siedlungsstruktur der Minderheit unterschiedlich sein und von minderheitensprachlichen Ortstafeln bis zur Territorialautonomie reichen können. Blumenwitz erkannte das als einer der Ersten und widmete sich dem kollektiven Minderheitenschutz konzentriert in Wort und Schrift. Er zählte die Absicherung der Rechte von ethnischen Minderheiten und Volksgruppen zu den großen Herausforderungen unserer Zeit, die es wissenschaftlich aufzuarbeiten galt. Unerschrocken war seine Haltung gegenüber der Menschenrechtspolitik der Staaten des Ostens. Das freie Europa sollte sich der freiheitlichen Grundlagen seiner gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung immer wieder bewusst werden. Seine Regierungen müssten sich im Spannungszustand zwischen Staatsräson und Moral bewähren, weshalb die Verwirklichung zur Achtung der Menschenrechte beharrlich auch im Ostblock anzumahnen sei. Er sprach deutlich aus, was viele aus politischer Rücksichtnahme oder mangels Zivilcourage nur hinter vorgehaltener Hand anzudeuten wagten. Auch dem Zusammenspiel von Macht und Recht hat Dieter Blumenwitz regelmäßig seine wissenschaftliche Aufmerksamkeit geschenkt. Der besondere Akzent lag auf dem Verhältnis von zwischenstaatlichem Recht und Außenpolitik. Kann der in der Außenpolitik in Erscheinung tretende Wille souveräner Staaten überhaupt rechtlich gebunden sein? Nach Blumenwitz ist der modernen Rechtssoziologie die entscheidende Erkenntnis zu verdanken, dass die Normbefolgung auf einem sehr komplexen Geflecht von Motiven beruht, etwa Trägheit, Gewohnheit, Egoismus, Berechnung, kategorischem Imperativ, Idealismus, Vernunft, Gewissen; Normbefolgung lasse sich keineswegs auf die Angst vor staatlichem Zwang reduzieren. Zum zwischenstaatlichen Sanktionskatalog gehören danach insbesondere Selbsthilfe, Genugtuung, Ächtung, Rechtloserklärung, offizielle Feststellung einer Verfehlung, Verfall und Widerruf erworbener Rechte. Für die zwischenstaatlichen Beziehungen gelte demnach, dass nicht nur Recht sei, was durch äußere Gewalt durchgesetzt werden könne. Von echten Rechtsnormen sei vielmehr schon dann auszugehen, wenn für den Fall der Normverletzung spezifische Sanktionen vorgesehen seien. Einen solchen Sanktionskatalog – der den Völkerrechtsleugnern allerdings zu schwach erscheint – stelle das Völkerrecht zur Verfügung, weshalb ihm der Rechtscharakter nicht abzusprechen sei. Persönlichkeit und wissenschaftliches Selbstverständnis bildeten bei Dieter Blumenwitz eine Einheit. Das eine lässt sich vom andern nicht trennen. Als Lehrer wirkte er vor allem durch sein Vorbild. Niemals war er herablassend oder überlegen. Jede wissenschaftliche Meinung achtete er. Es lag ihm auch fern, seine eigene gezielt durchzusetzen oder auch nur aufzudrängen. Indoktrination war ihm wesensfremd. Er ermunterte seine Schüler, ihren Weg zu gehen. Dazu gehörte die Aufrichtigkeit und Unerschrockenheit, mit der er seine

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staats- und völkerrechtlichen Überzeugungen auch dann in der Öffentlichkeit vertrat, wenn andere schwiegen oder in die Deckung tagespolitisch opportuner Ansichten flüchteten. Er verkörperte das Ideal der „voraussetzungslosen Forschung“, die Theodor Mommsen vor etwas mehr als 100 Jahren als „diejenige Forschung“ bezeichnete, „die nicht das findet, was sie nach Zweckerwägungen und Rücksichtnahmen finden soll und finden möchte, was anderen außerhalb der Wissenschaft liegenden Zwecksetzungen dient, sondern was logisch und historisch dem gewissenhaften Forscher als das Richtige erscheint, in einem Wort zusammengefasst: Die Wahrhaftigkeit.“ Dieter Blumenwitz verstarb am 2. April 2005 nach kurzer und schwerer Erkrankung. Was ursprünglich als Festschrift zu seinem 70. Geburtstag geplant war, erscheint nun als Gedächtnisschrift. Sie soll einen Menschen ehren, der das Leben seiner Familie und seiner Mitarbeiter über Jahrzehnte bereichert hat. Bereichert nicht allein durch sein wissenschaftliches Wirken, zumal im Völkerrecht. Bereichert auch durch seine gewinnende Persönlichkeit, seine Geradlinigkeit und seine Liebenswürdigkeit im täglichen Miteinander. Die Vorbildfunktion, die er für viele von uns hatte und auch in Zukunft haben wird, war ihm wohl gar nicht bewusst. Er hat uns ganz selbstverständlich teilhaben lassen an seinen vielseitigen Interessen, an seinem umfassenden Wissen. Möge diese Gedächtnisschrift in ihrem thematischen Reichtum die Erinnerung an das vielgestaltige wissenschaftliche Werk und eine große Persönlichkeit noch lange wach halten. Winfried Bausback, Gilbert H. Gornig, Tobias H. Irmscher und Burkhard Schöbener

Inhaltsverzeichnis I. Grund- und Menschenrechte im nationalen und internationalen Recht Nadine Klass Die Menschenwürde im Spannungsfeld zwischen Paternalismus und Selbstbestimmung ................................................................................................

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Karl-Heinz Nusser Menschenwürde und Naturrecht in der modernen Demokratie am Beispiel der Kontroverse um die verbrauchende Embryonenforschung ............................

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Inge Scherer Menschenwürde verletzende Werbung ................................................................

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Matthias Wehr Grundrecht und Grundrechtsgut ..........................................................................

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Marten Breuer Die Begründung individueller Rechte in völkerrechtlichen Verträgen nichtmenschenrechtlicher Art ......................................................................................

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Franz-Ludwig Knemeyer Schutz der Bürgerrechte und Bürgerpflichten in der Kommune ......................... 111 Christian Hillgruber Der internationale Menschenrechtsstandard – geltendes Verfassungsrecht? – Kritik einer Neuinterpretation des Art. 1 Abs. 2 GG ........................................... 123 Markus Kotzur Religionsfreiheit im religiös neutralen Verfassungsstaat. Ein universelles Projekt ................................................................................................................. 143 Eric Hilgendorf Der neue religiöse Fundamentalismus als Gefährdung der Menschenrechte. Eine Problemskizze ............................................................................................. 165 Jun Sun Über die Wissenschafts- und Forschungsfreiheit in China. Ein Vergleich mit Deutschland ......................................................................................................... 181 Walter Leisner „Eigentum als Menschenrecht“ – weder nach deutschem noch nach Völkerrecht geschützt .......................................................................................... 195 Claus Ahrens Eigentumsgarantie und immaterielle Güter – zugleich ein Beitrag zu dem Verhältnis von Grundrechtsschutz und zivilrechtlichen Positionen .................... 211

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Inhaltsverzeichnis

Peter M. Huber Geistiges Eigentum und unionales Wettbewerbsrecht ........................................ 229 Christian Malzahn Rechtshilfe und Rechtsstaat. Zur Gewährleistung der Grund- und Menschenrechte sowie fundamentaler Rechtsstaatsgarantien bei der Klagezustellung in Deutschland ......................................................................................................... 241 Dorothee von Arnim Die Verwertbarkeit widerrechtlich erlangter Beweismittel in Fällen der Verletzung der Selbstbelastungsfreiheit („nemo tenetur se ipsum accusare“) nach deutschem Recht und nach der Europäischen Menschenrechtskonvention ......... 265 Helmut Baier Der Schutz der Menschenrechte durch Strafpflichten auf der Basis der Europäischen Menschenrechtskonvention ........................................................... 293 Frank Zieschang Der Schutz des Einzelnen im materiellen Strafrecht vor unzulässigen Vernehmungsmethoden. Zur Anwendbarkeit des Tatbestands der Aussageerpressung bei doppelfunktionalem Handeln ......................................... 313 Bianca Selejan-GuĠan Romania and the European Court of Human Rights: Highlights of the Recent Case-Law ................................................................................................. 331 Winfried Bausback Die stigmatisierende Wirkung des Rechtsbruchs als wichtiger Durchsetzungsmechanismus – aufgezeigt am völkerrechtlichen Folterverbot ............................ 343 Dieter Fleck Extraterritorial Implementation of Human Rights Obligations: A Challenge for Peacekeepers, Sending States and International Organisations ..................... 365 Tobias H. Irmscher Der Verpflichtungskonflikt der Staaten im Falle der intelligenten Sanktionen des UN-Sicherheitsrats ........................................................................................ 383 Gilbert H. Gornig Menschenrechte und Naturrecht .......................................................................... 409

II. Recht der Minderheiten und Volksgruppen Kurt Kuchinke Volksgruppenschutz und Integration. Anmerkungen zum Schutz von Minderheiten und Volksgruppen ......................................................................... 435 Burkhard Schöbener Die wahlrechtliche Privilegierung von Minderheiten – völkerrechtliche Vorgaben und innerstaatliche Ausgestaltung in der Bundesrepublik Deutschland .... 455 Christoph Pan Bedroht das weltweite Sprachensterben auch Europa? ....................................... 487 József Petrétei Die Wahl der Abgeordneten in den Selbstverwaltungen der nationalen und ethnischen Minderheiten in Ungarn ..................................................................... 505

Inhaltsverzeichnis

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Monica Vlad Das demokratische Leben der Siebenbürger Sachsen am Beispiel der Gemeinde Felmern .............................................................................................. 529 Heinrich Scholler Menschenrechte und Minderheitenschutz im Verfassungsrecht Äthiopiens ....... 537

III. Völkerrecht und internationale Beziehungen Thomas Bruha und Katrin Alsen Democracy and International Law: Reflections on Current Trends and Challenges ........................................................................................................... 555 Markus Pallek Einige Anmerkungen zum Weltgipfel der Vereinten Nationen 2005 .................. 577 Olaf Sosnitza Der Einfluss des Völkerrechts auf das Recht der geografischen Herkunftsangaben ............................................................................................................... 597 Klaus Laubenthal Kriminologische Definitionsansätze politischer Kriminalität .............................. 625 Rupert Scholz Freiheitlicher Rechtsstaat als internationaler Politikauftrag – oder: Anmerkungen zu Terrorismus, Extremismus und Autoritarismus .............. 639 Waldemar Hummer und Jelka Mayr-Singer „Hacer desaparecer“ und „impunidad“. Das „Verschwindenlassen“, seine Sanktion und Pardonierung ................................................................................. 653 Michael Silagi Archive und Vertreibung ..................................................................................... 707 Alfred de Zayas The Illegal Implantation of Turkish Settlers in Occupied Northern Cyprus ........ 721 Paul-Ludwig Weinacht Eroberungskrieg bei Machiavelli, Vitoria, Montesquieu und Kant ..................... 731 Christian Poplutz Opus iustitiae pax. Anmerkungen zu einem zentralen Topos der Friedenslehre der katholischen Kirche ....................................................................................... 751

IV. Europarecht Rupert Stettner Zwischen Integration und Zerfall: Die „Verstärkte Zusammenarbeit“ des Unionsrechts ........................................................................................................ 779 Füsun A. Arsava Die Beziehungen zwischen der Türkei und der Europäischen Union und die neuen Entwicklungen .......................................................................................... 799 Norbert Riedel Wer sind die Herren der Europäischen Verfassung? ........................................... 811

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Inhaltsverzeichnis

Rudolf Streinz Gott im Verfassungsrecht – warum nicht im EU-Verfassungsvertrag? ............... 823 Hans Zehetmair Anmerkungen zum unterlassenen Gottesbezug im Europäischen Verfassungsvertrag .............................................................................................. 849

V. Verfassungsrecht Peter Häberle Pädagogische Briefe an einen jungen Verfassungsjuristen – Skizze eines Projekts ........................................................................................... 861 Günter Spendel Zur deutschen Nationalhymne ............................................................................. 869 Fabian Wittreck „Republik“ als verfassungsunmittelbare Grundrechtsschranke? ......................... 881 Dietrich Murswiek Verfassungsschutz-Mitarbeit als staatsbürgerliche Obliegenheit? ....................... 901

VI. Wirtschafts- und Währungsrecht Josef Isensee Rechnungsprüfung im Ausland – ein Grenzproblem des Staatsrechts ................. 929 Ralf Jahn Zum verfassungsrechtlichen Schutz der IHK-Tätigkeit ....................................... 947 Michael Hakenberg Die Kollisionsnormen des Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetzes – anwendbares Recht und Aufsichtszuständigkeit nach Umsetzung der Übernahmerichtlinie ............................................................................................ 963 Franz-Christoph Zeitler Die Unabhängigkeit der Notenbank – institutionelle Voraussetzung für Wachstum und Wohlstand ................................................................................... 981 Ludwig Gramlich Grundrechtsschutz gegenüber Zentralbanken, am Beispiel der Europäischen Zentralbank und der Deutschen Bundesbank ................................ 1001 Ulrich Häde Die Pflicht zur Anhörung der Europäischen Zentralbank nach Art. 105 Abs. 4 EGV ........................................................................................... 1027

VII. Ausländisches öffentliches Recht László Kiss Gedanken über die Hochschulautonomie ............................................................ 1049

Inhaltsverzeichnis

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Friedrich Dehner Im Land der Skipetaren. Zum Stand des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes in der Republik Albanien ........................................................... 1069 Yongping Ge Hong Kong’s International Legal Status and Treaty-Making Competence ......... 1081 Teodoro Ribera Neumann Verfassungsrechtliche Grundlagen der Wirtschaftsordnung in Chile .................. 1103

VIII. Rechtsgeschichte und juristische Zeitgeschichte Christian Raap Die Kontinuität des Johanniterordens .................................................................. 1129 Oliver Remien Menschenrechte und Unrechtsetzung – der Code Noir von 1685 und das europäische Sklavenrecht .................................................................................... 1145 Fritz Sturm Napoléon III était-il Confédéré? .......................................................................... 1159 Manuel GuĠan The Administrative (Authoritarian) Monarchy. A Paradigm for the Constitutional Realism in Modern Romania? ...................................................... 1169 Dietmar Willoweit Besatzungsrecht und Kollaboration. Überlegungen zum Baltikum im Zweiten Weltkrieg ............................................................................................... 1183 Jan Dirk Harke Eigenschaftsirrtum und culpa in contrahendo unter dem Zivilgesetzbuch der DDR .............................................................................................................. 1205 Eckart Klein Grundlagenvertragsurteil – Revisited .................................................................. 1219 Theodor Waigel Die Stationen auf dem Weg zur Deutschen Einheit ............................................. 1237

Schriftenverzeichnis Dieter Blumenwitz ................................................................... 1247 Autorenverzeichnis ................................................................................................... 1277

I. Grund- und Menschenrechte im nationalen und internationalen Recht

Die Menschenwürde im Spannungsfeld zwischen Paternalismus und Selbstbestimmung Nadine Klass

I. Der Schutz des Menschen vor sich selbst oder die Frage nach der Disponibilität der Menschenwürde 1. Die Aktualität der Fragestellung Die Frage, ob sich die Gewährleistung der Menschenwürde auch gegen ihren Träger richten kann, ob der Staat also ein Handeln des Einzelnen mit dem Argument verbieten kann, es verstoße gegen dessen individuelle Menschenwürde, ist nicht neu. Dennoch ist sie aktueller denn je. Zwar geht es nicht mehr um altbekannte Beispiele, wie den „Versklavungsvertrag“, doch finden sich gerade in der modernen Medien- und Unterhaltungswelt ganz neue Formen der „Versklavung“. 1 Insbesondere die aktuellen Entwicklungen in der deutschen Fernsehlandschaft ließen daher in den vergangenen Monaten und Jahren den zweifelhaften Ruf nach Zensur und einem Einschreiten – nicht nur seitens der Medienwächter, sondern auch seitens der Öffentlichkeit – immer lauter werden. 2 Um der eigenen Auffassung in der allgemeinen Aufgeregtheit mehr Nachdruck zu verleihen, besann man sich in diesem Zusammenhang oft auf die ___________ 1

Ausdruck dieser Medientendenzen sind beispielsweise Formate des Realitätsfernsehens, in denen Teilnehmer eine 23-stündige Dauerbeobachtung über sich ergehen lassen oder Fernsehshows, die einem modernen Pranger ähnlich sind, weil Menschen regelrecht zur Selbstbezichtigung gezwungen werden. 2 Eine breite und gegensätzliche Diskussion löste beispielsweise das Format „Big Brother“ aus. Politiker, Psychologen und Medienwächter forderten ein Verbot des Formats, da dieses auch die Menschenwürde verletze. So bezeichnete beispielsweise der Vorsitzende der Rundfunkkommission der Länder Kurt Beck das Format als „Menschenexperiment“ und forderte ein Verbot der Sendung, da diese die grundgesetzlich geschützte Würde tangiere (siehe „Die Menschenwürde geht vor“, Interview mit dem rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten K. Beck, Saarbrücker Zeitung v. 25.01.2000, S. 3, sowie Frankfurter Rundschau v. 25.01.2000). Und auch der Direktor der zuständigen Hessischen Landesanstalt für privaten Rundfunk Wolfgang Thaenert machte deutlich, dass mit Blick auf die Verbürgung der Menschenwürde geprüft werden müsse, ob aufsichtsrechtliche Mittel einzusetzen sind (vgl. Pressemitteilung der LPR Hessen v. 24.01.2000, abrufbar unter http://www.lpr-hessen.de [20.09.2006]). Die Teilnehmer selbst sahen in einem potenziellen staatlichen „Schutz“ eher eine Einschränkung ihrer Selbstbestimmungsfreiheit und betonten immer wieder, dass sie freiwillig handelten.

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gern instrumentalisierte Gewährleistung der im Grundgesetz verankerten Menschenwürde, die einige in erheblicher Gefahr sahen. Sicherlich kommt man nicht umhin, eine bedenkliche Entwicklung in der heutigen Medien- und Unterhaltungslandschaft zu konstatieren. Dennoch erscheint es äußerst fraglich, ob die Garantie der Menschenwürde, der „höchste Rechtswert“ 3 der Verfassung, das Mittel der Wahl sein sollte, um den zum Teil unerwünschten Entwicklungen entgegenzuwirken. In diesem Kontext stellt sich deshalb die Frage, ob die verfassungsrechtlich geschützte Menschenwürde als Instrument dienen kann, dem Individuum ein fremdbestimmtes, objektiviertes Menschenbild aufzuerlegen und mit Hilfe dieses kreierten Bildes, Handlungen Einzelner einzuschränken, um sie „vor sich selbst“ zu schützen. Die Fragen, die im Rahmen dieses Beitrages beantwortet werden sollen, sind daher: Kann bei Bestehen von Willensfreiheit ein Menschenwürdeverstoß angenommen werden mit der Konsequenz, dass es dem Staat erlaubt ist, auch gegen den Willen des Betroffenen zu dessen „Schutz“ Maßnahmen zu ergreifen? Kann der Staat also dem Individuum Handlungen auf der Grundlage der Menschenwürdeverbürgung untersagen, weil er sich um dessen „Wohlergehen“ sorgt? Oder schließt freiwilliges und informiertes Handeln eine Menschenwürdeverletzung aus mit der Folge, dass auch keine Schutzpflicht 4 besteht? Ist dem Staat die Definition der Menschenwürde anheim gestellt oder definiert sich diese in erster Linie als ein Merkmal des Einzelnen? Gibt es also eine Verpflichtung zum „würdigen“ oder „richtigen“ Menschsein?

2. Die Frage nach der Definitionsbefugnis der individuellen Menschenwürde – wer bestimmt, was dem Einzelnen würdig ist? a) Der Begriff Paternalismus und seine Bedeutung für die nachfolgende Diskussion Die Frage, ob der Staat wohlwollend die Freiheit des Einzelnen beschränken kann, um ihn vor sich selbst zu schützen, stellt sich in vielen Bereichen des privaten und öffentlichen Lebens. Immer dann, wenn sich der Einzelne freiwillig in riskante Situationen begibt, in denen niemand zu Schaden kommen kann ___________ 3 BVerfGE 6, 32 (36); ähnlich auch schon BVerfGE 5, 85 (204): „oberster Wert in der freiheitlichen Demokratie“; vgl. zudem BVerfGE 12, 45 (53); 27, 1 (6) u. a. 4 Aufgrund der Schutzpflichtfunktion der Menschenwürde, die schon im Wortlaut der Norm (Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG) deutlich zum Ausdruck kommt, ist der Staat verpflichtet, alle Menschenwürdeverletzungen seitens Dritter oder seitens des Staates zu untersagen und zu ahnden.

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außer er selbst, stellt sich die Frage nach der Zulässigkeit paternalistischen Handelns. 5 Paternalismus als Grundbegriff kann beschrieben werden als die fürsorgliche Beschränkung eines Individuums durch Dritte oder den Staat. 6 Paternalistisch motivierte Einschränkungen finden mithin nicht statt, um die Interessen Dritter oder der Allgemeinheit zu schützen, sondern weil man die Fähigkeit des Einzelnen bezweifelt, seine Freiheit und seine Möglichkeiten sinnvoll zu nutzen. 7 Allerdings wird im Zusammenhang mit dem Begriff des Paternalismus zwischen dem „harten“ 8 und dem „weichen“ 9 Paternalismus unterschieden. 10 Während der „weiche“ Paternalismus als „Autonomie-fördernd“ angesehen werden kann und damit dem allgemeinen Prinzip volenti non fit iniuria Rechnung trägt, steht der „harte“ Paternalismus oftmals in Widerspruch zum aktuellen Willen des Betroffenen – wird aber damit zu rechtfertigen versucht, dass er auf sein „Wohlergehen“ gerichtet ist, sei es weil von dem Betroffenen Schaden abgewendet werden soll oder der Glaube besteht, man wisse besser, was wirklich „gut“ für ihn ist. 11 Maßnahmen, die auf dem Gedanken des „harten“ Paternalismus beruhen, beschränken die Freiheit des Einzelnen mithin trotz eines autonomen und in der ___________ 5 Die Frage eines möglichen Schutzes vor sich selbst stellt sich zum Beispiel bei Selbstgefährdungen der körperlichen Unversehrtheit infolge Drogenkonsums, bei der Ausübung von Risikosportarten, aber auch in Bezug auf Gefährdungen der Persönlichkeits- und Vermögenssphäre. 6 Zum Begriff Paternalismus (vom lateinischen pater = Vater) siehe Stanford Encyclopedia of Philosophy, Stichwort: Paternalism, abrufbar unter http://plato.stanford. edu (20.09.2006). 7 Möller, K., Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 12. 8 Im Allgemeinen werden vier wesentliche Merkmale als charakteristisch für Maßnahmen des harten Paternalismus angesehen (nach Pope, T. M., Counting the Dragon’s Teeth and Claws: The Definition of Hard Paternalism, in: 20 Georgia State University Law Review 2004, S. 659, 683 f.). Erstens: Die Maßnahme beschränkt die Freiheit des Einzelnen – zielt gewissermaßen auf eine Beschränkung ab. Zweitens: Das Motiv für die Beschränkung der Freiheit ist subjektbezogen („subject-focused“). Es geht dem Handelnden also darum, Schaden von dem Einzelnen abzuwenden oder ihm „Gutes“ zu tun. Drittens: Die Motivation für das Handeln ist unabhängig von den Präferenzen des Betroffenen. Oftmals steht das Handeln gar im Gegensatz zu den Wünschen und dem Willen des Betroffenen. Viertens: Dem Einschränkenden ist es gleichgültig, ob der Betroffene sich freiwillig in die Situation begeben hat oder er handelt bewusst und in Kenntnis des entgegenstehenden autonomen Willens. 9 Zum Begriff des „weichen“ Paternalismus und der Frage, ob diese Form überhaupt noch als Paternalismus bezeichnet werden sollte, siehe Möller (Fn. 7), S. 16 ff. 10 Im Englischen ist meistens von „hard/strong paternalism“ und „weak/soft paternalism“ die Rede. Zu Begriff und Arten des Paternalismus vgl. u. a. Enderlein, W., Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 7 ff., sowie Möller (Fn. 7), S. 11 ff. 11 Pope (Fn. 8), S. 660, 679 ff.

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Entscheidungsfindung nicht zu beanstandenden Willens. 12 Es wird vielmehr ein fremdbestimmtes, objektives Konzept angesetzt, dass dem Einzelnen in fürsorglicher Weise vorschreibt, was optimal für ihn ist. Damit werden auch autonome, auf einer ausreichenden Informationsbasis getroffene Entscheidungen für unwirksam erklärt, weshalb derartige Maßnahmen nicht nur in juristischer Hinsicht problematisch sind, sondern auch bei Laien auf Unverständnis treffen. So wird gemeinhin zwar akzeptiert, dass die eigene Freiheit im Interesse anderer Menschen oder im Allgemeininteresse eingeschränkt werden kann – die spezifische Zwecksetzung paternalistisch begründeter Eingriffe stößt hingegen vielfach auf Unmut. 13 Anders verhält es sich mit Maßnahmen und Einschränkungen, die auf dem Gedanken des „weichen“ Paternalismus beruhen. Sie zielen vielmehr darauf ab, Individuen vor Eingriffen und Schäden zu schützen, zu welchen sie gerade keine Einwilligung erteilt haben, beziehungsweise sicherzustellen oder zu bestätigen, dass das Individuum tatsächlich selbstbestimmt einer Behandlung oder Maßnahme zugestimmt hat. 14 „Weicher“ Paternalismus garantiert mithin autonome und informierte Entscheidungen – er hinterfragt sie jedoch nicht auf ihre Sinnhaltigkeit und setzt sich insbesondere nicht über sie hinweg. Lediglich Entscheidungen, deren Entscheidungsgrundlage fragwürdig ist, die das Produkt von Falsch- oder Fehlinformation sind oder die durch Täuschung oder Drohung herbeigeführt wurden, werden kritisch hinterfragt und eingeschränkt. Maßnahmen des „weichen“ Paternalismus werden daher gemeinhin als zulässig erachtet.

b) Die Menschenwürde als besondere Herausforderung? Wie stellt sich die im Zusammenhang mit verschiedenen Grundrechten bekannte Paternalismus-Debatte 15 nun im Zusammenhang mit der speziellen Verbürgung der Menschenwürde dar? Können bekannte Muster übertragen werden oder erfordert die Menschenwürde eine gesonderte Behandlung? ___________ 12

Pope (Fn. 8), S. 685. So auch Möller (Fn. 7), S. 12. 14 Pope (Fn. 8), S. 684. 15 Siehe zum Beispiel die ausführliche Auseinandersetzung bei Hillgruber, C., Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992; Littwin, F., Grundrechtsschutz gegen sich selbst: Das Spannungsverhältnis von grundrechtlichem Selbstbestimmungsrecht und Gemeinschaftsbezogenheit des Individuums, 1993. Des Weiteren Enderlein (Fn. 10); Fischer, K., Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, 1997; Schwabe, J., Der Schutz des Menschen vor sich selbst, in: JZ 1998, S. 66 ff., sowie aus neuerer Zeit Möller (Fn. 7). 13

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Klar ist zumindest, dass diese Problematik aufgrund der einzigartigen rechtstechnischen Ausgestaltung der Menschenwürdegewährleistung auf die Frage der Definitionsbefugnis hinauslaufen wird. Wem ist diese anheim gestellt – dem Staat, der einen objektiven Maßstab anlegt oder dem Individuum? Art. 1 Abs. 1 GG erhebt die Würde des Menschen zum obersten Gut der Verfassung und erklärt sie für unantastbar. Schon allein die systematische Stellung dieser Gewährleistung verdeutlicht, dass es sich bei der Menschenwürde um ein „tragendes Konstitutionsprinzip“ 16 des Grundgesetzes handelt. Im Zusammenspiel mit der in Art. 79 Abs. 3 GG niedergelegten Unabänderlichkeit, der strikten Formulierung, dem Verzicht auf Schranken sowie dem Nebeneinander von Antastungsverbot und Schutzverpflichtung zeigt sich, dass die Garantie der Menschenwürde nicht nur ein tragendes Prinzip und der „höchste Rechtswert“ 17 ist, sie ist vielmehr in ihrer Ausgestaltung einzigartig und bereitet aufgrund dieser Singularität nicht unerhebliche „Anwendungsprobleme“. So betonen nicht nur Vertreter in der Literatur, dass aufgrund der Reichhaltigkeit der Vorstellungen über Würde in der Vergangenheit und Gegenwart sowie aufgrund der Natur des Begriffs eine exakte Definition ausscheidet, 18 sondern auch das Bundesverfassungsgericht erklärt regelmäßig, dass sich nicht generell ausdrücken lasse, unter welchen Umständen die Menschenwürde verletzt sein kann, „sondern nur in Ansehung des konkreten Falls“. 19 Dennoch haben sich im Laufe der Zeit Verletzungskategorien und Beurteilungsmaßstäbe herausgebildet, die der Menschenwürde erste Konturen verleihen. 20 ___________ 16

(399). 17

BVerfGE 6, 32 (36); 30, 1 (39); siehe auch jüngeren Datums BVerfGE 96, 375

Siehe oben Fn. 3. Vgl. hierzu Geddert-Steinacher, T., Menschenwürde als Verfassungsbegriff: Aspekte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 1 Abs. 1 GG, 1990, S. 25; Kunig, P., in: Münch, I. v. / Kunig, P. (Hrsg.) Grundgesetz-Kommentar, Band I (Präambel – Art. 19), 5. Aufl. 2000, Art. 1 Abs. 1 GG, Rn. 22; Di Fabio, U., Schutz der Menschenwürde durch Allgemeine Programmgrundsätze – Rechtsgutachten im Auftrag der Bayerischen Landeszentrale für Neue Medien (BLM), 2000, S. 19. Zum Nachteil von Nichtdefinition und Negativdefinition siehe Dreier, H., in: Dreier, H. (Hrsg.) Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1 (Art. 1-19), 2. Aufl. 2004, Art. 1 Abs. 1 GG, Rn. 52. 19 BVerfGE 30, 1 (25). 20 Als brauchbares Instrument für eine erste Annäherung hat sich dabei beispielsweise die von Dürig, G. (siehe z. B. AöR, Bd. 81 (1956), S. 117, 127) entwickelte und von der Literatur und Rechtsprechung allgemein anerkannte „Objektformel“ erwiesen (siehe Nachweise bei Klass, N., Rechtliche Grenzen des Realitätsfernsehens. – Ein Beitrag zur Dogmatik des Menschenwürdeschutzes und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, 2004, S. 129), nach der es „der menschlichen Würde (widerspricht), den Menschen zum bloßen Objekt im Staate zu machen“ (so BVerfG 9, 89 [95]; BVerfG 45, 187 [228] u. a.). Allerdings gibt es auch kritische Stimmen, siehe Dreier (Fn. 18), Rn. 53. Zu weiteren z. T. alternativen Konkretisierungsversuchen vgl. beispielsweise GeddertSteinacher (Fn. 18), S. 110 ff., sowie Höfling, W., in: Sachs, M. (Hrsg.) Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl. 2007, Art. 1 Abs. 1 GG, Rn. 19 ff. 18

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An dieser Stelle soll jedoch bewusst nicht der inhaltliche Schutzbereich der Würde im Zentrum der Überlegungen stehen – vielmehr soll der Frage der Disponibilität der Würde nachgegangen werden. Diese Frage wird fälschlicherweise oft unter dem unpassenden Begriff des „Grundrechtsverzichts“ behandelt. Diese Kategorisierung ist jedoch irreführend, denn der Einzelne, der sich in einer bestimmten Weise präsentiert oder zu einer bestimmten Behandlung seitens Dritter einwilligt, will gerade nicht auf seinen Menschenwürdeanspruch verzichten. 21 Vielmehr definiert er seine Würde in einer bestimmten Art und Weise – lebt mithin sein Verständnis eines würdigen Lebens. Es geht also hier vielmehr darum zu bestimmen, in welchen Grenzen der Einzelne selbst entscheiden kann, was seiner Würde entspricht. Muss die Menschenwürde verstanden werden als die Würde einer freien Persönlichkeit, die sich und ihre Würde autonom und wertfrei definieren kann oder ist vielmehr ein objektives, unter Umständen wertkonservatives, Verständnis anzulegen. Bezüglich des Schutzumfangs der Menschenwürde soll an dieser Stelle lediglich festgehalten werden, dass die Garantie der Menschenwürde trotz ihrer Offenheit für das gesamte Spektrum menschlichen Verhaltens nicht als Norm gegen schlechte Moral oder mangelnden Geschmack dienen kann und darf. 22 Sie schützt vielmehr „lediglich“ den absoluten Kernbereich menschlicher Existenz 23 und markiert damit eine letzte Tabugrenze, weshalb ein restriktives Verständnis angebracht ist. 24 Das bedeutet, dass die Menschenwürde weder instrumentalisiert noch leichtfertig ins Spiel gebracht werden sollte, denn was zu oft beschworen wird, nutzt sich schnell ab. 25 ___________ 21 So auch Olshausen, H. v., Menschenwürde im Grundgesetz: Wertabsolutismus oder Selbstbestimmung?, NJW 1982, S. 2221, 2222; Gersdorf, H., Medienrechtliche Zulässigkeit des TV-Formats „Big Brother“, 2000, S. 36. 22 Frotscher, W., Real Life Soaps und Menschenwürde, in: Weber, F. (Red.), Big Brother, 2000, S. 333 (335), weist in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hin, dass „nicht jede persönliche oder gruppenspezifische, weltanschaulich-moralisch oder theologisch begründete Auffassung von ‚richtig‘ verstandener Menschenwürde über Art. 1 Abs. 1 GG in Verfassungsrang erhoben werden und zur verbindlichen Richtschnur für das Leben der Mitbürger gemacht werden kann.“ Ähnlich auch Di Fabio (Fn. 18), S. 26. 23 Siehe beispielsweise auch Starck, Ch., in: Mangoldt, H. v. / Klein, F. / Starck, Ch., Das Bonner Grundgesetz, Band I (Art. 1-19), 5. Aufl. 2005, Art. 1 Abs. 1 GG, Rn. 14 ff., der insoweit von den „elementarsten Belangen des Menschen“ spricht. 24 Aus diesem Grund ist auch stets eine sorgfältige Begründung erforderlich, wenn angenommen werden soll, dass der Gebrauch eines Grundrechts auf die unantastbare Menschenwürde durchschlägt. Siehe hierzu beispielsweise BVerfGE 93, 266 (293). 25 Siehe in diesem Zusammenhang auch Geddert-Steinacher (Fn. 18), S. 16 f., die darauf hinweist, dass die Menschenwürde zum „trojanischen Pferd“ zu werden drohe, durch das verschiedenartigste Weltanschauungen in das Verfassungssystem eingeschleust werden.

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Auch die Frage, ob der Einzelne seine Menschenwürde verletzen kann mit der Folge, dass der Staat ihm dieses „menschenwürdeverletzende“ Verhalten verbieten kann, stellt sich daher tatsächlich nur sehr selten. Dies indiziert jedoch zugleich, dass es sich dann meist um für den Einzelnen bedeutsame Ereignisse handeln wird. Der Ansatz der Fragestellung verdeutlicht zudem, dass es in diesem Beitrag nicht um die Menschenwürde in ihrer gesamten Breite geht, sondern „nur“ um die Verbürgung der Menschenwürde in ihrer individuellen Schutzrichtung. 26 Neben dem individualschützenden Charakter, der die Menschenwürde in erster Linie prägt, kommt der Garantie in Artikel 1 Abs. 1 GG auch eine objektive Funktion zu, denn sie ist zudem Staatsfundamentalnorm und soll als Prinzip einen objektiven Bestand an Werten sichern und damit garantieren, dass individuelle Würde überhaupt möglich ist, indem sie die Grundlagen der Verfassung schützt und auch als Schutzwall gegen einen von der Mehrheit konsentierten Wertewandel dient. 27 Will die Verfassung nicht ihre eigenen Voraussetzungen preisgeben, so muss sie bei aller Großzügigkeit gegenüber gesellschaftlichen und pluralistischen Veränderungen und Wandlungen doch einen gewissen „Kernbestand an Werten verteidigen; gerade hierin liegt die zeitlose Bedeutung des Art. 1 Abs. 1 GG als fundamentale, richtunggebende Festlegung des Gemeinwesens“. 28 Nicht zu verwechseln ist diese objektive Schutzrichtung jedoch mit einem objektiven Verständnis der Menschenwürde, das nach wie vor vertreten wird und nach Ansicht mancher auch gezielt gegen den Einzelnen im Sinne eines Grundrechtsschutzes gegen sich selbst eingesetzt werden könnte. 29 Die individuelle und die objektive Schutzrichtung sind vielmehr – insbesondere mit Blick auf die vorliegende Untersuchung – zu unterscheiden. 30 Hier geht es nicht um die Frage, ob im Interesse der Gemeinschaft bestimmte Werte und Vorstellungen erhalten bzw. durchgesetzt werden können. 31 Statt___________ 26

Die Menschenwürde ist zuvorderst eine Garantie für jeden einzelnen Menschen. Sie zu achten und zu schützen ist oberste staatliche Pflicht. Wird die Würde einer Person von dritter Seite tangiert, aktualisiert sich die staatliche Schutzpflicht und der Staat ist zum Handeln verpflichtet. 27 Vgl. zu den einzelnen Schutzrichtungen der Menschenwürde Klass (Fn. 20), S. 141 f., sowie speziell zur objektiven Dimension S. 178 ff. 28 Di Fabio (Fn. 18), S. 38 f. 29 Siehe beispielsweise Hinrichs, U., „Big Brother und die Menschenwürde“, in: NJW 2000, S. 2173-2176, sowie Gern, A., Menschenwürde und gute Sitten, in: NJW 1983, S. 1585-1590. 30 Die spezifische Zwecksetzung einer Maßnahme ist für ihre rechtliche Beurteilung, insbesondere für ihre Rechtfertigung, unerlässlich. 31 Es geht also beispielsweise nicht darum, ob die Ausstrahlung bestimmter Filme untersagt werden kann, weil diese darauf angelegt sind „beim Betrachter eine Einstel-

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dessen wird gefragt, welcher Maßstab bei der Definition der individuellen Menschenwürde des Einzelnen angelegt werden muss – ein individueller oder ein objektiver? Gefragt wird daher, ob der Staat schützend eingreifen kann oder muss, weil der Akteur durch sein Tun seine eigene Menschenwürde verletzt (unabhängig davon, ob die Gesellschaft an sich davon negativ betroffen ist) – oder, ob dies per se ausgeschlossen ist, weil der Träger selbst bestimmt, was seiner Würde entspricht und somit ein rein subjektives Verständnis ausschlaggebend ist und eine Maßnahme im Interesse des Individuums damit ausscheidet.

c) Ein objektives Menschenwürdeverständnis – überholt? Hinsichtlich der Frage, welches Verständnis der Menschenwürde vorzugswürdig ist, besteht nach wie vor keine Einigkeit in Literatur und Rechtsprechung.32 Auch wenn die wohl bekannteste „Fürsorge“-Entscheidung im Zusammenhang mit der Gewährleistung der Menschenwürde, die „Peep-Show“Entscheidung33 mittlerweile schon über 20 Jahre alt ist und zu einem kontroversen Diskurs führte,34 wird die ihr zugrunde liegende antiquierte Beurteilung ___________ lung zu erzeugen oder zu verstärken, die den fundamentalen Wert- und Achtungsanspruch leugnet, der jedem Menschen zukommt“ (vgl. VG Hannover, AfP 1996, 205, 206 sowie VG Hannover, AfP 1996, 201, 204) oder „weil der Betrachter zur bejahenden Anteilnahme an den Schreckensszenen angeregt wird“ (BVerfGE 87, 209 [229 f.]). Schon die Formulierungen der Gerichte im Zusammenhang mit Gewaltdarstellungen im Fernsehen zeigt, dass es hier nicht um den einzelnen Akteur geht (selbst, wenn es sich nicht um fiktionale Werke handelt), sondern, dass hier der Schutz des Gemeinwesen ausschlaggebendes Motiv ist. 32 Siehe hierzu die ausführliche Auseinandersetzung mit den verschiedenen Ansichten in Literatur und Rechtsprechung bei Klass (Fn. 20), S. 148-178. 33 BVerwG NJW 1982, 664 f. 34 Die Entscheidung erntete reichlich Kritik (einige unterinstanzliche Urteile folgten dem BVerwG nicht, vgl. in diesem Zusammenhang VG München, NVwZ 1983, 693 ff., und OVG Hamburg, GewArch 1987, 298 ff.). Besondere Beachtung muss zudem das Urteil des VG Berlin, NJW 2001, 983 ff., zum Widerruf einer Gaststättenerlaubnis wegen Anbahnung der Prostitution finden, in der das VG sehr deutlich Stellung bezog, indem es klarstellte, es gebe keine Verpflichtung des Menschen zum „richtigen“ Menschsein, die Menschenwürde sei vielmehr auch dann gewahrt, wenn der Einzelne die Möglichkeit freier Selbstgestaltung zur Selbsterniedrigung missbrauche. Fazit und Leitsatz der Entscheidung lautet daher: „Wer die Menschenwürde der Prostituierten gegen ihren Willen schützen zu müssen meint, vergreift sich in Wahrheit an ihrer von der Menschenwürde geschützten Freiheit der Selbstbestimmung und zementiert ihre rechtliche und soziale Benachteiligung“. Und auch in der Literatur finden sich kritische Stimmen, siehe beispielsweise Olshausen (Fn. 21), S. 2221 ff.; sowie Stober, R., Die Entwicklung des Gewerberechts in den Jahren 1982/1983, in: NJW 1984, S. 2499 ff. Jedoch gab es auch Beifall. Zustimmend insofern Gern (Fn. 29), S. 1585 ff.; Gronimus, A., Forum: Noch einmal Peep-Show und Menschenwürde, in: JuS 1985, S. 174 ff.; Redeker, M., Peep-Show und Menschenwürde. – Ein Beitrag zur Interpretation von Art. 1 Abs. 1

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der Menschenwürdegarantie nach wie vor vertreten. Damals wie heute findet daher die Aussage des Bundesverwaltungsgerichts „die Würde des Menschen ist ein objektiver, unverfügbarer Wert (...), auf dessen Beachtung der Einzelne nicht verzichten kann“ 35 und mit ihr ein Grundrechtsschutz gegen sich selbst basierend auf einem objektiven Menschenwürdeverständnis Unterstützung im Schrifttum 36 : die Definition der individuellen Würde sei nicht dem Einzelnen überlassen, selbstbestimmtes Handeln sei irrelevant – vielmehr müsse ein objektiviertes Verständnis der Würde Vorrang haben. 37 Auch wenn sowohl das Bundesverwaltungsgericht in der „Peep-Show“Entscheidung als auch die Vertreter dieser Ansicht in der Literatur häufig nicht ausreichend zwischen der individuellen Schutzrichtung der Menschenwürde (dem Schutz der einzelnen Teilnehmer) und der objektiven Dimension der Menschenwürde (dem Schutz eines Kernbestandes an Werten im Interesse der Gemeinschaft) 38 unterscheiden, so zeigt ihre Argumentation jedenfalls, dass sie im Ergebnis eine objektivierende Interpretation bevorzugen. 39 d) Autonomie als Kerngehalt der Menschenwürdegarantie – wertfreie Freiheit statt wertkonservativer „Freiheit“ Dass diese Sicht der Menschenwürde nicht überzeugen kann, liegt auf der Hand. Eine Verpflichtung zum „richtigen“ Menschsein erscheint dem Gedanken der Menschenwürde, insbesondere mit Blick auf ihre historische Entstehung, 40 geradezu entgegenzulaufen. Die Entstehungsgeschichte von Art. 1 GG ___________ Satz 1 GG, in: BayVBl. 1985, S. 73 ff. Im zweiten Peep-Show-Urteil (BVerwG 84, 314) begründete das BVerwG einen Verstoß nicht mehr mit Art. 1 Abs. 1 GG. Stattdessen wurde ein Verstoß gegen die guten Sitten gemäß § 33 a II 2 GewO festgestellt. 35 BVerwG NJW 1982, S. 664, 665. 36 Siehe beispielsweise Gern (Fn. 29), S. 1585-1590 („Das Schutzgut ist zu wesentlich, um der Disposition und der Relativierung Einzelner überantwortet zu werden“, S. 1588), sowie Hinrichs (Fn. 29), S. 2173-2176, die beispielsweise davon ausgeht, dass die Einwilligung der Kandidaten nicht ihre menschenunwürdige Behandlung rechtfertige. 37 Ähnlich auch die Argumentation bei Hinrichs (Fn. 29) sowie Gern (Fn. 29). 38 Die Menschenwürde in ihrer objektiven Dimension kann nicht als Legitimation für einen durch Grundrechtsfürsorge motivierten Eingriff dienen, siehe obige Ausführungen. 39 Eine ausführliche Auseinandersetzung nicht nur mit den „Peep-Show“-Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts, sondern auch mit der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte zu Laserspielen (siehe bspw. OVG Rheinland-Pfalz, GewArch 1994, 374), Prostitution und „Zwergenweitwurf“ findet sich bei Klass (Fn. 20), S. 148 ff. 40 So wurde in Art. 1 des HchE niedergelegt: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen.“ Und auch die Stellung der Menschenwürdenorm an der Spitze der Verfassung zeigt, dass nicht der Staat,sondern die menschliche Persönlichkeit im Mittelpunkt stehen soll.

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verdeutlicht vielmehr, dass der Mensch im Zentrum der Verfassung stehen soll. 41 Könnte der Staat objektiv bestimmen, welchen sittlichen und moralischen Werten sich der Einzelne zu unterwerfen hat, um ein objektiv „würdiges“ Leben zu leben, würde er den Einzelnen zum Objekt machen. Ein solches Verständnis würde im Ergebnis dazu führen, dass der ehemals Berechtigte zum Verpflichteten wird. 42 Die Definitionsbefugnis über den konkreten Inhalt der Menschenwürde muss daher dem Einzelnen selbst zustehen, denn die unverlierbare Würde einer Person besteht in erster Linie darin, als selbstverantwortliche Persönlichkeit anerkannt zu werden. 43 Autonomie ist Kerngehalt der Menschenwürdegarantie und gewährt dem Einzelnen damit die Befugnis, sich anders verhalten zu können als die Mehrheit und nicht ein fremdbestimmtes Bild eines „würdigen“ Daseins leben zu müssen. Die Menschenwürde des Einzelnen als höchster Rechtswert muss daher verstanden werden als die Würde einer freien Persönlichkeit, die sich und ihr Dasein selbst bestimmt. 44 Aus diesem Grund kann es nur Sache jedes Einzelnen sein zu bestimmen, was er als seiner würdig ansieht – gerade das macht die Subjektqualität als Zuordnungsobjekt der Menschenwürde aus. 45 Die Freiheit im Sinne der Menschenwürde ist eben nicht werthafte, sondern wertfreie Freiheit. 46 Das bedeutet im Umkehrschluss, dass der Staat den Willen und die Handlungsfähigkeit seiner Bürger respektieren muss. Maßgebliche Instanz für die Interpretation der individuellen Würde ist und bleibt daher ihr Träger. Auf der anderen Seite ist jedoch zu beachten, dass der Einzelne den Achtungsanspruch natürlich nicht über das hinaus erweitern kann, was nach der gebotenen engen Auslegung unter den Schutz der Menschenwürdegarantie fällt. 47 Insbesondere kann der Einzelne nicht tun und lassen was ihm gefällt und dabei argumentieren, dies sei gerade Ausdruck seiner Würde, denn nicht ___________ 41

Siehe Fn. 40. Der Verfassungsgeber hat dem Menschen gegenüber dem Staat unbedingten Vorrang eingeräumt, so auch Gersdorf (Fn. 21), S. 13. 42 Ebenso VG Berlin, NJW 2001, 983, 986 („Aus Freiheitsverbürgungen gegenüber staatlichen Eingriffen würden Ermächtigungsgrundlagen gerade für solche Eingriffe“), sowie Gersdorf (Fn. 21), S. 26. 43 In diesem Sinne auch Fink, U., Programmfreiheit und Menschenwürde, in: AfP 2001, S. 189, 192. 44 Ebenso Hillgruber (Fn. 15), S. 109; Gusy, C., Sittenwidrigkeit im Gewerberecht, in: DVBl. 1982, S. 984, 986. 45 So auch Möller (Fn. 7), S. 118. 46 So auch Höfling (Fn. 20), S. 1584. 47 Zippelius, R., in: Dolzer, R. / Vogel, K. / Graßhof, K. (Hrsg.) Kommentar zum Bonner Grundgesetz, Loseblatt (123. Lieferung, August 2006), Art. 1 Abs. 1 GG (Stand 37. Lieferung, Mai 1995), Rn. 82.

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jedes Verhalten wird als zur Menschenwürde gehörig durch Artikel 1 Abs. 1 GG gewährleistet. 48 Festgehalten werden kann daher, dass die Menschenwürde des Einzelnen – auch wenn sein Handeln aus der Sicht anderer „würdelos“ erscheint – nicht verletzt ist, wenn dem Handeln eine selbstbestimmte und freiwillige Entscheidung zugrunde liegt. Die Menschenwürde ist nicht im Sinne einer „Gattungsmenschenwürde“ auszulegen. 49 Ein Werte-Absolutismus ist fehl am Platz. Daran ändert auch die vom Bundesverfassungsgericht postulierte Gemeinschaftsgebundenheit und Gemeinschaftsbezogenheit nichts. Dieser Ansatz führt lediglich dazu, dass die Freiheit des Einzelnen Grenzen hat und sein Handeln folglich auch eingeschränkt werden kann 50 : eine Selbstverständlichkeit, die sich aus dem Zusammenleben in einer Gemeinschaft ergibt, aber keine Auswirkung auf die Definition der individuellen Menschenwürde hat. Die Zuweisung der Definitionsbefugnis der Menschenwürde zu ihrem Träger bedeutet vielmehr nur, dass der Staat Einschränkungen nicht mit dem Argument rechtfertigen kann, dies geschehe um die Menschenwürde des Trägers zu schützen, obwohl dieser seine Würde nicht als verletzt ansieht. Der Staat kann mithin scheinbar „würdeloses“ Verhalten nicht unterbinden, wenn der eigentliche Träger seine Würde gerade in dieser Form definiert. Ein „fürsorgliches“ – und insofern „hart“-paternalistisches – Handeln entgegen dem autonom erlangten Willensentschluss des Betroffenen scheidet mithin aus.

II. Die Absicherung von Autonomie als Kerngehalt der Menschenwürde – Wirksamkeitsvoraussetzungen der Willensbildung 1. Die Bedeutung autonomen Handelns Voraussetzung für diese Einschätzung ist jedoch, dass der Akteur auch wirklich freiwillig und autonom agiert. Es muss also sichergestellt sein, dass eine in freier Selbstbestimmung getroffene Entscheidung vorliegt. Die Menschenwür___________ 48 Dies stellt schon der Blick auf die Unantastbarkeitsgarantie der Menschenwürde klar. Ebenso Hillgruber (Fn. 15), S. 105. 49 In diesem Sinne auch Dreier (Fn. 18), Rn. 152: „Denn zur Menschenwürde gehört gerade, nicht zur Leistung von Würde gezwungen zu werden und – strikte Freiwilligkeit stets vorausgesetzt – selbst die maßgebliche Instanz für die Bestimmung der eigenen Würde zu bilden“. 50 „Der Einzelne muss sich diejenigen Schranken seiner Handlungsfreiheit gefallen lassen, die der Gesetzgeber zur Pflege und Förderung des sozialen Zusammenlebens in den Grenzen des bei dem gegebenen Sachverhalt allgemein Zumutbaren zieht, vorausgesetzt, dass dabei die Eigenständigkeit der Person gewahrt bleibt.“ (BVerfGE 4, 7 [17]).

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de ist ein besonders schützenswertes Rechtsgut, weshalb die Bedingungen für die Annahme einer freien Entscheidung streng sein müssen. Autonomie kann nicht über alle Werte gehoben werden, ohne dass die realen Bedingungen für ein autonomes und freiheitliches Handeln nicht genauestens im Auge behalten werden. Die ausführliche Auseinandersetzung und Prüfung, ob tatsächlich eine autonome und ernsthafte Entscheidung seitens des Betroffenen vorliegt, fehlt jedoch bei fast jeder Auseinandersetzung mit aktuellen Problemkonstellationen, die als potenziell menschenwürderelevant eingestuft werden. 51 Dies ist verwunderlich – stellen sich doch insbesondere im Zusammenhang mit derartigen „Einwilligungen“ eine Vielzahl von Fragen: Liegt beispielsweise immer dann eine autonome Entscheidung vor, wenn keine Täuschung oder Drohung im Spiel ist, oder bestehen im Falle der Zustimmung zu einer bestimmten Behandlung durch Dritte auch Informations- oder Aufklärungspflichten? Sind wirtschaftliche oder persönliche Zwangslagen von Bedeutung, wenn der Einzelne etwa seine Persönlichkeit kommerzialisiert? Welchen Einfluss haben Entschädigungszahlungen? 52 Müssen bestimmte Bedingungen – angesprochen sind damit Maßnahmen, die dem „weichen“ Paternalismus zugeordnet werden können – eingehalten werden, um Autonomie sicherzustellen oder zu fördern?

2. Wirksamkeitsvoraussetzungen der Willensbildung als Garanten für eine selbstbestimmte Entscheidung – Paternalismus in seiner „weichen“ Form Unbedingte Voraussetzung für selbstbestimmtes Handeln ist zunächst einmal, dass der Akteur die generelle geistige Fähigkeit besitzt, eine im Hinblick auf seine Würde relevante Entscheidung zu treffen. Ist beispielsweise das Erkenntnis- oder Willensbildungsvermögen einer Person eingeschränkt oder nicht voll ausgeprägt, kann eine autonome menschenwürderelevante Entscheidung ___________ 51 Auch das Bundesverfassungsgericht hinterfragte in der „Peep-Show“-Entscheidung (NJW 1982, 664 f.) das „freiwillige“ Handeln der Teilnehmerinnen nicht – es wurde lediglich festgestellt, dass dieses unerheblich sei. Anders hingegen das VG Berlin, NJW 2001, 983, 986, das betonte, dass nur bei ernsthaften Zweifeln am eigenverantwortlichen Handeln, an der Fähigkeit zu einer freien Entscheidungsfindung, ein staatlicher Schutz gegen den (vordergründigen) Willen des Grundrechtsträgers in Betracht komme. 52 So stellte das Bundesverfassungsgericht in der „Organhandel“-Entscheidung (NJW 1999, 3399, 3403) beispielsweise fest, dass es dem Bild des Grundgesetzes von der Würde und Selbstbestimmung eines Menschen entspreche, dass eine so weit reichende Entscheidung wie die Spende eines Organs, auf einem freiwilligen, von finanziellen Erwägungen unberührten, Willensentschluss beruhen muss.

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nicht getroffen werden. 53 Daher sind in der Regel akut Drogenabhängige, Alkoholkranke oder Personen, deren psychischer oder physischer Verfall Auswirkungen auf ihre Willensbildung hat, nicht in der Lage, autonome Entscheidungen zu treffen. Damit kann auch nicht vom Vorliegen von Entscheidungsfähigkeit ausgegangen werden, wenn sie in potenzielle Fremdschädigungen einwilligen. Werden diese Personen beispielsweise „kommerzialisiert“ 54 , kann also im Extremfall ein Eingreifen zum Schutz ihrer Menschenwürde erforderlich sein. Gleiches gilt für Geschäftsunfähige und Minderjährige, die sich ihrer Würde und ihrer Stellung im sozialen Gefüge nicht bewusst sind und daher weder in der Lage sind, ihre Selbstdarstellung autonom zu gestalten noch dazu fähig sind, eine Entscheidung für oder gegen ein bestimmtes menschenwürderelevantes Verhalten zu treffen. Von diesen Sonderfällen abgesehen, ist jedoch grundsätzlich vom Bestehen von Entscheidungsfähigkeit auf Seiten des Akteurs auszugehen. Darüber hinaus muss der Einzelne natürlich in der Lage sein, seinen Willen frei und ohne den Einfluss von Zwang und Täuschung bilden zu können. Dabei können mit Blick auf die Bedeutung der Menschenwürde durchaus auch mögliche finanzielle Notlagen, soziale Zwänge oder persönliche Abhängigkeiten und Unterlegenheiten Beachtung finden. Im Einzelfall können diese „Rahmenbedingungen“ einer selbstbestimmten Entscheidung daher entgegenstehen. Insbesondere ist eine mögliche Fremdbestimmung aufgrund struktureller Ungleichgewichtslagen oder aufgrund einseitigen Machtmissbrauchs genauestens im Auge zu behalten. Wird eine ausgeprägte Unterlegenheit festgestellt, kann es mithin an der notwendigen Entscheidungsfreiheit fehlen. Zudem muss eine freie Entscheidung überhaupt möglich sein. Voraussetzung hierfür ist wiederum eine breite Informations- und Entscheidungsbasis. Deshalb müssen dem Akteur Reichweite, Umfang, potenzielle Risiken und Gefahren einer menschenwürderelevanten Behandlung oder eines menschenwürderelevanten Handelns bekannt sein. Darüber hinaus muss er auch in der Lage sein, diese zu bewerten. Sind Dritte beteiligt, treffen diese daher unter Umständen Aufklärungs- und Informationspflichten, die sich am Kenntnis- und Informationsstand des Betroffenen zu orientieren haben. ___________ 53 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Schiedermair, H., Hoffnung und Menschenwürde. Das Erbe des Sisyphos, in: Burmeister, J. (Hrsg.),Verfassungsstaatlichkeit. Festschrift für Klaus Stern, 1997, S. 63 (80). 54 Eine unzulässige, die Menschenwürde verletzende Kommerzialisierung einzelner Menschen liegt nach Di Fabio (Fn. 18), S. 31 f., vor, wenn Menschen von einem überlegenen Akteur aus Gründen wirtschaftlichen Gewinnstrebens in eine für sie „unentrinnbare Situation gebracht werden, die sie weder vollständig durchschauen noch als freier Akteur beherrschen können, der sie mithin ausgeliefert sind, und wenn die Gesamtumstände den oder die ausgelieferten Menschen in ihrem sozialen Achtungsanspruch verletzen, weil sie zum Gegenstand der Anprangerung, der Schaustellung oder der Verächtlichmachung herabgewürdigt werden“.

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Betont werden soll an dieser Stelle jedoch nochmals, dass durch derartige Erfordernisse nicht garantiert werden kann und soll, dass der Betroffene eine „vernünftige“ Entscheidung trifft. Wurde der Entschluss autonom und in Kenntnis aller maßgeblichen Umstände getroffen, ist das konkrete Ergebnis irrelevant. Mangelt es jedoch an der Kenntnis aller wesentlichen Faktoren und Risiken, liegt keine echte Entscheidungsmöglichkeit vor. Um Autonomie zu gewährleisten und die genannten Erfordernisse sicherzustellen, kann und muss der Staat daher „weich“-paternalistische Maßnahmen ergreifen.

III. Zusammenfassung der Ergebnisse Die Definitionsbefugnis über den konkreten Inhalt der in Art.1 Abs. 1 GG verankerten individuellen Menschenwürde muss dem einzelnen Betroffenen selbst zustehen, denn die unverlierbare Würde eines Menschen besteht gerade darin, als selbstverantwortliche Persönlichkeit anerkannt zu werden. Autonomie ist als Kerngehalt der Menschenwürdegarantie und Selbstbestimmung als Hauptbestandteil der Subjektqualität anzusehen. Nur wenn der Staat den Willen seiner Bürger und deren Definition eines würdigen Daseins respektiert, ist auch garantiert, dass dem Einzelnen weder von staatlicher noch von dritter Seite, sei es nun in fürsorglicher oder verwerflicher Absicht, eine fremdbestimmte Sichtweise eines würdigen Lebens und Handelns auferlegt werden kann. Staatliche Befugnisse finden daher mit Blick auf die individuelle Menschenwürde ihre Grenze, soweit eine selbstbestimmte Entscheidung des Einzelnen vorliegt. „Harter“ Paternalismus ist somit ausgeschlossen. Maßnahmen, die auf den Prinzipien des „weichen“ Paternalismus beruhen, und mithin dazu dienen, die Autonomie des Agierenden zu stärken, sind hingegen nicht nur zulässig – sie erscheinen vielmehr geradezu notwendig, um die Garantie der Menschenwürde abzusichern. Jede Entscheidung zu einer potenziell menschenwürderelevanten Handlung und jede Zustimmung zu einer potenziell menschenwürderelevanten Behandlung durch einen Dritten, muss in freier Selbstbestimmung getroffen werden. Um von einer autonomen Entscheidung sprechen zu können, müssen daher bestimmte Wirksamkeitsvoraussetzungen eingehalten werden, deren Vorliegen durch gezielte Erfordernisse und Maßnahmen sicherzustellen ist. Will der Staat hingegen die Interessen Dritter, der Allgemeinheit oder einen bestimmten Kernbestand an Werten sichern – geht es ihm mithin um das „Große Ganze“ –, hat er hierzu ausreichend Möglichkeiten. Die individuelle Menschenwürde taugt jedoch nicht, um unter dem Deckmantel des Schutzes der Würde Einzelner Maßnahmen durchzuführen, die eigentlich der Wahrung des Gemeinwesens oder der Durchsetzung einer bestimmten Moral dienen.

Menschenwürde und Naturrecht in der modernen Demokratie am Beispiel der Kontroverse um die verbrauchende Embryonenforschung Karl-Heinz Nusser

I. Recht und Ethik als Ergänzung oder Gegensatz? Im Jahre 1975 setzte das Bundesverfassungsgericht den rechtlichen Lebensbeginn auf den Zeitpunkt der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle fest. Im Jahr 1993 separierte es das „werdende Leben“ als eigenständiges Schutzgut (i. S. d. Art. 2 GG) vom Lebens- und Menschenwürdeschutz der Mutter, der ja ebenfalls vor allen Eingriffen durch Dritte schützen soll. Danach hat das deutsche Stammzellgesetz vom 28. Juni 2002 neu entnommene und angezüchtete Embryonalstammzellen, nicht aber bestimmte (schon ältere und importierte) embryonale Zelllinien verboten. Eine Produktion von Humanembryonen allein zum Verbrauch soll nicht erlaubt sein. 1 Was ist mit diesem bisher in Deutschland erreichten gesetzlichen Schutz gewonnen? Würde man einmal davon ausgehen, dass die relativ strenge deutsche Schutzregelung – soweit sie nicht intern durch die Gesetze zum Schwangerschaftsabbruch schon ausgehöhlt ist – dem Druck der Wirtschaftsgesellschaft und ihren finanziellen Interessen in Deutschland standhält, so bleibt immer noch die Frage nach ihrer Durchsetzung als geltendes Recht in Europa und darüber hinaus im internationalen Rahmen. Hier darf man mit Recht skeptisch sein; denn vor kurzem hat das europäische Parlament den deutschen Versuch, die durch die EU geförderten Projekte nur auf eine kleine Zahl bereits existierender Zellkulturen einzuschränken, abgelehnt. Der Embryonenverbrauch für die Forschung wird somit nicht gedrosselt, da man für die Gewinnung der Stammzelllinien Embryonen benötigt, die nur wenige Tage alt sind und bei der Prozedur zerstört werden. 2 Von rechtstheore___________ 1 Gehring, P., Was ist Biomacht? Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens, 2006, S. 78, 77. 2 FAZ vom 16.06.06. Inzwischen hat der Rat für Wettbewerbsfähigkeit der EU die Förderung der Forschung mit humanen embryonalen Stammzellen ausdrücklich in das neue EU-Rahmenprogramm aufgenommen. Im Herbst 2007 ist laut einem Bericht der FAZ vom 03.09.2007 ein entschlossener Versuch der Embryonen nutzenden Interessenvertreter zu erwarten, den Stichtag auf das Jahr 2007 zu verschieben. Es ist einsichtig, dass beliebig mögliche Verschiebungen einer unbefristeten Freigabe der Tötung von Embryonen gleichkommen würde.

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tischer und ethischer Seite wird das Embryonenschutzgesetz bereits angegriffen. Eine rechtstheoretische Arbeit behauptet die Verfassungswidrigkeit des Stammzellgesetzes, weil der Gesetzgeber den Embryo zwingend nur ab der Nidation, nicht aber zuvor schützen müsse. Das Bundesverfassungsgericht habe bereits Handlungen, die zur Tötung eines Embryos vor der Nidation führen, rechtlich freigestellt, so dass es sich mit dem Stammzellgesetz in einen Widerspruch verwickle. 3 Diese These ist jedoch eher im Rahmen der Verhütungsproblematik zu diskutieren, weil die Spirale ja nicht per se befruchtete menschliche Eier angreift. Von ethischer Seite hat der Philosoph Wilhelm Vossenkuhl gegen das Stammzellgesetz eingewandt, dass der Embryo vor der Nidation noch nicht als Anfang des Menschen betrachtet werden könne. Beim Verbrauch befruchteter menschlicher Eier müsse nur darauf geachtet werden, dass diese nicht instrumentalisiert würden. 4 Diese These ist jedoch nicht – wie ich später zeigen werde – mit den Prinzipien der Entwicklung von Lebewesen vereinbar. Die deutsche Industrie wird auf das restriktive Stammzellschutzgesetz mit einer Verschärfung des Standortarguments reagieren und mit einer Verlagerung der Produktion ins Ausland drohen. Sollte der Gesetzgeber den Wünschen der Wirtschaftsgesellschaft durch eine weichere Embryonenschutzgesetzgebung nachgeben, so würde in der Tat das Menetekel von Giorgio Agamben bestätigt. Giorgio Agamben hat argumentiert, dass die souveräne demokratische Staatsmacht das menschliche Leben tendenziell schutzlos macht, nachdem der Lebensbegriff durch die Biowissenschaften instrumentalisiert wurde und die Verfassungsgerichte unter der Vorgabe der Neutralität des liberalen Staates und des gesellschaftlichen Pluralismus entscheiden. Die Embryonen verbrauchende Forschung verlängert in gewisser Weise die Situation der Schutzlosigkeit des Lebens, wie sie in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten bestand. Auf das europäische Menschenrechtsverständnis ist beziehbar, was Agamben vom Ausnahmezustand sagt: „Der Ausnahmezustand definiert einen Zustand des Gesetzes, in dem die Norm gilt, aber nicht angewendet wird (weil sie keine Kraft hat), und auf der anderen Seite Handlungen, die nicht den Stellenwert von Gesetzen haben, deren Kraft aber gewinnen.“ 5 Von einer Naturrechtsposition bzw. einer ethischen Ebene sind die rechtspositivistischen und dezisionistischen Annahmen von Agamben energisch zu bestreiten. Es ist keineswegs so, „dass die Sondermaßnahmen, die es für die Verteidigung der demokratischen Verfassung zu rechtfertigen gilt, dieselben ___________ 3 Klopfer, K., Verfassungsrechtliche Probleme der Forschung an humanen pluripotenten embryonalen Stammzellen und ihre Würdigung im Stammzellgesetz, 2006. 4 Vossenkuhl, W., Die Möglichkeit des Guten, Ethik im 21. Jahrhundert, 2006, S. 103 ff. 5 Agamben, G., Ausnahmezustand, 2004, S. 49.

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sind, die zu ihrer Zerstörung führen.“ 6 „Wirksame Sondermaßnahmen“ bestehen in der Überzeugungskraft naturrechtlicher Argumente, die von der Philosophie aus einer Beteilungsperspektive heraus geführt werden. Die Philosophie verweist auf die Erkenntnis des naturhaft Guten und d. h. hier, sie verlangt die Anerkenntnis der grundsätzlich evolutiv vollendeten menschlichen Natur. Dazu ist es nötig, den in der aktuellen bio-medizinischen Forschung implizierten Gesundheitsbegriff zu durchleuchten und dessen utopisches Fundament, das in der Behauptung besteht, dass alle Erbkrankheiten, Krebs, Immunschwächen und Aids geheilt werden könnten, einer kritischen Prüfung zu unterziehen. 7 Der Anspruch, die totale Gesundheit herzustellen, verlangt umfassende gentechnische Diagnoseverfahren, so z. B. die pränatale Diagnostik, den Gentest an Kindern, Tests im Interesse der individuellen Lebensführung, Tests im Sinne von Arbeitgebern und Versicherungen, Tests an frühen Embryonen in der Petrischale. Während die Forschung an Grundlagenproblemen arbeitet und weit entfernt ist, irgendeine kausale Gentherapie einzuleiten, werden jedoch alle Maßnahmen und Verfahren von der Biomedizin mit dem Gesinnungsargument vorangetrieben, dass man schwerkranken Patienten helfen wolle. 8

II. Gegensätzliche Ethik-Typen Es sind vor allem zwei Ethik-Typen, die beanspruchen, die richtige ethische Begründung für den Umgang mit Embryonen zu haben. Ich beginne mit den naturrechtlichen Argumenten. Für diese stehen der Schutz und die Abwehr der Instrumentalisierung des menschlichen Lebens im Vordergrund. Ethik-Typen, die primär die Vermehrung des Nutzens erstreben, orientieren sich am Fortschritt der medizinischen Verfahren bei der Heilung schwerer, bisher unheilbarer Krankheiten. Die Vertreter naturrechtlich fundierter Ethik halten aufgrund einer teleologischen Beurteilung des menschlichen Werdeprozesses jede Güterabwägung zwischen dem Wohl des Kranken und dem Verbrauch eines auf irgendeine Weise gewonnenen Embryos für unzulässig. Dies gilt auch dann, wenn der Embryo für Zwecke der Heilung verwendet wird; denn dies ist eine Instrumentalisierung. Von dieser Ablehnung ist auch die In-Vitro-Fertilisation betroffen, weil bei diesem Verfahren mehr Embryos erzeugt, als für die Einpflanzung benötigt werden. Die überzähligen Embryos werden instrumentalisiert, d. h., sie dienen als Mittel, um mögliche Ausfälle zu kompensieren. In jedem Fall sind Anfänge des menschlichen Lebens manipulativ herbeigeführt und die Bahnen des natürlichen Entstehens und Werdens unterbrochen. Der ___________ 6 7 8

Agamben (Fn. 5), S. 15. Mieth, D., Die Diktatur der Gene, 2001, S. 56. Vgl. Mieth (Fn. 7), S. 56.

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Einwand, dass es Verhütungsmittel gebe, die eine natürliche Entwicklung zur Empfängnis verhinderten und rechtlich als völlig unproblematisch angesehen würden, ist nicht triftig, weil die Natur in den Lebewesen immer eine Überfülle von Samen produziert, die nicht zur Entwicklung neuen Lebens dienen. Im Falle der im Reagenzglas erzeugten überzähligen menschlichen Embryonen bewegt sich der Mensch aus seiner Natur heraus und liefert eine Handhabe für das Argument der Güterabwägung, dass das hohe Gut des Heilens von Krankheiten die Tötung der überzähligen Embryonen verlange, nachdem diese sowieso keine natürlichen Chancen, Menschen zu werden, mehr hätten. Der eigentliche Dissens, der die verschiedenen Ethik-Typen trennt, ist die Betrachtung der Zeugung und Entstehung des Menschen als eines Tabus, d. h. als zur unantastbaren Würde gehörig, etwas also, was der Mensch unbedingt beachten müsse. Dem steht die Annahme entgegen, dass der Fortschritt der medizinischen Wissenschaft nur durch eine zunehmende Vergegenständlichung des menschlichen Körpers zustande komme. Die Grenze für eine solche Forschung könne nur der bewusste und entwickelte Mensch sein, der in der Lage sei, seine Interessen stellvertretend zu übernehmen; denn nur dieser könne die Einsicht in die Grundlage der Menschenrechtsmoral haben, die Kant mit dem Grundsatz formuliert hat, dass der Mensch „Zweck an sich selbst sei“. Da der menschliche Körper in dieser Auffassung eine bloße Materie, somit ein Faktum ist, begeht die naturrechtliche Auffassung, die aus diesem Faktum ein moralisches Sollen ableiten will, aus dieser Sicht einen naturalistischen Fehlschluss. Eine Grenzziehung für die Forschung ist nach dieser Auffassung nicht möglich, weil die methodische Betrachtungsweise der gentechnologischen Forschung die zu erforschenden Zellen rein als kausal strukturierte Verbindung von Elementen betrachtet, die keine eigene Zielstrebigkeit und somit keine Beseelung haben. Der eigentliche Differenzpunkt zwischen den beiden skizzierten Ethik-Typen liegt in der Interpretation und Bewertung des Status des beginnenden menschlichen Lebens. Ich skizziere im Folgenden die Argumente der beiden Typen. Die ethisch-naturrechtliche Argumentation baut auf den modernen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen auf, interpretiert diese aber im Lichte philosophischer teleologischer Prinzipien. Mit dem Abschluss der Verschmelzung von Eizelle und Sperma liegt eine Selbststeuerungsfähigkeit der Zelle vor, somit Zielstrebigkeit und Beseeltheit des Lebewesens. Die Antizipation des voll entwickelten menschlichen Lebens, die in der Dynamik der Finalursache liegt, ist im Lebewesen selbst verwurzelt, kann aber von der modernen Biologie nicht wahrgenommen werden, weil sich diese auf die Kausalursächlichkeit beschränkt. Bei Prozessen des Lebens sind Zweck-, Formal- und Wirkursachen real identisch. Die Zweck- und Formalursachen werden von der modernen Biologie methodisch ausgeklammert. Die Philosophie dagegen, die den moralischen Status des Menschen im Sinne eines Besten, das erreicht wird, im Blick

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hat, erkennt, dass das Menschsein keine Sache der Zuschreibung und Definition durch die anderen bereits Lebenden ist, sondern dem Menschen zukommt, insofern eher auf dem Wege zum Geborenwerden ist, weil er bereits dann schon Person ist. In einer Stellungnahme zur Schrift von Habermas über Bioethik erklärt Spaemann: „Jedes Exemplar der Gattung Homo sapiens tritt nicht kraft Kooptation, sondern als geborenes Mitglied ohne jede Qualitätsprüfung in diese Gemeinschaft ein.“ 9 In dem Buch über „Personen“ geht Spaemann vom Sprachgebrauch aus und verbindet mit dem Begriff der Person mentale und physische Prädikate. Person darf also nicht so aufgefasst werden wie etwa bei Descartes im Sinne eines denkenden Dinges. Die Einmaligkeit des Personenseins macht Spaemann durch den Unterschied zwischen „jemand“ und „etwas“ klar. Spaemann stellt fest: „Das Wort „Person“ ist kein sortaler Ausdruck, mit dem wir etwas als ein So-und-so kennzeichnen und dadurch identifizierbar machen. Auf die Frage: „Was ist das?“ antworten wir nicht: „Das ist eine Person“, so wie wir sagen würden: „Das ist ein Mensch“ oder „Das ist eine Lampe“. Wir müssen vielmehr schon zuvor wissen, ob dies ein Mensch oder eine Lampe ist, um wissen zu können, ob es eine Person ist. Der Begriff „Person“ dient nicht der Identifizierung von etwas als etwas, sondern sagt etwas aus über ein bereits als ein So-und-so Bestimmtes.“ 10 Spaemann will in diesem Buch zeigen, dass aus „etwas“ nicht „jemand“ werden kann, sodass wenn wir uns als Personen ansehen, die gleichwohl geboren wurden, unser Personsein nicht von einer bloßen materiellen Potenzialität in ein wirkliches Personsein übergegangen sein kann. Wenn man Person ist, dann ist man es, oder man ist es nicht. Damit kann Spaemann ausschließen, dass ein menschlicher Zellverband, der am Beginn des Lebens selbst Steuerungsfähigkeit besitzt, zwar ein potenziell individuelles Leben haben kann, aber noch keine Person sein kann; denn es ist kein eigentlicher Übergang gradueller Art im Sinne einer zunehmenden Lebensintensität zum Personsein denkbar. Dieses Argument richtet sich gegen jene ethische Position – auf die ich später zu sprechen kommen werde –, die das Embryo vor der Einnistung im Uterus für die verbrauchende Forschung freigeben will. Die Verbindung personalen Seins mit unserem zielgerichteten körperlichen Anfangszustand wird deutlich, wenn wir auf das natürliche Kontinuum unseres Entstehens zu sprechen kommen und sagen: „Ich wurde damals bei dieser Gelegenheit gezeugt.“, oder wie Rubinstein von sich sagte: „Meine Mutter wollte mich abtreiben!“ Solche sprachlichen Wendungen verdeutlichen, dass die Sprecher Lebensbeginn und Personsein identifizieren.

___________ 9 Spaemann, R., Habermas über Bioethik, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 2002, S. 105. 10 Spaemann, R., Personen. Versuche über den Unterschied zwischen „etwas“ und „jemand“, 1996, S. 14.

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Spaemann hat sicher Recht damit, wenn er sein Argument als metaphysisches versteht und einen teleologischen Zusammenhang zwischen Vernunft und Sprache annimmt. Die Sprache wird nicht nur von Konventionen gebildet, sondern vermag auch unmittelbare Erfahrungen der Freiheit und des Personenseins auszudrücken. Sofern es um den Personenstatus einer bereits geborenen Person geht, kann man diesen mit Kants These, dass die vernünftige Natur als Zweck an sich selbst existiere, untermauern. Die hier vertretene Kontinuumsthese der Person lässt sich jedoch mit Kant nicht begründen und zwar nicht deshalb nicht, weil, wie Höffe meint, Kant den moralischen Status des Embryos nicht reflektiert habe 11 . Kant folgt in dieser Hinsicht dem Ausschluss der Finalität bei Descartes und deshalb hat die Zweckbetrachtung für ihn keinen konstitutiven empirischen Status. Die Vernunftreflexionen zum Organismus liegen für Kant auf der Ebene einer regulativen Idee. Im Unterschied dazu liefert die Lehre des Aristoteles von der Erzeugung und Embryonalentwicklung Analysen zur realen Einheit von Bewegungs-, Zweck- und Formursache. Auch wenn wir durch die moderne Biologie über die Einzelheiten der Embryonalentwicklung besser als Aristoteles informiert sind, so macht die aristotelische Betrachtung des Endzwecks, auf den die vorausgehenden Stufen des Lebewesens hingeordnet sind, klar, dass die nur geistig zu erfassende Zielstrebigkeit des Lebewesens wesensmäßig zu diesen dazugehört. Durch die empiristische Herangehensweise und Beschränkung auf die Wirkursache fällt die moderne Biologie auf das antiteleologische Denken der ionischen Naturphilosophen zurück. Weil die Biologie mit einem Naturbeherrschungsinteresse und dem Ziel der Schaffung eines vollkommen gesunden Menschen an ihren Gegenstand herangeht, kann sie teleologische Gesichtspunkte, die auf der Einsicht beruhen, dass etwas geschieht, weil es so am besten ist, nicht mehr vollziehen. Geleitet von den utopischen Heilungsvorstellungen der modernen Medizin ist das menschliche Genom, weil es in seltenen Fällen Krankheiten transportiert, eben nicht von Natur aus das Beste. Im Denken der szientistisch eingestellten Medizin lässt sich der Begriff eines vollkommen gesunden Menschen denken, der durch einen indefiniten Forschungsprozess erreicht werden kann. Der Gesundheitsbegriff der medizinischen Science geht von einem völlig gesunden Menschen aus und schließt Krankheiten aus. Der natürliche und gesunde Mensch ist jener, der dann keine Krankheiten mehr hat. Grundsätzlich unheilbare Krankheiten kann es für die moderne Medizin nicht mehr geben. Die Grenzen der medizinischen Wissenschaft sollen nach und nach wegfallen. Die natürliche Erfahrung des Menschen, dass die meisten Menschen gesund und darüber eine verlässliche Eigenerfahrung haben und Krankheiten zwar ___________ 11

S. 67.

Höffe, Wessen Menschenwürde?, in: Biopolitik, hrsg. von Christian Geyer, 2001,

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nicht das Normale sind, aber zum Menschen dazu gehören, wird von der szientistisch ausgerichteten Medizin tendenziell geleugnet. Die Ausschaltung des natürlich Besten zugunsten des utopisch-Vollkommenen ist von Descartes vorbereitet worden. Im 6. Kapitel der Meditationes der prima philosophia kritisiert Descartes die Finalursächlichkeit damit, dass ein Wassersüchtiger Durst empfindet und trinken will, obwohl dies seinem kranken Körper schadet. Dies zeige, dass die Natur ihm nichts lehren könne. Das Argument, dass der Wassersüchtige als Kranker eine verderbte Natur habe, wird von Descartes mit einem falschen theologischen Argument widerlegt. Er sagt nämlich, dass ein kranker Mensch ebenso gut ein Geschöpf Gottes sei wie ein gesunder und man Gott eine betrügerische Natur nicht anlasten könne. Thomas von Aquin hatte, auf der aristotelischen Linie argumentierend, dazu bemerkt, dass die Vorsehung Gottes in den Zweitursachen sehr wohl fehlerhaftes Wirken zulassen könne. 12 Die Natur ist nach Descartes in Wirklichkeit keine vorgegebene Erfahrung, sie kann uns nichts lehren, weil sie eine Konstruktion des Denkens ist. Er erklärt: „Die ‚Natur‘ ist in diesem Falle nämlich nichts anderes als eine bloße, von meinem Denken abhängende Bezeichnung, in dem ich den kranken Menschen und die schlecht angefertigte Uhr mit der Idee des gesunden Menschen und der richtig gemachten Uhr vergleiche; und sie haftet den Dingen, von welchen sie ausgesagt wird, nur äußerlich an.“ 13 Die Vorgegebenheit der Natur wird bei Descartes zugunsten der konstruktiven Begriffe des Denkens aufgelöst. Das System naturwissenschaftlichen Forschens ist bei Descartes nicht mehr an die Faktizität von Naturneigungen und zielgerichteten Prozessen in Naturordnungen gebunden. Natur wird nur noch als Mittel für den unbegrenzten wissenschaftlichen Fortschritt, an dessen Ende die Heilung aller Krankheiten steht, relevant. Descartes’ Entsprechung von menschlicher Krankheit und defekter, aber reparierbarer Uhr hebt mit dem Leben auch die Zielursächlichkeit des Lebendigen auf. Die Differenz zwischen dem von Natur aus Gewordenen und dem künstlich Gemachten wird geleugnet. Die Angleichung des Lebewesens an Automaten ermöglicht einen höheren Grad an Perfektion des Ablaufs bzw. den Ausschluss von Mängeln. Während bestimmte Metalle in Maschinen kaum noch Mängel aufweisen, haben Lebewesen in ihrer zielstrebigen, sich selbst regulierenden Natur immer wieder Krankheiten. Sieht man in diesem Lichte die moderne Medizin, dann ist nicht nur das Programm der positiven Eugenik – z. B. eine Verlängerung des Lebens um 100 oder 200 Jahre –, sondern bereits das Ziel der negativen Eugenik, die Heilung aller Krankheiten oder die Garantie eines gesunden Lebens, schlechthin unrealistisch und utopisch. Nimmt man Descartes’ Maschinen___________ 12

Thomas von Aquin, Summa contra gentiles III, 71/1. Descartes, Meditationes de prima philosophia, hrsg. von Arthur Buchenau, 1972, S. 72, S. 73. 13

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modell als Ausgangspunkt, dann scheinen die gentechnischen Ziele des Ausschlusses aller Krankheiten und der Steigerung körperlicher und geistiger Fähigkeiten durch einen mit entsprechendem Geldeinsatz vorangetriebenen wissenschaftlichen Fortschritt erreichbar. Das Problem all dieser wissenschaftlichen Wunschträume ist, dass das Leben als sich selbst regulierendes Prinzip nicht durch mechanische Zusammenhänge zu ersetzen ist. Die Erfahrung der Gesundheit ist eine Botschaft an das menschliche Lebewesen, die durch den Leib übermittelt wird – detailgenaue Messperspektiven medizinischer Geräte können nur Ergänzungen darstellen.

III. Der ontologische Status des Embryos und die wechselseitige soziale Interaktion Dieser Ethik-Typ wird vor allem durch Ernst Tugendhart und Jürgen Habermas vertreten. Bei Tugendhart wird die Ethik auf die interpersonale Kooperationspflicht von mündigen Personen begrenzt: „Die Rede ‚er ist einer von uns‘ ist entscheidend für die moralische Betrachtungsweise, wenn es richtig ist, dass Moral etwas wesentlich Gemeinschaftsbezogenes ist.“ 14 Eine Ethik, die plausibel sein und ihren allgemeinen Geltungsanspruch einlösen will, muss den Interessen der Menschen Rechnung tragen. Es ist ein „unbezweifelbar natürlicher Tatbestand“, so erklärt Tugendhart in den „Vorlesungen zur Ethik“, „dass alle Menschen, sofern sie ein Interesse daran haben, dass alle mit allen darin übereinkommen, ein gewisses System von Normen einhalten.“ 15 Nach Ludwig Siep beruht diese Ethik auf einem „motivationalen Fehlschluss“. „Man schließt von dem, wozu man die meisten Menschen glaubt motivieren zu können, auf das, was moralisch wichtig ist. Was richtig ist, muss aber in der ethischen wie in der theoretischen Erkenntnis von den eigenen Interessen unabhängig sein.“ 16 Interesselos ist der Mensch nur, wenn er sich dem anerkannten Guten unterstellt. Nach Platon, Aristoteles und Kant kommt das moralisch Gute nicht durch die Gemeinsamkeit von Interessen zustande, sondern gerade umgekehrt verdankt sich die wirkliche Gemeinsamkeit von Interessen der Unterstellung unter das Gute bzw. den Kategorischen Imperativ. Das Recht entspringt nicht der willkürlichen Setzung eines oder einiger Menschen. Es hat göttlichen Ursprung. Nach Platon darf man unter keinen Umständen Unrechtes tun, und Sokrates argumentiert im Gorgias, dass Unrecht leiden besser sei als Unrecht tun. Dieser platonische Gedanke findet über Aristoteles, die Stoa und das christliche mittelalterliche Naturrechtsdenken schließlich Eingang in die mo___________ 14

Tugendhart, Vorlesungen zur Ethik, 1993, S. 195. Tugendhart (Fn. 14), S. 173. 16 Siep, L., Eine Skizze zur Grundlegung der Bio-Ethik in: Zeitschrift für philosophische Forschung, 1996, S. 241. 15

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derne universalistische Menschenrechtskonvention. Für Habermas besteht jedoch jede Voraussetzung, die sich nicht der Ableitung aus autonomen Diskursen verdankt, aus „metaphysischen oder religiösen Hintergrundannahmen“. „Im normativen Streit einer demokratischen Öffentlichkeit“, so erklärt er, „zählen letztlich nur moralische Aussagen im strengen Sinne. Nur weltanschaulich neutrale Aussagen über das, was gleichermaßen gut ist für jeden können den Anspruch stellen, für alle aus guten Gründen akzeptabel zu sein.“ 17 Wenn wir fragen, was „moralische Aussagen im strengen Sinne“ sind, finden wir bei Habermas folgende Erklärung: „‚Moralisch‘ nenne ich Fragen des gerechten Zusammenlebens.“ Diese generell richtige Aussage wird in den dann folgenden Sätzen weiter bestimmt: „Für handelnde Personen, die miteinander in Konflikt geraten können, stellen sich solche Fragen im Hinblick auf den normativen Regelungsbedarf von sozialen Interaktionen. Es besteht die vernünftige Erwartung, dass solche Konflikte grundsätzlich in gleichmäßigem Interesse eines jeden rational entschieden werden können.“ 18 Wir können die Auffassung von Habermas so verstehen, dass Fragen des gerechten Zusammenlebens im „gleichmäßigen Interesse eines jeden rational entschieden werden können.“ Unsere Frage ist nun, wie es zu einem solchen „gleichmäßigen Interesse“ kommt. Entweder wird dies durch Verfahren rechtlicher Art geschaffen, die im Grundgesetz schon vorgegeben sind. Dies würde in unserem Fall, wo gerade die Anspruchnahme von Grundgesetz-Artikel 1 und 2 durch den Embryo geklärt werden soll, nicht weiterführen. Es bleibt somit die Frage, wer das gleichmäßige Interesse definiert? Wenn dieses Interesse durch alle festgesetzt wird, dann gibt es eine vierfache Möglichkeit: a) Es wird überhaupt kein gemeinsames Interesse artikuliert, so dass die philosophische Moral schweigt und andere gesellschaftliche Kräfte die Frage entscheiden. b) Alle haben daran ein gemeinsames Interesse, ein gemeinsames Interesse nur gemeinsam zu schaffen. Dieses Verfahren bleibt formal und bleibt inhaltslos. Auch hieraus ergibt sich, dass die philosophische Moral dem Staat und Recht gegenüber schweigt. c) Alle haben ein gemeinsames rationales Interesse, den Embryo aus der für ihn real möglichen zukünftigen Partizipation an der Rechtsgemeinschaft auszuschließen. Ein solches Interesse wäre jedoch rein willkürlich und würde den Beschließenden ein Recht zur Tötung unschuldigen Lebens Anderer einräumen. Diese Möglichkeit steht im Raum und wird von Habermas jedenfalls indirekt behauptet, wenn er erklärt: „Der weltanschaulich neutrale Staat kann, wenn er demokratisch verfasst ist und inklusiv verfährt, in einer ethisch um___________ 17 Habermas, J., Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik, 2001, S. 60, 61. 18 Habermas (Fn. 17), S. 71.

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strittenen Anspruchnahme von Grundgesetzartikel 1 und 2 nicht Partei ergreifen.“ 19 Giorgio Agamben würde diese als rational behauptete Möglichkeit zum Beleg dafür nehmen, dass der moderne demokratische Souverän den Menschen nackt und wehrlos macht. d) Alle haben ein gemeinsames rationales Interesse, den Embryo als reale zukünftige vollwirkliche Person anzuerkennen und zu schützen. Das Lebensrecht des Embryos ist dabei ein absolutes schlechthinniges Gut, das jede mögliche Güterabwägung ausschließt und mögliche partikulare Interessen zum Schweigen bzw. zur Unterordnung bringt. Die naturrechtliche und moralische Forderung, das Lebensrecht des Embryos absolut und schlechthin zu schützen, muss die Philosophie an den am Recht orientierten Staat stellen. Habermas entwickelt im Anschluss an den politischen Liberalismus von John Rawls eine genetische bzw. prozedurale Moral. Bei ihm heißt es: „Nur die Mitglieder dieser Gemeinschaft können sich gegenseitig moralisch verpflichten und voneinander normenkonformes Verhalten erwarten. Wie ich zeigen möchte, ist ‚Menschenwürde‘ im streng moralischen und rechtlichen Verstande an diese Symmetrie der Beziehungen gebunden.“ 20 Damit nennt Habermas jedoch nur Verfahrensbedingungen und keine Begründungen, wenn er meint, dass der Embryo, weil er noch kein Mitglied der Gemeinschaft ist, auch noch keine moralische Verpflichtungskraft gegenüber den Beschließenden hat, erhebt er eine Verfahrensbedingung in den Status der Begründung einer Entscheidung. Entweder gehen demokratische Rechte aus dem geschlossenen Club derer hervor, die sich faktisch wechselseitig verpflichten können, oder dieses Verpflichtungsverfahren schließt alle Menschen, auch jene die faktisch nicht teilnehmen bzw., noch nicht teilnehmen können, ein. Damit wären Embryos ebenso eingeschlossen wie Heranwachsende unter 18 Jahren bzw. Menschen mit schweren Krankheiten, die es ihnen nicht mehr erlauben, ihren Willen zu artikulieren. Nur mit dieser Offenheit gegenüber den in der weiteren Zukunft hinzukommenden Teilnehmern wird die Verfahrensbedingung im Sinne der universellen Menschenrechte richtig interpretiert. Habermas sieht völlig richtig, dass es über die Zuschreibung des Beginns des menschlichen Lebens zwei kontroverse „ontologische Grundannahmen“ gibt. Einerseits die des „szientistischen Naturalismus, aus denen sich die Geburt als relevante Zäsur ergibt“ und andererseits die Position mit „metaphysischen und religiösen Hintergrundannahmen“. Weil Habermas letztere vermeiden will, verlässt er die ontologische Ebene und gerät auf die interaktionistische Ebene der Persönlichkeitsentwicklung, wie wir sie aus der Phase der Sozialisation und generell aus dem Zusammenleben der Menschen kennen. Habermas spricht von der „Unantastbarkeit“, die allein in den interpersonalen Beziehungen reziproker Anerkennung im egalitären Um___________ 19 20

Habermas (Fn. 17), S. 70. Habermas (Fn. 17), S. 62.

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gang von Personen miteinander eine Bedeutung haben kann.“21 Der „Unvollständigkeit einer Individuierung durch DNA-Sequenzen“ wird „der Prozess gesellschaftlicher Individuierung“ gegenüber gestellt. „Erst im Augenblick der Lösung aus der Symbiose mit der Mutter tritt das Kind in eine Welt von Personen ein, die ihm begegnen, die es anreden und mit ihm sprechen können; erst in der Öffentlichkeit einer Sprachgemeinschaft bildet sich das Naturwesen zugleich zum Individuum und zur vernunftbegabten Person.“22 Der ontologische Gesichtspunkt, dass etwas da sein muss, das die substantielle Voraussetzung für Sprach- und Vernunftentwicklung ist, wird von Habermas zu einem Rechtsschutz abgeschwächt. Vor dem Eintritt in den öffentlichen Interaktionszusammenhang genieße „das menschliche Leben als Bezugspunkt unserer Pflichten Rechtsschutz, ohne selber Subjekt von Pflichten und Träger von Menschenrechten zu sein.“23 Dieser Rechtsschutz bestehe im Unterschied zu der jeder Person garantierenden Menschenwürde im Respekt vor „der Würde des menschlichen Lebens“. Eine solche Würde gebe es, wie Habermas vielsagend sagt, auch in unserem „gefühlsbeladenen Umgang mit Toten“. Der respektvolle Umgang mit toten Föten zeige auch für den toten Embryo eine „verbreitete und tief sitzende Scheu vor der Integrität des werdenden menschlichen Lebens, an das keine zivilisierte Gesellschaft ohne Weiteres rühren darf.“24 Der Verbrauch und die Tötung von Embryos sind als Verlust eines Wertes durch andere Werte – etwa der zu erwartenden Heilung vorher unheilbarer Krankheiten – zu kompensieren. Die Frage, ob nicht bei der In-Vitro-Fertilisation durch die mehrfache Bereitstellung von Embryonen zur Nidation eine Instrumentalisierung des Embryos geschehe und ob diese nicht erst recht von der Stammzellforschung zu erwarten sei, wird von Habermas nicht diskutiert. Indem dem Embryo Lebensrecht abgesprochen wird, vermeide man nach Habermas, dass „moralisch gesättigte juristische Begriffe wie ‚Menschenrechte‘ und ‚Menschenwürde‘ durch eine kontra-intuitive Überdehnung nicht nur ihre Trennschärfe, sondern auch ihr kritisches Potential“ verlören.25 Die Ersetzung der ontologischen Fragestellung, die Aufhebung der Frage nach dem Sein des Embryos, weil er noch kein Träger der interaktionistischen Moralableitung ist, ist nichts anderes als eine pseudo-demokratische Spielart des Rechtspositivismus; denn dieser geht davon aus, dass nur das Recht ist, was durch Rechtsetzungsverfahren zustande kommt und dass es davon unabhängig kein Recht gibt. Indem die Moralbegründung bei Habermas die Vollzugsbedingungen des ethischen Diskurses an die Stelle der Begründung aus ___________ 21 22 23 24 25

Habermas (Fn. 17), S. 62. Habermas (Fn. 17), S. 64. Habermas (Fn. 17), S. 66. Habermas (Fn. 17), S. 67. Habermas (Fn. 17), S. 68.

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dem Recht der Person setzt, verwirkt sie ihren Anspruch, eine Moralbegründung zu sein, und setzt jenen Vorwurf von Giorgio Agamben ins Recht, der da lautet, dass die Rechtsbegründungstendenz der modernen Demokratien den Menschen schutz- und wehrlos macht.

IV. Lebewesen, Naturrecht und positives Recht In einer Kritik an der naturrechtlichen Form der Begründung der Menschenwürde des Individuums bemerkt der Rechtstheoretiker Reinhard Merkel, dass diesem Argument ein naturalistischer Fehlschluss zugrunde liege. Das Speziesargument verlange das Tötungsverbot des Embryos, weil dieser der Spezies Homo sapiens angehöre. Die „molekulare Mikrostruktur unserer DNA“ begründe jedoch keine fundamentalen Rechte. Auch „könne die rein faktische Verteilung von irgend etwas innerhalb einer biologischen „Familie“ keine Norm erzeugen. Warum sollte eine solche Schutznorm nicht für alle Säuger gelten? 26 Mit dem ersten Argument behauptet Merkel, dass sich der Embryo nur aus Mikrostrukturen zusammensetze. Er fasst diesen somit nur als Summe seiner Teilungsprodukte auf. Ontologisch entspricht jedoch einer solchen Kategorie kein Lebewesen, sondern eine Anordnung von leblosen Körpern, die sich aufgrund eines Impulses verändern, wie z. B. eine Welle oder das Feuer. Für ein Lebewesen ist charakteristisch, dass es tätig ist und sein Vermögen aktualisiert. Die Entwicklungsfähigkeit des aus der Vereinigung von Samenzelle und Ei bestehenden Embryos bedeutet eine erste Form von Leben. Und ohne einen Eingriff des Menschen in den natürlichen Zeugungsablauf stünden ihm die natürlichen Wachstumsbedingungen des mütterlichen Uterus zur Verfügung. Stupende Entwicklungsschritte gehören zum Lebewesen: „Lebewesen wachsen und entwickeln sich und verändern sich dabei erheblich; dennoch beschreiben wir diese Veränderungen nicht als das Entstehen und Vergehen verschiedener Individuen, sondern als Veränderung eines einzigen, verschiedene Stadien und Zustände durchlaufenden Individuums.“ 27 Unsere Körper sind keine Prozess-Dinge wie ein Wasserwirbel, ein Sturm, eine Welle oder eine Flamme, weil sie auf das In-sich-Bestehen eines Ganzen, des Lebewesens, hinarbeiten. Damit das Endstadium, das „Lebewesen Mensch“ erreicht wird, muss dieses Ziel von Anfang an wirksam sein; deshalb ist es unerfindlich, warum man – wie Reinhard Merkel meint – das Schutzargument, das dem Embryo gilt, auf alle Säuger ausdehnen sollte. Die Zielursache ist zusammen ___________ 26

S. 56.

Merkel, R., Rechte für Embryonen?, in: Biopolitik, hrsg. von Chr. Geyer, 2001,

27 Zur Ontologie des Lebewesens Schark, M., Lebewesen als ontologische Kategorie, in: Philosophie der Biologie, hrsg. von U. Krohs und G. Toepfer, 2005, S. 180 f.

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mit der Formursache das steuernde Prinzip, damit von Anfang an die Zielerreichung angestrebt wird. Wie bereits oben angedeutet, hängt die Ausschaltung der Finalursächlichkeit bei der Interpretation des Embryos durch die moderne Gentechnik als „chemische Maschinen“ 28 an der durch Descartes eingeführten Voraussetzung, dass Lebewesen Automaten sind und im Falle einer Krankheit eine ähnliche Störung wie bei einer falsch gehenden Uhr vorliege. Bei Descartes hängt die Leugnung der Seele von Lebewesen und von deren Selbsttätigkeit damit zusammen, dass unser Denken als die einzige zielgerichtete Tätigkeit aufgefasst wird, während „dasjenige Prinzip, durch das wir ernährt werden, wachsen und alles übrige, was wir, da wir es mit den Tieren gemein haben, ohne jede Denktätigkeit vollbringen.“ 29 Die von Descartes und Leibniz eingeführte Maschinenanalogie hat zwar heute ausgedient, die Leugnung der Seele und des Lebendigseins und damit die Reduzierung des Embryos auf einen bloßen Körper ist zur vorherrschenden Betrachtungsweise der Gentechnik geworden; denn nur so kann sie, ohne sich in normative Widersprüche zu verwickeln, ihre utopischen Ziele, die genetischen natürlichen Grundlagen des Menschen zu verbessern, ungehindert verfolgen. Wenn dem Embryo vor der Nidation der absolute Lebensschutz abgesprochen wird, wie es in dem jüngst veröffentlichten Buch von Wilhelm Vossenkuhl geschieht, liegen dieselben argumentativen Fehler wie bei der oben angeführten These von Reinhard Merkel vor 30 . Die Vernachlässigung der teleologischen Struktur des Lebewesens, das der Embryo ist, führen bei Vossenkuhl zur Forderung, das Embryonenschutzgesetz so zu ändern, dass „der Beginn des Lebensschutzes auf den Zeitpunkt der Einnistung festgelegt würde“. Da durch wissenschaftliche Gutachten garantiert werden könne, dass der Verbrauch des Embryos nur „dem Lebensschutz künftiger Generationen“ diene, sei der Vorwurf der Instrumentalisierung des Embryos nicht gegeben. 31 Diese Überlegungen zum Verständnis des Lebewesens zeigen, dass die Frage nach dem moralischen Status des Embryos auf dessen Lebewesen-Sein, das untrennbar mit seinem Personcharakter verbunden ist, zurückgreifen muss. Eine Diskussion zwischen klassisch ausgerichteter Naturphilosophie und moderner Biologie findet jedoch so gut wie nicht statt. Ohne die naturrechtlichen Grundlagen der Menschenwürde sind die Menschenrechte in den modernen Demokratien in Gefahr, als „Willenserklärungen ___________ 28

Markl, H., „Evolution und Gentechnik“, Eröffnungsvortrag auf dem Kongress für biochemische Analytik, München, 18.04.1988. 29 Descartes (Fn. 13), S. 328. 30 Vossenkuhl (Fn. 4), S. 103. 31 Vossenkuhl (Fn. 4), S. 104.

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einer historisch begrenzten Gemeinschaft“ aufgefasst zu werden. Auch die Rechte einer Person sind dann primär „das Resultat einer Willenserklärung“, wie Tilman Borsche ausführt. 32 Am Schluss werden die wichtigen Punkte zusammengefasst. Das naturrechtliche Prinzip „jedem das Seine zu geben“, bedeutet im Falle des Gegenstands der Biowissenschaft die Würde der Mutter, deren Leibesfrucht und überhaupt den ganzen Vorgang der Zeugung zu schützen. Aus naturrechtlich-ethischer Sicht ist zu fordern, die hormonelle Stimulierung von Frauen, „die Eizellenoder Nabelschnur-Entnahmehandlungen schlicht als Verstoß gegen die guten Sitten“ zu ächten. 33 Die vorgegebenen natürlichen Abläufe der Zeugung des Menschen werden durch die Biowissenschaften aufgehoben und in ein Verhältnis der Güterabwägung versetzt, in dem die Heilungs- und Gewinninteressen sich autonom verstehender Personen dominieren, die keine Bedenken haben, die Tötung befruchteter menschlicher Eier als Mittel zur Forschung einzusetzen. Weder ist das Leben eine „chemische Maschine“ (Hubert Markl), noch ist Leben und Personalität mit Bewusstheit oder Diskurskompetenz von Rechtssubjekten gleichzusetzen. Die Begründung des Lebensschutzes des Embryos ergibt sich nicht allein aus dem Kant’schen Gedanken des Selbstzwecks der Person, sondern aus der Ergänzung der Ethik durch eine naturteleologische Betrachtungsweise des Embryos. Robert Spaemann hat in diesem Sinne darauf hingewiesen, dass Personsein dem Menschen ursprünglich zukommt und nicht aufgrund der Definitionsmacht einer Rechtsgemeinschaft. Es dürfe nur ein einziges Kriterium zur Beurteilung des Lebensschutzes des Embryos geben und das ist „die biologische Zugehörigkeit zum Menschengeschlecht“. 34 Grundlage der Person ist das menschliche Lebewesen, das von den ersten Anfängen der Selbststeuerungsfähigkeit den voll entwickelten Zustand des Lebewesens teleologisch und formal anzielt. Zur Beurteilung des moralischen Status des befruchteten menschlichen Eies genügt es nicht, wie Habermas meint, vom Prinzip der sozialen Interaktion auszugehen und Fragen des gerechten Zusammenlebens und des Lebens überhaupt „im gleichmäßigen Interesse eines Jeden rational“ entscheiden zu wollen. Dieser Rückfall in die rationale Kalkulierungsmethode von Hobbes, den Habermas dem „Politischen Liberalismus“ von John Rawls entnimmt, würde jede Ethik zum Instrument eines absoluten Rechtssouveräns in der Form kontingenter Mehrheiten machen und in der Tat das menschliche Leben, wie Giorgio Agamben formuliert, „nackt“ machen. Die unheilvolle Tradition des Rechtspo___________ 32 33 34

Borsche, T., Mensch und Person, in: Fiph Journal, Febr. 2005, S. 6. Vgl. dazu aus feministischer Sicht Gehring (Fn. 1), S. 84. Spaemann (Fn. 10), S. 264.

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sitivismus würde durch die Definitionsmacht des staatlichen Gesetzgebers, welchen Entwicklungsstufen des Menschen unantastbare Würde und Lebensschutz zukomme, wiederaufleben. Das in der rechtspositivistischen Sichtweise verbreitete Argument, das auch Reinhard Merkel vorbringt, lautete, dass der moralisch begründete Lebensschutz des befruchteten Eies, einen naturalistischen Fehlschluss darstelle und d. h., ein Sollen aus einem bloßen faktischen Sein ableite. Merkel interpretiert den Anfang des menschlichen Lebens nur als Prozessstruktur bzw. als ein Prozessgebilde, was z. B. auf eine Welle oder ein Feuer zutrifft. Da das befruchtete menschliche Ei aber bereits den Endzustand, das „Lebewesen Mensch“ aktuell anzielt, gilt bereits für dieses Gebilde, dass es Selbstzweck im Sinne der menschlichen Person ist. Wer in dieser Weise den Embryo als Zellstruktur interpretiert, müsste – wie es z. B. Peter Singer tut – konsequenterweise auch Leben und Personalität nur von bewussten und handlungsfähigen menschlichen Personen gelten lassen. Am Ende ist zu hoffen, dass ethische Einsichten dazu beitragen, dass das restriktive Stammzellschutzgesetz nicht aufgeweicht wird.

Menschenwürde verletzende Werbung Inge Scherer

I. Einleitung In einem Anzeigenbild, auf dem für eine Fernsehsendung geworben wird, wird eine junge Frau gezeigt, die einem Mann in Unterhosen in die Genitalien tritt mit der Überschrift: „Watch this piece of shit!“. 1 In der Werbung des Bekleidungskonzerns Benetton wurde mit der Darstellung eines nackten menschlichen Gesäßes mit dem Stempelaufdruck „H.I.V. POSITIVE“ und am Bildrand stehend das Logo „United Colors of Benetton“ geworben. 2 An einem Laden wird – um „gleichgesinnte“ Kundschaft anzulocken – ein Schild angebracht: „Für Hunde und Juden (oder: Christen, Muslime, Hindus etc.) verboten!“ Zudem wirbt der Ladeninhaber damit, dass zu seinem Laden „nur anständige Menschen, nicht aber Juden (oder: Christen, Muslime, Hindus etc.) Zutritt“ hätten. Alle diese – keineswegs fiktiven – Beispiele haben eines gemeinsam: Sie werfen die Frage nach den Grenzen der Werbung auf, die die Menschenwürde i. S. d. Art. 1 I GG zieht. In einigen Fällen waren die Gerichte bis hin zum BVerfG bereits mit dieser Frage befasst. Eine grundlegende Klärung ließ sich aus ihren Entscheidungen jedoch nicht ableiten. Die Gerichte – insbesondere das Bundesverfassungsgericht – konnten lediglich die Richtschnur vorgeben und Orientierungspunkte setzen. Mit Inkrafttreten des neuen Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) am 8. Juli 2004 ist ein Tatbestand in das Unlauterkeitsrecht aufgenommen, der im alten Unlauterkeitsrecht noch nicht existierte: § 4 Nr. 1, 2. Alt. UWG bestimmt: „Unlauter im Sinne von § 3 handelt insbesondere, wer Wettbewerbshandlungen vornimmt, die geeignet sind, die Entscheidungsfreiheit der Verbraucher oder sonstiger Marktteilnehmer in menschenverachtender Weise zu beeinträchtigen.“ Ob allerdings diese neue Verbotsnorm geeignet ist, für alle denkbaren Wettbewerbshandlungen, die die Menschenwürde verletzen, einen Unterlassungsanspruch (i. V. m. §§ 8 I, 3 UWG) zu erzielen, ist fraglich. Dies ___________ 1 2

Scherer, I., in: Fezer, K. H. (Hrsg.), UWG, 2005, § 4-2, Rn. 253 m. w. N. BVerfGE 102, 347; BVerfG, Wettbewerb in Recht und Praxis (WRP) 2003, 633.

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liegt zum einen daran, dass die weiteren, sehr konkreten Tatbestandsmerkmale präzise eine Beeinträchtigung der Entscheidungsfreiheit der Verbraucher oder sonstiger Marktteilnehmer verlangen und im Übrigen zu den Tatbestandsvoraussetzungen des § 4 Nr. 1 UWG die vollständige Erfüllung des Tatbestandes des § 3 UWG hinzukommen muss, um eine Wettbewerbshandlung untersagen zu können. Zunächst soll daher geklärt werden, ob diese neue Bestimmung des Unlauterkeitsrechts gegen alle denkbaren, die Menschenwürde verletzenden Wettbewerbshandlungen, vorliegend also die Menschenwürde verletzende Werbung, als Verbotsnorm verwendet werden kann. Sollte dies nicht so sein, muss die Frage beantwortet werden, ob mit dem übrigen Instrumentarium des neuen UWG gegen die Menschenwürde verletzende Werbung vorgegangen werden kann. Sollten sich hier Möglichkeiten finden, ist zu klären, auf welche Weise und in welchen Fallkonstellationen eine Verletzung der Menschenwürde durch Werbung in Betracht kommt – denn Menschenwürde ist ein Rechtsbegriff: Art. 1 I GG, der die Menschenwürde für unantastbar erklärt und ihre Achtung und ihren Schutz zur Verpflichtung aller staatlicher Gewalt macht, hat nicht die umgangssprachliche „Würde“, sondern die Menschenwürde als Rechtsbegriff zum Gegenstand. Daher muss zunächst anhand genereller Kriterien festgestellt werden, welche Voraussetzungen für die Verletzung der Menschenwürde i. S. d. Art. 1 I GG erforderlich sind. Erst dann kann anhand der rechtlichen Grenzziehung für den konkreten Fall beurteilt werden, ob eine Verletzung der Menschenwürde durch die betreffende Wettbewerbshandlung gegeben ist. Für die rechtliche Untersuchung ist zunächst festzuhalten, dass die Verletzung der Menschenwürde durch eine Wettbewerbshandlung, insbesondere eine Werbung, in verschiedenen Grundkonstellationen in Frage kommen kann: Zum einen kann der umworbene Marktpartner, also etwa der durch die Werbung angesprochene Verbraucher, in seiner Menschenwürde durch eine Wettbewerbshandlung verletzt werden. Dies kann mittels physischer oder mittels psychischer Maßnahmen geschehen. Zum anderen kann ein Dritter in seiner Menschenwürde durch eine Wettbewerbshandlung verletzt werden; dies könnte etwa dem die Wettbewerbshandlung vornehmenden Wettbewerber sinnvoll erscheinen, um auf diese Weise dem umworbenen Marktpartner, etwa dem durch die Werbung angesprochenen Verbraucher, gegenüber einem Geschäftsabschluss mit dem Werbenden geneigt zu machen. Dies kann wieder mittels physischer oder mittels psychischer Maßnahmen geschehen. Eine Verletzung der Menschenwürde käme hier – anders als in der erstgenannten Fallkonstellation – nur bei den „benutzten“ Dritten in Frage. Alle denkbaren Fallkonstellationen – Menschenwürde des umworbenen Marktpartners bzw. Menschenwürde eines Dritten wird verletzt, dies wird mittels physischer bzw. psychischer Mittel verwirklicht – sind unter den oben genannten rechtlichen Aspekten zu untersuchen.

Menschenwürde verletzende Werbung

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II. § 4 Nr. 1, 2. Alt. UWG 1. Umstrittener Regelungsgehalt Die erste in Frage kommende rechtliche Möglichkeit zur Unterbindung von Wettbewerbshandlungen, die die Menschenwürde verletzen, ist die Bestimmung des § 4 Nr. 1, 2. Alt. UWG, die in Verbindung mit §§ 8 I, 3 UWG einen Unterlassungs- und Beseitigungsanspruch gibt (und unter den zusätzlichen Voraussetzungen des § 9 UWG einen Schadensersatzanspruch). Über den Regelungsgehalt des § 4 Nr. 1, 2. Alt. UWG, der im alten UWG keinen Vorläufer hatte, herrscht jedoch Unklarheit: Die Norm war ursprünglich nicht im Gesetzestext enthalten, sondern wurde erst auf Empfehlung des Rechtsausschusses vom 1. April 2004 3 in die UWG-Novelle aufgenommen; dabei kommt in der Begründung des Rechtsausschusses für die Aufnahme dieser TatbestandsAlternative zum Ausdruck, dass die Menschenwürde nach Art. 1 GG auch im Rahmen des neuen Unlauterkeitsrechts eine absolute Grenze für Wettbewerbshandlungen jeder Art darstellen soll. 4 Der hohe Rang der menschlichen Würde, die durch Art. 1 GG geschützt ist, erfordere ihre Achtung und Wahrung auch im Wettbewerb. Wettbewerbshandlungen seien dann menschenverachtend, wenn sie den Betroffenen durch Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung oder andere Verhaltenweisen ihren Achtungsanspruch als Menschen absprächen. 5 In der amtlichen Begründung des Gesetzesentwurfs vom 22. August 2003 6 wird Gewicht darauf gelegt, dass § 4 Nr. 1 UWG alle Handlungen erfassen soll, die die Entscheidungsfreiheit der Verbraucher beeinträchtigen. In diesen Kontext wurde schließlich auch die jetzige zweite Tatbestands-Alternative „... in menschenverachtender Weise ...“ aufgenommen. In der neuen Literatur, die sich mit dieser Tatbestands-Alternative des § 4 Nr. 1 UWG befasst, sind daher auch die Meinungen geteilt über den Regelungsgehalt und die Bedeutung des Tatbestandes: Zum einen wird angenommen, dass menschenverachtende Werbung in jedem Fall gem. § 4 Nr. 1, 2. Alt. UWG unzulässig sei, ohne allerdings auf die von § 4 Nr. 1 zudem geforderten Voraussetzungen, nämlich eine „Eignung zur Beeinträchtigung der Entscheidungsfreiheit der Verbraucher oder sonstiger Marktteilnehmer“ einzugehen; 7 ___________ 3

BT-Drs. 15/2795, S. 21. BT-Drs. 15/2795, S. 21. 5 BT-Drs. 15/2795, S. 21. 6 BT-Drs. 15/1487, S. 2 ff. 7 Hasselblatt, G. N., in: Gloy, W. v. / Loschelder, M. (Hrsg.), Handbuch des Wettbewerbsrechts, 3. Aufl. 2005, § 63, Rn. 54 ff.; Piper, H., in: Piper, H. / Ohly, A. (Hrsg.), UWG, 4. Aufl. 2006, § 4-1, Rn. 1/44 erklärt den Tatbestand ausdrücklich für unbeachtlich. 4

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diese weiteren Tatbestandsvoraussetzungen werden vielmehr gar nicht wahrgenommen, so dass zwangsläufig keine Aussage dazu gemacht werden kann, welche Fallkonstellationen hiervon erfasst sein könnten. Zum anderen wird zwar angenommen, dass es – entsprechend dem Tatbestand des § 4 Nr. 1, 2 Alt. UWG – erforderlich sei, dass die Eignung der Wettbewerbshandlung bestehen muss, die Entscheidungsfreiheit der Verbraucher oder sonstiger Marktteilnehmer in menschenverachtender Weise zu beeinträchtigen; jedoch werden pauschal bestimmte Fallkonstellationen genannt, ohne eine Darlegung, wie eine solche Beeinträchtigung in dieser Fallkonstellation überhaupt herbeigeführt werden soll. 8 Ähnlich gelagert ist die Auffassung, dass jede menschenverachtende Werbung aufgrund ihres unangemessenen und unsachlichen Einflusses gem. § 4 Nr. 1, 2. Alt unlauter sei, 9 wobei allerdings ebenfalls die Frage der Eignung zur Beeinträchtigung der pauschal aufgezählten Fallgruppen unbeantwortet bleibt. Die überwiegende Meinung jedoch geht mittlerweile aufgrund des Tatbestandes des § 4 Nr. 1, 2. Alt. UWG davon aus, dass es nicht ausreicht, wenn die Wettbewerbshandlung die Menschenwürde verletzt, sondern dies zusätzlich geeignet sein muss, die Entscheidungsfreiheit der Verbraucher oder sonstiger Marktteilnehmer zu beeinträchtigen. 10 Plakativ formuliert dies Gunda Plaß: „Menschenverachtend muss die Art und Weise der Beeinflussung der Entscheidungsfreiheit des Umworbenen sein, ein menschenverachtender Inhalt oder Kontext reicht für sich genommen also noch nicht aus.“ 11

2. Auslegung des § 4 Nr. 1, 2. Alt. UWG Ausweislich des klaren Wortlauts des § 4 Nr. 1 UWG reicht es nicht aus, dass überhaupt die Wettbewerbshandlung in irgendeiner Weise menschenverachtend ist, sondern die Wettbewerbshandlung muss geeignet sein, die Entscheidungsfreiheit der Verbraucher oder sonstiger Marktteilnehmer in menschenverachtender Weise zu beeinträchtigen. Dieses Ergebnis des Wortlauts des § 4 Nr. 1, 2. Alt. UWG wird gestützt durch die Regierungsbegründung zum ___________ 8

Götting, H.-P., Wettbewerbsrecht, 2005, § 9, Rn. 3. Emmerich, V., Unlauterer Wettbewerb, 7. Aufl. 2004, S. 235 f. 10 Köhler, H., in: Hefermehl, W. / Köhler, H. / Bornkamm, J. (Hrsg.), Wettbewerbsrecht, 25. Aufl. 2007, § 4 Rn. 1.144; Scherer (Fn. 1), § 4-1, Rn. 124 ff.; Stuckel, M., in: Harte-Bavendamm, H. / Henning-Bodewig, F. (Hrsg.), UWG, 2005, § 4 Nr. 1, Rn. 111a; Plaß, G., in: Ekey, F. L. et al. (Hrsg.), Heidelberger Kommentar Wettbewerbsrecht, 2. Aufl. 2005, § 4, Rn. 30; Heermann, P., in: Heermann, P. / Hirsch, G. (Hrsg.), Münchener Kommentar zum UWG, 2006, § 4 Nr. 1, Rn. 114; Lettl, T., Das neue UWG, 2004, Rn. 171 f.; Boesche, K. V., Wettbewerbsrecht, 2005, Rn. 320. 11 Plaß (Fn. 10); ähnlich Köhler (Fn. 10), Rn. 1.146. 9

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Entwurf der UWG-Novelle: Danach ist der Schutzzweck des § 4 Nr. 1 UWG der Schutz der Entscheidungsfreiheit der Verbraucher und sonstiger Marktteilnehmer. Die beiden anderen Tatbestands-Alternativen des § 4 Nr. 1 UWG – „durch Ausübung von Druck“, 1. Alt., „durch sonstigen unangemessenen unsachlichen Einfluss“, 3. Alt. – bestätigen, dass mit den jeweiligen Tatbestandsalternativen nur die Instrumente genannt werden, mit denen die Entscheidungsfreiheit der Verbraucher oder der sonstigen Marktteilnehmer beeinträchtigt werden kann. Ob unabhängig von einer Eignung zur Beeinträchtigung der Entscheidungsfreiheit von Marktteilnehmern eine die Menschenwürde verletzende Wettbewerbshandlung unlauter und damit unzulässig ist, ist eine Frage, die unabhängig von der Regelung des § 4 Nr. 1, 2. Alt. UWG beantwortet werden muss. Für § 4 Nr. 1, 2 Alt. UWG ist jedoch unerlässlich, dass eine solche Eignung zur Beeinträchtigung der Entscheidungsfreiheit besteht, und zwar in menschenverachtender Weise.

3. Fallkonstellationen des § 4 Nr. 1, 2. Alt. UWG Die Subsumtion unter den Tatbestand des § 4 Nr. 1, 2. Alt. UWG vollzieht sich daher in zwei Schritten: Zunächst ist der menschenverachtende Charakter der betreffenden Wettbewerbshandlung festzustellen, sodann zu überlegen, ob die fragliche Wettbewerbshandlung gerade aus diesem Grund geeignet ist, die Entscheidungsfreiheit der Verbraucher bzw. sonstiger Marktteilnehmer zu beeinträchtigen. 12 Bereits aufgrund dieser Subsumtionsschritte kann die eingangs gestellte Frage, ob der neue § 4 Nr. 1, 2. Alt. UWG geeignet ist, für alle denkbaren Wettbewerbshandlungen, die die Menschenwürde verletzten, einen Unterlassungsanspruch zu geben, verneint werden: Fraglos gibt es Fälle, bei denen unabhängig von dem Problem, ob nun tatsächlich die Menschenwürde durch die Wettbewerbshandlung verletzt ist, eine Beeinträchtigung der Entscheidungsfreiheit der Verbraucher oder sonstiger Marktteilnehmer ausscheidet: Wenn dem Marktteilnehmer die Menschenwürde für den Fall abgesprochen wird, dass er nicht das beworbene Produkt kauft (etwa: „Wer unser Produkt nicht erwirbt, ist ein elendes Insekt!“) wird dies beim insoweit maßgeblichen Durchschnittsverbraucher nicht die Kaufbereitschaft fördern, geschweige denn seine Entscheidungsfreiheit beeinträchtigen, sondern ihn vielmehr vom Kauf abhalten. 13 Gleiches gilt etwa für die eingangs geschilderten Fälle der Werbung von „Benetton“: Unabhängig von der Frage einer Verletzung der Menschenwürde ist es unbestritten, dass niemand aus Mitleid mit AIDS-Kranken oder ___________ 12 13

Köhler (Fn. 10), Rn. 1.144. Ähnlich Köhler (Fn. 10), Rn. 1.146.

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aus Angst, selbst an AIDS zu erkranken, einen Benetton-Pullover kaufen wird. 14 Die Fallgruppen, in denen eine Beeinträchtigung der Entscheidungsfreiheit der angesprochenen Marktteilnehmer ausscheidet, können somit nicht über § 4 Nr. 1, 2. Alt. UWG erfasst werden. Die Fallkonstellationen, die über § 4 Nr. 1, 2. Alt. UWG erfasst werden können, sind demgegenüber relativ eng: Zum einen ist die Anwendung physischer Zwangsmittel gegen den in Aussicht genommenen Geschäftspartner, um ihn zum Vertragsabschluss zu veranlassen, ähnlich etwa den in der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken im Anhang 1 – Aggressive Geschäftspraktiken – genannten Fälle der Freiheitsberaubung von Verbrauchern, um diese zu dem vom Wettbewerber gewünschten Verhalten zu veranlassen. 15 Gleiches gilt für die Androhung oder Ausübung von Tätlichkeiten, etwa Schlägen oder Folter, um einen Geschäftsabschluss zu erzwingen. 16 Fraglich ist die Anwendung des § 4 Nr. 1, 2. Alt UWG für den Fall, dass nicht dem Umworbenen die Menschenwürde abgesprochen wird, sondern einem Dritten, also etwa nicht dem in Aussicht genommenen Vertragspartner die Schläge oder die Freiheitsberaubung angedroht werden, sondern etwa seinem nahen Angehörigen, also einem Dritten. Soweit sich Autoren hierzu überhaupt äußern, gehen sie teilweise davon aus, dass die fragliche Wettbewerbshandlung, die Menschenwürde gerade dem umworbenen Marktteilnehmer absprechen muss, eine Werbung auf Kosten der Menschenwürde Dritter also nicht ausreiche; 17 teilweise wird jedoch auch angenommen, dass es ausreicht, die

___________ 14

Scherer (Fn. 1), § 4-1, Rn. 124; Köhler (Fn. 10), § 4, Rn. 1.146; Kübler, F. / Kübler, J., Werbefreiheit nach Benetton, in: Habersack, M. et al. (Hrsg.), Festschrift für Peter Ulmer zum 70. Geburtstag am 02.01.2003, 2003, S. 907 ff. (913); Hofmann-Riem, W., Kommunikationsfreiheit für Werbung, in: Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht (ZUM) 1996, S. 1 ff. (7); Bülow, P., Anmerkung zu BGH, ZIP (Zeitschrift für Wirtschaftsrecht) 1995, 1286, in: ZIP 1995, S. 1289; Reichold, H., Unlautere Werbung mit der „Realität“? Unlauterkeitsmaßstäbe bei produktunabhängiger Image-Werbung, in: WRP 1994, S. 219 ff. (222); Sosnitza, O., Werbung mit der Realität, in: GRUR 1993, S. 540 ff. (542); Henning-Bodewig, F., Schockierende Werbung, in: WRP 1992, S. 533 ff. (536). 15 Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken, ABl. EG Nr. L 149 v. 11.06.2005, S. 22; zweifelnd Heermann (Fn. 10) § 4 Nr. 1, Rn. 114, da diese Fälle der TatbestandsVariante der „Druckausübung“ unterfielen; jedoch schließt eine Druckausübung menschenverachtendes Vorgehen nicht aus. 16 Köhler (Fn. 10), § 4, Rn. 1.146; Scherer (Fn. 1), § 4-1, Rn. 126; zweifelnd Heermann (Fn. 10) § 4 Nr. 1, Rn. 114, da diese Fälle der Tatbestands-Variante der „Druckausübung“ unterfielen; jedoch schließt eine Druckausübung menschenverachtendes Vorgehen nicht aus. 17 Plaß (Fn. 10), § 4, Rn. 30.

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Menschenwürde Dritter zu verletzen, wenn dadurch die Entscheidungsfreiheit der Marktteilnehmer beeinträchtigt werden kann. 18 Aus dem Wortlaut des § 4 Nr. 1 UWG lässt sich auf den ersten Blick insoweit kein Anhaltspunkt für oder gegen eine enge oder weite Interpretation gewinnen. Vom Sinn und Zweck des § 4 Nr. 1 – Schutz des Verbrauchers bzw. sonstiger Marktteilnehmer vor einer Beeinträchtigung ihrer Entscheidungsfreiheit – ist jedoch nahe liegend, dass der Einfluss, der auf die Entscheidungsfreiheit der Marktteilnehmer ausgeübt wird, in „menschenverachtender Weise“ ausgeübt wird, was bedeuten soll, dass die Menschenverachtung ihnen gegenüber gezeigt wird. Denn typischerweise sind die von § 4 Nr. 1, 1. Alt, 3. Alt. UWG erfassten Fallkonstellationen alle dergestalt, dass das Instrument zur Willensbeeinträchtigung unmittelbar gegen die Umworbenen eingesetzt wird: So bedeutet etwa Druckausübung, dass dem Verbraucher Nachteile zugefügt oder in Aussicht gestellt werden. 19 Eine Wettbewerbshandlung auf Kosten der Menschenwürde Dritter reicht daher für § 4 Nr. 1, 2. Alt UWG nicht aus. Daher kann der eingangs geschilderte Beispielsfall „Für Hunde und Juden (oder: Christen, Muslime, Hindus etc.) verboten!“ und die Werbung damit, dass „nur anständige Menschen, nicht aber Juden (oder: Christen, Muslime, Hindus etc.) zu dem Laden Zutritt“ hätten, den Tatbestand des § 4 Nr. 1, 2. Alt. UWG nicht erfüllen, selbst wenn dadurch den angesprochenen Verkehrskreisen in einem konkreten Fall derart „geschmeichelt“ würde, dass sie dadurch zum Kauf verleitet würden, also ihre Entscheidungsfreiheit beeinträchtigt würde. Erforderlich ist vielmehr – wenn ohne Zuhilfenahme physischer Einwirkung die Menschenverachtung gezeigt wird – eine psychische Einwirkung auf die Umworbenen, die die Umworbenen etwa als „Untermenschen“ aufgrund einer Behinderung, ihrer ethnischen, nationalen, religiösen, regionalen Zugehörigkeit, einer Krankheit oder Abhängigkeit darstellt und ihnen suggeriert, dass sie sich nur durch den Erwerb des beworbenen Produkts von dieser „Minderwertigkeit“ befreien könnten, etwa einen Sprachkurs absolvieren, um als „gleichwertige Menschen“ zu gelten. 20 Das Anwendungsfeld des § 4 Nr. 1, 2. Alt. UWG ist daher zwar für die Verletzung der Menschenwürde sowohl mittels physischen als auch psychischen Einflusses gegeben, allerdings muss die Menschenwürde gerade dem Umworbenen abgesprochen werden und zugleich dadurch die Eignung dieser Wettbewerbshandlung gegeben sein, seine Entscheidungsfreiheit zu beeinträchtigen. Angesichts dieses recht engen Anwendungsbereichs – keiner der eingangs geschilderten, plakativen Fälle würde, selbst wenn man bei allen eine Verletzung ___________ 18 19 20

Köhler (Fn. 10), § 4, Rn. 1.146. Steinbeck, A., in: Fezer, K. H. (Hrsg.), UWG, 2005, § 4-1, Rn. 100. Plaß (Fn. 10), § 4, Rn. 30.

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der Menschenwürde bejahen würde, gem. § 4 Nr. 1, 2. Alt. UWG unlauter sein – fragt es sich, ob mit dem übrigen Instrumentarium des UWG gegen die Menschenwürde verletzende Werbung vorgegangen werden kann.

III. Die Generalklausel des § 3 UWG Hierbei bietet sich an, zu untersuchen, ob mit Hilfe der Generalklausel des § 3 UWG eine die Menschenwürde i. S. d. Art. 1 I GG verletzende Werbung als unlauter beurteilt und damit i. V. m. § 8 I UWG untersagt werden könnte. Das Bundesverfassungsgericht hatte zum alten Unlauterkeitsrecht entschieden, dass die „Menschenwürde eine absolute Grenze“ für Wettbewerbshandlungen sei, und zwar „unabhängig von dem Nachweis einer Gefährdung des Leistungswettbewerbs“. 21 Danach könnte über die Generalklausel des § 3 UWG bei Verletzung der Menschenwürde die Unlauterkeit der Wettbewerbshandlung bejaht und das fragliche Verhalten untersagt werden, ohne dass die übrigen Tatbestandsmerkmale des § 3 UWG – Eignung der fraglichen Wettbewerbshandlung, den Wettbewerb zum Nachteil der Mitbewerber, der Verbraucher oder der sonstigen Marktteilnehmer nicht nur unerheblich zu beeinträchtigen – gegeben sind. Dies wird jedoch mittlerweile bestritten: Zwar wird von der h. M. angenommen, dass eine die Menschenwürde verletzende Wettbewerbshandlung unlauter i. S. d. § 3 UWG ist. 22 Jedoch gibt es Stimmen, die die Heranziehung der Menschenwürde aus Art. 1 I GG zur Begründung einer Unlauterkeit gänzlich ablehnen 23 und solche, die zwar die Begründung der Unlauterkeit mit einem Verstoß gegen Art. 1 I GG für möglich halten, aber dies noch nicht für ein Verbot ausreichen lassen, da sie die Erfüllung der übrigen Tatbestandsmerkmale des § 3 UWG zusätzlich verlangen 24 . Dass Grundwerte und damit die Menschenwürde eine Unlauterkeit gem. § 3 UWG i. V. m. Art. 1 I GG nicht mehr begründen könnten, wird aufgrund der Einflüsse des europäischen Rechts angenommen: Da die Auslegung deutschen Lauterkeitsrechts im Zweifel Regeln folgen müsse, die auch für Europa Geltung beanspruchen könnten, dürften wegen der Richtlinie über Unlautere Geschäftspraktiken nur noch Sachverhalte erfasst werden, die die wirtschaftlichen ___________ 21

BVerfG, WRP 203, 633 ff. (635). Köhler (Fn. 10), § 3, Rn. 23 f.; Scherer (Fn. 1), § 4-2, Rn. 203, 206; Fezer, K. H. in: Fezer, K. H. (Hrsg.), UWG, 2005, § 1, Rn. 52; Plaß (Fn. 10), § 3, Rn. 23; Emmerich (Fn. 9), S. 235 f.; Hasselblatt (Fn. 7), § 63, Rn. 54; offen, aber eher bejahend Lettl (Fn. 10), Rn. 172. 23 Stuckel (Fn. 10), § 4 Nr. 1, Rn. 105. 24 Köhler (Fn. 10), § 3, Rn. 24. 22

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Interessen der Verbraucher berührten; die Einbeziehung der Grundwerte im Rahmen der Generalklausel würde stattdessen zu einer unterschiedlichen Auslegung der Vorgaben des Europarechts führen. 25 Daher sei es allein dem Gesetzgeber vorbehalten, einen die Grundwerte verletzende Werbung regelnden Tatbestand innerhalb oder außerhalb des UWG (etwa im Ordnungswidrigkeitengesetz [OWiG]) zu schaffen. 26 Den Rechtsanwendern sei es jedoch verwehrt, § 3 UWG auf Grundwerte missachtende Werbung anzuwenden. 27 Dem ist für die Menschenwürde jedoch entgegenzuhalten, dass diese konstituierende Grundlage der gesamten Rechtsordnung in der Bundesrepublik Deutschland ist: Art. 1 I GG verpflichtet explizit jede Staatsgewalt, die Menschenwürde zu achten und zu schützen. Dies ist nicht beschränkt auf die Legislative und die Exekutive, sondern ebenso ist die Judikative verpflichtet. Der Rechtsanwender ist daher gehalten, die Menschenwürde im Rahmen des von ihm anzuwendenden Rechts zu beachten; dass dabei den Generalklauseln eine zentrale Rolle zufällt, ist Allgemeingut in Rechtsprechung und Rechtswissenschaft. Dass sich dadurch Divergenzen zum Europäischen Recht ergeben könnten, ist deshalb ausgeschlossen, weil auch Art. 3 EMRK eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung ächtet und die Mitglieder der EU durch die EMRK gebunden sind. Die Verletzung der Menschenwürde i. S. d. Art. 1 I GG ist daher zur Begründung einer Unlauterkeit gem. § 3 UWG geeignet. Es fragt sich jedoch, ob dies bereits für ein Verbot der unlauteren Wettbewerbshandlung ausreicht oder ob zusätzlich die übrigen Tatbestandsmerkmale des § 3 UWG erfüllt sein müssen. 28 Die Überlegung von Helmut Köhler und Stefanie Otto hierzu ist, dass ohne Beeinträchtigung des Wettbewerbs (wie dies § 3 UWG fordert) keine Möglichkeit besteht, die Handlung nach Wettbewerbsrecht zu verbieten. 29 Diese Überlegung ist auf den ersten Blick konsequent und bestechend: Strikt an der Funktionsorientiertheit des neuen Unlauterkeitsrechts ausgerichtet, soll auch eine Verletzung der Menschenwürde nur dann nach § 3 UWG verboten werden können, wenn die Marktfunktion gestört wird, also der Wettbewerbsbezug gegeben ist. Jedoch ist zu beachten, dass die Menschenwürde i. S. d. Art. 1 I GG nicht nur oberster Wert der Verfassung, sondern zugleich konstituierende Grundlage der gesamten Rechtsordnung ist. Die Menschenwürde ist der absolute Mindeststandard in allen Lebensbereichen – also auch im Wettbewerb. Die Achtung der Menschenwürde anderer Marktteilnehmer ist daher die Grundlage für jeden ___________ 25

Stuckel (Fn. 10), § 4 Nr. 1, Rn. 105. Stuckel (Fn. 10), § 4 Nr. 1, Rn. 105. 27 Stuckel (Fn. 10), § 4 Nr. 1, Rn. 105. 28 So Köhler (Fn. 10), § 3, Rn. 24; Otto, S., Allgemeininteressen im neuen UWG, 2007, S. 193 f. 29 Köhler (Fn. 10), § 3, Rn. 24; Otto (Fn. 28), S. 193 f. 26

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freien Wettbewerb: Der freie Wettbewerb setzt mithin voraus, dass die Marktsubjekte sich zumindest als Menschen gegenseitig so weit achten, dass sie die Menschenwürde anderer Menschen nicht antasten. Ein Wettbewerb, der nicht auf dieser Basis stattfindet, kann per se nicht den Schutz der Rechtsordnung beanspruchen. 30 Die Frage nach der Erfüllung der übrigen Tatbestandsmerkmale des § 3 UWG erübrigt sich damit, da eine Wettbewerbshandlung, die die Menschenwürde anderer Personen verletzt und damit gegen Art. 1 I GG verstößt, automatisch den freien Wettbewerb zum Nachteil aller übrigen Marktteilnehmer beeinträchtigt, da freier Wettbewerb i. S. d. Unlauterkeitsrechts nur ein solcher sein kann, der auf der Basis der Achtung der Menschenwürde der übrigen Menschen stattfindet. Festzuhalten ist somit, dass mit Hilfe der Generalklausel des § 3 UWG eine die Menschenwürde i. S. d. Art. 1 I GG verletzende Wettbewerbshandlung untersagt werden kann.

IV. Fallkonstellationen der Verletzung der Menschenwürde durch Werbung 1. Inhalt des Rechtsbegriffs der Menschenwürde gem. Art. 1 I GG Um feststellen zu können, welcher Art die Werbung sein muss, um die Menschenwürde zu verletzen und damit gegen Art. 1 I GG zu verstoßen, ist zunächst der Inhalt des Rechtsbegriffs Menschenwürde, den diese gem. Art. 1 I GG hat, zu klären. Bereits eingangs wurde betont, dass Menschenwürde ein Rechtsbegriff ist und daher umgangssprachliche Aussagen wie „entwürdigend“, „würdelos“ oder ähnliches nicht relevant sind. Zwar gibt Art. 1 I GG nach ganz einhelliger Auffassung keinen subsumierbaren Tatbestand. 31 Jedoch hat sich in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht 32 und in der Literatur 33 die so genannte „Objektformel“ herausgebildet: Diese auf Günter Dürig zurückgehende „Objektformel“ besagt, dass die Menschenwürde betroffen ist, „wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu

___________ 30

Vgl. Scherer (Fn.1), § 4-2, Rn. 203. BVerfG, NJW 1993, 3315; Höfling, W., in: Sachs, M. (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2003, Art. 1, Rn. 4 ff., 6 ff., 12; Kunig, P., in: Münch, I. v. / Kunig, P. (Hrsg.), GG, 5. Aufl. 2000, Art. 1, Rn. 22. 32 BVerfGE 9, 89 (95); BVerfGE 27, 1 (6); BVerfGE 45, 187 (228); BVerfGE 50, 166 (175). 33 Vgl. Kunig (Fn. 31), Art. 1, Rn. 22; Höfling (Fn. 31), Art. 1 Rn. 13; Jarass, H. D., in: Jarass, H. D. / Pieroth, B. (Hrsg.), GG, 7. Aufl. 2004, Art. 1, Rn. 7. 31

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einem bloßen Mittel, zu einer vertretbaren Größe herabgewürdigt wird“. 34 Dies ist typischerweise dann der Fall, wenn die Subjektqualität eines Menschen prinzipiell in Frage gestellt wird. 35 Zudem ist die Menschenwürde betroffen, wenn die prinzipielle Gleichheit eines Menschen mit allen anderen Menschen in Zweifel gezogen wird. 36 Von Art. 1 I GG ist daher der Kernbereich menschlicher Existenz geschützt. 37 Für den Rechtsanwender stellt sich aber – angesichts der keiner Abwägung zugänglichen, absoluten Grenze, die Art 1 I GG zieht – folgendes Problem: Es gibt zwei Alternativen bei der Konkretisierung der Menschenwürde. Entweder Art. 1 I GG „schrumpft“ im Privatrechtsverkehr zur „kleinen Münze“ oder er bleibt als absolut geltende Basis des demokratischen Verfassungsstaates schlechthin die unüberwindbare Grenze für alle gesellschaftliche und staatliche Gewalt. 38 Will man Letzteres – also die Absolutheit des Anspruchs des Art. 1 I GG und seine Unüberwindbarkeit und die mangelnde Abwägbarkeit gegenüber dem Gebrauch aller anderen Grundrechte – beibehalten, muss man sehr strenge Maßstäbe für die Verletzung der Menschenwürde anlegen: Denn es gibt nahezu nichts, was nicht zu einer Frage der Menschenwürde gemacht werden kann – bis hin zu den ö-Tüpfelchen auf computergefertigten Telefonrechnungen. 39 Solche exzessiv ausdehnenden Interpretationen des Art. 1 I GG bzw. seine Überlagerung durch moralisierende Alltagsphrasen mit Menschenwürde als rhetorischer Floskel wirken daher ausgesprochen kontraproduktiv: Sie schwächen den allgemeinen Konsens darüber, was unumstrittener verfassungsrechtlicher Kern der fundamentalen Grundlage unserer gesamten Rechtsordnung, nämlich des Art. 1 I GG ist. 40 Mittelfristig würde außerdem eine solche Ausweitung des Art. 1 I GG die grundrechtsdogmatische Konsequenz haben, den Menschenwürdeschutz durch Abwägung mit anderen Interessen relativierbar zu machen. 41 ___________ 34 Dürig, G., Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, in: Archiv für öffentliches Recht (AöR), Bd. 81 (1956), S. 117 ff. (127); ders., in: Maunz, T. et. al (Hrsg.), GG, 42. Aufl. 2003, Art. 1 Abs.1, Rn. 28. 35 BVerfGE 50, 166 (175); BVerfGE 87, 209 (228). 36 BVerfGE 27, 1 (6); BVerfGE 28, 386, 391; BVerfGE 30, 1 (26); BVerfGE 45, 187 (227); BVerfGE 50, 166 (175); BVerfGE 87, 209 (228). 37 Höfling (Fn. 31), Art. 1, Rn. 16. 38 Schulze-Fielitz, H., Anmerkung zu BVerfG, Juristenzeitung (JZ) 2001, 299, in: JZ 2001, S. 302 ff. (304); Höfling (Fn. 31), Art. 1, Rn. 9; Jarass (Fn. 33), Art. 1, Rn. 5. 39 Höfling (Fn. 31), Art. 1, Rn. 14; ähnlich Schulze-Fielitz (Fn. 38), S. 304. 40 Schulze-Fielitz (Fn. 38), 304; Hartwig, H., „H.I.V. POSITIVE II“ – zugleich Abschied vom Verbot gefühlsbetonter Werbung, in: WRP 2003, S. 582 ff. (602); ähnlich Lange, K. W., Anmerkung zu BVerfG, JZ 2003, 622, in: JZ 2003, S. 624 (625). 41 Schulze-Fielitz (Fn. 38), S. 304.

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Um dies zu verhindern, bleibt nichts anderes übrig, als die zweite geschilderte Alternative zu wählen: Art 1 I GG als absolut geltende Basis des demokratischen Verfassungsstaates eine schlechthin unüberwindliche Grenze für alle gesellschaftliche und staatliche Gewalt bleiben zu lassen. Dies kann aber nur dadurch gesichert werden, indem sehr strenge Maßstäbe und sehr hohe Anforderungen für eine Begründung der Verletzung der Menschenwürde aufgestellt werden. Zunächst ist dabei festzustellen, dass die Frage, wann ein Mensch zum „Objekt“ gemacht wird, nicht umgangssprachlich, sondern verfassungsrechtlich zu bestimmen ist – die Menschenwürde ist ein Rechtsbegriff. 42 Wenn daher umgangssprachlich von „Sexualobjekt“, „Lustobjekt“, „Reizobjekt“, „Gewaltobjekt“ etc. die Rede ist, hat dies für die verfassungsrechtliche Beurteilung keine Bedeutung. Vielmehr müssen die Kriterien, die für Art. 1 I GG maßgeblich sind, aus dem oben Dargelegten gewonnen werden. Da in der Werbung Menschen in ganz unterschiedlichem Kontext dargestellt werden, muss die Frage, ob die Menschenwürde verletzt ist, für die jeweils charakteristische Darstellungsweise gesondert beantwortet werden. Generell gilt aber für alle Darstellungsweisen gemeinsam die Maßgeblichkeit des Empfängerhorizontes. 2. Fallgruppen a) Gewaltanwendung gegenüber Dritten Der oben 43 geschilderte Fall, dass Gewalt gegenüber einem Dritten (etwa einem nahen Angehörigen) ausgeübt oder angedroht wird oder dieser seiner Freiheit beraubt wird, bis der betreffende Marktpartner sich zum Geschäftsabschluss bereit findet (der Dritte also quasi als „Geisel“ benutzt wird), stellt eine Behandlung des Dritten als „Objekt“ dar und leugnet mithin seine Subjektqualität. Diese krassen Fälle der Gewaltanwendung oder Bedrohung zu Wettbewerbszwecken verletzen die Menschenwürde des als „Geisel“ benutzten Dritten und verstoßen somit gegen § 3 UWG i. V. m. Art. 1 I GG. Diese – typischerweise aus dem Bereich der organisierten Kriminalität bekannten – Methoden sind jedoch nahezu nie Gegenstand wettbewerbsrechtlicher Streitfälle. b) „Schock“-Werbung Dem eingangs geschilderten Fall des nackten menschlichen Gesäßes mit dem Stempelaufdruck „H.I.V. POSITIVE“ und dem am Bildrand stehenden ___________ 42 43

Kunig (Fn. 33), Art. 1, Rn. 18. II.3.

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Logo „United Colors of Benetton“ 44 ist – vom objektivierten Empfängerhorizont. – die Aussage zu entnehmen, dass die „abstempelnde“ Behandlung, die AIDS-Kranke häufig in der Gesellschaft erfahren, plakativ kritisiert wird; diese Darstellung prangert die Stigmatisierung der AIDS-Kranken an. Eine Verächtlichmachung oder Verhöhnung und eine Ausgrenzung und Stigmatisierung der AIDS-Kranken durch dieses Werbefoto 45 sind damit gerade nicht Aussageinhalt. Eine Unlauterkeit wegen Verletzung der Menschenwürde ist daher nicht nur in diesem konkreten Fall der „Schock“-Werbung nicht gegeben, sondern generell bei Vorliegen von schockierenden Bildern, die plakativ bestimmte Missstände kritisieren, um auf das werbende Unternehmen aufmerksam zu machen – allenfalls kann der gute Geschmack oder die Sittlichkeit verletzt sein, die aber beide weder von Art. 1 I GG noch vom UWG geschützt werden.

c) Gewaltverherrlichende Werbung Der eingangs geschilderte Fall, wo auf einem Werbefoto für eine Fernsehsendung eine junge Frau gezeigt wird, die einem Mann in Unterhosen in die Genitalien tritt, mit der Überschrift: „Watch this piece of shit!“ ist – um die mögliche Verletzung der Menschenwürde eines jeden Mannes zu beurteilen – in seinem Kontext zu sehen. Dieser Kontext der Anzeige war dergestalt, dass bei der beworbenen Fernsehsendung Frauen ihren angestauten Frust und ihre Wut auf Männer gewaltsam abreagieren konnten – wobei die Männer tatsächlich jedoch geschützt waren, so dass selbst heftige Tritte oder Schläge keine Schmerzen oder Verletzungen bewirken konnten. Anhand der „Objektformel“ 46 müssten – um die Menschenwürde eines jeden Mannes zu verletzen – durch diese Werbung (und zugleich die Fernsehsendung) die Männer als generell nicht gleichwertig mit den Frauen dargestellt werden oder sie müssten prinzipiell als „Nicht-Menschen“ abqualifiziert werden, indem ihnen die Subjektsqualität abgesprochen wird. Die Darstellung von Gewalttätigkeiten von Frauen gegen Männern ist jedoch – nimmt man die Kriminalitätsstatistik als Hintergrund – das typische Gegenteil der in der Realität bei Gewaltdelikten vorkommenden Verhaltensmuster: Gewalt richtet sich in der Realität typischerweise von Männern gegen Frauen oder von Frauen gegen sich selbst, extrem selten aber von Frauen gegen Männer. ___________ 44

BVerfGE 102, 347; BVerfG, WRP 2003, 633. So der BGH, Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht (GRUR), 1995, 600 (601); BGH, WRP 2002, 434. 46 Siehe oben IV.1. 45

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Die Sendung (und die Werbung für sie) kann daher nicht gesehen werden als Leugnung der Gleichwertigkeit der Geschlechter und – auf dieser Grundlage – als Aufforderung an die Frauen, Gewalt gegen Männer zu üben, sondern als psychische Entlastungsstrategie für frustrierte Frauen, die selbst nicht gewalttätig werden und sich ihrerseits häufig den Männern unterlegen fühlen. Eine Leugnung der Gleichwertigkeit der Männer mit den Frauen und damit eine Verletzung der Menschenwürde der Männer ist somit weder mit der Sendung noch der Werbung für sie verbunden. Generell ist daher zu sagen, dass Gewalt verherrlichende Werbung nicht ohne den realen Kontext, in dem sie steht, beurteilt werden kann: Ist der Werbung eine Aufforderung zu realen Gewalttätigkeiten gegen andere Menschen zu entnehmen, muss typischerweise davon ausgegangen werden, dass sie geschieht, weil man diese anderen Menschen als minderwertig ansieht – mit als gleichwertig empfundenen Menschen pflegt man im demokratischen Rechtsstaat ausschließlich die verbale Auseinandersetzung. Eine Aufforderung zur Verübung realer Gewalt gegen andere Menschen setzt voraus, dass man diese als nicht gleichwertig ansieht. Ist hingegen das dargestellte Geschehen rein fiktiv, weil der Lebensrealität entgegenstehend, dient die Gewalt nur als psychische Entlastungsstrategie und leugnet nicht die Gleichwertigkeit mit anderen Menschen.

d) Ethnisch und/oder religiös diskriminierende Werbung Der eingangs geschilderte Fall des Ladenschildes: „Für Hunde und Juden (oder: Christen, Muslime, Hindus etc.) verboten!“ und einer Werbung dieses Ladeninhabers, dass zu seinem Laden „nur anständige Menschen, nicht aber Juden (oder: Christen, Muslime, Hindus etc.) Zutritt“ haben, zielt darauf ab, die Angehörigen einer religiösen (und/oder ethnischen) Gemeinschaft als mit Tieren vergleichbar darzustellen und sie – ohne jeden sachlichen Grund – als unanständig abzuqualifizieren, mithin ihre Gleichwertigkeit mit den übrigen, dieser Gruppe nicht zugehörigen Menschen zu leugnen. Diese Aussagen verletzen daher die Menschenwürde aller Mitglieder dieser religiösen (und/oder ethnischen) Gemeinschaft und sind daher gem. § 3 UWG unzulässig. Generell kann daher gesagt werden, dass eine Werbung, die eine ethnische und/oder religiöse Gruppe als solche ohne sachlichen Hintergrund abqualifiziert und verächtlich macht, die Menschenwürde der Angehörigen dieser Gruppe verletzt. Besteht hingegen ein sachlicher Hintergrund – wie etwa beispielsweise bei einer religiösen Gruppe, bei der die Misshandlung von Menschen zu ihren religiösen Riten gehören würde –, so ist eine Brandmarkung und das Verächtlichmachen dieser religiösen Gruppe aufgrund dieses sachlichen Hintergrundes auch im Wettbewerb zulässig.

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Nicht ausreichend ist jedoch zur Verletzung der Menschenwürde der Angehörigen von religiösen oder ethnischen Gemeinschaften eine umgangssprachlich „würdelose“ Darstellung von religiösen oder nationalen Symbolen, Religionsstiftern, Staatsgründern, religiösen Führern oder exponierten nationalen Persönlichkeiten: Eine Verhöhnung dieser Symbole oder Persönlichkeiten leugnet nämlich nicht die Gleichwertigkeit der Angehörigen dieser religiösen oder ethnischen Gruppe mit übrigen Menschen – der mögliche Anwendungsfall von § 166 I StGB betrifft nicht die Verletzung der Menschenwürde.

e) Behindertendiskriminierende Werbung Ähnliches gilt für die Darstellung von Behinderten in der Werbung, die sich in flapsiger Weise über sie äußert: Zwar kann dies umgangssprachlich als „würdelos“ angesehen werden, es wird dadurch jedoch nicht die Gleichwertigkeit von Behinderten mit Nichtbehinderten oder gar die Subjektsqualität Behinderter geleugnet. Dies gilt etwa für die satirische Darstellung eines Erblindeten in der Werbung, um die Folgen von Blindheit gegenüber den Gegebenheiten des Marktes 47 auf makabre Weise zu demonstrieren; ebenso bei der Abbildung einer Sammlung von Glasaugen in der Werbung einer Krankenkasse 48 oder der Werbung eines Radiosenders mit dem Slogan: „Lieber einen Vogel in der Anzeige als ein Tauber vor dem Radio!“ 49 . Die geschilderten Beispielsfälle von Werbung auf Kosten Behinderter sind zwar allesamt taktlos, leugnen jedoch nicht deren Gleichwertigkeit mit anderen Menschen oder gar ihre Subjektsqualität. Dies wäre erst dann gegeben wenn – entsprechend dem von Gunda Plaß 50 geschilderten Beispiel – Behinderte oder Kranke als „nutzlose Esser“ dargestellt würden, die ihre Minderwertigkeit nur durch den Erwerb des beworbenen Produktes kompensieren könnten (§ 4 Nr. 1, 2. Alt. UWG) oder, sofern sich diese Werbung an Nichtbehinderte richtet, dass diese Nichtbehinderten nur durch den Erwerb des beworbenen Produktes verhindern können, dass sie zu „nutzlosen Essern“ werden. Beide Beispielsfälle verletzen die Menschenwürde der Behinderten, der erste Fall ist über §§ 4 Nr. 1, 2. Alt. 3 UWG, der zweite Fall über § 3 UWG als unlauter i. V. m. § 8 I UWG zu untersagen.

___________ 47 48 49 50

Wassermeyer, A., Diskriminierende Werbung, 2000, Anlage 46. Wassermeyer (Fn. 48), Anlage 45. Wassermeyer (Fn. 48), Anlage 44. Plaß (Fn. 10), § 4, Rn. 30.

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f) Sexistische Werbung Unter der sexistischen Werbung wird im Allgemeinen die kränkende, dem Gedanken der Geschlechtergleichberechtigung zuwiderlaufende werbliche Darstellung verstanden; häufig sind es Frauen, auf deren Kosten diese werblichen Darstellungen gehen, wenn auch in der letzten Zeit die Werbung die Männer „entdeckt“ zu haben scheint. Um die Frage nach der Verletzung der Menschenwürde i. S. d. Art. 1 I GG durch sexistische Werbung zu beantworten, muss zunächst betont werden, dass eine umgangssprachliche Bezeichnung als „Lustobjekt“, „Sexualobjekt“, „Reizobjekt“ o. ä. für die rechtliche Beurteilung irrelevant ist, 51 da die Menschenwürde i. S. d. Art. 1 I GG ein Rechtsbegriff ist. Relevant ist daher nach der maßgeblichen „Objektformel“ die Frage, wann ein Mensch in sexuellem Zusammenhang zum Objekt gemacht wird. Hierbei kann die Lebensrealität der Vielzahl sexueller Praktiken und Verhaltensweisen nicht außer Acht gelassen werden. Das typische Kennzeichen für die „Objektstellung“ einer Person innerhalb dieser sexuellen Lebensrealität ist die Tatsache, dass die Person nicht selbstbestimmt, sondern fremdbestimmt handelt bzw. duldet. 52 Ein solches fremdbestimmtes Agieren ist typischerweise gegeben, wenn Menschen Opfer einer Vergewaltigung, sadistischer Praktiken, pädophiler Handlungen oder generell einer sexuellen Nötigung werden. 53 Hingegen reicht es nicht aus, wenn sich Personen prostituieren, da sie insoweit selbstbestimmt handeln. Ebenso wenig genügt es, wenn Personen sich freiwillig aus sexuellen Gründen mit masochistischen Praktiken erniedrigen. Erst recht handeln Menschen nicht schon fremdbestimmt, wenn sie sich bei sexuellen Handlungen oder bei der Anbahnung sexueller Kontakte rein passiv verhalten. In sexueller Hinsicht ist die Menschenwürde i. S. d. Art. 1 I GG somit nur dann verletzt, wenn eine Person nicht selbstbestimmt, sondern fremdbestimmt agiert, also immer nur dann, wenn ein Mensch Opfer wird. Alle übrigen in der Lebensrealität vorkommenden Sexualpraktiken und -verhaltensweisen reichen nicht zur Verletzung der Menschenwürde aus, da sie freiwillig vorgenommen werden. Diese rechtliche Grenzbestimmung hat Konsequenzen für die Beurteilung hinsichtlich einer Verletzung der Menschenwürde bei erotischen Darstellungen in der Werbung: Die Menschenwürde i. S. d. Art. 1 I GG kann nur dann ___________ 51

Dies erkennt beispielsweise Emmerich (Fn. 9), S. 236, nicht. Über ähnliche Differenzierungskriterien, allerdings für einen letztlich anderen Bereich berichtet Kur, A., Die geschlechtsdiskriminierende Werbung im Recht der nordischen Länder, in: WRP 1995, S. 790 (792); vgl. auch Höfling (Fn. 31), Art. 1, Rn. 30. 53 Ähnlich Ruess, P. / Voigt, S., Wettbewerbsrechtliche Regelungen von diskriminierenden Werbeaussagen. – Notwendigkeit oder abzulehnende Geschmackszensur, in: WRP 2002, S. 171 (176); Scherer (Fn. 1), § 4-2, Rn. 217. 52

Menschenwürde verletzende Werbung

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durch eine erotische Darstellung in der Werbung verletzt werden, wenn ein Mensch als Opfer von sexueller Gewalt oder entsprechenden Drohungen, als Opfer sadistischer oder pädophiler Praktiken dargestellt wird und die Darstellung keine erkennbar kritische Haltung zu der sexuellen Gewalt bzw. den sadistischen oder pädophilen Praktiken einnimmt. 54 Die aus den Jahren 2003/04 bekannte Werbung für eine karitative Hilfsorganisation, die ein dunkelhäutiges, traurig blickendes Mädchen im Grundschulalter zeigt, das in der einen Hand eine Puppe hält, an der anderen von einem erwachsenen, westlich gekleideten Mann fortgezogen wird, enthält zwar die Darstellung einer Kinderprostitution, also fremdbestimmtes Dulden des Kindes, ist jedoch erkennbar kritisch, so dass die Menschenwürde der Kinder durch diese Werbung gerade nicht verletzt wird. Die aus dem Frühjahr 2007 bekannte „Vergewaltigungs-Werbung“ des Bekleidungsherstellers „Dolce & Gabbana“, die ohne erkennbar kritische Haltung eine junge Frau als Opfer sexueller Gewalt zeigt, degradiert hingegen eine Person zum Objekt anderer Personen und verstößt daher gegen die Menschenwürde i. S. d. Art. 1 I GG. Andere Darstellungen als diejenigen, die ohne erkennbar kritische Haltung Menschen als Opfer sexueller Gewalt oder sexueller Nötigung darstellen, reichen hingegen weder für die Verletzung der Menschenwürde von Einzelpersonen noch von Personengruppen (z. B. der Frauen, der Homosexuellen etc.) aus, da sie – ungeachtet ihrer konkreten Ausprägung – nicht fremdbestimmt sind. Erst recht keine Rolle spielt für die Menschenwürde i. S. d. Art. 1 I GG, wie die Verteilung der aktiven und bzw. passiven Rollen bei den sexuellen Kontakten dargestellt wird: Solange das passive Verhalten selbstbestimmt ist, also der betreffende Mensch nicht als fremdbestimmt duldendes Opfer sexueller Nötigung präsentiert wird, wird weder seine Gleichwertigkeit mit anderen Menschen noch seine Subjektsqualität geleugnet. Unter diesem verfassungsrechtlichen Gesichtspunkt ist die Untersagung von erotischen Darstellungen durch die BGH-Rechtsprechung 55 nicht haltbar: Da die Frau in dieser Werbung nicht als Opfer sexueller Gewalt oder erzwungener erotischer Kontakte dargestellt wird (sondern ganz im Gegenteil selbst aktiv und erkennbar interessiert), verletzt die Werbung nicht Art. 1 I GG, sondern lediglich den guten Geschmack. 56 Da der gute Geschmack jedoch weder Schutzgut des UWG noch des Grundgesetzes ist, ist diese Werbung zulässig.

___________ 54

Scherer (Fn. 1), § 4-2, Rn. 218; ähnlich Ruess / Voigt (Fn. 53), S. 176. BGH, NJW 1995, 2486. 56 A. A. Emmerich (Fn. 9), S. 236, der jedoch lediglich mit umgangssprachlichen Bezeichnungen operiert, ohne eine Bestimmung der Menschenwürde als Rechtsbegriff vorzunehmen. 55

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V. Ergebnis Mit § 4 Nr. 1, 2. Alt. UWG sind nur relativ wenige werbliche Darstellungen, die die Menschenwürde verletzen, zu erfassen. Über die Generalklausel des § 3 UWG ist daher der weite Bereich der übrigen denkbaren werblichen Darstellungen, die die Menschenwürde i. S. d. Art. 1 I GG verletzen, erfasst: Ohne dass zugleich eine Eignung zur Beeinträchtigung des Wettbewerbs zum Nachteil anderer Marktbeteiligter vorliegen muss, ist bei Verletzung der Menschenwürde eine Untersagung dieser Wettbewerbshandlung gem. § 3 UWG i. V. m. § 8 I UWG möglich. Die Fallgruppen, in denen aufgrund des § 4 Nr. 1, 2. Alt. UWG oder § 3 UWG i. V. m. Art. 1 I GG ein Verbot möglich ist, sind recht unterschiedlich: Für § 4 Nr. 1, 2. Alt. UWG muss die Menschenwürde gerade dem Umworbenen abgesprochen werden (entweder mittels physischen oder psychischen Einflusses), und zugleich muss diese Wettbewerbshandlung geeignet sein, die Entscheidungsfreiheit des Umworbenen zu beeinträchtigen. Für § 3 UWG i. V. m. Art. 1 I GG ist bei der Benutzung eines Dritten als „Geisel“, um mittels Gewaltanwendung gegen ihn oder Freiheitsberaubung seiner Person den Marktpartner „gefügig“ zu machen, ein Verstoß gegen § 3 UWG i. V. m. Art. 1 I GG gegeben. Bei der „Schock“-Werbung ist keine Untersagung gem. § 3 UWG i. V. m. Art. 1 I GG möglich, da in keiner dieser Fallkonstellationen die Menschenwürde verletzt sein kann. Bei der gewaltverherrlichenden Werbung ist immer dann aufgrund der zu Art. 1 I GG entwickelten „Objektformel“ die Menschenwürde anderer Personen verletzt, wenn der Werbung eine Aufforderung zur Gewalttätigkeit gegen andere Menschen zu entnehmen ist. Bei der ethnischen und/oder religiös diskriminierenden Werbung ist die Menschenwürde anderer Personen dann verletzt, wenn diese Gruppe ohne sachlichen Hintergrund verächtlich gemacht oder abqualifiziert wird. Bei der Werbung, die Behinderte oder Kranke diskriminiert, ist die Menschenwürde der Behinderten immer dann verletzt, wenn diese als nicht gleichwertig mit gesunden Menschen dargestellt werden. Bei der sexistischen Werbung ist Art. 1 I GG immer dann verletzt, wenn Personen – ohne erkennbare Kritik – als Opfer sexueller Gewalt oder erzwungener sexueller Kontakt dargestellt werden. Für alle dargestellten Fallgruppen ist zu betonen, dass die Menschenwürde i. S. d. Art. 1 I GG ein Rechtsbegriff ist und daher umgangssprachliche Bezeichnungen wie „würdelos“, „entwürdigen“ oder „Gewaltobjekt“, „Sexualobjekt“, „Lustobjekt“ etc. für die rechtliche Beurteilung einer Verletzung des Art. 1 I GG noch nicht einmal Präjudizwirkung haben, sondern vielmehr irrelevant sind.

Grundrecht und Grundrechtsgut Matthias Wehr

I. Einleitung Die Dogmatik der Grundrechte ist weithin als eine Dogmatik der Grundrechtseingriffe und ihrer Abwehr ausgestaltet. Die Trias „Schutzbereich – Eingriff – Eingriffsrechtfertigung“ bestimmt (noch) die Struktur der „Grundrechtsprüfung“. 1 Deren Ergebnis besteht in der Feststellung, dass ein Grundrecht durch eine legislative, exekutive oder judikative Maßnahme verletzt oder nicht verletzt ist. Die für die ersten beiden Stufen verwendeten Begriffe sind plastisch und suggestiv. Sie zeichnen das Bild eines quasi räumlich eingegrenzten geschützten Bereichs, in den von außen eingewirkt wird. 2 Dementsprechend ist diese dreistufige Prüfung ganz auf die Funktion der Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte hin ausgerichtet; andere Grundrechtsdimensionen wie Leistungs-, Teilhabe- oder Schutzrechte sowie die objektiv-rechtlichen Gehalte der Grundrechtsnormen können damit nicht adäquat erfasst werden. 3

1. Grundrechtseingriff und Finalität der Grundrechte Doch auch innerhalb der abwehrrechtlichen Dogmatik zeichnen diese Metaphern kein allzu präzises Bild. Der „Eingriff“ weist tendenziell auf eine bestimmte Maßnahme hin 4 und erweckt so den Eindruck, er bestehe (notwendig) aus einem staatlichen Tun. Grundrechte als Abwehrrechte werden auf diese ___________ 1

Vgl. etwa Pieroth, B. / Schlink, B., Grundrechte, Staatsrecht II, 23. Aufl. 2007, Rn. 195 ff.; Richter, I. / Schuppert, G. F. / Bumke, C., Casebook Verfassungsrecht, 4. Aufl. 2001, S. 9 ff. 2 Vgl. etwa Burgi, M., Das Grundrecht der freien Persönlichkeitsentfaltung durch einfaches Gesetz, in: ZG (= Zeitschrift für Gesetzgebung) 9 (1994), S. 341 ff. (343). 3 Auch deshalb kritisch Hoffmann-Riem, W., Enge oder weite Gewährleistungsgehalte der Grundrechte, in: Bäuerle, M. et al. (Hrsg.), Haben wir wirklich Recht?, 2004, S. 53 ff. (57). 4 Kritik auch deshalb bei Ipsen, J., Gesetzliche Einwirkungen auf grundrechtlich geschützte Rechtsgüter, in: JZ 1997, S. 473 ff (478).

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Weise zu Rechten auf Unterlassung von Handlungen reduziert 5 , wohingegen Rechte auf Vornahme solcher Handlungen den Leistungsrechten oder den grundrechtlichen Schutzpflichten subsumiert werden. Das ist schon dann nicht mehr plausibel, wenn beispielsweise eine grundrechtlich geschützte Tätigkeit genehmigungsbedürftig ist. Hier folgt – bei Vorliegen der Voraussetzungen – der Anspruch auf Genehmigung aus dem Abwehrrecht, 6 das demnach durch ein staatliches Unterlassen (der Genehmigungserteilung) verletzt und durch eine Handlung erfüllt wird. Die Austauschbarkeit von Handeln und Unterlassen hat ihren Grund darin, dass die grundrechtlichen Abwehrrechte nicht modal bestimmte Akte verlangen oder untersagen, sondern final auf die Integrität der grundrechtlich geschützten Rechtsgüter bezogen sind. 7 Die dem Abwehrrecht des Bürgers entsprechende Unterlassungspflicht des Staates ist demzufolge nicht auf Handlungen, sondern auf Wirkungen bezogen. 8 Der verhaltensorientierte Terminus des Grundrechtseingriffs ist demgegenüber ganz auf den klassisch genannten Eingriffsbegriff zugeschnitten, der durch Rechtsförmigkeit, Unmittelbarkeit, Finalität und Imperativität 9 gekennzeichnet ist. Vom Blickwinkel der Grundrechte und der durch sie geschützten Interessen aus betrachtet aber macht es zunächst keinen Unterschied, ob ihre Beeinträchtigung auf Akte zurückgeht, die diesen Kriterien entsprechen oder nicht. Dies gilt zumal deshalb, weil der Staat zur Erreichung seiner Ziele ganz unterschiedliche Mittel einsetzen und auch ohne „Befehl und Zwang“ Wirkungen erzielen kann, die dem klassischen Imperativ in nichts nachstehen. Dieser Erkenntnis folgen die zahlreichen Ansätze zur Entwicklung des modernen, mittelbare wie faktische Wirkungen einschließenden „Eingriffs“-Begriffs. Mit ihm löst sich die Lehre vom Grundrechtseingriff aus dem Kontext der Handlungsformenlehre und wandelt sich zu einer Zurechnungslehre, nach der sich bestimmt, für welche Einbußen an welchen Grundrechtsgütern der Staat verantwortlich zu machen ist und die Rechtfertigungslast trägt.

___________ 5

So explizit Grimm, D., Rückkehr zum liberalen Grundrechtsverständnis, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, 2. Aufl. 1994, S. 221 ff. (238); ferner Alexy, R., Theorie der Grundrechte, 2. Aufl. 1994, z. B. S. 174 „Rechte auf negative Handlungen (Abwehrrechte)“. 6 Pieroth / Schlink (Fn. 1), Rn. 62; vgl. auch Gromitsaris, A., Die Lehre von der Genehmigung, in: VerwArch, Bd. 88 (1997), S. 52 ff. (60). 7 Sachs, M., in: Stern, K., Staatsrecht III/2, S. 152; Wehr, M., Rechtspflichten im Verfassungsstaat, 2005, S. 75 ff. m. w. N. 8 Albers, M., Faktische Grundrechtsbeeinträchtigungen als Schutzbereichsproblem, in: DVBl. 1996, S. 233 ff. (234). 9 Vgl. nur Bethge, H., Der Grundrechtseingriff, in: VVDStRL 57 (1988), S. 7 ff. (38).

Grundrecht und Grundrechtsgut

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2. Schutzbereich und Relativität der Grundrechte Mit der aus der Erweiterung des Eingriffsbegriffs folgenden Notwendigkeit, ergänzende Kriterien dafür zu finden, welche Beeinträchtigungen in die staatliche Verantwortung fallen und also der „Prozedur der Rechtfertigung“ 10 zu unterziehen sind, wird zugleich deutlich, dass es offenbar auch Einbußen an (an sich) durch Grundrechtsbestimmungen geschützten Interessen geben kann, bei denen diese Zurechnung misslingt. Dies gilt auch dann, wenn die Beeinträchtigung kausal auf eine staatliche Maßnahme zurückführbar ist. So muss, um ein Beispiel zu nennen, nach der Rechtsprechung des BVerfG eine Regelung, die sich negativ auf die Berufstätigkeit auswirkt, nur dann an Art. 12 Abs. 1 GG gemessen werden, wenn sie zumindest eine „objektiv berufsregelnde Tendenz“ besitzt. 11 Weist sie dieses Zurechnungskriterium nicht auf, so entfällt insoweit der Schutz der beruflichen Tätigkeit durch das Grundrecht der Berufsfreiheit. Das aber kann mit dem verräumlichenden Begriff des „Schutzbereichs“ nicht adäquat abgebildet werden, weil hieraus nicht folgt, dass das jeweilige Grundrecht generell keinen Schutz vor derartigen beeinträchtigenden Wirkungen bietet, sondern eben nur dann, wenn diese Wirkungen dem Staat nicht zurechenbar sind. Diese Relativität der Grundrechte ist vom methodischen Ausgangspunkt der Dogmatik betrachtet aber nur schwer darstellbar, weil dann der „Schutzbereich“ über den „Eingriff“ definiert werden müsste, wenn mangels „Schutz“ nur noch ein „Bereich“ übrig bleibt. 3. Fazit Die (modellhafte) Vorstellung, Grundrechte schützten „Bereiche“ vor „Eingriffen“ erweist sich als problematisch, wenn und weil beide Begriffe nicht mehr kategorial voneinander geschieden werden können. Aus der Perspektive des „klassischen“ Eingriffsbegriffs gelingt dies noch am ehesten, 12 weil der „Schutzbereich“ dem Verhalten des Grundrechtsträgers, der „Eingriff“ dem (und zwar einem bestimmten) Verhalten des Grundrechtsverpflichteten zugeordnet werden kann. Eine an Wirkungen orientierte „Eingriffs-“lehre dagegen kann den Gegenstand des Schutzes nicht unabhängig von Zurechnungszusam___________ 10 Isensee, J., Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: ders. / Kirchhof, P., Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 2. Aufl. 2000, § 111 Rn. 69. 11 Verneint z. B. von BVerfGE 95, 267 (302 f.) – Altschulden; bejaht z. B. von BVerfGE 97, 228 (254 f.) – Kurzberichterstattung. 12 Wobei auch dies nur eine grobe Charakterisierung bietet, die auf den allgemeinen Satz vom Grundrechtsschutz gegen Eingriffe in Freiheit und Eigentum zutrifft. Aus einem rechtsförmlichen, finalen Imperativ kann nur abgeleitet werden, dass er unmittelbar in Grundrechte eingreift, ohne Aussagen zu ermöglichen, in welche. Das Erfordernis einer „objektiv berufsregelnden Tendenz“ beispielsweise behält auch gegenüber dem „klassischen“ Eingriff seine ihm zugedachte Funktion.

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menhängen bestimmen, die von der Schutzrichtung und dem Schutzumfang des Grundrechts abhängig sind. Anders formuliert: Es muss – für jedes Grundrecht gesondert – herausgearbeitet werden, was inwieweit wovor geschützt ist. Den dogmatischen Ansatz hierfür bietet die Unterscheidung von Grundrecht und Grundrechtsgut. 13

II. Grundrechte als subjektive Rechte Grundrechte sind in erster Linie 14 subjektive Rechte der Grundrechtsträger gegen den Staat als Grundrechtsverpflichteten. Grundrechtsbestimmungen konstituieren ein Rechtsverhältnis zwischen dem Grundrechtsberechtigten und dem Grundrechtsverpflichteten im Hinblick auf den jeweiligen Grundrechtsgegenstand. Dieses Rechtsverhältnis ist typischerweise als Rechte-Pflichten-Relation ausgestaltet. Dies gilt für die Grundrechte, die den status negativus ausformen und in dem Abwehrrechten des Einzelnen Unterlassungspflichten des Staates entsprechen; es gilt ebenfalls für den status positivus, in dem Ansprüche auf Teilhabe, Leistung und Schutz gegen den Staat bestehen. Die staatsbürgerlichen Rechte des status activus lassen sich zwar hingegen nicht (durchweg) als Ansprüche rekonstruieren, weil damit das Spezifikum von Gestaltungs- und (Mit-)Entscheidungsrechten nicht erfasst wird. 15 Doch auch sie begründen eine rechtliche Beziehung zwischen Bürger und Staat, die durch eine Berechtigung, ein subjektives Recht, geprägt ist.

1. Interesse – Rechtsgut – subjektives Recht: eine Skizze Das subjektive Recht ist die durch Rechtssätze verliehene „personalisierte und individualisierte Rechtsmacht, die Rechtsordnung zur Verfolgung [eige-

___________ 13 Vgl. dazu insbesondere Ipsen (Fn. 4), S. 475 ff.; diese Unterscheidung liegt auch der neuerdings stärker vertretenen Lehre vom Gewährleistungsgehalt zugrunde, vgl. insbesondere Hoffmann-Riem (Fn. 3), S. 54 ff.; ders., Grundrechtsanwendung unter Rationalitätsanspruch, in: Der Staat 43 (2004), 203 ff. (214 ff.), zur Differenzierung der Eingriffsdogmatik in diesem Sinne Böckenförde, E.-W., Schutzbereich, Eingriff, Verfassungsimmanente Schranken, in: Der Staat, Bd. 42 (2003), S. 165 ff. (174 ff.); am Beispiel des Art. 5 Abs. 3 GG im Ansatz bereits Wahl, R., Freiheit der Wissenschaft als Rechtsproblem, in: Freiburger Universitätsblätter, Heft 95 (1987), S. 19 ff. (32 ff.). 14 Zu objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalten vgl. nur Pieroth / Schlink (Fn. 1), Rn. 73 ff.; terminologisch wäre es womöglich zutreffender, zwischen unterschiedlichen Funktionen von Grundrechtsbestimmungen zu unterscheiden und den Begriff der Grundrechte den aus diesen folgenden subjektiven Berechtigungen vorzubehalten. 15 Vgl. Wehr (Fn. 7), S. 40 f. m. w. N.

Grundrecht und Grundrechtsgut

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ner] 16 Interessen in Bewegung setzen zu können“. 17 Subjektiven Rechten liegen deshalb zunächst Interessen 18 sachlich voraus, die den Rechtsinhabern zugeordnet werden. Welcher Art und welchen Inhalts die Interessen sind, ist unerheblich. Sie können ideeller, materieller oder rechtlicher Natur sein. a) „Rechtsgut“ als Relationsbegriff Interessen erstarken zu Rechtsgütern, sobald und soweit sie rechtlich geschützt sind. Für die Qualifizierung von Interessen als Rechtsgüter kommt es wesentlich darauf an, in welchem Umfang oder in welcher Hinsicht ihnen rechtlicher Schutz widerfährt. Der Begriff des Rechtsguts ist ein Relationsbegriff, der eine Beziehung zwischen einem Interesse einerseits, Art und Maß seiner rechtserheblichen Anerkennung andererseits ausdrückt. So ist das Interesse des Eigentümers am Erhalt der Nutzungsmöglichkeit des Eigentumsgegenstands vor Zerstörung, Beschädigung oder Entziehung durch Dritte rechtlich geschützt. Begibt sich der Eigentümer durch entsprechende Handlungen selbst der Nutzungsmöglichkeit oder wird diese durch Natureinwirkungen beeinträchtigt, so mag das den Eigentümerinteressen zuwiderlaufen, stellt aber keine Verletzung eines Rechtsguts dar, weil und soweit die Rechtsordnung diese Interessen nicht vor Selbstschädigungen und Naturgefahren schützt. b) Objektives und subjektives Recht Die Art und Weise des rechtlichen Schutzes von Interessen und damit ihrer Anerkennung als Rechtsgüter kann sehr unterschiedlich ausfallen. Grundlegend ist die Unterscheidung von objektivem und subjektivem Recht. Objektivrechtlich erfolgt der Schutz insbesondere durch normativ auferlegte Ge- und Verbote, welche die Berücksichtigung oder Förderung von Interessen bzw. die Unterlassung oder Beseitigung von Beeinträchtigungen derselben zum Zweck und zum Inhalt haben. Das subjektive Recht verknüpft diese objektiv-rechtliche Anerkennung von Interessen mit der individuellen Befugnis, dieselbe rechtlich durchzusetzen. Die „Rechtsmacht“ als essential des subjektiven ___________ 16 In diesem Wort spiegelt sich ein Hauptproblem der Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht, nämlich die Frage, ob die Individualisierung von Interessen eine begriffliche Voraussetzung subjektiver Rechte im Öffentlichen Recht darstellt. Sie hat u. a. Bedeutung für die Anerkennung von subjektiv-öffentlichen Rechten des Staates (vgl. dazu Bauer, H., Geschichtliche Grundlagen der Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht, 1986, z. B. S. 166 ff.). 17 Schmidt-Aßmann, E., in: Maunz, Th. / Dürig, G. et al., Grundgesetz, Art. 19 Abs. 4, Rn. 118. 18 Zum (schillernden) Begriff des Interesses und verwandter Termini vgl. Uerpmann, R., Das öffentliche Interesse, 1999, S. 23 ff. m. w. N.

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Rechts 19 kann so verstanden werden als die rechtlich zugewiesene Fähigkeit zu rechtserheblichem, rechtsfolgenbegründendem Verhalten („rechtliches Können“ 20 ) zum Zwecke der Wahrung, Förderung oder Durchsetzung von Interessen. c) Inhalt und Gegenstand subjektiver Rechte Hieraus wird ersichtlich, dass zwischen dem Rechtsgut als rechtlich geschütztem Interesse und dem subjektiven Recht, das seinem Schutz dient, eine spezifische Relation besteht. Das Interesse ist der Rechtsgrund für das subjektive Recht, dieses eine Form seines rechtlichen Schutzes. Dementsprechend ist zu differenzieren zwischen dem Inhalt eines Rechts und seinem Gegenstand. Der Inhalt des Rechts bezeichnet dasjenige, wozu sein Träger berechtigt ist, der Gegenstand des Rechts das Interesse, um dessentwillen die Berechtigung besteht. Das gilt für alle subjektiven Rechte, also auch für Grundrechte und grundrechtsgleiche Rechte, bei denen freilich angesichts der sprachlichen Fassung der Grundrechtsnormen sowohl die Bestimmung von Gegenstand und Inhalt als auch die Unterscheidung beider voneinander zum Teil hohe interpretatorische Anforderungen stellt. Ein „Recht auf Leben“ beispielsweise, wie es in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG formuliert ist, stellte, nähme man es beim Wort, ein von keinem Staat der Welt einzulösendes Heilsversprechen dar; interpretiert als ein vom Staat erst verliehenes „Recht zu leben“ wäre es gar eine Anmaßung, die mit der Personalität und Würde des Menschen nicht vereinbar wäre. „Das Leben“ ist als Rechtsgut aber lediglich Gegenstand des Grundrechts. Seinem Inhalt nach gewährt Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG vielmehr etwa ein Recht auf Schutz des Lebens 21 oder ein Abwehrrecht gegen hoheitliche Tötungsakte. 2. Die Gewährleistung der Grundrechtsgegenstände Dadurch mag der kategoriale Unterschied zwischen Gegenstand und Inhalt eines Rechts 22 exemplarisch deutlich und zugleich ein Einblick in die spezifi___________ 19

Wahl, R., in: Schoch, F. / Schmidt-Aßmann, E. / Pietzner, R. (Hrsg.), VwGO, Stand Februar 2007, Vorb. § 42 Abs. 2, Rn. 46. 20 Scherzberg, A., Grundlagen und Typologie des subjektiv-öffentlichen Rechts, in: DVBl. 1988, S. 129 ff. (132). 21 Zur Subjektivierung der staatlichen Schutzpflicht zum Schutzrecht vgl. etwa BVerfGE 77, 170 (214). 22 So ist es denn auch ein Unterschied, ob es „das menschliche Leben“ ist, das innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung einen Höchstwert darstellt (so BVerfGE 49, 24 [53]) oder „das Recht auf Leben“ (so Kunig, Ph., in: Münch, I. v. / Kunig, Ph. [Hrsg.], Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 5. Aufl. 2000, Art. 2, Rn. 44).

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schen Regelungsmodi von Grundrechtsbestimmungen eröffnet werden. 23 Ihnen liegen zunächst Interessen zugrunde, die vom Verfassungsgeber als schutz- und förderungswürdig und -bedürftig angesehen wurden und auf welche die Grundrechtsbestimmungen Bezug nehmen. Sie werden vom Grundgesetz vorausgesetzt, aber nicht von ihm geschaffen. Das ist unmittelbar einsichtig, soweit es sich um existenzielle und ideelle Interessen wie z. B. Leben, körperliche Unversehrtheit, Glaube und Gewissen oder um Handlungsmöglichkeiten handelt, die in einem umfassenden, nicht weiter eingegrenzten Sinne Gegenstand der allgemeinen Handlungsfreiheit sind. 24 Sie sind dem Menschen als solchem eigen und in ihrem Bestand nicht von staatlicher Verleihung abhängig. Manche Grundrechtsbestimmungen hingegen setzen eine rechtliche Ordnung des Lebensbereichs voraus, auf den sie Bezug nehmen und welcher Gegenstand der aus ihnen folgenden Rechte ist. Das gilt etwa für das Rechtsinstitut der Ehe (Art. 6 Abs. 1 GG), Eigentum und Erbrecht als Schutzgüter des Art. 14 Abs. 1 GG, hinsichtlich einzelner Aspekte z. B. auch für Vereinigungen i. S. d. Art. 9 Abs. 1 GG 25 oder den Rundfunk i. S. d. Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG. 26 Die Notwendigkeit der rechtlichen Begründung oder Ausgestaltung des Grundrechtsgegenstandes 27 lässt indes die Differenz zwischen Grundrecht und Grundrechtsgut nicht entfallen, sondern verbindet sie dergestalt mit dem Stufenbau der Rechtsordnung, dass das Grundrecht der Ebene der Verfassung, die Konstituierung oder Ausformung des Rechtsguts der unterverfassungsrechtlichen Ebene zugehört. Für derartige normgeprägte Schutzgegenstände gilt aber wie für die anderen auch, dass sie durch das Grundgesetz nicht „gewährt“, sondern lediglich „gewährleistet“ werden. Grundrechtsnormen nehmen auf sie Bezug und knüpfen hieran Rechtsfolgen, die Art und Umfang dieser Gewährleistung enthalten. Erst durch diese Rechtsfolgen werden Grundrechtsgegenstände zu Grundrechtsgütern. Die Gesamtheit der Rechtsfolgen kann mit dem Begriff des Gewährleistungsgehalts bezeichnet werden. 28 ___________ 23 Zum Folgenden vgl. insbes. Ipsen (Fn. 4), S. 475 f. (der als Grundrechtsinhalt bezeichnet, was hier als Grundrechtsgegenstand benannt wird). 24 Vgl. nur Dreier, H., in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 2. Aufl. 2004, Art. 2 I, Rn. 27 m. w. N. 25 Vgl. BVerfGE 50, 290 (354). 26 Vgl. etwa BVerfGE 57, 295 (320). 27 Art und Maß dieser Ausgestaltungsnotwendigkeit können sich u. U. erst aus der durch Verfassungsinterpretation zu gewinnenden inhaltlichen Bestimmung des Grundrechtsgegenstandes ergeben. So definiert das BVerfG (E 57, 295 [320]; 73, 118 [153]) als Schutzgut der Rundfunkfreiheit nicht nur die freie (individuelle und öffentliche), sondern zugleich die umfassende Meinungsbildung. Als Folge dessen qualifiziert es die für die Sicherung der Meinungsvielfalt erforderlichen materiellen, organisatorischen und verfahrensrechtlichen Vorschriften nicht als Grundrechtsbeschränkung, sondern als Ausgestaltung des Grundrechtsgegenstandes. 28 Auch als Schutzgehalt oder Gewährleistungsinhalt bezeichnet, vgl. HoffmannRiem (Fn. 3), S. 55 f.; Böckenförde (Fn. 13), S. 174; das BVerfG verwendet den Begriff

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3. Der Gewährleistungsgehalt a) Die Begrenztheit der Gewährleistung Grundrechtsgegenstände umfassen in der Summe, nicht zuletzt aufgrund der tatbestandlichen Weite des Art. 2 Abs. 1 GG, tendenziell alle denkbaren Individualinteressen und sind deshalb grundsätzlich entwicklungsoffen und nicht eingrenzbar. Im Gegensatz ist der Gewährleistungsgehalt als rechtliche Folge der Grundrechtsbestimmungen stets und notwendig begrenzt. 29 Soweit gelegentlich ein „lückenloser Grundrechtsschutz“ konstatiert oder beklagt wird, ist in aller Regel diese tendenzielle Unbegrenztheit der Grundrechtsgegenstände gemeint. Der Schutz der Grundrechte wird z. B. durch Art. 19 Abs. 4 GG näher ausgeformt (und ist insofern als Rechtsschutz durchaus „lückenlos“). Der Schutz der Grundrechtsgegenstände hingegen findet seine verfassungsrechtlichen 30 Grenzen an den jeweiligen Gewährleistungsgehalten, die eine rechtssubjektive und eine inhaltliche Komponente haben. b) Das grundrechtliche Rechtsverhältnis Grenzen ergeben sich zunächst aus der Bestimmung der Rechtssubjekte, die an dem grundrechtlichen Rechtsverhältnis 31 beteiligt sind. Auf der einen Seite unterscheidet das Grundgesetz zwischen Menschenrechten und Grundrechten, die nur deutschen Staatsangehörigen zustehen und differenziert so den Kreis der Grundrechtsberechtigten aus. Auf der anderen Seite wird nach Art. 1 Abs. 3 GG nur die staatliche Gewalt an die Grundrechte gebunden, d. h. nach Maßgabe des Inhalts der Grundrechtsbestimmungen verpflichtet. Rechtsverhältnisse Privater untereinander sind nicht Regelungsthema der Grundrechtsbestimmungen. 32 In diesem Verhältnis sind die Gegenstände grundrechtlicher Gewährleistung nicht schon auf Verfassungsebene als Rechtsgüter konstituiert; das kann – und muss – erst die einfache Rechtsordnung leisten. Deshalb kann es „Grundrechtskollisionen“ im Verhältnis der Grundrechtsberechtigten unter___________ Gewährleistungsbereich, differenziert aber hierbei nicht zwischen Gegenstand und Inhalt des Grundrechts, vgl. etwa BVerfGE 23, 23 (31); 44, 249 (270); 101, 239 (262); 102, 197 (211); 105, 252 (268). 29 U. a. hieran setzt die Kritik an der Lehre vom Gewährleistungsgehalt an, vgl. insbes. Kahl, W., Vom weiten Schutzbereich zum engen Gewährleistungsgehalt, in: Der Staat, Bd. 43 (2004), S. 167 ff. (185 ff.). 30 Die Grundrechtsgegenstände werden freilich in weitem Umfang in der unterfassungsrechtlichen Rechtsordnung zusätzlich als Rechtsgüter ausgeformt. 31 Oben II. vor 1. 32 Vgl. zu Grundpflichten, „Immanenzlehren“ und verwandten Überlegungen, Grundrechte ohne einfachgesetzliche Vermittlung für das Verhältnis Privater untereinander zur Anwendung zu bringen Wehr (Fn. 7), S. 173 ff., 193 ff. m. w. N.

Grundrecht und Grundrechtsgut

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einander nicht geben. Aus Sicht des Grundgesetzes können insoweit nur Privatinteressen kollidieren, die lediglich im Verhältnis Privater zum Staat Rechtsgüter sind.

c) Der Grundrechtsinhalt Das grundrechtliche Rechtsverhältnis wird durch den Grundrechtsinhalt ausgestaltet, also dasjenige, wozu sie ihren Träger gegenüber dem Staat berechtigen. Das Grundgesetz formuliert das sehr unterschiedlich. Ihrem Wortlaut nach begründen Grundrechtsnormen Rechte, 33 gewährleisten bestimmte Schutzgüter oder Rechte 34 oder erklären sie für unverletzlich, 35 verbieten Benachteiligung, Bevorzugung 36 und Zwang, 37 oder gebieten Schutz. 38 Es gehört zu den großen Leistungen der Grundrechtsinterpretation und -dogmatik unter dem Grundgesetz, die Rechtsfolgen der Grundrechtsbestimmungen, die Breiten- und Tiefendimensionen dieser Rechtsfolgen entfaltet und Grundkategorien erarbeitet zu haben, mit denen sich die jeweiligen Gewährleistungsgehalte begrifflich erfassen lassen. Hieraus lassen sich indes keine generellen Aussagen über den Inhalt der einzelnen Grundrechte ableiten. Grundrechte sind Schutzrechte zugunsten der Interessen, die ihnen zugrunde liegen. Diese sind ihrer Art nach unterschiedlich und unterschiedlichen Gefährdungen ausgesetzt, so dass auch ihr Schutz durch subjektive Rechte, soll er seine Funktion erfüllen, differenziert ausfallen kann. Selbst im Hinblick auf die „primäre“ Funktion der Grundrechte als Abwehrrechte gegen den Staat sind Verallgemeinerungen Grenzen gesetzt. Dass sie Schutz vor Eingriffen gewähren, ist allenfalls eine erste Annäherung. Dass hierbei unter „Eingriff“ bei allen Grundrechten jeweils derselbe Modus der Beeinträchtigung der Grundrechtsgüter zu verstehen ist, ist denkbar, aber nicht zwingend. Ob das Abwehrrecht alle negativen staatlichen Einwirkungen auf den jeweiligen Grundrechtsgegenstand erfasst, anhand welcher Kriterien – etwa Finalität, Vorhersehbarkeit, Kausalität – Minderungen grundrechtlicher Interessen durch Dritte dem Staat zurechenbar sind etc., wovor ein Grundrecht schützt und wozu es seinen Träger berechtigt, sind Fragen, die im Detail nur für jedes Grundrecht gesondert zu beantworten sind. ___________ 33 Z. B. Art. 2 Abs. 1, Abs. 2 S. 1, 5 Abs. 1 S. 1; 6 Abs. 2, 7 Abs. 2, 8 Abs. 1; 9 Abs. 1; 12 Abs. 1 S. 1; 16a Abs. 1; 17 GG. 34 Art. 4 Abs. 2; 5 Abs. 1 S. 2; 7 Abs. 4 S. 1; 9 Abs. 3; 14 Abs. 1 S. 1 GG. 35 Art. 2 Abs. 2 S. 2; 4 Abs. 1; 10 Abs. 1; 13 Abs. 1 GG. 36 Art. 3 Abs. 3 GG. 37 Art. 4 Abs. 3; 12 Abs. 2 GG. 38 Art. 6 Abs. 1 und 4 GG.

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III. Beeinträchtigung des Grundrechtsguts und Beschränkung des Grundrechts Die Differenzierung zwischen Grundrecht und Grundrechtsgut ermöglicht es, einzelne Sachfragen deutlicher der Problemebene zuzuordnen, der sie angehören. Das soll hier 39 an wenigen Beispielen anhand der Grundrechte als Abwehrrechte erläutert werden.

1. Die verfassungsrechtliche Rechtfertigung von Beeinträchtigungen Grundrechtsrelevante Maßnahmen des Staates können sowohl das Grundrecht als auch das Rechtsgut betreffen. 40 Eine notwendige Verbindung zwischen beiden besteht nicht. Wird der Gegenstand eines Grundrechts beeinträchtigt und ist dies dem Staat zurechenbar, so beinhaltet das Grundrecht die Möglichkeit, diese Beeinträchtigung rechtlich abzuwehren. Das Recht setzt somit zunächst dem staatlichen Zugriff auf das Rechtsgut Grenzen. Dennoch stellt nicht jede derartige Minderung grundrechtlich geschützter Interessen eine Rechtsverletzung dar. Das Grundgesetz sieht die Möglichkeit der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung von Beeinträchtigungen in gewissem Umfang vor. Diese haben eine „materielle“ und eine „modale“ Seite: Die materielle Seite betrifft die Ebene des Grundrechtsgutes. Es darf nur – verallgemeinernd gesprochen – zugunsten anderer, legitimer Belange und nur unter Wahrung des Übermaßverbotes beeinträchtigt werden. Diese Anforderungen legitimieren die Minderung des grundrechtlich geschützten Interesses, sie legalisieren sie jedoch nicht, weil sie das Recht auf Abwehr der Beeinträchtigung unberührt lassen. Die Rechtfertigung setzt deshalb zusätzlich voraus, dass dem Grundrechtsgut der verfassungsrechtliche Schutz vor der in Rede stehenden Beeinträchtigung entzogen, das Recht, das diesen Schutz gewährt, entsprechend beschränkt ist. Dies verweist auf die „modale“ Seite der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung, die der Ebene des Grundrechts zugehört. Subjektive Rechte als Rechtsfolgen von Rechtsnormen können nicht durch rein faktische Gegebenheiten inhaltlich verändert werden. Vielmehr ist dies seinerseits nur als Rechtsfolge von Rechtsakten, als Inhalt einer Regelung denkbar. Solche Regelungen sieht das Grundgesetz in einer Reihe von Grundgesetzbe___________ 39

Eine Reihe weiterer bedenkenswerter Folgerungen zieht Ipsen (Fn. 4), S. 475 ff., 478 ff.; zur Unterscheidung von Eigentumsinhalts- und Schrankenbestimmungen, die ebenfalls auf der Differenzierung von Grundrecht und Grundrechtsgut basiert, Wehr (Fn. 7), S. 212 ff. 40 Vgl. auch Alexy (Fn. 5), S. 253.

Grundrecht und Grundrechtsgut

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stimmungen vor, die zum Eingriff in 41 bzw. zur Be- oder Einschränkung von Grundrechten 42 ermächtigen oder als „Schranken“ 43 dieser Rechte bezeichnet werden; teilweise 44 werden auch bloße Regelungsvorbehalte im Sinne einer Einschränkungsmöglichkeit interpretiert. 45 Gemeinsames Merkmal dieser 46 grundgesetzlichen Schrankenvorbehalte ist, dass sie die Beschränkung von Grundrechten nur durch oder aufgrund eines formellen Gesetzes, also durch einen bestimmten Regelungsakt ermöglichen. Für die verfassungsrechtliche Rechtfertigung dem Staat zurechenbarer Beeinträchtigungen ist es aber zusätzlich erforderlich, dass von dieser Beschränkungsmöglichkeit auch Gebrauch gemacht wird. 47 2. Der Vorbehalt des Gesetzes Das hat Auswirkungen auch auf die Reichweite grundrechtlicher Gesetzesvorbehalte. Vielfach wird unter dem Eindruck der Entgrenzung des Eingriffsbegriffs und seiner Erstreckung auf faktische, mittelbare, nicht-finale und unvorhersehbare Beeinträchtigungen eine gesetzliche Ermächtigung nicht oder

___________ 41

Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG. Art. 8 Abs. 2; 11 Abs. 2 GG; vgl. auch Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG; dagegen bezieht sich der Begriff der Beschränkung in Art. 10 Abs. 2 GG nicht auf das Grundrecht, sondern das Grundrechtsgut. 43 Art. 5 Abs. 2 GG; 14 Abs. 1 S. 2. 44 So bei Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG, vgl. BVerfGE 7, 377 (404); anders etwa bei Art. 4 Abs. 3 S. 2 GG, vgl. etwa BVerfGE 48, 127 (163); 69, 1 (23). 45 Gleiches gilt für die Bezugnahme auf die „verfassungsmäßige Ordnung“ in Art. 2 Abs. 1 GG, vgl. nur Dreier (Fn. 24), Rn. 54 („allgemeine[r] Rechtsvorbehalt“). 46 Sehr umstritten ist dies bei Grundrechtsnormen ohne (geschriebenen) Vorbehalt (etwa Art. 4 Abs. 1, 2; 5 Abs. 3 GG). Weitgehende Übereinstimmung besteht darüber, dass Beeinträchtigungen der den Grundrechten zugrunde liegenden Interessen materiell nur zum Schutz von anderen, ebenfalls durch die Verfassung geschützten Rechtsgütern gerechtfertigt sind. Uneinigkeit herrscht darüber, ob der Gewährleistungsgehalt der vorbehaltlos gewährten Grundrechte in Kollisionsfällen bereits unmittelbar durch die Verfassung reduziert ist oder ob es der regelnden Aktualisierung zur Auflösung der Konfliktlagen bedarf, kurz: ob es eine Frage der Grenzen oder der Schranken von Grundrechten ist. Nach der ersten Alternative ist die Bestimmung der Grenzen ein Akt der Verfassungsinterpretation (so insbes. Böckenförde [Fn. 13], S. 169), nach der zweiten die Schrankenziehung Aufgabe primär der Gesetzgebung (vgl. etwa Winkler, M., Kollisionen verfassungsrechtlicher Schutznormen, 2000, S. 345 ff.; Münch, I. v., in: ders. / Kunig [Fn. 22], Vorb. Art. 1–19, Rn. 57: immanente Schranken als Ersatz für den Gesetzesvorbehalt, nicht für das eingreifende Gesetz). 47 Vgl. auch Alexy (Fn. 5), S. 254 f.: „… Gesetzesvorbehalte [sind] als solche noch keine Schranken; sie begründen nur die rechtliche Möglichkeit von Schranken …“ (Hervorhebung im Original). 42

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nicht in jedem Fall für erforderlich erachtet. 48 Das BVerfG hat im „Osho“Beschluss geäußert, „mittelbar-faktische Wirkungen“ staatlichen Handelns entzögen sich „typischerweise“ der Normierung, 49 und (auch) deshalb die verfassungsrechtliche Aufgabe der Bundesregierung zur Staatsleitung als hinreichende Rechtsgrundlage für Informationen und Warnungen der Öffentlichkeit angesehen. Aus den Gründen ergibt sich indes, dass es weder die Faktizität noch die Mittelbarkeit der Einwirkung sind, die diesen Schluss tragen, sondern die fehlende Vorhersagbarkeit der Wirkungszusammenhänge und ihrer Ergebnisse. 50 Die Begrifflichkeit ist in diesem Zusammenhang nicht unerheblich, weil die einschlägigen Adjektive sehr unterschiedliche Aspekte des Zusammenhangs zwischen einer staatlichen Maßnahme und der Auswirkung auf Grundrechte und Grundrechtsgüter akzentuieren und etwa das Argument fehlender Normierbarkeit weder auf mittelbare 51 noch auf faktische 52 Eingriffe „typischerweise“ zutrifft. Im Hinblick auf die fehlende Vorhersehbarkeit beeinträchtigender (Neben-)Folgen ist zusätzlich daran zu erinnern, 53 dass in erster Linie die staatlichen Maßnahmen und die damit zu erreichenden Ziele zu normieren sind. Die tatsächlichen Folgen des Staatshandelns sind hingegen „typischerweise“ auch dann gesetzlicher Regelung nicht zugänglich, wenn sie bezweckt oder doch vorhersehbar sind. 54 Kommt es zu nicht im Vorhinein bedachten Auswirkungen, ist zu diskutieren, ob die staatlichen Akte auch in dieser Hinsicht legi___________ 48

Mit Unterschieden im Einzelnen z. B. Bethge (Fn. 9), S. 41; Isensee (Fn. 10), Rn. 68, 70; Murswiek, D., Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, 1985, S. 129 ff. 49 BVerfGE 105, 279 (304), mit der daran anschließenden – diesmal auf die Handlungsvoraussetzungen bezogenen – Einschränkung, so liege es jedenfalls bei einer Informationstätigkeit der Regierung, die derartige Wirkungen auslöse. 50 Darauf deutet jedenfalls die Erwägung hin, das Erfordernis einer gesetzlichen Ermächtigung könne nicht durch Wahl einer Maßnahme umgangen werden, die nach Ziel und Wirkung einem Grundrechtseingriffs im herkömmlichen Sinn funktional äquivalent sei (BVerfGE 105, 279 [303]). 51 Darunter sind Beeinträchtigungen grundrechtlicher Interessen zu verstehen, die unmittelbar durch Entscheidungen oder Handlungen Dritter, ggf. auch des Grundrechtsträgers selbst eintreten, welche aber ihrerseits durch eine staatliche Maßnahme motiviert sind, weshalb eine Zurechnung der Wirkungen zum Staat erfolgen kann. 52 Verstanden als Beeinträchtigung grundrechtlicher Interessen, die nicht durch Regelungsakte, sondern durch Realakte erfolgt; der faktische Eingriff kann mittelbar oder unmittelbar erfolgen (Beispiel: Unmittelbarer Zwang im Rahmen der Verwaltungsvollstreckung). 53 Klement J. H., Der Vorbehalt des Gesetzes für das Unvorhersehbare, in: DÖV 2005, S. 507 (511). 54 Das Argument stützt sich also im Kern auf die Differenz von Sein und Sollen: Die tatsächlichen Folgen können mit den gesetzten Zielen übereinstimmen. Das wird aber nicht schon durch die Normierung der Ziele erreicht, sondern durch den Einsatz tauglicher Mittel. – Im Übrigen wäre die Beeinträchtigung von Grundrechtsgütern als solche kein legitimes Ziel.

Grundrecht und Grundrechtsgut

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timiert oder z. B. durch eine Begrenzung oder sonstige Veränderung des Handlungsarsenals künftig verhindert werden sollen. 55 Aus spezifisch grundrechtlicher Perspektive schließlich wird die Frage nach dem Gesetzesvorbehalt erst dann aufgeworfen, wenn bereits feststeht, dass das einschlägige Grundrecht auch gegen faktische, mittelbare oder nicht vorhersehbare Beeinträchtigungen seines Gegenstandes Schutz gewährleistet. Die Beeinträchtigung vermag jedoch auch dann, wenn sie materiell legitimiert werden kann, das (Grund-)Recht nicht zu schmälern, das diesen Schutz begründet. Es kann deshalb dem Staat entgegen gehalten werden, solange es nicht beschränkt worden ist. Die Beschränkung von subjektiven Rechten setzt jedoch einen Regelungsakt voraus, für dessen Erlass grundsätzlich das jeweilige Gesetzgebungsorgan zuständig ist. 56 Die Notwendigkeit der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung von Beeinträchtigungen ist deshalb mit der Annahme, diese gelinge (partiell) auch ohne gesetzliche Ermächtigung, nicht vereinbar.

3. Eingriff durch Eingriffsermächtigung Wenn Grundrechte darauf abzielen, die Gegenstände ihrer Gewährleistung zu schützen, so scheinen in erster Linie Einwirkungen auf diese Gegenstände Thema der Grundrechte zu sein. Die „modale“ Seite der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung von Beeinträchtigungen grundrechtlich geschützter Interessen weist aber darauf hin, dass auch das Recht selbst der Einwirkung zugänglich ist, indem ihm Schranken gesetzt werden. Mit diesem Ansatz kann auch der Eingriffsgehalt von gesetzlichen, typischerweise an die Exekutive adressierten Eingriffsermächtigungen erklärt werden. Befugnisnormen berühren selbst die Grundrechtsgüter nicht, diese bleiben ungeschmälert, solange nicht von jenen Gebrauch gemacht wird. 57 Deshalb wird teilweise die Eingriffsqualität pauschal verneint, 58 was zur Folge haben müsste, dass sie auch keine Grundrechte verletzen können. Das freilich führte zu einigen konstruktiven Problemen, wenn man etwa begründen wollte, warum die gesetzeskonforme Anwendung einer verfassungsgemäßen Norm im Einzelfall doch zu einer Grundrechtsverletzung soll führen können. Umgekehrt wird zwar in der Literatur auch die Eingriffsermächtigung als zu rechtfertigender ___________ 55

Vgl. dazu auch Sachs (Fn. 7), S. 154 f. Im Gesetzesvorbehalt bündeln sich deshalb zusätzlich Aspekte des Demokratieprinzips, der bundesstaatlichen Ordnung und der Gewaltenteilung. 57 Zur Unmaßgeblichkeit verfassungsprozessualer Erwägungen, insbesondere der Vollzugsbedürftigkeit von Normen als Ausschluss der Verfassungsbeschwerdebefugnis, vgl. Wehr (Fn. 7), S. 228 ff. m. w. N. 58 Pieroth / Schlink (Fn. 1), Rn. 207. 56

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Eingriff betrachtet,59 doch fällt eine Begründung hierfür aus der Perspektive der traditionellen Eingriffsdogmatik schwer. Der hier vertretene Ansatz vermag die Beeinträchtigung des Rechtsguts von der Beschränkung des Grundrechts zu scheiden. Eingriffsermächtigungen stellen Grundrechtsgegenstände vom Schutz durch Grundrechte frei. Das Abwehrrecht wird im Umfang der Ermächtigung60 reduziert, so dass es den Maßnahmen nicht mehr entgegengesetzt werden kann, die unter Inanspruchnahme der Ermächtigung getroffen werden. Die Beschränkung des Rechts ist unmittelbare („regelungsidentische“) Rechtsfolge der Ermächtigung und von der Beeinträchtigung der Grundrechtsgegenstände, die sie erst ermöglicht, unabhängig. Hierfür ist der Begriff des Grundrechtseingriffs auch sehr zutreffend, weil die Zuordnung des subjektiven Rechts zum Grundrechtsträger und der Befugnisnorm zum Grundrechtsverpflichteten keine weiteren Zurechnungsprobleme aufwirft.

IV. Schluss Mit der Unterscheidung von Grundrecht und Grundrechtsgut ist ein Ansatz vorhanden, die unterschiedlichen Aspekte von Grundrechtsbestimmungen in einem einheitlichen Rahmen zu erfassen. Sie kann deshalb der stärkeren dogmatischen Begründung von Einzelproblemen der Grundrechtsdogmatik dienen. Als begrifflicher Rahmen präjudiziert sie indes nicht die Inhalte, welche als Gegenstand oder Inhalt der Grundrechte destilliert werden.61 Dies obliegt und ist eine bleibende Herausforderung der Grundrechtsinterpretation.

___________ 59 Vgl. z. B. Pietzcker, J., Drittwirkung – Schutzpflicht – Eingriff, in: Maurer, H. (Hrsg.), Das akzeptierte Grundgesetz. Festschrift für G. Dürig, 1990, S. 345 ff. (354); Sachs (Fn. 7), S. 126; differenzierend Alexy (Fn. 5), S. 254 ff. 60 Zur Verteilung der Rechtfertigungslasten zwischen Gesetzgeber und Ermächtigungsadressat vgl. Wehr (Fn. 7), S. 234 ff. m. w. N. 61 Dies ist allerdings ein Vorwurf, der in der aktuellen Diskussion erhoben wird, vgl. dazu Kahl (Fn. 29), S. 174 ff., und die Replik von Hoffmann-Riem (Fn. 13), S. 203 ff.

Die Begründung individueller Rechte in völkerrechtlichen Verträgen nichtmenschenrechtlicher Art Marten Breuer

I. Einleitung Das Völkervertragsrecht gehörte zu denjenigen Materien – neben vielen anderen, die gesondert aufzuführen hier nicht der Ort ist –, mit denen Dieter Blumenwitz in besonderem Maße vertraut war. Bereits in seiner Habilitationsschrift hat er sich mit dieser Rechtsmaterie auseinandergesetzt (wenngleich der Schwerpunkt der Arbeit ein anderer war). 1 Das erste Verfahren, in dem er als Prozessbevollmächtigter vor dem Bundesverfassungsgericht auftrat, hatte die Auslegung eines (quasi-)völkerrechtlichen Vertrages, nämlich des Grundlagenvertrages 2 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, zum Gegenstand. 3 Und auch in dem Verfahren, das ihn wie kein anderes in seinen letzten Lebensjahren beschäftigt hat, dem er als Gutachter durch Argumentationsreichtum sowie juristisches Gespür seinen ganz persönlichen Stempel aufgedrückt hat – dem so genannten Liechtensteiner Bilderstreit 4 –, stand die Auslegung völkerrechtlicher Verträge im Mittelpunkt. ___________ 1

Der Schutz innerstaatlicher Rechtsgemeinschaften beim Abschluß völkerrechtlicher Verträge. Ein Beitrag zur Dezentralisierung der auswärtigen Gewalt in den föderalen Staatsordnungen der Gegenwart, 1972. 2 Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, BGBl. 1973 II S. 421. 3 BVerfGE 36, 1 ff.; hierzu etwa Blumenwitz, D., Die Grundlagen einer Deutschlandpolitik nach dem Grundvertragsurteil, in: Informationen zur Deutschlandpolitik, Heft 3, 1974, S. 15 ff.; ders., Zehn Jahre Grundvertragsurteil des Bundesverfassungsgerichts, in: Zeitbühne (vereinigt mit der Zeitschrift Europa), Dezember 1983, S. 15 ff.; ders., Der Streit um den Grundvertrag. Gedanken zum Verfassungsprozeß nach der Erlangung der staatlichen Einheit Deutschlands, in: Beismann, V. / Klein, M. J. (Hrsg.), Politische Lageanalyse. Festschrift für Hans-Joachim Arndt zum 70. Geburtstag am 15. Januar 1993, 1993, S. 23 ff.; siehe auch den Beitrag von Klein, E., unten. 4 Vgl. LG Köln, IPrax 1996, 419 ff.; OLG Köln, VIZ 1998, 213 ff.; BGH, Beschluss vom 25.09.1997, Az. II ZR 213/96; BVerfG EuGRZ 1998, 408 f.; EGMR, Fürst Hans-Adam II. ./. Deutschland, ECHR 2001-VIII = EuGRZ 2001, 466 ff.; IGH, Certain Property (Liechtenstein v. Germany), Judgment, 2005, online abrufbar unter www.icjcij.org (letzter Zugriff: 20.09.2007); hierzu auch Blumenwitz, D., Die tschechischliechtensteinischen Beziehungen. Ein anhaltender Konflikt in Mitteleuropa., in: Kick, K. G. u. a. (Hrsg.), Wandel durch Beständigkeit. Studien zur deutschen und internatio-

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Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge folgt besonderen Regeln, die gewohnheitsrechtlicher Natur sind und heute in den Art. 31 f. der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK) 5 eine völkervertragliche Kodifikation gefunden haben. 6 Auch wenn diese Regeln deutliche Parallelen zu denjenigen über die Auslegung rein innerstaatlichen Rechts aufweisen, sind sie doch nicht notwendigerweise mit diesen identisch und zeichnen sich durch eine Reihe von Besonderheiten aus, denen die nationalen Gerichte nicht immer ausreichend Rechnung tragen. Während für das Europäische Gemeinschaftsrecht anerkannt ist, dass die deutschen Gerichte nicht unbesehen die nationalen Auslegungsgrundsätze heranziehen dürfen, 7 lassen Entscheidungen, die die Auslegung von (reinem) Völkervertragsrecht betreffen, bisweilen das erforderliche methodische Problembewusstsein vermissen. Dem Verfasser ist aus seiner Zeit am Würzburger Lehrstuhl noch gut Blumenwitz’ Klage erinnerlich, die mit dem Liechtenstein-Fall befassten deutschen Gerichte verstünden einfach nicht, dass völkerrechtliche Verträge nicht in demselben Maße flexibel ausgelegt werden könnten wie das rein nationale Recht. Gemessen an diesen Grundsätzen finden wir uns für den hier zu betrachtenden Bereich gewissermaßen in einer verkehrten Welt wieder. Gehörte es doch bislang zum sicher geglaubten Bestand der Völkerrechtslehre, dass die Begründung von Individualrechten qua völkerrechtlichem Vertrag zwar nicht grundsätzlich als ausgeschlossen gelten kann, dass jedoch zwischen Verträgen, die speziell die Rechtsstellung des Individuums im Blick haben – namentlich den Menschenrechtsverträgen – und sonstigen, rein zwischenstaatlichen Vereinbarungen zu unterscheiden sei. Bei der zuletzt genannten Kategorie wurde bislang davon ausgegangen, dass einzelne Regelungen, mögen sie sich auch mit der Rechtsstellung des Individuums befassen, dieses regelmäßig nur reflexartig begünstigen, mithin keine individuelle Rechtsposition begründen. 8 Angesichts der beschriebenen Tendenz nationaler Gerichte, bei der Auslegung völkerrechtlicher Verträge bewusst oder unbewusst auf Kategorien innerstaatlicher Gesetzesauslegung zurückzugreifen, hätte man nun erwarten können, dass die___________ nalen Politik. Jens Hacker zum 65. Geburtstag, 1998, S. 347 ff.; ders., Versteckte Kollisionsnormen in völkerrechtlichen Verträgen? – Der liechtensteinische Bilderstreit in Deutschland, in: Gerkens, J.-F. u. a. (Hrsg.), Mélanges Fritz Sturm, 1999, S. 1385 ff.; ders., Die Liechtenstein-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, in: AVR 40 (2002), S. 215 ff.; siehe ferner Irmscher, T., Anmerkung zur Liechtenstein-Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs, in: AVR 43 (2006), S. 375 ff. 5 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge, BGBl. 1985 II, S. 926. 6 Zu den Art. 31 f. WVK als Ausdruck von Völkergewohnheitsrecht vgl. nur Grzeszick, B., Rechte des Einzelnen im Völkerrecht. Chancen und Gefahren völkerrechtlicher Entwicklungstrends am Beispiel der Individualrechte im allgemeinen Völkerrecht, in: AVR 43 (2005), S. 312 (319) m. w. N. 7 Vgl. BVerfG, NJW 2001, 1267 (1268). 8 Statt vieler Grzeszick (Fn. 6), S. 313 f. m. w. N.

Begründung individueller Rechte in völkerrechtlichen Verträgen

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se weit eher als internationale Gerichte bereit gewesen wären, auch in völkerrechtlichen Verträgen nichtmenschenrechtlicher Art Rechtspositionen des Individuums zu „entdecken“, zumal die Rechtssubjektivität der Einzelperson im nationalen Recht – anders als im Völkerrecht – der Normalfall ist. Das Gegenteil hiervon ist eingetreten. Waren es doch zwei internationale Gerichte, die im Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen (WÜK) 9 , also einem die zwischenstaatlichen Beziehungen regelnden multilateralen Vertrag, Rechte des Individuums ausgemacht haben. 10 Im Gegensatz dazu zeigen sich nationale Gerichte bislang weitaus unwilliger, einer individualrechtsfreundlichen Auslegung nichtmenschenrechtlicher Verträge Folge zu leisten. So hat jüngst der U.S. Supreme Court die nämliche Frage, ob das WÜK auch Individualrechte begründe, bewusst offen gelassen. 11 In ähnlicher Weise, wenngleich einen anderen Sachbereich betreffend, hat das deutsche Bundesverfassungsgericht erst jüngst wieder seine bereits früher vertretene Auffassung bekräftigt, der Entschädigungsanspruch aus Art. 3 des IV. Haager Abkommens 12 stehe nur dem verletzten Staat und nicht dem Individuum zu. 13 Sind also die nationalen Gerichte die „besseren“ Völkerrechtsinterpreten? Oder hat sich das Völkerrecht fortentwickelt mit der Folge, dass man auch bei scheinbar rein zwischenstaatlichen Verträgen künftig genau wird hinschauen müssen, ob sich eine einzelne Vertragsnorm nicht doch als Individualrecht entpuppt? Ja, mehr noch: Müssen wir uns etwa an den Gedanken gewöhnen, dass nicht allein bei Verträgen jüngeren Datums ein solch differenzierter Maßstab anzulegen ist, sondern möglicherweise auch bereits vor etlichen Jahrzehnten geschlossene Verträge in der beschriebenen Weise individualrechtsfreundlich „umzuinterpretieren“ sind? Diesen Fragen wird im Folgenden nachgegangen. Dabei sollen zunächst die das Konsularrecht betreffenden 14 Gerichtsentscheidungen auf ihr jeweiliges Begründungsmuster hin untersucht werden (II.). Hieran schließen sich Überlegungen zu Grund und Grenzen einer individualrechtsfreundlichen Auslegung völkerrechtlicher Verträge an (III.).

___________ 9

BGBl. 1969 II, S. 1583. Vgl. Interamerikanischer Gerichtshof für Menschenrechte (IAGMR), Advisory Opinion OC-16/99 vom 01.10.1999, Series A No. 16 = HRLJ 2000, S. 24 ff.; IGH, LaGrand (Germany v. United States of America), ICJ Rep. 2001, 466 ff. 11 U.S. Supreme Court, Sanchez-Llamas v. Oregon, 548 US (2006). 12 Abkommen, betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs vom 18.10. 1907, RGBl. 1910 S. 107. 13 BVerfG EuGRZ 2006, 105 ff., bezogen auf die Situation im Jahr 1944. 14 Auf eine eingehende Darstellung der das IV. Haager Abkommen betreffenden Probleme muss vorliegend verzichtet werden; gleichwohl dienen einzelne Aspekte zur Illustration des hier vertretenen Standpunkts. 10

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II. Die einschlägige nationale und internationale Rechtsprechung 1. Internationaler Gerichtshof (IGH) Der IGH hatte erstmalig im Fall LaGrand zu der Frage Stellung zu nehmen, ob das WÜK neben Staatenrechten auch Rechtspositionen von Individuen begründet. In jenem Fall waren zwei deutsche Staatsangehörige, die Brüder Karl und Walter LaGrand, wegen Mordes von US-amerikanischen Gerichten zum Tode verurteilt worden, ohne dass ihnen konsularischer Beistand gewährt worden war. Tatsächlich waren die LaGrands zu keinem Zeitpunkt des Verfahrens über die Möglichkeit einer Einschaltung des deutschen Konsulats aufgeklärt worden, sondern hatten hiervon erst lange nach ihrer Verurteilung auf anderem Wege erfahren. Bekanntlich konnte die Anrufung der internationalen Gerichtsbarkeit nicht verhindern, dass Walter und Karl LaGrand hingerichtet wurden. Anders als wenige Jahre zuvor Paraguay 15 verfolgte die Bundesrepublik Deutschland ihre Klage jedoch auch nach der Hinrichtung ihrer Staatsangehörigen weiter und machte hierbei nicht nur eine Verletzung eigener Rechte geltend, sondern im Wege des diplomatischen Schutzes zugleich eine Verletzung individueller Rechte, namentlich aus Art. 36 Abs. 1 lit. b WÜK. Diese Bestimmung lautet: „[D]ie zuständigen Behörden des Empfangsstaats haben die konsularische Vertretung des Entsendestaats auf Verlangen des Betroffenen unverzüglich zu unterrichten, wenn in deren Konsularbezirk ein Angehöriger dieses Staates festgenommen, in Straf- oder Untersuchungshaft genommen oder ihm anderweitig die Freiheit entzogen ist. Jede von dem Betroffenen an die konsularische Vertretung gerichtete Mitteilung haben die genannten Behörden ebenfalls unverzüglich weiterzuleiten. Diese Behörden haben den Betroffenen unverzüglich über seine Rechte auf Grund dieser Bestimmung zu unterrichten.“

Die Bundesrepublik berief sich hierbei auf den Wortlaut der Vorschrift, die im letzten Satz von den „Rechten“ der betroffenen Person spricht, auf die Systematik – die Einschaltung des Konsulats erfolgt nur auf Verlangen des Betroffenen –, auf die Entstehungsgeschichte sowie auf eine Deklaration der UNGeneralversammlung. 16 Die Vereinigten Staaten traten dem entgegen mit dem Argument, bei den in Art. 36 WÜK begründeten Rechten handle es sich allein um Staatenrechte, nicht um Individualrechte. 17 Der Wortlaut von Art. 36 ___________ 15

Vgl. IGH, Vienna Convention on Consular Relations (Paraguay v. United States of America), Order, ICJ Rep. 1998, 426. 16 IGH (Fn. 10), Rn. 75. 17 Die Haltung der USA trägt insoweit deutlich ergebnisorientierte Züge, hatte doch die Supermacht Jahre zuvor im Teheraner Geiselfall ihrerseits geltend gemacht, „Article 36 establishes rights not only for the consular officer but, perhaps even more importantly, for the nationals of the sending State who are assured access to consular officers and through them to others“, vgl. United States Diplomatic and Consular Staff in

Begründung individueller Rechte in völkerrechtlichen Verträgen

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Abs. 1 lit. b WÜK lasse keine Rückschlüsse auf die Natur der gewährten Rechtspositionen zu. Die USA verwiesen auf den Eingangssatz zu Art. 36 Abs. 1 WÜK, dem zufolge die nachfolgenden Bestimmungen zum Ziel haben, „die Wahrnehmung konsularischer Aufgaben in Bezug auf Angehörige des Entsendestaats zu erleichtern“. Zudem lasse die Entstehungsgeschichte nicht den Schluss zu, dass durch Art. 36 echte Individualrechte begründet werden sollten. 18 Es überrascht, mit welch lapidarer Kürze der IGH diese rechtsdogmatisch so tiefgreifende Frage beantwortet hat. 19 Er setzt sich nämlich mit der Vielzahl der vorgebrachten Argumente nicht auseinander, sondern schließt auf den individualrechtlichen Charakter des Art. 36 Abs. 1 lit. b WÜK allein unter Berufung auf dessen klaren Wortlaut. 20 Die Argumentation des IGH ruht damit auf der Auslegungsregel „in claris non fit interpretatio“ – eine Auslegung eindeutiger Bestimmungen soll danach ausgeschlossen sein (so genannte Sens-clair-Doktrin). 21 Dass der Gerichtshof, sofern er sich nur weiter auf die Auslegung eingelassen hätte, durchaus auch zum gegenteiligen Ergebnis hätte gelangen können, belegt das Sondervotum des chinesischen Vizepräsidenten Shi: Dieser geht mit den USA davon aus, dass sich aus der Entstehungsgeschichte zu Art. 36 WÜK ergibt, dass hiermit keine individuelle Rechtsposition begründet werden sollte. Zwar ist die Entstehungsgeschichte gem. Art. 32 lit. a WVK nur ein subsidiäres Hilfsmittel, falls die Bedeutung einer Vorschrift unklar ist. Ein solcher Klärungsbedarf besteht jedoch, wenn man neben dem Wortlaut auch Sinn und Zweck des WÜK berücksichtigt, welche eher für den rein zwischenstaatlichen Charakter des Abkommens sprechen. 22 Durch das einseitige Abstel___________ Teheran (United States v. Iran), ICJ Pleadings 1980 (United States Memorial), S. 174; hieraus schließt Pinto, M., De la protection diplomatique à la protection des droits de l’homme, in: RGDIP 106 (2002), S. 513 (530), die USA seien an einer Berufung auf den entgegengesetzten Rechtsstandpunkt gehindert gewesen (Grundsatz des estoppel). 18 IGH (Fn. 10), Rn. 76. 19 Vgl. Mennecke, M., Towards the Humanization of the Vienna Convention of Consular Rights – the LaGrand Case Before the International Court of Justice, in: GYIL 44 (2001), S. 430 (451); näher hierzu unten III.1.a). 20 IGH (Fn. 10), Rn. 77. 21 Im Völkerrecht geht diese Auslegungsregel zurück auf Vattel, E. de, Le Droit des Gens ou Principes de la Loi Naturelle, appliqués à la conduite et aux affaires des nations et des souverains, II, 1758, S. 294 (daher auch die Bezeichnung als Vattel’sche Maxime). Sie wurde bereits vom StIGH und später auch vom IGH angewendet, vgl. die Nachweise im LaGrand-Urteil (Fn. 10), Rn. 77. Eingehend zur Thematik Schott, C., „Interpretatio cessat in claris“. – Auslegungsfähigkeit und Auslegungsbedürftigkeit in der juristischen Hermeneutik, in: Schröder, J. (Hrsg.), Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik – Rechtswissenschaft, Philosophie, Theologie, 2001, S. 155 ff. 22 IGH (Fn. 10), Sondervotum Shi, S. 518 ff.

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len auf den vermeintlich eindeutigen Wortlaut hat sich der IGH dieser Möglichkeit begeben. Lediglich zu der von der Bundesrepublik ebenfalls beantragten Feststellung, dass es sich bei Art. 36 Abs. 1 lit. b WÜK nicht nur um ein Individual-, sondern sogar um ein Menschenrecht handle, wollte sich der IGH nicht verstehen. 23 Diese Frage ist für die hier gewählte Themenstellung jedoch ohne Belang und wird deshalb nicht weiter verfolgt. Im wenige Zeit später entschiedenen Fall Avena hat der IGH den individualrechtlichen Charakter von Art. 36 Abs. 1 lit. b WÜK noch einmal bestätigt, ohne dass neue Argumente hinzugefügt worden wären. 24 2. Interamerikanischer Gerichtshof für Menschenrechte (IAGMR) Ausführlicher als der IGH hat sich der IAGMR in seinem Gutachten aus dem Jahr 1999 mit der Frage der Auslegung des Art. 36 Abs. 1 WÜK auseinandergesetzt. Dass der IGH im Fall LaGrand dieses Gutachten mit keinem Wort erwähnt, verwundert und ist wohl nur mit dem Selbstverständnis des Gerichtshofs zu erklären. 25 Um das Gutachten des IAGMR richtig einordnen zu können, muss man sich die prozessuale Ausgangslage vor Augen führen: Gem. Art. 64 Abs. 1 der Amerikanischen Menschenrechtskonvention (AMRK) 26 kann der IAGMR um ein Gutachten über die Auslegung der Konvention „oder anderer den Schutz der Menschenrechte in den amerikanischen Staaten betreffender Verträge“ ersucht werden. Für den IAGMR stellte sich die Situation daher grundlegend anders dar als für den IGH im Fall LaGrand: Dieser konnte jedenfalls über die Rechtsverletzung gegenüber der Bundesrepublik Deutschland entscheiden; durch die Feststellung einer Verletzung auch der subjektiven Rechte der LaGrand-Brüder wurde dem Urteil in der Sache nichts Wesentliches hinzugefügt, 27 die Frage der Einordnung als Menschenrecht konnte gar dahingestellt bleiben. Im Gegensatz dazu stand und fiel für den IAGMR die Zuständigkeit zur Erstattung des Gutachtens mit der Qualifizierung des WÜK ___________ 23

IGH (Fn. 10), Rn. 78. IGH, Avena and Other Mexican Nationals (Mexico v. United States of America), Judgment, in: ILM 2004, 581 Rn. 40. 25 Andere Begründungen lauten, dass im Völkerrecht das Prinzip des stare decisis nicht gelte und das Gutachten als solches unverbindlich sei, vgl. Oellers-Frahm, K., Die Entscheidung des IGH im Fall LaGrand. – Eine Stärkung der internationalen Gerichtsbarkeit und der Rolle des Individuums im Völkerrecht, in: EuGRZ 2001, S. 265 (268), oder dass sich der IGH hierdurch der menschenrechtlichen Analyse haben entziehen wollen, vgl. Pinto (Fn. 17), S. 531. 26 American Convention on Human Rights vom 22.11.1969, UNTS, vol. 11, S. 123 (deutsche Übersetzung nach EuGRZ 1980, S. 435). 27 Hierzu näher unten III.3.a). 24

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als sonstiger den Schutz der Menschenrechte „betreffender“ Vertrag. Auch wenn hier nicht behauptet werden soll, dass dies für die Auslegung der Richter bestimmend gewesen wäre, so würde es doch einigermaßen verwundern, sollte dieser Umstand ganz ohne jede Bedeutung gewesen sein. Bemerkenswerterweise spielt das vom IGH so stark hervorgehobene Wortlautargument in der Begründung des IAGMR nur eine sehr untergeordnete Rolle. Vielmehr bemüht sich der interamerikanische Gerichtshof in erster Linie um eine systematische und teleologische Auslegung (vgl. Art. 31 Abs. 1 WVK) und bestätigt das so ermittelte Ergebnis mit der Entstehungsgeschichte des Übereinkommens (vgl. Art. 32 WVK). Zunächst musste der IAGMR den aus der Präambel hergeleiteten Einwand entkräften, wo es heißt, die im WÜK gewährten Vorrechte und Immunitäten dienten „nicht dem Zweck [...], einzelne zu bevorzugen“, sondern dem Ziel, den konsularischen Vertretungen die wirksame Wahrnehmung ihrer Aufgaben im Namen ihres Staates zu gewährleisten. Dass dies generell gegen die Gewährung von Individualrechten spreche, wird vom IAGMR mit dem Hinweis verworfen, diese Passage beziehe sich lediglich auf das konsularische Personal. 28 Auch das systematisch-teleologische Argument aus Art. 5 WÜK lässt der IAGMR nicht gelten. Zwar steht in dieser Vorschrift eindeutig das Recht des Entsendestaates auf ungehinderte Erfüllung der konsularischen Aufgaben im Vordergrund, während die eigenen Staatsangehörigen lediglich als mittelbar Begünstigte erscheinen (vgl. lit. a, e und i). Doch stellt der IAGMR insoweit einen Zusammenhang mit Art. 36 Abs. 1 lit. a WÜK her, wo neben dem Recht des Konsularbeamten auf Kontakt mit den Angehörigen des Entsendestaates (Satz 1) ein korrespondierendes Recht der Angehörigen normiert sei, „mit den Konsularbeamten ihres Staates zu verkehren und sie aufzusuchen“ (Satz 2). Der Gerichtshof gelangt so zu dem Schluss, dass die Vorschrift über den konsularischen Verkehr eine doppelte Zielsetzung verfolge: „that of recognizing a State’s right to assist its nationals through the consular officer’s actions and, correspondingly, that of recognizing the correlative right of the national of the sending State to contact the consular officer to obtain that assistance.“ 29 Die Vorschrift des Art. 36 Abs. 1 lit. a WÜK kann als Kernargument des IAGMR gelten, denn er kommt hierauf auch bei der historischen Auslegung zurück. Nun mag es verwundern, dass der IAGMR ausgerechnet die Entstehungsgeschichte zur Bestätigung seiner Auffassung heranzieht, erinnert man sich doch nur zu gut, dass der Vizepräsident des IGH insoweit zu dem genau entgegengesetzten Ergebnis gekommen ist. Der Grund hierfür liegt in einer gewissen Deutungsoffenheit der Normgenese: Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass in dem ursprünglichen Entwurf der International Law Commission ___________ 28 29

IAGMR (Fn. 10), Rn. 74. IAGMR (Fn. 10), Rn. 80.

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(ILC) die Sätze 1 und 2 vertauscht waren, also zunächst das Recht der Staatsangehörigen auf Kontakt mit dem Konsulat erwähnt war und erst dann das entsprechende Recht der Konsularbeamten. 30 Dies rief den Widerstand einiger Staaten, insbesondere Venezuelas, hervor, da es unangemessen sei, in einer Konsularrechtskonvention das Recht von Angehörigen des Entsendestaates zu regeln. 31 Venezuela legte daher einen Änderungsentwurf vor, in dem der erste Satz getilgt war. 32 Dieser Vorschlag fand jedoch offenbar keine Mehrheit, so dass er später von Venezuela zugunsten eines gemeinsamen Vorschlags mit anderen Staaten zurückgezogen wurde, der bis auf wenige terminologische Abweichungen mit der heutigen Fassung übereinstimmt. 33 Dieser Werdegang lässt unterschiedliche Schlüsse zu: Während IGH-Vizepräsident Shi in der Hintanstellung des „Rechts“ der Angehörigen des Entsendestaates eine Bestätigung dafür sieht, dass sich Venezuela mit seinen Bedenken durchsetzen konnte, es sich also in Wahrheit nur um eine vom Recht des Entsendestaats abgeleitete indirekte Begünstigung von Einzelpersonen handle, 34 geht der IAGMR davon aus, letztlich habe sich die Ansicht durchgesetzt, dass es keinen Grund gebe, in dem Übereinkommen keine Individualrechte zu verankern. 35 Was die weiteren Bestimmungen in Art. 36 Abs. 1 WÜK angeht, argumentiert der IAGMR im Wesentlichen mit dem Wortlaut (lit. b) sowie dem Umstand, dass dem Betroffenen in Absatz 1 lit. c die Möglichkeit eingeräumt wird, einer Kontaktaufnahme mit dem Konsulat zu widersprechen. Daneben zieht er weitere die Rechtsstellung von Inhaftierten betreffende internationale Dokumente, darunter auch Resolutionen der UN-Generalversammlung, heran. 36 Die Einordnung von Art. 36 WÜK als den Schutz von Menschenrechten „betreffende“ Vorschrift 37 bedarf im vorliegenden Zusammenhang wiederum keiner Vertiefung. Aus methodischer Sicht von besonderem Interesse ist das zustimmende Sondervotum, das der Präsident des IAGMR Cançado Trindade dem Gutachten angefügt hat. Während nämlich die das Gutachten tragenden Gründe erkennbar auf der Annahme beruhen, Art. 36 Abs. 1 WÜK sei ab initio im Sinne einer ___________ 30 Vgl. A/CONF.25/6, United Nations Conference on Consular Relations, Official Records, 1963, Vol. II, S. 23 f. 31 Vgl. United Nations Conference on Consular Relations, Official Records, 1963, Vol. I, S. 331 Rn. 32. 32 Vgl. A/Conv.25/C.2/L.100, United Nations Conference on Consular Relations, Official Records, 1963, Vol. II, S. 84. 33 Vgl. United Nations Conference on Consular Relations, Official Records, 1963, Vol. I, S. 131 Rn. 99. 34 IGH (Fn. 10), Sondervotum Shi, S. 518 Rn. 8 f. 35 IAGMR (Fn. 10), Rn. 84. 36 IAGMR (Fn. 10), Rn. 78 und 82. 37 Vgl. IAGMR (Fn. 10), Rn. 85 ff.

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subjektiven Rechtsgewährung auszulegen, steht bei Cançado Trindade ganz der Aspekt der dynamischen Vertragsauslegung im Vordergrund. Das Gutachten selbst operiert, jedenfalls was die Auslegung von Art. 36 Abs. 1 WÜK angeht, mit diesem Topos nicht. 38 Nur und erst im Zusammenhang mit der Frage, ob durch einen Verstoß gegen Art. 36 Abs. 1 WÜK zugleich die Menschenrechte aus Art. 14 IPBPR 39 verletzt würden, zieht der Gerichtshof ausdrücklich die im menschenrechtlichen Bereich allgemein praktizierten Grundsätze der dynamischen Auslegung heran. 40 Im Gegensatz dazu feiert das Sondervotum das Gutachten geradezu überschwänglich als wesentlichen Fortschritt des Menschenrechtsschutzes: „The present Advisory Opinion faithfully reflects the impact of the International Law of Human Rights on the precept of Article 36(1) (b) of the Vienna Convention on Consular Relations of 1963. In fact, at this end of the century, one can no longer pretend to dissociate the above-mentioned right to information on consular assistance from the corpus juris of human rights.“ 41

Dem Sondervotum liegt insgesamt die Vorstellung zugrunde, die Entstehung des internationalen Menschenrechtsschutzes wirke sich auf die Auslegung sonstiger völkervertraglicher Normen in dem Sinne aus, dass ehemals staatengerichtete Normen jedenfalls heute, auf der Grundlage dynamischer Auslegung, als Individualrechte anzuerkennen seien. Cançado Trindade zieht vehement gegen den „positiv-voluntaristischen Trend mit seiner Besessenheit (sic!) von der Autonomie des Staatenwillens“ zu Felde 42 und fordert die Anerkennung des Individuums als Rechtssubjekt nicht nur im innerstaatlichen, sondern auch im internationalen Bereich. 43 Seine umfassenden, unter der Überschrift „Time and Law Revisited: The Evolution of Law in Face of New Needs of Protection“ stehenden Ausführungen sind als grundsätzliche Standortbestimmung zu werten; hierauf wird zurückzukommen sein. 3. U.S. Supreme Court Aus der Vielzahl der mit Art. 36 WÜK befassten nationalen Gerichtsentscheidungen soll hier der jüngst vom U.S. Supreme Court entschiedene Fall Sanchez-Llamas v. Oregon im Mittelpunkt stehen. 44 Der Gerichtshof hatte hin___________ 38

Vgl. auch Mennecke (Fn. 19), S. 452 f. Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19.12.1966, BGBl. 1973 II, S. 1534. 40 IAGMR (Fn. 10), Rn. 113 ff. 41 IAGMR (Fn. 10), Sondervotum Cançado Trindade, Rn. 1. 42 IAGMR (Fn. 10), Sondervotum Cançado Trindade, Rn. 4. 43 IAGMR (Fn. 10), Sondervotum Cançado Trindade, Rn. 12. 44 U.S. Supreme Court (Fn. 11). Andere nationale Gerichte haben sich der LaGrandEntscheidung des IGH ausdrücklich angeschlossen, allerdings jeweils ohne vertiefte Auseinandersetzung mit der hier diskutierten Fragestellung, vgl. BGH, NStZ 2002, 168; 39

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sichtlich dreier Fragen writ of certiorari gewährt: (1) ob durch Art. 36 WÜK individuelle, in einem nationalen Strafverfahren vom Angeklagten einforderbare Rechte gewährt würden, (2) ob eine Verletzung des Art. 36 WÜK infolge unterbliebener Aufklärung des Angeschuldigten über die Möglichkeit der Kontaktaufnahme mit dem Konsulat zur Unverwertbarkeit der während des Polizeiverhörs gemachten Aussagen führe und (3) ob Art. 36 WÜK einer Präklusion nach der so genannten procedural default rule entgegenstehe. Die Richtermehrheit ließ die erste Frage offen, da sie hinsichtlich Fragen 2 und 3 zu einer negativen Antwort kam. Hingegen begründete eine Richterminderheit die Notwendigkeit einer Festlegung auch hinsichtlich der ersten Frage mit der uneinheitlichen Entscheidungspraxis der lower federal sowie state courts und kam in der Sache zu einer positiven Antwort. Nun kann aus dem Offenlassen der ersten Frage durch die Richtermehrheit sicher nicht ohne Weiteres geschlussfolgert werden, dass diese sich die Argumente der Beklagtenseite zu eigen gemacht hätte. Andererseits zeigt das Sondervotum der Minderheit, dass durchaus gute Gründe für eine Entscheidung auch dieses Punktes bestanden hätten, so dass die Reaktion der Mehrheit doch auf eine gewisse Tendenz schließen lässt. Im Folgenden soll daher nicht die Argumentation der dissentierenden Richter, sondern diejenige der US-Regierung im Vordergrund stehen, welche in dem Verfahren als amicus curiae zugunsten der Beklagten aufgetreten war. Fünf Argumente waren es, die die US-Regierung gegen die Interpretation von Art. 36 Abs. 1 lit. b WÜK als Individualrecht vorbrachte: 45 (1) Es bestehe eine Vermutung, dass durch völkerrechtlichen Vertrag keine Individualrechte begründet werden sollten, die vorliegend nicht widerlegt sei. Insbesondere unterscheide sich das WÜK von anderen völkerrechtlichen Verträgen, denen der Supreme Court bereits Individualrechte entnommen hat. (2) Wortlaut und Systematik des WÜK sprächen gegen die Einräumung individueller Rechte. Zunächst bezögen sich die in Art. 36 Abs. 1 lit. b WÜK genannten „Rechte“ nicht auf die Unterrichtung des Festgenommenen, sondern enthielten lediglich eine Verpflichtung des Empfangsstaats, über die Möglichkeit konsularischen Beistands zu unterrichten. Und auch dort, wo im WÜK von „Rechten“ die Rede sei, hätten hiermit keine individuell einforderbaren Rechtspositionen begründet werden sollen. Die US-Regierung verweist insoweit maßgeblich auf den Umstand, dass in dem von der ILC ursprünglich vorgelegten Entwurf des Art. 36 Abs. 1 lit. b WÜK zunächst eine unbedingte Pflicht zur Information des Ent___________ BVerfG, EuGRZ 2006, 684 (680 ff.); Federal Court of Canada, Khadr v. Canada (Minister of Foreign Affairs), 2004 FC 1145, Rn. 27, online abrufbar unter http://reports. fja.gc.ca/ (letzter Zugriff: 20.09.2007). 45 Vgl. zum Folgenden Brief for the United States as Amicus Curiae Supporting Respondents in Nos. 05-51 and 04-10566, Bustillo v. Johnson & Sanchez-Llamas v. Oregon.

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sendestaates vorgesehen war, 46 die jedoch bei vielen Staaten auf Vorbehalte stieß, da die staatlichen Stellen hierdurch überfordert würden. Die jetzige Fassung beruhe auf einem Kompromiss, der lediglich darauf abgezielt habe, einer solchen Überforderung entgegenzuwirken, indem die Pflicht zur Unterrichtung des Entsendestaates nur auf Verlangen des Betroffenen entstünde. Weitere aus der Präambel, dem Eingangssatz zu Art. 36 Abs. 1 sowie der Inversion der beiden Sätze in Art. 36 Abs. 1 lit. a WÜK hergeleiteten Argumente sind bereits in anderem Zusammenhang erörtert worden. (3) Die rein staatengerichtete Interpretation des WÜK werde durch den Ratifikationsverlauf sowie die Auffassung des Executive Branch bestätigt, ebenso wie (4) durch die Entscheidungspraxis US-amerikanischer sowie ausländischer Gerichte. (5) Den bestehenden Widerspruch zur Entscheidungspraxis des IGH schließlich sucht die US-Regierung mit dem Argument zu rechtfertigen, dass dessen Urteile vom Supreme Court lediglich „berücksichtigt“ werden müssten. 47

III. Grund und Grenzen individualrechtsfreundlicher Auslegung völkerrechtlicher Verträge Die soeben skizzierte Rechtsprechung hat eine Reihe unterschiedlicher Begründungsmuster für oder gegen die individualrechtsfreundliche Auslegung des Art. 36 Abs. 1 WÜK erkennbar werden lassen. Im Anschluss hieran soll nun versucht werden, einige allgemeine, vor allem methodologische Gesichtspunkte herauszuarbeiten, die nicht allein für das WÜK, sondern auch für sonstige Verträge Auslegungsleitlinien geben können.

1. Vorüberlegung Die Anerkennung des Individuums als Völkerrechtssubjekt stellt eine Entwicklung dar, die sich im Wesentlichen in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, namentlich durch die Entstehung des internationalen Menschenrechtsschutzes, vollzogen hat. Kennzeichnend für die Phase des sog. klassischen Völkerrechts bis zum Ende des Ersten Weltkriegs war die Zentrierung auf den Staat als (nahezu) alleiniges Völkerrechtssubjekt. Der Einzelmensch erschien ___________ 46 Vgl. A/CONF.25/6, United Nations Conference on Consular Relations, Official Records, 1963, Vol. II, S. 24. 47 Dass es sich hierbei keineswegs um einen Ausdruck von Hybris der letzten verbliebenen Supermacht handelt, belegt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts über die Pflicht deutscher Gerichte zur (bloßen) „Berücksichtigung“ von Urteilen des EGMR, BVerfGE 111, 307 ff.; krit. hierzu Breuer, M., Karlsruhe und die Gretchenfrage: Wie hast du’s mit Straßburg?, in: NVwZ 2005, S. 412 (413 f.).

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als bloßes Objekt völkerrechtlicher Regeln (so genannte Objekttheorie) 48 und trat auf internationaler Ebene nur in der Mediatisierung durch seinen Heimatstaat in Erscheinung. So ist es bezeichnend, wenn in der ersten Auflage zu Oppenheims Völkerrechtslehrbuch aus dem Jahr 1905 zu lesen ist, die so genannten Menschenrechte könnten im Völkerrecht keinen Schutz erfahren „since the Law of Nations is a law between States, and since individuals cannot be subjects of this law“. 49 Bereits in der Zwischenkriegszeit wurde an diesem Prinzip jedoch nicht mehr uneingeschränkt festgehalten. Vielmehr entschied im Jahr 1928 der Ständige Internationale Gerichtshof (StIGH), dass in völkerrechtlichen Verträgen individuelle Rechte begründet werden könnten, wenn die Vertragsparteien dies beabsichtigt hätten. 50 Allgemein durchgesetzt hat sich die These von der (stets nur partiellen) Völkerrechtssubjektivität des Einzelmenschen jedoch in der Zeit nach 1945, und auch hier wird man davon ausgehen müssen, dass es sich um einen allmählichen Prozess handelte, der eindeutig jedenfalls erst mit dem Zustandekommen der beiden internationalen Menschenrechtsverträge von 1966 seinen definitiven Abschluss fand. 51 Bei Verträgen, die vor diesem Zeitpunkt geschlossen wurden – hierzu zählt auch das WÜK von 1963 –, war die Begründung individueller Rechtspositionen wie gesehen zwar nicht schlechterdings ausgeschlossen, sie hing jedoch maßgeblich von der Auslegung des einzelnen Vertrages ab (näher unter 2.). Steht nach diesen Grundsätzen fest, dass eine Verleihung individueller Rechte nicht beabsichtigt war, muss die Auslegung an diesem Punkt nicht notwendigerweise enden. Vielmehr sind die Regeln des intertemporalen Völkerrechts 52 zu beachten, wonach „a juridical fact must be appreciated in the light of the law contemporary with it“. 53 Hieraus folgt zweierlei: Hat ein heutiges Gericht einen rein staatengerichteten völkerrechtlichen Vertrag auf einen frühe___________ 48

Die Objekttheorie steht dabei in einem gewissen Näheverhältnis zum reinen Dualismus, vgl. Triepel, H., Völkerrecht und Landesrecht, 1899, S. 13 ff.; krit. Bestandsaufnahme bei Manner, G., The Object Theory of the Individual in International Law, in: AJIL 46 (1952), S. 428 ff. 49 Oppenheim, L., International Law: a Treatise, Vol. I: Peace, 1905, S. 346. 50 StIGH, Jurisdiction of the Courts of Danzig, Advisory Opinion, PCIJ Series B No. 15 (1928), S. 17 ff. 51 Siehe aber Dörr, O., „Privatisierung“ des Völkerrechts, in: JZ 2005, S. 905 (908), der bereits für die Zeit ab 1945 eher von der Möglichkeit völkervertraglicher Begründung von Individualrechten ausgeht. 52 Der Begriff „intertemporales Recht“ ist ursprünglich im Internationalen Privatrecht geprägt (grundlegend Affolter, F., Geschichte des intertemporalen Privatrechts, 1902), später jedoch auch in andere Rechtsgebiete wie etwa das Verfassungsrecht übernommen worden, siehe Blumenwitz, D., Intertemporales und interlokales Verfassungskollisionsrecht, in: Isensee, J. / Kirchhof, P. (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IX, 1997, § 211. 53 So die klassische Formulierung Max Hubers im Palmas-Schiedsspruch, in: ZaöRV, Bd. 1 (1929), S. 3 (24).

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ren Sachverhalt anzuwenden, so gilt das zur damaligen Zeit maßgebliche Recht. Der mittlerweile eingetretene Wandel über die Rechtsstellung des Individuums im Völkerrecht kann insoweit keine Berücksichtigung finden. 54 Wird dagegen ein ehemals rein staatenberechtigender Vertrag auf einen heutigen Sachverhalt angewendet, so ist zu überlegen, ob nach den Grundsätzen der dynamischen (evolutiven) Vertragsauslegung nicht möglicherweise der gewandelten Rechtsanschauung dadurch Rechnung getragen werden kann, dass einzelne Vorschriften des Vertrages im Sinne subjektiver Rechtsgewährung umgedeutet werden. Die Methode der dynamischen Vertragsauslegung ist vom IGH dem Grunde nach anerkannt. 55 Freilich muss überlegt werden, ob eine Umdeutung ehemals staatengerichteter Rechte in Individualrechte mit diesem Topos tatsächlich gerechtfertigt werden kann (hierzu unter 3.).

2. Auslegungskriterien für die völkervertragliche Verleihung individueller Rechte Grundvoraussetzung für die Begründung von Individualrechten in völkerrechtlichen Verträgen überhaupt ist – selbstverständlich – das Vorliegen einer unmittelbar anwendbaren Norm. 56 Sofern diese Voraussetzung erfüllt ist, soll die Qualifizierung als Individualrecht nach einer in der Völkerrechtslehre verbreiteten Auffassung davon abhängen, ob dem Einzelnen ein Mechanismus zur Durchsetzung seiner Rechte zur Verfügung steht oder nicht. 57 Grzeszick geht gar davon aus, erst mit dem LaGrand-Urteil sei dieses Unterscheidungskriterium vom IGH aufgegeben worden. 58 Doch waren es in Wahrheit die Staaten selbst, die lange vorher in ihrer Vertragspraxis zwischen materieller Rechtsinhaberschaft und prozessualer Durchsetzbarkeit unterschieden haben. Insoweit ist insbesondere auf die Menschenrechtsverträge zu verweisen, die zwar gewiss ___________ 54 Zutreffend daher BVerfG, EuGRZ 2006, S. 105 (106) zu Art. 3 des IV. Haager Abkommens. 55 Vgl. IGH, Legal Consequences for States of the Continued Presence of South Africa in Namibia (South West Africa) notwithstanding Security Council Resolution 276 (1970), Advisory Opinion, ICJ Rep. 1971, S. 16 (19), Rn. 53; siehe auch IGH, Aegean Sea Continental Shelf, Judgment, ICJ Rep. 1978, 3 (32 f.) Rn. 76. 56 Vgl. nur Grzeszick (Fn. 6), S. 318. 57 Grundlegend Kelsen, H., Principles of International Law, 1957, S. 143 f.; ebenso etwa Verdross, A. / Simma, B., Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. 1984, § 424; Epping, V., in: Ipsen, K., Völkerrecht, 5. Aufl. 2004, § 7 Rn. 5; Seidl-Hohenveldern, I., Völkerrecht, 9. Aufl. 1997, Rn. 938 ff. 58 Grzeszick (Fn. 6), S. 328; siehe aber Randelzhofer, A., The Legal Position of the Individual under Present International Law, in: ders. / Tomuschat, Ch. (Hrsg.), State Responsibility and the Individual, 1999, S. 231 (233), unter Verweis auf StIGH, Appeal from a judgment of the Hungaro-Czecoslovak mixed arbitral tribunal (the Peter Pazmany University), Judgment, PCIJ Series A/B, No. 61 (1933), 231.

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(auch) Individualrechte begründen, 59 ohne hierfür jedoch stets ein zwingendes Durchsetzungsverfahren vorzusehen. So findet sich im Fall des IPBPR die Möglichkeit der Individualbeschwerde nur im (ersten) Fakultativprotokoll60 wieder. Die EMRK sah in ihrer ursprünglichen Fassung 61 allein die Staatenbeschwerde als zwingenden Rechtsbehelf vor (Art. 24 EMRK a. F.), die Zulässigkeit der Individualbeschwerde hing von einer diesbezüglichen Erklärung der Vertragsstaaten ab (Art. 25 Abs. 1 Satz 1 EMRK a. F.). 62 Machte man bei diesen Verträgen mit dem Kriterium der individuellen Durchsetzbarkeit ernst, hätte dies zur Folge, dass ein und dieselbe Norm für einen Teil der Vertragsparteien als bloßes Staatenrecht, gegenüber einem anderen Teil hingegen zugleich als Individualrecht anzusehen wäre, je nachdem, ob sich ein Staat dem Individualbeschwerdeverfahren unterworfen hätte oder nicht. Eine solche „gespaltene“ Auslegung erscheint indes abwegig und ist, soweit ersichtlich, bisher auch nirgends vertreten worden. Das aber bedeutet, dass es für die materiellrechtliche Qualifikation völkervertraglicher Gewährleistungen auf deren tatsächliche individuelle Durchsetzbarkeit grundsätzlich nicht ankommt. Nur bei Vorhandensein eines entsprechenden Individualverfahrens lässt sich argumentieren, dass dann regelmäßig auch materiell Individualrechte verliehen werden sollten (ubi actio, ibi ius). 63 Nicht aber kann umgekehrt aus dem Fehlen eines derartigen Verfahrens auf die Existenz reiner Staatenrechte geschlossen werden. 64 Der aus dem Verfassungsrecht bekannte Zusammenhang zwischen materiellem Grundrecht und verfahrensrechtlicher Durchsetzbarkeit 65 kann auf völkerrechtlicher ___________ 59

Dies trifft jedenfalls für die klassischen liberalen Abwehrrechte zu. Dass es bei sonstigen menschenrechtlichen Verbürgungen stets einer gesonderten Prüfung bedarf, betont zutreffend Dörr (Fn. 51), S. 906 f., unter Verweis auf IPWSKR, Völkermordkonvention und UN-Folterkonvention. 60 Fakultativprotokoll zu dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, BGBl. 1992 II, S. 1247. 61 Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. 1952 II, S. 685, 953. 62 Seit dem Inkrafttreten des Protokolls Nr. 11 (BGBl. 1995 II, S. 578) ist die Individualbeschwerde bekanntlich für alle Konventionsstaaten zwingend. 63 Vgl. Dörr (Fn. 51), S. 906; Randelzhofer (Fn. 58), S. 234. 64 So bereits Lauterpacht, H., International Law and Human Rights, 1950, S. 27, 48, 61, 159 f.; ebenso Delbrück, J., in: Dahm, G. / Delbrück, J. / Wolfrum, R., Völkerrecht, Bd. I/2, 2. Aufl. 2002, § 109 II.1. (S. 260 f.); Doehring, K., Völkerrecht, 2. Aufl. 2004, Rn. 246 f.; Dörr (Fn. 51), S. 906; Randelzhofer (Fn. 58), S. 234; Seegers, M., Das Individualrecht auf Wiedergutmachung. Theorie, Struktur und Erscheinungsformen der völkerrechtlichen Staatenverantwortlichkeit gegenüber Individuen, 2005, S. 53 ff.; Stein, T. / Buttlar, Ch. v., Völkerrecht, 11. Aufl. 2005, Rn. 501 f. 65 Vgl. etwa BVerfGE 46, 325 (334) zur „unmittelbar aus Art. 14 GG [folgenden] Pflicht, bei Eingriffen in dieses Grundrecht einen effektiven Rechtsschutz zu gewähren“; näher hierzu Denninger, E., Staatliche Hilfe zur Grundrechtsausübung durch Verfahren, Organisation und Finanzierung, in: Isensee / Kirchhof (Fn. 52), Bd. V, 1992, § 113.

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Ebene schon allein wegen des fehlenden Gewaltmonopols und, damit zusammenhängend, wegen der nur unvollständig ausgebauten internationalen Gerichtsbarkeit keine Gültigkeit beanspruchen. Erweist sich das Kriterium der individuellen Durchsetzbarkeit somit als wenig ergiebig, sind die allgemeinen methodischen Grundsätze der Vertragsauslegung heranzuziehen. Dabei soll hier eine weitere Differenzierung danach erfolgen, ob der Vertrag den Terminus „Rechte“ im Zusammenhang mit Individuen verwendet oder nicht. a) Sofern der Wortlaut des Vertrags mit Blick auf Individuen von „Rechten“ spricht – wie etwa Art. 36 Abs. 1 lit. a Satz 2, lit. b Satz 3 WÜK –, liegt ein erster Anhaltspunkt für die Verleihung von Individualrechten vor, mehr jedoch nicht. Keinesfalls erscheint es angängig, unter Berufung auf den eindeutigen Wortlaut jede weitere Bemühung um Auslegung zu unterlassen. Die vom IGH im LaGrand-Fall angewendete Sens-clair-Doktrin hat sich aus methodologischer Sicht längst als Zirkelschluss erwiesen: 66 Denn die Feststellung, dass ein Text nicht auslegungsbedürftig sei, besagt nichts anderes, als dass über die einschlägige Interpretation Einigkeit besteht. 67 Kann somit aus dem eindeutigen Wortlaut einer Vorschrift nicht das Verbot der (weiteren) Auslegung gefolgert werden, besteht kein Grund, nicht auch die anderen Auslegungsgrundsätze mit heranzuziehen. Ein einseitiges Abstellen auf den Wortlaut widerspräche insoweit Art. 31 Abs. 1 WVK, wo Systematik sowie Ziel und Zweck des Vertrags als gleichberechtigte Auslegungskriterien neben dem Wortlaut genannt sind. 68 Zieht man jedoch diese Gesichtspunkte mit heran, so wird dies bei der hier untersuchten Gruppe von Verträgen regelmäßig gegen die Gewährung von Individualrechten sprechen. Denn es handelt sich ja nicht um Menschenrechtsverträge, bei denen schon per definitionem das Individuum im Mittelpunkt steht, sondern um sonstige, primär die zwischenstaatlichen Beziehungen regelnde Verträge. 69 Mithin liegt ein Methodenkonflikt vor, der sich nur dann vermeiden ließe, wenn man derjenigen Wortbedeutung den Vorzug gäbe, die den Widerspruch zum Ziel des Vertrags vermeidet, also dem Verständnis von „Rechten“ im Sinne rein reflexhafter Begünstigung der Einzelperson. Ein solches Vorge___________ 66 Statt vieler Grzeszick (Fn. 6), S. 320, Hillgruber, Ch., Anmerkung, in: JZ 2002, S. 94 (96), beide m. w. N.; zustimmend hingegen Oellers-Frahm, K., Die Entscheidung des IGH im Fall LaGrand – ein Markstein in der Rechtsprechung des IGH, in: Marauhn, Th. (Hrsg.), Die Rechtsstellung des Menschen im Völkerrecht. Entwicklungen und Perspektiven, 2003, S. 21 (26); Tams, Ch., Das LaGrand-Urteil – IGH, EuGRZ 2001, 287, in: JuS 2002, S. 324 (326). 67 Viehweg, Th., Rechtsphilosophie als Grundlagenforschung, in: ARSP 47 (1961), S. 519 (523). 68 Vgl. Grzeszick (Fn. 6), S. 320. 69 Das Sondervotum Shi (Fn. 22) beschreibt insoweit eine typische Konstellation. Hingegen erweist sich die systematisch-teleologische Argumentation des IAGMR (im Text bei Fn. 28) als zu einseitig; siehe auch die Kritik bei Grzeszick (Fn. 6), S. 321 ff.

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hen wäre jedoch methodisch verfehlt, denn es ist keineswegs so, dass Methodenkonflikte stets im Sinne des „kleinsten gemeinsamen Nenners“ aufzulösen wären. 70 Im Übrigen könnte es auf diese Weise praktisch wohl nie zur Annahme völkervertraglich begründeter Individualrechte kommen, was aber der geschilderten internationalen Entscheidungspraxis zuwiderliefe. Stattdessen ist in einem solchen Fall davon auszugehen, dass die Verwendung des Terminus „Recht“ mehrdeutig oder unklar im Sinne von Art. 32 lit. a WVK ist, dass also die Entstehungsgeschichte zur ergänzenden Vertragsauslegung mit herangezogen werden darf. Das aber bedeutet, dass es für die hier untersuchte Fallkonstellation zu einer Umkehr des Regel-Ausnahmeverhältnisses in Bezug auf die Auslegungsmethoden kommt: Da Wortlaut und Telos regelmäßig zueinander in Widerspruch stehen, wird der Rückgriff auf die Entstehungsgeschichte in größerem Umfang zulässig als in Art. 32 WVK an sich vorgesehen. Nun zeigt das Beispiel des Art. 36 WÜK, dass auch die Entstehungsgeschichte nicht in allen Fällen zu einem eindeutigen Ergebnis verhilft. Bleibt es auch danach noch bei einem non liquet, muss im Zweifel die Begründung von Individualrechten abgelehnt werden. 71 Denn im Gegensatz zum Staat ist das Individuum nicht geborenes, sondern nur gekorenes Völkerrechtssubjekt. Seine Rechtsstellung ist von der Begründung durch die Staaten und daher von einem hierauf gerichteten Willen der Staaten abhängig. 72 Lässt sich ein solcher Wille nicht mit der notwendigen Sicherheit ermitteln, muss von einer bloßen Staatenberechtigung ausgegangen werden; das Individuum ist dann lediglich mittelbar Begünstigter. Diese Grundsätze gelten nicht allein für die Auslegung von Verträgen aus der Epoche des klassischen Völkerrechts, sondern auch für heutige Verträge: 73 Denn ungeachtet der bisher erfolgten Aufwertung des Individuums im Völkerrecht ist dessen Rechtsstellung auch heute noch grundsätzlich von der Anerkennung durch die Staaten abhängig. Lediglich im ganz engen Bereich des menschenrechtlichen ius cogens mag sich eine vom Willen der Staaten losgelöste Rechtsstellung des Individuums etabliert ___________ 70 Mit Blick auf das nationale Recht muss konstatiert werden, dass die Frage, wie derartige Methodenkonflikte aufzulösen sind, nach wie vor ungeklärt ist. Eine „MetaTheorie der Auslegungstheorien“ im Sinne einer festen Rangfolge der Auslegungsregeln ist jedenfalls bislang nicht gefunden, vgl. hierzu jüngst Canaris, C.-W., Das Rangverhältnis der „klassischen“ Auslegungskriterien, demonstriert an Standardproblemen aus dem Zivilrecht, in: Beuthien, V. u. a. (Hrsg.), Festschrift für Dieter Medicus, 1999, S. 25 ff. Da im Völkerrecht außer der generellen Nachrangigkeit der historischen Auslegung gem. Art. 32 WVK ebenfalls kein festes Rangverhältnis der Auslegungsmethoden existiert, wird man insoweit zu demselben Ergebnis kommen müssen. 71 Mit dieser Maßgabe wird man der Einlassung der US-Regierung (bei Fn. 45) zum Bestehen einer Vermutung gegen die Begründung individueller Rechte durch völkerrechtlichen Vertrag Folge leisten können. 72 Vgl. Doehring (Fn. 64), Rn. 245; Epping (Fn. 57), § 7 Rn. 4; siehe auch Grzeszick (Fn. 6), S. 334 f. 73 Ebenso Hillgruber (Fn. 66), S. 96.

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haben, 74 doch ist dies nicht Gegenstand der vorliegenden Betrachtung. Für Art. 36 WÜK bleibt festzuhalten, dass angesichts der Unsicherheiten hinsichtlich seiner Normgenese im Zweifel davon auszugehen ist, dass nur Staatenrechte begründet werden sollten. 75 Um die Position von IGH und IAGMR im Ergebnis halten zu können, bleibt also lediglich der Rückgriff auf die dynamische Vertragsauslegung. b) Zuvor ist allerdings noch zu überlegen, wie die Situation zu beurteilen ist, wenn der Vertrag seinem Wortlaut nach das Individuum nicht als Träger von Rechten anspricht. Als Beispiel hierfür mag Art. 3 des IV. Haager Abkommens dienen, wo für den Fall eines Verstoßes gegen die Regeln des Kriegsrechts eine Pflicht zum Schadensersatz statuiert wird, ohne dass festgelegt würde, wer Inhaber des hiermit korrespondierenden Schadensersatzanspruchs ist – das geschädigte Individuum oder der Staat, dem es angehört. Unter diesen Umständen wird es regelmäßig an einem Konflikt zwischen Wortlaut und Telos des Vertrags fehlen, so dass der Rückgriff auf die Entstehungsgeschichte verwehrt ist. Mag daher auch geltend gemacht werden, den traveaux préparatoires zum IV. Haager Abkommen ließe sich der Wille der Vertragsparteien auf die Begründung eines individuellen Entschädigungsanspruchs in Art. 3 entnehmen 76 – was freilich mit mindestens ebenso guten Gründen bezweifelt werden kann 77 –, so muss doch dieser Umstand außer Betracht bleiben, sofern sich nicht anderweitige Anhaltspunkte finden lassen, die gegen die rein staatenberechtigende Interpretation sprechen, also „Unklarheiten“ im Sinne des Art. 32 WVK begründen. 78 3. Dynamische (Um-)Interpretation rein staatengerichteter Verträge? Für die Frage nach den Bedingungen, unter denen eine dynamische Vertragsinterpretation zulässig ist, sind in der Literatur verschiedene Kriterien entwickelt worden. So soll zwischen bilateralen und multilateralen Verträgen, ___________ 74

In diesem Sinne etwa Doehring (Fn. 64), Rn. 249; Dörr (Fn. 51), S. 907. Im Ergebnis wie hier Dörr (Fn. 51), S. 907; Grzeszick (Fn. 6), S. 323; OellersFrahm (Fn. 66), S. 26 f. 76 So insbesondere Kalshoven, F., State Responsibility for Warlike Acts of the Armed Forces, in: ICLQ 40 (1991), S. 827 (831 f.). 77 Vgl. Heintschel v. Heinegg, W., Entschädigung für Verletzungen des humanitären Völkerrechts, in: BDGVR 40 (2003), S. 1 (31 f.). 78 Auf die damit zusammenhängende Diskussion kann hier nicht näher eingegangen werden, vgl. etwa Baufeld, St., Individuelle Ersatzansprüche bei kriegsrechtswidrigen Schädigungen, in: HuV-I 2004, S. 93 ff.; Hofmann, R., Victims of Violations of International Humanitarian Law: Do They Have an Individual Right to Reparation against States under International Law?, in: Dupuy, P.-M. u. a. (Hrsg.), Völkerrecht als Wertordnung. Festschrift für Christian Tomuschat, 2006, S. 341 ff. 75

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zwischen reinen Austausch- (traités-contrat) und rechtsetzenden Verträgen (traités-loi), zwischen Verträgen mit kurzer und mit langer Laufzeit zu unterscheiden sein mit der Maßgabe, dass eine dynamische Interpretation bei den jeweils zuletzt genannten Arten von Verträgen eher in Betracht kommt als bei den erstgenannten. 79 Eine dynamische Interpretation des Art. 36 WÜK scheint danach grundsätzlich in Betracht zu kommen. Allgemein durchgesetzt hat sich die dynamische Vertragsauslegung allerdings lediglich bei zwei Gruppen von Verträgen: 80 Dies sind zum einen die Menschenrechtsverträge, bei denen der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit den Stichworten von der EMRK als eines „living instrument“ sowie der Auslegung nach „present-day conditions“ eine Vorreiterrolle gespielt hat; 81 diese Art von Verträgen bleibt für die hiesigen Überlegungen jedoch außer Betracht. Zum anderen ist bei Gründungsverträgen Internationaler Organisationen die dynamische Vertragsauslegung unter dem Gesichtspunkt der „implied powers“ / des „effet utile“ anerkannt; 82 da es hierbei allerdings nicht um die Begründung von Individualrechten geht, können hieraus ebenfalls keine weitergehenden Erkenntnisse gewonnen werden. Hilfe verspricht insoweit abermals der Rückgriff auf die allgemeinen Methoden der Vertragsauslegung. Mustert man das Normprogramm des Art. 31 WVK auf dynamisierende Elemente hin durch, so lassen sich folgende Gesichtspunkte ausmachen, die eine dynamische Vertragsauslegung prinzipiell rechtfertigen können: 83 einerseits Ziel und Zweck des Vertrags (Art. 31 Abs. 1 WVK), andererseits die in Absatz 3 genannten Umstände, also spätere Übereinkünfte über die Vertragsauslegung (lit. a), die spätere Übung bei der Auslegung des Vertrags (lit. b) sowie die sonstigen zwischen den Vertragsparteien anwendbaren Völkerrechtssätze (lit. c). a) Teleologische Gesichtspunkte spielen insbesondere bei der dynamischen Auslegung von Menschenrechtsverträgen eine Rolle. 84 Die hierfür entwickelten Grundsätze unbesehen auf Verträge nichtmenschenrechtlicher Art zu übertragen, erscheint allerdings problematisch. Denn bei den Menschenrechtsverträgen entspricht die Berechtigung des Individuums bereits dem ursprünglichen ___________ 79

Vgl. Bernhardt, R., Evolutive Treaty Interpretation, Especially of the European Convention on Human Rights, in: GYIL 42 (1999), S. 11 (16, 21); Delbrück, J., in: Dahm / Delbrück / Wolfrum (Fn. 64), Bd. I/3, 2. Aufl. 2002, § 153 IV.1. (S. 648 f.). 80 Vgl. Bernhardt (Fn. 79), S. 21; Delbrück (Fn. 79), § 153 IV.2., 3. (S. 649 ff.). 81 Grundlegend EGMR, Tyrer ./. Vereinigtes Königreich, Series A No. 26, Rn. 31 = EuGRZ 1979, S. 162. 82 Vgl. IGH, Legality of the Use by a State of Nuclear Weapons in Armed Conflict, Advisory Opinion, ICJ Rep. 1996, 66, Rn. 25 m. w. N. 83 Vgl. auch Bernhardt (Fn. 79), S. 16 f. 84 Hierzu etwa Grabenwarter, Ch., Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. 2005, § 5 Rn. 12 ff.; Liu, W., Les méthodes d’interprétation dynamique de la Convention européenne des droits de l’homme utilisées par la Cour européenne des droits de l’homme, 2002, S. 11 ff.

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Vertragszweck, während bei sonstigen Verträgen – wie gesehen – regelmäßig davon auszugehen sein wird, dass das Telos des Vertrags allein auf die Gewährung von Staatenrechten gerichtet ist. Bei derartiger Sachlage gerade mit teleologischen Gesichtspunkten eine „Uminterpretation“ rechtfertigen zu wollen, erscheint nicht angängig. Es mag indes vorkommen, dass auch die teleologische Vertragsauslegung eines vermeintlich rein zwischenstaatlichen Vertrags Anhaltspunkte für eine Verleihung von Individualrechten enthält. Insoweit kann wiederum das WÜK als Beispiel herangezogen werden, meinte doch der IAGMR, Art. 36 WÜK in systematisch-teleologischer Auslegung entsprechende Argumente entnehmen zu können. 85 Mag auch in einem solchen Fall die historische Auslegung zunächst zu dem Ergebnis führen, dass eine Verleihung echter Individualrechte nicht beabsichtigt war, so liegt doch zumindest ein Anknüpfungspunkt für eine dynamische Vertragsauslegung vor. In diesem Sinne wird man es zu verstehen haben, wenn das Urteil des IGH im Fall LaGrand als Fortschritt in Sachen Individualrechtsschutz begrüßt worden ist. 86 Es erscheint jedoch fraglich, ob die Anerkennung eines Individualrechts aus Art. 36 WÜK neben dem entsprechenden Staatenrecht tatsächlich zu einer Stärkung der Rechtsstellung des Einzelnen im Völkerrecht geführt hat. Wie erwähnt erfolgte die Geltendmachung der individuellen Rechte der LaGrand-Brüder durch die Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der Ausübung diplomatischen Schutzes. Nach traditioneller Sichtweise macht ein Staat beim diplomatischen Schutz allerdings ausschließlich die Verletzung eigener Rechte in der Person seines Angehörigen geltend. 87 Zwar ist nach einer im Vordringen befindlichen Auffassung in der Völkerrechtslehre davon auszugehen, dass neben dem Staatenrecht auf Wiedergutmachung noch ein entsprechendes Recht des Individuums existiert, welches vom Heimatstaat in Prozessstandschaft geltend gemacht wird. 88 Jedoch ist es für die Ausübung des diplomatischen Schutzes völlig ausreichend, wenn ein ___________ 85

Vgl. IAGMR (im Text bei Fn. 28) sowie die Kritik hieran oben Fn. 69. Vgl. Oellers-Frahm (Fn. 25), S. 267. 87 Vgl. StIGH, The Mavrommatis Palestine Concessions, Judgment, PCIJ Series A No. 2 (1924), 12 f.; IGH, Barcelona Traction, Second Phase, Judgment, ICJ Rep. 1970, 3, Rn. 85 f. 88 Vgl. insbesondere Doehring, K., Handelt es sich bei einem Recht, das durch diplomatischen Schutz eingefordert wird, um ein solches, das dem die Protektion ausübenden Staat zusteht, oder geht es um die Erzwingung von Rechten des betroffenen Individuums?, in: Ress, G. / Stein, T. (Hrsg.), Der diplomatische Schutz im Völker- und Europarecht, 1996, S. 13 (15 ff.). Der ILC-Entwurf zum diplomatischen Schutz von 2006 bezieht in der Frage bewusst keine Stellung, vgl. Draft Articles on Diplomatic Protection (2006), GAOR 61th Session, Suppl. No. 10 (A/61/10), S. 25. Ebenso wenig ergeben sich zwingende Schlüsse aus IGH, Ahmadou Sadio Diallo (Republic of Guinea v. Democratic Republic of the Congo, Judgment of 24 May 2007, Rn. 39), online abrufbar unter www.icj-cij.org (letzter Zugriff: 20.09.2007). 86

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Staat sich allein auf seine eigenen Rechte beruft. 89 Dass durch die parallele Existenz eines Individualrechts der diplomatische Schutz erst ermöglicht würde, wird nicht vertreten. Angesichts dessen muss es verwundern, wenn die Bundesrepublik Deutschland im Verfahren vor dem IGH geltend gemacht hat, die erste Voraussetzung für die Ausübung diplomatischen Schutzes sei „the violation of an individual right provided by international law“. 90 Geht man von dieser Prämisse aus – wäre also die Verletzung eines Individualrechts Tatbestandsvoraussetzung für die Zulässigkeit diplomatischen Schutzes –, käme der Qualifikation der Rechte aus Art. 36 Abs. 1 lit. b WÜK als Individualrechte in der Tat rechtsschutzbegründende Wirkung zu. 91 Da jedoch diese Auffassung, soweit ersichtlich, bislang nicht vertreten worden ist und auch der IGH ihr in seinem Urteil nicht erkennbar Folge geleistet hat, 92 bleibt es bei dem Befund, dass die Ausübung diplomatischen Schutzes nicht von der Qualifikation des Art. 36 Abs. 1 lit. b WÜK als Individualrechte begründende Vorschrift abhängig war. Insoweit hat die Rechtsstellung des Individuums keine effektive Verbesserung erfahren. Teilweise ist jedoch geltend gemacht worden, durch die Anerkennung subjektiver Rechte in Art. 36 Abs. 1 lit. b WÜK sei die Position des Individuums hinsichtlich der Wiedergutmachung des völkerrechtlichen Unrechts gestärkt worden. 93 Der IGH hat diesbezüglich entschieden, die Anwendung der so genannten procedural default rule habe im konkreten Einzelfall gegen Art. 36 Abs. 2 WÜK verstoßen, und in diesem Zusammenhang ausgeführt: „The Court cannot accept the argument of the United States which proceeds, in part, on the assumption that paragraph 2 of Article 36 applies only to the rights of the sending State and not also to those of the detained individual. The Court has already determined that Article 36, paragraph 1, creates individual rights for the detained person in addition to the rights accorded the sending State, and that consequently the reference to ‚rights‘ in paragraph 2 must be read as applying not only to the rights of the sending State, but also to the rights of the detained individual.“94

___________ 89

Vgl. Grzeszick (Fn. 6), S. 330; Hillgruber (Fn. 66), S. 97. Vgl. das Memorial der Bundesrepublik Deutschland im LaGrand-Fall, Rn. 4.90 (online abrufbar unter www.icj-cij.org, letzter Zugriff: 20.09.2007). 91 Siehe auch Pinto (Fn. 17), S. 532. 92 Vgl. auch Hillgruber (Fn. 66), S. 96; dass der IGH gleichwohl zur individualrechtlichen Qualität des Art. 36 Abs. 1 lit. b WÜK Stellung genommen hat, bezeichnet Hillgruber, a. a. O., zutreffend als verwirrend. Erklären lässt es sich wohl nur damit, dass diese Feststellung von der Bundesrepublik ausdrücklich beantragt worden war, vgl. Blumenwitz, D. / Breuer, M., Fälle und Lösungen zum Völkerrecht, 2. Aufl. 2005, S. 203 f. 93 Vgl. Oellers-Frahm (Fn. 66), S. 27; zu den Problemen bei der Urteilsumsetzung in den USA vgl. Simma, B., Eine endlose Geschichte? Artikel 36 der Wiener Konsularkonvention in Todesstrafenfällen vor dem IGH und amerikanischen Gerichten, in: Festschrift Tomuschat (Fn. 78), S. 423 ff. 94 IGH (Fn. 10), Rn. 89. 90

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Es wäre indes ein Missverständnis, würde der IGH so interpretiert, als hätte nur und erst die Qualifikation der Rechte aus Art. 36 Abs. 1 lit. b WÜK als Individualrechte die Anwendung der procedural default rule völkerrechtswidrig werden lassen. Die Argumentation des IGH besagt umgekehrt lediglich, dass die Zulässigkeit der procedural default rule nicht schon daraus habe gefolgert werden können, dass Art. 36 Abs. 2 WÜK von vornherein auf Individualrechte unanwendbar sei. Hingegen stellt der IGH im Urteilstenor zu Art. 36 Abs. 2 WÜK ausdrücklich einen Völkerrechtsverstoß der USA sowohl gegenüber der Bundesrepublik Deutschland als auch gegenüber den LaGrand-Brüdern fest. 95 Hieran wird deutlich, dass der Qualifizierung des Art. 36 Abs. 1 lit. b WÜK als individualrechtsschützende Norm für die Frage der Wiedergutmachung keine maßgebliche Bedeutung zukam. Die Bundesrepublik Deutschland hätte ihr Ziel ebenso gut mit einer allein auf ihr Staatenrecht gestützten Klage erreichen können. Schließlich bleibt zu erwägen, ob sich unter teleologischen Gesichtspunkten die individualrechtsfreundliche Auslegung des Art. 36 Abs. 1 lit. b WÜK nicht möglicherweise daraus ergibt, dass es jedenfalls im jeweiligen nationalen Recht zu einer Verbesserung der Rechtsstellung des Individuums komme. Schließlich ist das Individuum im nationalen Rechtsraum, anders als auf der völkerrechtlichen Ebene, nicht auf die Geltendmachung seiner Rechte durch den Heimatstaat angewiesen, sondern kann diese selbstständig einklagen. Von daher erscheint das Argument schwer von der Hand zu weisen, dass zumindest im innerstaatlichen Bereich durch die (Um-)Interpretation ehemals staatengerichteter Rechte in Individualrechte die Rechtsstellung des Einzelnen gestärkt würde. Dass dies indes nicht stets der Fall ist, ergibt sich aus folgender Überlegung: 96 Das Völkerrecht selbst enthält keine Bestimmungen darüber, wie die Inkorporation völkerrechtlicher Regeln in die innerstaatliche Rechtsordnung zu erfolgen hat. Völkerrechtlich zulässig sind daher sowohl der Monismus als auch der Dualismus, und zwar in ihren strengen wie gemäßigten Varianten. 97 Zu einer unmittelbaren Verbesserung der Rechtsstellung des Individuums im nationalen Recht käme es durch die besagte individualrechtsfreundliche Auslegung des Art. 36 Abs. 1 lit. b WÜK jedoch nur in denjenigen Staaten, die dem Monismus mit Primat des Völkerrechts oder aber dem gemäßigten Dualismus folgen. Hingegen ließe in Staaten, die dem streng dualistischen Konzept verpflichtet sind, die Begründung völkervertraglicher Individualrechte die Stellung des Einzelnen nach innerstaatlichem Recht zunächst unberührt. Erst wenn diese Rechte vom nationalen Gesetzgeber in innerstaatliches Recht „umgegossen“ ___________ 95

IGH (Fn. 10), Tenor Ziff. 4. Ähnlich wie hier Grzeszick (Fn. 6), S. 336 ff. 97 Vgl. nur Delbrück, J., in: Dahm / Delbrück / Wolfrum (Fn. 64), Bd. I/1, 2. Aufl. 1989, § 10, 1. (S. 104). 96

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würden, könnte sich der Einzelne auch auf sie berufen. 98 Zwar wäre der Staat völkerrechtlich hierzu verpflichtet und beginge unter Umständen einen Völkerrechtsverstoß, wenn er dies unterließe. Der aus einem solchen Völkerrechtsverstoß resultierende Wiedergutmachungsanspruch wäre allerdings wiederum nicht unmittelbar im innerstaatlichen Recht durchsetzbar. Zu einer echten Verbesserung der Stellung des Individuums käme es unter diesen Umständen nur in den wenigen Fällen, wo im Vertrag – wie der EMRK – ein Individualbeschwerdeverfahren vorgesehen wäre, mit dem der völkerrechtliche Individualanspruch direkt durchgesetzt werden könnte. Hieraus folgt, dass die Konsequenzen einer individualrechtsfreundlichen Auslegung des Völkervertragsrechts für den innerstaatlichen Bereich unterschiedlich wären, je nachdem, welchem Inkorporationsmodell der jeweilige Staat folgt. Dies aber lässt die Berücksichtigung der innerstaatlichen Ebene insgesamt als fragwürdig erscheinen: Wenn das Völkerrecht es den Staaten gestattet, einem Inkorporationsmodell zu folgen, welches die innerstaatliche Durchsetzung völkervertraglicher Individualrechte effektiv verhindern kann, so muss um der Einheitlichkeit der Vertragsauslegung willen der nationale Bereich gänzlich außer Betracht bleiben.99 Auch insoweit lässt sich also eine individualrechtsfreundliche Auslegung nicht mit teleologischen Erwägungen rechtfertigen. b) Außer mit teleologischen Aspekten könnte eine dynamische Vertragsauslegung möglicherweise noch unter den in Art. 31 Abs. 3 WVK normierten Umständen in Betracht kommen. Dabei ist unmittelbar einsichtig, dass eine ehemals staatengerichtete Vertragsnorm individualbegünstigend ausgelegt werden muss, wenn sich die Vertragsstaaten in einem späteren Übereinkommen hierauf verständigt haben (Art. 31 Abs. 3 lit. a WVK). Problematischer erscheint hingegen die Berufung auf eine spätere Übung (Art. 31 Abs. 3 lit. b WVK). Zu beachten ist nämlich, dass die bloße innerstaatliche Praxis – etwa in Form von Gerichtsentscheidungen – für sich allein genommen noch nicht ausreicht, um den Tatbestand des Art. 31 Abs. 3 lit. b WVK zu erfüllen. Vielmehr muss aus der Übung zusätzlich die Übereinstimmung der Vertragsparteien über die Auslegung des Vertrags hervorgehen. Auch bei Vorliegen einer entsprechenden innerstaatlichen Entscheidungspraxis muss also zusätzlich stets geprüft werden, ob sich hieraus ein diesbezüglicher ___________ 98 So war in Großbritannien vor Schaffung des Human Rights Act 1998 eine direkte Berufung auf die Garantien der EMRK vor britischen Gerichten ausgeschlossen, vgl. Higgins, R., The Role of the Domestic Courts in the Enforcement of International Human Rights: the United Kingdom, in: Conforti, B. / Franconi, F. (Hrsg.), Enforcing International Human Rights in Domestic Courts, 1997, S. 37 ff. 99 Die Ausblendung des nationalen Bereichs ist im Völkerrecht durchaus nichts Ungewöhnliches. So kann etwa auch die Nichterfüllung eines völkerrechtlichen Vertrags grundsätzlich nicht mit entgegenstehendem innerstaatlichen (Verfassungs-)Recht begründet werden, vgl. Art. 27 Satz 1 WVK.

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völkerrechtlicher Bindungswille ergibt. Hieran kann es fehlen, wenn die Gerichte das subjektive Recht nicht unmittelbar aus dem jeweiligen völkerrechtlichen Vertrag, sondern aus einer Norm des rein nationalen Rechts hergeleitet haben, denn das nationale Recht kann über das völkervertraglich Gesollte hinausgehen. Im Fall des Art. 36 WÜK war vor dem LaGrand-Urteil die Entscheidungspraxis der innerstaatlichen Gerichte zu uneinheitlich, um hieraus Schlüsse ziehen zu können. 100 Dass sich an diesem Befund durch – ohnehin rechtlich unverbindliche – Resolutionen der UN-Generalversammlung, auf die der IAGMR zusätzlich verweist, etwas geändert hätte, erscheint nicht ersichtlich. 101 Somit bleibt als letztes Argument für eine dynamische Umdeutung ehemaliger Staatenrechte in Individualrechte noch Art. 31 Abs. 3 lit. c WVK. Danach ist „jeder in den Beziehungen zwischen den Vertragsparteien anwendbare einschlägige Völkerrechtssatz“ für die Auslegung zu berücksichtigen. Nun liegt sicher das Argument nahe, die bisher erfolgte Aufwertung des Individuums im Völkerrecht erfordere eine entsprechende Neuinterpretation. 102 Dass dem nicht so ist, wurde bereits in anderem Zusammenhang begründet: Da die Staaten die Entscheidung über das „Ob“ der Verleihung völkervertraglicher Individualrechte nach wie selbst in der Hand halten, zwingt die Tatsache, dass in einigen Verträgen individuelle Rechte begründet worden sind, nicht zu einer dynamischen Auslegung anderer Verträge, bei denen feststeht, dass jedenfalls ursprünglich nur Staatenrechte begründet werden sollten. Eine dynamische Auslegung von Art. 36 WÜK ist daher im Ergebnis abzulehnen. 103

IV. Schlussbetrachtung Um auf die eingangs gestellten Fragen zurückzukommen, erweist sich die gewisse Zurückhaltung (einiger) nationaler Gerichte gegenüber der individualrechtsfreundlichen Auslegung rein zwischenstaatlicher Verträge in der Tat als vorzugswürdig. Jedenfalls in diesem Punkt erweisen sie sich als die „besseren“ Völkerrechtsinterpreten, wenngleich der eigentliche Grund für diese Zurückhaltung weniger in methodologischen Erwägungen als vielmehr in der Sorge um die nationale Souveränität zu finden sein dürfte. Demgegenüber werden ___________ 100 Vgl. etwa einerseits Standt v. City of New York, 153 F. Supp. 2nd 417 (District Court, Southern District of New York, 18.07.2001), online abrufbar unter www.nysd. uscourts.gov/courtweb/ (letzter Zugriff: 20.09.2007) – Individualrecht bejaht; andererseits Canada v. Van Bergen, 261 A.R. 387, 390 (2000), zit. im Amicus Curiae Brief (Fn. 45), – Individualrecht verneint. 101 Zustimmend hingegen Mennecke (Fn. 19), S. 455. 102 In diesem Sinne das Sondervotum Cançado Trindade (Fn. 41). 103 Ebenso Hillgruber (Fn. 66), S. 96; anders Mennecke (Fn. 19), S. 452; OellersFrahm (Fn. 25), S. 267 f.

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sich internationale Gerichte wegen der kompetenzerweiternden oder gar -begründenden Wirkung individualrechtsfreundlicher Auslegung – man denke an den Fall des IAGMR – möglicherweise eher hierzu bereit finden. Davor zu warnen ist richtig. Denn die Gefahr eines „Bumerangeffekts“104 oder gar eines „Pyrrhussieges“105 dergestalt, dass eine allzu dynamische Auslegung völkerrechtlicher Verträge seitens der internationalen Gerichtsbarkeit die Bereitschaft der Staaten zur Eingehung völkervertraglicher Bindungen sinken lässt, ist nicht von der Hand zu weisen.106 Andererseits verdient aber auch hervorgehoben zu werden, dass sich weder der IGH noch der IAGMR in ihren Entscheidungen auf den Topos der dynamischen Vertragsauslegung berufen haben. Mag daher das Urteil des IGH in methodischer Hinsicht kritikwürdig, mag das Gutachten des IAGMR in seinem Ergebnis zweifelhaft sein, so begründen diese Entscheidungen für sich allein noch keinen „Wendepunkt der Entwicklung des Völkerrechts“.107 Ob sich die LaGrand-Entscheidung im Nachhinein als Wendepunkt herausstellen wird, hängt vielmehr davon ab, wie internationale Gerichtsbarkeit und Völkerrechtslehre in der Zukunft hiermit umgehen werden.108 Individualrechtseuphorie allein darf dabei nicht das Bemühen um eine methodisch fundierte Begründung ersetzen.

___________ 104

Hillgruber (Fn. 66), S. 96. Mennecke (Fn. 19), S. 452. 106 Der Verweis Grzeszicks (Fn. 6), S. 339, auf die nach dem LaGrand-Urteil erfolgte Kündigung des WÜK-Zusatzprotokolls durch die USA vermag allerdings nur eingeschränkt zu überzeugen, da die Verurteilung der USA durch den IGH auch nach Grzeszicks Auffassung nicht von der individualrechtsfreundlichen Auslegung des WÜK abhing, a. a. O., S. 330. Vgl. dazu auch Oellers-Frahm, K., Der Rücktritt der USA vom Fakultativprotokoll der Konsularrechtskonvention, in: Festschrift Tomuschat (Fn. 78), S. 663 ff. 107 So aber Grzeszick (Fn. 6), S. 313. 108 Vgl. Hillgruber (Fn. 66), S. 99. 105

Schutz der Bürgerrechte und Bürgerpflichten in der Kommune Franz-Ludwig Knemeyer Dieter Blumenwitz hat sich Zeit seines wissenschaftlichen Lebens dem Schutz der Menschenrechte besonders verpflichtet gesehen. Als Staats- und Völkerrechtler lag ihm die „Weltrechtsordnung“ näher als der Mikrokosmos der „Menschenrechte in der Kommune“. Doch er hat auch seine Bayerische Rechtsordnung gelebt und Bayern als Gralshüter des Föderalismus gesehen. Schließlich hat er bei seinen Vortragsausflügen in das Kommunalrecht – als Teil neuer Verfassungsordnungen – den in Art. 11 Abs. 4 der Bayerischen Verfassung beispielhaft formulierten Grundsatz herausgestellt: „Die Selbstverwaltung der Gemeinden dient dem Aufbau der Demokratie (in Bayern) von unten nach oben.“ So sei es dem Freund und Kollegen aus dem Bereich des Kommunalrechts gestattet, diese Seite des wissenschaftlichen Interesses von Dieter Blumenwitz hervorzukehren und ihm zu Dank und Andenken sein Anliegen des Schutzes der Menschenrechte im Staats- und Völkerrecht auf die kommunale Ebene herunterzubrechen. Freilich muss der Kommunalrechtler schon einige Interpretationskunst aufwenden, um sein Thema unter den Generaltitel der Gedenkschrift – Schutz der Menschenrechte im Staats- und Völkerrecht – unterzubringen. Am ehesten gelingt der Bogen von den Menschenrechten zu den Bürgerrechten. Blendet man schließlich die Völkerrechtsordnung aus und beschränkt sich auf den staatsrechtlichen Aspekt, so sind die Rechte der Bürger in den Kommunen jedenfalls unter dem Demokratieaspekt zu erfassen. Die demokratische Funktion kommunaler Selbstverwaltung – der Bürger als Wahlbürger, ja sogar der Anspruch des Ausländers auf Wahlbeteiligung in Kommunen – sollte Legitimation genug sein, auch für einen kommunalrechtlichen Beitrag zu Ehren eines hochgeschätzten Kollegen und Freundes in einer Gedenkgabe, die ihren Schwerpunkt im Staats- und Völkerrecht findet. Stellt man dann aber auf den Schutz der Bürgerrechte ab, dann ändert sich die Problematik jedenfalls gegenüber dem Völkerrecht. Ein Schutzproblem scheint es nicht zu geben. Als Bürgerrechte in einer Kommune werden die demokratischen Aktivrechte, nicht aber die Menschenrechte – die Grundrechte –

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thematisiert. Das Königsrecht unter den Bürgerrechten – das Wahlrecht – bedarf des Schutzes nicht, eher bedarf es des Anreizes und der Wiederbelebung politischer Kultur, damit es auch wahrgenommen wird. Andere Bürger-Aktiv-Rechte, die eine sterile repräsentative Demokratie farbig gestalten – Bürgerbegehren und Bürgerentscheide, Bürgerbefragungen etc., man könnte sie als kleine Bürgerrechte bezeichnen ohne sie dadurch gering zu achten – sind ebenfalls mittlerweile legislatorisch gut ausgestaltet und verfahrensmäßig entsprechend abgesichert. Sie bedürfen dagegen durchaus des Schutzes, eines Schutzes freilich, der anders zu verstehen ist als der Schutzgedanke des Generaltitels der Gedenkgabe. Gerichtlicher Schutz ist auch, bezogen auf die „kleinen Bürgerrechte“, in den deutschen Bundesländern gut ausgebildet. Des Schutzes aber bedürfen sie eher unter dem Aspekt einer Achtung dieser Rechte durch Bürgermeister, Rat und Verwaltung. Dieses Schutzes bedürfen sie vor allem deswegen, weil die kommunalen Vertretungsorgane sich zu gerne „nur“ als Kommunalparlamente sehen 1 und ihr Mandat wie das der Bundes- und Landesparlamentarier als unumschränkt betrachten. Wie aber selbst in Bundesländern Parlamente im Einzelfall durch Volksentscheid zu ersetzen – zu „entmachten“ – sind 2 , haben die „Kommunalparlamentarier“ Bürgerbegehren und Bürgerentscheid mittlerweile in ihr Demokratieverständnis aufgenommen. Bürgerbegehren und Bürgerentscheid aber sind nur die spektakulären kleinen Bürgerrechte. Daneben stehen andere, die es mehr zu schützen gilt, da sie noch immer ein Schattendasein führen. Hier ist ein Umfeld so zu gestalten, dass diese kleinen Bürgerrechte zur Geltung gebracht werden können. Es bedarf der Bürgerrechte adäquaten Politikvermittlung und der Anreize, kommunale Angelegenheiten als eigene Bürgerangelegenheiten zu sehen und sich nicht auf den Wahlakt zu beschränken. Ein letzter Blick auf das Generalthema Menschenrechte verdeutlicht die allgemeine Rechte- bzw. Anspruchs-Sicht, die Abwehr- und Schutzschicht. So wie die Weimarer Verfassung (Art. 109 ff.), nicht aber das Grundgesetz (Art. 1 ff.) und die Bayerische Verfassung (Art. 98 ff.), nicht aber viele Landesverfassungen den Grundrechten auch Grundpflichten entgegen stellen, betonen auch die „Kommunalverfassungen“ – die Gemeinde- und Kreisordnungen – einseitig die Bürgerrechte. Die bayerischen Kommunalgesetze überschreiben zwar einen eigenen Abschnitt mit „Rechte und Pflichten“, benennen als Bürgerpflichten allerdings – wie andere Gesetze auch – nur die Pflicht zur Übernahme von Ehrenämtern. Die Pflicht zur Tragung der Gemeindelasten ob___________ 1 Zur schleichenden Parlamentarisierung der Stadträte Knemeyer, F.-L. / Jahndel, K., Parteien in der kommunalen Selbstverwaltung, 1991. 2 Knemeyer, F.-L., Bürgerbeteiligung und Kommunalpolitik, 2. Aufl. 1997, S. 103 ff.

Schutz der Bürgerrechte und Bürgerpflichten in der Kommune

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liegt allen Einwohnern. 3 Eine Betrachtung umfassender Bürgerpflichten oder auch nur Obliegenheiten rundet den Beitrag ab und stellt die Entwicklung zu einer aktiven Bürgergesellschaft als die erstrebenswerte Demokratieform auf kommunaler Ebene vor.

I. Bürgerrechte in der Kommune 1. Das Wahlrecht als demokratisches Königsrecht Bürgerrechte werden in der mittelbar demokratisch verfassten Kommune nahezu ausschließlich als Rechte gesehen, in kontinuierlichen Abständen seine Repräsentanten zu wählen. Dabei ist das Kommunalwahlrecht lange Zeit nicht mehr als ein Abbild des Parlamentswahlrechts gewesen, bei dem den Parteien und Wählervereinigungen die Kandidatenauswahl oblag. Nur einige Länder erkannten dem Persönlichkeitsaspekt der Kommunalwahl einen höheren Stellenwert zu und hoben die demokratischen Rechte der Bürger auf der unterparlamentarischen Ebene deutlich ab vom Wahlrecht in Bund und Ländern. Andere dagegen haben sich lange Zeit gesträubt, das selbst verliehene Privileg der Parteien wenigstens auf kommunaler Ebene zu durchbrechen. 4 Während noch heute einige Länder das System der starren Listen pflegen, haben Baden-Württemberg und Bayern ihr Kommunalwahlrecht schon früh weitgehend personalisiert und von starren Vorschlägen der Parteien abgekoppelt. 5 Beide süddeutschen Länder haben ihr Kommunalwahlrecht zu einer „demokratischen Delikatesse“ ausgestaltet, indem sie dem Bürger ermöglichen, „in den Listen zu surfen“. 6 Kumulieren und panaschieren haben bürgernahe Kommunalvertretungen geschaffen. 7 Erst in den 90er Jahren – dem Jahrzehnt der Bürger – haben auch andere Länder dieses bürgernahe Wahlrechtssystem übernommen und damit das Königsrecht der Bürger in der Kommune legislatorisch gut ausgestaltet.

___________ 3

Teil 1, Abschnitt 4. Saftig, A., Kommunalwahlrecht in Deutschland, 1990, insbes. S. 310 ff.; Meier, H., Kommunales Parteien- und Fraktionenrecht, 1990, insbes. S. 191 ff. 5 Knemeyer / Jahndel (Fn. 1), S. 20 ff. 6 Oberreuter, H., Selbstregierung oder Stellvertretung. Zum Eigenwert repräsentativer Demokratie, in: Bürgerbegehren und Bürgerentscheid, 1998, S. 13 ff. 7 Knemeyer, F.-L., Stärkung kommunaler Selbstverwaltung durch Stärkung örtlicher Demokratie. Festschrift für Martin Kriele, 1997, S. 1141 ff., 1146 f.; und zum System im Einzelnen ders., Bayerisches Kommunalrecht, 11. Aufl. 2004, Rn. 196 ff.; Saftig (Fn. 4), S. 330 ff. 4

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Darüber hinausgehend haben einige Kommunalverfassungen dem Souverän in der Gemeinde auch das Recht eingeräumt, seine Mandatsträger vorzeitig abzuwählen. 8

2. Die „kleinen Bürgerrechte“ Jahre nach der „ersten partizipativen Revolution“ 9 gewinnt die politisch demokratische Funktion im politischen Diskurs, aber auch in der rechtswissenschaftlichen und politischen Literatur an Boden. Forderungen werden erhoben, dem Selbstbestimmungsanspruch des Bürgers mehr Rechnung zu tragen und das Subsidiaritätsprinzip auch unter Einbeziehung des Bürgers zu sehen. Lange Zeit sind in den Gemeindeordnungen jedoch allenfalls spärliche Ornamente unmittelbarerer Demokratie am grundsätzlich repräsentativen Selbstverwaltungssystem angebracht. 10 Der auf staatlicher Ebene erhobene Ruf „Das Volk sind wir“ schlägt sich auch im kommunalen Bereich nieder, die Bürger erkämpfen mehr und mehr Mitwirkungsrechte bei der Gestaltung ihrer Angelegenheiten. Dieser Demokratieschub hin zu einer neuen Bürgerkultur und Bürgergesellschaft 11 schafft auch die legislatorische Basis für eine lebendige Demokratie. Im Gefolge der friedlichen demokratischen Revolution des Jahres 1989 sind die unterschiedlichsten Formen bürgerschaftlicher Mitwirkung erneut in die Diskussion gekommen. Sie haben schließlich Eingang in viele Kommunalverfassungen gefunden. 12 Neben einer bürgerfreundlichen Gestaltung des Kommunalwahlrechts mit Kumulieren und Panaschieren sind Bürgerbegehren und Bürgerentscheid verankert worden. Aber auch Mitwirkungsmöglichkeiten in kommunalen Vertretungskörperschaften und ihren Ausschüssen sowie Bürgerfragestunden, Bürgerbefragungen, Einwohner- und Bürgerversammlungen, Einwohner- und Bürgeranträge sind im neuen Spektrum bürgerschaftlicher Mitwirkung bedeutsam. Institutionalisierte Partizipation hat von Süden ausgehend flächenmäßig mittlerweile fast alle Länder erfasst. 13 Darüber hinaus sind vielfältige Möglichkeiten institutionalisierter Bürgermitwirkung und Einwir___________ 8

Zum System der Abwahl Gern, A., Deutsches Kommunalrecht, 3. Aufl. 2003, Rn. 385 ff.; Schmehl, A., Sachlichkeitsgebot und Rechtsschutzfragen bei plebiszitärer Abberufung von Bürgermeistern und Landräten, in: KommJur 2006, S. 321 ff. 9 Zum Begriff: Knemeyer (Fn. 2), S. 11. 10 Siehe dazu etwa Kühne / Meißner, Züge unmittelbarer Demokratie in der Gemeindeverfassung, 1977; Knemeyer (Fn. 2), S. 46 ff. 11 Knemeyer, F.-L., Kommunale Selbstverwaltung neu denken, in: DVBl. 2000, S. 876 ff., 878. 12 Knemeyer (Fn. 2), S. 148 f. 13 Knemeyer (Fn. 2), Tabelle S. 168 f.

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kung in anderen fachgesetzlich geregelten speziellen Politikbereichen, namentlich im Baurecht, im Abfallrecht, im Atomrecht, im Naturschutzrecht, im Fernstraßen- und Beförderungsrecht verankert. Letztlich darf der Bereich nichtinstitutionalisierter Formen bürgerschaftlicher Beteiligung nicht gering geachtet werden. 14 Zum Pro und Contra dieser Partizipationsmöglichkeiten gab es gerade in den 90er Jahren eine Fülle von Literatur. Nur auf zwei Aspekte sei näher hingewiesen, nämlich den Aspekt Demokratie und Effizienz und die Auflösung dieser Spannungen. 15 Jedenfalls ist die lange Zeit gehegte Sorge kommunaler Mandatsträger vor einer exzessiven Wahrnehmung dieser Rechte und Blockaden gesamtkonzeptioneller Kommunalpolitik weitgehend verflogen. Die grundsätzlich repräsentative lokale Demokratie mit vielfältigen kommunikativen Elementen, ergänzt durch Bürgerentscheide, wird dem System unserer kommunalen Selbstverwaltung mit ihren Verwaltungs- und politisch-demokratischen Funktionen voll gerecht und verleiht ihr ein menschliches Gesicht. Blickt man über die Kommunen hinaus, so wird das repräsentative System auf Landesebene nur mehr durch Volksentscheide ergänzt. 16 Auf Bundesund Europaebene sind derartige Ergänzungen jedoch systemfremd und unangebracht. 17

II. Schutz und Achtung der Bürgerrechte 1. Gerichtlicher und faktischer Schutz Spricht man vom Schutz der Menschen- und Bürgerrechte so steht – zumeist alles Denken bestimmend – der Rechtsschutz durch Gerichte im Vordergrund. Dieser Schutz ist wohl in keinem Land effektiver und umfassender geregelt als in der Bundesrepublik Deutschland und den Ländern. Wahlrechtsverletzungen,

___________ 14

Zu den „konventionellen und unkonventionellen Formen politischer Beteiligung“ Gabriel, O. W., Anpassungsprobleme des lokalen politischen Systems an die Modernisierung der Gesellschaft, 4.1. 15 Knemeyer, F.-L., Direkte Demokratie, S. 88 ff., und auf das neue Rollenverständnis zwischen Bürger und Gemeinderat – ergänzen Seiten 115, 116 und 119 sowie kommunale Selbstverwaltung neu, S. 878 und 881, und institutioneller Rahmen, S. 27 ff. 16 Zum Gesamtproblem Engelken K., Demokratische Legitimation bei Plebisziten auf staatlicher und kommunaler Ebene, in: DÖV 2000, S. 881 ff. 17 Engelken, K., Volksgesetzgebung auf Bundesebene und die unantastbare Ländermitwirkung nach Art. 79 Abs. 3 GG, in: DÖV 2006, S. 550 ff.

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aber auch Verletzungen oder Beschränkungen der „kleinen Bürgerrechte“ können in mehreren Instanzen gerichtlicher Kontrolle unterworfen werden. 18 Wie im internationalen Recht und im Völkerrecht liegt der faktische Schutz der Menschen- und Bürgerrechte nicht selten im Argen und so manche Verletzung von Rechten ist gerichtlich nicht oder nur schwer fassbar. Umso bedeutsamer ist es, eine Kultur der Achtung der Bürgerrechte zu entwickeln und zu stärken. Auf kommunaler Ebene bedarf es vor allem einer breiteren Akzeptanz der kleineren Bürgerrechte. Bürgermeister, Rat und Verwaltung müssen akzeptieren – und sie tun dies zumeist auch, jedenfalls in den formalisierten Verfahren von Bürgerbegehren und Bürgerentscheid –, dass ihre Bürger neben der Erteilung des fünfjährigen Generalauftrags durch Wahl in bestimmten Fällen Einfluss auch auf Einzelentscheidungen nehmen wollen und dazu auch berechtigt sind.

2. Teilhabevoraussetzung: Transparenz und aktive Öffentlichkeitsarbeit Um dazu aber auch faktisch in der Lage zu sein, müssen Rat und Verwaltung den Bürger – in Grenzen – an ihrem Herrschaftswissen teilhaben lassen. 19 Unabdingbar dafür ist eine aktive kommunale Öffentlichkeitsarbeit. Vorbildlich formuliert z. B. die Sächsische Gemeindeordnung: „Die Gemeinde informiert ihre Einwohner laufend über die allgemein bedeutsamen Angelegenheiten ihres Wirkungskreises.“ 20 Bürgerbezogene Öffentlichkeitsarbeit ist, wie Gustav Heinemann einmal formuliert hat, der Sauerstoff der Demokratie. Nur über eine entsprechende Information ist es möglich, den Bürger (wieder) mehr für seine eigenen Belange zu interessieren, auch soweit sie von seinem Repräsentanten wahrgenommen werden. Nur durch entsprechende Öffentlichkeitsarbeit ist die Kluft zwischen Gemeinde und Bürger zu verringern. 21 ___________ 18 Beispielhaft sei nur auf den Rechtsschutz im Bereich Bürgerbegehren und Bürgerentscheid hingewiesen. Siehe dazu den Kommentar mit Rechtsprechung und Hinweisen für die Praxis von Thum, C., Bürgerbegehren und Bürgerentscheid in Bayern, 1996 ff., zu dem in 10 Jahren 35 Ergänzungslieferungen erschienen sind. 19 Dazu etwa Ehlers, D., Verantwortung kommunaler Mandatsträger, in: Henneke / Meier, Kommunale Selbstverwaltung zwischen Bewahrung, Bewährung und Entwicklung, 2006, S. 185 ff. 20 Zu Funktion und Bedeutung kommunaler Öffentlichkeit, Knemeyer (Fn. 2), S. 89 ff. m. w. N., sowie ders., Bürgermeister und Öffentlichkeitsarbeit, in: BayVBl. 1998, S. 33 ff. 21 Thürer, D., Kosmopolitisches Staatsrecht, 2005, S. 508.

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Der aktive Kommunalpolitiker braucht ob eines derartigen Systems der Mitgestaltung durch den Bürger um seine Position nicht zu fürchten. Zu einer Erosion kommunaler Entscheidungsmacht wird eine harmonisch weiter entwickelte gemischt örtliche Demokratie nicht führen. Freilich sind die bürgergewählten Repräsentanten nicht nur gehalten, sondern auch verpflichtet, ihr Rollenverständnis zu überdenken und der neuen, dem Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip entsprechenden Situation anzupassen. 22 In einem Verfahren gegen die Nichtzulassung eines Bürgerbegehrens mit dem bezeichnenden Titel „Mehr Bürgerbeteiligung statt geheimer Rathauspolitik“ hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in seinem Urteil vom 8. Mai 2006 wesentliche Voraussetzungen für eine Achtung der Bürgerrechte auch in Bezug auf kommunale Unternehmensentscheidungen formuliert. Freilich bezog sich die Berufungsentscheidung in ihren Gründen nur auf die Frage der Teilveröffentlichung von Tagesordnungspunkten der Aufsichtsräte kommunaler Eigengesellschaften, nicht jedoch auf die Frage, ob die Aufsichtsratssitzungen dann auch (teil-)öffentlich abgehalten werden müssen oder dürfen.23 Mehr noch als die Urteilsgründe des Verwaltungsgerichtshofs zeigt das „Transparenz-Urteil“ der Vorinstanz, dass mit Transparenzverlust auch die demokratische Legitimation sowie die Partizipation der Bürger am Meinungsfindungs- und Entscheidungsprozess zurückgehen. 24 Das Verwaltungsgericht Regensburg führt in seinem Urteil vom 2. Februar 2005 aus: „Das Transparenzprinzip ist auf allen Ebenen der öffentlichen Gewalt untrennbar mit der Partizipation des Volkes an Meinungsfindungs- und Entscheidungsprozessen verbunden. … In der repräsentativen Demokratie bedürfen die Bürger der Informationen, um sachkundig ihre Entscheidung treffen zu können.“ 25 Zur effektiven Ausgestaltung direktdemokratischer Elemente in der Kommunalverfassung muss dies gleichermaßen gelten. Das Bundesverfassungsgericht hat in einer auf Abgeordnete bezogenen Entscheidung festgestellt, dass sowohl das demokratische als auch das rechtsstaatliche Prinzip verlangen, dass der gesamte Willensbildungsprozess für den Bürger durchschaubar ist und das Ergebnis vor den Augen der Öffentlichkeit beschlossen wird. Denn dies ist die einzige wirksame Kontrolle. Die parlamentarische Demokratie basiert auf dem Vertrauen des Volkes; Vertrauen ohne Transparenz, die erlaubt, zu verfolgen, was politisch geschieht, ist nicht mög___________ 22

Dazu Knemeyer, F.-L., in: Jung / Knemeyer, Direkte Demokratie, S. 119 f. m. w. N. 23 BayVBl. 2006, 534 ff. 24 VG Regensburg, Urteil v. 02.02.2005, LKV 2005, 365 ff. 25 BayVBl. 2006, 534 ff.

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lich. 26 Die angeführten Urteile entsprechen einer zunehmenden Entwicklung in Rechtsprechung, Literatur und Rechtsetzung, Informationsrechte der Öffentlichkeit gegenüber Staat und Kommunen als Ausdruck staatsbürgerlicher Teilhabe an Staat und Verwaltung zu stärken. 27 Selbstredend gelten diese Voraussetzungen auch im Bereich ausgelagerter Einrichtungen, namentlich bei wirtschaftlicher Betätigung der Kommunen – freilich in den Grenzen entgegenstehender Geheimhaltungsrechte. Nur auf diese Weise ist eine Flucht aus der Öffentlichkeit zu verhindern. Der neuen Tendenz stärkerer Betonung des Öffentlichkeitsprinzips entsprechen auch die Informationsfreiheitsgesetze. 28 Schutz und Achtung der Bürgerrechte verlangen neben Transparenz und aktiver Öffentlichkeitsarbeit Anreize zu einer aktiven Bürgermitwirkung und der Übernahme von Aufgaben, die der Bürger selbst erledigen kann.

III. Bürgerpflichten – Bürgerobliegenheiten – Wege zu einer aktiven Bürgergesellschaft Will man ganz grob systematisieren, so stehen wir nach dem Jahrzehnt der Verstärkung der Bürgerrechte heute bei einer Betonung der Bürgerpflichten. Politik und Gesetzgeber haben den berechtigten Anliegen des Volkes Rechnung getragen. Jetzt versuchen sie ihrerseits, die Bürger auch in die Pflicht zu nehmen. Dem Recht zu aktiver Teilhabe wird auch eine – moralische – Pflicht zur Mitwirkung und zum Engagement zur Seite gestellt. Nach fünf Jahrzehnten ständiger Betonung der Bürgerrechte hat auch die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer die Pflichtenseite aufgenommen und ihre Jahrestagung 1996 unter das Motto „Bürgerverantwortung im demokratischen Rechtsstaat“ gestellt. 29 Prägnant formuliert Paul Kirchhof den demokratischen Rechtsstaat als die „Staatsform der Zugehörigen“. 30 Die Modelle der Bürgergesellschaft beruhen auf der Prämisse von Rechten und Pflichten. Auf die Integrationskraft und Leistungsfähigkeit eines als Bürgergesellschaft ___________ 26

BVerfGE 40296/327 gleich BayVBl. 1976, 12. Siehe dazu auch Bechtoltsheim, C. v. / Betz, K., Kommunalrechtliches Öffentlichkeitsprinzip, vergaberechtlichen Geheimhaltungsgrundsatz, in: KommJur 2006, S. 1 ff. 28 Bull, H.-P., Informationsfreiheitsgesetze – wie und wozu? in: ZG 2002, S. 201 ff.; Schoch, F., Informationsfreiheitsgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, in: Die Verwaltung 35 (2002), S. 149 ff.; Fluck, J., Verwaltungstransparenz durch Informationsfreiheit, in: DVBl. 2006, S. 1406. 29 VVDStRL, Band 55 (1996) mit Beiträgen von Detlef Merten, Walter Berka und Otto Depenheuer. 30 Handbuch des Staatsrechts, IX, 1997, § 221 Rn. 121 ff. 27

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verfassten Gemeinwesens weist u. a. Oskar W. Gabriel in seinem Beitrag „Die Gemeinde in der Bürgergesellschaft“ hin, 31 und Wege zur aktiven Bürgergesellschaft zeigt das Europäische DEMOS-Projekt auf. 32 Mehr und mehr bahnt sich die Erkenntnis einen Weg, dass der „Nur-RechteBürger – der Anspruchsbürger“ in seiner Individualität vereinsamt. Nach dem Ende der Ich-Gesellschaft wird eine Wir-Gesellschaft propagiert, nach dem Ende der Spaßgesellschaft eine neue Ernsthaftigkeit. Von einer Sehnsucht nach Werten und nach Gesellschaft ist die Rede. Der späte Durchbruch eines gesunden Patriotismus und Wir-Gefühls 33 hat die ideologischen Fesseln der veröffentlichten Meinung 34 gesprengt. Dass Bürgerverantwortung 35 erst in „Zeiten der Krise“ von der Politik entdeckt wird, in Zeiten, da Staat und Kommunen an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit gelangt sind, mag ein „Schönheitsfehler“ sein. Ohne „Krise“ bewegt sich jedoch kaum etwas. Darum gilt es die neue Situation zu nutzen.

1. Ein neues Leitbild für die Kommunen: Vom Dienstleistungsunternehmen zur aktiven Bürgerkommune Mit dem allenthalben reklamierten Subsidiaritätsprinzip gilt es auch innerhalb der Kommune ernst zu machen. Die Neuanforderung an die Kommunalpolitik heißt: weniger Administration, weniger Verwaltung als Aufgabe der Gewählten, mehr Moderation, mehr Anstoß, mehr Impulse für die Initiativen der Bürger. 36 Das Kennwort heißt Öffnung: Einer Neuordnung der Aufgabenfelder Rat/Bürgermeister muss eine Öffnung zu breiten komplementären Feldern für Einzelne oder Gruppen folgen. 37 Hermann Hill formuliert in einem ___________ 31

BWGZ 2006, 350 ff. Dazu im Einzelnen Söppeke-Krajewski, M. F., Europa Kommunal, 2004, S. 163 ff.; siehe dazu auch www.demosproject.org. 33 Nicht in einem Sinne von „Wir sind das Volk“ – seinerzeit formuliert gegen die Diktatur der abgehobenen alten Männer. 34 Zu deren Dominanz Schmitt Glaeser, W., Die grundrechtliche Freiheit des Bürgers zur Mitwirkung an der Willensbildung, Handbuch des Staatsrechts, Band 3, 2005, S. 229 ff., 257 ff., 260. 35 Zu den Konturen einer Verantwortungsgesellschaft etwa Boer, Ch., Gesellschaft neu denken, Einblicke in Umbrüche, 2004; und Merz, F., Nur wer sich ändert, wird bestehen. Vom Ende der Wohlstandsillusion – Kursbestimmung für unsere Zukunft, 2005. 36 Schleyer, R., Eine neue Sozial- und Bürgerkultur in der kommunalpolitischen Praxis, verschiedene Beiträge im Sonderheft 1/1999 der politischen Studien der HannsSeidel-Stiftung unter dem Thema: Neue Bürger- und Sozialkultur – Vision oder Utopie?, S. 108 ff., 112. 37 Schleyer, R., bringt eine Reihe von Beispielen dafür, wo Kommunen Bürgern Mitwirkungsmöglichkeiten dadurch verwehren, dass sie selbst Aufgaben wahrnehmen, 32

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Vortrag unter dem Titel „Die Rolle der Städte und Gemeinden im 21. Jahrhundert“ knapp und prägnant: Das neue Leitbild heißt: „Vom Dienstleistungsunternehmen zur Bürgerkommune“. „Das wichtigste Kriterium für die Behörde ist die Rechtsstaatlichkeit und für das Unternehmen die Wettbewerbsfähigkeit. Für die Bürgerkommune sind es der soziale Zusammenhalt und die Mitwirkung einer Vielfalt der Akteure. In der Behörde gibt der Staat und im Dienstleistungsunternehmen der Kunde die Aufgaben vor. Bei der Bürgergesellschaft tut es die Bürgerschaft, die andere Interessen haben kann als z. B. die direkten Kunden, beispielsweise in der Sozialhilfe. Die Argumentationen, die in der Behörde eher rechtlich und im Unternehmen eher ökonomisch geprägt sind, verändern sich in der Bürgerkommune hin zu einem politisch geprägten Ansatz. Alle drei Facetten werden im 21. Jahrhundert nebeneinander erforderlich sein.“ 38 Diese neuen Ansätze sind geprägt durch die Wiederentdeckung der Bürgerbeteiligung als Voraussetzung zur Pflege und zum Erhalt der örtlichen Gemeinschaft. Deutlich macht Hermann Hill, dass es, anders als in den 70er Jahren, nicht mehr darum geht, im Rathaus schlüssige Konzepte zu entwickeln und die Bürger lediglich qua Anhörung daran zu beteiligen. In einer lebendigen Bürgergesellschaft sind bürgerschaftliche Mitwirkung und Verantwortungsübernahme nicht nur gewünscht, sie sind gefordert. 39 Erst mit der notwendigen Stärkung der integrativen Komponente der politisch-demokratischen Funktion kommunaler Selbstverwaltung kann eine Gemeinde zur Bürgerkommune werden.

2. Unmittelbares Bürgerengagement Will man vor dem Hintergrund neuer gesellschaftlicher Rahmenbedingungen die Position kommunaler Selbstverwaltung neu erfassen, so bedarf es neben der selbstverwaltungsadäquaten Balance zwischen den verschiedenen Funktionen kommunaler Selbstverwaltung im demokratischen Rechtsstaat als ___________ die die Bürger übernehmen könnten (Fn. 35), S. 110. – Erst jüngst erkennt die Politik die Notwendigkeit, der Eigenverantwortung und Selbstorganisation der Bürger Vorrang vor staatlichen und kommunalen Aktivitäten einzuräumen. Siehe dazu etwa das Bündel von Anträgen der CSU-Fraktion im Bayerischen Landtag unter dem Titel: Neue Sozialund Bürgerkultur (Februar 2000). – Diese Aktionen breiten sich bundesweit aus. Aus den namentlich von Stiftungen getragenen Umfeld sei beispielhaft hingewiesen auf den Wettbewerb der Bertelsmann-Stiftung „Bürgerorientierte Kommune – Wege zur Stärkung der Demokratie“. 38 Hill, H., Die Rolle der Städte und Gemeinden im 21. Jahrhundert, in: BayGTZ 1999, 275 ff. 39 Hill (Fn. 38), BayGTZ 1999, 276.

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Rechtswahrer und Dienstleister auch der Beachtung und Stärkung des unmittelbaren Bürgerengagements. Es gilt also effektive Kommunalverwaltung im Dienste des Bürgers zu entwickeln, dabei aber gleichzeitig ein new public management nicht ohne den Bürger und ohne seine Mit- und Einwirkung zu organisieren. Darüber hinaus sind die Angelegenheiten, die der Bürger selbst entscheiden und erfüllen oder auch nur entscheiden kann, ihm auch zu überlassen: Es geht um eine Fortführung des Subsidiaritätsprinzips bis hin zum Einzelnen. Dazu gilt es nicht nur von Bürgern selbst entwickelte und betriebene Projekte zu unterstützen, sondern dem Bürger auch Angebote zum Engagement zu unterbreiten, ihn zur aktiven Teilnahme und Verantwortungsübernahme auch in für ihn neuen überschaubaren Aufgabenfeldern aufzufordern. Denn nicht alles kann nur von unten wachsen, es muss auch einiges aus der Gesamterfahrung und im Kontext einer gesamtkonzeptionellen Kommunalpolitik angestoßen werden. Dies erfordert, auch aus der Sicht des Bürgers zu denken und Bürgerwissen zu nutzen. Wirksam werden diese Aufforderungen sein, wenn sie mit Anreizen und gegebenenfalls auch mit Sanktionen (etwa finanzieller Schlechterstellung) verbunden sind. Dies erfordert – wie oben dargelegt – eine breite Öffnung zum Bürger und eine neuartige kommunale Öffentlichkeitsarbeit. 40 Nur so wird auch das erforderliche Klima für eine neue Bürgergesellschaft mit gemeinsamen Überzeugungen und Werten geschaffen. Nur so kann auch verlorene Glaubwürdigkeit zurückgewonnen und wachsende Politikverdrossenheit eingedämmt werden.

3. Kommunale Bürgerangelegenheiten – Selbsthilfeaufgaben als eigene Kategorie Der geläufige kommunale Aufgabendualismus – eigene und übertragene Angelegenheiten – ist um eine dritte Kategorie zu ergänzen, eine Kategorie, die ihren eigenen kommunalpolitischen und kommunalrechtlichen Stellenwert gewinnen muss: Die Bürgerangelegenheiten: Aufgaben, die die Bürger nicht nur selbst und unmittelbar entscheiden, sondern auch erfüllen können (Selbsthilfeaufgaben). Die Betonung dieser Aufgaben als kommunale Bürgerangelegenheiten und damit öffentliche Aufgaben ist nicht zu verwechseln mit einer irgendwie gearteten Inanspruchnahme Privater oder einem billigen Abschieben kostenträchtiger Aufgaben, sie stellt eine Rückbesinnung auf die Wurzeln dar. Es geht nicht um Privatisierung, sondern um verstärkte Einbeziehung des Bürgers in die Erledigung „seiner eigenen Aufgaben“. ___________ 40 Bürgerbezogene Öffentlichkeitsarbeit ist der Sauerstoff der Demokratie (G. Heinemann).

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Beispielhaft sei hingewiesen auf die in einzelnen Kommunalgesetzen noch heute normierten Gemeindedienste – die Hand- und Spanndienste. Bei den hier erfassten Selbsthilfeaufgaben – Bürgerangelegenheiten – geht es jedoch nicht um pflichtige, sondern um freiwillige Aufgaben – zumeist im sozialen Bereich. Vorstellbar und praktiziert sind jedoch auch „Betreuungsaufgaben“ in und an öffentlichen Einrichtungen etc. Selbsthilfeaufgaben sind öffentliche Angelegenheiten in öffentlicher Verantwortung bei allerdings subsidiaritätsentsprechender Erfüllung durch die Bürger selbst.

IV. Eine zukunftsgerechte Ausgestaltung der örtlichen Gemeinschaft in Verantwortung für das eigene Gemeinwesen Wir sind es gewohnt, allein dann von Bürgerpflichten41 zu sprechen, wenn es um die Übernahme von Ehrenämtern geht, z. B. der Übernahme des Wahlamtes des kommunalen Mandatsträgers. In Bezug auf andere Ehrenämter besteht grundsätzlich nur eine moralische Pflicht. Der hier verfolgte Ansatz geht darüber hinaus und möchte den Bürger umfassender für seine eigenen Angelegenheiten in die Pflicht nehmen und auf diese Weise die Bürgergesellschaft weiter konturieren. Dass dies nicht bis zu einer gesetzlichen pflichtenbegründenden Regelung gehen kann, ist wohl offensichtlich. Vieles wäre aber schon erreicht, wenn ein Mentalitätswechsel weg von einer „Nur-Anspruchs- zu einer Auch-PflichtenGesellschaft“ gelänge.

___________ 41

gen.

Nicht zu verwechseln mit den Pflichten der Einwohner, Gemeindelasten zu tra-

Der internationale Menschenrechtsstandard – geltendes Verfassungsrecht? – Kritik einer Neuinterpretation des Art. 1 Abs. 2 GG Christian Hillgruber

I. Einleitung: „Offene“ Verfassungsstaatlichkeit Internationalität gilt als Signum moderner, offener Staatlichkeit, Völkerrechtsfreundlichkeit als deren rechtsverbindlicher Ausdruck. Darin liegt die implizite Absage an ein als überholt angesehenes Konzept eines auf Autarkie bedachten, selbstgenügsamen, sich nicht nur abgrenzenden, sondern abschließenden, kurz: eines introvertierten, zur Kooperation unwilligen und unfähigen Nationalstaates. Die Öffnung zur internationalen Gemeinschaft, die Bereitschaft zu internationaler Kooperation, gar zu supranationaler Integration soll sich dabei bereits im Staats- und Verfassungsrecht widerspiegeln, ist doch eine Verfassung „nicht anderes als die in Rechtsform gebrachte Selbstverwirklichung eines Volkes“, „Ausdruck der Entscheidung eines Volkes zu sich selbst“. 1 Sie muss deshalb Zeugnis vom Selbstverständnis eines Volkes und seines Staates ablegen. Das Grundgesetz legt insoweit beredtes Zeugnis ab. Das Grundgesetz hat insgesamt die Stellung Deutschlands zu und in der internationalen Gemeinschaft in einer Weise geregelt, die man in der Tat als eine Entscheidung für eine „offene Staatlichkeit“ 2 verstehen kann, 3 als, wie es Klaus Vogel schon 1964 genannt hat, „Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit“. Schon die Präambel des Grundgesetzes, die „gewissermaßen die ___________ 1

Schmid, C., 2. Sitzung des Plenums vom 08.09.1948, abgedruckt in: Bundestag/ Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 9 (1996), S. 18 (21, 22); ders., 6. Sitzung des Plenums vom 20.10.1948, ebd., S. 176 (181). 2 Dazu aus jüngerer Zeit Di Fabio, U., Das Recht offener Staaten, 1998; Hobe, S., Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz, 1998. 3 Wenngleich dieser Begriff ebenso wie der der „Völkerrechtsfreundlichkeit“ alles andere als konturenscharf ist und ihm daher eine die – durch stets verfassungsrechtlich begrenzte Öffnungen (dazu sogleich näher im Text) gekennzeichnete – Rechtslage überschießende und zugleich verfehlende Tendenz innewohnt.

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Tonart des Stücks“ angibt, d. h. „das Wesen des Grundgesetzes“ 4 und des mit ihm verfassten Staates charakterisiert, sendet eine unmissverständliche Botschaft aus: Das Deutsche Volk erklärt seine Bereitschaft, in voller staatlicher Souveränität, nämlich „als gleichberechtigtes Glied“, einem vereinten Europa anzugehören, d. h. sich Europa als einem größeren Ganzen einzugliedern, ohne sich darin allerdings aufzulösen, und es übernimmt verfassungsrechtlich die Selbstverpflichtung, in der Gemeinschaft der Völker einen aktiven Beitrag für eine internationale Friedensordnung zu leisten. 5 Damit ist die Grundentscheidung für die Integration eines souveränen deutschen Staates in ein vereintes Europa sowie für die Einordnung in die dem internationalen Frieden verpflichtete, völkerrechtlich gebundene Staatengemeinschaft bereits im Ausgangspunkt gefallen. Diese Grundentscheidung wird im operativen Teil der Verfassung in Einzelbestimmungen, insbesondere in den Art. 23–26 GG, näher entfaltet, ausgestaltet und zugleich begrenzt. Dies soll eine kurze Analyse der beiden zentralen Verfassungsvorschriften zeigen, welche die aufgrund des Dualismus von Staats- und Völkerrecht zur Herbeiführung innerstaatlicher Wirkungen des letzteren notwendigen Integration des Völkerrechts in die deutsche Rechtsordnung regeln.

II. Rezeption und Adoption des Völkerrechts nach Maßgabe und in den Grenzen des Verfassungsrechts „Dem Grundgesetz liegt deutlich die klassische Vorstellung zu Grunde, dass es sich bei dem Verhältnis des Völkerrechts zum nationalen Recht um ein Verhältnis zweier unterschiedlicher Rechtskreise handelt und dass die Natur dieses Verhältnisses aus der Sicht des nationalen Rechts nur durch das nationale Recht selbst bestimmt werden kann; dies zeigen die Existenz und der Wortlaut von Art. 25 und Art. 59 Abs. 2 GG“. 6 Art. 25 GG erklärt die allgemeinen Regeln des Völkerrechts, also das universell geltende Völkergewohnheitsrecht und die allgemeinen Rechtsgrundsätze 7 zum Bestandteil der deutschen Bundesrechtsordnung, und zwar mit Vorrang vor den (einfachen) Bundesgesetzen. Damit findet das Völkergewohnheitsrecht in seinem je___________ 4 Schmid (Fn. 1), S. 35. Siehe auch ders., 2. Sitzung des Grundsatzausschusses vom 16.09.1948, abgedruckt in: Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 5/I (1993), S 3 (7 f.) 5 Zu diesen Grundentscheidungen des Verfassunggebers siehe näher Hillgruber, Chr., Der Nationalstaat in übernationaler Verflechtung, in: Isensee, J. / Kirchhof, P. (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. 2 (HStR II), 3. Aufl. 2004, § 32 Rn. 1 ff. 6 BVerfGE 111, 307 (318). 7 Vgl. BVerfGE 15, 25 (32 f., 34 f.); 16, 27 (33); 23, 288 (317); 31, 145 (177); 94, 315 (328); 95, 96 (129); 96, 68 (86).

Der internationale Menschenrechtsstandard

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weils geltenden Inhalt und Umfang verfassungsunmittelbar Eingang in die deutsche Rechtsordnung und geht deutschem innerstaatlichen Recht, allerdings nicht dem Verfassungsrecht, im Rang vor. Im Widerspruchsfall verdrängt es jede dem Grundgesetz nachrangige, mit ihm inhaltlich kollidierende deutsche Rechtsnorm.8 Trotz der missverständlichen Regelungsanordnung des Art. 25 S. 2 Halbs. 2 GG, wonach die allgemeinen Regeln des Völkerrechts Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes erzeugen, vollzieht sich mit deren Inkorporation in das Bundesrecht kein Bedeutungszuwachs und Adressatenwechsel. Individualrechte oder -pflichten werden also nur begründet, wenn und soweit die inkorporierten Regeln schon auf der völkerrechtlichen Ebene – ausnahmsweise – ihrem Inhalt nach den Einzelnen berechtigen oder verpflichten und sich nicht ausschließlich an Staaten oder sonstige Völkerrechtssubjekte als Normadressaten richten. 9 Im Regelfall folgt aus der Existenz einer allgemeinen, d. h. universell gewohnheitsrechtlich geltenden Regel des Völkerrechts zugleich entsprechend der Anordnung der Transformationsnorm des Art. 25 GG, die das allgemeine Völkerrecht verfassungsunmittelbar, dauerhaft und im Sinne einer dynamischen Verweisung in seinem sich wandelnden und fortentwickelnden Regelungsgehalt rezipiert, deren innerstaatliche Geltung als Bestandteil des Bundesrechts. Eine Integration einer allgemeinen Regel des Völkerrechts in die innerstaatliche Rechtsordnung scheidet aber aus, wenn sie im Widerspruch zum Verfassungsrecht steht. Geht man mit dem BVerfG und der h.M. davon aus, dass allgemeinen Regeln des Völkerrechts aufgrund der Geltungsanordnung des Art. 25 S. 1 GG ein Rang zwischen einfachem Bundesrecht (Gesetzesrecht) und der Verfassung zukommt, dann führt eine Kollision der allgemeinen Regel des Völkerrechts mit vorrangigem Verfassungsrecht dazu, dass erstere – ungeachtet ihrer nachgewiesenen völkerrechtlichen Geltung – nicht (gültiger) Bestandteil des Bundesrechts werden kann. 10 Nach Art. 59 Abs. 2 GG bedarf der Abschluss eines völkerrechtlichen Vertrages, der die politischen Beziehungen des Bundes regelt oder sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung bezieht, der Zustimmung der gesetzgeberischen Körper___________ 8

BVerfGE 6, 309 (363); 23, 288 (316); 37, 271 (278 f.). BVerfGE 46, 342 (362); 63, 343 (363, 373 f.). 10 Zutreffend Hartwig, M., MAK-GG, 2002, Art. 100 Rn. 191 m. w. N. Beispiel: Unterstellt, es gäbe eine generelle völkergewohnheitsrechtliche Pflicht der Staaten zur Auslieferung aller ihrer Hoheitsgewalt unterworfenen, bestimmter Straftaten verdächtiger Personen an fremde Staaten oder internationale Instanzen (was nicht der Fall ist), dann hätte eine solche allgemeine Regel angesichts des bis zur Einfügung des Art. 16 Abs. 2 S. 2 GG durch das 47. Änderungsgesetz zum Grundgesetz vom 29.11.2000 (BGBl. I, S. 1633) geltenden, kategorischen verfassungsrechtlichen Verbots der Auslieferung Deutscher an das Ausland (Art. 16 Abs. 2 S. 1 GG = Art. 16 Abs. 2 GG a. F.) insoweit nicht (wirksamer) Bestandteil des Bundesrechts sein können. 9

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schaften Bundestag und Bundesrat. Die Zustimmung erfolgt in der Form eines Gesetzes, ist aber ihrem Inhalt und Wesen nach die Beteiligung an einem Akt der Regierung als der Trägerin der auswärtigen Gewalt. 11 Bis zur Erteilung der erforderlichen Zustimmung ist ein völkerrechtlich wirksam geschlossener Vertrag innerstaatlich nicht anwendbar.12 Der Rechtsanwendungsbefehl nach Art. 59 Abs. 2 GG hat seiner Form entsprechend nur den Rang und die Geltungskraft eines einfachen Gesetzes. Auslegung und Anwendung des Völkervertragsrechts ist damit Sache der Fachgerichte.13 Weicht der Inhalt des völkerrechtlichen Vertrages von grundgesetzlichen Vorgaben ab, müssen Form und Verfahren eines verfassungsändernden Gesetzes eingehalten werden.14 Folge dieser Einordnung des völkerrechtlichen Vertragsrechts in die Normenhierarchie des innerstaatlichen deutschen Rechts ist die uneingeschränkte Geltung der lex-posterior-Regel: Ein später erlassenes Bundesgesetz geht den ihm widersprechenden Bestimmungen eines Zustimmungsgesetzes zu einem früher abgeschlossenen völkerrechtlichen Vertrag vor. Für den darin liegenden Völkerrechtsverstoß hat die Bundesrepublik Deutschland allein auf der Ebene des Völkerrechts einzustehen, Konsequenz des Dualismus von Staatsund Völkerrecht: Steht das innerstaatliche Recht eines Staates nicht im Einklang mit seinen völkerrechtlichen Verbindlichkeiten, so begeht er zwar ein völkerrechtliches Delikt, für das er die völkerrechtliche Verantwortung zu tragen hat. Dies beeinträchtigt aber nicht die innerstaatliche Gültigkeit seines nationalen Rechts.15 Die in der Literatur 16 teilweise geforderte Ausnahme von der lex-posteriorRegel speziell für völkerrechtliche Verträge ist nicht anzuerkennen. Dass sich aus der mit Art. 25 GG verfassungsunmittelbar rezipierten allgemeinen völkerrechtlichen Regel „pacta sunt servanda“ nicht die Nichtigkeit vertragswidriger Gesetze ableiten lässt, ist unbestritten; denn diese völkerrechtliche Regel sagt nichts über die innerstaatlichen Folgen eines Verstoßes gegen einen völkerrechtlichen Vertrag aus. Aber auch die Berufung auf das Rechtsstaatsprinzip führt zu keinem anderen Ergebnis; es macht aus der völkerrechtswidrigen einseitigen Lossagung vom völkerrechtlichen Vertrag seitens des Gesetzgebers, der diesem Vertrag zugestimmt hatte, keinen Verfassungsverstoß. Sowenig eine einfachgesetzliche Pflicht des Bundes über die in Art. 20 Abs. 3 GG als eine Konkretisierung des Rechts___________ 11

BVerfGE 1, 372 (395). Zu den sich daraus ergebenden Konsequenzen bei einer vom Zustimmungsgesetz nicht gedeckten Fortentwicklung völkerrechtlicher Verträge durch nachfolgende Praxis der Vertragsstaaten siehe Hillgruber, Chr., Die Fortentwicklung völkerrechtlicher Verträge als staatsrechtliches Problem. Wie weit trägt der Rechtsanwendungsbefehl des Zustimmungsgesetzes nach Art. 59 Abs. 2 Satz GG?, in: Isensee, J. / Lecheler, H. (Hrsg.), Freiheit und Eigentum. Festschrift für Walter Leisner, 1999, S. 53 (62 ff.). 13 BVerfGE 94, 315 (328). 14 BVerfGE 36, 1 (14). 15 Vgl. BVerfGE 6, 309 (363). 16 Insbesondere Vogel, K., Wortbruch im Verfassungsrecht, in: JZ 1997, S. 161 ff. 12

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staatsprinzips statuierte Bindung der vollziehenden Gewalt an Gesetz und Recht zu einer verfassungsrechtlichen Pflicht erhöht werden kann, 17 weil sonst jeder Gesetzesverstoß zugleich ein Verfassungsverstoß wäre und die Normenhierarchie eingeebnet würde, ist ein völkervertragsrechtswidriges Bundesgesetz wegen Unvereinbarkeit mit dem Rechtsstaatsprinzip verfassungswidrig und nichtig. Die mit Art. 59 Abs. 2 GG getroffene Entscheidung über den völkerrechtlichen Verträgen innerstaatlich zugewiesenen Rang einfacher Bundesgesetze darf nicht mittels eines das gesamte Völkerrecht in sich aufnehmenden und auf Verfassungsebene hebenden, „offenen“ Rechtsstaatsprinzips überspielt werden. Die Zusammenschau der beiden Völkerrecht und Staatsrecht „kurz schließenden“ Verbindungsnormen macht deutlich, dass die verfassungsrechtliche Bereitschaft der Bundesrepublik Deutschland zu internationaler Zusammenarbeit und Integration stark ausgeprägt, aber nicht unbegrenzt ist. Das Völkerrecht nimmt nicht am Vorrang der Verfassung teil; seine innerstaatliche Geltung und Anwendbarkeit steht vielmehr unter Verfassungsvorbehalt Darüber können und dürfen Begriffe wie „Völkerrechtsfreundlichkeit“ oder „offene Staatlichkeit“ nicht hinwegtäuschen. Die Völkerrechtsfreundlichkeit entfaltet Wirkung nur im Rahmen des demokratischen und rechtsstaatlichen Systems des Grundgesetzes. 18 Die Inkorporierung des Völkergewohnheitsrechts in die deutsche Rechtsordnung (Art. 25 GG) und ihre Anpassung an das Völkervertragsrecht (Art. 59 Abs. 2 GG) haben den latenten Dualismus zwischen den autonomen Rechtsordnungen des Staats- und Völkerrechts entschärft, aber nicht vollständig aufgehoben. Im Konfliktfall setzt sich das nationale Verfassungsrecht innerstaatlich durch. Das Grundgesetz gibt seinen eigenen, vorrangigen Geltungsanspruch nicht zugunsten des Völkerrechts auf. Das BVerfG hat dies erst vor kurzem unmissverständlich klargestellt: „Das Grundgesetz will eine weitgehende Völkerrechtsfreundlichkeit, grenzüberschreitende Zusammenarbeit und politische Integration in eine sich allmählich entwickelnde internationale Gemeinschaft demokratischer Rechtsstaaten. Es will jedoch keine jeder verfassungsrechtlichen Begrenzung und Kontrolle entzogene Unterwerfung unter nichtdeutsche Hoheitsakte. [...] Völkervertragsrecht gilt innerstaatlich nur dann, wenn es in die nationale Rechtsordnung formgerecht und in Übereinstimmung mit materiellem Verfassungsrecht inkorporiert worden ist“. 19

___________ 17 18 19

Vgl. BVerfGE 104, 238 (246). BVerfGE 111, 307 (318). BVerfGE 111, 307 (319).

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III. Art. 1 Abs. 2 GG: dynamische Verweisung auf den völkerrechtlichen Menschenrechtsstandard? Diese Sichtweise sieht sich indes in jüngster Zeit partiell durch eine ihren Bedeutungsgehalt erheblich aufladende, geradezu revolutionäre Neuinterpretation von Art. 1 Abs. 2 GG in Frage gestellt. Danach soll das Bekenntnis des deutschen Volkes zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft und des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt als dynamischer Verweis auf die menschenrechtlichen Standards des universellen Völkerrechts zu verstehen sein, 20 und zwar des indisponiblen Kerns menschenrechtlicher Standards (ius cogens): „Das Menschenrechtsbekenntnis des Art. 1 Abs. 2 GG bezieht sich in erster Linie auf solche menschenrechtliche Gehalte, die für jede Gemeinschaft sowie für die Wahrung von Frieden und Gerechtigkeit in der Welt die notwendige Grundlage bilden und damit unverzichtbar sind. Diese Qualifikation erfüllen nur solche Menschenrechte, an deren Einhaltung die ganze Völkerrechtsgemeinschaft ein unverbrüchliches Interesse hat“. 21 Diese Deutung des Art. 1 Abs. 2 GG hat, das ist nicht zu bestreiten, gewisse Vorzüge. Sie fügt sich in den allgemeinen Trend einer „Internationalisierung“ des Verfassungsrechts und seiner Interpretation ein. Sie stellt eine „unmittelbare Verbindung zwischen der anthropozentrischen Ausrichtung der Verfassung und den Grundwerten der modernen Völkerrechtsordnung“ her. 22 Sie bewirkt einen „anhaltende[n] Gleichlauf der verfassungsrechtlich anerkannten Menschenrechte mit dem zwingenden Völkerrecht“ 23 und schließt damit Normgeltungskonflikte zwischen Staats- und Völkerrecht auf diesem Feld aus. Sie holt die unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte aus der abstrakten Höhe naturrechtlicher Spekulation herunter, gewinnt mit dem Rekurs auf das dem Wandel in der Zeit unterliegende, konkret geltende internationale Recht Bodenhaftung und verschafft Art. 1 Abs. 2 GG einen „operablen Gehalt“. 24 Dies ist indes nur die eine (Haben-)Seite der Medaille. Auf der anderen, der Soll-Seite stehen die weitreichenden, die Validität, die normative Stabilität und den Vorrang der Verfassung in Frage stellenden, negativen Konsequenzen der Annahme einer verfassungsunmittelbaren Rezeption universeller Menschenrechtstandards auf der Geltungsebene. Die Vorschrift des Art. 1 Abs. 2 GG erweitert, so verstanden, „den Normbestand mit Verfassungsgeltung“. 25 Die nor___________ 20 21 22 23 24 25

Herdegen, M., in: Maunz / Dürig, GG, Kommentar, Art. 1 Abs. 2 Rn. 1, 22, 43. Herdegen (Fn. 20), Rn. 30. Herdegen (Fn. 20), Rn. 1. Herdegen (Fn. 20), Rn. 42. Herdegen (Fn. 20), Rn. 22. Herdegen (Fn. 20), Rn. 39, 43.

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mative Bedeutung des Menschenrechtsbekenntnisses in Art. 1 Abs. 2 GG liegt danach folglich darin, dass die unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte mit ihrem im unauflöslichen Konsens der internationalen Gemeinschaft vorfindlichen Inhalt in die Verfassungsordnung inkorporiert werden;26 sie nehmen am Vorrang der Verfassung teil. Die universell und zwingend geltenden internationalen Menschenrechte sind damit vollgültiges Verfassungsrecht, allfällige Konflikte mit anderen gleichrangigen Verfassungsnormen auf der Ebene der Verfassung unter Beachtung ihrer Einheit als eines Sinnganzen27 zu lösen, wobei nach Möglichkeit ein schonender Ausgleich angestrebt wird, bei dem gegebenenfalls auch die Grundrechte des Grundgesetzes zumindest partiell zurückzustehen haben. Mehr noch: „Das Bekenntnis zu den Menschenrechten in Art. 1 Abs. 2 GG und der darin liegende Verfassungsbefehl zu deren Achtung haben an der Bestandsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG Anteil“.28 Damit setzen die importierten internationalen Menschenrechte sogar dem verfassungsändernden Gesetzgeber unüberwindliche Schranken und verschaffen sich so eine Präponderanz gegenüber den „einfachen“, bloß national gewährleisteten Grundrechten des Grundgesetzes, soweit diese nicht einen wegen Art. 1 Abs. 1 GG änderungsfesten Menschenwürdekern aufweisen. Die Sprengkraft, die einer solchen Rechtsfolgenanordnung für die Grundrechtsgeltung innewohnt, ist offensichtlich, aber gerade wegen der Dynamik der angenommenen Verweisung in ihrem Ausmaß nicht absehbar. Die im Grundrechtsabschnitt des Grundgesetzes aufgerichtete Wertordnung, stabiler Rahmen, ja vermeintlicher „rocher de bronce“ im steten Wandel des politischen Prozesses würde selbst dynamisiert und im Strom der internationalen Menschenrechtsentwicklung „mitgerissen“. Die durch die Veränderungen des völkerrechtlichen Menschenrechtsstandards eintretenden grundrechtsrelevanten Verfassungsänderungen vollzögen sich eo ipso und verdeckt, von deutschen Staatsorganen weder im vorhinein steuerbar noch nachträglich kontrollier- oder gar korrigierbar. Die Grundrechte des Grundgesetzes könnte ihre (volle) Geltung verlieren, ohne dass die darin liegende Verfassungsänderung dem Gebot des Art. 79 Abs. 1 S. 1 GG entsprechend textlich ausgewiesen würde; es bedürfte dafür nicht einmal einer den eintretenden Verfassungswandel verlautbarenden Klarstellung analog Art. 79 Abs. 1 S. 2 GG.29 ___________ 26

Siehe Herdegen (Fn. 20), Rn. 7. Zum Prinzip der Einheit der Verfassung als „vornehmster Auslegungsmaxime“ siehe BVerfGE 1, 14 (32); 19, 206 (220); 30, 1 (19); 30, 173 (193); 33, 23 (27); 34, 165 (183); 60, 253 (267). 28 Herdegen (Fn. 20), Rn. 9, 43. 29 Eine in ihren Regelungswirkungen abgeschwächte Variante einer „starken“, völkerrechtsorientierten Deutung des Art. 1 Abs. 2 GG könnte in ihm einen bindenden „Verfassungs(-dauer)auftrag“ (Begriff nach Denninger, E., in: ders. et. al. (Hrsg.), AK-GG, 3. Aufl. 2001, Art. 1 Abs. 2, 3 Rn. 6) zur Harmonisierung des internationalen Menschenrechts- und des nationalen Grundrechtsschutzstandards sehen, die, wenn nicht 27

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Diese Veränderung könnte sich ohne, vielleicht gar gegen den aktuellen Willen des deutschen Gesetz- und Verfassungsgebers 30 ereignen, was sonst unmöglich ist. Denn völkerrechtliche Verträge bedürfen zu ihrer innerstaatlichen Geltung der Zustimmung der gesetzgebenden Körperschaften (Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG); sie zu erteilen oder zu verweigern ist der Gesetzgeber prinzipiell frei. Auch eine die Bundesrepublik Deutschland völkerrechtlich und innerstaatlich bindende allgemeine Regel im Sinne des Art. 25 GG kommt jedenfalls gegen deren Willen nicht zustande. Zwar muss die Bundesrepublik Deutschland an der Entstehung der allgemeinen Regel nicht aktiv beteiligt gewesen sein; für den Eintritt der völkerrechtlichen wie innerstaatlichen Bindung nach Art. 25 GG an sie genügt es, dass sie sich nicht explizit dagegen erklärt hat. Die Bundesrepublik Deutschland kann aber als so genannter persistent objector die Geltung einer im Übrigen in der Staatengemeinschaft allgemein akzeptierten völkerrechtlichen Regel für sich ausschließen. Sie wird unter dieser Voraussetzung auch nicht gemäß Art. 25 S. 1 GG Teil des Bundesrechts.31 Wenn die Bundesrepublik Deutschland gegen eine aufgrund gewohnheitsmäßiger Staatenpraxis in Rechtsüberzeugung im Entstehen begriffene Regel des Völkergewohnheitsrecht beharrlich und rechtsverwahrend protestiert hat, hindert dieser Protest bei Konsens unter den übrigen Staaten zwar nicht die Entstehung der von der Bundesrepublik Deutschland abgelehnten Völkerrechtsnorm als allgemeine Regel; diese Regel kann jedoch gleichwohl nicht der Bundesrepublik Deutschland als auch für sie völkerrechtlich gültig entgegengehalten werden. Da es wertungswidersprüchlich wäre, wenn ungeachtet dieses Ausschlusses völkerrechtlicher Bindung eine innerstaatliche Geltung nach Art. 25 S. 1 GG einträte, wird eine allgemeine Regel des Völkerrechts unter diesen Umständen ausnahmsweise auch nicht Bestandteil des Bundesrechts. Die Entstehung zwingenden Völkerrechts bedarf dagegen nach verbreiteter, wenn auch zweifelhafter 32 Auffassung keines allseitigen und sei es auch nur stillschweigenden Konsenses, und auch die Möglichkeit bzw. Wirksamkeit ___________ durch Auslegung möglich, dann durch Verfassungsänderung gemäß Art. 79 GG zu erfolgen hätte, zu der Art. 1 Abs. 2 GG verpflichtet. Damit würde das Textänderungsgebot gewahrt, eine unausgesprochene Verfassungsdurchbrechung vermieden. Der für das Verfassungsrecht besonders bedeutsamen Rechtssicherheit wäre damit mehr gedient, das Bedenken inhaltlicher Beliebigkeit und mangelnder Bestandskraft infolge permanenten Anpassungszwangs bliebe unvermindert bestehen. 30 Es sei denn man nimmt an, das deutsche Volk als Verfassunggeber habe sich eben bereits mit der Setzung von Art. 1 Abs. 2 GG entsprechend gebunden und müsse sich an dem in dieser Vorschrift abgelegten „Bekenntnis“ unbedingt und (wegen Art. 79 Abs. 3 GG) unbefristet festhalten lassen. 31 Vgl. Steinberger, H., Allgemeine Regeln des Völkerrechts, in: HStR VII, 1992, § 173 Rn. 35. 32 Siehe Hillgruber, Chr., Dispositives Verfassungsrecht, zwingendes Völkerrecht: Verkehrte juristische Welt?, in: JöR n. F. 54 (2006), S. 57 (80 ff.).

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einer persistent objection gegen ius cogens ist umstritten. 33 Neue, auch für ihn verbindliche, die verfassungsrechtlich verbürgten Grundrechte möglicherweise relativierenden, aber eben international anerkannten Menschenrechte könnten so dem deutschen Verfassungsgeber untergeschoben und in die Grundrechtsordnung eingeschleust werden, ohne dass ein verfassungsrechtlicher Filter eingebaut wäre, der – im internationalen Menschenrechtsdiskurs nicht selten produziertem – begrifflichen und konzeptionellen Müll („spam“) oder, schlimmer noch, die grundrechtliche Substanz zersetzenden „Viren“, „Würmern“ und „trojanischen Pferden“ als „firewall“ sicher den Zutritt zum verfassungsrechtlichen „Arkanum“ verwehren würde und diese unschädlich machte; denn eine vorsorgliche Überprüfung neuer universeller Menschenrechtsstandards am Maßstab der Verfassung wie im Fall des Art. 25 GG schiede hier von vornherein aus, weil sie bereits im Moment ihrer Entstehung selbst ohne Notwendigkeit eines zwischengeschalteten Transformations- oder Anerkennungsakts integraler Bestandteil der Verfassung geworden wären. Auf eine solche Kontrolle aber kann nicht verzichtet werden. Grundrechtliche Freiheit ist nicht (beliebig) vermehrbar, sondern nur anders verteilbar. Es geht also beim Import internationaler Menschenrechte, gleich ob Freiheits- oder Gleichheitsrechte, soweit sie nicht mit den deutschen Grundrechten als etwaigem Pendant (vollständig) inhaltsgleich sind, nicht um Zuwachs menschenrechtlicher Substanz, sondern um Umverteilung grundrechtlich geschützter Interessen. Mindeststandardformeln wie das Günstigkeitsprinzip des Art. 53 EMRK und Art. 53 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union täuschen elegant darüber hinweg, dass in mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen, und das sind die allermeisten, zur Vermeidung von Völkerrechtsverletzungen eine Anpassung (nach oben oder unten) an das internationale Menschenrechtsniveau geboten ist. 34 Man sollte daher wenigstens genau wissen, worauf man sich einlässt und was man sich menschenrechtlich einhandelt, und genau dies wäre bei einem unbesehenen Menschenrechtsimport qua verfassungsunmittelbarer dynamischer Verweisung als juristischem Blankscheck nicht der Fall. Die Aufgabe des BVerfG beschränkte sich in diesem Zusammenhang ähnlich dem Verfahren nach Art. 100 Abs. 2 GG auf bloße Normverifikation, d. h. die Prüfung, ob eine zwingende Norm des allgemeinen Völkerrechts mit dem behaupteten menschenrechtlichen Inhalt besteht; im Falle ihrer Existenz wäre sie ohne weiteres Bestandteil des Grundgesetzes und damit Teil des vom BVerfG im Rahmen seiner Entscheidungszuständigkeiten anzuwendenden, verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstabs. Eine Normverwerfung käme unter keinen Umständen in Betracht. Die durch den Rechtsimport möglicherweise prima ___________ 33

Vgl. Hillgruber (Fn. 32), S. 83 ff. Vgl. dazu nur Grabenwarter, C., Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. 2005, § 2 Rn. 16. 34

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facie gestörte Widerspruchsfreiheit der grundgesetzlichen Wertordnung müsste durch harmonisierende Verfassungsauslegung, die unweigerlich auf Kosten des Gewährleistungsgehalts des bisherigen Normbestandes ginge, erst wiederhergestellt werden. Nun mag man sich zunächst damit beruhigen, dass sich der unbestrittene und unbestreitbare Kanon des zwingenden Menschenrechtsschutzes bei genauer Betrachtung als „ernüchternd schmal“ erweist, 35 und das Menschenrechtsniveau des umfassende Grundrechtsgewährleistungen beinhaltenden Grundgesetzes in allen Bereichen deutlich darüber liegt, Normwidersprüche folglich zur Zeit nicht bestehen dürften. Doch niemand kann dafür bürgen, dass die durch – an internationalen Standards gemessen – überobligationsmäßige Erfüllung menschenrechtlicher Verpflichtungen durch den Staat des Grundgesetzes gekennzeichnete Lage so bleibt wie sie ist und nicht doch einmal ein über kleinere „Flurbereinigungen“ deutlich hinausgehender Anpassungsbedarf entstünde, dessen Befriedigung „tektonische“ Verschiebungen im grundrechtlichen Koordinatensystem nach sich ziehen würde. Dies sei an zwei Beispielen verdeutlicht. Das Antidiskriminierungsrecht, welches die grundrechtlich geschützte Privatautonomie in ihrem Kern, der Abschlussfreiheit, trifft und sie substanziell aushöhlt, ist nicht nur europarechtlich, sondern auch völkerrechtlich seit Jahrzehnten auf dem Vormarsch. 36 Wenn international – wie behauptet 37 – die (unmittelbare?) Drittwirkung von Verboten der Diskriminierung wegen der Rasse und des Geschlechts unabdingbarer universeller menschenrechtlicher Standard und dieser über Art. 1 Abs. 2 GG zugleich unmittelbar geltendes Verfassungsrecht sein sollte, könnte sich die verfassungsrechtliche Gesamtbewertung der Antidiskriminierungsgesetzgebung entscheidend verändern. Aus einem auch mit Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG kaum zu rechtfertigenden, weil schwerwiegenden Grundrechtseingriff könnte die Erfüllung einer menschenrechtlich radizierten Schutzpflicht werden. Grundrechtsmutationen infolge neuer normativer Kontexte, in die die Grundrechte durch unfiltrierte, über Art. 1 Abs. 2 GG einströmende internationalrechtliche „Umwelteinflüsse“ gestellt werden, könnten sich auch im Bereich des Lebensschutzes, zumal des Schutzes ungeborenen Lebens ergeben. Das hier im Vergleich mit den meisten anderen nationalen Verfassungen besonders hohe deutsche Schutzniveau könnte rasch auf internationales Normalmaß ge___________ 35

Siehe Herdegen (Fn. 20), Rn. 33 f. Man denke etwa an das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung vom 07.03.1966 (BGBl. 1969 II, S. 962) und das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau vom 18.12.1979 (BGBl. 1985 II, S. 648). 37 So Bryde, B.-O., Diskussionsbeitrag, in: VVDStRL 64 (2005), S. 425 f. 36

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drückt werden. Sog. therapeutisches Klonen 38 könnte eines Tages nicht nur allgemeiner biotechnologischer Standard, sondern im Hinblick auf den medizinischen Fortschritt als Bestandteil des „Recht[s] eines jeden auf das für ihn (!) erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit“ (Art. 12 Abs. 1 IPWSK) sogar zum Leistungsrecht werden. 39 Ebenso wenig lässt sich ausschließen, dass der Schwangerschaftsabbruch, nach der Rechtsprechung des BVerfG aus Gründen der Schutzpflicht des Staates für das ungeborene Leben grundsätzlich für die ganze Dauer der Schwangerschaft von Verfassungs wegen als rechtswidrig anzusehen, 40 im Rahmen einer international menschenrechtlich garantierten Reproduktionsfreiheit zum unentziehbaren „Frauenrecht“ erstarkt. Könnte die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG, in der die staatliche Schutzpflicht für das ungeborene menschliche Leben ihren Grund hat, 41 dagegen noch etwas ausrichten, wenn ihr Art. 1 Abs. 2 GG mit gleicher normativer Rigidität gegenübersteht? Sicherlich nicht, wenn, wie dies in der Neuinterpretation geschieht, die Menschenwürde nicht mehr als normative Basis für davon abgeleitete Menschenrechte, sondern nun mehr umgekehrt nur noch als „diskursive[r] Grund für das Bekenntnis des Deutschen Volkes zu den Menschenrechten“ verstanden wird 42 . Wenn Inhalt und Umfang der einzelnen Menschenrechte nicht im Würdeanspruch ihren gemeinsamen Ausgangs- und Endpunkt finden, sich nicht von diesem ableiten und nicht auf diesen zurückzuführen sind, kann die Menschenwürde auch nicht mehr den außerhalb der kollidierenden Verfassungsgüter liegenden, übergeordneten Maßstab abgeben, der als innerer Grund aller Grundrechte deren Geltungssinn und das in sich ruhende, absolute Maß vorgibt, nach dem sich der Wert widerstreitender Grundrechtspositionen in ihrem Verhältnis untereinander richtet, 43 etwa in allfälligen Konfliktsituationen auch den jeweiligen Rang des menschlichen Lebens. Die scheinbar uneinnehmbare Festung wäre geschleift; Art. 1 Abs. 1 GG taugte nicht mehr als Bollwerk gegen Tabubrüche. ___________ 38

Ein irreführender Begriff, weil das Klonen selbst nicht Therapie ist; treffender daher die Bezeichnung „Forschungsklonen“, die allerdings nicht mehr so positive Assoziationen auslöst. 39 Siehe die dahingehenden Überlegungen von Wolfrum, R., Unser Recht auf ein Höchstmaß an Gesundheit, in: FAZ vom 29.05.2001. Vgl. auch ders., Forschung an humanen Stammzellen: ethische und juristische Grenzen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 27/2001 vom 29.06.2001, S. 4, und Stellungnahme im Hearing des Bundestagsausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zum Entwurf eines Stammzellgesetzes am 11.03.2002, Ausschuss-Drucksache 14-574 f. 40 BVerfGE 39, 1 (44); 88, 203 (255). 41 So BVerfGE 88, 203 (251), während „ihr Gegenstand und – von ihm her – ihr Maß durch Art. 2 Abs. 2 GG näher bestimmt [werden]“. 42 So Herdegen (Fn. 20), Rn. 6. 43 Vgl. dazu Enders, C., Embryonenschutz als Statusfrage – Gesetzgebung zwischen Verfassungsvollzug und Autokratie der Moral, in: Zeitschrift für Rechtsphilosophie (ZRph) 2003, S. 126 (132).

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Überhaupt wäre es nicht mehr länger möglich, verfassungsrechtlich eigene, nationale Wege zu gehen. Der verfassungsrechtliche deutsche Sonderweg wäre an sein definitives Ende gelangt, und das ausgerechnet wegen eines – soweit ersichtlich – deutschen Unikats: einer völkerrechtshypertrophen Vollintegration des internationalen Menschenrechtsschutzes auf seinem jeweiligen Entwicklungstand.

IV. Art. 1 Abs. 2 GG in den Beratungen des Parlamentarischen Rats Eine solche den Selbststand nationalen Verfassungsrechts aufhebende, den Grund- und Menschenrechtsschutz international gleichschaltende, grundgesetzliche Rechtsfolgenanordnung will nun wahrlich wohlüberlegt sein, und man wird annehmen dürfen, dass die Väter und Mütter sie angesichts der Fremdbestimmung, unter die man sich damit verfassungsrechtlich begibt, gründlich reflektiert hätten, wenn sie sie auch nur ernstlich erwogen hätten. Doch der entstehungsgeschichtliche Befund ist mehr als karg; Anhaltspunkte dafür, dass mit dem in Art. 1 Abs. 2 GG enthaltenen Bekenntnis bewusst und gewollt eine so weitreichende Entscheidung für eine vollständige Internationalisierung des deutschen Grundrechtsschutzes getroffen worden ist, lassen sich nicht finden. In den Debatten zu Art. 1 GG ist ein einziges Mal in einer Randbemerkung die Rede davon, dass die klassischen Grundrechte „sich neuerdings zu einem völkerrechtlich anerkannten Recht zu entwickeln begännen“. 44 Damit wurde offensichtlich auf die damals in der Ausarbeitung befindliche, am 10. Dezember 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen angenommene Allgemeine Erklärung der Menschenrechte Bezug genommen, die in ihren Entwurfsfassungen in den Beratungen des Parlamentarischen Rates kursierte, als Formulierungshilfe fungierte und teilweise auch als Inspirationsquelle 45 diente, 46 ohne dass dies allerdings letztlich auf die Auswahl und Formulierung oder gar die Grundkonzeption der Grundrechte durchgeschlagen wäre. Keinesfalls ___________ 44 Korreferat des Abg. Zinn, 3. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen vom 21.09.1948, in: Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 5/I (1993), S. 28 (34). 45 Begriff nach Herdegen (Fn. 20), Rn. 2. 46 So war etwa in Bergsträssers erstem Entwurf eines Grundrechtskatalogs in Art. 27 ein jedermann zugesprochenes „Recht auf Rechtspersönlichkeit“ enthalten, bei dessen Formulierung sich Bergsträsser an Art. 5 des Entwurfs der Erklärung der Menschenrechte der UN angelehnt hatte („Every one has the right to a legal personality.“); abgedruckt in: Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 5/I (1993), S. 220, 222. Auch beim Grundrecht auf Leben und Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 GG) hat der UN-Entwurf Pate gestanden, vgl. 23. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen vom 19.11.1948, abgedruckt in: Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 5/II (1993), S. 603, 605.

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lässt sich aus diesen eng begrenzten Anregungen und Anleihen, die hier gefunden bzw. gemacht wurden, schließen, dass „in Ansehung der Entstehungsgeschichte von Art. 1 Abs. 2 GG“ Menschenrechtsgarantien in universellen Verträgen Auslegungsmaßstab für die Verfassung sind und hierzu insbesondere diejenigen Gewährleistungen gehören, die den Inhalt der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte auf vertraglicher Ebene sichern. 47 Der Parlamentarische Rat mag sich bei der verbindlichen Festschreibung der klassischen Grundrechte auch in einer, ihn zusätzlich motivierenden Übereinstimmung mit einer sich anbahnenden völkerrechtlichen Entwicklung gesehen haben. Er hat sich auch speziell in bezug auf die Formulierung des Art. 1 Abs. 2 GG teilweise an der Präambel (des Entwurfs) der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte orientiert. 48 Dass er deshalb, ohne die weitere Entwicklung vorhersehen zu können, gleich das gesamte menschenrechtliche ius gentium ferenda en bloc zum integralen Bestandteil des unmittelbar geltenden deutschen Verfassungsrechts machen wollte, ist jedoch durch nichts belegbar und fernliegend. Die im Parlamentarischen Rat zu Art. 1 GG insgesamt und speziell zur Frage eines schließlich in Art. 1 Abs. 2 GG aufgenommenen Hinweises auf die Vorstaatlichkeit der Menschenrechte geführte, intensive Debatte kreiste vielmehr um die Frage einer naturrechtlichen Verankerung der Grundrechte. Der Abgeordnete Süsterhenn hatte für die CDU/CSU-Fraktion „stabile im Naturrecht und nicht bloß in wechselnden Mehrheiten verankerte Grundrechte“ gefordert. 49 Die Abgeordneten Heuss und Schmid sprachen sich im Ausschuss für Grundsatzfragen dagegen aus, Deklamation und Deklarationen bekenntnishaften Charakters in das Grundgesetz aufzunehmen. 50 Der Abgeordnete Dr. Bergsträsser erklärte, der Ausschuss müsse sich darüber klar werden, ob er doch noch die theoretischen, „d. h. die naturrechtlichen Grundlagen der Grundrechte als Einleitung formulieren und festlegen“ wolle; er könne dies „im Rahmen einer besonderen Präambel zu den Grundrechten tun“. 51 Die Hauptaufgabe des Ausschusses, so der Abgeordnete v. Mangoldt, bestehe jedenfalls darin, ___________ 47

So aber Herdegen (Fn. 20), Rn. 50. „In der Erwägung, dass die Achtung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde sowie ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte das Fundament der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“, abgedruckt in: Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 5/II (1993), S. 592. Der Entwurf ist abgedruckt in: Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 5/I (1993), S. 220 ff. 49 2. Sitzung des Plenums vom 08.09.1948, abgedruckt in: Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 9 (1996), S. 18 (56). 50 Heuss, 2. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen vom 16.09.1948, abgedruckt in: Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 5/I (1993), S. 3 (9). 51 3. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen vom 21.09.1948, abgedruckt in: Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 5/I (1993), S. 3 (159). 48

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die wenig greifbaren naturrechtlichen Sätze „zu konkretisieren, schärfer zu fassen, klarer zu präzisieren, was wir schützen wollen“.52 In der 4. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen am 23. September 1948 legten die Abgeordneten Bergsträsser, Zinn und v. Mangoldt einen Vorschlag für vier erste Grundrechtsartikel vor. Dieser Vorschlag umfasste einen Art. 1, der lautete: „Die Würde des Menschen ruht auf ewigen, einem Jeden von Natur aus eigenen Rechten. Das deutsche Volk erkennt sie erneut als Grundlage aller menschlichen Gemeinschaften an. Deshalb werden Grundrechte gewährleistet, die Gesetzgebung, Verwaltungs- und Rechtspflege auch in den Ländern als unmittelbar geltendes Recht binden“.53

Der Abgeordnete Bergsträsser erläuterte, dass die Berichterstatter zu der Überzeugung gekommen seien, „dass es doch wohl richtig wäre, an die Spitze der Grundrechte einige Sätze zu stellen, die Absicht, Sinn und Grund der Grundrechte ganz kurz deutlich machen. Das haben wir mit unserer Formulierung zu Art. 1 versucht, die wir Ihnen vorschlagen“.54 Der Vorsitzende v. Mangoldt ergänzte, die Berichterstatter hätten den Wunsch gehabt, Art. 1 eine Fassung zu geben, „mit der auf dem Naturrecht aufgebaut wird. Nur schien uns das Naturrecht in seinen einzelnen Sätzen noch zu unbestimmt, als dass man es mit der einfachen Anführung der Naturrechtssätze hätte bewenden lassen können. Die Sätze des Naturrechts wurden daher in den auf Art. 1 folgenden Grundrechtsartikeln, auf die Abs. 3 verweist, aufgezeichnet und in die für die unmittelbare Rechtsanwendung erforderliche Form gebracht. Diese Verweisung stellt für die Auslegung fest – es ist wichtig, sich das klar zu machen –, dass die folgenden Grundrechte auf dem Untergrund des Naturrechts ruhen und die Rechtsprechung diesen Untergrund des Naturrechts bei der Auslegung heranziehen kann“. Es werde kaum möglich sein, allen Grundrechten unabänderlichen Charakter zuzusichern. Art. 1 gebe dem verfassungsändernden Gesetzgeber die Möglichkeit, auf Grund der Verweisung auf das Naturrecht die Grundrechte den Erfordernissen und Bedürfnissen der Zeit anzupassen.55 Der Rekurs auf Naturrecht blieb im Ausschuss umstritten, auch wenn man sich in der Sache einig war. Der Abgeordnete Zinn wies darauf hin, dass die (Allgemeine) Erklärung der Menschenrechte und die Virginia Bill of Rights von dem Menschen von Natur aus zustehenden Rechten sprächen.56 Der Abge___________ 52

Ebd., S. 41. Abgedruckt in: Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 5/I (1993), S. 62 m. Fn. 3. 54 4. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen vom 23.09.1948, abgedruckt in: Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 5/I (1993), S. 62 (63). 55 Ebd., S. 64; siehe auch ders., ebd., S. 68. 56 Ebd., S. 69. 53

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ordnete Schmid plädierte für ein historisches Naturrechtsverständnis; dies bedeute zu erklären: „In dieser Sphäre der geschichtlichen Entwicklung sind wir Deutsche nicht bereit, unterhalb eines Freiheitsstandards zu leben, der den Menschen die und die Freiheiten als vom Staat nicht betreffbar garantiert“. 57 Man einigte sich schließlich zunächst auf die Formulierung: „Die Würde des Menschen steht im Schutze der staatlichen Ordnung. Sie ist begründet in ewigen Rechten, die das deutsche Volk als Grundlage aller menschlichen Gemeinschaft anerkennt. Deshalb werden Grundrechte gewährleistet, die Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtspflege auch in den Ländern als unmittelbar geltendes Recht binden“. 58

Die Kritik von Richard Thomas 59 führte zu einer Überarbeitung der Fassung. Thomas’ Kritik sei insoweit berechtigt, als man die ewigen Rechte nicht als Grundlage aller menschlichen Gemeinschaft bezeichnen könne. Zum Ausdruck kommen solle, dass jedes freiheitsliebende Volk zu dieser Form der Menschenrechte greifen müsse. 60 Daher wurde vorgeschlagen, im Anschluss an die Präambel des Entwurfs der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen 61 wie folgt zu formulieren: „Zugleich mit der Menschenwürde und als eine der Grundlagen für ihre dauernde Achtung werden jene gleichen und unverlierbaren Freiheits- und Menschenrechte gewährleistet, die das Fundament für Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bilden. Das deutsche Volk anerkennt sie als eine der Grundlagen der rechtsstaatlichen Ordnung aller freiheits- und friedliebenden Völker“. 62

Nach weiterem Ringen um die rechte Formulierung dessen, was allseits gemeint war, 63 wurde im Allgemeinen Redaktionsausschuss 64 und im Fünfer___________ 57

Ebd., S. 67; siehe auch ders., ebd., S. 70: „Ich würde das Ganze dezisionistischvoluntativ fassen: wir, die wir hier sind, erklären, dass wir unterhalb eines bestimmten Standards von Freiheiten und Rechten des Einzelmenschen kein staatliches Leben führen wollen“. 58 Ebd., S. 75. 59 Seine „Kritische Würdigung“ ist abgedruckt in: Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 5/I (1993), S. 361 ff. Thoma empfahl, den zweiten und dritten Satz des Art. 1 zu streichen, weil sie inhaltlich unrichtig seien: „Um eine Antwort auf die Frage, worin die eigentümliche Würde begründet ist, die wir allem, was Menschenantlitz trägt, zusprechen, müssen sich Philosophen und Theologen bemühen. Der Verfassungsgesetzgeber kann diese Antwort nicht geben und jedenfalls ist die Menschenwürde nicht ‚in ewigen Rechten‘ begründet, sondern sind umgekehrt die Menschenrechte aus der Menschenwürde abzuleiten“ (ebd., S. 362). 60 Abg. v. Mangoldt, 22. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen vom 18.11. 1948, abgedruckt in: Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 5/II (1993), S. 584 (590 f.). 61 Siehe dazu Fn. 48. 62 Abg. v. Mangoldt (Fn. 60), S. 592. Im letzten Satz alternativ: „Das deutsche Volk anerkennt sie als Grundlage aller menschlichen Gemeinschaft“; ebd., S. 593. 63 Vgl. Protokoll der 32. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen vom 11.01. 1949, abgedruckt in: Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 5/II

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Ausschuss 65 bereits eine dem geltenden Art. 1 (Abs. 2) GG nahezu wortlautidentische Fassung beschlossen, die sodann die Billigung des Hauptausschusses 66 und des Plenums 67 fand. An dem Sinn des Art. 1 Abs. 2 GG als Bindeglied zwischen Abs. 1 und 3 kann nach alledem kein Zweifel bestehen. „Nur wer Menschenrechte anerkannt, kann überhaupt auf die Dauer Menschenwürde achten“. Es war dieser „Vorsatz, der irgendwie in Gesetzworte gekleidet werden muss“. Die überkommenen vorstaatlichen und unveräußerlichen Menschenrechte sollten sodann „für unsere Zeit neu formulieren werden“ und in dieser und nur dieser Formulierung als unmittelbar geltendes Recht binden 68 . Die den Grundrechten zugrunde liegenden vorstaatlichen Menschenrechte sollten zu ihrer Auslegung herangezogen werden können; es sollte aber ausgeschlossen sein, in die Verfassung noch andere Grundrechte hineinzuinterpretieren. 69 Art. 1 Abs. 2 GG als durchaus pathetisch gemeinte 70 „Überleitung auf die Grundrechte“ 71 will ideengeschichtlich erklären, woher diese Grundrechte ___________ (1993), S. 910-918; Protokoll der 42. Sitzung des Hauptausschusses vom 18.01.1949, abgedruckt in: Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses (1948/49), S. 529–531. 64 Stellungnahme vom 25.01.1949 und Formulierungsvorschlag abgedruckt in: Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 7 (1995), S. 202–204. 65 Vorschlag des Fünfer-Ausschusses für die dritte Lesung des Grundgesetzes im Hauptausschuss, abgedruckt in: Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 7 (1995), S. 339 (340). 66 Es wurde lediglich noch im Rahmen der vierten Lesung des Entwurfs des Grundgesetzes in der 57. Sitzung des Hauptausschusses am 05.05.1949 (abgedruckt in: Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses (1948/49), S. 743) auf Antrag des Abg. Zinn in Art. 1 Abs. 2 vor dem Wort „Grundlage“ das Wort „als“ eingefügt. 67 9. Sitzung des Plenums vom 06.05.1949, abgedruckt in: Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 9 (1996), S. 429 (447). 68 Siehe Abg. v. Mangoldt (Fn. 60), S. 593 f. Siehe auch den Abg. Eberhard, ebd., S. 600: „Es gibt diese ewigen unveräußerlichen Freiheits- und Menschenrechte des Abs. 2, und die transponieren wir in unsere Zeit.“ 69 Siehe Abg. v. Mangoldt, 4. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen vom 23.09.1948, abgedruckt in: Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 5/I (1993), S. 62, 68. Insofern zutreffend daher Sommermann, K.-P., Völkerrechtlich garantierte Menschenrechte als Maßstab der Verfassungskonkretisierung – Die Menschenrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes, in: AöR 114 (1989), S. 391 (407): „Der Rechtssatzcharakter des Art. 1 Abs. 2 GG liegt danach nicht in der Konstitutionalisierung zusätzlicher Rechte [...]“. 70 Vgl. Abg. Heuss, 32. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen vom 11.01. 1949, abgedruckt in: Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 5/II (1993), S. 910 (918). 71 Abg. v. Mangoldt, ebd., S. 913; ähnlich Abg. Schmid, 42. Sitzung des Hauptausschusses vom 18.01.1949, abgedruckt in: Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses (1948/49), S. 529.

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kommen und in welchem Zusammenhang sie mit der Menschenwürde stehen. Schon der Wortlaut, der ein Bekenntnis nicht etwa zu den, sondern schlicht „zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten“ enthält, erhellt, dass hier nicht bestimmte, gar international gewährleistete Menschenrechte in Bezug genommen werden, sondern auf die Idee universeller Menschenrechte rekurriert wird, deren Gültigkeit das deutsche Volk für sich anerkannt. Das hier abgelegte Bekenntnis besagt nach alledem nur, „dass wir subjektiv als Deutsche uns entschlossen haben, sie anzuerkennen, das heißt für die Zukunft geltend zu machen. [...] Es ist [...] eine Überzeugung für uns und nicht die Anerkennung eines objektiven Tatbestands der Existenz in allen Ländern“. 72 Eine im Vorgriff erfolgende Rezeption – damals noch gar nicht existenter – völkerrechtlicher Menschenrechtsstandards in Verfassungsrang war damit offensichtlich nicht gemeint.

V. Fazit: Begrenzte Öffnung unter Wahrung der Verfassungsautonomie Das Grundgesetz erklärt in Art. 1 Abs. 2 GG nach und aufgrund der Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Diktatur den Anschluss an die Idee vorstaatlicher und universelle Geltung beanspruchender Menschenrechte und knüpft damit der Sache nach wieder an die naturrechtlich begründete europäisch-atlantische Menschenrechtstradition an. 73 Auf dieser Grundlage bringt es die Menschenrechte sodann über Art. 1 Abs. 3 GG als Grundrechte zu unmittelbarer, positiver, verfassungsrechtlicher Geltung. Art. 1 Abs. 2 GG führt dagegen nicht nur einer normativen Festschreibung völkerrechtlicher Menschenrechtsgewährleistungen auf der Verfassungsebene, geschweige denn zu einer dynamischen Verweisung auf den jeweils geltenden (regional-europäischen oder weltweiten) menschenrechtlichen Mindeststandard des Völkerrechts. 74 Die innerstaatliche Geltung und der innerstaatliche Rang internationaler Menschenrechte bestimmen sich vielmehr wie bei sonstigem Völkerrecht nach den für Völkervertrags- und -gewohnheitsrecht geltenden allgemeinen Regeln des Grundgesetzes (Art. 59 Abs. 2, Art. 25 GG). 75 In___________ 72

Abg. Bergsträsser (Fn. 60), S. 592. Vgl. Starck, Ch., in: Mangoldt, H. v. / Klein, F. / ders., GG, Kommentar, 5. Aufl. 2005, Art. 1 Abs. 2 Rn. 126 f., 131 f. m. w. N. Siehe auch Isensee, J., Menschenwürde: die säkulare Gesellschaft auf der Suche nach dem Absoluten, in: AöR 131 (2006), S. 173, 210; ders., Positivität und Überpositivität der Grundrechte, in: HGR II, § 26 Rn. 80 ff., 84, 90-92. 74 Wie hier Jarass, H. D., in: ders. / Pieroth, B., GG, Kommentar, 8. Aufl. 2006, Art. 1 Rn. 19; Starck (Fn. 73), Rn. 125 m. w. N. pro und contra. 75 A. A. Sternberg, N., Der Rang von Menschenrechtsverträgen im deutschen Recht unter besonderer Berücksichtigung von Art. 1 Abs. 2 GG, 1999, S. 219 ff., der annimmt, dass das „Menschenrechtsprinzip des Art. 1 Abs. 2 GG“ bewirkt, dass Menschenrechts73

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ternationale Menschenrechtsinstrumente und internationale Menschenrechtsstandards sind daher in der deutschen Rechtsordnung unterhalb der Ebene des Verfassungsrechts angesiedelt. Das BVerfG ist der Neuinterpretation in der Görgülü-Entscheidung im Ergebnis mit Recht nicht gefolgt. 76 Allerdings hat es selbst Verwirrung gestiftet, indem es in derselben Entscheidung Art. 1 Abs. 2 GG, wenn auch nur in Verbindung mit Art. 59 Abs. 2 GG, als Grundlage für die angenommene verfassungsrechtliche Pflicht, auch bei der Anwendung der deutsche Grundrechte die EMRK in ihrer konkreten Ausgestaltung und Auslegung durch den EGMR als interpretationsleitenden Maßstab zu aktivieren, benannt und als Begründung angeführt hat, Art. 1 Abs. 2 GG weise „dem Kernbestand an internationalen Menschenrechten einen besonderen Schutz“ zu. 77 Dass dies nicht zutrifft, ist hier dargelegt worden. Nach der Rechtsprechung des BVerfG sollen die Garantien der EMRK zwar erklärtermaßen keine innerstaatliche Geltung mit Verfassungsrang erlangen, 78 was sich angesichts ihrer bloß regionalen und vertragsgestützten Verbindlichkeit wohl ohnehin nicht auf Art. 1 Abs. 2 GG stützen ließe. 79 Aber auch ihre bloße Heranziehung als Grundrechtsinterpretationshilfe, 80 mithin in „abgemilderte[r] normative[r] Wirkung“ 81 ist – angesichts der normhierarchischen Einordnung der EMRK unterhalb der Verfassungsebene – kaum begründbar und zu rechtfertigen. 82 Die Berufung auf Art. 1 Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 59 Abs. 2 GG, der offensichtlich keinen Sonderstatus für vertragliche

___________ verträge vor einer Derogation durch den einfachen Gesetzgeber geschützt sind und insofern einen höheren Rang als sonstige völkerrechtliche Verträge i. S. d. Art. 59 Abs 2 GG einnähmen (These 7 b), c), S. 232). 76 Vgl. BVerfGE 111, 307 (318). 77 BVerfGE 111, 307 (329). 78 Vgl. BVerfGE 74, 358 (370); 82, 106 (120); 111, 307 (315, 317). 79 Insoweit zutreffend Herdegen (Fn. 20), Rn. 41, 47. 80 Für eine aus Art. 1 Abs. 2 GG abgeleitetes „Gebot einer menschenrechtskonformen Auslegung der materiellen Verfassungsbestimmungen“ auch Sommermann, K.-P., Völkerrechtlich garantierte Menschenrechte als Maßstab der Verfassungskonkretisierung. Die Menschenrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes, in: AöR 114 (1989), S. 391 (417, 419). 81 Herdegen (Fn. 20), Rn. 47. 82 Man hätte allenfalls an den Naturrechtsdiskurs in den Beratungen des Parlamentarischen Rates (siehe dazu Fn. 55) anknüpfen und ausgehend von einem nicht für alle Zeiten feststehenden, sondern geschichtlichem Wandel unterliegenden Naturrechtsverständnis eine interpretatorische Anpassung an neue, sich möglicherweise auch in internationalen Menschenrechtsdokumenten niederschlagende, naturrechtliche Auffassungen als dem Willen des Verfassunggebers entsprechend auszuweisen versuchen können.

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Menschenrechtsinstrumente vorsieht, führt jedenfalls zur Perplexität der Begründung. 83 Wenn das BVerfG bei der Auslegung des Grundgesetzes auch Inhalt und Entwicklungsstand der Europäischen Menschenrechtskonvention mehrfach in Betracht gezogen und berücksichtigt hat, sofern dies nicht zu einer Einschränkung oder Minderung des Grundrechtsschutzes nach dem Grundgesetz führt, 84 so geschah dies jedoch vor allem zu dem Zweck, eine völkerrechtliche Verantwortlichkeit nach sich ziehende Verletzung völkerrechtlicher (und nicht zugleich verfassungsrechtlicher) Verpflichtungen durch die Bundesrepublik Deutschland nach Möglichkeit zu vermeiden, und die Heranziehung bestätigte stets nur ein bereits durch national-introvertierte Verfassungsinterpretation gewonnenes Ergebnis, 85 war insoweit also entscheidungsunerheblich und daher, ungeachtet der in der Hochzonung der EMRK und ihrer Auslegung durch den EGMR auf Verfassungsebene liegenden, grundsätzlichen Problematik, 86 verfassungsrechtlich unschädlich; der zugunsten des keinesfalls zu unterschreitenden grundgesetzlichen Grundrechtsschutzniveaus angebrachte Vorbehalt sicherte zugleich den Vorrang der Verfassung ab. Mit dem Grundgesetz hat das deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt „sein „Haus“ (C. Schmid) gebaut. Der abschließende Grundrechtskatalog des Grundgesetzes stellt die selbstbestimmte „Fundamentierung eines deutschen Dauerwillens“ 87 dar. Das Haus hat Fenster, die geöffnet werden können, mehr als einen Spalt, aber nicht sperrangelweit. Das Grundgesetz hat ___________ 83

Die weitere Begründung bleibt verfassungsrechtlich ganz im vagen: „Diese verfassungsrechtliche Bedeutung eines völkerrechtlichen Vertrages, der auf regionalen Menschenrechtsschutz zielt, ist Ausdruck der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes, das die Betätigung staatlicher Souveränität durch Völkervertragsrecht und internationale Zusammenarbeit sowie die Einbeziehung der allgemeinen Regeln des Völkerrechts fördert und deshalb nach Möglichkeit so auszulegen ist, dass ein Konflikt mit völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland nicht entsteht“ (BVerfGE 111, 307, [317 f.]). 84 Vgl. BVerfGE 74, 358 (370); 83, 119 (128); 111, 307 (317 f.). Zur Ungeeignetheit dieses Vorbehalts s. o. bei Fn. 34. 85 Das BVerfG ist auch sonst gelegentlich so verfahren; so heißt es im Teso-Beschluss (BVerfGE 77, 137, [153]) nach verfassungsrechtlichen Darlegungen zur (gesamt-)deutschen Staatsangehörigkeit: „Dem Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit [...] stehen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland weder aus allgemeinem Völkerrecht noch aus ihren vertraglichen Bindungen zur Deutschen Demokratischen Republik entgegen“. 86 Ob man die – vom BVerfG verneinte – Geltung auf Verfassungsebene oder die – von ihm bejahte – Heranziehung als Hilfsmittel für die Auslegung der Garantien des Grundgesetzes auf eben dieser (!) Ebene bejaht, macht praktisch keinen Unterschied, und normtheoretisch wäre zu fragen, ob und wie eine nicht als Verfassungsrecht geltende Norm zur Auslegung eben dieser Verfassung irgendetwas beitragen kann. 87 Abg. Heuss (Fn. 50), S. 11.

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sich für das internationale Recht weit geöffnet. Es „ist jedoch nicht die weitesten Schritte der Öffnung für völkerrechtliche Bindungen gegangen“.88 Das Grundgesetz „erstrebt die Einfügung Deutschlands in die Rechtsgemeinschaft friedlicher und freiheitlicher Staaten, verzichtet aber nicht auf die in dem letzten Wort der deutschen Verfassung liegende Souveränität. Insofern widerspricht es nicht dem Ziel der Völkerrechtsfreundlichkeit, wenn der Gesetzgeber ausnahmsweise Völkervertragsrecht nicht beachtet, sofern nur auf diese Weise ein Verstoß gegen tragende Grundsätze der Verfassung abzuwenden ist“.89 Dies stellt keinen „deutschen Sonderweg“, sondern die Normallage dar.90 Auch offene Verfassungsstaaten wollen bei aller Anerkennung völkerrechtlicher Bindung in ihrem eigenen Hoheitsbereich autonom darüber entscheiden, in welchem Umfang und in welchem Rangverhältnis internationales Recht, das aus ihrer Perspektive zunächst einmal „Fremdrecht” ist, zur Anwendung kommt. Daher bewährt sich der völkerrechtliche Status eines souveränen Staates aus eigenem Recht, der die Bundesrepublik Deutschland nach dem Willen der Verfassungsväter und -mütter sein sollte, auch und gerade in seiner Verfassungsautonomie.

___________ 88

BVerfGE 111, 307 (318). BVerfGE 111, 307 (319). 90 Zum Verhältnis des US-amerikanischen Verfassungsrechts zum Völkerrecht siehe pointiert Justice A. Scalia, Atkins v. Virgina, 536 U.S. 304, 348 (2002) (Scalia, dissenting): „[The world community’s] notions of justice are [thankfully] not always those of our people“. 89

Religionsfreiheit im religiös neutralen Verfassungsstaat Ein universelles Projekt Markus Kotzur

I. Einleitung: Religiöse Einheit und politische Einheitsbildung im Konflikt Religionsfreiheit und säkularer Staat bedingen einander, die Gewährleistung Ersterer wirkt für Letzteren konstitutiv. 1 Dieser Bedingungszusammenhang lässt sich einfach erklären: Seinen konstitutionellen Baumeister findet der freiheitliche Verfassungsstaat im autonomen, menschenwürdebegabten Individuum. 2 Dessen Autonomie besteht wiederum zu einem ganz wesentlichen Teil in der Freiheit, religiöse Bindungen selbst zu wählen oder sich mehr oder weniger vollständig von solchen Bindungen zu lösen. Glaube und Religion respektive deren Negation sind entscheidende Faktoren für die selbstbestimmte Identitätsbildung des Einzelnen. Deshalb sichert die Religionsfreiheit menschliche Freiheit auch weit über den Kernbereich des Religiösen hinaus und wird zu einem entschieden in die diesseitige Lebenswirklichkeit ausgreifenden Garant pluralistischer Vielfalt. 3 Ganz konsequent gilt religiöse Toleranz als Ordnungsideal freiheitlicher Gesellschaften und bestimmt, im Sinne einer praktischen Philosophie der Freiheit, die philosophische Reflexion über deren Freiheitsvoraussetzungen bzw. -grundlagen. 4 Das Selbstverständnis theokratischer ___________ 1

Ganz von solchem Verständnis getragen findet das religiöse Moment in den Schriften von D. Blumenwitz immer wieder Referenz, vor allem im Kontext des Minderheitenschutzes: siehe etwa Minderheiten- und Volksgruppenrechte, 1992; Position der katholischen Kirche zum Schutz der Minderheiten und Volksgruppen in einer internationalen Friedensordnung, 2000. 2 Häberle, P., Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: Isensee, J. / Kirchhof, P. (Hrsg.), HStR, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 22; Enders, Ch., Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, 1997; ders., in: Friauf, K. H. / Höfling, W. (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 12. Ergänzungslieferung 2005, Art. 1 mit einer umfassenden Übersicht zum aktuellen Stand der Literatur; Aoyagi, K., Die Achtung des Individuums und die Würde des Menschen, 1996. 3 Monografisch am Beispiel des bundesrepublikanischen Verfassungsstaates aufbereitet wird dieses „Menschheitsthema“ jüngst bei Borowski, M., Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, 2006. 4 Vgl. auch Mahlmann, M., Religiöse Toleranz und praktische Vernunft, in: ARSP 91 (2005), S. 1 ff.

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Staaten, deren Legitimationsmodelle und Ordnungsmuster prägen ein Gegenbild. Ist es, wie zum Teil in der islamischen Staatenwelt, zentraler Staatszweck, den einen göttlichen Willen im Diesseits gemeinschaftsbestimmende Wirklichkeit werden zu lassen, so muss ein solches Gemeinwesen auch auf religiöse Homogenität hin ausgerichtet sein. 5 Wo immer eine religiöse Offenbarungswahrheit umfassenden Deutungs- wie Gestaltungsanspruch erhebt, werden religiöse Einheit einerseits, politische Einheitsbildung nach dem Muster des freiheitlichen Verfassungsstaates anderseits in Konflikt geraten. Mit diesem Befund sind komplexe Folgefragen verbunden. Wirkt die Religion, nicht erst seit der Regensburger Universitätsrede von Papst Benedikt XVI. im September 2006 mit einiger Vehemenz „auf die Bühne der Weltpolitik zurückgekehrt“, 6 als die treibende Kraft hinter den Konflikten der Gegenwart? Hat nicht die Religion angesichts der schwindenden identitätsstiftenden Kraft der Nation eine neue Rolle übernommen? 7 Oder gehen, wo das nationale Moment noch stark ist, Religion und Nation eine längst überwunden geglaubte Mesalliance von politischem und religiösem Machtwillen ein? Solche religiösen Nationalismen 8 kommen in ganz unterschiedlichen Ausprägungsformen vor und kennen ganz unterschiedliche Erscheinungsbilder, seien es der Hindunationalismus in Indien, der Islamismus oder eine mitunter prekäre neue Nähe zwischen Kirche und Staat in orthodox geprägten Ländern. 9 Auch in den USA beunruhigen Tendenzen, aus religiösem Sendungsbewusstsein politische Handlungsmotive zu legitimieren. Welche Chancen hat angesichts dieses Wirklichkeitsbefundes der religiös neutrale Verfassungsstaat als universelles Projekt? Taugt die Zusammengehörigkeit von Religionsfreiheit, Demokratie und säkularem Staat als universelles, wenigstens universalisierbares Modell und Grundlage für den Frieden nicht nur zwischen den Religionen, sondern auch zwischen den Staaten? 10 Damit verbunden ist eine Vorfrage: Wie überhaupt verhält sich der säkulare, religiös neutrale Staat zu den Religionen? Wie sind Garantien der ___________ 5 Ludwig, A., Rapport der Sektion V: Menschenrecht und Islam, in: Hoffmann, J. (Hrsg.), Begründung von Menschenrechten aus der Sicht unterschiedlicher Kulturen. Bd. 1 des Symposiums „Das eine Menschenrecht für alle und die vielen Lebensformen“, 1991, S. 247; siehe in diesem Kontext auch Wohlrab-Sahr, M., Integrating Different Pasts, Avoiding Different Futures? Recent conflicts about Islamic religious practice and their judicial solutions, in: Time & Society 13 (2004), S. 51 ff. 6 So Kardinal Kasper, W., Präsident des päpstlichen Rates für die Einheit der Christen, zitiert nach SZ vom 02./03.10.2006, S. 6. 7 Huntington, S. P., Kampf der Kulturen, S. 52 ff., 416 und öfter. 8 Lewis, D. C., After Atheism: Religion and Ethnicity in Russia and Central Asia, 1999. 9 Dazu Huber, W., Die Religionen und der Staat. – Vortrag auf Einladung der Friedrich-Ebert-Stiftung Bonn (02.02.2005), veröffentlicht unter http://www.ekd.de/ glauben/050202_huber_friedrich_ebert_bonn.html (07.03.2007), S. 1. 10 Huber (Fn. 9), S. 1.

Religionsfreiheit im religiös neutralen Verfassungsstaat

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Religionsfreiheit zu verstehen, vor allem, wenn die Religionsfreiheit des einen die universellen Menschenrechte des anderen auch relativieren kann (z. B. Beschneidungsriten, Genitalverstümmelung von Mädchen, Verweigerung medizinischer Behandlung aus Glaubensgründen, Aufrufe zur Tötung von Gotteslästerern – Fall Rushdie –, hinduistische Witwenverbrennung, Blutrache-Fälle, Zwangsscheidungen, Schächten)? 11 Identitätsbestimmend für den religiös neutralen Staat wirkt nicht nur, wie er die Religionsfreiheit im Staat-Bürger-Verhältnis ausgestaltet und welche rechtliche Rahmenordnung er für die Beziehung von Staat und Kirchen bzw. Religionsgemeinschaften entwirft. Identitätsbestimmend wirkt vielmehr auch, welche horizontalen Grundrechtswirkungen das religiöse Miteinander seiner Bürger ausgestalten. Gerade im Hinblick auf den letztgenannten Aspekt zeigt sich, dass die vielberufene Bedingungsformel, wonach der Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht schaffen kann (E.-W. Böckenförde), zu kurz greift. Für die Verfassung ist jener gesellschaftliche Grundkonsens, der sie erst ermöglicht, nicht etwas „Vorfindliches“, „Vorgegebenes“, sondern etwas, was sie – jedenfalls zum Teil – selbst (mit-)stiftet. 12 So könnte ein verfassungsstaatliches Grundparadoxon lauten: Verfassung ermöglicht, was sie ermöglicht. Daran muss sich – historisch und vergleichend – auch der religiös neutrale Verfassungsstaat messen lassen. Anhand dessen ist auszuloten, wie anschlussfähig sein Selbstverständnis sich gegenüber nicht-westlichen, insbesondere theokratisch geprägten Denktraditionen erweist.

II. Religionsfreiheit in globaler Perspektive – eine Bestandsaufnahme Die Freiheit in Religionsfragen war Topos des Völkerrechts und Gegenstand völkerrechtlicher Verträge, lange bevor Amerikanische und Französische Revolution moderne Menschenrechte erkämpft hatten, bevor sich gar ein völkerrechtlicher Menschenrechtsschutz im modernen Sinne entwickeln konnte. 13 ___________ 11 Zahlreiche Nachweise dazu bei Richter, D., Relativierung universeller Menschenrechte durch Religionsfreiheit. Ein Beitrag zu den rechtlichen Grenzen schädlicher religiöser Praktiken, in: Grote, R. / Marauhn, Th. (Hrsg.), Religionsfreiheit zwischen individueller Selbstbestimmung, Minderheitenschutz und Staatskirchenrecht. – Völker- und verfassungsrechtliche Perspektiven, 2001, S. 89 ff. 12 Neben der genannten Horizontalwirkung müssen hier unter anderem auch die korporative Seite der Menschenrechte, müssen Orientierungswerte und Erziehungsziele für freiheitlichen Staat und „verfasste Gesellschaft“ genannt werden, dazu grundsätzlich Häberle, P., Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 679 ff., 685 und öfter. 13 Sieghart, P., The International Law of Human Rights, 1983, S. 324; Frowein, J. Abr., Art. „Religionsfreiheit“, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, Bd. 4,

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Die Konflikte zwischen Kaiser und Papst im Hochmittelalter erwiesen das Konzept einer im christlichen Glauben begründeten katholischen Universalmonarchie früh als brüchig. 14 Das eurozentrische Ideal einer „universitas christiana“ 15 konnte den mit der Entdeckung Amerikas verbundenen „Neuen Welten – Neuen Wirklichkeiten“ 16 nicht auf Dauer standhalten. Religiös fundierte wichen territorial bestimmten Mustern der Herrschafts- und Ordnungsbildung. Letztere bedingten nunmehr ihrerseits religiöse und konfessionelle Konflikte der Territorien. So begleitete das Ringen um Religionsfreiheit in einem weiteren, noch nicht spezifisch menschenrechtlichen Sinne die Entstehung des frühmodernen Staates nach 1500. Er war gekennzeichnet durch Souveränität, Rationalität und seinen säkularen Charakter, fand seine neue Identität gerade dadurch, dass er sich aus kirchlicher Vormundschaft befreien wollte. 17 Die Koexistenz zwischen den Territorien erforderte vertraglichen Ausgleich zwischen den konfessionellen Machtblöcken. 18 Wo solcher Ausgleich scheiterte, waren blutige Religionskriege die Folge. Sollte er gelingen, musste Religionsfrieden zum territorialen Ordnungsprinzip werden. Mit dem Westfälischen Frieden wurden zentrale institutionelle Rahmenbedingungen geschaffen. 19 Im Vertragswerk von Münster und Osnabrück findet das moderne Völkerrecht seinen Auftakt. 20 Geschichtsbewusst spricht die Völkerrechtslehre von einem „Westphalian system of international law“ und betont: „Westphalia ___________ 1988, Sp. 820 (830); Grote, R., Die Religionsfreiheit im Spiegel völkervertraglicher Vereinbarungen zur politischen und territorialen Neuordnung, in: Grote / Marauhn (Fn. 11), S. 3 ff. (3) m. w. N. in Fn. 1. Allgemein zu den Anfängen der Religionsfreiheit Maier, H., Wie universal sind die Menschenrechte?, 1997, S. 84 ff. Zur Bedeutung der Religion für die Genese des Völkerrechts jüngst Steiger, H., Religion und die historische Entwicklung des Völkerrechts, in: Zimmermann, A. (Hrsg.), Religion und Internationales Recht, 2006, S. 11 ff. 14 Grote (Fn. 13), S. 3 ff. (4). 15 Reibstein, E., Völkerrecht, Bd. 1, 1958, S. 81 ff.; Tyrol y Serra, A., Die Entstehung der Weltstaatengesellschaft unserer Zeit, 1963, S. 29 f.; Grewe, W., Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 2. Aufl. 1988, S. 72 ff. 16 „Amerika 1492–1992: Neue Welten – Neue Wirklichkeiten“ lautete der Titel einer von September 1992 bis Januar 1993 dauernden Ausstellung im Berliner MartinGropius-Bau. 17 Grewe, W., Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 1984, S. 198 ff., 204. 18 Grote (Fn. 13), S. 3 ff., 4 f. 19 Heckel, M., Der Westfälische Friede als Instrument internationaler Friedenssicherung und religiös-weltanschaulicher Koexistenzordnung, in: JuS 1988, S. 336 ff.; Fassbender, B., Die verfassungs- und völkerrechtsgeschichtliche Bedeutung des Westfälischen Friedens von 1648, in: Erberich, I. et al. (Hrsg.), Frieden und Recht. 38. Tagung der Wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Fachrichtung „Öffentliches Recht“, 1998, S. 9 ff.; Ziegler, K.-H., Die Bedeutung des Westfälischen Friedens für das Europäische Völkerrecht, in: AVR, Bd. 37 (1999), S. 129 ff. 20 Klassisch Liszt, F. v., Völkerrecht, 12. Aufl. (bearbeitet von M. Fleischmann) 1925, S. 21.

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evolved a new image of coordinated states within its territorial sphere“. 21 Gewiss, wie mit jedem ereignisgeschichtlich beschriebenen Epochenwandel ist mit der griffigen Formel vom „westfälischen Staatenmodell“ eine „idealtypische Vereinfachung“ 22 verbunden. Die ideengeschichtlichen Zusammenhänge sind weit komplexer und verweisen auf eine lange vor 1648 begonnene Grundlagenauseinandersetzung, die bis ins Theologische hineinreichte. Ihr Ergebnis war, dass religiöse Unterschiede keine Gewaltanwendung erlauben und religiöse Differenzen durch Dialog, nicht durch Krieg zu überwinden sind. Bis hin zu einem Individualrecht auf Freiheit der Religion und der Religionsausübung blieb es allerdings noch ein weiter Weg. Erst Art. 16 der Virginia Bill of Rights vom 12. Juni 1776 folgert aus der Zwangs- und Gewaltfreiheit in Religionsdingen ein gleiches Individualrecht aller Menschen: „Religion oder die Ergebenheit, die wir unserem Schöpfer schuldig sind, und die Art, wie wir sie ausfüllen, kann lediglich durch Vernunft und Überzeugung bestimmt werden, nicht durch Zwang oder Gewalt, und deshalb haben alle Menschen einen gleichen Anspruch auf freie Ausübung der Religion nach den Geboten ihres Gewissens. Und jeder hat die Pflicht, christliche Vergebung, Liebe und Barmherzigkeit untereinander zu üben.“

Die Religionsfreiheit als universelles Menschenrecht war geboren, 23 allerdings mit einer stark christlichen Konnotation. Art. X der Französischen Menschenrechtserklärung vom 26. August 1789 ist konsequente Fortentwicklung, setzt zudem einen stärkeren Akzent auf säkulare Staatlichkeit: „Niemand soll wegen seiner Ansichten, auch nicht wegen der religiösen, beunruhigt werden, sofern die Äußerung die durch das Gesetz errichtete öffentliche Ordnung nicht stört.“ 24 Diese beiden Klassikertexte sind der Ausgangspunkt, um im Sinne einer vergleichenden Zusammenschau 25 die modernen Völkerrechtstexte in Sachen universeller Religionsfreiheit zusammenzutragen. Die verfassungsstaatlichen Garantien, die mit den völkerrechtlichen Verbürgungen in einem Verhältnis fruchtbarer Wechselwirkung stehen, können hier nicht im Einzelnen aufgeführt werden, sind von der Sache her aber stets mitzudenken. 26 Auf internationaler Ebene findet sich die Religionsfreiheit zunächst im Kontext religiöser ___________ 21 Falk, R. A., The Interplay of Westphalia and Charter Conceptions of International Legal Order, in: ders. / Black, C. E. (Hrsg.), The Future of the International Legal Order, Vol. I: Trends and Patterns, 1969, S. 32 ff., 43. 22 Fassbender (Fn. 19), S. 9 ff., 22. 23 Kimminich, O., Religionsfreiheit als Menschenrecht, 1990. 24 Hofmann, H., Zur Herkunft der Menschenrechtserklärungen, in: JuS 1988, S. 841 ff. 25 Blumenwitz, D., Rechtsvergleichung und Völkerrecht, in: Zacher, H. F. (Hrsg.), Schriftenreihe für Internationales und Vergleichendes Sozialrecht, Bd. 2: Sozialrechtsvergleich im Bezugsrahmen internationalen und supranationalen Rechts, 1978, S. 75 ff. 26 Für eine erste verfassungsvergleichende Übersicht siehe Morlok, M., in: Dreier, H. (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. I, 2. Aufl. 2004, Art. 4, Rn. 38 ff.

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Minderheitenrechte. Entsprechende Verbürgungen sind fester Bestandteil der nach dem Ersten Weltkrieg geschlossenen Minderheitenschutzverträge im Völkerbundsystem. 27 Teilweise finden sich solche Regelungen auch in Friedensverträgen nach dem Zweiten Weltkrieg wieder. 28 Erst unter der Ägide der Vereinten Nationen werden die Instrumente des universellen und regionalen Menschenrechtsschutzes weiter ausdifferenziert, richtet sich ein noch stärkeres Augenmerk auf normativ verbindliche Regelungen. Typische Garantiegehalte sind das Verbot der Diskriminierung aus religiösen Gründen, die Garantie der Religionsfreiheit sowie die freie private und öffentliche Religionsausübung. Neben den menschenrechtlichen Bezügen in der UN-Charta (Präambel, Art. 1 Nr. 3, Art. 55 lit. c) entfaltet die Menschenrechtserklärung von 1948 29 – völkerrechtliches soft law – die Freiheit in religiösen Dingen. Ihre Präambel beschwört emphatisch und mit universalem Anspruch das „Gewissen der Menschheit“, die Erklärung versteht sich wohl auch selbst als eine Art „Gewissen der Menschheit“. Sie enthält in Art. 2 ein Diskriminierungsverbot aus religiösen Gründen und die explizite Garantie der Religionsfreiheit in Art. 18. Beide Regelungen haben eine wichtige Vorbildwirkung für spätere, normativ verbindliche Verbürgungen. 30 Auf Weltebene sucht der IPbürgR das Versprechen der Allgemeinen Menschenrechtserklärung normativ einzulösen.31 Art. 18 Abs. 1 und 2 IPbürgR – schon in der Artikelzählung ist die gewollte Parallele unverkennbar – garantiert die Religionsfreiheit, der Minderheitenschutzartikel aus Art. 27 IPbürgR verschreibt sich auch dem Schutz religiöser Minderheiten. Bezüge zur Religionsfreiheit stellen die Völkermordkonvention und die Konvention zur Beseitigung aller Formen von Rassendiskriminierung her. 32 Einen Katalog religiöser Rechte postuliert überdies die Erklärung der UN-Generalversammlung vom 25. November 1981, unzweideutig schon in ihrer bezeichnungsgebenden Programmatik: Erklärung zur „Beseitigung aller Formen der Intoleranz und Diskriminierung aus Gründen der Religion oder des Glau___________ 27

Gilbert, G., Religio-nationalist minorities and the development of minority rights law, in: Review of International Studies 29 (1999), S. 389 ff.; Grote (Fn. 13), S. 3 ff., 23 ff.; Wolfrum, R., Der völkerrechtliche Schutz religiöser Minderheiten, in: Grote / Marauhn (Fn. 11), S. 53 ff. 28 Wolfrum (Fn. 27), S. 26 ff. 29 Resolution 217 (III) Universal Declaration of Human Rights, in: United Nations, General assembly, Official Records, Third Session (part I) Resolutions, UN Doc. A/810/71. 30 Lerner, N., Religious Human Rights under the United Nations, in: Vyver, J. D. van der / Witte Jr., J. (Hrsg.), Religious Human Rights in Global Perspective, 1996, S. 59 ff., 88. 31 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19.12.1966, BGBl. 1973 II, S. 1543. 32 Nachweise bei Grote, R. (Fn. 13), S. 3 ff., 30 f.; siehe auch Frowein, J. Abr., Religionsfreiheit und internationaler Menschenrechtsschutz, in: Grote / Marauhn (Fn. 11), S. 73 ff., 77.

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bens.“ 33 Damit wäre auch das für den religiös neutralen Verfassungsstaat so geläufige Attribut der Toleranz textlich aufgegriffen. Im regionalen Völkerrecht war es die EMRK, die als erste den Impetus des Jahres 1948 aufgriff und für (das westliche) Europa Konkretisierungsarbeit leistete. 34 Verwiesen sei auf Art. 9 Abs. 1 sowie auf Art. 2 des 1. Zusatzprotokolls, der das religiöse und weltanschauliche Elternrecht mit Blick auf staatliche Schulen festschreibt. Heute weist der „Europäische Verfassungsraum“, das Europa von EU und EG im engeren, das Europa des Europarates im weiteren Sinne umspannend, weltweit die größte Grundrechtsdichte auf, was auch für die religiöse Dimension nicht ohne Konsequenzen bleibt. Die Kernthese sei vorweg formuliert: Die Religionsfreiheit – und mit ihr korrespondierend die weltanschaulich-konfessionelle Neutralität des Staates – bilden ein wesentliches Fundament der Europäischen Rechtskultur. 35 Beide Dimensionen werden in allen europäischen Verfassungsordnungen garantiert 36 und gehören deshalb zu jenem Kanon gemeinsamer Verfassungsüberlieferungen der EU-Mitgliedstaaten, aus deren vergleichender Zusammenschau der EuGH die Gemeinschaftsgrundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze formt. 37 Auch dem europäischen Primärrecht ist das Thema Religionsfreiheit nicht fremd. EU und EG treffen Vorkehrungen gegen Diskriminierung aus religiösen Gründen im Rahmen bestehender Gemeinschaftszuständigkeiten. 38 Entsprechende Antidiskri___________ 33

UN Doc. A/36/51 (1981). Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 04.11. 1950, BGBl. 1952 II, S. 685, 953. Zur Religionsfreiheit im Kontext der EMRK mit zahlreichen w. N.: Grabenwarter, Ch., Religion und Europäische Menschenrechtskonvention, in: Zimmermann (Fn. 13), S. 97 ff. 35 Häberle, P., Europäische Rechtskultur, 1994 (TB 1997), S. 25 f.; einen ideen- und entstehungsgeschichtlichen Überblick gibt Morlok, M. (Fn. 26), Art. 4 Rn. 1 ff.; siehe auch Kimminich (Fn. 23); aus der Judikatur für die Bundesrepublik Deutschland BVerfGE 19, 206 (216); 33, 23 (28) und ständige Rspr. 36 Eine vergleichende Zusammenstellung der relevanten Artikel findet sich bei Robbers, G., Religionsfreiheit in Europa, in: Isensee, J. / Rees, W. / Rüfner, W. (Hrsg.), Dem Staate, was des Staates ist – der Kirche, was der Kirche ist. Festschrift für Joseph Listl, 1999, S. 201 ff. 37 Tesauro, G., The Role of the Court of Justice in the Protection of Fundamental Rights, in: Colneric, N. (Hrsg.), Une communauté de droit: Festschrift für Gil Carlos Rodríguez Iglesias, 2003, S. 103 ff.; Vitorino, A., La Cour de justice et les droits fondamentaux depuis la proclamation de la Charte, in: Colneric, ebd., S. 111 ff.; Nicolaysen, G., Die gemeinschaftsrechtliche Begründung von Grundrechten, in: EuR 38 (2003), S. 719 ff. Speziell für die Religionsfreiheit bzw., zurückhaltender in der Formulierung, schutzwürdige religiöse Interessen EuGH Slg. 1988, S. 6159 ff. – Vivien Prais; dazu schon Pernice, I., Religionsrechtliche Aspekte im Europäischen Gemeinschaftsrecht, in: JZ 1977, S. 777 ff. 38 Walter, Ch., Religion und Recht der Europäischen Union, in: Zimmermann (Fn. 13), S. 207 ff. 34

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minierungsmaßnahmen ermöglicht Art. 13 Abs. 1 EG. In seiner Konsequenz finden sich dann wiederum sekundärrechtliche Anknüpfungspunkte. Auf einen religionsrechtlichen Bewusstseinswandel im Gemeinschaftsrecht verweist schließlich die im Rahmen des Amsterdamer Vertrages von allen EUMitgliedstaaten abgegebene „Erklärung Nr. 11 zum Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften“: 39 Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften werden erstmals auf Gemeinschaftsebene „institutionell“ wahrgenommen. Individualrechtliche Garantien hält – derzeit noch als feierliche Erklärung und damit soft law – die EU-Grundrechte-Charta vor. 40 Art. 10 Abs. 1 der Charta übernimmt nahezu wortgleich Art. 9 Abs. 1 EMRK. Art. 21 Abs. 1 der Charta beinhaltet ein zu Art. 14 EMRK parallel laufendes Verbot der Diskriminierung aus religiösen Gründen. Von hoher Aussagekraft für die europäische Identität als „Einheit in Vielfalt“ (J. Ch. Burckhardt) 41 ist Art. 22 der Charta. Er verpflichtet die Gemeinschaft, die Vielfalt der Religionen zu achten. Für das Europa im weiteren Sinne darf neben der EMRK der KSZE/OSZE-Prozess nicht vergessen werden. Die Schlussakte von Helsinki (1975) bestimmt in Abschnitt VII, dass alle Teilnehmerstaaten die Menschenrechte und Grundfreiheiten zu achten haben, gerade die Gedanken-, Gewissens-, Religions- und Überzeugungsfreiheit ohne Unterschied von Geschlecht, Rasse, Sprache oder konkreter Religionszugehörigkeit. 42 ___________ 39

Dazu Vachek, M., Das Religionsrecht der Europäischen Union im Spannungsfeld zwischen mitgliedstaatlichen Kompetenzreservaten und Art. 9 in: EMRK, 2000, S. 125 ff. 40 Aus der kaum mehr zu überblickenden Literatur sei etwa verwiesen auf Baer, S., Grundrechte-Charta ante portas, in: ZRP 2000, S. 361 ff.; Häberle, P., Europa als werdende Verfassungsgemeinschaft, in: DVBl. 2000, S. 840 ff.; Pernice, I., Eine Grundrechte-Charta für die Europäische Union, in: DVBl. 2000, S. 847 ff.; Weber, A., Die europäische Grundrechte-Charta – auf dem Weg zu einer europäischen Verfassung, in: NJW 2000, S. 537 ff.; Zuleeg, M., Zum Verhältnis nationaler und europäischer Grundrechte. Funktionen einer EU-Charta der Grundrechte, in: EuGRZ 2000, S. 511 ff.; Pache, E., Die europäische Grundrechtscharta – ein Rückschritt für den Grundrechtsschutz in Europa?, in: EuR 36 (2001), S. 475 ff.; Hilf, M., Die Charta der Grundrechte der EU in der Perspektive 2004, in: ders. / Bruha, Th. (Hrsg.), Perspektiven für Europa: Verfassung und Binnenmarkt, EuR, Beiheft 3/2002, S. 13 ff. Vor ihrer Positivierung in der EU-Grundrechtecharta hatte die Religionsfreiheit vorher schon im Grundrechtskatalog des Europäischen Parlaments vom 12.04.1989 (Art. 4) prominenten Niederschlag gefunden, ABl. EG Nr. C 120 vom 16.05.1989, S. 51. 41 Grundrechtsspezifisch Weber, A., Einheit und Vielfalt der europäischen Grundrechtsordnung(en), in: DVBl. 2003, S. 220 ff. 42 Eine deutsche Textfassung findet sich unter http://www.osce.org/documents/mcs/ 1975/08/4044_de.pdf (11.04.2007); siehe auch Hollerbach, A., Europa und das Staatskirchenrecht, in: ZevKR 35 (1990), S. 250 ff.; ders., Religions- und Kirchenfreiheit im KSZE-Prozess, in: Klein, E. (Hrsg.), Grundrechte, soziale Ordnung und Verfassungsgerichtsbarkeit. Festschrift für Ernst Benda, 1995, S. 117 ff.

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Unverzichtbar ist der Blick auf das regionale Völkerrecht außerhalb Europas, da jedweder Eurozentrismus schon in sich ein Widerspruch zum universellen Geltungsanspruch der Religionsfreiheit wäre. Für den Menschenrechtsschutz im afrikanischen Kulturraum steht die Banjul Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker vom 27. Juni 1981. 43 Sie garantiert in Art. 2 das Recht Jedermanns, „die in dieser Charta anerkannten und gewährleisteten Rechte und Freiheiten zu genießen ohne Unterschied der (…), Religion (…).“ Art. 8 gewährleistet die Gewissensfreiheit und die freie Religionsausübung in bemerkenswertem Kontext mit der Berufsfreiheit. Sehr weitgehend ist die Einschränkungsmöglichkeit „aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“. Die Amerikanische Menschenrechtskonvention vom 22. November 1969 44 formuliert in Art. 1 nach gängigem Muster ein Diskriminierungsverbot aus religiösen Gründen: „The States Parties to this Convention undertake to respect the rights and freedoms recognized herein and to ensure to all persons subject to their jurisdiction the free and full exercise of those rights and freedoms, without any discrimination for reasons of (…) religion“.

Ihr Art. 12 garantiert umfassend die Glaubens- und Gewissensfreiheit (forum internum und externum, freier Religionswechsel, Elternrecht in Sachen religiöser Kindererziehung). Im asiatischen Raum ist die Lage uneinheitlicher. Die „Bangkok Declaration“ (April 1993) betont bei allem universellen Geltungsanspruch die kulturelle Partikularität der Menschenrechte: 45 „Recognize that while human rights are universal in nature, they must be considered in the context of a dynamic and evolving process of international norm-setting, bearing in mind the significance of national and regional particularities and various historical, cultural and religious backgrounds.“

Eher für die Grenzen als die Chancen universeller Religionsfreiheit steht die „Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam“ aus dem Jahre 1990. 46 In Art. 1 wird das Verbot der Diskriminierung aus religiösen Gründen durch den umfassenden Wahrheitsanspruch des Islam relativiert: ___________ 43

Simma, B. / Fastenrath, U. (Hrsg.), Menschenrechte, 5. Aufl. 2004. Simma / Fastenrath (Fn. 43). 45 Dazu Kotzur, M., Theorieelemente des internationalen Menschenrechtsschutzes, 2000, S. 328 ff. 46 Cairo Declaration on Human Rights in Islam, August 5, 1990, U.N. GAOR, World Conference on Human Rights, 4th Sess., Agenda Item 5, U.N. Doc. A/CONF. 157/PC/62/Add.18 (1993); abgedruckt bei Smith, R. (Hrsg.), Textbook on International Human Rights, 2003; dazu siehe auch Littman, D., Universal Human Rights and „Human Rights in Islam“, 1999; Bielefeldt, H., Facetten der islamischen Menschenrechtsdiskussion, in: Zimmermann (Fn. 13), S. 83 ff. 44

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„(a) All human beings form one family whose members are united by their subordination to Allah and descent from Adam. All men are equal in terms of basic human dignity and basic obligations and responsibilities, without any discrimination on the basis of race, colour, language, belief, sex, religion, political affiliation, social status or other considerations. The true religion is the guarantee for enhancing such dignity along the path to human integrity.“

Noch deutlicher wird Art. 10: „Islam is the religion of true unspoiled nature. It is prohibited to exercise any form of pressure on man or to exploit his poverty or ignorance in order to force him to change his religion to another religion or to atheism.“

Art. 24 ordnet schließlich alle rechtlichen Verbürgungen der Scharia unter („All the rights and freedoms stipulated in this Declaration are subject to the Islamic Shari’ah“). Auch wenn die Kairoer Erklärung die Freiheit in Religionsangelegenheiten positiv anspricht, so tut sie das mit eindeutiger Stoßrichtung. Umfassend schützen soll die Religionsfreiheit nur die islamischen Minderheiten in Staaten, in denen die Mehrheitsgesellschaft nicht dem Islam zugehört. Andernfalls überwiegt „the religion of true unspoiled nature“. Die Instrumentalisierung und Politisierung der Religion im Sinne einer „Identitätspolitik“47 ist nicht verhindert und dem universellen Projekt des religiös neutralen, säkularen Verfassungsstaates zunächst eine schlechte Prognose gestellt.

III. Der säkulare Verfassungsstaat, ermöglicht, bedingt und herausgefordert durch die Religionsfreiheit – ein Thesenkatalog 1. Religionsfreiheit und säkularer Staat: Wer das Verhältnis von Religionsfreiheit und säkularem Staat auch im christlichen Kontext historisch-kritisch hinterfragt, wird durch die eben zitierte Kairoer Erklärung vielleicht weniger entmutigt, als es auf den ersten Blick zu befürchten steht. Klassische Referenz ist jenseits der Grenzen Europas die „Church-State Clause“ im Ersten Amendment der US-Bundesverfassung. Wenn es dort heißt: „Congress shall make no law respecting an establishment of religion“, so ist darin vor allem ein Freiheitsreservoir der Federal states gegenüber dem Bund zu sehen. Sie verstanden sich nicht selten als „virtually founded by religion“ und behielten sich deshalb das Recht vor, das Verhältnis von Staat und Bürgern, Staat und Religionsgemeinschaften selbst zu regeln. 48 Die vollständige Enthaltsamkeit des Staates in ___________ 47 Bielefeldt, H. / Heitmeyer. W. (Hrsg.), Politisierte Religion. Ursachen und Erscheinungsformen des modernen Fundamentalismus, 1998; Meyer, Th., Identitätswahn. Die Politisierung kultureller Unterschiede, 2. Aufl. 1998; ders., Identitätspolitik. Vom Missbrauch kultureller Unterschiede, 2002. 48 Alstyne, W. van, Trends in the Supreme Court: Mr. Jefferson’s Crumbling Wall – A Comment on Lynch v. Donnelly, in: Duke Law Journal, 1984, S. 770, 772 ff.

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religiösen Dingen war nicht gemeint, die Betonung liegt auf „Congress shall not“, nicht auf „no establishment“. Aufschlussreiche Lektüre über das Verständnis säkular-neutraler Staatlichkeit und religiöser Freiheit angesichts einer eindeutig christlichen Mehrheitsgesellschaft bietet auch die Lektüre der berühmten „Commentaries on the Constitution of the United States“ von J. Story aus dem Jahre 1891: „It is impossible for those who believe in the truth of Christianity as a divine revelation to doubt that it is the especial duty of government to foster and encourage it among all the citizens and subjects. (…). The real difficulty lies in ascertaining the limits to which government may rightfully go in fostering and encouraging religion. (…). The real object of the amendment was not countenance, much less to advance, Mahometanism, or Judaism, or infidelity, by prostrating Christianity; but to exclude all rivalry among Christian sects, and to prevent any national ecclesiastical establishment which should give to a hierarchy the exclusive patronage of the national government“. 49

Auch für das aufgeklärte jüdisch-christliche Abendland mit seinem Staat und Religion, Thron und Altar scheidenden Rationalismus war Religionsfreiheit nicht immer gleichbedeutend mit einer gleichberechtigten Vielfalt unterschiedlicher Religionen respektive echter Multireligiosität. Erst dank langwieriger, noch längst nicht abgeschlossener Entwicklungsprozesse versteht sich der Verfassungsstaat westlicher Prägung heute immer mehr als Raum grundrechtsgesicherten interreligiösen Miteinanders und kann seinerseits den Religionen ein forum publicum für ihren diskursiven Austausch schaffen. Will der vielfach geforderte Dialog der Kulturen und Weltreligionen 50 kein rein virtueller bleiben, muss nicht zuletzt das Recht ihm einen konkreten Raum „der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ eröffnen. 51 Diesem Selbstverständnis entsprechend sollte der freiheitliche Verfassungsstaat parallel laufende Dialogbzw. Entwicklungsprozesse in der islamischen Staatenwelt anstoßen – vorsichtig, geduldig, selbstkritisch bewusst der eigenen Ideologieanfälligkeit. 2. Recht und Religion, Vernunft und Glaube: Es ist der Staat, der Religion und Recht zueinander in Beziehung setzt. 52 Vermittelt der moderne Verfassungsstaat in der Tradition der Aufklärung diese Rechtsbeziehung, so löst er sie ___________ 49 Story, J., II Commentaries on the Constitution of the United States 627–634, 5. Aufl. 1891. Zum Verständniswandel des „First Amendment“ in der Rechtsprechung des Supreme Court Fleischer, H., Von Krippen, Kreuzen und Schulgebeten: Negative Religionsfreiheit und staatliche Neutralität im Spiegel der amerikanischen Rechtsprechung, in: JZ 1995, S. 1005 ff. 50 Dazu unten Fn. 55. 51 So programmatisch die Präambel und Art. 2 (Ziele der Union), 4. Spiegelstrich des Vertrages über die Europäische Union. 52 Mückl, S., Religions- und Weltanschauungsfreiheit im Europarecht, in: Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Bd. 24, 2006, S. 1.

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nicht nur aus dem gottesstaatlichen Anspruch einer absoluten, alle Lebensbereiche durchdringenden Wahrheit, sondern kontextualisiert sie mit seinem Hauptanliegen vernünftiger Herrschaftsorganisation. Vor allem die Menschenrechte sind in ihrer Formulierung, in ihrer Begründung, in ihrem Sinnanspruch Produkte der Aufklärung und damit einer Geistesströmung, die einen umfassenden Säkularisierungsprozess aller Lebensbereiche bedingte. 53 Dieses emanzipatorisch-vernunftorientierte Denken westlicher Provenienz ist anderen Kulturen mitunter schwer vermittelbar. 54 Vermittlungsprobleme ergeben sich umso mehr, wenn die Vernunft gleichsam dialektisch gegen den Glauben in Stellung gebracht oder die Überlegenheit einer vermeintlich „vernünftigeren“ Religion behauptet wird. Die viel kritisierte Regensburger Universitätsrede von Papst Benedikt XVI. mit ihrem unglücklichen Zitat zur Gewaltbereitschaft des Islam 55 enthält an anderer Stelle ein entscheidendes Vermittlungsangebot: „Nur so werden wir zum wirklichen Dialog der Kulturen und Religionen fähig, dessen wir so dringend bedürfen. In der westlichen Welt herrscht weithin die Meinung, allein die positivistische Vernunft und die ihr zugehörigen Formen der Philosophie seien universal. Aber von den tief religiösen Kulturen der Welt wird gerade dieser Ausschluss des Göttlichen aus der Universalität der Vernunft als Verstoß gegen ihre innersten Überzeugungen angesehen. Eine Vernunft, die dem Göttlichen gegenüber taub ist und Religion in den Bereich des Subkulturellen abdrängt, ist unfähig zum Dialog der Kulturen.“ 56

3. Die kulturprägende Rolle der vorherrschenden Religion: Mit dem Zitat aus der Papstrede ist auch der Bogen von der Religion zur Kultur und damit zur kulturprägenden wie kulturgeprägten Rolle der Religionsfreiheit gespannt. ___________ 53 Klaff, R., Das Menschenrechtsverständnis in der Tradition der Aufklärung, in: May, H. (Hrsg.), Menschenrechte zwischen Universalisierungsanspruch und kultureller Kontextualisierung. Loccumer Protokolle, 1993, S. 30; Böckenförde, E.-W., Die Entstehung des modernen Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 1991, S. 92 ff. 54 Pollis, A. / Schwab, P., Human Rights: A Western Construct with Limited Applicability, in: dies. (Hrsg.), Human Rights: Cultural and Ideological Perspectives, S. 1 ff., (1); Bujo, B., Afrikanische Anfrage an das europäische Menschenrechtsdenken, in: Hoffmann, J. (Hrsg.), Begründung von Menschenrechten aus der Sicht unterschiedlicher Kulturen. Bd. 1 des Symposiums: Das eine Menschenrecht für alle und die vielen Lebensformen, 1991, S. 212; Höffe, O., Vernunft und Recht. Bausteine zu einem interkulturellen Rechtsdiskurs, 1996. 55 In Reaktion dazu etwa Ammann, L., Auf den Koran berufen sich alle. Liberale und konservative Vordenker der Weltreligion predigen Reformen. Eine Hinwendung zum Westen, weg vom Islam, wollen sie nicht, in: Stuttgarter Zeitung vom 07.10.2006, S. 49. 56 Glaube, Vernunft und Universität – Erinnerungen und Reflexionen, Vorlesung des Heiligen Vaters an der Universität Regensburg (12.09.2006), in: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 174, 2006, S. 72 ff., 83. Zur Frage, ob und inwieweit Vernunft und Glaube Antagonismen sind, siehe auch Habermas, J. / Ratzinger, J. (Benedictus XVI, Papa), Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion, 2. Aufl. 2005.

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Dass die Religionsfreiheit den anderen Menschenrechten zeitlich wie inhaltlich vorgehe, ist indes keine taugliche Ausgangsthese. G. Jellinek hatte sie zwar noch als „Urfreiheit“ apostrophiert 57 und ganz ähnlich sah E. Troeltsch in ihr das Ursprungsrecht der Rechtserklärungen, das die anderen Rechte, insbesondere auf Leben, Freiheit und Eigentum erst ermöglicht habe. 58 Die neuere Forschung konnte solche Thesen klar widerlegen. So wichtig die Religionsfreiheit im Rahmen der frühen Menschenrechtserklärungen bleibt, stehen doch Leben, Freiheit, Eigentum, Rechtssicherheit, Freizügigkeit, freie Meinungsäußerung an erster Stelle. 59 Für die konfessionell geschlossen, weithin intoleranten Neuenglandstaaten waren sie verfassungsprägendes Leitmotiv. In seiner pointierten Analyse warnt H. Maier zu Recht davor, aus diesem Umstand „hochmütig oder triumphierend auf das Vorwiegen materieller Faktoren vor den geistigen in der Entstehung der Menschenrechte-Erklärungen“ zu schließen; vielmehr sei kritisch zu fragen, „inwieweit Jellineks Theorie nicht in deutsch-idealistischer Spiritualisierung die Einbettung des Religiösen in die konkreten Lebensverhältnisse übersehen habe.“ 60 Mit dem Hinweis auf die „Einbettung“ ist das entscheidende Stichwort gefallen. Auch der säkulare Verfassungsstaat muss sich der alltagsbestimmenden, kulturprägenden Rolle der Mehrheitsreligion (oder der mehrheitlichen Religionsferne) bewusst sein, nicht im Sinne einer Leitkultur, wohl aber im Sinne kulturell gestifteter bzw. vermittelter Leitwerte. 61 Sie werden bewusst oder unbewusst rezipiert. Auch wo sie auf Ablehnung stoßen, geben sie doch Maßstäbe vor, die im Prozess politischer Einheitsbildung zu fruchtbaren Reibungen führen, aber auch desintegrierend wirken können. Der Verfassung kommt deshalb eine Steuerungs- und Integrationsfunktion mit dreifacher Stoßrichtung zu. Sie darf einerseits das religiöse Moment, insbesondere die Wahrnehmbarkeit der Mehrheitsreligion, nicht völlig aus dem öffentlichen Raum verdrängen und sich so kulturblinder Neutralität verschreiben. Der religiös und weltanschaulich neutrale Verfassungsstaat erträgt daher sehr wohl Gottesbezüge in seinen Prä___________ 57

Jellinek, G., Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, 3. Aufl. 1919, S. 42. Zur Diskussion Maier, H., Wie universal sind die Menschenrechte?, 1997, S. 82 f.; aus der älteren Literatur Schnur, R. (Hrsg.), Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, 1964; Oestreich, G., Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriss, 1968; Ermacora, F., Menschenrechte in der sich wandelnden Welt, Bd. 1: Historische Entwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, 1974; Schwartz, B., The Great Rights of Mankind. A History of the American Bill of Rights, 1977. 59 Maier (Fn. 58), S. 83; Campenhausen, A. v., Religionsfreiheit, in: Isensee, J. / Kirchhof, P. (Hrsg.), HStR, Bd. IV, § 136, Rn. 5. 60 Maier (Fn. 58), S. 84. 61 Siehe in diesem Zusammenhang Schwartländer, J. (Hrsg.), Modernes Freiheitsethos und christlicher Glaube. Beiträge zur Bestimmung der Menschenrechte, 1987; Wolfinger, F., Die Religionen und die Menschenrechte, 2000. 58

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ambeltexten. 62 Die Verfassung muss andererseits die Voraussetzungen zur gleichberechtigten Integration der Minderheitenreligionen schaffen.63 Sie muss drittens die Wertvorstellungen derjenigen, die keinem religiösen Glauben angehören, gleichgewichtig einbinden. Einer der eindrucksvollsten Texte zu diesem anspruchsvollen Integrationsprofil gelingt der Präambel der polnischen Verfassung: „beschließen wir, das Polnische Volk – alle Staatsbürger der Republik, sowohl diejenigen, die an Gott als die Quelle der Wahrheit, Gerechtigkeit, des Guten und des Schönen glauben, als auch diejenigen, die diesen Glauben nicht teilen, sondern diese universellen Werte aus anderen Quellen ableiten (…)“. 64 Mit der Integrationsleistung der Verfassung sind wechselseitige Zumutungen verbunden: für den Atheisten, der im öffentlichen Raum religiösen Symbolen begegnet; für den jüdischen Mitbürger, dessen Arbeitsrhythmus Sonntage und christliche Feiertage prägen; für den muslimischen Mitbürger ein Maß an öffentlich gelebter (sexueller) Freizügigkeit, die seinen strengen Glaubensregeln widerspricht. Weder kann noch will die Verfassung solche Zumutungen neutralisieren, sie kann sie nur rechtlich bändigen; das erlaubte Maß dessen festlegen, was der andere ertragen muss, damit das politische Zusammenleben für alle erträglich bleibt. Wo die Bereitschaft zur Gewalt beginnt, sind die Grenzen des Erträglichen überschritten (folgend 4). Wo die Religion auf mitun___________ 62 Aus rechtswissenschaftlicher Sicht: Häberle, P., „Gott“ im Verfassungsstaat, in: ders., Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 213 ff.; ders., Europäische Verfassungslehre, 4. Aufl. 2006, S. 16 ff.; aus theologischer Sicht Fitschen, K., Gott in der Verfassung: Die europäische Grundrechtecharta und die deutsche Verfassungstradition, in: Deutsches Pfarrerblatt 101, 2001, S. 115 ff. 63 Minderheitenreligionen bestimmen ihrerseits das Alltagsleben und die Alltagskultur in einer politischen Gemeinschaft mit, vgl. etwa Lemmen, Th. / Miehl, M., Islamisches Alltagsleben in Deutschland, herausgegeben vom Wirtschafts- und sozialpolitischen Forschungs- und Beratungszentrum der Friedrich-Ebert-Stiftung, Abteilung Arbeit und Sozialpolitik, 2. Aufl. 2001. Nicht hinnehmbar ist gewiss, wenn Konvertierungen wie im Falle Abdul Rahman (Übertritt vom Islam zum Katholizismus) mit der Todesstrafe bedroht sind. Dazu siehe etwa FAZ vom 23.03.2006, S. 1 und 2: „Afghanistan weist Kritik im Fall Rahman zurück“; SZ vom 22.03.2006, S. 1: „Tolerant wie die Taliban: Empörung über drohende Todesstrafe für einen Christen in Kabul“; SZ vom 29.03.2006, S. 4: „Das afghanische Rätsel. Der Katholik Rahman ist frei, aber der Westen bleibt gefangen in seiner unschlüssigen Politik.“ Kritik an solch einer menschenrechtswidrigen Politik kann nicht als Einmischung in die inneren Angelegenheiten verstanden werden. Zu diesem Problemkreis wiederum aus tagesaktuellen Publikationen Malzahn, Ch., Die Freiheit des Abdul Rahman, http://www.spiegel.de/politik/ausland/ 0,1518,407254,00.html (22.03.2006); ebenfalls in „Spiegel online“ vom selben Tag heißt es: „Kabul verärgert über Kritik an Prozess gegen Christen“, http://www.spiegel. de/politik/ausland/0,1518,407214,00.html. 64 Zitiert nach Kimmel, A. / Kimmel, Ch. (Hrsg.), Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten, 6. Aufl. 2005.

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ter polemische Kritik stößt, ist diese Zumutung im Freiheitsinteresse der anderen zu ertragen (folgend 5). 4. Gewaltbereitschaft von Religionen: Bereits die obige Bestandsaufnahme zur Rolle der Religionsfreiheit in der Völkerrechtsgeschichte belegt, dass mit der Absage an direkte zwischenstaatliche Gewalt aus religiösen Gründen ein früher universeller Anspruch des Völkerrechts formuliert wurde. Diese strikte, heute durch das universelle Gewaltverbot aus Art. 2 Nr. 4 UN-Charta zu ius cogens erstarkte Absage, ist Bedingung des äußeren Friedens. Sie steht auf umso gefestigterem Boden, wenn auch der innere Friede vom gewaltfreien Miteinander der Religionen und Religionsgemeinschaften lebt. 65 Damit formuliert das Völkerrecht letztlich einen Gestaltungsauftrag an das je nationale (Verfassungs-)Recht, Rahmenbedingungen für den inneren Religionsfrieden zu schaffen. Wechselseitige Schuldzuweisungen der Weltreligionen sind dafür wenig hilfreich. Die Inanspruchnahme von Religion als Legitimationsmuster zur Gewaltausübung war allen drei großen Buchreligionen gewiss nicht fremd, die Sehsucht nach transzendenter Rechtfertigung eines gerechten Krieges „bellum iustum“ 66 allen eigen. In der Kritik an der Regensburger Universitätsrede von Papst Benedikt XVI. wird deutlich, wie wenig sich das Christum hier höhere Vernunft, bessere Einsicht oder einen Toleranzvorsprung zu Gute halten darf: „Und außerdem verhielt sich die Kirche genau so, wie der Papst es Mohammed zuschreibt: Sie hat die Toleranz erst entdeckt, als ihr Militär und Polizei nicht mehr zur Verfügung standen.“ 67 5. Religionskritik: Das Spannungsverhältnis zwischen Religionsfreiheit auf der einen, Meinungs-, 68 Presse- und Kunstfreiheit auf der anderen Seite gehört ___________ 65 Der freilich ist vielfachen religiös motivierten oder mitmotivierten Gefährdungen ausgesetzt. Verwiesen werden muss hier aus der jüngeren Vergangenheit auf die Ermordung des vom Linken zum Rechten gewandelten Politikers Pim Fortuyn (2002) oder des Kolumnisten Theo van Gogh in den Niederlanden (02.11.2004), siehe Moor, M. de, Der Mythos von der ermordeten Unschuld. Über Theo van Gogh und Pim Fortuyn, die Toleranz in den Niederlanden und die Muslime in Europa, in: SZ vom 30.03.2006, S. 17. 66 Zu der auf Cicero zurückgehenden, im christlichen Mittelalter von Augustinus und Thomas v. Aquin maßgeblich bestimmten Lehre vom „bellum iustum“, vom gerechten Krieg, siehe Blumenwitz, D., Souveränität – Gewaltverbot – Menschenrechte, in: Politische Studien, Sonderheft 4/1999, S. 19 ff., 21. Aus der älteren Literatur siehe Schwarzenberger, G., The Frontiers of International Law, 1962, S. 236 ff. Für die evangelische Theologie Fitschen, K., Gerechter Krieg? Stellungnahmen zur Anwendung militärischer Gewalt in der Geschichte des Christentums, in: Ratzmann, W. (Hrsg.), Religion – Christentum – Gewalt. Einblicke und Perspektiven, 2004, S. 99 ff. 67 Flasch, K., Von Kirchenvätern und anderen Fundamentalisten, in: SZ vom 17.10. 2006, S. 11. 68 Blumenwitz, D., Die Meinungs- und Informationsfreiheit nach Art. 19 des internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte, in: Nowak, M. / Steuer, D. / Tretter, H. (Hrsg.), Fortschritt im Bewusstsein der Grund- und Menschenrechte. Festschrift für Felix Ermacora, 1988, S. 67 ff.

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zur typusprägenden Dialektik verfassungsstaatlicher Freiheit. Vor allem der jüngste Streit um die am 30. September 2005 in der dänischen Zeitung „Jyllands Posten“ veröffentlichten Mohammed-Karikaturen hat die weltpolitische Dimension des Themas unter Beweis gestellt. Besonders provokant auf muslimische Gläubige musste eine Darstellung des Propheten mit einer Bombe und brennender Zündschnur im Turban wirken – eine gewiss plakative, vielleicht wenig geschmackssichere, aber im freiheitlichen Verfassungsstaat grundsätzlich erlaubte Kritik am gewaltbereiten islamistischen Fundamentalismus. Im Dezember 2005 jedoch verurteilten die Arabische Liga und der Islamische Weltkongress die Karikaturen und forderten eine Bestrafung der Karikaturisten. 69 Weitere Eskalationen blieben nicht aus. Es kam nicht nur zu Boykottaufrufen, 70 sondern auch zu Gewalttätigkeiten bei Demonstrationen, zur Besetzung von Botschaften, zu Brandstiftung in Ländern wie Pakistan, Indonesien oder Syrien. 71 Sogar Todesopfer, z. B. bei Ausschreitungen zwischen Christen und Muslimen in Nigeria, waren zu beklagen. Durch derlei Vorkommnisse sensibilisiert, wurden im Herbst 2006 an der Deutschen Oper Berlin nach Sicherheitswarnungen mehrere Aufführungen der Mozart-Oper „Idomeneo“ in der Inszenierung von H. Neuenfels vom Spielplan genommen. 72 Grund war, dass eine Szene den Kreterkönig zeigt, wie er die abgeschlagenen Köpfe der drei Religionsstifter Jesus, Mohammed und Buddha sowie des griechischen Meeresgottes Poseidon präsentiert. 73 Diese freiwillige ___________ 69 Born, H., in: Die Welt vom 13.01.2006; Focus, Heft 8/2006, S. 156 f.: „Wir sind die Verlierer. Zwei moderate Imame erklären, warum die große Mehrheit der dänischen Muslime zu Opfern weniger Scharfmacher wurden“; Focus, Heft 9/2006, S. 160 ff.: „Wir bringen Euch alle um! Islamisten nutzen den Karikaturen-Streit für Gewalt gegen Christen. Auch Verbündete des Westens dulden antichristliche Umtriebe“; Der Spiegel, Heft 7/2006, S. 94 ff.: „Hetzer und Gehetzte“; Der Spiegel, Heft 6/2006, S. 88: „Tage des Zorns“. 70 Gatermann, R., „Verschärfte Konflikte um Mohammed-Karikatur. Todesdrohungen, Boykottaufrufe. – Unter dem Druck muslimischer Proteste sucht Premier Rasmussen nach einem Ausweg, http://www.welt.de/data/2006/02/01 /839460.html (20.03. 2003). 71 Nach Angaben des Magazins Focus vom 13.02.2006 kam es zu Protestkundgebungen in mehr als 30 Staaten, darunter: Afghanistan, Ägypten, Algerien, Bahrain, Bangladesch, Bosnien-Herzegowina, Indonesien, Indien, Irak, Iran, Jemen, Jordanien, Kenia, Kuwait, Libanon, Malaysia, Marokko, Niger, Nigeria, Pakistan, Palästina (palästinensische Gebiete), Philippinen, Saudi-Arabien, Somalia, Sri Lanka, Südafrika, Syrien, Thailand, Tunesien, Türkei, Vereinigte Arabische Emirate. 72 Ab 18.12.2006 steht die Inszenierung wieder auf dem Programm. Bundesinnenminister Schäuble hat die Teilnehmer der Islam-Konferenz zur Wiederaufnahme der Aufführung eingeladen, stieß aber weitgehend auf Ablehnung. 73 Aus der Tagespresse etwa SZ vom 27.09.2006, S. 2 („Der geköpfte Prophet“, die „Selbstzensur an der Deutschen Oper“ als „Thema des Tages“); einen Tag später schafft es das Ereignis sogar auf die Titelseite der SZ (28.09.2006): „Weltweite Kritik an Opern-Absetzung. Politiker sehen Freiheit der Kunst in Gefahr“.

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Selbstzensur wiederum stieß weltweit auf heftige Kritik, eine Bankrotterklärung der Kunstfreiheit wurde vielfach befürchtet. Aber auch im christlichen Kontext sind mitunter radikale Gegenreaktionen auf polemische Religionskritik nicht unbekannt. Zu denken ist etwa an den mittlerweile zum Klassiker avancierten Monty-Python-Film „Das Leben des Brian“, neuerdings die ComicSerie „Popetown“. 74 Nicht zuletzt die Werbung persifliert christliche Motive, so etwa eine Weißblechanzeige aus dem Heft Titanic 12/1986: „Weißblechdosen sind jesusmäßig umweltfreundlich“. Viel stärker noch provoziert eine französische Modewerbung nach Leonardo da Vincis Abendmahl, die statt der Jünger Jesu Frauen in der Kleidung des Designers zeigt 75 und so aus Sicht des gläubigen Christen ein zentrales Glaubensgeheimnis in unerträglicher Weise banalisiert.

IV. Verfassungsstaatliche Reaktionen auf religiöse Kontroversen, globale Perspektiven für den religiös neutralen Verfassungsstaat Wie nun reagieren der Verfassungsstaat und die ihn tragende Zivilgesellschaft auf diese Formen von Religionskritik und ihre – vor Ort wie im Weltmaßstab – destabilisierende Wirkung? Mit Verunsicherung, freiheitsrelativierender Selbstzensur? Für den Gläubigen gleich welcher Religion mag es ein „Zynismus“ sein, wenn eine Rechtsordnung „die Verspottung des Heiligen als Freiheitsrecht ansieht.“ 76 Für den Verfassungsstaat ist es indes kein Zynismus, sondern ein Testfall seiner Freiheitsfähigkeit. Dieser Freiheitsfähigkeit muss er sich immer neu vergewissern, gleich ob er um Gottesbezüge in seinen konstitutionellen Texten oder um die grundrechtliche Ausbalancierung seiner Freiheitszumutungen ringt. 77 So misst sich auch die religiöse Neutralität des Staates ___________ 74 Krönig, J., Streitsache Jesus, http://www.zeit.de/online/2006/16/Popetown (11.04. 2007). 75 Foto in: Der Spiegel, Heft 6/2006, S. 91. 76 Predigt des Heiligen Vaters vom 10.09.2006, in: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 174, 2006, S. 36 ff., 41, siehe auch SZ vom 11.09.2006, S. 1. Ein nachdrückliches Bekenntnis zur Freiheit der Kunst legt Schirin Ebadi, iranische Menschenrechtsaktivistin und Friedensnobelpreisträgerin 2006, ab, dazu SZ vom 28.09. 2006, S. 5. 77 Paralleles gilt auch für die Zuordnung von Freiheit und Sicherheit, siehe Denninger, E., Der Präventions-Staat, in: KJ 21 (1988), S. 1 ff.; ders., Vom Rechtsstaat zum Präventionsstaat, in: Adolf-Arndt-Kreis (Hrsg.), Sicherheit durch Recht in Zeiten der Globalisierung, 2003, S. 9 ff. Die maßgebliche Argumentationsregel für Zuordnung von Freiheit und Sicherheit beinhalten die Grundrechte. Begründungsbedürftig ist nicht die Freiheit, sondern der Eingriff in die Freiheit, so mit überzeugender Deutlichkeit Gusy, Ch., Gewährleistung von Sicherheit und Freiheit im Lichte unterschiedlicher Staats- und Verfassungsverständnisse, in: VVDStRL 63 (2004), S. 151 ff., 181; allgemein auch

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nicht an der formalen, sondern der „grundrechtlich auszubalancierenden Zuordnung“ von Staat und Religionsgemeinschaften einerseits, von einander diametral entgegengesetzten Freiheitsinteressen im Bürger-Bürger-Verhältnis andererseits. 78 Gelingende religiöse Neutralität hängt also von der grund- bzw. menschenrechtlichen Ausgestaltung des Religionsverfassungsrechts 79 ab. Kulturell partikuläre Ausgestaltungsformen stehen dem universellen Ideal des religiös neutralen Staates deshalb nicht entgegen, wenn sie ihrerseits universellen Menschenrechtsstandards hinreichend Rechnung tragen. In der französischen Tradition des Laizismus 80 gilt Religion als Privatsache des Einzelnen und ist ganz auf individuelle, private Entfaltung hin angelegt. Aber in der jüngeren Rechtsprechung des Conseil d’Etat will eine „offene“, „tolerante“ oder „integrierende“ Laizität das strikte Trennungssystem allmählich für religiöse Überzeugungen öffnen. 81 Der US-Supreme Court hat die durch das Erste Amendment der US-Bundesverfassung vermeintlich gezogene „wall of separation“ in seiner Rechtsprechung spätestens seit den 70er Jahren eingerissen. 82 Der türkische Kemalismus wäre auf ähnliche Tendenzen hin zu befragen. Das deutsche Modell der „hinkenden Trennung“, das den Körperschaftsstatus der Religionsgemeinschaften anerkennt und in besonderer Weise deren Gemeinwohl- und Öffentlichkeitsauftrag betont, steht seit jeher für eine offene, „respektierende“, „fördernde Neutralität“. 83 Das universelle Projekt des ___________ Cornils, M., Die Ausgestaltung der Grundrechte. – Untersuchungen zur Grundrechtsbindung des Ausgestaltungsgesetzgebers, 2005. Allerdings darf angesichts globaler Bedrohungspotenziale auch die Subjektivierung des Sicherheitsaspekts im Sicherheitsgefühl nicht unterschätzt werden. Da die Akzeptanz politischer Einheit im Wesentlichen auch von der emotionalen Seite abhängt, ist das Sicherheitsgefühl wichtig für Bereitschaft zur politischen Einheit, Gusy, a. a. O., S. 159 f. Das gilt in hohem Maße für die teils rationalen, teils irrationalen Ängste vor religiös motiviertem Terror und die ebenso teils rationale, teils irrationale Sehnsucht, im sicheren Gehege des umfassenden Präventionsstaates solchen Gefahren zu entkommen. 78 Walter, Ch., Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht?, in: Grote / Marauhn (Fn. 11), S. 215 ff., 236. 79 Häberle, P., Staatskirchenrecht als Religionsrecht der verfassten Gesellschaft, in: DÖV 1976, S. 73 ff.; ders., Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 961 ff.; Walter (Fn. 78), S. 215 ff.; Kupke, A., Die Entwicklung des deutschen „Religionsverfassungsrechts“ nach der Wiedervereinigung, insbesondere in den Neuen Bundesländern, 2004. 80 Robbers, G., Religionsfreiheit in Europa, in: Isensee / Rees / Rüfner (Fn. 36), S. 201 ff., 202. 81 Detaillierte Nachweise bei Walter (Fn. 78), S. 215 ff., 223. 82 „Leading Case“ ist die Entscheidung Lemon v. Kurtzman, 403 U.S. 602 (614); siehe auch Heun, W., Trennung von Staat und Kirche in den Vereinigten Staaten von Amerika, in: Kästner, K.-H. (Hrsg.), Festschrift für Martin Heckel, 1999, S. 341 ff. 83 So heißt es in BVerfGE 109, 322 (325 ff.): „Die dem Staat gebotene religiösweltanschauliche Neutralität ist indes nicht als eine distanzierende im Sinne einer strikten Trennung von Staat und Kirche, sondern als eine offene und übergreifende, die

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religiös neutralen Staates redet damit nicht einem unreflektierten Säkularismus das Wort. Ziel ist vielmehr jene oben angesprochene „ausbalancierende Zuordnung“ bzw. „praktische Konkordanz“ (K. Hesse) religiöser und anderer (gegenläufiger) Freiheitsrechte. Damit verbunden ist eine entschiedene Warnung vor einer Gleichgültigkeit des Verfassungsstaates gegenüber dem Religiösen. Kulturblinde Neutralität wäre die unerwünschte Folge. Gewarnt sei auch vor lediglich semantischen Reaktionen auf mögliche religiöse Konflikte, die bisweilen unter dem Schlagwort der „political correctness“ ihre inhaltsleere Formelhaftigkeit zum identitätsprägenden Attribut säkularer Staatlichkeit stilisieren. So müssen sich nicht alle Weihnachtswünsche von regierungsöffentlicher Seite zu „seasons greetings“ wandeln, um die notwendige Distanz von Staat und Religion zu dokumentieren. Eine ganz andere semantische Stoßrichtung hat die prekäre Begriffsbildung des islamischen Fundamentalismus. Sie ist zwar durchaus taugliche Umschreibung für ein gefährliches politisches Phänomen – wurde als solche im vorliegenden Beitrag auch gebraucht –, wer sie verwendet, muss sich aber der damit wiederum verbundenen Gefahren semantischer Verkürzung bewusst sein: einer pauschalen Verdächtigung des Islam ohne nationale, kulturelle, regionale, theologische Differenzierungen; einer Wahrnehmung des Islam als etwas gar nicht mehr Religiösem, sondern als politische und soziale Bewegung gegen die freiheitliche Werteordnung, vor allem aber gegen die ökonomische, politische, kulturelle Dominanz des Westens. 84 Solche Momente der Verunsicherung belegen, dass auch der freiheitliche Verfassungsstaat nicht selbstverständlich immer jenes offene forum publicum interreligiösen Diskurses bereithält, 85 für den sein Menschrechtsuniversalismus doch letztlich steht. Auch für ihn bleibt die religiöse Neutralität, im obigen Sinne verstanden als „Grundrechtsbalance“ von religiöser Freiheit und anderen Freiheiten, ein beständiges Projekt, Ausdruck beständiger Reformbedürfnis-

___________ Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung zu verstehen.“ Vgl. vorher schon BVerfGE 41, 29 (49); 93, 1 (16); siehe auch Wilms, H., Glaubensgemeinschaften als Körperschaft des öffentlichen Rechts, in: NJW 2003, S. 1083 ff. 84 Kandel, J., Islam und Muslime in Deutschland, Internationale Politik und Gesellschaft Online/International Politics and Society, 1/2002, http://fesportal.fes.de/pls/ portal30/docs/FOLDER/IPG/IPG1_2002/ARTKANDEL.HTM (17.04.2007), S. 1. 85 Eindringlich vor einem bloß taktischen Diskurs warnt die Islamkritikerin Ayaan Hirsi Ali in einem Interview mit der FAZ vom 04.10.2006, S. 39 („Die schleichende Scharia“). Ebenso fordert W. Lepenies, Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels 2006, in der Stuttgarter Zeitung vom 07.10.2006, das säkulare Europa dürfe sich in der grundsätzlichen Wertedebatte mit dem Islam nicht verstecken: „Es ist eine Herausforderung für uns, unsere eigenen Werte nicht defensiv, sondern mit offensiver Lust zu verteidigen.“

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se. 86 Wenn er die Attraktivität dieses Projekts – selbstkritisch und selbstbewusst zugleich – auf globaler Ebene vermitteln kann, hat es eine Universalisierungschance. Die wird umso drängender, weil zwar die territorialen Konflikte des 20. Jahrhunderts verblassen und der „Kalte Krieg“ um die Vorherrschaft säkularer politischer Ideologien ausgekämpft scheint, das Konfliktpotential damit aber längst noch nicht ausgeräumt ist, sondern in gewandelter Form zurückkehrt. Heute bestimmen religiöse und kulturelle Konflikte die Sicherheitslage, mehr noch das Sicherheitsgefühl. 87 Allzu schnell schlägt die Angst vor religiös motivierter Gewalt um in Angst vor anderen (fremden) Religionen generell. Doch Angst kann genauso wenig wie missionarisches Sendungsbewusstsein 88 der Grundrechtsbalance den Maßstab vorgeben oder als Abwägungskriterium im Widerstreit von Religions-, Meinungs- und Kunstfreiheit dienen. Bei dieser schlichten Erkenntnis hat das „universelle Projekt“ des religiös neutralen Verfassungsstaates anzusetzen. Hier liegt die Chance zu seiner Universalisierung, die letztlich Menschenrechtsuniversalität89 voraussetzt. Mag auch die historische Genese der Menschenrechte in hohem Maße mit westlichem Gedankengut, vor allem mit den demokratischen Revolutionen des ausgehenden 18. Jahrhunderts in Amerika und Frankreich, verbunden sein, so besteht dennoch keine ausschließliche Verknüpfung mit westlichen Traditionen. Die Universalität der Menschenrechte gründet vielmehr in elementaren Unrechtserfahrungen und Gefährdungen des Individuums, die allen Menschen, die der gesamten Menschheit ohne Rücksicht auf kulturelle, wirtschaftliche und politische Besonderheiten gemeinsam sind. 90 Auch das „Leben in wechselseiti___________ 86

Ihnen ist z. B. durch integrationspolitische Maßnahmen Rechnung zu tragen, so u. a. die Islamkonferenz in Deutschland (Auftakt Sept. 2006), dazu SZ vom 28.09.2006, S. 5. 87 Kornelius, S., Angst vor dem Islam, in: SZ vom 28.09.2006, S. 4; dort auch die mehr als plastische Formulierung: „Fanatismus und Terror gewinnen, wenn differenzierte Argumente keinen Platz mehr haben und die Bilder des Mittelalters oder selbst Voltaires in den Köpfen flimmern. Das ist nicht die Tat von Terroristen. Das tut der aufgeklärte, aber ängstliche Mensch sich selbst an.“ 88 Auf einem ganz anderen Blatt steht freilich, wenn Religionsgemeinschaften ihre Freiheit auch durch Missionstätigkeit leben. Zu verbotenem Proselytismus und Missionstätigkeit für christliche Gemeinschaften in Griechenland siehe die Entscheidungen des EGMR Kokkinakis gegen Griechenland, Urteil des Gerichtshofs vom 25.05.1993, RUDH 1993, S. 251 ff.; Larissis u. a. gegen Griechenland, Urteil des Gerichtshofs vom 24.02.1998, Reports 1998-I, S. 362 ff. 89 Kühnhardt, L., Die Universalität der Menschenrechte, 2. Aufl. 1991, S. 231 ff.; Bielefeldt, H., Universale Menschenrechte angesichts der Pluralität der Kulturen, in: Reuter, H.-R. (Hrsg.), Ethik der Menschenrechte. Zum Streit um die Universalität einer Idee I, 1999, S. 43 ff. 90 Bielefeldt, H., Menschenrechte und Menschenrechtsverständnis im Islam, in: EuGRZ 1989, S. 489 ff., 491; Brugger, W., Stufen der Begründung von Menschenrechten, in: Der Staat, Bd. 31 (1992), S. 19 ff., 21; Huber, W., Die tägliche Gewalt. Gegen

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ger Angst“ gehört zu diesen Gefährdungen. Das Themenfeld der globalen Debatte und das universelle Kernthema sind damit vorgegeben. Ihre Zielperspektive ebenfalls: das „Leben in wechselseitiger Angst“ darf nicht zur „raison d’État“, gar „raison d’être“ des weltweiten Projekts freiheitlicher Verfassungsstaatlichkeit werden.

V. Schlussbemerkung Wer den religiös neutralen Verfassungsstaat zum universellen Projekt erhebt, findet in den Schriften von Dieter Blumenwitz gedankenreiche Anregung, kritische Begleitung und entschlossene Warnung vor allzu idealistischen Blütenträumen. Er findet, weiter gehend und zugleich tiefer gründend, das vorbehaltlose Bekenntnis zur Freiheitlichkeit – für eine den Menschen als solchen, losgelöst von seinen kulturellen und geschichtlichen Bindungen in ihren Mittelpunkt rückende Völkerrechtswissenschaft sollte es Erkenntnis leitend wirken.91 Er findet sicheres Gespür für Innovation, das Veränderungsnotwendigkeiten im ganz positiven Sinne konservativ mit dem kontrastiert, was es im Wandel zu bewahren gilt.92 Gerade letzteres Gespür tut der globalen Debatte über Chancen und Grenzen der Freiheit, über Friedensstiftung und Friedenswahrung gut.93 Die Völkerrechtswissenschaft ermutigt es zur Innovationsfreunde, es ermahnt sie zugleich zu „bewahrender“ Vorsicht, kurz gesagt: Es wird ihr zum Vermächtnis.

___________ den Ausverkauf der Menschenwürde, 1993, S. 7 ff.; Hofmann, H., Geschichtlichkeit und Universalitätsanspruch des Rechtsstaates, in: Der Staat, Bd. 34 (1995), S. 1 ff., 27 („Universalismus aus gemeinsamer Erfahrung“). 91 Zitiert seien hier nur einige der menschenrechtlichen Arbeiten von Blumenwitz, D.: Die Liechtenstein-Entscheidung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, in: AVR 40 (2002), S. 215ff.; Die Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten zur Todesstrafe, in: EuGRZ 1976, S. 418 ff.; zusammen mit Zieger, G., Menschenrechte und wirtschaftliche Gegenleistung, 1987; zusammen mit Mangoldt, H. v., Menschenrechtsverpflichtungen und ihre Verwirklichung im Alltag – Auswirkungen für die Deutschen, Staats- und Völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Völkerrecht, Bd. 9, 1990. 92 Das findet nicht nur in der konzeptionellen Anlage vieler Beiträge Widerklang, sondern auch im programmatischen Zugriff bei der Herausgebertätigkeit, siehe etwa Blumenwitz, D. / Wehner, G. (Hrsg.), Schritte in eine neue Rechtsordnung. Die aktuelle Entwicklung des Völker- und Europarechts mit ihren historischen Bezügen, 2003. 93 Blumenwitz, D., Die Vereinten Nationen als Friedensstifter und Friedenswahrer, in: BayVBl. 1995, S. 705 ff.

Der neue religiöse Fundamentalismus als Gefährdung der Menschenrechte Eine Problemskizze Eric Hilgendorf Dieter Blumenwitz verband, was für einen Juristen nicht selbstverständlich ist, hohe juristische Fachkompetenz mit einem regen Gespür für die politischen und kulturellen Faktoren, ohne deren Berücksichtigung das „law in action“ nicht verstanden werden kann. Wer politisch denkt, muss gelegentlich über bloße Dogmatik hinausgehen und die Realbedingungen des Rechts und die seine Entwicklung beeinflussenden empirischen Faktoren in den Blick nehmen. Es erscheint deshalb nicht unangemessen, in einem dem Andenken von Dieter Blumenwitz gewidmeten Band auf eine Entwicklung aufmerksam zu machen, die man als die größte Bedrohung für die Akzeptanz der Menschenrechte seit dem Zusammenbruch des Ostblocks bezeichnen kann: das weltweite Vordringen eines neuen religiösen Fundamentalismus. Spätestens mit dem von muslimischen Terroristen verübten Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 ist die enge Verbindung von Religion und Gewalt wieder in das öffentliche Bewusstsein getreten. 1 Wer die Situation unvoreingenommen prüft, wird feststellen müssen, dass nicht nur fanatisierte Moslems, sondern auch radikale Christen an den politisch-religiösen Konflikten unserer Zeit in einem Maß beteiligt sind, das Sorge bereiten muss. Der gegen einen hohen ausländischen Politiker gerichtete Mordaufruf des protestantischen US-Fernsehpredigers Pat Robertson nötigte selbst das Weiße Haus zu einer öffentlichen Distanzierung. 2 Der Fundamentalismus in den Hochreligionen ist auf dem Vormarsch. Sogar der Papst sah sich Ende 2006 veranlasst, vor einem Kampf der Kulturen und Religionen zu warnen. 3 Offen___________ 1 Kennzeichnend sind Buchtitel wie Maier, H., Das Doppelgesicht des Religiösen. Religion, Gewalt, Politik, 2004. Einen fundierten Überblick über das Thema „Religion und Terrorismus“ gibt Hoffmann, B., Terrorismus – der unerklärte Krieg. Neue Gefahren politischer Gewalt, Neuausgabe 2006, S. 137. 2 Neue Züricher Zeitung (NZZ) vom 25.10.2005, im Internet abrufbar unter www.nzz.ch/2005/08/25/al/articleD32QI.html. 3 Ansprache vor den Mitgliedern der römischen Kurie am 22.12.2006, vgl. FAZ vom 23.12.2006, S. 4.

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kundig stellt sich in unserer Zeit die alte Frage nach der Möglichkeit einer friedlichen Koexistenz von Religionen in neuer Schärfe. 4 Parallel zu diesen Entwicklungen ist die lange Zeit sorgsam gepflegte Vorstellung, Religion, und zumal das Christentum, sei ein unverzichtbares Fundament von Moral und Recht, zweifelhaft geworden. 5 Die Wiederkehr der Religionen hat die Akzeptanz der Menschenrechte nicht verbessert, sondern verschlechtert. Die Welt ist nicht friedlicher geworden, sondern im Gegenteil wesentlich konfliktträchtiger. Manche Beobachter gehen so weit, nicht mehr nur von einem „Zusammenprall der Kulturen“ 6 zu sprechen, sondern geradezu von einem „Krieg der Religionen“. 7 In Europa wird der Blick frei auf den religiös begründeten Judenhass, der das Christentum seit der Antike begleitet, die Kreuzzüge, die Inquisition und die Ketzerverbrennungen des Mittelalters sowie die Verwüstungen der Religionskriege in der frühen Neuzeit. 8 Die Freiheit der Wissenschaft, aber auch die modernen Menschen- und Bürgerrechte mussten über Jahrhunderte hinweg gegen den erbitterten Widerstand der Kirche erkämpft und verteidigt werden. Die Durchsetzung der aus der vorchristlichen Antike stammenden Idee der Menschenrechte 9 und ihre Umsetzung in juridische Formen verdankt die Welt der europäischen Renaissance und Aufklärung. Erst vor knapp 50 Jahren – eine in historischer Perspektive lächerlich kurze Zeitspanne – hat die römischkatholische Kirche im Zweiten Vatikanischen Konzil die Religionsfreiheit – gegen erhebliche Widerstände in den eigenen Reihen – offiziell akzeptiert. ___________ 4 Aus der unüberschaubaren Vielzahl von Publikationen vgl. nur die Beiträge in: Lehmann, H. (Hrsg.), Koexistenz und Konflikt von Religionen im vereinten Europa, 2004; Riesebrodt, M., Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der „Kampf der Kulturen“, 2. Aufl. 2001. 5 Näher dazu Hilgendorf, E., Religion, Recht und Staat. Zur Notwendigkeit einer Zähmung der Religionen durch das Recht, in: ders. (Hrsg.), Wissenschaft, Religion und Recht, 2006, S. 358, (370 ff); Streminger, G., Eine Kritik der christlichen Ethik, in: Ethik und Sozialwissenschaften (EuS) 8 (1997), S. 329. 6 Huntington, S. P., Der Kampf der Kulturen. The Clash of Civilizations. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, 1996; vgl. auch Huntington, S. P. / Harrison, L. E. (Hrsg.), Streit um Werte. Wie Kulturen den Fortschritt prägen, 2002. 7 Trimondi, V. und V., Krieg der Religionen. Politik, Glaube und Terror im Zeichen der Apokalypse, 2005; vgl. auch die oben in Fn. 3 nachgewiesene Warnung des Papstes. 8 Deschner, K., Kriminalgeschichte des Christentums (bislang 8 Bände), 1986 ff.; dagegen Seeliger, H. R., Kriminalisierung des Christentums? Karlheinz Deschners Kirchengeschichte auf dem Prüfstand, 2. Aufl. 1994. 9 Zur älteren Forschung über den Ursprung der Menschenrechte zusammenfassend Schnur, R. (Hrsg.), Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, 1964; aus jüngerer Zeit Maier, H., Wie universal sind die Menschenrechte?, 1997, S. 78; vgl. auch Pfahl-Traughber, A., Haben die modernen Menschenrechte christliche Grundlagen und Ursprünge? Kritische Reflexionen zu einem immer wieder postulierten Zusammenhang, in: humanismus aktuell 1999, S. 66.

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Man kann in diesem Kontext durchaus von einer „Zähmung“ der Religionen sprechen und sie in einen Zusammenhang mit der rechtsstaatlichen Bändigung der Staatsgewalt stellen: „Beides, die Zähmung des Staates und der Religion – anders ausgedrückt, die der politischen und der religiösen Herrschaft –, gehört zusammen. Beides geschieht mit Hilfe rechtlicher Regelungen, die für Spielräume autonomen Handelns, ungehinderten Denkens und freier Kommunikation sorgen, für Möglichkeiten der Initiative, der schöpferischen Gestaltung und der Kritik. Es handelt sich also um ein Recht, das die Freiheit zu sichern sucht, und zwar dadurch, dass es die Einzelnen und die Gruppen, zu denen sie sich verbinden, gegen willkürliche Eingriffe anderer, auch der Organe der Gemeinschaft, schützt und es ihnen ermöglicht, ihre Probleme selbständig zu lösen: durch eigenes Nachdenken, durch eigene Leistungen, durch den freien Austausch von Gütern und Leistungen aller Art; und um ein Recht, das alle Regelungen, die zu treffen sind, der Mitbestimmung der Betroffenen unterwirft.“ 10

Nicht nur der Islam, sondern auch das Christentum ist historisch schwer belastet. Im Hinblick auf die Akzeptanz der Menschenrechte besteht der Unterschied zwischen beiden Religionen möglicherweise nur darin, dass das Christentum dem rationalisierenden und humanisierenden Einfluss der Aufklärung ungleich länger und intensiver ausgesetzt war als der Islam. In Reaktion auf die neu zutage getretene Verbindung von Religion und Gewalt wird oft versucht, zwischen (guter) Religion und (gewaltbereitem und daher schlechtem) „Fundamentalismus“ zu unterscheiden. Um die Tragfähigkeit dieser Unterscheidung zu prüfen, muss zunächst Klarheit darüber gewonnen werden, was mit dem Begriff „Fundamentalismus“ bezeichnet werden soll.

I. Was heißt „Fundamentalismus“? – Begriff und Erscheinungsformen Schon der erste Blick zeigt, dass der Sprachgebrauch außerordentlich schillernd und uneinheitlich ist. Die Rede ist nicht bloß von religiösem, also z. B. islamischem, christlichem, jüdischem usw. Fundamentalismus, sondern auch von politischem Fundamentalismus, womit einerseits theokratisch geführte Regime im Nahen Osten, andererseits aber auch Gruppierungen wie die „Fundis“ in der Partei Bündnis90/Die Grünen bezeichnet wurden. Die Rede ist ferner von „kulturellem Fundamentalismus“, ja selbst von einem „heimatrechtlichen Fundamentalismus“ 11 und vom „Fundamentalismus im Rechtsdenken“. 12 ___________ 10 Albert, H., Europa und die Zähmung der Herrschaft. Der europäische Sonderweg zu einer offenen Gesellschaft, in: ders., Freiheit und Ordnung. Zwei Abhandlungen zum Problem einer offenen Gesellschaft, 1986, S. 9 (31). 11 Pfürtner, S. H., Fundamentalismus. Die Flucht ins Radikale, 1991, S. 131. 12 Pfürtner (Fn. 11), S. 153.

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1. Zur Geschichte des Begriffs „Fundamentalismus“ Um Kriterien für eine sinnvolle Begriffsverwendung zu gewinnen, ist es nahe liegend, die Entstehungsgeschichte des Ausdrucks „Fundamentalismus“ in den Blick zu nehmen. 13 Der Begriff ist relativ neu. Seit den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts fanden in den USA Bibelkonferenzen protestantischer Gruppen statt, die sich von der liberalen, historisch-kritischen Theologie europäischen Ursprungs abgrenzen wollten. Der Leitgedanke der Bewegung lautete „Zurück zu den Fundamenten!“. In den Jahren 1910 bis 1912 erschien eine Schriftenreihe „The Fundamentals: The Testimony of the Truth“ 14 , in der die Kerngedanken der Bewegung ausgearbeitet wurden. Zu ihren besonderen Charakteristika zählte schon damals die enge Verbindung von Religion und Politik, wobei vor allem die Schul- und Bildungspolitik für die christlichen Fundamentalisten eine große Rolle spielte. In diesen Zusammenhang gehört auch der berühmte „Affenprozess“ in Dayton, Tennessee, in dem es um die Bestrafung eines Schullehrers ging, der im Unterricht die Darwinsche Evolutionstheorie gelehrt hatte. 15 In der Gegenwart wird der Kampf gegen den Darwinismus unter der Flagge von „Kreationismus“ und „Intelligent Design“ fortgeführt. 16 Zu den mächtigsten Nachfahren der frühen Fundamentalisten gehören die heutigen evangelikalen Christen in den USA. Für diesen fundamentalistischen Protestantismus sind fünf Leitgedanken prägend: die Irrtumslosigkeit der Bibel, die Jungfrauengeburt, die Erlösung (nur) der Auserwählten, die leibliche Auferstehung Jesu und seine Wiederkunft und Gottesherrschaft auf der Erde. 17 Die Evangelikalen besitzen bis in die höchsten Kreise der US-Politik hinein großen Einfluss. 18 Seit einigen Jahren engagieren sie sich massiv auch in Europa und Ostasien, vor allem in Japan und in Südkorea. 19 ___________ 13

Vgl. zum Folgenden auch Kienzler, K., Der religiöse Fundamentalismus. Christentum, Judentum, Islam, 4. Aufl. 2002. 14 Pfürtner (Fn. 11), S. 47. 15 Meyer, Th., Fundamentalismus. Aufstand gegen die Moderne, 1989; S. 73 f.; der Prozess wird populär aufbereitet bei Sagenschneider, M., 50 Klassikerprozesse. Berühmte Rechtsfälle von der Antike bis heute, 2002, S. 166. 16 Eingehend Kutschera, U., Streitpunkt Evolution. Darwinismus und Intelligentes Design, 2001. 17 Röhrich, W., Die Macht der Religionen. Im Spannungsfeld der Weltpolitik, 2. Aufl. 2006, S. 49. 18 Vgl. etwa Birnbaum, N., Der protestantische Fundamentalismus in den USA, in: Meyer, Th. (Hrsg.), Fundamentalismus in der modernen Welt. Die Internationale der Unvernunft, 1989, S. 121; Haller, G., Die Grenzen der Solidarität. Europa und die USA im Umgang mit Staat, Nation und Religion, 2002; Kodalle, K.-M. (Hrsg.), Gott und Politik in USA. Über den Einfluss des Religiösen. Eine Bestandsaufnahme, 1988; allgemein zur US-amerikanischen „Zivilreligion“; Kippenberg, H. G. / Stuckrad, K. von, Einführung in die Religionswissenschaft. Gegenstände und Begriffe, 2003, S. 94. 19 Zu letzterem Riesebrodt (Fn. 4), S. 109 ff.

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Die enge Verbindung von Religion und Politik kennzeichnet auch die zweite Wurzel des Fundamentalismus-Begriffs, so wie er heute im politischen Diskurs verwendet wird. Gemeint ist die Islamisierung des politischen Lebens im Iran und darüber hinaus im gesamten Vorderen Orient durch Ayatollah Khomeini seit der Iranischen Revolution 1979. 20 Seine politische Inanspruchnahme des Islam kann als Musterbeispiel für politischen Fundamentalismus gelten. Kennzeichnende Merkmale des von Khomeini errichteten islamistischen Regimes sind die Aufhebung der Trennung zwischen Religion und Politik, die Ausrichtung des gesamten gesellschaftlichen Lebens auf den Koran und seine Gebote, die radikale Abgrenzung gegenüber „dem Westen“, vor allem den USA, die Ablehnung von Glaubens- und Gewissensfreiheit und anderen Menschenrechten, und die Überwachung der gesamten Gesellschaft durch religiöse Glaubenswächter. Damit wurde Khomeini für den modernen Islamismus, der auch für die Anschläge des 11. September 2001 in New York verantwortlich zeichnet, zum Vorbild. Eine dritte, weniger beachtete Wurzel des Fundamentalismus-Begriffs findet sich schließlich in der modernen Philosophie, und zwar in der Erkenntnistheorie und Sozialphilosophie des Kritischen Rationalismus, einer Richtung der modernen analytischen Philosophie, die, ausgehend von dem Wissenschaftstheoretiker Karl Popper, in den Natur- und Sozialwissenschaften weite Verbreitung gefunden hat. Eine Kernaussage des Kritischen Rationalismus lautet, dass „letzte“ Begründungen unmöglich sind, weil bei jeder zur Begründung vorgebrachten Äußerung wiederum nach einer Begründung gefragt werden kann. Es gibt deshalb kein sicheres Wissen; die Suche nach festen, jedem Zweifel entzogenen Fundamenten für unsere kognitiven oder normativen Annahmen ist sinnlos. 21 Zwischen erkenntnistheoretischem und religiös/politischem Fundamentalismus besteht eine enge Beziehung. Hans Albert hat das fundamentalistische Engagement, das bedingungslose Bekenntnis zu der einen „Wahrheit“, mit folgenden Worten kritisiert: „Es gibt ein totales Engagement, das die unvoreingenommene Wahrheitssuche und das kritisch-rationale Denken beseitigt oder zumindest beeinträchtigt und das im Endeffekt – gleichgültig, ob es im Namen des Glaubens oder einer göttlichen Macht, im Namen der Geschichte oder in dem der Vernunft in Erscheinung tritt – immer wieder zu totalitären Konsequenzen geführt hat. […] Begeisterung für eine heilige

___________ 20 Nirumand, B. / Daddjou, K., Mit Gott für die Macht. Eine politische Biographie des Ayatollah Chomeini, 1987. 21 Dies bedeutet natürlich nicht, dass jede kognitive oder normative Annahme gleich überzeugend wäre. Unterhalb der Schwelle einer „Letztbegründung“ existiert eine Vielzahl von Methoden, um brauchbare von weniger brauchbaren Annahmen zu unterscheiden.

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Sache führt, wie wir wissen, nicht selten zu Fanatismus und Intoleranz, zur Diabolisierung des Gegners und schließlich zu Terror und Gewalt.“ 22

2. Fundamentalismus und offene Gesellschaft Als Leitmodell einer freiheitlichen demokratischen Verfassungsordnung gilt heute die „offene Gesellschaft“. 23 In der Politikwissenschaft wird die „offene Gesellschaft“ als die Form politischer Systeme verstanden, die dem Modell fundamentalistischer theokratischer Regime am deutlichsten entgegengesetzt ist. Der politische Systemvergleich lässt sich anhand der Kriterien „Herrschaftsstruktur“, „Art der Willensbildungsprozesse“, „Umfang und Reichweite des praktizierten politischen Gestaltungsanspruchs“ und der „Offenheit“ bzw. „Geschlossenheit“ der vorgenannten Merkmale unterscheiden. 24 Es handelt sich dabei um stetige Kriterien, so dass die realen politischen Systeme jeweils zwischen den angegebenen Polen zu verorten sind. Die Herrschaftsstruktur eines Landes kann man auf einer Linie zwischen den Polen „monistisch“ und „gewaltenteilend“ darstellen. Gibt es nur ein einziges Machtzentrum, von dem alle politischen Vorgaben ausgehen, so ist Herrschaft monistisch; existiert dagegen eine Mehrzahl von Machtzentren, die sich gegenseitig kontrollieren und hemmen, so handelt es sich um ein gewaltenteiliges System. Dabei ist zu beachten, dass zwischen dem US-amerikanischen Verständnis von Gewaltenteilung im Sinne eines Systems von „checks und balances“ und dem wesentlich strengeren europäischen, insbesondere dem deutschen Verständnis von Gewaltenteilung wesentliche Unterscheide bestehen. 25 Sowohl das US-amerikanische als auch das europäische Verständnis von Gewaltenteilung ist jedoch unvereinbar mit der streng monistischen Herrschaftsstruktur einer Theokratie, wie sie im heutigen Iran existiert oder in Teilen des mittelalterlichen Europa bestand. In jedem politischen System können die Willensbildungsprozesse monopolisiert oder konkurrierend sein. Monopolisiert sind Willensbildungsprozesse dann, wenn eine bestimmte Gruppe oder eine einzelne Person das Monopol besitzt, Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse zu gestalten. 26 Dagegen spricht man von einem konkurrierenden, pluralistischen Willensbildungsprozess, wenn verschiedene Interessengruppen, Parteien, Medien und Politiker in ___________ 22

Albert, H., Traktat über kritische Vernunft, 5. Aufl. 1991, S. 5 f. Popper, K., Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 8. Aufl. 2003. 24 Nach Patzelt, W. J., Einführung in die Politikwissenschaft, 5. Aufl. 2003, S. 242 ff. 25 Näher Glendon, M. A. / Gordon, M. W. / Carozza, P. G., Comparative Legal Traditions, 2. Aufl. 1999, S. 61 ff. 26 Patzelt (Fn. 24), S. 243. 23

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einem offenen Prozess um die Chance konkurrieren, die politische Willensbildung zu prägen. Extremfälle eines nicht pluralistischen, sondern monopolisierten politischen Willensbildungsprozesses sind theokratische Regime, in denen Meinungspluralität nicht nur als politisch unerwünscht gilt und mit staatlichen Mitteln unterdrückt wird, sondern als Abfall vom „wahren Glauben“ auch noch religiös verboten und entsprechend sanktioniert ist. Das dritte analytische Leitkriterium, nach dem sich Grundformen politischer Systeme unterscheiden lassen, ist der praktizierte politische Gestaltungsanspruch. Im Modell eines bloß begrenzten politischen Gestaltungsanspruchs werden die Regelungsversuche des Staates weit zurückgenommen, bis hin zu der Vorstellung, der Staat habe nur den äußeren Rahmen zu sichern, in dem sich seine Bürgerinnen und Bürger frei bewegen können. Derartige Ideen finden sich vor allem in den verschiedenen Spielarten des Liberalismus von John Stuart Mill bis hin zu Friedrich August von Hayek. In einem System mit unbegrenztem politischen Gestaltungsanspruch versuchen die Machthaber hingegen, das öffentliche wie private Leben umfassend zu regeln. Dies entspricht dem klassischen Verständnis eines „totalitären“ Systems. Fundamentalistisch geprägte Regime erheben in aller Regel einen unbegrenzten Regelungsanspruch und versuchen, mittels ausdifferenzierter religiöser Ge- und Verbote auch das Privatleben der ihnen Unterworfenen zu erfassen und zu steuern. Machtansprüche lassen sich über Religion leichter und effizienter durchsetzen als durch Kontrolle und Terror, weil der Gläubige die Überwachungs- und Sanktionsmechanismen gleichsam freiwillig in sich trägt, während von außen ansetzende Kontroll- und Unterdrückungsmaßnahmen in der Regel als Fremdbestimmung aufgefasst und ihnen zumindest versteckt Widerstand entgegengesetzt wird. Deshalb hat religiös vermittelte Herrschaft die besten Chancen, einen unbegrenzten Gestaltungsanspruch durchzusetzen. Das letzte hier anzusprechende Kriterium zur Strukturierung politischer Systeme ist die „Offenheit“ bzw. „Geschlossenheit“ von Herrschaftsstruktur, Willensbildung und politischem Gestaltungsanspruch. Eine geschlossene Herrschaftsstruktur liegt vor, wenn der Zugang zu hohen politischen Ämtern nur einem von vornherein festgelegten Kreis von Menschen, etwa einer Aristokratie oder einer Priesterkaste, möglich ist. Dagegen handelt es sich um ein offenes Herrschaftssystem, wenn der Zugang zur Macht im Grundsatz jedem Menschen offen steht. Eine analoge Unterscheidung kann man bei der politischen Willensbildung treffen. 27 Bei den politischen Gestaltungsansprüchen wird man ein geschlossenes System dann anzunehmen haben, wenn eine freie Diskussion über die Gestaltungsvorgaben und Kritik an ihren Inhalten nicht möglich ist. Entsprechende Verbote lassen sich mit Gewalt durchsetzen, effektiver aber mit ___________ 27

Patzelt (Fn. 24), S. 245.

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politischen oder religiösen Tabus, Denk- und Frageverboten. 28 Dagegen sind in offenen Gesellschaften die Inhalte der politischen Gestaltung einem Prozess dauernder öffentlicher Prüfung, Kritik und Verbesserung ausgesetzt. Allenfalls ein enger Kreis von Grundwerten ist dem Spiel der unterschiedlichen politischen Kräfte entzogen (wobei anzumerken ist, dass derartige Grundwerte mittels Interpretation den unterschiedlichsten Zeitströmungen angepasst werden können).

3. Leitprinzipien des Fundamentalismus Man hat versucht, den Fundamentalismus als „Aufstand gegen die Moderne“ mit ihren Leitprinzipien Individualismus und Rationalität 29 zu deuten. 30 Damit dürfte ein wesentliches Motiv fundamentalistischer Bewegungen erfasst sein, wenngleich nicht jede Kritik an der Moderne oder einer ihrer Erscheinungsformen ohne weiteres als „fundamentalistisch“ eingestuft werden kann, ohne dem Begriff alle klaren Konturen zu nehmen. Nach einem anderen Vorschlag liegt der Kern fundamentalistischer Haltungen in einer „Flucht ins Radikale, oft verbunden mit Gewalt, unter Verweigerung von hinreichender Realitätswahrnehmung, von Rationalität und Freiheitsentfaltung für Individuum und Gesellschaft“. 31 Diese Deutung lässt offen, welcher Grad von Radikalität erreicht sein muss, um von „Fundamentalismus“ sprechen zu können. 32 In jüngster Zeit hat Pfahl-Traughber 33 den Fundamentalismus durch folgende formale Strukturmerkmale gekennzeichnet: dogmatischer Absolutheitsanspruch, Erheben eines exklusiven Erkenntnisprivilegs, ausgeprägte Kritikimmunität, rigorose Ausgrenzungstendenzen und dualistischer Rigorismus, d. h. die radikale Unterscheidung von „gut“ und „böse“, „Freund“ und „Feind“. Damit verbunden sei die „Frontstellung gegen Aufklärung und Kritik, Begrün___________ 28 In diesen Zusammenhang gehören übrigens schon die verschiedenartigen Zwänge der „politischen Korrektheit“, die auch in vielen offenen Gesellschaften anzutreffen sind. 29 Pfürtner unterscheidet in Anlehnung an Richard Münch vier Leitprinzipien der Moderne: Individualismus, Universalismus, Aktivismus und Rationalität. Näher zum Verhältnis dieser Prinzipien zum Fundamentalismus Pfürtner (Fn. 11), S. 87 ff. 30 Siehe schon den Titel bei Meyer, Th., Fundamentalismus. Aufstand gegen die Moderne (Fn. 15), vgl. auch die Beiträge in ders. (Hrsg.), Fundamentalismus in der modernen Welt (Fn. 18). 31 Pfürtner (Fn. 11), S. 105. 32 Vgl. auch unten II. 33 Pfahl-Traughber, A., Der fundamentalistische Charakter von Religionen und die Grenzen der Religionsfreiheit im säkularen Rechtsstaat. Eine demokratietheoretisch und ideologiekritisch ausgerichtete Erörterung anhand von Christentum und Islam, in: Hilgendorf, E. (Hrsg.), Wissenschaft, Religion und Recht (Fn. 5), S. 177 (180).

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dungspflicht und Zweifel, Eigenverantwortung und Selberdenken, Offenheit und Veränderung“. 34 Eine abschließende Definition des Phänomens „Fundamentalismus“ ist in unserem Zusammenhang weder möglich noch erforderlich. 35 Die oben wiedergegebenen Umschreibungen erfassen jedenfalls die wesentlichen Merkmale fundamentalistischer Bewegungen. Festzuhalten ist, dass Fundamentalismus in Abstufungen auftritt; Einstellungen und Verhaltensweise können also mehr oder weniger fundamentalistisch geprägt sein. Es ist deshalb keine Übertreibung, wenn man die These wagt, dass nicht nur bei den Evangelikalen in den USA und den Islamisten des Vorderen Orients fundamentalistische religiöse Einstellungen anzutreffen sind, sondern auch in den großen religiösen Gemeinschaften Westeuropas, wenngleich hier – als Folge der Aufklärung – fundamentalistisches Denken unter einem besonderen Rechtfertigungsdruck steht und kaum als gesellschaftlich akzeptiert gelten kann – jedenfalls noch nicht.

II. Gibt es eine „fundamentalistische Mentalität“? Der Sozialethiker und katholische Theologe Stefan Pfürtner hat folgende „Profillinien“ einer fundamentalistischen (oder für Fundamentalismus anfälligen) Mentalität hervorgehoben: 1. „Das Leitbild – der Guru, der große Führer; 2. die einfordernde Gruppe, die korporative Identität und zugleich Elitebewusstsein vermittelt; 3. die festen Herausforderungen zur eigenen Bewährung, zum eigenen Einsatz; die ganzheitliche Hingabe; 4. undiskutierbare Verhaltens- oder Moralregeln, ohne Wenn und Aber; 5. emotionale Ergriffenheit durch die Gruppe oder Bewegung, so etwas wie Ekstase im wörtlichen Sinn: Das Heraustreten des eigenen Ichs aus dem gewohnten Rahmen (Familie, Beruf, altem Wohnort), das Erlebnis des Außergewöhnlichen, das Abenteuer, Steigerung des Erlebnispotentials; 6. Befreiung vom Zwang funktionaler und sozialer Rationalität, die ‚Traumwelt‘, das ‚Fest-erleben‘; 7. Lebenssinn – die Antwort auf die Sinn-Frage.“ 36

___________ 34

Vgl. auch schon Pfahl-Traughber, A,. Extremismus – Fundamentalismus – Terrorismus. Zur Problematik einer Definition zwischen politischen und wissenschaftlichen Kategorien, in: Kriminalistik 2004, S. 364 (366). 35 Vgl. auch Harwazinski, A. S., Fundamentalismus/Rigorismus, in: Auffarth, Ch. / Bernhard, I. / Mohl, H. (Hrsg.), Metzler Lexikon Religion, Bd. 1, Sonderausgabe 2005, S. 427, (427: „Fundamentalismus als klar umrissene Erscheinung gibt es nicht“). 36 Pfürtner (Fn. 11), S. 168; vgl. in diesem Zusammenhang auch die – immer noch lesenswerte – Studie von Hoffer, E., Der Fanatiker. Eine Pathologie des Parteigängers, 1965.

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Damit dürften in der Tat typische Charakterelemente fundamentalistisch orientierter Personen erfasst sein. In der Vergangenheit hat es schon mehrfach ähnlich ausgerichtete Untersuchungen gegeben. Pfürtner weist selbst auf die Parallele zu Theodor W. Adornos „Studien zum autoritären Charakter“ hin.37 Gemeinsam scheint allen diesen Typologien ein ausgeprägtes Gewissheitsbedürfnis der betroffenen Personen zu sein, die Suche nach einer festen und unanzweifelbaren Legitimationsbasis für das eigene Verhalten. Ob derartige Bedürfnisse in einem Individuum dominant werden, dürfte sehr stark nicht nur von seiner Biographie, sondern auch von seinem sozialen Umfeld abhängen. Aus der Kriminologie 38 ist die prägende Rolle der jeweiligen Bezugsgruppe bekannt. Darüber hinaus spielt aber auch das gesellschaftliche Klima, die öffentliche Meinung, so wie sie im Schulunterricht, in den Massenmedien und in politischen Äußerungen zum Ausdruck kommt, eine wesentliche Rolle. In Mitteleuropa ist die Erinnerung an die Aufklärung nach wie vor wirkungsmächtig. Die Protestbewegung der 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts, so wenig beifallswürdig sie in mancherlei Hinsichten gewesen sein mag, hat doch die Abwehrkräfte gegen religiösen Fundamentalismus gestärkt.

III. Fundamentalismus – ein Problem der jeweils anderen? Vergleicht man Koran und Bibel, so lässt sich feststellen, dass in beiden heiligen Texten fundamentalistische, zu Gewalt aufrufende Aussagen zu finden sind. So finden sich im Koran Passagen wie: „Und wer Gott gehorcht und seinem Gesandten, den führt er in Gärten, darunterhin Ströme fließen; und wer sich abwendet, den straft er mit qualvoller Strafe.“ 39 An anderer Stelle heißt es, an die muslimischen Gläubigen gerichtet: „Ihr seid das beste Volk, das aus der Menschheit hervorging; ihr gebietet Fug, verhindert Böses und glaubt an Gott.“ 40 In diesen Aussprüchen wird ein religiöses Überlegenheitsgefühl ausgedrückt und ein Absolutheitsanspruch formuliert, der keinen Zweifel zulässt. Ganz ähnliche Passagen finden sich auch in der Bibel: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich.“ 41 „Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen. Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert. … Wer Vater und Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig, und wer Sohn oder ___________ 37

Pfürtner (Fn. 11), S. 157. Überblick bei Schwind, H.-D., Kriminologie, 16. Aufl. 2006, Teil 3: „Einflüsse der Sozialisationsagenturen auf den Entwicklungsprozess“ (S. 181–301). 39 Koran, Sure 48, 17. 40 Koran, Sure 3, 106. 41 Bibel, Johannes-Evangelium 14, 6. 38

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Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig.“ 42 Noch drastischer heißt es im Johannes-Evangelium: „Wer nicht in mir bleibt, wird wie die Rebe weggeworfen, und er verdorrt. Man sammelt die Reben, wirft sie ins Feuer, und sie verbrennen.“ 43 Das Bild des Verbrennens von Menschen taucht in der Bibel auch in anderen Zusammenhängen auf: „Der Menschensohn wird seine Engel aussenden, und sie werden aus seinem Reich alle zusammenholen, die andere verführt und Gottes Gesetz übertreten haben, und werden sie in den Ofen werfen, in dem das Feuer brennt. Dort werden sie heulen und mit den Zähnen knirschen.“ 44 Bemerkenswert ist auch folgender Ausspruch: „Doch meine Feinde, die nicht wollen, dass ich ihr König werde – bringt sie her, und macht sie vor meinen Augen nieder!“ 45 Der Koran steht dem aber in nichts nach, wie man an folgenden Passagen ablesen kann: „Sind die heiligen Monate vorüber, dann tötet die Götzendiener, wo ihr sie auch findet, fangt sie ein, belagert sie und stellt ihnen nach aus jedem Hinterhalt.“ 46 „Und wenn ihr denen begegnet, die ungläubig sind – ein Schlag auf den Nacken, bis ihr sie niedergemacht habt; dann ziehet fest die Fesseln.“ 47 Offenkundig ist freilich, dass sich in beiden Texten auch viele Anknüpfungspunkte für ethisch untadeliges Verhalten und vorbildliche Sozialmodelle finden. Aus dieser ethischen Ambivalenz von Bibel und Koran lässt sich folgender Schluss ziehen: Der fundamentalistische Charakter der Religion ergibt sich in erster Linie nicht aus ihren heiligen Texten, sondern aus der Interpretation der Texte durch die religiösen Spezialisten und geistlichen Führer. Im Hinblick auf ihren erkenntnistheoretischen Fundamentalismus dürfte zwischen Islam und Christentum kein Unterschied bestehen. Um diese These zu belegen, seien einige Sätze aus der schon mehrfach zitierten Fundamentalismus-Studie des Sozialethikers und Theologen Stephan Pfürtner wiedergegeben: „Es gibt in der biblischen Sprache über eines keinerlei Zweifel: dass der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der für die Christenheit der Vater und Gott ihres Herrn Jesus Christus ist, der einzig endgültige und unwiderruflich feste Grund allen Lebens ist. Nur er garantiert letztlich dieses Leben, nur er bildet das wahre Fundament des Heils. Nur seine Gerechtigkeit rettet das Volk. Aber dieses Fundament ist er für immer und ewig. Die Antwort seines Volkes auf diesen seinen einzig festen Lebens-

___________ 42 43 44 45 46 47

Bibel, Matthäus-Evangelium 10, 34 f. und 37. Bibel, Johannes-Evangelium, 15, 6. Bibel, Matthäus-Evangelium 13, 41 f. Bibel, Lukas-Evangelium 19, 27. Koran, Sure 9, 5. Koran, Sure 47, 4.

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grund ist das radikale Vertrauen auf ihn, das exklusive Bekenntnis zu ihm, die unerschütterliche Hoffnung auf ihn.“ 48

Eine klarer fundamentalistisch formulierte Aussage als dieses Bekenntnis zu den Grundlagen des Christentums lässt sich kaum denken. Worin liegt nun der Unterschied zwischen diesem von Pfürtner hochgehaltenen christlichen Fundamentalismus und den schlechten, von ihm abgelehnten fundamentalistischen Lehren und Einstellungen? Pfürtners Antwort ist bemerkenswert: „Immer, wenn etwas als fundamental und absolut ausgegeben wird, was sich heimlich oder offenkundig an die Stelle des allein wahren Urgrunds und Vollenders allen Lebens setzt, gerät oder führt man in die Verirrung des Fundamentalismus. Die fundamentalistische Radikalität erweist sich als Ausdruck von Unglaube. Ihren Radikalismus trennen Welten von der Radikalität aus theologisch verantwortetem Glauben.“ 49

Im Klartext heißt das, dass der Glaube an ein „ewiges Fundament“ als „einzig festen Lebensgrund“ dann „theologisch verantwortbar“ ist, wenn sich der Glaube auf christliche Inhalte bezieht. Richtet sich der Glaube jedoch auf nicht-christliche Inhalte, so handelt es sich um „Unglaube“ und schlechten Fundamentalismus! Durch derartige argumentative Taschenspielertricks wird sich wohl nur in die Irre führen lassen, wer von vornherein für diese „Lösung“ des Fundamentalismus-Problems voreingenommen ist.

IV. Fundamentalismus und Menschenrechte Auch wenn fundamentalistische Einstellungen und Verhaltensweisen in vielfacher Hinsicht kritisierbar sind, so bedeutet dies noch nicht, dass sie in einer freiheitlichen Verfassungsordnung, wie sie das Grundgesetz umschreibt, nicht zulässig wären. Das Gegenteil ist der Fall: Auch fundamentalistisch orientierte religiöse Überzeugungen stehen unter dem Schutz der verfassungsrechtlich garantierten Religionsfreiheit (Art. 4 GG). Rechtliche problematisch wird der Fundamentalismus erst, wenn er mit den Rechten anderer oder mit dem staatlichen Gesetz in Konflikt gerät. Das kann, muss aber nicht der Fall sein: Der fundamentalistische Bibel-Gläubige etwa, der die Bibel für einen wortwörtlich wahren Bericht hält, genießt denselben Grundrechtschutz wie der liberal geprägte und säkular orientierte Anhänger einer Großkirche oder der Konfessionslose. Der Freiraum fundamentalistisch orientierter Bürger endet aber an den durch die Verfassung garantierten Rechten anderer Menschen. Dem Fundamentalisten ist es verwehrt, dem anderen seine Sicht und seine Lebensweise aufzuzwingen. ___________ 48 49

Pfürtner (Fn. 11), S. 181. Pfürtner (Fn. 11), S. 184 f.

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Diese in der Theorie überzeugend durchführbare Abgrenzung stößt in der Praxis auf erhebliche Schwierigkeiten: Ein problemloses gleichgeordnetes Nebeneinander von Menschen ganz unterschiedlicher weltanschaulicher oder religiöser Überzeugung scheint kaum möglich zu sein. Fast alle Menschen haben Probleme damit, in ihrer unmittelbaren Nähe mit „ganz anderen“ Lebensentwürfen und Lebensstilen konfrontiert zu werden. Ursache hierfür ist wohl ein letztlich biologisch begründetes Verlangen nach Identifikation mit einer Gruppe und dementsprechender Abgrenzung zu anderen Gruppen, eine angeborene Abneigung gegen das Fremde und Andersartige. 50 Wenn man bedenkt, dass eine der Hauptfunktionen von Religion in der Gruppenbildung und der Abgrenzung gegenüber den „Ungläubigen“ besteht 51 , so beginnt man zu verstehen, weshalb die großen monotheistischen Religionen Häretiker stets geächtet und verfolgt haben. Die Religionsfreiheit in Europa – und in ihrer Folge die Durchsetzung der Menschenrechte – ist ein Ergebnis der reformatorischen Glaubensspaltung, durch die das Macht- und Glaubensmonopol der Kirche aufgebrochen wurde. Im Islam, wo eine vergleichbare Schwächung der Monopolreligion nicht stattgefunden hat, werden Religionsfreiheit und Menschenrechte genauso wenig anerkannt wie in der christlichen Theokratie des vorreformatorischen europäischen Mittelalters. Es ist nicht möglich, zwischen „normaler“ Religiosität und Fundamentalismus eine eindeutige Grenze zu ziehen. Fundamentalisten unterscheiden sich vom „normalen“ Gläubigen nur durch die Intensität ihrer religiösen Bedürfnisse und den Eifer und die Radikalität, mit der sie religiöse Haltungen und Lehren praktizieren. In allen Religionen steckt der Keim zu Aggressivität und Gewalt. Der gemäßigte Moslem ist ebenso angenehm wie der gemäßigte Christ, der radikale Moslem nicht gefährlicher als der radikale Christ. Ob ein Mensch eine fundamentalistische Haltung ausbildet, hängt weniger von seiner jeweiligen Glaubensrichtung als vielmehr von seinem biographischen Hintergrund, seinem sozialen Umfeld und den gesellschaftlichen Rahmenumständen ab. Um Religionsfreiheit und andere Menschenrechte zu sichern und zu bewahren, gilt es, religiöse Radikalisierung in der Gesellschaft rechtzeitig zu erkennen und zweckmäßige Gegenmaßnahmen zu treffen. Der Glaubenseifer religiöser Menschen muss in sozial verträglichen Grenzen gehalten werden. Ein besonderes Problem liegt darin, wie der pluralistische Rechtsstaat mit Personen umgehen soll, die sich aus religiösen Gründen in einer Weise verhalten, die mit der vorherrschenden Sozialmoral nicht mehr ohne Weiteres zu ver___________ 50

Einführend Voland, E., Grundriss der Soziobiologie, 2. Aufl. 2000, S. 119 ff.; vgl. ferner die Beiträge in Eibl-Eibesfeldt, I. / Salter, F. K. (Hrsg.), Indoctrinability, Ideology, and Warfare – Evolutionary Perspectives, 1998. 51 Einführend zu den Funktionen von Religion Knoblauch, H., Religionssoziologie, 1999, S. 98–102; kritisch zum Funktionalismus Kippenberg/Stuckrad (Fn. 18), S. 32 ff.

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einbaren ist. Beispiele sind etwa das Tragen einer Ganzkörperverschleierung (Burka) 52 oder eines Dornenkorsetts unter der Kleidung (Selbst-Kasteiung) 53 , ferner die Übertragung des gesamten Vermögens und der eigenen Arbeitskraft an eine religiöse Gruppierung. 54 Grundsätzlich fallen derartige Verhaltensweisen unter das Selbstbestimmungsrecht der handelnden Person und sind damit nicht nur zulässig, sondern sogar durch Art. 2 und 4 GG grundrechtlich geschützt. Besondere Probleme wirft in diesem Zusammenhang das religiös motivierte rituelle Schächten von Tieren auf, das für die Tiere oft mit erheblichem Leiden verbunden ist. 55 Immer öfter stellt sich die Frage, in welchem Umfang der pluralistische Staat extreme, religiös motivierte Verhaltensweisen zulassen kann, auch wenn sie Dritte nicht direkt betreffen, ohne den normativen Konsens, auf den keine Gesellschaft auf Dauer verzichten kann, zu gefährden. Das Problem der öffentlichen Zurschaustellung (nach westeuropäischen Maßstäben) extremer Religiosität scheint juristisch noch nicht hinreichend diskutiert zu sein; einschlägig ist neben den Grundrechten vor allem das Polizeirecht, weniger das Strafrecht. 56 Um das Gefahrenpotenzial religiöser Bewegungen angemessen einschätzen zu können, könnte man an eine Art „Menschenrechts-Check“ für Religionen denken. Leitfragen könnten etwa (1) die (theoretische wie praktische) Akzeptanz von Religionsfreiheit sein, ferner (2) das Verhältnis zu den (anderen) Menschenrechten, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) oder der Europäischen Menschenrechtskonvention (1950) festgelegt sind. Dazu gehören auch und gerade die Rechte der Frauen. 57 Ein wichtiges ___________ 52

Die Burka, ein weites, zeltförmiges Frauengewand, das vom Kopf bis zu den Knöcheln fällt und vor den Augen nur ein mit Stoff vergittertes kleines Fenster frei lässt, wird vor allem im asiatischen Teil der islamischen Welt getragen. In Afghanistan war zur Zeit der Talibanherrschaft allen Frauen außerhalb des Hauses das Tragen der Burka bei Androhung schwerster Strafen vorgeschrieben. 53 Die Selbst-Kasteiung findet sich nicht nur im Christentum, sondern in vielen Religionen. Näher zur religiösen Bedeutung des Schmerzes Frank, M., Schmerz, in: Auffarth, Ch. / Bernhard, J. / Mohl, H. (Hrsg.), Metzler Lexikon Religion, Bd. 3, Sonderausgabe 2005, S. 255. 54 Derartige Praktiken finden sich heute vor allem bei kleineren religiösen Bewegungen, etwa bei der im Würzburger Raum angesiedelten Religionsgemeinschaft „Universelles Leben“. 55 Das BVerfG hat dennoch der Berufsfreiheit eines muslimischen Metzgers den Vorrang vor einem ethisch begründeten Tierschutz eingeräumt und das Schächten zugelassen, BVerfG, NJW 2002, 1485; eingehend Schwarz, K.-A., Das Spannungsverhältnis von Religionsfreiheit und Tierschutz am Beispiel des „rituellen Schächtens“, 2003. 56 Im Strafrecht werden, von wenigen Ausnahmen (z. B. § 109 StGB: Wehrpflichtentziehung durch Verstümmelung) abgesehen, Selbstverletzungen nicht pönalisiert. Infolge des Akzessorietätsgrundsatzes lassen sich auch Beihilfe- oder Anstiftungshandlungen (z. B. zur Selbstkasteiung) strafrechtlich nicht erfassen. 57 Es ist auffällig, dass fundamentalistische religiöse Strömungen in aller Regel den Frauen eine Gleichstellung mit dem Mann verweigern und ihnen Menschen- und Bür-

Fundamentalismus als Gefährdung der Menschenrechte

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Kriterium ist (3) die Frage nach religiösen Lehren oder Praktiken, die die Lebensbedingungen von Menschen nachweislich verschlechtern. Von großer Bedeutung sind auch (4) die Regeln innerkirchlicher bzw. innerreligiöser Meinungsbildung, (5) der Umgang mit Häretikern und Religionskritikern sowie (6) das Verhältnis der Religion zur modernen Wissenschaft. 58 Der neue religiöse Fundamentalismus muslimischer und christlicher Provenienz stellt den modernen, an den Werten des Humanismus und der Aufklärung orientierten Verfassungsstaat vor neue Herausforderungen. Mit dem Erstarken der Religionen wird die vorbehaltlose Geltung der Menschenrechte und der Menschenwürde, beide eine Frucht der europäischen Aufklärung, erneut in Zweifel gezogen. Es dürfte deshalb an der Zeit sein, die großen säkularen Leitwerte des Humanismus und der Aufklärung wieder stärker zu betonen und erforderlichenfalls auch gegen die Religionen durchzusetzen.

V. Abschließende Thesen Die Ergebnisse der vorstehenden kurzen Analyse des FundamentalismusProblems lassen sich zu folgenden Thesen zuspitzen: 1. Der Fundamentalismus-Begriff ist schillernd und wird in vielen Kontexten in ganz unterschiedlicher Weise verwendet. 2. Um dem Begriff einen einigermaßen handhabbaren Sinngehalt zu geben, erscheint es zweckmäßig, drei Bedeutungsvarianten zu unterscheiden: den religiösen Fundamentalismus, den politischen Fundamentalismus und den erkenntnistheoretischen Fundamentalismus. 3. Fundamentalistische Auffassungen mögen unzutreffend, ideologisch, irrational oder auch von Intoleranz geprägt sein, im juristischen Sinne unzulässig sind sie damit noch nicht. Der freiheitliche, weltanschaulich neutrale Staat lässt auch faktisch falsche, irrationale oder intolerante Annahmen und Haltungen zu. Fundamentalistische Haltungen werden erst dann unzulässig, wenn sie die Rechte Anderer verletzen. 4. Das Ideal eines friedlichen Nebeneinander von Menschen völlig unterschiedlicher religiöser oder weltanschaulicher Prägung scheint praktisch nicht einfach umsetzbar zu sein. Ursache hierfür ist möglicherweise ein an___________ gerrechte vorenthalten wollen, dazu ausführlich Riesebrodt (Fn. 4), S. 95 ff., 117 ff. Eine religions- oder kulturpsychologische Erklärung dieses bemerkenswerten Phänomens scheint noch zu fehlen. 58 Näher zum Vorstehenden Hilgendorf, E., Religion, Gewalt und Menschenrechte. Eine Problemskizze am Beispiel von Christentum und Islam, in: Dreier, H. / Hilgendorf, E. (Hrsg.), Kulturelle Identität als Grund und Grenze des Rechts, 2008 (im Erscheinen).

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geborener Hang zur Gruppenbildung unter Ähnlichen und zur Ausgrenzung der „Anderen“. Ethische und juristische Toleranzideale stoßen hier an faktische Grenzen. 5. Es ist nicht möglich, eindeutig zwischen „normaler“ und fundamentalistischer Religiosität zu trennen. Das gilt insbesondere für die beiden großen monotheistischen Religionen Christentum und Islam. Beide sind, wie die Geschichte zeigt, anfällig für Radikalisierungen. Damit werden sie leicht zum Nährboden fundamentalistischer Haltungen. 6. Ob ein Mensch eine fundamentalistische Haltung ausbildet, hängt weniger von seiner jeweiligen Glaubensrichtung als vielmehr von seinem biographischen Hintergrund, seinem sozialen Umfeld und den gesellschaftlichen Rahmenumständen ab. 7. Das Erstarken radikaler religiöser Strömungen im Islam und im Christentum bedroht die Akzeptanz der Menschenrechte. Wenn die großen säkularen Leitwerte des Humanismus und der Aufklärung bewahrt werden sollen, muss sich der Staat wieder stärker einer Aufgabe widmen, die in den vergangenen Jahrzehnten aus dem Blick geraten ist: der Zähmung der Religionen.

Über die Wissenschafts- und Forschungsfreiheit in China Ein Vergleich mit Deutschland Jun Sun

I. Einleitung „No, the object of government is not to change men from rational beings into beasts or puppets, but to enable them to develop their minds and bodies in security, and to employ their reason unshackled; neither showing hatred, anger, or deceit, nor watched with the eyes of jealousy and injustice. In fact, the true aim of government is liberty“. 1 Auf dem rechtlichen Gebiet in Europa erließ der Kaiser des Heiligen Römischen Reichs, Friedrich I. Barbarossa (Rotbart), 1158 eine Verordnung, um die Wissenschaftler vor Strafen wegen wissenschaftlicher Tätigkeit zu schützen. 2 Verfassungsrechtlich gesehen wurde die Freiheit der Wissenschaft aber zum ersten Mal in Deutschland in Art. 142 der Weimarer Verfassung 3 ausdrücklich bestätigt. Die Wissenschafts- und Forschungsfreiheit hängt oft u. a. mit der Meinungs- und Pressefreiheit zusammen. Sie wird von einigen internationalen Konventionen geschützt. Nach Art. 19 der Allgemeinen Erklärung der Men___________ 1 Benedict de Spinoza, Theological-Political Treatise, Verlag „ShangWu“, 1997, S. 272 (chin., übersetzt aus dem Englischen); s. http://www.worldwideschool.org/library/books/relg/christiantheology/ATheologico-PoliticalTreatise/chap20.html 14.08.2007. 2 „Konflikte zwischen den Stadtbewohnern und den (meist ausländischen) Studenten waren wohl der ursprüngliche Anlass zur Gewährung von Freiheitsrechten, erteilt durch die überregionalen Autoritäten Staat und Kirche. Das erste Privileg wurde den Bologneser Studenten durch Friedrich Barbarossa 1158 mit der so genannten Authentica Habita erteilt.“, Hoye, W. J., Die mittelalterliche Methode der Quaestio, S. 17, siehe http://www.hoye.de/name/quaestio.pdf (14.08.2007); die Authentica Habita wurde von Peter Classen als „das erste Hochschulgesetz des Mittelalters“ bezeichnet, Hoye, W. J., Die mittelalterliche Methode der Quaestio, S. 17, m. w. H. Vgl. Classen, P., Studium und Gesellschaft im Mittelalter, in: Fried, J. (Hrsg.), Schriften der Monumenta Germaniae Historica, Bd. 29, 1983, S. 184, s. http://www.hoye.de/name/quaestio.pdf (14.08. 2007). 3 Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11.08.1919 sieht in ihrem Artikel 142 vor: „Die Kunst, die Wissenschaft und ihre Lehre sind frei. Der Staat gewährt ihnen Schutz und nimmt an ihrer Pflege teil.“, s. http://www.dhm.de/lemo/html/dokumente/ verfassung/index.html (14.08.2007).

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schenrechte vom 10. Dezember 1948 4 hat jeder Mensch „das Recht auf freie Meinungsäußerung; dieses Recht umfasst die Freiheit, Meinungen unangefochten anzuhängen und Informationen und Ideen mit allen Verständigungsmitteln ohne Rücksicht auf Grenzen zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten“. Art. 18 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 5 gewährleistet die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Gemäß Art. 19 I des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte hat jedermann „das Recht auf unbehinderte Meinungsfreiheit“. Art. 15 II und III des internationalen Paktes über die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte vom 19. Dezember 1966 6 sehen vor: „Die von den Vertragsstaaten zu unternehmenden Schritte zur vollen Verwirklichung dieses Rechts umfassen die zur Erhaltung, Entwicklung und Verbreitung von Wissenschaft und Kultur erforderlichen Maßnahmen.“ „Die Vertragsstaaten verpflichten sich, die zu wissenschaftlicher Forschung und schöpferischer Tätigkeit unerlässliche Freiheit zu achten. Demnach sind die Vertragsstaaten des Paktes zur Wahrung der unentbehrlichen Freiheit der wissenschaftlichen Forschung und der schöpferischen Tätigkeit verpflichtet.“ Art. 47 der geltenden Verfassung der VR China in der Fassung vom 14. März 2004 7 ist die verfassungsrechtliche Grundlage der Wissenschafts- und Forschungsfreiheit in China. Wissenschafts- und Forschungsfreiheit hat viele Feinde. Im Mittelalter herrschte in Europa die Religionsmacht und die Wissenschaft war Sklavin der Theologie. Damals konnte von der Wissenschaftsfreiheit keine Rede sein. Mit der säkularisierten Politik wurde dann die religiöse Macht besiegt. Die Wissenschaft konnte von den religiösen Fesseln loskommen. Die Wissenschaftsfreiheit tauchte zwar schemenhaft auf, wurde bald aber wiederum durch die Politik beherrscht. Im 20. Jahrhundert gab es sowohl in der westlichen als auch in der östlichen Wissenschaftsgeschichte einige unehrenhafte Beispiele für die Unterwerfung der Wissenschaft unter die Politik und Versuche, sich bei den Mächtigen einzuschmeicheln. Im heutigen China ist die Politik nach wie vor der Feind der Wissenschaftsfreiheit. Allerdings manifestiert sich dies nicht mehr durch Repression und Autokratie, sondern durch die Genehmigungs- und Hierarchiewissenschaft.

___________ 4 Resolution 217 (III) Universal Declaration of Human Rights, in: United Nations, General Assembly, Official Records third Session (part I) Resolutions (Doc. A/810), S. 71 ff. 5 BGBl. 1973 II, S. 1534 ff. 6 BGBl. 1973 II, S. 1570 ff. 7 Sammlung der Gesetze der VR China, Verlag Demokratie und Recht in China, 2004, S. 1 ff.

Über die Wissenschafts- und Forschungsfreiheit in China

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II. Rechtliche Grundlage für die Wissenschafts- und Forschungsfreiheit in China Art. 47 der geltenden Verfassung der VR China sieht vor: „Bürger der Volksrepublik China haben die Freiheit zur wissenschaftlichen Forschung, zum Literatur- und Kunstschaffen sowie zu anderer kultureller Tätigkeit.“ Diese Regelung zeigt, dass die Wissenschafts- und Forschungsfreiheit in China ein Verfassungsrecht ist. Das von der Verfassung geschützte Recht ist der Kernwert der Verfassungsordnung. Durch die verfassungsrechtliche Festlegung der Grundrechte der Bürger wird klar gemacht, dass die Staatsorgane, die gesellschaftliche Organisation und die Privaten nicht in solche Grundrechte der Bürger eingreifen dürfen und dem Staat helfen sollen, aktive Maßnahmen für den rechtlichen Schutz solcher Grundrechte der Bürger zustande zu bringen. Art. 10 des Hochschulgesetzes der VR China vom 29. August 1998 8 regelt: „Der Staat schützt gemäß dem Gesetz die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung, des Literatur- und Kunstschaffens sowie anderer kultureller Tätigkeiten in den Hochschulen.“ Art. 7 I, II und III des Lehrergesetzes der VR China vom 31. Oktober 1993 9 gewähren den Lehrern einige Rechte, wie das Recht zur lehrenden Tätigkeit, zur Forschung und zur Meinungsäußerung im Rahmen der Forschung, das Recht zur Betreuung der Studierenden und zur Bewertung des Kenntnisstandes der Studierenden. Im Gegensatz zu Deutschland 10 sind die von der chinesischen Verfassung geschützten Grundrechte mehr oder weniger nur eine Deklaration und keine unmittelbar geltenden Rechte. Die Wissenschafts- und Forschungsfreiheit ist sehr wichtig für die forschende und lehrende Tätigkeit der Wissenschaftler. Diese Freiheit leistet einen großen Beitrag beim Fortschritt des Wissens und der Gesellschaft. Trotz ihrer Bedeutung darf die Wissenschafts- und Forschungsfreiheit nicht andere Grundrechte und Verfassungswerte verletzen, d. h. die Wissenschafts- und Forschungsfreiheit ist nicht absolut grenzenlos. In Deutschland wird die Wissenschafts- und Forschungsfreiheit durch das Grundgesetz zwar ohne Vorbehalt geschützt, aber sie wird trotzdem durch die grundrechtsimmanenten Schranken 11 beschränkt. Die Ausübung der Wissenschafts- und Forschungsfreiheit ___________ 8 Sammlung der Gesetze der VR China, Verlag Demokratie und Recht in China, 2004, S. 3–424 ff. 9 Sammlung der Gesetze der VR China, Verlag Demokratie und Recht in China, 2004, S. 3–435 ff. 10 Nach Art. 1 III GG binden die Grundrechte Gesetzgebung, Exekutive und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht. Vgl. http://www.bpb.de/publikationen/ 0CODZU,0,0,Die_Grundrechte_im_Grundgesetz.html (14.08.2007). 11 Die Grundrechte in Deutschland können nach Eingriffsart und -umfang in Grundrechte mit einfachem Gesetzesvorbehalt (wie Art. 8 II und Art. 10 II S. 1 GG), Grundrechte mit qualifiziertem Gesetzesvorbehalt (wie Art. 11 II GG) und Grundrechte ohne Gesetzesvorbehalt (wie Art. 5 III S. 1 GG) differenziert werden. Das Bundesverfas-

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darf nicht die verfassungssystematischen Schranken überschreiten und hat dort, wo andere Grundrechte und Verfassungsgüter (wie Existenz des Staates, demokratische Grundordnung, Freiheit der Person und Schutz der Menschenwürde) entstehen, ihre Grenze. 12

III. Im Verhältnis zur Meinungs- und Pressefreiheit in China Nach Art. 35 der Verfassung der VR China haben Bürger der VR China Meinungs- und Pressefreiheit. Dieser Artikel räumt den chinesischen Bürgern außerdem noch die Versammlungs-, Vereinigungs- und Demonstrationsfreiheit ein. Daraus hat sich der Überbegriff der Freiheit der Meinungsäußerung (freedom of expression) entwickelt. Jeder soll das Recht haben, seine Meinung zu äußern. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 13 , der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 14 und die Europäische Menschenrechtskonvention vom 4. November 1950 15 haben in ihren Texten auch diese Formulierung benutzt. „Wenn alle Menschen mit einer einzigen Ausnahme derselben Meinung wären, hätten sie dennoch nicht das Recht, diesen einen Andersdenkenden zum Schweigen zu bringen, ebenso wenig wie umgekehrt der eine – hätte er die Macht dazu – berechtigt wäre, alle anderen Menschen zum Schweigen zu bringen.“ 16 Die Wissenschaftler, insbesondere die Geisteswissenschaftler, brauchen auch die Freiheit, ihre Meinungen während der Forschung oder nach der Forschung zu äußern. Die Pressefreiheit spielt auch für die Wissenschafts- und Forschungsfreiheit eine große Rolle. Nach Art. 47 der Verfassung der VR China haben Bürger der Volksrepublik China die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung, des Literatur- und Kunstschaffens sowie anderer kultureller Tätigkeiten. Das Ziel der ___________ sungsgericht und die herrschende Meinung „sehen die Grundrechte systematisch so miteinander und auch mit dem übrigen Verfassungsrecht verschränkt, dass die vorbehaltlosen Grundrechte, wenn ihr Gebrauch mit anderen Grundrechten oder Verfassungsgütern kollidiert, durch dieses kollidierende Verfassungsrecht beschränkt werden.“, s. Pieroth, B. / Schlink, B., Grundrechte Staatsrecht II, 2001, Rn. 260. 12 Beispielsweise könnte die Veröffentlichung der Geschichtsforschungserfolge zu Themen wie „das Nanjing-Massaker von Japanern“ oder „das Juden-Massaker von Hitler“ die Leidtragenden und ihre Familienangehörigen verletzen oder beleidigen. 13 Art. 19. 14 Art. 19 II. 15 Art. 10. 16 Von dem englischen Philosophen John Stuart Mill aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt, s. Ayer, A. J., Über die Gedankenfreiheit, s. http://www.ceeol.com/aspx/ getdocument.aspx?logid (14.08. 2007).

Über die Wissenschafts- und Forschungsfreiheit in China

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wissenschaftlichen Forschung ist nicht nur die Forschung selbst, sondern auch die Möglichkeit der Verbreitung der Forschungsergebnisse und des intellektuellen Austausches unter den Wissenschaftlern. Daher gewährleistet die Pressefreiheit die Sicherheit einer freien Veröffentlichung der Forschungsergebnisse.

IV. Im Vergleich mit der Wissenschafts- und Forschungsfreiheit in Deutschland Der Keim der Wissenschafts- und Forschungsfreiheit in Europa geht auf die griechische Idee zurück. Bis zum Mittelalter blieb die Wissenschafts- und Forschungsfreiheit in Europa allerdings nur beim ideologischen und geistigen Streben. „Die Methode der quaestio stellt hohe intellektuelle Anforderungen. Die mit einer solchen wissenschaftlichen Disziplin gewonnene Gedankenfreiheit war durchaus zu Hause in der mittelalterlichen Universität. Zwar geht das Ideal der Wissenschaftsfreiheit auf die griechische Antike zurück, aber die Grundlegung der akademischen Freiheit verdanken wir dem Mittelalter.“ 17 Im 18. Jahrhundert war Deutschland noch unter feudalistischer Herrschaft, während in anderen europäischen Ländern wie Frankreich und England die Verwirklichung des freiheitlichen Gedankens Formen annahm. Gerade wegen der geistigen Unterdrückung in der deutschen Geschichte tauchte Ende des 18. Jahrhundert eine große Zahl von Kämpfern für freiheitliche Gedanken und Ideen 18 auf. Der besondere politische Hintergrund 19 erlaubte es den deutschen ___________ 17

Hoye (Fn. 2), S. 15, s. http://www.hoye.de/name/quaestio.pdf (14.08.2007). Wie Immanuel Kant (1724–1804), Johann Gottlieb Fichte (1762–1814), Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831), Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling (1775– 1854). 19 „Die Umwälzung in den deutschen Ländern, die mit der dreifachen Niederlage Österreichs (1801, 1805, 1809) und der Vernichtung Preußens (1806) zusammenhing, war eine der spektakulärsten, aber auch der fruchtbarsten Aspekte der napoleonischen Expansion. Die französische Intervention im früheren Reich – sowohl in den Fürstentümern des Rheinbundes wie in den französisch verwalteten Gebieten – ist für eine Anzahl von Reformen verantwortlich, die, obwohl in vielen Fällen unvollkommen, die betroffenen deutschen Länder unwiderruflich in eine liberale Entwicklung zogen, welche mit der alten aristokratischen Ordnung brach. Österreich und Preußen, die außerhalb des napoleonischen Systems geblieben waren, schöpften, obwohl das eine unter dem Zwang der militärischen Besetzung und das andere unter dem einer dynastischen Allianz stand, gerade aus ihrer Erniedrigung die Kraft zu einem gewissen Neubeginn. (…) Es ist nicht immer leicht, bei dieser Reformbewegung, die für eine Weile das Preußen Steins, Humboldts und Hardenbergs und das Österreich Stadions und Metternichs beseelte, zwischen restaurativer Bestrebung oder Bewahrung der Vergangenheit und dem zu unterscheiden, was im Rückgriff auf die Tradition des aufgeklärten Absolutismus dazu beitragen könnte, diese Staaten wirklich zu modernisieren.“ s. Bergero, L. / Furet, F. / Koselleck, R., Das Zeitalter der europäischen Revolution 1780–1848, in: Fischer Weltgeschichte, Bd. 26, 1998, S. 152–153. 18

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Philosophen damals noch nicht, in ihren Diskussionen über die Freiheit den nationalistischen Rahmen zu durchbrechen. Auch aus diesem Grund konzentriert sich die Diskussion auf die gedankliche Auseinandersetzung und die wissenschaftliche Freiheit. Die Entwicklung in Deutschland war mit der Richtung der geistigen Freiheitsbewegung in Europa nicht identisch. Dies führt dazu, dass in Deutschland zuerst das Prinzip der Wissenschaftsfreiheit festgelegt wurde. Aus diesem Grunde werden heutzutage die Deutschen Universitäten immer wieder als Vorbilder der westlichen Wissenschaftsfreiheit genommen. Die Universität Halle in Deutschland wurde 1680 unter preußischer Herrschaft gegründet und war Mittelpunkt der Aufklärung und des Pietismus 20 . Friedrich Wilhelm III. konnte Preußen 1803 und 1805 erheblich vergrößern und äußerte nach der Niederlage im Krieg gegen Napoleon I. seinen Entschluss, den Verlust der materiellen Ressourcen des Staates durch die geistige Kraft kompensieren zu wollen. Eine neue Universität, die die Gesinnung der Freiforschung der Universität Halle weiter verfolgen könne, sollte gegründet werden. Vor diese Aufgabe sah sich der damalige Leiter der Sektion für Kultur und Unterricht im preußischen Innenministerium, Wilhelm von Humboldt, 21 gestellt. 1810 wurde die Universität Berlin gegründet. ___________ 20

Vertreter wie A. H. Francke, C. Thomasius, C. Wolff. „Preußischer Staatsmann, Sprach- und Kunstwissenschaftler, Vertreter des humanistischen Bildungsideals, geboren am 22.06.1767 in Potsdam, gestorben am 08.04. 1835 in Tegel. – H. entstammte als Sohn eines Offiziers dem preußischen Beamtenadel. Er wurde von Hauslehrern, u. a. von Joachim Heinrich Campe, erzogen, studierte in Frankfurt/Oder und Göttingen Rechtswissenschaft und besuchte 1789 Frankreich. Nach Ablegen der juristischen Prüfungen wurde er 1790 Referendar am Berliner Kammergericht, nahm aufgrund großer Unzufriedenheit mit der preußischen Justiz nach einem Jahr wieder seinen Abschied, heiratete Karoline von Dacheröden und zog sich zum Selbststudium auf das Gut seines Schwiegervaters nach Thüringen zurück. 1792 verfasste er die ‚Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen‘, in denen sich H. dafür aussprach, all jene Tätigkeiten dem Zugriff des Staates zu entziehen, die der freien, ungehemmten Wirksamkeit der Bürger entspringen. Selbst die öffentliche Erziehung wurde von H. abgelehnt, da sie darauf gerichtet ist, den Menschen in bürgerliche Formen zu drängen und Entfaltung von Individualität und Eigenart zu behindern. Nach seiner Übersiedelung nach Jena im Februar 1794 bekam H. Kontakt zu führenden Vertretern der Weimarer Klassik, wurde Mitarbeiter an Schillers „Horen“ und lernte die Brüder Schlegel kennen. Nachdem er 1797 Jena verlassen hatte, unternahm er von Paris aus Reisen nach Spanien. Von 1801 bis 1808 war er als preußischer Gesandter in Rom tätig und wurde 1809 Leiter der Sektion für Kultur und Unterricht im preußischen Innenministerium. In diesem Amt bereitete er die Gründung der Berliner Universität vor und konzipierte das neuhumanistische Gymnasium. 1810 ging er als preußischer Gesandter nach Österreich, nahm 1814/15 am Wiener Kongress teil und wurde 1816/17 nach London geschickt. Im Januar 1819 wurde er Minister für städtische und kommunale Angelegenheiten, doch aufgrund seines Auftretens gegen die Karlsbader Beschlüsse noch im selben Jahr zum Rücktritt gezwungen. Seit 1820 lebte H. auf dem väterlichen Schloss Tegel und widmete seine letzten fünfzehn Lebensjahre der Sprachforschung und Sprachphilosophie, deren Erkenntnisse er in zahlreichen Veröffentlichungen vorlegte. Schon seit 1829 immer stärker an der Parkinsonschen Krankheit 21

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Im frühen 19. Jahrhundert herrschte in Deutschland ein sehr traditionell orientiertes Bürgertum. Die Intellektuellen waren sozial und finanziell schlecht gestellt. Gestrebt wurde nach Anerkennung für intellektuelle Leistungen außerhalb der Kontrolle von Staat und Kirche. Die Neutralität der Wissenschaft wurde hervorgehoben. Dies hatte zur Folge, dass die Reform im frühen 19. Jahrhundert in Deutschland anders als in England und Frankreich verlief. Während die Humanisten in Deutschland zu den Wissenschaftlern zählten, hatten die Humanisten in England und Frankreich weniger Ansehen. Die Reform der Humboldt Universität Berlin legte Wert auf die staatliche Förderung mit minimaler Interventionsmöglichkeit. Durch die Reform wurde die Figur des Professors geschaffen und die Wissenschaft zum Beruf. Kern des deutschen Hochschulwesens ist das Prinzip der Wissenschafts- und Forschungsfreiheit. Nach diesem Grundsatz ist eine Universität im wahren Sinne zuerst eine Arbeitsstätte der freien wissenschaftlichen Forschung. Das heißt, die Lehrenden sind frei, zu forschen und ihre Forschungsergebnisse zu veröffentlichen. Diese Freiheit ist nicht einzuschränken und wird von keiner Autorität dirigiert. Politische, parteiliche oder soziale Meinungen dürfen nicht in sie eingreifen. Allerdings ist die Wissenschafts- und Forschungsfreiheit nicht absolut grenzenlos. Sie wird durch grundrechtsimmanente Schranken beschränkt, d. h. wenn ihr Gebrauch mit anderen Grundrechten oder Verfassungsgütern kollidiert, wird sie durch dieses kollidierende Verfassungsrecht beschränkt.

V. Einschränkungen der Wissenschafts- und Forschungsfreiheit in chinesischen Universitäten In der chinesischen Neuzeit zählten die Universitäten Beijing und Qinghua zu Wiegen der Wissenschafts- und Forschungsfreiheit. Der Präsident der Universitäten Beijing, Cai Yuanpei, reformierte im Jahre 1917 auf der Basis des Prinzips der „Gedankenfreiheit“ die Universität Beijing mit Erfolg. Seitdem ist das Ideal der Wissenschafts- und Forschungsfreiheit in den chinesischen Universitäten eingeführt. Damals war die Wissenschafts- und Forschungsfreiheit auf den chinesischen Campi spürbar. ___________ leidend gewesen, starb H. am 08.04.1835 und wurde vier Tage später neben seiner 1829 verstorbenen Frau im Familiengrab der Humboldts beigesetzt. – H.s philosophische Entwicklung war hauptsächlich von Kant, aber auch von den ästhetischen Anschauungen der Aufklärung und den Geschichtstheorien Herders, geprägt. Sein Wirken als Staatsmann mit der Bestrebung zu einer preußisch-liberalen Verfassung konnte aufgrund der konservativen Kräfte in Deutschland nicht zur vollen Geltung kommen. Mit seiner Sprachphilosophie ist H. zum Anreger der vergleichenden Sprachwissenschaft geworden. Besonders seine Gedanken einer von der Sprachanalyse ausgehenden Kulturphilosophie sind von der späteren Sprachforschung wieder aufgenommen und vertieft worden.“, s. http://www.bautz.de/bbkl/h/humboldt_w.shtml (14.08.2007).

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Im modernen China sind die Universitäten nicht mehr so wissenschaftlich orientiert wie früher. Von außen gesehen mangelt es einerseits am rechtlichen Schutz der Wissenschafts- und Forschungsfreiheit. Die von der Regierung finanzierten Wissenschaftler müssen sich der Politik unterwerfen. Andererseits wirken die inneren Verwaltungssysteme der Universitäten in der Regel nicht fördernd, sondern können sich als hinderlich für die Wissenschafts- und Forschungsfreiheit erweisen.

VI. Politische Faktoren Es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen Wissenschaft und Politik. Die Wissenschaft zielt hauptsächlich auf das durch Diskussion geschaffene Wissen, während die Politik besonderen Wert auf die Tat legt. In der chinesischen Geschichte lassen sich mehrere Beispiele für die politische Repression der Wissenschaft dokumentieren. 22 Im neuen China führte die Kommunistische Partei 1956 die Politik „BaiHuaQiFang, BaiJiaZhengMing“ ein, übersetzt heißt das: „Lasst hundert Blumen blühen, lasst hundert Schulen miteinander wetteifern“, ein, um die Kunst- und Wissenschaftsentwicklung unter der Leitung der KPV zu fördern und die Herrschaft der KPV zu konsolidieren. Leider wurde die Wissenschafts- und Forschungsfreiheit während der „Großen Kulturrevolution“ von 1966 bis 1976 sehr eingeschränkt und sogar verboten. Während dieses Zeitraums konnten die chinesischen Universitäten keine normalen Studienprogramme anbieten. Die Lehrenden hatten weder Zeit noch Möglichkeit für die Forschung. Zwischen Wissenschaft und Politik besteht zwar ein Konflikt, aber die beiden stehen sich nicht diametral gegenüber. Eine produktive Koexistenz könnte durchaus entstehen, wenn sich Politik und Wissenschaft miteinander austauschten. Die wissenschaftliche Diskussion darf nicht eingeschränkt werden, solange es nur um das Streben nach Wissen geht. Erst dann, wenn die Diskussion sich in eine Tat verwandelt, kann die Politik rechtmäßig eingreifen. Die demokratische Politik schützt von Natur aus die Wissenschafts- und Forschungsfreiheit, und die Wissenschafts- und Forschungsfreiheit unterstützt von Natur aus die demokratische Politik.

___________ 22 Das berühmteste Beispiel ist das so genannte „FenShuKengRu“, das heutzutage ein Sprichwort geworden ist. Wörtlich bedeutet es, dass die Bücher verbrennen und die konfuzianischen Gelehrten bei lebendigem Leib begraben werden sollen. In der Geschichte geht es um die Abrechnung des Kaisers Shi-Huangdi der Qin-Dynastie (der erste Qin-Kaiser) mit gegnerisch eingestellten Intellektuellen im Jahre 213 v. Chr.

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VII. Rechtliche Faktoren Art. 35 und 47 der Verfassung der VR China, Art. 10 des Hochschulgesetzes der VR China und Art. 7 des Lehrergesetzes der VR China bilden, wie oben ausgeführt, die gesamten rechtlichen Grundlagen der Wissenschafts- und Forschungsfreiheit in China. Bemerkenswert ist, dass diese Regelungen nur prinzipielle Erlaubnisse beinhalten, aber keine konkreten Maßnahmen vorschreiben. Rechtlich werden in China auch keine Verbotsnormen erlassen, um die Wissenschafts- und Forschungsfreiheit zu beschränken. Die verfassungsrechtlichen Normen in China dürfen nur selten und nicht als rechtliche Grundlagen der Rechtsprechung geltend gemacht werden. Zurzeit ist es dringend nötig, die Wissenschafts- und Forschungsfreiheit der chinesischen Hochschullehrer durch eine justizielle Überprüfungsmöglichkeit zu gewährleisten. Dies verlangt wiederum eine systematische Gesetzgebung in Bezug auf die betroffenen zu schützenden Freiheiten und Grundrechte. Insbesondere soll der Staat durch die Gesetzgebung die Sozial- und Geisteswissenschaftler vor Vergeltungen und Intrigen schützen.

VIII. Kulturelle Faktoren Die kulturelle Tradition einer Gesellschaft beeinflusst die diversen Stellungnahmen und die Wertschätzung des betreffenden Hochschulsystems. Für die chinesischen Universitäten und die chinesischen Hochschullehrer ist die Wissens- und Forschungsfreiheit ein aus Übersee eingeführtes Phänomen. Die Wissenschafts- und Forschungsfreiheit der Hochschullehrer hängt von dem gesellschaftlichen und kulturellen Hintergrund und von der Verständigung bzw. Unterstützung des Publikums ab. Die Universitäten und die Hochschullehrer müssen zeigen, dass sie ihre Arbeit ehrenhaft ausüben, erst dann können die Universitäten und die Hochschullehrer das Vertrauen der Gesellschaft und des Publikums gewinnen. Was den Einfluss der kulturellen Faktoren auf die Wissenschafts- und Forschungsfreiheit angeht, wirkt er leider nicht immer positiv in der chinesischen Universität. Dies liegt daran, dass China noch kein Rechtsstaat im europäischen Sinne ist und dass Autorität sowohl in der Gesellschaft als auch in den Universitäten immer noch eine entscheidende Rolle spielt. Im Großen und Ganzen ist China keine Gesellschaft unter der Herrschaft der Gesetze, sondern eine Gesellschaft unter der Herrschaft der Mächtigen. In gewissem Maße hindert dieser kulturelle Hintergrund das sachliche Miteinander und führt zu Heuchelei.

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IX. Wissenschaftliche Verwaltungsfaktoren In Europa entwickelte sich die Wissenschafts- und Forschungsfreiheit auch dadurch, dass die Universitäten die beliebigen Interventionen von Kirche und Regierung abschüttelten. Um die Wissenschafts- und Forschungsfreiheit der Hochschullehrer zu schützen, wird in den meisten europäischen Universitäten wie in Deutschland das System der Professur auf Lebenszeit durchgeführt. Die Professur auf Lebenszeit ist einerseits ein Mittel zur Verwirklichung und andererseits eine grundlegende Garantie der Wissenschafts- und Forschungsfreiheit. Das System gewährleistet, dass die Hochschullehrer ihre lehrende Tätigkeit in Freiheit und ohne Angst vor Zwang oder Strafe ausüben können. Art. 48 des Hochschulgesetzes der VR China sieht vor: „Es wird ein Anstellungssystem in den Hochschulen durchgeführt.“ Der eigentliche Zweck ist die Anspornung zum verantwortungsbewussten Lehren und Forschen der Hochschullehrer. Einige Jahre lang wurde Art. 48 zweckentsprechend angewandt. Dann jedoch wurde das Anstellungssystem anders verstanden. Es handelte sich nicht mehr um ein Anstellungssystem auf Zeit, sondern um ein System der Lehrerstellen auf Lebenszeit. Das bedeutete, dass die Wissenschafts- und Forschungsfreiheit in den Universitäten nicht verwirklicht wurde. Vielmehr verlieh man den Hochschullehrern die Freiheit, nicht zu forschen. Es ist jetzt an der Zeit für die chinesische Hochschulverwaltung, über die Reform der wissenschaftlichen Verwaltung nachzudenken. Das Anstellungssystem sollte das Verwaltungsmodell, die Bewertungs- und Beförderungskriterien, je nachdem, auf welchem Fachgebiet die Lehrenden tätig sind, einrichten und regulieren.

X. Finanzielle Verwaltungsfaktoren Die Wissenschafts- und Forschungsfreiheit der Hochschullehrer wird auch durch die unterschiedlichen finanziellen Verwaltungsmodelle der Universitäten eingeschränkt. Die finanziellen Verwaltungsmodelle der Universitäten hängen von den verschiedenen Fondsquellen ab. Die drei Hauptfondsquellen sind erstens die Geldzuwendungen durch den Staat, zweitens die Mittelbeschaffung von Universitäten, drittens Schulgeld von Studierenden und Einnahmen durch Dienstleistungen. Die erste Fondsquelle (Geldzuwendungen durch den Staat) bildet das so genannte „bürokratisch kontrollierende“ Verwaltungsmodell, worunter ein finanzielles Verwaltungsmodell mit staatlicher Kontrolle zu verstehen ist, da in diesem Fall der Staat und die Regierung die Forschung fördern. Die Fonds kommen von oben nach unten, und es ist dann erforderlich, dass die Universitäten sich den verschiedenen beschränkenden Bedingungen des Staates und der Regierung absolut unterwerfen. Dadurch könnte die Wissenschafts- und Forschungsfreiheit der Universitäten und der Hochschullehrer verletzt werden.

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Das mit der zweiten Fondsquelle (Mittelbeschaffung von Universitäten) finanzierte Verwaltungsmodell ist als „universitär kontrollierend“ zu betrachten. Die Grundeigenschaft dieses Modells ist, dass die Universitäten selbstständige Fonds besitzen. Dieses finanzielle Verwaltungsmodell kann zwar die Wissenschafts- und Forschungsfreiheit besser fördern, aber die Förderung ist nicht immer nützlich. Weil die Universitäten genügend finanzielle Mittel haben, könnte die Verantwortung der Universitäten und ihrer Angestellten nachlassen. Alle Arbeiten der Universitäten (Verwaltung, Forschung und Lehre) erfolgen dann nicht mehr um der Studierenden, des Staates und der Regierung willen, sondern um der Hochschullehrer willen. Manchmal wird sogar das Interesse der Hochschullehrer vernachlässigt und nur das Interesse der Investoren berücksichtigt. Die dritte Fondsquelle (Schulgeld von Studierenden und Einnahmen durch Dienstleistungen) ist marktorientiert. Unter diesem finanziellen Verwaltungsmodell verkaufen die Universitäten ihre Dienstleistung zum Lehren und Forschen, welche die Studierenden, die Regierung und die Unternehmen kaufen. In diesem Fall kommt die Macht der Wissenschafts- und Forschungsfreiheit in die Hand der Studierenden und der Käufer des Forschungsergebnisses. 23 Wenn Lehre und Forschung völlig autonom geworden sind oder streng kontrolliert werden, dann kann die Wissenschafts- und Forschungsfreiheit der Universitäten und der Hochschullehrer auch sehr leicht verletzt werden. Deshalb kann jedes einzelne finanzielle Verwaltungsmodell von den oben genannten drei Modellen allein keine solide Basis für die Wissenschafts- und Forschungsfreiheit schaffen. Die Universitäten und die Hochschullehrer brauchen eine Kombination der drei finanziellen Verwaltungsmodelle, um die wahre Wissenschafts- und Forschungsfreiheit zu bekommen.

___________ 23 Das ist der akademische Kapitalismus. Im 20. und 21. Jahrhundert gibt es immer mehr kommerzielle Handlungen in den Universitäten, und die Universitäten sind allmählich Unternehmensuniversitäten geworden. Das Interesse von Unternehmen spielt auf dem heutigen Campus eine führende Rolle und dies entspricht nicht der von Humboldt angeregten und geförderten Wissenschaft. „Alexander von Humboldt war ein Entdecker und Kosmopolit, ein Universalgelehrter und Streiter für die Freiheit der Forschung, ein Humanist und Förderer exzellenter Wissenschaftstalente.“ Und die Alexander-von-Humboldt-Stiftung fördert „Personen und keine Projekte. Denn auch in Zeiten zunehmender Teamarbeit bleiben das Können und der Einsatz des Einzelnen entscheidend für wissenschaftlichen Erfolg“, dazu s. http://www.humboldt-foundation.de/de/ stiftung/leitprinzipien.htm (14.08.2007).

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XI. Resümee Rudolf Smend 24 sagte: „Grundwert der Wissenschaft ist das Streben nach Wahrheit“. Um zur Wahrheit zu kommen, muss man die Freiheit haben, Forschungsobjekte zu wählen, die Forschung zu planen und Forschungsinhalte systematisch zu äußern und zu erklären. Da die Universitäten in China nicht isoliert sind, ist es unvermeidlich, dass ihnen der Einfluss und die Intervention der Gesellschaft und der Regierung entgegenkommen. Heutzutage sind die chinesischen Universitäten von den finanziellen Förderungen abhängig. Gleichzeitig können sie sich schwer ihrer sozialen und moralischen Verantwortung entziehen. Einerseits bekommen sie also von der Gesellschaft und der Regierung vielfältige Unterstützung durch Material, Energie, Informationen usw. Andererseits sollen die Universitäten möglichst der Gesellschaft dienen. Wenn die Universitäten keine Sozialgüter schaffen, dann laufen sie Gefahr, von anderen Institutionen ersetzt zu werden. Aus diesem Grund dürfen die Universitäten in der modernen chinesischen Gesellschaft die Gesellschafts- und Regierungsintervention nicht übersehen. Die Universitäten in China müssen sich bemühen, die Wissenschafts- und Forschungsfreiheit zu sichern; hierfür spielen die Garantie des Systems, die Anstrengungen der Hochschullehrer und der Universitätspräsidenten eine entscheidende Rolle. Die Universitäten und die Hochschullehrer sollten durchaus aktiv und ausgewählt Regierungsinterventionen annehmen. Dabei sollten sie aber immer ihr Eigeninteresse im Auge behalten und Regierungsinterventionen nur in einem bestimmten Ausmaß akzeptieren. Es ist ferner dringend nötig, durch justizielle Überprüfung die Wissenschafts- und Forschungsfreiheit der chinesischen Hochschullehrer sicherzustellen. Dies verlangt wiederum eine systematische Gesetzgebung für die betroffenen zu schützenden Freiheiten und Grundrechte. Insbesondere sollte der Staat durch seine Gesetzgebung die Sozial- und Geisteswissenschaftler vor Vergeltungen und Intrigen schützen.

___________ 24

Carl Friedrich Rudolf Smend (1892–1975), Sohn und Vater von in Göttingen tätigen Theologen, war Staats- und Verfassungsrechtler, zog 1889 mit seinem Vater nach Göttingen um und studierte in Basel, Berlin, Bonn und Göttingen. In seiner Dissertation geht es um das Verhältnis der preußischen Verfassungsurkunde zur belgischen. 1922 begann er seine Karriere an der Universität Berlin. 1935 musste er auf Druck der nationalsozialistischen Machthaber zurück nach Göttingen. Sein Forschungsschwerpunkt lag zunächst beim Staats- und Verfassungsrecht, später dann beim Verhältnis von Kirche und Staat. Aufgrund seiner „Integrationslehre“, die in seinem Hauptwerk von 1928 „Verfassung und Verfassungsrecht“ niedergelegt ist, versteht man heute Grundrechte als eine Werteordnung. Seine Staatstheorie hat wichtige Bedeutung für den Aufbau des demokratischen Staates in Deutschland nach 1945. Weiteres über Rudolf Smend s. http://www.stadtarchiv.goettingen.de/personen/smend.htm (14.08.2007).

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Generell hat das Recht die Funktion der Entwicklung des Guten und der Verwerfung des Übels. Kein Gesetz darf verletzt werden. Das Gesetz verleiht dem Menschen sowohl Rechte als auch Pflichten. Das Gleiche gilt auch für die Wissenschafts- und Forschungsfreiheit, es bestehen für sie sowohl rechtliche Gewährleistungen als auch rechtliche Bindungen. Deutschland kann auf eine lange Tradition bezüglich der Wissenschafts- und Forschungsfreiheit zurückblicken. Einige Verfassungen25 in der deutschen Geschichte enthalten Bestimmungen über die Wissenschafts- und Forschungsfreiheit. Gleichzeitig regelt das deutsche Hochschulrahmengesetz, dass der Forschungsinhalt der Hochschulen innerhalb des Aufgabenbereichs der Hochschulen liegt. Wissenschaft und Forschung haben letztlich das Ziel, dem Fortschritt der Gesellschaft zu dienen. Um zu vermeiden, dass die Hochschullehrer nur um der Wissenschaft willen forschen, wird in Deutschland immer mehr die Rolle der Hochschulen in der Wirtschafts- und Sozialentwicklung betont. Nicht zuletzt soll die Verfassung die politischen Gewalten binden, damit die Grundrechte im politischen System des Staates wirken. Voraussetzung dafür ist, dass die Grundrechte zu unmittelbar geltendem Recht erklärt werden. Hierfür ist Deutschland ein Vorbild.

___________ 25 Art. 142 der Weimarer Verfassung des Deutschen Reichs vom 11.08.1919; Art. 5 III des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland vom 23.05.1949.

„Eigentum als Menschenrecht“ – weder nach deutschem noch nach Völkerrecht geschützt Walter Leisner Dieter Blumenwitz – das war ein wissenschaftliches Leben für die Menschenrechte, sein ganzes Werk steht dafür, und daher auch zu Recht diese Gedächtnisschrift. Beim Eigentum hat gerade er erleben müssen, wie Gerechtigkeit, wieder einmal, an Siegergewalt gescheitert ist, wie Staats- und Völkerrecht volent au secours de la Victoire. Gedächtnisschriften setzen Erinnerungen fort – hier an einen menschlichen und geistigen Freund, seit jenen fernen Tagen, an denen er noch des Verfassers Schüler war. Gedächtnisschriften dürfen aber auch Grabreden auf enttäuschte Überzeugungen sein, die es rechtlich zu beerdigen gilt – bis sie, vielleicht, doch auferstehen. Dies ist, in doppelter Trauer, das Thema der folgenden Betrachtungen.

I. Die Groß-Revolutionen: beim Eigentum gescheitert Zwei Aufstände haben das Denken der Neuesten Zeit tief geprägt, vor allem ihr Öffentliches Recht: die Französische und die Russische Revolution. Beide wirken in ihren Gedanken machtvoll weiter – jene in den Menschenrechten, diese in der sozialen Gleichheit. Doch beide sind in ihrem Grundanliegen gescheitert, das ihnen gemeinsam war, wenn auch in radikal-konträrer Zielvorstellung: 1789/90 war zu allererst Eigentums-Revolution: dieses „verschüttete“ Recht sollte wieder hergestellt und dann auf ewig unverbrüchlich bleiben, als ein „droit inviolable et sacré“. 1 Die Russische Revolution wollte das Eigentum vernichten, bis auf seine Spuren in den Taschen der Bürger, in einem omnia mea mecum porto. Darin ist ihr realer Sozialismus „blamabel gescheitert“. 2 Das Schicksal des „Eigentums als Menschenrecht“, welches die französischen Revolutionäre so unmissverständlich wollten, wie man es in dieser klarsten unter den modernen Rechtssprachen nur ausdrücken kann, ist weniger spektakulär; die Beerdigung ist achtungsvoll, Hoffnungsreden statt Abschied. Doch ob ___________ 1

Art. 17 der Universellen Erklärung der Menschen- und Bürgerechte von 1789. Depenheuer, O., in: v. Mangoldt, H. / Klein, F. / Starck, Ch. (Hrsg.), Grundgesetz, 5. Aufl. 2005, Art. 14, Rn. 4. 2

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eine spätere Zeit nicht auch diese langsame Auflösung blamabel nennen wird, gemessen an ursprünglichen Begeisterungen, heuchlerisch vielleicht, wie es aber Begräbnissen wohl ansteht – darüber soll im Folgenden nur nachgedacht werden; Entscheidung ist nicht Sache der Rechtswissenschaft, aber sie darf trauern.

II. Bekenntnis zu Menschenrechten – universelle Ideologie der Demokratie 1. Das grundgesetzliche Bekenntnis zu den „Menschenrechten“ Kaum ein Rechts-Wort geht politisch Verantwortlichen gegenwärtig leichter von den Lippen als „Menschenrechte“ und ihr Schutz, über kein „gutes Wort“ sind sich Bürger wie Staaten überzeugter einig, als Grundlage ihrer gemeinsamen „Werte“. In ihrem Namen wird diese „Wertegemeinschaft“ beschworen, das Fundament der Europäischen Einigung. 3 Das Grundgesetz hat an seine Spitze, sogleich nach der Proklamation des höchsten Wertes der Menschenwürde, in Art. 1 Abs. 2 das Bekenntnis zu „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten“ gestellt und es unmittelbar auf jene Menschenwürde gegründet („darum“). Die „nachfolgenden Grundrechte“ (Art. 1 Abs. 3 GG) bilden schließlich – gewissermaßen in die konkrete Rechtsgeltung absteigend, eine dritte Stufe: von Menschenwürde über Menschenrechte zu Grundrechten – damit aber doch auch zum Eigentum Privater (Art. 14 Abs. 1 GG). Die Formulierung des Art. 1 GG übernimmt die französischen Begriffe (inviolable, inaliénable) ausdrücklich und stellt damit die historische Verbindung her zur universellen Menschenrechtlichkeit der Französischen Revolution, welche in der deutschen Staatslehre früh schon aufgenommen worden war. 4 Die Menschenrechte waren für die französischen Revolutionäre weit mehr als internrechtliche Staatsgrundsätze. Von vorneherein und wesentlich erreichten sie die Dimension einer demokratisch-parlamentarischen Freiheits-Ideologie, die an den Grenzen auch des größten Staates nicht Halt machen durfte, die als solche daher ins Völkerrecht hinüberwirken musste. Dies fand schon verbal seinen Ausdruck in der Déclaration universelle des Droits de l’Homme et du citoyen; und diesen Zug einer universalistischen Rechtsideologie hat das Grundgesetz geradezu ausdrücklich aufgenommen, während er zunächst im Völkerrecht im Zuge der Nationalstaatlichkeit des 19. Jahrhunderts zurücktrat. Das ___________ 3 Vgl. insb. Art. 6 Abs. 1 EUV, dazu für viele m. Nachw. Calliess, Ch. / Ruffert, M. (Hrsg.), EUV/EUG, Kommentar, 3. Aufl. 2007, Art. 6, Rn. 1 ff. 4 Vgl. dazu näher m. Nachw. Suppé, R., Die Grund- und Menschenrechte in der deutschen Staatslehre des 19. Jahrhunderts, 2004, S. 50 ff.

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Deutsche Volk bekennt sich zu den Menschenrechten „als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ (Art. 1 Abs. 2 GG).

2. Die Folge: Grenzüberschreitende normative Wirkung des Verfassungs-Bekenntnisses Der Inhalt dieser Proklamation ist also ausdrücklich ein doppelter, und er ist ein normativer, mit grenzüberschreitender Wirkung: – Einerseits erkennt der deutsche Volkssouverän – und damit nach Völkerrecht der deutsche Staat – nur solche Gemeinschaften als legitim, wenn nicht gar als legal 5 an, welche sich wie er „zu Menschenrechten bekennen“, in denen diese also die staatsideologische Grundlage bilden. – Zum anderen bekennt sich der deutsche Staat nur zu einem Völkerrecht, das „auf der Grundlage der Menschenrechte“ jedenfalls legitimationsmäßig, wenn nicht pyramidal-legal, aufruht. Denn „Friede und Gerechtigkeit in der Welt“ zu gewährleisten, ist zentrale Aufgabe der Völkerrechtsordnung; sie lässt sich nach dem Grundgesetz daher nur unter Anerkennung der Menschenrechte, unter einem Bekenntnis zu ihnen erfüllen. Diese grundgesetzliche Überzeugung hat nach Art. 79 Abs. 3 GG höchsten normativen Rang. Sie steht daher noch über all jenen allgemeinen Regeln des Völkerrechts, welche Art. 25 GG in die grundgesetzliche Ordnung rezipiert hat. 6 Die normativ eindeutige Folge, die, soweit ersichtlich, bisher noch nicht entschieden genug gezogen wurde, kann nur sein: Das völkerrechtliche Nichteinmischungsgebot, die Achtung fremdstaatlicher Souveränität 7 ist unstreitig eine allgemeine Regel des Völkerrechts. Es steht aber unter dem Vorbehalt des normativ ranghöheren Bekenntnisses zu Menschenrechten, welche als „menschliche Gemeinschaft“ nur ein Gebilde anerkennen lassen, in dem eben diese Menschenrechte Staatsgrundlage sind. Die unabweisbare, wenn auch praktischpolitisch höchst bedenkliche Folgerung ist, dass sich der deutsche Staat grundsätzlich über die Achtung der Souveränität fremder Völkerrechtssubjekte ___________ 5 Im Sinne der Ableitung aus einer höheren, vor- oder überstaatlichen, aber eben doch aus einer Normschicht im kelsenianischen Sinn. 6 So die h. L. im Anschluss an BVerfGE 37, 271 (279); BFHE 157, 39 (43); Herdegen, M., in: Maunz, Th. / Dürig, G. (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 25, Rn. 42; dies gilt selbst dann, wenn man – mit Steinberger, H., in: Isensee, J. / Kirchhof, P. (Hrsg.), HStR VII, S. 557 f. – den allgemeinen Regeln Verfassungsrang zubilligt. Die Auffassung von Pernice I., vom Überverfassungsrang, in: Dreier, H. (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 25, 2. Aufl., Rn. 23 f., ist dagegen kelsenianisch gedacht, scheitert hier aber am Wortlaut des Grundgesetzes. 7 Vgl. Ipsen, K., Völkerrecht, 5. Aufl. 2004, §§ 26, 28, 29.

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hinwegsetzen darf, ja vielleicht muss, wenn dort „die Menschenrechte nicht Gemeinschaftsgrundlage sind“.

3. Deutschland – kraft Verfassung „Weltpolizist der Menschenrechte“? Die geradezu absurden Konsequenzen solcher Menschenrechtsideologie kraft grundgesetzlicher Weisung, welche Deutschland weltpolitisch völlig isolieren würden, lassen sich nur auf folgenden Wegen normativer Interpretation vermeiden: a) Es wird angenommen, die normativ-bindende Wirkung des Art. 1 GG setze erst mit seinem Absatz 3 ein – vorher nur Bekenntnisse. Problem ist hier allerdings, dass die normative Wirkung der Menschenwürde dann nicht mehr gesichert werden kann, die ja in Abs. 1 verankert ist.8 b) Das Friedlichkeitsgebot des Grundgesetzes9 wird als Schranke des Menschenrechtsgebots aufgefasst, mit der möglichen Folge, dass dieses Letztere nur soweit verfolgt werden darf, wie dies nicht den Frieden gefährdet – der allerdings doch wieder (nur) auf der Grundlage der Achtung der Menschenrechte beruhen soll. c) Die Menschenrechte sind zwar notwendige Grundlagen aller staatlichen Gemeinschaften; daraus folgt aber keine verfassungsrechtliche Verpflichtung, diese Erkenntnis mit (deutscher) Staatsgewalt durchzusetzen, also keine „(völkerrechtliche) Interventionskompetenz“. Dagegen spricht jedoch immerhin, dass das Grundgesetz nicht nur eine Erkenntnis formuliert, sondern ein Bekenntnis; und selbst wenn sich daraus kein Zwang zu „aktiver Weltpolizei“ ergibt, so könnte es doch das Gebot begründen, Kontakte mit menschenrechtsfeindlichen Staaten auf ein Minimum der Friedenswahrung zu beschränken. d) Das Menschenrechtsgebot kann schließlich – und dies mag der praktisch am besten gangbare Weg sein – relativiert werden durch eine globale Gestattung, völkerrechtlichen Verkehr (nur) zur Förderung der Menschenrechte im fremden (Vertrags-)Staat zu pflegen. Dies Letztere lässt sich dann vielleicht ___________ 8

Zur Diskussion darüber für viele Starck, Ch., in: Mangoldt, H. v. / Klein, F. / Starck, Ch. (Hrsg.), Grundgesetz, 5. Aufl. 2005, Art. 1 Rn. 14 ff., der in Rn. 132 dem Bekenntnis eine moralische Geltung zuerkennen will. Mit der Begründung, das Grundgesetz gelte doch nur in Deutschland (ebd.), lässt sich das Problem aber nicht lösen. Denn nach dem Wortlaut des Grundgesetzes anerkennt eben der deutsche Volkssouverän die nicht-menschenrechtlich fundierten Gemeinschaften nicht, dies ist eine normative Rechtswirkung, welche deutsche Staatsorgane auch im internationalen Verkehr bindet. 9 Dazu m. Nachw. Leisner, W., Demokratie – eine friedliche Staatsform?, in: JZ 2005, S. 809 ff.

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auch als deutsche außenpolitische Staatsdoktrin begreifen, etwa gegenüber Ländern wie China.

4. Dennoch: Grenzüberschreitende Ideologiekraft der Menschenrechte – Vorgabe für Staats- und Völkerrecht und für die „Eigentumsfrage“ So mag es denn – mit rechtlicher Mühe und vielen Problemen – gelingen, die normative Sprengkraft internrechtlicher demokratischer Menschenrechtsideologie in die Völkerrechtsordnung hinein zu domestizieren. Doch internationale Menschenrechtseuphorie lässt sich damit nicht delegitimieren, ja kaum abbremsen. Der viel kritisierte „US-Menschenrechtsexport“, mit allen Mitteln, vor allem in den Mittleren Osten, kann sich letztlich eben doch auf ein normatives Bekenntnis berufen, wie es über dem Eingang zur grundgesetzlichen Ordnung steht; und nicht Angelsachsen, sondern Deutsche sind begründungspflichtig dafür, dass sie ihre Staatsdoktrin nicht in fremde Länder tragen. Demokratie ist eben doch auch eine ideologiegetragene Staatsform, mag sie auch aus Ideologiezerstörung entstanden sein, gerade neuerdings oft in diesem Sinn gewirkt haben. Deutsche, grundgesetzliche Demokratie ist also dazu normativ verpflichtet oder verdammt – „Menschenrechte“ ernst zu nehmen, den Begriff mit normativen Inhalten zu erfüllen. Dies ist nun der Ausgangspunkt für die folgende Betrachtung: Wie hält es das deutsche Verfassungsrecht mit den Menschenrechten, jenseits von Art. 1 Abs. 2 GG, wie steht dazu das Völkerrecht? Wird dies nicht zur Gretchenfrage, wenn es darum geht, ob „Eigentum als Menschenrecht“ zu begreifen ist, was „Menschenrechte“ wert sind, wenn das Eigentum nicht oder nur mehr in einer bis zur Geschmacklosigkeit verdünnten (Auf-)Lösung dazu gehört. Wer mit solcher Euphorie das Banner der Menschenrechte in fremde Länder trägt wie – letztlich eben doch auch – die deutsche Staatsgewalt, der muss sich das fragen lassen. So soll denn zunächst ein Blick auf die menschenrechtliche Eigentumssicherung in Deutschland fallen (i. Folg. III), bevor dann der Schutz von „Eigentum als Menschenrecht im Völkerrecht“ (i. Folg. IV) zum Gegenstand der Untersuchung wird.

III. „Eigentum als Menschenrecht“ in Deutschland 1. Die These a) „Das Eigentum als Menschenrecht“ – das war eine, vielleicht die wichtigste Grundsatzfrage der Eigentumsdogmatik. Sie wurde in den Anfangszeiten

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der grundgesetzlichen Ordnung gestellt von Günter Dürig, einem der bis heute bedeutendsten Vertreter der deutschen Staatsrechtswissenschaft. 10 In der Folgezeit wurde dies als These aufgenommen 11 und es wird bis heute vertreten. 12 Die Begründung liegt nahe, wenn nicht auf der Hand und muss daher nicht in Einzelheiten wiederholt werden. Wenn „Eigentum Freiheit ist“, 13 wie es das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung betont, 14 wenn seine Raumschaffungs- und Sicherungswirkung für „die Freiheit“ eine so vielfältige und bedeutsame ist, wie dies die h. L. annimmt, so ist Eigentum nur dann kein Menschenrecht, wenn entweder auch Freiheit keine Menschenrechtsqualität besitzt – eine absurde Vorstellung, welche den Menschenrechtsbegriff als solchen aufhebt. Oder Freiheit muss vorstellbar sein ohne Eigentum: als das von Karl Marx angeprangerte Recht des Proletariers, unter Brücken zu verhungern, dessen Kritik aber auch in Plattenbauten den „real existierenden Sozialismus“ nicht überlebt hat. Die grundsätzliche Leugnung von „Eigentum als Menschenrecht“ erscheint also kaum vollziehbar. b) Es kann daher, so scheint es doch, nur um die bereits von Dürig aufgeworfene Frage 15 gehen, wie weit die Menschenrechtsqualität des Eigentums reicht, sein „Menschenrechtskern“; denn ein menschenrechtlich unbedingter Schutz für jede einzelne eigentumsrechtliche Position ist ebenso problematisch wie die vollständige Leugnung jeder Menschenrechtsqualität in diesem Schutzbereich. Für die französischen Revolutionäre löste sich das Dilemma unschwer: In ihrer radikalen Gesetzesgläubigkeit war es La Loi, welche alles Eigentum zugleich sicherte und beschränkte; ein gesetzlicher Eigentumsentzug großen Stils ohne eine Entschädigung, welche wieder anderes Eigentum gewährleistete, war in jener Zeit undenkbar. Ein für allemal war ja die fundamental und säkular ungerechte Eigentumsordnung 1789 beseitigt worden; nun gab es nur mehr Eigentum als Menschenrecht, allein durch den volkssouveränen Gesetz___________ 10 Dürig, Das Eigentum als Menschenrecht, in: ZgesStW 109 (1953/54), 326 ff.; ders., in: Maunz / Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 1 Abs. 2 (Erstbearbeitung), Rn. 90 m. w. N. 11 Vgl. Leisner, W., Eigentum – Schriften zu Eigentum und Wirtschaftsverfassung, 1970-1996, 1996, S. 7 ff.; ders., in: Isensee, J. / Kirchhof, P. (Hrsg.), HStR VI, 1. Aufl. 1989, § 149, Rn. 18 ff. m. w. N. 12 Depenheuer, in: Mangoldt, H. v. / Klein, F. / Starck, Ch. (Hrsg.), Grundgesetz, 5. Aufl. 2005, Art. 14, Rn. 11. 13 Dürig, G., Der Staat und die vermögenswerten öffentlich-rechtlichen Berechtigungen seiner Bürger, in: Maunz u. a. (Hrsg.), Festschrift für W. Apelt, 1958, S. 13 (30 ff.). 14 Etwa BVerfGE 367 (389); 61, 82 (108 f.); 78, 58 (73); 79, 292 (303 f.); nähere Ausführungen dazu bei Depenheuer (Fn. 12), Rn. 12 ff. 15 Fußnoten 10, 13.

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geber entziehbar – nach damaligen Vorstellungen, letztlich doch nur wandelbar, über Entschädigung. Die moderne Frage nach entschädigungsloser Einschränkung des Eigentums stellte sich also nicht für einen auf Immobiliareigentum gestützten Begriff, nach dem jede Beeinträchtigung sogleich als entschädigungsrechtlich bewertbar erschien. Einem solchen Denken wurde daher „Eigentum als Menschenrecht“ gar nicht zum Grundsatzproblem – ganz abgesehen davon, dass es als freies Bürgereigentum ohnehin dem Liberalismus faktisch als sakrosankt erschien. Eigentum konnte nur als solches geleugnet werden, von Proudhon bis Marx – oder es war eben Menschenrecht. c) Für die Gegenwart mit ihrer beispiellosen Verfeinerung legaler, administrativer und judikativer Einschränkungs- und Umverteilungsmechanismen muss dagegen „Eigentum als Menschenrecht“ zu einem nicht nur nahezu, sondern schlechthin unlösbarem Grundsatzproblem des modernen Rechts werden. Wie ist ein „Menschenrecht“ überhaupt vorstellbar, das so tiefen Eingriffen, derart weitgehenden Relativierungen ausgesetzt ist wie das Eigentum in seinem doch so weitreichenden verfassungsrechtlichen Schutzbereich? Diese Schutzbereichserweiterung, vor allem ins Sozialrecht hinein, 16 ist zutreffend, wenn auch ergebnislos kritisiert worden; 17 sie hat die Schutzintensität des Grundrechts entscheidend abgeschwächt. Dem ist das weitere, grundsätzliche Bedenken hinzuzufügen, dass derartige Relativierungen, etwa aus der Zahlungsunwilligkeit der Versichertengemeinschaft, einem „Menschenrecht“ gegenüber schlechthin nicht mehr nachvollziehbar sind. „Menschenrecht“ kann doch dogmatisch nur eines heißen: das, was seit der französischen Revolution sogar sprachlich immer mit dem Begriff verbunden worden ist – Unverletzlichkeit. Wenn dies nicht mehr gilt, oder über „Einschränkbarkeit“ unterlaufen wird (dazu i. Folg. 2), so bleiben nur zwei Wege offen: Völliger Abschied vom „schönen Wort Menschenrechte“, oder zumindest: Eigentum ist kein Menschenrecht.

2. Abschied vom „Eigentum als Menschenrecht“ im deutschen Recht a) „Eigentum als Menschenrecht“ ist sicher nicht staatsrechtliche Mode in Deutschland; die meisten Autoren vermeiden sorgfältig dieses Wort – ohne es allerdings offen abzulehnen. Dahinter steht in der deutschen Staatsrechtsdogmatik vor allem etwas, das man das „schlechte Naturrechtsgewissen“ nennen könnte. Nach 1945 wurde das deutsche Verfassungsgebäude nun wirklich, wie Rudolf Smend es zwanzig Jahre früher für Weimar gewollt hatte, auf einem ___________ 16 17

Ausgehend von BVerfGE 40, 65 (82 ff.), insbes. BVerfGE 53, 257 (288 ff.). Vgl. für viele Depenheuer (Fn. 12), Rn. 182 ff. m. Nachw.

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Konsens der Bürger errichtet: im Namen einer Freiheit, die normativ „aufgehängt“ war hoch oben im Naturrecht. Ausdruck dieser Überzeugung war die invocatio Dei in der Präambel und, vor allem, das Bekenntnis zu Menschenrechten in Art. 1 Abs. 2 GG. „Menschenrechte“ waren nichts als der säkularisiert-normative Ausdruck dieses vorstaatlichen Rechts. Lange sollte das nicht halten: Unterspült, als Rechtsgrundlage gewissermaßen „unterfangen“ durch vordringenden Positivismus, geschwächt durch den rasanten Niedergang von Glaubensüberzeugungen und durch neomarxistische Renaissancen verdämmerte das Naturrecht als normative Rechtsgrundlage, ja als Legitimationsbasis. Schon bei der rechtlichen Bewältigung des DDR-Unrechts entsprach die Berufung auf Menschenrechte in den „Mauerschützenprozessen“ zwar noch h. L., 18 sie war aber nicht mehr politisch und rechtswissenschaftlich konsensgetragen. Inzwischen führt das Naturrecht ein dogmatisches Schattendasein im rechtswissenschaftlichen Empyreum; die Menschenrechte haben ihren normativen Halt verloren. b) Doch die Rechtsdogmatik hat mit dieser Entwicklung ihren rechtstechnischen Frieden gemacht: „Unverletzlich“ sei nur eine pathetische Ausdrucksweise für das Gebot, nichts zu verletzen. 19 Und, vor allem: „Einschränkung“ auf gesetzlicher Grundlage sei doch nicht „Verletzung“ 20 – womit die dennoch ständig beschworene Normenpyramide, vom einfachen Gesetz zur Verfassung, auf den Kopf gestellt wird. Mit dem Verbal-Kunstgriff der „Einschränkung“ entschuldigte die Dogmatik auch tiefstgehende Eingriffe in unverletzliche Menschenrechte, vor allem in das Eigentum, das manche damit geradezu unter einen allgemeinen Gesetzesvorbehalt (des Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG) stellen wollten. War das nicht genuin französisch-revolutionär gedacht [vgl. oben 1.b)] – der Gesetzgeber als Wächter der Menschenrechte? Warum es dann allerdings eine Eigentumsgarantie in der Verfassung geben sollte, Grundrechte überhaupt, und nicht nur die Gesetzes-Legalität der Rechtsstaatlichkeit – das blieb offen. c) Weiter darf also generell – aber „unpathetisch“ – von „Menschenrechten“ gesprochen werden. Und das Staatsrecht müht sich immerhin, beim Eigentum einen gesetzesfesten Verfassungskern zu schützen, die Privatnützigkeit, 21 lässt diesen allerdings dann „fast schrankenlos einschränken“ – weithin kaum mehr fassbar. Selbst Verfassungsergänzungen werden zwar verfassungsgerichtlich auf ihre Vereinbarkeit mit dem Kernbereich des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG ___________ 18 BGHSt 39, 1 (14 ff); 39, 168 (181 ff); 40, 241 (250); 41, 101 (111 f.); BVerfGE 95, 96 (131 ff.). 19 Starck (Fn. 8), Rn. 134. 20 Starck (Fn. 8), der so das „Missverständnis“ des Vorkommentators ausräumen will, der noch – unbefangen, aber zutreffend – „unverletzlich“ als sachlich unrichtig bezeichnete. 21 BVerfGE 79, 292 (304); 81, 29 (33) und öfter.

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überprüft; 22 allerdings wurde hier die Bodenreform nur damit gerechtfertigt, dass ja das Grundgesetz 1946 (noch) nicht gegolten, der Gesetzgeber damals also nicht daran gebunden gewesen sei. Damit wurde eine naturrechtliche Begründung der Eigentumsgarantie kaum mehr verhüllt abgelehnt, die Menschenrechtsfrage für das Eigentum jedenfalls nicht gestellt. d) Das dogmatische Ergebnis ist, zumindest nach dieser Rechtsprechung, eindeutig: Nach deutschem Staatsrecht ist „Eigentum kein Menschenrecht“ mehr, auch nicht in den engen Kernbereichen, in denen Dürig 23 es als solches gesichert sehen wollte. Welche normative Bedeutung dem Begriff „Menschenrecht“ dann überhaupt noch zukommen soll, bleibt damit völlig offen. Denn wenn er für das Eigentum normativ nichts bedeutet – was fügt er dann an Bedeutung jenen anderen Grundrechten hinzu, welche doch (nahezu) ebenso weit oder noch weiter gesetzlich eingeschränkt werden dürfen als Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG? Dies alles spricht rechtlich dafür, dass das Grundgesetz erst ab Art. 1 Abs. 3 normativ wirkt; was davor steht, ist Rechtspathos, der Allmächtige und – seine – Menschenrechte. Politisch ist Berufung auf sie Heuchelei; deutsches Recht deckt sie nicht. Das Wort mag gebraucht werden – es ist hohles Pathos.

IV. „Eigentum als Menschenrecht“ im Völkerrecht 1. Die Fragestellung Doch Deutschland ist Mitglied einer Völkergemeinschaft, deren allgemeine völkerrechtliche Regeln mit jedenfalls übergesetzlichem Rang im Inneren gelten. 24 Wenn es also Eigentumsschutz auf der Grundlage einer allgemeinen Regel des Völkerrechts gäbe, so ginge dies allen einfachgesetzlichen Eigentumsbeschränkungen des nationalen Rechts vor. Völkervertragsrecht gehört zwar, wegen seiner fehlenden allgemeinen Geltung, nicht zu diesen allgemeinen Regeln des Völkerrechts, 25 doch über die Transformationswirkung nach Art. 59 Abs. 2 GG kommt ihm jedenfalls einfachgesetzliche Normqualität zu. Soweit hier also „Eigentum als Menschenrecht“ geschützt wird, könnte dem zwar der deutsche einfache Gesetzgeber grundsätzlich normativ derogieren; dies wäre aber, schon nach dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des deutschen Rechts, 26 nicht zu vermuten. Offen zum Ausdruck ___________ 22 23 24 25 26

Art. 143 Abs. 3 GG, vgl. BVerfGE 84, 90; 94, 12 (34). Fußnoten 10, 13. BVerfGE 75, 1 (18 f.). Std. Rspr. des BVerfG, vgl. etwa BVerfGE 100, 266 (269). BVerfGE 18, 112 (121); 31, 58 (75 f.); 75, 1 (17).

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gebracht würde eine solche interne „Gegengesetzgebung“ überdies Deutschland vertragsbrüchig werden lassen. Es ist mithin davon auszugehen, dass völkerrechtlicher Schutz des „Eigentums als Menschenrecht“ mit dieser normativen Qualität auch in Deutschland gelten würde – unbeschadet des „deutschen Abschieds von den Menschenrechten“ (oben III. a. E.). Es lohnt sich also auch aus Sicht des internen Rechts zu prüfen, wie das Eigentum völkerrechtlich geschützt ist.

2. Eigentum als Menschenrecht – durch Allgemeines Völkerrecht geschützt? Beschränkt man die Betrachtung zunächst auf die Allgemeinen Regeln des Völkerrechts in ihrem herkömmlichen Verständnis von Völkergewohnheitsrecht, so kann von einem „Schutz des Eigentums“ als solchem nicht die Rede sein. a) Als „Menschenrecht“ kann das Eigentumsrecht nur geschützt werden, wenn es als solches (jedenfalls) allen natürlichen Personen zugesichert ist, nicht nur gewissen Rechteinhabern, bestimmten Rechtsträgern oder Gruppierungen von solchen, oder es dürfte auch nicht allen natürlichen Personen nur unter ganz bestimmten Umständen zustehen. Von vorneherein müssen also ausscheiden völkerrechtliche Normen des Eigentumsschutzes, die lediglich in bewaffneten Konflikten gelten, 27 aber auch der Schutz von „diplomatischem Eigentum“ oder Besitz fremder Staaten. 28 Sie werden nicht wegen eines besonderen Bezuges der Eigentumsobjekte zu Menschen gesichert, sondern zu Staaten, oder in besonderen, typischen Gefährdungslagen (Krieg), und hier nur in sehr eingeschränkter, vorübergehender Weise gegenüber speziellen Zugriffsformen in jenen – also eben nicht als Menschenrecht. b) Nichts anderes gilt aber auch für den völkerrechtlichen Fremden/Ausländerschutz. Hier wird zwar herkömmlich ein gewisser „Mindeststandard“ gewohnheitsrechtlich zugesichert. 29 Doch auch dies findet seine legitimierende Rechtsgrundlage nicht in der Menschen-Qualität, in Menschenrechten der Fremden, sondern in der Achtung vor fremder Staatlichkeit und deren über die Grenzen wirkender Personalhoheit. Überdies gehören dazu zwar die Rechte auf Rechtsfähigkeit, auf Leben, körperliche Unversehrtheit und Sicherheit der Per___________ 27

Vgl. dazu näher Ipsen (Fn. 7), insb. §§ 68 III ff., 69. Ipsen (Fn. 7), § 35 VII. 29 Grdl. Frowein. J. Abr. / Stein, T. (Hrsg.), Die Rechtsstellung von Ausländern nach Staatlichem Recht und Völkerrecht, 2 Bde., 1987. 28

„Eigentum als Menschenrecht“

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son sowie Gleichheit vor Gesetz und Gericht – gerade nicht aber allgemein das Eigentum der Fremden kraft Gewohnheitsrechts. Soweit aus dem „Mindeststatut für Fremde“ auch Rechte der Staatsangehörigen des Aufnahmelandes auf eben solche Behandlung abgeleitet werden, kann sich also daraus ebenfalls kein menschenrechtlicher Eigentumsschutz ergeben; ganz abgesehen davon entspräche ein derartiges allgemeines Verbot der Inländerdiskriminierung in diesem Sinn noch nicht als ius cogens der gegenwärtigen Entwicklungsstufe des Völkerrechts. 30 c) Der allgemeine Stand des völkerrechtlichen Eigentumsschutzes spricht schließlich ganz allgemein dagegen, „dem Eigentum als Menschenrecht“ einen völkergewohnheitsrechtlichen Schutz zuzuerkennen. Nicht zu Unrecht wird in neueren Völkerrechtsdarstellungen dem „Eigentumsschutz“ zwar regelmäßig ein eigenständiger Stellenwert zuerkannt; das – bereits eigenständige – Rechtsgebiet wird entweder speziell als solches oder im Zusammenhang mit völkerrechtlichem Individualschutz behandelt. Jedenfalls stehen dabei aber bilaterale oder multilaterale Vertragsbindungen im Vordergrund. 31 Überdies geht es schwerpunktmäßig um Investitionsschutz des Vermögens Fremder oder von aus dem Ausland zufließendem Vermögen. Dabei steht dann aber wiederum nicht etwa Schutz von Menschenrechten im Vordergrund, sondern die Achtung fremder Staatlichkeit in zwischenstaatlichen Wirtschaftsbeziehungen. d) Insgesamt lassen sich also nicht einmal ferne normative Anknüpfungspunkte für einen allgemein-gewohnheitsrechtlichen Schutz von „Eigentum als Menschenrecht“ ausmachen. Das Allgemeine Völkerrecht sieht darüber ebenso hinweg wie neuerdings auch das deutsche Recht (vgl. oben III.). Und soweit allgemeine Dogmatik, wie etwa die Calvo-Doktrin, die Gleichstellung von Fremden mit Inländern des Gastlandes fordert, würde diese einer Verweisung auf ein deutsches Recht entsprechen, dem ein solcher Schutz nicht (mehr) bekannt ist. Es hat also den Anschein, als ob der Eigentumsgarantie in Art. 17 der Allgemeinen Menschenrechtserklärung der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 dasselbe Schicksal widerfahren sei wie der Naturrechtseuphorie der Deutschen aus jener Zeit. Normative Bindungskraft hat sie ohnehin nie erlangen können; und ihr „Recht auf Eigentum“ ist gerade kein „Recht des Eigentums“. Selbst wenn aber beides zusammenfiele: es dürfte nur nicht „willkürlich“ entzogen werden – also ohne jeden erdenklichen Rechtsgrund; ein solcher Fall ist nicht erdenklich. ___________ 30 31

Ipsen (Fn. 7), § 50 Rn. 10 f. So etwa bei Ipsen (Fn. 7), § 47 I, II.

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Dem Allgemeinen Völkerrecht ist also „Eigentum als Menschenrecht“ grundsätzlich und vollständig unbekannt – eine ernüchternde Feststellung. Was allen Menschen aus ihrer Natur heraus als Recht zustehen sollte – das verbürgt gerade das Recht nicht, welches für alle Menschen gelten sollte, das Völkerrecht, obwohl alle Regierenden, bald schon alle Menschen, dies ständig im Munde führen, darauf sogar Machtansprüche gründen. Darf man dies nicht Heuchelei nennen? Übrigens: Wenn nun ständig, etwa im Verhältnis zu China, vom Schutz der Menschenrechte und des „geistigen Eigentums“ die Rede ist – zeigt dies nicht schon eine völkerrechtliche Bewusstseinslage, die beides trennt?

3. Multilaterale Sicherung von „Eigentum als Menschenrecht“ durch Verstärkung völkerrechtlichen Individualschutzes? Die allgemeine Entwicklung des internationalen Rechts hat eine wesentliche Grundlage seit langem gelegt, auf welcher an sich völkerrechtlicher Schutz „von Eigentum als Menschenrecht“ gewährt werden, ja wirksam auch ins nationale Recht hinein sich entfalten könnte: die seit dem Ende des Ersten Weltkrieges laufende, insgesamt doch kontinuierliche Verstärkung des Individualschutzes. 32 Sie hat sich auf zwei Ebenen vollzogen: induktiv gewissermaßen durch zunehmend individualschützende Vertraglichkeit, aus welcher die Begünstigten unmittelbar Rechte ableiten können, und grundsätzlich-dogmatisch hat sich auf solcher Grundlage die Vorstellung von einer jedenfalls partiellen Völkerrechtssubjektivität des Einzelmenschen durchgesetzt. Damit wurde eine rechtliche Dimension für möglichen internationalrechtlichen Menschenrechtsschutz geschaffen, mochte dieser auch, jedenfalls in den Anfängen, nicht allenthalben mit einer solchen weitreichend-grundsätzlichen Zielsetzung betrieben worden sein. Allerdings gibt es für diesen völkerrechtlichen Individualschutz noch immer keine allgemeine Vermutung, eine solche spricht, nach wie vor, für Rechtsbindung nur der Staaten als Vertragspartner; und erst recht ist in dieser Gesamtentwicklung nicht etwas festzustellen wie ein „grundsätzlicher Menschenrechts(auf)schwung“.

4. Multilaterale Individualschutzabkommen mit Eigentumsschutzwirkung? a) Richtet sich nun der Blick auf jene Entwicklung multilateraler Abkommen, welche in ihrer – wenigstens stets angestrebten – Universalität am ehesten als Instrumente systematisierenden völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes ___________ 32

Dazu und zum Folgenden vgl. Ipsen (Fn. 7), § 48 m. Nachw.

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in Betracht kommen, so finden sich dort in der Tat Sicherungsbereiche, die „klassische Menschenrechte“ betreffen: Dies gilt für Verträge zur Gewährleistung eines Basis- oder Minimalschutzes von Leib und Leben, die jedoch keinen Eigentumsschutz beinhalten. 33 Abkommen zur Gewährleistung von Nichtdiskriminierung und Gleichbehandlung 34 mögen zwar vor allem auch wirtschaftliche Gleichstellung anstreben und insoweit auch eigentumsrechtliche Auswirkungen zeitigen; diese richten sich aber nur gegen unterschiedliche Belastungen, nicht gegen Eigentumseingriffe als solche, gegen die sie ebenso wenig Schutz bieten wie eine alleinige Berufung auf Art. 3 Abs. 1 GG, ohne Einbeziehung von Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG. Individualschutz nur für gewisse Gruppen (Flüchtlinge) oder nur in bestimmten Situationen (bewaffnete Konflikte) scheiden aus der vorliegenden Betrachtung schon aus den oben 2. genannten Gründen aus. b) Völkerrechtlicher Eigentumsschutz i. S. eines Menschenrechts könnte sich also nur aus den „Menschenrechtspakten“ ergeben. Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte 35 erwähnt den Eigentumsschutz aber nicht, obwohl er sich sonst auf alle „klassischen“ Grundrechtsbereiche bezieht, darunter auch auf solche mit wirtschaftlichen Auswirkungen (Verbot der Zwangsarbeit, III, Art. 8 oder Garantie der Koalitionsfreiheit, III, Art. 22) – ein bereits deutliches Zeichen der Zurückhaltung des Völkerrechts bei einem menschenrechtlich zu begründenden Eigentumsschutz, der eben solche Allgemeinheit aufweisen müsste. Noch klarer zeigt sich dies im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte: 36 Dort ist das Eigentumsrecht das einzige klassische Grundrecht und Freiheitsrecht im Sinne des Grundgesetzes, das nicht einmal erwähnt und auch nicht – wie immerhin in manchen Aspekten der Berufsfreiheit – indirekt angesprochen wird. Ein Pakt, der in seinem Teil III Bestimmungen zu nahezu allem enthält, was wirtschaftliche Auswirkungen haben kann, vom Recht auf Arbeit (Art. 6) und der Koalitionsfreiheit (Art. 8) über Familien- und Bildungsrechte (Art. 10, 13), bis hin zum Urheberrechtsschutz (Art. 15), der aber im Übrigen nur das Recht auf „angemessenen Lebensstandard“ anerkennt (Art. 11) – eine solche Konvention kann nur dahin verstanden werden, dass sie Eigentumsschutz als solchen überhaupt nicht gewährleisten will. Erst recht kann dann von „Eigentum als Menschenrecht“ nicht ___________ 33

Vom Verbot des Mädchenhandels und der Sklaverei über das Verbot der Zwangsarbeit bis zur Antifolterkonvention (BGBl. 1990 II, S. 246) und der Anti-Völkermordkonvention (BGBl. 1954 II, S. 729); die Definition in Art. II verbietet aber nur Maßnahmen zur „körperlichen Zerstörung“ von Bevölkerungsgruppen. 34 Insb. zwischen Geschlechtern (BGBl. 1985 II, S. 647) und Rassen (BGBl. 1969 II, S. 961). 35 Vom 19.12.1966, BGBl. 1973 II, S. 1534. 36 Vom 19.12.1966, BGBl. 1973 II, S. 1570.

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die Rede sein; dazu bedarf es gar keines Eingehens mehr auf die sehr weit reichenden Relativierungen der im Pakt garantierten Rechte (Teile I, II, IV). Diese beiden Pakte zeigen also nicht nur ein schwerstwiegendes Schutzdefizit des Völkerrechts in einem grundrechtlichen Zentralbereich; sie sind Beleg für eine Grundentscheidung des Internationalen Rechts gegen „Eigentum als Menschenrecht“. Dies lässt sich auch nicht unter Hinweis darauf relativieren, dass beide Pakte ja zu Zeiten härtesten „kalten Krieges“ geschlossen worden seien, in denen eben die kommunistische Eigentumsleugnung habe geachtet werden müssen. Auch in den vielen Jahren nach deren Zusammenbruch hat sich daran grundsätzlich nichts geändert. Damit muss jeder Versuch scheitern, dem Völkerrecht einen Schutz des „Eigentums als Menschenrecht“ zu entnehmen, das in einer solchen Ordnung ohnehin nur allgemein-grundsätzlich anerkannt werden könnte, nicht lediglich in Vertragsbindungen zwischen Staatengruppen. c) Diese Feststellung relativiert von vorneherein den nun noch zu erwartenden Hinweis auf die Europäische Menschenrechtskonvention: Sie kann allenfalls in ihren Auswirkungen in Europa, vor allem über die normativen Effekte auf das Recht der Vertragsstaaten, Gewicht erlangen, nicht aber als Ausdruck einer „völkerrechtlichen Sicherung eines Menschenrechts“ von allgemeiner grundsätzlicher Bedeutung; dem steht schon die begrenzte Anzahl der Vertragsschließenden entgegen. Bereits der Erlass der EMRK begründet jedoch Bedenken selbst gegen eine derart relativierte Menschenrechtsbedeutung der Konvention. In ihrer ursprünglichen Fassung schützt sie zwar alle „klassischen“ Menschenrechte – nicht aber eben das Eigentum. Erst erheblich später wurde dies im „Zusatzprotokoll“ 37 gewissermaßen „nachgeschoben“. Diese Ergänzung trat überdies in der Bundesrepublik Deutschland erst mehr als vier Jahre nach der Konvention selbst in Kraft. Dass all dies nicht für, sondern deutlich gegen „menschenrechtliche Überzeugungen“ der Vertragsschließenden spricht, liegt auf der Hand. Ein „Menschenrecht im Zusatzprotokoll“ – ist das nur eine „antipathetische Normsetzungsform“? Der Inhalt des Zusatzprotokolls verstärkt diese Bedenken. Im Vorspruch wird der Inhalt auf „Maßnahmen zur kollektiven Gewährleistung gewisser Rechte und Freiheiten“ reduziert, – in dem der Konvention war noch von „tiefem Glauben an diese Grundfreiheiten“ die Rede gewesen. Kann man deutlicher unterschiedliche Qualitäten gesetzlicher Normen aufzeigen? In Art. 1 Abs. 1 des Zusatzprotokolls wird überdies sogleich die Achtung des Eigentums „jeder natürlichen oder juristischen Person“ angesprochen – gewiss nicht gera___________ 37

Vom 20.03.1952, BGBl. 1956 II, S. 1880.

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de Ausdruck eines typisch menschenrechtlichen Bekenntnisses. Ferner zeigt die geradezu eifrig wirkende und im Ergebnis nahezu schrankenlose Relativierung dieser „Achtung des Eigentums“ in Art. 1 Abs. 2 des Zusatzprotokolls, dass dieser Schutz sich nun wirklich „grundsätzlich“ von jener Unverletzlichkeit abhebt, welche sonst Menschenrechte traditionell charakterisiert. Die normative Bedeutung der Konvention für das innerstaatliche Recht in Deutschland lässt schließlich keinen Zweifel, dass auch sie hier nicht etwa „Eigentum als Menschenrecht“ setzen kann. Nach h. L. im deutschen Verfassungsrecht 38 kommt der Konvention nicht grundgesetzlicher normativer Rang zu, sondern nur der eines einfachen Bundesgesetzes, dem deutsches Gesetzesrecht jederzeit derogieren kann. Inhaltlich reicht die Normwirkung der Konvention kaum in irgendeinem Bereich weiter als die Sicherungen des Grundgesetzes – und dies gilt gerade auch beim Eigentum. Die Normwirkung der Konvention „zur Auslegung und zum besseren Verständnis bei der Auslegung der Grundrechte“ 39 kam diesem innerstaatlichen Recht aber doch gerade nicht eine Menschenrechtsqualität verleihen, die es als solches nicht aufweist (vgl. oben III. a. E.).

5. Fazit: Kein völkerrechtlicher Schutz von „Eigentum als Menschenrecht“ Das Ergebnis der völkerrechtlichen Betrachtung ist eindeutig: „Eigentum als Menschenrecht“ ist dem internationalen Recht unbekannt. Ob dieses überhaupt „Menschenrechte“ in einer Weise anerkennt, die über ein Pathos hinausgeht, das man kritisch als hohl bezeichnen könnte – das ist hier nicht zu entscheiden. Sicher ist aber, dass selbst dies für das Eigentum nicht gilt. Mehr noch: Form wie Inhalt völkerrechtlicher Sicherung gewisser eigentumsrechtlicher Positionen lässt allenthalben eine deutliche Distanzierung erkennen von jener Sicherungsintensität, wie einem Bekenntnischarakter derselben, die, wenn überhaupt irgendetwas, „Menschenrechtlichkeit“ kennzeichnet. Diese Distanz allenfalls fließt aus dem internationalen Recht auch in die deutsche Rechtsordnung notwendig ein. Man mag dem widersprechen, etwa unter Hinweis auf einzelne EMRK-Judikate. Doch bei aller Freude an juristischer Induktion: aus Punktualität lässt sich Menschenrechtlichkeit nicht aufbauen – sie kommt allein aus einem Schwung deduktiver normativer Begeisterung. ___________ 38 39

Dargestellt von Starck (Fn. 8), Rn. 125 m. Nachw. Starck (Fn. 8), unter Hinw. auf Entscheidungen des BVerfG.

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Es bleibt also dabei: Eigentum als Menschenrecht – das ist nichts als ein schönes, inhaltsleeres Wort. Es lässt nur die Hoffnung, dass die Zukunft neue Begeisterung bringen möge, neue Geltungskraft.

V. Ausblick: Menschenrechte ohne Eigentum? Dieses Ergebnis der Betrachtung stellt zwei grundsätzliche Fragen, die weiterführen, intern – wie vor allem völkerrechtlich: 1. Was sichern die Grundrechte mehr als eine Freiheit, sich unverhaftet, aber arm zu bewegen, als in Demonstrationen Fäuste in die Luft zu recken, die sich aber „gesichert“ nur in der Tasche ballen dürfen – um Tascheneigentum? Diogenes als menschenrechtliche Hoffnungsfigur, der aber doch seine Tonne verlässt in der Hoffnung auf Gold? Der politisch selbstbewusste Aktivbürger mit dem Recht, für die Güter der Gemeinschaft zu kämpfen, ohne sicheres Recht auf sein eigenes Gut – ist das nicht sogar für Karl Marx zu wenig? 2. Mit einer menschenrechtlichen politischen Begeisterung, die sich im Recht jedenfalls für das Eigentum nicht findet, wollen viele, Bürger und (Welt-)Mächte, Demokratie in ferne, arme Länder tragen, wenn es sein muss mit Gewalt, sind ihre Werte doch so hoch – zuallererst die Menschenrechte. In ihrem Namen soll allenthalben Volksherrschaft entstehen – ohne „Eigentum als Menschenrecht“? Demokratie nur als Hoffnung auf Umverteilung durch Wahlen? Bei Nestroy reizt ein Sozialrevolutionär Unzufriedene auf, immer wieder unterbrochen durch den Ruf eines Radikaleren: „Aber dann! Aber dann!“ Wird dies nicht so manchen Verkündern der Demokratie entgegentönen aus den immer zahlreicheren armen Ländern? Muss „dann“, nach der großen demokratischen Verteilung, nicht doch kommen: „Eigentum als Menschenrecht“ – vom „Aber dann!“ zum „Aber wann“? Dann, wenn es eben doch gelingt, vielleicht in der Geduld des Rechts, Eigentum Privater aufzubauen und unverbrüchlich zu sichern aus Privatnützigkeit, nicht nur als potentielle Verteilungsmasse, wenn aus Eigentumszufriedenheit Eigentumsfreude entsteht – Eigentumsbegeisterung, Bekenntnis zu einem Menschenrecht – dann erst ist da mehr als Menschenrechtspathos, normative Heuchelei; dann heiligt sich die Volksherrschaft selbst, im Droit sacré de la Propriété.

Eigentumsgarantie und immaterielle Güter – zugleich ein Beitrag zu dem Verhältnis von Grundrechtsschutz und zivilrechtlichen Positionen Claus Ahrens

I. Einführung Der vorliegende Beitrag, welcher Professor Dr. Dieter Blumenwitz gewidmet ist, welchen als Lehrer kennen zu lernen sein Verfasser das Glück hatte, ist die Sichtweise eines Zivilrechtlers. Dass er in einem Werk, welches seinem Titel nach öffentlich-rechtlich ausgerichtet ist, die Ehre hat, aufgenommen zu werden, wird nicht als Widerspruch empfunden 1 . Ganz unbestritten stehen Zivilrecht und öffentliches Recht, namentlich Verfassungsrecht, in einer unauflösbaren Wechselbeziehung miteinander verbunden. Das wird ganz besonders dort deutlich, wo beide auf Phänomene stoßen, die sowohl hier wie dort präsent sind. So verhält es sich mit dem Eigentum. Es ist dabei nur legitim, dass ein Beitrag dazu nun auch von dem Zivilrecht herrührt. Exemplarisch wird hier die Eigentumsgarantie der bundesdeutschen Verfassung herangezogen 2 . Für vergleichbare Garantien in sonstigen Verfassungen, ___________ 1 Gleichwohl will der Verfasser es nicht versäumen, den Initiatoren dieses Bandes, den Schülern Herrn Professor Dr. Blumenwitz’, den Herren Professores Dres. Gornig, Schöbener, Bausback und Herrn Dr. Irmscher, seinen Dank für seine, des Verfassers, Berücksichtigung mit einem Beitrag auszusprechen. 2 Der Schutz des Geistigen Eigentums hat sich durchaus auch in europäischen bzw. internationalen Regelungswerken niedergeschlagen, s. etwa Art. 17 II der Europäischen Grundrechtecharta, Art. 15 I lit. c) des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, allgemein auf Eigentum abstellend, Art. 17 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen; für die Anerkennung von Immaterialgüterrechten als kommerzielles und gewerbliches Eigentum i. S. v. Art. 30 EGV s. EuGH, Slg. 1968, 55 – Parker Davis (für Patente); EuGH, Slg. 1994, I – 283 – Ideal Standard (für Marken); EuGH, Slg. 1989, 1177 – Ottung (für Geschmacksmuster); EuGH, Slg. 1971, 487 – Deutsche Grammophon (für Urheberrechte), s. für Art. 295 EGV auch EuG v. 26.10.2001 – Rs. T-184/01 Nr. 145 – IMS Health sowie in derselben Rechtssache v. 10.08.2001 Rn. 21; EuGH v. 11.04.2002 – Rs. C-481/01 (PR) Rn. 82 – IMS Health; str. ist insoweit die Situation für Geographische Herkunftsangaben, für Eigentum i. S. v. Art. 30 EGV EuGH GRUR Int. 1993, 78 – Turrón de Alicante; s. aber auch BGH, GRUR 1999, 254 – Warsteiner II; s. allgemein dazu Knaak, R., Der Schutz geographischer Herkunftsangaben im neuen Markengesetz, in: GRUR 1995, S. 103 ff.; zu dieser Grauzone s. u. V.1.a) a. E.

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supra- oder internationalen Regelungswerken 3 werden sich die hier aufgeworfenen Fragen in vergleichbarer Weise stellen.

II. Das Eigentum im Zivilrecht und im Verfassungsrecht Das Verhältnis von Zivilrecht und Grundrechten wird regelmäßig über die so genannte mittelbare Drittwirkung der letztgenannten für das erstere über dessen Generalklauseln (§§ 138, 242, 315 III, 826 BGB) begründet, nach einer immer noch beachtlichen Mindermeinung über eine direkte Grundrechtsgeltung auch im Zivilrecht 4 . Dies suggeriert, dass beide Materien einander dogmatisch-begrifflich in nicht hinreichend abgestimmter – pointiert möchte man sagen: tendenziell „feindlicher“ 5 – Weise gegenüberstehen. Dieses hier bewusst überzeichnete Bild darf nicht darüber hinweg täuschen, dass auch andere Szenarien denkbar sind. So verhält es sich, wenn beide Disziplinen mit denselben Begriffen konfrontiert werden, die sie nun je für sich und schließlich aufeinander abgestimmt verwenden. Eine solche begriffliche Schnittstelle bildet das Eigentum. Schlägt man in Kommentierungen zu Eigentumsgarantien – für die folgenden Ausführungen wird exemplarisch diejenige in Art. 14 GG zum Beispiel genommen – nach, um etwas über den Schutz geistiger Güter zu erfahren, so ist die Antwort jedenfalls aus zivilrechtlicher Sicht relativ lapidar: Es wird ein umfassender Schutz bejaht 6 , zugleich wird der Zivilrechtler deutscher Prägung daran erinnert, dass die Begrifflichkeit des Eigentums im Zivilrecht, welches diese dem umfassendsten Recht an Sachen (§ 90 BGB, s. § 903 BGB) vorbe___________ 3

s. insoweit den Ausblick u. IV.4. BVerfG, JZ 1994, S. 408; BVerfGE 73, 269; BGH NJW 1986, 2944; Medicus, D., Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Privatrecht, in: AcP 192 (1992), S. 42; Canaris, C.-W., Grundrechte im Privatrecht, in: AcP 184 (1984), S. 201 ff.; Pietzcker, J., Drittwirkung – Grundrechte – Eingriff, in: Festschrift für G. Dürig, 1990, S. 346; Klein, E., Grundrechtliche Schutzpflicht des Staates, in: NJW 1989, S. 1640; BAGE 47, 374 f.; BAG (GS), JZ 1993, 909; für eine direkte Grundrechtsgeltung etwa Nipperdey, H. C., Das allgemeine Persönlichkeitsrecht, in: Ufita 30 (1960), S. 3 ff., und früher BAGE 1, 191; BAGE 7, 260; BAGE 23, 183; BAG, JZ 1973, 376; s. heute noch Hager, J., Grundrechte im Privatrecht, in: JZ 1994, S. 373 ff. 5 Echte Konfliktfelder hat es hier mehrfach schon gegeben, s. als aktuelle Beispiele etwa für die so genannte Schockwerbung BGH WRP GRUR 1995, S. 600 – H.I.V.Positiv; BGH, WRP 2002, 1200 – H.I.V.-Positiv II einerseits, BVerfG, GRUR 2002, 361 – Benetton – andererseits; vgl. auch für den so genannten finanziell krass überforderten Bürgen BverfG, NJW 1994, 36 ff.; s. a. BVerfG, NJW 1994, 2749 f.; dem hat sich die Zivilrechtsprechung mittlerweile angeschlossen, s. BGHZ 134, 32 ff.; BGH, NJW 1997, 3372; BGH, NJW 1997, 1005; BGH, NJW 1999, 58; BGH, NJW 1999, 135. 6 s. für den verfassungsrechtlichen Begriff des Eigentums insoweit auch Fechner, F., Geistiges Eigentum und Verfassung – schöpferische Leistungen unter dem Schutz des Grundgesetzes (1999), S. 112 ff. 4

Eigentumsgarantie und immaterielle Güter

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hält, sich weitgehend noch von derjenigen des Verfassungsrechts, welche weiter reicht, unterscheidet 7 . Ausgehend von einer freiheitsorientierten Einstellung fällt jedes vermögenswerte Recht unter den Schutz der Verfassung oder auch vergleichbaren Garantien. Eigentum im verfassungsrechtlichen Sinne ist also mehr als Eigentum im zivilrechtlichen Sinne. Es gibt, anders gewendet, Rechte, die im Zivilrecht nicht als Eigentum bezeichnet werden, aber Eigentum nach Verfassungsrecht sein können. Dieser scheinbare Konflikt löst sich mit dieser eindeutigen Prämisse ohne größere Probleme.

III. Zum Eigentum als rechtlich Vorgegebenes oder rechtlich zu Findendes Schon der erste Blick auf die Eigentumsgarantie zeigt, dass etwas geschützt wird, was aber nicht definiert wird (für das Zivilrecht nur kurz angemerkt: Hier ist der Begriff dermaßen legaldefiniert, dass die folgenden Fragen allein das Verfassungsrecht betreffen können). Das Eigentum wird vorausgesetzt, es bildet sich gleichsam extra legem – hat es sich gebildet, kann das Verfassungsrecht allein noch reaktiv schützend tätig werden 8 . Wie aber bildet sich Eigentum? Gerade was die immateriellen Güter betrifft, ist das keineswegs geklärt. Man hört hier etwa von einem Numerus clausus der Immaterialgüterrechte 9 gleichsam analog zum Sachenrecht 10 . Sollte dem so ___________ 7

s. für den Begriff des Geistigen Eigentums nun aber auch Ohly, A., Geistiges Eigentum?, in: JZ 2003, S. 545 ff.; Jänich, V. M., Geistiges Eigentum – eine Komplementärerscheinung zum Sachenrecht? Tübingen 2002, S. 185 ff.; Wadle, E., Geistiges Eigentum – Bausteine zur Rechtsgeschichte, Band I (1996), S. 4 ff.; Götting, H.-P., Der Begriff des geistigen Eigentums, in: GRUR 2006, S. 353 ff. 8 Vgl. insoweit das Eigentumsrecht als Menschenrecht (und damit grundsätzlich dem positiven Recht vorgegeben) betonend Leisner, W., in: Isensee, J. / Kirchhof, P. / Leisner, W., Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV: Freiheitsrechte, 2. Aufl. 2001, § 149 Rn. 20; Sieckmann, J.-R.., in: Friauf, K. H. / Höfling, W., Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 2006, C Art. 14 Rn. 1 ff. (s. aber auch a.a.O. Rn. 3, 5); s. a. BVerfGE 68, 275; BVerfGE 83, 208; BVerfGE 89, 6; BVerfGE 91, 307; s. auch Berkemann, J., in: Umbach, D, / Clemens, Th., Grundgesetz Mitarbeiterkommentar, Bd. I, 2002, Art. 14 Rn. 35 f. (s. aber auch für die Gegenansicht u. Fn. 11). 9 Dagegen Ahrens, C., Die Ausschließungsbefugnisse des Lizenznehmers im Spannungsfeld mit den Urheberinteressen, in: Ufita 2001, S. 655; vgl. auch für dingliche Lizenzen Forkel, H., Gebundene Rechtsübertragungen, Bd. I, 1977, S. 76 ff., sowie ders., Zur Zulässigkeit beschränkter Übertragungen des Namensrechts, in: NJW 1993, S. 3183; a. A. Troller, A., Immaterialgüterrecht, Bd. I, 3. Aufl. 1983, S. 5; Teplitzky, in: Großkommentar zum Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (Stand: 1994), § 16 Rn. 154; s. a. Jänich (Fn. 2), S. 237 ff.; Chrocziel, P., Einführung in den Gewerblichen Rechtsschutz, 2. Aufl. 2002, Rn. 8 ff.

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sein, bedarf es also einer legislativen und insoweit konstitutiven Statuierung 11 . Diese geschieht durch einfaches Gesetz (etwa dem Patentgesetz, dem Geschmacksmustergesetz, dem Markengesetz, dem Urheberrecht etc.). Dieser Ansatz hätte jedoch zur Folge, dass mittelbar auch der Umfang der verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie definiert werden könnte. Es muss hier relativ schnell wie unproblematisch festgestellt werden, dass dem nicht so sein kann. Der einfache Gesetzgeber kann hier nicht grundrechtsdeterminierend tätig werden. Er muss im Gegenteil die grundrechtlichen Vorgaben entgegennehmen. Die sonstige Aushöhlung des Verfassungsrechts durch niederrangigeres Recht liegt hier nur allzu offen zutage. Aus Art. 14 I Satz 2 GG ergibt sich nichts anderes, denn der Inhalt des Eigentums wird durch die Gesetze bestimmt, nicht aber wird hiernach das Eigentum durch die Gesetze überhaupt erst geschaffen 12 . Die geistigen Güter sind davon in einem besonderen Maße betroffen, weil hier eigentumsrechtliche Vorstellungen nach wie vor vergleichsweise fremdartig erscheinen 13 . Dem entsprechend sind eigentumsrechtliche Klassifizierungen hier nach wie vor im Fluss. Rechtliche Definitionen stoßen hier an ihre Grenzen.

IV. Schlussfolgerung Was also ist zu tun? Die Reichweite der grundrechtlichen Eigentumsgarantie kann nicht von zivilrechtlichen Terminologien abhängen. Er ist vielmehr eigenständig zu entwickeln. Das erscheint auf den ersten Blick zwar eindeutig, ist aber vielleicht gerade deswegen noch vergleichsweise wenig reflektiert worden. Im Gegenteil, man kann feststellen, dass die Verfassungsrechtsprechung durchaus geneigt ist, Erscheinungsformen des Zivilrechts ohne Weiteres zu übernehmen – so geschehen etwa beim Recht am eingerichteten und ausgeüb___________ 10

s. dafür statt aller Wilhelm, J., Sachenrecht, 2002, Rn. 9. Vgl. insoweit aber auch Depenheuer, O., in: Mangoldt, H. v. / Klein, F., Das Bonner Grundgesetz – Kommentar, 4. Aufl., Bd. 1, Präambel, Art. 1 – 19, Art. 14 Rn. 1999; Wieland, J., in: Dreier, H., Grundgesetz Kommentar, Bd. I, Art. 1 – 19, 1996, Art. 14 Rn. 21 f., 60. Zuzugeben ist in jedem Fall eine vergleichsweise ungewöhnliche „Normabhängigkeit“ des Eigentums, die aber nicht überbewertet werden darf; vgl. auch für die (angeblich) fehlende „Konsensfähigkeit“ des Geistigen Eigentums auch Schack, H., Geistiges Eigentum contra Sacheigentum, in: GRUR 1983, S. 56. 12 Vgl. auch den Überblick bei Böhmer, W., Grundfragen der verfassungsrechtlichen Gewährleistung des Eigentums in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: NJW 1988, S. 2568. 13 s. a. Schack (Fn. 11), S. 56. Zum Vergleich: Die Rechte an Sachen sind infolge einer Jahrtausende alten Manifestation hinreichend verfestigt, dass ein numerus clausus hier erträglich und mit der Verfassung verträglich erscheint. Vorhandene Lücken können mit Kombinationen von Schuld- und Sachenrecht geschlossen werden, s. u. Fn. 49. 11

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ten Gewerbebetrieb bzw. dem korrekter sog. Recht am Unternehmen 14 . Das muss freilich nicht ohne Weiteres fehlerhaft sein, aber bedarf doch Ergänzungen. Nun kommt der zivilrechtliche Eigentumsbegriff seinerseits nicht von ungefähr. Was hier als Eigentum oder in seinem Pendant für geistige Güter als Immaterialgüterrecht qualifiziert wird, wird auch ebenso Eigentum im Sinne des Verfassungsrechts darstellen. Insoweit erscheint die beispielhaft genannte Übernahme des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb auch nicht als falsch. Sie darf indessen nicht in das Gegenteil ausschlagen, dass man es bei der Orientierung an dem zivilrechtlichen Eigentumsbegriff bzw. Pendants belässt. Eben das würde zu einer nicht gegebenen zivilrechtlichen Definitionsmacht führen Der verfassungsrechtliche Eigentumsbegriff ist also autonom zu bestimmen. Eine grundsätzliche Kongruenz der Eigentumsgarantie mit den zivilrechtlichen Grundsätzen ist zwar anzunehmen, aber das Verfassungsrecht kann tendenziell doch darüber hinaus reichen.

V. Konturen des verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriffs Die Problematik des Eigentumsbegriffs liegt darin, dass er auf Tatsächlichem aufbaut 15 . Das Eigentum wird gewissermaßen vom Recht nur vorgefunden, welches es dann unter seinen Schutz stellt. Bei genauer Betrachtung teilt ___________ 14 Dieses ist nämlich ursprünglich eine zivilrechtliche Erfindung gewesen, die ursprünglich hauptsächlich dazu diente, damalige Lücken des Wettbewerbsrechts (bis zur Einführung von dessen Generalklausel in § 1 UWG a. F. – jetzt § 3 UWG) auszufüllen, s. Emmerich, V., Unlauterer Wettbewerb, 7. Aufl. 2004, § 1.II.3.; heutzutage wird in zivilrechtlicher Sicht über die Notwendigkeit eines solchen Rechts konsequent gestritten, s. ablehnend Larenz, K. / Canaris, C. W., Schuldrecht II/2, 13. Aufl. 1994, § 81.IV.; Zöllner, W. in seiner dazugehörigen Buchbesprechung, in: JZ 1997, 293; anders Schildt, B., Der deliktische Schutz des Rechts am Gewerbebetrieb, in: WM 1996, S. 2261; s. a. Ahrens, C., Die Verwertung persönlichkeitsrechtlicher Positionen – Ansatz einer Systembildung, 2002, S. 130 ff. Die öffentlich-rechtliche, verfassungsrechtliche Disziplin hat diesen Streit unbeachtet gelassen, was sich aus dessen zivilrechtsdogmatischen Ursprüngen heraus erklärt, s. etwa jüngst BVerfG, GRUR 2005, S. 261 – ad.acta.de für den verfassungsrechtlichen Schutz von Domains (Würde man dieses Problemfeld in das Verfassungsrecht übertragen, würde es dort vermutlich um Abgrenzungsfragen zwischen Art. 12 GG und Art. 14 GG gehen). 15 Vgl. insoweit auch den wirtschaftswissenschaftlichen Ansatz der so genannten Property-Rights-Lehre, welcher u. U. sogar noch über den verfassungsrechtlichen Eigentumsansatz hinausreicht (indem etwa auch die menschliche Arbeitskraft ein solches Property Right darstellen kann), dazu etwa Lehmann, M., Bürgerliches Recht und Handelsrecht – eine juristische und ökonomische Analyse, 1983, S. 31 ff.; Garella, P. G., The Theory of Property, Corporate Control, and Bankruptcy in Western Economics: an Introduction, in: Daviddi, Property Rights and Privatization in the Transition to a Market Economy: a Comparative Review, 1995, S. 34.

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die Eigentumsgarantie damit das Schicksal nahezu aller anderen grundrechtlichen Schutzbereiche auch, aber hier erscheint die Situation deswegen so problematisch, weil es beim Eigentum eben auch stets um Rechte geht – kaum nirgendwo anders ist dieser Umstand so offensichtlich wie hier. Rechte, die dem geltenden Recht aber vorgegeben werden und von diesem nur reagierend geschützt werden, muten fremdartig an. Man muss sich so generös wie möglich geben und dabei allgemeine Erscheinungsformen des vorgegebenen Eigentums ausmachen. Diese Generosität folgt daraus, dass die allgemeinen Vorstellungen dessen, was Eigentum ist, ihrerseits entsprechend weit gefasst sind, denn die soziale Wurzel dieses Begriffs kann kaum auf exakt-juristischen Begriffsbildungen aufbauen. An sich wären nun weitreichende empirische Studien am Platze – Studien, welche hier nicht vorgenommen werden können. Alternativ soll von der Vermutung einer allgemeinen Erscheinungsform des Eigentums in seiner dem geltenden Recht vorgegebenen Weise ausgegangen werden. Diese wird den folgenden Überlegungen zugrunde gelegt werden, um dann weiterreichende Schlüsse zu ziehen. Es wird zugegeben, dass Unzulänglichkeiten die Folge sein können, aber – und darauf soll es ankommen – es kann eine Methode vorgegeben werden, die nach Ansicht des Verfassers zu den in Aussicht gestellten Schlussfolgerungen nötigt. Dem steht nicht entgegen, dass sich die allgemeinen vorgegebenen Vorstellungen bezüglich dessen, was Eigentum ist, mit rechtlichen Vorstellungen allgemeinster Art decken können. Davon kann man sogar ausgehen. So soll es im Folgenden denn auch sein. Mit Eigentum verbindet man sicherlich Ausschlussbefugnisse; wer ein solches innehat, kann es für sich requirieren und Anderen den Gebrauch dieses Eigentums verwehren. Wohl weniger im Gedächtnis wird hier sein, dass mit der Ausschlussbefugnis eine Nutzungsbefugnis korrespondiert, aber man kann zuversichtlich sein, dass sich diese Überlegung bei genauerem Nachsinnen schnell einstellen würde 16 . Nähere Details mögen wieder fraglich sein, aber das hier Vermutete reicht generell für eine Konturierung des verfassungsrechtlichen Schutzes aus. Wenn man nämlich die dort gängigen Formulierungen des Schutzbereichs zu Rate zieht, wird man diese beiden grundsätzlichen Komponenten auch stets ausmachen können 17 . ___________ 16

Es scheint naheliegend, anzunehmen, dass jedes Ausschließlichkeitsrecht zunächst als Abwehrrecht gedacht wird, die Statuierung von Nutzungsbefugnissen stellt sich chronologisch gesehen in der Entwicklung eines Rechts erst an zweiter Stelle ein, vgl. dazu auch Ahrens (Fn. 14), S. 111 ff. 17 So ist es auch zu erklären, dass Eigentum im verfassungsrechtlichen Sinne auch Positionen sein können, denen nach einfachem Gesetzesrecht nicht einmal eine Rechtsqualität überhaupt zugesprochen wird, wenn nur die genannten Aspekte vorhanden sind, s. insoweit für den Besitz (des Mieters) BVerfGE 98, 5 f. Bemerkenswert insoweit, dass dies sogar dann gelten soll, wenn gem. § 869 BGB Besitzschutzansprüche gegen den

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Dem Zivilrecht übrigens ist diese Vorstellung auch nicht fremd. Sie findet man exakt so definiert für den Begriff des Sacheigentums in § 903 BGB. Für das Immaterialgüterrecht als des eben auch so genannten Geistigen Eigentums kann man dieses gleichfalls aus den jeweiligen Vorschriften entnehmen (Exemplarisch hier das Markenrecht: für die Ausschlussbefugnisse s. § 14 IV, V MarkenG, für die Nutzungsbefugnisse s. §§ 27 ff. MarkenG – die Möglichkeit der Eigennutzung eines Markenrechts erwähnt das Gesetz nicht ausdrücklich, man kann ein solches aber unproblematisch aus der Logik heraus eruieren. Die Ausschließlichkeitsfunktion an sich erwähnt § 14 I MarkenG sogar ausdrücklich) 18 . Aus Sicht der geistigen Güter kommt noch ein weiteres Merkmal hinzu. Eigentum ist von der Person losgelöst, ist also mehr als „rein Geistiges“. Der Begriff des „Geistigen“ legt zunächst die Bindung auch „an einen Geist“ fest. Dieser „Geist“ deutet auf eine Person und ist mit dieser so verbunden, dass er rechtlich nicht von ihr getrennt werden kann. So pointiert wie hier begonnen wurde, lässt sich schlussfolgern: Es gibt keinen Geist ohne die Person. Das ist beim Eigentum anders, dieses kann seinen Inhaber verlassen, sei es, dass es ihn wechselt (etwa durch Übertragung oder Erbfolge 19 ), Andere sonst an ihm teilhaben (etwa im Fall einer dinglichen Belastung oder einer Lizenzierung wie auch sonstiger auch schuldrechtlicher Überlassungen 20 ) oder ihn in sonstiger Weise verlässt (etwa im Fall der Dereliktion 21 ). Erst diese Personenunabhängigkeit führt zu Eigentum, alles andere ist echtes Persönlichkeitsrecht im klassischen Sinne 22 . Ganz eindeutig ist dies beim Immaterialgüterrecht 23 , welches ___________ mittelbaren Besitzer, den Vermieter, gar nicht möglich sind. Andererseits braucht die Ausschlussbefugnis nicht in jeder Hinsicht absolut zu sein, so dass auch Forderungen dem verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriff unterfallen können (was infolge der hiesigen Konzentration auf geistige Güter, die über eine hier vorhandene Relativität deutlich hinausreichen, nicht weiter verfolgt zu werden braucht). 18 Vgl. auch Ahrens (Fn. 9), S. 651 f. 19 Das Erbrecht wird ebenfalls von Art. 14 I Satz 1 GG gewährleistet, so dass das zum Eigentum Gesagte und noch zu Sagende auf dieses analog übertragen werden kann, vgl. auch für den hier bestehenden Zusammenhang etwa Wendt, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 3. Aufl. 2003. 20 Hier ist manches str., s. nur für den dinglichen Charakter einfacher Lizenzen dazu Forkel, H., Lizenzen an Persönlichkeitsrechten durch gebundene Rechtsübertragung, in: GRUR 1988, S. 493 f., sowie ders., in: NJW 1993, S. 3182 (Fn. 9). Da eine Teilhabe für das Verfassungsrecht nicht zwingend in dinglicher Weise erforderlich ist, kann man diesen Streit hier auf sich beruhen lassen. 21 Wobei diese freilich im Recht der geistigen Güter nicht vorgesehen ist. Die sonst im Text genannten Möglichkeiten reichen jedoch aus. 22 Womit zugleich aber auch Persönlichkeitsrechte zu Eigentum im verfassungsrechtlichen Sinne avancieren können, s. dazu im Anschluss 2. 23 s. zu dessen Terminologie von ihren Ursprüngen her Kohler, J., Die Idee des geistigen Eigentums, in: AcP 82 (1894), S. 141, sowie ders., Das Immaterialgüterrecht und seine Gegner (1887), in: Ufita 123 (1993), S. 81; s. zu dort aber nach wie vor vorhande-

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übertragbar (mit Ausnahmen, s. § 29 I UrhG) und vererblich ist (s. insoweit nun für das Urheberrecht § 28 UrhG, s. a. exemplarisch §§15 PatG, 27 MarkenG).

VI. Beispiele Man kann hier kaum zu einem Ende kommen geschweige denn sämtliche einer Eigentumsgarantie fähigen Positionen aufzählen. Aber einige Beispiele namentlich auch aus jüngerer Zeit zeigen Konkretisierungen auf, die nicht unbedingt naheliegend sind. Hier sind vor allem die immateriellen Güter von Interesse, denn hier ist die Konturierung im Vergleich zum Sacheigentum doch weniger geklärt. Entsprechend besteht das Bedürfnis nach einer Klärung auch unter dem Aspekt der Reichweite der Eigentumsgarantie.

1. Das Wettbewerbsrecht als Ursprung von Eigentumsrechten Zunächst ist bemerkenswert, wie sich aus dem Wettbewerbsrecht eigentumsfähige Positionen heraus entwickelt haben. Die gesetzlichen Regelungen weisen teilweise darauf hin [s. im Anschluss zu a) und b)], aber es ist auch denkbar, dass diese Entwicklung positiv-rechtlich noch nicht nachvollzogen wurde [s. im Anschluss c)]. a) Kennzeichenrechte Ganz offenbar wird dieses bei den Kennzeichenrechten, welche nahezu vollumfänglich in dem Markengesetz präsent sind (ausgenommen die Firma, §§ 17 ff. HGB 24 ), welches insoweit den seinerzeitigen § 16 UWG abgelöst hat 25 . Das Wettbewerbsrecht in seinen originären Zügen manifestiert kein Eigentum, es stellt vielmehr einen verhaltensbezogenen Schutz zur Verfügung 26 . Nichtsdestotrotz kann es den Nukleus für spätere Eigentumsrechte bilden. Für die Zeichen des § 16 UWG a. F. ist das vom geltenden Recht ausdrücklich anerkannt (§ 15 I MarkenG, vgl. entsprechend für das Markenrecht, ___________ nen persönlichkeitsrechtlichen Komponenten Windisch, E., Persönlichkeitsbezogene Komponenten in Immaterialrechten, in: GRUR 1993, S. 352. 24 Auch diese ist nämlich ein Immaterialgüterrecht, s. Kuchinke, K., Die Firma in der Erbfolge, in: ZIP 1987, S. 681. 25 s. insoweit auch Schmieder, Neues Markenrecht ab 01.01.1995, in: NJW 1994, S. 3335; Ingerl, R. / Rohnke, Ch., Die Umsetzung der Markenrechtsrichtlinie durch das deutsche Markengesetz, in: NJW 1994, S. 1247; Vgl. auch Ahrens, C., Wettbewerbsrecht (2006), Rn. 1. 26 Vgl. Ahrens (Fn. 25), Rn. 17 f.

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vormals im Warenzeichengesetz beheimatet, jetzt § 14 I MarkenG). Man erahnt den wettbewerbsrechtlichen Schutz noch dort, wo es um den Schutz der bekannten Marke geht, welcher das Unlauterkeitsmerkmal immer noch in seinen Tatbestandsvoraussetzungen führt 27 . Noch näher dem Wettbewerbsrecht stehend sind die geografischen Herkunftsangaben, deren eigentumsrechtliche Klassifizierung in Streit steht 28 , welche aber infolge ihrer regionalen und nicht individuell-persönlichen Bindung des hier vertretenen Eigentumscharakters jedoch entbehren müssen. b) Rechte sui generis Vergleichbares findet man schließlich im Zuge der europäischen Rechtsvereinheitlichung. Damit wird zugleich offenbar, dass eigentumsrechtliche Impulse nicht allein einer nationalen Rechtsordnung vorbehalten sind. Vor allem der supranationale Normgeber kann in seinen Regelungswerken determinierend wirken und allgemein üblich gewordene Vorstellungen des Rechtsverkehrs nachzeichnen. So ist der Softwareschutz der §§ 69 a ff. UrhG in Umsetzung der so genannten Softwarerichtlinie 29 bei genauer Betrachtung dem klassischen Urheberrecht nur angenähert, ohne ein solches zu sein. Das erkennt man daran, dass die persönlichkeitsrechtlichen Anforderungen hier deutlich heruntergeschraubt worden sind als bei jenem (vgl. § 69 a III Satz 1 UrhG im Gegensatz zu § 2 II) 30 . Wiederum andere Aspekte findet man bei dem Datenbankschutzrecht der §§ 87a ff. UrhG, wiederum ein Kind des Europarechts 31 . Deutlich tut das positive Recht hier kund, dass es um Investitionsschutz geht, was nun von persönlichkeitsrechtlichen Überlegungen gänzlich unabhängig ist 32 . Tatsächlich geht ___________ 27

s. a. Ahrens (Fn. 25), Rn. 18; vgl. auch Fn. 33. s. o. Fn. 6 a. E.; vgl. dazu auch Dreyer, J., in: Harte-Bavendamm, H., / HenningBodewig, F., Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, 2004, § 5 Rn. 40 ff.; Bornkamm, J., in: Hefermehl, W. / Köhler, H. / Bornkamm, J., Wettbewerbsrecht, 24. Aufl. 2006, § 5 Rn. 97. 29 Richtlinie 91/250/EWG über den Schutz von Computerprogrammen, ABl. L 122/ 42 vom 17.05.1991. 30 s. insoweit für die Erfordernisse der Umsetzung der eben genannten Richtlinie im Lichte der insoweit strengeren urheberrechtlichen Rechtsprechung des BGH Haberstumpf, H., in: Lehmann, Electronic Business in Europa, 2001, II, Rn. 79. 31 Richtlinie 93/83/EWG über den rechtlichen Schutz von Datenbanken, ABl. L 77/ 20 vom 11.03.1996, daneben können Datenbanken auch einen urheberrechtlichen Schutz genießen, s. Art. 3 ff. a.a.O. 32 Daher spricht man hier auch von einem so genannten Recht sui generis, s. etwa Vogel, M., Die Umsetzung der Richtlinie 69/9/EG über den Schutz von Datenbanken in Art. 7 des Regierungsentwurfs eines Informations- und Kommunikationsdienstleistungsgesetzes, in: ZUM 1997, S. 592; s. für einen grundsätzlichen Gegensatz von Imma28

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es hier letztendlich um vom Wettbewerbsrecht in das Immaterialgüterrecht „abgewanderte“ Schutzpositionen. Ob insoweit Wettbewerbsrecht und Immaterialgüterrecht einander ausschließen, ist höchst streitig und in der Meinungsbildung von Konstellation zu Konstellation unterschiedlich 33 , aber hier reicht es aus, auf eine gewisse Willkürlichkeit in der Verortung eines rechtlich geschützten Interesses in einer bestimmten Rechtsmaterie (hier: UWG oder Markengesetz) hinzuweisen 34 . c) Insbesondere Sportübertragungsrechte Der zuletzt geäußerte Gedanke führt dazu, dass Regelungswerke, welche an sich keine eigentumsspezifische ratio verfolgen, gleichwohl bereits eigentumsfähige Positionen in sich aufgenommen haben. Um an dem Gesagten anzuknüpfen, kann man also nicht von vornherein ausschließen, dass etwa auch das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb ganz entgegen seiner eigentlichen Bestrebungen eigentumsfähige Positionen aufweist. Das ist dann der Fall, wenn der allgemeine Rechtsverkehr in seiner grundsätzlichen Überzeugung diesen Positionen eben jenen Charakter beimisst (wobei auf der Hand liegt, dass dies im UWG nur rudimentär der Fall sein kann – ausgeschlossen ist es nicht!). Um bei einem aktuellen Beispiel zu bleiben, könnte man solches für die so genannten Sportübertragungsrechte 35 durchaus so sehen (vgl. die Parallele zu § 81 UrhG, der jedoch Sportveranstaltungen gerade nicht betrifft). Jedenfalls als ___________ terialgüterrecht – Persönlichkeitsrecht auch Götting, H.-P., Die Entwicklung des Markenrechts vom Persönlichkeits- zum Immaterialgüterrecht, in: FG Friedrich Karl Beier 1996, S. 233, sowie ders., Persönlichkeitsrechte als Vermögensrechte, 1995, S. 9. 33 So grundsätzlich bejahend für das Markenrecht BGH GRUR 1999, 161 – Mac Dog; BGH, GRUR 1999, 995 – Bits/Bud; s. grundsätzlich anders noch BGH, GRUR 1997, S. 755 – grau/magenta; für das Geschmacksmusterrecht s. aber wiederum BGH WRP 2006, 75 – Jeans; für die Lit. ablehnend wieder für den Kennzeichenbereich Ingerl / Rohnke, Markengesetz – Gesetz über den Schutz von Marken und sonstigen Kennzeichen, 2. Aufl. 2003; § 2 Rn. 3; anders Fezer, K.-H., Markenrecht, 3. Aufl. 2001, § 2 Rn. 9; differenzierend Ahrens (Fn. 14), Rn. 18; s. a. Bornkamm, J., Markenrecht und wettbewerbsrechtlicher Kennzeichenschutz – zur Vorrangthese der Rechtsprechung, in: GRUR 2005, S. 97; für das Geschmacksmusterrecht s. BGH, WRP 2006, 77 – Jeans. 34 Vgl. insoweit auch Beater, A., Unlauterer Wettbewerb, 2002, § 1 Rn. 71. 35 Denen bislang kein immaterialgüterrechtlicher Charakter beigemessen wird, s. Kübler, F., Das Recht auf freie Kurzberichterstattung, in: ZUM 1989, S. 327 f.; Ladeur, K.-H., Das Recht der Rundfunkprogrammveranstalter auf „Kurzberichterstattung“ von Spielen der Fußballbundesliga, in: GRUR 1989, S. 886; Roth, W.-H., Rechtsfragen der Rundfunkübertragung öffentlicher Veranstaltungen, in: AfP 1989, S. 516 ff.; Siegfried, M., Die Fernsehberichterstattung von Sportveranstaltungen, 1990, S. 30 ff.; Lochmann, R., Die Einräumung von Fernsehübertragungsrechten an Sportveranstaltungen, 2005, S. 15 ff.; Elter, V. C., Verwertung medialer Rechte der Fußballunternehmen – Vermarktung und Refinanzierung im Sport, 2003, S. 66; BGH, NJW 1990, 2817; BGH WRP 2006, 271.

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handelbare Güter sind sie faktisch anerkannt 36 , so dass man, selbst wenn man kein Immaterialgüterrecht im zivilrechtlichen Sinne annehmen will 37 , sie dem Schutz der verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie unterstellen kann. Dass sie gemeinhin einem wettbewerblichen oder rein deliktischen Schutz nach einfachem Recht unterstellt werden, ändert daran nichts 38 .

2. Das Persönlichkeitsrecht Eine bemerkenswerte Wandlung nicht zuletzt auch unter Eigentumsaspekten hat insoweit das Persönlichkeitsrecht nach neuerer Rechtsprechung durchgemacht 39 . Hiernach werden Elemente des Persönlichkeitsrechts mit vermögenswertem Charakter als vererblich erachtet, auch wenn sie in ihrer Ausübung von der Zustimmung der (gegebenenfalls personenverschiedenen) Angehörigen abhängig gemacht werden. Dieser Ansatz führt zu eigentumsrechtlichen Komponenten im verfassungsrechtlichen Sinne, denn nun tritt zu dem schutzrechtlichen Charakter des Persönlichkeitsrechts die Nutzungskomponente hinzu, welche auch zu partiellen Ablösung des Rechts von seinem Träger führt. Dass hier vergleichsweise ungewöhnliche Bindungen in Gestalt des „Wächteramts der Angehörigen“ bestehen, ändert daran nichts 40 . ___________ 36 In der Praxis hat sich dies vor allem in kartellrechtlichen Würdigungen manifestiert, s. dazu vor allem Mitteilung der Kommission gem. Art. 19 Abs. 3 der Verordnung Nr. 17 des Rates in der Sache COMP/C.2/37.214 – Gemeinsame Vermarktung der Medienrechte an der Deutschen Bundesliga – vom 30.10.2003 –, ABl. 2003 Nr. C 261/07, sowie Mitteilung der Kommission gem. Art. 27 Ab. 4 der Verordnung (EG) des Rates in der Sache COMP/C.2/37.214 – Gemeinsame Vermarktung der Medienrechte an der Deutschen Bundesliga – vom 14.09.2004, ABl. 2004 Nr. C 229/13; Entscheidung der Kommission vom 23.07.2003 in einem Verfahren nach Art. 81 III EG und Art. 53 EWR-Abkommen in der Sache COMP/C.2.-37.398 – Gemeinsame Vermarktung der gewerblichen Rechte an der UEFA Champions League, ABl. 2003 Nr. L 291/25; s. ferner die Rechtsprechungsnachweise in der vorangegangenen Fußnote. 37 s. aber auch Ahrens (Fn. 25), Rn. 231. 38 s. dazu zuvor Fn. 35. 39 BGH, NJW 2000, 2195 ff. – Marlene Dietrich; BGH, NJW 2000, 2202 – Der blaue Engel; s. dazu auch Müller, T., Vererblichkeit vermögenswerter Bestandteile des Persönlichkeitsrechts. – Die neueste Rechtsprechung des BGH zum postmortalen Persönlichkeitsrecht, in: GRUR 2003, S. 21; Götting, H.-P., Die Vererblichkeit der vermögenswerten Bestandteile des Persönlichkeitsrechts – ein Meilenstein in der Rechtsprechung des BGH, in: NJW 2001, S. 585; Klingelhöffer, H., Anmerkung, in: ZEV 2000, S. 327; Frommeyer, I., Persönlichkeitsschutz nach dem Tode und Schadensersatz – BGHZ 143, 214 ff. (Marlene Dietrich) und BGH, NJW 2000, S. 2201 f., JuS 2002, S. 13; Ahrens, C., Fragen der erbrechtlichen Gestaltung postmortaler Persönlichkeitsverwertungen, in: ZEV 2006, S. 237 ff.; krit. gegenüber der Rspr. noch Ahrens (Fn. 14), S. 262 ff.; Wortmann, F., Die Vererblichkeit vermögensrechtlicher Bestandteile des Persönlichkeitsrechts, 2005, S. 101 ff. 40 Vgl. zur hier möglichen Graduierungen schon zuvor IV. a. E.

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Die Parallele zum Wettbewerbsrecht ist offensichtlich. Das Persönlichkeitsrecht wurde lange Zeit als reines Schutzrecht begriffen und somit dem Deliktsrecht zugeschrieben. Das hat sich nun geändert. Soweit die vererblichen Komponenten angenommen werden, würde das in der verfassungsrechtlichen Dogmatik von einem Herauslösen eben dieser aus Art. 2 I GG und einer nunmehrigen Verortung in Art. 14 GG führen. Die zivilrechtlich nach wie vor vorhandene persönlichkeitsrechtliche Qualifizierung dieser Komponenten ist davon gänzlich unabhängig. Es bedurfte dazu keiner Änderung einer Vorschrift, tatsächlich hat hier die Rechtsprechung neuinterpretierend gewirkt. Daneben kennt man schon traditionell Rechte, welche einem Immaterialgüterrecht ähneln, aber strukturell Persönlichkeitsrechte sind oder diesen zumindest noch nahe verwandt sind und infolge der Tradition auch im positiven Recht verankert sind. Das ist der Fall bei dem Recht ausübender Künstler (§§ 73 ff. UrhG), welche in ihren Konturen sowie Schutz- und Verwertungsdimensionen (s. §§ 97 ff., 79 UrhG) einem Immaterialgüterrecht in nichts nachstehen 41 . Wieder geht es um eine Schnittstelle, nun nicht mehr zwischen reinem Schutzrecht und Verwertungsrecht, sondern zwischen Immaterialgüterund Persönlichkeitsrecht, mit anderen Worten: Der Verwertungsaspekt ist hier deutlich ausgeprägter. Es verwundert nicht, dass der verfassungsrechtliche Eigentumsschutz hier keine Probleme bereitet.

VII. Fazit Der diesem Beitrag zugewiesene Raum reicht nicht aus, über die genannten Beispiele hinaus vertiefend tätig zu werden. Man möge aber festhalten, dass die geistigen Güter in einem ständigen Entwicklungsprozess befindlich sind. Je nach Entwicklungsstufe hat das Verfassungsrecht darauf zu reagieren. Das tut es, indem es in abgestufter Weise einen Grundrechtsschutz zur Verfügung stellt. Eine dieser Stufen ist der Schutz als Eigentum. Bezüglich dessen, was Eigentum ist, kann es nach dem Gesagten nur reagierend tätig werden.

VIII. Konsequenzen Man mag fragen, welche Konsequenzen sich aus der Herauslösung geistiger Güter aus dem Schutzbereich des Art. 2 I GG und dem Transfer in denjenigen des Art. 14 GG ergeben.

___________ 41 Vgl. insoweit auch etwa Gamm, W. v., Urheberrecht, 1968, § 73 Rn. 2; Krüger, Ch., in: Schricker, G., Urheberrecht, 3. Aufl. 2006, § 73 Rn. 10.

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1. Die Grundrechtsschranken Die Antwort stellt sich ein bei einem Blick auf die jeweiligen Schranken der Grundrechte. Diejenigen des Art. 2 I GG sind im Ergebnis stringenter 42 . So erlaubt Art. 2 I GG dem Grunde nach echte Einschränkungen des geschützten Rechts 43 , wohingegen die Eigentumsgarantie zunächst auf eine Inhaltsbestimmung des Rechts abstellt. Diese kann auch einen verpflichtenden Charakter innehaben, aber gleichwohl ist diese mit einer echten Restriktion nicht gleichzusetzen. Die Inhaltsbestimmung beinhaltet nämlich keine Erlaubnis eines echten Eingriffs in das Eigentumsrecht. Es geht hier allein noch um die Konturierung des Rechts, seines Schutzbereichs. Dahinter steht der Gedanke, das absoluteste aller Ausschließlichkeitsrechte mit seinem denkbar weitesten Umfang nicht zu sehr ausarten zu lassen, sondern es in die Pflicht eines Gemeinwohldienstes zu stellen 44 . Geht man über diese Grenze hinaus, so handelt es sich im Fall hoheitlicher Eingriffe um eine Enteignung (im Fall der Rechtmäßigkeit des Eingriffs) oder um einen rechtswidrigen Akt. Im ersten Fall erwachsen Ansprüche auf Enteignungsentschädigung, im zweiten Fall die Anfechtbarkeit oder gar Nichtigkeit des Eingriffs 45 , gegebenenfalls auch solche aus Amtshaftung (Art. 34 GG, § 839 BGB). Eingriffen von privater Seite wird mit Abwehr- und Kompensationsansprüchen bzw. -rechten begegnet. Kurz gesagt, sind echte Eingriffe (d. h. solche, die über die verfassungsrechtlich zulässige Inhaltsbestimmung ___________ 42 s. a. Dörr, D., Die neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Eigentumsgarantie des Art. 14 GG – ein Beitrag zur Harmonisierung der Schranken von Art. 14 GG und Art 12 GG, in: NJW 1988, S. 1050. 43 s. a. BVerfGE 78, 197; Merten, D., Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit – Art. 2 I GG in der Entwicklung, in: JuS 1976, S. 350; Sachs, M., Ausländergrundrechte im Schutzbereich von Deutschengrundrechten, in: BayVBl. 1990, S. 388 f.; Degenhart, Ch., Das allgemeine Persönlichkeitsrecht, Art. 2 I i. V. m. Art. 1 GG, in: JuS 1990, S. 167 f.; s. Dreier, H., in: Dreier, H., Grundgesetz, Art. 2 I Rn. 31; s. aber auch die Zweifel unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes a.a.O. (Fn. 112); ferner Schwabe, J., Anm. zu BVerfG, Beschl. v. 18.07.1973 – 1 BvR u. 155/73, in: NJW 1974, S. 1045. Diese Auffassung wird vor allem dort virulent, wo es um den Inhalt der Rechte für Nichtdeutsche gegenüber vergleichbaren Positionen nach den so genannten Deutschengrundrechten geht, hat aber darüber hinaus eine allgemeinere Aussagekraft: Grundsätzlich gewährt Art 2 I GG in vergleichender Betrachtung einen tendenziell schwächeren Schutz als die spezielleren Grundrechte. 44 s. a. Böhmer (Fn. 12), S. 2571 ff.; vgl. ebenso Scholz, R., Identitätsprobleme der verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie, in: NVwZ 1982, S. 337 ff. 45 s. grundlegend den so genannten Nassauskiesungsbeschluss BVerfGE 58, 300 ff.; s. auch für die Möglichkeit einer entschädigungspflichtigen Inhaltsbestimmung BVerfGE 58, 753 – Pflichtexemplare, wobei aber auch hier keine Wahl zwischen einem „Dulden und liquidiere“ vorliegt, s. dazu auch Knauber, R., Die jüngere Entschädigungsrechtsprechung des BGH nach dem Nassauskiesungsbeschluss des BVerfG, in: NVwZ 1982, S. 753 ff.

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hinausgehen) in den Schutzbereich des Eigentumsrechts grundsätzlich sanktioniert. Wie im Vergleich, doch anders bei Art. 2 I GG!

2. Transformation von verfassungsrechtlichem Eigentum in das einfache Gesetz Und es gäbe noch eine weitere Schlussfolgerung. Wenn Art. 14 GG (oder jede andere Eigentumsgarantie) dann, wenn ein Recht die beschriebenen Eigentumskomponenten aufweist, letztendlich gezwungen wäre, dieses in seinen Schutzbereich mit aufzunehmen, müsste das einfachgesetzliche Recht dieses ohne Widerspruch hinnehmen. Dieses könnte etwa nichts Gegenteiliges statuieren. Auf der anderen Seite erscheint es nicht nötig, insoweit eine Pflicht zum Erlass eigener Normen anzunehmen, die neue Eigentumsformen speziell schützen 46 . Es ist insoweit nämlich schon hinreichend Vorsorge getroffen worden. Das einfachgesetzliche Recht weist genug offene Tatbestände auf, die das neu hinzugekommene Eigentum gleichsam assimilieren könnte 47 .

3. Zum numerus clausus geistiger Güter Eine weitere wesentliche Konsequenz ist das Fehlen eines numerus clausus für Immaterialgüterrechte oder sonstige Rechte an geistigen Gütern. Dies wird bislang weitgehend anders gesehen 48 , folgt aber aus den hier angestrengten Überlegungen. Wenn es eine Definitionsmacht des einfachen Gesetzgebers bezüglich dessen, was Eigentum ist und was nicht, nicht gibt und auch das Verfassungsrecht auf einen offenen Eigentumsbegriff stößt, muss dem so sein. Al___________ 46

Vgl. insoweit auch Canaris, C.-W., Verstöße gegen das verfassungsrechtliche Übermaßverbot im Recht der Geschäftsfähigkeit und Schadenseratzrecht, in: JZ 1987, S. 993; Dreier, H., Subjektiv-rechtliche und objektiv-rechtliche Grundrechtsgehalte, in: Jura 1994, S. 509; Hillgruber, Ch., Grundrechtsschutz im Vertragsrecht – zugleich: Anmerkung zu BVerfG, NJW 1990, 1469, in: AcP 191 (1991), S. 76. 47 s. insoweit zum Ausblick im Anschluss 4; Ausnahmen mögen vereinzelt freilich vorkommen, vgl. für den partiellen Ausschluss der Fauna vom Patentschutz s. insoweit Hesse, H. G., Der Schutz der züchterischen Leistung und die Grundrechte, in: GRUR 1971, S. 101 ff.; Pechmann, E. v., Ist der Ausschluss von Tierzüchtungen und Tierbehandlungsverfahren vom Patentschutz gerechtfertigt? in: GRUR Int. 1987, S. 344; sowie ders., Ausschöpfung des bestehenden Patentrechts für Erfindungen auf dem Gebiet der Pflanzen- und Tierzüchtung unter Berücksichtigung des Beschlusses des Bundesgerichtshofes – Tollwutvirus, in: GRUR 1987, S. 480. 48 s. o. Fn. 9.

Eigentumsgarantie und immaterielle Güter

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les andere würde diese Entwicklungsoffenheit vereiteln. Für die geistigen Güter mit ihren wohl nie abschließender Zahl 49 gilt dies in besonderem Maße 50 .

4. Ausblick Es wird nicht verkannt, dass das hier präsentierte dogmatische Modell hohe Anforderungen stellt. Allein schon seine Voraussetzungen sind nur schwer feststellbar. Wann liegt das Eigentum vor, welches von der verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie vorgefunden und aufgenommen wird? Hier wird es stets Unsicherheiten geben, aber diese sind um der Vermeidung einer einfachgesetzlichen Schutzbereichsdefinition willen in Kauf zu nehmen. Man kann hier durchaus mit Vermutungen arbeiten, indem man annimmt, dass gesetzliche Statuierungen eines Rechts als ein Immaterialgüterrecht gleichsam reagierend den bereits bestehenden Eigentumscharakter nun auch ausdrücklich anerkennen; hier könnte man an einzelne organisatorisch-unternehmerische Leistungen denken, wie das Veranstalterrecht des § 81 UrhG, das Tonträgerherstellerrecht (§ 85 UrhG), das Recht des Filmherstellers (§ 94 UrhG), das Senderecht (§ 87 UrhG) oder auch das Datenbankrecht (§ 87 a UrhG) 51 . Die Rechtsprechung trägt das Ihre dazu bei, wie der Blick auf die Fortentwicklung persönlichkeitsrechtlicher Modelle zeigt 52 . Auch hier wird allen Streitigkeiten im Detail zum Trotz doch nur vollzogen, was schon längst gang und gäbe ist, nämlich die nun auch dogmatische Verarbeitung der in praxi längst geübten Verwertung von Persönlichkeitsrech___________ 49

Vgl. für das Persönlichkeitsrecht Forkel, H., Zur systematischen Erfassung und Abgrenzung des Persönlichkeitsrechts auf Individualität, in: Festschrift für H. Hubmann, 1985, S. 109. 50 Am Rande sei insoweit kurz auf die Situation der Rechte an körperlichen Gegenstände eingegangen: Auch hier dürfte es nach dem Gesagten einen numerus clausus eigentlich nicht geben. Dass er gleichwohl (noch) verfassungsmäßig ist, liegt daran, dass es hier genügend Gestaltungsmöglichkeiten gibt, die ihn auch verfassungsrechtlich erträglich machen – zu nennen sind hier namentlich Verknüpfungen mit schuldrechtlichen Abreden, wie man sie etwa vom Eigentumsvorbehalt oder vom Sicherungseigentum her kennt (Vor allem letzteres zeigt doch sinnfällig, wie man Schwächen des bestehenden numerus clausus – Stichwort: Ersatz für ein nichtexistierendes Pfandrecht mittels Besitzkonstitut – ausmerzen kann); s. insoweit auch Baur, F. / Stürner, R., Sachenrecht, 17. Aufl. 1999, § 56. Dass der verfassungsrechtliche Eigentumsbegriff allein an einer zivilrechtlichen Dinglichkeit ansetzt und etwa Problembehebungen mittels schuldrechtlicher Flankierung nicht betrifft, ist nicht zwingend vorgegeben. Zum Vergleich: Für die geistigen Güter existieren solche Vorgaben nicht, denn hier geht es um die Etablierung von Ausschließlichkeitsrechten an sich, die im Sachenrecht schon mannigfaltig vorhanden sind. 51 s. insoweit Schack, H., Urheber- und Urhebervertragsrecht, 3. Aufl. 2004, Rn. 281 ff. 52 s. o. V.2.

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Claus Ahrens

ten 53 . Das Gesetz selbst ist tatbestandsmäßig offen, indem es etwa das Recht am Unternehmen 54 , ein sonstiges gegebenenfalls noch zu entwickelndes Recht i. S. v. § 23 I BGB mit zugleich vorhandenen Verwertungspotenzialen oder den nicht abschließenden Werksbegriff des § 2 II UrhG (die Aufzählung in Absatz 1 ist ausdrücklich nicht abschließend) zur Verfügung stellt 55 . Ausgefüllt werden kann es wieder durch die Rechtsprechung 56 oder die insoweit empirisch tätige Rechtswissenschaft. Allen Schwierigkeiten zum Trotz ist das Recht auf allen Ebenen den hier aufgeworfenen Fragestellungen gegenüber gewappnet. Kurz angesprochen sei die staatenübergreifende Dimension, sei es auf europäischer, sei es auf internationaler Ebene. Auch hier finden sich Eigentumsgarantien 57 , so dass die exemplarisch am deutschen Verfassungsrecht präsentierte Frage sich gleichermaßen stellt. Vor allem in allumfassend globaler Hinsicht muss sie im hier favorisierten Sinne beantwortet werden, denn einen globalen Normgeber, der schutzbereichsdefinierend tätig werden könnte, gibt es nicht 58 . Freilich gibt es für die Immaterialgüterrechte eine internationale Rechtsvereinheitlichung, die für das übrige Zivilrecht ihresgleichen sucht 59 . Nichts spricht dagegen, hier einen Vollzug allgemein vorhandener eigentumsspezifischer Vorstellungen zu sehen (vgl. insoweit auch die Präambel des TRIPS-Abkommens). Aber auch hier ist die Entwicklung noch offen. Dass anhand der im internationalen Bereich vergleichsweise eingeschränkten Möglich-

___________ 53

Vgl. Ahrens (Fn. 14), S. 30 ff. Zum denkbaren Modell einer eigentumsrechtlichen Nutzungskomponente s. etwa für das Franchising Forkel, H., Der Franchisevertrag als Lizenz am Immaterialgut Unternehmen, in: ZHR 153 (1989), S. 511 ff. 55 Vgl. exemplarisch für dortige Diskussionen etwa den Streit um die (allerdings gemeinhin abgelehnte) Einordnung von Werbekonzepten als Werke Hertin, P. W., Zur urheberrechtlichen Schutzfähigkeit von Werbeleistungen unter besonderer Berücksichtigung von Werbekonzeptionen und Werbeideen – zugleich eine Auseinandersetzung mit Schricker, G., GRUR 1996, S. 815 ff., in: GRUR 1997, S. 799, sowie Schricker, G., Der Urheberschutz von Werbeschöpfungen, Werbeideen, Werbekonzeptionen und Werbekampagnen, in: GRUR 1996, S. 815 ff. 56 So, wenn diese die so genannten Sportübertragungsrechte u. a. durch das Recht am Unternehmen geschützt wissen will, s. o. Fn. 35. Da diese Rechte unbestreitbar verwertbar sind, würden demnach neben der Schutzkomponente die Nutzungskomponente auf dem Fuße folgen. 57 Vgl. o. Fn. 2. 58 Vgl. für rechtsvergleichende Orientierung hinsichtlich der Verwertung von Persönlichkeitsrechten Götting, H. P., Persönlichkeitsrechte als Vermögensrechte, 1995, S. 168 ff.; Magold, H. A., Personenmerchandising, 1994, S. 25 ff.; Seemann, B., Prominenz als Eigentums, 1996, S. 69 ff. 59 s. dazu den nach wie vor aktuellen und instruktiven Überblick bei Forkel, H., Das Erfinder- und Urheberrecht in der Entwicklung – ein Beitrag zum internationalen Schutz des „geistigen Eigentums“, in: NJW 1997, S. 1672 ff. 54

Eigentumsgarantie und immaterielle Güter

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keiten der Normgebung Fortschritte hier einen steinigeren Weg haben werden als im nationalen Bereich, steht dem wiederum nicht entgegen60. Abschließend sei die Betonung nochmals auf die vorhandenen Potenziale des Eigentums gelegt, wenn man nur einer letzten Endes doch allein restriktiv wirkenden legislativen Definitionsmacht rechtzeitig entgegentritt. Künftigen Entwicklungen kann man somit vorbereitet und gelassen entgegensehen. Zugleich ist man stets auf dem Weg und wohl niemals am Ziel.

___________ 60 Zu beachten ist etwa, dass die einzelnen immateriellen Rechte grundsätzlich territorial begrenzt sind, vgl. etwa BGHZ 136, 385 f. – Spielbankenaffaire; BGHZ 118, 397 – ALF; BGH, GRUR 1994, 798, 799 – Folgerecht bei Auslandsbezug; s. a. BVerfGE 81, 208, 224 – Bob Dylan; BGH, NJW-RR 2003, 549 – Sender Felsberg; OLG München MMR 2002, 312 – Spielbankenaffaire. Dies kann folglich zu begrenzten Eigentumsrechten führen, wenn nämlich dementsprechend auch die Eigentumsvorstellungen nicht universell sind.

Geistiges Eigentum und unionales Wettbewerbsrecht Peter M. Huber

I. Die grundrechtlichen Implikationen des Falles „Microsoft“ Mit ihrer auf Art. 82 EG gestützten Entscheidung vom 24. März 2004 1 verpflichtete die EU-Kommission die Firma Microsoft u. a., interessierten Dritten Spezifikationen über die Interoperabilität des Betriebssystems WINDOWS XP zu angemessenen und nicht diskriminierenden Bedingungen zugänglich zu machen sowie eine voll funktionsfähige Version des WINDOWS-CLIENTBetriebssystems ohne den WINDOWS Media Player innerhalb von 90 Tagen nach dem Erlass der Entscheidung anzubieten. Da Spezifikationen für die Interoperabilität bis dahin nicht vorhanden und die den „WINDOWS Media Player“ betreffenden Daten integraler Bestandteil des Programms waren, und sich diese vom übrigen Programm WINDOWS XP nicht hinreichend abgrenzen ließen, behinderte die Entscheidung nicht nur beim Vertrieb der am Markt eingeführten „WINDOWS XP“-Programmversionen; sie verpflichtete die Firma Microsoft auch zur Entwicklung eines (teilweise) neuen Programms. Das wirft die Frage nach der Vereinbarkeit der Entscheidung mit den durch Art. 6 Abs. 2 EU anerkannten Grundrechten des Unionsrechts auf, insbesondere, ob und inwieweit dieses einen grundrechtlichen Schutz des geistigen Eigentums – von Urheber-, Marken- und Patentrechten – kennt, wie dieser zur Berufsfreiheit abzugrenzen ist und inwieweit beide Gewährleistungen auch beim Vollzug des unionalen Wettbewerbsrechts beachtet werden müssen.

II. Der Grundrechtsschutz in der EU 1. Allgemeines Seit 1969 erkennt der EuGH die Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze des Unions- bzw. Gemeinschaftsrechts an. In der richterrechtlichen Konkretisierung umfasst dieser Schutz praktisch alle in den Mitgliedstaaten der EU ___________ 1

KOM C (2004) 900 endg.

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Peter M. Huber

anerkannten Grundrechte, insbesondere Eigentum und Berufsfreiheit. Der EuGH stützt sich dabei neben den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten vor allem auf die EMRK (Art. 6 Abs. 2 EU), die – vereinzelten – grundrechtlichen Regelungen des EG-V sowie auf das unionale „Soft law“, wobei insbesondere der EU-Grundrechtscharta eine herausragende Bedeutung zukommt. 2

2. Grundrechtsschutz und Sekundärrecht Als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts sind die Grundrechte Bestandteil des Primär-, die Entscheidung der EU-Kommission dagegen Teil des Sekundär- oder Tertiärrechts. 3 Zwar wird das Primärrecht durch sekundärrechtliche Normen idealtypisch so konkretisiert, dass sich ein unmittelbarer Durchgriff auf das Primärrecht – die Grundrechte oder die Grundfreiheiten – erübrigt, so dass man i. d. R. von einem „Anwendungsvorrang“ des Sekundär- und Tertiärrechts vor dem Primärrecht ausgehen kann. 4 Das setzt jedoch voraus, dass die Rechtsakte des Sekundär-, gegebenenfalls auch des Tertiärrechts mit den unionalen Grundrechten in Übereinstimmung stehen. Daher hat der EuGH nicht nur kartellrechtliche Entscheidungen an den Grundrechten gemessen, 5 sondern beim Vollzug des Sekundärrechts etwa auch eine Beachtung der unionalen Eigentumsgarantie verlangt. 6

___________ 2 Siehe nur EuGH, Slg. 1969, 419 ff. – Stauder, Rz. 7; Slg. 1970, 1125 ff. – Internationale Handelsgesellschaft, Rz. 4; Slg. 1974, 419 ff. – Nold, Rz. 14 f.; Slg. 1994 – I, 4973 ff. – Deutschland / Rat (Bananen), Rz. 78 ff.; Slg. 1996 – I, 1759 ff. – EMRK, Rz. 33. 3 Zur Unterscheidung siehe Huber, P. M., Recht der Europäischen Integration, 2. Aufl. 2002, § 8 Rn. 117. 4 Huber (Fn. 3), § 17 Rn. 44; siehe aber EuGH, Slg. 2005, I – 5285 – Pupino, Rz. 59; Urt. v. 27.06.2006 – Rs. C 540/03 – EP / Rat, Rz. 103 ff., sowie Art. 18 und 39 EG. 5 EuGH, Slg. 1989, 2859 ff. – Hoechst, Rz. 17 ff. 6 Zur grundrechtskonformen Anwendung des Sekundärrechts durch die Behörden der Mitgliedstaaten EuGH, Slg. 1986, 3477 ff. – Marthe Klensch, Rz. 8 ff.; Slg. 1989, 2609 ff. – Wachauf, Rz. 17 ff. Da die nationalen Behörden hier im Rahmen des indirekten Vollzuges als funktionale Gemeinschaftsbehörden tätig geworden sind, gelten für sie keine grundsätzlich anderen Maßstäbe als für die Europäische Kommission beim direkten Vollzug des Sekundärrechts. Der EuGH spricht deshalb auch generalisierend davon, dass „in der Gemeinschaft“ keine Maßnahmen anerkannt werden können, die mit den Grundrechten unvereinbar sind; dazu Huber (Fn. 3), § 8 Rn. 54 ff.

Geistiges Eigentum und unionales Wettbewerbsrecht

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3. Zur Bonität des unionalen Grundrechtsschutzes Über die Bonität des unionalen Grundrechtsschutzes gehen die Auffassungen nach wie vor auseinander. Bemerkenswert ist jedenfalls, dass der EuGH bis heute nicht eine einzige Maßnahme eines EG-Organs wegen Verstoßes gegen ein unionales Freiheitsrecht für nichtig erklärt, den EG-Organen vielmehr stets einen weiten Ermessensspielraum eingeräumt hat. Grund dafür dürfte sein, dass die unionalen Grundrechte – ungeachtet einer weitgehenden Übernahme der aus der deutschen Grundrechtsdogmatik stammenden Strukturen und Begrifflichkeiten – vom EuGH bislang weniger als individuelle und subjektive Abwehrrechte verstanden werden, denn als objektive Rechtsgrundsätze. Eine genauere Analyse zeigt freilich, dass der EuGH unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit und gegenüber den als „funktionale“ Gemeinschaftsbehörden tätig werdenden Behörden der Mitgliedstaaten dennoch eine effektive Grundrechtskontrolle praktiziert. 7

III. Zur Grundrechtsrelevanz der Kommissionsentscheidung 1. Geistiges Eigentum im Unionsrecht Die Rechtsprechung des EuGH erkennt, wie gesagt, die Eigentumsgarantie als allgemeinen Rechtsgrundsatz des Unionsrechts an. Anders als bei den gleichsam natürlichen Freiheiten handelt es sich hier allerdings um eine „normgeprägte“ Garantie, deren Schutz sich nur auf solche Interessen erstreckt, die der zuständige nationale oder unionale Gesetzgeber als Eigentum ausgestaltet hat. Für Urheber-, Verlags-, Patent-, Marken- und sonstige Schutzrechte ist dies sowohl nach unionalem als auch nach nationalem Recht der Fall. 8 ___________ 7

Siehe EuGH, Slg. 1986, 3477 ff. – Marthe Klensch, Rz. 8 ff.; Slg. 1988, 2355 ff. – v. Deetzen/HZA Hamburg Jonas; Slg. 1989, 2609 ff. – Wachauf, Rz. 17 ff.; Slg. 1991 – I, 2925 ff.; 1992, I – 2575/2609 – Arzneimittelimporte, Rz. 23 f.; 1997, I – 3689/3717 – Familiapress, Rz. 24 ff.; zur Bonität des unionalen Grundrechtsschutzes BVerfGE 73, 339 ff.; 102, 147 ff. – Bananen; Coppel, J. / O’Neill, A., The European Court of Justice: Taking rights seriously?, in: CMLR 29 (1992), S. 669 ff.; Huber, P. M., Das Kooperationsverhältnis zwischen BVerfG und EuGH in Grundrechtsfragen, in: EuZW 1997, S. 517/520; ders., Europäisches und nationales Verfassungsrecht, in: VVDStRL 60 (2001), S. 194/204; ders. (Fn. 3), § 8 Rn. 67 ff.; Selmer, P., Die Gewährleistung des unabdingbaren Grundrechtsstandards durch den EuGH, 1998, S. 118 ff.; Storr, St., Zur Bonität des Grundrechtsschutzes in der Europäischen Union, in: Der Staat, Bd. 36 (1997), S. 547 ff. 8 Siehe etwa VO/EG Nr. 40/94 über die Gemeinschaftsmarke zuletzt geändert durch VO/EG 422/2004; VO/EG 2100/94 über den gemeinschaftlichen Sortenschutz zuletzt geändert durch VO/EG 873/2004; VO/EG 6/2002 des Rates über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster; RiL 91/250/EWG des Rates vom 14.05.1991 (ABl.EG 1991 Nr. L 122/42); RiL 2000/31/EG über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der In-

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Peter M. Huber

Vor diesem Hintergrund hat der EuGH den Schutz der Eigentumsgarantie auch auf das geistige Eigentum erstreckt. 9 Dafür spricht auch die Erwähnung des gewerblichen und kommerziellen Eigentums in Art. 30 EG. Die europarechtliche Literatur geht deshalb geradezu einmütig davon aus, dass die gewerblichen Schutzrechte eigentumsrechtlichen Schutz genießen. 10 Dieser Befund wird noch eindeutiger, wenn man die Quellen betrachtet, aus denen sich der unionale Grundrechtsschutz speist.

a) Das Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten In Deutschland ist der verfassungsrechtliche Schutz des geistigen Eigentums fest etabliert. Das BVerfG hat das Urheberrecht hinsichtlich seiner vermögenswerten Aspekte ebenso als Schutzgut von Art. 14 Abs. 1 GG anerkannt wie Patent- und Warenzeichenrechte. 11 Vergleichbares lässt sich auch für die meisten anderen Mitgliedstaaten der EU feststellen, für Frankreich etwa, 12 für Italien 13 oder für Österreich. 14

___________ formationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt; RiL 2001/29/EG zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft; RiL 2001/84/EG über das Folgerecht des Urhebers des Originals eines Kunstwerks; RiL 2004/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums. 9 EuGHE 1994, I – 5555 – méthode champenoise, Rz. 23; 1998, I – 1953 – Metronome Musik, Rz. 21; Schlussantrag des GA Theauro, Rz. 33; allgemein zum Eigentumsschutz im Unionsrecht EuGHE 1974, 491 ff. – Nold; 1979, 3727 – Hauer, Rz. 17; 1994 – I, 4973 ff. – Deutschland / Rat (Bananen); 1995 – I, 3115 – Fishermens Organisations, Rz. 55; näher Beutler, B., in: Groeben, H. von der / Schwarze, J. (Hrsg.), EUV/EGV, 6. Aufl. 2003, Art. 6 EU Rn. 79 m. w. N. Fn. 238. 10 Calliess, Ch., in: Ehlers, D. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2. Aufl. 2005, § 17 Rn. 13; Müller-Michaels, O., Grundrechtlicher Eigentumsschutz in der Europäischen Union, 1997, S. 37. 11 BVerfGE 31, 229 ff.; 79, 1 ff.; 79, 29 ff. 12 Art. 2 und 17 Déclaration de 1789; CC Decision no. 90 – 283 DC du 8 janvier 1991; CC Decision no. 91-303 DC du 15 janvier 1992. 13 Art. 33, 35 und 42 Ital.Verf.; Corte Cost. Sentenza 108/1995 vom 23.03.1995 No. 21543. 14 Art. 5 StGG, Art. 1 1. ZP-EMRK VfSlg. 9887/1992; VfSlg. 11946/1989; allgemein VfSlg. 12227/1989; Berka, W., Die Grundrechte. Grundfreiheiten und Menschenrechte in Österreich, 1999, § 29 Rn. 712.

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b) Der Schutz geistigen Eigentums in der EMRK Auch die EMRK, auf die Art. 6 Abs. 2 EU Bezug nimmt und die sich zum zentralen Grundrechtsdokument im europäischen Rechtsraum entwickelt hat, weist in diese Richtung. Das Eigentum wird dort durch Art. 1 1. ZP-EMRK geschützt und umfasst nicht nur bewegliche und unbewegliche Sachen, sondern alle „wohlerworbenen“ vermögenswerten Rechte. Darunter fallen neben körperlichen Gegenständen auch bestimmte andere Rechte wie Urheber-, Patent-, und Markenrechte. Zwar ist die Rechtsprechung der Straßburger Organe insoweit nicht ganz einheitlich, doch gehen sie von einem weiten Eigentumsbegriff aus. Auch hat jedenfalls die EKMR den Eigentumsschutz von Patentrechten bejaht. Vor diesem Hintergrund ist es allgemeine Auffassung in der Literatur wie in der Rechtsprechung der mitgliedstaatlichen (Verfassungs-)Gerichte, dass Art. 1 1. ZP-EMRK den Schutz des geistigen Eigentums umfasst. 15

c) Die EU-Grundrechtecharta (EU-GC) Der unionsrechtliche Schutz geistigen Eigentums wird schließlich auch durch die EU-GC bekräftigt, die EuGH und EuG seit 2000 zunehmend zur Bekräftigung ihrer Auffassung heranzuziehen. 16 Denn dort wird das geistige Eigentum in Art. 17 Abs. 2 EU-GC ausdrücklich erwähnt. 17

2. Die Entscheidung der EU-Kommission als Eingriff in das geistige Eigentum Soweit die Kommissionsentscheidung Microsoft dazu verpflichtet, eine „Windows XP Home Edition“ und eine „Windows XP Professional“ – Version ohne „Windows Media Player“ anzubieten, hat dies erhebliche Auswirkungen auf das eigentumsrechtlich geschützte „Produkt“, die sich unter unterschiedli___________ 15

EKMR Requête No. 12633/87, DR 66 (1990), 70/79 – Smith Kline et French Laboratoires Ltd; Grabenwarter, Ch., Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. 2005, § 25 Rn. 4; allgemein zum Eigentumsschutz nach der EMRK: EGMR vom 23.02.1995, Serie A, Bd. 306, Nr. 53, S. 46 – Gasus Dosier und Fördertechnik GmbH; EGMR, EuGRZ 1988, 35 van Marle u. a. / Niederlande; Peukert, W., in: Frowein, J. Abr. / Peukert, W., Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. 1996, Art. 1 1. ZP, Rn. 4. 16 EuG, Rs. T – 54/99, max.mobil Telekommunikation Service GmbH / Kommission, Slg. 2002, II – 313, Rz. 48, 57; Pernice, I. / Mayer, F. C., in: Grabitz, E. / Hilf, M. (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, nach Art.6 EUV, Rz. 24 f. (2002) m. w. N. zur Heranziehung der Grundrechtscharta durch die Generalanwälte. 17 Streinz, R., in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, 2003, GR-Charta, Art. 17 Rn. 4.

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chen Aspekten als „Eingriff“ in den unionalen Schutz des geistigen Eigentums darstellen.

 Da die für den Betrieb des „WINDOWS Media Players“ erforderlichen Pro-

grammbestandteile integraler Bestandteil des Betriebssystems waren, war es Microsoft nicht möglich, diese ohne Weiteres zu isolieren. Es musste durch die Entwicklung eines neuen Programms vielmehr ein Konkurrenzprodukt auf den Markt bringen, was die Verkaufsmöglichkeiten des eingeführten Programms WINDOWS XP notgedrungen beeinträchtigte. Weil diese Erschwerungen der Verwertungsmöglichkeiten eines eigentumsrechtlich geschützten Gutes durch die öffentliche Gewalt – die EU-Kommission – angeordnet wurden, handelte es sich insoweit um einen „Eingriff“ in die Eigentumsgarantie.

 Auch die Verpflichtung, das Programm WINDOWS XP so umzugestalten,

dass es zum einen die Interoperabilität für interessierte Dritte ermöglicht und dass es zum andern auch ohne WINDOWS Media Player genutzt werden kann, beeinträchtigt das urheberrechtlich und damit eigentumsrechtlich geschützte Interesse der Fa. Microsoft, ohne öffentliche Ingerenz frei über die Umarbeitung des Werkes entscheiden zu können („right of alteration“).

 Ferner stellte sich die Verpflichtung, Produkte anbieten zu müssen, die (nur)

im Zusammenwirken mit Produkten anderer Hersteller funktionieren, wegen der damit zwangsläufig verbundenen, von der Fa. Microsoft nicht kontrollierbaren Risiken als eine Beeinträchtigung des Rechtes an der Marke und insoweit zugleich als „Eingriff“ in die Eigentumsgarantie dar.

 Schließlich muss auch die Verpflichtung, diese Auflagen binnen einer Frist

von (nur) 90 Tagen zu erfüllen, als „Eingriff“ gewertet werden. Denn der Adressatin fehlte insoweit die notwendige Vorbereitungszeit, um durch die Entwicklung hinreichend leistungsfähiger Alternativprodukte Schaden von der eingeführten „Marke“ abzuwenden.

3. Geistiges Eigentum und Berufsfreiheit Die Entscheidung der EU-Kommission beeinträchtigt allerdings nicht nur die Eigentumsgarantie, sondern auch die Berufsfreiheit. Indem sie die Fa. Microsoft verpflichtet(e), Spezifikationen erst zu entwickeln, um das Programm für interessierte Dritte zugänglich zu machen und lizenzieren zu können, und indem sie ein neues Programm ohne „WINDOWS Media Player“ erstellen musste, wurde sie nicht nur gezwungen, gegen ihre unternehmerische Konzeption ein Produkt zu schaffen, sondern auch ihr Personal in beträchtlichem Umfang und für eine erhebliche Dauer für diese Aufgabe einzusetzen. Vorübergehend musste sie sogar zu Neueinstellungen greifen.

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Die damit begründete Verpflichtung zur Erbringung einer Arbeit verpflichtete die Firma Microsoft zwar nicht rechtlich – sie hätte die Vermarktung der WINDOWS-Produkte theoretisch auch einstellen können –, wohl aber faktisch zu einer bestimmten Tätigkeit und beeinträchtigte insoweit auch die unionsrechtliche Garantie der Berufsfreiheit. Für deren Absicherung gelten vergleichbare Maßstäbe, wie sie im Hinblick auf das Eigentum skizziert worden sind. 18 Die Intensität des hier in Rede stehenden Eingriffs in die Berufsfreiheit war erheblich, weil sie faktisch darauf hinauslief, dass die Fa. Microsoft die von der EU-Kommission geforderten Arbeiten erbringen musste, um weiter am Markt tätig bleiben zu können. Da es dabei nicht um typische Nebenpflichten ging, sondern um die Entwicklung eines neuen Produktes, da also die unternehmerische Konzeption der Adressatin hier von hoher Hand gesteuert wurde, nähern sich die Auswirkungen der Entscheidung bis zu einem gewissen Grade der Intensität einer – unionsrechtlich verbotenen – Pflichtarbeit (Art. 6 Abs.2 EU), wie sie die Art. 4 Abs. 2 EMRK, Art. 5 Abs. 2 EU-GC sowie die Verfassungen der Mitgliedstaaten (z. B. Art. 12 Abs. 2 GG; Art. 22 Abs. 3 Griech.Verf.) einmütig untersagen. Eine dermaßen unzulässige Pflichtarbeit liegt nach der Rechtsprechung der Straßburger Organe vor, wenn sie unfreiwillig erfolgt und außerdem ungerecht oder unterdrückend ist oder unvermeidliche Härten zur Folge hat. Für die Zwangsverpflichtung von Zahnärzten und die Bestellung zum Pflichtverteidiger ist dies abgelehnt worden, wobei die (kurze) Dauer, die freiwillige Wahl und die Entlohnung eine Rolle spielten. 19 Auch wenn die Entscheidung der EU-Kommission der Fa. Microsoft rechtlich die Möglichkeit lässt, sich vom europäischen Markt zurückzuziehen, so dass die in ihr enthaltenen Vorgaben in einem engeren Sinne nicht als „Pflichtarbeit“ qualifiziert werden können, so kommen ihre faktischen Auswirkungen der – vorbehaltlich der in Art. 4 Abs. 3 EMRK, Art. 5 Abs. 2 EU-GC oder Art. 12 Abs. 3 GG vorgesehenen Ausnahmen – verbotenen Pflichtarbeit doch ___________ 18 Grundlegend EuGH, Slg. 1974, 491 ff. – Nold, Rz. 14 f.; Slg. 1979, 3727 ff. – Hauer, Rz. 32; Slg. 1994, I – 4973 ff. – Deutschland / Rat, Rz. 78 ff.; Huber (Fn. 3) § 8 Rn. 42 ff. Der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle angemerkt, dass das BVerfG in der Entscheidung BVerfGE 105, 252/267 f. – Glykol die Auffassung vertreten hat, dass eine informelle Intervention der öffentlichen Hand zur Sicherung des Wettbewerbs keinen Eingriff in die Berufsfreiheit darstelle. Im vorliegenden Fall geht es jedoch um eine förmliche Entscheidung der EU-Kommission nach Art. 249 Abs. 4 EG; zudem ist die Entscheidung des BVerfG auf nahezu einhellige Kritik im Schrifttum gestoßen; siehe etwa Bethge, H., in: JA 2003, S. 327 ff.; Huber, P. M., Die Informationstätigkeit der öffentlichen Hand. – Ein grundrechtliches Sonderregime aus Karlsruhe? in: JZ 2003, S. 290/296; Murswiek, D., Das Bundesverfassungsgericht und die Dogmatik mittelbarer Grundrechtseingriffe, in: NVwZ 2003, S. 1/7. 19 EKMR, EuGRZ 1975, 52; 1975, 47/48; Frowein, J. Abr., in: Frowein / Peukert, EMRK – Kommentar, Art. 4 Rn. 6 ff. m. w. N.

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sehr nahe. 20 Zudem hat die Fa. Microsoft diese Verpflichtungen weder freiwillig übernommen, noch wird sie dafür besser entlohnt, als wenn sie die auf dem Markt befindlichen Versionen weiter vertreiben könnte. Das wird zusätzlich dadurch unterstrichen, dass die Verpflichtungen zeitlich unbegrenzt auferlegt sind: „Microsoft Corporation shall ensure that the Interoperability Information made available is kept updated on an ongoing basis an in a Timely Manner“, heißt es in Art. 5 lit. b der Kommissionsentscheidung. Unabhängig von der Frage, ob die im deutschen Recht seit etwa 20 Jahren entwickelte und höchstrichterlich akzeptierte Figur des faktischen Grundrechtseingriffs auch auf das Unionsrecht übertragen werden kann – dafür spricht namentlich die am Gebot der praktischen Wirksamkeit („effet utile“) ausgerichtete Rechtsprechung des EuGH zu den mit den Grundrechten verwandten Grundfreiheiten – bedeutet die Auferlegung einer Verpflichtung, die in ihren faktischen Auswirkungen in die Nähe einer verbotenen Pflichtarbeit gerät, jedenfalls einen außerordentlich intensiven Eingriff in das betroffene Grundrecht. 21 ___________ 20 Zum Recht, Umfang und Einsatz der eigenen Arbeitskraft selbst bestimmen zu können, Calliess, Ch., in: Calliess, Ch. / Ruffert, M. (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, GrCh, Art. 5 Rn. 9. 21 Zur Diskussion um den faktischen Grundrechtseingriff in Deutschland BVerfGE 105, 252/268 ff. – Glykol BVerwGE 71, 183 ff. – Transparenzliste; 75, 109 ff. – Subventionsbetreuer; 82, 76 ff. – Sekten; 87, 37 ff. – Glykol; 90, 112 ff. – Osho; 100, 262 ff. – Mietspiegel; Albers, M., Faktische Grundrechtsbeeinträchtigungen als Schutzbereichsproblem, in: DVBl. 1996, S. 233 ff.; Badura, P., Urteilsanmerkung, in: JZ 1993, S. 37 ff.; Bethge, H., Der Grundrechtseingriff, in: VVDStRL 57 (1998), S. 7 ff.; Di Fabio, U., Grundrechte im präzeptoralen Staat, in: JZ 1993, S. 689 ff.; ders., Information als hoheitliches Gestaltungsmittel, in: JuS 1997, S. 1 ff.; Gallwas, H. U., Faktische Beeinträchtigungen im Bereich der Grundrechte, 1970; Gröschner, R., Öffentlichkeitsaufklärung als Behördenaufgabe, in: DVBl. 1990, S. 619 ff.; ders., Urteilsanmerkung, in: JZ 1991, S. 628 ff.; Heintzen, M., Staatliche Warnungen als Grundrechtsproblem, in: VerwArch 81 (1990), 532 ff.; Hesse, K., in: JZ 1991, S. 744 ff.; Huber, P. M., Konkurrenzschutz im Verwaltungsrecht, 1991, S. 360 ff.; ders., Rechtsprechungsübersicht, in: ZG 7 (1992), S. 347 ff.; ders., Die Verwaltungsgerichte und der Mietspiegel, in: JZ 1996, S. 893 ff.; Käß, R., Die Warnung als verwaltungsrechtliche Handlungsform, in: WiVerw 2002, S. 197 ff.; Murswiek, D., Staatliche Warnungen, Wertungen. Kritik als Grundrechtseingriffe, in: DVBl. 1997, S. 1021 ff.; Oebbecke, J., Beratung durch Behörden, in: DVBl. 1994, S. 147 ff.; Ossenbühl, F., Umweltpflege durch behördliche Warnungen und Empfehlungen, 1986; Ramsauer, U., Die faktischen Beeinträchtigungen im Bereich des Eigentums, 1980; Schoch, F., Staatliche Informationspolitik und Berufsfreiheit, in: DVBl. 1991, S. 667 ff.; Schulte, M., Schlichtes Verwaltungshandeln, 1995; ders., Informales Verwaltungshandeln als Mittel staatlicher Umwelt- und Gesundheitspflege, in: Heckmann / Messerschmidt (Hrsg.), Gegenwartsfragen des Öffentlichen Rechts, 1988, S. 213 ff.; Weber-Dürler, B., Der Grundrechtseingriff, in: VVDStRL 57 (1998), S. 57 ff. Zum funktionalen Ansatz des EuGH bei der Entfaltung der Grundfreiheiten EuGH, Slg. 1974, 837 – Dassonville, Rz. 5 – st. Rspr.

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Die Intensität der mit der Entscheidung verbundenen „Eingriffe“ in die Berufsfreiheit wird weiter dadurch erhöht, dass die Entwicklung neuer Programme binnen 120 Tagen (Art. 5) bzw. binnen 90 Tagen (Art. 6) erfolgen sollte. Denn dies zwang die Fa. Microsoft zum Einsatz eines erheblichen Teils ihres Personals für die Erfüllung dieser Verpflichtungen, und damit zur Vernachlässigung anderer Geschäftsfelder.

IV. Grundsätzliche Beschränkbarkeit von geistigem Eigentum und Berufsfreiheit Selbstredend ist weder der grundrechtliche Schutz des Eigentums noch der der Berufsfreiheit schrankenlos. Während der Entzug des Eigentums durch EGOrgane bislang noch keine Rolle gespielt hat und hohen Hürden unterläge, hat der EuGH im Hinblick auf seine inhaltlichen Beschränkungen und die Berufsfreiheit stets die Sozialpflichtigkeit des Eigentums betont bzw. hervorgehoben, dass solche Schrankenziehungen im Interesse des Gemeinwohls bzw. des Gemeinschaftsinteresses zulässig seien. 22

1. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Beschränkungen des Eigentums und seiner Verwendungsmöglichkeiten unterliegen allerdings dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. In ständiger Rechtsprechung heißt es in nahezu allen einschlägigen Entscheidungen des EuGH insoweit: „Folglich können die Ausübung des Eigentumsrechts und die freie Berufsausübung … Beschränkungen unterworfen werden, sofern diese Beschränkungen tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen der Gemeinschaft entsprechen und nicht einen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff darstellen“. 23 Vor diesem Hintergrund kommt es darauf an, die Vorteile für den unverfälschten Wettbewerb, die die Regelung der Kommissionsentscheidung zu zeitigen versprach, mit der Intensität der Eigentumsbeeinträchtigung zu Lasten von Microsoft in Beziehung zu setzen, und danach zu fragen, ob es mildere Mittel gegeben hätte, das mit der Entscheidung angestrebte Ziel zu erreichen und die Frage der Zumutbarkeit zu klären. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der EuGH den EG-Organen, genauer gesagt, dem unionalen ___________ 22 EuGH, Slg. 1974, 491 ff. – Nold, Rz. 14; Slg. 1979, 3727 – Hauer, Rz. 19 ff.; Slg. 1994, I – 4973 ff. – Deutschland / Rat (Bananen), Rz. 78 ff.; Slg. 1995, I – 3115 – Fishermens Organisations, Rz. 55. 23 Statt vieler EuGH, Slg. 1995, I – 3115 – Fishermens Organisations, Rz. 55.

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Gesetzgeber, unabhängig von der Intensität des mit einer Maßnahme verbundenen Eingriffs stereotyp einen weiten, nur im Wege der Evidenzkontrolle überprüfbaren Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum zugesteht, der kaum je überschritten werden kann. Diese Rechtsprechung ist jedoch der Kritik ausgesetzt, weil sie unter dem Blickwinkel der Grundrechte an die Mitgliedstaaten andere – höhere – Maßstäbe anlegt als an die EG-Organe. 24 Sie ist für den vorliegenden Kontext zudem nur bedingt einschlägig, da die EU-Kommission mit ihrer Entscheidung nicht als Rechtssetzungs-, sondern als Vollzugsorgan tätig geworden ist. 2. Zur Verhältnismäßigkeit der Kommissionsentscheidung Soweit die hier in Rede stehenden Entscheidung als Eingriff in die unionale Eigentumsgarantie qualifiziert werden muss, d. h. im Hinblick auf die Verwertungsbeschränkungen des Produktes WINDOWS XP, auf die Verpflichtung zur Umarbeitung des Programms und die negativen Auswirkungen auf die Bonität der Marke, mag dies im Interesse eines funktionsfähigen Wettbewerbs erforderlich und zumutbar gewesen sein. Offensichtlich nicht erforderlich war allerdings, dass die Entscheidung der EU-Kommission diese Verpflichtung zeitlich unbegrenzt statuierte, also unabhängig davon, ob die Fa. Microsoft mittel- und langfristig ihre aktuelle Marktposition beibehält und ob sich die Marktverhältnisse grundlegend ändern. Es ist evident, dass zeitlich befristete oder unter dem Vorbehalt einer Überprüfung stehende Anordnungen die Adressaten insoweit weniger belasten als die von der EU-Kommission angeordnete Regelung, ohne dass das von ihr verfolgte Ziel darunter gelitten hätte. Daneben scheint es angesichts des noch erforderlichen Entwicklungsaufwandes und im Hinblick auf die seinerzeit bereits erfolgte Markteinführung von WINDOWS XP nahe liegend, dass eine deutlich längere Frist als die in der Entscheidung geforderten 90 Tage die Fa. Microsoft weniger belastet hätte, ohne dass die Effektivität der Wettbewerbskontrolle dadurch beeinträchtigt worden wäre. ___________ 24 So findet etwa in der Rs. „Johnston / Royal Ulster Constabluary“, also in einer Konstellation, wo es darum ging, die unionalen Grundrechte gegenüber den Mitgliedstaaten zu effektivieren, eine eingehende Auseinandersetzung mit der – letztlich auch bejahten – Frage statt, ob eine (bloße) Beweislastregelung bereits einen Verstoß gegen die Garantie effektiven Rechtsschutzes darstellen könne. Dagegen hielt der EuGH diese Garantie im Zusammenhang mit Individualklagen gegen die Bananenmarktordnung also dort, wo es um Grundrechtsschutz gegenüber den EG-Organen ging, weder einer spezifischen Erwähnung wert noch eine Evaluation möglicher Lücken im unionalen Rechtsschutzsystem für erforderlich, und das, obwohl der Fa. T. Port die Insolvenz drohte (EuGHE 1996, I – 6065, 6104 f. – T. Port, Rz. 54 ff.); krit. Huber (Fn. 3), § 8 Rn. 72.

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Unverhältnismäßig sind die in den Entscheidungen enthaltenen Verpflichtungen schließlich insoweit, als sie die Fa. Microsoft verpflichteten, die Interoperabilität mithilfe von Spezifikationen zu gewährleisten und zu aktualisieren sowie ein Programm ohne WINDOWS Media Player neu zu entwickeln. Ungeachtet der denkbaren Verpflichtung, Immaterialgüterrechte im Rahmen der so genannten essential facilities–Doktrin zur Verfügung stellen zu müssen, 25 weisen die konkreten Gebote eine Nähe zum Verbot der Pflichtarbeit und daher eine erhebliche Intensität auf; da diese Schwelle einer Abwägung nicht zugänglich ist, sind Entscheidungen, deren Wirkungen in diese Nähe reichen, unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit nicht zu rechtfertigen. Das gilt jedenfalls dann, wenn es mildere Mittel gibt, etwa eine „must carry option“ oder das in Art. 6 der Richtlinie 91/250/EWG des Rates über den Rechtsschutz von Computerprogrammen 26 bereits vorgesehene Instrument der Dekompilierung.

3. Wesensgehaltsgarantie Als letzte Schranke grundrechtseingreifender Regelungen ist schließlich die Wesensgehaltsgarantie anerkannt. Sie dürfte – da über ihren Inhalt schon in der deutschen Rechtsordnung, deren Art. 19 Abs. 2 GG sie entlehnt ist, keine Klarheit besteht, und es hier seit 1949 nicht zu einem einzigen Verdikt wegen Verletzung dieser Garantie gekommen ist – im vorliegenden Zusammenhang jedoch keine zusätzlichen Gesichtspunkte bereit halten. 27

V. Fazit Das Unionsrecht garantiert den Schutz geistigen Eigentums, d. h. von Urheber-, Patent- und Markenrechten u. a. m. Dies bindet auch die EU-Kommission beim Vollzug des europäischen Kartellrechts, so dass eine Verletzung der unionalen Eigentumsgarantie durch ihre Entscheidung durchaus im Raume steht. Ob sie tatsächlich vorliegt, hängt davon ab, ob es mildere Mittel zur Sicherung eines unverfälschten Wettbewerbs gab und welche Auswirkungen es auf die Gebrauchstauglichkeit des WINDOWS-Betriebssystems hatte, dass der WIN___________ 25

Weiß, W., in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 82 Rn. 37 ff. ABl.EG 1991 Nr. L 122/45. 27 Statt vieler EuGH, Slg. 1995, I – 3115 – Fishermens Organisations, Rz. 55; zur Diskussion um eine absolute oder relative Wesensgehaltskonzeption im Unionsrecht einerseits EuGH, Slg. 1979, 3727/3747 – Hauer, Rz. 23; Slg. 1994, I – 4973/5065; andererseits EuGH, Slg. 1989, 2609/2639 – Wachauf; 1992, I – 35/63 – Kühn; siehe auch Huber, P. M., in: Mangoldt, H. v. / Klein, F. / Starck, Ch. (Hrsg.), GG, Band I, 5. Aufl. 2005, Art. 19 Abs. 2 Rn. 202 ff.; Streinz, R., Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1989, S. 422 f. 26

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DOWS Media Player davon abgetrennt werden musste. Die zeitlich unbefristete Auflage und die 90-Tage-Frist sprechen in diesem Zusammenhang für einen unverhältnismäßigen Eingriff und verstoßen damit gegen die unionsrechtliche Eigentumsgarantie. Die in der Entscheidung enthaltenen Verpflichtungen, neue Spezifikationen für die Interoperabilität sowie ein Programm für WINDOWS ohne Media– Player erst zu entwickeln, stellen hingegen eine unverhältnismäßige Beschränkung der unionsrechtlichen Garantie der Berufsfreiheit dar. Ob die Entscheidung der EU-Kommission Bestand haben wird, ist nach wie vor offen. Die Entscheidung des EuGH in der Rs. IMH-Health begründet schon aus kartellrechtlichem Blickwinkel Zweifel.28 Eine grundrechtskonforme Anwendung des Art. 82 EG würde diese zusätzlich erhärten. Auch wenn das EuG den Antrag von Microsoft auf vorläufigen Rechtsschutz mit Beschluss vom 22. Dezember 2004 abgelehnt hat, so hat es in diesem Zusammenhang doch immerhin die Verletzung von „Rechten des geistigen Eigentums“29 und der „geschäftlichen Entscheidungsfreiheit“30 geprüft und mit dem öffentlichen Interesse an der Sicherung des Wettbewerbs abgewogen. In seinem Urteil vom 17. September 2007 geht es auf die Frage des geistigen Eigentums jedoch nur mehr am Rande ein31 und auch die Verhältnismäßigkeit wird eher formelhaft geprüft32. Es bleibt zu hoffen, dass der EuGH im Falle eines Rechtsmittels die in seiner jüngeren Rechtsprechung erkennbaren Ansätze für eine grundrechtskonforme Interpretation des sonstigen Unionsrechts konsequent ausbauen wird.

___________ 28

EuGHE 2004, I – 5039 – IMS Health, Rz. 38 ff.; krit. zur Kommissionsentscheidung Weiß, W., in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 82 Rn. 40. 29 EuG, Rs. T – 201/04 R., Slg. 2004, II – 4463, Rz. 243 ff. 30 EuG a. a. O., Rz. 290 ff. 31 EuG, Rs. T – 201/04, Urt. v. 17.09.2007 – Microsoft / Kommission, Rz. 267 ff. 32 EuG, Rs. T – 201/04, Urt. v. 17.09.2007 – Microsoft / Kommission, Rz. 1194 ff.

Rechtshilfe und Rechtsstaat Zur Gewährleistung der Grund- und Menschenrechte sowie fundamentaler Rechtsstaatsgarantien bei der Klagezustellung in Deutschland Christian Malzahn Immer wieder sind es vor allem spektakuläre US-amerikanische Schadensersatzklagen gegen namhafte deutsche Unternehmen, die das Interesse der deutschen Öffentlichkeit wecken und die Rechtsprechung beschäftigen. In einer Reihe von aktuellen Verfahren hatten deutsche Gerichte darüber zu befinden, ob und inwieweit die deutschen Justizbehörden aufgrund der Bestimmungen im einschlägigen Haager Zustellungsübereinkommen (HZÜ) 1 verpflichtet sind, auch Ersuchen auf Zustellung von angeblich rechtsmissbräuchlich in den Vereinigten Staaten erhobenen Strafschadensersatzklagen zu erledigen. Während die Oberlandesgerichte Celle, München, Düsseldorf, Frankfurt am Main und Naumburg in den betreffenden Fällen keine Gründe erkennen konnten, weshalb die Zustellung entsprechender Klagen in Deutschland zu verweigern sei 2 , stellte das Oberlandesgericht Koblenz erstmals in einem konkreten Fall einen offensichtlichen Klagemissbrauch fest und erblickte darin und in der existenzbedrohenden Höhe der Klage eine Gefährdung der Grundrechte des inländischen Zustellungsadressaten in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip; aufgrund der entgegenstehenden obergerichtlichen Rechtsprechung sah es sich allerdings an einer Entscheidung gehindert und legte daraufhin die Sache dem Bundesgerichtshof gem. § 29 Abs. 1 Satz 2 EGGVG zur Entscheidung vor. 3 Neben seinem vielbeachteten Beschluss im Fall „Bertelsmann-Napster“ 4 muss___________ 1 Übereinkommen über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke im Ausland in Zivil- und Handelssachen vom 15.11.1965, BGBl. 1977 II, S. 1452. 2 OLG Celle, BeckRS 2006, Nr. 09152; OLG München, BeckRS 2006, Nr. 07453; OLG Düsseldorf, BeckRS 2006, Nr. 05911; OLG Frankfurt a. M., BeckRS 2006 Nr. 10075; OLG Frankfurt a. M., BeckRS 2006, Nr. 09174; OLG Naumburg, BeckRS 2006, Nr. 04270. 3 OLG Koblenz, NJOZ 2005, 3122. 4 BVerfGE 108, 238: in diesem Fall hatte eine Gruppe von Musikautoren und -verlagen hatte gegenüber der Bertelsmann AG eine Sammelklage auf Schadensersatz in einer Gesamthöhe von 17 Mrd. US-Dollar vor einem New Yorker Bezirksgericht wegen

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te sich schließlich auch das Bundesverfassungsgericht noch in zwei weiteren Verfahren mit der Verfassungsmäßigkeit der Zustellung von US-amerikanischen Schadensersatzklagen in Deutschland beschäftigen. 5 Diese neuere Rechtsprechung hat im deutschen Schrifttum ihren Widerhall gefunden 6 und den bereits seit Jahr(zehnt)en schwelenden Grundssatzstreit 7 über die rechtsstaatlichen Grenzen der internationalen Rechtshilfe wiederbelebt. Just in diesem Zeitpunkt haben Klaus J. Hopt, Rainer Kulms und Jan von Hein ihr vom Bundesverfassungsgericht in Auftrag gegebenes Gutachten „Rechtshilfe und Rechtsstaat: Die Zustellung einer US-amerikanischen Class ___________ der Beteiligung an der Musiktauschbörse Napster erhoben; s. auch OLG Düsseldorf, WM 2003, 1587. 5 BVerfG, Beschl. v. 24.01.2007, 2 BvR 1133/04; BVerfG, WM 2006, 2105. 6 Vgl. zum vorstehenden Beschluss des OLG Koblenz (Fn. 3): Piepenbrock, A., Zur Zustellung kartellrechtlicher treble-damages-Klagen in Deutschland, in: IPrax 2006, S. 26; zu den Beschlüssen im vielbeachteten Fall „Bertelsmann-Napster“: Koch, H. / Horlach, Ch. / Thiel, D., US-Sammelklage gegen deutsche Unternehmen? – „Napster“ und die bittere Pille danach, in: RIW 2006, S. 356; Schack, H., Ein unnötiger transatlantischer Justizkonflikt: die internationale Zustellung und das Bundesverfassungsgericht, in: AG 2006, 823; Stürner, R., Die verweigerte Zustellungshilfe für US-Klagen oder der „Schuss übers Grab“, in: JZ 2006, S. 60; Rasmussen-Bonne, H.-E., Zum Stand der Rechtshilfepraxis bei Zustellungsersuchen von US-Schadensersatzklagen nach dem Beschluss des BVerfG vom 25.07.2003, in: Rasmussen-Bonne, H.-E. (Hrsg.), Balancing of interests, liber amicorum Peter Hay zum 70. Geburtstag, 2005, S. 323 ff.; Bachmann, B., Neue Rechtsentwicklungen bei punitive damages? Erkenntnisverfahren, Zustellung und Vollstreckung, in: Bachmann, B., Grenzüberschreitungen. Festschrift für Peter Schlosser zum 70. Geburtstag, 2005, S. 1 ff.; Stürner, R., Die Vereinbarkeit von „treble damages“ mit dem deutschen ordre public, in: Bachmann, B. (Hrsg.), Grenzüberschreitungen, Festschrift für Peter Schlosser zum 70. Geburtstag, S. 967 ff.; Schütze, R.-A., Zur Zustellung US-amerikanischer Klagen in Deutschland, in: Schütze, R.-A., Prozessführung und -risiken im deutsch-amerikanischen Rechtsverkehr, S. 242 ff.; Oberhammer, P., Deutsche Grundrechte und die Zustellung US-amerikanischer Klagen im Rechtshilfeweg, in: IPrax 2004, S. 40; Rothe, O., Zustellung einer US-amerikanischen Klage nach dem HZÜ: Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip?, in: RIW 2004, S. 859; Huber, P., Playing the same old song – German courts, the „Napster“-case and the international law of service of process, in: Mansel, H.-P. (Hrsg.), Festschrift für E. Jayme, 2004, S. 361 ff.; Danwitz, Th. v., Verfassungsfragen des deutsch-amerikanischen Rechtshilfeverkehrs, in: DÖV 2004, S. 501; Braun, J., Einlassungszwang bei einer Klage auf Zahlung von 17 Mrd. Dollar?, in: ZIP 2003, S. 2225; Zekoll, J., Neue Maßstäbe für Zustellungen nach dem Haager Zustellungsübereinkommen?, in: NJW 2003, S. 2885; Heß, H., Transatlantischer Justizkonflikt heute: Von der Kooperation zur Konfrontation?, in: JZ 2003, S. 923. 7 Vgl. aus dem neueren Schrifttum zu Fragen des HZÜ nur die monographischen Darstellungen von Malzahn, Ch., GATT-widrige Treble-Damages-Klagen auf der Grundlage des US Antidumping Act 1916. – Eine Untersuchung der Rechtsstellung beklagter deutscher Unternehmen im US-amerikanischen und deutschen Recht, 2003; Maack, M., Englische antisuit injunctions im europäischen Zivilrechtsverkehr, 1999; Merkt, H., Abwehr der Zustellung von „punitive damages“-Klagen: Das Haager Zustellungsübereinkommen und US-amerikanische Klagen auf „punitive damages“, „treble damages“ und „RICO treble damages“, 1995.

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Action in Deutschland“ 8 veröffentlicht. Die Verfasser bestätigen die im Schrifttum vorherrschende Meinung, nach der die Verweigerung der Klagezustellung durch die deutschen Justizbehörden für deutsche beklagte Unternehmen „ein untaugliches Mittel“ sei, ein Verfahrenshindernis im Forumstaat USA zu schaffen und eine Hürde für die spätere Urteilsanerkennung in Deutschland zu errichten. 9 Der einschlägige Erledigungsvorbehalt in Art. 13 Abs. 1 HZÜ gestatte nach ihrer Ansicht nicht, eine allgemeine Rechtsmissbrauchskontrolle vorzunehmen. Hopt / Kulms / v. Hein verbinden damit offensichtlich prozesstaktische Empfehlungen für deutsche Beklagte, die sich von der Abwehr der Klagezustellung in Deutschland regelmäßig Schutz vor unliebsamen Verfahren in den Vereinigten Staaten erhoffen. Obschon die Verfasser eine révision au fond bereits im Zustellungsstadium ablehnen, befürworten sie im Ergebnis – den grundlegenden verfassungsrechtlichen Vorgaben Rechnung tragend – einen Menschenrechtsvorbehalt im Einzelfall: „Eine über den Wortlaut hinausgehende erweiternde Auslegung von Art. 13 Abs. 1 HZÜ ist angezeigt, soweit es um den Schutz grundlegender, international akzeptierter Menschenrechte (z. B. EMRK, IPbpR) geht. Insofern handelt es sich bei der Zustellungsverweigerung um eine ultima ratio für Ausnahmefälle, in denen damit zu rechnen ist, dass das Verfahren im ersuchenden Staat international verbindliche rechtsstaatliche Mindeststandards verletzen würde (politische Einflussnahme, Verstoß gegen völkerrechtliches ius cogens usw.).“ 10

Das Gutachten Hopt / Kulms / v. Hein gibt damit den Meinungsstand und einen entsprechenden Meinungstrend im neueren Schrifttum11 wieder. Einzelne Thesen und Teilaspekte der Argumentation verdienen mit Blick auf die Tendenzen in der obergerichtlichen Rechtsprechung freilich einer genaueren Betrachtung und kritischen Würdigung. Mit diesem Beitrag soll deshalb das einschlägige wissenschaftliche Wirken meines verehrten Lehrers Dieter Blumenwitz gewürdigt werden. Als langjährigem Bearbeiter der führenden Kommentierung zu Art. 6 EGBGB im „Staudinger“ war es ihm ein besonderes Anliegen, für die Beachtung und Wahrung der rechtsstaatlichen, insbesondere der geltenden grund- und menschenrechtlichen ___________ 8 Hopt, K. / Kulms, R. / Hein, J. v., Rechtshilfe und Rechtsstaat: Die Zustellung einer US-amerikanischen Class Action in Deutschland, 2006. Die Untersuchung entstammt einem Gutachtenauftrag des BVerfG. Die Autoren sind am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg tätig. 9 Vgl. auch die thesenartige „Zusammenfassung“ von Hopt / Kulms / Hein v., Zur Zustellung einer US-amerikanischen Class Action in Deutschland, in: ZIP 2006, S. 973 ff., (976); zuletzt ebenso Stürner (Fn. 6), S. 66. Kritisch zur diesbezüglichen Annahme in BVerfGE 91, 335 bereits Merkt (Fn. 7), S. 174 f., und Malzahn (Fn. 7), S. 164 ff., mit Darstellung der beschränkt tauglichen Möglichkeiten, sich gegen rechtsmissbräuchliche Klagen nach US-Bundesprozessrecht zu wehren. 10 Vgl. Hopt / Kulms / Hein v. (Fn. 8), S. 168. 11 Vgl. Malzahn (Fn. 7), S. 367 ff., 378 ff.

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Gewährleistungen bei der Auslegung und Anwendung der maßgeblichen Vorbehaltsklauseln des deutschen Rechts einzutreten. 12 In seinem Sinne ist hier zunächst der Stand der Rechtsprechung zu Art. 13 Abs. 1 HZÜ zu analysieren (dazu unten I.), um sodann auf der Grundlage völkerrechtlich anerkannter Auslegungsgrundsätze zu zeigen, dass bereits nach derzeit geltender Rechtslage im Rahmen der Entscheidung über die deutsche Rechtshilfe für ausländische Verfahren sehr wohl rechtsstaatliche Grundsätze, insbesondere verfassungsrechtlich verbürgte Grund- und Menschenrechte im Ausland verklagter deutscher Unternehmen 13 zu beachten und zu gewährleisten sind (dazu unten II.).

I. Stand der Rechtsprechung zu Art. 13 Abs. 1 HZÜ Im Anwendungsbereich des Haager Zustellungsübereinkommens sind die deutschen Behörden zur Rechtshilfe verpflichtet. Diese Verpflichtung besteht jedoch nicht vorbehaltlos. Das Haager Zustellungsübereinkommen enthält in Art. 13 Abs. 1 insoweit einen ausdrücklichen Vorbehalt, nach dem die Erledigung eines Ersuchens nach dem Haager Zustellungsübereinkommen abgelehnt werden kann, wenn „der ersuchte Staat diese für geeignet hält, seine Hoheitsrechte oder seine Sicherheit zu gefährden“. Das Verständnis dieser vergleichsweise 14 eng formulierten Vorbehaltsklausel ist umstritten und die praktische Anwendung bereitet den Justizbehörden und Gerichten seit jeher Schwierigkeiten. Nach ständiger Rechtsprechung ist der Ausnahmetatbestand des Art. 13 Abs. 1 HZÜ entsprechend seinem Wortlaut und dem Sinn und Zweck des Übereinkommens eng auszulegen 15 und die Ablehnung eines fremdstaatlichen Zustellungsersuchens nur rechtens, soweit dessen Erledigung zu „besonders schweren Beeinträchtigungen der Wertungsgrundlagen der Rechtsordnung des ersuchten Staates“ führen würde. 16 Bereits ___________ 12

Vgl. zur Auslegung des Art. 13 Abs. 1 HZÜ Blumenwitz, D., in: Staudinger, J. v., Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch mit Einführungsgesetz und Nebengesetzen, Bd: Einleitung zum IPR, Art. 3-6, 13.A., 1996 (Neubearbeitung 2003), Art. 6 EGBGB, Rn. 52 ff. 13 Es ist ein bekanntes rechtstatsächliches Phänomen, dass sich vorrangig international tätige und zahlungskräftige Unternehmen (umgangssprachlich auch als „deep pockets“ bezeichnet) in spektakulären grenzüberschreitenden Rechtsstreitigkeiten wiederfinden, vgl. zur diesbezüglichen Situation deutscher Exportunternehmen in den USA Malzahn (Fn. 7), S. 28 ff. m. w. N. 14 Vgl. Malzahn (Fn. 7), S. 337 f.; Hopt / Kulms / Hein v. (Fn. 8), S. 132 f. 15 Zuletzt OLG Celle, BeckRS 2006, Nr. 09152. 16 OLG Celle, BeckRS 2006, Nr. 09152; OLG Düsseldorf, BeckRS 2006 Nr. 05911; OLG Frankfurt a. M., BeckRS 2006, Nr. 09174; OLG Koblenz, IPrax, 2006, 4; OLG Düsseldorf, WM 2003, 1587; OLG Frankfurt a. M., RIW 2001, 464; OLG München, Beschl. v. 12.07.2000, 9 VA 3/00 (unveröffentlicht); OLG Düsseldorf, ZIP 1996, 294; KG, OLGZ 1994, 587, (588); OLG Düsseldorf, NJW 1992, 3110, (3111); OLG Mün-

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das Oberlandesgericht München deutete im Jahre 1989 an, dass dieser von ihm geprägte Prüfungsmaßstab u. a. auch aus „höherrangigen Verfassungsnormen“ abgeleitet werden könne. 17 Das Oberlandesgericht Düsseldorf zählte in einem Beschluss aus dem Jahre 1992 den „Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sowie das Willkür- und Mißbrauchsverbot“ zu den Wertungsgrundlagen der deutschen Rechtsordnung. 18 Bis zur ersten grundlegenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Jahre 1994 war es umstritten, ob die deutschen Justizbehörden, die als „Zentrale Behörde“ in hoheitlicher Funktion über die Klagezustellung in Deutschland zu befinden haben (vgl. Art. 5 Abs. 1 lit. a HZÜ, § 4 Abs. 1, 2 AusführungsG), den Erledigungsvorbehalt in Art. 13 Abs. 1 HZÜ übereinkommenskonform so auslegen und anwenden können, um dem innerstaatlichen ordre public bereits im Rahmen der Zustellung zur Geltung zu verhelfen. Im Schrifttum sprach man sich in der Tendenz seit jeher eher dagegen und für einen „kooperationsfreundlichen“ Ansatz im Rahmen der Rechtshilfe mit dem Ziel aus, den internationalen Rechtsverkehr in Zivil- und Handelssachen zu fördern. 19 Eine Sachprüfung des Klagebegehrens sollte im Rahmen der Zustellung aus grundsätzlichen Erwägungen unterbleiben. 20 Insbesondere gegen eine grundrechtskonforme Auslegung von Art. 13 Abs. 1 HZÜ wurde anfangs sogar eingewandt, dieser Vorbehalt beziehe sich „nicht auf Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit oder gar auf die Grundrechte privater Parteien“. 21 Auf dem Boden dieser restriktiven Wortlautauslegung wurde Art. 13 Abs. 1 HZÜ keine oder kaum eine praktische Bedeutung beigemessen. 22 Der Beschluss des 1. Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 7. Dezember 1994 23 führte allerdings insoweit eine Klärung herbei. Der 1. Senat konnte in diesem Beschluss, der zur Zustellung von exorbitanten US-amerikanischen ___________ chen, NJW 1992, 3113; NJW 1989, 3102, (3103). Ähnlich OLG Naumburg, BeckRS 2006 Nr. 04270: soweit die „Zustellung fundamentale Grundsätze der deutschen Rechtsordnung verletzten würde“. 17 OLG München, NJW 1989, 3102 (3103). 18 OLG Düsseldorf, NJW 1992, 3110 (3111). 19 Vgl. nur Koch, H. / Diederich, F., Grundrechte als Maßstab für Zustellungen nach dem Haager Zustellungsübereinkommen, in: ZIP 1994, S.1830. Vorbehalte zugunsten staatlicher Souveränität, wie Art. 13 Abs. 1 HZÜ, werden danach de lege lata eher als Hemmnisse im zwischenstaatlichen Zivilrechtsverkehr empfunden, die es de lege ferenda zu beseitigen gilt; vgl. nur die spätere Darstellung von Geimer, G., Neuordnung des internationalen Zustellungsrechtes, 1999, S. 129 ff. m. w. N. 20 Vgl. hierzu auch Hopt / Kulms / Hein v. (Fn. 8), S. 128. 21 Vgl. Juenger, F. / Reimann, M., Zustellung von Klagen auf punitive damages nach dem Haager Zustellungsübereinkommen, in: NJW 1994, S. 3274. 22 Vgl. zu den wenigen, bei einer eng am Wortlaut orientierten Auslegung denkbaren Anwendungsbeispielen Hopt / Kulms / Hein v. (Fn. 8), S.135 ff. m. w. N. 23 BVerfGE 91, 335.

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Strafschadensersatzklagen („punitive damages“) in Deutschland erging, keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken gegen deren Vollzug und damit die Anwendung von Art. 13 Abs. 1 HZÜ durch die deutschen Justizbehörden zu erkennen. 24 Nach Auffassung des 1. Senats darf „[d]ie Zustellung – jedenfalls grundsätzlich – nicht schon wegen Unvereinbarkeit des Klagebegehrens mit dem innerstaatlichen ordre public verweigert werden [...], sondern nur dann, wenn der ersuchte Staat sie für geeignet hält, seine Hoheitsrechte oder seine Sicherheit zu gefährden [...]. Diese Beschränkung der Überprüfungsbefugnis rechtfertigt sich aus dem Ziel des Übereinkommens. Würden die Grundsätze der innerstaatlichen Rechtsordnung bereits zum Maßstab für die Zustellung gemacht, so würde der internationale Rechtsverkehr erheblich beeinträchtigt. Zum einen könnte die Prüfung der Klagen auf ihre Vereinbarkeit mit dem innerstaatlichen ordre public zu großen Verzögerungen bei der Zustellung führen. Zum anderen käme sie einer Erstreckung inländischer Rechtsvorstellungen auf das Ausland gleich und würde dem Ziel zuwiderlaufen, dem ausländischen Kläger die Führung eines Prozesses gegen einen inländischen Beklagten im Ausland ermöglichen.“ 25

Allerdings warf der Senat auch die Frage auf, „ob eine Zustellung einer Klage selbst dann mit Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip vereinbar wäre, wenn das mit der Klage angestrebte Ziel offensichtlich gegen unverzichtbare Grundsätze eines freiheitlichen Rechtsstaates verstieße, wie sie auch in internationalen Menschenrechtsübereinkommen verankert sind“. 26

Seitdem gilt eine enge Auslegung des Art. 13 Abs. 1 HZÜ, die gleichwohl die staatsvertraglich geregelte internationale Rechtshilfe mit den unabdingbaren rechtsstaatlichen Erfordernissen in Einklang zu bringen versucht, auch verfassungsrechtlich gesichert. Denn obwohl nicht unmittelbar entscheidungserheblich, so wurde diese Fragestellung allein als verfassungsrechtliche Neuvermessung des Prüfungsmaßstabs im Rahmen der internationalen Rechtshilfe in Zivil- und Handelssachen verstanden und in nachfolgenden Entscheidungen entsprechend aufgegriffen. 27 Diese verfassungsgerichtliche Rechtsprechung bewirkte damit eine Zäsur. Mit ihr begann sich zunehmend die Erkenntnis durchzusetzen, wonach auch im Rahmen der Zustellungsentscheidung die unabdingbaren rechtsstaatlichen Grundsätze zu beachten sind und dementsprechend der Erledigungsvorbehalt des Art. 13 Abs. 1 HZÜ insbesondere auch ___________ 24 BVerfGE 91, 335 (339), mit zust. Anm. von Geimer, R., in: EWiR 1995, S. 161 f.; Kronke, H., in: EuZW 1995, S. 221 f.; Stadler, A., in: JZ 1995, S. 718 ff.; Morisse, H., Die Zustellung US-amerikanischer Punitive-damages-Klagen in Deutschland, in: RIW 1995, S. 370 ff.; Tomuschat, Ch., Grundrechtsfestung Deutschland?, IPrax 1996, S. 83 ff.; zur Vollstreckbarkeit entsprechender Urteile auf Strafschadensersatz s. BGHZ 118, 312. 25 BVerfGE 91, 335 (340). 26 BVerfGE 91, 140 (143 f.). 27 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 24.01.2007, 2 BvR 1133/04 (Rn. 12).

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grund- und menschenrechtskonform auszulegen und anzuwenden ist. 28 Im Fahrwasser dieser Rechtsprechung plädierte ein erstarkender Teil des Schrifttums fortan für eine gewisse „individualrechtliche Aufladung“ des Erledigungsvorbehaltes. 29 Die fachgerichtliche Rechtsprechung hat diese verfassungsrechtlichen Vorgaben in der Folgezeit aufgegriffen. So verhinderte das Oberlandesgericht Düsseldorf 30 im Jahre 1996 die Zustellung englischer „antisuit injunctions“ in Deutschland und begründete dieses Ergebnis auch mit der Justizhoheit und den unabdingbaren individualrechtlichen Vorgaben des Grundgesetzes (Justizgewährungsanspruch, Anspruch auf rechtliches Gehör). Soweit ersichtlich, handelt es sich um den bis dato ersten Fall, bei dem ein deutsches Gericht den Souveränitätsvorbehalt auf der Grundlage der verfassungsgerichtlichen Vorgaben konkret zur Anwendung brachte. Das Oberlandesgericht München 31 und das Oberlandesgericht Frankfurt a. M. 32 bestätigten hingegen im Jahre 2001 die Entscheidungen der Landesjustizverwaltungen, selbst einem US-amerikanisches Ersuchen auf Zustellung einer völkerrechtswidrigen 33 und angeblich rechtsmissbräuchlichen „treble-damages“-Klage in Deutschland stattzugeben. Die „zustellungshindernden Schwellenwerte“ könnten jedoch überschritten sein, so das OLG Frankfurt, wenn „der Inhalt der zuzustellenden ausländischen Entscheidung total konträr zur Rechtsidee schlechthin sei und daher die Durchführung der Zustellung unter der Ägide deutscher Rechtshilfebehörden als Akt der Beihilfe zu völkerrechtswidrigem oder absolut unmoralischem Verfahren bedeute.“ 34

Im Fall „Bertelsmann-Napster“ wies das Oberlandesgericht Düsseldorf im Jahre 2003 den Antrag auf gerichtliche Entscheidung ebenfalls zurück; nach ___________ 28

Dazu Malzahn (Fn. 7), S. 367 ff. m. w. N. So Mansel, H.-P., Grenzüberschreitende Prozeßführungsverbote (anitsuit injunctions) und Zustellungsverweigerung, in: EuZW 1996, S. 335 (337); Hau, W., Zustellung ausländischer Prozessführungsverbote: zwischen Verpflichtung zur Rechtshilfe und Schutz inländischer Hoheitsrechte, in: IPrax 1997, S. 245 (246); ders., in: ZZPInt 6 (2001), S. 249, 251 f.; für einen grundrechtlich geprägten Prüfungsmaßstab auch Merkt (Fn. 7), S. 148; Morisse (Fn. 24), S. 372; Tomuschat (Fn. 24), S. 84; vgl. im Übrigen zum Meinungsstand im Schrifttum die Darstellung bei Maack (Fn. 7), S. 85 f., und Malzahn (Fn. 7), S. 369 ff. 30 OLG Düsseldorf, ZIP 1996, 294; hierzu ausführlich Maack (Fn. 7). 31 OLG München, Beschl. v. 12.07.2000, 9 VA 3/00 (unveröffentlicht). Die hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde hat das BVerfG nicht zur Entscheidung angenommen, vgl. WM 2006, 2105. 32 OLG Frankfurt a. M., RIW 2001, 464. 33 Verstoß des maßgeblichen Antidumping Act 1916 gegen das Recht der WTO und des GATT 1994; zu den Grundlagen der Völkerrechtswidrigkeit des betreffenden USGesetzes ausführlich Malzahn (Fn. 7), S. 10 ff. 34 OLG Frankfurt a. M., RIW 2001, 464 (465). 29

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seiner Ansicht eröffnete Art. 13 Abs. 1 HZÜ nicht die Möglichkeit, die Zustellung einer Sammelklage in Deutschland abzulehnen, auch wenn diese auf Zahlung von Strafschadensersatz in einer existenzbedrohenden Höhe von 17 Mrd. US-Dollar gerichtet sei. 35 Der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts 36 folgte in seinem im einstweiligen Rechtsschutzverfahren ergangenen Beschluss vom 25. Juli 2003 allerdings weitgehend der hiergegen gerichteten Verfassungsbeschwerde. Die Beschwerdeführerin hatte eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 12 Abs. 1, 14 Abs. 1 sowie – hilfsweise – Art. 2 Abs. 1 i. V. m. dem Rechtsstaatsprinzip geltend gemacht und zur Begründung vorgetragen, die exorbitante und ruinöse Klageforderung sei unter keinen Umständen begründbar und übersteige deutlich ihr Eigenkapital im gesamten Konzern und damit ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeit; bei der Klageerhebung handele es sich zudem um den Versuch, einen möglichst großen öffentlichen Druck aufzubauen, um sie zu einem sachlich ungerechtfertigten Vergleich außerhalb der gerichtlichen Verfahren zu zwingen. Unter Bezugnahme auf den Beschluss des 1. Senats in E 91, 335 erklärte der 2. Senat, dass die Pflicht der Bundesrepublik Deutschland auch solche Klagen zuzustellen, „die in für die deutsche Rechtsordnung unbekannten Verfahrensarten erhoben worden sind“, ihre Grenze dort erreiche, „wo die ausländische, im Klageweg geltend gemachte Forderung – jedenfalls in ihrer Höhe – offenkundig keine substantielle Grundlage hat. Werden Verfahren vor staatlichen Gerichten in einer offenkundig missbräuchlichen Art und Weise genutzt, um mit publizistischen Druck und dem Risiko einer Verurteilung einen Marktteilnehmer gefügig zu machen, könnte dies deutsches Verfassungsrecht verletzen.“ 37

Dabei anerkannte der Senat auch, dass sich schon aus der Zustellung für den Empfänger Rechtsfolgen ergeben können, die geeignet sind, ihn in seinen grundrechtlich geschützten Rechtspositionen zu beeinträchtigen. Dies konnte und musste durchaus als weitere Konkretisierung der bisherigen verfassungsgerichtlichen Position verstanden werden. 38 In einem weiteren im einstweiligen Verfahren ergangenen Beschluss aus dem Jahre 2004 fiel die Entscheidung des 2. Senats des BVerfG im Rahmen der Folgenabwägung hingegen zu Lasten der Beschwerdeführerin aus. 39 Obwohl diese sich wie im Fall „Bertelsmann-Napster“ gegen die Zustellung einer in den USA erhobenen Klage auf Strafschadensersatz gewandt hatte, konnte nach den Umständen des Falles noch nicht von einer existenzbedrohenden Höhe der Klage gesprochen werden. Der ___________ 35

OLG Düsseldorf, WM 2003, 1587. BVerfGE 108, 238. 37 BVerfG, a.a.O., S. 239. 38 Vgl. Nacimiento, in: FAZ, 27.08.2003, Nr. 198, S. 19, die daraufhin eine „grundsätzliche Wende in der Rechtsprechung des BVerfG“ für möglich hielt. 39 BVerfG, NJW 2004, 3552. 36

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2. Senat konnte deshalb auch keine Gründe von verfassungsrechtlich erheblichem Gewicht erblicken. Mit seinem Beschluss aus dem Jahr 2005 sorgte dann das Oberlandesgericht Koblenz für Aufsehen. In diesem Verfahren hatte die Antragstellerin u. a. die eingeklagte Schadensforderung entsprechend dem Klägervortrag auf eine Summe von 66 bis 264 Mrd. US-Dollar beziffert. Das Gericht ging insoweit von einer Existenz bedrohenden und offensichtlich rechtsmissbräuchlichen Strafschadensersatzklage aus, deren Zustellung in Deutschland gegen den Souveränitätsvorbehalt des Art. 13 Abs. 1 HZÜ verstoßen würde; ein entsprechendes Zustellungsersuchen war folglich abzulehnen. 40 Zur Begründung seiner ablehnenden Entscheidung führte das Gericht unter ausdrücklicher Berufung auf die Rechtsprechung des BVerfG aus: „Zustellungsersuchen sind [...] grundsätzlich auszuführen, aber nicht um jeden Preis. Im Fall offensichtlichen Missbrauchs des Klagerechts besteht für den deutschen Staat bei einen an ihn gerichteten Zustellungsersuchen auch gegenüber dem Zustellungsempfänger auf Grund seiner Grundrechte i.V. mit dem Rechtsstaatsprinzip eine Schutzpflicht, soweit bereits der Zustellungsempfänger bereits durch die Klagezustellung in besonders einschneidender und unverhältnismäßiger Weise in seinen Rechtspositionen gefährdet wird [...].“ 41

Eine inhaltliche Prüfung, so das Gericht, sei im Verfahren der Zustellung nicht ausgeschlossen, sondern gerade geboten, da eine effektive Überprüfung der Beanstandungspunkte (Art. 19 IV GG) erfolgen müsse und die Vorbehaltsklausel des Art. 13 Abs. 1 HZÜ sonst gegenstandslos sei; insoweit gilt gem. § 29 Abs. 2 EGGVG i. V. m. § 12 FGG die Instruktionsmaxime, deren Reichweite durch den auf Kriterien der Zustellungsfrage begrenzten Untersuchungszweck beschränkt ist; das Zustellungsverfahren sei zwar für eine abschließende Prüfung der formellen und materiellen Berechtigung der Klage nicht geeignet; Prüfungsgegenstand sei nur der Inhalt der zuzustellenden Klageschrift samt Anlagen. Auf dieser Grundlage sei aber eine Evidenzkontrolle gestattet. 42 Soweit ersichtlich, handelt es sich um die erste deutsche Gerichtsentscheidung, in der im Rahmen der Klagezustellung der Vortrag der Existenzbedrohung der deutschen Beklagten berücksichtigt wurde und ein Fall offensichtlichen Klagemissbrauchs festgestellt wurde. ___________ 40 OLG Koblenz, NJOZ 2005, 3122; m. krit. Anm. Piepenbrock (Fn. 6). Entgegen der mittlerweile herrschenden Meinung hatte das Gericht überdies angenommen, dass insoweit der sachliche Anwendungsbereich des HZÜ nicht eröffnet sei, da es sich bei der zuzustellenden Strafschadensersatzklage nicht um eine „Zivil- oder Handelssache“ handele; vgl. Hopt / Kulms /Hein v. ( Fn. 8), S. 94 ff.; Malzahn (Fn. 7), S. 308 f. m. w. N. 41 OLG Koblenz (Fn. 40), 3141. 42 OLG Koblenz (Fn. 40), 3142.

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Die nachfolgenden obergerichtlichen Entscheidungen haben diesen Ansatz jedoch nicht weiter aufgegriffen – die zu würdigenden Sachverhalte wiesen Unterschiede zu dem des Oberlandesgerichts Koblenz auf. So entschied das Oberlandesgericht Naumburg 43 für die Zustellung einer auf „treble damages“ gerichteten und auf Vorschriften des US-Kartellrechts gestützten Sammelklage. Ein offensichtlicher Rechtsmissbrauch wie in dem vom Oberlandesgericht Koblenz entschiedenen Fall war nicht festzustellen und so konnte das Gericht auch die dort als entscheidungserheblich eingestufte Frage dahingestellt sein lassen. Auch das Oberlandesgericht Frankfurt am Main 44 hatte in zwei Fällen über Ersuchen auf Zustellung einer „punitive damages“-Klage zu entscheiden. In seiner Begründung machte das Gericht deutlich, dass allein der Strafschadensersatzcharakter und Unterschiede im Verfahren keine ausreichenden Anhaltspunkte für die Verletzung des Souveränitätsvorbehalts oder einen offensichtlichen Klagemissbrauch begründen konnten; da offensichtlich substanzlose Klagebegehren nicht zu erkennen waren, wiesen diese Fälle Unterschiede zu dem vom Oberlandesgericht Koblenz entschiedenen auf. Zum gleichen Ergebnis kam das Oberlandesgericht Düsseldorf 45 , das ebenfalls über die Zustellung einer US-amerikanischen Klage, mit der unbezifferter Strafschadensersatz gefordert wurde, zu befinden hatte. Das Gericht stellte fest, dass Art. 13 Abs. 1 HZÜ grundsätzlich nicht die Möglichkeit eröffne, die Zustellung einer solchen Klage in Deutschland zu verhindern; unter Berufung auf BVerfGE 108, 238 könne „wegen Verstoßes gegen deutsches Verfassungsrecht [...] ausnahmsweise etwas anderes gelten, wenn feststeht, dass die im Klageweg geltendgemachte Forderung offenkundig keine substanzielle Grundlage hat oder das Verfahren vor staatlichen Gerichten in einer offensichtlichen missbräuchlichen Art und Weise genutzt werden soll, um mit publizistischen Druck und dem Risiko einer Vorverurteilung einen Marktteilnehmer gefügig zu machen“; einen solchen (Ausnahme-)Fall konnte das Gericht nicht erkennen. Ebenso – wenn auch mit kürzerer Begründung – entschied das Oberlandesgericht München 46 in einem Fall, bei dem in den Vereinigten Staaten eine Sammelklage u. a. gegen die deutsche Beklagte wegen Schadensersatzansprüchen aus der Zeit des Armenischen Völkermordes (1915–1922) erhoben wur___________ 43 OLG Naumburg, Beschl. v. 09.02.2006, 4 VA 1/04: Klagesumme in unbestimmter Höhe. 44 OLG Frankfurt a. M., BeckRS 2006, Nr. 10075: gegen eine Privatperson wurde ein potenziell „mehrstelliger Millionenbetrag“ Dreifachschadensersatz („treble damages“) auf der Grundlage des US-Kartellrechts geltend gemacht; OLG Frankfurt a. M., Beschl. v. 06.03.2006, 20 VA 2/05: die geltend gemachte Schadenssumme betrug im Fall 12 Millionen kanadische Dollar wegen angeblicher Beteiligung an Preisabsprachen; mit weiterem Verweis u. a. auf OLG Frankfurt a. M., JMBl. 2004, 423, und Hanseatisches OLG, Beschl. v. 11.05.2004, 2 VA 3/04. 45 OLG Düsseldorf, Beschl. v. 21.04.2006, 3 VA 12/05. 46 OLG München, Beschl. v. 07.06.2006, 9 VA 3/04.

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de; nach dem Klägervortrag hatte die Beklagte Lebensversicherungen an in der Türkei lebende Armenier verkauft, die fälligen Summen nach deren Ermordung jedoch nicht an deren Erben ausgezahlt bzw. keine ausreichenden Anstrengungen zu deren Ermittlung unternommen. Allein die Tatsache der derzeit zu vermutenden Unbegründetheit der Klage genüge nicht, so das Gericht, um einen Fall eines offenkundigen Rechtsmissbrauchs im Sinne der verfassungsgerichtlichen Vorgaben festzustellen. In dem vorerst letzten Fall hatte das Oberlandesgerichte Celle 47 über die Zustellung einer unbezifferten „treble damages“Klage nach US-Kartellrecht zu befinden. Unter Berufung auf die gefestigte Rechtsprechung und ungeachtet der vom Oberlandesgericht Koblenz geäußerten Bedenken sah das Gericht weder Art. 13 Abs. 1 HZÜ noch verfassungsrechtliche Gründe einer Zustellung in Deutschland entgegen stehen. Damit wurden wiederum der gegen die Zustellung einer Strafschadensersatzklage gerichtete Antrag der deutschen Beklagten auf dem Boden der mittlerweile gefestigten Rechtsprechung und herrschenden Meinung im Schrifttum48 abschlägig beschieden. Unerheblich war in allen Fällen auch, dass einige Klagen in Form von „class actions“ erhoben wurden oder mit einer „pre-trial discovery“ verbunden waren. In seinem jüngsten Beschluss vom 24. Januar 2007 hat das Bundesverfassungsgericht diese restriktive Rechtsprechungspraxis bestätigt und zugleich die rechtsstaatlichen Grenzen der Rechtshilfe unter Verweis auf seine früheren Entscheidungen erneut betont: „Trotz der grundsätzlichen Entscheidung zu Gunsten der Zustellung ist die Vorbehaltsklausel nicht inhaltsleer. Eine Grenze muss dort als erreicht angesehen werden, wo das mit der Klage verfolgte Ziel ‚offensichtlich gegen unverzichtbare Grundsätze eines freiheitlichen Rechtsstaates verstieße‘ (BVerfGE 91, 335 [343]; 108, 238 [247]). Die Möglichkeit der Verhängung von Strafschadensersatz (punitive damages) verletzt noch nicht unverzichtbare rechtsstaatliche Grundsätze (BVerfGE 91, 335 [343 f.]). Bei Forderungen von Strafschadensersatz in für einem Beschwerdeführer existenzgefährdender Höhe oder bei Sammelklagen (class actions) mit einer unübersehbaren Anzahl von Klägern, einer entsprechenden Klageforderung und einer begleitenden Medienkampagne scheint die Unvereinbarkeit einer Zustellung mit unverzichtbaren Grundsätzen eines freiheitlichen Rechtsstaates aber jedenfalls nicht schlechthin ausgeschlossen zu sein, wenn diese Forderungen als offensichtlich rechtsmissbräuchlich erscheinen.“ 49

___________ 47 48 49

OLG Celle, Beschl. v. 20.07.2006, 16 VA 4/05. Vgl. die Nachweise bei Hopt / Kulms / Hein v. (Fn. 8), S. 140 f. Vgl. BVerfG, Beschl. v. 24.01.2007, 2 BvR 1133/04 (Rn. 12).

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II. Stellungnahme Die Schwierigkeiten bei der Auslegung und Anwendung von Art. 13 Abs. 1 HZÜ sind verständlich, wenn man sich den im Rahmen der Zustellung bestehenden Zielkonflikt vergegenwärtigt. So bezweckt das Haager Zustellungsübereinkommen auf der einen Seite, die vormals auf diplomatischen oder konsularischen Wege bewirkte Auslandszustellung zu vereinfachen und zu beschleunigen. Dem liefe nach allgemeiner Lesart eine Auslegung und Anwendung des Haager Zustellungsübereinkommens zuwider, die zu erheblichen Verzögerungen infolge einer umfänglichen Sachprüfung des Klagebegehrens bereits im Zustellungsstadium führte. 50 Auf der anderen Seite ist nicht zu übersehen, dass das Haager Zustellungsübereinkommen Direktzustellungen nicht grundsätzlich ermöglicht hat, sondern im Gegenteil den Vertragsstaaten die souveräne Entscheidung beließ, Zustellungen nur förmlich im Wege der Rechtshilfe zuzulassen (vgl. Art. 10 HZÜ) und damit die Mitwirkung und Kontrolle durch die eigenen Behörden zu gewährleisten. Es widerspräche diesem Souveränitätsvorbehalt, verbliebe den Behörden des ersuchten Staates, der sich für eine solche Kontrolle entschieden hat, nicht einmal eine, wenn auch inhaltlich eng begrenzte Überprüfungsbefugnis. Art. 13 Abs. 1 ist Ausdruck dieser (eingeschränkten) Souveränität. Für die deutsche Zustellungspraxis ist ferner zu beachten, dass die Bundesrepublik Deutschland insbesondere postalischen Direktzustellungen auf ihrem Hoheitsgebiet widersprochen (vgl. § 6 Abs. 2 AusführungsG) und damit ihren Behörden eine Kontrollmöglichkeit bei der Zustellung ausländischer Klagen in Deutschland verschafft hat; im Anwendungsbereich des Haager Zustellungsübereinkommens sind Zustellungen in Deutschland förmlich unter Beteiligung der deutschen Justizbehörden zu bewirken. 51 Soweit die deutschen Justizbehörden, die im Rahmen der Rechtshilfeentscheidung exekutiv und hoheitlich handeln, tätig werden, sind sie strikt rechtsgebunden (Art. 20 Abs. 3 GG); diese Rechtsbindung ist in Deutschland gerichtlich nachprüfbar (Art. 19 Abs. 4 GG). 52 Soweit sich auf der Grundlage des geltenden Rechts Schutzpflichten ergeben, sind die deutschen Justizbehörden gehalten, mit der vom deutschen Gesetzgeber ermöglichten Kontrollmöglichkeit von eingehenden Zustellungsersuchen übereinkommenskonforme Wege zu suchen, diesen Schutzpflichten ___________ 50

In diesem Sinne BVerfGE 91, 335. Vgl. zur Begründung des deutschen Widerspruchs auch die entsprechende Note der deutschen Botschaft an das US-amerikanische Außenministerium v. 27.09.1979, zitiert bei Malzahn (Fn. 7), S. 315. Dieser Vorbehalt schließt nach seinem Sinn und Zweck andere Übermittlungsformen (einschließlich Zustellung per E-Mail etc.) aus; bedenklich sind insoweit weitergehende Auffassungen, so aber Hopt / Kulms / Hein v. (Fn. 8), S. 113 f. 52 Vgl. Malzahn (Fn. 7), S. 330 ff. m. w. N. 51

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zu genügen. In diesem Sinne ist Art. 13 Abs. 1 HZÜ insbesondere grund- und menschenrechtskonform auszulegen (dazu unten 1.). Überdies bilden die Grund- und Menschenrechte des deutschen Zustellungsadressaten, soweit diese in grenzüberschreitenden Sachverhalten Geltung beanspruchen, auch eine immanente Schranke der hoheitlichen Rechtshilfegewährung (dazu unten 2.).

1. Rechtsstaatskonforme Auslegung von Art. 13 Abs. 1 HZÜ Die Schwierigkeiten bei der Auslegung und Anwendung von Art. 13 Abs. 1 HZÜ können methodisch bewältigt werden. Im Ausgangspunkt sollte die Auslegung des Erledigungsvorbehalts anhand der völkergewohnheitsrechtlich anerkannten Auslegungsgrundsätze erfolgen, wie sie heute auch in Art. 31, 32 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969 (WVRK) niedergelegt sind. 53 Soweit möglich und erforderlich, sind die sich dabei eröffnenden Auslegungsspielräume zu nutzen, um die Vorbehaltsklausel im Lichte der einschlägigen Grund- und Menschenrechte und der unabdingbaren Rechtsstaatsgarantien auszulegen und auszufüllen. 54 Auf diesem Wege lassen sich dem zunächst sehr abstrakt erscheinenden Wortlaut des Art. 13 Abs. 1 HZÜ sehr wohl praktikable und – wie zuletzt durch das Bundesverfassungsgericht geschehen – für die Anwendung im Einzelfall maßgebliche Grundentscheidungen entnehmen.

a) Anhaltspunkte im Vertragstext In der verbindlichen französischen bzw. englischen Sprachfassung hat Art. 13 Abs. 1 HZÜ folgenden Wortlaut: „L’exécution d’une demande de signification ou de notification conforme aux dispositions de la présente Convention ne peut être refusée que si l’État requis juge que cette exécution est de nature à porter atteinte à sa souveraineté ou à sa sécurité“. „Where a request for service complies with the terms of the present Convention, the State addressed may refuse to comply therewith only if it deems that compliance would infringe its sovereignty or security“.

___________ 53

Vgl. Malzahn (Fn. 7), S. 336, mit Zusammenfassung der anerkannten und insoweit einschlägigen Auslegungsgrundsätze, S. 291 ff. Aus der Rechtsprechung s. OLG Frankfurt a. M., RIW 2001, 464. 54 Zum Problem der verfassungskonformen Auslegung von Regelungen staatsvertraglichen Ursprungs, die der Auslegung und Anwendung durch nationale Gerichte bedürfen, Malzahn (Fn. 7), S. 297 ff. Deren Notwendigkeit verkennen Hopt / Kulms / Hein v. (Fn. 8), S. 126 Fn. 655, wenn sie meinen, die verfassungskonforme Auslegung sei „methodologisch höchst fragwürdig“.

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In seiner gewöhnlichen Bedeutung (ordinary meaning) ist mit dem Souveränitätsvorbehalt der Schutz der Souveränität des ersuchten Staates verbunden, was die authentischen Fassungen („sa souveraineté“; „its sovereignty“) deutlicher zum Ausdruck bringen als die amtliche deutsche Übersetzung („seine Hoheitsrechte“). Deshalb besteht nach zutreffender Ansicht für die Behörden des ersuchten Staates keine Pflicht, Klagen gegen den ersuchten Staat als Souverän zuzustellen. 55 Nach Ansicht des Oberlandesgerichts Düsseldorf ist ferner die Justizhoheit des deutsches Staates geschützt. 56 Dass ein Zustellungsersuchen Individualrechte des inländischen Beklagten gefährdet, schließt die Gefährdung der Souveränität des ersuchten Staates nicht a priori aus. Nach umstrittener, wenngleich vorzugswürdiger Auffassung, der sich nun das Oberlandesgericht Koblenz 57 angeschlossen hat, artikuliert die staatliche Souveränität eben nicht nur Gemeinwohlinteressen, sondern stellt auch einen „Schutzschild für den Bürger“ dar. 58 Zwischen Staat und Staatsvolk besteht ein Treueverhältnis; dieses Treueverhältnis berechtigt den Staat, seine Staatsangehörigen jedenfalls gegenüber völkerrechtswidrigen Handeln einer fremden Hoheitsgewalt zu schützen (so genanntes Recht zu diplomatischen Schutz). 59 In der internationalen Rechtsprechung und Völkerrechtslehre ist insoweit seit langem anerkannt, dass ___________ 55

Vgl. Hopt / Kulms / Hein v. (Fn. 8), S. 135 f., mit Beispielen; zur entsprechenden Staatenpraxis auch Malzahn (Fn. 7), S. 351 ff. 56 OLG Düsseldorf, ZIP 1996, 294. In diesem Sinne zuletzt auch Hopt / Kulms / Hein v. (Fn. 8), S. 133 f., (Fn. 9), S. 975: Die damit ebenfalls geschützte Justizhoheit steht z. B. der Zustellung ausländischer Prozessführungsverbote bzw. von Amtshaftungsklagen gegen deutsche Richter entgegen. 57 OLG Koblenz, NJOZ 2005, 3122 (3141). 58 Grundlegend Bertele, J., Souveränität und Verfahrensrecht. – Eine Untersuchung der aus dem Völkerrecht ableitbaren Grenzen staatlicher exterritorialer Jurisdiktion im Verfahrensrecht, 1998, S. 354; ebenso Malzahn (Fn. 7), S. 340 f.; a. A. bei Juenger / Reimann (Fn. 21), S. 3274 f.; Maack (Fn. 7), S. 89; jüngst ebenfalls zweifelnd Oberhammer (Fn. 6), S. 45; indifferent insoweit Hopt / Kulms / Hein v. (Fn. 8), S. 151; dagegen jüngst wieder Braun (Fn. 6), S. 2229: „All dies mag zwar für die Protagonisten des internationalen Rechtsverkehrs bedauerlich sein. Das Gegenteil jedoch wäre für den Beklagten bedauerlich, der vor einem im gegenüber aufgebauten Drohpotential bei niemand sonst Schutz suchen kann als bei seinem eigenen Staat und der, wie man nicht vergessen sollte, als Gegenleistung für diesen Schutz allgemeinen Gesetzesgehorsam und außerdem die Entrichtung von immer mehr Steuern schuldet.“ Die Begrifflichkeit geht zurück auf Stürner, R., Europäische Urteilsvollstreckung nach Zustellungsmängeln, in: Habscheid, W. J. / Schwab, K.-H., Beiträge zum internationalen Zivilverfahrensrecht und zur Schiedsgerichtsbarkeit. – Festschrift für Heinrich Nagel zum 75. Geburtstag, 1987, S. 446 (454 f.); seitdem als „Schutzschild-Theorie“ bezeichnet, vgl. Geimer, R., Anmerkung zu BGH, ZZP 103 (1990), 477 (489); einschränkend Stürner, R., in: ZZP 109 (1996), S. 224, 232. 59 Vgl. statt vieler Blumenwitz, D., Die deutsche Staatsangehörigkeit und die Schutzpflicht der Bundesrepublik Deutschland, in: Heldrich, A. / Henrich, D. / Sonnenberger, H.-J. (Hrsg.), Konflikt und Ordnung. Festschrift für Murad Ferid zum 70. Geburtstag, 1978, S. 439, (440).

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der Staat dabei ein eigenes Recht geltend macht. 60 Diesem Umstand ist auch bei der Auslegung von Art. 13 Abs. 1 HZÜ Rechnung zu tragen. Das Verständnis von „Sicherheit“ („sa sécurité“, „its security“) und damit die Auslegung des Sicherheitsvorbehalts ist weit weniger völkerrechtlich vorgeprägt und muss mithin noch als offen bezeichnet werden. 61 Im deutschen Schrifttum weist Schlosser allerdings bereits seit Jahren zu Recht darauf hin, dass die „Sicherheit in Deutschland“ auch dann gefährdet sein kann, wenn in dem zuzustellenden Schriftstück „Sanktionen für den Fall angedroht werden, daß etwas geschieht oder unterbleibt, das für die deutsche Rechtsordnung Ausübung fundamentaler Freiheitsrechte ist“. 62 Im Lichte der weiteren Bestimmungen des Übereinkommens (insb. Art. 5 Abs. 1 HZÜ einerseits, Art. 4, 13 Abs. 2 HZÜ andererseits) zeigt sich, dass die Erledigung eines Zustellungsersuchens im Hinblick auf „materielle“ Einwände nur im Ausnahmefall abgelehnt werden kann; die Fremdartigkeit und Verschiedenheit des Verfahrens allein kann hingegen eine Ablehnung nicht rechtfertigen, sondern ist im Interesse eines funktionierenden zwischenstaatlichen Rechtsverkehrs grundsätzlich hinzunehmen. Dies stellt Art. 13 Abs. 2 HZÜ insoweit ausdrücklich klar. Eine besondere Bedeutung kommt ferner einer an den Zielen und Zwecke des Übereinkommens orientierten Auslegung zu. Ausweislich seiner Präambel wird mit dem HZÜ einerseits die Vereinfachung und Beschleunigung des zwischenstaatlichen Zustellungsverfahrens bezweckt. Andererseits soll aber auch sichergestellt werden, dass der Zustellungsempfänger vom zuzustellenden Schriftstück rechtzeitig Kenntnis erlangt. Nach allgemeiner Meinung gebieten diese Übereinkommensziele eine einschränkende Auslegung des Erledigungsvorbehaltes, um zu verhindern, dass eine umfängliche (und zeitaufwendige) Sachprüfung diesen Zielvorgaben zuwider läuft. 63 Die Rechtsprechung und herrschende Meinung im Schrifttum setzt aus diesem Grund Art. 13 Abs. 1 HZÜ auch nicht mit dem anerkennungsrechtlichen (innerstaatlichen) ordre ___________ 60 Blumenwitz (Fn. 59); zum Meinungsstand ausführlich Doehring, K., Handelt es sich bei einem Recht, das durch diplomatischen Schutz eingefordert wird, um ein solches, das dem die Protektion ausübenden Staat zusteht, oder geht es um die Erzwingung von Rechten des betroffenen Individuums?, S. 13 (14 f.), und Seidl-Hohenveldern, I., Der diplomatische Schutz für juristische Personen und Aktionäre, S. 115 ff., beide in: Ress, G. / Stein, T., Der diplomatische Schutz im Völker- und Europarecht, 1996. 61 Dazu Malzahn (Fn. 7), S. 343 ff. Im Ergebnis ebenso Hopt / Kulms / Hein v. (Fn. ), S. 134 m. w. N. 62 Vgl. Schlosser, P., EG-Zivilprozessrecht: EuGVVO, EuEheVO, AVAG, HZÜ, EuZVO, HBÜ, EuBVO, Kommentar, 2. Aufl. 2003 (und Vorauflage), Art. 13 Abs. 1 HZÜ Rn. 2. 63 Vgl. BVerfGE 91, 335 (338 f.).

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public (vgl. § 328 Abs. 1 Nr. 4 ZPO) gleich. 64 Mit dem weiteren Argument, der Rechtsstreit dürfe mit einer Sachprüfung nicht bereits im Zustellungsstadium präjudiziert werden 65 , wird der Prüfungsmaßstab de facto allerdings auf eine rein formelle Prüfung der Zustellungsunterlagen verkürzt. Dieser stark einschränkenden Auslegung steht indes der Wortlaut entgegen, der sonst in der Tat leer liefe. Das hat das Oberlandesgericht Koblenz zutreffend erkannt und entsprechend ist auch der jüngste Beschluss des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts 66 zu verstehen. Überdies ist es auch realitätsfern, wenn angenommen wird, eine Sachprüfung sei im Stadium der Zustellung nicht erforderlich, da eine entsprechende Prüfung noch im späteren Stadium der Anerkennung und Vollstreckung erfolgen könne. 67 Gerade die zahllosen Rechtsstreitigkeiten in den Vereinigten Staaten haben gezeigt, dass es zu einer solchen „zweiten Verteidigungslinie“ nicht kommen wird und muss. Vielmehr ist schon die Zustellung geeignet, vollendete Tatsachen zu schaffen, da sich der Beklagte endgültig auf das Verfahren im ersuchenden Staat einlassen muss. 68 Zu Recht hat deshalb der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts in BVerfGE 108, 238 die Grundrechtsrelevanz der Zustellungsanordnung herausgestellt. Schließlich – und dies ist auch bei der Auslegung von Art. 13 Abs. 1 HZÜ zu berücksichtigen – gilt das Haager Zustellungsübereinkommen auch im Verhältnis zu Staaten, die nicht zwangsläufig einen mit dem deutschen oder europäischen Recht vergleichbaren rechtsstaatlichen Mindeststandard aufweisen, worauf insbesondere Hopt / Kulms / v. Hein nun zutreffend hingewiesen haben. 69 Auch eine an den Zielen und Zwecken des Haager Zustellungsübereinkommens orientierte Auslegung des Art. 13 Abs. 1 HZÜ kann den effektiven Schutz der Grund- und Menschenrechte und fundamentaler rechtsstaatlicher Garantien deshalb nicht von vornherein außer Acht lassen. Entgegen anderslautender Stimmen auch im neueren Schrifttum 70 besteht dafür keine Veranlassung.

___________ 64

Zuletzt OLG Celle, BeckRS 2006, Nr. 09152; Hopt / Kulms / Hein v. (Fn. 8), S. 126 ff. m. w. N. 65 Vgl. statt vieler Maack (Fn. 7), S. 97. 66 BVerfG, Beschl. v. 24.01.2007, 2 BvR 1133/04 (Rn. 12). 67 In diesem Sinne argumentiert nicht zuletzt die Rechtsprechung, um das Rechtsschutzbedürfnis der inländischen Zustellungsadressaten verneinen zu können, s. OLG Düsseldorf, WM 2003, 1587, 1588. 68 Ausführlich hierzu Malzahn (Fn. 7), S. 351 ff. 69 Vgl. Hopt / Kulms / Hein v. (Fn. 8), S. 152, unter Verweis auf die Lage der Menschenrechte in Weißrussland, Pakistan und China. 70 So jüngst wieder Oberhammer (Fn. 6), S. 61, aber mit kaum überzeugender Begründung; dagegen Braun (Fn. 6), S. 2228 f.

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b) Anhaltspunkte außerhalb des Vertragstextes Als Anhaltspunkte außerhalb des Vertragstextes kommen bei der Auslegung des Art. 13 Abs. 1 HZÜ insbesondere eine entsprechende Übung der Vertragsstaaten, sonstige einschlägige Rechtssätze des Völkerrechts und ggf. die Entstehungsgeschichte des Haager Zustellungsübereinkommens, wie die vorbereitenden Arbeiten (travaux préparatoires) in Betracht. Der Blick auf die Staatenpraxis (insbesondere die Zustellungspraxis in der Bundesrepublik Deutschland und bspw. in den Vereinigten Staaten) bestätigt eine restriktive Handhabung und enge Wortlautauslegung: vor allem Klagen gegen den staatlichen Souverän selbst sollen nicht zugestellt werden. 71 Im Übrigen enthält das Völkerrecht weder unmittelbar oder mittelbar einschlägige Vorgaben noch insbesondere einen allgemein anerkannten Rechtssatz oder eine entsprechende gewohnheitsrechtliche Praxis auf die sich eine Zustellungsverpflichtung eigenständig stützen ließe. 72 Lediglich der Einfluss der völkerrechtlich verbürgten Menschenrechte auf die Rechtshilfe ist noch nicht vollends gesichert. Im Ergebnis ist jedoch eine bisweilen vertretene „evolutive“ Auslegung justizieller Menschenrechte des ausländischen Klägers (z. B. Recht auf effektiven Rechtsschutz und ein faires Verfahren) mit dem Ziel einer Verdichtung der zwischenstaatlichen Kooperation zu einer Rechtshilfepflicht abzulehnen. 73 Ein besonderes Licht werfen die vorbereitenden Arbeiten und die Entstehungsgeschichte der Vorbehaltsklausel auf deren Auslegung. In neueren Untersuchungen wurden anhand der Materialien zum Haager Zustellungsübereinkommen das tradierte Verständnis des Souveränitätsvorbehalts zugunsten eines „ordre public international“ belegt. 74 Wie bei den im Wortlaut nahezu identischen Vorläufern (Art. 4 der Haager Zivilprozessübereinkommen von 1904 und 1954) wurde dieser Vorbehalt in Art. 13 Abs. 1 HZÜ in Abgrenzung zum „ordre public interne“ als bewusst enge Formulierung verstanden. Begriffsprä___________ 71 Dazu Malzahn (Fn. 7), S. 351 ff. Siehe im Übrigen Hopt / Kulms / Hein v. (Fn. 8), S. 139 f. 72 So schon die grundlegende Untersuchung von Pfeil-Kammerer, Ch., Deutschamerikanischer Rechtshilfeverkehr in Zivilsachen, 1987, S. 57. 73 Vgl. dazu Schlosser, P., Die internationale Zustellung zwischen staatlichem Souveränitätsanspruch und Anspruch der Prozeßpartei auf ein faires Verfahren, in: Ballon, O. / Hagen, J. (Hrsg.), Verfahrensgarantien im nationalen und internationalen Prozeßrecht – Festschrift Franz Matscher zum 65. Geburtstag, 1993, S. 387 (388); im Anschluss an Matscher, F., Grundfragen der Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen in Zivilsachen, in: ZZP 33 (1990), S. 294 ff. Kritisch hierzu Malzahn (Fn. 7), S. 354 f. 74 Vgl. nur Merkt (Fn. 7), S. 136; Malzahn (Fn. 7), S. 358, beide mit Verweis auf den Rapport Explicatif de M.V. Taborda Ferreira, in: Conférence de la Haye de Droit International Privé, Actes et Documents de la Dixième Session, Tome III – Notification, 1965, S. 363, (375); einschränkend Hopt / Kulms / Hein v. (Fn. 8), S. 146 ff.

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gend erwies sich insoweit die romanische Schule, deren Verständnis über die Beratungen der ersten Haager Konferenzen Eingang in die endgültigen Vertragsfassungen der Vorläuferübereinkommen fand. 75 Im deutschen Schrifttum hat Kahn diesen Einfluss bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts beschrieben und den „dritten Kommissionsbericht der zweiten Haager Konferenz (Actes, II, p. 52)“ als eine „authentische Zusammenfassung der herrschenden Meinung“ bezeichnet. 76 Nach seinen Erkenntnissen wurden in der romanischen Schule unter „lois d’ordre public international“ – durchaus herrschend – nur diejenigen Grundsätze des innerstaatlichen Rechts verstanden, die ein Staat für so wichtig hielt, dass er sie zu den „notwendigen Existenzbedingungen seines Gemeinwesens“ rechnete. 77 Als Anwendungsfälle wurden in den Beratungen der Haager Konferenz ausdrücklich die „Mitteilung einer Vorladung eines fremden Souveräns oder eines fremden Staates“ und die „Mitteilung anarchistischer oder unmoralischer Schriften“ erwähnt. 78

c) Ausfüllung des Prüfungsmaßstabs Greift man dieses tradierte Verständnis des Vorbehalts auf – wofür aufgrund des Wortlautes, der vorbereitenden Arbeiten und der Entstehungsgeschichte einiges spricht 79 , so liegt eine äußerst restriktive Handhabung des Erledigungsvorbehalts durch die deutschen Justizbehörden nahe. Denn zum deutschen „ordre public international“ kann nicht bereits jeder einfache Rechtsgrundsatz zählen, selbst wenn dieser dem „ordre public interne“ zuzurechnen wäre (wie z. B. das Verbot unzulässiger Rechtsausübung). 80 Für die deutsche Rechtsordnung enthält das Grundgesetz insoweit eine wichtige Wertentscheidung: Danach sind grundsätzlich nur diejenigen Rechtsgrundsätze existenznotwendig und auch verfassungsrechtlich unabdingbar, die der deutsche Verfassungsgeber in Art. 79 Abs. 3 GG für unantastbar erklärt hat. Da nur diesen Grundsätzen nach deutschem Rechtsverständnis ein besonders herausgehobener Stellenwert in der geltenden Rechtsordnung zukommt, spricht viel dafür, jedenfalls diese als vom „ordre public international“ vorgenannter Prägung umfasst anzuse___________ 75 Dazu ausführlich Malzahn (Fn. 7), S. 359 ff., mit Verweis auf die Ausführungen und Einschätzung von Meili, F., Das internationale Civilprozessrecht, 1906, S. 55 ff. 76 Vgl. Kahn, F., Abhandlungen zum internationalen Privatrecht, in: Lenel, O. / Lewald, H., Bd. 1, 1928, S. 202 ff. 77 Vgl. Kahn (Fn. 76), S. 213; dazu Malzahn (Fn. 7), S. 363. 78 Vgl. Meili (Fn. 75), S. 55. 79 Dagegen wohl, aber insoweit nicht überzeugend Hopt / Kulms / Hein v. (Fn. 8), S. 145 ff. 80 Vgl. hierzu Malzahn (Fn. 7), S. 374 f., mit weitergehender Begründung.

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hen. 81 Zu diesen unabdingbaren Grundsätzen und Garantien zählt auch der Schutz unabdingbarer Freiheits- und Gleichheitsrechte, jedenfalls soweit sich in diesen die Menschenwürde manifestiert (Art. 1 Abs. 1 GG). Der Sicherheitsvorbehalt des Art. 13 Abs. 1 HZÜ ist hingegen – wie dargelegt – weit weniger völkerrechtlich vorgeprägt und damit grundsätzlich einer rechtsstaats-, insbesondere grund- und menschenrechtskonformen Auslegung zugänglich. 82 Hierbei ist deren herausgehobener Stellenwert im Grundgesetz in angemessener Weise zu berücksichtigen. Dieser rechtfertigt es, grundsätzlich auch die sonstigen Individualrechtsverbürgungen des Grundgesetzes zum Prüfungsmaßstab der Zustellungsentscheidung zu machen. Überdies deckt sich eine solche Auslegung mit dem innerstaatlich verbreiteten innerstaatlichen Verständnis von „öffentlicher Sicherheit und Ordnung“, mit der auch der Schutz der Unversehrtheit fundamentaler Individualrechtsgüter (insbesondere Leben, Gesundheit, Freiheit, Ehre und Eigentum) verbunden wird, wenngleich ein solches für die Auslegung einer staatsvertraglichen Norm grundsätzlich unbeachtlich ist. Um im Ergebnis freilich eine überschießende Anwendung deutscher Grundrechtsvorstellungen bei grenzüberschreitenden Sachverhalten (einen so genannten „Grundrechtstotalitarismus“ 83 ) zu vermeiden, sollten die Grundrechte im Anschluss an die Vorgaben in BVerfGE 91, 335 mit den menschenrechtlichen Vorgaben auf der internationalen Ebene harmonisiert und nur insoweit zur Geltung gebracht werden (zur erforderlichen Güterabwägung s. unten 2.). Hierauf wurde im Schrifttum 84 bereits konkret hingewiesen – die neuere Untersuchung von Hopt/Kulms/Hein v. hat diese Einschränkung als zutreffend bestätigt. 85

d) Verfahrensrechtliche Flankierung des Prüfungsmaßstabes Die Prüfung fremdstaatlicher Zustellungsersuchen kann sich nicht allein und ausschließlich auf die bloße Einhaltung der Formalien beschränken, sondern muss auch eine Prüfung auf offenkundige (evidente) und in diesem Sinne schon im Stadium der Zustellung greifbare Gefährdungen der Grund- und ___________ 81 Zu diesem Rückschluss aus den Entscheidungen des Grundgesetzes, vgl. Malzahn (Fn. 7), S. 363 (371 f.). 82 Zur verfassungskonformen Auslegung von Rechtsnormen staatsvertraglichen Ursprungs, s. BVerfGE 99, 145 (158) (grundrechtskonforme Auslegung des Haager Kindesentführungsübreinkommens). Dies verkennt u. a. Oberhammer (Fn. 6), S. 45 Fn.39, wenn er u. a. die Auffassung von Rothe (Fn. 6) – die er insoweit unzutreffend wiedergibt – kritisiert. 83 So insbesondere Merkt (Fn. 7), S. 169. 84 Hierzu Merkt (Fn. 7); Malzahn (Fn. 7), S. 375 (386 ff.) jeweils m. w. N. 85 Vgl. Hopt / Kulms / Hein v. (Fn. 8), S. 148 ff.

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Menschenrechte und unabdingbarer Rechtsstaatsgarantien beinhalten. 86 Im Sinne der gewollten Vereinfachung und Formalisierung des Verfahrens ist dabei zu beachten, dass sich etwaige Gefährdungen grundsätzlich aus den Zustellungsunterlagen ergeben müssen. Diese Beschränkung rechtfertigt sich aus dem mit der Ratifizierung des Haager Zustellungsübereinkommens durch den deutschen Zustimmungsgesetzgeber gewährten Vertrauensvorschuss in die betreffende fremde Rechtsordnung. Die deutschen Justizbehörden sind damit jedoch keineswegs einer summarischen Prüfung enthoben. Um festzustellen, ob konkrete Gesichtspunkte gegen die Erledigung des betreffenden Zustellungsersuchens sprechen und geeignet sind, dieses Vertrauen zu zerstören, können bzw. – je nach den Umständen des Einzelfalles – müssen präsente Beweismittel und allgemeinbekannte oder als solche geltende Erkenntnisquellen (wie auch sonst in behördlichen und gerichtlichen Eilverfahren in Deutschland üblich) herangezogen werden. Soweit es danach rechtsstaatlich geboten erscheint, sollte für den deutschen Zustellungsadressaten auch die Gelegenheit bestehen, sich zur konkreten Gefährdungssituation im ausländischen Verfahren ex parte zu äußern. Nach hier vertretener Auffassung gewährleistet dies durchaus eine praktikable Handhabung des Erledigungsvorbehaltes in Art. 13 Abs. 1 HZÜ durch die deutschen Justizbehörden und ist dabei zugleich geeignet, die Übereinkommenszwecke und die damit verbundenen Gemeinwohlbelange zu wahren, ohne die unabdingbaren rechtsstaatlichen Erfordernisse und der damit einhergehende Schutz von fundamentalen Individualrechtsgütern des deutschen Zustellungsadressaten preiszugeben.

2. Grund- und Menschenrechtskonformität der Erledigung eines Zustellungsersuchens als immanenter Vorbehalt deutscher Rechtshilfegewährung Die Grund- und Menschenrechte des inländischen Zustellungsadressaten können darüber hinaus und unabhängig von einer entsprechenden (erweiternden) Auslegung des Art. 13 Abs. 1 HZÜ eine immanente Schranke der hoheitlichen Rechtsgewährung durch deutsche Justizbehörden bilden, wie der Verfasser schon an anderer Stelle dargelegt hat. 87 Während in Strafsachen die ___________ 86 In diesem Sinne bereits OLG Düsseldorf, NJW 1992, 3110, 3111: „greifbare Anhaltspunkte“; OLG Koblenz, NJOZ 2005, 3122, (3142). Zu eng und insoweit missverständlich Hopt / Kulms / Hein v. (Fn. 8), S. 128, die einerseits eine „abstrakte verfassungsrechtliche Vorprüfung des im ersuchten Staat anwendbaren Sach- und Verfahrensrechts“ ablehnen, andererseits Art. 13 Abs. 1 HZÜ gleichwohl erweiternd auslegen wollen. 87 Vgl. Malzahn (Fn. 7), S. 378 ff.

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Grundrechte bereits seit längerem als „Rechtshilfegegenrechte/-hindernisse“ 88 verstanden werden, hat sich eine entsprechende Erkenntnis im Rahmen der internationalen Rechtshilfe in Zivilsachen noch nicht durchgesetzt. 89 Dabei ist die Parallelität doch kaum zu verkennen, können sich die Grundrechte entsprechend ihrer grundlegenden Abwehr- und Schutzfunktion doch in doppelter Weise auf den Tenor jeder hoheitlichen Rechtshilfeentscheidung auswirken. Die Grundrechte können so entweder den deutschen Justizbehörden eine rechtshilfegewährende Entscheidung verbieten, weil sich diese selbst als ein nicht gerechtfertigter staatlicher Eingriff in den grundrechtlich geschützten Lebensbereich des Beklagten darstellen würde (status negativus), oder sie gebieten eine ablehnende Entscheidung, weil eine Grundrechtsbeeinträchtigung auf andere Weise (im Ausland) droht und der deutsche Staat zum Schutz verpflichtet ist (status positivus). 90 Soweit Geltung beanspruchend, folgt die Beachtung der Grund- und Menschenrechte schon aus allgemeinem Rangkollisionsrecht: Die Grund- und Menschenrechte setzen sich in ihrem Geltungsbereich im Rahmen der innerstaatlichen Rechtsanwendung auch gegen entgegenstehendes einfaches Recht (sei es staatsvertraglichen Ursprungs oder nicht) durch. 91 Im Rahmen der internationalen Rechtshilfe ist deshalb von entscheidender Bedeutung, ob und inwieweit die Grundrechte im zwischenstaatlichen Zivilrechtsverkehr Geltung beanspruchen und schon die rechtshilfegewährende Entscheidung der deutschen Justizbehörden unmittelbar und gegenwärtig zu einem Eingriff in die Geltung beanspruchenden Grundrechte des inländischen Adressaten führt. Die Grenze der Grundrechtsverantwortlichkeit der deutschen staatlichen Gewalt und damit der Grundrechte ergeben sich dabei bereits aus den allgemeinen Grundsätzen; sie liegt dort, wo etwaige Grundrechtsbeeinträchtigungen bzw. -gefährdungen der ___________ 88

Vgl. Lagodny, O., in: Schomburg, W. / Lagodny, O., Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 3. Aufl. 1998, § 73 IRG, Rdnr. 43. Vgl. auch BVerfGE 112, 90: zur Auslieferung nach Spanien aufgrund Europäischen Haftbefehls, wonach der Erlass einer einstweiligen Anordnung verfassungsrechtlich geboten sein kann, wenn u. a. die bevorstehende Entscheidung über die Auslieferung „gegen die verfassungsrechtlichen Vorgaben, insbesondere die in Art. 16 II GG gewährleisteten unverzichtbaren Grundsätze eines freiheitlichen Rechtsstaates, verstößt“. 89 Ansätze bei Maack (Fn. 7), S. 129 f., die von einem „ungeschriebenen Ablehnungstatbestand“ aufgrund völkerrechtskonformer Auslegung des Europäischen Zustellungsübereinkommens, das keine ausdrückliche Vorbehaltsklausel enthält, spricht. Dieses ist in Anbetracht der verfassungsrechtlichen Vorgaben (seit der „Spanier“-Entscheidung des BVerfGE 31, 58) und der bisweilen extrem restriktiven Wortlautauslegung des Erledigungsvorbehaltes durch Teile des Schrifttums verwunderlich und wohl nur vor dem Hintergrund einer in Zivilsachen im Vergleich zu Strafsachen augenscheinlich als geringer eingestuften Eingriffsintensität und einem offensichtlich fehlendem Interesse an einer Aufbereitung der Materie zu erklären. 90 Vgl. Malzahn (Fn. 7), S. 379. 91 Vgl. Malzahn (Fn. 7), S. 381 f.

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deutschen Staatsgewalt nicht mehr zuzurechnen sind, z. B. weil ein Vorgang in seinem wesentlichen Verlauf von einem fremden, souveränen Staat nach dessen eigenem Willen gestaltet wird. 92 Im Rahmen der internationalen Rechtshilfe wird man eine solche Zurechnung und Verantwortlichkeit – entgegen der teilweise von der Rechtsprechung 93 vertretenen Ansicht – nicht pauschal ausschließen können, sondern in der Rechtshilfegewährung – wie regelmäßig – einen adäquat kausalen Beitrag erkennen müssen, jedenfalls soweit diese derartige Beeinträchtigungen oder Gefährdungen im konkreten Fall ermöglicht und mit einer Ablehnung (umgekehrt) die Möglichkeit besteht, derartige Beeinträchtigungen oder Gefährdungen zu verhindern. 94 Darüber hinaus ist es mit Blick auf die völkerrechtlichen Verpflichtungen der BR Deutschland geboten, die Anwendung der Grundrechte des Grundgesetzes mit international anerkannten Menschenrechtsstandards zu harmonisieren. Um eine möglichst völkerrechtskonforme Rechtsanwendung im Inland zu erzielen und eine überschießende, international nicht akzeptierte Grundrechtsanwendung zu vermeiden, sollte eine vergleichende Betrachtung anhand des Schutzniveaus internationaler Menschenrechtspakte angestellt werden. 95 Trotz der Eigenheiten der Rechtshilfegewährung nach dem Haager Zustellungsübereinkommen spricht insoweit vieles für einen Vergleich z. B. mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu den Menschenrechtsgewährleistungen in der Europäischen Konvention für Menschrechte (EMRK). Im Fall Soering 96 hatte dieser beispielsweise entschieden, dass die Entscheidung eines EMRK-Vertragsstaates, einem Rechtshilfeersuchen in Strafsachen stattzugeben, die Konvention verletzen kann, wenn es begründete Anhaltspunkte dafür gibt, dass dem Betroffenen im ersuchenden Staat eine Behandlung droht, die Gewährleistungen der EMRK widerspricht; insbesondere kann bei einer offensichtlichen Verweigerung eines fairen Prozesses im ersuchenden Staat Art. 6 EMRK anwendbar sein. Überdies gebietet die den Belangen des Gemeinwohls verhaftete Verfassungsentscheidung für eine internationale Offenheit und Zusammenarbeit (der so genannte Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes), dem Einzelnen im grenzüberschreitenden Rechtsverkehr gewisse Beschränkungen seiner grundrechtlich geschützten Freiheiten in den Grenzen des bei ___________ 92

Vgl. BVerfGE 66, 39 (56 f., 63 f.). OLG München, Beschl. v. 12.07.2000 – 9 VA 3/00 (unveröffentlicht). 94 Offen insoweit BVerfG, WM 2006, 2105. 95 So nun im Rahmen von Art. 13 Abs. 1 HZÜ auch Hopt / Kulms / Hein v. (Fn. 8), S. 153; weiterführend Malzahn (Fn. 7), S. 401 f. 96 EGMR, Urt. v. 07.07.1989 – Nr. 1/1989/161/217, Soering gegen Vereinigtes Königreich, EuGRZ 1989, 314 (insb. die Erwägungen 84-91), m. Anm. Blumenwitz, D., in: EuGRZ 1989, 326 ff. 93

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dem gegebenen Sachverhalt allgemein Zumutbaren aufzuerlegen. Auf diesen Aspekt hat der 1. Senat des BVerfG in E 91, 335 zu Recht hingewiesen. 97 Gerade weil jedoch eine insoweit anzustrebende internationale Kooperation a priori keinen ausschließlichen Vorrang vor dem Schutz der Grund- und Menschenrechte beanspruchen kann, dürfen etwaige Einschränkungen auch nicht pauschal, sondern nur im Einzelfall und bis zur Wesengehaltsschranke (Art. 19 Abs. 2 GG) in sorgsamer Abwägung mit den Gemeinwohlbelangen erfolgen. Diese Abwägung fällt in aller Regel zugunsten der Gemeinwohlbelange aus. Folglich ist es deutschen Beklagten grundsätzlich zuzumuten, sich im Ausland gegen eine gegen ihn erhobene Klage im ersuchenden Staat zur Wehr zu setzen. 98 Dies gilt insbesondere für international tätige Unternehmen, je umfangreicher und aktiver sie sich im betreffenden Ausland wirtschaftlich betätigen und die Vorteile des betreffenden Marktes für sich in Anspruch nehmen. Der mit einer Zustellungsanordnung verbundene Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit des inländischen Zustellungsadressaten ist damit in aller Regel sachlich gerechtfertigt. Anders liegt der Fall jedoch, wenn infolge der Zustellung die im Ausland erhobene Klage und das mit dieser verbundene Verfahren die Existenz des inländischen Beklagten bedroht und – wie Braun zu Recht hervorhebt – diese dabei nicht einmal „den äußeren Schein des Rechts für sich hat“. 99 Dieses Szenario als offenkundig und wirklich vorausgesetzt, ist dann noch eine stärkere Gefährdung der allgemeinen Handlungsfreiheit und der Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung des Beklagten vorstellbar? In derartigen Fällen muss eine Berufung auf den Erledigungsvorbehalt in Art. 13 Abs. 1 HZÜ und die grundund menschenrechtlich geschützten Freiheiten jedenfalls als ultima ratio 100 erhalten bleiben. Ferner erscheint es dann auch mehr als sachgerecht, deutsche Beklagte nicht auf die Einlassung im Ausland zu verweisen, sondern die Wahrung und Gewährleistung der Grundrechte und elementarer Rechtsstaatsprinzipien den deutschen Behörden und in letzter Konsequenz dem Bundesverfassungsgericht anzuvertrauen. 101

___________ 97

BVerfGE 91, 335 (343). Vgl. Hopt / Kulms / Hein v. (Fn. 8), S. 154 f. 99 Vgl. Braun (Fn. 6), S. 2231. 100 In diesem Sinne Hopt / Kulms / Hein v. (Fn. 8), S. 152: „Notventil“. 101 Zu dieser Argumentation Hopt / Kulms / Hein v. (Fn. 8), mit Verweis auf Tomuschat (Fn. 24), S. 85, der von einer „Wächterrolle“ spricht. 98

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III. Schlussfolgerungen Der Erledigungsvorbehalt in Art. 13 Abs. 1 HZÜ wird im Allgemeininteresse an einem funktionierenden grenzüberschreitenden Zivilrechtsverkehrs sehr eng ausgelegt. Insoweit kann nach gefestigter Rechtsprechung nicht bereits die Zustellung von Klagen verweigert werden, mit denen beispielsweise Strafschadensersatz begehrt wird oder die Einlassung auf ein ausländisches Verfahren verbunden ist, das als Ganzes oder in Teilen der deutschen Rechtsordnung und dem deutschen Beklagten fremd ist. Die Pflicht der deutschen Justizbehörden zur Rechtshilfe besteht jedoch nicht gänzlich vorbehaltlos. Nach hier vertretener Auffassung können und müssen im ausländischen Verfahren drohende Beeinträchtigungen der verfassungs- und völkerrechtlich verbürgten Grund- und Menschenrechte bzw. fundamentaler Rechtsstaatsgarantien im Rahmen der Rechtshilfeentscheidung berücksichtigt werden. Dies gilt jedenfalls insoweit, wie diese Garantien international akzeptiert sind und damit konkret Geltung beanspruchen und eine entsprechende Beeinträchtigung bereits im Stadium der Zustellung offenkundig und greifbar ist. So kann der Fall liegen, wenn beispielsweise der inländische Zustellungsadressat keine gerichtsstandsbegründenden Kontakte im Forumstaat besitzt, das ausländische Verfahren schon dem äußeren Schein nach offenkundig rechtsmissbräuchlich ist oder existenzbedrohende Ausmaße annimmt und ein hinreichend effektiver Schutz im Forumstaat nicht zu erwarten wäre. Vor diesem Hintergrund ist der Beschluss des Oberlandesgerichts Koblenz verständlich und jedenfalls im Ergebnis sachgerecht, handelte es sich doch in dem von diesem zu entscheidenden Fall um eine offensichtlich substanzlose Klage, mit der nicht nur ein eklatanter Missbrauch eines fremdstaatlichen gerichtlichen Verfahrens durch den Kläger verbunden war, sondern bei der aufgrund der Höhe des bezifferten Strafschadensersatzes bereits im Stadium der Zustellung greifbare Anhaltspunkte für eine Existenzbedrohung der inländischen Beklagten bestanden. In einem solchen Fall musste der mit dem Haager Zustellungsübereinkommen gewährte Vertrauensvorschuss in die fremde Rechtsordnung erschüttert werden und die grund- und menschenrechtlich geforderte Güterabwägung im Rahmen der Rechtshilfeentscheidung zugunsten der Belange des inländischen Zustellungsadressaten ausfallen. In derart krassen Fällen erwächst den deutschen Justizbehörden von Verfassungs wegen eine Schutzpflicht, die diese dazu zwingt, das betreffende fremdstaatliche Zustellungsersuchen nicht zu erledigen.

Die Verwertbarkeit widerrechtlich erlangter Beweismittel in Fällen der Verletzung der Selbstbelastungsfreiheit („nemo tenetur se ipsum accusare“) nach deutschem Recht und nach der Europäischen Menschenrechtskonvention Dorothee von Arnim

I. Einführung Dass „die von uns als selbstverständlich und grundlegend angesehenen Menschenrechte weder als ein monolithischer Block erscheinen, noch einen ein für allemal verbürgten Besitzstand vermitteln“, 1 hat Dieter Blumenwitz stets hervorgehoben. Der Gewährleistungsumfang der Menschenrechte steht gerade in Zeiten des „Kampfes gegen den Terrorismus“ und der Diskussion um die „Zulässigkeit präventiver Folter in Ausnahmefällen“ wieder besonders auf dem Prüfstand. 2 Im Strafverfahren stellt die Anerkennung des Rechts des einer Straftat Beschuldigten, sich nicht selbst belasten zu müssen, und die Absicherung dieses Rechts durch ein Verbot der Verwertung von unter Verstoß gegen den nemotenetur-Grundsatz erlangter Beweismittel eine entscheidende Errungenschaft in der Fortentwicklung des Menschenrechtsschutzes sowie die Grundlage für einen fairen Strafprozess dar. Mit der nachfolgenden Abhandlung, welche sich ___________ 1

Blumenwitz, D., Die historische Entwicklung der Menschenrechte im Vergleich unterschiedlicher Weltanschauungen und Kulturen, in: Kroker, E. J. M. / Dechamps, B. (Hrsg.), Das Menschenbild der freien Gesellschaft. Globalisierung und Europäische Integration, 2000, S. 14; siehe auch ders., Die Menschenrechte im Vergleich unterschiedlicher Weltanschauungen und Kulturen an der Wende zum Dritten Jahrtausend, in: Ukrainische Freie Universität (Hrsg.), Studien zu deutsch-ukrainischen Beziehungen Nr. 4, 2000, S. 5 ff. 2 Zu dieser Diskussion (unter Ablehnung der Zulässigkeit präventiver Folter) statt vieler Gaede, K., Die Fragilität des Folterverbots. – Präventiv begründete Ausnahmen vom absoluten Folterverbot zur Herstellung absoluter Sicherheit?, in: Camprubi, M. (Hrsg.), Angst und Streben nach Sicherheit in Gesetzgebung und Praxis, 2004, S. 155 ff. m. w. N.; Beulke, W., Strafprozessrecht, 8. Aufl. 2005, § 8, S. 80 mit zahlreichen Nachweisen; Volk, K., Grundkurs StPO, 5. Aufl. 2006, § 9, Rn. 14 m. w. N.

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der Selbstbelastungsfreiheit und deren Schutz durch Beweisverwertungsverbote im deutschen Recht sowie nach der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) widmet, soll Dieter Blumenwitz gedacht werden, der sich nicht nur seit jeher in unzähligen Schriften 3 gerade auch mit Fragen der EMRK befasste, sondern deren Schutzsystem und Bedeutung auch in einer Vielzahl engagierter Vorlesungen an die „jüngere Generation“ weitervermittelte. Der Beitrag skizziert zunächst den Sinn und Zweck (II.) sowie die Dogmatik der Beweisverwertungsverbote (III.) und behandelt sodann die Beweisverwertung bei Verstößen gegen die Selbstbelastungsfreiheit (IV.). Der Darstellung des Schutzbereichs und der Bedeutung des nemo-tenetur-Prinzips (1.) folgt ein Vergleich der Interpretation des nemo-tenetur-Grundsatzes und der Folgen eines Verstoßes dagegen nach der EMRK mit der Reichweite der Selbstbelastungsfreiheit und deren Schutz durch Beweisverwertungsverbote nach deutschem Recht. Die Gegenüberstellung soll anhand verschiedener Fallkonstellationen, in denen die Selbstbelastungsfreiheit berührt ist – nämlich z. B. beim Ziehen nachteiliger Schlussfolgerungen aus dem Schweigen des Beschuldigten (2.), beim Zwang zur Aussage (3.) und beim Zwang zur Herausgabe gegenständlicher Beweismittel (4.) – erfolgen. Dem so festgestellten Besitzstand des Menschenrechtsschutzes auf diesem Gebiet und offenen Fragen widmen sich Schlussbetrachtung und Ausblick (V.).

II. Sinn und Zweck von Beweisverwertungsverboten Im Rechtsstaat heiligt der Zweck nicht alle Mittel. Für das Strafverfahren bedeutet dies insbesondere, dass der aus dem Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit dem allgemeinen Freiheitsrecht (Art. 2 Abs. 1, 20 Abs. 3 des Grundgesetzes (GG)) und aus Art. 6 Abs. 1 EMRK abgeleitete Grundsatz des „fair trial“ sowie das Gebot der Achtung der Menschenwürde es verbieten, die Wahrheit um jeden Preis zu ermitteln. 4 Dem Schutz der Rechte des Individuums im Strafverfahren dienen Verbote, fehlerhafte oder ohne gesetzliche Grundlage erlangte Beweise zu verwerten, d. h. bei der Urteilsfindung zu berücksichtigen. 5 Diese Beweisverwertungsver___________ 3

Vgl. nur Blumenwitz, D., Konventionswidrigkeit der Auslieferung an die USA bei drohender Todesstrafe und in Anbetracht der Haftdauer und Haftbedingungen in der Todeszelle / Fall Soering, in: EuGRZ 1989, S. 314 ff.; ders., Ansätze zur Lösung des Zypernproblems in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, in: Philia I (2000), S. 10 ff.; ders., Die Liechtenstein-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, in: AVR 40 (2002), S. 215 ff. 4 Vgl. BVerfG, NJW 1984, 428; BGHSt 38, 214, (219 ff.); Beulke (Fn. 2), § 23, Rn. 454; Volk (Fn. 2), § 28, Rn. 6. 5 Beulke (Fn. 2), § 23, Rn. 454.

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bote beschränken damit die Möglichkeiten der Sachaufklärung im Strafverfahren. 6 In diesem gebietet der Untersuchungsgrundsatz (§ 244 Abs. 2 der Strafprozessordnung – StPO) prinzipiell eine umfassende Aufklärung des für die Entscheidung erheblichen Sachverhalts bei Heranziehung aller verfügbaren Beweismittel. Dementsprechend haben die Strafgerichte nach dem Grundsatz der umfassenden Beweiswürdigung (§ 261 StPO) alle nach § 244 Abs. 2 StPO erhobenen Beweise in die Beweiswürdigung einzubeziehen. 7 Die Durchbrechung des Untersuchungsgrundsatzes und des Grundsatzes der umfassenden Beweiswürdigung durch Beweisverwertungsverbote dient dem Schutz höherwertiger Individualrechte. Die Abwehr von Gefahren für die Wahrheitsermittlung und die Disziplinierung der Strafverfolgungsorgane ist hierbei nur Nebeneffekt. 8

III. Dogmatik der Beweisverwertungsverbote 1. Deutsches Rechtsverständnis Beweisverwertungsverbote untersagen die Verwendung von bestimmten Informationen im Urteil. Die StPO ordnet nur in wenigen Fällen – wie z. B. in Bezug auf durch verbotene Vernehmungsmethoden erlangte Aussagen (§ 136a Abs. 3 S. 2 StPO) – Beweisverwertungsverbote gesetzlich an. 9 Es ist jedoch anerkannt, dass die StPO keine abschließende Regelung über Beweisverwertungsverbote trifft. Eine fehlerhafte Beweiserhebung führt häufig, aber nicht zwingend zur Unverwertbarkeit des gewonnenen Beweismittels. 10 Eine allgemein anerkannte Regel, in welchen Fällen die Verletzung eines Beweiserhe-

___________ 6 Dazu BVerfG, NStZ 2006, 46 (47); Zupanþiþ, B. M., The Privilege Against SelfIncrimination as a Human Right, in: European Journal of Law Reform (EJLR) 2006, S. 17; Volk (Fn. 2), § 28, Rn. 6. 7 Beulke (Fn. 2), § 23, Rn. 454; Fezer, G., Grundfragen der Beweisverwertungsverbote, 1995, S. 1 f. 8 Beulke (Fn. 2), § 23, Rn. 454; Volk (Fn. 2), § 28, Rn. 7; in diesem Sinne auch Müller, R., Neue Ermittlungsmethoden und das Verbot des Zwanges zur Selbstbelastung, in: EuGRZ 2002, S. 546 (555). 9 Siehe außerdem §§ 81a Abs. 3, 81c Abs. 5, 98b Abs. 3 S. 3, 100b Abs. 5, 100d Abs. 5, 108 Abs. 2, 110e, 161 Abs. 2 StPO, sowie außerhalb der StPO § 51 BZRG, § 6 Abs. 2 S. 3 i. V. m. § 7 Abs. 4 G10, Art. 13 Abs. 2 GG, § 393 Abs. 2 AO, § 97 Abs. 1 S. 3 InsO; näher Beulke (Fn. 2), § 23, Rn. 456; Volk (Fn. 2), § 9, Rn. 18, § 28, Rn. 4. 10 Vgl. nur BGHSt 34, 39 (52); 38, 214 (219) mit zahlreichen Beispielen, in denen Verwertungsverbote bejaht bzw. verneint wurden; BVerfG, NStZ 2006, 46 f.; Beulke (Fn. 2), § 23, Rn. 457, 460; Volk (Fn. 2), § 28, Rn. 4.

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bungsverbots 11 ein (unselbstständiges, da aus einem Beweiserhebungsverbot resultierendes) 12 Beweisverwertungsverbot nach sich zieht, konnte bislang in Rechtsprechung und Lehre nicht entwickelt werden. 13 Nach der von der Rechtsprechung und überwiegend in der Lehre vertretenen so genannten Abwägungslehre ist die Entscheidung für oder gegen ein Verwertungsverbot im Einzelfall aufgrund einer umfassenden Abwägung zu treffen. 14 Bei dieser sind einerseits das Gewicht des Verfahrensverstoßes sowie seine Bedeutung für die rechtlich geschützte Sphäre des Betroffenen, andererseits die Erfordernisse einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege, wobei die Schwere der vorgeworfenen Straftat ein entscheidender Gesichtspunkt ist, zu berücksichtigen. 15 Aber auch der Schutzzweck der verletzten Beweiserhebungsnorm spielt eine Rolle. Dient die verletzte Verfahrensvorschrift nicht in erster Linie dem Schutz des Beschuldigten, liegt ein Verwertungsverbot fern. Hingegen liegt ein Verwertungsverbot nahe, wenn die verletzte Verfahrensvorschrift dazu bestimmt ist, die Grundlagen der verfahrensrechtlichen Stellung des Beschuldigten im Strafverfahren zu sichern. 16 In Einzelfällen kann schließlich – wie beispielsweise beim Verbot der Verwertung der durch eine zulässige Telefonüberwachung erlangten Informationen in anderen Strafverfahren nach § 100b Abs. 5 StPO – die Beweisverwertung unzulässig sein, obgleich die Beweiserhebung rechtmäßig war (so genanntes selbstständiges Beweisverwertungsverbot). 17

2. Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) Die EMRK enthält keine abstrakten Regelungen zur Verwertbarkeit widerrechtlich erlangter Beweismittel. Entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip und ___________ 11 Zu den verschiedenen Formen der Beweiserhebungsverbote (Beweisthema-, Beweismittel- und Beweismethodenverbote) siehe Beulke (Fn. 2), § 23, Rn. 455; Volk (Fn. 2), § 28, Rn. 1–3; Göbel, K., Strafprozess, 6. Aufl. 2005, S. 169 f. 12 Zur Abgrenzung zwischen selbstständigen und unselbstständigen Beweisverwertungsverboten näher Beulke (Fn. 2), § 23, Rn. 457; Volk (Fn. 2), § 28, Rn. 4 f. 13 Hierüber besteht Einigkeit, vgl. Beulke (Fn. 2), § 23, Rn. 457; Volk (Fn. 2), § 28, Rn. 4, 8 m. w. N.; Bosch, N., Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips aus verfassungsrechtlicher und strafprozessualer Sicht. – Ein Beitrag zur funktionsorientierten Auslegung des Grundsatzes „nemo tenetur seipsum accusare“, 1998, S. 318. 14 BGHSt 38, 214 (219/220) m. w. N.; dazu Volk (Fn. 2), § 28, Rn. 11; Bosch (Fn. 13), S. 319. 15 BGHSt 38, 214 (220) m. w. N.; Volk (Fn. 2), § 28, Rn. 11. 16 BGHSt 38, 214, 220. Zur so genannten Schutzzwecklehre Beulke (Fn. 2), § 23, Rn. 458; Volk (Fn. 2), § 28, Rn. 10 f.; Bosch (Fn. 13), S. 319 f. 17 Dazu Beulke (Fn. 2), § 23, Rn. 457; Volk (Fn. 2), § 28, Rn. 5, 37–42.

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dem so genannten „fourth-instance“-Grundsatz, demzufolge der Gerichtshof „keine vierte Instanz“, d. h. kein weiteres Rechtsmittelgericht im Verhältnis zu den mitgliedstaatlichen Gerichten ist, 18 „ist es nicht Aufgabe des Gerichtshofs, sich mit tatsächlichen oder rechtlichen Fehlern, die angeblich von einem innerstaatlichen Gericht gemacht wurden, zu befassen, außer und insoweit als diese die durch die Konvention geschützten Rechte und Freiheiten verletzt haben könnten. Während Artikel 6 das Recht auf eine faire Anhörung garantiert, stellt er keine Regeln zur Verwertbarkeit von Beweisen als solche auf, was in erster Linie durch das innerstaatliche Recht festzulegen ist.“19

Ebenso wie das deutsche Strafprozessrecht schließt Artikel 6 EMRK es folglich nicht prinzipiell aus, dass fehlerhaft oder ohne gesetzliche Grundlage erlangte Beweise im Strafverfahren verwertet werden. 20 Es ist zunächst an den innerstaatlichen Gerichten, über die Verwendung solcher Beweismittel zu entscheiden. Der Gerichtshof prüft sodann, ob das Verfahren insgesamt, einschließlich der Art und Weise, wie die fraglichen Beweise erhoben und verwertet wurden, als fair angesehen werden kann. 21 Hierbei berücksichtigt er die innerstaatliche Widerrechtlichkeit der Beweiserlangung und in Fällen, in denen durch diese ein weiteres Konventionsrecht verletzt wurde, die Art der Verletzung des betroffenen Rechts. 22 Darüber hinaus wird in die Gesamtabwägung mit einbezogen, ob die Verteidigungsrechte des Beschuldigten im Prozess beachtet wurden, wie verlässlich die widerrechtlich erlangten Beweismittel sind 23 sowie das Gewicht des öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung und des Interesses des Beschuldigten an einer rechtmäßigen Beweiserlangung. 24 ___________ 18 Siehe dazu Ovey, C. / White, R., Jabobs and White: The European Convention on Human Rights, 4. Aufl. 2006, S. 159, 191. 19 Grundlegend EGMR, Nr. 10862/84, Schenk gegen Schweiz, Urt. v. 12.07.1988, Serie A, Bd. 140, Z. 45-46; vgl. statt vieler EGMR, Nr. 25829/94, Teixeira de Castro gegen Portugal, Urt. v. 09.06.1998, ECHR 1998-IV, Z. 34. 20 Vgl. EGMR, Nr. 10862/84, Schenk (Fn. 19), Z. 46; EGMR, Nr. 25444/94, Pélissier und Sassi gegen Frankreich [Große Kammer], Urt. v. 25.03.1999, ECHR 1999-II, Z. 45 f.; Peters, A., Einführung in die Europäische Menschenrechtskonvention, 1. Aufl. 2003, S. 130. 21 EGMR, Nr. 25444/94, Pélissier und Sassi (Fn. 20), Z. 45; EGMR, Nr. 35394/97, Khan gegen Vereinigtes Königreich, Urt. v. 12.05.2000, ECHR 2000-V, Z. 34; Nr. 48539/99, Allan gegen Vereinigtes Königreich, Urt. v. 05.02.2003, ECHR 2002-IX, Z. 42. 22 EGMR, Nr. 35394/97, Khan (Fn. 21), Z. 34; Nr. 44787/98, P. G. und J. H. gegen Vereinigtes Königreich, Urt. v. 25.09.2001, ECHR 2001-IX, Z. 76; Nr. 48539/99, Allan (Fn. 21), Z. 42; zur Problematik Frowein, J. Abr. / Peukert, W., Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. 1996, Artikel 6, Rn. 99; Peters (Fn. 20), S. 129 f. 23 Siehe dazu z. B. EGMR, Nr. 35394/97, Khan (Fn. 21), Z. 35, 37; Nr. 48539/99, Allan (Fn. 21), Z. 43. 24 Hierzu insb. EGMR, Nr. 54810/00, Jalloh gegen Deutschland [Große Kammer], Urt. v. 11.07.2006, ECHR 2006, Z. 97.

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Eine solche Einzelfallprüfung durch den Gerichtshof kann ergeben, dass wegen der Verwertung widerrechtlich erlangter Beweismittel das Verfahren nach den Gesamtumständen des Falles nicht mehr fair war. 25 De facto geht der EGMR in diesen Fällen damit von einem Beweisverwertungsverbot aus. 26 Im Folgenden soll anhand einzelner Beispielsfälle die Rechtsprechung des EGMR zur Verwertbarkeit widerrechtlich erlangter Beweismittel in Fällen von Verstößen gegen den nemo-tenetur-Grundsatz derjenigen der deutschen Gerichte gegenübergestellt werden.

IV. Beweisverwertung bei Verstößen gegen die Selbstbelastungsfreiheit („nemo tenetur se ipsum accusare“) 1. Schutzbereich und Bedeutung des „nemo-tenetur“-Prinzips Das Verbot des Zwanges zur Selbstbelastung („nemo tenetur se ipsum accusare“), das so genannte „nemo-tenetur“-Prinzip, entstammt der anglo-amerikanischen Rechtstradition. 27 Die StPO setzt ein umfassendes Schweigerecht des Beschuldigten voraus, vgl. §§ 136 Abs. 1 S. 2 i. V. m. 163a Abs. 3 S. 2, Abs. 4 S. 2, 243 Abs. 4 S. 1, 2 StPO. 28 Dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zufolge wurzelt das Recht zu schweigen und sich nicht selbst zu beschuldigen in der Menschenwürde des Grundgesetzes (Art. 1 Abs. 1 GG), die es verbietet, den Menschen als bloßes Objekt des Strafverfahrens anzusehen. 29 Das nemotenetur-Prinzip ist insbesondere verletzt, wenn die Strafverfolgungsorgane den Beschuldigten (1.) unter Einsatz verbotener Vernehmungsmethoden i. S. d. § 136a Abs. 1, 2 StPO befragen, sowie wenn sie ihn (2.) vor seiner ersten Vernehmung nicht über sein Aussageverweigerungsrecht gemäß § 136 Abs. 1 S. 2 StPO belehren oder ihm (3.) die von ihm gewünschte Befragung seines gewählten Verteidigers verwehren, §§ 136 Abs. 1 S. 2, 137 StPO (i. V. m. Art. 6 Abs. 1, 3c EMRK). 30 ___________ 25

Zu Beispielen hierzu siehe unten IV.2–4. Vgl. z. B. Ambos, K., Europarechtliche Vorgaben für das (deutsche) Strafverfahren – Teil I – Zur Rechtsprechung des EGMR von 2000 bis 2002, in: NStZ 2002, S. 632; ähnlich Gaede, K., Deutscher Brechmitteleinsatz menschenrechtswidrig: Begründungsgang und Konsequenzen der Grundsatzentscheidung des EGMR im Fall Jalloh, in: HRRS 2006, S. 241 (248). 27 Zu den Ursprüngen des nemo-tenetur-Prinzips näher Vetter, D., Problemschwerpunkte des § 81a StPO. – Eine Untersuchung am Beispiel der Brechmittelvergabe im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, 2000, S. 39–41; Müller (Fn. 8), S. 546 f. 28 Vgl. statt vieler BGHSt 38, 302 (305). 29 BVerfGE 38, 105 (114 f.); 45, 187 (228); BVerfG, StV 1995, 505 f.; dazu Beulke (Fn. 2), § 23, Rn. 467; Müller (Fn. 8), S. 547. 30 Näher Beulke (Fn. 2), § 23, Rn. 467–469. 26

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Wegen der grundsätzlichen Bedeutung des nemo-tenetur-Prinzips zieht ein Verstoß der Strafverfolgungsorgane dagegen ein Beweisverwertungsverbot nach sich. 31 Dies ergibt sich im erstgenannten Falle des Einsatzes verbotener Vernehmungsmethoden ausdrücklich aus § 136a Abs. 3 S. 2 StPO. 32 In den beiden letztgenannten Fällen ist das Verwertungsverbot in Rechtsprechung und Lehre anerkannt, greift nach Ansicht der Rechtsprechung allerdings nur ein, wenn der verteidigte Beschuldigte der Beweisverwertung bis zu dem in § 257 StPO genannten Zeitpunkt widersprochen hat (so genannte Widerspruchslösung). 33 Auch in der Konvention ist das Recht zu schweigen und sich nicht selbst belasten zu müssen nicht ausdrücklich niedergelegt. Der EGMR hat jedoch – erstmals in seinem Urteil im Fall Funke im Jahre 1993 34 – ausdrücklich anerkannt, dass dieses Recht als international geachteter Standard zum Kernbereich eines fairen Verfahrens i. S. d. Art. 6 Abs. 1 EMRK gehört. 35 Das nemo-tenetur-Prinzip dient dazu, den Beschuldigten vor unangemessenem Zwang zu schützen und dadurch Fehlentscheidungen zu verhindern und die Ziele von Art. 6 EMRK zu verwirklichen. 36 Ratio des Verbots eines Zwangs zur Selbstbelastung ist dabei in erster Linie die Respektierung des freien Willens des Beschuldigten zu schweigen. 37 Es obliegt den Strafverfolgungsbehörden, den ___________ 31 BGHSt 38, 214 (219 f.) (zum Verstoß gegen die Belehrungspflicht), zustimmend Roxin, C., Nemo tenetur: die Rechtsprechung am Scheideweg, in: NStZ 1995, S. 467 f.; BVerfG, StV 1995, 505 f.; BGH, NStZ 2005, 520; Beulke (Fn. 2), § 23, Rn. 467–469 m. w. N.; Volk (Fn. 2), § 28, Rn. 21. In diesem Sinne, mit Blick auch auf die Rechtslage in Österreich, Müller (Fn. 8), S. 554 f. 32 Näher Beulke (Fn. 2), § 23, Rn. 467; Volk (Fn. 2), § 9, Rn. 18; § 28, Rn. 24. 33 BGHSt 38, 214, (225 f.) hinsichtlich der unterlassenen Belehrung über das Aussageverweigerungsrecht; hierzu Volk (Fn. 2), § 9, Rn. 11; BGHSt 38, 372 (373 f.); 47, 172 ff. hinsichtlich der verweigerten Verteidigerbefragung; zweifelnd diesbezüglich z. B. Volk (Fn. 2), § 9, Rn. 12; § 28, Rn. 22 m. w. N.; zum Ganzen Beulke (Fn. 2), § 23, Rn. 468 f. 34 EGMR, Nr. 10828/84, Funke gegen Frankreich, Urt. v. 25.02.1993, Serie A, Bd. 256-A, Z. 44; dazu Villiger, M. E., Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), 2. Aufl. 1999, § 21, Rn. 502; Müller (Fn. 8), S. 546. 35 So u. a. EGMR, Nr. 18731/91, John Murray gegen Vereinigtes Königreich, Urt. v. 08.02.1996, ECHR 1996-I, Z. 45; EGMR, Nr. 19187/91, Saunders gegen Vereinigtes Königreich [Große Kammer], Urt. v. 17.12.1996, ECHR 1996-VI, Z. 68; EGMR, Nr. 34720/97, Heaney und McGuinness gegen Irland, Urt. v. 21.12.2000, ECHR 2000-XII, Z. 40; EGMR, Nr. 38544/97, Weh gegen Österreich, Urt. v. 08.04.2004, Z. 39; dazu Grabenwarter, Ch., Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. 2005, § 24, Rn. 60, 119; Peters (Fn. 20), S. 131; Müller (Fn. 8), S. 547; Ovey / White (Fn. 18), S. 196. 36 EGMR, Nr. 19187/91, Saunders (Fn. 35), Z. 68; EGMR, Nr. 34720/97, Heaney und McGuinness (Fn. 35), Z. 40; EGMR, Nr. 48539/99, Allan (Fn. 21), Z. 44. 37 EGMR, Nr. 19187/91, Saunders (Fn. 35), Z. 69; EGMR, Nr. 48539/99, Allan (Fn. 21) Z. 44; EGMR, Nr. 38544/97, Weh (Fn. 35), Z. 40; vgl. Peters (Fn. 20), S. 131.

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Beschuldigten zu überführen, ohne auf Beweise zurückzugreifen, die durch Zwangs- oder Druckmittel entgegen dem Willen des Beschuldigten erlangt wurden. 38 Der Gerichtshof betont, dass der nemo-tenetur-Grundsatz auch beim Verdacht schwerster Straftaten wie Kapitalverbrechen oder terroristischen Taten Geltung beansprucht. 39 Wie oben gezeigt, trifft der Gerichtshof die Entscheidung über die Verwertbarkeit widerrechtlich erlangter Beweismittel – und damit auch der unter Verstoß gegen den nemo-tenetur-Grundsatz gewonnenen Beweise – in der Regel nicht abstrakt, sondern in einer Einzelfallprüfung unter Berücksichtigung der Gesamtumstände des Falles. 40 Anhand einzelner Fallgruppen soll deshalb im Folgenden, ausgehend von der Rechtsprechung des Gerichtshofs, die Verwertbarkeit von unter Verstoß gegen diesen Grundsatz erlangten Beweisen analysiert und der Rechtsprechung der deutschen Gerichte gegenübergestellt werden.

2. Ziehen nachteiliger Schlussfolgerungen aus dem Schweigen des Beschuldigten Eine Verletzung des nemo-tenetur-Grundsatzes und die Verwendbarkeit der dadurch gewonnenen Beweismittel steht zunächst infrage, wenn es den Strafgerichten gestattet ist, nachteilige Schlussfolgerungen aus der Tatsache zu ziehen, dass der Beschuldigte im Verfahren von seinem Recht zu schweigen Gebrauch gemacht hat.

a) Rechtsprechung des EGMR Der EGMR hat hierzu in seiner Leitentscheidung im Fall John Murray grundlegend Stellung bezogen. 41 Der Beschwerdeführer (Bf.), der in einem Haus verhaftet worden war, in dem zu diesem Zeitpunkt ein Informant von mutmaßlichen IRA-Mitgliedern festgehalten wurde, wurde wegen Beihilfe zur Freiheitsberaubung zu acht Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Er hatte während ___________ 38

EGMR, Nr. 19187/91, Saunders (Fn. 35), Z. 68; EGMR, Nr. 20225/92, Serves gegen Frankreich, Urt. v. 20.10.1997, ECHR 1997-VI, Z. 46; EGMR, Nr. 34720/97, Heaney und McGuinness (Fn. 35), Z. 40; EGMR, Nr. 31827/96, J. B. gegen Schweiz, Urt. v. 03.05.2001, ECHR 2001-III, Z. 64; siehe auch Villiger (Fn. 34), § 21, Rn. 502; Grabenwarter (Fn. 35), § 24, Rn. 119. 39 EGMR, Nr. 36887/97, Quinn gegen Irland, Urt. v. 21.12.2000, Z. 58 f.; EGMR, Nr. 34720/97, Heaney und McGuinness (Fn. 35), Z. 57 f.; dazu Ambos (Fn. 26), S. 633; Müller (Fn. 8), S. 551/552. 40 Ebenso Ovey / White (Fn. 18), S. 199 m. w. N.; siehe oben III. 2. 41 EGMR, Nr. 18731/91, John Murray (Fn. 35).

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des gesamten Ermittlungs- und Strafverfahrens keine Angaben zur Sache gemacht. Der erkennende Richter hatte deshalb, wie vom Criminal Evidence (Northern Ireland) Order 1988 autorisiert, ausdrücklich Schlüsse auf seine Täterschaft aus seinem Schweigen im Gerichtsverfahren und bei der polizeilichen Befragung zu den Gründen seiner Anwesenheit im fraglichen Haus gezogen. 42 Der Gerichtshof urteilte, dass das in Art. 6 EMRK garantierte Recht zu schweigen kein absolutes Recht sei. 43 Zwar dürfe eine Verurteilung nicht ausschließlich oder im Wesentlichen auf das Schweigen des Beschuldigten oder seine Weigerung, Fragen zu beantworten, gestützt werden. Allerdings sei nicht ausgeschlossen, dass das Schweigen des Beschuldigten in Situationen, die offensichtlich nach einer Erklärung von seiner Seite verlangen, bei der Beurteilung der Überzeugungskraft der gegen ihn vorliegenden Beweise mit einbezogen werde. 44 Ob das Ziehen nachteiliger Schlüsse aus dem Schweigen des Beschuldigten Art. 6 EMRK verletzt, sei nach den Gesamtumständen des Einzelfalls zu beurteilen, wobei insbesondere die Situationen, in denen Schlussfolgerungen gezogen werden können, das Gewicht, das ihnen die innerstaatlichen Gerichte im Rahmen der Beweiswürdigung zugemessen haben sowie der der Situation innewohnende Zwang eine Rolle spielten. 45 In diesem Zusammenhang sei auch das Vorhandensein von dem Schutz der Rechte des Beschuldigten dienenden Mechanismen erheblich, wie z. B. die Vornahme einer verständlichen Belehrung über das Recht und die möglichen Folgen zu schweigen, das Fehlen von Strafe wegen des Schweigens des Beschuldigten, die Anwesenheit seines Verteidigers bei der Vernehmung oder die Tatsache, dass ein erfahrener Strafrichter und nicht eine Jury über die Schuld des Angeklagten zu befinden hat. 46 Die Strafverfolgungsbehörden müssten allerdings prima facie zunächst den Beweis dafür erbracht haben, dass der Beschuldigte die jeweilige Straftat begangen hat. Der Schluss vom Schweigen des Beschuldigten auf dessen Schuld müsse die einzige nach dem gesunden Menschenverstand sinnvolle Folgerung ___________ 42

EGMR, Nr. 18731/91, John Murray (Fn. 35), Z. 11–26. EGMR, Nr. 18731/91, John Murray (Fn. 35), Z. 46 f.; ebenso EGMR, Nr. 35718/97, Condron gegen Vereinigtes Königreich, Urt. v. 02.05.2000, ECHR 2000-V, Z. 56; EGMR, Nr. 36408/97, Averill gegen Vereinigtes Königreich, Urt. v. 06.06.2000, ECHR 2000-VI, Z. 44. 44 EGMR, Nr. 18731/91, John Murray (Fn. 35), Z. 47; EGMR, Nr. 35718/97, Condron (Fn. 43), Z. 56; EGMR, Nr. 44652/98, Beckles gegen Vereinigtes Königreich, Urt. v. 08.10.2002, Z. 58; dazu Peters (Fn. 20), S. 132. 45 EGMR, Nr. 18731/91, John Murray (Fn. 35), Z. 47; EGMR, Nr. 35718/97, Condron (Fn. 43), Z. 56; EGMR, Nr. 44652/98, Beckles (Fn. 44), Z. 59; dazu Müller (Fn. 8), S. 550 f.; Ovey / White (Fn. 18), S. 198/199. 46 Vgl. EGMR, Nr. 35718/97, Condron (Fn. 43), Z. 59–62; EGMR, Nr. 36408/97, Averill (Fn. 43), Z. 48; EGMR, Nr. 44652/98, Beckles (Fn. 44), Z. 60. 43

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sein. 47 Der nemo-tenetur-Grundsatz sei hingegen verletzt, wenn durch die negativen Schlussfolgerungen aus dem Schweigen des Beschuldigten die Beweislast 48 unzulässig von der Staatsanwaltschaft auf die Verteidigung verschoben werde. 49 Im Fall John Murray sah der EGMR das Ziehen negativer Schlüsse aus dem Schweigen des Beschuldigten (und damit die Verwendung des Schweigens zum Beweis seiner Schuld) zu den Gründen seiner Anwesenheit im fraglichen Haus angesichts der gewichtigen gegen ihn vorliegenden Beweise letztlich nicht als unfair i. S. des Art. 6 § 1 EMRK an.50 Die Grenze zwischen Fällen, in denen zulässigerweise nachteilige Schlüsse aus dem Schweigen des Beschuldigten zum Nachweis seiner Schuld gezogen werden dürfen und solchen, in denen dies gegen den nemo-tenetur-Grundsatz verstößt, hat der EGMR insbesondere in mehreren gegen das Vereinigte Königreich eingelegten Beschwerden näher bestimmt. Im Fall Condron 51 hatten die Beschwerdeführer auf Anraten ihres Verteidigers, der sie wegen Drogenentzugserscheinungen für vernehmungsunfähig hielt, bei der polizeilichen Vernehmung – anders als in der späteren Hauptverhandlung – keine Angaben gemacht. Der Strafrichter wies die Jury dementsprechend an, dass es den Gerichten nach dem Criminal Justice and Public Order Act 1994 ausdrücklich erlaubt war, negative Schlussfolgerungen aus der Tatsache zu ziehen, dass ein Beschuldigter in einer früheren Vernehmung Tatsachen, die er später zu seiner Verteidigung vorbringt und die ihm bei der früheren Vernehmung schon bekannt gewesen sein mussten, nicht angegeben hat. Die Beschwerdeführer wurden wegen Heroinhandels verurteilt. 52 Der EGMR stellte in diesem Fall eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK fest. 53 Er befand, dass der Strafrichter die Jury aus Gründen der Fairness darauf hätte hinweisen müssen, dass sie nicht ___________ 47 EGMR, Nr. 18731/91, John Murray (Fn. 35), Z. 54; EGMR, Nr. 35718/97, Condron (Fn. 43), Z. 61; näher Ovey / White (Fn. 18), S. 201. 48 Eine gesetzliche Beweislastumkehr war schon Gegenstand des Falles Salabiaku (EGMR, Nr. 10519/83, Salabiaku gegen Frankreich, Urt. v. 07.10.1988, Serie A, Bd. 141-A). Dort stellte ein Zollgesetz für eine Zollstraftat die Vermutung auf, dass jemand, der bei der Einreise im Besitz unerlaubter Waren wie Drogen war, auch Kenntnis davon hatte. Im konkreten Fall wurde dennoch keine Verletzung von Art. 6 Abs. 2 EMRK (Unschuldsvermutung) festgestellt, da die Vermutung nicht unwiderleglich war und die Gerichte unabhängig davon einen „gewissen Vorsatz“ als gegeben annahmen (ibid., Z. 29 f.). Siehe hierzu Ovey / White (Fn. 18), S. 199 f. 49 EGMR, Nr. 18731/91, John Murray (Fn. 35), Z. 54. 50 EGMR, Nr. 18731/91, John Murray (Fn. 35), Z. 48-54. Nach den Minderheitsvoten der Richter Pettiti, Valticos, Walsh, Makarczyk und Lohmus verstoßen hingegen jegliche negative Schlussfolgerungen aus dem Schweigen des Beschuldigten gegen den nemo-tenetur-Grundsatz, so dass hier eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und 2 EMRK vorlag; zum Ganzen Villiger (Fn. 34), § 21, Rn. 502; Müller (Fn. 8), S. 550 f. 51 EGMR, Nr. 35718/97, Condron (Fn. 43). 52 EGMR, Nr. 35718/97, Condron (Fn. 43), Z. 9–29. 53 EGMR, Nr. 35718/97, Condron (Fn. 43), Z. 55–68.

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unter allen Umständen, sondern nur dann Schlüsse aus dem Schweigen der Beschuldigten bei der polizeilichen Vernehmung auf deren Schuld ziehen durfte, wenn sie überzeugt war, dass der einzige vernünftige Grund für das Schweigen der Beschuldigten war, dass sie keine Erklärung für die gegen sie erhobenen Vorwürfe hatten. 54 Demgegenüber hat der EGMR im Fall Averill das Ziehen negativer Schlussfolgerungen des Strafrichters aus dem Schweigen des Beschuldigten bei seiner polizeilichen Vernehmung zu seinem Aufenthaltsort zum Zeitpunkt eines Doppelmordes und zu der Herkunft von Faserspuren von den am Tatort gefundenen Maske und Handschuhen an seinen Kleidern mit Art. 6 Abs. 1 EMRK für vereinbar gehalten. 55 Dabei hob der Gerichtshof hervor, dass der Schluss vom Schweigen gegenüber der Polizei auf die Täterschaft des Beschuldigten, der in der Hauptverhandlung einen Alibibeweis antrat, nur eines von mehreren Elementen war, aufgrund derer das Gericht von seiner Schuld überzeugt war. 56 Das Ziehen nachteiliger Schlüsse aus dem Schweigen des Beschuldigten unterliegt nach Ansicht des Gerichtshofs den von ihm definierten Grenzen auch in den Strafverfahren derjenigen Konventionsstaaten, in denen die Gerichte – wie in Deutschland – ohne bestimmte Beweisregeln über das Ergebnis der Beweisaufnahme nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung entscheiden. 57 So stellte der EGMR im Fall Telfner eine Verletzung von Art. 6 EMRK fest. Die österreichischen Behörden hatten den Beschwerdeführer wegen fahrlässiger Körperverletzung bei einem Verkehrsunfall verurteilt, wobei lediglich bekannt war, dass er in der Nacht des Unfalls nicht zu Hause und nach Ansicht der Polizei der Hauptnutzer des vom Opfer ausschließlich identifizierten Autos war. 58 Bei dieser Beweislage war der Bf. dem EGMR zufolge nicht prima facie der Unfallverursacher. Die Gerichte hatten deshalb dadurch, dass sie bei der Verurteilung festgestellt hatten, dass der Bf., der die Tat ohne weitere Erläuterungen bestritten hatte, auch die Anklage durch einen Alibibeweis hätte widerlegen können, die Beweislast unzulässigerweise von den Verfolgungsbehörden auf ___________ 54

EGMR, Nr. 35718/97, Condron (Fn. 43), Z. 61 f. Vgl. dazu Ovey / White (Fn. 18), S. 199. Aus demselben Grund stellte der EGMR im Fall Beckles eine Verletzung von Art. 6 EMRK fest, (Nr. 44652/98, Beckles (Fn. 44), Z. 57 ff., insb. 62, 64). Demgegenüber hielt der EGMR im Fall Randall das der Jury eingeräumte Ermessen, nachteilige Schlussfolgerungen aus dem Schweigen des Beschuldigten gegenüber der Polizei zur Beschuldigung, seine Freundin ermordet zu haben, zu ziehen, für ausreichend begrenzt und mit Art. 6 EMRK vereinbar (EGMR, Nr. 44014/98, Randall gegen Vereinigtes Königreich, Beschl. v. 05.12.2000). 55 EGMR, Nr. 36408/97, Averill (Fn. 43), Z. 44–52. 56 EGMR, Nr. 36408/97, Averill (Fn. 43), Z. 51; dazu Peters (Fn. 20), S. 132. 57 EGMR, Nr. 33501/96, Telfner gegen Österreich, Urt. v. 20.03.2001, Z. 17. 58 EGMR, Nr. 33501/96, Telfner (Fn. 57), Z. 7-11.

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die Verteidigung verschoben. 59 Das Schweigen des Bf. durfte in diesem Fall deshalb nicht als Beweismittel für seine Schuld verwendet werden.

b) Rechtsprechung der deutschen Gerichte Demgegenüber darf nach der Rechtsprechung der deutschen Strafgerichte und des BVerfG das Schweigen als solches im Strafverfahren – wie z. B. im oben dargestellten Fall John Murray geschehen – jedenfalls dann nicht als belastendes Indiz für die Täterschaft verwendet werden, wenn der Beschuldigte die Einlassung zur Sache im Ermittlungsverfahren oder während der Hauptverhandlung vollständig verweigert hat. 60 Die freie richterliche Beweiswürdigung ist insoweit eingeschränkt. 61 Das aus der Menschenwürde des Beschuldigten hergeleitete Schweigerecht wäre illusorisch, müsste er befürchten, dass sein Schweigen später bei der Beweiswürdigung zu seinem Nachteil verwendet wird. 62 Eine Verwertung des Schweigens zum Schuldnachweis setzte den Beschuldigten mittelbar einem unzulässigen psychischen Aussagezwang aus. 63 So durften die Strafgerichte beispielsweise bei den Beschuldigten, in deren Auto bei einer Kontrolle am Grenzübergang Haschisch gefunden worden war und die sich nicht zur Sache eingelassen hatten, nicht als Indiz für ihre Täterschaft werten, dass sie weder eine Erklärung dazu abgegeben haben, wie die Betäubungsmittel in das Auto gelangt waren, noch behauptet hatten, mit dem Haschisch nichts zu tun zu haben. 64 Gleichermaßen stellte der Bundesgerichtshof (BGH) – ähnlich wie der EGMR im o.g. Fall Telfner – klar, dass die Haltereigenschaft des Betroffenen für sich allein auch bei einem Privatfahrzeug nicht als ausreichendes Beweisanzeichen dafür gewertet werden kann, dass er das Fahrzeug zur Tatzeit eines Verkehrsvergehens geführt hat. 65 Aus der Weigerung des Betroffenen, sich zur Sache einzulassen bzw. aus dem bloßen ___________ 59 EGMR, Nr. 33501/96, Telfner (Fn. 57), Z. 17-20; dazu Ovey / White (Fn. 18), S. 198, 201. 60 BVerfG, StV 1995, 505 f., Z. 32; BGHSt 32, 140 (144); 42, 139 (152), („Telefonfalle“); dazu Verrel, T., Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren. – Ein Beitrag zur Konturierung eines überdehnten Verfahrensgrundsatzes, 2001, S. 17; Müller (Fn. 8), S. 552 f., 556 f. m. w. N.; Volk (Fn. 2), § 28, Rn. 42. 61 Verrel (Fn. 60), S. 19 m. w. N. 62 BVerfG, StV 1995, 505 f.; BGHGSSt, BGHSt 42, 139 (152). Ähnlich die Minderheitsvoten der Richter Pettiti, Valticos, Walsh, Makarczyk und Lohmus im Fall John Murray, Nr. 18731/91, (Fn. 35). Siehe zum Ganzen Verrel (Fn. 60), S. 19, 21 f. 63 Vgl. BGHSt 20, 281 (283); BVerfG, StV 1995, 505 f.; Verrel (Fn. 60), S. 19, 21. 64 BVerfG, StV 1995, 505 f. 65 BGHSt 25, 365 (367 f.).

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Bestreiten der Tat dürfen in diesem Zusammenhang keine ihm nachteiligen Schlüsse gezogen werden. 66 Der Gebrauch des von der StPO vorausgesetzten umfassenden Schweigerechts seitens des Beschuldigten (vgl. §§ 136 Abs. 1 S. 2, 163a Abs. 3 S. 2, Abs. 4 S. 2, 243 Abs. 4 S. 1, 2 StPO) darf auch dann nicht als Schuldindiz gewertet werden, wenn der Beschuldigte in einer früheren Vernehmung geschwiegen und sich erst später zur Sache eingelassen hat. 67 Da die Aussagefreiheit nicht nur das Ob, sondern auch das Wann einer Äußerung umfasst, darf der Wechsel der Verteidigungsart als solcher nicht gewürdigt werden. 68 In diesen Fällen darf – anders als beispielsweise in den o.g. Fällen Averill und Randall – aus dem anfänglichen Schweigen im Rahmen der Beweiswürdigung kein Schluss zum Nachteil des Beschuldigten gezogen werden, da das Schweigerecht anderenfalls in nicht vertretbarer Weise beschränkt wäre. 69 Lediglich bei einer Teileinlassung des Beschuldigten – die über ein bloßes pauschales Bestreiten der Schuld hinausgehen muss – 70 darf auch nach der Rechtsprechung der deutschen Gerichte sein Schweigen zu einzelnen Fragen gegen ihn verwertet werden. 71 Durch seine grundsätzliche Einlassung macht sich der Beschuldigte freiwillig zum Beweismittel. Sein teilweises Schweigen ist sodann negativer Bestandteil seiner Aussage, die in ihrer Gesamtheit der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 261 StPO) unterliegt. 72 Ein Teilschweigen liegt jedoch dann nicht vor, wenn der Beschuldigte sich nur zu einer von mehreren selbstständigen prozessualen Taten einlässt, womit in diesen Fällen wiederum keine nachteiligen Schlüsse aus dem Schweigen gezogen werden dürfen. 73 Insgesamt sind damit nach der Rechtsprechung der deutschen Gerichte nachteilige Schlussfolgerungen aus dem Schweigen des Beschuldigten, d. h. die Verwertung seines Schweigens zum Schuldnachweis, in geringerem Umfang als nach den (Mindest-)Anforderungen der EMRK zulässig. 74 ___________ 66 67

S. 23.

BGHSt 25, 365 (368). BGHSt 20, 281 (282 f.); 34, 324 (325 f.); 38, 302 (305) m. w. N.; Verrel (Fn. 60),

68 Verrel (Fn. 60), S. 23/24, der darauf hinweist, dass im Falle des nachträglichen Schweigens hingegen der Inhalt der früheren Einlassung z. B. durch Vernehmung der Verhörsperson in die Hauptverhandlung eingeführt werden kann. 69 Dazu BGHSt 38, 302 (305). 70 BGHSt 38, 302 (307). Das schlichte Bestreiten steht insoweit dem vollständigen Schweigen gleich, vgl. Verrel (Fn. 60), S. 22 f. 71 BGHSt 20, 298 (300 f.); 32, 140 (145); 38, 302 (306/307) m. w. N. 72 BGHSt 20, 298 (300 f.); dazu Müller (Fn. 8), S. 553, Fn. 75 m. w. N.; a. A. Verrel (Fn. 60), S. 25–27, der von der Unteilbarkeit der Aussagefreiheit ausgeht. 73 BGHSt 32, 140 (145 f.); Verrel (Fn. 60), S. 23. 74 So auch Müller (Fn. 8), S. 557.

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3. Zwang zur Aussage Das Recht zu schweigen und sich nicht selbst zu belasten kann weiterhin durch verschiedene Formen von Zwang, gegenüber staatlichen Behörden eine Aussage zur Sache zu machen, verletzt werden und damit die Frage der Verwertbarkeit derart erlangter Beweismittel aufwerfen.

a) Rechtsprechung des EGMR Der EGMR hat hierzu im Leitfall Saunders grundlegend Stellung bezogen. 75 Der Bf., ein Direktor der Firma Guinness, hatte gegenüber von der Regierung eingesetzten Inspektoren zahlreiche Fragen im Zusammenhang mit Unregelmäßigkeiten bei der Übernahme einer anderen Firma beantwortet. Er war gesetzlich unter Androhung einer Geldstrafe bzw. Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren verpflichtet, auf die ihm gestellten Fragen zu antworten. Im anschließenden Strafverfahren, in dem er u. a. wegen falscher Buchführung zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde, wurden die Niederschriften seiner Angaben gegenüber den Inspektoren, die ein bedeutendes Beweismittel der Staatsanwaltschaft darstellten, verlesen, um seine in der Hauptverhandlung gemachte Aussage zu widerlegen. 76 Der Gerichtshof befand, dass die Verwertung der vor den Inspektoren gemachten Aussage des Bf. im späteren Strafverfahren sein Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, verletzt hat. Die Verwertung von durch Zwang in einer nichtrichterlichen Ermittlung erlangten Aussagen in einem Strafverfahren stelle eine signifikante Abweichung von einem der Grundprinzipien des fairen Verfahrens dar, die weder durch das öffentliche Interesse gerechtfertigt noch durch prozessuale Garantien im Strafverfahren ausgeglichen werden konnte. 77 Im Ergebnis nahm der EGMR folglich mit Blick auf die Gesamtumstände des Falles ein Beweisverwertungsverbot hinsichtlich der unter – nach innerstaatlichem Recht im Verfahren vor den Inspektoren legal ausgeübtem – Zwang erlangten Aussagen an. Die Effektivität des Schutzes vor Zwang zur Aussage in Bezug auf eine den Bf. vorgeworfene Straftat sicherte der Gerichtshof in einer weiteren Leitentscheidung im Fall Heaney und McGuinness ab. 78 Dort befand er, dass der ___________ 75 EGMR, Nr. 19187/91, Saunders gegen Vereinigtes Königreich (Fn. 35); vgl. dazu Müller (Fn. 8), S. 551 m. w. N. 76 EGMR, Nr. 19187/91, Saunders (Fn. 35), Z. 14–54. 77 EGMR, Nr. 19187/91, Saunders (Fn. 35), Z. 71–76. 78 EGMR, Nr. 34720/97, Heaney und McGuinness gegen Irland (Fn. 35); dazu Peters (Fn. 20), S. 132/133; Müller (Fn. 8), S. 551/552.

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nemo-tenetur-Grundsatz auch dann verletzt ist, wenn die Bf. strafrechtlich allein dafür belangt und zu sechs Monaten Freiheitsstrafe verurteilt wurden, dass sie den Strafverfolgungsbehörden keine Rechenschaft über ihren Aufenthaltsort und ihre Handlungen zum Zeitpunkt einer ihnen vorgeworfenen Straftat – im konkreten Fall der Beteiligung an einem Bombenanschlag der IRA auf einen Armeekontrollpunkt – abgegeben hatten. 79 Anders als in diesem Fall hat der EGMR im Fall Weh jedoch keine Verletzung des nemo-tenetur-Grundsatzes festgestellt. 80 Dem Bf. war dort eine Geldstrafe auferlegt worden, da er seiner im österreichischen Kraftfahrgesetz niedergelegten Pflicht als KfzHalter, den Fahrer seines Fahrzeugs zum Zeitpunkt einer Geschwindigkeitsüberschreitung offen zu legen, nur unzureichend nachgekommen war. 81 In einer vergleichbare Pflichten von Kfz-Haltern betreffenden Beschwerde (O’Halloran und Francis) hat die Große Kammer des Gerichtshofs diese Rechtsprechung im Ergebnis bestätigt. 82 Darüber hinaus hat der EGMR in zwei Entscheidungen (øçöz und Koç) in einem obiter dictum nunmehr klargestellt, dass in Fällen, in denen im Strafverfahren nachweislich Aussagen verwertet wurden, die von den Ermittlungsbehörden unter Einsatz von gegen Art. 3 EMRK verstoßende Zwangsmittel er___________ 79

EGMR, Nr. 34720/97, Heaney und McGuinness (Fn. 35), Z. 8–17, 24. EGMR, Nr. 38544/97, Weh gegen Österreich (Fn. 35). 81 EGMR, Nr. 38544/97, Weh (Fn. 35), Z. 10–27. Der Bf. wurde wegen der Geschwindigkeitsüberschreitung selbst anschließend nicht mehr strafrechtlich verfolgt. In einer Mehrheitsentscheidung von vier zu drei Stimmen befand der Gerichtshof, dass der Bf. noch nicht „strafrechtlich angeklagt“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK war, da die Ermittlungen wegen Geschwindigkeitsüberschreitung zu keinem Zeitpunkt gegen ihn geführt wurden, die Behörden ihn nicht der Tat verdächtigten und er lediglich als Fahrzeughalter verpflichtet gewesen sei, eine als solche nicht belastende Tatsache anzugeben, nämlich wer zur Tatzeit sein Fahrzeug gelenkt hatte (Z. 50–57). Nach den überzeugenden Ausführungen im abweichenden Votum war der Bf. durch das behördliche Auskunftsverlangen in seiner Rechtsposition bereits wesentlich beeinträchtigt, womit es bereits um eine „strafrechtliche Anklage“ im autonomen Sinne der Konvention ging. Da er mit der Pflicht, den Fahrzeuglenker zu offenbaren, ggf. gezwungen wurde anzugeben, dass er selbst gefahren sei und damit den Behörden ein wesentliches Beweiselement für die Täterschaft zur Verfügung stellen sollte, war die Beschränkung des Schweigerechts auch unverhältnismäßig und verstieß gegen Artikel 6 EMRK. Siehe zum Urteil mit treffenden Hinweisen auf die Praxis der Verfolgung von Verkehrsvergehen Gaede, K., Selbstbelastungsfreiheit im europäischen und deutschen Strafrecht, in: JR 2005, S. 426 ff. (insb. 427); Grabenwarter (Fn. 35), § 24, Rn. 119. 82 EGMR, Nr. 15809/02 und 25624/02, O’Halloran und Francis gegen Vereinigtes Königreich, [Große Kammer], Urt. v. 29.06.2007, ECHR 2007, Z. 53–63. Zwar ging der Gerichtshof (anders als im Fall Weh) davon aus, dass die zur Angabe des Fahrers zur Tatzeit aufgeforderten Kfz-Halter „strafrechtlich angeklagt“ i. S. v. Art. 6 Abs. 1 EMRK waren. Er entschied jedoch (mit 15:2 Stimmen) unter Anwendung der im Jalloh-Urteil (Fn. 24) entwickelten Kriterien, dass der Wesensgehalt der Selbstbelastungsfreiheit durch die fraglichen Auskunftspflichten (und damit Art. 6 Abs. 1 EMRK) nicht verletzt worden sei. 80

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langt wurden, Art. 6 EMRK unabhängig davon verletzt sein kann, ob die Verwertung dieser Beweise für die Verurteilung entscheidend war. 83 Dies deutet auf ein in dieser Konstellation automatisches Beweisverwertungsverbot unabhängig von den Gesamtumständen des Einzelfalles hin. 84

b) Rechtsprechung der deutschen Gerichte Der wichtigste Ausdruck des nemo-tenetur-Prinzips nach deutschem Rechtsverständnis, den so auch Art. 14 Abs. 3 lit. g des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 formuliert, ist, dass im Strafverfahren niemand gezwungen werden darf, sich selbst durch eine Aussage einer Straftat zu bezichtigen und dadurch zu seiner Überführung beizutragen. 85 Ein Zwang, durch eigene Aussagen die Voraussetzungen für eine strafgerichtliche Verurteilung liefern zu müssen, wäre unzumutbar und mit der Würde des Menschen unvereinbar. 86 Das Schweigerecht, dessen Schutz „alter und bewährter Rechtstradition“ entspricht, 87 beansprucht zumindest innerhalb des Strafverfahrens absolute Geltung. 88 Es wird durch die in § 136 Abs. 1 S. 2 StPO (ggf. i. V. m. § 163a Abs. 3, 4 StPO) normierte Pflicht der Strafverfolgungsbehörden, den Beschuldigten darauf hinzuweisen, dass er zur Aussage nicht verpflichtet ist, effektiv abgesichert. 89 Ein Verstoß gegen diese Hinweispflicht hat grundsätzlich ein Verwertungsverbot hinsichtlich der in der fraglichen Vernehmung gemachten Äußerungen zur Folge. 90 Dass durch verbotene Vernehmungsmethoden wie Misshandlungen, Quälerei oder Drohungen mit verfahrensrechtlich unzulässigen Maßnahmen erzwun___________ 83

EGMR, Nr. 54919/00, øçöz gegen Türkei, Beschl. v. 09.01.2003; EGMR, Nr. 32580/96, Koç gegen Türkei, Beschl. v. 23.09.2003. 84 Zur Problematik in einem obiter dictum bereits die Europäische Kommission für Menschenrechte (EKMR), Nr. 788/60, Österreich gegen Italien, Bericht v. 30.03.1963, Yearbook of the European Convention on Human Rights, Bd. 6 (1963), S. 740 ff. (784) („Pfunders-Fall“); Frowein / Peukert (Fn. 22), Art. 6, Rn. 99 (Fn. 440), Rn. 109. 85 BVerfGE 38, 105 (113); 56, 37 (43) („Gemeinschuldner-Beschluss“); BGHGSSt, BGHSt 42, 139 (152) („Telefonfalle“). 86 BVerfGE 56, 37 (43, 49); 34 (39, 46). 87 BVerfGE 56, 37 (49). 88 Bosch (Fn. 13), S. 277. Der Tatverdächtige wird außerdem, wenn er als Zeuge im Strafverfahren gegen einen Dritten berufen ist, durch ein Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO geschützt. 89 So statt vieler BVerfG, NStZ 2006, 46 (47). 90 Grundlegend BGHSt 38, 214 (220 ff.) (in Abkehr von der früheren, ein Beweisverwertungsverbot noch ablehnenden Rechtsprechung). Zur Problematik unter Berücksichtigung der Ausnahmefälle näher Bosch (Fn. 13), S. 320 ff.; Beulke (Fn. 2), § 23, Rn. 468; Volk (Fn. 2), § 9, Rn. 11.

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gene Aussagen nach deutschem Recht einem Beweisverwertungsverbot unterliegen, ergibt sich schon aus § 136a Abs. 3 S. 2 StPO. 91 Damit dürften insbesondere auch die in den o.g. Fällen øçöz und Koç problematisierten, von den Ermittlungsbehörden unter Einsatz von gegen Art. 3 EMRK verstoßende Zwangsmittel erlangten Angaben in einem Strafverfahren vor deutschen Gerichten nicht verwendet werden. In Bezug auf die Reichweite des Beweisverwertungsverbots im Fall einer unter Verstoß gegen § 136a StPO erzwungenen Aussage besteht Einigkeit darüber, dass eine im engeren Sinne mittelbare Verwertung der durch verbotene Vernehmungsmethoden erlangten Aussage etwa durch Vernehmung der Verhörsperson in der Hauptverhandlung unzulässig ist. 92 Weiterhin hat der Verstoß gegen § 136a StPO keine Fortwirkung: Wird der Beschuldigte erneut und prozessordnungsgemäß vernommen, ist die neue Aussage verwertbar. 93 Nach der – in der Lehre nicht selten kritisierten 94 – Rechtsprechung hat die Verletzung des § 136a StPO auch keine Fernwirkung: Nur die durch verbotene Methoden erlangte Aussage selbst ist unverwertbar. Wenn hingegen aufgrund der Aussage andere Beweismittel – wie beispielsweise das Versteck des Tatopfers, belastende Dokumente oder Spuren – gefunden werden konnten, dürfen diese verwendet werden. 95 Weiterhin lässt die StPO beim Beschuldigten (im Gegensatz zum nicht tatverdächtigen Zeugen) nicht zu, der Verweigerung einer Aussage im Rahmen des Strafverfahrens selbst durch mittelbaren Zwang, insbesondere durch die ___________ 91 Vgl. dazu BVerfGE 56, 37 (43); BVerfG, StV 1995, 505 f.; LG Frankfurt a. M., StV 2003, 325 ff., Pkt. VII., XI. (Gäfgen); BVerfG, NJW 2005, 656 f. (657) (Gäfgen); eine Beschwerde des Verurteilten ist derzeit vor dem EGMR anhängig (Nr. 22978/05); zur Problematik statt vieler Beulke (Fn. 2), § 8, S. 80, § 23, Rn. 467; Volk (Fn. 2), § 9, Rn. 14; Verrel (Fn. 60), S. 13. Siehe zum Verbot, im Vereinigten Königreich im Strafverfahren Aussagen zu verwerten, die von Behörden dritter Staaten möglicherweise unter Einsatz von Folter erlangt wurden, House of Lords, A (FC) und andere (FC) gegen Secretary of State for the Home Department, Urt. v. 08.12.2005, [2005] UKHL 71. 92 Volk (Fn. 2), § 9, Rn. 25. 93 Vielfach wird für eine prozessordnungsgemäße erneute Vernehmung eine vorherige so genannte qualifizierte Belehrung verlangt, in welcher der Beschuldigte ausdrücklich darauf hinzuweisen ist, dass seine bisherigen Angaben unverwertbar sind, so z. B. LG Frankfurt a. M., StV 2003, 325 ff., Pkt. VII. (Gäfgen); Beulke (Fn. 2), § 8, S. 86, § 23, Rn. 483; Volk (Fn. 2), § 9, Rn. 26. 94 Siehe statt vieler Beulke (Fn. 2), § 23, Rn. 482 m. w. N.; Volk (Fn. 2), § 28, Rn. 43 m. w. N. 95 BGHSt 27, 355 (358); 32, 68 (71); 34, 362 (364); hierzu und zur entgegengesetzten amerikanischen „fruit of the poisonous tree doctrine“, der zufolge die genannten anderen Beweismittel grundsätzlich unverwertbar sind, zumindest wenn sie nicht auf legalem Wege hätten erlangt werden können („hypothetical clean path doctine“) Volk (Fn. 2), § 9, Rn. 27 f., § 28, Rn. 43; Beulke (Fn. 2), § 8, S. 86 f., § 23, Rn. 482 f.

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Auferlegung von Sanktionen wie Ordnungsgeld oder Beugehaft zu begegnen. 96 Dies spiegelt die traditionelle Auslegung des nemo-tenetur-Prinzips wider, wonach der Beschuldigte nicht gezwungen werden kann, an seiner eigenen Überführung aktiv mitzuwirken. 97 Eine Sanktionierung der Aussageverweigerung wäre demnach sowohl in der dem Fall Heaney und McGuinness als auch in der den Fällen Weh 98 sowie O’Halloran und Francis zugrunde liegenden Konstellation – in letzteren beiden Fall anders als nach den Urteilen des EGMR – mit der Selbstbelastungsfreiheit unvereinbar. Schließlich hatten sich die deutschen Gerichte, wie der EGMR im Fall Saunders, schon frühzeitig mit der Problematik rechtlich vorgeschriebener Auskunftspflichten außerhalb des Strafverfahrens und der Verwendung von auf dieser Grundlage erzwungener selbstbelastender Aussagen im Strafprozess zu befassen. Durch solche Erklärungspflichten kann die Auskunftsperson in die Konfliktsituation geraten, sich entweder selbst einer strafbaren Handlung zu bezichtigen oder durch eine Falschaussage ggf. ein neues Delikt zu begehen oder aber wegen ihres Schweigens Zwangsmitteln ausgesetzt zu werden. 99 Vor diesem Hintergrund urteilte das BVerfG, dass das Schweigerecht des Beschuldigten im Strafverfahren illusorisch wäre, wenn eine außerhalb des Strafverfahrens erzwungene Selbstbezichtigung gegen seinen Willen strafrechtlich gegen ihn verwertet werden dürfte. 100 So ist es beispielsweise zwar mit der Selbstbelastungsfreiheit vereinbar, den Schuldner nach den Vorschriften der (damaligen) Konkursordnung uneingeschränkt zur Aussage zu verpflichten und diesen dazu durch die Anordnung von Beugemitteln (insbesondere Haft) anzuhalten. Offenbart der Schuldner aber in Erfüllung seiner Auskunftspflicht strafbare Handlungen, darf seine Aussage nicht gegen seinen Willen in einem Strafverfahren gegen ihn verwertet werden. 101 Einer entsprechenden Auskunftspflicht des Schuldners im Insolvenzverfahren, die ausdrücklich auch Tatsachen umfasst, die geeignet sind, eine Strafverfolgung herbeizuführen, steht in § 97 Abs. 1 der Insolvenzordnung nunmehr ausdrücklich ein Verbot der Verwertung der so erlangten Aussagen in einem Strafverfahren ohne Zustimmung des Beschuldigten zur Seite. Im steuerrechtlichen Verfahren trägt die Abgabenordnung (AO) dem nemotenetur-Grundsatz dadurch Rechnung, dass in § 393 Abs. 1 AO schon der Ein___________ 96

Dazu Verrel (Fn. 60), S. 14. Verrel (Fn. 60), S. 14 f.; siehe dazu noch näher unten IV.4. 98 Vgl. zu diesem Fall Gaede (Fn. 81), S. 429, mit dem Hinweis, dass in Deutschland im Straßenverkehrsrecht keine Auskunftspflichten existieren. 99 BVerfGE 56, 37 (41/42). 100 BVerfGE 56, 37 (50/51); BGHSt 38, 214 (221). 101 BVerfGE 56, 37 (41, 48 ff.) (so genannte „Gemeinschuldner-Entscheidung“); dazu Müller (Fn. 8), S. 552 m. w. N. 97

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satz von Zwangsmitteln untersagt ist, soweit der Steuerpflichtige in Erfüllung seiner steuerlichen Erklärungspflichten Steuerstraftaten offenbaren müsste. 102 Daneben führt das Verbot des Selbstbelastungszwangs dazu, dass in Erfüllung erzwingbarer steuerrechtlicher Offenbarungspflichten (insbesondere für die der fraglichen Steuerstraftaten nachfolgenden Zeiträume) gemachte Angaben, die zu einer mittelbaren Selbstbelastung in Bezug auf zurückliegende Steuerstraftaten führen können, in einem Strafverfahren gegen den Beschuldigten nicht verwendet werden dürfen. 103 Zusammenfassend schützt das deutsche Strafprozess- und Verfassungsrecht den Beschuldigten auch in Fällen des Zwangs zur Aussage vor der Verwertung der dadurch erlangten Beweise etwas weitergehend als die (Mindest-)Standards der Konvention.

4. Zwang zur Herausgabe gegenständlicher Beweismittel Die unterschiedliche Bestimmung der Reichweite des nemo-tenetur-Grundsatzes durch die deutschen Gerichte und den EGMR wird besonders bei der Behandlung von Fällen des Zwangs zur Herausgabe gegenständlicher Beweismittel deutlich, was wiederum Einfluss auf die Beurteilung der Verwertbarkeit derart erlangter Beweismittel hat.

a) Rechtsprechung des EGMR Zur Anwendbarkeit des nemo-tenetur-Prinzips auf diese Fallkonstellation führt der EGMR – unter Hinweis auf die allgemeine Auslegung dieses Prinzips insbesondere in den Vertragsstaaten der EMRK – in ständiger Rechtsprechung aus, dass die Selbstbelastungsfreiheit in erster Linie („primarily“) den Willen des Beschuldigten, zu schweigen und keine Aussage gegenüber staatlichen Behörden zu machen, schützt. 104 Bereits in seinem ersten Urteil zum nemo-tenetur-Grundsatz im Fall Funke 105 hat der Gerichtshof dieses Prinzip allerdings über ein bloßes Schweigerecht hinausgehend auch auf behördlichen Zwang zur Herausgabe gegen___________ 102

BVerfGE 56, 37 (47); BGH, NStZ 2005, 519 f.; dazu Jäger, M., Aus der Rechtsprechung des BGH zum Steuerstrafrecht – 2004/2005 –, in: NStZ 2005, S. 552 ff. (insb. 556 f.). 103 BGH, NStZ 2005, 519 f.; näher Jäger (Fn. 102), S. 557. 104 So beispielsweise EGMR, Nr. 19187/91, Saunders gegen Vereinigtes Königreich [Große Kammer] (Fn. 35), Z. 69; Nr. 54810/00, Jalloh gegen Deutschland [Große Kammer] (Fn. 24), Z. 102, 110. 105 EGMR, Nr. 10828/84, Funke gegen Frankreich (Fn. 34).

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ständlicher Beweismittel anwendbar interpretiert. 106 Er befand, dass die gerichtliche Auferlegung von Zwangs- und Beugestrafen gegen den Bf. wegen seiner Weigerung, an die Zollbehörden von diesen geforderte Dokumente über angebliches Auslandsvermögen herauszugeben, eine Verletzung des Rechts zu schweigen und sich nicht selbst zu belasten darstelle, da die Zollbehörden den Bf. dadurch zu zwingen suchten, (gegenständliche) Beweismittel für ihm vorgeworfene Straftaten zur Verfügung zu stellen. 107 Dementsprechend hat der Gerichtshof auch im Fall J. B. den Versuch der Steuerbehörden, den Bf. durch Auferlegung von Geldbußen zur Vorlage von Dokumenten zu zwingen, die möglicherweise dem Nachweis einer Steuerhinterziehung dienen konnten, als Verstoß gegen die Selbstbelastungsfreiheit angesehen. 108 Zur Anwendbarkeit des nemo-tenetur-Grundsatzes und der Verwertbarkeit von unter Verstoß gegen denselben erlangten gegenständlichen Beweismitteln hat der Gerichtshof kürzlich auch in einer gegen Deutschland eingelegten Beschwerde des Bf. Jalloh grundlegend Stellung bezogen. 109 Der EGMR hatte hier über den Fall eines – in Deutschland seit der Einführung durch einzelne Bundesländer höchst kontrovers diskutierten 110 – Brechmitteleinsatzes an einem mutmaßlichen Straßen-Drogendealer zu entscheiden, der verdächtig war, im Mund versteckte Drogenpäckchen bei seiner Festnahme geschluckt zu haben. Der Gerichtshof beurteilte die unter Einsatz von physischem Zwang mittels einer Nasen-Magen-Sonde sowie einer Injektion erfolgte Verabreichung von Brechmitteln zum Zwecke der Sicherstellung des verschluckten Kokainpäckchens als Beweismittel in einer Mehrheitsentscheidung als eine gegen Art. 3 EMRK verstoßende unmenschliche und erniedrigende Behandlung. 111 In der Verwertung des damit unter Verstoß gegen eines der grundlegenden Konventionsrechte erlangten Beweismittels im Strafverfahren gegen den Bf. sah der Ge___________ 106

Vgl. Grabenwarter (Fn. 35), § 24, Rn. 119 m. w. N. EGMR, Nr. 10828/84, Funke (Fn. 34), Z. 8–25, 44; dazu Müller (Fn. 8), S. 550. 108 EGMR, Nr. 31827/96, J.B. gegen Schweiz (Fn. 38), Z. 63–71; dazu Ambos (Fn. 26), S. 632 f.; Peters (Fn. 20), S. 133; Ovey / White (Fn. 18), S. 196 f. 109 EGMR, Nr. 54810/00, Jalloh (Fn. 24); eine deutsche auszugsweise Übersetzung des Urteils findet sich in StV 2006, 617–624. Das Urteil rezensieren Gaede (Fn. 26), S. 241 ff., sowie Schumann, K. H., „Brechmitteleinsatz ist Folter?“ – Die Rechtsprechung des EGMR zum Brechmitteleinsatz im Strafverfahren, in: StV 2006, S. 661 ff. 110 Siehe statt vieler Dallmeyer, J., Verletzt der zwangsweise Brechmitteleinsatz gegen Beschuldigte deren Persönlichkeitsrechte?, in: StV 1997, S. 606 ff.; ders., Die Integrität des Beschuldigten im reformierten Strafprozess. – Zur zwangsweisen Verabreichung von Brechmitteln bei mutmaßlichen Drogendealern, in: KritV 2000, S. 252 ff.; Rogall, K., Die Vergabe von Vomitivmitteln als strafprozessuale Zwangsmaßnahme, in: NStZ 1998, S. 66 ff.; Vetter (Fn. 27), S. 1 ff. (insb. 38 ff.); Meyer-Goßner, L., Strafprozessordnung, 46. Aufl. 2003, § 81a, Rn. 22 m. w. N.; Beulke (Fn. 2), § 12, Rn. 241. 111 EGMR, Nr. 54810/00, Jalloh (Fn. 24), Z. 75–83; dazu Gaede (Fn. 26), S. 242 f. 107

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richtshof einen Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren nach Art. 6 Abs. 1 EMRK. 112 Er merkte hierzu obiter unter Hinweis auf Art. 15 der UNAntifolterkonvention (1984) an, dass bzgl. durch (im Fall nicht festgestellte) Folter erlangter Geständnisse oder gegenständlicher Beweismittel zwingend ein Beweisverwertungsverbot eintrete. Hingegen ließ er offen, ob diese zwingende Folge auch für durch eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung erlangte Beweismittel gelte, da die Verwertung des Drogenpäckchens nach den Gesamtumständen des vorliegenden Falles jedenfalls das Verfahren unfair machte. 113 In einem obiter dictum stellte der Gerichtshof daneben fest, dass die Verwertung des durch den Brechmitteleinsatz erlangten Drogenpäckchens im späteren Strafverfahren außerdem das Recht des Bf., sich nicht selbst belasten zu müssen, verletzt hat und der Grundsatz des fair trial auch unter diesem Gesichtspunkt missachtet wurde. 114 Bei der Begründung der Anwendbarkeit des nemo-tenetur-Prinzips grenzte der Gerichtshof – wie auch schon im Fall J.B. 115 – die Erlangung von Beweismitteln durch einen zwangsweisen Brechmitteleinsatz insbesondere von einem in der Folgezeit häufig aufgegriffenen obiter dictum im Fall Saunders 116 ab. Letzterem zufolge erstreckt sich die Selbstbelastungsfreiheit nach dem gemeinsamen Rechtsverständnis der Konventionsstaaten nicht auf die Verwertung von Beweismaterial, das vom Beschuldigten durch Zwangsmittel erlangt werden kann, aber eine von seinem Willen unabhängige Existenz hat, wie z. B. aufgrund eines Durchsuchungsbefehls erlangte Dokumente, Atem-, Blut-, Urin-, Haar-, Stimm- oder Körpergewebeproben, im späteren Strafverfahren. 117 Dem ___________ 112

EGMR, Nr. 54810/00, Jalloh (Fn. 24), Z. 103–108; hierzu Gaede (Fn. 26), S. 243 f. 113 EGMR, Nr. 54810/00, Jalloh (Fn. 24), Z. 105–108; zustimmend zu dieser Nichtannahme eines automatischen Beweisverwertungsverbots unter Hinweis auf das Subsidiaritätsprinzip die Richter Ress, Pellonpää, Baka und Šikuta in ihrem ablehnenden Sondervotum zum Jalloh-Urteil (Fn. 24). Für ein automatisches Beweisverwertungsverbot auch in diesen Fällen plädieren hingegen die Richter Sir Bratza und Zupanþiþ in ihren jeweils zustimmenden Sondervoten zum Jalloh-Urteil (Fn. 24) sowie Gaede (Fn. 26), S. 244, 248. 114 EGMR, Nr. 54810/00, Jalloh (Fn. 24), Z. 109–123; näher Gaede (Fn. 26), S. 244 f. 115 EGMR, Nr. 31827/96, J.B. gegen Schweiz (Fn. 38), Z. 68. 116 Die Beschwerde Saunders selbst betraf die Verwertung von durch Zwang erlangter Aussagen im Strafverfahren, siehe oben D.III. sowie EGMR, Nr. 19187/91, Saunders (Fn. 35), Z. 67–69. 117 EGMR, Nr. 19187/91, Saunders (Fn. 35), Z. 69, sowie daran anschließend EGMR, Nr. 40084/98, Choudhary gegen Vereinigtes Königreich, Beschl. v. 04.05.1999; EGMR, Nr. 34720/97, Heaney und McGuinness gegen Irland (Fn. 35), Z. 40 (obiter dictum); EGMR, Nr. 44787/98, P.G. und J.H. gegen Vereinigtes Königreich (Fn. 22), Z. 80; kritisch zu einer derartigen Einschränkung des nemo-tenetur-Grundsatzes äußer-

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EGMR zufolge seien die durch einen zwangsweisen Brechmitteleinsatz aus dem Körperinneren erlangten Beweismittel von dem im Fall Saunders beispielhaft aufgelisteten Beweismaterial insbesondere deshalb zu unterscheiden, weil die Drogenpäckchen nur unter Einsatz erheblicher körperlicher Gewalt und Hervorrufen einer krankhaften Körperreaktion bei Verstoß gegen ein anderes Konventionsrecht (Art. 3 EMRK) erlangt werden konnten. 118 Demgegenüber können die Ermittlungsbehörden Blut-, Haar- oder Körpergewebeproben durch einen vergleichsweise geringen passiv zu duldenden Eingriff in die körperliche Integrität und Atem-, Urin- oder Stimmproben durch Zwang zur aktiven Betätigung der normalen Körperfunktionen des Beschuldigten und damit i. d. R. ohne Verstoß gegen Art. 3 oder 8 EMRK gewinnen. 119 In der Sache stellte der Gerichtshof unter Rückgriff auf die in seiner Rechtsprechung entwickelten Abwägungskriterien 120 insbesondere angesichts der Tatsache, dass das unter Verletzung von Art. 3 EMRK erlangte Drogenpäckchen das maßgebliche Beweismittel für den Nachweis des Drogenhandels gegen den Bf. war, fest, dass die Verwertung dieses Beweismaterials im Strafprozess gegen den nemo-tenetur-Grundsatz verstieß. 121 De facto nahm der Gerichtshof demnach ein Beweisverwertungsverbot für dieses durch Zwang zur Herausgabe gegenständlicher Beweismittel erlangte Material an.

b) Rechtsprechung der deutschen Gerichte Auch nach deutschem Rechtsverständnis ist die Kernaussage des nemo-tenetur-Prinzips, dass niemand gezwungen werden darf, sich im Strafverfahren selbst durch eine Aussage zu belasten und dadurch zu seiner Überführung bei___________ ten sich die Richter Martens und Knjris in ihrem ablehnenden Sondervotum zum Fall Saunders (Fn. 35), Z. 4, 12 des Votums; zur Problematik Müller (Fn. 8), S. 551, 557; Grabenwarter (Fn. 35), § 24, Rn. 119; Ovey / White (Fn. 18), S. 197/198. 118 EGMR, Nr. 54810/00, Jalloh (Fn. 24), Z. 114 f. 119 EGMR, Nr. 54810/00, Jalloh (Fn. 24), Z. 114 f.; näher Gaede (Fn. 26), S. 244 f. Kritisch zu dieser Abgrenzung die Richter Ress, Pellonpää, Baka und Šikuta in ihrem ablehnenden Sondervotum zum Jalloh-Urteil (Fn. 24) und sich dem anschließend die Richter Wildhaber und Caflisch in ihrem ablehnenden Sondervotum (ibid., Z. 15 des Votums). 120 Maßgeblich für die Prüfung der Unzulässigkeit des Zwangs und damit der Verletzung des Wesensgehalts des nemo-tenetur-Grundsatzes sind in Anschluss an die Rechtsprechung insbesondere im Fall Allan gegen Vereinigtes Königreich (Fn. 21, Z. 44) die Art und das Ausmaß des eingesetzten Zwangs, das Gewicht des öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung, das Vorliegen verfahrensrechtlicher Schutzmechanismen sowie die Art der Verwendung des Beweismaterials im Prozess, vgl. EGMR, Nr. 54810/00, Jalloh (Fn. 24), Z. 101, 117. 121 EGMR, Nr. 54810/00, Jalloh (Fn. 24), Z. 117–123; dazu Gaede (Fn. 26), S. 245.

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zutragen. 122 Über dieses Verbot zum Selbstbezichtigungszwang im engeren Sinne hinaus folgt aus dem nemo-tenetur-Grundsatz aber ebenfalls die Freiheit des Beschuldigten, selbst darüber zu befinden, ob er an der Aufklärung des Sachverhalts in anderer Weise als durch Äußerungen zum Untersuchungsgegenstand aktiv mitwirken will oder nicht. 123 Diese Mitwirkungsfreiheit des Beschuldigten ist jedoch nicht umfassend. Er ist nach der Strafprozessordnung vielfach Zwangsmaßnahmen und Pflichten unterworfen, die seiner Überführung dienen und kann nicht umfassend über seine Stellung als Beweismittel verfügen. 124 So muss er beispielsweise nach § 81a StPO die Entnahme von Blutproben und andere körperliche Eingriffe zu Untersuchungszwecken oder nach § 81b StPO die Aufnahme von Lichtbildern und Fingerabdrücken dulden. Zur Grenzziehung des Anwendungsbereichs des nemo-tenetur-Grundsatzes im Rahmen dieser Mitwirkungsfreiheit differenzieren deutsche herrschende Lehre und Rechtsprechung traditionell nach der Handlungsqualität des erzwungenen Verhaltens. Danach verletzt Zwang zur aktiven Mitwirkung an der Beweiserhebung die Selbstbelastungsfreiheit, während Erzwingung von Passivität zur Duldung solcher Beweiserhebungen (wie z. B. der soeben genannten) zulässig ist. 125 Entscheidend ist, ob sich die Beweisgewinnung als ein (erzwungenes) „Geben“ des Beschuldigten oder ein von seiner subjektiven Willensentschließung unabhängiges „Nehmen“ der Strafverfolgungsbehörden darstellt, ohne dass es darauf ankommt, ob die Beweise unter Inanspruchnahme des Beschuldigten erlangt werden. 126 Die Selbstbelastungsfreiheit garantiert dem Beschuldigten demzufolge ein umfassendes Recht zur Passivität. 127 Nach deutschem Strafprozessrecht wäre die in den oben dargestellten Fällen Funke und J.B. seitens der Behörden bzw. Gerichte durch die Auferlegung von Geldbußen erfolgte Nötigung des Betroffenen, Dokumente vorzulegen, die dem Nachweis einer Straftat, insbesondere einer Steuerhinterziehung dienen konnten, demnach als „erzwungenes Geben“ seitens des Betroffenen und damit ___________ 122

BVerfGE 38, 105 (113); 56, 37 (43) („Gemeinschuldner-Entscheidung“); BGHGSSt, BGHSt 42, 139 (152) („Telefonfalle“). 123 BGHSt 34, 39 (46) („Schleyer-Entführungsfall“); 40, 66 (71); BGHGSSt, BGHSt 42, 139 (152); Roxin (Fn. 31), S. 466; Meyer-Goßner (Fn. 110), Einl., Rn. 29a m. w. N. 124 Näher Bosch (Fn. 13), S. 277. 125 BVerfGE 56, 37 (42/43); BGHSt 34, 39 (45/46); 40, 66 (71/72); OLG Frankfurt a. M., NJW 1997, 1648; näher Bosch (Fn. 13), S. 277–280 mit zahlreichen Nachweisen; Dallmeyer (Fn. 110), in: StV 1997, S. 608 m. w. N.; ders. (Fn. 110), in: KritV 2000, S. 265 f.; Vetter (Fn. 27), S. 38 f.; zur Problematik auch Müller (Fn. 8), S. 555. 126 Vgl. OLG Frankfurt a.M., NJW 1997, 1648; Bosch (Fn. 13), S. 278. 127 So z. B. OLG Frankfurt a. M., NJW 1997, 1648; zum Ganzen Bosch (Fn. 13), S. 278.

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i. E. wie nach der EMRK als gegen die Selbstbelastungsfreiheit verstoßender Zwang zur aktiven Mitwirkung an der Beweiserhebung zu qualifizieren. Eine differenzierte Betrachtung ergibt sich nach dem deutschen traditionellen Verständnis des nemo-tenetur-Grundsatzes hingegen für das im SaundersUrteil und den Folgeentscheidungen aufgelistete, vom Beschuldigten ggf. durch Zwangsmittel gewonnene Beweismaterial, das eine „von seinem Willen unabhängige Existenz“ hat. Nach der EMRK verstößt die Erlangung von Dokumenten aufgrund eines Durchsuchungsbefehls sowie von Atem-, Blut-, Urin-, Haar-, Stimm- oder Körpergewebeproben durch Zwang und deren Verwertung im Strafverfahren nicht gegen die Selbstbelastungsfreiheit. 128 Auch nach der in Deutschland vorherrschenden Interpretation stellt sich die Beschlagnahme von Dokumenten aufgrund eines Durchsuchungsbefehls (vgl. §§ 102, 94 StPO) sowie die ggf. unter Zwang erfolgte Entnahme von Blutproben (z. B. zur Feststellung des Blutalkoholgehalts), sowie von Haar- und Körpergewebeproben (vgl. § 81a StPO) 129 als von der Willensentschließung des Beschuldigten unabhängiges „Nehmen“ der Strafverfolgungsbehörden dar, das mit dem nemo-tenetur-Prinzip vereinbar ist. Demgegenüber darf der Beschuldigte nach deutschem Strafprozessrecht zur Abgabe einer Atemprobe 130 (insbesondere im Rahmen eines Alkoholtests) ebenso wenig wie zur Stellung einer Stimmprobe 131 gezwungen werden. Da dies ein vom seinem Willen abhängiges, aktives „Geben“ des Beschuldigten erfordert, ist ein Mitwirkungszwang mit dem die Passivität des Beschuldigten schützenden nemo-tenetur-Grundsatz unvereinbar. 132 Schließlich sahen die Mehrheit der deutschen Strafgerichte und das Bundesverfassungsgericht die Verwertung der durch eine zwangsweise Brechmittelvergabe bei einem Straßendealer sichergestellten Drogenpäckchen im Strafprozess im Gegensatz zum EGMR nicht als Verstoß gegen den nemo-teneturGrundsatz an. Das BVerfG merkte dazu in seinem dem Jalloh-Urteil des EGMR vorausgegangenen Beschluss in einem obiter dictum an, dass der Brechmitteleinsatz im Hinblick auf den in Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG enthaltenen Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit grundsätzlichen verfas___________ 128

EGMR, Nr. 19187/91, Saunders (Fn. 35), Z. 69, dazu soeben IV.4.a). Dazu Rogall, in: Systematischer Kommentar zur Strafprozessordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz (SK-StPO), 2005, § 81a, Rn. 35 f. Ob die zwangsweise Entnahme von Urin mittels eines Katheders verhältnismäßig und damit nach § 81a StPO zulässig ist, ist umstritten, vgl. dazu Rogall, a.a.O., Rn. 44 m. w. N. 130 Bosch (Fn. 13), S. 286 unter Hinweis auf BGH VRS 39, 185, BayObLGSt 63, 16, und OLG Schleswig VRS 30, 344; Verrel (Fn. 60), S. 224 ff. 131 BGHSt 34, 39 (45 f.) („Schleyer-Entführungsfall“); 40, 66 (71 f.); Roxin (Fn. 31), S. 466. 132 Vgl. Bosch (Fn. 13), S. 286 f.; Verrel (Fn. 60), S. 224 ff. 129

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sungsrechtlichen Bedenken nicht begegne. 133 Begründet wird dies durch die Strafgerichte – mit Zustimmung mehrerer Vertreter der Lehre – 134 unter Rückgriff auf die traditionelle Auslegung des nemo-tenetur-Grundsatzes damit, dass das Recht des Beschuldigten auf Passivität nicht dadurch berührt wird, dass er einen Eingriff zu erdulden hat, der lediglich unwillkürliche Körperreaktionen auslöst. 135 Nach dieser Auffassung durften dementsprechend die durch den Brechmitteleinsatz gewonnenen Drogenpäckchen im Strafverfahren als Beweismittel verwertet werden. 136 Jedoch hatte das OLG Frankfurt a. M. – unter Zustimmung mehrerer Vertreter der Lehre 137 – in einer vielbeachteten Entscheidung die Vergabe von Brechmitteln als Verletzung der Selbstbelastungsfreiheit betrachtet und folgerichtig ein Verwertungsverbot für die dadurch erlangten Drogenpäckchen angenommen. 138 Der Beschuldigte sei nicht Objekt des Strafverfahrens und sei lediglich duldungspflichtig, nicht aber verpflichtet, bei einer Untersuchungshandlung aktiv mitzuwirken. 139 Die zwangsweise Verabreichung eines Brechmittels verstoße gegen diesen Grundsatz der Passivität. Sie solle den Beschuldigten zwingen, aktiv etwas zu tun, wozu er nicht bereit ist, nämlich sich zu erbrechen. 140 Die Anwendung des nemo-tenetur-Prinzips nach traditionellem Verständnis führte hier demnach zu einem der herrschenden Rechtsprechung entgegengesetzten Ergebnis. 141 Die Gegenüberstellung der Rechtsprechung des EGMR und der Spruchpraxis der deutschen Gerichte offenbart im Bereich des Zwangs zur Herausgabe ___________ 133

BVerfG, StV 2000, 1, mit Anmerkung von Naucke, W., in: StV 2000, S. 1 ff. So insbesondere Rogall (Fn. 110), S. 67/68, der die Sichtweise, dass die Brechmittelvergabe gegen den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit verstößt, als „in jeder Hinsicht verfehlt“ bezeichnet, s. a. ders., SK-StPO, § 81a StPO, Rn. 48. I. E. ebenso Vetter (Fn. 27), S. 42 ff., insb. 63 f., der allerdings den zwangsweisen Brechmitteleinsatz als nicht den Regeln der ärztlichen Kunst entsprechend und als gesundheitsgefährdend für mit § 81a StPO unvereinbar hält (a.a.O., S. 75/76, 79–82). 135 So z. B. KG Berlin, JR 2001, S. 162 f. m. w. N.; vgl. zur Problematik auch Verrel (Fn. 60), S. 15. 136 Vgl. KG Berlin, JR 2001, S. 162–164, sowie die dem Jalloh-Urteil vorausgegangenen Entscheidungen der Strafgerichte, vgl. EGMR, Nr. 54810/00, Jalloh (Fn. 24), Z. 19-25. 137 Siehe insbesondere Naucke (Fn. 133), S. 2, und Dallmeyer (Fn. 110), in: KritV 2000, S. 265 f., die zwanghaft herausgepresste Beweismittel als „Kernfall des Verstoßes gegen die Selbstbelastungsfreiheit“ ansehen; sowie Dallmeyer (Fn. 110), in: StV 1997, S. 608, dem zufolge sich der Organismus des Beschuldigten beim Erbrechen „in heftigster aktiver Tätigkeit“ befindet. 138 OLG Frankfurt a. M., NJW 1997, 1647–1649. 139 OLG Frankfurt a. M., NJW 1997, 1648. 140 OLG Frankfurt a. M., NJW 1997, 1648. 141 Zur Problematik bereits Vetter (Fn. 27), S. 43–46; Verrel (Fn. 60), S. 221. 134

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gegenständlicher Beweismittel demnach eine unterschiedliche Interpretation der Reichweite des nemo-tenetur-Prinzips. Nach deutschem Rechtsverständnis besteht unter dem Aspekt des Rechts auf Passivität beispielsweise in Bezug auf Atem- oder Stimmproben ein weitergehender Schutz als nach der EMRK. Diese bezieht demgegenüber Fälle zwangsweiser Brechmittelvergaben in den Schutzbereich der Selbstbelastungsfreiheit mit ein und schützt den Beschuldigten durch das mit dem Verstoß gegen den nemo-tenetur-Grundsatz einhergehende Verwertungsverbot damit in diesem Bereich weitergehend als die herrschende Rechtsprechung der deutschen Gerichte.

V. Schlussbetrachtung und Ausblick Die vorstehende Gegenüberstellung der Reichweite der Selbstbelastungsfreiheit und deren Schutz durch Beweisverwertungsverbote nach deutschem Recht und nach der EMRK ließe sich auf weitere Fallkonstellationen erweitern, in denen eine Verletzung des nemo-tenetur-Prinzips im Raum steht. So werfen beispielsweise Fälle, in denen der Beschuldigte nicht zu einer Aussage gezwungen wird, jedoch unter Täuschung über die Vernehmungssituation durch einen polizeilichen verdeckten Ermittler oder eine mit den Strafverfolgungsbehörden zusammenarbeitende Privatperson zu selbstbelastenden Angaben in Bezug auf eine Straftat überredet wird, Fragen der Reichweite des nemo-teneturGrundsatzes auf. 142 Dasselbe gilt für Fälle, in denen dem Beschuldigten vor seiner ersten Vernehmung die gewünschte Befragung seines Verteidigers verwehrt wurde. 143 Die dargestellten Beispielsfälle verdeutlichen jedoch bereits, dass die Reichweite der Selbstbelastungsfreiheit nach deutschem Rechtsverständnis und nach der EMRK nicht deckungsgleich ist. Während der Beschuldigte nach deutschem Recht insbesondere in Fällen des Zwangs zur Aussage und des Ziehens nachteiliger Schlüsse aus seinem Schweigen weitergehend geschützt ist, bietet ihm die EMRK in Fällen des Zwangs zur Herausgabe gegenständlicher Beweismittel teils mehr Rechte. Dabei treten hinsichtlich des Schutzumfangs des nemo-tenetur-Prinzips sowohl nach deutscher Auslegung als auch nach dem Verständnis der Konvention Abgrenzungsschwierigkeiten auf. So führt die deutsche Trennung zwischen unzulässigem Zwang zur aktiven Mitwirkung an ___________ 142 Vgl. dazu EGMR, Nr. 48539/99, Allan (Fn. 21), Z. 49–53 m. Anm. Gaede, K., in: StV 2003, S. 260 ff.; BGHSt 34, 39 (43 ff.) („Stimmenfalle“); 34, 362 ff.; BGHGSSt, BGHSt 42, 139 ff. („Hör-/Telefonfalle“), dazu Roxin, C., Zum Hörfallenbeschluss des Großen Senats für Strafsachen, in: NStZ 1997, S. 18 ff.; BGHSt 44, 129 ff. („Wahrsagerin-Fall“). 143 Siehe dazu nur EGMR, Nr. 18731/91, John Murray (Fn. 35), Z. 66; EGMR, Nr. 36408/97, Averill (Fn. 43), Z. 58–61; BGHSt 38, 372 (373 f.).

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der Beweiserhebung und zulässigerweise erzwungener passiver Duldung der Beweisgewinnung zu dem nicht nur Laien überraschenden Ergebnis, dass die zwangsweise Abnahme von Blutproben oder nach hM auch der zwangsweise Brechmitteleinsatz mit der Selbstbelastungsfreiheit vereinbar ist, während eine Atemprobe gegen diese verstößt.144 Demgegenüber ermöglicht das vom EGMR aufgestellte Kriterium, dass die Verwertung von durch Zwangsmittel erlangtem Beweismaterial nicht den nemo-tenetur-Grundsatz verletzt, wenn das Material „eine vom Willen des Beschuldigten unabhängige Existenz hat“, nicht stets eine trennscharfe Abgrenzung des zulässigen von unzulässigem Zwang.145 Hinsichtlich des Schutzes des nemo-tenetur-Grundsatzes durch Verbote, in Verletzung desselben erlangte Beweismittel im Prozess zu verwerten, erweist sich dieser als abhängig von der Reichweite der Selbstbelastungsfreiheit selbst. Nach deutschem Recht zieht ein Verstoß der Strafverfolgungsorgane gegen diese in den dargestellten Fallkonstellationen stets ein Beweisverwertungsverbot nach sich. Aber auch der EGMR nimmt in Fällen, in denen er die Selbstbelastungsfreiheit gerade durch die Verwendung der durch unzulässigen Zwang erlangten Äußerungen oder anderer Beweismittel im Strafverfahren missachtet sieht, eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK an, ohne zusätzliche Abwägungen hinsichtlich des Für und Wider eines Verwertungsverbots vorzunehmen. Zwar stellt er im Hinblick auf das Subsidiaritätsprinzip nur in Ausnahmefällen (so die o.g. Fälle der durch Folter erlangten Aussagen bzw. gegenständlichen Beweismittel) abstrakte Regelungen für Beweisverwertungsverbote auf. De facto geht er jedoch in den Fällen, in denen er die Verwendung von Beweismaterial als gegen Art. 6 EMRK verstoßend ansieht, von einem diesbezüglichen Beweisverwertungsverbot aus, da anderenfalls das Strafverfahren gegen den Betroffenen nicht fair sein kann. Es bleibt zu wünschen, dass die deutschen Gerichte ebenso wie der EGMR sich durch ihre verschiedenen Lösungsansätze bei der Fortentwicklung des für ein faires Verfahren so zentralen Schutzes der Selbstbelastungsfreiheit und dessen Absicherung durch Beweisverwertungsverbote gegenseitig inspirieren lassen.

___________ 144 145

Dazu Verrel (Fn. 60), S. 224. Ebenso Ovey / White (Fn. 18), S. 198 m. w. N.

Der Schutz der Menschenrechte durch Strafpflichten auf der Basis der Europäischen Menschenrechtskonvention Helmut Baier

I. Einführung Dieter Blumenwitz hat sich in seinem umfangreichen wissenschaftlichen Werk schon verhältnismäßig früh mit dem Gedanken der grundrechtlichen Schutzpflichten befasst. 1 Es erscheint deshalb nicht unangebracht, wenn der Strafrechtler in einer Gedächtnisschrift zu seinen Ehren diese Problematik aufgreift und einen Teilabschnitt beleuchtet, in dem sich nicht nur die Grundrechtsdogmatik mit Kriminalpolitik bzw. -recht verbindet, sondern der auch einen Bezug zum internationalen Recht aufweist, dem stets die besondere Aufmerksamkeit Dieter Blumenwitz’ galt. Die Europäische Menschenrechtskonvention stellt einen völkerrechtlichen Vertrag dar, den die Mitgliedstaaten des Europarats abgeschlossen haben. In ihrem ersten Abschnitt enthält die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) eine Aufzählung der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Art. 2–18), deren Einhaltung die Vertragspartner allen ihrer Herrschaftsgewalt unterstehenden Personen zusichern (Art. 1 EMRK). Dieser Kanon grundrechtsartiger Gewährleistungen ist zunächst als Bündel von Abwehrrechten gegenüber staatlichen Übergriffen zu interpretieren. Denn die Garantien orientieren sich zum weit überwiegenden Teil an Situationen, in denen eine Bedrohung der Menschenrechte durch aktives staatliches Handeln in Frage steht. Das zeigt sich beispielsweise deutlich am Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 EMRK) und dem Grundsatz nulla poena sine lege (Art. 7 EMRK). Nichtsdestoweniger hat die Rechtsprechung des EGMR in nicht wenigen Fällen aus den Menschenrechten und Grundfreiheiten der EMRK positive Handlungspflichten des Staates abgeleitet. Diese Tendenz lässt sich seit Ende der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts beobachten. ___________ 1 Blumenwitz, D., Die deutsche Staatsangehörigkeit und die Schutzpflicht der Bundesrepublik Deutschland, in: Heldrich, A. et al. (Hrsg.), Konflikt und Ordnung. Festschrift für M. Ferid zum 70. Geburtstag, 1978, S. 440 ff.

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II. Beispiele für Schutz- und Pönalisierungspflichten in der Rechtsprechung des EGMR 1. Frühe Grundlagen Ihren Ausgang nahm die Entwicklung auf der Basis von Art. 8 Abs. 1 EMRK, der jedermann u. a. einen Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens verschafft. Über den abwehrrechtlichen Gehalt der Norm, nämlich unstatthafte Eingriffe in die geschützte Sphäre zu unterlassen, hinaus wurde ihr weiter eine Verpflichtung zu aktivem staatlichen Tun entnommen. Danach besteht für jeden Vertragsstaat Anlass, seine Rechtsordnung in bestimmter Weise auszugestalten. 2 Eine fundierte Begründung für diese Auslegung ließ der EGMR jedoch vermissen. Der Hinweis 3 auf die Wortwahl, der zufolge der Staat zur „Achtung“ 4 verpflichtet ist, trägt das Ergebnis allein nicht, weil dieser Auftrag auch durch das Unterlassen von Eingriffen erfüllt werden kann. Als Fortsetzung der Schutzpflichtenjudikatur wird bisweilen ein im Jahr 1981 gefälltes Urteil zum Inhalt der Garantie auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Art. 11 EMRK) gewertet. 5 Danach kann eine nationale Gesetzgebung konventionswidrig sein, die es gestattet, ein Arbeitsverhältnis an die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft zu koppeln („closed-shop“-Regelung). 6 Bei genauerer Betrachtung betrifft ein solcher Sachverhalt aber nicht die Schutzdimension, sondern die Abwehrkomponente der Vereinigungsfreiheit. Denn es geht nicht um eine staatliche Pflicht, die Rechtsordnung zur Schaffung grundrechtskonformer Zustände in einer bestimmten Weise fortzuentwickeln, sondern nur darum, eine konkrete Regelung (Verknüpfung von Kündigungsrecht und fehlender Gewerkschaftszugehörigkeit) zu unterlassen. In einem Urteil aus dem Jahr 1983 zur Vereinbarkeit der Pönalisierung männlich-gleichgeschlechtlicher Aktivitäten mit dem in Art. 8 EMRK garantierten Recht auf Achtung des Privatlebens gelangte der Europäische Gerichts___________ 2 Das betrifft etwa familienrechtliche Aspekte (EGMR, EuGRZ 1979, 454 ff. [Marckx ./. Belgien]; NJW 2003, 2145 ff. [Odièvre ./. Frankreich]; NJW 2004, 3401 [Haase ./. Deutschland]), das Recht am eigenen Bild (EGMR NJW 2004, 2647 ff. [Caroline v. Hannover ./. Deutschland]) oder den Schutz vor Lärmbelästigungen (EGMR NJW 2005, 3767 ff. [Moreno Gómez ./. Spanien]). 3 So EGMR, EuGRZ 1979, 454 (458). 4 Im englischen und französischen Originaltext „respect“. 5 In diesem Sinne Jaeckel, L., Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, 2001, S. 128; Villiger, M. E., Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) unter besonderer Berücksichtigung der schweizerischen Rechtslage, 2. Aufl. 1999, Rn. 176. 6 EGMR, EuGRZ 1981, 559 ff. (Young, James u. Webster ./. Vereinigtes Königreich).

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hof für Menschenrechte (EGMR) zur Erkenntnis, dass den Menschenrechten und Grundfreiheiten der EMRK durch ein berechtigtes Interesse am Schutz von anderen Individuen und Gemeinschaftswerten Schranken gezogen sind. 7 Die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen sich diese Schutzmöglichkeit zu einer Schutzpflicht verdichtet, blieb allerdings in dem angesprochenen Judikat unbeantwortet.

2. Ausdrückliche Anerkennung von Pönalisierungspflichten Im Jahr 1985 bekannte sich der EGMR erstmalig zur Existenz einer Schutzpflicht, die nur mit den Mitteln des Strafrechts erfüllt werden kann. 8 Das Urteil betraf eine Lücke im niederländischen Strafrecht. Danach wurde der sexuelle Missbrauch unter Ausnutzung einer übergeordneten Position nicht von Amts wegen verfolgt, sondern setzte eine Klage des Opfers voraus. Für Geschädigte, die entweder jünger als 16 oder älter als 20 Jahre und unter Pflegschaft gestellt waren, durfte diese Klage der gesetzliche Vertreter einreichen. Eine Strafverfolgung blieb jedoch unmöglich, wenn das Opfer zwischen 16 und 20 Jahre alt und – etwa wegen geistiger Behinderung – nicht in der Lage war, die strafprozessual erforderlichen Erklärungen abzugeben. 9 Die Existenz dieser Schutzlücke erklärte der Gerichtshof für konventionswidrig. Art. 8 EMRK enthalte die positive Verpflichtung der Staaten, Maßnahmen zu treffen, um die Achtung des Privatlebens im Bereich der Beziehungen der Individuen untereinander zu schützen. Zwar unterfalle die Wahl der zu diesem Zweck zu ergreifenden Mittel regelmäßig dem staatlichen Ermessen. In einem so gravierenden Fall wie dem entschiedenen lasse sich wirksame Abschreckung jedoch nur durch strafrechtliche Vorschriften erzielen. 10 Dieses Ergebnis überrascht bei einem Vergleich mit der deutschen Rechtslage und den aus dem Grundgesetz abgeleiteten Pönalisierungspflichten 11 nicht. Allerdings lässt der EGMR eine zureichende Begründung für die Statthaftigkeit seines Vorgehens vermissen, über allgemeine Schutzaufträge hinaus den Gewährleistungen der EMRK sogar eine verbindliche Entscheidung zugunsten des Strafrechtseinsatzes zu entnehmen. Ohne Weiteres setzt man die Eignung des Strafrechts voraus, dem Ziel der Verhinderung eines bestimmten Verhal___________ 7

Vgl. EGMR, EuGRZ 1983, 488 ff. (Dudgeon ./. Vereinigtes Königreich). EGMR, EuGRZ 1985, 297 ff. (X und Y ./. Niederlande); a. A. österr. VfGH, EuGRZ 1975, 74 (81). 9 Dazu Corstens, G. / Pradel, J., European Criminal Law, 2002, Rn. 366. 10 Siehe EGMR, EuGRZ 1985, 297 (299). 11 Grundlegend BVerfGE 39, 1 ff.; 88, 203 ff. 8

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tens am wirksamsten zu dienen. Diese Annahme findet sich nicht mit rechtsphilosophischen oder kriminologischen Erwägungen belegt. 12 Auf welche Weise konventionskonforme Zustände zu schaffen wären, ließ der EGMR in der Entscheidung letztlich offen. In Betracht gekommen wäre entweder die Schaffung eines speziellen Straftatbestands des sexuellen Missbrauchs Widerstandsunfähiger oder aber Modifikationen des Verfahrensrechts dahin gehend, dass der Missbrauch solcher Opfer von Amts wegen verfolgt bzw. einem Vertreter die Klagebefugnis eingeräumt wird. Deshalb lässt sich zwar von einer Verpflichtung zur Ausgestaltung des Strafrechts im weiteren Sinne, nicht aber von der expliziten Statuierung einer Pönalisierungspflicht sprechen, zumal das fragliche Verhalten von einem Straftatbestand bereits erfasst war und sich lediglich aufgrund einer Lücke im formellen Recht nicht zur Verfolgung bringen ließ. Im Jahr 2003 hat der Gerichtshof seine Rechtsprechung fortgeführt, indem er aus Art. 8 Abs. 1 EMRK die Pflicht ableitete, sämtliche ohne Einverständnis – selbst unbeschadet fehlenden körperlichen Widerstands – vorgenommenen sexuellen Handlungen als Vergewaltigung oder sexuellen Missbrauch zu erfassen, und eine Schutzlücke zumindest bei der Auslegung des bulgarischen Strafrechts kritisierte. 13 Genügt es danach nicht den von der EMRK gesetzten Anforderungen, wenn den Geschädigten eines sexuellen Missbrauchs lediglich zivilrechtliche Ansprüche zustehen, so hat der EGMR umgekehrt in einem Urteil hervorgehoben, dass ein Staat durch die Gewährung von Strafrechtsschutz alleine sehr wohl seine Schutzpflicht zu erfüllen im Stande ist. Im fraglichen Fall waren die mittlerweile erwachsenen Beschwerdeführerinnen in ihrer Kindheit sexuell missbraucht worden. Zivilrechtliche Schadensersatzansprüche konnten sie infolge von Verjährung nicht mehr geltend machen, wohingegen die Einleitung eines Strafverfahrens noch in Betracht kam. Der EGMR vermochte bei dieser Rechtslage keine Verletzung der aus Art. 8 EMRK erwachsenden Schutzpflicht festzustellen, da strafrechtliche Ahndung noch möglich bleibe und ausreichend erscheine. 14

___________ 12 Vgl. Bengoetxea, J. / Jung, H., Towards a European criminal jurisprudence? The justification of criminal law by the Strasbourg court, in: Legal Studies 11 (1991), S. 239, 272 ff.; krit. Schilling, Th., Ungeschriebene Strafpflichten: eine wertende Bestandsaufnahme des Völker-, Gemeinschafts- und (Deutschen) Verfassungsrechts, in: ZÖR 54 (1999), S. 357, 377 ff. 13 EGMR, RJD 2003-XII, 1 (33 ff., 39: M.C. ./. Bulgarien). 14 So EGMR, ÖJZ 1997, 436 ff. (Stubbings u. a. ./. Vereinigtes Königreich).

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3. Weiterführung der Judikatur In der Folgezeit hat der EGMR die einmal eingeschlagene Linie beibehalten und die Existenz von Schutzpflichten im Allgemeinen sowie von Pönalisierungsaufträgen im Besonderen bekräftigt. So wird etwa dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit (Art. 11 EMRK) die Verpflichtung entnommen, positive Maßnahmen zum Schutz einer Versammlung vor Störungen seitens privater Dritter zu ergreifen, wobei dem Staat hinsichtlich der Handlungsform allerdings ein weiter Ermessensspielraum zukommt. 15 Das Recht auf Achtung des Privatlebens (Art. 8 EMRK) soll der öffentlichen Hand sogar gebieten, Privaten ausreichende Informationen über Gefahren, die durch Umweltverschmutzung drohen, zur Verfügung zu stellen. 16 In jüngster Zeit hat der Gerichtshof schließlich aus dem Recht auf Leben (Art. 2 EMRK) sowie dem Recht auf wirksame Beschwerde (Art. 13 EMRK) die Pflicht der Vertragsstaaten hergeleitet, im Falle der Tötung eines Menschen durch Staatsorgane, insbesondere während einer Inhaftierung, Ermittlungen durchzuführen, um die Verantwortlichen zu identifizieren und zu bestrafen. 17 Eine derartige Verpflichtung zur Bestrafung im Einzelfall setzt die Existenz eines einschlägigen Straftatbestands voraus, enthält implizit mithin auch ein Pönalisierungsgebot. 18 Allerdings kann dieses nicht auf einen staatlichen Schutzauftrag gestützt werden. Da es um die Reaktion auf Verletzungshandlungen geht, welche von Staatsbediensteten verübt wurden, wird die Abwehrdimension der Grundrechte aktiviert. Darüber hinaus bleiben die Staaten aufgrund des in Art. 2 Abs. 1 EMRK garantierten Rechts auf Leben gezwungen, Schritte zum Schutz dieses Rechtsguts bei den ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Menschen zu unternehmen. Zu diesem Zweck bedarf es „wirksame(r) Strafvorschriften ..., die den Einzelnen abschrecken, Straftaten gegen das Leben ande-

___________ 15 Siehe EGMR, EuGRZ 1989, 522 ff. (Plattform „Ärzte für das Leben“ ./. Österreich). 16 Vgl. EGMR, NVwZ 1999, 57 f. (Guerra u. a. ./. Italien). 17 EGMR, RJD 1998–III, 1389 (1403: L.C.B. ./. Vereinigtes Königreich); 1998–VI, 2411 (2453 f.: Yasa ./. Türkei); 1998–VIII, 3263 (3290: Assenov ./. Bulgarien); NJW 2001, 1989 (Grams ./. Deutschland); NJW 2001, 1991 ff. (Ogur ./. Türkei); NJW 2001, 2001 ff. (Salman ./. Türkei); Urteil v. 08.11.2005, Nr. 164, 175 ff. (Gongadze ./. Ukraine); dazu Dröge, C., Positive Verpflichtungen der Staaten in der Europäischen Menschenrechtskonvention, 2003, S. 65 ff., die die Untersuchungspflicht weiter gehend auch in Ansehung der Verletzungshandlungen Privater aktualisieren will (S. 64); Esser, R., Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, 2002, S. 105 ff. 18 So ausdrücklich EGMR, NJW 2003, 3259 (3260: Mastromatteo ./. Italien) bezüglich einer von Inhaftierten nach Gewährung von Hafterleichterungen begangenen Straftat.

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rer zu begehen und dabei Vorkehrungen zu ihrer Durchsetzung vorzusehen, um Gesetzesverstößen vorzubeugen, sie zu verhindern und zu bestrafen.“ 19 In einer Entscheidung aus dem Jahr 1998 sah sich der Gerichtshof erneut mit dem Fall einer nur durch Pönalisierung zu erfüllenden Schutzpflicht konfrontiert. Der Beschwerdeführer war wiederholt von seinem Stiefvater mit einem Stock geschlagen und verletzt worden. Jener wurde dafür nicht bestraft, weil die nationalen britischen Gerichte das Verhalten als eine zulässige Erziehungsmaßnahme beurteilten. Der EGMR bewertete diese Sichtweise als konventionswidrig und entnahm Art. 3 EMRK die Verpflichtung, die Strafgesetze so einzurichten, dass auch mit ihrer Hilfe Kinder vor derartigen Angriffen geschützt bleiben. 20 Das überrascht insofern, als die herangezogene Bestimmung Folter und unmenschliche Behandlung sowie erniedrigende Strafe oder Behandlung verbietet. Es handelt sich damit um eine Norm, mit der staatliche Übergriffe verhindert werden sollen. Demgegenüber findet sich das Recht auf körperliche Unversehrtheit – anders als etwa in Art. 2 Abs. 2 S. 1 2. Alt. Grundgesetz (GG) – gerade nicht umfassend, d. h. unbeschadet der konkreten Verletzungsweise, in der EMRK garantiert. Es liegt deshalb fern, Art. 3 EMRK eine Schutzpflicht im Hinblick auf Verletzungshandlungen Privater beizulegen. Durch eine Gleichsetzung privater Strafgewalt mit staatlicher Folter wird der Zweck des Art. 3 EMRK entwertet, die Staatsorgane zu ordentlicher Behandlung von Personen zu veranlassen, welche sich in ihrer Macht befinden. Zudem ist Art. 3 EMRK im Zusammenhang mit dem Europäischen Übereinkommen zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe aus dem Jahr 1987 21 zu sehen. 22 Dieser Vertrag ermöglicht die Kontrolle der Haftbedingungen in den Mitgliedstaaten durch eine unabhängige Kommission und betrifft nach seinem Art. 2 nur seitens öffentlicher Behörden durchgeführte oder zumindest – bei Privatisierung des Strafvollzugs – initiierte Freiheitsentziehung, nicht aber Privatstrafen irgendeiner Art. Aus Art. 3 EMRK kann sich damit nur eine mit dem Charakter der Grundrechte als Abwehrrechte in Zusammenhang stehende Pflicht ergeben, Übergriffe durch die Staatsorgane zu pönalisieren, welche sich als Folter bzw. eine andere verbotene ___________ 19 EGMR, NJW 2001, 3035 (3040: Streletz, Keßler u. Krenz ./. Deutschland); s. ferner RJD 1998-VIII, 3124 (3159: Osman ./. Vereinigtes Königreich); NJW 2001, 3042 ff. (K.-H. W. ./. Deutschland); EuGRZ 2002, 234 ff. (D. Pretty ./. Vereinigtes Königreich); zum Ganzen Esser (Fn. 17), S. 108 ff. 20 EGMR, RJD 1998–VI, 2692 (2699 f.: A ./. Vereinigtes Königreich); zustimmend Gollwitzer, W., in: Rieß, P. (Hrsg.), Löwe/Rosenberg, Die Strafprozessordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, 25. Aufl. 2005, Art. 3 MRK, Rn. 12; Grabenwarter, Ch., Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. 2005, S. 137 f.; Paeffgen, H.-U., in: Rudolphi, H.-J. et al. (Hrsg.), Systematischer Kommentar zur Strafprozessordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz, Stand: März 2007, Art. 3 EMRK, Rn. 18. 21 BGBl. 1989 II, S. 946 ff. 22 So Oppermann, Th., Europarecht, 3. Aufl. 2005, S. 36.

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Behandlungsform darstellen. Zur Begründung einer Pflicht zum Erlass von wirksamen Strafnormen gegenüber Körperverletzungshandlungen seitens Privater hätte sich eher ein Rekurs auf Art. 8 EMRK angeboten. Die durch Art. 8 EMRK geschützte Privatsphäre wird nämlich beeinträchtigt, wenn der Staat Körperverletzungshandlungen seitens Privater nicht bei Strafe verbietet. 23 Zudem liegt ein enger Bezug der im konkreten Fall fraglichen Grenzen des elterlichen Erziehungs- und Züchtigungsrechts zu dem ebenfalls durch Art. 8 EMRK geschützten Familienleben vor. 24 Abgelehnt fand sich jedoch das auf Art. 9 EMRK gestützte Verlangen eines Beschwerdeführers, einen Straftatbestand zum Schutz religiöser Gefühle vor Verletzung zu schaffen, um auf diese Weise Autor und Verleger der „Satanischen Verse“ strafrechtlich verfolgen zu können. 25 Ebenso umfasst das Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 EMRK) keinen Anspruch auf die Durchführung der Strafverfolgung gegen Dritte. 26 Das ergibt sich bereits aus dem Umfang der Gewährleistung selbst, die gerichtlichen Rechtsschutz nur in Ansehung zivilrechtlicher Ansprüche und Verpflichtungen vorsieht, ferner in Fällen, in denen gegen den Grundrechtsträger die strafrechtliche Anklage erhoben wurde (Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK). Selbst bei einem weiten Verständnis der in der Norm genannten zivilrechtlichen Ansprüche lässt sich das Verlangen, Strafverfolgungsmaßnahmen zu ergreifen, hierunter nicht mehr subsumieren. Die in Art. 6 Abs. 2 und 3 EMRK verankerten Garantien betreffen schließlich nur den Angeklagten im Strafverfahren und lassen sich für das Opfer einer Straftat nicht fruchtbar machen. Es kommt also letztlich auf die sich aus den sonstigen Gewährleistungen der Konvention (etwa Art. 1 und 2) ergebende Bedeutung des betroffenen Rechtsguts an, damit ein Individuum vom Staat verlangen darf, dieser möge von seiner Strafgewalt Gebrauch machen. Will man ein Fazit dieser Rechtsprechung ziehen, gilt es festzuhalten: Der EGMR steht seit längerem auf dem Standpunkt, dass den Menschenrechten und Grundfreiheiten der EMRK prinzipiell nicht nur Abwehrrechte gegen staatliche Übergriffe, sondern auch Pflichten der öffentlichen Gewalt zum Schutz vor ___________ 23

Zum weiten Verständnis des Schutzbereichs von Art. 8 EMRK vgl. EGMR, EuGRZ 2002, 234 (239): Einschluss der physischen wie psychischen und sozialen Integrität des Menschen. 24 Nachdem er eine Verletzung von Art. 3 EMRK festgestellt hatte, ließ der EGMR offen, ob auch Art. 8 EMRK verletzt war, EGMR (Fn. 20), 2700. 25 Unveröffentlichtes Judiz der Europäischen Kommission für Menschenrechte (EKMR) vom 05.03.1991, mitgeteilt bei Dröge (Fn. 17), S. 26 f. 26 EGMR, NJW 2001, 1989; EKMR, 1985, DR Bd. 43, S. 184 (Wallén ./. Schweden); Frowein, J. A., in: Frowein, J. A. / Peukert, W., EMRK-Kommentar, 2. Aufl. 1996, Art. 6 Rn. 66; Meyer-Ladewig, J., EMRK Handkommentar, 2. Aufl. 2006, Art. 6 Rn. 27 a; Miehsler, H. / Vogler, Th., in: Karl, W. (Hrsg.), Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention, 1986, Art. 6 Rn. 265; Paeffgen (Fn. 20), Art. 6 EMRK, Rn. 66.

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Rechtsbeeinträchtigungen zu entnehmen sind, welche aus privaten Übergriffen Dritter resultieren. An einer sorgfältigen dogmatischen Grundlegung dieser Position fehlt es. Ein Ermessensspielraum des Gesetzgebers hinsichtlich der Mittel, deren er sich zur Erfüllung der Schutzpflicht bedienen will, wird akzeptiert. 27 Darüber hinaus ist in der Judikatur dem Grunde nach anerkannt: Derartige Schutzpflichten können sich bis hin zu einem Zwang verdichten, als Mittel des Schutzes das Strafrecht einzusetzen. Dies nimmt der EGMR insbesondere zugunsten der Rechtsgüter Leben, körperliche Unversehrtheit und sexuelle Selbstbestimmung an. Bezüglich des Rechtsguts Leben spielten in der Straßburger Rechtsprechung allerdings regelmäßig Konstellationen eine Rolle, in denen das Leben von Individuen durch staatliche Übergriffe verletzt worden war. Bei genauer Betrachtung geht es hier also nicht um eine Pflicht des Staates zum Schutz vor Rechtsverletzungen seitens Dritter, sondern um die Verpflichtung, die Vornahme derartiger Übergriffe durch seine eigenen Bediensteten zu unterbinden.

III. Schutz- und Pönalisierungspflichten nach der EMRK Bei der Ermittlung des Inhalts der Gewährleistungen, die in der EMRK verankert sind, hat man zunächst der Tatsache Rechnung zu tragen, dass es sich um einen völkerrechtlichen Vertrag handelt. Es gilt damit die völkerrechtlich anerkannten Auslegungsgrundsätze zu beachten, welche sich in Art. 31 ff. des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge 28 niedergelegt finden. Obwohl die EMRK älter als dieses Übereinkommen ist und es nach seinem Art. 4 keine Anwendung auf Verträge findet, die vor seinem Inkrafttreten abgeschlossen wurden, handelt es sich bei den vertraglich vereinbarten Auslegungsregeln doch um allgemein anerkannte Rechtssätze, die auch für die Bestimmung des Inhalts der EMRK Anwendung finden dürfen. 29 Nach Art. 31 Abs. 1 Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK) ist ein Vertrag nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen. Neben dem Wortlaut des Vertrags dürfen ergänzend die vorbereitenden Arbeiten und die Umstände des Vertragsabschlusses herangezogen werden (Art. 32 WVK), wobei eine mit der Wahl eines Ausdrucks ___________ 27 Siehe EGMR, NJW 2003, 2145 ff. (Odièvre ./. Frankreich); NJW 2004, 2505 (2507: van Kück ./. Deutschland); Dröge (Fn. 17), S. 181 ff.; Gollwitzer (Fn. 20), Einf. MRK, Rn. 67; Grabenwarter (Fn. 20), S. 119 f., 122. 28 Vom 23.05.1969, BGBl. 1985 II, S. 927 ff. 29 So EGMR, EuGRZ 1975, 91 ff. (Golder ./. Vereinigtes Königreich); Corstens / Pradel (Fn. 9), Rn. 260; Jaeckel (Fn. 5), S. 108; Gollwitzer (Fn. 20), Einf. MRK, Rn. 52; Wildhaber, L. / Breitenmoser, St., in: Karl (Fn. 26), 1992, Art. 8 Rn. 15.

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verfolgte besondere Intention in jedem Fall zu beachten ist (Art. 31 Abs. 4 WVK). Maßgebende Bedeutung kommt insoweit im Zweifelsfall nicht der in der deutschen Übersetzung der EMRK verwendeten Wortwahl, sondern der englischen und französischen Ausfertigung zu, da nur diese als authentisch gelten (Art. 33 WVK i. V. m. der Schlussklausel der EMRK nach Art. 59).

1. Die Existenz von Schutz- und Pönalisierungspflichten in der EMRK Bei der Untersuchung der Gewährleistungen der EMRK auf ihren Wortlaut hin lässt sich immerhin Art. 2 Abs. 1 S. 1 EMRK ein deutlicher Hinweis auf den Schutzpflichtgedanken entnehmen, wenn es dort heißt: „Das Recht eines jeden Menschen auf das Leben wird gesetzlich geschützt.“ 30 Die authentischen englischen und französischen Fassungen unterstreichen diese Feststellung noch. 31 Darüber hinaus fehlt es allerdings im Wortlaut der Konvention an weiteren Andeutungen von staatlichen Handlungs- und Schutzaufträgen. Das gilt – wie gerade gezeigt – auch in Ansehung von Art. 5 und 8 EMRK. Allerdings bemühen sich verschiedene Autoren, im Wege der teleologischen Auslegung derartige Gewährleistungen herzuleiten. So leugnet Murswiek für die Ebene der europäischen Grundrechte die Notwendigkeit einer gesonderten Schutzpflichtendogmatik. Vielmehr begründet er die grundrechtliche Schutzdimension im Rahmen der EMRK bereits mit dem abwehrrechtlichen Gehalt der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Was der Staat nicht verbiete, gestatte er, und das erlaubte Verhalten Dritter müsse ihm deshalb wie eigenes zugerechnet werden. 32 Diese Auffassung erscheint aber nicht haltbar. Denn die Gleichsetzung von unverbotenem und erlaubtem Verhalten greift zu kurz, und der abwehrrechtliche Ansatz vermag nicht zu einer Lösung beizutragen, sofern es um die Aktualisierung der Schutzpflicht bzw. die Verbesserung des Schutzniveaus im Hinblick auf „eigentlich“ verbotenes Verhalten geht. Deshalb ___________ 30 Ebenso Jaeckel (Fn. 5), S. 112 f.; Murswiek, D., Die Pflicht des Staates zum Schutz vor Eingriffen Dritter nach der Europäischen Menschenrechtskonvention, in: Konrad, H.-J. (Hrsg.), Grundrechtsschutz und Verwaltungsverfahren unter besonderer Berücksichtigung des Asylrechts. – Internationaler Menschenrechtsschutz, 1985, S. 213 (217). 31 „Everyone’s right to life shall be protected by law“ sowie „Le droit de toute personne à la vie est protegé par la loi.“ 32 Murswiek (Fn. 30), S. 224 ff., 241 f.; ähnlich Holoubek, M., Grundrechtliche Gewährleistungspflichten, 1997, S. 251 ff.; Szczekalla, P., Die so genannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, 2002, S. 896; ablehnend etwa Dröge (Fn. 17), S. 78 f.; Egli, P., Drittwirkung von Grundrechten, 2002, S. 262; Grabenwarter (Fn. 20), S. 122; Streuer, W., Die positiven Verpflichtungen des Staates, 2003, S. 218 f.

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kommt eine Anwendung der abwehrrechtlichen Lösung im Bereich der EMRK nur dann in Betracht, wenn dies gerade aufgrund besonderer, in der Konvention selbst angelegter Umstände geboten erscheint. Solche besonderen Umstände könnten etwa darin liegen, dass die Vertragspartner für die von ihnen vereinbarten Gewährleistungen als Rechtseingriff durch aktives staatliches Tun auch die Zufügung von Nachteilen verstehen wollten, welche aus der Unterlassung von Vorkehrungen gegenüber Verletzungshandlungen Dritter zu erwachsen vermögen. In diesem Fall würde die Auslegungsregel des Art. 31 Abs. 4 WVK die abwehrrechtliche Lösung bedingen. Indessen lässt sich ein derartiger Wille der vertragsschließenden Staaten angesichts der um 1950 als dem Zeitpunkt der Vereinbarung der Konvention noch nicht recht ausdifferenzierten Grundrechtsdogmatik keineswegs nachweisen. Deshalb und mangels anderer Anhaltspunkte für den Willen der Vertragspartner führt kein Weg daran vorbei, bei der Interpretation der Konvention die Rechtsprechung des EGMR als entscheidenden Gesichtspunkt heranzuziehen. Zum einen zählt die Übung bei der Anwendung eines Vertrags, aus der die Übereinstimmung der Vertragsparteien über seinen Inhalt hervorgeht, ebenso wie der historische Aspekt zu den völkerrechtlich anerkannten Auslegungsgrundsätzen (Art. 31 Abs. 3 lit. b WVK). Zum anderen haben die Staaten beim Abschluss der EMRK durch die Schaffung eines Gerichtshofs die authentische Interpretation der Konvention in dessen Hände gelegt. Deshalb müssen sie sich die vom EGMR gewonnenen Auslegungsergebnisse wie eine eigene Übung zurechnen lassen, zumal die vertragsschließenden Staaten sich in der Präambel der EMRK ausdrücklich zur „Entwicklung“ der Menschenrechte und Grundfreiheiten verpflichtet haben. 33 Dies impliziert bereits eine seitens der Vertragsparteien jedenfalls auch dem Gerichtshof eingeräumte Ermächtigung zur dynamischen Weiterentwicklung des Grundrechtsschutzes. Ferner steht den Staaten eine Änderung der EMRK frei, wenn sie den Gerichtshof korrigieren wollen. Der EGMR hat nun allerdings in seiner neueren Rechtsprechung die Nichterfüllung staatlicher Handlungspflichten einem Eingriff gleichgestellt. 34 Damit verbindet sich aber keineswegs eine Stellungnahme dahingehend, staatliches Tun und Unterlassen seien nur zwei Seiten ein und derselben Medaille. Vielmehr handelt es sich bei diesem Vorgehen um einen Beleg dafür, dass der Ge___________ 33

Vgl. Jaeckel (Fn. 5), S. 132. Etwa EGMR, EuGRZ 1995, 530 (533: López Ostra ./. Spanien); NJW 2003, 2145 (2147); vgl. zum Problem Ehlers, D., Die Europäische Menschenrechtskonvention, in: Jura 2000, S. 372 (373, 379); Frowein, in: Frowein / Peukert (Fn. 26), Art. 1 Rn. 11; Kley-Struller, A., Der Schutz der Umwelt durch die Europäische Menschenrechtskonvention, in: EuGRZ 1995, S. 507 (512); Stieglitz, E., Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), 2002, S. 53; Szczekalla, P., Gewalt und Grundrechte. – Ein gemeineuropäisches Thema, in: EuGRZ 1999, S. 350 (351). 34

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richtshof bisher noch keine systematische Eingriffsdogmatik entwickelt hat, sondern eine kasuistische Betrachtungsweise pflegt. 35 Das erhellt auch die Judikatur selbst, wenn das Gericht ausführt, es sei gleichgültig, ob ein Fall unter dem Aspekt einer Handlungs- oder einer Unterlassungspflicht betrachtet werde, weil die anwendbaren Grundsätze sich weitgehend ähnelten und in beiden Fällen ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen den widerstreitenden Interessen des Einzelnen und der Gemeinschaft hergestellt werden müsse. 36 Zudem bedarf es auch im Falle staatlichen Unterlassens einer Bestimmung der Grenze, bei deren Überschreiten (oder besser: Unterschreiten) sich das Nichthandeln zur Rechtsverletzung auswächst, wie gerade die deutsche Diskussion um die Existenz eines Untermaßverbots zeigt. Nachdem es für den Anwendungsbereich der EMRK noch an der exakten Bestimmung einer Schwelle für die Aktualisierung von Handlungspflichten fehlt, wird der EGMR so zu verstehen sein, dass das Unterlassen in seiner Bedeutung für die betroffenen Rechte einem Eingriff gleichkommen muss, um eine Konventionsverletzung bejahen zu dürfen. In anderen Judikaten wurde dementsprechend deutlich zwischen Unterlassungsund Handlungspflichten der Staaten unterschieden. 37 Daraus folgt, dass die abwehrrechtliche Lösung selbst aus spezifisch völkerrechtlichen Gründen Ablehnung verdient. In der Literatur ist denn auch die originäre Ableitung von Schutzpflichten aus den Gewährleistungen der EMRK weitgehend auf Zustimmung gestoßen. 38 Zur Begründung wird zu Recht darauf verwiesen, ein rein an der Abwehr staatlicher Übergriffe orientiertes Grundrechtsverständnis werde der Komplexität des modernen Lebens, in dessen Rahmen die Freiheitsbereiche der Einzelnen eng nebeneinander stehen und der Abgrenzung bedürfen, nicht mehr gerecht. 39 Das gilt umso mehr, als die Lehre von grundrechtlichen Schutzpflichten mittlerweile nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen europäischen Staa-

___________ 35

So Ehlers (Fn. 34), S. 379. EGMR, EuGRZ 1995, 530 (533). 37 Siehe nur EGMR, EuGRZ 1979, 454 ff.; EuGRZ 1985, 297 f.; EuGRZ 1989, 522 ff.; NVwZ 1999, 57 f. 38 Etwa Bleckmann, A., Staatsrecht II. – Die Grundrechte, 4. Aufl. 1997, § 11 Rn. 222 ff.; Egli (Fn. 32), S. 238; Ehlers (Fn. 34), S. 374; Frowein, in: Frowein / Peukert (Fn. 26), Art. 1 Rn. 9 ff., Art. 2 Rn. 3, 7; Jaeckel (Fn. 5), S. 138; Klein, E., 50 Jahre Europarat: seine Leistungen beim Ausbau des Menschenrechtsschutzes, in: AVR 39 (2001), S. 121 (133); Lagodny, O., in: Karl (Fn. 26), 2002, Art. 2 Rn. 9 ff.; Peters, A., Einführung in die Europäische Menschenrechtskonvention, 2003, S. 15 f.; Stieglitz (Fn. 34), S. 153 ff.; generell ablehnend aber Wiesbrock, K., Internationaler Schutz der Menschenrechte vor Verletzungen durch Private, 1999, S. 84 ff.; offen gelassen von Meyer-Goßner, L., Strafprozessordnung, 50. Aufl. 2007, Art. 1 MRK, Rn. 4. 39 In diesem Sinne Jaeckel (Fn. 5), S. 133 f. 36

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ten auf Zustimmung trifft. 40 Demgegenüber kommt der Tatsache keine entscheidende Bedeutung zu, dass in einigen Mitgliedstaaten des Europarats das Hauptaugenmerk immer noch der Verwirklichung der Grundrechte als Abwehrinstrument gegenüber staatlichen Übergriffen zu gelten hat.

2. Nähere Ausgestaltung der Schutzpflichten Hinsichtlich der genauen Modalitäten der sich aus der EMRK ergebenden Schutzpflichten fehlt es ebenfalls an einer dogmatischen Aufarbeitung und Durchdringung, die sich mit der für das deutsche Recht bereits geleisteten vergleichen lässt. Die Rechtsprechung des EGMR stellt sich ergebnisorientiertkasuistisch dar und verzichtet regelmäßig auf Ausführungen zur Systematik der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Bestimmend hierfür dürften mehrere Faktoren sein. Zunächst kommt nach dem dort gepflegten Verständnis von Rechtswissenschaft nicht in sämtlichen Mitgliedsländern des Europarats der dogmatischen Grundlegung eine Bedeutung wie hierzulande zu. Das gilt etwa für Großbritannien mit seiner richterrechtlich geprägten Tradition. Sodann hat sich die Literatur mit den Menschenrechten und Grundfreiheiten der EMRK nicht in einem Ausmaß befasst, wie dies für die nationalen Grundrechtsgewährleistungen der Fall ist. Es fehlt also jedenfalls in einem gewissen Umfang an einer wechselseitigen Befruchtung von Literatur und Rechtsprechung. a) Die Subjektivierung von Schutzpflichten Beispielhaft zeigt sich der eher ergebnisbezogene Charakter der Diskussion – sofern sie denn geführt wird – etwa darin, dass sie zu einem im Vergleich mit dem deutschen Recht geringeren Grad auf Problematisierung abzielt. So spielt im Schrifttum zur EMRK die Thematik nur eine untergeordnete Rolle, ob objektiv bestehende Schutzpflichten subjektive Schutzansprüche nach sich zu ziehen vermögen. Regelmäßig wird diese Frage ohne Weiteres bejaht. 41 Das befremdet auf den ersten Blick. Gerade in der Entscheidung X und Y gegen die Niederlande, 42 in der eine ausschließlich mit den Mitteln des Strafrechts zu erfüllende Schutzverpflichtung postuliert worden war, hätte es nahe gelegen, die Beschwerdebefugnis zu thematisieren. Denn strafrechtlicher Schutz kann ja bereits eingetretene Verletzungen nicht rückwirkend verhindern bzw. beseitigen, und nach den Urteilsfeststellungen sprach im konkreten Fall nichts dafür, dass ___________ 40

Überblick bei Jaeckel (Fn. 5), S. 134 ff.; vgl. auch Dröge (Fn. 17), S. 252 ff.; krit. Streuer (Fn. 32), S. 217 f. 41 Vgl. dazu Jaeckel (Fn. 5), S. 139; Villiger (Fn. 5), Rn. 175. 42 EGMR, EuGRZ 1985, 297 ff.

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eine Fortsetzung der bisher nicht verfolgbaren sexuellen Übergriffe zu erwarten war. Im Urteil Stubbings u. a. gegen das Vereinigte Königreich 43 lag noch deutlicher auf der Hand: Die erwachsen gewordenen Beschwerdeführerinnen hatten eine Weiterführung des in ihrer Kindheit erlittenen Missbrauchs nicht zu besorgen. Bei näherer Betrachtung erscheint es jedoch im Hinblick auf die Besonderheiten des Rechtsschutzes nach der EMRK konsequent, ja nachgerade geboten, an die Voraussetzungen für die Geltendmachung eines Schutzdefizits geringere Anforderungen zu stellen, als dies gemäß nationalem Recht zu fordern sein mag. Denn das Verfahren vor dem EGMR bezweckt nicht nur, dem Beschwerdeführer in der konkreten Sache zu seinem Recht zu verhelfen, sondern dient mindestens in gleichem Umfang präventiven Zwecken. Weil der Einlegung einer Individualbeschwerde die Erschöpfung aller innerstaatlichen Rechtsbehelfe vorausgehen muss (Art. 35 Abs. 1 EMRK), verhält es sich vielfach so, dass eine Angelegenheit vor der Entscheidung des Gerichtshofs bereits ihre faktische Erledigung durch Zeitablauf gefunden hat. Das schadet dem Rechtsschutz Suchenden aber keineswegs. Zum einen sieht das Verfahren vor dem EGMR gerade keine Möglichkeit einer unmittelbaren Einflussnahme auf die nationalen Entscheidungen und Maßnahmen vor, sondern – abgesehen von der Zuerkennung einer Geldentschädigung (Art. 41 EMRK) – nur den Erlass eines Feststellungsurteils. 44 Zum anderen muss der Beschwerdeführer als Zulässigkeitsvoraussetzung nach Art. 34 EMRK geltend machen, in einem Recht verletzt zu sein. Bei wörtlichem Verständnis der Norm sind damit Beschwerden unzulässig, wenn dem Betroffenen die Rechtsverletzung erst noch droht. Während derartige Konstellationen im Verfahren der Schutzpflichtverfassungsbeschwerde vor dem BVerfG den Regelfall abgeben, hat der EGMR einen Sachverhalt bisher nur dann vor Eintritt eines Verletzungserfolgs überprüft, wenn schwere und irreparable Schäden mit einiger Wahrscheinlichkeit zu befürchten waren. 45 Das Procedere vor dem Gerichtshof dient also schon von seiner Konzeption her viel eher generalpräventiven Zwecken, 46 als dies die nationalen Rechtsmittelverfahren einschließlich des Verfahrens vor dem BVerfG tun, darf letztgenanntes Gericht doch durch einstweilige Anordnungen (§ 32 BVerfGG) unmittelbaren Einfluss auf die Ereignisse nehmen und den Eintritt nachteiliger Rechtsfolgen ___________ 43

EGMR, ÖJZ 1997, 436. Vgl. Ehlers (Fn. 34), S. 382; Jaeckel (Fn. 5), S. 175; Meyer-Ladewig, J. / Petzold, H., Der neue ständige Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, in: NJW 1999, S. 1165 (1166); Villiger (Fn. 5), Rn. 225. 45 So EGMR, EuGRZ 1989, 314 ff. (Soering ./. Vereinigtes Königreich); zum Problem Jaeckel (Fn. 5), S. 177; Streuer (Fn. 32), S. 233 ff.; Villiger (Fn. 5), Rn. 151. Dem Beschwerdeführer Soering drohte die Auslieferung an die USA, wo er mit der Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe zu rechnen hatte. 46 Vgl. auch Esser (Fn. 17), S. 819. 44

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verhindern. 47 Handelt es sich beim Individualbeschwerdeverfahren vor dem EGMR aber somit jedenfalls teilweise um einen mit Popularklage ähnlichen Wirkungen ausgestatteten Rechtsbehelf, der gleichwohl an eine eigene Rechtsverletzung des Beschwerdeführers anknüpft, darf man der Frage nach dem subjektiven Charakter der Schutzrechte nur eingeschränkte Bedeutung zumessen. b) Schutzpflichttaugliche Konventionsrechte Der EGMR hat mit Ausnahme von Art. 6 EMRK noch keiner der Konventionsgewährleistungen die Eignung abgesprochen, Schutzpflichten zu generieren. In der Literatur wird demgemäß eine Beschränkung der Schutzdimension auf einzelne Konventionsrechte geleugnet. Vielmehr sollen sich derartige Pflichten auf alle in der EMRK gewährleisteten Güter erstrecken, soweit deren Beeinträchtigung von nichtstaatlicher Seite in Betracht kommt. 48 Diese Auffassung erweist sich zwar dem Grunde nach als richtig, erscheint indessen doch zu ungenau formuliert. Wie bereits beispielhaft für Art. 3 EMRK festgestellt wurde, orientiert sich die EMRK in ihren Formulierungen eher an den Verletzungshandlungen als an den Schutzgütern: 49 Abgestellt wird – anders als etwa im Grundgesetz – nicht auf die körperliche Unversehrtheit als solche, sondern es wird Schutz vor Folter oder unmenschlicher Behandlung gewährt. Insoweit tritt in der EMRK die abwehrrechtliche Seite der Gewährleistungen in den Vordergrund. Man hat deshalb nicht nur auf die Ermittlung der geschützten Rechtsgüter, sondern gleichermaßen auf die Feststellung der möglichen Verletzungsmodalitäten das Augenmerk zu richten. Mit diesem Fazit verbindet sich keineswegs eine Leugnung der Schutzdimension der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Jene darf aber nur in geringerem Umfang Anerkennung finden, als dies weithin angenommen wird. 3. Inhalt der Schutzpflichten, insbesondere die Anerkennung von Pönalisierungspflichten Nicht nur die Rechtsprechung des EGMR, sondern auch die Literatur gesteht den Staaten einen weiten Spielraum zu, wie sie den ihnen obliegenden ___________ 47

Nach Art. 39 Abs. 1 der Verfahrensordnung des EGMR vom 01.11.1998, BGBl. 2002 II, S. 1081 ff., kann das Gericht den Parteien vorläufige Maßnahmen empfehlen. Solchen Empfehlungen braucht ein Staat jedoch nicht nachzukommen, weil er im Vertrag nur die Verpflichtung eingegangen ist, die endgültigen Urteile des Gerichtshofs zu befolgen. 48 So Bleckmann (Fn. 38), § 11 Rn. 229; Dröge (Fn. 17), S. 242; Egli (Fn. 32), S. 257; Jaeckel (Fn. 5), S. 140; Stieglitz (Fn. 34), S. 157; Streuer (Fn. 32), S. 225 ff.; Szczekalla (Fn. 32), S. 718. 49 Anders Dröge (Fn. 17), S. 241.

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Schutz für ihre Bürger erbringen wollen. 50 Diese Feststellung verdient Zustimmung. Fehlt dem EGMR – anders als etwa dem BVerfG gemäß § 35 BVerfGG – die Möglichkeit, Vollstreckungsanordnungen zu erteilen, nachdem die vom Gerichtshof erlassenen Feststellungsurteile per se der Vollstreckungsfähigkeit ermangeln, so muss die exakte Umsetzung den Konventionsstaaten vorbehalten bleiben. Eine Ausnahme kann nur dann gelten, wenn den Anforderungen der EMRK ausschließlich durch eine bestimmte Sachbehandlung Genüge getan wird. So verhielt es sich insbesondere in den Fällen, in denen die Schaffung eines strafrechtlichen Schutzes gefordert wurde. Selbst dann jedoch hat der Gerichtshof darauf verzichtet, dem nationalen Gesetzgeber genauere Vorgaben zu unterbreiten. Deshalb spielt die Unterscheidung zwischen Verhaltens- und Sanktionsnorm in der Judikatur des EGMR auch keine Rolle: Eine stärkere Pflicht als die, überhaupt ein Verhalten strafrechtlich zu sanktionieren, hat das Gericht bisher nicht festgestellt. Demzufolge wurde noch nie eine existierende Strafnorm mit der Begründung für unvereinbar mit der EMRK erklärt, sie bleibe hinter dem gebotenen Schutzniveau zurück. Im Hinblick auf Pönalisierungspflichten erreicht die vom EGMR angelegte Kontrollintensität somit jedenfalls dann nicht das Ausmaß der beim BVerfG gepflegten, wenn man dessen Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch 51 als Maßstab heranzieht. Hinsichtlich der genaueren Bestimmung des Spielraums, welcher den konventionsunterworfenen Staaten für die Erfüllung von Schutzpflichten zusteht, wird im deutschen Schrifttum weitgehend auf die Grundsätze rekurriert, die man auch in Anbetracht von grundgesetzlichen Schutzpflichten bemüht. So dürfe der Staat einerseits die abwehrrechtliche Seite der Konventionsrechte bei der Erfüllung von Schutzpflichten nicht außer Acht lassen, andererseits aber ebenso wenig hinter dem gebotenen Schutzniveau zurückbleiben. 52 Danach gilt der Gesetzgeber auch nach der EMRK als an die Einhaltung von Übermaßverbot wie Untermaßverbot gebunden, und er muss sich um die Schaffung praktischer Konkordanz bemühen. a) Stimmen im Schrifttum Aus den genannten Vorgaben wird im Schrifttum gefolgert, die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Zwang des Staates, mit Sanktionen ___________ 50 Zur Rechtsprechung siehe oben bei Fn. 27; aus dem Schrifttum vgl. Bleckmann (Fn. 38), § 11 Rn. 234 ff.; Dröge (Fn. 17), S. 55 ff.; Jaeckel (Fn. 5), S. 169; KleyStruller (Fn. 34), S. 509; Villiger (Fn. 5), Rn. 233; Wildhaber / Breitenmoser (Fn. 29), Art. 8 Rn. 32. 51 Siehe Fn. 11. 52 In diesem Sinne Jaeckel (Fn. 5), S. 169; Murswiek (Fn. 30), S. 235; vgl. weiter Dröge (Fn. 17), S. 307 ff., 331 f.; Grabenwarter (Fn. 20), S. 122.

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auch strafrechtlicher Natur von der Beeinträchtigung von Menschenrechten abzuschrecken, lasse sich auf die Schutzgüter der EMRK übertragen. 53 So fordert Jaeckel, jeder Konventionsstaat müsse zumindest diejenigen Rechtsgüter, denen konstituierende Funktion für die Ausübung sonstiger Freiheiten zukomme, strafrechtlich gegenüber vorsätzlichen Verletzungen durch Private schützen. Als Beispiele finden sich das Leben (Art. 2 EMRK) 54 sowie die Freiheit von Folter (Art. 3 EMRK) 55 und Sklaverei (Art. 4 EMRK) genannt. 56 „Je nach Art der Gefahrenquelle“ könne ferner die Strafbarstellung gewisser fahrlässiger Verletzungen unabdingbar sein. 57 Indes zeigt sich schon in der Formulierung, dass der Ansatz Jaeckels unter Ungenauigkeiten leidet. Die Freiheit von Folter und Sklaverei gibt anders als das Leben kein Rechtsgut, sondern einen – wenn auch noch so wünschenswerten – Zustand ab. Jaeckel lässt außer Acht, dass sich die EMRK in geringerem Umfang als etwa das Grundgesetz an den geschützten Grundrechtsgütern orientiert, sondern stattdessen bisweilen die verbotenen Handlungsformen, durch welche die Menschenrechte und Grundfreiheiten beeinträchtigt werden, expressis verbis aufzählt. So wie die EMRK in Ermangelung eines der Regelung des Art. 2 Abs. 1 GG vergleichbaren Auffanggrundrechts kein umfassendes System menschenrechtlichen Schutzes beinhaltet 58 , garantiert Art. 3 EMRK eben nicht vollumfänglich die körperliche Unversehrtheit. Stattdessen muss die Integrität des Betroffenen durch Folter bzw. unmenschliche oder erniedrigende ___________ 53 So Murswiek (Fn. 30), S. 238, 240; ähnlich etwa Egli (Fn. 32), S. 240; Ehlers (Fn. 34), S. 374; Frowein, in: Frowein / Peukert (Fn. 26), Art. 1 Rn. 10; Ress, G., The Duty to Protect and Ensure Human Rights Under the European Convention of Human Rights, in: Klein, E. (Hrsg.), The Duty to Protect and to Ensure Human Rights, 2000, S. 165 (190 f.); Satzger, H., Die Europäisierung des Strafrechts, 2001, S. 293; Szczekalla (Fn. 32), S. 796 f.; zweifelnd aber Appel, I., Verfassung und Strafe, 1998, S. 260 f. 54 Etwa Bisson, F., Die lebensgefährliche Verteidigung von Vermögenswerten, 2002, S. 162, 197 Fn. 852; Corstens / Pradel (Fn. 9), Rn. 272; Gollwitzer (Fn. 20), Art. 2 MRK, Rn. 11; Grabenwarter (Fn. 20), S. 120, 130 f.; Meyer-Ladewig (Fn. 26), Art. 2 Rn. 7c; Paeffgen (Fn. 20), Art. 2 EMRK, Rn. 31. 55 Corstens / Pradel (Fn. 9), Rn. 287; Dröge (Fn. 17), S. 51; Hecker, W., Relativierung des Folterverbots in der BRD?, in: KJ 2003, S. 210 (217 Fn. 33); Meyer-Ladewig (Fn. 26), Art. 3 Rn. 2; siehe auch Paeffgen (Fn. 20), Art. 3 EMRK, Rn. 18; ablehnend aber Jerouschek, G. / Kölbel, R., Folter von Staats wegen?, in: JZ 2003, S. 613 (619 f.). 56 In diesem Sinne Gollwitzer (Fn. 20), Art. 4 MRK, Rn. 7; Jaeckel (Fn. 5), S. 174; Meyer-Ladewig (Fn. 26), Art. 4 Rn. 2a. 57 So Jaeckel (Fn. 5), S. 174 Fn. 352. Nach der Judikatur kann aber eine strafrechtliche Reaktion auf bloß fahrlässige Tötungen im medizinischen Bereich nicht verlangt werden, EGMR RJD 2002–I, 1 (37 f.: Calvelli u. Ciglio ./. Italien); NJW 2005, 727 (731: Vo ./. Frankreich); zustimmend Schilling, Th., Internationaler Menschenrechtsschutz, 2004, S. 44 f. 58 Betont auch von Appel (Fn. 53), S. 301 f., der auf die Möglichkeit der Signatarstaaten verweist, die Konvention (in Zusatzprotokollen) zu ergänzen.

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Behandlung verletzt sein, um von einem Konventionsverstoß ausgehen zu können. Die Schwellen werden recht hoch angesetzt. 59 Einzelne Verletzungen reichen nicht aus. Versetzt also ein deutscher Amtsträger ohne Befugnis oder sonst rechtfertigenden Grund einem Bürger einen einzigen Faustschlag, wird dadurch die abwehrrechtliche Dimension des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG aktiviert, aber noch nicht diejenige des Art. 3 EMRK. Zwar entnimmt der EGMR nunmehr der Gewährleistung des Rechts auf Lebens (Art. 2 EMRK) einen allgemeinen Auftrag für staatliche Maßnahmen gegen die Verletzung von Leib und Leben. 60 Eine Begründung hierfür fehlt jedoch, und in der entschiedenen Konstellation einer geplanten Tötung auf Verlangen ging es nur um das Lebensrecht. In manchen Fällen mag allerdings die Herbeiführung eines Körperverletzungserfolgs bereits zur Anwendung von Vorschriften führen, die ein Staat in Umsetzung seiner Schutzpflicht für das Lebensrecht erlassen hat. So verhält es sich etwa bei der Würdigung der mit bedingtem Tötungsvorsatz zugefügten Körperverletzung als versuchter Tötung. Selbst wenn man die Körperverletzung als notwendiges Vorstadium einer Tötung begreift, lässt sich aber doch nicht sagen, die Gefährdung oder Verletzung des Lebens sei so eng mit derjenigen der körperlichen Integrität verwoben, dass eine Grundrechtsnorm, welche dem Lebensschutz dient, in jedem Fall auch in Ansehung bloßer Verletzungen von Körper oder Gesundheit aktiviert werden muss. Denn es bleiben zahlreiche Konstellationen denkbar, in denen Eingriffe in die Schutzgüter der Gesundheit und der körperlichen Unversehrtheit nicht einmal eine abstrakt-generelle, geschweige denn konkrete Gefahr für das Leben des Verletzten mit sich bringen. Auch das Grundgesetz unterscheidet im Übrigen in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG zwischen den beiden Schutzgütern Leben und Leib. Die unterschiedliche Gestaltung von EMRK und Grundgesetz soll durch einen weiteren Vergleich nochmals verdeutlicht werden: Art. 12 Abs. 1 S. 1 GG statuiert das Grundrecht der Freiheit von Berufswahl und Berufsausübung. Daraus folgt ohne weiteres ein Verbot der Zwangsarbeit, weil diese nicht frei gewählt wird. Deshalb müssen in Art. 12 Abs. 2 und 3 GG die Gewährleistungen des Grundrechts wieder eingeschränkt werden, um die Erbringung bestimmter unfreiwilliger Arbeitsleistungen gleichwohl zu ermöglichen. Art. 4 EMRK verzichtet demgegenüber darauf, ein Grundrecht der Berufsfreiheit ausdrücklich zu formulieren. Stattdessen werden Sklaverei, Leibeigenschaft sowie Zwangs- und Pflichtarbeit verboten, bevor es zur Statuierung von Ausnahmen von diesem Verbot kommt. Ein Rechtsgut, wie es die freie Selbstbestimmung in allen Fragen der Berufswahl abgibt, kann Art. 4 EMRK jedenfalls nicht unmittelbar dem Wortlaut nach entnommen werden, sondern es muss erst ___________ 59 Vgl. EGMR, NJW 2001, 2001 ff. (Salman ./. Türkei); Gollwitzer (Fn. 20), Art. 3 MRK, Rn. 17 ff.; Paeffgen (Fn. 20), Art. 3 EMRK, Rn. 6 ff.; Villiger (Fn. 5), Rn. 275 ff. 60 So EGMR, EuGRZ 2002, 234 ff.

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im Wege der Auslegung ermittelt werden, ob über die ausdrücklich genannten Verbote hinaus in Art. 4 EMRK eine weiter gehende, umfassende Gewährleistung der Berufsfreiheit enthalten ist. 61 Man wird kaum annehmen können, dass die divergierende Gestaltung der EMRK und des Grundgesetzes dem Zufall geschuldet ist und deshalb bei der Bestimmung der Reichweite von Schutz- und Pönalisierungspflichten außer Acht bleiben darf. Denn in der Konvention finden sich durchaus Gewährleistungen, in denen das geschützte Rechtsgut und nicht das verbotene Verhalten herausgestellt wird. Als Beispiel ist Art. 2 Abs. 1 S. 1 EMRK zu nennen, dem zufolge generell das Recht eines jeden Menschen auf das Leben geschützt, nicht jedoch die Tötung ohne das Vorliegen einer der in der Bestimmung im Einzelnen bezeichneten Ausnahmen verboten wird. b) Existenz und Inhalt von Pönalisierungspflichten Festzuhalten bleibt: Schutzaufträge bestehen in mehrfacher Hinsicht. Zum einen können sich derartige Pflichten auf die Sorge für ausdrücklich in der Konvention genannte Rechtsgüter beziehen. Was zum anderen die Normen betrifft, in denen nur bestimmte Zustände für konventionswidrig erklärt werden, bedarf es genauerer Prüfung, in welche Richtung sich die Schutzpflicht erstreckt. In Betracht kommt entweder der Schutz des durch Auslegung zu ermittelnden Rechtsguts, in Ansehung dessen die einschlägige Bestimmung der Konvention geschaffen wurde, oder aber der lediglich im Wege eines ggf. sanktionierten Verbots zu gewährende Schutz vor den genannten missbilligten Zuständen. Am Beispiel des Art. 3 EMRK: Bezieht sich die Schutzpflicht auf sämtliche gravierenden Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit oder ausschließlich auf die Freiheit von Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung und ebensolcher Strafe? Richtigerweise hat man für die zweite Möglichkeit zu optieren. Denn es wird eben nicht das Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit umfassend garantiert, sondern nur im Hinblick auf bestimmte Verletzungshandlungen bzw. „Angriffswege“, und bei Anwendung der anerkannten Auslegungsmethoden folgt nichts, was ein anderes Ergebnis rechtfertigen würde. Hier findet sich ein weiterer Grund dafür, warum nach der EMRK Schutzpflichten nur geringere Bedeutung zukommen kann als beispielsweise unter dem Grundgesetz. 62 ___________ 61

Wohl zu Recht ablehnend Oppermann (Fn. 22), S. 36; Paeffgen (Fn. 20), Art. 4 EMRK, Rn. 1. 62 Das mag zur Versöhnung der Schutzpflichtdoktrin mit der Sichtweise von Strafrecht als Ultima Ratio (dazu speziell bezogen auf die EMRK Paeffgen [Fn. 20], Art. 2 EMRK, Rn. 31) beitragen.

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Die Frage nach der Existenz von Pönalisierungspflichten unter der Geltung der EMRK darf man gleichwohl bejahen. Bedeutung kommt dabei in erster Linie der kasuistisch orientierten Rechtsfindung durch den EGMR zu, der von den Vertragsstaaten mit der Entwicklung der in der Konvention enthaltenen Gewährleistungen betraut wurde. Dieser hat wie selbstverständlich die Unterhaltung eines strafrechtlichen Schutzniveaus verlangt, wenn die Beeinträchtigung gravierender Rechtsgüter im Raum stand. Auch lässt sich nicht von der Hand weisen, dass gerade die Fragmentarität der Konvention in gewisser Weise ihrer sehr weit gehenden Interpretation dienlich ist. Geht es nach der Präambel der EMRK entscheidend um die „Wahrung und ... Entwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten“, so wird damit eine Einschränkung auf bestimmte Mittel und Wege, um diesem Zweck zu genügen, nicht vorgenommen. Es darf also im Rahmen der Konvention dem Ziel der Vervollkommnung des Menschenrechtsschutzes auf jede taugliche Weise gedient werden. Mithin stellt dabei auch das Strafrecht ein akzeptables Schutzmittel dar. Damit ist allerdings noch nichts darüber ausgesagt, ob von diesem statthaften Werkzeug Gebrauch gemacht werden muss. Diese Frage kann man prinzipiell trotz der insoweit schwächeren Andeutung von Rechtsgrundlagen in der Menschenrechtskonvention aber kaum verneinen. Denn hier beanspruchen die Erwägungen ganz genauso Geltung, die unter dem Grundgesetz einen gewissen Strafrechtsschutz als unabdingbar erscheinen lassen. Darf das Risiko nicht eingegangen werden, bestimmte hoch stehende Rechtsgüter ohne das Mittel des Strafrechts bewahren zu wollen, so bleibt belanglos, ob die Bedeutung dieser Interessen aus der Europäischen Menschenrechtskonvention, dem Grundgesetz, beiden Normierungen oder einer anderen Rechtsgrundlage erwächst. Die Schutzmittel ergeben sich nicht aus der Konvention, sondern sind den jeweiligen nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten zu entnehmen. Besteht unter den Konventionsstaaten die gemeinsame Rechtsüberzeugung, dass man ohne den Einsatz des Strafrechts jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht auskommen kann, so bleibt es unbedenklich, falls der Gerichtshof – wie er dies offensichtlich tut – an diesen allgemeinen Standpunkt anknüpft und Konsequenzen für die Unverzichtbarkeit des Strafrechtsschutzes hieraus ableitet. Nicht zuletzt sollte in Betracht gezogen werden, dass der EGMR sich bei der Anerkennung von Pönalisierungspflichten bisher Zurückhaltung auferlegt hat; eine zu weit reichende Beeinflussung des Strafrechts, welches sich prinzipiell als originärer Hoheitsbereich der Vertragsstaaten darstellt, bleibt mithin nicht zu besorgen. So hat der Gerichtshof keine Vorgaben für die Entscheidung rechtlich diffiziler und politisch umstrittener Fragen wie der Regelung des Schwangerschaftsabbruchs aufgestellt, sondern lediglich die Existenz von Schutzlücken im Hinblick auf Verletzungen der körperlichen Unversehrtheit und der sexuellen Selbstbestimmung bemängelt. Dabei handelt es sich um Güter, die allgemein wie auch nach dem Recht der betroffenen Konventionsstaaten generell mit den Mitteln des Strafrechts in Schutz genommen werden.

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IV. Fazit Pönalisierungspflichten nach der EMRK sind mit folgenden Maßgaben anzuerkennen: Derartige Verpflichtungen können nur so weit reichen wie die Gewährleistungen der Konvention selbst. Es gilt zu beachten, dass die Konvention keinen umfassenden Grundrechtskatalog beinhaltet. Soweit Garantien ausschließlich als Abwehrrechte gegen staatliche Übergriffe aufzufassen sind, dürfen Pönalisierungspflichten auch nur die Statuierung von Sonderdelikten für das Verhalten von Amtsträgern und Staatsdienern zum Gegenstand haben. Mehr als die Pflicht, überhaupt strafrechtliche Sanktionen für ein bestimmtes Verhalten oder Unterlassen vorzusehen, wird man der Konvention schließlich keineswegs entnehmen können. Das betrifft insbesondere Vorgaben zur Ausgestaltung des Sanktionensystems, da die Rechtsfolgen sich in erster Linie in das nationale Strafrechtskonzept des jeweiligen Konventionsstaates im Wege der Systemgerechtigkeit einfügen müssen. Man hat deshalb davon auszugehen, dass die Konvention zur konkreten Umsetzung von Strafpflichten keine Entscheidungshilfe bereitstellt.

Der Schutz des Einzelnen im materiellen Strafrecht vor unzulässigen Vernehmungsmethoden Zur Anwendbarkeit des Tatbestands der Aussageerpressung bei doppelfunktionalem Handeln Frank Zieschang

I. Einleitung Die Strafbestimmung der Aussageerpressung gemäß § 343 StGB wird in der Praxis nur sehr selten angewendet. Entscheidungen ergehen kaum. Ausweislich der Strafverfolgungsstatistik erfolgen durchschnittlich weniger als fünf Verurteilungen pro Jahr. 1 Das besagt zwar noch nichts darüber, ob möglicherweise ein größeres Dunkelfeld besteht; dennoch wird man die Einschätzung eines einzelnen Autors, Verstöße gegen § 343 StGB gehörten „zum strafrechtlichen Alltag“, 2 angesichts der tatsächlich existierenden Kontrollmechanismen – etwa in vielen Fällen insbesondere in Form der Verteidigung – als überzogen zu bezeichnen haben. Auch in der Strafrechtsdogmatik war der Vorschrift lange Zeit keine größere Aufmerksamkeit zuteil geworden. Erst durch die Entführung eines Frankfurter Bankierssohns im September 2002, die tiefe öffentliche Anteilnahme hervorgerufen hatte, ist die Vorschrift stärker in das Blickfeld gerückt. In diesem Fall ordnete bekanntlich der damalige Frankfurter Polizeivizepräsident (P) an, dem festgenommenen Entführer (E) solle Gewalt angedroht werden, falls er das Versteck des entführten Kindes nicht preisgebe. In einem Aktenvermerk legte P nieder, dass dieses Vorgehen nicht der Aufklärung der Straftat diente, sondern ausschließlich der Rettung des Lebens des entführten Kindes. 3 Dieser Sachverhalt hat in erster Linie eine sehr breite und kontrovers geführte Diskus___________ 1 Nach den derzeit veröffentlichten Strafverfolgungsstatistiken waren es in den Jahren 2000 und 2001 jeweils insgesamt vier Verurteilungen und in den Jahren 2002 und 2003 nur je drei. Zu vergleichbar geringen Angaben aus den Vorjahren siehe Kuhlen, L., in: Nomos Kommentar, StGB, 2. Aufl. 2005, § 343 Rn. 2 Fn. 4; vgl. auch Kinzig, J., Not kennt kein Gebot?, in: ZStW 115 (2003), S. 791 (794). 2 So Malek, K., Die Aussageerpressung im strafgerichtlichen Alltag – Bemerkungen zu § 343 StGB – StraFo 2005, 441 (446). 3 Siehe ausführlich zum Sachverhalt LG Frankfurt a. M., NJW 2005, 692.

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sion in der Wissenschaft und auch Öffentlichkeit darüber eröffnet, ob Folter in Ausnahmefällen zulässig, insbesondere also gerechtfertigt sein kann. 4 Der Fall gibt aber ebenfalls Anlass, sich näher mit den Voraussetzungen des Tatbestands der Aussageerpressung auseinander zu setzen. In Bezug auf diese Strafvorschrift stellt sich nämlich die Frage, ob P im Sinne der tatbestandlichen Voraussetzungen als Amtsträger, der zur Mitwirkung an einem Strafverfahren berufen ist, dem E Gewalt angedroht hat, um diesen zu nötigen, in dem Verfahren etwas auszusagen. 5 Hierbei ist insbesondere problematisch, dass es dem Polizeibeamten, legt man den Aktenvermerk zugrunde, ausschließlich um Gefahrenabwehr ging, also um die präventiv-polizeiliche Rettung des entführten Kindes. Das könnte möglicherweise gegen die Anwendbarkeit der Vorschrift sprechen. So ist in § 343 Abs. 1 Nr. 1 StGB davon die Rede, dass der Amtsträger zur Mitwirkung an einem Strafverfahren oder einem Verfahren zur Anordnung einer behördlichen Verwahrung berufen sein muss, wobei die Misshandlung usw. erfolgt, um das Opfer zu nötigen, „in dem ___________ 4 Siehe neben BVerfG, NJW 2005, 656, EGMR, NJW 2007, 2461, und LG Frankfurt a. M., NJW 2005, 692, aus der Vielzahl der zwischenzeitlich zu diesem Thema vorliegenden Veröffentlichungen etwa Brugger, W., Vom unbedingten Verbot der Folter zum bedingten Recht auf Folter?, in: JZ 2000, S. 165; Ellbogen, K., Zur Unzulässigkeit von Folter (auch) im präventiven Bereich, in: Jura 2005, S. 339; Erb, V., Nothilfe durch Folter, in: Jura 2005, S. 24; Haurand, G. / Vahle, J., Rechtliche Aspekte der Gefahrenabwehr in Entführungsfällen, in: NVwZ 2003, S. 513; Herzberg, R. D., Folter und Menschenwürde, in: JZ 2005, S. 321; Hilgendorf, E., Folter im Rechtsstaat?, in: JZ 2004, S. 331; Jerouschek, G. / Kölbel, R., Folter von Staats wegen?, in: JZ 2003, S. 613; Jeßberger, F., „Wenn Du nicht redest, füge ich Dir große Schmerzen zu.“, in: Jura 2003, S. 711; Kinzig (Fn. 1), S. 791; Kretschmer, B., Folter in Deutschland: Rückkehr einer Ungeheuerlichkeit?, in: RuP 2003, S. 102; Miehe, O., Nochmals: Die Debatte über Ausnahmen vom Folterverbot, in: NJW 2003, S. 1219; Mitsch, W., Strafrechtsschutz gegen gewaltsame Verhinderung eines Mordes?, in: Die Polizei 2004, S. 254; Müller, K. / Formann, G., Die Opfer schützende Folterandrohung – Vermeintliche Lebensrettung durch verbotene Vernehmungsmethoden, in: Die Polizei 2003, S. 313; Neuhaus, R., Die Aussageerpressung zur Rettung des Entführten: strafbar!, in: GA 2004, S. 521; Roxin, C., Kann staatliche Folter in Ausnahmefällen zulässig oder wenigstens straflos sein?, in: Festschrift für Albin Eser zum 70. Geburtstag, 2005, S. 461; Saliger, F., Absolutes im Strafprozess? Über das Folterverbot, seine Verletzung und die Folgen seiner Verletzung, in: ZStW 116 (2004), S. 35; Steinke, W., Das Urteil gegen Wolfgang Daschner, in: Kriminalistik 2005, 229; Wagenländer, G., Zur strafrechtlichen Beurteilung der Rettungsfolter, 2006; Welsch, H., Die Wiederkehr der Folter als das letzte Verteidigungsmittel des Rechtsstaats?, in: BayVBl. 2003, S. 481; Wilhelm, J. Ph., Folter – verboten, erlaubt oder gar geboten?, in: Die Polizei 2003, S. 198; Ziegler, O., Das Folterverbot in der polizeilichen Praxis, in: KritV 2004, S. 50. 5 Im konkreten Fall wird dabei § 343 StGB, da der Polizeivizepräsident selbst nicht die Androhung gegenüber dem Beschuldigten aussprach, sondern dies nur angeordnet hatte, über § 357 StGB (Verleitung eines Untergebenen zu einer Straftat) relevant; siehe auch Kretschmer (Fn. 4), S. 103. Da im vorliegenden Beitrag konkret die mit § 343 StGB verbundenen Probleme Gegenstand der Erörterung sein sollen, bleibt diese Besonderheit unberücksichtigt. Die nachfolgenden Überlegungen gehen also davon aus, dass P selbst die Androhung ausgesprochen hat.

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Verfahren“ etwas auszusagen, zu erklären oder dies zu unterlassen. Damit betrifft § 343 Abs. 1 Nr. 1 StGB das Strafverfahren, den präventiven Bereich jedoch nur, soweit es um eine Unterbringung (behördliche Verwahrung) geht, 6 im Übrigen aber nicht. Das könnte bedeuten, dass die Vorschrift den vorliegenden Fall nicht erfassen kann und folglich ausscheidet. So hatte denn auch die Staatsanwaltschaft Frankfurt a. M. den Polizeibeamten von vornherein nicht wegen Aussageerpressung, sondern wegen Nötigung angeklagt 7 und das Landgericht Frankfurt a. M. ausgeführt, § 343 StGB scheide aus, da es P „zielgerichtet und ausschließlich um die Rettung des entführten Kindes“ ging, 8 obwohl das Gericht an anderer Stelle der Urteilsgründe feststellt, es seien „erkennbar strafprozessuale Belange tangiert“ gewesen. 9 In Rede stehen also Konstellationen, in denen ein Amtsträger in unterschiedlicher Funktion tätig werden kann, konkret ihm also sowohl präventive als auch repressive Aufgaben obliegen. Bislang ist in Rechtsprechung und Schrifttum noch nicht abschließend geklärt, ob überhaupt und unter welchen Voraussetzungen dann der Tatbestand der Aussageerpressung anwendbar ist. Die nachfolgenden Überlegungen sollen zur weiteren Klärung des Problems beitragen.

II. Zur Anwendbarkeit des Tatbestands der Aussageerpressung bei doppelfunktionalem Handeln Die Konstellation, dass einem Amtsträger gleichzeitig in präventiver als auch in repressiver Hinsicht Aufgaben obliegen, tritt insbesondere bei der Polizei auf. Einerseits schreitet sie nach den einschlägigen Polizeigesetzen der Länder zur Gefahrenabwehr, also präventiv, ein: So normiert etwa das bayerische Polizeiaufgabengesetz in § 2 Abs. 1 PAG, dass die Polizei die Aufgabe hat, die allgemein oder im Einzelfall bestehenden Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren. Gleichzeitig haben die Beamten des Polizeidienstes aber nach § 163 StPO die Aufgabe, Straftaten zu erforschen. Darüber hinaus zählen die meisten Polizeibeamten nach den zu § 152 Abs. 2 GVG erlassenen Rechtsverordnungen der Länder zu den „Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft“ 10 und nehmen auch insofern repressive Aufgaben wahr. ___________ 6

So zum Beispiel bei der Einweisung nach § 30 Infektionsschutzgesetz oder nach den Unterbringungsgesetzen der Länder; vgl. Cramer, P. / Sternberg-Lieben, D., in: Schönke / Schröder, StGB, 27. Aufl. 2006, § 343 Rn. 5. 7 Siehe LG Frankfurt a. M., NJW 2005, 692: Konkret ging es bei dem Vizepräsidenten um § 357 StGB i. V. m. § 240 StGB; vgl. auch Steinke (Fn. 4), S. 230. 8 LG Frankfurt a. M., NJW 2005, 692 (695 re. Sp.). 9 LG Frankfurt a. M., NJW 2005, 692 (695 li. Sp.). 10 Dieser Begriff hat die frühere Formulierung „Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft“ ersetzt.

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Welche Konsequenzen diese Doppelfunktionalität für die Anwendbarkeit des § 343 StGB hat, wird kontrovers beurteilt.

1. Der Meinungsstand in Rechtsprechung und Schrifttum Der Bundesgerichtshof hat in einer Entscheidung aus dem Jahr 1954 zu der damaligen in § 343 a. F. StGB enthaltenen Formulierung, „ein Beamter, welcher in einer Untersuchung Zwangsmittel anwendet …, um Geständnisse oder Aussagen zu erpressen“ festgestellt, Handlungen, welche die Verhinderung oder Unterdrückung eines polizeiwidrigen Zustands bezwecken, fielen nicht unter die Vorschrift. 11 Zieht man den Aktenvermerk des P heran, könnte diese Rechtsprechung des BGH, die allenthalben dafür angeführt wird, dass bei präventiver Tätigkeit § 343 StGB ausscheidet, 12 möglicherweise zur Folge haben, dass die Vorschrift nicht in Betracht kommt; der Polizeibeamte hatte nämlich niedergelegt, dass die gegenüber dem Entführer erfolgte Androhung nicht der Aufklärung der Straftat, sondern ausschließlich der Rettung des Kindes diente. Das bedeutet eventuell, dass nur Gefahrenabwehr in Frage stand und daher aus diesem Grund § 343 StGB ausscheidet. Gegen eine solche Sicht ergeben sich aber gewichtige Einwände: So ist zu beachten, dass nicht die in einem Aktenvermerk niedergelegte Rechtsansicht des Polizeibeamten darüber entscheidet, welche Aufgabenfelder tangiert sind, sondern zunächst einmal von der objektiven Rechtslage auszugehen ist. Tatsächlich oblag dem Polizeibeamten nun aber in Bezug auf den Entführer gleichzeitig auch die repressive Aufgabe der Strafverfolgung. Er war daher nicht nur in präventiver, sondern ebenfalls in repressiver Hinsicht mit dem Fall betraut. Darüber hinaus zeigt der Aktenvermerk im Übrigen schon für sich genommen, dass sich P selbst sehr wohl darüber bewusst war, dass ihm im konkreten Fall neben präventiven auch repressive Aufgaben oblagen. Bei einer solchen „Gemengelage“ 13 hilft nun aber gerade die Aussage des BGH, dass bei einer Tätigkeit zu rein präventiven Zwecken § 343 StGB ausscheidet, nicht weiter; hierum geht es im Frankfurter Fall eben nicht ausschließlich. Durchaus erwägen ließe sich, ohne mit der erwähnten BGH-Entscheidung in Widerspruch zu geraten, dass § 343 StGB anwendbar ist, sofern der Polizeibeamte – wie im konkreten Fall – neben der Gefahrenabwehr auch repressive ___________ 11

BGHSt 6, 144 (146); in diesem Sinne auch schon RGSt 42, 65 (66). Siehe etwa nur Jescheck, H.-H., in: Leipziger Kommentar, StGB, 11. Aufl. 1999, § 343 Rn. 4 a. E. 13 Siehe Kinzig (Fn. 1), S. 794; Rogall, K., Bemerkungen zur Aussageerpressung, in: Festschrift für Hans-Joachim Rudolphi zum 70. Geburtstag, 2004, S. 511 (538 f.). 12

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Aufgaben wahrzunehmen hatte, denn dann ist der Bereich des Strafverfahrens zumindest auch betroffen. Zur Stützung dieser These könnte sogar höchstrichterliche Rechtsprechung angeführt werden, die zu § 252 StPO ergangen ist: Nach dieser Bestimmung des Prozessrechts ist es verboten, eine Aussage eines vor der Hauptverhandlung vernommenen Zeugen, der erst in der Hauptverhandlung von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht, zu verlesen. Der BGH hat entschieden, dass es der Anwendung des § 252 StPO nicht entgegenstehe, wenn der Polizeibeamte mit der früheren Befragung eine polizeirechtliche Entscheidung vorbereiten wollte; maßgeblich sei für die Heranziehung des § 252 StPO, dass die Befragung nach ihrem objektiven Inhalt der gesetzlichen Aufgabe der Polizei gemäß § 163 StPO entsprach, Straftaten zu erforschen. 14 Ferner ließe sich zur weiteren Untermauerung anführen, dass der BGH es im Einzelfall sogar zugelassen hat, präventivpolizeilich erlangte Erkenntnisse zur Begründung strafprozessualer Maßnahmen heranzuziehen. 15 Zwar erscheint diese Rechtsprechung bedenklich, da sie das Gebot der Zweckbindung der Daten nicht hinreichend beachtet; 16 unabhängig davon wird jedoch an dieser Rechtsprechung deutlich, dass der BGH durchaus bereit ist, präventiven Maßnahmen auch Bedeutung im repressiven Bereich zuzubilligen, was dafür spricht, dass es nicht von vornherein mit der Auffassung der Rechtsprechung unvereinbar ist, § 343 StGB anzuwenden, wenn dem Handelnden im konkreten Fall sowohl präventive als auch repressive Aufgaben obliegen. Das Schrifttum äußert sich unterschiedlich zu diesem Fragenkreis. Teilweise wird, ohne näher auf das konkrete Problem der Doppelfunktionalität einzugehen, lediglich unter Bezugnahme auf die Entscheidung des BGH aus dem Jahr 1954 betont, § 343 StGB komme im Bereich der polizeilichen Gefahrenabwehr nicht in Betracht. Ermittlungen zur Feststellung und Beseitigung eines polizeiwidrigen Zustands fielen nicht unter die Vorschrift. 17 Dass diese Aussage in Bezug auf das hier behandelte Problem nicht sehr viel weiter hilft, ist bereits im Zusammenhang mit den Überlegungen zu der Auffassung des BGH deutlich ___________ 14 BGHSt 29, 230 (232); siehe dazu auch Neuhaus (Fn. 4), S. 522 f., der maßgeblich auf diese Entscheidung Bezug nimmt. 15 Siehe BGH, NJW 1996, 405; BGHR, StPO § 100a Verwertungsverbot 8; jüngst BGH, NStZ-RR 2006, 240. 16 Vgl. dazu auch Bockemühl, J., Zur Verwertbarkeit von präventiv-polizeilichen Erkenntnissen aus „Lauschangriffen“ im Strafverfahren, in: JA 1996, S. 695 (698 ff.); Welp, J., Anm. zu BGH, Beschl. v. 07.06.1995, 2 BJs 127/93, StB 16/95, NStZ 1995, S. 602 (604); kritisch zum BGH etwa auch Roggan, F., Über das Verschwimmen von Grenzen zwischen Polizei- und Strafprozessrecht, in: KritV 1998, S. 336 (348 ff.); siehe zum Gesichtspunkt der Zweckbindung auch Zieschang, F., Der Austausch personenbezogener Daten mittels Europol, in: ZRP 1996, S. 427 (428 f.). 17 Jescheck (Fn. 12), § 343 Rn. 4 a. E.; Tröndle, H. / Fischer, T., StGB, 54. Aufl. 2007, § 343 Rn. 5; in diesem Sinne auch Miehe (Fn. 4), S. 1220; Mitsch (Fn. 4), S. 255; Wagenländer (Fn. 4), S. 107 ff., 113.

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geworden, denn dadurch ist noch nicht entschieden, dass § 343 StGB ausscheidet, wenn eine Gemengelage besteht, also dem Polizeibeamten neben präventiven auch repressive Aufgaben oblagen. Es finden sich im Schrifttum aber inzwischen auch speziell Ausführungen zu der hier kritischen Situation, dass ein Nebeneinander von Repression und Prävention besteht. Nach Rogall 18 und Kuhlen 19 komme es dann auf den „Schwerpunkt der Tätigkeit bzw. auf den Zweck der Maßnahme“ an. Stelle sich die Abwehr einer Gefahr situativ als dringlich dar, so könne und müsse die Polizei aus Gründen der Gewährleistung eines effektiven Grundrechtsschutzes präventiv eingreifen. Die Maßnahme erfolge dann zwar gegebenenfalls parallel zu einem laufenden Strafverfahren, aber eben nicht „in“ diesem. Es fehle dann an dem erforderlichen funktional-zweckorientierten Zusammenhang zum Strafverfahren. 20 Insofern ist jedoch bereits nicht hinreichend klar, ob ein objektives Kriterium – nämlich das des Schwerpunkts – oder ein subjektiver Gesichtspunkt – also der verfolgte Zweck der Maßnahme – oder beides maßgeblich sein soll, wobei im letzteren Fall das Verhältnis beider Kriterien zueinander offen bleibt, indem insbesondere eine Aussage dazu fehlt, was zu gelten hat, wenn beide Merkmale im Einzelfall zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen. Zudem ist unabhängig davon gegenüber beiden Gesichtspunkten Kritik zu erheben: So scheint zwar zunächst die Formel vom „Schwerpunkt der Tätigkeit“ den Vorteil aufzuweisen, dass jeweils ausgehend von den Umständen des Einzelfalls das Hauptgewicht der Maßnahme als maßgeblich erachtet wird. Dennoch vermag dieses Kriterium nicht überzeugen, denn letztlich wird dann die Abgrenzung zum offenen Wertungsproblem. Gegen diese Formel spricht also mit anderen Worten vor allem ihre relative Unbestimmtheit; sie öffnet das Tor zu einer intuitiven Bewertung der Situation, ohne mitzuteilen, nach welchen konkreten objektiven Gesichtspunkten beurteilt werden soll, wann das Schwergewicht auf welcher Seite liegt und wie es überhaupt zu ermitteln ist. Im Hinblick auf das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG erscheint damit das Kriterium zumindest sehr bedenklich. Rogall selbst führt zudem an anderer Stelle aus, es sei unerheblich, wenn der Täter den Nötigungserfolg (auch) im Strafverfahren erzielen wolle, ob er daneben noch weitere Ziele verfolge. 21 Legt man diese Aussage zugrunde, müsste bei doppelfunktionaler Tätigkeit § 343 StGB in Betracht kommen; das widerspricht aber seiner Auffassung, wonach bei einem Nebeneinander von Repression und Prävention der Schwerpunkt der Tätigkeit ___________ 18

Rogall (Fn. 13), S. 539; zustimmend Erb (Fn. 4), S. 24. Kuhlen (Fn. 1), § 343 Rn. 6. 20 Kuhlen (Fn. 1), § 343 Rn. 6; Rogall (Fn. 13), S. 539; siehe auch Cramer / Sternberg-Lieben (Fn. 6), § 343 Rn. 4. 21 Rogall (Fn. 13), S. 538 Fn. 233. 19

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maßgeblich sein soll. Aber auch das Abstellen auf das Merkmal des verfolgten Zwecks vermag nicht vollends zu überzeugen, denn der Aufbau des § 343 StGB zeigt, dass die Frage, in welchem Verfahren der Täter agiert, nicht nur in subjektiver Hinsicht maßgeblich ist, sondern schon objektiv relevant wird, wenn es darum geht, dass der Täter zur Mitwirkung an einem bestimmten Verfahren berufen sein muss. Insofern spielt es keine Rolle, welchen Zweck der Täter verfolgt. Es ist also zwischen den objektiven Voraussetzungen einerseits und dem besonderen subjektiven Merkmal andererseits hinreichend zu unterscheiden. Zum Teil wird im Schrifttum ausgeführt, die Vorschrift des § 343 StGB ziele vor allem darauf, dass das staatliche Strafverfolgungsinteresse nicht durch unlautere Mittel durchgesetzt werden soll. 22 Wenn man beachte, dass noch nicht einmal alle unlauteren Methoden des § 136a StPO strafrechtlich sanktioniert sind, sei die Vorschrift eng auszulegen und nicht auf Maßnahmen in anderen Bereichen auszudehnen, also auch nicht auf die polizeiliche Gefahrenabwehr. 23 Bei dieser Aussage handelt es sich jedoch um eine verfassungsrechtliche Selbstverständlichkeit, die bei der Lösung des Problems nicht entscheidend weiter führt: Die „Ausdehnung“ des § 343 StGB auf die polizeiliche Gefahrenabwehr würde einen Verstoß gegen das in Art. 103 Abs. 2 GG verankerte Analogieverbot darstellen; 24 schon der Wortlaut des § 343 StGB verbietet es, die Vorschrift auch im Bereich der Gefahrenabwehr anzuwenden; vorausgesetzt ist nämlich dort in subjektiver Hinsicht, dass der Täter eine Erklärung oder deren Unterlassung in den in der Vorschrift genannten Verfahrensarten bezweckt, wozu die Gefahrenabwehr allgemein nicht gehört: Die rein zu präventiven Zwecken erfolgende Tätigkeit – mit Ausnahme von Konstellationen, welche unter die Formulierung der behördlichen Verwahrung fallen können – wird angesichts des insoweit klaren Wortlauts des § 343 StGB nicht erfasst. Das besagt aber nichts über die Heranziehung der Bestimmung, wenn die Polizei sowohl präventive als auch repressive Aufgaben wahrnimmt. Zwar wird weiter ausgeführt, „es bestehe kein Anlass“, die beiden Zuständigkeitsbereiche der Polizei zwingend zu verbinden und daraus abzuleiten, dass der Beschuldigte diese Rolle auch im Rahmen der Gefahrenabwehr innehabe. 25 Insofern ist jedoch zum einen kritisch zu bemerken, dass es sich bei der Frage der Anwendbarkeit der strafrechtlichen Vorschriften nicht um eine Ermessensentscheidung handelt, sondern die Prüfung im Raum steht, ob die rechtlichen Voraussetzungen der Norm erfüllt sind. Zum anderen ist es zwar durchaus richtig, dass der von der Gefahrenabwehr Betroffene nicht automatisch Beschuldigter ___________ 22 23 24 25

Haurand / Vahle (Fn. 4), S. 519. Haurand / Vahle (Fn. 4), S. 519. Vgl. auch Mitsch (Fn. 4), S. 255. Haurand / Vahle (Fn. 4), S. 519.

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sein muss; wenn er jedoch aufgrund eines Ermittlungsverfahrens tatsächlich gleichzeitig Beschuldigter ist, kann diese Stellung nicht von vornherein als unbeachtlich angesehen werden. Es geht dann nicht darum, dass jemand im Rahmen der Gefahrenabwehr als Beschuldigter behandelt wird, sondern um den Gesichtspunkt, dass ein paralleles Vorgehen sowohl in präventiver als auch in repressiver Hinsicht in Rede steht. Neben Autoren, die schon aus objektiven Gesichtspunkten heraus den Tatbestand der Aussageerpressung verneinen, treten solche, welche die Vorschrift objektiv für gegeben erachten, jedoch derartige Fälle über den subjektiven Tatbestand der Aussageerpressung lösen wollen. So formulieren etwa Jerouschek / Kölbel, die Aussageerpressung müsse „im Kontext eines Straf- oder ähnlichen Verfahrens erfolgen, was bereits bei einem faktisch doppelfunktionellen Ermitteln unabhängig vom jeweiligen Schwerpunkt gegeben“ sei; allerdings müssten die Akteure nach den Einzelfallfeststellungen die kriminalistische Verwertung wenigstens mit intendiert haben. 26 Aber auch diese Ausführungen geraten zu unpräzise; so wird nicht hinreichend verdeutlicht, was unter dem Begriff „Kontext“ zu verstehen ist, zudem erfolgt im Detail kein Eingehen auf die speziellen Anforderungen des subjektiven Tatbestands, der neben dem Vorsatz ein besonderes subjektives Merkmal enthält. Mangels notwendiger Konkretisierungen bleiben die entscheidenden Aspekte daher eher im Dunkeln. Ebenso wenig überzeugt es, wenn andere Autoren ausführen, die Aussageerpressung setze im objektiven Tatbestand ein Strafverfahren voraus, wobei im Fall des doppelfunktionalen Handelns die Rolle als Beschuldigter vorgehe. 27 Einerseits trifft die Aussage auf den Wortlaut des § 343 StGB so nicht zu, denn dieser setzt kein Strafverfahren voraus, sondern verlangt, dass ein Amtsträger eine bestimmte Subjektqualität aufweist, nämlich zur Mitwirkung an einem Strafverfahren usw. berufen ist. Andererseits stellt die Aussage, die Beschuldigtenrolle gehe vor, eine bloße Behauptung dar, die keine weitere Begründung erfährt. Nichts anderes gilt für die Behauptung, der Beamte handele nicht in der Absicht, das Opfer der Aussageerpressung im Rahmen des Strafverfahrens zu nötigen; 28 eine nachvollziehbare Begründung wird hierzu nicht geliefert. Ellbogen führt aus, der Polizeibeamte sei in einem Strafverfahren tätig geworden, sodass er mit der Gewaltandrohung den objektiven Tatbestand des § 343 StGB erfüllt habe. Die Nennung des Aufenthaltsorts des Entführten bedeute gleichzeitig die Intensivierung des Tatverdachts. Da der Polizeibeamte jedoch ausschließlich präventiv tätig werden wollte und er sich darüber im Kla___________ 26 Jerouschek / Kölbel (Fn. 4), S. 619; Hervorhebung im Original; vgl. auch Lackner, K. / Kühl, K., StGB, 26. Aufl. 2007, § 343 Rn. 4. 27 So Ebel, H., Notwehrrecht der Polizei bei Vernehmungen (Befragungen) zum Zwecke der Gefahrenabwehr?, in: Kriminalistik 1995, S. 825. 28 Ebel (Fn. 27), S. 825 f.

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ren war, dass die Aussage des Entführers in einem Strafverfahren unverwertbar sein würde, sei der subjektive Tatbestand nicht erfüllt. 29 Hierbei wird jedoch wiederum nicht beachtet, dass es nach dem Wortlaut des § 343 StGB objektiv gar nicht darum geht, ob P in einem Strafverfahren tätig wird, sondern darum, ob er zur Mitwirkung an einem solchen berufen ist. Zudem ist die Begründung, mit der der subjektive Tatbestand abgelehnt wird, angreifbar. Zum einen zeigt gerade der Aktenvermerk, dass sich P sehr wohl bewusst war, sich gleichzeitig im repressiven Bereich zu bewegen, zumal Ellbogen selbst ausführt, dass die Nennung des Aufenthaltsorts gleichzeitig eine Intensivierung des Tatverdachts bedeute. Hier hätte es daher weiterer Überlegungen zur subjektiven Tatseite bedurft. 30 Darüber hinaus ist für die Annahme des subjektiven Tatbestands nicht erforderlich, dass nach der Vorstellung des Täters die durch die Misshandlung gewonnene Aussage im Strafverfahren verwertbar ist; anderenfalls würde § 343 StGB durchweg leer laufen, da die in § 343 StGB genannten Misshandlungen über § 136a StPO stets dazu führen, dass die Aussage nicht verwertbar ist. 31 Regelmäßig wissen sogar umgekehrt die Handelnden gerade von der rechtlichen Unverwertbarkeit, was für sich genommen nicht zum Ausschluss des Tatbestands führt. Schließlich wird von einer dritten Meinungsgruppe die Auffassung vertreten, dass der Polizeibeamte sowohl den objektiven als auch den subjektiven Tatbestand der Aussageerpressung verwirklicht habe. 32 Strafverfolgung und Gefahrenabwehr ließen sich in einem derartigen Fall nicht trennen; mit der Bekanntgabe des Aufenthaltsorts musste sich der Entführer selbst als Mörder entlarven, sodass ihm eine Selbstüberführung abgepresst worden sei. 33 Diese Aussage ist jedoch relativ allgemein gehalten und knüpft nicht hinreichend konkret an die einzelnen mit § 343 StGB verbundenen Voraussetzungen an. Wie problematisch eine nicht exakte Subsumtion unter die jeweiligen Erfordernisse der Vorschrift ist, zeigt sich etwa an den Ausführungen von Kinzig. Zur Stützung seiner These, § 343 StGB sei einschlägig, führt er an, die Gefahr der Kontaminierung der Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens bestehe auch dann, wenn Aussagen von Tatverdächtigen zu präventiven Zwecken abgenötigt werden. 34 Das mag zwar zutreffen, ist aber kein Argument für die Anwendung ___________ 29

Ellbogen (Fn. 4), S. 340; vgl. auch Jeßberger (Fn. 4), S. 712. Siehe dazu unten nach Fn. 55. 31 So auch Müller / Formann (Fn. 4), S. 316. 32 Bung, J., Doppelfunktionelle Nötigungsabsicht bei der Aussageerpressung, in: KritV 2005, S. 67 (73 ff.), Kinzig (Fn. 1), S. 794 ff.; Kretschmer (Fn. 4), S. 103; Müller / Formann (Fn. 4), S. 316; Neuhaus (Fn. 4), S. 522 ff.; Roxin (Fn. 4), S. 462 f.; Saliger (Fn. 4), S. 62; Welsch (Fn. 4), S. 486, 488. 33 So Roxin (Fn. 4), S. 463; in diesem Sinne auch Kretschmer (Fn. 4), S. 103; Müller / Formann (Fn. 4), S. 316; Neuhaus (Fn. 4), S. 522. 34 Kinzig (Fn. 1), S. 796. 30

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des § 343 StGB, denn nach dem klaren Wortlaut, der insbesondere vor dem Hintergrund des Art. 103 Abs. 2 GG zwingend zu beachten ist, scheidet die Vorschrift aus, wenn ausschließlich zu präventiven Zwecken vorgegangen wird. 35 Der Vorwurf der nur ungenauen Betrachtung der Voraussetzungen des § 343 StGB ist dabei auch gegenüber anderen Autoren zu erheben. So schreibt etwa Neuhaus, der eventuelle Glaube des Täters, man begehre die Aussage „nur im polizeilichen Verfahren und die Tatbestandsmerkmale ‚in dem Strafverfahren‘ lagen deshalb nicht vor, wäre als den Vorsatz nicht ausschließender Subsumtionsirrtum zu bewerten“. 36 Hierbei wird jedoch nicht hinreichend berücksichtigt, dass die Formulierung „in dem Verfahren“ in § 343 StGB nicht Bestandteil des (objektiven) Tatbestands ist, auf die sich der Vorsatz zu beziehen hat, sondern eine spezifische Absicht konkretisiert, welche der Täter neben dem Vorsatz aufweisen muss und die als überschießende Innentendenz kein Äquivalent auf objektiver Ebene hat. 37 Folglich ist es verfehlt, von einem Subsumtionsirrtum zu sprechen. Erwägenswert scheint jedoch der Gedanke, wonach die von § 343 StGB verlangte Absicht gegeben sei, weil die Aussage im Strafverfahren ein notwendiges Zwischenziel zur beabsichtigten Rettung des Opfers sei. 38 Dem wird jedoch entgegnet, es handele sich allenfalls um eine Begleiterscheinung der Aussage im Verfahren der Gefahrenabwehr; für die Absicht genüge es nicht, wenn der Polizist eine Auswirkung auf das Strafverfahren als mögliche oder sichere Begleiterscheinung seines Handelns in Kauf nehme. 39 Auf diese Gesichtspunkte soll jedoch erst vertieft eingegangen werden, nachdem zuvor im Rahmen des eigenen Lösungsansatzes die konkreten Voraussetzungen des objektiven Tatbestands dargestellt worden sind.

2. Der eigene Lösungsansatz Die bisherigen Lösungsvorschläge leiden über weite Strecken vor allem daran, dass Formulierung und Aufbau der Vorschrift des § 343 StGB keine ausreichende Beachtung finden. Man mag zwar die Fassung des § 343 StGB als „wenig allgemeinverständlich“ erachten, 40 vor dem Hintergrund des Art. 103 ___________ 35

Siehe schon oben bei Fn. 24. Neuhaus (Fn. 4), S. 524; vgl. auch Saliger (Fn. 4), S. 62, mit Fn. 129. 37 Siehe dazu auch unten nach Fn. 55. 38 Bung (Fn. 32), S. 75 ff.; Kinzig (Fn. 1), S. 794; Müller / Formann (Fn. 4), S. 316; Neuhaus (Fn. 4), S. 524. 39 Erb (Fn. 4), S. 24. 40 So Maurach, R. / Schroeder, F.-C. / Maiwald, M., Strafrecht Besonderer Teil, Teilband 2, 9. Aufl. 2005, S. 325. 36

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Abs. 2 GG ändert das aber nichts daran, dass die aktuelle Ausgestaltung der Vorschrift der Prüfung zugrunde zu legen ist.

a) Der objektive Tatbestand Geht man folglich vom Wortlaut der Strafbestimmung aus, so verlangt § 343 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 StGB in objektiver Hinsicht, dass ein Amtsträger, der zur Mitwirkung an einem Strafverfahren berufen ist, einen anderen körperlich misshandelt, gegen ihn sonst Gewalt anwendet, ihm Gewalt androht oder ihn seelisch quält. Diese heutige Fassung der Vorschrift verdeutlicht hinreichend, dass die Formulierung „zur Mitwirkung an einem Strafverfahren berufen“ die Funktion hat, den tauglichen Täterkreis zu konkretisieren. Mit anderen Worten kann nicht jeder Amtsträger Täter des § 343 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 StGB sein, sondern nur ein solcher, welcher zur Mitwirkung an einem Strafverfahren berufen ist. Ausdrücklich ist in den Gesetzesmaterialien zur jetzt geltenden Regelung ausgeführt, die neue Fassung grenze den Täterkreis schärfer ab. 41 Es ist daher nicht exakt, wenn im Schrifttum die Erfordernisse der Vorschrift in ihrer heutigen Fassung teilweise dahingehend umschrieben werden, der objektive Tatbestand setze voraus, dass ein Amtsträger in bestimmten Verfahrensarten körperliche oder seelische Zwangsmittel gegen einen anderen einsetze. 42 Vielmehr bezieht sich die Vorschrift in ihrem Anwendungsbereich ausdrücklich von vornherein nur auf solche Amtsträger, die aufgrund ihrer Amtsstellung und ihres Aufgabenkreises an entsprechenden Verfahren mitzuwirken haben. Nur sie sind taugliche Täter, was die jetzige Fassung der Vorschrift sehr deutlich macht, ohne dass der Gesetzestext in objektiver Hinsicht davon spricht, dass ein solcher Amtsträger „in bestimmten Verfahrensarten“ handeln muss. Die soeben referierte Ansicht, wonach maßgeblich sein soll, ob ein Amtsträger in bestimmten Verfahren körperliche oder seelische Zwangsmittel gegen einen anderen einsetzt, trifft daher auf die heutige Fassung in dieser Form nicht mehr zu. 43 Sie hatte vielmehr ihre Gültigkeit im Hinblick auf die Formulierung des Tatbestands der Aussageerpressung bis 1975. § 343 a. F. StGB, der seit 1871 galt, hatte folgenden Wortlaut: „Ein Beamter, welcher in einer Untersuchung Zwangsmittel anwendet oder anwenden lässt, um Geständnisse oder ___________ 41

BT-Drucks. 7/550, S. 278. So aber etwa Cramer / Sternberg-Lieben (Fn. 6) § 343 Rn. 2; Jescheck (Fn. 12) § 343 Rn. 2; Voßen, N., in: Münchener Kommentar, StGB, 2006, § 343 Rn. 14; vgl. auch Erb (Fn. 4), S. 24. 43 § 343 StGB in seiner gegenwärtigen Fassung ist maßgeblich durch den Entwurf 1962 beeinflusst worden; siehe insofern § 454 E 1962; zur langen Historie der Aussageerpressung siehe Rogall (Fn. 13) S. 513 ff. 42

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Aussagen zu erpressen, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu fünf Jahren bestraft“. 44 Diese Formulierung weist aber die aktuelle Vorschrift nicht mehr auf. Nun wird jedoch zum Teil im Schrifttum davon ausgegangen, es verstehe sich auch nach der heutigen Fassung von selbst, dass die Handlung in einem der von Abs. 1 Nr. 1-3 angeführten Verfahren erfolgen müsse. 45 Es erscheint jedoch sehr zweifelhaft, ob dieser Aussage angesichts der gegenwärtigen Voraussetzungen der Strafvorschrift so beigepflichtet werden kann. Zwar ist in der Begründung zu dem neu gefassten § 343 StGB ausgeführt, eine Änderung des damals geltenden Rechts erfolge in Bezug auf den Kreis der Verfahrensarten, wie sie in der Rechtsprechung und im Schrifttum ausgelegt werden, nicht; dennoch wird in der Begründung gleichzeitig dargelegt, dass der Täterkreis schärfer abgegrenzt und die tatbestandsmäßige Handlung in ihren einzelnen Formen genauer als bisher umschrieben werde. 46 Unter Berücksichtigung dieses Umstands und vor allem vor dem Hintergrund des Art. 103 Abs. 2 GG muss also der neue Wortlaut der Strafbestimmung Beachtung finden. Danach aber verlangt der Tatbestand nach seiner jetzigen Fassung in objektiver Hinsicht lediglich, dass ein mit den genannten Eigenschaften ausgestattete Amtsträger einen anderen körperlich misshandelt, gegen ihn sonst Gewalt anwendet, ihm Gewalt androht oder ihn seelisch quält. Der Gesichtspunkt des Handelns „in dem Verfahren“ ist damit objektiv nicht mehr vorausgesetzt, jedoch auch nicht ganz verschwunden, vielmehr ins Subjektive verschoben: Der Täter muss nämlich neben dem Vorsatz die Absicht haben, dass das Opfer „in dem Verfahren“ etwas aussagen oder erklären oder dies unterlassen soll. Nach der Vorstellung des Täters muss es sich also um eine Person handeln, die mit dem jeweiligen Verfahren potenziell in dem Sinne in Verbindung gebracht werden kann, als sie etwas zu dem Verfahren beitragen könnte, was vor allem beim Beschuldigten der Fall ist, jedoch auch etwa bei Zeugen, Sachverständigen oder mitwirkenden Richtern, Verteidigern oder Staatsanwälten. Objektiv ist aber eben nicht (mehr) notwendig, dass der Täter, der die erforderliche Subjektqualität aufweist, zwingend „in“ den beschriebenen Verfahren – also bei § 343 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 StGB nur im Fall der repressiven Vorgehensweise – eine Person misshandelt. Die Auffassung, welche ein solches Erfordernis in objektiver Hinsicht nach wie vor aufstellt, beachtet damit die aktuelle Gesetzesfassung nicht hinreichend. Daraus folgt auch, dass es schon vom Ausgangspunkt unzutreffend ist, bei dem Problem des doppelfunktionalen Handelns im Zusammenhang mit ___________ 44 Ursprünglich: Zuchthaus bis zu fünf Jahren. Zu der alten Fassung der Vorschrift siehe Dreher, E., StGB, 32. Aufl. 1970, § 343; Mösl, A., in: Leipziger Kommentar, StGB, 9. Aufl. 1977, § 343; Schröder, H., in: Schönke / Schröder, StGB, 17. Aufl. 1974, § 343. 45 Kuhlen (Fn. 1), § 343 Rn. 6; vgl. auch Tröndle / Fischer (Fn. 17), § 343 Rn. 6. 46 BT-Drucks. 7/550, S. 278.

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§ 343 StGB die vermeintlich entscheidende Frage dahin zu formulieren, ob ein Amtsträger, der grundsätzlich zur Mitwirkung an einem Strafverfahren berufen ist, aber mit präventiv-polizeilicher Motivation körperliche Gewalt anwendet, im Strafverfahren handelt oder nicht. 47 Zu untersuchen bleibt in Bezug auf die Subjektqualität, ob es ausreicht, dass die betreffenden Amtsträger generell an betreffenden Verfahren mitzuwirken haben oder es vielmehr auf die Zuständigkeit in einem konkreten Verfahren ankommt. Im Schrifttum wird überwiegend angeführt, gefordert werde nicht die konkrete Zuständigkeit für den betreffenden Einzelfall, vielmehr genüge es, wenn der Täter aufgrund seiner Amtsstellung und seines Aufgabenkreises allgemein an Verfahren der betreffenden Art mitzuwirken habe. 48 Das stimmt im Übrigen mit der Gesetzesbegründung überein. 49 Dagegen ist jedoch einzuwenden, dass der Wortlaut des § 343 StGB gar keinen Anlass zu einer solchen Abstraktion gibt, dieser vielmehr sogar umgekehrt zugunsten des Abstellens auf die konkrete Zuständigkeit spricht. So ist in § 343 StGB nicht davon die Rede, dass der betreffende Amtsträger zur Mitwirkung „an Strafverfahren“ berufen sein muss, sondern es wird die Formulierung „Mitwirkung an einem Strafverfahren“ benutzt. 50 Es geht damit schon vom Wortlaut der Norm nicht um eine generelle Zuständigkeit, sondern um die des Amtsträgers im konkreten Einzelfall in Bezug auf ein bestimmtes Verfahren. 51 Das wird vor allem auch dadurch belegt, dass in der Vorschrift im Zusammenhang mit der erforderlichen Absicht davon die Rede ist, das Opfer der Aussageerpressung soll „in dem Verfahren“ etwas aussagen, erklären oder dies unterlassen. Das belegt hinreichend den Bezug zu einem konkreten Verfahren. Das Genügenlassen der generellen Zuständigkeit ist folglich nicht mit dem Wortlaut der Norm vereinbar. Schon objektiv scheitert die Vorschrift daher etwa in dem Fall, dass ein Staatsanwalt, dem überhaupt nicht die Ermittlungen gegen einen bestimmten Beschuldigten obliegen, gegenüber einem zufällig auf dem Gang der Staatsanwaltschaft sitzenden Beschuldigten Gewalt anwendet. Der Staatsanwalt mag sich gemäß §§ 223, 240 StGB oder unter Umständen gemäß § 340 StGB strafbar machen, § 343 StGB aber ist objektiv nicht verwirklicht. ___________ 47

So jedoch vom Ausgangspunkt Kinzig (Fn. 1), S. 794. Geppert, K., Amtsdelikte (§§ 331 ff. StGB), Jura 1981, S. 78 (81); Jescheck (Fn. 12), § 343 Rn. 3; Kindhäuser, U., StGB, Lehr- und Praxiskommentar, 2. Aufl. 2005, § 343 Rn. 2; ders., Strafrecht Besonderer Teil I, 2. Aufl. 2005, S. 376; Rogall (Fn. 13), S. 519 f., 536; Tröndle / Fischer (Fn. 17), § 343 Rn. 2; Voßen (Fn. 42), § 343 Rn. 11. 49 BT-Drucks. 7/550, S. 278; siehe auch OGHSt 3, 12 f.; OGH, NJW 1950, 713 (714). 50 Hervorhebung nicht im Original. 51 Ähnlich Horn, E. / Wolters, G., in: Systematischer Kommentar, StGB, 7. Aufl. 2002, § 343 Rn. 3 a; Maurach / Schroeder / Maiwald (Fn. 40), S. 325. 48

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Abzustellen ist also objektiv auf die konkrete Zuständigkeit im Einzelfall, was bedingt, dass das Verfahren bereits gegenständlich umrissen werden können muss; dies verlangt andererseits nicht schon eine förmliche Einleitung des Verfahrens. 52 Vergegenwärtigt man sich diesen Gehalt des objektiven Tatbestands des § 343 StGB, ist auch das Problem des doppelfunktionalen Handelns durchaus lösbar: Der Polizeibeamte P, der gegen den mutmaßlichen Entführer und Beschuldigten E Gewalt anwendet, um vor dem Hintergrund einer präventiven Zwecksetzung das Versteck des Entführten zu erfahren, verwirklicht jedenfalls den objektiven Tatbestand des § 343 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 StGB, wenn P gleichzeitig auch konkret für das Strafverfahren gegen E zuständig und damit tauglicher Täter ist. 53 Es geht daher an der Sache vorbei, wenn objektiv auf den Schwerpunkt der Tätigkeit abgestellt wird, denn maßgeblich ist nur, ob der Amtsträger im konkreten Fall eine bestimmte Position einnimmt, also zur Mitwirkung an dem konkreten Strafverfahren berufen ist. Ebenso wenig trifft es den entscheidenden Punkt, wenn ausgeführt wird, Handlungen zur Gefahrenabwehr, selbst wenn sie innerhalb eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens stattfinden, seien nicht von dem Begriff „Strafverfahren“ erfasst. 54 Um es noch deutlicher zu machen: Selbst wenn P nach seiner Vorstellung ausschließlich zur Gefahrenabwehr tätig werden will und sogar in diesem Bereich der wie auch immer zu ermittelnde Schwerpunkt der Handlung liegen sollte, ändert das nichts daran, dass P den objektiven Tatbestand des § 343 StGB erfüllt, denn es bleibt dabei, dass er als ein konkret in Bezug auf das Strafverfahren gegen E Berufener gegen einen anderen Gewalt anwendet, was objektiv genügt. Eine andere Frage ist nur, ob P dann auch den subjektiven Tatbestand der Aussageerpressung erfüllt, worauf im Folgenden näher einzugehen ist.

___________ 52

Siehe BGH bei Holtz, MDR 1980, 628 (629 f.); Horn / Wolters (Fn. 51), § 343 Rn. 3 b; vgl. auch Cramer / Sternberg-Lieben (Fn. 6), § 343 Rn. 4; Kindhäuser (Fn. 48), § 343 Rn. 4; Kuhlen (Fn. 1), § 343 Rn. 6; Maurach / Schroeder / Maiwald (Fn. 40), S. 325. 53 Steinke (Fn. 4), S. 229, geht davon aus, der Polizeivizepräsident habe an dem Ermittlungsverfahren gegen den Entführer nicht mitgewirkt. Dagegen spricht jedoch, ganz unabhängig davon, dass für ihn im tatsächlichen Fall ohnehin § 357 StGB in Rede steht (vgl. Fn. 5), dass P stellvertretender Behördenleiter des im Übrigen zuständigen urlaubsabwesenden Polizeipräsidenten und unmittelbarer Vorgesetzter des die Gewalt androhenden Polizeibeamten war. Als gegenüber diesem weisungsbefugt war auch er folglich konkret zur Mitwirkung an dem Strafverfahren gegen den Entführer berufen. 54 Lackner / Kühl (Fn. 26), § 343 Rn. 2.

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b) Der subjektive Tatbestand Der subjektive Tatbestand des § 343 StGB setzt sich aus zwei Elementen zusammen. So ist zunächst Vorsatz erforderlich. Der Täter muss also wissen, dass er als Amtsträger konkret zur Mitwirkung an einer der genannten Verfahrensarten berufen ist, und mit dem Willen handeln, den anderen körperlich zu misshandeln, gegen ihn sonst Gewalt anzuwenden, ihm Gewalt anzudrohen oder ihn seelisch zu quälen. Darüber hinaus enthält § 343 StGB neben dem Vorsatz ein besonders subjektives Merkmal, was durch die Formulierung „um … zu“ zum Ausdruck kommt. Es handelt sich hierbei um eine so genannte überschießende Innentendenz, da kein Pendant auf objektiver Ebene existiert. 55 Der Täter muss also bei § 343 StGB zusätzlich die Absicht aufweisen, dass die erfolgende Nötigung eine Aussage, Erklärung oder Unterlassung in dem genannten Verfahren 56 zur Folge hat. Dabei spielt es keine Rolle, ob dieser Erfolg auch tatsächlich eintritt. Was bedeutet das nun für den Frankfurter Fall? P war – als Vorgesetzter des ermittelnden Polizeibeamten – konkret zuständig für das Ermittlungsverfahren gegen den Entführer, was P auch bewusst war. Er wollte zudem, dass dem Entführer Gewalt angedroht wird. Der Vorsatz ist also zu bejahen. Handelte P nun aber auch in der Absicht, dass der Entführer „in dem Strafverfahren“ etwas aussagen soll? Nach dem Aktenvermerk diente die Androhung ausschließlich der Rettung des entführten Kindes, nicht jedoch der Aufklärung der Straftat. Zugunsten des P ist daher davon auszugehen, dass er eine Aussage des Entführers im Strafverfahren nicht erstrebt hat. Andererseits ist zu bedenken, dass die Aussage des Entführers zwingend auch Bedeutung im Strafverfahren hat: Unabhängig von Fragen der Verwertbarkeit, der Fernwirkung von Verwertungsverboten und Gesichtspunkten der qualifizierten Belehrung ist nicht hinwegzudiskutieren, dass sich der Entführer mit der Aussage als Mörder entlarven und sich damit selbst im Strafverfahren überführen musste. 57 Selbst wenn die Aussage vor dem Hintergrund des § 136a StPO unverwertbar ist, hat sie also Relevanz im Strafverfahren. P erstrebte also eine Aussage aus präventiven Zwecken, die gleichzeitig gegebene strafverfahrensrechtliche Relevanz der Aussage ist aber eine damit einhergehende sichere Folge, wenn P dieser auch gleichgültig gegenüberstand oder sie möglicherweise sogar für unerwünscht hielt. Es stellt sich ___________ 55

Siehe Zieschang, F., Strafrecht Allgemeiner Teil, 1. Aufl. 2005, S. 19, 48. Ausgehend vom Wortlaut des § 343 StGB muss sich auch darauf die Absicht beziehen, so dass hinsichtlich der Verfahrensart nicht jeder Vorsatz genügt; es geht um die Absicht, das Opfer zu einer bestimmten Aussage (nämlich in einem der genannten Verfahren) zu bewegen; vgl. bereits oben bei Fn. 37. 57 So auch Roxin (Fn. 4), S. 463. 56

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folglich die Frage, ob die von § 343 StGB geforderte Absicht gegeben ist, wenn das Verhalten des Täters mit Sicherheit Relevanz für die in der Vorschrift genannten Verfahren hat, er jedoch dies nicht wünscht, sondern dies möglicherweise sogar innerlich ablehnt. Im Schrifttum ist insoweit mit dem Argument die Absicht bejaht worden, der Täter verwirkliche ein notwendiges Zwischenziel auf dem Weg zur Erreichung des Hauptziels. 58 Insofern wird jedoch nicht hinreichend beachtet, dass der Aspekt des Zwischenziels nur dann Bedeutung gewinnen kann, wenn der Täter dieses Zwischenziel auch erstrebt und erwünscht, 59 also insofern dolus directus 1. Grades vorliegt. Das ist aber bei dem P gerade nicht anzunehmen. 60 Die Situation, dass der Täter sicheres Wissen hat, mögen ihm auch die Auswirkungen unerwünscht sein, beschreibt die Vorsatzform des dolus directus 2. Grades. 61 Damit aber ist die entscheidende Frage zur Lösung des Frankfurter Falls formuliert: Ist die Absicht im Sinne des § 343 StGB nur bei dolus directus 1. Grades erfüllt oder auch bei Vorliegen von dolus directus 2. Grades anzunehmen? Welche konkrete Vorsatzform von einem besonderen subjektiven Merkmal umfasst ist, kann nicht allgemein beantwortet werden, sondern hängt von der jeweiligen Vorschrift ab. 62 Lehrbuch- und Kommentarliteratur gehen bei § 343 StGB von dem Erfordernis eines Erstrebens im Sinne des dolus directus 1. Grades aus. 63 Doch bedarf es der genaueren Analyse. Der Wortlaut des § 343 StGB „um … zu“ spricht eher zugunsten einer engen Auffassung im Sinne eines zielgerichteten Handelns, ist jedoch in Bezug auf die Lösung dieser Frage nicht ganz eindeutig. Klarer werden jedoch die Dinge, wenn man die Gesetzesbegründung zu § 343 StGB liest. Dort wird ausgeführt, erforderlich sei, dass es dem Täter „darauf ankommt“, in dem Verfahren Aussagen oder Erklärungen herbeizuführen; es werde also absichtliches Handeln vorausgesetzt. 64 ___________ 58

Siehe die Nachweise oben in Fn. 38. Siehe Roxin, C., Strafrecht Allgemeiner Teil I, 4. Aufl. 2006, S. 440. 60 Ablehnend auch Erb (Fn. 4), S. 24 mit Fn. 5. 61 Wessels, J. / Beulke, W., Strafrecht Allgemeiner Teil, 36. Aufl. 2006, S. 79 f.; Zieschang (Fn. 55), S. 38. 62 Zieschang (Fn. 55), S. 48; siehe auch Roxin (Fn. 59), S. 440 ff. m. w. N. 63 Siehe etwa Joecks, W., StGB, 7. Aufl. 2007, § 343 Rn. 3; Kindhäuser (Fn. 48), § 343 Rn. 15; Kuhlen (Fn. 1), § 343 Rn. 13; Lackner / Kühl (Fn. 26), § 343 Rn. 4; Maurach / Schroeder / Maiwald (Fn. 40), S. 326; Otto, H., Grundkurs Strafrecht. Die einzelnen Delikte, 7. Aufl. 2005, S. 549; Voßen (Fn. 42), § 343 Rn. 29; ebenso Beutler, B., Strafbarkeit der Folter zu Vernehmungszwecken, 2006, S. 160; Gehrig, K., Der Absichtsbegriff in den Straftatbeständen des Besonderen Teils des StGB, 1986, S. 123; Rogall (Fn. 13), S. 537 f.; anders Bung (Fn. 32), S. 79. 64 BT-Drucks. 7/550, S. 279. 59

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Die historische Auslegung spricht demnach deutlich dafür, dolus directus 1. Grades zu verlangen. Damit in Einklang steht auch, dass der „schwere Vorwurf der Aussageerpressung“ 65 nicht in sämtlichen Fällen rechtswidriger Vernehmungsmethoden im Sinne des § 136a StPO gemacht wird – so ist etwa die Täuschung nicht erfasst –, die Vorschrift also im Anwendungsbereich demnach durchaus restriktiv auszulegen ist und nicht sämtliche Konstellationen betroffen sind, in denen es zu einer Beeinträchtigung von Rechtspflege und Individuum kommt. 66 Betrachtet man in systematischer Hinsicht die beiden anderen „Strafverfolgungsdelikte“ 67 des 30. Abschnitts, nämlich §§ 344, 345 StGB, ist festzustellen, dass diese Vorschriften gar kein besonders subjektives Merkmal erfordern. Insofern lassen sich also keine Erkenntnisse für die hier zu beantwortende Frage gewinnen. Die Vorschriften sind in subjektiver Hinsicht voneinander unabhängig konstruiert. Das zeigt sich auch daran, dass bei § 343 StGB hinsichtlich des Vorsatzes das gesamte Spektrum genügt, indes bei § 344 StGB der Täter dolus directus 1. oder 2. Grades bezüglich der Verfolgung aufweisen muss; die Strafbestimmung der Vollstreckung gegen Unschuldige wiederum lässt das gesamte Vorsatzspektrum und darüber hinaus sogar die Leichtfertigkeit genügen. Unter systematischen Aspekten ist aber der mit § 343 StGB nahe verwandte § 240 StGB von Interesse. Es ist zwar umstritten, ob die Aussageerpressung vor dem Hintergrund des § 240 StGB ein echtes oder unechtes Amtsdelikt ist; 68 unabhängig von der Lösung dieser Frage weist § 343 StGB aber große Ähnlichkeit mit der Nötigungsvorschrift auf. Bei § 240 StGB wird nun jedoch zumindest von Teilen des Schrifttums gefordert, dass hinsichtlich des abgenötigten Verhaltens Absicht im engeren Sinne erforderlich sei, also ein Erstreben. 69 In der Gesamtschau ist als Ergebnis der Auslegung festzuhalten, dass für das besondere subjektive Merkmal bei § 343 StGB dolus directus 2. Grades nicht genügt, sondern dolus directus 1. Grades zu fordern ist. Da P eine Aussage im Strafverfahren nicht erstrebte, sondern nur sicher wusste, dass die Aussage auch strafverfahrensrechtliche Relevanz hatte, was ihm gleichgültig oder gar unerwünscht war, liegt bei ihm das besondere subjektive Merkmal somit nicht vor, sodass eine Strafbarkeit nach § 343 StGB ausscheidet. ___________ 65

So BT-Drucks. 7/550, S. 278. Siehe zum geschützten Rechtsgut einerseits Jescheck (Fn. 12), § 343 Rn. 1 (Körperintegrität und Willensfreiheit seien erst in zweiter Linie geschützt), andererseits Cramer / Sternberg-Lieben (Fn. 6), § 343 Rn. 1 (die Vorschrift schütze alternativ sowohl die Rechtspflege als auch den Tatbetroffenen); vgl. auch Rogall (Fn. 13), S. 525 ff. 67 Maiwald, M., Die Amtsdelikte, in: JuS 1977, S. 353 (358). 68 Vgl. zum Streit Joecks (Fn. 63), § 343 Rn. 4. 69 Siehe zum Streitstand etwa Tröndle / Fischer (Fn. 17), § 240 Rn. 53; Wessels, J. / Hettinger, M., Strafrecht Besonderer Teil 1, 30. Aufl. 2006, S. 119 m. w. N. 66

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III. Ergebnis Der Tatbestand der Aussageerpressung gemäß § 343 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 StGB verlangt objektiv, dass ein Amtsträger, dem in einem konkreten Verfahren repressive Aufgaben obliegen, einen anderen körperlich misshandelt, gegen ihn sonst Gewalt anwendet, ihm Gewalt androht oder ihn seelisch quält. Der objektive Tatbestand ist auch dann erfüllt, wenn ein solch ausgestatteter Amtsträger mit derartigen Misshandlungen allein die Gefahrenabwehr bezweckt. Subjektiv ist jedoch erforderlich, dass der Amtsträger neben dem Vorsatz die Absicht aufweist, den Betroffenen in dem konkreten Strafverfahren zu einer Aussage, Erklärung oder Unterlassung zu nötigen. Insoweit ist dolus directus 1. Grades im Sinne eines Erstrebens erforderlich. Das ist zu verneinen, wenn der Amtsträger mit der Absicht der Gefahrenabwehr handelt und dabei zwar die gleichzeitige Relevanz der Aussage im Strafverfahren als sichere Folge erkennt und sich darüber bewusst ist, er aber diesem Gesichtspunkt gleichgültig gegenübersteht oder ihn gar für unerwünscht erachtet.

Romania and the European Court of Human Rights: Highlights of the Recent Case-Law Bianca Selejan-GuĠan The political phenomenon played its role at some moments in the development of the relationship between Romanian courts and the European law of human rights. Some say that the Romanian judiciary is still under a strong political influence. I shall not try to demonstrate that this is true or not, but only try to find out whether the acknowledgement of the human rights guarantees has been a result of a “natural” process of understanding or, on the contrary, of a forced idea that challenged the Romanian courts under the menace of European integration-related sanctions. As a brief background overview, Romania is a member of the Council of Europe from 1993 and ratified the ECHR in 1994. The Romanian Constitution of 1991, although it did not comprise (until 2003) the explicit reference to the right to a fair trial, could be interpreted as including it in its guarantees. Other constitutional guarantees related to the judiciary are: separation of powers (another “implied” principle in the Constitution, until 2003), independence, impartiality, procedural guarantees. However, the reform of the judicial system stood at the top of the negotiation chapters in the EU adhesion process from its beginning to its end. Some say that it has not yet been closed, although the longawaited adhesion took place. 1

I. Romania and the European Court of Human Rights: Some Jurisprudential Landmarks 1. The Right to a Fair Trial In this extremely vast and controversial aspect of Romania’s relationship with the Strasbourg Court, I shall primarily refer to the so-called “nationalised buildings” cases. The landmark judgment in this jurisprudence is Brumărescu ___________ 1

At the very moment of the writing of this text (end of April 2007), the Romanian judiciary is monitored by a EU Commission committee of experts, with a view to drawing a report which could lead to the application of the safeguard clause regarding, inter alia, the non-recognition of judicial decisions of Romanian courts in the EU.

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v. Romania, 1999, which was followed by over 60 other similar cases, being thus a “pilot judgment” in this field. I will also stress some points of a recent judgment – Raicu v. Romania, 2006 – which might become a pilot case in another series – that of the “former tenants” jurisprudence. 2 As far as the right to a fair trial is concerned, the Brumărescu case-law had to deal with the clearly politically influenced behaviour of Romanian courts and especially of the Supreme Court of Justice, starting with 1995. Thus, in spite of favourable lower court decisions ascertaining their right of property over claimed nationalised buildings (the nationalisation took place in the late 40’s), the former owners saw themselves deprived once more of their property as a result of the admission, by the Supreme Court, of the Attorney General’s annulment application (recurs în anulare). Hence, the quashing of the decision of the court of first instance, on the grounds that the court “had exceeded its jurisdiction in examining the lawfulness of the application of the nationalisation Decree no. 92/1950”. In its obiter dictum, the Supreme Court argued that property could only be acquired by way of legislation, noted that the State had taken the house on the very day on which Decree no. 92/1950 on nationalisation had come into force and reiterated that the manner in which that decree had been applied was not to be reviewed by the courts. Accordingly, “the Bucharest Court of First Instance could not have found that the applicant was the rightful owner of the house without distorting the provisions of the decree”, thus “exceeding its powers and encroaching on those of the legislature”. The Supreme Court of Justice admitted that former owners were entitled to bring actions for recovery of possession but stated that the applicant in the case had not established his title, whereas the State had demonstrated title under the nationalisation decree. In any event, the Court stated that, provision as to redress for any wrongful seizure of property by the State would have to be made in new legislation. However, in earlier decisions (from 1993, e.g.), the Supreme Court has, on the contrary, upheld judgments of lower courts asserting their jurisdiction to deal with claims concerning immovable property that had been nationalised, including property nationalised under Decree no. 92/1950: “... in ruling on the applicant’s claim for recovery of possession, and in allowing it, the courts, which have general jurisdiction under the law to determine civil disputes, merely applied the terms of the decree. To be more precise, they applied those of its provisions that forbid the nationalisation of certain immovable property and

___________ 2 However, I must stress that these are not the only themes of the ECHR case-law with respect to the right to a fair trial in Romania. A considerable series of cases concerned the non-execution of judgments as a violation of this right.

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and those which require such property to be returned in the event of an erroneous or improper application of the decree” 3 . What determined such a radical change in the position of the Supreme Court? It is now a notorious fact that there was a connection between this jurisprudential move and a famous speech of the former president of Romania, held in 1994 in front of the Satu-Mare local authorities, in which he said, inter alia that: “all judgments adopted by courts do not have a legal basis to decide the restitution of property, as long as a law does not say in what context and how such a restitution can be done to a nationalised owner”. The political will expressed in the speech has been rapidly acquiesced by the Supreme Court, in its famous decision of February 2nd 1995: “The courts do not have jurisdiction to impugn Decree no. 92/1950 or to order that property nationalized under its provisions be returned (...); legislation alone can bring the nationalizations carried out under Decree no. 92/1950 into accord with the provisions of the present Constitution concerning the right of property”. The well-known consequence was the submission (by the Attorney general) and then admission (by the Supreme Court) of dozens of annulment applications (recurs în anulare) regarding lower courts’ judgments, which stated in favour of the restitution of property. Moreover, the introduction by the Attorney General of the annulment application was not subject to any time limit, so that final judgments were liable to be challenged indefinitely. How did the European Court of Human Rights react to such a state of facts? Firstly, it delicately avoided the subject of the political foundation of the Supreme Court jurisprudential reverse. It observed, however, that, by allowing the application lodged by the Attorney General under the abovementioned power, the Supreme Court of Justice “set at naught an entire judicial process which had ended in a judicial decision that was ‘irreversible’ and thus res judicata – and which had, moreover, been executed.” The Strasbourg Court clearly stated that, in applying the provisions of Article 330 of the Code of Civil Procedure in that manner, the Supreme Court of Justice infringed the principle of legal certainty. On the facts of the case, that action breached the applicant’s right to a fair hearing under Article 6 § 1 of the Convention. Moreover, the Court noted that the ratio of the judgment of March 1st 1995 regarding the applicant was that the courts had no jurisdiction whatsoever to decide civil disputes such as the action for recovery of possession in such cases. It considered that such exclusion was in itself contrary to the right of access to a tribunal guaranteed by the same Article 6.

___________ 3

SCJ Judgment no. 518 of 9 March 1993.

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To conclude: this case-law, which has not yet come to an end, as there are still similar pending cases in Strasbourg, highlighted two very serious grounds of violation of the right to a fair trial by Romanian courts at that time: the principle of legal certainty and the right to access to courts. Another side of the property cases topic is the one of the former tenants who bought the apartments from the State and then saw themselves deprived of the property also as a result of “annulment applications” (recurs în anulare) sustained by the Supreme Court. The ECHR opinion came out in the recently solved case of Raicu v. Romania (judgment of October 19th 2006, now final), where the European Court argued on the same grounds: rule of law, legal certainty, proportionality. Moreover, the fact that the local council (the seller of the apartment at stake) was of bad faith in selling it to the applicant led the Court to the conclusion that: “a person having the benefit of a favourable final judgment should not bear the charge of the consequences of the fact that the national legislative and judicial systems allow the coexistence of two final judgments confirming the right of property of different persons on the same good”. This was quite an acid remark of the Court, before concluding, of course, the violation of Article 6 of the Convention.

2. The Right of Liberty and Security of the Person The landmark “Romanian” case with regard to this right guaranteed by Article 5 of the Convention is Pantea v. Romania (2003). It is a complex case, in which the right to be protected fro inhuman treatments was also invoked. As far as the right to liberty and security is concerned, the Court found violations of paragraphs 1, 3, 4 and 5 of Article 5. Especially the meaning of the word “officer” and the question whether the public prosecutor is such an “officer” competent, according to Article 5, to take the measure of the arrest, were a strong point in the Courts’ series of arguments. Thus, the Court reminded that, according to the principles, which emerge from its case-law, judicial control of interferences by the executive with the individual’s right to liberty is an essential feature of the guarantee embodied in Article 5 para. 3 4 . Before an “officer” can be said to exercise “judicial power” within the meaning of this provision, he or she must satisfy certain conditions providing a guarantee to the person detained against any arbitrary or unjustified deprivation of. Thus, the “officer” must be independent of the executive and of the parties (ibid.). In this respect, objective appearances at the time of the decision on detention are material: if it appears at that time that the “officer” may later intervene in subsequent crimi___________ 4

Aksoy v. Turkey, judgment of 18 December 1996.

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nal proceedings on behalf of the prosecuting authority, his independence and impartiality may be open to doubt. In the mentioned case, the Court noted first that the prosecutor at the County Court intervened initially at the investigation stage, examining whether it was necessary to charge the applicant, directing that criminal proceedings should be opened against him and taking the decision to place him in pre-trial detention. He subsequently acted as a prosecuting authority, formally charging the applicant and drawing up the indictment on which the latter was committed for trial in the County Court. Although at this stage, he did not act as prosecuting counsel before this court (even if this would have been possible, since no provision in the Law on the Administration of Justice would have specifically forbidden him from so doing), the Court pointed out that since prosecutors in Romania act as members of the Prosecutor-General’s Department, subordinated firstly to the Prosecutor-General and then to the Minister of Justice, they did not satisfy the requirement of independence from the executive. The Strasbourg Court thus concluded that the prosecutor who ordered the applicant to be placed in pre-trial detention was not an “officer” for the purposes of the third paragraph of Article 5 and thus this provision has been violated. It was an opinion of the Court of general interest, which represented in fact a criticism of the Romanian legislation at that time. The effects produced by this salient judgment upon Romanian legislation and practice, will be analysed in the following section.

3. The Right to be Protected from Torture It is now of a sad common knowledge the fact that Romania joined the “exclusive club” of the countries ever “convicted” for torture by the European Court of Human Rights (France, Turkey, Russia, Ukraine). Torture is the most serious violation of human physical and psychological integrity and therefore the Strasbourg authorities examined very carefully any claim of violation of Article 3 of the Convention on this ground. That is why only a few countries and in a few cases have been found guilty of such a serious ill treatments. In the recent case Bursuc v. Romania (2004), the applicant was subjected to extreme police violence which amounted to torture in the Court’s view: he was arrested during a routine ID check in a pub, hit with police bats, dragged to the police car and driven to the police station. He claimed to have been also beaten in the police car. Once arrived at the police station, eight agents aggressed him by throwing him on the floor, stepping over him, throwing water on him, spitting and urinating over him. He was subjected to these treatments for over six hours and lost his conscience a few times. At four a.m. he was taken to the psychiatric hospital where he was administered tranquillisers before being sent to brain surgery. The medical report mentions very serious injuries following

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severe beatings. What is striking in this case is that the Government representative claimed before the Court that the applicant had injured himself by throwing himself against walls and furniture, which was certainly contradicted by the medical report. The Court noted the contradictions between the Government’s version of the facts, reminded the presumption of causality between any injuries suffered by a person in police custody and qualified the treatments to which the applicant was thus subjected as torture within the meaning of Article 3 of the Convention. Moreover, the Court also stated the violation of the procedural side of Article 3, due to the fact that Romanian authorities did not pursue a deep and effective investigation over the claimed facts. Unfortunately, this extremely troubling case was not followed by visible measures of Romanian authorities regarding the fight against police violence. Other two cases in which the Court found that Romanian police or prison authorities acted in violation of Article 3 were Barbu Anghelescu v. Romania (2004) and Pantea v. Romania (2003).

II. The Political Reaction: Changes in Legislation Following Strasbourg Judgments 1. The Right to a Fair Trial A particular position in this respect, that deserves to be mentioned before reviewing the attitude of the legislator towards the violations of this right, was the one of the Constitutional Court. Being “assaulted” by dozens of unconstitutionality referrals challenging the articles of the Code of Civil Procedure on the annulment application, the Constitutional Court practiced, for a long time, a contestable self-restraint, by systematically rejecting all referrals, on grounds that “the legislator has the sole competence to establish the conditions of the exercise of such an application”. The Court seemed to forget its role of reviewing the acts of the legislator.5 In 1997, however, the Parliament partially acknowledged the irregularity of those legal provisions, and modified them (Law no. 17/1997) by introducing a maximum delay of 6 months for the lodging of an annulment application by the Attorney General. It was only in 2003 (governmental decree no. 58/2003) when this largely contested way of recourse has been eliminated from the legislation. For the former owners affected by it, who applied to the European Court, it was too ___________ 5

See Selejan-Guan, B., Excepia de neconstituionalitate, 2005, pp. 245–246.

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late. This however did not prevent the Strasbourg Court from deciding against Romania in many cases, called now “the Brumrescu case-law”, on the same grounds.

2. The Right to Liberty and Security The Pantea case generated a strong reaction from the part of Romanian judicial and legislative authorities, with respect to the conditions of taking the measure of the arrest by the prosecutor. Right after the Strasbourg judgement became public, some Romanian courts started to directly apply its principles in this respect, by rendering free persons who had been arrested on the basis of prosecutor’s warrants. In 2003, at the time of the Pantea judgment, the Romanian Constitution was undergoing a process of revision, which included, inter alia, some rights and freedoms. Among them, the provisions of Article 23 (which guarantees the “Individual Freedom”) regarding the arrest have been changed so as the arrest may only be ordered by a court. Consequently, the legislator also modified the Code of Criminal Procedure accordingly.

III. Are Romanian Courts Prepared to Accept the ECHR Standards as Compulsory? All these jurisprudential and legislative developments may lead us to some sensible (and “sensitive”) questions, some of them of a “rhetoric” nature: how could we explain the reaction of the Supreme Court from 1995, against the right to access to justice, in spite of the constitutional provisions and of those of the European Convention? How much have things evolved since then? Is the Romanian judge (including the Constitutional Court judge) prepared to accept its role of fundamental rights protector and to have a natural dialogue with the Strasbourg court? Has the political factor been eliminated from the act of justice? Has this lesson been learned by Romanian courts? I will not try to answer or even to debate all these questions in the present article. However, there is one point that I would like to discuss: whether the present-day assimilation of the European Court of Human Rights case-law by Romanian courts is an act of free will or of mere obedience to internal and external political factors. The first reaction of Romanian judges, including Supreme Court judges (with scarce exceptions), to the case-law of courts newly-included into the constitutional order, as Human Rights guardians – the Constitutional Court and the European Court of Human Rights – was of resistance.

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In its first years of activity, the Constitutional Court gave a series of unconstitutionality decisions, following exceptions (referrals) of unconstitutionality, in which it felt that it had to affirm and explain repeatedly that this kind of decisions, according to the Kelsenian model of constitutional review, had erga omnes effects. The Court also explained how an ordinary court should react facing a situation in which a legal provision would be deprived of legal effect as a result of an unconstitutionality decision: it should not passively await the intervention of the legislator, but should make the direct application of the relevant constitutional provisions. 6 This scholarly approach of the Constitutional Court, which acted, for some, by stressing ideas that should be of general knowledge in the legal and judicial world, has its roots in the attitude of some Romanian ordinary courts, which simply ignored the Constitutional Court decisions, arguing the lack of legal provisions in the matter submitted to litigation (sic!). This surprising position of the courts, of resistance to the direct application of the Constitution, was sustained also by some scholars: “if we adopted the viewpoint according to which the judges should directly apply the Constitution, not being compelled to apply the provisions of the Code of Criminal Procedure, this would mean to accept that the judges do not make justice in the name of the law (sic!).”7 It is a doubtful logic, which transforms the judge into a rigid mechanism of law application, in full ignorance of the supremacy of the Constitution and of the existence of a Constitutional Court. This reaction of the courts led to the consequence that many decisions of the Constitutional Court, especially in the field of fundamental rights, were deprived of effect (e.g. Decision no. 279/1997 regarding the unconstitutionality of some provisions of the Code of Criminal Procedure in the field of arrest). Considering this state of mind of the courts, it is clear that their resistance towards the “legal constitutionalisation” was manifest also vis à vis the standards of the European Convention on Human Rights and the case-law of the European Court of Human Rights. It suffices to refer once again to the abovementioned case of nationalized buildings: it took 9 years, a Constitutional Court decision, a ECHR entire jurisprudence and a belated change of legislation to convince the Romanian national judge that the annulment application was not complying with the principles of access to justice, legal certainty and fair trial; the same arguments of time length are valid for the case of the meas___________ 6 Romanian Constitutional Court, Dec. no. 186, 08.11.1999, M. Of. nr. 213, 16.05. 2000. See also Selejan-GuĠan, B., Asocierea instanĠelor judecătoreúti la controlul constituĠionalităĠii legilor în cadrul procedurii invocării úi soluĠionării excepĠiei de neconstituĠionalitate, in: Revista de Drept Public, no. 1/2003, pp. 47-57. 7 MateuĠ, G., ConĠinutul jurisdicĠiei constituĠionale úi implicaĠiile ei asupra procesului penal, in: Dreptul, no. 5/2000, p. 46.

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ure of the arrest taken by prosecutors. Another sensitive point that can be reminded in this context is the case-law related to the non-execution of judgments. 8 Presently, the situation somehow changed ... to the other extreme. The European Human Rights protection standards have imposed themselves to Romanian judges, from the lowest to the highest levels. Sometime in 2000, the Constitutional Court started to found its decisions on Strasbourg judgments. 9 Although this was not always done in an inspired way, it seemed like a leading tone for the other courts. The Supreme Court of Justice (which became, in 2003, the High Court of Cassation and Justice), followed rather belatedly into the steps of the Constitutional Court, by founding its decisions, besides the Constitution, Constitutional Court decisions, also on the Strasbourg case-law. 10 Other courts – Courts of Appeal and Departmental Tribunals, shyly followed its position. However, at this point, I could not say that this was a real “dialogue” in the sense of interpreting and “moulding” the reasoning of the ECHR judgments within the Romanian courts’ decisions, but rather a parallel approach: the courts merely invoke European judgments without always developing their arguments and without making a true interpretative effort regarding those European judgments.

IV. Brief Conclusions: Is a Dialogue Between a European Judge and a National Judge Possible in Romania? A recent debate on the dialogue between judges in Europe 11 started under the auspices of a famous quotation of Bruno Genevois, commissaire du Gouvernement in a not less famous case of the French Conseil d’Etat from 1978 12 : “A l’echelle de la Communauté européenne, il ne doit y avoir ni gouvernement de juges, ni guerre de juges. Il doit y avoir place pour le dialogue de juges”. ___________ 8

See Selejan-GuĠan, B. / Rusu, H. A., Hotărârile CEDO împotriva României. 1999–2006, 2006. 9 See Selejan-GuĠan, B., ExcepĠia de neconstituĠionalitate úi constituĠionalizarea dreptului, in: Liber Amicorum Ioan Muraru. Despre constituĠie úi constituĠionalism., pp. 199–205. 10 See ICCJ, Panel of 9 judges, Decision no. 39 of 2 February 2005, in: Înalta Curte de CasaĠie úi JustiĠie. JurisprudenĠa secĠiei de contencios administrativ úi fiscal pe anul 2005, 2006, p. 7. See also ICCJ, Decision no. 1414 of 4 March 2005, Decision no. 3221 of 23 May 2005 etc. 11 See Lichère, Fr. / Potvin-Solis, L. / Raynouard, A., Le dialogue entre les juges européens et nationaux: incantation ou realité?, 2004. 12 Ministere de l’Interieur c. / Cohn Bendit, 22 dec. 1978.

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The prestigious participants to this debate13 tried to define in the first place the dialogue of judges as a part of the European legal culture. The dialogue, seen as an “exchange which necessarily unifies, with a view to implement the European law, the national jurisdictions with the European jurisdictions, in the exercise of their mission to say and apply the law”14, was deemed as particularly appropriate for analysis in the European context, because the system of relationships between the national and European jurisdictions is founded especially on the idea of cooperation and does not imply any hierarchy in favour of European jurisdictions. Thus, there is no mechanism, which would automatically impose the alignment of national courts to the position of the European ones.15 The dialogue is a summum of the obligation of European and national judges to cooperate. Such a dialogue has undoubtedly an outstanding role in the interpretation of European law and that it is an expression of a dynamic application of it. It is also considered a benchmark of progress in the normative and judicial systems of EU Member States. The main lesson to be learned, in this context of dialogue, by Romanian judges on all levels of the judicial system, is that neither resistance nor blind obedience due to political factors is their correct position towards European jurisdictions. If I should refer only to the European Court of Human Rights, the main argument in favour of this statement is that the ECHR mechanism is subsidiary to the national one. Hence, the national judge has and must assume the salient value in the equation national law – European law of Human Rights. Accordingly, the “paradox” and the “mark of success” of the European Human Rights system (and of any such system) is that, ultimately, its goal is not to be used.16 Certainly, the authority of the Strasbourg existing case-law cannot be denied, nor its influence on national jurisdictions. For instance, in France, the national judge often (not always) ruled out the application of laws considered contrary to the ECHR by the Strasbourg Court even before the legislator had taken any position.17 No Romanian court did that so far, to my knowledge (I would be very content if somebody demonstrated the contrary!). ___________ 13

Jean-Paul Costa, Joel Andriantsimbazovina, Frederic Sudre, Patrick Wachsmann, Dominique Ritleng, Laurence Potvin-Solis, Yves Gautier. 14 Potvin-Solis, L., Le concept de dialogue entre les juges en Europe, in: Lichère, F. / Potvin-Solis, L. / Raynouard, A., Le dialogue entre les juges européens et nationaux: incantation ou realité?, op.cit., p. 22. 15 Idem, p. 23. 16 See also Selejan-Guan, B., Towards a New European Public Order: the European Convention On Human Rights and the EU Charter Of Fundamental Rights, in: Iancu, B. (ed.), The EU as the Paradigm of Future European Statehood, 2007, pp. 124–141. 17 E. g. after the judgment Mazurek v. France (2000) regarding the law of succesions in France.

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There are, of course, counter-examples of other national jurisdictions, which did not consider the Strasbourg case-law. However, the willingness to have this dialogue may or may not be obvious to the different national courts. Jean-Paul Costa, now the President of the European Court of Human Rights, raised some psychological and sociological arguments in an attempt to explain why this dialogue could sometimes be so difficult for French judges.18 The same arguments and others of the same kind could apply to Romanian judges for the purposes of this demonstration: homogeneity of national courts (by contrast to the European court), the formation and appointment of national judges, an acute sense of sovereignty (the cause of the difficult recognition of a “supranational” jurisdiction), over-rated personal self-esteem (a reminiscence of the past system in Romania and other Eastern European states and often transmitted from older to younger generations of judges), and last but not least, the political influence. Steps have been taken in the recent years to overcome these shortcomings, but only under the external pressure of the EU adhesion and sometimes with strong and obvious opposition of the judicial fora.19 On the other hand, little action has been visible from the civil society – which, in Romania, is still weak, self-obsessed, and keen to impress certain foreign authorities rather than to take visible steps in these serious problems. So far, it has been virtually unable to make a strong point in the Human Rights problems versus the judiciary. To conclude, I think that the newly acquired adhesion of Romania to the EU, the envisaged enhancement of the European system of Human Rights protection20, are just a few reasons to give us some hope in a real judiciary and police reform in Romania as regards general human rights protection and dialogue of judges. ___________ 18 Costa, J.-P., La Cour Européenne des Droits de l’Homme et le dialogue des juges, in: Lichère, F. / Potvin-Solis, L. / Raynouard, A., op.cit., p. 161. 19 The recent years’ “war” between the reformatory minister of justice Monica Macovei and the Superior Council of Magistrates, the parliamentary motion adopted against the same minister and its disastrous effects on Romania’s image in the EU fora are just a few examples of the difficulty of this reform against the inherited habits of the “privileged cast” of magistrates. Of course, this does not reflect the general ethical situation of magistrates. And certainly, not all actions of the minister of justice were beneficial to a good reform. But this is another story. For a more aggressive point of view on the reform of the Romanian judiciary as an „impossible dream”, see Pavelescu, A., Magistratura împotriva statului de drept [Magistrates Against the Rule of Law], 2003. 20 See the recent European Court of Justice judgment European Parliament v. European Council, 27 June 2006, where the ECJ acknowledged for the first time the importance of the EU Charter of Fundamental Rights alongside the constitutional traditions of the EU, the ECHR, the UN International Covenant and article 6 of the EU Treaty in a case of legality control of a directive.

Die stigmatisierende Wirkung des Rechtsbruchs als wichtiger Durchsetzungsmechanismus – aufgezeigt am völkerrechtlichen Folterverbot Winfried Bausback Den Völkerrechtler Dieter Blumenwitz zeichnet in besonderer Weise die Beschäftigung mit der wechselseitigen Durchdringung des Rechts und der Politik, speziell des Völkerrechts und der Außenpolitik aus. Im Rahmen seiner Tätigkeit als Gutachter und Politikberater genauso wie als charismatischer Lehrer hob er die Nachhaltigkeit des Rechtsarguments in der sozialen Wirklichkeit internationaler politischer Beziehungen besonders dann hervor, wenn es um die klassische Frage des Charakters des Völkerrechts als Rechtsordnung und seiner realen Bedeutung ging. Getragen wurde er dabei von der Überzeugung, dass Normbefolgung nicht allein oder in erster Linie notwendig an äußeren Zwang gebunden ist. 1 Der Grad einer solchen – zweifellos bestehenden – Wirkkraft des Rechts über komplexeren Mechanismen, auf die im Folgenden einzugehen sein wird, ist allerdings abhängig davon, wieweit die sachliche Einschätzung und Beurteilung der Rechtslage durch internationale Akteure und die sie beratend und analysierend begleitenden wissenschaftlichen Experten politischer Opportunität geopfert wird. Dies ist eine Herausforderung: Einerseits gebietet es die besondere Realitätsnähe des Völkerrechts, politische Gegebenheiten nicht einfach zu ignorieren. Andererseits darf sein Regelungsanspruch nicht der Beliebigkeit kurzzeitiger politischer Opportunitäten geopfert werden. Realitätsbezug einerseits und klare Aussagen zur Rechtslage andererseits – auch hier war der Verstorbene vielfach beispielgebend, zuletzt im Rahmen seiner Analyse des Irakkrieges 2003 und seiner klaren Absage an die seitens der „Koalition der Willfähigen“ für ihn vorgebrachten Rechtfertigungsgründe. Blumenwitz gehörte zu den ersten Völkerrechtlern, die wohlbegründet die Illegalität dieses Krieges darlegten. 2 ___________ 1

Diesen Aspekt betont schon Gornig, G., Dieter Blumenwitz’ wissenschaftliches Werk, in: Bausback, W. / Irmscher, T., Recht und Menschlichkeit. Reden und Festvortrag zur akademischen Gedächtnisfeier für Dieter Blumenwitz, 2006, S. 19 ff. (26). 2 Vgl. z. B. Blumenwitz, D., Die völkerrechtlichen Aspekte des Irak-Krieges, in: ZfP 2003, S. 301 ff.; ders., Die amerikanische Präventionsstrategie im Lichte des Völkerrechts, in: Fischer, H. et al. (Hrsg.), Krisensicherung und Humanitärer Schutz –

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I. Völkerrecht – Rechtsordnung oder Pseudorecht Die Kritik, Völkerrecht sei mangels übergeordneter Zwangsgewalt, bloßes Pseudorecht, von Moral nicht zu unterscheiden, hat bekanntermaßen wenige, aber nicht unbedeutende Denker der geistesgeschichtlichen Entwicklung vereint: Thomas Hobbes (1588–1679) beschreibt in seinem Leviathan das Verhältnis der Staaten zueinander mit dem Bild von sich belauernder Gladiatoren. 3 Baruch Spinoza (1632–1677) erkennt gegen das Völkerrecht gewendet als summa lex eines jeden Staates das eigene Wohl und den eigenen Nutzen. 4 Friedrich Hegel (1770–1831) betrachtet das Völkerrecht seiner Zeit infolge der angenommenen unbeschränkten Souveränität der Staaten als „Außenstaatsrecht“. 5 John Austin (1790–1859) leugnet den Rechtscharakter des Völkerrechts in seinem 1832 erschienenen Buch „The Province of Jurisprudence Determined“ mit den mittlerweile klassisch gewordenen, hier auszugsweise wiedergegebenen Worten: „And hence it inevitably follows, that the law obtaining between nations is not positive law: for every positive law is set by a given sovereign to a person or persons in a state of subjection to its author. As I have already intimated, the law obtaining between nations is law (improperly so called) set by general opinion. The duties which it imposes are enforced by moral sanctions: by fear on the part of nations, or by fear of the parts by sovereigns, of provoking general hostility, and incurring its probable evils, in case they shall violate maxims generally received and respected.“6 Auch bedeutende Autoren, die den Charakter des Völkerrechts als Recht anerkannten, stellen teilweise das Vorhandensein von Zwangsakten im Sinne physischer Gewalt als Spezifikum heraus, das den Charakter des Völkerrechts als Rechtsordnung ausmacht. Hierzu gehört zuvorderst Hans Kelsen (1881– 1973) der in seiner rechtspositivistischen Reinen Rechtslehre das Völkerrecht ausdrücklich in die allgemeine Definition von Rechtsordnungen einbezieht, als deren Alleinstellungsmerkmal er die Eigenschaft als Zwangsordnung hervorhebt. 7 Als Sanktionen des Völkerrechts, die seinen Charakter als Zwangsord___________ Crisis Management and Humanitarian Protection. Festschrift für Dieter Fleck, 2004, S. 23 ff.; ders., Der Präventivkrieg und das Völkerrecht, in: Politische Studien Nr. 391 (Sept./Okt. 2003), S. 21 ff.; bemerkenswert in diesem Zusammenhang auch folgende Doktorarbeit, die Blumenwitz angeregt und bis zu seinem Tode begleitet hat: Kunde, M., Der Präventivkrieg, 2006. 3 Hobbes, Th., Leviathan, 1651, I, Kap. 13. 4 Spinoza, B., Tractatus theologico-politicus, 1670, cap. XVI. 5 Hegel, F., Rechtsphilosophie, 1821, § 330 f.; vgl. dazu Verdross, A. / Simma, B., Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. 1984, § 20. 6 Austin, J., The Province of Jurisprudence Determined, 1832, S. 208. 7 Kelsen, H., Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 34 ff.; ders., Law and Peace in International Relations, 2. Aufl. 1948, S. 7 f.; ders. in seiner posthum von Ringhofer, K. / Walter, R., herausgegebenen Allgemeinen Theorie der Normen, 1973, S. 18. Ebenso wie Kelsen stellen auf die Sanktion im engeren Sinne als Charakteristikum des Völ-

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nung ausmachen, erkennt er zum einen die Repressalie, zum anderen den Krieg, wobei er zwischen diesen beiden lediglich einen quantitativen Unterschied bemerkt. 8 Auch Kelsen wird damit dem wesentlich komplexeren Wirkungsmechanismus und Bedeutungsgehalt des Rechts schon zu seiner Zeit nicht gerecht. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass er neben dem Abstellen auf das Vorhandensein einer Sanktion im engeren Sinne als weiteres wesentliches Charakteristikum des „Rechts“, Regelung menschlichen Verhaltens im Sinne von Berechtigungen und Verpflichtungen zu sein, im Völkerrecht nachweist. 9 Kelsen und andere Autoren, die das Völkerrecht jedenfalls auch wesentlich über seine Durchsetzung durch physische Zwangsakte definieren, stehen zwangsläufig in der Gefahr, dass sie das Völkerrecht in seinem Wesensgehalt so reduzieren, dass es in seinem Charakter als primitives Recht missverstanden werden muss. Zwang, verstanden als Übel, das dem Betroffenen nötigenfalls auch gegen seinen Willen unter Anwendung physischer Gewalt zugefügt wird, 10 stellt als drohende Folge von Normverstößen zwar im Einzelfall ein starkes Motiv für rechtstreues Verhalten dar. Nicht nur für das Völkerrecht greift es aber zu kurz, diese Sanktionen im engeren Sinne als wesentliches oder einziges Spezifikum der Natur einer Rechtsordnung zu verstehen. Sein koordinationsrechtlicher Charakter 11 weist darauf hin, dass gerade im Völkerrecht die Normbefolgungsmechanismen wesentlich komplexer ausgestaltet sind und sich nicht auf drohende Zwangsakte als Folge potenzieller Rechtsbrüche reduzieren lassen. Der Durchsetzung völkerrechtlicher Normen kommen neben der Sanktion im engeren Sinne Motivationen wie Idealismus, Berechnung, Vernunft oder auch Gewohnheit zugute. Eng verbunden mit diesen Rechtsbefolgungsmotiven sind Sanktionsmechanismen im weiteren Sinne wie die Verweigerung diplomatischer Ehrbezeugung gegenüber dem rechtsuntreuen Staat oder seinen Vertre___________ kerrechts ab, z. B. Klein, F., Sanktion, in: Strupp, K. / Schlochauer, H.-J., Wörterbuch des Völkerrechts, 3. Bd., 1962, S. 158 ff. (159); Röhl, K. F., Allgemeine Rechtslehre, 2. Aufl. 2001, S. 191. 8 Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 7), S. 321 ff.; vgl. im Übrigen ders., Law and Peace in International Relations (Fn. 7), S. 7 f., zu Krieg und Repressalie als Sanktionen des Völkerrechts. 9 Das Individuum, das die Akte als Organ des Staates setzt bzw. als Teil des Staatsvolkes des der Sanktion ausgesetzten Staates erleidet, wird dabei durch den Staatsverband mediatisiert; vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 7), S. 325 ff. 10 Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 7), S. 34, zum Begriff der Sanktion näher S. 114 ff.; vgl. zur Sanktion im rechtstheoretischen Sinne z. B. auch Röhl (Fn. 7), S. 187 ff.; zum rechtstheoretischen Begriff der Sanktion im Zusammenhang mit dem Völkerrecht vgl. auch Beyerlin, U., Sanktionen, in: Wolfrum, R., Handbuch Vereinte Nationen, 2. Aufl. 1991, S. 721 ff. (721), Rn. 1. 11 Vgl. dazu die Einführung des Verstorbenen zu der von ihm gestalteten Fallsammlung: Blumenwitz, D., in: Blumenwitz, D. / Breuer, M., Fälle und Lösungen zum Völkerrecht, 2. Aufl. 2005, S. 5.

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tern, die Kritik in der internationalen Öffentlichkeit und damit verbundenen Leumundsschädigungen bis hin zur Ächtung eines Staates in der Staatengemeinschaft. 12 Auch die Furcht vor einem Zurückschlagen des eigenen Verhaltens im Sinne eines tu quoque oder die Nachteile einer Aufweichung des Rechts durch präzedenzielle Rechtsbrüche können zur Rechtsbefolgung beitragen. Zentral für viele der genannten Motive und Sanktionen in weiteren Sinn ist letztlich ein Zurückwirken des Rechtsbruchs auf das verantwortliche Subjekt. Der Rechtsbruch stigmatisiert den Rechtsbrecher in der Rechtsgemeinschaft. Dies lässt sich auch am Beispiel des Folterverbots als menschenrechtlicher Verpflichtung aufzeigen.

II. Beispiel Folterverbot 1. Materiellrechtliche Grundlagen des Folterverbotes a) Rechtsgrundlagen Das Folterverbot ist heute in einer ganzen Reihe von völkerrechtlichen Menschenrechtsordnungen enthalten: So formulieren Art. 4 der – rechtlich ursprünglich unverbindlichen – allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 13 und Art. 7 S. 1 des von mehr als 150 Staaten ratifizierten Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte 14 übereinstimmend: „No one shall be subject to torture or to cruel inhuman or degrading treatment or punishment.“ Auch Art. 5 Ziff. 2 S. 1 der Amerikanischen Menschenrechtskonvention 15 und Art. 3 der EMRK 16 formulieren nahezu in gleicher Weise. In der Formulierung abweichend, aber ebenfalls als vorbehaltloses Verbot ausgestaltet verbietet Art. 5 S. 2 der Afrikanischen Menschenrechtscharter – auch Banjul Charter genannt – Folter, grausame und unmenschliche Behandlung. 17 Auch in die ___________ 12

Ächtung darf nicht mit der Rechtlosstellung verwechselt werden; utilitaristische Tendenzen, die einzelne Schurkenstaaten rechtlos stellen, bergen die Gefahr einer Schwächung des Rechts an sich. 13 Res. 217 (III) vom 10.12.1948, in: United Nations, General Assembly, Official Records third Session (part I) Resolutions (Doc. A 810), S. 71 ff. 14 UNTS, Vol. 999, S. 171 ff. 15 ILM 1970, S. 710 ff.; deutsche Übersetzung in: EuGRZ 1980, S. 435 ff.; inhaltlich ohne Bedeutung ist dabei, dass die Begriffe Behandlung („Treatment“) und Strafe („Punishment“) in ihrer Stellung vertauscht werden. 16 Ursprüngliche Fassung BGBl. 1952 II, S. 686 ff.; in der EMRK wird nur das Wort „grausam“ weggelassen. 17 Abgedruckt in: ILM 1982, S. 59 ff.; deutsche Übersetzung in: EuGRZ 1986, S. 677. Art. 5 lautet: „Every individual shall have the right to the respect of the dignity inherent in a human being and to the recognition of his legal status. All forms of exploitation and degradation of man particularly slavery, slave trade, torture, cruel, inhuman or degrading punishment and treatment shall be prohibited.“

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kriegsvölkerrechtlichen Genfer Abkommen und ihre Zusatzprotokolle hat das Folterverbot an mehreren Stellen Eingang gefunden. Beispielhaft können Art. 3 Ziff. 1 lit. a und lit. c, Art. 17 Abs. 4 und Art. 87 Abs. 3 des III. Genfer Abkommens über die Behandlung von Kriegsgefangenen genannt werden. 18 Das Verbot der Folter gilt nach den Vorschriften des Genfer Rechts nicht nur im internationalen, sondern auch für den innerstaatlichen bewaffneten Konflikt, es darf weder aus Sicherheitsgründen noch als Repressalie außer Kraft gesetzt werden. Der Konsens über das Folterverbot kommt darüber hinaus in einer ganzen Reihe von rechtlich nicht verbindlichen, aber politisch bedeutsamen Erklärungen und Resolutionen zum Ausdruck, so in wichtigen Resolutionen der UN-Generalversammlung, in Art. 20 S. 2 der Kairo-Deklaration der Konferenz islamischer Staaten 19 und in Art. 13 lit. a i. V. m. Art. 4 der arabischen Menschenrechtscharta, die am 15. September 1994 zwar vom Rat der Arabischen Liga angenommen wurde, als Vertrag aber bislang mangels Ratifikationen nicht in Kraft getreten ist. 20 Alle diese Menschenrechtsdokumente formulieren das Verbot der Folter und – oftmals dazu abgestuft – der grausamen, unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung – schrankenlos und sind damit Hinweis auch auf die völkergewohnheitsrechtliche Geltung des Verbots. Eine nähere Definition der Folter und der „grausamen, unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung“ ist in diesen Verträgen bzw. Erklärungen aber nicht enthalten. Im Rahmen der vertraglichen Instrumente ist es deshalb vor allem Aufgabe der zuständigen Vertragsorgane, im Übrigen der Staaten selbst, die Interpretation vorzunehmen. ___________ 18 UNTS, Bd. 75, S. 135; BGBl. 1954 II, S. 833 ff. Vgl. ferner Art. 3 Ziff. 1 lit a und lit c, Art. 32, Art. 147 des IV. Genfer Abkommens zum Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten vom 12.08.1949, BGBl. 1954 II, S. 917 ff.; Art. 75 Abs. 2 lit. a und lit. b des [ersten] Zusatzprotokolls zu den Genfer Abkommen vom 08.06.1977, UNTS, Bd. 1125, S. 3, BGBl. 1990 II, S. 1551, und Art. 4 Abs. 2 lit. a und lit e des Zweiten Zusatzprotokolls zu den Genfer Abkommen, UNTS, Bd. 1125, S. 609, BGBl. 1990 II, S. 1637. 19 Von der Konferenz der islamischen Staaten in Kairo als Erklärung am 05.08.1990 angenommen, Text unter http://www1.umn.edu/humanrts/instree/cairodeclaration.html (abgerufen 01.10.2007); Art. 20 der Erklärung lautet in englischer Übersetzung: „It is not permitted without legitimate reason to arrest an individual, or restrict his freedom, to exile or to punish him. It is not permitted to subject him to physical or psychological torture or to any form of humiliation, cruelty or indignity. (…).“ 20 Englische Übersetzung in: HRLJ 18 (1997), S. 151 ff.; ferner unter http://www. umn.edu/humanrts/instree/arabhrcharter.html (abgerufen am 01.10.2007); Art. 13 lit. a lautet in englischer Übersetzung: „The States parties shall protect every person in their territory from being subjected to physical or mental torture or cruel, inhuman or degrading treatment. They shall take effective measures to prevent such acts and shall regard the practice thereof, or participation therein, as a punishable offence.“ Zur Arabischen Charta der Menschenrechte jeweils knapp auch Ipsen, K., in: Ipsen, K., Völkerrecht 5. Aufl. 2004, § 49 Rn. 23; Hailbronner, K., in: Graf Vitzthum, W. (Hrsg.), Völkerrecht, 4. Aufl. 2007, III Rn. 267.

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Hinsichtlich der Definitionsfrage hebt sich die UN-Anti-Folterkonvention, die mittlerweile mehr als 140 der 191 UN-Mitgliedstaaten ratifiziert haben, von den bislang genannten Verträgen und Dokumenten ab. 21 In ihrem Art. 1 enthält sie eine ausdrückliche Begriffsdefinition der Folter: Objektive Merkmale der Folter sind demnach das Zufügen von großen körperlichen oder seelischen Schmerzen an eine andere Person durch eine in amtlicher Eigenschaft handelnde Person, wobei es sich nicht um Schmerzen oder Leiden handeln darf, die sich lediglich aus gesetzlich angeordneten Sanktionen ergeben oder damit verbunden sind. Subjektiv wird vorausgesetzt, dass die Handlung vorsätzlich und zweckgerichtet vorgenommen wird, wobei die möglichen Zweckbestimmungen denkbar weit gefasst sind. Die beispielhafte Aufzählung nennt insoweit das Ziel, von der Person oder einem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erlangen, die Absicht der Bestrafung für eine tatsächlich oder mutmaßlich von der Person oder einem Dritten begangene Tat, der Einschüchterung bzw. Nötigung der Person oder eines Dritten oder einen anderen, auf irgendeiner Art von Diskriminierung beruhenden Grund. Als Minus zur Folter enthält die UN-AntiFolter-Konvention in ihrem Art. 16 auch das Verbot der grausamen, unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe, wobei neben dem Verbot an sich nicht alle, aber einzelne der in Bezug auf die Verhinderung der Folter spezifisch formulierten Verpflichtungen auch für diesen Bereich anwendbar sein sollen. 22 Das Ausschlussmerkmal des Art. 1 Abs. 1 S. 2, wonach Leibesstrafen aus dem Folterbegriff der UN-Folterkonvention herausfallen und die Beschränkung des Folterbegriffs auf öffentliches Handeln führen andererseits objektiv zu einer Beschränkung des Folterbegriffs, die sich aber nicht in vergleichbarer Weise für die ergänzend in der Konvention geregelten, als Minus zur Folter dargelegten Tatbestände der der grausamen, unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung in Art. 16 UN-Anti-Folter-Konvention findet. Auch stellt Art. 1 Abs. 2 der UN-Anti-Folter-Konvention ausdrücklich klar, dass weitergehende internationale Übereinkünfte von dieser Bestimmung nicht berührt werden. b) Zur Definition des Folterbegriffs in der Praxis der Vertragsorgane Die Differenzierung zwischen Folter im engeren Sinne und den drei bzw. zwei weiteren Stufen einer grausamen, unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung, wie sie der IPbpR, die UN-Anti-Folter-Konvention und die ___________ 21 UNTS, Vol. 1465, S. 85; zum Ratifikationsstand vgl. http://www.ohchr.org/english/bodies/docs/status.pdf (Stand 10.10.2007). 22 Nämlich Art. 10: Unterrichtung des Vollzugspersonals, Art. 11: Regelmäßige Überprüfung der Vorkehrungen, Art. 12: Ermittlungsgebot bei mutmaßlichen Verstößen und Art. 13: Sicherstellung einer effektiven unparteiischen Prüfung von behaupteten Verletzungen auf Anzeige des Betroffenen.

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EMRK (wenn auch ohne explizite Erwähnung des Merkmals „grausam“) vornehmen, erfolgt vor allem nach der Intensität der Schmerzzufügung sowie teilweise nach Art und Zweck der Behandlung. Auch bei Heranziehung der Definition der UN-Anti-Folter-Konvention ist die Einordnung einer Handlung als Folter oder als erniedrigende Behandlung wertungsabhängig. Darauf weisen auch folgende, in der Literatur seit längerem verschiedentlich aufgeführte, sachlich nahe beieinander liegende Beispiele aus der Praxis von Menschenrechtsorganen im Bereich des Folterverbotes deutlich hin: 23 Als Folter im engeren Sinne qualifizierte der UN-Menschenrechtsausschuss etwa das über drei Monate hinweg immer wieder angewendete tagelange aufrechte Stehen mit verbundenen Augen gegenüber einer Gefangenen. 24 Hingegen wurde in einem anderen Fall der Zwang, 35 Stunden mit verbundenen Augen stehen zu müssen, vom Ausschuss als unmenschliche und grausame Behandlung eingeordnet. 25 Auf der regionalen europäischen Ebene waren die ___________ 23 Weitere Nachweise auf die umfangreiche Fallpraxis vgl. bei Schmahl, S. / Steiger, D., Völkerrechtliche Implikationen des Falls Daschner, in: AVR, Bd. 43 (2005), S. 358 (363 ff.). 24 CCPR, Violeta Setelich v. Uruguay, Communication No. 63/1979, U.N. Doc. CCPR/C/OP/1 at 101 (1985; im Folgenden auszugsweise): „… 2.4 The author declared that, beginning in February 1978, her husband was once again subjected to inhuman treatment and torture: for three months, he was made to do the ‚planton‘ (stand upright with his eyes blindfolded) throughout the day; he was only able to rest and sleep for a few hours at a time; he was beaten and given insufficient food and he was not allowed to receive visits. In May 1978, he received his first visit after this three months’ sanction and his state of health was alarming. (…) 15. The Human Rights Committee, having examined the present communication in the light of all the information made available to it by the parties as provided in article 5 (1) of the Optional Protocol, hereby decides, in the absence of comments by the State party, to base its views on the following facts as set out by the author: (…) 16.2 Events subsequent to the entry into force of the Covenant: In September 1976, he was transferred to the barracks of Ingenieros in the city of Paso de los Toros. There, from February to May 1978, or for the space of three months, he was subjected to torture (‚plantones‘, beatings, lack of food). On 28 November 1979 (date of the author’s initial communication), his whereabouts were unknown. (…)“; das Gesamtdokument ist abrufbar unter http://www1.umn.edu/humanrts/undocs/newscans/ 63-1979.html (Stand 10.10.2007). 25 CCPR, Esther Soriano de Bouton v. Uruguay, Communication No. 37/1978, U.N. Doc. CCPR/C/OP/1 at 72 (1984; im Folgenden auszugsweise): „2.3 She states, inter alia, that once she was forced to stand for 35 hours, with minor interruptions; that her wrists were bound with a strip of coarse cloth which hurt her and that her eyes were continuously kept bandaged. During day and night she could hear the cries of other detainees being tortured. During interrogation she was allegedly threatened with ‚more effective ways than conventional torture to make her talk‘. (…) 13. The Human Rights Committee, acting under article 5 (4) of the Optional Protocol to the International Covenant on Civil and Political Rights, is of the view that the facts as found by it, in so far as they have occurred after 23 March 1976 (the date on which the Covenant entered into force in respect of Uruguay), disclose violations of the Covenant, in particular of: Articles 7 and 10 (1), on the basis of evidence of inhuman and degrading treatment of

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damaligen EMRK-Organe Kommission und Gerichtshof im Rahmen der bekannten Staatenbeschwerde der Republik Irland gegen Großbritannien untereinander uneinig, wie die gegen IRA-Mitglieder kombiniert angewendeten so genannten „fünf Techniken“ einzuordnen seien: Gefangene mussten mehrere Stunden – teilweise mit Unterbrechungen bis zu 20 oder 30 Stunden – mit gespreizten Armen und Beinen an einer Wand stehen, wobei ihnen eine schwarze Kapuze über den Kopf gezogen wurde. Hinzu kamen bei Befragungen ein ständiges lautes zischendes Geräusch, Schlafentzug und Reduzierung von Essen und Trinken auf ein Minimum. Die Kommission sah darin Folter im engeren Sinne, der Gerichtshof lediglich unmenschliche und erniedrigende Behandlung. 26 Im Urteil Selmouni gegen Frankreich im Jahre 1999 kündigte der Gerichtshof allerdings ausdrücklich für die Zukunft strengere Maßstäbe an, was die Einordnung von Verhaltensweisen unter den Folterbegriff angeht. Dies wird mit dem Charakter der EMRK als living document und zunehmend höheren Menschenrechtsstandards begründet. Heute würden wohl auch vom Gerichtshof die fünf Techniken aus dem genannten Nordirlandfall als Folter eingeordnet. 27 Diese wenigen Beispiele aus der Praxis belegen, dass die Feststellung von Folter oder der grausamen, unmenschlichen, bzw. erniedrigenden Behandlung im Einzelfall wertungsabhängig ist. Das Schutzniveau wird maßgeblich mitbestimmt durch die Kasuistik zuständiger Vertragsorgane, die Maßstäbe setzen können. Dies ist sowohl dem EGMR als auch dem UN-Menschenrechtsausschuss bis heute gelungen, auch wenn es im Hinblick auf den vorgegebenen Umfang nicht möglich ist, die Rechtsprechung des Gerichtshofes und die Praxis des Ausschusses hier im Einzelnen zu analysieren. Die bisher entschiedenen Fälle lassen aber etwa die Bedrohung von Gefangenen durch große aggressive Hunde oder das nackte Ausziehen der Gefangenen – vom Verteidigungsminister der Vereinigten Staaten für kurze Zeit offiziell bestätigte Vernehmungstechniken – während einer Befragung als erniedrigende Handlung i. S. d. IPbpR, der EMRK und der UN-Anti-Folter-Konvention erscheinen. 28 Die An___________ Esther Soriano de Bouton; (…)“; das Gesamtdokument ist abrufbar unter http://www1. umn.edu/humanrts/undocs/html/37_1978.htm (Stand 10.10.2007). 26 EKMR, Yearbook 19, 512 (794); EGMR, Urteil vom 18.01.1978, Irland gegen Vereinigtes Königreich, Serie A 25, Ziff. 167; dazu Schmahl / Steiger (Fn. 23), S. 366 Fn. 58. 27 EGMR, Selmouni gegen Frankreich, Urteil vom 28.07.1999, NJW 2001, 60; dazu Schmahl / Steiger (Fn. 23), S. 366 Anm. 58. 28 Vgl. dazu die bei Greenberg, K. J. / Dratel, J. L. (ed.), The Torture Papers, 2005, S. 227–239, abgedruckten Schriftwechsel aus dem Bereich des US-Verteidigungsministeriums hinsichtlich der rechtlichen Beurteilung der einschlägigen Befragungstechniken. Bekanntheit erlangt hat dabei insbesondere die folgende handgeschriebene Notiz von D. Rumsfeld zum aufrechten Stehen von Gefangenen, verfasst am 02.12.2002: „However, I stand for 8–10 hours a day. Why is standing limited to 4 hours?“

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drohung von Schmerzen, die der Angeklagte nicht vergessen werde – wie im Fall Gäfgen –, fällt, solange es bei der Drohung bleibt, ebenfalls unter die erniedrigende Behandlung, da sie dem Gefangenen das Gefühl des Ausgeliefertseins vermittelt. 29 Hingegen erscheint das aus amerikanischen Krimiserien wohl vertraute Kreuzverhör unbedenklich, das unter Einsatz emotionaler Erregung oder Tricks eines gerissenen Staatsanwalts dem Angeklagten ein Geständnis entlockt. c) Zu Reichweite und Verpflichtungen aus dem Folterverbot, insbesondere extraterritoriale Anwendbarkeit Das Verbot der Folter, der grausamen, unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung beinhaltet zunächst eine Unterlassenspflicht. Dabei sind das Folterverbot der EMRK und des IPbpR grundsätzlich bezogen auf die Hoheitsgewalt (engl. jurisdiction), wie Art. 1 EMRK und Art. 2 Abs. 1 IPbpR zeigen. Zwar hat der EGMR im Urteil Bankovic – insgesamt und im Hinblick auf seine frühere Entscheidung Loizidou 30 nicht unproblematisch – ausgeführt, das Konzept der jurisdiction sei grundsätzlich territorial bezogen; die extraterritoriale Ausübung von Hoheitsgewalt falle nur ausnahmsweise unter den Anwendungsbereich der Konvention, etwa wenn effektive Kontrolle über ein fremdes Gebiet ausgeübt wird. 31 Demnach wären britische Truppen etwa in den von ihnen besetzten Zonen des Iraks an die EMRK und das Folterverbot der EMRK gebunden, nicht hingegen Tornadopiloten, die bei einem Luftkrieg wie über dem ehemaligen Jugoslawien Bomben abwerfen, um zunächst ohne Bodeneinsatz militärische Potenziale zu bekämpfen. Darüber hinaus gilt aber das Folterverbot in jedem Falle ungeachtet der Einschränkungen des Bankovic-Urteils auch extraterritorial: Mitgliedstaaten der EMRK oder des IPbpR oder anderer vertraglicher Folterverbote können sich nicht etwa dadurch von den Fesseln des Folterverbotes lösen, dass sie mutmaßliche Terroristen in dritten Staaten von ihren Geheimdienstmitarbeitern oder beauftragten Dritten foltern lassen oder einer grausamen, erniedrigenden Behandlung unterwerfen: Dies ergibt sich schon aus der Bedeutung und Stellung des Folterverbotes im Völkerrecht. Das Folterverbot hat eine so weitreichende ___________ 29

Zum Sachverhalt vgl. LG Frankfurt, NJW 2005, 692 (692); ferner z. B. Schmahl / Steiger (Fn. 23), S. 358. 30 EGMR, Urteil vom 10.05.2001, Loizidou gegen Türkei, EuGRZ 1997, 558 ff., Rn. 69–81; die zuvor, 1995, ergangene Zulässigkeitsentscheidung ist durch den Gerichtshof veröffentlicht in Serie A 310 (1995). 31 EGMR, Zulässigkeitsentscheidung vom 12.12.2001, Bankovic u. a. gegen 17 Mitgliedstaaten, EuGRZ 2002, 133 ff. (Rz. 61); zur Anwendbarkeit ratione loci vgl. z. B. Peters, A., Einführung in die Europäische Menschenrechtskonvention, 2003, S. 233.

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Anerkennung in Verträgen und Dokumenten erhalten, die darüber hinaus seine Bedeutung unterstreichen, so dass zu Recht seine gewohnheitsrechtliche Verfestigung als Norm im Range von ius cogens angenommen wird. 32 Es umfasst, wie etwa auch im Rahmen der EMRK und des IPbpR anerkannt wird, neben einem negativen Abwehrrecht auch eine positive Sorgepflicht des Staates. Weitreichende Schutzpflichten nimmt etwa der UN-Menschenrechtsausschuss in seinen beiden General Comments zu Art. 7 IPbpR an, wenn er – anders als die UN-Anti-Folter-Konvention in der Definition des Art. 1 – feststellt, dass auch privates Handeln unter den Folterbegriff fallen kann, der Staat insoweit zum Schutz des Einzelnen verpflichtet bleibt. 33 Auch der EGMR leitet aus ___________ 32 So auch z. B. Schmahl / Steiger (Fn. 23), S. 362 m. w. N.; weiterführend im Hinblick auf Folgerungen aus der Zugehörigkeit zum ius cogens: Wet, E. de, The Prohibition of Torture as an International Norm of jus cogens and Its Implications for National und Customary Law, in: EJIL 2004, 97 ff. 33 CCPR, General Comment Nr. 7 vom 30.05.1982, Article 7 (Sixteenth session, 1982), Compilation of General Comments and General Recommendations Adopted by Human Rights Treaty Bodies, U.N. Doc. HRI/GEN/1/Rev.1 at 7 (1994), abrufbar unter http://www1.umn.edu/humanrts/gencomm/hrcomms.html (10.10.2007), im Folgenden auszugsweise wiedergegeben: „1. In examining the reports of States parties, members of the Committee have often asked for further information under article 7 which prohibits, in the first place, torture or cruel, inhuman or degrading treatment or punishment. (…) The Committee notes that it is not sufficient for the implementation of this article to prohibit such treatment or punishment or to make it a crime. Most States have penal provisions which are applicable to cases of torture or similar practices. Because such cases nevertheless occur, it follows from article 7, read together with article 2 of the Covenant, that States must ensure an effective protection through some machinery of control. (…) 2. As appears from the terms of this article, the scope of protection required goes far beyond torture as normally understood. (…) Finally, it is also the duty of public authorities to ensure protection by the law against such treatment even when committed by persons acting outside or without any official authority. For all persons deprived of their liberty, the prohibition of treatment contrary to article 7 is supplemented by the positive requirement of article 10 (1) of the Covenant that they shall be treated with humanity and with respect for the inherent dignity of the human person.“ – Das General Comment Nr. 7 wurde 1992 durch das ausführlicher gefasste General Comment Nr. 20 ersetzt, das die Schutzpflicht bestätigte, vgl. CCPR, General Comment Nr. 20 vom 10.03.1992, Article 7 (Forty-fourth session, 1992), Compilation of General Comments and General Recommendations Adopted by Human Rights Treaty Bodies, U.N. Doc. HRI/GEN/1/Rev.1 at 30 (1994), abrufbar unter http://www1.umn.edu/humanrts/gencomm/hrcomms.html (10.10.2007), im Folgenden auszugsweise wiedergegeben: „(…) 2. The aim of the provisions of article 7 of the International Covenant on Civil and Political Rights is to protect both the dignity and the physical and mental integrity of the individual. It is the duty of the State party to afford everyone protection through legislative and other measures as may be necessary against the acts prohibited by article 7, whether inflicted by people acting in their official capacity, outside their official capacity or in a private capacity. (…) 9. In the view of the Committee, States parties must not expose individuals to the danger of torture or cruel, inhuman or degrading treatment or punishment upon return to another country by way of their extradition, expulsion or refoulement. States parties should indicate in their reports what measures they have adopted to that end.“

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Art. 3 EMRK staatliche Schutzpflichten gegen das Handeln Privater ab. Im Falle einer über Jahre hinweg der Behörde bekannten und von ihr geduldeten massiven Vernachlässigung von kleinen Kindern u. a. in Form mit einer verkoteten Bettstatt, unzureichender Ernährung und Erziehung erkannte der EGMR eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung, die vom Vereinigten Königreich durch Unterlassen zu verantworten ist. 34 Die Geltung des Folterverbots beinhaltet, wie Art. 3 der UN-Anti-FolterKonvention und die Rechtsprechung des EGMR 35 zeigen, auch das Verbot der Auslieferung, Ausweisung oder Abschiebung in einen Drittstaat, in dem der betroffenen Person Folter, unmenschliche Behandlung oder Bestrafung drohen. Weiter trifft die Mitgliedstaaten der UN-Folter-Konvention die Pflicht, für eine Strafverfolgung von Folterhandlungen zu sorgen, und zwar – wie Art. 5 Abs. 2 UN-Anti-Folter-Konvention zeigt – nach dem Weltrechtsprinzip auch dann, wenn nicht über den Begehungsort oder die Staatsangehörigkeit vom Täter beziehungsweise Opfer eine besondere Beziehung zu der Tat besteht. Der EGMR sieht – weitergehend als die UN-Anti-Folter-Konvention – auch eine Bestrafungspflicht bei „bloß“ unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung – dogmatisch begründet aus Art. 3 EMRK i. V. m Art. 1 oder Art. 13.36 Auch der UN-Menschenrechtsausschuss erkennt in seiner Fallpraxis eine Bestrafungspflicht als Teil der staatlichen Sorgepflicht gegen Folter an.37 Für Aussagen, die durch Folter erlangt werden, gilt ein Beweisverwertungsverbot. 38 Der Court of Appeal der Vereinigten Staaten stellte im Rahmen einer in den 80er Jahren in den USA erhobenen Zivilklage eines Ausländers gegen einen früheren Amtsträger Paraguays fest, der Folterer sei – wie schon der Pirat und der Sklavenhändler – heute „hostis humanis generis“ und unterstrich damit den Charakter der Folter als Weltrechtsdelikt. 39 Die dargelegten weitreichenden Schutzpflichten zeigen aber auch, dass das Folterverbot extraterritorial gelten muss, dass ein Staat nicht durch Amtsträger ___________ 34

Dazu Peters (Fn. 31), S. 47 m. w. N. Vgl. EGMR, EuGRZ 1989, 314 ff., mit Anmerkung Blumenwitz, D., in: EuGRZ 1989, S. 326 ff.; überblicksmäßig Peters (Fn. 31), S. 52 ff. m. w. N. 36 Vgl. Schmahl / Steiger (Fn. 23), S. 369 f. 37 CCPR, Tshitenge Muteba v. Zaire, Communication No. 124/1982, U.N. Doc. CCPR/C/OP/2 at 158 (1990; im Folgenden auszugsweise): „(…) 13. The Committee, accordingly, is of the view that the State party is under an obligation to provide Mr. Muteba with effective remedies, including compensation, for the violations which he has suffered, to conduct an inquiry into the circumstances of his torture, to punish those found guilty of torture and to take steps to ensure that similar violations do not occur in the future.“ 38 Frowein, J. A. / Peukert, W., EMRK-Kommentar, 2. Aufl. 1996, Art. 6 Rn. 109. 39 Auf die Entscheidung wird verwiesen in: American Law Institute, Restatement of the Law – the Foreign Relations Law of the United States, Vol. II, 1987, § 702 (S. 170). 35

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in einem Drittstaat foltern oder foltern lassen darf. Vielmehr besteht die Verpflichtung, für die Strafverfolgung auch solcher Folterer zu sorgen. d) Zur Frage von möglichen Einschränkungen des Folterverbots und Rechtfertigung von Folterhandlungen Der EGMR betont in seiner Rechtsprechung die Absolutheit, die das Folterverbot des Art. 3 EMRK besitzt: Im Fall Selmouni gegen Frankreich führt er z. B. aus: „Der Gerichtshof erinnert daran, dass Art. 3 EMRK eine der Grundwerte der demokratischen Gesellschaft schützt. Die Konvention verbietet Folter und unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung uneingeschränkt, selbst unter den schwierigsten Bedingungen wie der Bekämpfung des Terrorismus und des organisierten Verbrechens. Art. 3 EMRK lässt keine Einschränkung zu, wodurch sich diese Vorschrift von der Mehrzahl der Garantien in der Konvention und den Protokollen Nr. 1 und 4 unterscheidet, und Art. 15 Abs. 2 EMRK erlaubt selbst im Falle einer allgemeinen Gefahr, die das Leben der Nation bedroht, keine Abweichung von Art. 3 EMRK“. 40 Die EMRK befindet sich damit in Übereinstimmung mit Art. 2 Abs. 2 UNAnti-Folter-Konvention, mit Art. 4 Abs. 1 IPbpR und Art. 27 Abs. 2 der amerikanischen Menschenrechtsdeklaration. Die Banjul-Charter enthält zwar keine Notstandsbestimmung, das Folterverbot wird allerdings in Art. 5 S. 2 absolut formuliert. Etwas anderes folgt auch nicht aus dem im Hinblick auf die neuen terroristischen Bedrohungen gerne beschworene „Ticking-Bomb-Szenario“. Ein AlQuaida-Terrorist wird gefasst; die Polizei oder – im Rahmen eines Truppeneinsatzes im Ausland – die Soldaten wissen, dass er eine schmutzige Bombe versteckt hat, deren Zeitzünder tickt und die Hunderttausende oder mehr Menschen zu töten oder grausam zu verstümmeln droht. Sollte Folter in diesen Extremfällen vielleicht doch erlaubt, gerechtfertigt sein? Muss es nicht dort eine Ausnahme vom völkerrechtlichen Folterverbot geben? Kann nicht eine Ausnahme für das völkerrechtliche Folterverbot über eine Wertungslücke konstruiert werden, die – so W. Brugger etwa 41 – durch Güterabwägung ausgefüllt werden muss? Ist die Situation nicht ähnlich der des so genannten finalen Rettungsschusses? Die Antwort muss letztlich „nein“ sein. An der Absolutheit des völkerrechtlichen Folterverbotes darf nicht gerüttelt werden. Denn was wäre andernfalls die Folge? Wo soll sonst eine Grenze gezogen werden bei wie vie___________ 40

EGMR (Große Kammer), Urt. vom 28.07.1999 – 25803/94 – Selmouni gegen Frankreich, in deutscher Übersetzung abgedruckt in: NJW 2001, 56 ff. (59), Ziff. 95. 41 Brugger, W., May Government Ever Use Torture? Two Responses from German Law, in: AJIL, Vol. 48 (2000), S. 661 ff.; ders., Vom unbedingten Verbot der Folter zum bedingten Recht auf Folter, in: JZ 2000, S. 165 ff.

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len Opfern, bei wie viel Sicherheit über das exklusive Gefahrwissen der festgehaltenen Person. Zwar kann, legt man die von UN-Menschenrechtsausschuss oder EGMR entwickelte Schutzpflicht aus dem Folterverbot gegen grausame Behandlung durch Private zugrunde, theoretisch ein Konflikt zwischen positiver Schutzpflicht und negativem Folterverbot für die öffentliche Hand entstehen. Nach dem menschenrechtlich garantierten Folterverbot ist aber klar, dass das negative Folterverbot der Schutzpflicht vorgeht. Das Verbot staatlicher Folter ist absolut und – teilweise ausdrücklich – notstandsfest formuliert, die Schutzpflicht hingegen trifft einen Staat ohnehin nur im Rahmen seiner Möglichkeiten, Folter – so die klare Aussage des Völkerrechts – gehört nicht dazu. 42 Dieser Rigorismus führt auch nicht notwendig in ein „fiat iustitia, pereat mundi“. 43 Ein Polizeibeamter, verantwortlicher Offizier oder entscheidender Politiker wird vermutlich, soweit die Hinweise für eine Tausende bedrohende tickende Massenvernichtungswaffe verdichtet sind, diese kaum explodieren lassen, ohne bis zum äußersten Mittel zu greifen. Er wird in einer solchen Situation möglicherweise alle verfügbaren Mittel und auch zuletzt eine rechtswidrige Behandlung des Festgenommen einsetzen, um eine Katastrophe abzuwenden. Ein solches Szenario liegt allerdings außerhalb dessen, was das Recht prospektiv regeln kann. Die Gefahr, die mit einer noch so kleinen Aufweichung des Folterverbots für die Rechtsordnung an sich bestünde ist zu groß, eine Ausnahme kaum zu formulieren. Eine Lösung kann hier nur retrospectiv durch die zur Beurteilung aufgerufenen Richterpersönlichkeiten erfolgen, wobei in solchen extremen Fällen die so genannte Radbruchsche Formel – wenn auch anders als ursprünglich gedacht – herangezogen werden könnte. Erreicht „der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches ___________ 42 Dies entspricht einer h. M.; aus dem deutschen Schrifttum kommen allerdings Tendenzen zu einer Relativierung: Brugger (Fn. 41); Wittreck, F., Menschenwürde und Folterverbot, in: DÖV 2003, S. 873 (insb. 880 f.), wobei beide Relativierungsansätze sowohl für das deutsche Verfassungsrecht wie das Internationale Recht vertreten werden. 43 Latein, eigentlich: „Es geschehe Gerechtigkeit, auch wenn die Welt darüber zugrunde geht.“ Dieses lateinische Rechtssprichwort lässt genauer betrachtet zwei Deutungen zu: Je nach Übersetzung des Begriffs mundus kann man es im Sinne eines Gerechtigkeitsfanatismus verstehen oder aber als Postulat, das Recht nicht zugunsten der Mächtigen zu relativieren. Im letzteren Sinne übersetzt I. Kant den Satz in seinem Traktat „zum Ewigen Frieden“ mit den Worten „Es herrsche Gerechtigkeit, die Schelme in der Welt mögen auch insgesamt darüber zu Grunde gehen.“, vgl. Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Kants gesammelte Schriften (photomechanischer Nachdruck Berlin 1968), Bd. 8, S. 341 ff. (378). Das Sprichwort lässt sich im Übrigen lange zurückverfolgen; schon Kaiser Ferdinand I. soll es sich als Wahlspruch ausgesucht haben; zur Verwendung des Satzes in der Geschichte vgl. die knappe Darstellung in Liebs, D., Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, 3. Auf. 1983, S. 73 f.

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Maß“, so hat „das Gesetz als unrichtiges Recht der Gerechtigkeit zu weichen“. 44 2. Durchsetzung des Folterverbotes über internationale Schutzmechanismen a) Schutzmechanismen im Überblick Trotz seiner vielfältigen Normierungen und der vielfachen Betonung seiner herausragenden Bedeutung findet sich auch für das Folterverbot kein verpflichtender völkerrechtlicher Sanktionsmechanismus im Sinne physischen Zwangs. Ob aus der Erga-omnes-Natur des Folterverbots gegen einen Verletzerstaat ein allgemeines Repressalienrecht aller Staaten abzuleiten ist, bleibt umstritten. 45 Der UN-Sicherheitsrat nimmt zwar für sich das Recht in Anspruch, bei massiven Menschenrechtsverletzungen über Kapitel VII Zwangsmaßnahmen zu verhängen, 46 doch kommt ihm dabei ein weites – in der Praxis im Übrigen stark ___________ 44 Das eigentliche Zitat von Radbruch, G., in: Süddeutsche Juristenzeitschrift 1 (1946), S. 105, zielte auf eine andere Situation: „Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, dass das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, dass der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, dass das Gesetz als unrichtiges Recht der Gerechtigkeit zu weichen hat. Es ist unmöglich, eine schärfere Linie zu ziehen zwischen den Fällen des gesetzlichen Unrechts und den trotz unrichtigen Inhalts dennoch geltenden Gesetzen; eine andere Grenzziehung aber kann mit aller Schärfe vorgenommen werden: wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewusst verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur unrichtiges Recht, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur.“ 45 Zur Frage einzelstaatlicher Repressalien bei der Verletzung von Erga-OmnesVerpflichtungen vgl. insoweit Klein, E., Gegenmaßnahmen, in: Fiedler, W. / Klein, E. / Schnyder, A., Gegenmaßnahmen (BDGV, Bd. 37), S. 39 ff. (51) m. w. N. Die Annahme eines allgemeinen Repressalienrechts in diesem Falle ist allerdings im Hinblick auf die Missbrauchsgefahr umstritten, vgl. dazu auch Frowein, J. A., Die Verpflichtung erga omnes im Völkerrecht und ihre Durchsetzung, in: Bernhardt, R. et al., Völkerrecht als Rechtsordnung, Internationale Gerichtsbarkeit, Menschenrechte, Festschrift für H. Mosler, 1983, S. 259 ff.; Fiedler, W., Gegenmaßnahmen, in: Fiedler, W. / Klein, E. / Schnyder, A., Gegenmaßnahmen (BDGV, Bd. 37), S. 9 ff. (27) m. w. N. In Art. 54 der von der ILC entworfenen und von der UN-Generalversammlung im Rahmen von Resolution 56/83 vom 12.12.2001 angenommenen Regeln zur Staatenverantwortung ist nur mehr lediglich von rechtmäßigen Handlungen zur Durchsetzung von erga-omnes-Verpflichtungen die Rede; hingegen hatte die ILC in ihrer letzten Entwurfsfassung (Dokument A/CN.4/L.600 vom 21.08.2000: International Law Commission, Fifty-second session, State responsibility. Draft articles provisionally adopted by the Drafting Committee on second reading) vor diesen Regeln das Bedürfnis einer auch dezentralen Durchsetzung von erga omnes wirkenden Normen noch anerkannt. 46 Vgl. dazu schon Herbst, J., Rechtskontrolle des UN-Sicherheitsrates, 1999, S. 347 f.

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von politischen Opportunitäten abhängiges – Entschließungsermessen zu. Trotz der nach Ende des Kalten Krieges erst wirklich entwickelten Praxis nach Kap. VII SVN vorzugehen, stellen Sanktionsmaßnahmen des Sicherheitsrates bei Folter die Ausnahme und nicht die Regel dar. Zwar wurden in den verschiedenen Konventionszusammenhängen verschiedene spezifische Mechanismen zur Durchsetzung des Folterverbots geschaffen. In keinem dieser Zusammenhänge findet sich dabei aber ein Mechanismus, der im Sinne physischen Zwangs Sanktionen gegen Verstöße zentral durchsetzen könnte. IPbpR und UN-Anti-Folter-Konvention enthalten die Mechanismen des Staatenberichtsverfahrens 47 sowie fakultativ der Staatenbeschwerde 48 und der Individualbeschwerde 49 , wobei für alle Verfahren die unabhängigen Expertenausschüsse UN-Menschenrechtsausschuss und Anti-Folter-Ausschuss zuständig sind. Entscheidungen beider Ausschüsse haben allerdings bloß Empfehlungscharakter. Der Anti-Folter-Ausschuss hat darüber hinaus die Möglichkeit, in einem vertraulichen Ex-Officio-Verfahren 50 Hinweisen auf systematische Folterungen nachzugehen und zu versuchen, im Zusammenwirken mit dem betroffenen Vertragsstaat Abhilfe zu schaffen. Gerichtliche Durchsetzungsmechanismen finden sich, wenn auch in unterschiedlicher Weise ausgestaltet, mittlerweile in allen drei großen regionalen Menschenrechtssystemen (EMRK, AMRK und Banjul-Charter): Als letzter Gerichtshof nahm der Afrikanische Gerichtshof für Menschenrechte und Rechte der Völker, der durch ein 2004 in Kraft getretenes Protokoll zur Banjul-Charta geschaffen wurde, seine Arbeit 2006 auf. 51 Einen besonderen präventiven Durchsetzungsmechanismus enthält die Europäische Anti-Folter-Konvention. 52 Der nach dieser Konvention gebildete unabhängige Expertenausschuss darf jederzeit alle Orte in den Vertragsstaaten aufsuchen, an denen Menschen durch eine öffentliche Behörde festgehalten werden. Er darf weiter vertrauliche Berichte über diese Besuche an die betroffenen Staaten richten und darin – falls notwendig – Verbesserungsvorschläge machen. 53 Die betroffenen Staaten ermöglichen teilweise freiwillig die Veröffentlichung des Berichts. Ein ähnliches Gremium ist nun mit dem Inkrafttreten des fakultativen Zusatzprotokolls zur UN-Anti-Folter-Konvention

___________ 47

Art. 40 IPbpR, Art. 19 UN-Folterkonvention. Art. 41 IPbpR sowie Art. 21 UN-Folterkonvention. 49 Art. 1 (1.) Fakultativprotokoll zum IPbpR sowie Art. 22 UN-Folterkonvention. 50 Art. 20 UN-Folterkonvention. 51 Vgl. Lyons, S., The African Court on Human and Peoples Right, Asil Insights, Vol. 10 Iss. 24 (19.09.2006), abrufbar unter http://www.asil.org/insights/2006/09/insights060919.html (Stand 01.10.2007). 52 BGBl. 1989 II, 946 ff. 53 Vgl. dazu allgemein Hailbronner (Fn. 20), Rn. 243; Peters (Fn. 31), S. 49. 48

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im letzten Jahr für dessen Vertragsstaaten auch auf der Ebene der UN-FolterKonvention geschaffen worden. 54 b) Klassifizierung der Schutzmechanismen Alle diese Organe leisten mit ihrer Praxis einen wichtigen Beitrag zur Konkretisierung des Folterverbots und seines Inhalts. Über eines verfügen sie aber allesamt nicht: Vollstreckungsmaßnahmen, mit denen das Folterverbot im Sinne einer Sanktion im engeren Sinne durchgesetzt werden könnte. Vielmehr kann man die genannten (und auch weitere) Durchsetzungsmechanismen im Bereich des Folterverbots in zwei Gruppen einteilen: Ein kleinerer Teil versucht – wie z. B. im Rahmen des Ex-Officio-Verfahrens nach Art. 20 der UNAnti-Folter-Konvention –, über vertrauliche Beratungen und Überzeugungsarbeit zu Verbesserungen zu gelangen. Die Mehrzahl von Verfahren vor Gerichten oder Expertengremien führen zu öffentlichen Verfahren, wobei die Öffentlichkeit einen wesentlichen Aspekt der Durchsetzung darstellt. Effektive Vollstreckungsmaßnahmen fehlen auch bei den gerichtsmäßig ausgestalteten Verfahren, sie bleiben von dem Willen der Vertragsstaaten zur Beachtung der Urteile letztlich angewiesen. Die Verfahren vor dem UN-Menschenrechtsausschuss und dem UN-Anti-Folter-Ausschuss führen sogar nur zu Empfehlungen. Was den Verfahren insbesondere gleichwohl Wirkung verleiht, ist der Grad internationaler Öffentlichkeit, der mit ihnen geschaffen wird. Letztlich setzen alle Verfahren auch auf die stigmatisierende Wirkung, die von einem nach außen bekannt werdenden Rechtsbruch ausgeht. c) Internationale Publizität als Schutzmechanismus am Beispiel des zweiten Staatenberichts der Vereinigten Staaten vor dem UN-Anti-Folter-Ausschuss Exemplarisch kann hier insbesondere auf den zweiten Staatenbericht der Vereinigten Staaten vor dem UN-Anti-Folter-Ausschuss verwiesen werden. Die Vereinigten Staaten haben 2005 ihren zweiten, gemäß Art. 19 Abs. 1 der UN-Anti-Folter-Konvention alle vier Jahre einzureichenden Staatenbericht über ihre Maßnahmen zur Erfüllung der Verpflichtungen aus der Anti-FolterKonvention abgegeben. Der Bericht wurde auf der 36. Tagung des Ausschusses gegen Folter vom 1. bis 19. Mai 2006 behandelt. Er war in seiner ursprünglichen Fassung insgesamt 85 Seiten stark und nahm auf Wunsch des Ausschusses in einem Annex auf 28 Seiten zur Lage der gefangenen Al-Quaida- und Ta___________ 54 Vgl. Optional Protocol to the Convention against Torture and Other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment, Text und Ratifikationsstand unter www. ohchr.org (10.10.2007).

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liban-Kämpfer und ihrer Unterstützer sowie im Irak gefangener Personen Stellung. 55 Der Ausschuss gegen Folter seinerseits hat einen 11 Seiten umfassenden Fragenkatalog entwickelt, der der Behandlung des US-amerikanischen Staatenberichts zugrunde gelegt wurde. 56 Hierauf haben die Vereinigten Staaten in einer fast 200 Seiten langen Erwiderung im Verfahren nochmals Stellung bezogen. 57 Ohne dass hier auf Einzelheiten des Berichts und des Fragenkatalogs eingegangen werden kann, zeigt dies, dass es selbst der letzten verbliebenen Großmacht USA nicht gleichgültig ist, wie ihr Verhalten unter der AntiFolter-Konvention beurteilt wird. Der abschließende Bericht des Ausschusses, der in den Jahresbericht des Ausschusses an die UN-Generalversammlung 2006 einging, lässt erkennen, wie kritisch der Ausschuss im Hinblick auf Foltervorwürfe dem Mitgliedstaat USA gegenübersteht. 58 So nimmt der Ausschuss (§ 14) wie folgt zur Frage der Beachtung der Konvention im Krieg und bewaffnetem Konflikt Stellung: „14. The Committee regrets the State party’s opinion that the Convention is not applicable in times and in the context of armed conflict, on the basis of the argument that the ‚law of armed conflict‘ is the exclusive lex specialis applicable, and that the Convention’s application ‚would result in an overlap of the different treaties which would undermine the objective of eradicating torture‘ (arts. 1 and 16). The State party should recognize and ensure that the Convention applies at all times, whether in peace, war or armed conflict, in any territory under its jurisdiction and that the ap-

___________ 55 Second periodic report of the United States of America. Enthalten ist eine erste Fassung in: CAT/48/Add. 3 vom 29.06.2005. Eine überarbeitete Version, die nochmals deutlich umfangreicher ist, wird unter CAT/48/Add. 3/Rev.1 vom 13.01.2006 geführt. Beide Versionen sind veröffentlicht unter http://www.ohchr.org/english/bodies/cat/ cats36.htm (Stand 10.10.2007). 56 CAT, List of issues to be considered during the examination of the second periodic report of the United States of America, CAT/C/USA/Q/2 vom 08.02.2006, veröffentlicht unter http://www.ohchr.org/english/bodies/cat/cats36.htm (Stand 10.10.2007). Die ersten beiden Punkte dieses Katalogs, die sich auf Art. 1 der UN-Anti-FolterKonvention beziehen, lauten beispielsweise: „1. Please explain why, if ‚[t]he definition of torture accepted by the United States upon ratification of the Convention (…) remains unchanged‘, the Department of Justice issued a memorandum dated August 2002 which concluded ‚that torture as defined in and proscribed by section 2340-2340A covers only extreme acts‘ and how this is compatible with article 1 of the Convention. 2. Please explain for which substantive reasons the August 2002 memorandum has been replaced by a new memorandum in December 2004, as the definition of torture remained unchanged, and if any of the conclusions of the August 2002 memorandum are still valid. How does a memorandum interpret a Convention and is it legally binding?“ 57 Veröffentlicht ohne Aktenzeichen unter http://www.ohchr.org/english/bodies/cat/ cats36.htm (Stand 10.10.2007), List of issues to be considered during the examination of the second periodic report of the United States of America, Response of the United States of America. 58 CAT, Consideration of Reports submitted by States Parties under Article 19 of the Convention, Conclusions and Recommendations of the Committee against Torture, United States of America, CAT/C/USA/CO/2 vom 25.07.2006, veröffentlicht unter http://www.ohchr.org/english/bodies/cat/cats36.htm (Stand 10.10.2007).

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plication of the Convention’s provisions are without prejudice to the provisions of any other international instrument, pursuant to paragraph 2 of its articles 1 and 16.“

Zur Frage der Geltung ratione loci führt der Ausschuss beispielsweise aus: „15. The Committee notes that a number of the Convention’s provisions are expressed as applying to ‚territory under [the State party’s] jurisdiction‘ (arts. 2, 5, 13, 16). The Committee reiterates its previously expressed view that this includes all areas under the de facto effective control of the State party, by whichever military or civil authorities such control is exercised. The Committee considers that the State party’s view that those provisions are geographically limited to its own de jure territory to be regrettable. The State party should recognize and ensure that the provisions of the Convention expressed as applicable to ‚territory under the State party’s jurisdiction‘ apply to, and are fully enjoyed, by all persons under the effective control of its authorities, of whichever type, wherever located in the world.“

Die Ausführlichkeit des Berichts und der Erwiderung der Vereinigten Staaten sowie der abschließende Bericht des Ausschusses mit der nicht verhohlenen, in Empfehlungen formulierten Kritik des Ausschusses weist auf den Wirkmechanismus des Berichtssystems über die internationale Öffentlichkeit unter der UN-Anti-Folter-Konvention hin. Damit wird zwar kein schneller Erfolg garantiert; mittelfristig wird die weitreichende Stigmatisierung seines rechtswidrigen Verhaltens in der national wie international intensiv geführten Diskussion das Verhalten des Mitgliedstaates USA zugunsten einer stärkeren Beachtung des Folterverbots auch bei Maßnahmen im Rahmen des so genannten Kriegs gegen den Terror beeinflussen. Weder die Folter-Konvention noch der darunter gebildete Ausschuss gegen Folter verfügen über Mechanismen physischen Zwang. Gleichwohl setzt sich die internationale Gemeinschaft mit dem Folterverbot als Rechtsnorm auseinander. Zwar gibt es nach wie vor Verstöße gegen die Garantien der Konvention; allerdings ist die Rechtsverletzung kein Alleinstellungsmerkmal des Völkerrechts oder koordinationsrechtlicher Ordnungen. Auch gegen nationale Bestimmungen wird mannigfach verstoßen, man denke nur an Massendelikte wie Ladendiebstahl; insoweit bietet die Tatsache von Verstößen allein kein Indiz für Wirkungslosigkeit einer Rechtsordnung. Dies bestätigt im Übrigen auch der Blick auf die EMRK als regionale Menschenrechtsordnung. Obwohl die Konvention ebenfalls keine zentralen Vollstreckungsmechanismen vorhält, erzeugt sie vielfältige Wirkungen und finden viele der Entscheidungen des EGMR Beachtung bei den Vertragsstaaten. Sollte etwa im anhängigen deutschen Fall der Verurteilung des Entführers Magnus Gäfgen 59 ein Urteil gegen die Bundesrepublik ergehen, würde dies voraussicht___________ 59 Vgl. dazu schon die Nachweise oben Fn. 29; in dem Fall ging es bekanntlich um die Androhung körperlicher Gewalt gegen den Entführer Gäfgen, der einen kleinen Jungen, Jakob von Metzler, entführt hatte. Der Entführer hatte daraufhin das Versteck des schon getöteten Kindes preisgegeben. Die Frage inwieweit über das nicht verwertbare

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lich nicht nur die in Deutschland geführte Diskussion beeinflussen, sondern auch zu einer Anpassung der Rechtslage an die Vorgaben des Gerichtshofes führen.

III. Stigmatisierende Wirkung des Rechtsbruchs als zentraler Aspekt der Normdurchsetzung Die internationale Publizität und die damit einhergehende Stigmatisierung des Rechtsbruchs ist dabei kein auf das Folterverbot beschränktes Spezifikum. Es stellt auch keine neue Entwicklung der Völkerrechtsordnung dar, sondern gehörte schon immer zu den wichtigen Wirkungsmechanismen des Völkerrechts. Einen besonderen Rang nimmt die Publizitätswirkung im Rahmen der Entwicklung des Menschenrechtsschutzes nach 1945 ein. Auch die Initiatoren der Allgemeinen Deklaration der Menschenrechte erkannten die Bedeutung einer Öffentlichkeit und setzten von Anfang an bewusst auf diesen Wirkungsmechanismus. Dies wird schon daraus deutlich, dass gleichzeitig mit der Verkündung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte die Generalversammlung der Vereinten Nationen alle ihre Mitgliedstaaten unter Bezugnahme auf Art. 56 der Satzung der Vereinten Nationen aufforderte, für die Veröffentlichung der Deklaration zu sorgen und sie in das Programm der Schulen und anderer Erziehungseinrichtungen zu übernehmen. Das Mutterdokument des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes setzte also von Anfang an auf den Mechanismus der Öffentlichkeit, der Publizität, negativ gewendet der öffentlichen Stigmatisierung von Rechtsbrüchen. Nicht nur in der offiziellen Amtssprache, sondern in allen Sprachen der Landesteile und Territorien, unabhängig von deren jeweiligen politischen Status, sollten die Mitgliedstaaten den Text veröffentlichen. 60 Zudem stehen die Einzelmenschen nicht allein als unmittelbare Träger der verkündeten Rechte im Fokus des Dokuments. 61 Sie werden in der Deklaration selbst aufgerufen – „jeder Einzelne“ und „alle Organe der Gesellschaft“ (d. h. ___________ Geständnis hinaus, alle in der Folge erlangten Beweise unverwertbar sind, beschäftigt derzeit den EGMR. Dieser hat zuletzt die Zulässigkeit der Klage festgestellt, soweit es um die Fernwirkungen des Beweisverwertungsverbots geht, vgl. NJW 2007, S. 2461. 60 Teil D der Res. 217 (III) vom 10.12.1948, abgedruckt in: Djonovich, D. J. (ed.), United Nations Resolutions, Series I Resolutions Adopted by the General Assembly. Vol. II (1948–1949), S. 142; vgl. dazu auch Schwelb, E., Human Rights and the International Community, 1964, S. 36. 61 Auch das war nach dem Zweiten Weltkrieg eine neue Akzentuierung für die völkerrechtliche Ebene, die in die Emanzipation des Individuums zum Rechtsträger sui generi im Völkerrecht führte. Deutlich wird die Rechtsträgerschaft des Individuums in vielen Formulierungen der Deklaration: So hat nach Art. 2 der Deklaration jeder Mensch Anspruch auf die diskriminierungsfreie Gewährleistung der Rechte, nach Art. 3 das Recht auf Leben etc.

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auch private Institutionen) –, für die Verwirklichung dieser Rechte zu sorgen. 62 Damit wird der Ansatzpunkt gegeben für das Engagement einzelner Personen und privater Organisationen (so genannte non-governmental organisations), sich auf die Deklaration zu berufen und die Verwirklichung der verkündeten Rechte zu ihrer ureigensten Angelegenheit zu erklären. Das Völkerrecht als Rechtsordnung steht vor großen Herausforderungen. Dies beschränkt sich nicht nur auf das exemplarisch herausgegriffene Problem der Folter. Es stellt sich beispielsweise die grundsätzliche Frage einer extraterritorialen Wirkkraft der Menschenrechte in einer Gegenwart, die in einigen Ländern konfrontiert ist mit zerfallenden staatlichen Strukturen auf der einen und fanatisierten, durch Eliten mit pervertiertem Werteverständnis geleiteten Regime auf der anderen Seite. Die USA beanspruchen in dieser Situation ein problematisches ausuferndes unilaterales Recht zum Präventivkrieg; dies droht zu einer Schwächung des zentralen Gewaltverbotes zu führen. Bei Politikern und einigen Politologen 63 hat die Formulierung eines „War on Terrorism“ Konjunktur; dies birgt zumindest die Gefahr, die wichtige Grenze zwischen Maßnahmen der Kriminalitätsbekämpfung und dem völkerrechtlichen Statusbegriff „Krieg“ zu verwischen. Oftmals wird dabei – national wie international – verkannt, dass mit nationalen und supranationalen rechtlichen Instrumenten der Kriminalitätsbekämpfung und Gefahrenprävention dem Phänomen des Terrors effektiver beizukommen ist als mit vermeintlicher „Kriegsführung“, der das Völkerrecht durchaus ernstzunehmende Grenzen setzt. Viele dieser – auch nur beispielhaft, nicht abschließend aufgeführten – Fragen sind Gradmesser dafür, inwieweit das Völkerrecht heute den Akteuren seiner internationalen Rechtsgemeinschaft Grenzen zu setzen vermag, wie weit seine Regelungskraft und Steuerungswirkung reicht. Im Letzten geht es immer ein Stück weit auch mit darum, ob das Völkerrecht seinen Charakter als Rechtsordnung zu wahren vermag. Die Stimme des Verstorbenen war in den letzten Jahren national wie international oft zu vernehmen, wenn bei aller Realitätsnähe des Völkerrechts, die Dieter Blumenwitz als Lehrer und Wissenschaftler immer im Blick hatte, dessen Wirkkraft durch allzu weitreichenden politischen Opportunismus gefährdet war. Sie fehlt angesichts der skizzierten Herausforderungen schmerzlich. Sein wissenschaftliches Werk wird die Rechtsentwicklung aber noch lange beein___________ 62

Nach ihrer Präambel versteht sich die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte „als das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal, damit jeder Einzelne und alle Organe der Gesellschaft sich diese Erklärung stets gegenwärtig halten und sich bemühen, durch Unterricht und Erziehung die Achtung dieser Rechte und Freiheiten zu fördern und durch fortschreitende Maßnahmen im nationalen und internationalen Bereich ihre allgemeine und tatsächliche Anerkennung und Verwirklichung (...) zu gewährleisten“. 63 Münkler, H., Die neuen Kriege, 2002.

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flussen, genauso wie viele Juristen, die er in der Ausbildung prägen konnte, auch im Vertrauen auf die Wirkkraft des Rechtsarguments im Sinne des bekanten Zitats von Abraham Lincoln: „Let us have faith that right make might; and in that faith let us dare to do our duty as we understand it.“

Extraterritorial Implementation of Human Rights Obligations: A Challenge for Peacekeepers, Sending States and International Organisations Dieter Fleck

I. Introduction The essential purpose of peacekeeping is to enhance the rule of law, to protect the human rights of the population and to deliver self-determination to the victimised people. These fundamental objectives are blurred where the applicability of relevant legal norms remains open to questions and the distribution of responsibilities is less than clear. Uncertainties in this context are not only related to the application of international humanitarian law, where first, yet incomplete guidelines have been issued by the UN Secretary-General. They are even more apparent in the field of human rights, where two separate issues, the relationship between international humanitarian law and human rights law and the applicability of human rights instruments outside national territory, remain complex and widely disputed. It is the aim of this contribution, to specify the applicable legal regime during the various stages of a particular mission (Section II.), to clarify the relevance of human rights norms as an essential condition for the success of any peace operation (Section III.), and to assess the responsibility of peacekeepers and their sending States to respect and ensure respect for legal obligations both at political and operational level (Section IV.). The important role international organisations have in this context will be examined (Section V.), and some conclusions will be drawn (Section VI.).

II. The Applicable Legal Regime In current peace operations, a term which comprises all peacekeeping and peace enforcement operations conducted in support of diplomatic efforts to establish and maintain peace, the continuing relevance of peacetime rules of international law and national law leads to a complex legal regime which may not always be easy to apply. While human rights law will always have some bearing on military operations, the relationship between international humanitarian

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law and human rights law has led to particular controversies, which will be assessed below. It should also be noted that peacetime rules of international and national law remain in effect in peace operations, even during their most robust stages. The applicability of peacetime rules of international law during situations of crisis and even in wartime is a neglected issue in legal discussions, despite its high practical relevance. This matter has recently been taken up by the ILC and is still under consideration. 1 Hardly any international instrument covers the issue fully and, if so, provisions negotiated in peacetime remain subject to the rebus sic stantibus principle. 2 States normally insist in the application of their national laws and regulations, but in peace operations the extraterritorial application of the law of the sending State may be limited and the need to respect the law of the receiving State is not always recognised. In practice, there may be gradual differences, depending from the legal basis of an operation (i.e. the consent of the receiving State or an international mandate) and its actual phase (e.g. traditional peace-keeping, peace enforcement or occupation).

1. Deployment with the Consent of the Receiving State An ideal framework for any peace operation would be a status-of-forces agreement between the sending and the receiving State, in which the task, status and competences of the peacekeepers are specified. It may be deplored that such agreements are more than often missing. In so many cases there is too little time available prior to a deployment and often the necessary expertise and experience is not represented in the receiving State. In such situations sending States will have to rely on a general political arrangement and also on the functional immunity of peacekeepers as organs of their State, but practical issues remain unresolved and additional efforts must be taken by sending States to ensure safety and security of the mission and to provide logistic support.

___________ 1 See United Nations International Law Commission (ILC), The effect of armed conflict on treaties: An examination of practice and doctrine, Memorandum by the Secretariat, UN-Doc A/CN.4/550 (1 February 2005) with Corr. 1 and Corr. 2; First report on the effects of armed conflicts on treaties by Mr. Ian Brownlie, Special Rapporteur, UN-Doc. A (CN.4/552 (21 April 2005). 2 Fleck, D. The Handbook of The Law of Visiting Forces, Oxford 2001, p. 255 et seq.

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2. Peace Operations Under International Mandate Where peace operations are mandated by the Security Council in accordance with Chapter VI or VII of the UN Charter, or by a regional arrangement under Chapter VIII, participating States can operate on the basis of relevant international resolutions. Practice shows, however, that many issues are not regulated by the competent authorities, a fact which may restrict the effective performance of the mission.

3. Peace Enforcement When peace operations include elements of peace enforcement, international humanitarian law must be applied. This has expressly been confirmed by the UN Secretary-General for “situations of armed conflict” in which United Nations forces “are actively engaged […] as combatants”, as well as for UN “enforcement actions or […] peacekeeping operations when the use of force is permitted in self-defence”. 3 The same principles should apply for other than UN forces in situations in which peacekeepers are involved in hostilities with insurgents or regular armed forces, even if a state of (non-international or international) armed conflict is not recognised. Armed forces are normally not accustomed to special rules of law enforcement, which are common to the police. But notwithstanding specific differences between military and police operations soldiers are well advised to stick to rules of international humanitarian law throughout their operations, unless different means and methods have been ordered.

4. Occupation In current practice specific tasks of peacekeeping are performed by international coalition forces at the end of, or parallel to a continuation of hostilities. These tasks were not really foreseen in Articles 42-56 of the 1907 Hague Regulations Respecting the Laws and Customs of War on Land. Neither are they fully covered by the Fourth Geneva Convention of 1949, the application of which shall normally cease, as stated in its Article 6, on the general close of military operations. ___________ 3 Secretary-General’s Bulletin: Observance by United Nations Forces of International Humanitarian Law, ST/SGB/1999/13, Section 1.1, reprinted in International Peacekeeping 5/(4-5) (1999), p. 160; see Zwanenburg, M., The Secretary-General’s Bulletin on Observance by United Nations Forces of International Humanitarian Law. Some Preliminary Observations, in: International Peacekeeping 5/(4-5) 1999, p. 133.

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While it may be debated, whether the Fourth Geneva Convention leaves much room for an additional application of human rights treaties, 4 the willingness of the occupier to comply with human rights obligations and to limit existent prerogatives under international humanitarian law may be considered as key element of success for any peace operation. It is for this reason that peacekeepers are well advised not only to seek multinational approaches in the performance their mission, but also secure support by international organisations. 5

III. The Relevance of Human Rights for Peace Operations 1. The Relationship Between International Humanitarian Law and Human Rights Law It is a paradox issue that although human rights are a core element of any peace operation, their application is often questioned when it comes to the use of force. Yet under the laws of war human rights cannot be left aside. The relationship between international humanitarian law and human rights has been shaped as part of a development, which started with the Human Rights Conference in Teheran 1968 6 and did not end with the adoption of major human rights principles in Art. 75 of the 1977 Protocol I Additional to the Geneva Conventions. 7 Legally speaking, this relationship may be characterised by mutual complementarity, as described by the Human Rights Committee, 8 and also by the lex specialis principle which, however, should not be misunderstood as ___________ 4 Pictet, J. S., Le Droit humanitaire et la Protection des Victimes de la Guerre, Genève 1973, p. 13; Roberts, A., The Applicability of human rights law during military occupations, in: Review of International Studies 13 (1987), p. 39; see also Roberts, A., Prolonged Military Ocupation: The Israeli-Occupied Territories Since 1967, in: American Journal of International Law 84 (1990), p. 44. 5 Scheffer, D., Beyond Occupation Law, in American Journal of International Law Vol. 97/No. 4 (2003), p. 842; Kelly, M. J., Iraq and the Law of Occupation: New Tests for an Old Law, in: Yearbook of International Humanitarian Law Vol. 6-2003 (2006), p. 127; Ratner, St. R., Foreign Occupation and International Territorial Administration: The Challenges of Convergence, in: European Journal of International Law Vol. 16 No. 4 (2005), p. 695. 6 Resolution XXIII Human Rights in Armed Conflict, in: Schindler, D. / Toman, J. (eds.), The Laws of Armed Conflict, 4th ed. 2004, p. 347. 7 See Bothe, M., The Historical Evolution of International Humanitarian Law, International Human Rights Law, Refugee Law and International Criminal Law, in: Fischer, H. et al. (eds.), Krisensicherung und Humanitärer Schutz. Crisis Management and Humanitarian Protection, Berlin 2004, p. 37. 8 General Comment No. 31, The Nature of the General Legal Obligation Imposed on States Parties to the Covenant, UN Doc. CCPR/C/21/Rev.1/Add. 13 (2004), paras. 2, 10, 11; see also General Comments Nos. 15, 18, and 28. All General Comments are available at http://www.unhchr.ch/tbs/doc.nsf (4 September 2006).

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applying to the general relationship between the two branches of international law as such, but rather relating to specific rules in specific circumstances. The International Court of Justice has stated in its Advisory Opinion on the Threat or Use of Nuclear Weapons: “In principle, the right not arbitrarily to be deprived of one’s life applies also in hostilities. The test of what is an arbitrary deprivation of life, however, then falls to be determined by the applicable lex specialis, namely, the law applicable in armed conflict that is designed to regulate the conduct of hostilities. Thus whether a particular loss of life, through the use of a certain weapon in warfare, is to be considered an arbitrary deprivation of life contrary to Article 6 of the [International Covenant on Civil and Political Rights], can only be decided by reference to the law applicable in armed conflict and not deduced from the terms of the Covenant itself”.9

More recently, in its Advisory Opinion on the Wall in the Occupied Palestinian Territory, the Court asserted that in armed conflicts some rights are governed exclusively by international humanitarian law, while others are governed exclusively by human rights, and still others are governed by both bodies of law. The Court expressly confirmed that in the latter case “both these branches of international law, namely human rights law and, as lex specialis, international humanitarian law” must be considered. 10 It has been widely neglected that in both these cases the ICJ very clearly refrained from characterising the relationship between the two branches of law as such. Rather it dealt with specific provisions. In the Nuclear Weapons Case the Court referred to the prohibition of an arbitrary deprivation of life rather than addressing the question of whether human rights obligations in general are absolute or relative to considerations of special rules laid down in the law of armed conflict. In the Wall Case the Court clearly referred to “some” rights that may be governed by both branches of international law, while others are exclusively governed by one of the two branches. Hence it is fully consistent with the Court’s opinions to conclude that, while international humanitarian law and human rights law are complementary, the lex specialis concept must be used to determine whether and to what extent the application of a specific human rights provision is limited in a particular situation of armed conflict.11 ___________ 9 Int. Court of Justice, Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons, Advisory Opinion of 8 July 1996, para. 25, ICJ Reports 1996, p. 226. 10 Int. Court of Justice, Legal Consequences of the Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory, Advisory Opinion of 9 July 2004, General List No. 131, ICJ Reports 2004, p. 136, paras. 102–142 (106). 11 See Frowein, J. A., The Relationship Between Human Rights Regimes and Regimes of Belligerent Occupation, in: Israel Yearbook on Human Rights Vol. 28 (1999), p. 1. The author convincingly questions whether the lex specialis argument could solve all situations, arguing that it cannot be inferred from the Nuclear Weapons opinion that human rights treaties in general would have to be interpreted in the light of international humanitarian law. He also underlines that certain human rights not open to derogation

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The practical relevance of human rights for military operations is underlined by the fact that some subject-areas are dealt with more fully in human rights law than in the norms of humanitarian law. Indeed, important provisions of the International Covenant on Civil and Political Rights (ICCPR), the European Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms (ECHR), the American Convention on Human Rights (ACHR), the African Charter on Human and Peoples’ Rights and the Arab Charter on Human Rights are applicable in times of armed conflict, without being reflected in rules of international humanitarian law: among other provisions the prohibition of slavery (Art. 8 ICCPR, Art. 4 ECHR), the freedom of opinion (Art. 18 ICCPR, Art. 9, 10 ECHR, Art. 27 Arab Charter), the right to recognition as a person before law (Art. 16 ICCPR, Art. 3 ACHR), the right to be free from imprisonment for failure to fulfil a contractual obligation (non-derogable under ICCPR, derogable under Art. 1 of Protocol 4 to the ECHR, Art. 7 ACHR, Art. 14 Arab Charter), the right to a nationality (Art. 20 ACHR), the right to participate in government (Art. 23 ACHR), the right to existence and self-determination (Art. 20 African Charter), legal protections against disappearances and against destruction of homes are of increasing significance in military operations, in particular in non-international armed conflicts. 12 The fact that certain human rights obligations may be derogated in times of emergency 13 is of minor importance in this respect. Practice has shown that derogations have hardly been declared in times of armed conflict. 14 Cases of derogation remained singularised and highly controversial. 15 ___________ such as the prohibition of torture or slavery, or the right to legal personality are formulated in absolute terms and do not contain any limitations in times of armed conflict, ibid., p. 12. 12 See Moir, L., The Law of Internal Armed Conflict, 2002, p. 208 et seq. 13 See Art. 4 ICCPR, Art. 15 ECHR, Art. 27 ACHR, Art. 4 Arab Charter on Human Rights. There is no derogation clause in the African Charter on Human and Peoples’ Rights. 14 Buergenthal, Th., To Respect and to Ensure: State Obligations and Permissible Derogations, in: Henkin, L. (ed.), The International Bill of Human Rights, 1981, p. 72; Higgins, R., Derogations under the Human Rights Treaties (1976–77), in: BritishYearbook of International Law 48, p. 281; Rowe, P., The Impact of Human Rights Law on Armed Forces, 2006, p. 118 et seq. 15 Rowe, (n. 14), p. 159 et seq. A recent example is the British Anti-terrorism, Crime and Security Act (2001). It remains questionable, however, whether the material conditions for derogation under Art. 15 ECHR and Art. 4 ICCPR are met in this case, see Black-Branch, J., Powers of Detention of Suspected International Terrorists under the United Kingdom Anti-Terrorism, Crime and Security Act 2001: dismantling the cornerstones of a civil society, in: European Law Review Human Rights Survey 27 (2002), p. 19 (26); Henning, V. H., Anti-terrorism, Crime and Security Act 2001: Has the United Kingdom Made a Valid Derogation from the European Convention on Human Rights?, in: American University Law Review 17 (2002), p. 1663 (1677).

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The relationship between human rights and international humanitarian law has specifically been dealt with in the jurisprudence of the Inter-American Commission on Human Rights. In the Avilán Case 16 in which extrajudicial executions during the non-international armed conflict in Colombia had to be investigated, the Commission held that the non-derogable guarantee of the right to life set forth in the American Convention on Human Rights applies along with and is informed by the provisions of international humanitarian law for internal hostilities. Common Article 3 of the Geneva Conventions obliges the parties to internal armed conflicts to afford humane treatment to those persons who do not take part or who no longer take active part in the hostilities. In Coard, the Commission confirmed that both systems of international law – humanitarian law and human rights – were applicable in the armed conflict between Grenadian nationals and United States military forces in 1983. The Commission held that the concurrent application of the two systems of protection is inevitable, and that it is competent therefore to investigate the procedures taken by the parties involved in the conflict. 17 In the Tablada case, 18 because of the lack of sufficient evidence establishing that State agents had used illegal methods and means of combat, the Commission concluded that the killing or wounding of the attackers which occurred during non-international armed conflict and internal disturbances prior to the cessation of combat in January 1989 were legitimately combat related and, thus, did not constitute violations of the American Convention, but the Commission concluded that it was in clear violation of Art. 5 of the Convention that all survivors of the attack and seven persons convicted as accomplices were tortured hors de combat and executed extrajudicially. The American Court on Human Rights has specified in Las Palmeras that although the Inter-American Commission has broad faculties as an organ for the promotion and protection of human rights, it can clearly be inferred from the American Convention that the procedure initiated in contentious cases before the Commission, which culminates in an application before the Court, ___________ 16

Inter-American Commission on Human Rights, September 30, 1997, Colombia, Report No. 26/97, Case 11.142, http://cidh.oas.org/annualrep/97eng/Colombia11142. htm (4 September 2006). 17 Inter-American Commission on Human Rights, September 29, 1999, Coard et al. v. United States,IACHR Case 10.951, Report No. 109/99, http://cidh.oas.org/annualrep/ 99eng/Merits/UnitedStates10.951.htm (4 September 2006), paras. 39, 42. 18 Inter-American Commission on Human Rights, Case 11.137, Juan Carlos Abella, report No. 55/97, Argentina, OEA/Ser/L/V/II.97, Doc. 38 (October 30, 1997), http:// cidh.oas.org/annualrep/97eng/Argentina11137.htm (4 September 2006), paras. 188, 379, 381, 387; see Zegveld, L., The Interamerican Commission on Human Rights and international humanitarian law: A comment on the Tablada case, in: International Review of the Red Cross 80 No. 324 (September 1998), p. 505.

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should refer to rights protected by that Convention 19 and that the Commission and the Court did not have competence to determine whether a given act was in violation of the 1949 Geneva Conventions or treaties other than the American Convention. 20 As the Court had confirmed in Bamaca-Velasquesz, 21 this does not preclude taking into consideration provisions of international humanitarian law in order to interpret the American Convention. In this context, it should also be considered that human rights bodies have a responsibility to investigate those limitations of human rights in armed conflicts, which may apply under the lex specialis role of international humanitarian law. It is for this reason that international humanitarian law must be dealt with even by human rights organs, which may thus provide support to ensure respect for international humanitarian law. Relevant judgments of the European Court of Human Rights are not yet available. Although military operations of various kinds have been reviewed in it jurisprudence, the court did not see a requirement of identifying lex specialis rules of international humanitarian law so far. 2. Legal Principles of Human Rights Application Outside National Territory In peace operations, the significance of human rights obligations may be seen under three different aspects: (1) Ideally, there would be an express mandate by the Security Council and/or a regional organisation requesting not only all parties to the conflict, but also the peacekeeping force to protect human rights. 22 (2) Even where such commitment has not been expressly stated, peace ___________ 19 Inter-American Court on Human Rights, February 4, 2000, Las Palmeras v. Colombia. Preliminary Objections. Series C No. 67, para. 34, (4 September 2006); see Kalshoven, F., State sovereignty versus international concern in some recent cases of the Inter-American Court of Human rights, in: Kreijen, G. (ed.), State, Sovereignty, and International Governance, Oxford, 2002, p. 259; Zegveld, L., Remedies for victims of violations of international humanitarian law, in: International Review of the Red Cross 85 Nr. 851 (2003), 497–527 [516]. 20 Inter-American Court on Human Rights, 6 December, 2001, Las Palmeras Case, paras. 17 n. 1, 24 n. 2. 21 Inter-American Court on Human Rights, 16 November 2000, Bámaca-Velásquez, Ser.C No. 70 (2000), paras. 205–209, http://www.corteidh.or.cr/seriec_ing/seriec_70_ ing.doc (4 September 2006). 22 In its recent practice the Security Council has confined itself to call on all parties to the conflict to protect human rights and respect international humanitarian law, while the obligation of peacekeepers to comply with these rules themselves is obviously taken for granted, see e.g. UN Security Council, Res. 1291 (2000), para. 15, with respect to the conflict in the Democratic Republic of Congo. For the interim UN authorities in Kosovo and East Timor the Security Council has included the maintenance of law and order (which should include the protection and promotion of human rights) in the

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operations are to respect the law of the receiving State including its obligations under international law of which human rights are an important part. (3) Finally, the human rights obligations of the sending State apply extraterritorially for acts committed within their jurisdiction. The limitation of these latter obligations to acts committed within the jurisdiction of the sending State is established by treaty law. Under Article 2 (1) ICCPR each State Party undertakes to respect and to ensure the rights recognized in the Covenant “to all individual within its territory and subject to its jurisdiction”. The legislative history of Article 2 (1) could support a narrow interpretation, 23 but the underlying legal arguments are not convincing from a logical point or view: both inside and outside the territory of a State Party the decisive criteria is jurisdiction. 24 It is now widely accepted that the words “within its territory and subject to its jurisdiction” should be read as a “disjunctive conjunction”, 25 so that the Covenant applies both to all individuals within ___________ respective mandates, without, however, establishing a specific control mechanism, see UN Security Council, Res. 1244 (1999), para. 9 for Kosovo and UN Security Council, Res. 1272 (1999), para. 2 for East Timor. 23 The addition of the words “territory and subject to its” before “jurisdiction” in Art. 2 (1) was proposed by the United States (UN Doc. E/CN.4/365, at 14 [1950]). The US representative and then chair of the Commission on Human Rights, Eleanor Roosevelt, had stated that the United States was “afraid that without [the proposed] addition the draft Covenant might be construed as obliging the contracting State […] to enact legislation concerning persons, who although outside its territory were technically within its jurisdiction for certain purposes. An illustration would be the occupied territories of Germany, Austria and Japan: persons within those countries were subject to the jurisdiction of the occupying States in certain respects, but were outside the scope of legislation of those States.” (UN Doc. 3/CN.4/SR.138, at 10 (1950), cited in Dennis, M. J., Application of Human Rights Treaties Extraterritorially in Times of Armed Conflict and Military Occupation, in: American Journal of International Law 99 / No. 1 (2005), p. 119 (124). 24 See Meron, Th., Extraterritoriality of Human Rights Treaties, in: American Journal of International Law 89 (1995), p. 78 (79), indicating that the words “within its jurisdiction” were proposed by the United States, but also the view was expressed that “a State should not be relieved of its obligations under the covenant to persons who remained within its jurisdiction merely because they were not within its territory”; Tomuschat, Chr., Human Rights Between Idealism and Realism, 2003; Watkin, K., Controlling the Use of Force: A Role for Human Rights Norms in contemporary Armed Conflict, in: American Journal of International Law 98 (2004), p. 1; Coomans, F. / Kamminga, M. T. (eds.), Extraterritorial Application of Human Rights Treaties, 2004; Erberich, U., Auslandseinsätze der Bundeswehr und Europäische Menschenrechtskonvention, 2004; Lorenz, D., Der territoriale Anwendungsbereich der Grund- und Menschenrechte. Zugleich ein Beitrag zum Individualschutz in bewaffneten Konflikten, 2005; White, N. D. & Klaasen, D. (eds.), The UN, human rights and post-conflict situations, 2005. 25 Buergenthal, (n. 14), p. 72 (74); McGoldrick, D., Extraterritorial Application of the International Covenant on Civil and Political Rights, in: Coomans, F. / Kamminga, M. T. (eds.) (n. 24), p. 47–49; Scheinin, M., Extraterritorial Effect of the International Covenant on Civil and Political Rights, ibid., p. 73, p. 75–77; contra: Dennis (n. 23).

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the territory of a State Party and to individuals subject to its jurisdiction. 26 Already at a very early stage, the UN Human Rights Committee had accepted the view that the Covenant does not grant States Parties “unfettered discretionary power to carry out wilful and deliberate attacks against the freedom and personal integrity of their citizens living abroad”. 27 In several General Comments the argument was developed that the enjoyment of Covenant rights must be available to all individuals who may find themselves in the territory or subject to the jurisdiction of a State Party including “those within the power or effective control of the forces of a State Party acting outside its territory, regardless of the circumstances in which such power or effective control was obtained, such as forces constituting a national contingent of a State Party assigned to an international peace-keeping or peace-enforcement operation”. 28 These guiding principles should likewise be accepted in the interpretation of similar clauses in other human rights instruments such as Article 2 (1) of the UN Convention against Torture and Other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment of 10 December 1984, 29 and Article 2 (1) of the United Nations Convention on the Rights of the Child of 20 November 1989. A similar obligation of Member States to secure human rights and freedoms “within their jurisdiction” can be found in Article 1 ECHR. No reference to “territory” is made in this Article, but Article 56 includes a special proviso that a State Party may declare “that the present Convention shall […] extend to all or any of the territories for whose international relations it is responsible”; the provisions of the Convention shall then “be applied in such territories with due regard, however, to local requirements”. This latter provision should not be misunderstood as limiting a State Party’s responsibility for the whole of a territory effectively controlled by it. Wherever in the world such a territory is, ___________ 26

This interpretation is now supported by Art. 1 First Optional Protocol (regarding the competence of the Human Rights Committee) and Art. 1 Second Optional Protocol, Aiming at the Abolition of the Death Penalty. 27 UN Human Rights Committee, López Burgos v. Uruguay, Communication No. 52/1979, UN Doc CCPR/C/13/D/52/1979 (1981). 28 General Comment No. 31 (n. 8), para. 10 (also paras. 2, 11). For possible derogations see General Comment No. 29 “States of Emergency (Article 4)”. 29 Art. 5 of this Convention expressly requires State parties to enact extra-territorial jurisdiction in respect of torture committed by its nationals. The UN Committee Against Torture, considering the fourth periodic report of the United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland has expressed its concern at that State Party’s limited acceptance of the applicability of the Convention to the actions of its forces abroad, in particular its explanation “that those parts of the Convention which are applicable only in respect of territory under the jurisdiction of a State Party cannot be applicable in relation to actions of the United Kingdom in Afghanistan and Iraq”; the Committee observes that the Convention protections extend to all territories under the jurisdiction of a State Party and considers that this principle includes all areas under the de facto effective control of the State Party’s authorities, UN Doc. CAT/C/CR/33/3 (10 December 2004).

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whatever its local requirements may be, the State exercising jurisdiction must do so in full observance of its human rights obligations. This is not only relevant for policy and practice; 30 it is also reflected in the jurisprudence of the European Court of Human Rights. In Soering, the Court has explained that even apart from specific cases of extraterritorial jurisdiction, such as the flag of a ship on the high seas or consular premises abroad, there are further examples of wider reach which can come into play. Thus contracting States are bound to secure the rights and freedoms under the ECHR to all persons under their actual authority and responsibility, whether that authority is exercised within their own territory or abroad. 31 In Loizidou, the Court confirmed that responsibility of a Contracting Party could arise when as a consequence of military action – whether lawful or unlawful – it exercises effective control of an area outside its national territory. The obligation to secure, in such an area, the rights and freedoms set out in the Convention, derives from the fact of such control, whether it is exercised directly, through its armed forces, or through a subordinate local administration. 32 In Bankoviü, the Court interpreted the term ”exercise of jurisdiction“ in the light of its earlier jurisprudence. Stressing the essentially territorial notion of jurisdiction, it considered other bases of jurisdiction as being exceptional and requiring special justification in the particular circumstances of each case. The Court recognised the exercise of extra-territorial jurisdiction when a State “through the effective control of the relevant territory and its inhabitants abroad as a consequence of military occupation or through the consent, invitation or acquiescence of the Government of that territory, exercises all or some of the public powers normally to be exercised by that Government”. 33 As other rec___________ 30 In Iraq 2003, the death penalty was suspended by the Coalition Provisional Authority (CPA) at UK request and against certain US concerns, because UK authorities had considered the possible application of the ECHR. See Kelly (n. 5), p. 134. 31 European Court of Human Rights, Soering v. United Kingdom, Series A no. 161, EHRR 11, 439; Blumenwitz, D., Fall Soering gegen Vereinigtes Königreich, Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, Urteil vom 07.07.1989, in: Europäische Grundrechte Zeitschrift, 16 (1989), p. 314. 32 European Court of Human Rights, Loizidou v. Turkey (Preliminary Objections) (1995) 20 EHRR 99, para. 62; Loizidou v. Turkey (Merits) (1997) EHRR 23, 513, para. 52; see Blumenwitz, Der Fall Loizidou. – Das Zypernproblem und das Recht auf Heimat, in B. Rill (ed.), Gegen Völkermord und Vertreibung – Die Überwindung des 20. Jahrhunderts, in 28 Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen, 2001, 75; Blumenwitz, D., Der Schutz des Eigentums vertriebener Volksgruppen. Zur Loizidou-Entscheidung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs, in: Hoffman, M. / Küpper, H. (eds.), Kontinuität und Neubeginn, Staat und Recht in Europa zu Beginn des 21. Jahrhunderts, 2001, p. 572. 33 European Court of Human Rights, Bankoviü v. Belgium, the Czech Republic, Denmark, France, Germany, Greece, Hungary, Iceland, Italy, Luxembourg, the Netherlands, Norway, Poland, Portugal, Spain, Turkey and the United Kingdom, Decision as

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ognised instances of the extra-territorial exercise of jurisdiction the Court mentioned “cases involving the activities of its diplomatic or consular agents abroad and on board craft and vessels registered in, or flying the flag of, that State”. 34 The Court convincingly confirmed that none of these conditions were met during the air strikes on the territory of the Former Republic of Yugoslavia. While the attacks were imputable to NATO Member States, the latter had no effective control of the applicants. Hence the requirement of jurisdiction, which distinguishes Article 1 ECHR from Article 1 common to the Geneva Conventions, was not met in this case. It is in this decision that the Court also stated, for the first time in its jurisprudence, that the Convention is operating, subject to its Article 56, in the legal space (espace juridique) of the contracting States. 35 The meaning of this statement remains unclear and has been widely criticised. 36 But it should not be overlooked that it has been made in a very limited context, i.e. in response to the argument raised by the applicants that any failure to accept that they fell within the jurisdiction of the respondent States would defeat the ordre public mission of the Convention and leave a regrettable vacuum in the system of human rights’ protection established by it. Rejection of this specific ordre public argument by reference to the espace juridique of the Convention cannot be held to mean that the Court would not be willing to find that a State may have extraterritorial jurisdiction due to its effective control of an area or acts otherwise falling under the authority of its agents. This was confirmed in subsequent judgments. In Öcalan, the Court held that the applicant, after he had been handed over to Turkish officials in Kenya, was under effective Turkish authority and was therefore brought within the jurisdiction of that State for the purposes of Article 1 of the Convention, even though in this instance Turkey exercised its authority outside its territory. This exception to the general rule that the concept of jurisdiction in Article 1 is territorial was considered as being justified as Turkey was, with the consent of Kenya, exercising effective control of the detainee within the territory of Kenya. 37 Quite similar principles were applied in Ilaúcu v. Moldova and Russia, when the Court held that Moldova, as was undisputed, did not exercise authority over the secessionist territory on the left bank of the Dniestr known as the Moldovian Republic of Transdniestria (MRT), as to which Moldova, when it ratified the Convention, had made a declaration seeking to exclude its respon___________ to the Admissibility of, Grand Chamber, Application No. 52207/99 of 12 December 2001, (2001) 11 BHRC 435, 41 ILM 517 (2002), http://www.echr.coe.int (4 September 2006), para. 71. 34 ECtHR Bankoviü (n. 33), para. 73. 35 ECtHR Bankoviü (n. 33), para. 80. 36 See e.g. Bothe, M., Die Anwendung der EMRK in bewaffneten Konflikten – eine Überforderung?, in: ZaöRV 65 (2005), p. 615 (618–619); Rowe, P. (n. 14), p. 131. 37 ECtHR, Öcalan v. Turkey (2003) 37 EHRR 238, para. 93.

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sibility on the basis of lack of control, but Russia bore responsibility for human rights violations due to its effective control of the secessionist government. 38 In certain other cases extraterritorial jurisdiction was considered as lacking. Thus in Issa, the mere presence of Turkish armed forces during a large-scale crossborder raid into northern Iraq between 19 March and 16 April 1995 was not held as establishing jurisdiction, considering that Turkey did not exercise effective control of any part of Iraq and the Turkish forces did not have effective control of the area. 39 Considering the requirement under Article 35 ECHR that all domestic remedies must be exhausted before a case can be brought to Strasbourg, national jurisprudence is of particular relevance in this respect. As a result of extensive activities of non-governmental organisations, 40 the English High Court has confirmed the extraterritorial application of human rights obligations of the United Kingdom in a prison operated by British forces in Iraq with the consent of the Iraqi Government, but it held that the same did not apply to the total territory of another State which is not itself a party to the Convention, even if that territory is in the effective control of the first State. The jurisdiction under Article 1 ECHR did not extend to a broad, world-wide extra-territorial personal jurisdiction arising from the exercise of authority by Party States’ agents anywhere in the world, but only to an extra-territorial jurisdiction which is exceptional and limited and to be found in specific cases recognised in international law. 41 The United Kingdom, despite being recognised as an occupying power for the purposes of the Hague Regulations and the Fourth Geneva Convention, nevertheless did not have such control of the relevant provinces of Iraq as to amount to effective control of that area, as the situation in the Basra and Maysan provinces was dangerous and volatile; the British (among other national forces of the coalition) were relatively few in number, and the civil government remained in the hands of the Iraqi authorities under the aegis of the US dominated Coalition Provisional Authority (CPA). This judgment was confirmed by the English Court of Appeal, 42 but one of the three judges, Lord Justice Sedley, ___________ 38

ECtHR, Ilascu v. Moldova and the Russian Federation, admissibillity decision, App. No 48787/99, 4 July 2001, see decision on merits, 8 July 2004, paras 379, 392, 394 (unreported). 39 ECtHR, Issa v. Turkey (Application no 31831/96, 16 Nov. 2004), paras. 58, 71. 40 Public Interest Lawyers, The Aire Centre, and The Redress Fund, www.redress. org (1 September 2006). 41 England and Wales High Court (Administrative Court), *R (on the application of Al Skeini and others) v Secretary of State for Defence [2004] EWHC 2911 (Admin) (14 December 2004), http://www.bailli.org/ew/cases/EWHC/Admin/2004/2911.html (5 August 2006), see paras. 248, 258, 269, 270, 277, 287. 42 England and Wales Court of Appeal, Civil Division, The Queen (on the application of Mazin Mumaa Galteh Al-Skeini and Others) v Secretary of State for Defence, BLD 2212055841; [2005] EWCA Civ 1609 (21 December 2005), http://www.

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expressed doubts with the result as he preferred the view, that British troops, as an occupying power, were in effective control of Basrah City for the purposes of the ECHR, and that the de facto assumption of civil power places on the occupying power an obligation to do all it can to protect essential civil rights, and particularly the right to life, even if in the near-chaos of Iraq it was unable to guarantee the full range of Convention rights. Yet the judgment was confirmed by the House of Lords. 43 Even in robust peace operations the extraterritorial application of human rights obligations cannot be denied as such. It remains, however, dependent from the question, whether jurisdiction is exercised by the sending State in the specific situation. While such jurisdiction certainly exists in a prison operated by the sending State, it is not (yet) available in situations where fighting still goes on to secure control of an area or installation. In many operations the lack of local police leads to additional tasks for peacekeepers. Sending States’ forces are involved in the detention of people and the searching of homes, whereas competent legal control is not available, so that habeas corpus cannot be exercised in the same manner as in normal peacetime. The Venice Commission of the Council of Europe has identified various situations in Kosovo where the lack of an independent review mechanism may result in a denial of human rights of citizens: the lack of security, limitations of the freedom of movement, insufficient protection of property rights, lack of investigations into abductions and serious crimes, lack of fairness and excessive length of judicial proceedings, difficult access to courts, detention without independent review, corruption, human trafficking, a general confusion as to the law in force.44 Competent international bodies and sending States are fully responsible to ensure such control as an essential part of the mission. Where they fail to act, this cannot be used by peacekeepers as an excuse for not taking any possible measure to comply with human rights obligations. To deny the applicability of human rights obligations in extraterritorial operations cannot make a convincing case and has already proven counterproductive.

___________ hmcourts-service.gov.uk/judgmentsfiles/j3670/al_skeini_v_state_1205.htm, http://www. redress.org/news/judgment21Dec05.pdf (4 September 2006). 43 England and Wales Court of Appeal, Civil Division (n. 42), paras 189–197; House of Lords ([2007] UKHL 26) judgment of 13 June 2007. 44 Council of Europe, European Commission for Democracy Through Law (Venice Commission), Opinion on human rights in Kosovo: Possible establishment of review mechanisms, adopted by the Venice Commission at its 60th Plenary Session (Venice, 8-9 October 2004), CDL-AD (2004)033, http://www.venice.coe.int/docs/2004/CDL-AD (2004)033-e.pdf (4 September 2006).

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IV. The Responsibility of Peacekeepers and Their Sending States 1. Individual Responsibility Criminal responsibility of peacekeepers is well developed under national and international law. Where war crimes and crimes against humanity are not prosecuted under national procedures, international ad hoc tribunals or the International Criminal Court are available to ensure independent investigation and sentence. For the victims of wars and internal disturbances criminal prosecution is an important element of peace building, even if full restitution or reparation is impossible. Hence full implementation of criminal law must be considered as a litmus test for the effectiveness of any peace operation. It must be deplored that the individual accountability of peacekeepers is not always ensured. 45 Where peacekeepers are alleged to be involved in crimes, independent investigations are sometimes missing. Peacekeepers cannot be sued in the receiving State due to their immunity as organs of their sending States. It is the more important for sending States to exercise their responsibility in a convincing and transparent manner.

2. State Responsibility State responsibility has been reaffirmed and further developed by the International Law Commission’s Draft Articles on the Responsibility of States for Internationally Wrongful Acts (DARS). 46 It is not limited to acts of state but also extends to omissions where there is a duty to act and even to certain acts performed by non-state actors. 47 While the wrongfulness of acts of States may be precluded in cases of consent, self-defence, countermeasures in respect of an internationally wrongful act, force majeure, distress and even necessity, 48 ___________ 45

Zwanenburg, M., Accountability of Peace Support Operations, International Humanitarian Law Series, Vol. 9, 2005. 46 Draft Articles on Responsibility of States for Internationally Wrongful Acts (DARS), United Nations, International Law Commission, Report on the Work of its Fifty-third Session (23 April–1 June and 2 July–10 August 2001), General Assembly, Official Records, Fifty-fifth Session, Supplement No. 10 (U.N.Doc. A/56/10), http://untreaty.un.org/ilc/texts/instruments/english/draft%20articles/9_6_2001.pdf (4 September 2006); Crawford, J., The International Law Commission’s Articles on State Responsibility, 2002. 47 Wolfrum, R., State Responsibility for Private Actors: An Old Problem of Renewed Relevance, in: Ragazzi, Maurizio (ed.), International Responsibility Today. Essays in Memory of Oscar Schachter, 2005, p. 423 et seq. 48 See Arts. 20–27 DARS.

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States must accept their responsibility to take appropriate measures (or at least to exercise due diligence) to prevent, investigate, punish, and redress harm caused by their armed forces, civil employees or any non-state actors under their control. For human rights obligations this responsibility is confirmed under Art. 2 (2) (3) ICCPR: States must adopt legislative or other measures as may be necessary to give effect to human rights. In particular, they must provide effective remedies, determined by competent judicial, administrative or legislative authorities, and ensure enforcement of such remedies when granted. This principle also applies to human rights violations committed in armed conflicts and warlike situations. 49 Yet judicial control of peace operations is often frustrating. Judges in the receiving State, if at all available, are hardly competent to decide on acts performed by peacekeepers, considering issues of functional immunity. It cannot be denied that the success of a peace operation is affected where an effective judicial control of peacekeepers is not guaranteed. Sending States and international organisations should not neglect this essential part of any peace operation.

V. The Role of International Organisations As international organizations such as UN, EU, OSCE, OAS, OAU or NATO have an important influence in and responsibility for the conduct of peace operations, they should be encouraged to specify mandates to include monitoring and judicial control of relevant activities in the field. Lessons learned should be evaluated and discussed at appropriate level, so that remedies for wrongful acts can be prepared and reparation made in a timely fashion. The International Law Commission’s forthcoming Draft Articles on the Responsibility of International Organizations 50 may be expected to legalise this process and provide for widely acceptable principles and rules. As the responsibility for most peace operations falls within the Security Council, binding decisions could be taken and should, indeed, be encouraged under Article 25 of ___________ 49 The recent Varvarin judgment of the Regional District Oberlandesgericht Köln of 28 July 2005 (7 U 8/04), http://www.olg-koeln.nrw.de/home/presse/archiv/urteile/ 2004/7U008-04u.pdf, http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/themen/NATO-Krieg/varvarin6.html (4 September 2006), however, stated that international humanitarian law does not provide for direct individual claims. This was confirmed in by the German Supreme Court (Bundesgerichtshof) in ist judgment of 2 November 2006 (III ZR 190/05), http:// lexetius.com/2006.2924 (13 October 2007). 50 See United Nations, International Law Commission, http://untreaty.un.org/ilc/ guide/9_11 (13 October 2007).

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the UN Charter. The practice of the Security Council, to pass Resolutions on peace operations without addressing the issue of judicial control, has proven ineffective and counterproductive. It should be improved. More forthcoming in this context is the practice of regional arrangements under Chapter VIII. The Parliamentary Assembly of the Council of Europe has passed a resolution on 24 June 2004, 51 just before the end of the military occupation of Iraq, to deplore and condemn serious violations of human rights and humanitarian law committed by coalition forces in Iraq, in particular by members of the United States and British contingents. It condemned and deplored the torture in prisons managed by the coalition forces and called upon those of its Member and Observer States that are engaged in Iraq to: “ensure that their forces and agents […] fully and effectively respect international humanitarian human rights and criminal law, according to the established, generallyaccepted definitions, in all circumstances; ensure, in particular, that detainees are afforded the appropriate status and treated according to the provisions of international humanitarian law relevant to that status, as well as of applicable international human rights law […]; ensure that all human rights abuses and offences under international humanitarian and criminal law are promptly and independently investigated and their perpetrators brought to trial in accordance with international standards, so that they may be subjected to appropriate administrative or criminal sanctions fully reflective of the gravity of their misconduct […]; ensure that effective remedies are available for violations and that full reparation, including adequate compensation, is made to the victims or to their families […]”.

The Assembly also called upon those of its Member States that are engaged in Iraq to accept the full applicability of the ECHR to the activities of their forces in Iraq, in so far as those forces exercise effective control over the areas in which they operated.

VI. Conclusions In peace operations today, a complex legal regime comprising peacetime rules of international law, international humanitarian law and national law must be adhered to and properly implemented. The extraterritorial implementation of human rights obligations is not the only legal task to be considered in this context. But it is important to accept that a fair protection of human rights is key to an effective performance of the mission. Decades ago, Friedrich Berber, pleading for a scrupulous and global implementation of human rights conventions ___________ 51 Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Resolution 1386 of 24 June 2004, http://assembly.coe.int/Main.asp?link=/Documents/AdoptedText/ta04/ERES1386. htm (4 September 2006), paras. 1, 6, 13 ,17, 18.

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under international control as a legal and political basis for peaceful change,52 has well accentuated the great importance of the respect for human rights in this context. Practice of States and international organisations has shown that the international community is still far away from this goal. While strong efforts are still necessary to protect human rights in situations of conflict, it is realistic to assume that they could be more successful today than ever before. Even in robust peace operations the extraterritorial application of human rights obligations cannot be denied as such, but it remains subject to the jurisdiction exercised by the sending State in a specific situation. Such jurisdiction is dependent from factual control of people and territory. It cannot be confirmed in cases where fighting is still going on to secure control of an area or installation. In many cases of detention, the lack of independent legal control may pose additional problems, so that habeas corpus cannot be exercised in the same manner as in normal peacetime. To conclude from the existence of such problems that human rights obligations do not exist altogether, cannot make a convincing case and cannot be accepted. The international responsibility of States and international organisations must be fully implemented and further developed in this respect. Remedies and reparation for victims of atrocities cannot be left to receiving States. Rather, the sending States are challenged to use their possibilities and take responsible action. Close cooperation between all States and international organisations involved is essential to ensure that the essential purpose of peacekeeping – to enhance the rule of law, to protect the human rights of the population and to deliver self-determination to the victimised people – can be fulfilled.

___________ 52

Berber, F., Lehrbuch des Völkerrechts, Vol. III, 1977, p. 144.

Der Verpflichtungskonflikt der Staaten im Falle der intelligenten Sanktionen des UN-Sicherheitsrats Tobias H. Irmscher *

I. Einleitung Es gibt nicht viele Themen, die sich derzeit eines solch weit verbreiteten Interesses der Völkerrechtswissenschaft erfreuen, wie das der Menschenrechtskompatibilität der vom UN-Sicherheitsrat verhängten so genannten intelligenten Sanktionen. Insbesondere die seit 2005 ergangenen Sachentscheidungen des EuG 1 haben die allgemeine Aufmerksamkeit auf diese Formen der nichtmilitärischen, ohne vorherige Anhörung oder gerichtsförmliches Verfahren verhängten Zwangsmaßnahmen gegen Einzelpersonen – in Gestalt von Reisebeschränkungen, Waffenembargos und insbesondere des Einfrierens sämtlicher Vermögenswerte (asset freeze) – gelenkt. Zumeist wird dem Sicherheitsrat attestiert, mit diesem Vorgehen und dem zugehörigen Verfahren sich in Widerspruch zu den Anforderungen moderner Menschenrechtsgarantien völker- und verfassungsrechtlicher Provenienz zu setzen. Nun ist der Sicherheitsrat als Organ der Vereinten Nationen prinzipiell nicht an die nationalen Grundrechtsverbürgungen gebunden. Und auch hinsichtlich ___________ *

Der Beitrag gibt allein die persönliche Auffassung des Verfassers wieder. EuG, Urt. v. 21.09.2005 – T-306/01, EuZW 2005, 672 und EuGRZ 2005, 592 ff (Yusuf); EuG, Urt. v. 21.09.2005 – T-315/01, EuZW 2005, 672 (Kadi); EuGH, Urt. v. 12.07.2006 – T-253/02 (Ayadi); EuGH, Urt. v. 12.07.2006 – T-49/94 (Hassan). Siehe zu den Urteilen im Einzelnen Arnauld, A. v., UN-Sanktionen und gemeinschaftsrechtlicher Grundrechtsschutz, in: AVR 44 (2006), S. 201 ff.; Aust, H. P. / Naske, N., Rechtsschutz gegen den UN-Sicherheitsrat durch europäische Gerichte?, in: ZÖR 61 (2006), S. 587 ff.; Harings, L., Die EG als Rechtsgemeinschaft (?) – EuG versagt Individualrechtsschutz, in: EuZW 2005, S. 705; Hörmann, S., Völkerrecht bricht Rechtsgemeinschaft?, in: AVR 44 (2006), 267 ff.; Kotzur, M., Eine Bewährungsprobe für die Europäische Grundrechtsgemeinschaft, in: EuGRZ 2006, S. 19 ff.; Lysen, G., Targeted UN Sanctions: Application of Legal Sources and Procedural Matters, in: NordicJIL 72 (2003), S. 291 ff.; Steinbarth, S., Individualschutz gegen Maßnahmen der EG zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus, in: ZEuS 2006, S. 269 ff.; Tietje, C. / Hamelmann, S., Gezielte Finanzsanktionen der Vereinten Nationen im Spannungsverhältnis zum Gemeinschaftsrecht und zu Menschenrechten, in: JuS 2006, S. 299 ff.; Wessel, R. A., Editorial: The UN, the EU and Jus Cogens, in: International Organizations Law Review 3 (2006), S. 1 ff. 1

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der völkerrechtlichen Verpflichtungen auf die Beachtung fundamentaler Menschenrechtsgarantien ist keineswegs alles geklärt, 2 auch wenn eine entsprechende Bindung des Sicherheitsrats wohl im Ergebnis jedenfalls in Bezug auf gewohnheitsrechtlich anerkannte Menschenrechte zu bejahen ist. 3 Ob und inwieweit menschenrechtliche Maßstäbe an das Sanktionsregime anzulegen sind, ist im Kern jedoch nicht so sehr eine Problematik des Rechts der Vereinten Nationen bzw. der Rechtsbindung des Sicherheitsrats. Trotz einer weit verbreiteten Nichtbeachtung der Sanktionen (dazu unten sub. V.) wird seine Berechtigung, Maßnahmen dieser Art im Rahmen seiner Befugnisse nach Kapitel VII UN-Charta anzuordnen, prinzipiell nicht in Frage gestellt. Darüber hinaus bietet die gegenwärtige Situation kaum Anhaltspunkte für eine Bereitschaft, den Mechanismus grundlegend zu modifizieren. 4 Es sollen daher nachfolgend weder erneut die Problematik der Menschenrechtsbindung des Sicherheitsrats diskutiert noch Varianten für eine menschenrechtskonforme Ausgestaltung eines Verfahrens de lege ferenda erörtert werden. Aus der Sicht des Praktikers – und Dieter Blumenwitz haben als Wissenschaftler und akademischen Lehrer insbesondere auch sein Praxisbezug und sein Bewusstsein für die machtpolitischen Realitäten ausgezeichnet – scheint es gerade in einer derart hochpolitischen Frage besonders gefährlich, sich rechtspolitischem Wunschdenken hinzugeben. Auch die Frage der Geeignetheit gezielter (Finanz-)Sanktionen, den internationalen Terrorismus nachhaltig zu schwächen, die verstärkt gestellt wird und nunmehr auch das Monitoring Team des mit den gegen AlQaida und die Taliban befassten Sanktionsausschusses befasst, 5 ist hier nicht weiter zu untersuchen. Es geht vielmehr darum, den eigentlichen Normkonflikt der Problematik intelligenter Sanktionen aufzuzeigen und zu analysieren. Dieser Norm- oder besser Verpflichtungskonflikt besteht nicht so sehr für den Sicherheitsrat (der aus eigener Rechtsüberzeugung handelt), sondern für jeden einzelnen Mitgliedstaat. Es scheint, dass im Zuge einer Gesamtschau auf das Mehrebenensystem aus innerstaatlichem, Europa- und Völkerrecht Probleme gesehen und Schlüsse gezogen werden, die die als „klassisch“ zu bezeichnende Struktur des Sanktionsregimes so nicht rechtfertigt. Es soll insoweit versucht werden, den aus den „intelligenten Sanktionen“ herrührenden und mit dem Wort „komplex“ ___________ 2

Fassbender, B., Targeted Sanctions and Due Process, in: International Organizations Law Review 3 (2006), S. 437, 463 ff. 3 Für einen Spezialfall vgl. Irmscher, T. H., The Legal Framework fort he Activities of the United Nations Interim Administration Mission in Kosovo, in: GYIL 44 (2001), S. 353, 366 ff., 369 f. m. w. N. 4 Vgl. Fassbender (Fn. 2), S. 438. 5 Vgl. Al-Jumaili, D., New York – Brüssel – Berlin oder: Die Umsetzung von Finanzsanktionen gegen Terroristen, in: NJW 33/2007, S. XIV, XVIII m. w. N.

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noch nicht einmal hinreichend charakterisierten 6 juristischen Konflikt unter Berücksichtigung der politischen Gegebenheiten und der rechtlichen Bedingungen der jeweiligen Ebene neu zu bestimmen und die zur Lösung des Konflikts berufenen Akteure zu identifizieren. Zu diesem Zweck ist zunächst auf Inhalt und Charakter der Sicherheitsratsresolutionen einzugehen (II.). Weiterhin sind die die Mitgliedstaaten treffenden menschenrechtlichen Verpflichtungen und der hierin bestehende Widerspruch darzustellen (III.). Nach einer Eingrenzung des tatsächlichen Konflikts (IV.) sollen die Problematik der Nichtbefolgung der Sanktionsanordnung untersucht (V.) und die sich hieraus ergebenden Schlussfolgerungen dargestellt werden (VI.).

II. Inhalt und Charakter der Sicherheitsratsresolutionen „Intelligente“ oder gezielte Sanktionen (smart sanctions) sind ein vergleichsweise junges Instrument der dem UN-Sicherheitsrat zur Verfügung stehenden nichtmilitärischen Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII UN-Charta. 7 Recht bald nach Ausweitung der Sanktionspraxis Anfang der 1990er Jahre wurde deutlich, dass die in der Vorschrift erwähnten Wirtschaftsembargos regelmäßig wenig effektiv sind, zugleich aber schwerwiegende Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung haben können. 8 In der Folge verlegte sich der Rat auf die Verhängung gezielter Sanktionen, sei es, dass sie nur spezifische Tätigkeiten, Güter oder Industrien betrafen, sei es, dass mit ihnen gezielt Druck auf einzelne Repräsentanten, Regierungsmitglieder oder andere herausragend beteiligte Persönlichkeiten (z. B. notorische Waffen- und Drogenhändler etc.) ausgeübt wurde, beispielsweise durch Verhängung eines Reiseverbots oder bestimmter Finanzsanktionen. Die Notwendigkeit des Übergangs zu Individualsanktionen ergab sich aus Sicht des Sicherheitsrats aber auch im Zuge der Terroranschläge vom 11. September 2001 und des nachfolgenden Einmarsches in Afghanistan. Mit dem Sturz der Taliban verloren die mit Resolution 1267 (1999) gegen das Talibanregime verhängten Sanktionen ihren Adressaten. Um das Finanz-, Reise und Waffenembargo jedoch fortsetzen zu können, wurde es erforderlich, die Betref___________ 6 Vgl den Titel des Beitrags von Meyer, F., Lost in complexity – Gedanken zum Rechtsschutz gegen Smart Sanctions in der der EU, in: ZEuS 2007, S. 1 ff. 7 Für eine tiefgründige Einführung siehe Cameron, I., UN Targeted Sanctions, Legal Safeguards and the European Convention on Human Rights, in: NordicJIL 72 (2003), S. 159 ff. Allgemein zur Entwicklung der vom Sicherheitsrat verhängten Sanktionen Birkhäuser, N., Sanktionen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen gegen Individuen, 2007. 8 Siehe nur Bossuyt, M., The adverse consequences of economic sanctions on the enjoyment of human rights, Working paper, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/2000/33 (21.06. 2000); O’Connell, M. E., Debating the Law of Sanctions, in: EJIL 13 (2002), S. 63 ff.

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fenden zu individualisieren. Der Sicherheitsrat entschied daher, dass die zuvor gegen die „unter der Bezeichnung Taliban bekannte afghanische Gruppierung“ verhängten Sanktionen nunmehr für namentlich benannte natürliche Personen, Gruppen, Unternehmen und Einrichtungen (entities) gelten sollten. 9 Der bereits bestehende, aus Vertretern aller 15 Mitglieder des Sicherheitsrats zusammengesetzte Sanktionsausschuss des Sicherheitsrats (nach der Einsetzungsresolution 1267er-Ausschuss genannt) wurde beauftragt, eine Liste mit den entsprechenden Betroffenen vorzuhalten und zu aktualisieren. 10 Es ist dieser Sanktionsausschuss, der – grundsätzlich im Wege des Konsenses 11 – über die Aufnahme weiterer Personen und Organisationen auf die Liste sowie ggf. ihre Streichung 12 und allfälligen humanitäre Ausnahmen 13 von einzelnen Zwangsmaßnahmen entscheidet. 1. Der Inhalt der Sanktionen Im Einzelnen umfassen die Zwangsmaßnahmen des Al Qaida/Taliban-Sanktionsregimes 14 – das mittlerweile wohl am weitesten entwickelte und in seinen Auswirkungen bedeutendste Regime soll nachfolgend als Referenz benutzt werden – ein Reiseverbot, ein Verbot des Erwerbs von Waffen sowie eine Beschlagnahme von Finanz- und sonstigen Vermögenswerten. Die mit Sicherheitsrats-Resolution 1735 (2006) 15 konsolidierte Fassung der Anordnungen lautet wie folgt: „Der Sicherheitsrat … tätig werdend nach Kapitel VII der Satzung der Vereinten Nationen, … 1. beschließt, dass alle Staaten die mit Ziffer 4 b) der Resolution 1267 (1999), Ziffer 8 c) der Resolution 1333 (2000) und den Ziffern 1 und 2 der Resolution 1390 (2002)

___________ 9 Zunächst bezogen auf die Finanzsanktionen durch Abs. 8 c) Resolution 1333 (2000) vom 19.12.2000, UN Doc. S/RES/1333(2000), später allgemein in Abs. 2 Resolution 1390 (2002) vom 28.01.2002, UN Doc. S/RES/1390 (2002). 10 Zum Verfahren vgl. die zuletzt am 12.02.2007 revidierten Guidelines of the Comittee for the Conduct of its Work, verfügbar unter www.un.org/sc/committees/1267/ (01.10.2007). 11 Siehe Ziff. 4 der Guidelines (Fn. 10). 12 Vgl. Resolution 1730 (2006) vom 19.12.2006, UN Doc. S/RES/1730(2006). 13 Vgl. Resolution 1452 (2002) vom 20.12.2002, UN Doc. S/RES/1452(2002), siehe hierzu ausführlich unten sub III.4. 14 Hierzu allgemein Rosand, E., The Security Council’s Efforts to Monitor the Implementation of Al Qaeda/Taliban Sanctions, in: AJIL 98 (2004), S. 745 ff. 15 Vom 22.12.2006, UN Doc. S/RES/1735 (2006). Die deutsche Übersetzung ist verfügbar auf der Website des Deutschen Übersetzungsdienstes der Vereinten Nationen www.un.org/Depts/german/ (01.10.2007).

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bereits verhängten Maßnahmen im Hinblick auf die Al-Qaida, Osama bin Laden und die Taliban sowie die anderen mit ihnen verbundenen Personen, Gruppen, Unternehmen und Einrichtungen ergreifen werden, die in der nach den Resolutionen 1267 (1999) und 1333 (2000) aufgestellten Liste (die ‚Konsolidierte Liste‘) aufgeführt sind: a) die Gelder und anderen finanziellen Vermögenswerte oder wirtschaftlichen Ressourcen dieser Personen, Gruppen, Unternehmen und Einrichtungen unverzüglich einzufrieren, einschließlich der Gelder, die aus Vermögensgegenständen stammen, die in ihrem Eigentum stehen oder die direkt oder indirekt von ihnen oder von Personen, die in ihrem Namen oder auf ihre Anweisung handeln, kontrolliert werden, sowie sicherzustellen, dass weder diese noch irgendwelche anderen Gelder, finanziellen Vermögenswerte oder wirtschaftlichen Ressourcen von ihren Staatsangehörigen oder von in ihrem Hoheitsgebiet befindlichen Personen direkt oder indirekt zu Gunsten solcher Personen zur Verfügung gestellt werden; b) die Einreise dieser Personen in oder ihre Durchreise durch ihr Hoheitsgebiet zu verhindern, mit der Maßgabe, dass diese Bestimmung keinen Staat dazu verpflichtet, seinen eigenen Staatsangehörigen die Einreise in sein Hoheitsgebiet zu verweigern oder ihre Ausreise zu verlangen, und dass diese Bestimmung keine Anwendung findet, wenn die Ein- oder Durchreise zur Durchführung eines Gerichtsverfahrens erforderlich ist oder wenn der Ausschuss nach Resolution 1267 (1999) (‚der Ausschuss‘) ausschließlich im Einzelfall feststellt, dass die Ein- oder Durchreise gerechtfertigt ist; c) zu verhindern, dass diesen Personen, Gruppen, Unternehmen und Einrichtungen von ihrem Hoheitsgebiet aus oder durch ihre Staatsangehörigen außerhalb ihres Hoheitsgebiets oder durch Schiffe oder Luftfahrzeuge, die ihre Flagge führen, Rüstungsgüter und sonstiges Wehrmaterial jeder Art, einschließlich Waffen und Munition, Militärfahrzeuge und -ausrüstung, paramilitärische Ausrüstung, entsprechende Ersatzteile sowie technische Beratung, Hilfe oder Ausbildung hinsichtlich militärischer Aktivitäten auf direktem oder indirektem Weg geliefert, verkauft oder übertragen werden; …“

Im Falle der anderen Sanktionsregime, die den „intelligenten Sanktionen“ des Sicherheitsrats zugerechnet werden können – derzeit sind es elf weitere 16 – finden sich ähnliche Bestimmungen. Entscheidend für die Verhängung der Sanktionen im Rahmen der Vereinten Nationen sind damit zwei Schritte: Der Sicherheitsrat beschließt in einer mandatorischen Resolution nach Kapitel VII UN-Charta Inhalt und Reichweite der Zwangsmaßnahmen; die konkrete Entscheidung, wer diesen Zwangsmaßnahmen ausgesetzt wird, ist hingegen in derselben Resolution dem jeweiligen Sanktionsausschuss übertragen. Nur im Streitfall kann eine Angelegenheit dem Hauptorgan vorgelegt werden. 17

___________ 16 Siehe den Überblick auf der Website des Sicherheitsrats http://www.un.org/sc/ committees/ (01.10.2007). 17 Ziff. 4 der Guidelines (Fn. 10).

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2. Der indirekte Charakter der Sanktionen Schon aus dem Text der Resolutionen geht hervor, dass sie keineswegs direkt die Verhängung der Sanktionsmaßnahmen bewirken: Adressaten der Resolution sind allein die Mitgliedstaaten, die zur Umsetzung der Sanktionsmaßnahmen aufgefordert werden. 18 Diese Umsetzung muss auf der nationalen Ebene durch entsprechende Rechts- bzw. Realakte des Mitgliedsstaates erfolgen. 19 In Europa sind dies Verordnungen des Rates gem. Art. 301 EG. 20 Dies gilt in gleicher Weise für die Vornahme der Listung, auch wenn Staaten durchaus im Wege einer dynamischen Verweisung auf die Liste des Sicherheitsrats ein eigenes Handeln faktisch entbehrlich machen können. Es sind also letztlich nationale Hoheitsakte, die die Sanktionen umsetzen und beispielsweise ein Reise- oder Verfügungsverbot für Finanzvermögen statuieren. 21 All dies bedeutet freilich nicht, dass – aus Sicht der UN-Charta – die Mitgliedstaaten frei wären, ob und ggf. mit welchen Einschränkungen eine solche Umsetzung erfolgen kann. 22 Mitgliedstaaten sind kraft Art. 25 UN-Charta verpflichtet, die Beschlüsse des Sicherheitsrats zu beachten und durchzuführen, und die oben wiedergegebene Formulierung stellt eine unmissverständliche Befolgungsanordnung dar („beschließt, dass alle Staaten die … Maßnahmen … ergreifen werden“). Für (regionale) internationale Organisationen, denen die Staaten angehören, ergibt sich aus der Resolution i. V. m. der UN-Charta keine Obliegenheit zur deren Beachtung, da keine dieser Organisationen die UN-Charta ratifiziert hat. Anderes kann sich nur aus den konstituierenden Verträgen einer solchen Organisation ergeben. So kommt nach dem einschlägigen Unions- bzw. Gemeinschaftsrecht der EG die Funktion zu, die Sanktionen innergemeinschaftlich umzusetzen, obgleich sie selbst nicht Adressat der Sicherheitsratsresolutionen ist. 23 Es bedarf hier mithin eines weiteren rechtslogischen Zwischenschritts – der Übernahme der die EG-Mitgliedstaaten treffenden Verpflichtungen –, um die Legitimations- bzw. Ermächtigungskette für den Erlass der europarechtli___________ 18

Dies übersieht Cannizzaro, E., A Machiavellian Moment? The UN Security Council and the Rule of Law, in: International Organizations Law Review 3 (2006), S. 189, 199 f.: Es kommt gerade weiterhin auf die Vermittlung der Staaten an. 19 Zur entsprechenden Rechtslage in Deutschland vgl. Schlarmann, H. / Spiegel, J.-P., Terror und kein Ende, in: NJW 2007, S. 870 ff. 20 Siehe nur Fassbender, B., Art. 19 Abs. 4 als Garantie innerstaatlichen Rechtsschutzes gegen Individualsanktionen des UN-Sicherheitsrates, in: AöR 132 (2007), S. 257, 273, 276; Bartelt, S. / Zeitler, H. E., „Intelligente Sanktionen“ zur Terrorismusbekämpfung in der EU, in: EuZW 2003, S. 712 ff.; Meyer (Fn. 6), S. 7 f. 21 Fassbender (Fn. 20), S. 264. 22 Fassbender (Fn. 20), S. 266. 23 Siehe hierzu im Einzelnen Tietje / Hamelmann (Fn. 1), S. 300 f.; Aust / Naske (Fn. 1), S. 591; Hörmann (Fn. 1), S. 273 ff., 277 ff. m. w. N.

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chen Sanktionsmaßnahmen zu errichten. Es kann daraus aber nicht ohne Weiteres abgeleitet werden, wie dies das EuG tut, dass sich die Gemeinschaft zugleich auf den Vorrang der aus der UN-Charta folgenden Verpflichtungen gem. Art. 103 UN-Charta berufen kann, um eine Prüfung der Umsetzungsmaßnahmen an den für sie selbst verbindlichen menschenrechtlichen Maßstäben entbehrlich zu machen. 24

III. Konkurrierende menschenrechtliche Verpflichtungen der Mitgliedstaaten Eine der großen Entwicklungen des Völkerrechts seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist die Entstehung und Akzeptanz menschenrechtlicher Mindeststandards und von Mechanismen zur Überwachung ihrer Einhaltung bzw. ihrer Durchsetzung. Zunächst auf rein politischer Ebene in Gestalt der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 entstanden, unterliegen Staaten heute entsprechenden verbindlichen Völkerrechtspflichten in Gestalt von Übereinkommen auf regionaler und universeller Ebene, Völkergewohnheitsrecht und allgemeinen Rechtsgrundsätzen. Von Bedeutung im vorliegenden Kontext sind dabei insbesondere die Eigentumsgarantie und das Recht auf ein faires Verfahren, möglicherweise auch das Recht auf Familie bzw. Privatleben. 25 Freilich sind völkerrechtliche Bestimmungen insoweit nicht die einzigen Maßstäbe für staatliches Handeln: Innerstaatliche Grundrechtskataloge, die noch über die völkerrechtlichen Gewährleistungen hinausgehen. In Anbetracht des Charakters völkerrechtlicher Bestimmungen als Mindeststandards kann vorliegend aber der Kernbereich der sonstigen staatlichen Verpflichtungen anhand der völkerrechtlichen Normen hinreichend dargestellt werden. 1. Eigentumsgarantie Die Eigentumsgarantie hat im Völkerrecht ihre Wurzeln im gewohnheitsrechtlichen Fremdenrecht – danach durften Enteignungen von fremden Staatsangehörigen im Wesentlichen nur gegen Entschädigung erfolgen. Ein menschenrechtlich begründeter Schutz des Eigentums auch für eigene Staatsangehörige wurde zwar ebenfalls 1948 in der Allgemeinen Erklärung gefordert; in ___________ 24

So auch Cannizzaro (Fn. 18), S. 202 f. Weitere möglicherweise betroffene Menschenrechte sind die Vereinigungsfreiheit und möglicherweise politische Rechte; vgl. Scheinin, M., Report of the Sepcial Rapporteur on the promotion and protection of human rights and fundamental freedoms while countering terrorism, UN Doc. A/61/267 (16.08.2006), Ziff. 31. Meyer (Fn. 6), S. 16, geht noch auf das Recht auf Leben, konstatiert aber, dass angesichts der humanitären Ausnahmen eine Verletzung hier nicht in Betracht komme. 25

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die verbindlichen Menschenrechtstexte wurde eine entsprechende Bestimmung jedoch nur zögernd oder gar nicht aufgenommen. Art. 1 des (1.) Zusatzprotokolls zur EMRK (ZP-EMRK) enthält eine Eigentumsgarantie, formuliert dessen Reichweite (Abs. 2) und statuiert die Voraussetzungen einer Eigentumsentziehung. Inwieweit durch das Einfrieren von Vermögenswerten Eigentumspositionen überhaupt beeinträchtigt werden, ist keineswegs klar. Der Sache nach handelt es sich beim Einfrieren um ein rein vorsorgliches Verfügungsverbot. Die Substanz wird nicht angegriffen und bleibt bestehen, lediglich der Zugriff wird verwehrt. 26 Nach Ansicht des EGMR begründet die bloße Beschlagnahme aber keinen Eingriff in das Eigentumsrecht, sondern lediglich eine Regelung der Benutzung des Eigentums i. S. v. Art. 1 Abs. 2 (1.) ZP-EMRK. 27 Demgegenüber erweisen sich die gezielten Sanktionen jedenfalls faktisch als perpetuierte Eigentumsbeschränkung und damit möglicherweise als Eigentumsentzug. 28 Dies gilt insbesondere in Anbetracht der fehlenden zeitlichen Begrenzung sowohl hinsichtlich des Sanktionsregimes im Ganzen als auch bezogen auf die individuelle Listung. 29 Der EGMR sieht hingegen auch eine zeitlich unbeschränkte Beschlagnahme von Finanzwerten als bloße Nutzungsregel an. 30 Diese beruht auf einer gesetzlichen Bestimmung und steht, allgemein betrachtet, im öffentlichen Interesse. Insoweit kann sie prinzipiell zulässig im Sinne von Art. 1 Abs. 1 S. 2 (1.) ZP-EMRK sein. Anderes muss angesichts der Schwere des Eingriffs möglicherweise dann gelten, wenn die Listung als solche nicht gerechtfertigt ist. 31

2. Recht auf rechtliches Gehör und auf ein faires Verfahren Das Recht auf rechtliches Gehör sowie die Garantie eines fairen Verfahrens gehören zum Kern der justiziellen Grundrechte. In Europa sind diese vor allem in Art. 6 Abs. 1 (Recht auf ein faires Verfahren) und Art. 13 EMRK (Recht auf wirksame Beschwerde) festgeschrieben. Ähnliche Garantien enthalten Art. 14 ___________ 26

Auflaufende Zinsen und anderes Einkommen aus den Vermögenswerten fließen dem Hauptkapital zu, unterliegen aber gleichfalls der Beschlagnahme; vgl. Abs. 2, Res. 1452 (2002) vom 20.12.2002. 27 Cameron, I., The European Convention on Human Rights, Due Process and United Nations Security Council Counter-Terrorism Sanctions, in: Report for the Council of Europe (06.02.2006). S. 16. 28 So wohl Meyer (Fn. 6), S. 16. 29 Zu dieser Problematik auch Scheinin (Fn. 25), Ziff. 34; Meyer (Fn. 6), S. 17. 30 Cameron (Fn. 27), S. 16 f. 31 Zum Ganzen auch Meyer (Fn. 6), S. 16 f.

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Abs. 1 IPbpR und Art. 8 Abs. 1 Interamerikanische Menschenrechtskonvention (IAMRK). Aus der Garantie eines fairen Verfahrens folgt zunächst die Verpflichtung, die zu listende Person oder Einrichtung vor oder jedenfalls unverzüglich nach Verhängung über die ergriffenen Maßnahmen zu informieren. 32 Während dies in der Vergangenheit häufig nicht erfolgte und so ein ernsthafter Konflikt mit dem Anhörungsrecht bestand, hat die jüngere Rechtsentwicklung 33 jedenfalls insoweit Abhilfe gebracht: Das UN-Sekretariat notifiziert dem Heimat- wie dem mutmaßlichen Aufenthaltsstaat die Listung unter Übermittlung des nicht vertraulichen Teils des Listungsantrags; die Staaten sind dann angehalten, den Gelisteten über die Listung zu informieren. 34 Damit entfällt jedenfalls hier ein zwingender Verpflichtungskonflikt. Aus der Verpflichtung zur Gewährung rechtlichen Gehörs ist weiterhin abzuleiten, dass dem von einer Listung Betroffenen ein Anhörungsrecht eingeräumt werden, d. h. die Möglichkeit eröffnet werden muss, den Entscheidungsträgern seine Sicht der Dinge zur Kenntnis zu geben. 35 Dies ist noch immer nicht vorgesehen. Allerdings hat der Sicherheitsrat auf einen französischen Vorschlag hin 36 mit Resolution 1730 (2006) nun ein – für alle Sanktionsregimes einheitliches – Streichungsverfahren etabliert, und eine zentrale Koordinierungsstelle (focal point) zur Entgegennahme von Streichungsanträgen eingerichtet. 37 Auch wenn darin keine generelle Anhörung vorgesehen ist, bestätigt der Sicherheitsrat doch ausdrücklich das Recht der Betroffenen, ihre Sichtweise darzulegen. In Verbindung mit der Informationsobliegenheit ergibt sich daraus jedenfalls ein wichtiger Fortschritt. Soweit das Recht auf rechtliches Gehör betroffen ist, besteht schließlich auch im Grundsatz eine Verpflichtung der Staaten, ein gerichtliches oder gerichtsförmiges Verfahren mit einer Überprüfungsmöglichkeit der verhängten Maßnahmen bereitzustellen, soweit letztere individuelle Rechtspositionen beeinträchtigen. 38 Die Reichweite der Garantien ist freilich begrenzt: das Recht auf rechtliches Gehör besteht nur im Hinblick auf strafrechtliche Anklagen so___________ 32

Fassbender (Fn. 2), S. 476. Siehe bereits Resolution 1526 (2004) vom 30.01.2004, UN Doc. S/RES/1526 (2004), Abs. 18; Resolution 1617 (2005) vom 29.07.2005, UN Doc. S/RES/1617(2005), Abs. 5. 34 Abs. 10 und 11 Res. 1735 (2006). 35 Fassbender (Fn. 2), S. 476; Meyer (Fn. 6), S. 21; Hörmann (Fn. 1), S. 318 ff. 36 Vgl. UN Doc. S/PV.5747, S. 18. 37 Siehe hierzu im Einzelnen Feinäugle, C., Die Terroristenlisten des Sicherheitsrates – Endlich Rechtsschutz des Einzelnen gegen die Vereinten Nationen?, in: ZRP 2007, S. 75, 76 f. 38 Dazu Fassbender (Fn. 2), S. 476; Scheinin (Fn. 25), Ziff. 39; Cameron (Fn. 27), S. 10 ff.; Hörmann (Fn. 1), S. 303 ff., 305 ff. 33

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wie zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen – verwaltungsrechtliche Streitigkeiten sind jedenfalls nicht explizit erwähnt. 39 Der EGMR legt allerdings den Begriff des zivilrechtlichen Anspruchs recht weit aus, 40 so dass nicht auszuschließen ist, dass er auch einen Rechtsbehelf gegen die nationale Umsetzung der Listungsentscheidung als von Art. 6 Abs. 1 EMRK gefordert ansieht. Zum Teil wird den Zwangsmaßnahmen Strafcharakter zugemessen mit der Folge, dass die viel weiter reichenden Verfahrensgarantien für das Strafverfahren herangezogen werden können. 41 Demgegenüber betont der Sicherheitsrat nunmehr in Abs. 10 der Präambel zu Resolution 1735 (2006), dass die Maßnahmen nur Präventivcharakter haben und nicht von strafrechtlichen Qualifizierungen abhängig seien. Unabhängig von dieser ohnehin nicht verbindlichen Einschätzung bleibt die Frage, ob aus der rein faktischen Betroffenheit auf einen Strafcharakter geschlossen werden kann. 42 Denn die nationalen Umsetzungsregeln werden regelmäßig rein administrativen Charakter haben. Die Systematik der internationalen Menschenrechtstexte unterscheidet zwischen den möglichen Strafmaßnahmen einerseits 43 und den für das Strafverfahren geltenden Garantien andererseits, was gegen die Berücksichtigung der rein faktischen Situation spricht. Entsprechend hat auch der EGMR in einem Fall die bloße Beschlagnahme von Vermögenswerten nicht als Kriminalstrafe gewertet. 44 Es ist nicht grundsätzlich ausgeschlossen, dass auf nationaler Ebene gerichtliche Verfahren zur Überprüfung der Sanktionsanordnung, d. h. der Übernahme der Listungsentscheidung des Sanktionsausschusses, bestehen. Offen bleibt hingegen, ob es sich dabei jeweils um wirksame Rechtbehelfe handelt. Dies ist ___________ 39

Fassbender (Fn. 2), S. 453. Für Verwaltungsakte s. nur Peukert, W., in: Frowein / Peukert, EMRK-Kommentar, 2. Aufl. 1996, Art. 6, Rn. 55; Meyer (Fn. 6), S. 18 m. w. N. 41 Siehe nur Art. 14 Abs. 2-5 IPbpR, Art. 8, Abs. 2-5 IAMRK, Art. 5, 6 Abs. 2 EMRK – für diese Sichtweise insbesondere Scheinin (Fn. 25), Ziff. 35; Cameron (Fn. 27), S. 10; a. A. wohl Meyer (Fn. 6), S. 19 f.; offen Fassbender (Fn. 2), S. 478 f. 42 Dafür Wet, E. de / Nollkaemper, A., Review of Security Council Decisions by National Courts, in: GYIL 45 (2002), S. 166, 177, unter Verweis auf EGMR, Lutz ./. Deutschland (Nr. 9912/82), Urt. v. 25.08.1987, Ziff. 55. 43 Die folgenden Strafmaßnahmen sind – von anderen Ausnahmen abgesehen – grundsätzlich verboten, im Falle ihrer Verhängung als Strafe aber explizit gerechtfertigt:  Freiheitsentzug: Schutz in Art. 9 IPbpR (mit inhärenter Rechtfertigung für Freiheitsstrafe);  Eigentumsentzug: Schutz in Art. 1 (1.) Zusatzprotokoll zur EMRK (Rechtfertigung gem. Art. 1 Abs. 2 );  Reiseverbote: Schutz in Art. 12 IPbpR (Rechtfertigung gem. Abs. 3);  Exekution: Schutz in Art. 6 IPbpR (mit Ausnahme für Todesurteile – siehe hierzu aber das 2. Fakultativprotokoll zum IPbpR). 44 EGMR Philips ./. Vereinigtes Königreich, Urt. v. 05.07.2001 (Nr. 41087/98); hierzu Cameron (Fn. 27), S. 10. 40

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jedenfalls dann zu verneinen, wenn das jeweilige Gericht unter Berücksichtigung der bindenden Wirkung der Listungsentscheidungen eine Sachprüfung unterlässt.

3. Recht auf Privatleben, Schutz der Familie Garantiert ist auch der Schutz der Familie und, damit zusammenhängend, des Privatlebens (Art. 8 EMRK, Art. 17 IPbpR, Art. 11 IAMRK). Während es generell eher fern liegend scheint, dass allein in den oben beschriebenen Maßnahmen ein Eingriff in das Recht auf Privatleben liegt, können Reisebeschränkungen den Kontakt zur Familie und zum angestammten Lebensumfeld unterbinden. Darüber hinaus wird durch das Verbot der Bereitstellung von Geldmitteln an Gelistete faktisch auch ein Arbeitsverbot begründet. 45 Allerdings kommt insoweit eine Rechtfertigung nach der Systematik der jeweiligen Bestimmungen in Betracht, da grundsätzlich nur rechtswidrige bzw. willkürliche Eingriffe untersagt sind, bzw. im Falle der EMRK eine Einschränkung zulässig ist, die für die nationale oder öffentliche Sicherheit notwendig ist. All dies wird im Falle der berechtigten Listung in Anbetracht der jeweiligen nationalen Umsetzung gegeben sein. 46 Soweit freilich ein Irrtum bei der Listung vorliegt und die Verbindung zu den Terrororganisationen tatsächlich nicht besteht, wird ein derartiger Eingriff wohl als unverhältnismäßig 47 und damit nicht als „notwendig“ anzusehen sein.

4. Bestehende Ausgleichsregeln Wie gesehen, werden manche Inkompatibilitäten bereits nach Maßgabe der menschenrechtlichen Bestimmungen durch die dort normierten Rechtsfertigungsgründe aufgelöst. Und Konflikte bestehen auch dort nicht, wo die einzelnen Normen offen für die Berücksichtigung der jeweils anderen Vorschrift sind. Hinsichtlich des Sanktionsregimes ist dies insoweit gegeben, als es – jedenfalls im Falle der gegen Al Qaida und die Taliban vorgesehenen Sanktionen – Ausnahmebestimmungen aus humanitären Gründen gibt. Mit Resolution 1452 (2002) hat der Sicherheitsrat bestimmte humanitäre Ausnahmen ermöglicht und Geld- und Vermögenswerte von der Beschlagnahme ausgenommen, die ___________ 45

Cameron (Fn. 27), S. 15. So auch Meyer (Fn. 6), S. 18. 47 Generell zur Bedeutung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit Scheinin (Fn. 25), Ziff. 33. 46

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„1. … a) für Grundausgaben notwendig sind, namentlich für die Bezahlung von Nahrungsmitteln, Mieten oder Hypotheken, Medikamenten und medizinischer Behandlung, Steuern, Versicherungsprämien und Gebühren öffentlicher Versorgungseinrichtungen, oder ausschließlich der Bezahlung angemessener Honorare und der Rückerstattung von Ausgaben im Zusammenhang mit der Bereitstellung rechtlicher Dienste oder der Bezahlung von Gebühren oder Kosten für die routinemäßige Verwahrung oder Verwaltung eingefrorener Gelder oder anderer finanzieller Vermögenswerte oder wirtschaftlicher Ressourcen dienen, mit der Maßgabe, dass der betreffende Staat beziehungsweise die betreffenden Staaten dem Ausschuss des Sicherheitsrats nach Resolution 1267 (1999) (im Folgenden als ‚der Ausschuss‘ bezeichnet) zuvor ihre Absicht notifiziert haben, bei Bedarf den Zugriff auf diese Gelder, Vermögenswerte oder Ressourcen zu genehmigen, und dass der Ausschuss binnen achtundvierzig 48 Stunden nach einer solchen Notifizierung keinen abschlägigen Bescheid erteilt; b) für die Deckung außerordentlicher Ausgaben erforderlich sind, mit der Maßgabe, dass der betreffende Staat beziehungsweise die betreffenden Staaten dem Ausschuss eine derartige Entscheidung notifiziert haben und er diese genehmigt hat …“

Zudem ist der Sanktionsausschuss befugt, im Einzelfall Ausnahmen vom Reiseverbot zu gestatten (Res. 1735 [2006], Abs. 1 lit. b)). Der EGMR hat in seiner viel kritisierten und nicht nachvollziehbaren Entscheidung im Fall Fürst Hans-Adam II. ./. Deutschland freilich eine Generalausnahme für die Anwendbarkeit der Konventionsrechte für den „einzigartigen“ Fall angenommen, dass die Wiedererlangung der Souveränität Deutschlands auf dem Spiel stand und gewissermaßen nur durch eine gezielte Missachtung des Rechts auf rechtliches Gehör erkauft werden konnte.49 Wie der 11. September gezeigt und nachfolgende Rhetorik immer mehr bekräftigt hat, stellen terroristische Angriffe ernstzunehmende Bedrohungen für moderne Gemeinwesen und die internationale Gemeinschaft als ganzes dar, u. U. sogar von existentieller Auswirkung auf die Integrität und Souveränität der Staaten. Mit einer vergleichbaren Argumentation ließe sich im Hinblick auf die friedens- und stabilitätssichernden Aufgaben der UNO und die Hauptverantwortung des Sicherheitsrats hier auch eine allgemeine Bereichsausnahme von den menschenrechtlichen Garantien für von diesem angeordnete Maßnahmen der Terrorismusbekämpfung begründen.50 Gerade im Falle der internationalen Terrorismusbekämpfung wird die Gefahr eines solchen allgemeinen „Jagdscheins“51, d. h. der Freistellung von menschenrechtlichen Verpflichtungen die ___________ 48

Anm. des Verf.: gemäß Abs. 15 Res. 1735 (2006) nunmehr: „drei Arbeitstage“. EGMR (GK), Fürst Hans-Adam II. ./. Deutschland, Urt. v. 12.07.2001 (Nr. 42527/98), Ziff. 55 ff., 59; EuGRZ 2001, 466 ff. 50 Siehe hierzu auch Dederer, H.-G., Die Architektonik des europäischen Grundrechtsraums, in: ZaöRV, Bd. 66 (2006), S. 575, 606 m. w. N. 51 So die Charakterisierung dieser Argumentationsfigur durch Dieter Blumenwitz in seiner Entscheidungsanmerkung Blumenwitz, D., Die Liechtenstein-Entscheidung des 49

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de lege lata auch der Sicherheitsrat so nicht anordnen kann, mit erschreckender Klarheit deutlich. 5. Weitere Möglichkeiten der Konfliktvermeidung in tatsächlicher Hinsicht Ungeachtet dessen bestehen jedoch auch Möglichkeiten der Konfliktvermeidung. Diese setzen bereits im Vorfeld der Listung an. Staaten sind in jeder Situation der Beteiligung – sei es als Mitglied des Sicherheitsrats,52 als konsultierter Staat oder bereits im Rahmen der Zusammenarbeit mit den entsprechenden Unterstützungseinheiten des Sanktionsausschusses – zur Berücksichtigung ihrer sonstigen menschenrechtlichen Obliegenheiten verpflichtet. Mit erfolgter Listung wird ein aktives Tätigwerden insoweit weiter erschwert, es wird jedoch nicht gänzlich unmöglich gemacht. Im per Res. 1730 (2006) kodifizierten Streichungsverfahren kommen neben dem Staat, der die jeweilige Aufnahme in die Liste beantragt hatte, Heimatstaat und Aufenthaltsstaat eine wichtige Rolle zu.53 Unabhängig von der im Übrigen bestehenden innerstaatlichen Rechtsordnung folgt insoweit direkt aus entsprechenden Menschenrechtsgarantien eine Pflicht zum Tätigwerden in Gestalt des – untechnisch gesprochen – diplomatischen Schutzes. Auch wenn zumindest die Völkerrechtskommission (ILC) in ihren Arbeiten zum diplomatischen Schutz darunter lediglich das Tätigwerden gegenüber einem anderen Staat im Falle einer Völkerrechtsverletzung sehen will, kommt doch auch innerhalb des Sanktionsregimes das gleiche Prinzip zum Tragen: Durchsetzung und Garantie der (Menschen-)Rechte einzelner Staatsangehöriger durch den Heimatstaat (bzw. im Sanktionsregime auch durch den Aufenthaltsstaat) im eigenen Namen.54 Es ist freilich zuzugestehen, dass ungeachtet ___________ Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, in: AVR, Bd. 40 (2002), S. 215, 240, unter Verweis auf Laubenthal, K., Lexikon der Knastsprache (2001). 52 Vgl. Schilling, T., Der Schutz der Menschenrechte gegen Beschlüsse des Sicherheitsrats, in: ZaöRV, Bd. 64 (2004), S. 343, 345 ff. 53 Siehe zur diesbezüglichen Verpflichtung die Entscheidungen des EuG in den Rs. Ayadi (Fn. 1, Ziff. 144 ff.) und Hassan (Fn. 1, Ziff. 120 ff.) – dazu auch Aust/Naske (Fn. 1), S. 593. Tatsächlich berichtet das Monitoring Team von einer erfolgreichen Klage auf Verpflichtung des Belgischen Staates, einen Streichungsantrag zu stellen – Fourth report of the Analytical Support and Sanctions Monitoring Team appointed pursuant to Security Council resolutions 1526 (2004) and 1617 (2005) …, UN Doc S/2006/154 (10.03.2006), S. 45 (Annex, Ziff. 3). 54 Für die Möglichkeit der Ausübung diplomatischen Schutzes spricht sich auch Biehler, G., Individuelle Sanktionen der Vereinten Nationen und Grundrecht, in: AVR 41 (2003), S. 169, 180, aus.

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entsprechender Schutzaktivitäten der Grundkonflikt mit den weiterhin wirksamen Sanktionsanordnungen fortbesteht.

IV. Ansätze zur Lösung des Verpflichtungskonflikts Zur Lösung des Verpflichtungskonflikts der Mitgliedstaaten zwischen Umsetzung der Sanktionen einerseits und Beachtung der Menschenrechte andererseits, ist von Art. 103 UN-Charta auszugehen – unter Berücksichtigung des Charakters der konkurrierenden Verpflichtungen und der Fortentwicklung des Völkerrechts. Art. 103 ordnet einen Vorrang der auf der UN-Charta beruhenden Verpflichtungen an 55 und lautet: „Widersprechen sich die Verpflichtungen von Mitgliedern der Vereinten Nationen aus dieser Charta und ihre Verpflichtungen aus anderen internationalen Übereinkünften, so haben die Verpflichtungen aus dieser Charta Vorrang.“

Mittels dieser Vorschrift wird den entsprechenden Verpflichtungen faktisch ein höherer Rang eingeräumt, was Ansätze für einen Normenhierarchie im Völkerrecht erkennen (vgl. auch Art. 30 Abs. 1 WVRK) 56 und einzelne Kommentatoren sogar von der Verfassungsqualität der UN-Charta sprechen lässt. 57 Der Vorrang erstreckt sich ganz allgemein auf die „Verpflichtungen aus dieser Charta“, gilt aber nur im Falle des Widerspruchs und auch nur soweit, wie dieser Widerspruch besteht. Es handelt sich mithin lediglich um einen Anwendungs-, nicht um einen Geltungsvorrang. 58 Damit könnte der oben beschriebene Normenkonflikt aber prinzipiell als gelöst betrachtet werden, es sei denn, der in Art. 103 UN-Charta statuierte Anwendungsvorrang ist seinerseits eingeschränkt.

___________ 55 Dies übersehen de Wet / Nollkaemper (Fn. 42), S. 188, wenn sie allein aus den menschenrechtlichen Verpflichtungen eine Prüfungsbefugnis für Maßnahmen des Sicherheitsrats ableiten wollen. 56 Irmscher, T. H., Zur Normenhierarchie im Wirtschaftsvölkerrecht, in: Tietje, Ch. / Nowrot, K. (Hrsg.), Verfassungsrechtliche Dimensionen des Internationalen Wirtschaftsrechts, 2007, S. 21, 31. 57 Fassbender, B., The United Nations Charter As Constitution of the International Community, in: Columbia Journal of Transnational Law 36 (1998), S. 529, 577; Paulus, A., Die internationale Gemeinschaft im Völkerrecht, 2001, S. 308 f., wenngleich mit Vorbehalten. Siehe auch McNair, A., The Law of Treaties, 1961, S. 217 („constitutive character“). 58 So jedenfalls im Hinblick auf Bestimmungen, die im Widerspruch zu Resolutionen des Sicherheitsrats stehen, vgl. Bernhardt, R., in: Simma (Hrsg.), UN Charter, Art. 103, Rn. 16 a. E.

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1. Einschränkung durch ius cogens Eine Einschränkung dieser Art, auf die insbesondere das EuG verweist, 59 besagt, dass der Anwendungsvorrang der auf der UN-Charta basierenden Verpflichtungen nur so weit gehen könne, wie diese im Einklang mit ius cogens stehe. 60 Art. 103 UN-Charta steht, wie alle völker(vertrags)rechtlichen Normen unter dem Vorbehalt der Beachtung dieser zwingenden Normen. Daher kann auch das Sekundärrecht von dem in dieser Vorschrift angeordneten Anwendungsvorrang nur insoweit profitieren, wie es selbst im Einklang mit ius cogens steht. Das EuG hat im Falle des UN-Sanktionsregimes keinen derartigen Verstoß gesehen. 61 Es ist allerdings zu fragen, inwieweit die fraglichen Resolutionen überhaupt gegen zwingendes Recht verstoßen können. Wie oben bereits dargestellt, richten sich die entsprechenden Texte allein an die Mitgliedstaaten und fordern sie zur Verhängung entsprechender Sanktionen auf. Allein die prinzipielle Reichweite der Sanktionen und die Auswahl der von ihnen betroffenen Personen haben der Sicherheitsrat bzw. sein zuständiger Sanktionsausschuss zu verantworten, die innerstaatliche Um- und Durchsetzung erfolgt durch die Staaten. In den nach dieser Aufgabenteilung den UN-Organen zukommenden Aktivitäten könnte ein Verstoß gegen ius cogens freilich nur dann gesehen werden, wenn darin unmittelbar und zwingend eine Verletzung von ius cogens läge. Dies ist jedoch nicht ersichtlich, insbesondere bedürfen die Sanktionen für ihre Wirksamkeit noch der Umsetzung durch die Staaten. Allenfalls im Hinblick auf die Nichtverfügbarkeit eines Rechtsbehelfs gegen die Listung selbst ließe sich eine derart unmittelbare und zwingende Betroffenheit statuieren. Es entspricht jedoch der überwiegend vertretenen Ansicht, dass insoweit kein Verstoß gegen zwingendes Völkerrecht vorliegt. Insofern gilt zusammenfassend, dass ius cogens eine Schranke für die Verbindlichkeit von Maßnahmen des UN-Sicherheitsrats einschließlich bindender Resolutionen darstellt; die entsprechende Unanwendbarkeit setzte allerdings einen direkten und unmittelbaren Verstoß gegen ius cogens voraus, der hier so nicht vorliegt.

___________ 59

Siehe nur EuG, Rs. Yusuf (Fn. 1), Ziff. 277. Zur Bindung des Sicherheitsrats, richtiger eigentlich der Vereinten Nationen, an ius cogens siehe ausführlich de Wet / Nollkaemper (Fn. 42), S. 181 ff. Vgl. auch Hörmann (Fn. 1), S. 286. 61 Dazu nur Aust / Naske (Fn. 1), S. 608 f. 60

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2. Materielle Einschränkung durch immanente Schranken Weiterhin kommt eine materielle Einschränkung des Anwendungsvorrangs in Betracht, also der Vorbehalt der Übereinstimmung mit anderen Normen. Die Charta selbst ist hier nicht völlig klar, insbesondere enthält Art. 103 keinerlei Einschränkungen, sondern spricht allgemein von „Verpflichtungen aus dieser Charta“. Verpflichtungen solcher Art sind primär diejenigen, die sich direkt aus den Bestimmungen der Charta ergeben, einschließlich der in Art. 25 statuierten Verpflichtung zur Beachtung und Durchführung der Beschlüsse des Rats, die allerdings – nach einer Auslegung – sich nur auf Beschlüsse „im Einklang mit dieser Charta“ bezieht. 62 Es wird in diesem Zusammenhang diskutiert, inwieweit die Beachtung von materiellen Bestimmungen und insbesondere Menschenrechtsgarantien Voraussetzung für den Anwendungsvorrang der entsprechenden Resolutionen ist. Abgesehen von Art. 25 scheint die UN-Charta zunächst gegen eine solche Schlussfolgerung zu sprechen. Der Sicherheitsrat als „Großmachtdirektorium“ ist mit weitreichenden (Verpflichtungs-)Befugnissen im Bereich der Friedenssicherung ausgestattet und dabei weder ausdrücklich an die Beachtung besonderer anderer Rechtssätze gebunden noch explizit der Rechtskontrolle durch den Internationalen Gerichtshof oder eine andere Instanz unterworfen. Die Konzeption der Vereinten Nationen war – im Gegensatz zu der des Völkerbundes – eine viel eher politische denn rechtliche. Andererseits ist natürlich der Sicherheitsrat als Organ der Organisation der Vereinten Nationen unzweifelhaft an die Charta als Gründungsdokument gebunden. 63 Vom Rat erlassenes Sekundärrecht – und nichts anderes sind die Resolutionen mit bindender Wirkung – muss mit den primärrechtlichen Vorschriften übereinstimmen. Dies gilt zweifelsohne im Hinblick auf die Ermächtigungsnormen, bei deren Nichtbeachtung die entsprechenden Maßnahmen als ultra vires zu behandeln sind. 64 Bezogen auf die substanziellen Ziele und Prinzipien lässt sich demgegenüber trefflich streiten: Die Charta enthält etliche Bestimmungen zur Achtung und Förderung der Menschenrechte (siehe insbesondere die Präambel sowie Art. 1 (3), 55 und 56). Auch wenn der Sicherheitsrat somit an fundamentale Menschenrechtsgarantien als Bestandteil des internationalen ordre public gebunden ist, 65 lässt sich aus diesen Bestimmungen per se jedoch keine generelle Einschränkung der Befugnis des Sicherheitsrats ableiten, die zur Unwirksamkeit der von ihm verhängten Sanktionsmaßnahmen aus ___________ 62

Siehe de Wet / Nollkaemper (Fn. 42), S. 185 ff.; Hörmann (Fn. 1), S. 282 ff. Fassbender (Fn. 2), S. 471 ff. 64 So auch Hörmann (Fn. 1), S. 286 ff. 65 de Wet / Nollkaemper (Fn. 42), S. 175; Brownlie I., zit. bei Fassbender (Fn. 2), S. 473 f. 63

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Sicht der UN-Charta führen können: Eine Auslegung der fraglichen Chartabestimmungen dahingehend, dass sie die Verbindlichkeit spezifischer Menschenrechtsgarantien wie des Eigentumsrechts und des Rechts auf rechtliches Gehör verlangen, überschritte die Grenzen zulässiger Auslegung.

3. Menschenrechtskonforme Auslegung Ein weiterer Ansatz will die menschenrechtlichen Verpflichtungen der UNO zumindest indirekt berücksichtigen, die sich aus Völkergewohnheitsrecht und allgemeinen Rechtsgrundsätzen ergeben. 66 Rechtstheoretisch können derartige Bindungen den für die UN-Mitgliedstaaten bestehenden Normkonflikt nicht beeinflussen. Da allerdings gerade für die Weltorganisation eine durch zahlreiche Anerkenntnisse bestärkte Vermutung zu menschenrechtskonformem Agieren besteht, lässt sich diesen Verpflichtungen, der elementaren Tätigkeit der UNO für die Kodifizierung, Förderung und Durchsetzung der Menschenrechte und vor allem den erwähnten Chartabestimmungen zum Schutz und zur Förderung der Menschenrechte eine Vermutung entnehmen, dass die Beschlüsse des Sicherheitsrats im Zweifel menschenrechtliche Garantien berücksichtigten. Aus dieser „Menschenrechtsfreundlichkeit“ der Charta, unterstützt durch die Vermutung rechtmäßigen Verhaltens 67 und unter Berücksichtigung des Auslegungsgrundsatzes der Effektivität von Maßnahmen internationaler Organisation (effet utile), folgt als Auslegungsmaxime für Sicherheitsratsbeschlüsse, dass diese im Zweifel menschenrechtsfreundlich ausgelegt werden müssen. 68 Es kann jedoch hier nicht abschließend beantwortet werden, inwieweit aufgrund dieser Auslegungsmaxime der Menschenrechtsfreundlichkeit die dem Wortlaut nach uneingeschränkte Umsetzungspflicht einem Vorbehalt der Berücksichtigung menschenrechtlicher Mindeststandards unterliegt.

___________ 66

Siehe hierzu allgemein Fassbender (Fn. 2), S. 466 ff. Fassbender (Fn. 2), S. 468, bezieht sich insoweit auf das allgemeine Rechtsprinzip des Verbots des venire contra factum proprium; ähnlich de Wet / Nollkaemper (Fn. 42), S. 175. 68 Einen ähnlichen Ansatz verfolgt Payandeh, M., Rechtskontrolle des UN-Sicherheitsrates durch staatliche und überstaatliche Gerichte, in: ZaöRV, Bd. 66 (2006), S. 41, 58 ff. 67

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V. Das Problem der Nichtbefolgung der Sanktionen Nicht allein in theoretischer Hinsicht stellen sich intelligente Sanktionen als schwierig zu erfassendes Problem dar. Auch in tatsächlicher Hinsicht ergibt sich die Problematik der unzureichenden Beachtung und Umsetzung der Sanktionsverpflichtungen durch die UN-Mitgliedstaaten, wiewohl der Sicherheitsrat die Bedeutung der Umsetzung der Sanktionsverpflichtungen immer wieder stark hervorgehoben hat und entsprechende Überwachungsmechanismen eingeführt hat. 69

1. Nichtumsetzung der Sanktionsmaßnahmen gegen die Gelisteten Zunächst finden sich zahlreiche, zum Teil von der den 1267er-Ausschuss unterstützenden Monitoring Team gut dokumentierte Fälle, in denen die Staaten trotz entsprechender Umsetzung der Maßnahmen und Übernahme der Listungsentscheidungen die entsprechenden Sanktionen nicht praktisch zur Anwendung bringen. 70 Unlängst berichtete das Wall Street Journal über den Fall des türkischen Geschäftsmanns und Multimillionärs Yassin Qadi, der aufgrund enger Freundschaft zu Premierminister Erdogan trotz Listung und Einfrierens seines Vermögens es geschafft habe, die Verfügung über erhebliche Geldbeträge wiederzuerhalten; auch seien seine Vermögenswerte in Saudi-Arabien, wo er sich aufhalte, nicht eingefroren. 71 In einem weiteren Fall gab ein in Schweden lebender Gelisteter unumwunden zu Protokoll, er habe sich trotz des Reiseverbotes innerhalb Europas frei per PKW und Flugzeug bewegt und sogar drei Reisen nach Afrika bzw. in den Mittleren Osten unternommen.72 Auch in Deutschland bestehen offenbar erhebliche Defizite in der Umsetzung der Sanktionen: Bei einer nicht repräsentativen Umfrage unter 37 Rechtspflegern gaben nahezu zwei Drittel an, die Terrorlisten im Rahmen ihrer amtli___________ 69 Siehe hierzu insbesondere Resolution 1526 (2004) vom 30.01.2004, UN Doc. S/RES/1526(2004), v. a. Abs. 20 und Abs. 2 ff. Mit dieser Resolution wurde anstelle der bis dahin existierenden Monitoring Group ein Analytical Support and Sanctions Monitoring Team eingesetzt (s. Abs. 6 sowie den Anhang). 70 Siehe nur allgemein die Stellungnahme im Sixth report of the Analytical Support and Sanctions Monitoring Team appointed pursuant to Security Council resolutions 1526 (2004) and 1617 (2005) …, UN Doc. S/2007/132 (08.03.2007), Ziff. 22. 71 Simpson, G. R., Well Connected, A Saudi Mogul Skirts Sanctions, The Wall Street Journal, 29.08.2007, S. A1, http://online.wsj.com/article/SB1188350253349117 61.html (01.10.2007). 72 Sixth report of the Analytical Support and Sanctions Monitoring Team (Fn. 70), S. 25 (Box 6).

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chen Tätigkeit grundsätzlich nicht zu prüfen. 73 Hinzu kommen eigenmächtige, außerhalb des vorgesehenen Verfahrens erfolgte Freigaben von Vermögenswerten aus humanitären Gründen durch mitgliedstaatliche Behörden. 74

2. Nichtrespektierung der Sanktionsanordnung durch nationale Gerichte Aber nicht nur in der faktischen Umsetzung der Sanktionen kommt es zur Nichtbeachtung der einzelnen Resolutionen. Immer wieder entscheiden nationale Gerichte über die Rechtmäßigkeit einer bestimmten Listungsentscheidung 75 und setzen damit jedenfalls potenziell ihre Einschätzung an die Stelle derjenigen des Sanktionsausschusses bzw. des Sicherheitsrats. In einem Fall hatten Gerichten in den Niederlanden einen Antrag auf Auflösung einer gelisteten Einrichtung abgelehnt, sich dabei allerdings nicht explizit gegen die Listung gewandt, jedoch ebenso wenig die Einstufung als Terrororganisation übernommen. 76 Ein türkisches Gericht hatte demgegenüber entschieden, eingefrorene Vermögenswerte eines Gelisteten freizugeben. 77 Wie gesehen, hat das EuG bereits über mehrere Nichtigkeitsklagen gegen die Listung in europäisches Recht umsetzende Rechtsakte entschieden, sich bislang jedoch geweigert, in der Sache die Rechtmäßigkeit der verhängten Individualsanktionen – d. h. die jeweils angegriffenen Listungsentscheidungen – in Frage zu stellen. 78 Es hat allerdings für sich beansprucht, die Vereinbarkeit des Sanktionsregimes mit ius cogens zu prüfen, dabei aber im Ergebnis keinen Verstoß festgestellt. Darin liegt jedenfalls auch keine unbedingte Akzeptanz des Anwendungsvorrangs der UN-Maßnahmen mehr. 79

___________ 73

Al-Jumaili (Fn. 5), S. XVI. Vgl. nur Sixth report of the Analytical Support and Sanctions Monitoring Team (Fn. 70), Ziff. 48. 75 Vgl. zuletzt Sixth report of the Analytical Support and Sanctions Monitoring Team (Fn. 70), Annex I „Litigation by or relating to individuals on the Consolidated List“. 76 Fourth Report of the Analytical Support and Sanctions Monitoring Team appointed pursuant to Security Council resolutions 1526 (2004) and 1617 (2005) …, UN Doc S/2006/154 (10.03.2006), S. 46 (Annex, Ziff. 8 f.). 77 Sixth report of the Analytical Support and Sanctions Monitoring Team (Fn. 70), Annex I, Ziff. 8 (S. 39). 78 Siehe die in Fn. 1 zitierten Urteile. 79 So auch Cannizzaro (Fn. 18), S. 203. 74

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Es wird nicht generell für unzulässig gehalten, dass nationale Gerichte zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Verhängung von UN-Sanktionen befugt wären. 80 Tatsächlich wurden auch in anderen Zusammenhängen immer wieder Maßnahmen des Sicherheitsrats angegriffen. 81 So wird auch in Deutschland diskutiert, inwieweit Listungsentscheidungen, die von der EG übernommen und damit innerstaatlich verbindlich werden, möglicherweise als ausbrechende Rechtsakte im Sinne der Solange-Rechtsprechung 82 einer Rechtskontrolle durch das Bundesverfassungsgericht unterliegen könnten, um den Anforderungen aus Art. 19 Abs. 4 GG zu entsprechen. 83 Ebenso käme eine Kontrolle durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Betracht. 84 Ob nun tatsächlich oder potenziell, die Infragestellung der Berechtigung einzelner Listungsentscheidungen oder des ganzen Sanktionsregimes weist darauf hin, dass die Lösung des Verpflichtungskonflikts durch die nationalen Gerichte keineswegs einseitig unter Beachtung des Vorrangs der den Staat und damit auch seine Gerichte treffenden Verpflichtungen aus der UN-Charta erfolgt.

VI. Schlussfolgerungen Als Ergebnis ist mithin festzuhalten: Die Mitgliedstaaten der UN unterliegen Verpflichtungen aus der UN-Charta bzw. den entsprechenden Sicherheitsratsresolutionen, die im Widerspruch zu anderen völker- und verfassungsrechtlich begründeten Verpflichtungen zur Achtung der Menschenrechte stehen. Es wird weitestgehend – und sicherlich zutreffend – vertreten, dass eine Lösung dieses Konflikts dadurch erfolgen könne, dass die fraglichen menschenrechtlichen Anforderungen bereits auf der Ebene des Sicherheitsrats erfüllt werden. Dies setze namentlich voraus, dass ein effektives und gerichtsförmliches Verfahren vor einer unabhängigen Instanz zur Überprüfung der Listungs___________ 80

Alvarez, J., Judging the Security Council, AJIL 90 (1996), 12; Reinisch, A., Developing Human Rights and Humanitarian Law Accountability of the Security Council …, in: AJIL 95 (2001), S. 866, 867; de Wet / Nollkaemper (Fn. 42), S. 170; Scheinin (Fn. 25), Ziff. 39. Anders hingegen Tietje / Hamelmann (Fn. 1), S. 301, die in der Zurücknahme der Prüfung der Rechtmäßigkeit der Sanktionen durch den EuG eine konsequente Achtung der in Art. 103 zum Ausdruck kommenden Normenhierarchie sehen. 81 Hierzu im Einzelnen de Wet / Nollkaemper (Fn. 42), S. 193 ff. 82 Vgl. BVerfG 73, 339 (375 f.). 83 Fassbender (Fn. 20), S. 282 f.; Meyer (Fn. 6), S. 36 ff.; allgemein Dederer (Fn. 50), S. 601 ff. 84 Haratsch, A., Die Solange-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, in: ZaöRV, Bd. 66 (2006), S. 927, 941 ff.; Meyer (Fn. 6), S. 40 ff.

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entscheidung bestehe. 85 Dies entspräche überdies der Rechtsbindung der Vereinten Nationen an die gewohnheitsrechtlichen und als allgemeine Rechtsgrundsätze geltenden Menschenrechte. 86 Eine solche Veränderung des Verfahrens würde aber allenfalls indirekt zu einer Lösung des Verpflichtungskonflikts führen. Denn Umsetzung und Anordnung der Sanktionen im Einzelfall verbleiben Aufgabe des Staates bzw. der EG. Lediglich faktisch ist es die Listungsentscheidung des Sanktionsausschusses, die den Einzelnen bzw. die Einrichtung etc. in ihren Rechten beeinträchtigt, 87 da den Mitgliedstaaten insoweit keinerlei Umsetzungsermessen zusteht. Die juristische Konstruktion des Sanktionsregimes ist jedoch so ausgestaltet, dass in keinem Fall der Sanktionsausschuss bzw. Sicherheitsrat die Listung direkt verfügen kann – seine Entscheidung ist umsetzungsbedürftig (non-self executing) und nicht unmittelbar anwendbar. 88 Der Umsetzungsakt ist demgegenüber dem nationalen bzw. Gemeinschaftsrecht zuzuordnen und damit prinzipiell auch vor den entsprechend zuständigen Gerichten angreifbar. 89 Das Sanktionsregime entspricht damit der traditionellen Aufgabenteilung zwischen internationaler Organisation und ihren Mitgliedstaaten: Direkt auf das nationale Recht wirkende Exekutiv-, d. h. Durchgriffsbefugnisse stehen der internationalen Organisation nicht zu. Hierfür bedienen sie sich der Staaten, die insofern aber – ähnlich der Amtshilfe – für die Umsetzung und die Beachtung der übrigen anwendbaren Rechtssätze die Verantwortung tragen. Es kann für die Rechtsposition der Staaten daher prinzipiell offen bleiben, ob der Sicherheitsrat insoweit zusätzlich noch menschenrechtlichen Bindungen unterliegt. Dies mag für den vorliegenden Fall auch folgende Illustration verdeutlichen: Eine Änderung des Verfahrens auf der Ebene des Sicherheitsrats würde nicht zwingend bedeuten, dass ein Verpflichtungskonflikt vollständig und dauerhaft ausgeräumt wäre. Denn auch eine gerichtsförmliche Überprüfung könnte – aus Sicht der nationalen Gerichte – die Grundrechtspositionen der Betroffenen nicht hinreichend berücksichtigt haben. Dies gilt vor allem für diejenigen vorgeschlagenen Mechanismen (unabhängiges Expertengremium mit beratender Funktion 90 bzw. Einsetzung eines Ombudsmanns 91 ), die den Anforderungen an ___________ 85

Vgl. nur Fassbender (Fn. 32), S. 476; Cameron (Fn. 7), S. 196 ff. Vgl. zu diesem Aspekt detailliert Fassbender (Fn. 2), S. 463 ff. m. w. N. und oben Fn. 3. 87 Hierauf stellt Fassbender (Fn. 2), S. 467 f. m. w. N., entscheidend ab. 88 Dies erkennt auch Fassbender (Fn. 2), S. 468, an, für den aber das Fehlen eines Umsetzungsspielraums der Mitgliedstaaten entscheidend ist. 89 Biehler (Fn. 54), S. 175 ff.; Meyer (Fn. 6), S. 31 ff.; Lysen (Fn. 1), S. 301 f. Für die Gemeinschaftsgerichte so im Ergebnis auch Hörmann (Fn. 1), S. 323. 90 Vgl. Fassbender (Fn. 2), S. 480. 86

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ein Gerichtsverfahren im Sinne der menschenrechtlichen Texte nicht entsprechen. 92 Die Nichtverfügbarkeit eines eigenen Rechtsbehelfs kann nur über eine Hilfskonstruktion als menschenrechtskonform gerechtfertigt werden, wie sie das Bundesverfassungsgericht in seinen Entscheidungen Solange II 93 bzw. Bananenmarkt 94 erstmals entwickelt und der EGMR in der Bosphorus-Entscheidung 95 und ähnlich im Fall Waite and Kennedy 96 aufgegriffen hat: Nur wenn ein „im Wesentlichen gleicher“ (BVerfG) bzw. „gleichwertiger“ (EGMR) Grundrechtsschutz auf der Ebene der EG generell bestehe, bzw. soweit die von der nationalen Gerichtsbarkeit immune internationale Organisation ihrerseits hinreichende grundrechtskonforme Beschwerdeverfahren bereithalte, könne eine Zurücknahme des nationalen Rechtsschutzes erfolgen, ohne dass darin ein Grund- bzw. Menschenrechtsverstoß liege. 97 Aber auch hier gilt: diese Hilfskonstruktion setzt eine Vergleichbarkeit der Rechtsschutzmechanismen, und das bedeutet eine – nach allen Maßstäben unwahrscheinliche – gerichtsförmige Ausformung des UN-Verfahrens voraus. Mithin verbleibt den Mitgliedstaaten die doppelte Aufgabe der Umsetzung der Sanktionen und der Sicherstellung der Beachtung der Menschenrechte; daraus ergibt sich der hier beschriebene Verpflichtungskonflikt. Der Sicherheitsrat, dem in erster Linie 98 die friedens- und stabilitätssichernde Aufgabe übertragen ist, muss sich trotz Art. 103 UN-Charta dieses Konflikts bewusst sein, wenn er die Staaten zur Umsetzung der Sanktionen verpflichtet. 99 Dass er dies ist, zeigt der ausdrückliche Hinweis in Abs. 7 Resolution 1267 (1999), wonach die entsprechenden Sanktionsmaßnahmen „… ungeachtet etwaiger Rechte oder ___________ 91 So der Vorschlag Dänemarks, s. Fourth Report of the Analytical Support and Sanctions Monitoring Team appointed pursuant to Security Council resolutions 1526 (2004) and 1617 (2005) …, UN Doc. S/2006/154 (10.03.2006), Ziff. 46. 92 Anderes gilt freilich für ein internationales Gericht – dazu Fassbender (Fn. 2), S. 479; ders. (Fn. 20), S. 285 f. 93 BVerfGE 73, 339 (387). 94 BVerfGE 102, 147 (162 ff.). 95 EGMR (GK), Bosphorus Hava YollarÕ Turizm ve Ticaret Anonim ùirketi ./. Irland, Urt. v. 30.06.2005 (Nr. 45036/98), Ziff. 165. Siehe dazu nur Haratsch (Fn. 84). 96 EGMR (GK), Waite and Kennedy ./. Deutschland, Urt. v. 18.02.1999 (Nr. 26083/ 94), Ziff. 68, 72. 97 Siehe zu diesem Aspekt Dederer (Fn. 50), S. 596 ff. 98 Lysen (Fn. 1), S. 294; a. A. Fassbender (Fn. 2), S. 475, unter Verweis auf die „principal duty [of the Security Council] to maintain or restore international peace and security while, at the same time, respecting the human rights and fundamental freedoms of the targeted individuals to the greatest possible extent“. 99 Payandeh (Fn. 68), S. 62 f., betont das Bestehen eines gegenseitigen Loyalitätsverhältnisses, demzufolge der Sicherheitsrat eine Befolgung der Sanktionen nur insoweit erwarten kann, wie dies nicht zu einer Verletzung fundamentaler Rechtsprinzipien führe. Dem Sicherheitsrat obliege es, die Mitgliedstaaten nicht zum illegalen Handeln zu zwingen. Ähnlich auch Meyer (Fn. 6), S. 25; Bartelt / Zeitler (Fn. 20), S. 716.

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Pflichten aus einer internationalen Übereinkunft, einem Vertrag oder einer Lizenz oder Genehmigung …“ umzusetzen sind. Bezeichnenderweise enthält die mittlerweile maßgebliche Resolution 1735 (2006) keine vergleichbare Feststellung mehr, worin letztlich eine Anerkennung der Problemlage gesehen werden kann. Diese „klassische Struktur“ des Sanktionsmechanismus wird noch durch einen weiteren Aspekt betont: Trotz der mittlerweile bestehenden Möglichkeit der direkten Beschwerde zum Sanktionsausschuss sind es doch immer noch die Staaten – Heimat- und Aufenthaltsstaat –, die maßgeblich auf eine Streichung eines Betroffenen hinwirken können. 100 Diese „Wiedergeburt“ des diplomatischen Schutzes im Verfahrensrecht der Vereinten Nationen unterstreicht, dass es hier nicht in erster Linie um die Schaffung eines „internationalen Verwaltungsrechts“ 101 geht, sondern dass die politische Entscheidung weiterhin beim Sicherheitsrat, die praktische Umsetzung unter Berücksichtigung der weiteren rechtlichen Rahmenbedingungen hingegen bei den Mitgliedstaaten verbleiben soll. 102 Mit dieser Maßgabe ließe sich sogar der Aussage Camerons zustimmen, dass der Konflikt weder zwangsläufig im System begründet noch sonst unvermeidbar sei. 103 Der gleichwohl bestehende Verpflichtungskonflikt trifft die Mitgliedstaaten 104 und wird von ihnen in unterschiedlicher Weise gelöst 105 – unter Umständen auch mit der Überprüfung der Sanktionen durch nationale Gerichte. Mit der Nichtbefolgung der Sanktionen in Einzelfällen wird zwar das Sanktionsregime des Sicherheitsrats in Zweifel gestellt. 106 Dies ist jedoch das Risiko derartiger Maßnahmen und des daraus resultierenden Konflikts. Es wird jedoch in ___________ 100

Fassbender (Fn. 2), S. 442 f. So Tietje / Hamelmann (Fn. 1), S. 302. 102 Für ein Recht der Staaten, im Konfliktfall Maßnahmen des Sicherheitsrats zu überprüfen, auch de Wet / Nollkaemper (Fn. 42), S. 184; Cannizzaro (Fn. 18), S. 205 ff.; Scheinin (Fn. 25), Ziff. 39: „… if there is no proper or adequate international review available, national review procedures – even for international lists – are necessary. These should be available in States hat apply the sanctions …“ 103 So Cameron (Fn. 27), S. 28. 104 Hierauf stellt das EuG in den Entscheidungen Ayadi (Fn. 1, Ziff. 144 ff.) und Hassan (Fn. 1, Ziff. 120 ff.) bezogen auf die Behandlung eines Streichungsantrags ab; dazu auch Aust / Naske (Fn. 1), S. 593. 105 Die Regierungen, die sich an den vor dem EuG eingeleiteten Verfahren beteiligten, einigte offenkundig ihre Position, die fragliche Einschränkung menschenrechtlicher Garantien hinnehmen zu wollen; vgl. Cannizzaro (Fn. 18), S. 204. 106 Meyer (Fn. 6), S. 39; allgemein zu dieser Problematik de Wet / Nollkaemper (Fn. 42), S. 196 ff., die allerdings differenzieren zwischen der Nichtanerkennung des Sanktionsregimes generell und der Nichtanwendung einer bestimmten Sanktionsanordnung im Einzelfall. Eine Gefährdung der Autorität des Sicherheitsrats liegt aber auch in der menschenrechtswidrigen Ausgestaltung von Sanktionen – Hörmann (Fn. 1), S. 324. 101

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mehrfacher Hinsicht begrenzt: Die zu überschreitende Schwelle, offen im Widerspruch zu einer Verpflichtung des Sicherheitsrats zu entscheiden, ist hoch; Mitgliedstaaten steht als primärer Behelf zunächst die Befassung des Sicherheitsrats zu, so dass dieser in Kenntnis gesetzt wäre, und die Entscheidung läge jedenfalls bei einem unabhängigen Gericht. 107 Zudem kommt einer rein nationalen Entscheidung keine Rückwirkung auf die internationale Ebene zu, 108 obgleich der anzuwendende Maßstab nur ein Mindeststandard ist 109 und den völkerrechtlichen, auch für die Vereinten Nationen geltenden Standards entsprechen muss. Obwohl eine Auflösung des Widerspruchs zwischen verschiedenen Verpflichtungen aus Sicht der Wissenschaft anstrebenswert ist, weil nur so die Legitimität der in Streit stehenden Rechtsnormen dauerhaft gesichert werden kann, stellt ein solchermaßen ungelöster Konflikt keinen Einzelfall dar. Es sind zahlreiche weitere Verpflichtungskonflikte bekannt, 110 insbesondere im Verhältnis des internationalen Wirtschaftsrechts zum Umweltvölkerrecht oder zu den Menschenrechten. 111 Eine perpetuierte Divergenz zwischen verschiedenen rechtlichen Verpflichtungen – wenn auch unterschiedlicher Ebenen – wird ebenso deutlich in der Diskussion um die innergemeinschaftsrechtliche Konsequenz festgestellter Verstöße der Gemeinschaft gegen WTO-Recht. 112 Für intelligente Sanktionen kann nichts anderes gelten. Die Entwicklung des Sanktionsregimes – mit der Statuierung humanitärer Ausnahmen und der Einrichtung eines Streichungsverfahrens – macht deutlich, dass der aus dem Verpflichtungskonflikt und der damit korrespondierenden partiellen Nichtbefolgung folgende Druck zu freilich marginalen Änderungen des Sanktionsmechanismus geführt haben. Weitergehende Zugeständnisse an die menschenrechtlichen Anforderungen zu machen, ist der Sicherheitsrat derzeit offenkundig nicht bereit. 113 Er beharrt auf dem Primat der politischen Entscheidungsfreiheit über (menschen-)rechtliche Bindungen. 114 Die Sicherstellung letzterer überlässt er den Mitgliedstaaten, so dass Fälle der Nichtbefolgung jedenfalls faktisch hin___________ 107

de Wet / Nollkaemper (Fn. 42), S. 198 f. Cannizzaro (Fn. 18), S. 205. 109 Fassbender (Fn. 20), S. 275. 110 Inwieweit man hier tatsächlich von einer Fragmentierung des Völkerrechts sprechen kann, ist fraglich – siehe dazu im vorliegenden Kontext aber Aust / Naske (Fn. 1), S. 597 ff. 111 Dazu m. w. N. Irmscher (Fn. 56), S. 37 ff. 112 Siehe hierzu nur EuGH, Rs. C-377/02 (van Parys), EuZW 2005, 214 und Harings, EuZW 2005, 705. 113 Vgl. Fassbender (Fn. 2), S. 438. 114 Der von Cannizzaro (Fn. 18), S. 221 ff., geforderte Paradigmenwechsel ist also noch nicht erfolgt. 108

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genommen werden.115 Dies führt zwar nicht zu einer Derogation der aus den Ratsresolutionen folgenden Verpflichtungen nach rechtlichen Maßstäben. Es bestätigt aber einen Verpflichtungskonflikt, zu dessen pragmatischer Lösung nicht so sehr der Sicherheitsrat, sondern die Mitgliedstaaten jeweils im Einzelfall berufen sind.

___________ 115

So für die verfassungsrechtliche Perspektive auch Fassbender (Fn. 20), S. 283.

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I. Natürliches Gesetz 1. Zur Unveräußerlichkeit der Menschenrechte Für die unantastbare Würde jedes menschlichen Individuums – ob geboren oder ungeboren, ob gesund oder krank oder behindert, ob jung oder alt – und für die unveräußerlichen Menschenrechte hat sich Dieter Blumenwitz ein Leben lang in seinen Schriften und Vorträgen eingesetzt. Die in Art. 1 Abs. 2 des Grundgesetzes verwendete und für ihn in der Regel zu wenig beachtete „Unveräußerlichkeit“ spielte bereits in den vergangenen Jahrhunderten eine bedeutende Rolle. Sie besagt, dass die Menschenrechte auch dann nicht aufgehoben werden können, wenn das Volk auf sie verzichtete 1 . Menschenwürde und Unveräußerlichkeit der Menschenrechte sind nach christlichem Verständnis in der Gottesebenbildlichkeit des Menschen begründet. Die in der Bibel zugrunde gelegte Gottesebenbildlichkeit verweist auf die Auszeichnung des Menschen als Person mit Vernunftbegabung, freiem Willen und wahrhaftem Kulturauftrag. Seine unveräußerlichen Rechte wurzeln im Naturrecht, im natürlichen Gesetz, das ungeschriebenes Gesetz ist. Thomas von Aquin verbindet die natürliche Freiheit mit der Menschenwürde. Für ihn besteht die menschliche Würde darin, dass der Mensch von Natur aus frei und um seiner selbst willen existiert. Thomas ist der Auffassung, dass gegenüber denen, die an keinen Gott glauben, nur das Vernunftargument bleibe, dem sie sich beugen müssten. Der metaphysisch begründete Ansatz des Naturrechtsdenkens von Thomas von Aquin bildet so eine Brücke in unsere Zeit: Jeder Mensch ist ausgezeichnet durch Vernunft und Gewissen und damit mit Pflichten und Rechten, die unverlierbar und unverzichtbar sind. Das Christentum gab allerdings jenem Gedanken einer alles durchwaltenden Vernunft eine theologische Fundierung: Der Geist Gottes sei es, der die Welt geordnet hat 2 . ___________ 1 2

Vgl. Kant, I., Über den Gemeinspruch (Ausgabe W. Weischedel), 1974, S. 161. So Zippelius, R., Rechtsphilosophie, 2003, S. 94.

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2. Bekenntnis zur natürlichen Freiheit in Kodifikationen Im Corpus Juris Civilis finden wir eine Definition der Freiheit, die deren natürliche Herkunft anklingen lässt: 3 „Libertas est naturalis facultas eius quod cuique facere libet.“ Deutlicher bringt dann je eine Stelle in den Digesten und in den Institutionen zum Ausdruck, dass man von der natürlichen Freiheit des Menschen auszugehen habe. So wird Ulpianus der Satz zugeschrieben: 4 „Cum iure naturali omnes liberi nascerentur.“ Ähnlich heißt es in den Institutionen: 5 „... iure enim naturali omnes homines ab initio liberi nascebantur.“ Erst viele Jahrhunderte später war in der Virginia Bill of Rights von 1776 in section 1 zu lesen: 6 „That all men are by nature equally free and independent, and have certain inherent rights, of which, when they enter into a state of society, they cannot, by any compact, deprive or divest their posterity; namely, the enjoyment of life and liberty.“ Im Text der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 heißt es: 7 „We hold these truths to be selfevident, that all men are created equal; that they are endowed by their Creator with certain unalienable rights; that among these, are life, liberty, and the pursuit of happiness: That, to secure these rights, Governments are instituted ...“ 8 Die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 vertritt ebenfalls diese Auffassung, wenn sie in ihrem ersten Artikel zum Ausdruck bringt 9 , dass der Mensch frei und gleich an Rechten geboren ist 10 . Es handelt sich hier – im Gegensatz zur Virginia Bill of Rights – allerdings nicht um einen Rechtsetzungsakt, sondern um eine Verkündung der ideellen Grundlagen eines neu aufzubauenden Gemeinwesens 11 . Die französischen Grundrechte haben ___________ 3

Florentinus D.1.5.4. Ulpianus D.1.1.1.4. 5 Institutiones I.II.2. 6 Text: Swindler, W. (Hrsg.), Sources and Documents of United States Documents, Bd. 10, 1979, S. 68. 7 Text: Sheppard, F., The Constitutional Text-Book, 1856, S. 265. 8 Alexis de Tocqueville meint in „Über die Demokratie in Amerika“, Bd. 2, Ausgabe 1962, S. 109: „... die Menschen werden vollkommen frei sein, weil sie alle völlig gleich sind; und sie werden alle vollkommen gleich sein, weil sie alle völlig frei sind. Dies ist das Ideal, dem die demokratischen Völker nachstreben.“ 9 „Les hommes naissent et demeurent libres et égaux en droits“. Text: Duverger, M., Constitutions et documents politiques, 6éd. 1971, S. 9. 10 Allerdings hebt der folgende Satz diese Erklärung wieder auf, weil dort von „gesellschaftlichen Unterschieden“ die Rede ist, die nur im gemeinen Nutzen begründet sein können. 11 In den Vereinigten Staaten hat das Naturrecht lediglich als neue Verfassungstheorie einen tendenziell bereits bestehenden Zustand der Gesellschaft legitimiert. Das Naturrecht war also nicht die Theorie einer die gesellschaftliche Realität verändernden, sondern die Theorie einer das Bestehende erfolgreich schützenden politischen Bewegung. Demgegenüber war in Frankreich das Naturrecht theoretische Grundlage der re4

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mithin eine völlig andere Funktion als die nordamerikanischen Rechteerklärungen. Von den jüngeren Verfassungen hat sich das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in Art. 1 Abs. 2 zu den „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten“ bekannt und damit das rechtspositivistische Dogma der Weimarer Reichsverfassung, dass der Staat die Quelle allen Rechts ist, preisgegeben. Das Bundesverfassungsgericht hat unter Berufung auf Art. 1 GG gleich zu Beginn seiner Tätigkeit im Oktober 1951 erklärt, dass es die „Existenz überpositiven, auch den Verfassungsgesetzgeber bindenden Rechts anerkenne“ und zuständig sei, das gesetzte Recht daran zu messen 12 . An dieser Auffassung hat das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung festgehalten 13 . Das österreichische Recht verankert die naturrechtliche Qualität der Freiheit in § 16 ABGB: 14 „Jeder Mensch hat angeborene, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte, und ist daher als eine Person zu betrachten.“ Nach österreichischem Recht besteht gemäß § 17 ABGB eine Vermutung: „Was den angeborenen natürlichen Rechten angemessen ist, dieses wird so lange als bestehend angenommen, als die gesetzmäßige Beschränkung dieser Rechte nicht bewiesen wird.“ Auch das Schweizerische Bundesgericht erkennt den vorstaatlichen Charakter der Freiheitsrechte an, wenn es Grundrechte als garantiert betrachtet, die in der Bundesverfassung nicht ausdrücklich erwähnt sind 15 . Ungeschriebene Freiheitsrechte sind nach Auffassung des Bundesgerichts nämlich dann gegeben, wenn sie in engem Zusammenhang mit dem Menschenbild und dem demokratischen System der Verfassung stehen. Das Menschenbild der Verfassung ist aber aus der Verfassung nicht direkt ablesbar 16 , sondern in Vorstellungen enthalten, die vor der Verfassung bestehen und gelten. Schließlich ___________ volutionären Neugestaltung des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens und des Rechts. 12 BVerfGE 1, S. 1 ff. (18). 13 Vgl. BVerfGE 3, S. 225 ff. (231); 19, S. 206 ff. (220); 21, S. 73 ff. (83); 24, S. 367 ff. (389); 28, S. 243 ff. (261); 30, S. 173 ff. (193); 34, S. 269 ff. (287); 39, S. 1 ff. (67). Vgl. auch BVerwGE 49, S. 202 ff. (209); BGHSt 4, S. 375 ff. (376 f.); BGHZ 6, S. 270 ff. (275); 9, S. 83 ff. (89); 13, S. 265 ff. (297 f.); 16, S. 350 (353). – Vgl. ferner zum Naturrecht in der deutschen Rechtsprechung: Linsmayer, E., Das Naturrecht in der deutschen Rechtsprechung der Nachkriegszeit, Diss. iur. München 1973, S. 141 ff. Zum Naturrechtsgedanken in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs vgl. Weinkauff, H., Der Naturrechtsgedanke in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, in: Maihofer, W. (Hrsg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, 1962, S. 554 ff. 14 Text: Österreichisches BGBl. 118/2002. 15 Vgl. BGE 87 I, S. 114 ff. (117); 89 I, S. 92 ff. (98); 91 I, S. 480 ff. (485 f.); 95 I, S. 223 ff. (226); 100 Ia, S. 189 ff. (193); 101 Ia, S. 148 ff. (150); 102 Ia, S. 379 ff. (381); 104 Ia, S. 35 ff. (40). 16 Fleiner-Gerster, T., Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1995, S. 111.

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garantiert auch die türkische Verfassung von 198217 in Art. 12 „inherent fundamental rights and freedoms which are inviolable and inalienable“. Auf völkerrechtlicher Ebene bezeichnen die AEMR und der MRP in ihren Präambeln die Grundrechte als „unveräußerlich“. Sehr deutlich spricht sich die AMRK für den vorstaatlichen Charakter der Grundrechte aus, wenn sie in der Präambel verlautbart:18 „Recognizing that the essential rights of man are not derived from one’s being a national of a certain state, but are based upon attributes of the human personality ...“. Die Afrikanische Charta der Menschen- und Volksrechte übernimmt das Bekenntnis zu den den Menschen innewohnenden Rechten. Sie erklärt in der Präambel:19 „Recognizing ... that fundamental human rights stem from the attributes of human beings, which justifies their national and international protection ...“. Die Verankerung der naturrechtlichen Herkunft der Grundfreiheiten in der jüngsten völkerrechtlichen Menschenrechtskonvention belegt, dass die These vom vorstaatlichen Charakter der Grundrechte kein Relikt vergangener Überzeugungen ist. Der Gedanke von unantastbaren Rechten, die über der Verfassung stehen, ist allerdings nicht in allen Staaten umgesetzt worden. Im vom Positivismus stark geprägten Frankreich kann die verfassunggebende Gewalt uneingeschränkt die Verfassung revidieren. Dies wurde in der Entscheidung des Conseil Constitutionnel vom 2. September 1992 anerkannt. Dort heißt es: „Die verfassunggebende Gewalt ist souverän; sie ist frei, verfassungsrechtliche Bestimmungen in der Form, die sie für geeignet hält, aufzuheben, zu ändern oder zu ergänzen“. Ferner betrachtet sich der Conseil Constitutionnel für unzuständig, die Rechtmäßigkeit eines Verfassungsgesetzes zu überprüfen, gleichgültig ob dieses Gesetz durch das normale, in Artikel 89 der Verfassung vorgesehene Verfahren20 oder durch das umstrittene Verfahren des Referendums21 angenommen wurde.

___________ 17

Text: Prime Ministry, Directorate General of Press and Information. The Constitution of the Republic of Turkey. 18 Text: AJIL, Bd. 55, S. 537 ff. 19 Text: Rivista di diritto internazionale, Bd. 66, S. 988 ff. 20 Entscheidung des Conseil Constitutionnel vom 26.03.2003. 21 Entscheidung des Conseil Constitutionnel vom 06.11.1962.

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3. Naturrecht Die so oft beschworenen unveräußerlichen Rechte wurzeln im Naturrecht 22 . Darunter ist jene soziale Ordnung zu verstehen, die aus der Natur der Menschen allgemein gültige Normen abzuleiten sucht, die dem positiven Recht vorgegeben sind und mit der Vernunft erschlossen werden können. 23 Problematisch ist, wie ein solches Naturrecht erkannt werden soll und was es inhaltlich besagt, zumal sich dann auch die Frage stellt, wer die Kompetenz hat, den Inhalt eines solchen Rechts bestimmen zu dürfen. 24 Es ist der menschliche Verstand, der die Ordnung entdecken kann, nach der der menschliche Wille handeln muss, um den notwendigen Zielen des menschlichen Wesens zu genügen. Die Erkenntnis des Menschen über das natürliche Gesetz nimmt nach und nach mit dem Wachsen des sittlichen Bewusstseins zu 25 . Das Naturrecht ist also nicht unwandelbar. Eine praktische Erkenntnis, die alle Menschen auf natürliche und unfehlbare Weise gemeinsam haben, besteht darin, dass man das Gute tun und das Übel meiden muss. Wir erkennen, dass die Ermordung von Andersdenkenden, Andersgläubigen, Völkern und Volksgruppen, Greisen oder Kranken nicht Recht sein kann, wir verurteilen die Tötung von Menschen, nur weil sie das Land verlassen wollen, wir verabscheuen Grausamkeit, jede physische und psychische Verletzung des anderen, Denunziation der Eltern, Lüge im Dienst der Partei, auch dann, wenn Gesetze diese Handlungen als richtig und moralisch gerechtfertigt vorschreiben. Aus dem Naturrecht lässt sich auch auf Menschenrechte schließen, weil der Mensch eine Person ist, die über sich und ihre Handlungen allein entscheidet. Es gibt also Dinge, die dem Menschen zukommen, weil er Mensch ist. Weil wir das Vorrecht haben, der Welt des Geistes anzugehören, besitzen wir Rechte gegenüber den anderen Menschen und der Gesamtheit der Geschöpfe 26 . Das ist ___________ 22 Vgl. dazu Oestreich, G., Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriß, 1968, S. 47 ff.; Picht, G., Zum geistesgeschichtlichen Hintergrund der Lehre von den Menschenrechten, in: Delbrück, J. / Ipsen, K. / Rauschning, D. (Hrsg.), Recht im Dienst des Friedens. Festschrift für E. Menzel, 1975, S. 289 ff. 23 Vgl. Verdross, A., Statisches und dynamisches Naturrecht, 1971, S. 9; Schambeck, H., Naturrecht und Verfassungsrecht, in: Mayer-Maly, D. / Simons, P., Das Naturrechtsdenken heute und morgen. Gedächtnisschrift für René Marcic, 1983, S. 911 ff. (912). 24 Das führt Kelsen (Kelsen, H., Was ist Gerechtigkeit? 1953, S. 39) zur Aussage: „Es nimmt infolge dessen nicht wunder, daß die Vertreter von naturrechtlichen Ansätzen zu unterschiedlichen Wertmaßstäben gelangen: ‚Mit den auf einen Trugschluß gegründeten Methoden der Naturrechtslehre kann man eben alles und daher nichts beweisen‘.“ 25 Maritain, J., Die Menschenrechte und das natürliche Gesetz, 1951, S. 55 f. 26 Maritain (Fn. 25), S. 57.

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quasi die Präambel des natürlichen Gesetzes, es ist nicht dieses Gesetz selbst. Das natürliche Gesetz ist die Gesamtheit der Rechte, die der Mensch genießt. Der Mensch hat insbesondere das Naturrecht auf Leben, weil alle Menschen überleben wollen. Dasselbe natürliche Gesetz, das uns die Grundrechte zuteilt, schreibt auch unsere fundamentalen Pflichten vor, Pflichten, die der Mensch zu respektieren hat, die Dinge, die man tun und nicht tun soll. Die naturrechtlichen Prinzipien erlauben „ihrer Art nach schlussfolgernde Ableitungen nicht für alle Bereiche politischen Handelns, sondern nur für diejenigen, bei denen ein unmittelbarer ethisch-sittlicher Bezug in Frage steht“ 27 . Es muss ferner betont werden, dass das Naturrecht nur Grundsätze, aber keine Detailprogramme angeben kann. Die Gegner des Naturrechts 28 wenden gegen die Naturrechtslehre unter anderem ein, dass es die staatliche Autorität untergrabe, da an der Spitze des Staates nicht der Souverän stehe, sondern ein überstaatliches Recht, das sich jeder genauen Bestimmung entziehe und die Rechtssicherung gefährde. 29 Es ist daher nahe liegend, dass gerade in totalitären Staats- und Gesellschaftsordnungen prinzipiell die Existenz vorstaatlicher Rechte geleugnet wird, da der Staat sonst seine in Anspruch genommene Verfügungsmacht über den Menschen aufgeben würde. 30 Dies bedeutet, dass keine objektiven oder gar absoluten Werte anerkannt werden und der Staat allein die zu seiner Disposition stehenden Rechtswerte formuliert. Nach dieser Lehre des Rechtspositivismus gibt es keine angeborenen Rechte des Menschen, zumindest können sie nicht nachgewiesen werden. Als Recht gilt nur, was der Staat als Recht erklärt. 31 So heißt es ___________ 27 Böckenförde, E.-W., Kirchliches Naturrecht und politisches Handeln, in: Böckle, F. / Böckenförde, E.-W. (Hrsg.), Naturrecht in der Kritik, 1973, S. 99 ff. 28 Würtenberger, Th., Wege zum Naturrecht in Deutschland, in: ARSP, Bd. 38, S. 108 f., stellt die Frage, ob der Glaube an letzte unveränderliche Werte noch angesichts des Axioms des Historismus, wonach mit allen Lebensformen auch Recht und Gerechtigkeit einem tief greifenden geschichtlichen Wandel unterworfen sind, standzuhalten vermag. Historismus und der ihm zugrunde liegende Glaube an die Relativität aller geschichtlichen Werte sei die schärfste Klippe, die der Naturrechtslehre heute begegnet. 29 Vgl. dazu auch Würtenberger (Fn. 28), ARSP, Bd. 38, S. 108 ff. 30 Auch die konstitutionellen Verfassungen des 19. Jahrhunderts waren nicht bereit, von einer dem Menschen angeborenen Freiheit auszugehen. Die in ihnen enthaltenen Grundrechte sind folglich lediglich ein System von dem Staat aus freien Stücken gewährten Rechten, die jederzeit entzogen werden konnten. Auch die Weimarer Reichsverfassung betrachtet die in ihr verankerten Grundrechte nicht als vom Staate vorgefunden mit der Folge, dass im Frühjahr 1933, als durch die Verordnung des Reichspräsidenten vom 28.03.1933 (RGBl. I, S. 83) zum Schutz von Volk und Staat die verfassungsmäßigen Grundrechte suspendiert wurden, kaum verfassungsrechtliche Bedenken geäußert wurden. 31 Zur Frage, ob der Staat die Quelle allen Rechts ist, vgl. Cathrein, V., Recht, Naturrecht und positives Recht, 1964, S. 120 ff.

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im Kommentar zur Verfassung der DDR, 32 dass es der sozialistischen Grundrechtskonzeption fern liege, die Grundrechte aus überirdischen Geboten, aus überpositivem, dem Menschen und der menschlichen Gesellschaft vorgegebenem Recht oder ähnlichen metaphysischen Begründungen abzuleiten. Nach Ansicht der Rechtspositivisten ist Recht etwas „Gesetztes“, also von Menschen Gemachtes und Festgesetztes. Rechtspositivisten verwerfen spekulative Gedanken über ein in der Natur zu findendes Recht, das Menschen kraft ihrer Vernunft oder wie auch immer finden können. Recht gilt ihnen als geschöpft und erfunden, nicht als entdeckt und gefunden. Sie können damit auch nicht zwischen Recht und Gesetz unterscheiden, da ihrer Ansicht nach alle Gesetze Recht sind. Dieser Ansicht widersetzte sich der Geehrte stets mit Standhaftigkeit.

II. Natürliche Freiheit des Menschen 1. Grundsatz Der Mensch ist nach naturrechtlicher Auffassung frei. 33 Freiheit wird hierbei als äußere Freiheit verstanden, die als die Unabhängigkeit von der Willkür anderer Menschen 34 definiert werden kann. 35 Die Freiheit des Menschen ist zunächst absolut. Der Mensch ist von Natur aus keinen Schranken unterworfen und somit auch keinen ihm von außen auferlegten Gesetzen. Diese Freiheit steht dem Menschen mit dem Eintritt ins Leben als „Urbesitz“ zu, auf den er ein mindestens moralisches Recht hat. 36 Der Mensch hat diesen Urbesitz, weil er von Natur aus keinen Herrn über sich hat, also das ranghöchste Wesen der sinnfälligen Welt ist. 37 Die Unterteilung der Menschen in Herrscher und Be___________ 32

Vgl. Sorgenicht, K. / Weichelt, W. / Riemann, T. / Semmler, H.-J. (Hrsg.), Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik – Dokumente, Kommentar, Bd. 2, 1969, S. 16. 33 Zum Freiheitsbegriff vgl. Zippelius (Fn. 2), Rechtsphilosophie, S. 170 ff. Nach Bluntschli, J. C., Allgemeines Staatsrecht, 6. Aufl., 1965, S. 622, ist die Wurzel der Freiheit in der Menschennatur. 34 Schmalz, Th. v., Handbuch der Rechtsphilosophie, 1807, S. 8. 35 Schmalz v. (Fn. 34), S. 8, definiert innere Freiheit als Unabhängigkeit unseres Selbst von unserer eigenen Sinnlichkeit. Die Ethik ist die Wissenschaft dieser inneren Freiheit, die Jurisprudenz hingegen befasst sich mit der äußeren Freiheit; vgl. auch Schmalz v. (Fn. 34), S. 53. Zur Abgrenzung vgl. auch Bluntschli (Fn. 33), Staatsrecht, S. 167 f. 36 Vgl. Henkel, H., Einführung in die Rechtsphilosophie, 2. Aufl., 1977, S. 76. Seiner Ansicht nach hat der Mensch ein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, das Recht auf eine Freiheitssphäre und Privatsphäre. Der Gemeinschaft stehe nicht das Recht zu, den Einzelnen mit seiner gesamten Existenz zu beanspruchen; vgl. auch Henkel, S. 265. 37 Vgl. Marcic, R., Rechtsphilosophie, 1969, S. 268 f.

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herrschte ist nicht unmittelbare Folge der Natur, sondern die Folge des rationalen Prinzips der Arbeitsteilung in der Gesellschaft 38 . Diese umfassende, dem Menschen zustehende Freiheit lässt sich als die „Urfreiheit“ bezeichnen 39 .

2. Ideengeschichtliche Entwicklung a) Antike Die ideengeschichtliche Entwicklung der Freiheitsrechte als natürlicher Besitz des Menschen lässt sich bis in die griechische Antike zurückverfolgen. So lehren im 5. Jahrhundert vor Christi Geburt die Sophisten, dass das natürliche Recht höher und besser sei als die bestehenden positiven Gesetze 40 . Hippias’ Ansicht nach 41 entstehen Schranken zwischen den Menschen nur durch willkürliches Gesetz. Von Natur aus seien aber alle Menschen, alle Mitbürger einer Gemeinschaft, alle frei und gleich. Die Sophisten wagen folgerichtig, die Beseitigung der Sklaverei zu fordern. So ist von Alkidamos der Satz überliefert: 42 „Gott hat alle frei geschaffen. Niemand hat die Natur zum Sklaven gemacht.“ Alkidamos hat damit als erster die Freiheit als ein unveräußerliches Menschenrecht proklamiert 43 . Sophokles 44 schließlich lässt die Antigone sagen, dass das natürliche Recht nicht erst seit heute und gestern lebe, sondern ewig, und niemand wisse, wann es erschien. Es geht hierbei um die Idee eines überpositiven Rechts, also eines Rechts, das über das geschriebene, in Gesetzestexten fixierte Recht hinausgeht und unabhängig von diesem gültig ist. Bei Plato heißt es, der Mensch müsse im Staat alles lieber über sich ergehen lassen, als sich einer Staatsordnung zu fügen, die darauf angelegt ist, den Menschen zu verwahrlosen. 45 Aristoteles 46 betrachtet das von Natur Rechte als ur___________ 38 39

S. 9. 40

Vgl. Marcic (Fn. 37), S. 269. Gornig, G. H., Äußerungs- und Informationsfreiheit als Menschenrechte, 1988,

Vgl. Fleiner-Gerster (Fn. 16), S. 64; Oestreich, G., Die Entwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, in: Bettermann, K. A. / Neumann, F. / Nipperdey, H. C. (Hrsg.), Grundrechte, Bd. 1, HBd. 1, 1966, S. 1 ff. (10); Rudolf, W., Idee und Grundgehalt der Menschenrechte, in: Deutsches Institut für Bildung und Wissen (Hrsg.), Naturrecht, Menschenrechte, Offenbarung, 1968, S. 114 ff. 41 Platon, Protagoras, 337 c, in: Jubiläumsausgabe sämtlicher Werke zum 2400. Geburtstag, Bd. 1, 1974, S. 228. 42 Zitiert nach: Oestreich (Fn. 40), in: Bettermann u. a., Grundrechte, S. 11; vgl. auch Fleiner-Gerster (Fn. 16), S. 64. 43 Vgl. Sauter, J., Die philosophischen Grundlagen des Naturrechts, 1966, S. 203. 44 Sophocles, Antigone, Vers 456, in: Sophocles, Tragödien, hrsg. v. W. Schadewaldt, 1968, S. 85. 45 Nach Ansicht von Verdross, A., Abendländische Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1963, S. 25, konnten allerdings diese Keime von unverletzlichen Menschenrechten bei

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sprünglich, durch Brauch, Sitte und Gewohnheit gegeben. Es bestehe unabhängig von der zufälligen Meinung und Entscheidung des Menschen. Das geschriebene, gesetzliche Recht werde hingegen festgelegt für Fälle, die so oder so entschieden werden können. 47 Im alten Rom ist für Cicero 48 das Naturrecht als das wahre Gesetz schon vor allen Zeiten vorhanden, bevor es noch ein geschriebenes Recht gab, bevor eine staatliche Gemeinschaft gegründet wurde. Das Naturgesetz sei Gesetz der Gottheit und so für Gott und Menschen unbedingt verpflichtend. Kein Gesetzgeber könne dieses Naturrecht außer Kraft setzen oder von einer Verpflichtung ihm gegenüber entbinden. Durch Cicero wurde das Naturrecht aus einer Sache der Philosophie zu einer Sache des Rechtsdenkens und der Rechtsgestaltung. Seneca schreibt in „De Clementia“ 49 : es gebe doch etwas, das das allgemeine Recht der Lebewesen verbietet, es Menschen zuzufügen, obwohl Sklaven gegenüber alles erlaubt sei.

b) Philosophen der Scholastik Das Christentum hat maßgeblich zur Entwicklung der Menschenrechte beigetragen 50 . Das Verständnis des Menschen als Ebenbild Gottes, wie es Thomas von Aquin in seiner Summa theologica 51 sieht, führt allerdings zunächst zur Forderung der Gleichheit aller Menschen vor Gott. Nach Ansicht von Thomas ___________ Platon nicht zur Entfaltung kommen, da er nicht nur an der Sklaverei festhält, sondern auch die Aussetzung schwächlicher Kinder sowie die Verweigerung ärztlicher Hilfe für gebrechliche Personen gefordert hat. Trotz dieser Irrtümer bedurfte es aber nach Verdross nur mehr eines Schrittes, um von der platonischen Anthropologie aus zu den Menschenrechten vorzustoßen, da Platon wie kein Schriftsteller vor ihm die hohe Würde der Menschen erkannt habe. 46 Aristoteles, De rhetorica, Über I, cap. 13, in: Aristotelis opera cum Averrois commentariis, vol. II, 1962, S. 22 f. 47 Aber auch Aristoteles setzt sich für die Sklaverei ein. So sind für ihn die Menschen von Natur teils Freie, teils Sklaven. Er begründet dies mit geistigen und körperlichen Merkmalen, Aristoteles, Politik, Buch 1, 1254b–1255a, in: Politik, hrsg. v. E. Rolfes, 1958, S. 8 ff. 48 Cicero, M. T., Librorum de republica sex, liber III, cap. 22, § 39, hrsg. von C. F. W. Müller, 1849, S. 344. 49 Seneca, Libri de beneficiis et de Clementia, liber I, cap. 18,2, hrsg. v. Weidmann, 1876, S. 174. 50 Vgl. Kipp, H., Staatslehre, 2. Aufl. 1949, S. 213; Sauer, E. F., Staatsphilosophie, 1965, S. 181; Ahrens, H., Naturrecht oder Philosophie des Rechts und des Staates, Bd. 2, 1871, S. 57. – Zur Frage, ob unter Berücksichtigung der paulinischen Lehre von der Freiheit des Christen vom Gesetz auch das Naturrecht seine Geltung eingebüßt hat, vgl. Fuchs, J., Lex naturae,1955, S. 31 ff. 51 Vgl. Aquinatis, S. Thomae, Summa theologica, pars l, quaest. 93, Art. VI, Bd. l, hrsg. von Rubeis, Billuart u. a., o. J., S. 609 f.

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muss aber das wahre Königtum die Freiheit der Person, des Lebens und des Eigentums anerkennen. Von ihm stammt der Satz: „Homo naturaliter liber et propter se ipsum existens.“ 52 Allerdings ist weder von einem unantastbaren Menschenrecht der Gleichheit noch der Freiheit die Rede. Thomas befürwortet gar die Sklaverei aus ökonomischen Gründen 53 . Wilhelm von Ockham, der bedeutende Denker der Spätscholastik, drückt dann zum ersten Mal in aller Deutlichkeit aus, dass der Mensch frei geboren ist. 54 Der deutsche Kardinal Nikolaus von Kues bildet mit seinem Denken schließlich den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit 55 . Seiner Auffassung gemäß sind dem Menschen Rechte angeboren, die dem Gesetz vorgehen. Die Menschen seien von Natur aus frei 56 . Jede Konstitution hat seiner Meinung nach ihre Wurzel im Naturrecht und wenn sie ihm widerspricht, dann könne sie nicht gültig sein 57 . Die mittelalterliche katholische Scholastik findet noch einmal einen bedeutenden Vertreter in dem Jesuiten Francisco Suarez. Er stellt die Frage, ob aus der Natur der Sache heraus der Mensch anderen Menschen befehlen könne. Er bezweifelt dies und sieht den Grund des Zweifelns in der natürlichen Freiheit des Menschen 58 : Der einzelne Mensch sei von Natur aus frei, weil er von Gott geschaffen wurde 59 .

___________ 52

Vgl. Fleiner-Gerster (Fn. 16), S. 67. Vgl. Aquinatis, S. Thomae (Fn. 51), Summa theologica, pars 2/2, quaest. 183, Art. l, Bd. 4, S. 287. Auch in seiner Schrift über die Herrschaft des Fürsten, Buch l, Kap. l, Ausgewählte Schriften zur Staats- und Wirtschaftslehre des Thomas von Aquino, hrsg. von O. Spann, 1923, S. 14, unterscheidet Thomas grundsätzlich zwischen Sklaven und Freien durch Betonung ihrer gemeinsamen Gotteskindschaft. 54 In seiner Schrift „An Princeps pro suo succursu, scilicet guerrae, possit recipere bona ecciesiarum, etiam invito Papa“, cap. 6, in: Guillelmi de Ockham, Opera politica, accuravit J. G. Sikes, vol. 1 1940, S. 251, heißt es: „cum libertas naturalis, qua homines natura sunt liberi et non servi, non sit ab universis ablata mortalibus per potestatem gladii materialis.“ Auch an anderen Stellen seines Werkes bekennt sich Ockham zur natürlichen Freiheit des Menschen; vgl. Ockham, G. de (a. a. O.), An Princeps, cap. 6, vol. 1, S. 252, 253. 55 Vgl. Lübke, A., Nikolaus von Kues, 1968, S. 13 ff. 56 Cusa, N. de, De concordantia catholica, liber II, cap. XIV, § 127, in: Cusa, N. de, Opera omnia, Bd. 14, hrsg. von G. Kallen, 1964, S. 126. 57 Cusa (Fn. 56), De concordantia catholica, liber II, cap. XIV, § 127, S. 126. 58 Suarez, F., Tractatus de legibus, liber III, cap. l, § l, in: Suarez, Franciscus, Opera omnia, tomus 5, hrsg. von C. Berton, 1856, S. 176; vgl. ferner: cap. 2, § 3, S. 180; cap. 3, § 6, S. 183; ders., Defensio fidei catholicae, liber III, cap. 2, § 11, in: Suarez, Franciscus, Opera omnia, tomus 24, hrsg. von C. Berton, 1859, S. 209 f. Suarez schreibt dieses Werk im Auftrag des Heiligen Stuhls gegen die staatskirchlichen Auffassungen Jakobs I. von England. Es wurde in London verbrannt. 59 Vgl. Rommen, H., Die Staatslehre des Franz Suarez S. J., 1926, S. 175. 53

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c) Philosophen der Aufklärung Die Aufklärung betont Rechtsprinzipien, die für die amerikanische Unabhängigkeitsbewegung und die Französische Revolution von entscheidender Bedeutung werden und ihre Fruchtbarkeit bis heute bewahrt haben: Jeder Mensch sei frei geboren, es gebe angeborene Menschenrechte auf Leben, Freiheit und Eigentum 60 . Diese Rechte finden ihren Niederschlag in den amerikanischen und französischen Menschenrechtserklärungen von 1776 und 1789. Johannes Althusius schließt sich den Anschauungen der in den französischen Bürgerkriegen aufgetretenen Publizisten an, die aus dem Grundsatz der Volkssouveränität die revolutionäre Folgerung eines aktiven Widerstandsrechts gegen despotische Herrscher gezogen haben. Althusius begründet das Widerstandsrecht mit der angeborenen Freiheit 61 . Neben Althusius muss auch Hugo Grotius, der Begründer der rationalen Naturrechtslehre und Schöpfer der systematischen Völkerrechtswissenschaft, genannt werden. Er meint in seinem „De belli ac pacis libri tres“: 62 „wenn es heißt, dass die Freiheit den Menschen von Natur zusteht, so gilt dies nach dem Naturrecht, das den menschlichen Einrichtungen vorangegangen ist.“ Nach Ansicht von Grotius gibt es von Natur keine Sklaven 63 . Daraus könne aber nicht geschlossen werden, dass Sklaverei niemals sein dürfe. In England machen im 17. Jahrhundert die beiden Denker Thomas Hobbes und John Locke von sich reden. Für Thomas Hobbes ist das Naturrecht nicht ein Inbegriff von Normen, wie es die Naturrechtslehre seit Platon und Aristoteles vertritt, sondern „die Freiheit eines jeden, seine eigene Macht nach seinem Willen zur Erhaltung seiner eigenen Natur, das heißt seines eigenen Lebens, einzusetzen und folglich alles zu tun, was er nach eigenem Urteil und eigener Vernunft als das zu diesem Zweck geeignetste Mittel ansieht“ 64 . Hobbes lehrt, dass im Naturzustand die Menschen frei seien, jedermann ein Recht auf alles ___________ 60

Vgl. Cassirer, E., Die Philosophie der Aufklärung, 2. Aufl. 1932, S. 313 ff. Vgl. Althusius, J., Politica, 3. Aufl. 1614, cap. 18, § 18, S. 282. 62 So Grotius, H., Vom Recht des Krieges und des Friedens, Buch 2, Kap. 22, § 11, hrsg. von W. Schätzel, 1950, S. 385. 63 Später setzt sich Pufendorf mit diesem Satz („... daß niemand durch die Natur ein Knecht zu seyn gezwungen wäre“) auseinander, der seiner Meinung nach besser verstanden wird, wenn man sagt, „daß alle Menschen von Natur, ohne vorhergehende menschliche Anstalt, deshalben frey zu seyn geachtet werden, dieweil die Natur alle Menschen zu gleicher Würde hervorgebracht hat, da man im Gegentheil sich keine Knechtschafft ohne Ungleichheit einbilden kann.“ Pufendorf, S. v., Acht Bücher vom Natur- und Völckerrechte, Buch 3, 1711, Kap. 2, § 8, S. 587. 64 Hobbes, Th., Leviathan, Kap. 14, hrsg. von W. Hennis und H. Maier, 1966, S. 99; vgl. auch Kap. 21, S. 163. 61

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habe, selbst auf den Körper eines anderen 65 . Jeder habe die Fähigkeit, von seinen Kräften beliebigen Gebrauch zu machen. Da nun aber alle Menschen die gleiche Fähigkeit hätten, bestehe im Naturzustand ein „bellum omnium contra omnes“ 66 . Differenzierter als bei Hobbes ist die Vorstellung vom Status naturalis bei John Locke, der als eigentlicher Begründer der neuzeitlichen Philosophie der Aufklärung gilt. Er befasst sich in grundlegender Weise mit den Fragen der Grenzen der Staatsgewalt und zählt zusammen mit John Milton zu den Schöpfern der klassischen Freiheitsrechte 67 , der Rechte auf Leben, Freiheit und Eigentum. In der Schrift „Two Treatises of Government“ geht Locke davon aus, dass der Mensch von Natur aus frei ist. Es sei ein Zustand „vollkommener Freiheit“ 68 , der jedoch „kein Zustand der Zügellosigkeit“ 69 sei. Der Mensch habe in diesem Zustand eine unkontrollierbare Freiheit, über seine Person und seinen Besitz zu verfügen, er habe dagegen nicht die Freiheit, sich selbst oder irgendein in seinem Besitz befindliches Lebewesen zu vernichten, wenn es nicht ein edlerer Zweck als seine bloße Erhaltung erfordert. Die natürliche Freiheit des Menschen liege darin, von jeder höheren Gewalt auf Erden frei, nicht dem Willen oder der gesetzgebenden Gewalt eines Menschen unterworfen zu sein, sondern einzig und allein das Naturrecht als Vorschrift zu haben 70 . John Locke beeinflusst mit seiner Lehre auch die Verfasser der Virginia Bill of Rights und der amerikanischen Menschenrechtserklärung 71 . Auf dem europäischen Kontinent kommt in der Philosophie von Benedikt Spinoza 72 der Freiheit eine grundlegende Bedeutung zu. Er stützt seine Forderungen nach Unabhängigkeit der Vernunft von der Theologie auf das natürliche Recht des Menschen, frei über alles zu urteilen und daraus Folgerungen zu ziehen. In Deutschland vertreten die großen Philosophen und Juristen Samuel Pufendorf, Gottfried Wilhelm Leibniz, Christian Thomasius und Christian Wolff die These der natürlichen Freiheit des Menschen. Nach der Lehre von Pufen___________ 65

Hobbes (Fn. 64), Leviathan, Kap. 14, S. 99. Vgl. Hobbes (Fn. 64), Leviathan, Kap. 13, S. 94 ff. (96). 67 So Oestreich (Fn. 40), in: Bettermann u. a., Grundrechte, S. 31. Vgl. auch Strauss, L., Naturrecht und Geschichte, 1955, S. 171; vgl. auch Ryffel, H., Philosophische Wurzeln der Menschenrechte, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Bd. 70, S. 407 ff. 68 Locke, J., Zwei Abhandlungen über die Regierung, Buch 2, § 4, hrsg. von W. Euchner, 1967, S. 201. 69 Locke (Fn. 68), Zwei Abhandlungen über die Regierung, Buch 2, § 6, S. 202. 70 Locke (Fn. 68), Zwei Abhandlungen über die Regierung, Buch 2, § 22, S. 215. 71 Vgl. Coing, H., Grundzüge der Rechtsphilosophie, 4. Aufl. 1985, S. 35. 72 Spinoza, B., Tractatus theologico-politicus, Kap. 20, hrsg. von G. Gawlick und F. Niewöhner, 1979, S. 602 ff. 66

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dorf haben alle Menschen von Geburt an die gleiche Freiheit 73 . Die Menschenwürde komme allen Menschen im gleichen Maße zu, jeder habe seinen Mitmenschen als einen von Natur aus Gleichen zu achten und zu behandeln 74 . Aus dieser naturrechtlichen Gleichheit folge nun die naturrechtliche Freiheit aller Menschen, denn da die Natur alle Menschen gleich geschaffen habe, müssen sie auch alle als von Natur aus frei angesehen werden 75 . Sklaven von Natur, wie es die Lehre von Aristoteles behauptet, gebe es nicht 76 . Auch nach Pufendorfs Ansicht lebten die Menschen ursprünglich im staatenlosen Zustand frei und gleich 77 . Jedoch sei dieser Zustand – im Gegensatz zu Hobbes – ein friedlicher gewesen 78 , weil er eben vom Naturgesetz beherrscht war. 79 Spätestens seit Pufendorf beziehen sich moderne Naturrechtler bei der Naturrechtskonstruktion nicht mehr auf einen göttlichen Ursprung des Naturrechts. Die Schöpfungsordnung ist bei Pufendorf naturalisiert: Sie ist „bezogen auf den Menschen ... ein Komplex aus Vernunft, Trieb und Umweltbedingungen“ 80 . Demgemäß ist das Naturrecht nicht mehr das Resultat einer göttlichen Ordnung, sondern das Resultat von Vernunfterwägungen aufgrund einer anthropologisch zu bestimmenden Vernunft- und Triebstruktur des Menschen unter Einbeziehung seiner spezifischen Umweltbedingungen. Die Normen des Natur___________ 73 Vgl. Pufendorf (Fn. 63), Vom Natur- und Völckerrechte, Buch 3, Kap. 2, § 8, S. 587; ferner: Buch l, Kap. 6, § 15, S. 180; Buch 2, Kap. l, § 8, S. 259; Buch 2, Kap. 2, § 3, S. 269; § 4, S. 277; Buch 3, Kap. 2, § 8, S. 587. 74 Vgl. Pufendorf (Fn. 63), Vom Natur- und Völckerrechte, Buch 3, Kap. 2, §§ l, 2, S. 568 ff. 75 Vgl. Pufendorf (Fn. 63), Vom Natur- und Völckerrechte, Buch 3, Kap. 2, § 8, S. 587. 76 Vgl. Pufendorf (Fn. 63), Vom Natur- und Völckerrechte, Buch 3, Kap. 2, § 8, S. 588. 77 Vgl. Pufendorf (Fn. 63), Vom Natur- und Völckerrechte, Buch 2, Kap. 2, § l, S. 261 ff. 78 Vgl. Pufendorf (Fn. 63), Vom Natur- und Völckerrechte, Buch 2, Kap. 2, § 11, S. 297 ff.; ders., De officio hominis et civis iuxta legem naturalem libri duo, liber 2, cap. l, §§ l ff., in: The Classics of International Law, hrsg. von J. B. Scott, 1964, S. 89 ff.; hier beschreibt Pufendorf den Naturzustand ausführlich. 79 Pufendorfs Thesen hinterlassen auch in Nordamerika einen nachhaltigen Eindruck. So beginnt John Wise das naturrechtliche Kapitel seiner Kampfschrift für eine demokratische Kirchenverfassung mit den Worten: „I shall consider Man in a state of Natural Being, as a Free-Born Subject under the Crown of Heaven, and owing Homage to none but to God himself.“ Im Anschluss daran folgen fast wörtlich die Gedanken Pufendorfs – den Wise als „Chief Guide and Spokes-man“ bezeichnet – zur Menschenwürde, zur natürlichen Gleichheit und Freiheit der Menschen; vgl. Wise, J., A Vindication of the Government of New England Churches Drawn from Antiquity, 1717, S. 32. Pufendorf wird auf diesem Umwege auch ein Einfluss auf die amerikanischen Menschenrechtserklärungen nachgesagt (Welzel, H., Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs, 1958, S. 49 Fn. 62 a), obgleich bei Pufendorf von einer Einschränkung der staatlichen Gewalt durch Freiheitsrechte noch nicht die Rede ist. 80 Euchner, W., Naturrecht und Politik bei John Locke 1979, S. 17.

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rechts sind nicht mehr Teil eines ewigen göttlichen Gesetzes, des lex aeterna, „sondern eine rationale Konstruktion der Vernunft auf der Grundlage der menschlichen Trieb- und Vernunftnatur“ 81 . Leibniz meint in seiner Schrift „Meditation sur la notion commune de la justice“, dass selbst dann, wenn er zugeben würde, dass es vom Standpunkt der natürlichen Vernunft ein Recht der Sklaverei unter den Menschen gebe, ein anderes, stärkeres Recht sich dem Missbrauch dieses Rechts widersetzen würde 82 . Es sei dies „das Recht der vernunftbegabten Seelen, die von Natur und unveräußerlich frei sind, d. h. das Recht Gottes, der der oberste Herr der Körper und Seelen ist und unter dem die Herren die Mitbürger ihrer Sklaven sind, da diese im Reiche Gottes ebenso gut wie jene das Bürgerrecht genießen“ 83 . Der Philosoph und Jurist Thomasius ergänzt die von Pufendorf entwickelte Lehre von den Pflichten des Menschen 84 , indem er diesen ursprünglichen Pflichten einige als „angeboren“ bezeichnete Rechte zur Seite stellt, die Pufendorf nur am Rande erwähnt. Thomasius knüpft hierbei an die von Pufendorf getroffene Unterscheidung zwischen dem natürlichen Stand und dem hinzugekommenen Stand an und spricht dementsprechend von angeborenen Rechten, den „iura connata“, und erworbenen Rechten, den „iura acquisita“ 85 . Damit wird erstmals der Begriff „angeborenes Recht“ gebraucht, obwohl es die Idee des angeborenen Rechts schon vor Thomasius gibt 86 . Christian Wolff unterscheidet wie Thomasius zwischen „iura connata“ und „iura acquisita“. Da nach Ansicht von Wolff die angeborenen Pflichten aller Menschen gleich seien 87 , seien alle Menschen von Natur aus gleich 88 . Wenn nun aber alle Menschen gleiche Rechte hätten, dann folge daraus, dass niemand ein Recht über den anderen habe. Denn sollte der eine ein Recht über den anderen haben, dann müsste dies auch umgekehrt gelten. Da dies aber widersinnig sei, könne von Natur aus niemandem ein Recht über die Handlungen des ande___________ 81

Euchner (Fn. 80), S. 28. Leibniz, G. W., Méditation sur la notion commune de la justice, in: Gottfried Wilhelm Leibniz, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, Bd. 2, hrsg. von E. Cassirer, 3. Aufl. 1966, S. 506 ff. (515 f.). 83 Leibniz (Fn. 82), Méditation, S. 516. 84 Vgl. Pufendorf (Fn. 63), De officio hominis et civis. liber l, cap. 4, S. 24 ff.; liber l, cap. 5, S. 31 ff. 85 Thomasius, Ch., Fundamenta juris naturae et gentium, 4. Aufl. 1718, liber l, caput 5, § 11, S. 148; ders., Institutiones jurisprudentiae divinae, 7. Aufl. 1720, liber l, caput l, § 114, S. 21. 86 Bachmann, H.-M., Die naturrechtliche Staatsrechtslehre Christian Wolffs, 1977, S. 98. 87 Wolff, Ch., Jus naturae, pars l, cap. l, § 80, edidit M. Thomannus (Bd. 24 der gesammelten Werke von Ch. Wolff, II. Abteilung, Lateinische Schriften), 1968, S. 52. 88 Wolff (Fn. 87), Jus naturae, pars l, cap. l, § 80, S. 52. 82

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ren zustehen 89 . Wolff schließt daraus: 90 „Die Unabhängigkeit bey den Handlungen von dem Willen eines anderen, oder die Einrichtung seiner Handlungen, nach seinen eigenen Willen wird die Freyheit (libertas) genannt. Von Natur sind also alle Menschen frey.“ 91 Zur Konkretisierung der dem Menschen gegebenen Freiheit entwickelt Wolff ein ganzes System individueller angeborener Rechte. Er wird somit zum eigentlichen Begründer eines Katalogs der Menschenrechte. Als einer der Wegbereiter der französischen Revolution gilt der französische Schriftsteller und Philosoph Jean-Jacques Rousseau. Er stellt in seiner Schrift über den Gesellschaftsvertrag 92 die Prinzipien seiner Staatslehre dar. Für ihn sind die Grundlagen der Gesellschaft Freiheit und Gleichheit. Das erste Buch seines Werkes über den Gesellschaftsvertrag beginnt mit dem Satz: „L’homme est ne libre, et par-tout il est dans les fers.“ An anderer Stelle meint er 93 , auf seine Freiheit verzichten heiße, auf seine Menschheit, die Menschenrechte, ja selbst auf seine Pflichten verzichten. Eine solche Entsagung sei mit der Natur des Menschen unvereinbar.

d) Philosophen des deutschen Idealismus Da das Recht nur die Aufgabe habe, die Freiheit des Menschen zu schützen, ist nach Ansicht von Kant das einzige subjektive Naturrecht die „Freiheit (Unabhängigkeit von eines anderen nöthigender Willkür), sofern sie mit jedes Anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann“94 . ___________ 89 Wolff, Ch., Grundsätze des Natur- und Völckerrechts, § 76, S. 47; § 834, hrsg. von M. Thomann (Bd. 19 der gesammelten Werke, I. Abteilung, Deutsche Schriften), 1980, S. 612; § 835, S. 613 f. 90 Wolff (Fn. 89), Grundsätze des Natur- und Völckerrechts, § 77, S. 47 f.; vgl. auch Wolff (Fn. 87), Jus naturae, pars l, cap. l, § 146, S. 88. 91 Kritisch zur Herleitung der Freiheit aus der Gleichheit: Bachmann (Fn. 77), S. 101 ff. 92 Rousseau, J.-J., Contrat social, livre l, chapitre l, in: Œuvres complètes de J.-J. Rousseau, tome VI, hrsg. von Dalibou, 1824, S. 4. Das Werk „Contrat social“ wird in Genf öffentlich verbrannt; vgl. Reibstein, E., Volkssouveränität und Freiheitsrechte, Bd. II, 1972, S. 202. 93 Rousseau (Fn. 92), Contrat social, livre l, chapitre 4, S. 12. 94 Kant, I., Die Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Eintheilung der Rechtslehre B, in: Kant’s Werke, Bd. VI, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, 1914, S. 237; vgl. auch Kant (a. a. O.), Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Einleitung in die Rechtslehre, § C, S. 230. Kant, Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Einleitung in die Rechtslehre. Das angeborene Recht ist nur ein einziges, S. 237. Vgl. auch dort S. 238, wo Kant vom „angeborenen Recht der Freiheit“ spricht; vgl. ferner: Metaphysik der Sitten, § 47, S. 316.

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Die Freiheit sei das „einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht“ 95 . Für Kant sind Menschenrechte wie Freiheit und Gleichheit einerseits Prinzipien a priori 96 , auf die sich jeder positivrechtliche Zustand gründet, andererseits hänge alles Recht von den Gesetzen ab 97 . Das bedeutet, dass wegen der inhaltlichen Unbestimmtheit von Freiheit und Gleichheit die Konkretisierung dieser Prinzipien erst im Gesetzgebungsprozess erreicht wird. Unter dem Eindruck Kants und der Französischen Revolution entwickelt Johann Gottlieb Fichte ein umfassendes System von Menschenrechten. In seiner Jugendschrift „Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europens, die sie bisher unterdrückten“ geht Fichte von unveräußerlichen Menschenrechten aus: 98 „Der Mensch kann weder ererbt, noch verkauft, noch verschenkt werden; er kann niemandes Eigenthum seyn, weil er sein eigenes Eigenthum ist und bleiben muss. Er trägt tief in seiner Brust einen Götterfunken, der ihn über die Thierheit erhöht und ihn zum Mitbürger einer Welt macht, deren erstes Mitglied Gott ist, – sein Gewissen. Dieses gebietet ihm schlechthin und unbedingt – dieses zu wollen, jenes nicht zu wollen; und dies frei und aus eigener Bewegung, ohne allen Zwang außer ihm.“ Der Mensch ist seiner Ansicht nach „frei und muss frei bleiben; nichts darf ihm gebieten als dieses Gesetz in ihm“ 99 . Er habe ein Recht zu allem, was durch dieses alleinige Gesetz nicht verboten ist, er habe ein Recht zu den Bedingungen, unter denen allein er pflichtmäßig handeln kann, und zu den Handlungen, die seine Pflicht erfordert. Solche Rechte seien nie aufzugeben, sie seien unveräußerlich 100 . Nach Ansicht von Fichte ist der Mensch aber nur im Naturzustand durch keine äußeren Verträge gebunden und bloß unter dem Gesetze seiner Natur stehend. 101 ___________ 95 Gleichwohl beschränkt Kant die Ausübung der Rechte auf wenige ehrbare Bürger; nicht dazu gehörten „der Geselle bei einem Kaufmann oder bei einem Handwerker; der Dienstbote …, der Unmündige …, alles Frauenzimmer und überhaupt jedermann, der nicht nach eigenem Betrieb, sondern nach der Verfügung Anderer … genöthigt ist, seine Existenz … zu erhalten“, vgl. Kant (Fn. 94), Metaphysik der Sitten, § 46, S. 314. 96 Kant (Fn. 1), Über den Gemeinspruch, S. 150. 97 Kant, I., Die Metaphysik der Sitten (Ausgabe W. Weischedel), 1974, S. 464. 98 Fichte, J. G., Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europens, die sie bisher unterdrückten, in: Johann Gottlieb Fichte’s sämmtliche Werke, hrsg. von J. H. Fichte, Bd. 6, 1845, S. 11; vgl. auch Fichte, J. G., Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publicums über die französische Revolution, Buch l, Kap. l, in: Johann Gottlieb Fichte’s sämmtliche Werke, hrsg. von J. H. Fichte, Bd. 6, 1845, S. 37 ff. (117); Buch l, Kap. 5, S. 233. 99 Fichte (Fn. 98), Zurückforderung der Denkfreiheit, S. 12. 100 Fichte (Fn. 98), Zurückforderung der Denkfreiheit, S. 12. 101 In seinen späteren Werken hingegen versteht Fichte Urrechte nicht mehr im Sinne eines vorstaatlichen Rechts, sondern als positives Recht des Staates: „Es giebt keinen Stand der Urrechte und keine Urrechte des Menschen. Wirklich hat er nur in der Gemeinschaft mit Anderen Rechte, wie er denn ... überhaupt nur in der Gemeinschaft mit

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In wissenschaftlichen Abhandlungen des 19. Jahrhunderts wird der naturrechtlichen Verankerung der Menschenrechte teilweise noch große Aufmerksamkeit geschenkt 102 . Es tritt aber neben die naturrechtliche aufklärerische Vorstellung des Menschen mit seinen angeborenen Rechten die Auffassung des juristischen Positivismus, die sich ganz von der vorstaatlichen Verankerung der Menschenrechte löst 103 . Im Hegelschen Rechtsbegriff wird die Funktion des Naturrechts, die Freiheit des Menschen zu begründen, schließlich aufgehoben 104 . Die Lösung der Freiheit von ihrer Verankerung im Naturrecht gründet in Georg Wilhelm Friedrich Hegels Bestimmung der Freiheit als Geist. Die Freiheit sei als „Substanz des Geistes“ 105 der zur Freiheit unfähigen Natur entgegengesetzt. Die Natur zeige in ihrem Dasein keine Freiheit, sondern Notwendigkeit und Zufälligkeit 106 . Die Freiheit sieht Hegel aber nicht nur nicht im Naturrecht, sondern auch nicht im Staatsrecht verankert.

3. Einschränkung der Urfreiheit Es lehrt nicht nur die Biologie, dass der Mensch von Natur ein soziales Wesen ist. Nur in Gemeinschaft mit anderen kann der Mensch seine körperlichen und geistigen Anlagen entfalten. Verdross 107 weist darauf hin, dass sich der Mensch erst nach seiner Reife von der Gemeinschaft unter besonders günstigen klimatischen Bedingungen lösen und als Einsiedler zurückziehen könnte, er aber dann weiter vom Geiste lebe, den er in der Gemeinschaft empfangen hat. ___________ Anderen gedacht werden kann.“ Ein Urrecht sei daher eine bloße Fiktion, aber sie müsse „zum Behuf der Wissenschaft, nothwendig gemacht werden“. 102 Vgl. Ahrens, H., Menschenrechte, in: Bluntschli, J. C. / Brater, K., Deutsches Staatswörterbuch, Bd. 6, 1861, S. 602; Rotteck, C. v., Freiheit, in: Rotteck, Carl von / Welcker, Carl, Staats-Lexikon der Staatswissenschaften, Bd. 6, o. J., Stichwort „Freiheit“, S. 60 ff. (62 f.); Pfizer, P., in: Rotteck, C. v. / Welcker, C., Staats-Lexikon der Staatswissenschaften, Bd. 15, 1843, Stichwort „Urrechte oder unveräußerliche Rechte“, S. 610 ff.; aber auch Hugo, G., Lehrbuch des Naturrechts, 1819, S. 77; Schmalz v. (Fn. 34), S. 19 ff., 42 ff., 63 ff., 65; Ahrens (Fn. 50), S. 17 ff., 61. 103 So weist die lexikalische Literatur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Begriffsvariante „natürliche Freiheit“ nicht mehr auf. Darauf weist Klippel, D., Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts, 1976, S. 117 f., hin; vgl. dort Fn. 15. Lasson, A., System der Rechtsphilosophie, 1882, S. 551, meint, angeborene, unveräußerliche Rechte gebe es überhaupt nicht; vgl. ferner S. 210, 258, 557. 104 Vgl. hierzu Albrecht, R., Hegel und die Demokratie, 1978, S. 40 ff. 105 Hegel, G. W. F., Die Vernunft in der Geschichte, in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, Bd. I, hrsg. von J. Hoffmeister, 5. Aufl. 1968, S. 55. 106 Hegel, G. W. F., Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, § 248, hrsg. von F. Nicolin und O. Pögeler, 6. Aufl. 1959, S. 201. 107 Vgl. Verdross (Fn. 23), Statisches und dynamisches Naturrecht, S. 76.

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Er verweist auf den Ausspruch des Aristoteles, 108 wonach ein Wesen, das nicht der Gemeinschaft bedarf, entweder mehr oder weniger ein Mensch wäre. Große Philosophen sind sich darüber einig, dass es die natürliche Bestimmung des Menschen sei, gesellig zu leben. 109 Auf sich allein gestellt wäre kein Mensch imstande, das Leben so zu führen, dass er seinen Zweck erreicht. 110 So schreibt Suarez: 111 „Homo est animal sociabile, nature sua postulans vitam civilem et communicationem cum aliis hominibus.“ Während die katholische Naturrechtslehre mehr im bloßen Vereinigungsbetrieb des Menschen den Grund zum Zusammenschluss sieht, 112 meinen die Philosophen der Aufklärung, kein direkter Trieb haben den Menschen zum Staat gebracht, sondern die Absicht, durch ihn noch schwerere Übel zu vermeiden. 113 Der eigentliche Grund, warum die Menschen ihre natürliche Freiheit aufgaben, sei die Furcht vor anderen Menschen. Der beste Schutz gegen die von Menschen drohenden Gefahren für Leben, Freiheit und Eigentum sei der Zusammenschluss mit anderen. Schließlich könnten die Menschen die Mittel zu einem ausreichenden Lebensunterhalt auch besser in Gemeinschaft erlangen. 114 Nach Ansicht von Kant müsse der ___________ 108 Aristoteles, Politik, Buch 1, 1253 a, in: Aristoteles, Politik, hrsg. v. E. Rolfes, 1958, S. 4. 109 So meint ein unbekannter Sophist, dass sich die Menschen der Not gehorchend zusammenschlossen, da die Menschen nicht imstande sind, für sich allein zu leben; vgl. Jamblichi, A., in: Diels, H., Die Fragmente der Vorsokratiker, Bd. 2, 11. Aufl., 1964, S. 402. 110 Vgl. Thomas von Aquin, Über die Herrschaft der Fürsten, Buch 1, Kap. 1, in: Ausgewählte Schriften zur Staats- und Wirtschaftslehre des Thomas von Aquino, hrsg. von O. Spann, 1923, S. 10 f.; Marsilius von Padua, Der Verteidiger des Friedens (Defensor pacis), Teil 1, Kap. 3, § 3 ff., hrsg. v. E. Engelberg und H. Kusch, 1958, Bd. 1, S. 33 ff. 111 Suarez (Fn. 58), De legibus, liber I, cap. 3, § 20/S. 12; vgl. auch De legibus, liber III, cap. 1, § 3/S. 176. 112 Vgl. Soto, D. de, De la justicia y del derecho, libro IV, cuestion 4, articulo 1–2, hrsg. v. Instituto de Estutios politicos, Madrid, tomo segundo 1968, S. 300 ff.; libro I, cuestion 1, articulo 3, hrsg. v. Instituto de Estudios politicos, tomo primero 1967, S. 10. 113 Althusius (Fn. 61), Politica, cap. 1, §§ 1–4, S. 2 f.; §§ 33 f., S. 10; Hobbes (Fn. 64), Leviathan, Kap. 17, S. 131; für ihn lieben die Menschen von Natur aus die Freiheit, mit dem Zusammenschluss wollen sie „für ihre Selbsterhaltung sorgen und ein zufriedenes Leben“ führen, also dem „elenden Kriegszustand“ entkommen; vgl. ferner: Spinoza (Fn. 72), Tractatus theologico-politicus, Kap. 16, S. 469 f.; Pufendorf (Fn. 63), Vom Natur- und Völckerrechte, Buch 7, Kap. 1, § 2, S. 421; § 3 S. 425 f.; § 4, S. 427. 114 Vgl. Locke (Fn. 68), Zwei Abhandlungen über die Regierung, Buch 2, § 123/ S. 283; §§ 124 ff./S.283 f.; Pufendorf (Fn. 63), Vom Natur- und Völckerrechte, Buch 7, Kap. 1, § 7, S. 436 f.; Buch 7 Kap. 2, § 1, S. 452 f.; vgl. auch Wise (Fn. 79), S. 43. Für Thomasius besteht ein Confusum chaos, das mehr zum Kriege neige (Thomasius [Fn. 85], Fundamenta juris naturae et gentium, liber I, caput III, § LV, S. 111), er spricht sich aber gegen einen Krieg aller gegen alle aus (Fundamenta juris naturae et gentium, liber I, caput I, § C IV, S. 55) und lehnt die Auffassung der Aristoteliker ab, der Mensch werde zu einem Zusammenschluss durch seine innere Natur getrieben (Fundamenta ju-

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Mensch den bürgerlichen Zustand herbeiführen, da er im Naturzustand, ohne Unrecht zu begehen, die innere Ordnung stören dürfe, so dass die Menschen niemals vor Gewalttätigkeiten gegeneinander sicher wären. 115 Sobald der Mensch nicht mehr allein, sondern in Gemeinschaft mit anderen lebt, hat er Beschränkungen seines natürlichen Freiheitsraumes zu dulden, um ein geordnetes Zusammenleben zu ermöglichen. Die individuelle Freiheit jedes einzelnen Menschen findet an der Freiheit aller Anderen ihre Beschränkung, so dass sich die Freiheitsansprüche der Individuen wechselseitig beschränken. Kant sagt, die Freiheit eines jeden müsse mit der Freiheit eines anderen gemäß „einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen“ können 116 . Auf der anderen Seite muss auch der Staat die Freiheit der Bürger achten, wenn er kein despotischer Staat sein will. Staaten sollten, mit Kant gesprochen, das Prinzip eines universellen Menschenrechts nicht antasten, weil dieses erst eine Bedingung für die Möglichkeit der Existenz eines Rechtsstaates ist. Der Mensch wird also – aus welchen Gründen auch immer – zu einem Zusammenschluss mit anderen getrieben. Die Gemeinschaft fordert nun vom Individuum, dass es um des friedlichen Zusammenlebens willen teilweise zugunsten der anderen auf die Ausübung seiner Freiheitsrechte verzichtet, sich also selbst beschränkt.

4. Der Staat als Garant der Freiheitsrechte Die Regelung des Zusammenlebens ist Aufgabe des Staates, den sich die Menschen zu diesem Zwecke schaffen. Er hat die sittliche Pflicht, 117 die allen Menschen zustehenden Freiheiten durch seine Gesetze zu garantieren, da der einzelne Mensch zu schwach ist, um wirksam Freiheit auf der einen, Sicherheit und Ordnung auf der anderen Seite zu verwirklichen. Spinoza 118 meint, es sei ___________ ris naturae et gentium, liber I, caput VI, § II, S. 274; Institutiones jurisprudentiae divinae [Fn. 85], liber III, cap. VI, § 7, S. 385; § 21, S. 388). Die Furcht vor anderen sowie die Notwendigkeit, Mittel zum Lebensunterhalt zu erlangen, bewirken den Zusammenschluss. Vgl. schließlich Wolff (Fn. 89), Grundsätze des Natur- und Völckerrechts, § 835, S. 613 f.; ders. (Fn. 87), Jus naturae, pars 8, §§ 1–3, S. 1 ff.; Heydenreich, K. H., System des Naturrechts, Teil 2, 1795, S. 201 f. 115 Vgl. Kant (Fn. 94), Metaphysik der Sitten, § 44, S. 312. Vgl. ferner: Justi, J. H. G., Natur und Wesen der Staaten, 1771, S. 13 ff., der auf die großen Vorteile eines gemeinschaftlichen Lebens hinweist (S. 16, 17). 116 Kant (Fn. 94), Metaphysik der Sitten, Einleitung in die Rechtslehre, § C, S. 230. Kritisch: Hegel, G. W. F., Vorlesungen über Rechtsphilosophie, 1818–1831, Bd. 2, § 29, hrsg. von K. H. Ilting, 1974, S. 170; Bd. 3, § 33, S. 175 ff. 117 Vgl. Kipp (Fn. 50), S. 212; Radbruch, G., Rechtsphilosophie, 6. Aufl., 1963, S. 161. 118 Spinoza (Fn. 72), Tractatus theologico-politicus, Kap. 20, S. 605.

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nicht der Zweck des Staates, die Menschen aus vernünftigen Wesen zu Tieren oder Automaten zu machen, „sondern vielmehr zu bewirken, dass ihr Geist und ihr Körper ungefährdet seine Kräfte entfalten kann, dass sie selbst frei ihre Vernunft gebrauchen und dass sie nicht mit Zorn, Hass und Hinterlist sich bekämpfen noch feindselig gegeneinander gesinnt sind. Der Zweck des Staates ist in Wahrheit die Freiheit“. 119 Der Staat ist mithin nicht Gegner der Freiheitsrechte, sondern Voraussetzung für die Verwirklichung der Freiheit in einer Gemeinschaft. Der Mensch tritt – wie Krüger 120 es ausdrückt – aus dem Naturzustand in den Staatszustand, weil die angeborene Freiheit sich im Naturzustand nicht behaupten konnte. Leopold Krug 121 fasst diese Gedanken prägnant zusammen: „Der Wille eines jeden einzelnen Staatsbürgers, also der Wille einer ganzen Nazion ist: bei der Vereinigung zu einem Staate die Freiheit, ihr Eigenthum zu benutzen und ihre Kräfte anzuwenden, nicht aufzugeben, sondern sie durch diese gesellschaftliche Vereinigung zu schützen und zu erhalten.“ Je besser dem Staat seine Aufgabe, die Freiheit des Bürgers zu verwirklichen gelingt, desto näher kommt dieser dem Ideal einer freiheitlichen Demokratie, wie sie dem Geehrten vorschwebte. Justi 122 meint in seiner Schrift über Natur und Wesen der Staaten, dass „das allemal die beste Regierung sei, die sich ohne Abbruch des Endzwecks der Republiken der natürlichen Freyheit am meisten nähert“. Und sogar Hegel 123 betrachtet den Staat als den besten, in dem die größte Freiheit herrscht. Auch nach Hegel fällt also dem Staat die Aufgabe zu, die Freiheit des Einzelnen zu verwirklichen. Allerdings ist für ihn der Staat „die Wirklichkeit der concreten Freyheit“. 124 Freiheit ist nach Auffassung von Hegel also da verwirklicht, wo das Individuum seiner willkürlichen Vereinzelung enthoben und einem allgemeinen, sittlichen Ganzen eingegliedert ist, das im Staat seine konkrete Gestalt findet. 125 In diesem sieht Hegel die gelungenste Manifestation der vielen Einzelfreiheiten. 126 Das Individuum verdankt somit seine Freiheit dem Staat. Die Freiheit des Individuums ist von der Mitgliedschaft im Staate abhän___________ 119 Auch nach Leibniz gehört die Garantie der Freiheit zum Zweck des Staates; vgl. Ruck, E., Die Leibniz’sche Staatsidee, 1909, S. 86 f. 120 Vgl. Krüger, H., Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl., 1966, S. 530. 121 Krug, L., Abriß der Staatsökonomie oder Staatswirtschaftslehre, 1808, S. 10. 122 Justi (Fn. 115), S. 40. 123 Hegel (Fn. 116), Vorlesungen über Rechtsphilosophie, Bd. 2, § 260, S. 701. 124 Hegel (Fn. 116), Vorlesungen über Rechtsphilosophie, Bd. 2, § 260, S. 701; ferner: Hegel, G. W. F., Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 258, in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Sämtliche Werke, Bd. 7, hrsg. von H. Glockner, 4. Aufl. 1964, S. 333 f.; § 260, S. 337 f. 125 Vgl. Bülow, F., G. W. Fr. Hegel, Recht, Staat, Geschichte, 6. Aufl., 1964, S. 57. 126 Vgl. Albrecht (Fn. 104), S. 188.

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gig. 127 Die substantielle Einheit des Staates sei „absoluter unbewegter Selbstzweck, in welchem die Freiheit zu ihrem höchsten Recht kommt, so wie dieser Endzweck das höchste Recht gegen die Einzelnen hat, deren höchste Pflicht es ist, Mitglieder des Staates zu seyn.“ 128 Diese Sicht Hegels negiert die neuzeitliche Auffassung von der Funktion der Grundrechte als Abwehrrechte gegenüber dem Staat. Nach Popper 129 wird Hegel mit seinen Theorien gleichsam zum Ziehvater beinahe aller modernen Ideen des Totalitarismus. Albrecht 130 sieht in seiner Auseinandersetzung mit Hegel und der Demokratie Hegels Plädoyer für ein affirmatives Verhältnis des Bürgers zu seinem Staat einerseits durchaus in einer Kontinuität zum neuzeitlichen Freiheitsverständnis stehend, es impliziere aber andererseits den Eintritt einer entscheidenden Metamorphose des aus sich heraus freien, autarken und autonomen Individuums. Wenn nun dem Staat die Aufgabe zukommt, die Freiheit des Einzelnen zu sichern, und der Staat nicht im Hegel’schen Sinne als die Wirklichkeit der konkreten Freiheit betrachtet wird, und wenn die Staatsgewalt – wie in einer freiheitlichen Demokratie – in der Tat vom Volke ausgeht, dann leuchtet es nicht ein, warum der Staat, der eigentlich die Freiheit zu gewährleisten – und nicht zu gewähren – hat, plötzlich eine Gefahr für die Freiheit werden kann, warum die Grundrechte als Abwehrrechte gegen die staatliche Gewalt konzipiert werden und erforderlich sind. Tangiert der Staat den Freiheitsraum einer Person mit einer hoheitlichen Maßnahme, so geschieht dies in der Regel um eines geordneten Zusammenlebens in der Gemeinschaft willen. Der Staat hat bei seinen Eingriffen in den Freiheitsraum darauf zu achten, dass die Einschränkungen nicht unverhältnismäßig sind oder gar den Kernbereich eines Freiheitsrechts verletzen. Gelingt dies dem Staat, seinen Behörden und Gerichten, dann erweist er sich als Wahrer und Schützer der naturrechtlichen Freiheit. Den Organen des Staates ist jedoch stets zuzutrauen, bei einschränkenden Maßnahmen das rechte Maß und Ziel zu verfehlen. Menschen sind geneigt, Machtstellungen zu missbrauchen. Dies formuliert auch Montesquieu in dem Satz: 131 „C’est une expérience éternelle, que tout homme qui a du pouvoir est porté à en abuser.“ Und weiter heißt es: „Il va jusqu’à ce qu’il trouve des limites.“ Montesquieu bringt damit das Prinzip zum Ausdruck, dass jede Macht des Menschen über die Menschen begrenzt sein muss. Darauf gründet sich die Forderung, dass die Freiheit der Bür___________ 127

Vgl. auch Albrecht (Fn. 104), S. 58 f. Hegel (Fn. 124), Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 258, S. 329. 129 Popper, K. R., The Open Society and Its Enemies, vol. II, 5th edition, 1966, S. 62 ff. 130 Albrecht (Fn. 95), S. 60. 131 Montesquieu, Ch. de, De l’esprit des lois, tome premier, livre XI, chapitre IV, o. J., S. 168 f. 128

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ger gesichert sein muss. Diese Aufgabe übernehmen die Grundrechte in ihrer Funktion als Abwehrrechte. Mit ihrer Hilfe kann der Bürger ungerechte, dem Naturrecht und dem Zweck des Rechts widersprechende Eingriffe in seinen Freiheitsraum abwehren 132 – unter Inanspruchnahme staatlicher Behörden und Gerichte. Mit der Positivierung der Grundrechte verlieren diese nicht ihren vorstaatlich-überpositiven Charakter, sondern gewinnen eine positive Geltung hinzu.

III. Resümee Das Naturrecht ist Maßstab des positiven Rechts, das vorgegebenes Regulativ für die Rechtssetzung und in bestimmter Weise auch für die Rechtsvollziehung sein kann. Wie weit das Naturrecht für die Rechtsprechung von Bedeutung sein kann, hängt von der Stellung des Richters und von den Möglichkeiten seiner Rechtsfindung ab. Die naturrechtliche Frage stellt sich einem Gericht dann, wenn das positive Recht, das es auf einen Fall anwenden soll, klar zu einem grob ungerechten Ergebnis führen würde. In der Auslegung der Grundrechtsbestimmungen fühlte sich der Bundesgerichtshof dem Naturrecht besonders verpflichtet 133 . So wird z. B. der überpositive Charakter der Würde des Menschen, der freien Entfaltung der Person, der Gleichheit vor dem Gesetz und der Gewissensfreiheit anerkannt 134 . Daneben sind als Naturrechtsgebote vom Bundesgerichtshof besonders anerkannt die Ehe- und Familienordnung 135 . Auch das Selbstbestimmungsrecht eines geschichtlich gewordenen staatlich geeinten Volkes wird naturrechtlich begründet 136 . Nur durch das Festhalten am Naturrecht wird es gelingen, der mit der Idee der Menschenrechte zum Zuge kommenden Anerkennung jedes Menschen als mit vorgegebener absoluter Würde ausgestattetes Wesen universell zum Durchbruch zu verhelfen. Neben der Erinnerung in Verfassungen und Gesetzen sind Erziehung und Bewusstseinsprägung der Menschen und Völker auf diese normative Erkenntnis hin von Bedeutung. Der Grundsatz der Unveräußerlichkeit der Menschenrechte hat im internationalen Leben noch nicht die ihm gebührende Anerkennung erfahren, weil trotz ___________ 132

Vgl. auch Schoenborn, W., Das Oberaufsichtsrecht des Staates im modernen deutschen Staatsrecht, 1906, S. 20, wonach sich Grundrechte sämtlich auf „Freiheit vom gesetzeswidrigen Zwang“ zurückführen lassen. 133 Weinkauff, H., Der Naturrechtsgedanke in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, in: NJW 1960, S. 1689 ff. (1689). 134 BGHSt 4, S. 376 f.; BGHSt 5, S. 333 f.; BGHZ 6, S. 275; BGHZ 11, Anhang 64; BGHZ 13, S. 297 f.; BGHZ 13, S. 334 ff.; BGHZ 16, S. 353. 135 BGHSt 6, S. 46 ff.; BGHZ 11, Anhang S. 34 ff. 136 BGHZ 13, S. 265 ff.

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der Verankerungen in internationalen Konventionen viele Staaten sich weigern, absolute Werte, die ihrer Disposition entzogen sind, anzuerkennen. Die Staaten der freien Welt sind daher herausgefordert, im Kampf um das „richtige“ Menschenrechtsverständnis, aktiv zu werden, zumal Staaten auch heute noch bemüht sind, die Freiheitsrechte in ihrem Sinne parteilich umzufunktionieren und den vorstaatlichen Charakter der Grundfreiheiten als metaphysische Hirngespinste abzulehnen. Von der Lösung oder Nichtlösung auch dieser Menschenrechtsproblematik auf internationaler und nationaler Ebene hängt entscheidend ab, ob die Völker in der Lage sein werden, Menschenrechte bedrohende Regime abzuwehren. Nur wenn die Menschen in ihrem Kampf um die Menschenrechte vom Bewusstsein getragen werden, dass es sich bei den Grundfreiheiten um Rechte handelt, die dem Einzelnen kraft seines Menschseins zustehen, dass sie eine Werteordnung verkörpern und garantieren, die nicht zur Disposition des Gesetzgebers steht, werden sich die Menschenrechte weltweit verwirklichen lassen. Erst dann werden diese auf internationaler Ebene im Blumenwitz’schen Sinne ihre friedensstiftende Wirkung entfalten können und dazu beitragen, dass auch der Einzelne Respekt vor der Freiheit des anderen hat. Wenn die Rechtsphilosophie aber die Suche nach Endgültigkeit, nach letzten Gründen des Rechtseins aufgibt, wird sie das Recht als solches abschaffen und damit dem Menschen das Fundament seines geregelten Daseins entziehen.137

___________ 137

„Die gegenwärtige Ablehnung des Naturrechts führt nicht nur zum Nihilismus, nein, sie ist identisch mit Nihilismus.“ So: Strauss, L., Naturrecht und Geschichte, 1989, S. 5.

II. Recht der Minderheiten und Volksgruppen

Volksgruppenschutz und Integration Anmerkungen zum Schutz von Minderheiten und Volksgruppen* Kurt Kuchinke Anlässlich der Widmung einer Gedächtnisschrift für den leider viel zu früh verstorbenen Kollegen Dieter Blumenwitz ist es mir ein besonderes Anliegen, auf sein wissenschaftliches Werk einzugehen und einzelne Aspekte eines der Themen aufzugreifen, mit denen er sich während seines gesamten wissenschaftlichen Schaffens immer wieder auseinandergesetzt hat. Dazu gehört auch die Darstellung des Minderheiten- und Volksgruppenrechts. Allein in vier monographischen Arbeiten befasst er sich mit Grundsatzfragen dieses Rechtsgebietes, mit der Entwicklung der politischen Vertretung und Kulturautonomie der Volksgruppen und Minderheiten, ferner den Positionen der katholischen Kirche zur Minderheitenfrage und schließlich den internationalen Schutzmechanismen zur Durchsetzung von Minderheiten- und Volksgruppenrechten. 1

I. Einführung 1. Für den fachfremden, aber interessierten Leser öffnet sich zunächst ein unübersichtliches Feld, das in faktischer Hinsicht durch außerordentlich verschiedene Entstehungsursachen und Seinsweisen einer Minderheit und ihrem Verhältnis zum Staat, in dem sie lebt, geprägt wird. Befremdlich ist auf diesem Gebiet der hohe Grad der Unbestimmtheit der verwendeten Begriffe, zumal es sich um Rechtsbegriffe handelt. Ebenso ist der innere Geltungsgrund der Schutzvorschriften nicht klar erkennbar, den man hinter den auf einem übereinstimmenden Willen der Vertragsparteien beruhenden Regelungen unterstellen muss. Das bloße politische Interesse, das in den Präambeln der maßgeblichen Dokumente Ausdruck findet, kann es nicht sein, ___________ * Das Manuskript wurde im September 2006 abgeschlossen. 1 Minderheiten- und Volksgruppenrecht. Aktuelle Entwicklung, 1992; Volksgruppen und Minderheiten. Politische Vertretung und Kulturautonomie, 1995; Internationale Schutzmechanismen zur Durchsetzung von Minderheiten- und Volksgruppenrechten, 1997; Positionen der katholischen Kirche zum Schutz von Minderheiten und Volksgruppen in einer internationalen Friedensordnung, 2000.

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da im Zusammenhang mit einzelnen fundamentalen Rechten von Minderheiten stets auch auf ihre Qualität als Menschenrecht hingewiesen wird. Das Rahmenübereinkommen des Europarates zum Schutz nationaler Minderheiten vom 1. Februar 1995 2 bestimmt in Art. 1 ausdrücklich, dass der Schutz nationaler Minderheiten Bestandteil des internationalen Schutzes der Menschenrechte sei und als solcher in den Bereich internationaler Zusammenarbeit gehört und nicht den Staaten vorbehalten ist. Ferner geben die Dokumente, in denen Minderheitenschutzvorschriften enthalten sind, kein eindeutiges Bild über die Merkmale, die es gebieten, einem näher bestimmten Teil der Bevölkerung eines Staates das Existenzrecht als Gruppe zu garantieren und damit Sonderrechte zuzuweisen. Zwar werden in den Präambeln der entsprechenden Deklarationen über Rechte von Personen, die nationalen, ethischen, religiösen oder sprachlichen Minderheiten angehören, in überwiegend pathetischer Form die Ziele und Zwecke des Minderheitenschutzes angeführt: es geht vor allem um die Achtung und die Stärkung des Vertrauens in die Minderheitenrechte, die Würde des Menschen, die Wahrung der Menschenrechte und die Rechtsgleichheit, auch unter den großen oder kleinen Nationen, wobei angenommen wird, dass der Schutz der Rechte der Angehörigen der Minderheiten die politische und soziale Stabilität des Staates, in welchem sie leben, befördert und darüber hinaus geeignet ist, die Freundschaft und die Zusammenarbeit unter den Völkern und Staaten zu stärken. Aber es wird die Existenz einer Minderheit vorausgesetzt, ohne ihre begrifflichen Voraussetzungen zu bestimmen. Das ist auch bei bilateralen Verträgen zu beobachten, obgleich hier in der Regel ganz bestimmte näher bezeichnete Gruppen und Umstände Anlass für das Zustandekommen einer Übereinkunft geben. So ist im Nachbarschaftsvertrag mit Polen 3 lediglich von der deutschen Minderheit die Rede, die als Personengruppe definiert wird, die sich aus polnischen Staatsangehörigen deutscher Abstammung einschließlich solcher Personen, die sich zur deutschen Sprache, Kultur oder Tradition bekennen, zusammensetzt. Eine entsprechende Regelung enthält Art. 20 Abs. 2 des Nachbarschaftsvertrags mit der ehemaligen Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik vom 27. Februar 1992. 4 2. Die innere Rechtfertigung einer Sonderbehandlung von Bevölkerungsteilen, die in einem Staatsgebiet leben, ist im Hinblick auf das in einem Rechtsstaat unabdingbare Gebot, allen Staatsbürgern gleiche Rechte, Pflichten und ___________ 2

Framework Convention for the Protection of National Minorities, European Treaty Series – No. 157, vom 01.02.1995, http://conventions.coe.int/. 3 Vertrag der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit vom 17.06.1991, BGBl. II, S. 1315 ff. 4 Auszug bei Blumenwitz, Minderheiten- und Volksgruppenrecht (Fn. 1), S. 185 und S. 186.

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Chancen zu gewähren, nur schwer zu verstehen. Die in den Dokumenten gelegentlich zu findende Begründung, dass die zuerkannten Vergünstigungen, und es handelt sich nicht nur um solche wirtschaftlicher Art, einen Ausgleich für eine schlechtere Ausgangslage bieten soll, 5 überzeugt nicht auf den ersten Blick. Auch Blumenwitz meint, dass sich bereits aus der Existenz als Minderheit Nachteile ergäben. Nachteile a priori werden aber weder genannt noch sind sie ohne weiteres erkennbar. Nachteile könnten allenfalls mit der Pflege der ethnischen Eigentümlichkeiten zusammenhängen, die zu einer gewollten oder nicht bedachten Isolierung gegenüber der übrigen Bevölkerung zu führen vermag. Die ethnische Eigentümlichkeit ist aber gerade Schutzobjekt des Minderheitenrechts. Die Anerkennung der Sonderexistenz einer Gruppe ist deshalb noch kein zwingender Grund, auch privilegierende Sonderrechte zuzubilligen. Es kann vielmehr vom Rechtsstandpunkt aus nur darum gehen, die Gruppenangehörigen nicht wegen ihrer Eigentümlichkeit in irgendeiner Weise gegenüber den übrigen Staatsbürgern zu benachteiligen. Sie dürfen nicht zu Bürgern zweiter Klasse gemacht werden. Insoweit sind Ansprüche klar zu definieren. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang aber auch, dass es sich um Personen handelt, die die Staatsangehörigkeit des Wohnlandes innehaben und nicht um Personen, die dem Fremdenrecht unterliegen. Deshalb kommt der Loyalitätspflicht gegenüber dem Staat Priorität zu. Stellt man allerdings – wie dies geschieht – den ausdrücklich hervorgehobenen Schutzgedanken in den Vordergrund, so lässt sich daraus die Pflicht folgern, besondere Zugeständnisse von Staats wegen zu machen, sofern die Minderheit nicht über die Mittel verfügt, um die besonderen kulturellen Bedürfnisse, die ihre Eigentümlichkeit ausmachen, zu befriedigen, wie etwa die Unterrichtung in der Sprache der Minderheit und deren Gebrauch neben der Landessprache. Denn mit dem Untergang der Sprache geht auch die Volksgruppe unter. 6

___________ 5

Man spricht wenig erhellend von Maßnahmen der „positiven Diskriminierung“. Blumenwitz, Minderheiten- und Volksgruppenrecht (Fn. 1), S. 66. 6 Das Rahmenübereinkommen des Europarates von 1995 (Fn. 2) legt in großer Ausführlichkeit in den Art. 3 bis 18 die einzelnen Rechte der Angehörigen von Minderheiten und die Pflichten der Vertragsstaaten fest. Das Übereinkommen schafft Rechtspflichten und realisiert damit die von der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) vereinbarten politischen Pflichten. Das Übereinkommen begründet jedoch nur Individualrechte und keine kollektiven Rechte. Das ergibt sich aus der Fassung des Art. 1. Hier ist einerseits vom Schutz nationaler Minderheiten die Rede, andererseits von den Rechten und Freiheiten von Angehörigen dieser Minderheiten.

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II. Probleme bei der Begriffsbildung 1. Die Schwierigkeit, einen klaren Begriff vom „Wesen“ einer angeblich schützenswerten Gruppe innerhalb einer Nation zu gewinnen, beruht auf einer Mehrzahl von Gründen. In erster Linie ist der Ausdruck Minderheit nicht geeignet, Auskunft über die besonderen Eigenschaften einer Bevölkerungsgruppe zu geben. 7 Er bezeichnet lediglich eine Quantität, wobei noch fraglich ist, ob es überhaupt logisch vertretbar ist, die Zuerkennung von besonderen Rechten davon abhängig zu machen, dass sich eine ethnische Volksgruppe in der Minderzahl befindet. Denn es ist nicht ausgeschlossen, dass eine oder mehrere kleinere Volksgruppen innerhalb eines Staatengebildes eine beherrschende Rolle spielen.8 In zweiter Linie erschwert die Bestimmung einer schützenswerten Gruppe der Umstand, dass Merkmale einmal zur Festlegung verschiedener Arten von Minderheiten, ein anderes Mal zur Kennzeichnung des Schutzbereiches von Minderheiten herangezogen werden. So kennen das Schrifttum und die einschlägigen Dokumente unter anderem auch Arten, die schon auf den ersten Blick nichts gemeinsam haben; wenn etwa religiöse und nationale Minderheiten unterschieden werden. Blumenwitz fügt noch als weitere Arten die sprachlichen und ethnischen Minderheiten hinzu. Wir finden diese Aufzählung in § 27 des Internationalen Paktes für bürgerliche und politische Rechte, 9 der 1976 in Kraft getreten ist sowie im einführenden Text der Deklaration der UNO über die Rechte von Personen, die nationalen, ethnischen, religiösen oder sprachlichen Minderheiten angehören. 10 Das Dokument des Kopenhagener Treffens der Konferenz über die menschliche Dimension der KSZE vom 29. Juni 1990 11 nennt hingegen die Rechte von nationalen Minderheiten und gewährt dem Einzelnen die Befugnis, über die Zugehörigkeit zu einer Minderheit zu entscheiden. 12 Es spricht nicht von ethnischen, kulturellen, sprachlichen und religiösen Minderheiten, sondern lediglich von nationalen Minderheiten, deren Angehörigen das ___________ 7 Substanzielle Unterschiede zwischen Minderheiten und Volksgruppen macht Pernthaler, P., Volksgruppe und Minderheit als Rechtsbegriffe, in: Wittmann, F. / Graf Bethlen, St. (Hrsg.), Volksgruppenrecht, 1980, S. 9. 8 Fast einhellig wird jedoch angenommen, dass es sich um eine Gruppe handeln muss, die zahlenmäßig kleiner ist als die übrige Bevölkerung. 9 Text bei Blumenwitz, Minderheiten- und Volksgruppenrecht (Fn. 1), S. 48. 10 UN-Dok. E/CN.4/1992/48. Text bei Blumenwitz, Minderheiten- und Volksgruppenrecht (Fn. 1), S. 129 ff. 11 EuGRZ 1990, S. 239 ff.; Auszug bei Blumenwitz, Minderheiten- und Volksgruppenrecht (Fn. 1), S. 132. 12 IV. 30-32.

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Recht zuerkannt wird, ihre ethnische, kulturelle, sprachliche und religiöse Identität frei zum Ausdruck zu bringen, zu bewahren und weiterzuentwickeln. In der Europarat-Empfehlung 1134 (199) 13 wird im Rahmen von „Allgemeinen Erwägungen“ die Feststellung getroffen, dass es in Europa viele Arten von Minderheiten gäbe. Diese besäßen gewisse ethnische, sprachliche, religiöse und andere Eigenschaften, die sie von der Mehrheit der Bevölkerung eines bestimmten Gebietes oder Landes unterscheiden. Im weiteren Text werden jedoch nur nationale Minderheiten und sprachliche Minderheiten genannt. Bei der Aufzählung der Rechte der nationalen Minderheiten erfahren wir, dass es sich um die Erhaltung und Weiterentwicklung ihrer Kultur, Erhaltung ihrer eigenen erzieherischen, religiösen und kulturellen Einrichtungen und die Entwicklung, Erhaltung und Weiterentwicklung ihrer Identität handelt. Hier bleibt nur noch festzustellen, dass unabhängig davon sprachlichen Minderheiten bestimmte Schutzrechte zuerkannt werden sollten. Den beschriebenen Verpflichtungen ist ferner zu entnehmen, dass es sich um Bevölkerungsteile handelt, denen eine besondere Identität zugeschrieben werden kann, der eine spezifische Erziehung, Kultur, Sprache, Tradition sowie ein besonderes Brauchtum zugrunde liegen. Das Rahmenübereinkommen des Europarates von 1995 14 spricht dagegen nur von „nationalen Minderheiten“, ohne diese näher im Hinblick auf mögliche kulturelle Prägungen zu beschreiben oder gar zu definieren. Man zog eine pragmatische Lösung vor. Es wird demnach nicht klar unterschieden zwischen dem Träger von Schutzrechten und diesen selbst. Der Träger definiert sich gleichsam durch die Rechte, die ihm im Hinblick auf die Ausübung seiner Religion, dem Gebrauch der Sprache, ganz allgemein der Pflege und Befriedigung seiner kulturellen Bedürfnisse zuerkannt werden. So kommt es zu der Aufspaltung in verschiedene Arten von Minderheiten, obgleich alle genannten Rechte in rechtsstaatlich organisierten Nationen jeder Bürger für sich oder in Gemeinschaft mit anderen in Anspruch nehmen darf. Hinzu kommt, dass neuere Verträge – wie etwa die Nachbarschaftsverträge mit Polen 15 , Tschechien und der Slowakei – die gleichen Rechte, die der deutschen Minderheit in diesen Staaten zugebilligt werden, auch den polnischen und tschechischen Volksangehörigen in Deutschland zustehen. Was soll unter diesen Umständen den besonderen Status einer Minderheit rechtfertigen?

___________ 13

BT-Drs. 12/14 v. 2.01.1991. Siehe oben Fn. 2. 15 Siehe oben Fn. 3; Auszüge in: Blumenwitz, Minderheiten- und Volksgruppenrecht (Fn. 1), S. 183 f. 14

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2. Ferner ist fraglich, ob es sinnvoll ist, begrifflich nationale Minderheiten von religiösen zu unterscheiden. 16 Das Bekenntnis zu einer bestimmten Religion oder die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft kann mit der ethnischen Herkunft des Bekennenden verbunden sein, muss es aber nicht. Die Vielfalt und Vielzahl von Anhängern einer religiösen Gemeinschaft ist durch den Grundsatz der Freiheit der Religionsausübung, einem Menschenrecht, gesichert, das der Staat respektieren muss; sie beruht nicht auf der Gnade der Anerkennung als Minderheit. Wenn in den einschlägigen Dokumenten fast immer auch auf das Recht der Religionsausübung oder auf religiöse Eigenschaften der Minderheit hingewiesen wird, dann deshalb, weil die Religiosität – wie auch die Nichtreligiosität – Ausdruck der Kultur des Menschen und damit auch einer Gruppe von Menschen ist. Die Verweisung auf den Nürnberger Religionsfrieden vom 23. Juli 1532 und den Augsburger Religionsfrieden vom 25. November 1555 als ersten Schutzregelungen zugunsten religiöser Minderheiten mit Vorbildfunktion kann schon deshalb nicht überzeugen, weil es gar nicht um den Schutz von Minderheiten ging, sondern um die Durchsetzung bzw. Abwehr einer neu aufgekommenen Geistesrichtung von universeller Bedeutung im religiösen Bereich gegenüber bestehenden allgemein anerkannten Anschauungen. Erklärt man die Anhänger der einen oder anderen Religion zu Minderheiten, so müssten auch andere weltanschauliche Strömungen mit nichtoder ersatzreligiösen Inhalten, die wie eine Religion geeignet sind, Gesellschaften zu verändern – und das ist in den vergangenen 200 Jahren bekanntlich häufiger geschehen – Minderheiten begründen können, solange sie sich nicht in einem Staat als herrschende Weltanschauung durchgesetzt haben. 3. Der Ausdruck nationale Minderheit ist allerdings nicht besonders aussagekräftig, da das Gewicht auf der Mengenbezeichnung liegt. Vorzuziehen ist deshalb die Bezeichnung eines Personenkreises als Volksgruppe (ethnic group, éthnie). 17 Insoweit wird wenigstens abstrakt angedeutet, dass es sich um Personen handelt, die im Verhältnis zur übrigen Bevölkerung besondere Merkmale besitzen müssen. Es bleibt indessen notwendig, diese Merkmale einzeln aufzuzählen, wie z. B. Abstammung, Sprache, Religion, Geschichte, Tradition, Sitte und Brauchtum, weil sie nicht durch einen bestimmten Begriff erfasst werden. Denn es fehlt ein Wort, um die Verhältnisse zu bezeichnen, die besonders eigentümlich und deshalb auch als schützenswert erscheinen. Wählt man ältere Ausdrücke, so könnte man von Nationalverhältnissen sprechen, die ein entsprechendes Nationalbewusstsein geschaffen haben. ___________ 16 Das geschieht ganz allgemein; s. nur Kimminich, O., Rechtsprobleme der polyethnischen Staatsorganisation, 1985, S. 52. 17 Zum Begriff „Volksgruppe“ Blumenwitz, Minderheiten- und Volksgruppenrechte (Fn. 1), S. 31 ff. Seiner Ansicht nach sind die konstitutiven Merkmale bei Minderheiten und Volksgruppen gleich. Der Ausdruck Volksgruppe betont lediglich das besondere Gruppengefüge, in dem eine Minderheit lebt; sie lebt auf eigenem Wohngebiet.

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Blumenwitz gebraucht zur Kennzeichnung der Verhältnisse, die eine nationale Minderheit begründen, gelegentlich den Ausdruck „Volkstum“. So definiert er nationale Minderheiten als Gruppen innerhalb eines Staatenverbandes, die über ein eigenes Volkstum verfügen. 18 In gleicher Weise beschreibt Wolfrum die allgemeine Bedeutung des Ausdrucks nationale Minderheit. 19 Nach Brunner 20 ist das subjektive Bekenntnis zum Volkstum das entscheidende Merkmal zur Bestimmung des Volksgruppenbegriffs. Veiter spricht vom Menschenrecht der Volksgruppen und Sprachminderheiten auf Schutz ihres Volkstums. 21 Das Wort Volkstum findet sich auch in Ziff. 14 des Protokolls zum Einigungsvertrag, 22 das den Inhalt einzelner Regelungen klarstellen soll. Bei der Aufzählung der Rechte der sorbischen Minderheit, die auf dem Gebiete der ehemaligen DDR siedelt, wird gleich zu Beginn bestimmt: „Das Bekenntnis zum sorbischen Volkstum ist frei“.

III. Der Begriff „Volkstum“ Den Ausdruck „Volkstum“ prägte F. L. Jahn vor rund 200 Jahren. 23 Jahns Grundeinstellung zum Thema „Deutsches Volkstum“, das übrigens einen viel umfassenderen Bereich umspannte, als es die spätere Volkskunde, insbesondere die wissenschaftlich an den Universitäten betriebene Volkskunde tat, beruhte auf seinen Erfahrungen anlässlich der Kriegsereignisse des Jahres 1806 in Deutschland und den Folgen des Tilsiter Friedens 24 sowie dem Zustand des Landes nach dem Westfälischen Frieden von 1648. So erklärt er bedrückt: „Als Volk haben wir den unglücklichen schmachvollen Westfälischen Frieden nie wieder verwunden.“ 25 Geleitet haben ihn bei seinen Überlegungen drei „Offenbarungen“: Natur, Vernunft und Geschichte. In seiner Einleitung in die all___________ 18

Minderheiten- und Volksgruppenrecht (Fn. 1), S. 29. Bericht über die Entwicklung des Minderheitenschutzes in Osteuropa, in: Präsidentin des Schleswig-Holsteinischen Landtages (Hrsg.), Minderheiten in Europa, Landtagsforum am 07.06.1991, Anhang, S. 123. 20 Brunner (Fn. 19), S. 10. 21 In: Wittmann / Graf Bethlen, St. (Hrsg.) (Fn. 7), S. 98. 22 Text bei Blumenwitz (Fn. 1), S. 112. 23 In seinem Buch „Deutsches Volksthum“, das 1810 herauskam. 24 Im Frieden von Tilsit vom 09.07.1807 musste Preußen auf Betreiben Napoleons das gesamte Land links der Elbe mit Einschluss Magdeburgs abtreten. Preußen behielt nur Brandenburg, Schlesien, Pommern und Ostpreußen. Im Osten wurde das Großherzogtum Warschau gegründet. Danzig wurde freie Stadt mit französischer Besatzung. Die drei Tage nach dem Tilsiter Frieden beschlossene Königsberger Zusatzkonvention sah vor, dass die besetzten Gebiete Preußens erst nach Bezahlung sämtlicher Kontributionen und Kriegsentschädigungen an Frankreich von den Besatzungstruppen geräumt werden. 25 Jahn, F. L., Deutsches Volksthum, 1810, S. 16. 19

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gemeine Volkstumskunde beschreibt er das Bedürfnis, für Sachverhalte, die bei der weltgeschichtlichen Völkerbetrachtung bereits bekannt sind, einen eigenen Ausdruck zu finden. Die Kraft, die eine Menschengesellschaft aus Einzelheiten zu Mengen häuft und diese zu einem Ganzen verknüpft, nennt er Volkstum. Dieses ist, so beschreibt Jahn weiter, das Gemeinsame eines Volkes, sein innewohnendes Wesen, sein Regen und Leben, seine Wiedererzeugungskraft, seine Fortpflanzungsfähigkeit, wobei er die bewegende Kraft als Antrieb eines dynamischen Prozesses sieht. Es ist das „Wandelnde und Bleibende, Langsamwachsende und Langdauernde, Zerstörtwerdende und Unvergängliche, was die Völkergeschichte durchdringt, bald eben geboren, bald unvollkommen entwickelt …“. 26 Seine Wortwahl richtet sich gegen die Ausdrücke „National, Nationalität, Nationaleigentümlichkeit, Nationgemäß“. 27 Nach dem Sprachgebrauch seiner Zeit ist Nation angeblich ein Schimpfwort. 28 Wissenschaftlich sagt ihm „Nation“ gar nichts. Es ist nach seiner Auffassung ein Scheinwort mit schwankendem Begriff: „Nach Kant sind wir ein Volk, nach Seume nur eine Nation, nach Herder sind wir noch keine geworden und nach Mannert haben wir bereits aufgehört, eine zu sein.“ Dem Wort Nation und seinen Abwandlungen, die zu seiner Zeit gebräuchlich wurden, stellt er Volkstum, volkstümlich und Volkstümlichkeit gegenüber, um die von ihm beschriebenen komplexen Sachverhalte zu bezeichnen. 29 Die Geschichte bestätigte Jahn insofern, als sich neben der Volkskunde ein weiterer Zweig, die Volkstumskunde, entwickelte. 30 Die Nationalsozialisten machten – was hinreichend bekannt ist – das Volkstumsdenken zu einem Grundpfeiler ihres politischen Konzepts. 31 „Wenn durch die Hilfsmittel der Regierungsgewalt ein Volkstum dem Untergang entgegengeführt wird, dann ist die Rebellion eines jeden Angehörigen eines solchen Volkes nicht nur Recht, sondern Pflicht.“ Das ist eine Aussage von A. Hitler in seinem Buch „Mein Kampf“, 32 die er bereits 1925 im Hinblick auf die angebliche Slawisierungspolitik des Hauses Habsburg gemacht hatte und die er sogar ___________ 26

Ders. (Fn. 25), S. 13. Ders. (Fn. 25), S. 10. 28 Ders. (Fn. 25): „Das ist rechte Nation!“, S. 10. 29 Zur Herkunft und Mehrdeutigkeit des Ausdrucks „Volk“ s. Brückner, W., Kultur und Volk, Gesammelte Aufsätze, 2000, S. 94 f. Über die unterschiedlichen Zielgruppen der volkskundlichen Forschung bezüglich des „Volkes“ unterrichtet Brückner, daselbst, S. 72 ff., 87 ff. 30 Als Teil der Volkstumskunde entwickelte sich die Volkstumsgeographie; dazu Peßler, W., Deutsche Volkstumsgeographie, 1931. Den Begriff Volkstum definierte Peßler als die Summe der in einem Volk typisch und allgemeingültig vorhandenen Erscheinungen, S. 5. Zur Geschichte der Volkskunde, Brückner, W. (Fn. 29), S. 93 ff. 31 Informativ das Vorwort zum Nachdruck des Jahn’schen „Deutschen Volksthums“ von Fricke, G. aus dem Jahre 1936 (Reclamausgabe). 32 Entnommen der 232., 233. Aufl. 1937, S. 104. 27

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zu einem Rechtsgrundsatz verdichtete: „Menschenrecht bricht Staatsrecht.“ 33 Die zentrale Rolle, die der Volkstumsgedanke bei den Nationalsozialisten spielte, führte nach ihrem Untergang zu einer heftigen Auseinandersetzung mit den geistigen Strömungen der letzten 150 Jahre, die der nationalsozialistischen Ideologie den Boden bereitet haben sollen. Die Volkstumsforschung wurde bezichtigt, einer nicht vertretbaren Ideologie aufgesessen zu sein. 34 Entartungen des Nationalismus, wie die Judenverfolgung, werden in einen historischen Zusammenhang mit „völkischem“ Denken gebracht, 35 das ja in der Tat keine Erfindung der Nationalsozialisten war. Mit der Prägung des Wortes Volkstum ist für Emmerich 36 , „der auf alles und nichts passende ahistorisch-holistisch-organologische Topos par excellence geboren“. Er wird heute im wissenschaftlichen volkskundlichen Bereich nicht mehr verwendet. 37 Ob zu Recht oder Unrecht nicht mehr, ist allerdings eine andere Frage. Im Medienbereich wie auch in Erklärungen von Gruppenangehörigen wird beispielsweise unvoreingenommen vom „Judentum“ und anderen „-tümern“ – wie Türkentum, Slawentum – gesprochen; bedenkenlos wird im Hinblick auf die friesische Bevölkerung in Norddeutschland und den Niederlanden der Ausdruck Friesentum verwendet. Vom Deutschtum spricht man lediglich in der abwertend gemeinten Fassung: „der Deutschtümelei“. Es ist auch immer zu bedenken, dass die in den Geisteswissenschaften, wie auch im umgangssprachlichen Bereich verwendeten Begriffe häufig einen sehr unsicheren Grenzbereich haben – gelegentlich auch Begriffshof genannt – der im Übrigen offen ist. Das Wort ist insofern nicht nur Zeichen, sondern bündelt einzelne Elemente eines Sachverhalts, ohne dass diese ausdrücklich genannt werden müssten. So ist auch der Kulturbegriff, der im Zusammenhang mit dem Minderheitenschutz eine vordringliche Rolle spielt, offen. Eine Kultur, so schreibt v. Bredow, 38 „besteht aus einem Ensemble von besonders unterschiedenen, geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Zügen einer sozialen Gruppe oder Gesellschaft.“ Und anschließend folgt eine Aufzählung ___________ 33

Mein Kampf (Fn. 32), S. 105. Hervorzuheben Emmerich, W., Zur Kritik der Volkstumsideologie, 1971; ders., Germanistische Volkstumsideologie, Genese und Kritik der Volksforschung im Dritten Reich, 1968. 35 Um den entsprechenden Nachweis bemüht sich Daxelmüller, Ch., in seinem Aufsatz über: Zersetzende Wirkungen des „jüdischen Geistes“, in: Bermann, W. / Körte, M. (Hrsg.), Antisemitismusforschung in den Wissenschaften, 2004. 36 Zur Kritik der Volkstumsideologie, 1971, S. 48. 37 Für den Hinweis auf diese Tatsache danke ich Herrn Ch. Daxelmüller, Inhaber des Lehrstuhls für Volkskunde an der Universität Würzburg. 38 FAZ vom 06.05.2006, S. 9. 34

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verschiedener Merkmale, so neben Kunst und Literatur auch Lebensstile und gemeinschaftliche Lebenspraktiken, Werte, Überlieferungen, gemeinsame Wahrnehmungsmuster und Glaubenssätze. Das alles kann ergänzt werden, z. B. um die jeweilige Rechtsordnung und die außerordentlich wichtige Geschichte eines Volkes oder man kann es auch inhaltlich anders fassen. Es bleibt ein und derselbe Begriff unter der einen Bezeichnung, deren Stelle auch im Hinblick auf die besonderen Ziele des Minderheitenschutzes der Ausdruck Volkstum einnehmen könnte. Er meint denselben Sachverhalt. Denn es geht auch bei der Kennzeichnung einer Volksgruppe oder Minderheit um das, was in den einschlägigen Dokumenten zum Minderheitenschutz als Zielvorstellung beschrieben wird: um den Erhalt und die Entwicklung einer gemeinsamen kulturellen Identität, die in das Bewusstsein der Gruppenangehörigen aufgenommen worden ist. Wenn von Nationalbewusstsein die Rede ist, dürfte wohl nichts anderes gemeint sein, auch wenn im Hinblick auf die vergangenen, bestehenden und in Zukunft zu befürchtenden Konflikte zwischen Völkern und Nationen dem wenig griffigen „Bewusstsein eigener Identität“ heute der Vorzug gegeben wird. Im Ergebnis dürften gegen das Wort Volkstum, mit dem Blumenwitz und andere Schriftsteller die nationale Minderheit näher bestimmen, und mit dem das Protokoll zum Einigungsvertrag das Schutzobjekt der Sorben bezeichnet, im wesentlichen nur Empfindlichkeiten sprechen, die in der jüngeren unglücklichen deutschen Geschichte gründen und deshalb Barrieren in sprachlicher Hinsicht aufbauen.

IV. Die Voraussetzungen für die Existenz einer Minderheit oder Volksgruppe 1. Ist die Minderheit oder Volksgruppe eine Kulturgemeinschaft, die durch ein „Bewusstsein eigener Identität“ geprägt wird, so stellt sich die schwierige Frage, unter welchen Voraussetzungen die Kultur der Gruppe so ausgeformt ist, dass sie als eigenständig und schutzwürdig angesehen werden muss. Die Anerkennung kann weder von der Willkür der Gruppe noch allein vom Willen des Staates abhängen. Die große Bedeutung dieser Frage wird deutlich, wenn man die Auffassung von Blumenwitz zum Selbstbestimmungsrecht der Volksgruppe in Betracht zieht. 39 Er befürwortet ein Sezessionsrecht der Gruppe. Sie kann danach einen unabhängigen Staat bilden, zwischen bestehenden Staaten wählen oder sich den „Bestand und die freie Entwicklung ihres sozialen, volklichen und religiösen Charakters sichern“, 40 indem sie sich für eine Minderheitenschutzregelung entscheidet. ___________ 39

Minderheiten- und Volksgruppenrecht (Fn. 1), S. 32 ff. Formulierung nach dem so genannten Aalandgutachten, des Völkerbundes; s. Blumenwitz, Minderheiten- und Volksgruppenrecht (Fn. 1), S. 33 Fn. 35. 40

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Sein Rechtsstandpunkt erleichtert die Möglichkeit des tiefen Eingriffs in die staatliche Souveränität und drängt den völkerrechtlichen Grundsatz der Unantastbarkeit der Grenzen in den Hintergrund. Diese Auffassung dürfte in erster Linie aus der Beobachtung des Zerfalls von Großreichen und Vielvölkerstaaten gewonnen sein, die mehrere Gruppen mit unterschiedlicher Kultur auf ihrem Territorium vereinigen. Allein daraus lassen sich schon deshalb so ohne Weiteres keine gültigen Aussagen allgemeiner Natur herleiten, weil die jeweiligen „Nationalverhältnisse“ aus dem Blickwinkel der verschiedenen kulturellen Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu betrachten sind und zunächst einer sorgfältigen „volkskundlichen“ Untersuchung unterliegen müssten. Allgemein lässt sich nur sagen, dass von Rechts wegen ein Sezessionsrecht nur anerkannt werden könnte, wenn ein Verbleib im gegenwärtigen Staatenverband unzumutbar erscheint. 41 2. Zumutbarkeit und Unzumutbarkeit sind Rechtsbegriffe, die auch im Verhältnis von Gruppe zu Gruppe als allgemeine Maßstäbe herangezogen werden könnten. Hier beziehen sie sich auf die Vielzahl feststellbarer Umstände, die die kulturelle Eigenart ausmachen. Die Volksgruppe muss sich als eine Kulturgemeinschaft darstellen, die durch ein eigenes Volkstum geprägt wird, dessen Verlust ihr nicht zugemutet werden kann und dessen Erhalt dem Staat und der übrigen Bevölkerung hingegen zumutbar ist. Das Maß der Zumutbarkeit könnte auch bei der Zuordnung der Art und des Umfangs der Rechte herangezogen werden. Blumenwitz verfolgt demgegenüber aber ein systematisches Anliegen, das zwar wissenschaftlich wertvoll ist, aber die Tendenz zur Verallgemeinerung in sich birgt. Verdeutlichen lassen sich die Folgen einer zu starken Verallgemeinerung bei einem Vergleich der in Deutschland lebenden Volksgruppen 42 mit den Minderheiten und Volksgruppen in den ost- und südosteuropäischen Staaten, in Belgien oder in Staaten anderer Kontinente. Anlässlich der Ratifikation des Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten von 1995 43 hat Deutschland erklärt, die Dänen deutscher Staatsangehörigkeit und die Mitglieder des sorbischen Volkes als Minderheiten anzuerkennen. Zugleich wurde darauf hingewiesen, dass das Übereinkommen auch auf traditionell in Deutschland lebende ethnische Gruppen und die Sinti ___________ 41 Doehring, K., Das Selbstbestimmungsrecht der Völker als Grundsatz des Völkerrechts, 1974, S. 49, erblickt in der nicht mehr zumutbaren Diskriminierung einer Gruppe das entscheidende Ereignis für die Begründung eines Sezessionsrechts. Denkbar sind aber auch andere Gründe, wie z. B. unüberbrückbare Unterschiede in der Prägung der Kultur der verschiedenen Bevölkerungsteile. 42 Der dänischen, sorbischen, friesischen Minderheit und der Sinti und Roma. 43 Siehe oben Fn. 2.

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und Roma, deren Angehörige die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, anzuwenden sei. 44 Eine dänische Minderheit in Deutschland ist das Ergebnis der Rivalität Dänemarks, Österreichs und Preußens in Bezug auf Schleswig, die infolge der Einverleibung Schleswigs durch König Friedrich VII. von Dänemark im Jahre 1863 verursacht worden war und 1864 ihr vorläufiges, 1866 mit dem Prager Frieden zwischen Preußen und Österreich aber ihr endgültiges Ende fand; die beiden Herzogtümer Schleswig und Holstein fielen an Preußen. Die Zahl der dieser Gruppe angehörenden Personen soll sich auf ca. 60.000 bis 70.000 belaufen. 45 Grundlage für ihren gegenwärtigen Status als Minderheit waren zunächst die Erklärung des Landesregierung von Schleswig Holstein vom 26. September 1949 (Kieler Erklärung) und die Bonn-Kopenhagener Erklärungen von 1955. 46 Die Verfassung von Schleswig-Holstein vom 13. Juni 1990 stellt die kulturelle Eigenständigkeit und die politische Mitwirkung nationaler Minderheiten und Volksgruppen unter den Schutz des Landes, der Gemeinden und der Gemeindeverbände und ordnet an, dass die nationale dänische und friesische Volksgruppe Anspruch auf Schutz und Förderung haben (Art. 5). Die Friesen, die in drei Siedlungsgebieten leben, sind immer ein Volk ohne eigenen Staat gewesen. 47 Die kulturellen Besonderheiten haben in den verschiedenen Wohngebieten eine unterschiedliche Dichte. Während in der niederländischen Provinz Friesland (Westfriesland) noch über 350.000 Friesen mit regem kulturellen Eigenleben siedeln, zu dem in erster Linie der Gebrauch und die Pflege der friesischen Sprache gehört, ist dagegen auf deutschem Gebiet in Nordfriesland die kulturelle Eigenart nur noch schwer nachweisbar. Sie wird ja nicht allein durch folkloristische Darbietungen begründet, sondern bedarf einer breiteren Basis und insbesondere der inneren Anteilnahme der betroffenen Bevölkerung selbst. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurden den Friesen in Schleswig-Holstein Minderheitenrechte zuerkannt. Grundlage für ihren Status war – wie auch für die Dänen – zunächst die Kieler Erklärung vom 26. September 1949. Hinzu kam die Absicherung desselben durch Aufnahme des Minderheitenschutzes in die Verfassung von Schleswig-Holstein vom 13. Juni 1990 (Art. 5 Abs. 2). Die Sorben haben als Gruppe bereits eine längere Geschichte. Otto I. hatte unmittelbar im Anschluss an seinen Sieg über die Ungarn (Magyaren) im Jahre 955 die Slawenkriege im Elbgebiet zu seinen Gunsten entschieden. 60.000 bis 70.000 Sorben sollen als Nachfahren noch in der Lausitz leben. ___________ 44

Die Ratifikationsurkunde wurde am 10.09.1997 hinterlegt. Blumenwitz, Minderheiten- und Volksgruppenrecht (Fn. 1), S. 107. 46 BAnz v. 31.03.1955 Nr. 63, S. 4 ff. 47 Tholund, J. (Fn. 19), Anhang, S. 91, in seinem Bericht zur Lage der friesischen Bevölkerungsgruppe. 45

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In allen Fällen handelt es sich um Bevölkerungsgruppen, deren Kultur vornehmlich durch ihre über eine lange Zeit sich hinziehende Integration in den Staatenverband bestimmt ist, dem sie im Laufe ihrer Geschichte angehörten. Die Besonderheiten in sprachlicher Hinsicht fallen demgegenüber jedenfalls bei den Dänen und Friesen weniger ins Gewicht, weil diese angesichts der Vielfalt der in allen Regionen gesprochenen Mundarten kein hervorstechendes Merkmal sind. Die ihnen nach dem Zweiten Weltkrieg zugebilligten Vergünstigungen dienen deshalb wohl mehr einem musealen Interesse, wenn man von dem verständlichen Gruppeninteresse an besonderen öffentlichen Zuwendungen absieht. Es fragt sich, worin bei diesen Volksgruppen die ungleiche Ausgangslage 48 für die Ausübung der verbürgten Rechte zu erblicken ist. Ganz anders ist die Lage der Südtiroler im Verhältnis zum italienischen Staat. 49 Wieder anders diejenige von Volksgruppen in den Groß-, Mehr- und Vielvölkerstaaten, deren Glieder bereits staatsrechtlich gegenüber dem Gesamtstaat eine mehr oder weniger geschlossene Einheit bilden; und kaum vergleichbar sind die geschilderten Verhältnisse mit solchen, die in Regionen auf anderen Kontinenten bestehen, in denen neue Staaten durch Gewalt oder Verdrängung alteingesessener Bevölkerung geschaffen worden sind. Es handelt sich jeweils um grundlegend verschiedene Sachverhalte, die keine verallgemeinernde Beurteilung und eigentlich auch keine allgemeine Normierung zulassen. Eine solche erscheint nur deshalb möglich, weil man einerseits auf der völkerrechtlichen Ebene auf eine Definition des Minderheitenund Volksgruppenbegriffs verzichtet und andererseits nur den Angehörigen einer Gruppe und nicht dieser selbst entsprechende Rechte einräumt. Der Verzicht auf eine Definition lässt der Politik einen Freiraum zur Gestaltung, den sie angesichts der unterschiedlichen Sachverhalte dringend benötigt. 50 Die Weigerung, Gruppenrechte oder „kollektive Rechte“ zuzubilligen, hemmt hin___________ 48 Von dieser geht Blumenwitz, Minderheiten- und Volksgruppenrecht (Fn. 1), S. 67, aus. Die Annahme einer ungleichen Ausgangslage ergibt sich mittelbar auch aus den Texten der Dokumente. In Art. 4 Abs. 2 des Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten des Europarates von 1995 werden die Vertragsparteien verpflichtet, erforderlichenfalls angemessene Maßnahmen zu ergreifen, um in allen Bereichen des wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Lebens die vollständige und tatsächliche Gleichheit zwischen den Angehörigen einer nationalen Minderheit und den Angehörigen der Mehrheit zu fördern. In dieser Hinsicht haben die Vertragsparteien in gebührender Weise die besonderen Bedingungen der Angehörigen nationaler Minderheiten zu berücksichtigen. 49 Zur Entwicklung ihrer Verhältnisse Durnwalder (Fn. 19), S. 37 ff. 50 Blumenwitz, Minderheiten- und Volksgruppenrecht (Fn. 1), S. 28, ist gegenteiliger Meinung. Das Völkerrecht und speziell die Vielfalt der verschiedenen Minderheiten und ihrer Wohnstaaten erfordern seiner Ansicht nach nicht nur eine einheitliche Minderheitendefinition, sondern auch eine eindeutige Rechtsträgerbestimmung.

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wiederum die politische Stoßkraft von Gruppen innerhalb eines Staates, der auf seine Integrität bedacht sein muss. 51

V. Die Gefahren der Erstreckung der Rechte von Minderheiten auf andere Gruppen Es ist nicht auszuschließen, dass in der Zukunft die Konflikte nicht mehr in erster Linie wegen des Bestandes von Minderheiten im Rechtssinne entstehen, also von Volksgruppen, die traditionell, d. h. seit „unvordenklicher Zeit“ oder von „altersher“ in ihren angestammten Gebieten leben, eine eigene Kultur haben und denen ein Heimatrecht zuerkannt werden muss, um ihre Vertreibung oder Vernichtung zu verhindern, sondern wegen der massenweisen Zuwanderung von Personen, die fremden Kulturkreisen angehören. Im Schrifttum ist die Frage, ob sich aus der Einwanderung neue Minderheiten bilden können, umstritten. 52 Blumenwitz unterscheidet streng zwischen Minderheiten und solchen Personengruppen, die dem Fremdenrecht unterliegen. In diesem Zusammenhang interessieren vorrangig mögliche völkerrechtliche Rechtsakte, die den Rahmen des schützenswerten Personenkreises wesentlich erweitern. 1. Blumenwitz hat bereits kurz nach Abschluss des deutsch-polnischen Vertrags über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit, der am 16. Januar 1992 mit dem Austausch der Ratifikationsurkunden in Kraft trat, darauf hingewiesen, 53 dass die Regelung über die Rechte der polnischen Staatsangehörigen, die deutscher Abstammung sind und derjenigen, die sich in Polen zur deutschen Sprache, Kultur und Tradition bekennen sowie deutscher Staatsangehöriger, die polnischer Abstammung sind oder sich zur polnischen Sprache, Kultur und Tradition in Deutschland bekennen, zu Schwierigkeiten sowohl für die Minderheit der deutschen Volksgruppe in Polen als auch für die Bundesrepublik selbst bei der Gestaltung der Verhältnisse der in Deutschland lebenden Polen führen könnten. Denn beide Vertragsparteien verpflichten sich in Art. 20 Abs. 2 des Nachbarschaftsvertrags, die Rechte und Verpflichtungen

___________ 51

Im Schrifttum wird dagegen das Fehlen kollektiver Rechte überwiegend kritisiert, auch von Blumenwitz. Sofern diese Kritik nicht geteilt wird, stützt man sich auf die Lebenserfahrung. Gruppenrechte seien deshalb unzulänglich, weil sich damit die Gruppe über den einzelnen Gruppenangehörigen stelle; Tomuschat, Ch., in: Bernhardt, R. et al. (Hrsg.), Völkerrecht als Rechtsordnung – Internationale Gerichtsbarkeit – Menschenrechte. Festschrift für H. Mosler, 1983, S. 979. 52 Wolfrum (Fn. 19), S. 123; Partsch, K. J., FS Geck, 1989, S. 581 (586 ff.); Tomuschat. (Fn. 51), S. 949 (960 ff.). 53 Minderheiten- und Volksgruppenrecht (Fn. 1), S. 83.

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des internationalen Standards für Minderheiten zu verwirklichen. 54 Was auch immer unter den Standards für Minderheiten zu verstehen ist, zu Recht befürchtete Blumenwitz eine Vermengung der Stellung der Minderheiten mit derjenigen der „Gast- und Wanderarbeiter“, 55 wobei heute die politischen Flüchtlinge aus der Zeit der kommunistischen Herrschaft und die danach aus wirtschaftlichen oder anderen Interessen Zugewanderten hinzuzurechnen wären. Die zugewanderten Polen, die die deutsche Staatsangehörigkeit erworben haben, werden in Art. 20 des Nachbarschaftsvertrages nicht als Minderheit bezeichnet, sie bilden keine eigene Volksgruppe, gleichwohl werden ihnen die gleichen Rechte zugebilligt, die den Minderheiten als Standard, d. h. im Allgemeinen, eingeräumt werden. In Art. 1 des bei Unterzeichnung des Nachbarschaftsvertrages seitens der Außenminister der Vertragsparteien ausgetauschten gleichlautenden Briefes, der zur Auslegung des in Art. 20 des Nachbarschaftsvertrages getroffenen Regelung dienen kann, werden die Vergünstigungen sogar auf Personen erstreckt, die keine deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, sondern Fremde im Sinne des Fremdenrechts sind. Darin sieht Blumenwitz eine weitere Gefahr, weil die große Zahl anderer Ausländer, die sich als Fremde im Sinne des Fremdenrechts in Deutschland aufhalten, mit dem Hinweis auf das Gebot der Nichtdiskriminierung die gleichen Rechte einfordern könnten. Die Befürchtungen von Blumenwitz haben sich in jüngster Zeit teilweise verwirklicht. In Polen ist vor kurzem ein politischer Streit über die gegenwärtige rechtliche Stellung der deutschstämmigen Polen, die der deutschen Minderheit angehören, ausgebrochen. Die Liga Polnischer Familien (LPR) hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, nach welchem die deutsche Minderheit das Wahlprivileg verlieren soll. Das Wahlgesetz schreibt vor, dass die 5-%-Hürde nicht für die gewählten Vertreter der Minderheit zum Sejm gilt. Mit der Abschaffung dieses Privilegs würde der Zugang zum polnischen Parlament, dem gegenwärtig zwei Vertreter angehören, verschlossen. Inzwischen hat sich auch der polnische Ministerpräsident Jaroslaw Kaczynski auf das Prinzip der Gegenseitigkeit berufen und behauptet, dass Deutschland eine Politik der Assimilierung der Polen betreibe. 56 Er fordert, dass den in Deutschland lebenden Polen eine entsprechende Vergünstigung gewährt werden müsste, andernfalls sollte das Privileg der deutschen Minderheit in Polen abgeschafft werden. In einschlägigen Dokumenten, z. B. auch im Rahmenabkommen des Europarates zum Schutz nationaler Minderheiten von 1995, 57 ist zwar die Teilnahme an öffentlichen ___________ 54 Entsprechende, aber geschickter gefasste Regelungen enthält der Nachbarschaftsvertrag mit der damals noch bestehenden Tschechoslowakei vom 02.07.1992 (Auszug bei Blumenwitz, Minderheiten- und Volksgruppenrecht [Fn. 1], S. 185). 55 Minderheiten- und Volksgruppenrecht (Fn. 1), S. 83. 56 FAZ v. 09.09.2006. 57 Siehe oben Fn. 2.

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Angelegenheiten den Angehörigen einer Minderheit zu ermöglichen, aber die Art und Weise der Mitwirkung ist nicht geregelt, so dass die konkrete polnische Wahlregelung auch geändert oder abgeschafft werden könnte. Andererseits ist dem Art. 20 Abs. 2 des Nachbarschaftsvertrages in Verbindung mit dessen Abs. 1 zu entnehmen, dass auch den Polen, die sich in Deutschland niedergelassen haben und die die deutsche Staatsangehörigkeit erwarben, die gleichen Rechte zukommen sollen wie der deutschen Minderheit in Polen. Auf die ausdrückliche Anerkennung als Minderheit kommt es danach nicht an. In der Zuweisung der gleichen Rechte liegt an sich schon die stillschweigende Anerkennung einer bestimmten Rechtsstellung eingeschlossen, nämlich der einer Minderheit oder Volksgruppe. 58 Dieser Umstand lässt die Forderung polnischer Politiker berechtigt erscheinen, obgleich der Regelung des Nachbarschaftsvertrags völlig verschiedene Sachverhalte zugrunde liegen. Bei der deutschen Minderheit in Polen handelt es sich um den kleinen Teil der in den Ostgebieten des ehemaligen Deutschen Reiches ansässigen Bevölkerung, 59 der das Schicksal der Vertreibung aus irgendwelchen Gründen erspart geblieben ist, während die Polen in Deutschland in aller Regel aus wirtschaftlichen Gründen, ausnahmsweise als Flüchtlinge, zugewandert sind. Wirtschaftliche Gründe bewogen schon die polnischen Arbeiter in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in das Ruhrgebiet einzuwandern, wo die expandierende Schwerindustrie Arbeits- und Einkommenschancen bot. Einzige schwache Anhaltspunkte, die gegen eine Anerkennung dieses Personenkreises als Volksgruppe oder Minderheit sprechen könnten, sind folgende: Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Personen mit polnischer Volkszugehörigkeit, aber deutscher Staatsangehörigkeit in Art. 20 Abs. 1 des Nachbarschaftsvertrages nicht als Minderheit bezeichnet werden. In Anbetracht der strikten Gleichstellung in rechtlicher Hinsicht genügt dieser Hinweis jedoch nicht, um ihnen besondere Volksgruppenrechte abzusprechen. In zweiter Linie könnte man geneigt sein, in dem in Art. 20 Abs. 2 des Nachbarschaftsvertrages niedergelegten Gebot, wonach die Vertragsparteien die Rechte und Verpflichtungen des internationalen Standards für Minderheiten zu verwirklichen haben, eine überflüssige Klausel zu erblicken, sofern es sich auch bei den Polen in Deutschland um Minderheiten handeln sollte; denn nur wenn der Minderheitenstatus zu verneinen ist, hätte es allenfalls Sinn, auf die nach Völkerrecht einer Minderheit zuerkannten Rechte und Pflichten hinzu___________ 58

Deshalb ist die Behauptung des PiS (Recht und Gerechtigkeit)-Abgeordneten Marian Pilka (FAZ vom 09.09.2006), dass Deutschland seinen Bürgern polnischer Abstammung überhaupt keinen Minderheitenstatus gewähre, nicht richtig. 59 Henryk Kroll, der als Abgeordneter im polnischen Parlament für die deutsche Minderheit sitzt, schätzt diese auf etwa 300.000 Personen; FAZ vom 11.09.2006, S. 7.

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weisen. Dem widerspricht jedoch die Benennung beider Vertragsparteien zu Beginn des Textes und die damit angestrebte rechtliche Gleichstellung. Blumenwitz hat somit die möglichen Folgen der verunglückten Regelung in Art. 20 des Nachbarschaftsvertrages vorausgesehen. Diese sind in der Tat unabsehbar, wenn man nicht nur die in Deutschland lebenden Polen und deren Nachkommen, sondern auch die Millionenzahl Angehöriger anderer Nationen in Betracht zieht, die in den vergangenen Jahrzehnten eingewandert sind. 60 Zwar wird zur Zeit der Minderheitenstatus der Dänen in Schleswig-Holstein, der Sorben in der Lausitz, der Sinti und Roma sowie der Friesen anerkannt; alle genannten Volksgruppen sind allerdings in ihren Lebensräumen bereits seit sehr langer Zeit beheimatet. Indessen werden die übrigen Einwanderer noch von den Sonderrechten einer Minderheit ausgeschlossen. Wird aber den Polen ein besonderer Status eingeräumt, so besteht die Gefahr, dass sich zumindest wegen Diskriminierung bei anderen Einwanderern ein politischer Druck aufbaut, um eine Angleichung der Rechtsstellung zu erwirken. Ungeachtet dessen lehrt die Geschichte, dass langfristig nicht nur die Unterwerfung fremder Völkerschaften, sondern auch die massenweise Zuwanderung zu Minderheitenproblemen führen kann, sofern eine Assimilierung oder Integration nicht gelingt. 2. Andererseits folgen aus den faktischen Voraussetzungen für das Bestehen von Minderheiten, die nach Meinung von Blumenwitz gegeben sein müssten, um sie als solche anerkennen zu können, ebenfalls unabsehbare Gefahren für den Gesamtstaat. Im Hinblick auf die Nachkommen polnischer Industriearbeiter, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts aus den preußischen Ostprovinzen in das Ruhrgebiet eingewandert sind, meint er, dem Umstand, dass die Ruhrpolen schon seit Generationen in Deutschland ansässig sind, entnehmen zu können, dass sie dem Minderheiten- oder Volksgruppenbegriff untergeordnet werden könnten. 61 Er macht allerdings die Einschränkung, dass sie ihre Sprache pflegen müssten, um als sprachliche Minderheit anerkannt zu werden, was auch nach außen, z. B. durch eine polnische Zeitung, erkennbar werden müsste. Dieses Erfordernis begründet er mit der Annahme, dass subjektiv ein Wille zur Bildung einer besonderen Kulturgemeinschaft bestehen muss. Beunruhigend ist indessen, dass mehrere, vielleicht nur zwei oder drei Generationen ausreichen, um als Minderheit bei einem entsprechenden politischen Willen anerkannt zu werden. Bei der Vielzahl von Angehörigen unterschiedlicher Nationalitäten, die teils gewünscht, teils unerwünscht in fremde Länder einwandern, ist auf ___________ 60 Zum Ausmaß und zur Problematik der Einwanderung aus politischer Sicht Müller, P. / Bosbach, W., Zukunftsform Politik, Nr. 23, Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. (Hrsg.), Zuwanderung und Integration. 61 Blumenwitz, Minderheiten- und Volksgruppenrechte (Fn. 1), S. 114.

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längere Frist gesehen eine Erosion und Spaltung der „Nation“ in einzelne voneinander sich abgrenzende Kulturräume, 62 die auch einen Verdrängungseffekt zur Folge haben, zu befürchten. Dass sich die Kulturräume innerhalb eines Staates erhalten, verändern oder neu bilden können, ist bekannt, dass aber ein entsprechender Prozess durch Mitwirkung des Staates gewollt und gefördert wird, dürfte eine neuere Erfahrung sein. Die Probleme des Vielvölkerstaates stellen sich dann lediglich auf einem anderen Niveau. Die bekannten Nationalitätenkonflikte, die gemeinhin auf einen überzogenen Nationalismus zurückgeführt werden, verlagern sich nur auf eine andere Ebene innerhalb eines souveränen Staates.

VI. Die Integration als Staatsaufgabe 1. Diese weit reichenden Folgen könnten nur durch Assimilierung verhindert werden, jedoch gerade diese soll der freien Entscheidung des Einzelnen überlassen bleiben. Assimilierungszwang wie auch die Vertreibung sind heute völkerrechtswidrige Maßnahmen. Die freie Entscheidungsmöglichkeit des Einzelnen ist ein Menschenrecht. Es bleibt demnach nur das Verlangen nach Integration als politische Forderung des Staates als sein Angebot, aber auch als Recht und Pflicht einer Gruppe übrig. Bei einer Minderheit steht zwar die Bewahrung und Entfaltung der kulturellen Identität im Vordergrund, nach Auffassung von Blumenwitz 63 hat aber eine Minderheit darüber hinaus ein berechtigtes Interesse, die Politik mitzugestalten, dem zu entsprechen sei, indem ihr auch das Recht auf Mitregierung zuerkannt wird. Es soll damit die politische Ausgrenzung vermieden werden, um den Angehörigen einer Volksgruppe die Einsicht von der Richtigkeit der staatlichen Ordnung zu vermitteln. Die Teilnahme der Gruppe und nicht nur des Einzelnen an der praktischen Willensbildung des Gesamtstaates führt dann nach seiner Auffassung zu einer politischen Integration, und die parlamentarische Beteiligung ist somit die angemessenste politische Integrationsform. 2. Es leuchtet ein, dass nicht nur der Schutz, sondern auch die Integration von Minderheiten zu den Aufgaben eines Staates gehören, da diese der „Systemerhaltung als einer genuinen Staatsaufgabe“ 64 dient. Die Anerkennung von Minderheiten und Volksgruppen fördert jedoch an sich schon in einem Staat zentrifugale Kräfte, die durch das natürliche Bedürfnis nach Selbstbestimmung und Autonomie in möglichst vielen Bereichen aktiviert werden. Am Endpunkt ___________ 62

Heute spricht man von Parallelgesellschaften. Volksgruppen und Minderheiten, Politische Vertretung und Kulturautonomie (Fn. 1), S. 41. 64 Herzog, R., in: Isensee, J. / Kirchhof, P. (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1988, Bd. III, § 58 Rn. 92. 63

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einer Entwicklung kann der Wille zur Eigenstaatlichkeit oder zum Anschluss an einen anderen Staatenverband stehen. Deshalb ist die politische Integration, hier verstanden als Recht einer Gruppe zur Mitwirkung auf der parlamentarischen Ebene, eher ein Hindernis für die Integration als ein Mittel zu ihrer Förderung. Die Staatsangehörigkeit schafft andererseits eine personenrechtliche Beziehung zum Staat, die nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten begründet; die Pflicht zur Loyalität ist bereits genannt worden. Will man die Grenzen dieser Pflicht bestimmen, so ist die Lage eines demokratischen Verfassungsstaates zu berücksichtigen, dessen System nur aufrechterhalten werden kann, wenn es gelingt, trotz widerstrebender Kräfte die Einheit als Nation zu erhalten. Auch die neuere von Menschen- und Grundrechten geprägte Denkweise, kommt nicht umhin, die Nation als eine Solidargemeinschaft zu bezeichnen, die nicht allein rational begründet werden kann. Die Nation ist auch nach heutiger Auffassung eine Willenseinheit, 65 die ohne nationales Bewusstsein nicht auskommt. „Die Existenz einer Nation lässt sich nicht aus Vernunftgründen ableiten“, meint Isensee. 66 „In der nationalen Willenseinheit wirken auch die irrationalen Kräfte, Leidenschaften, Sympathien, Antipathien“, fährt er weiter fort und greift die Aussage des französischen Religionswissenschaftlers Ernest Renan 67 auf, wonach die Nation „Seele und Körper“ zugleich sei. Schon viel früher hatte F. L. Jahn 68 auf die Frage, was ein Volk sei, geantwortet: „Nicht Sprache allein, nicht Landsmannschaft, nicht Staatshörigkeit, nicht Herkunft, nicht Gottestum geben, jedes für sich allein schon das Anrecht zum Volk.“ Eine Gesellschaft muss nach seiner Auffassung eine Seele haben, um volksfähig sein zu können; und die entsprechende Einigungskraft nennt er Volkstum. Auch wenn aus heutiger rationaler Sicht die Seelen- und Volksgeistvorstellungen weitgehend abgelehnt werden, weil für ihre Berechtigung überzeugende Beweise fehlen, so ist doch nicht zu leugnen, dass ein Wille zur Einheit Gemeinsamkeiten bei der Befindlichkeit aller Staatsangehörigen voraussetzt. Es ist somit eine Staatsaufgabe, vorrangig diese Gemeinsamkeiten zu fördern. Unterlässt der Staat dies und erlischt der Wille seiner Bürger zur Einheit, so ist der Bestand der Nation gefährdet. Auch „Nationen sind sterblich“. 69 Integration ist demnach nicht nur Aufgabe des Staates, sondern auch eine staatsbürgerliche Pflicht von Volksgruppen und Minderheiten, die Kultur der Nation, die einen Staat gebildet hat und dem sie angehören, wahrzunehmen und ___________ 65

Isensee (Fn. 64), Bd. II, § 15, Rn. 119 ff. Handbuch des Staatsrechts (Fn. 64), Rn. 126. 67 Auf die Frage: „Was ist eine Nation?“. Dazu Schulze, H., Staat und Nation in der europäischen Geschichte, 1994, S. 110. Nach seiner Auffassung hat Renans Definition bis heute ihre Gültigkeit behalten. 68 Jahn, F. L., Merke zum Deutschen Volksthum, 1833, S. 3. 69 Isensee (Fn. 64), Rn. 124 a. E. 66

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sich ihr zu öffnen; und dazu gehört nicht nur das Erlernen der Sprache. Eine Grenze zwischen Assimilierung und Integration zu bestimmen, ist allerdings schwierig, solange nicht genügend empirisches Material vorliegt, das es erlaubt, das Interesse der Minderheiten und Volksgruppen, an ihrer eigenen „kulturellen Identität“ festzuhalten, mit dem Interesse des Staates an der Systemerhaltung zu vergleichen und beide gegeneinander abzuwägen. Die Präambeln der Dokumente zum Minderheitenschutz orientieren sich recht einseitig an der Vorstellung, dass der Schutz nationaler Minderheiten für Stabilität, demokratische Sicherheit und Frieden70 wesentlich sei. Ein Klima der Toleranz und des Dialogs soll die kulturelle Vielfalt außerdem zu einer Quelle der Bereicherung machen. Die Wirklichkeit lässt sich jedoch mit solchen spekulativen Annahmen weder erfassen noch beeinflussen. 3. Die Bestimmung der Grenze zwischen Assimilierung und Integration hat auch Bedeutung für die Zuwanderung von Ausländern, die dem Fremdenrecht unterstehen. Denn einmal ist nicht auszuschließen, dass es zur Bildung neuer Volksgruppen mit Minderheitenstatus kommt, zum anderen ist es möglich, dass eine Angleichung der Rechtsstellung der Ausländer aus politischen Gründen erfolgt. Der Nachbarschaftspakt mit Polen ist dafür ein Beispiel. Ob auch Maßnahmen zulässig sind, die als Angebote zur Assimilierung zu verstehen sind, könnte zweifelhaft sein, weil die völker- und staatsrechtlichen Dokumente den Staat zu einem Schutzpatron der Minderheiten stilisieren. Geht man davon aus, dass die Systemerhaltung eine genuine Staatsaufgabe ist, so kann es dem Staat nicht verwehrt sein, auf eine Assimilierung unter Achtung der anerkannten Menschenrechte hinzuwirken, die ja den Bestand der Nation und damit auch des Staates festigt. Assimilierung bedeutet ja nicht, dass die kulturelle Eigenart bestimmter Bevölkerungsteile aufgegeben werden soll, sondern nur, dass im Bewusstsein besonderer Eigenart der Anspruch auf deren Erhalt und Förderung gegen den Staat nicht oder nicht mehr als subjektives Sonderrecht einer Gruppe erhoben wird.

___________ 70 Z. B. Präambel des Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten von 1995 (Fn. 2).

Die wahlrechtliche Privilegierung von Minderheiten – völkerrechtliche Vorgaben und innerstaatliche Ausgestaltung in der Bundesrepublik Deutschland Burkhard Schöbener Trotz seiner thematisch höchst vielfältigen wissenschaftlichen Interessen hat Dieter Blumenwitz dem völkerrechtlichen Schutz der Minderheiten und Volksgruppen in seinem Wirken einen ganz besonderen Rang eingeräumt. 1 Im Vorwort seines Forschungsberichts „Minderheiten- und Volksgruppenrecht – Aktuelle Entwicklungen“ aus dem Jahr 1992 greift er den Mythos von der Büchse der Pandora auf, um die Übel zu veranschaulichen, die im politischen Umgang mit Nationalitätenkonflikten zutage treten, bei denen in der rechtlichen Ausgestaltung des Minderheiten- und Volksgruppenrechts aber auch die Hoffnung auf eine bessere Zukunft mitschwingt. Vor dem Hintergrund der in Europa sich zuspitzenden Nationalitätenfragen, so Blumenwitz, 2 „erscheint das Minderheiten- und Volksgruppenrecht und seine behutsame Fortentwicklung heute als Hoffnungsträger bei der Suche nach inner- und zwischenstaatlichen Konfliktlösungen.“ Das Minderheitenrecht, der Schutz nationaler, ethnischer und religiöser Minderheiten, gehört zu den traditionellen Anliegen des Völkerrechts. Entsprechende Regelungen finden sich heute im universellen Völkerrecht ebenso wie in regionalen Abmachungen. Und auch das innerstaatliche Recht sieht regelmäßig besondere Schutzvorschriften zugunsten bestimmter Minderheiten vor. In Würdigung der großen Verdienste, die sich Dieter Blumenwitz über die Jahrzehnte durch sein staats- und völkerrechtliches Werk erworben hat, soll auch dieser Beitrag dem Minderheitenrecht gelten. Die wahlrechtliche Privilegierung von Minderheiten, um diesen eine bessere Teilhabe am demokratischen Entscheidungsprozess zu ermöglichen, ist ein Thema, das sich zurzeit in ___________ 1 Vgl. nur: Blumenwitz, D., Volksgruppen und Minderheiten. – Politische Vertretung und Kulturautonomie, 1995; ders., Minderheitenrechte in Oberschlesien nach dem Ersten Weltkrieg, in: Bossle, L. et al. (Hrsg.), Schlesien als Aufgabe interdisziplinärer Forschung, 1986, S. 123 ff.; ders., Selbstbestimmungsrecht und Volksgruppenrecht, in: JOR 1991, S. 9 ff.; ders., Völkerrechtliche Grundlagen der Südtirol-Frage, in: FW 1986, S. 91 ff.; ders., Minderheitenschutz, in: Menschenrechte in den Staaten des Warschauer Paktes, Bericht der unabhängigen Wissenschaftlerkommission, 1988, S. 296 ff. 2 Blumenwitz, D., Minderheiten- und Volksgruppenrecht. – Aktuelle Entwicklungen, 1992, S. 5.

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Deutschland zwar nicht auf der politischen Agenda befindet, das aber angesichts der Zuwanderungs-„Minderheiten“ durchaus schnell zu einem wichtigen Thema werden könnte.

I. Einleitung Auf der Bundesebene ist die wahlrechtliche Privilegierung in § 6 Abs. 6 S. 2 BWahlG niedergelegt. Satz 1 dieser Vorschrift normiert die allseits bekannte so genannte 5-%-Klausel. Danach werden bei der Verteilung der Sitze auf die Landeslisten nur Parteien berücksichtigt, die mindestens fünf vom Hundert der im Wahlgebiet abgegebenen gültigen Zweitstimmen erhalten oder in mindestens drei Wahlkreisen einen Sitz errungen haben. Der zweite Satz des § 6 Abs. 6 BWahlG lautet dann aber: „Satz 1 findet auf die von Parteien nationaler Minderheiten eingereichten Listen keine Anwendung“. 3 Diese Ausnahmevorschrift zugunsten der „Parteien nationaler Minderheiten“, die nach der ursprünglichen Absicht des Gesetzgebers bei ihrer Einführung 1953 die Partei der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein privilegieren sollte, ist bislang zwar bei noch keiner Bundestagswahl zur Anwendung gekommen. Das darf aber nicht darüber täuschen, dass ihr Verständnispotenzial es auf den ersten Blick durchaus zuzulassen scheint, auch die so genannten neuen Minderheiten als „nationale Minderheiten“ zu begreifen. Denn die in Deutschland allgemein anerkannten nationalen Minderheiten verfügen selbst nur über eine so geringe Zahl von Angehörigen – zur dänischen Minderheit gehören ca. 50.000 Menschen, zu den Sorben ca. 70.000 Personen 4 –, dass beide bei realistischer Betrachtung nicht in der Lage sind, die für ein Mandat erforderliche Stimmenzahl zu erringen. Geht man davon aus, dass eine Regelung wie die Privilegierung nationaler Minderheiten nicht nur symbolischen Charakter besitzt, dann macht es durchaus Sinn, das Merkmal „nationale Minderheit“ dynamisch-entwicklungsoffen zu interpretieren. Die mögliche Bildung von Parteien z. B. türkischstämmiger deutscher Staatsangehöriger könnte dann mit der Forderung verbunden werden, als Partei einer „nationalen Minderheit“ von der 5-%-Sperrklausel ausgenom___________ 3 Auf der Landesebene sehen § 3 Abs. 1 WahlG für den Landtag von SchleswigHolstein („Parteien der dänischen Minderheit“) und § 3 Abs. 1 WahlG für den Landtag von Brandenburg („Parteien, politischen Vereinigungen oder Listenvereinigungen der Sorben“) entsprechende Ausnahmen von der Sperrklausel vor. § 6 Abs. 6 S. 2 BWahlG bezieht sich hingegen allgemein auf „Parteien nationaler Minderheiten“. Privilegiert sind die Parteien nationaler Minderheiten zudem bei der staatlichen Parteienfinanzierung; vgl. § 18 Abs. 4 S. 3 ParteiG. 4 Angaben nach Murswiek, D., Schutz der Minderheiten in Deutschland, in: Isensee, J. / Kirchhof, P. (Hrsg.), HStR VIII, 1995, § 201 Rn. 15/17.

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men zu sein. 5 Die politischen Diskussionen in der Gemeinsamen Verfassungskommission über die Aufnahme eines Minderheitenschutzartikels in das Grundgesetz drehten sich ebenfalls um die Frage, ob auch die so genannten neuen Minderheiten von den Schutzgewährleistungen erfasst werden sollten. Und auf der internationalen Ebene begegnet uns diese Diskussion bei dem rechtlichen Problem der Definition des Begriffs der Minderheit. Angesichts der Verflechtungen des internationalen Minderheitenschutzes, der grundgesetzlichen Maßgaben und der einfachgesetzlichen Ausgestaltung ist es zunächst angebracht, die völkerrechtliche Ebene darauf zu befragen, welcher Minderheitenbegriff ihr zugrunde liegt und welche Anforderungen sie an die innerstaatliche Ausgestaltung politischer Teilhaberechte stellt. 6 Danach sind die verfassungsrechtlichen Maßgaben des Grundgesetzes insbesondere unter dem Aspekt des wahlrechtlichen Gleichheitsgrundsatzes darzustellen, um abschließend die rechtlichen Konsequenzen für § 6 Abs. 6 S. 2 BWahlG zu formulieren.

II. Völkerrechtlicher Minderheitenschutz und politische Teilhaberechte 1. Vorbemerkung Minderheitenschutz und politische Teilhaberechte gehören grundsätzlich zwei verschiedenen Gewährleistungsbereichen an. Beim Minderheitenschutz geht es vornehmlich darum, einerseits die spezifische Minderheitenkultur zu bewahren, um damit andererseits auch dem sozialen Frieden innerhalb eines Staatswesens zu dienen. 7 Dahinter steht das Ziel der Integration der Minderheit in das jeweilige Staatswesen im ureigensten Interesse der Mehrheitsbevölkerung. Beide Funktionen ergänzen sich keineswegs spannungsfrei, sondern kön___________ 5 Vgl. Rechenberg, H., Zur Frage der Auswirkungen von Masseneinbürgerungen auf das Wahlrecht durch die Entstehung von Minderheiten, Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages v. 08.03.1999; Hailbronner, K., Doppelte Staatsangehörigkeit, in: ZAR 1999, S. 51 (56); ders., Es geht auch pragmatisch, in: FAZ v. 20.01.1999; Gelinsky, K., Minderheitenschutz und Staatsangehörigkeit, in: FAZ v. 19.02.1999; Wolfrum, R., Ohne Völkerrechts-Konsens zum Minderheitenschutz, in: FAZ v. 06.03.2000 (Leserbrief). 6 Vgl. Murswiek (Fn. 4), § 201 Rn. 6, der von der „begriffsprägenden Kraft des Völkerrechts in dieser Rechtsmaterie“ spricht; man müsse davon ausgehen, dass der nationale Gesetzgeber, wenn er nicht ausdrücklich etwas anderes bestimmt, mit Zweck und Begriff des Minderheitenschutzes sich am Standard des Völkerrechts orientiere, bis hin zu einer „Rechtsvermutung, dass die dort verwendeten Begriffe im Sinne der entsprechenden völkerrechtlichen Begriffe zu verstehen sind.“ 7 Vgl. Pallek, M., Der Minderheitenschutz im deutschen Verfassungsrecht, 2001, S. 104 ff.

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nen etwa aufgrund einer zu starken Privilegierung der Minderheit auch zu erheblichen Ungleichgewichten führen. Dem wird zumindest im Völkervertragsrecht aber dadurch weithin vorgebeugt, dass die aus den einzelnen Dokumenten resultierenden staatlichen Verpflichtungen sich in der Regel auf kulturelle und ähnliche Privilegierungen beziehen. Bei den politischen Teilhaberechten, zumal beim Wahlrecht, geht es hingegen nicht primär um Minderheitenschutz, sondern um die Wahrnehmung staatsbürgerlicher Rechte. Der Bürger ist derjenige, der das Gemeinwesen trägt und die dort zu treffenden Entscheidungen mitbestimmt. Aus der Stellung als Bürger unter Bürgern ergibt sich unmittelbar die Notwendigkeit der Gleichheit der Bürger, die in unserem Zusammenhang insbesondere die Wahlrechtsgleichheit meint. 8 Eine Privilegierung bei der staatsbürgerlichen Teilhabe scheint deshalb – jedenfalls auf den ersten Blick – ein Widerspruch zu sein.

2. Schutz politischer Teilhabe für nationale Minderheiten im IPbpR Von zentraler Bedeutung für den universellen Minderheitenschutz ist der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR bzw. Bürgerrechtspakt), der vor mehr als 30 Jahren in Kraft getreten ist. Der Pakt unterscheidet ganz im herkömmlichen Verständnis zwischen dem politischen Teilhaberecht und dem Minderheitenschutz.

a) Minderheitenschutz gem. Art. 27 IPbpR (i. V. m. der Minderheiten-Deklaration der Generalversammlung) Der sachliche Schutzbereich des Minderheiten-Artikels (Art. 27) umfasst lediglich das Recht der einzelnen Minderheitenangehörigen, gemeinsam mit anderen Angehörigen der Gruppe ihr eigenes kulturelles Leben zu pflegen, ihre eigene Religion zu bekennen und auszuüben oder sich ihrer eigenen Sprache zu bedienen. Es handelt sich um ein negatorisches Individualrecht, 9 das allenfalls nachrangig auch als Kollektivrecht zu begreifen ist. 10 Leistungsrechte, etwa in ___________ 8 Dass der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit streng und formal zu handhaben ist, betont das Bundesverfassungsgericht regelmäßig; vgl. nur BVerfGE 41, 399 (413); 82, 322 (337 f.); 95, 408 (417 f.). 9 Franke, D. / Hofmann, R., Nationale Minderheiten – ein Thema für das Grundgesetz?, in: EuGRZ 1992, S. 401 (403). 10 Dies ergibt sich aus der Formulierung „gemeinsam mit anderen Angehörigen ihrer Gruppe“. Zum Diskussionsstand zum Verhältnis von Individual- und Kollektivrecht vgl. Gornig, G., Sanktions- und Kontrollmechanismen für die Durchsetzung eines wirksamen Minderheitenschutzes als Garant für die Schaffung von Stabilität in Europa, in:

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Form einer Förderpflicht, 11 eines Anspruchs auf „positive“ Diskriminierung oder etwa politische Teilhaberechte sind nicht garantiert. Allerdings hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen 1992 eine Deklaration über die Rechte von Angehörigen nationaler oder ethnischer, religiöser und sprachlicher Minderheiten 12 verabschiedet, in deren Art. 2 Abs. 3 auch Teilhaberechte angesprochen werden. Danach haben die Angehörigen von Minderheiten das Recht auf wirksame Beteiligung an den auf nationaler und gegebenenfalls regionaler Ebene getroffenen Entscheidungen, welche die Minderheit betreffen, der sie angehören, oder die Regionen, in denen sie leben. Die Beteiligung soll jedoch ausdrücklich nur in einer Art und Weise geschehen, die mit den Rechtsvorschriften ihres Landes vereinbar ist. In diesem Zusammenhang stellen sich zwei bedeutsame Fragen: Zum einen die nach Inhalt und Umfang dieses „Rechtes“; zum anderen die nach dem Rechtscharakter der Gewährleistung und ihrem Verhältnis zu Art. 27 des Paktes.

aa) Wirksame Beteiligung an nationalen bzw. regionalen Entscheidungen Eine wirksame Beteiligung an nationalen oder regionalen Entscheidungen kann auf sehr unterschiedliche Art und Weise ermöglicht werden. Jedenfalls in Europa geschieht dies häufig durch die Gewährung zumindest beschränkter territorialer Autonomierechte, soweit die jeweilige Minderheit über ein abgrenzbares Siedlungsgebiet verfügt. 13 Darüber hinaus betont die Präambel der Deklaration, die ständige Förderung und Verwirklichung der Rechte von Minderheiten-Angehörigen sei „ein integrierender Bestandteil der Entfaltung der Ge___________ Blumenwitz, D. / Gornig, G. / Murswiek, D. (Hrsg.), Rechtsanspruch und Rechtswirklichkeit des europäischen Minderheitenschutzes, 1998, S. 119 (120 f.); Kimminich, O., Minderheiten- und Volksgruppenrecht im Spiegel der Völkerrechtsentwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg, in: BayVBl. 1993, S. 321 (323), m. w. N.; Wolfrum, R., Der völkerrechtliche Schutz religiöser Minderheiten und ihrer Mitglieder, in: Grote, R. / Marauhn, T. (Hrsg.), Religionsfreiheit zwischen individueller Selbstbestimmung, Minderheitenschutz und Staatskirchenrecht, 2001, S. 53 (66). Ausführlich Oxenknecht, R., Der Schutz ethnischer, religiöser und sprachlicher Minderheiten in Art. 27 IPbpR, 1988, S. 133 ff. 11 Wolfrum (Fn. 10), S.68 f. 12 Deklaration v. 18.12.1992, in: HRLJ 1993, S. 55 ff.; deutsche Übersetzung in: Vereinte Nationen (VN) 1993, S. 190 ff.; dazu auch Alfredson, G. M. / Zayas, A. de, Minority Rights: Protection by the United Nations, in: HRLJ 1993, S. 1 ff.; Dicke, K., Die UN-Deklaration zum Minderheitenschutz, in: EA 1993, S. 107 ff.; Ermacora, F., Späte Einsichten. – Der Entwurf der UN-Erklärung zum Minderheitenschutz, in: VN 1992, S. 149 ff. 13 Vgl. dazu Blumenwitz, D., Volksgruppen und Minderheiten. Politische Vertretung und Kulturautonomie, 1995, S. 106 ff.

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sellschaft als Ganzes [...] innerhalb eines auf Rechtsstaatlichkeit beruhenden demokratischen Rahmens“ („democratic framework based on the rule of law“). Dadurch wird Minderheitenschutz zwar unmittelbar verbunden mit den Grundsätzen eines demokratischen Rechtsstaates. 14 Die Notwendigkeit der Einräumung politischer Teilhaberechte in Form von Wahlrechtsprivilegien ergibt sich aus der Deklaration aber nicht. 15 Die Deklaration ist das Ergebnis fast 15-jähriger Beratungen in Arbeitsgruppen der Vereinten Nationen. 16 Bereits unmittelbar nach ihrer Verabschiedung hat Felix Ermacora 17 deshalb betont: „Alle Worte und alle Sätze haben ihre juristisch-politische Bedeutung. Nichts darf in den Text hineingeheimnist werden, was in ihm nicht ausdrücklich formuliert ist.“ Hätte man wahlrechtliche Privilegien normieren wollen, dann hätte dies angesichts der damit verbundenen Einbußen staatlicher Gestaltungsmöglichkeiten ausdrücklich im Text formuliert sein müssen.

bb) Rechtscharakter der Deklaration und Verhältnis zu Art. 27 IPbpR Außerdem kann die Deklaration weder als solche noch in Verbindung mit Art. 27 IPbpR für die Vertragsstaaten völkerrechtliche Verbindlichkeit beanspruchen. Resolutionen der Generalversammlung besitzen grundsätzlich nur empfehlenden Charakter (vgl. Art. 10 ff. UN-Charta). Ausnahmen von diesem Grundsatz gelten nur für solche Beschlüsse, die sich auf die Binnenorganisation der Vereinten Nationen beziehen. Auch die Minderheiten-Deklaration der Generalversammlung ist deshalb ohne völkerrechtliche Bindungswirkung für die UN-Mitgliedstaaten. 18 Daran ändert sich auch nichts durch die strikte Formulierung der Deklaration, die etliche „Muss“-Bestimmungen enthält und ausdrücklich die „Rechte“ der Angehörigen der Minderheiten in Bezug nimmt. 19 Dies ist in völkerrechtlich nicht verbindlichen Texten keineswegs ein Novum – man denke bloß an die 1974 von der Generalversammlung verabschiedete

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Hofmann, R., Die Minderheitendeklaration der UN-Generalversammlung, in: Blumenwitz, D. / Murswiek, D. (Hrsg.), Aktuelle rechtliche und politische Fragen des Volksgruppen- und Minderheitenschutzrechts, 1994, S. 9 (13). 15 Ebenso Hofmann (Fn. 14), S. 14. 16 Zur Entwicklung der Deklaration vgl. Pallek (Fn. 7), S. 197 f. 17 Ermacora (Fn. 12), S. 152. 18 Vgl. Partsch, K. J., Minderheitenschutz: Wohin steuert Europa?, in: Beyerlin, U. (Hrsg.), Recht zwischen Umbruch und Bewahrung. Festschrift für R. Bernhardt, 1995, S. 537 (543). 19 Vgl. Dicke (Fn. 12), S. 112.

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Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten 20 oder an verschiedene OSZE-Dokumente (z. B. die Charta von Paris 21 ). Die Deklaration enthält zudem keine authentische Interpretation des Art. 27 des Bürgerrechtspaktes, da es der Generalversammlung an einer solchen Befugnis fehlt. Die in der Präambel erfolgende Bezugnahme ist zudem äußerst vage gehalten: Die Erklärung der Generalversammlung erfolgt lediglich „im Bewusstsein“ („inspired by“) der Bestimmungen des Art. 27 des Bürgerrechtspaktes, nicht aber „auf der Grundlage“ („based upon“) dieser Völkerrechtsnorm. 22 Deshalb können allenfalls die Inhalte der Deklaration, die sich in dem von Art. 27 des Paktes abgesteckten sachlichen Rahmen halten, d. h. bezogen sind auf das kulturelle Leben der Minderheit, ihre Religion oder Sprache, als Auslegungshilfe dienen. 23 Soweit die Deklaration hingegen politische Teilhabe einfordert, wird der von Art. 27 vorgegebene Rahmen überschritten. 24 Das schließt nicht aus, dass die als soft law zu qualifizierende Erklärung im Laufe der Zeit zu Völkergewohnheitsrecht erstarken kann. 25 Dessen Voraussetzungen sind bislang jedoch nicht als erfüllt anzusehen.

b) Politische Teilhabe gem. Art. 25 IPbpR Politische Teilhabe, in welcher Form auch immer, wird den Angehörigen der Minderheiten in Art. 27 des Paktes somit nicht gewährt. Die Regelung politischer Teilhabe findet sich vielmehr in Art. 25 IPbpR und ist ausdrücklich beschränkt auf die jeweiligen Staatsbürger, denen – neben anderen Gewährleistungen – das aktive und passive Wahlrecht eingeräumt wird (lit. b). Abgestellt wird somit allein auf das formale Band der Staatsangehörigkeit. Darüber hinaus enthält Art. 25 zwei weitere, in unserem Zusammenhang bedeutsame Maßgaben:

___________ 20 s. dazu Tomuschat, Ch., Die Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten. – Zur Gestaltungskraft von Deklarationen der UN-Generalversammlung, in: ZaöRV, Bd. 46 (1976), S. 444 (462 ff.). 21 Zu den minderheitenrechtlichen Inhalten der Charta von Paris (1990) vgl. Hofmann, R., Minderheitenschutz in Europa, in: ZaöRV, Bd. 52 (1992), 1 (15 f.). 22 s. dazu Hofmann (Fn. 14), S. 13. 23 So ist auch Kimminich (Fn. 10), S. 323, zu verstehen, wonach die Artikel der Deklaration Art. 27 IPbpR „präzisieren“. 24 Ebenso Blumenwitz (Fn. 2), S. 51, dass die Deklaration in einzelnen Punkten „weit über Art. 27 IPbpR hinaus“ geht. 25 Vgl. Ermacora (Fn. 12), S. 151; Pallek (Fn. 7), S. 199.

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(1) Die Ausübung der staatsbürgerlichen Rechte darf zum einen nicht von Merkmalen abhängig gemacht werden, die dem Diskriminierungsverbot 26 des Art. 2 Abs. 1 IPbpR widersprechen. Damit wird u. a. eine Unterscheidung nach der nationalen Herkunft der Staatsbürger untersagt. Mittelbar gehört die Vorschrift deshalb durchaus in den Bereich des Minderheitenschutzes. Wenn sie diesen auch nicht ausschließlich bezweckt, so bewirkt der klarstellende Verweis auf das Diskriminierungsverbot doch gerade für Staatsbürger des Aufenthaltsstaates, die zu einer nationalen Minderheit gehören, zusätzlichen Schutz im Rahmen der politischen Teilhabe. Privilegierungen der Minderheitenangehörigen (in Form von Individualrechten) oder der Gruppe (in Form von Kollektivrechten) verlangt Art. 25 allerdings nicht. Er steht solchen Privilegierungen aber auch nicht entgegen. (2) Zum anderen verpflichtet Art. 25 die Vertragsstaaten auf den Grundsatz der gleichen Wahl. Nach allgemeinem Verständnis 27 wird dadurch jedoch keine Erfolgswertgleichheit verlangt, sondern lediglich die Gleichheit des Zählwertes der Stimmen. Somit verbleibt den Vertragsstaaten weiterhin die eigenständige Entscheidung für ein bestimmtes Wahlsystem, auch das Mehrheitswahlsystem oder ein Mischsystem. Auch die Einschränkung der Erfolgswertgleichheit, wie sie mit der 5-%-Klausel im BWahlG zwangsläufig einhergeht, ist insoweit grundsätzlich nicht zu beanstanden. Ein Verstoß gegen Art. 25 wäre nur dann in Erwägung zu ziehen, wenn die Beschränkung des Erfolgswertes sich in typischer Weise zu Lasten nationaler Minderheiten auswirken würde, dies gegebenenfalls sogar bezweckt wäre. Der Grundsatz des gleichen Wahlrechts wird aber gerade durch die Privilegierung nationaler Minderheiten im BWahlG sichergestellt, weil es sich dabei um nichts anderes als um eine Rückausnahme von der 5-%-Klausel handelt. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte keine Privilegierung nationaler Minderheiten im Wahlrecht der Vertragsstaaten verlangt, 28 eine solche Privilegierung aber auch nicht ausschließt. ___________ 26 Art. 26 IPbpR kommt insoweit nicht zur Anwendung, da über die Verweisung in Art. 25 das akzessorische Diskriminierungsverbot einschlägig ist, während Art. 26 IPbpR ein unabhängiges (eigenständiges) Diskriminierungsverbot normiert; vgl. Nowak, U.N. Covenant on Civil and Political Rights, CCPR Commentary, 2. Aufl. 2005, Art. 26 Rn. 12 f. 27 Vgl. Nowak (Fn. 26), Art. 25 Rn. 31 ff. 28 Ebenso Brems, M., Die politische Integration ethnischer Minderheiten aus staatsund völkerrechtlicher Sicht, 1995, S. 55; a. A. wohl Kremser, H., Die Sonderstellung von Minderheiten im Wahlrecht zu nationalen Parlamenten, in: Blumenwitz, D. / Gornig, G. / Murswiek, D. (Hrsg.), Minderheitenschutz und Demokratie, 2004, S. 59 (60).

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3. Schutz politischer Teilhabe für nationale Minderheiten auf regionaler (europäischer) Ebene Einzelne völkerrechtliche Dokumente – zumal auf regionaler (europäischer) Ebene – sind für unsere Fragestellung deshalb bemerkenswert, weil sie den Minderheitenschutz – anders als der Bürgerrechtspakt – in einen unmittelbaren Zusammenhang stellen zu politischen Entscheidungen.

a) Einschlägige Dokumente des Europarates und der OSZE Von besonderem Interesse ist insoweit das Rahmenübereinkommen des Europarates zum Schutz nationaler Minderheiten 29 von 1995, das 1998 in Kraft getreten ist. Art. 15 des Rahmenübereinkommens verpflichtet die Vertragsstaaten, die notwendigen Voraussetzungen für die wirksame Teilnahme von Angehörigen nationaler Minderheiten an öffentlichen Angelegenheiten zu schaffen, insbesondere bei denjenigen Angelegenheiten, die sie betreffen. In der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) steht der Minderheitenschutz seit 1990 auf der Tagesordnung. 30 Das Kopenhagener Abschlussdokument über die menschliche Dimension der KSZE – wie die Organisation damals (1990) noch hieß – widmet dem Minderheitenschutz den gesamten IV. Abschnitt. 31 Das dort Niedergelegte lässt sich als das Maximum dessen ansehen, was an Regelungen zum Schutz von Minderheiten in Europa zur Zeit erreichbar ist. 32 Unter Ziffer 35 ist aufgeführt, dass die Teilnehmerstaaten das Recht von Angehörigen nationaler Minderheiten achten, wirksam an öffentlichen Angelegenheiten teilzunehmen, einschließlich der Mitwirkung in Angelegenheiten betreffend den Schutz und die Förderung der Identität solcher Minderheiten. Die gemeinsamen Erklärungen der Teilnehmerstaaten im Rahmen der OSZE besitzen keinen rechtsverbindlichen Charakter, d. h. sie sind weder als völker___________ 29

BGBl. 1997 II, S. 1406. Allerdings enthielt schon die Schussakte von Helsinki v. 01.08.1975, EA 1975, S. D 437 ff., in Prinzip VII (Menschenrechtsprinzip) eine Minderheitenschutzklausel: „Die Teilnehmerstaaten, auf deren Territorium nationale Minderheiten bestehen, werden das Recht von Personen, die zu solchen Minderheiten gehören, auf Gleichheit vor dem Gesetz achten; sie werden ihnen jede Möglichkeit für den tatsächlichen Genuss der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewähren und werden auf diese Weise ihre berechtigten Interessen in diesem Bereich schützen.“ Zu weiteren Fortschritten des Minderheitenschutzes im KSZE- bzw. OSZE-Prozess vgl. Pallek (Fn. 7), S. 214. 31 Vgl. Hofmann (Fn. 21), S. 34 ff.; Auszug aus dem Dokument in: Blumenwitz (Fn. 2), S. 132 ff. 32 Kugelmann, D., Minderheitenschutz als Menschenrechtsschutz, in: AVR, Bd. 39 (2001), S. 233 (247). 30

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rechtliche Verträge noch als einseitige, völkerrechtlich verbindliche Erklärungen anzusehen. Es handelt sich allein um politische Vereinbarungen. 33 Das schmälert aber keineswegs ihre tatsächliche Bindungswirkung. Denn im zwischenstaatlichen Verkehr sind politische Abreden, die über einen hinreichend konkreten Inhalt verfügen, oftmals sehr viel wirkungsvoller als völkerrechtliche Vereinbarungen, deren Inhalt sich weithin in der Wiedergabe diplomatischer Floskeln erschöpft. Beide Texte stehen in einem engen inhaltlichen Zusammenhang. Denn das Kopenhagener Dokument war – so hält es der Erläuternde Bericht 34 fest – für die Ausarbeitung des Rahmenübereinkommens „richtungsweisend“. Beide Dokumente werfen überdies im Wesentlichen identische Fragen auf. Was ist mit einer Minderheit, zumal einer nationalen Minderheit, gemeint? Gewährleisten die Dokumente (wenn man insoweit die KSZE-Erklärung einbezieht) auch die demokratische Teilhabe der Angehörigen einer nationalen Minderheit an den Wahlen in den einzelnen Staaten und legitimieren sie gegebenenfalls die Privilegierung von Minderheiten?

b) Begriff der „Minderheit“ Eine nähere Bestimmung dessen, was eine (nationale) Minderheit ausmacht, fehlt sowohl im Rahmenabkommen als auch im KSZE-Dokument. Überhaupt ist in einschlägigen, völkerrechtlich verbindlichen Abkommen bislang keine Definition dieses für den Minderheitenschutz zentralen Begriffs erfolgt. 35 Das gilt auch für Art. 27 IPbpR. 36 Die Diskussion über den Minderheiten-Begriff ___________ 33

Vgl. Kimminich (Fn. 10), S. 326. EuGRZ 1995, S. 271 (273, Tz. 27). 35 Umfassend dazu Blumenwitz (Fn. 2), S. 26 ff., 62 ff.; Gornig, G., Die Definition des Minderheitenbegriffs aus historisch-völkerrechtlicher Sicht, in: Blumenwitz, D. / Gornig, G. / Murswiek, D. (Hrsg.), Ein Jahrhundert Minderheiten- und Volksgruppenschutz, 2001, S. 19 ff. 36 Im Kontext des Art. 27 IPbpR hat sich allerdings die Ansicht durchgesetzt, dass die Staatsangehörigkeit des Aufenthaltsstaates kein konstitutives Merkmal der Minderheit bzw. für dessen Angehörige i. S. v. Art. 27 IPbpR darstellt. Vgl. Nowak (Fn. 26), Art. 27 Rn. 17 f.; Uerpmann, R., Völkerrechtliche Grundlagen des Minderheitenschutzes, in: Manssen, G. / Banaszak, B. (Hrsg.), Minderheitenschutz in Mittel- und Osteuropa, 2001, S. 9 (16). Dies gilt jedoch nicht generell für den völkervertragsrechtlich geregelten Minderheitenschutz. So bezieht sich die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen (BGBl. 1998 II, S. 1315 = EuGRZ 1993, S. 154) ausschließlich auf Sprachen, die in einem Gebiet eines Staates traditionell von Angehörigen dieses Staates benutzt werden (vgl. Art. 1 lit. c Nr. i). Zur Sprachencharta vgl. Hofmann (Fn. 21), S. 55 ff.; ders., Die Rolle des Europarats beim Minderheitenschutz, in: Mohr, M. (Hrsg.), Friedenssichernde Aspekte des Minderheitenschutzes in der Ära des Völkerbundes und der Vereinten Nationen in Europa, 1996, S. 111 (124 ff.). 34

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krankt nicht zuletzt an dem untauglichen Versuch, sozusagen eine Generaldefinition für den gesamten völkerrechtlichen Minderheitenschutz kreieren zu wollen. Demgegenüber liegt es näher, für jeden völkerrechtlichen Vertrag (bzw. für jedes einschlägige Dokument) und jede darin enthaltene Gewährleistung zu bestimmen, auf welche Minderheiten sie sich beziehen. Die Situation der Minderheiten ist nämlich so vielschichtig, jede Minderheit so einzigartig, dass man zu recht von einem „Kaleidoskop von Einzellagen“ 37 sprechen kann. Der Entwurf des Rahmenabkommens aus dem Jahr 1991 enthielt ursprünglich sogar eine Minderheitendefinition, 38 die in der Endfassung allerdings nicht mehr auftaucht. Darin war die Staatsangehörigkeit des Aufenthaltsstaates als konstitutives Merkmal für die Qualifizierung als Minderheit vorgesehen. Die Nichtaufnahme der Definition in das endgültige Dokument beruhte auf der Erkenntnis, wie es im Erläuternden Bericht 39 heißt, „dass es gegenwärtig unmöglich ist, zu einer Definition zu gelangen, die die voll umfängliche Unterstützung aller Mitgliedstaaten des Europarates genießt.“ Aus der Nicht-Definition des Begriffs „nationale Minderheit“ im letztlich vereinbarten Rahmenübereinkommen lässt sich deshalb nicht ohne Weiteres der Schluss ziehen, dieser völkerrechtliche Vertrag verzichte – wie Art. 27 IPbpR – auf das konstitutive Merkmal der Staatsangehörigkeit zur Bestimmung einer nationalen Minderheit. 40 Die BR Deutschland hat in einer bei der Unterzeichnung des Rahmenübereinkommens abgegebenen Erklärung 41 die Ansicht vertreten, angesichts des ___________ 37

So Wildhaber, L., Menschen- und Minderheitenrechte in der modernen Demokratie, 1992, S. 18. 38 „For the purposes of this Convention, the term ‚minority‘ shall mean a group which is smaller in number than the rest of the population of a State, whose members, who are nationals of that State, have ethnical, religious or linguistic features different from those of the rest of the population, and are guided by the will to safeguard their culture, traditions, religion or language“; HRLJ 12 (1991), S. 269 ff. Dazu Hofmann (Fn. 21), S. 18 ff.; ders., Minderheitenschutz in Europa, 1995, S. 43 ff. 39 Vgl. EuGRZ 1995, S. 271 (272, Tz. 12). 40 So aber Klebes, H., Rahmenübereinkommen des Europarats zum Schutz nationaler Minderheiten, in: EuGRZ 1995, S. 262 (263, Anm. 12), der insoweit auch die türkischen Gastarbeiter in Deutschland erfasst sieht. 41 Vgl. BGBl. 1997 II, S. 1418 = BT-Drs. 13/6912, S. 18. Auch die deutschen Landesverfassungen setzen, soweit sie Minderheitenschutzbestimmungen aufweisen, zur Erlangung des Minderheitenstatus die deutsche Staatsangehörigkeit voraus; vgl. Murswiek, D., Minderheitenschutz – für welche Minderheiten?, in: Blumenwitz, D. / Murswiek, D. (Hrsg.), Aktuelle rechtliche und praktische Fragen des Volksgruppen- und Minderheitenschutzes, 1994, S. 39 (42 f.). Daneben hat die BR Deutschland in bilateralen Verträgen u. a. mit Polen (1991), der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik (1992) und der Sowjetunion (1990) noch die deutschen Staatsangehörigen mit Abstammung aus einem Staat der Vertragspartner als „Vertragsminderheiten“ anerkannt. Zu den Verträgen vgl. Blumenwitz (Fn. 2), S. 77 ff., 183 ff. (Dokumentation); Murswiek (Fn. 4), § 201 Rn. 19.

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Fehlens einer Minderheitendefinition sei es „Sache der einzelnen Vertragsstaaten zu bestimmen, auf welche Gruppen das Rahmenabkommen nach seiner Ratifizierung Anwendung findet“. Nationale Minderheiten in der Bundesrepublik Deutschland seien die Dänen deutscher Staatsangehörigkeit und die Angehörigen des sorbischen Volkes mit deutscher Staatsangehörigkeit. Darüber hinaus hat sie die Anwendbarkeit des Rahmenübereinkommens auf die Angehörigen der traditionell in Deutschland heimischen Volksgruppen der Friesen deutscher Staatsangehörigkeit sowie der Sinti und Roma deutscher Staatsangehörigkeit erstreckt. Mit dieser Erklärung hält sich die Bundesrepublik Deutschland innerhalb der von Art. 15 des Rahmenübereinkommens gezogenen Grenzen, unabhängig davon, ob man die Erklärung als Auslegungsmaßgabe 42 oder als ausdrücklichen Vorbehalt zu einem völkerrechtlichen Vertrag ansieht. Der MinderheitenBegriff ist insoweit eigenständig zu bestimmen, d. h. ohne Rücksicht auf den Minderheiten-Begriff des Art. 27 des Bürgerrechtspaktes. Im Erläuternden Bericht 43 wird zwar der Minderheiten-Artikel des Bürgerrechtspaktes in Bezug genommen; zudem zeigt man sich durch die Deklaration der UN-Generalversammlung „inspiriert“. Doch heißt es gleichzeitig, die Berufung auf Übereinkommen und Erklärungen der Vereinten Nationen schließe „keine Definition der nationalen Minderheit, die in diesen Texten enthalten sein könnte, ein“. Nach der Gesamtkonzeption des Rahmenübereinkommens ist die nähere Bestimmung „nationaler Minderheiten“ in den einzelnen Vertragsstaaten vielmehr eine Angelegenheit der Staaten selbst. 44

c) Recht auf wirksame Beteiligung an öffentlichen Angelegenheiten Nach Art. 15 des Rahmenübereinkommens sind die Vertragsstaaten verpflichtet, die notwendigen Voraussetzungen für die wirksame Teilnahme von Angehörigen nationaler Minderheiten an öffentlichen Angelegenheiten 45 zu schaffen, insbesondere soweit die Minderheiten von diesen Angelegenheiten ___________ 42 Nach dem offiziellen deutschen Verständnis soll es sich um eine „Auslegungserklärung“ handeln; vgl. BT-Drs. 13/6912, S. 21. Insoweit stellt sich allerdings die Frage der Abgrenzung zu einem ausdrücklichen Vorbehalt; vgl. dazu Frowein, J. / Bank, R., The Effect of Member States’ Declarations Defining „National Minorities“ upon Signature or Ratification of the Council of Europe’s Framework Convention, in: ZaöRV, Bd. 59 (1999), S. 649 (650 ff.). 43 EuGRZ 1995, S. 271 (273) (Tz. 24/26). 44 Ebenso Hofmann, R., Das nationale Minderheitenrecht in Osteuropa, in: Brunner, G. / Meissner, B. (Hrsg.), Das Recht der nationalen Minderheiten in Osteuropa, 1999, S. 9 (28); Schreiber, W., BWahlG, 7. Aufl. 2002, § 6 Rn. 23. 45 Zu diesem Begriff vgl. Simon, St., Autonomie im Völkerrecht, 2000, S. 90 ff.

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betroffen sind. Gehört dazu auch gegebenenfalls die Privilegierung nationaler Minderheiten im Wahlrecht? 46 Der Minderheitenbegriff des Rahmenübereinkommens setzt nach dem maßgeblichen aufenthaltsstaatlichen Verständnis in der Bundesrepublik Deutschland die deutsche Staatsangehörigkeit voraus (s. o.). 47 Deshalb liegt es jedenfalls nahe, auch die Möglichkeit bevorzugter politischer Teilhabe in dieser Vorschrift verankert zu sehen. Ganz in diesem Sinne verweist die Denkschrift der Bundesregierung 48 zum Rahmenübereinkommen auf „bereits verwirklichte Maßnahmen“, zu denen auch „die Befreiung von Parteien nationaler Minderheiten von Sperrklauseln im Wahlrecht für den Deutschen Bundestag und die Landtage der Länder Brandenburg und Schleswig-Holstein“ gehören. Das bedeutet aber keineswegs, dass eine solche Besserstellung von Art. 15 des Rahmenübereinkommens gefordert wird. Die Gesamtkonzeption des Rahmenübereinkommens und die Staatenpraxis lassen eine solche Schlussfolgerung nicht zu. Die Bezeichnung als Rahmenübereinkommen ist in der völkerrechtlichen Terminologie 49 eher unüblich. Sie erklärt sich im vorliegenden Zusammenhang aus der Tatsache, dass das Übereinkommen ursprünglich durch ein Zusatzprotokoll betreffend den Schutz nationaler Minderheiten 50 ergänzt und vervoll___________ 46

So wohl Rudolf, W., Über Minderheitenschutz in Europa, in: Isensee, J. (Hrsg.), Freiheit und Eigentum. Festschrift für W. Leisner, 1999, S. 185 (195), in Bezug auf das Straßburger Rahmenübereinkommen. Aus individualrechtlicher Perspektive garantiert Art. 3 des 1. ZP zur EMRK das aktive und passive Wahlrecht für die jeweiligen Staatsangehörigen, mithin auch für die einer nationalen Minderheit angehörenden Staatsbürger. Die Vorschrift steht Sperrklauseln im Verhältniswahlrecht nicht entgegen, erlaubt aber auch, nationale Minderheiten von einer solchen Klausel auszunehmen. Eine Verpflichtung zur Befreiung nationaler Minderheiten von den Anforderungen einer Sperrklausel ergibt sich aus der Vorschrift allerdings nicht. Vgl. Hillgruber, Ch. / Jestaedt, M., Die EMRK und der Schutz nationaler Minderheiten, 1993, S. 75. 47 Die Notwendigkeit der Staatsangehörigkeit des Aufenthaltsstaates entspricht auch dem ganz überwiegenden Verständnis des Minderheitenbegriffs in Europa; vgl. Gornig (Fn. 35), S. 46; Hofmann (Fn. 21), S. 2 f.; Murswiek (Fn. 41), S. 45 f.; ders. (Fn. 4), § 201 Rn. 7, jeweils m. w. N., Capotorti, F., Die Rechte der Angehörigen von Minderheiten, VN 1980, S. 113 (118). Zum völkerrechtlichen Minderheitenbegriff (im Anschluss an Capotorti) und seiner Inbezugnahme in § 3 Abs. 1 S. 2 Schleswig-Holsteinisches LWahlG: OVG Schleswig, JZ 2003, 519 f. 48 BT-Drs. 13/6912, S. 19 (35). 49 Engl.: framework convention; frz.: convention-cadre. Vgl. auch das Europäische Rahmenübereinkommen über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Gemeinden und Gebietskörperschaften vom 21.05.1980 (BGBl. 1981 II, S. 965), das im Anhang eine Reihe von Modellabkommen enthält. 50 s. dazu den Text eines Entwurfs (mit Einführung von Klebes, H.) in EuGRZ 1993, S. 151 ff.; vergleichende Übersicht zu Rahmenübereinkommen und Entwurf des Zusatzprotokolls in EuGRZ 1995, S. 279 ff. Zu den Inhalten der beiden damals diskutierten Entwürfe vgl. Hillgruber / Jestaedt (Fn. 46), S. 91 ff., 117 ff. (Dokumentation); Hillgruber, Ch., Minderheitenschutz im Rahmen der EMRK, in: Blumenwitz, D. / Gor-

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ständigt werden sollte, das aber keine Verwirklichung gefunden hat. Obwohl das Rahmenübereinkommen für die Vertragsstaaten völkerrechtlich verbindlich ist, beschränkt es sich darauf, Grundsätze festzulegen, und überlässt es den Vertragsparteien, mit welchen Mitteln sie diese Grundsätze innerstaatlich umsetzen. 51 Ganz in diesem Sinne heißt es im Erläuternden Bericht: 52 „In Anbetracht der Verschiedenheit der jeweiligen Sachlagen und der Vielzahl der zu lösenden Probleme, wurde die Form eines Rahmenübereinkommens gewählt, das im Wesentlichen Dispositions-Programme enthält, die die Ziele, zu deren Verwirklichung die Parteien sich verpflichten, festlegen. Diese nicht direkt anwendbaren Bestimmungen gewähren den betroffenen Staaten einen Ermessensspielraum in der Durchführung der Ziele, zu deren Verwirklichung diese sich verpflichtet haben; sie gewähren somit jedem unter ihnen die Möglichkeit, besonderen Situationen Rechnung zu tragen“. Zur Umsetzung der vagen Maßgaben aus Art. 15 des Rahmenübereinkommens sieht der Erläuternde Bericht 53 lediglich eine Empfehlung vor, wonach „die >Vertrags-@Parteien – im Rahmen ihrer Verfassungsordnung – insbesondere folgende Tätigkeiten fördern >können@“, und zwar u. a. „die tatsächliche Teilnahme von Angehörigen nationaler Minderheiten an den Entscheidungsprozessen und den auf nationaler und lokaler Ebene gewählten Instanzen“. Dass Art. 15 des Rahmenübereinkommens keine strikten Verpflichtungen enthält, wird durch die Praxis der Vertragsstaaten bestätigt, die höchst unterschiedliche Maßnahmen ergriffen haben, um die Partizipation von Minderheiten an politischen Entscheidungsprozessen zu ermöglichen. 54 ___________ nig, G. (Hrsg.), Minderheiten- und Volksgruppenrechte in Theorie und Praxis, 1993, S. 39 (43 ff.). 51 Vgl. Hofmann (Fn. 44), S. 27, der betont, dass das Übereinkommen keine die Staaten unmittelbar rechtlich verpflichtenden Bestimmungen enthält und schon gar keine Normen, die den betroffenen Personen subjektive Rechte einräumen. Das Übereinkommen besteht „aus programmartigen Sätzen, die für die Vertragsparteien nur Ziele formulieren, zu deren Erreichen sich diese verpflichten. Diese völkervertraglich schwächste Form einer rechtlichen Bindung gewährt den Mitgliedstaaten den gewünschten sehr weiten Ermessensspielraum bei der Auswahl von rechtlichen oder auch nur politischen Maßnahmen zur Erfüllung ihrer völkervertraglichen Verpflichtung.“ 52 EuGRZ 1995, S. 271 (272, Tz. 11); außerdem Klebes (Fn. 40), S. 264. Zur Kritik vgl. den Berichterstatter der Parlamentarischen Versammlung (zitiert nach Klebes (Fn. 40), S. 262/267): „Der Wortlaut der Konvention ist leider vage formuliert. Sie legt eine Reihe von nicht präzise definierten Zielen und Grundsätzen fest, zu deren Einhaltung sich die Vertragsstaaten zwar verpflichten, die jedoch kein für den Einzelnen einklagbares Recht darstellen. Ihr Umsetzungsmechanismus ist ineffektiv, und es besteht in der Tat die Gefahr, dass die Überprüfungsverfahren völlig den Regierungen überlassen werden“. 53 EuGRZ 1995, S. 271 (277, Tz. 80). 54 Vgl. die Zusammenstellung von Frowein, J. / Bank, R., The Participation of Minorities in Decision-Making Processes, in: ZaöRV, Bd. 61 (2001), S. 1 (4 ff.).

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Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus Art. 4 Abs. 2 des Rahmenübereinkommens, in dem die Vertragsparteien sich verpflichten, „erforderlichenfalls angemessene Maßnahmen vorzusehen, um in allen Bereichen des >u. a.@ politischen Lebens die vollständige und tatsächliche Gleichheit zwischen den Angehörigen einer nationalen Minderheit und den Angehörigen der Mehrheit zu fördern. In dieser Hinsicht berücksichtigen sie in gebührender Weise die besonderen Bedingungen der Angehörigen nationaler Minderheiten.“ Gefordert wird damit allein die Gleichstellung der Angehörigen der nationalen Minderheit im politischen Leben mit der Maßgabe, dass zu diesem Zweck auch gezielte Fördermaßnahmen zugunsten der nationalen Minderheit ergriffen werden können, die ihrerseits nicht als die Mehrheitsbevölkerung diskriminierend angesehen werden dürfen (vgl. Art. 4 Abs. 3 des Rahmenübereinkommens). Keineswegs ergibt sich daraus aber, dass das nationale Wahlrecht Regelungen enthalten muss, die den Einzug von Parteien der nationalen Minderheiten in die Parlamente begünstigen. 55 Festzuhalten bleibt demnach, dass weder das universelle noch das regionale Völkervertragsrecht die Bundesrepublik Deutschland verpflichten, eine Ausnahme von der 5-%-Sperrklausel zugunsten nationaler Minderheiten vorzusehen.

III. Verfassungsrechtliche Maßgaben für den Minderheitenschutz in der Bundesrepublik Deutschland Eine ausdrückliche Regelung des Minderheitenschutzes findet sich im Grundgesetz nicht. Das ist insoweit überraschend, als die Weimarer Verfassung, in enger inhaltlicher Anlehnung an die Paulskirchenverfassung von 1848/49, 56 in Art. 113 eine solche Bestimmung enthalten hatte. 57 Im Parlamentarischen Rat (und zuvor auf der Konferenz von Herrenchiemsee) spielte das Thema „Minderheiten“ keine Rolle. Im Vordergrund stand die individualrecht-

___________ 55

Kremser (Fn. 28), S. 59 (61). § 188 Paulskirchenverfassung: „Den nicht deutsch redenden Volksstämmen Deutschlands ist ihre volkstümliche Entwicklung gewährleistet, namentlich die Gleichberechtigung ihrer Sprachen, soweit deren Gebiete reichen, in dem Kirchenwesen, dem Unterrichte, der inneren Verwaltung und der Rechtspflege.“ 57 „Die fremdsprachigen Volksteile des Reiches dürfen durch die Gesetzgebung und Verwaltung nicht in ihrer freien, volkstümlichen Entwicklung, besonders nicht im Gebrauch ihrer Muttersprache beim Unterricht, sowie in der inneren Verwaltung und der Rechtspflege beeinträchtigt werden.“ Zur Entstehungsgeschichte des Art. 113 WV vgl. Pallek (Fn. 7), S. 137 ff. 56

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liche Konzeption eines umfassenden Menschenrechtsschutzes, von dem man auch eine Lösung der Minderheitenproblematik erwartete. 58

1. Allgemeiner grundrechtlicher Schutz der Angehörigen nationaler Minderheiten Diese Orientierung an den menschenrechtlichen Gewährleistungen ist, jedenfalls im Grundsätzlichen, auch durchaus konsequent. Eine Verfassungsordnung mit umfassenden Freiheitsverbürgungen und Diskriminierungsverboten ist die beste Grundlage für den Minderheitenschutz. Das gilt für die von der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) gedeckten Tätigkeiten der Pflege des Brauchtums, der Riten und der Sprache der Minderheit, über besondere Minderheitenpublikationen im Schutzbereich der Presse- und Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG), vor allem aber natürlich für die Religionsfreiheit mit ihrer Gewährleistung, nicht nur einen bestimmten Glauben zu haben, sondern diesen auch in Gottesdiensten oder anderen religiösen Veranstaltungen zu bekunden und zu leben (Art. 4 Abs. 1 GG). Vergessen darf man auch nicht die Vereinigungs- und die Versammlungsfreiheit (Art. 9 und Art. 8 GG), bei denen das für Minderheiten spezifische kollektivrechtliche Element in den Vordergrund rückt. Nicht zuletzt ermöglicht Art. 21 Abs. 1 S. 2 GG auch Angehörigen nationaler Minderheiten die freie Gründung politischer Parteien. Daneben sind die grundgesetzlichen Gleichheitsrechte für den Minderheitenschutz besonders gewichtig. Das wird bereits durch einen kurzen Blick in Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG deutlich, der es – als besonderes Diskriminierungsverbot formuliert – untersagt, jemand wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen zu benachteiligen oder zu bevorzugen. Jedenfalls für die Verfassungsväter war das Merkmal der „Sprache“ bewusst auf die in Deutschland lebenden autochthonen Minderheiten mit eigener Sprache (Dänen, Friesen und Sorben) bezogen. 59 Aber auch die anderen Merkmale können im Einzelfall Bedeutung für den Minderheitenschutz erlangen (z. B. „Abstammung“, „Heimat“ und „Herkunft“). Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG bietet für alle nationalen Minderheiten in Deutschland einen umfassenden Diskriminierungsschutz hinsichtlich der Merkmale, welche die besondere Minder-

___________ 58

Vgl. Hahn, M. J., Die rechtliche Stellung der Minderheiten in Deutschland, in: Frowein, J. / Hofmann, R. / Oeter, St. (Hrsg.), Das Minderheitenrecht europäischer Staaten, Bd. 1, 1993, S. 62 (68). 59 Vgl. Sachs, M., Besondere Gleichheitsgarantien, in: Isensee, J. / Kirchhof, P. (Hrsg.), HStR V, 1992, § 126 Rn. 45.

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heitenidentität ausmachen. 60 Dieser Diskriminierungsschutz greift aber auch für eingebürgerte Immigranten und für Ausländer.

2. Berücksichtigung des Diskriminierungsverbots aus Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG im Kontext von Art. 21 und Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG Welche Relevanz Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG 61 für die Privilegierung nationaler Minderheiten im Rahmen der 5-%-Sperrklausel zukommt, ist noch weithin ungeklärt. Insoweit bedarf es einer grundsätzlichen Unterscheidung zwischen der unmittelbaren und der mittelbaren Anwendung dieser Vorschrift. Die Differenzierung in § 6 Abs. 6 S. 2 BWahlG fällt nicht in den unmittelbaren Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG. Das Diskriminierungsverbot ist nämlich individualrechtlich („niemand“) ausgestaltet, begründet somit ein allgemeines Menschenrecht für natürliche Personen. Das schließt zwar nicht aus, dass auch Personenvereinigungen und juristische Personen des Privatrechts als Grundrechtsträger in Betracht kommen (über Art. 19 Abs. 3 GG), soweit der Zusammenschluss und die Betätigung gerade wegen einem der in Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG genannten Merkmale erfolgen (z. B. Religionsgesellschaften 62 im Hinblick auf den gemeinsamen Glauben sowie religiöse Anschauungen 63 ). Bei einer Ungleichbehandlung der Parteien nationaler Minderheiten mit anderen politischen Parteien ist aber nicht Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG einschlägig, sondern Art. 21 Abs. 1 GG. Soweit es sich um eine Ungleichbehandlung des Erfolgswertes der Stimmen handelt, die für die Partei einer nationalen Minderheit abgegeben wird, ist vorrangig Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG heranzuziehen. Beide Vorschriften enthalten für ihren sachlichen Regelungsbereich explizit (Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG) oder implizit (Art. 21 Abs. 1 GG) besondere Gleichheitssätze, die den sachspezifischen Eigentümlichkeiten Rechnung tragen. Dass die in Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG enthaltenen Differenzierungsverbote und Wertungen im Rahmen der anderen (besonderen) Gleichheitsrechte zu berücksichtigen sind, erscheint selbstverständlich. 64 Die Differenzierung des Gesetzgebers nach einem der in Art. 3 Abs. 3 GG aufgeführten Kriterien könnte insoweit zu einem Privilegierungsverbot für nationale Minderheiten führen, da die Vorschrift ___________ 60

Pallek (Fn. 7), S. 292. Grundlegend zum Diskriminierungsverbot gemäß Art. 3 Abs. 3 GG: Sachs (Fn. 59), § 126 Rn. 38 ff. 62 Vgl. BVerfGE 19, 1 (11). 63 Vgl. Dürig, G., in: Maunz, Th. / Dürig, G., GG, Art. 3 III Rn. 164/166 f.; Osterloh, L., in: Sachs, M. (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2003, Art. 3, Rn. 238. 64 s. nur BVerfGE 6, 84 (91); Kremser (Fn. 28), S. 80. 61

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nicht nur eine Benachteiligung anhand dieser Merkmale verbietet, sondern auch jegliche Bevorzugung.

3. Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungsmäßigkeit der wahlrechtlichen Privilegierung nationaler Minderheiten In zwei Urteilen aus den Jahren 1956 und 1957 hat das Bundesverfassungsgericht 65 die wortidentische Vorgängerregelung des § 6 Abs. 6 S. 2 BWahlG unter Hinweis auf die bei nationalen Minderheiten „vorliegenden besonderen Verhältnisse, die mit der Situation anderer kleinerer Parteien nicht vergleichbar“ seien, verfassungsrechtlich nicht beanstandet. Das Merkmal, das die Parteien nationaler Minderheiten von allen anderen Parteien unterscheide, liege – im Unterschied zu den Merkmalen der Stimmenzahl und der Direktmandate – außerhalb des Wahlvorgangs. Es handele sich deshalb um nicht vergleichbare Tatbestände. Weiter heißt es: „Der Gleichheitssatz verbietet nicht, Parteien wegen eines Kriteriums, das in einem anderen Bereich liegt, zum Verhältnisausgleich zuzulassen, wenn Parteien mit geringer Stimmenzahl und Parteien ohne örtliche Schwerpunkte davon ausgeschlossen werden“. Andererseits gebiete der Gleichheitssatz aber auch nicht, dass für alle Parteien, die sich durch Merkmale charakterisieren lassen, die außerhalb des Wahlvorganges liegen, eine Ausnahme gemacht wird, wenn eine Partei ausnahmsweise zum Verhältnisausgleich zugelassen wird, weil sie eine nationale Minderheit repräsentiert. Es liege im Ermessen des Gesetzgebers, ob er eine Partei ohne Rücksicht auf die erzielte Stimmenzahl und die Erringung von Direktmandaten wegen politischer Umstände, die eine besondere Regelung gerade im Wahlverfahren rechtfertigten, für parlamentwürdig erachte oder nicht. Ein Verstoß gegen den Grundsatz der gleichen Wahl könne in einer solchen Ausnahme nur dann gesehen werden, wenn die Kriterien, die den Anlass für die besondere Regelung gäben, auch für andere Parteien zuträfen. Das aber sei im Verhältnis der Parteien nationaler Minderheiten zu anderen politischen Parteien nicht der Fall. Weiter heißt es: „Die Lage der nationalen Minderheit, die deutsche Staatsangehörigkeit mit fremder Volkszugehörigkeit verbindet, ist innerstaatlich einzigartig, da das Völkerrecht und unter Umständen ein fremder Staat, dessen Volkstum die Minderheit zugehört, Interesse an ihrem Status nimmt. Es ist deshalb ein die wahlrechtliche Sonderregelung hinreichend rechtfertigendes Anliegen des Gesetzgebers, der nationalen Minderheit zur Vertre-

___________ 65

BVerfGE 5, 77 (83); vgl. auch BVerfGE 6, 84 (97).

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tung ihrer spezifischen Belange die Tribüne des Parlaments zu eröffnen, wenn sie nur die für ein Mandat erforderliche Stimmenzahl aufbringt“. 66

4. Kritische Würdigung a) Anknüpfung der Differenzierung an die „Abstammung“ Geflissentlich übergangen hat das Gericht in diesen beiden grundlegenden Entscheidungen zur Wahlrechtsprivilegierung seine früheren Ausführungen aus dem Jahr 1952, als es noch völlig zutreffend meinte: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung ‚des Volkes‘ mit (Art. 21 GG). Das Parlament repräsentiert das Staatsvolk als politische Einheit. Daraus ergibt sich, dass alle politischen Parteien gleich behandelt werden müssen, und dass nicht eine Partei eine Sonderstellung deshalb beanspruchen kann, weil sie eine bestimmte Gruppe des Volkes – und sei es auch eine nationale Minderheit – vertritt.“ 67 Unabhängig davon, dass in dieser Entscheidung der Rechtsanspruch auf Privilegierung im Wahlrechtssystem verneint worden ist, 68 sind die angeführten Argumente aber auch bedeutsam, wenn es darum geht, ob es dem Gesetzgeber erlaubt ist, Parteien nationaler Minderheiten zu bevorzugen. 69 Völlig zutreffend stellt das Bundesverfassungsgericht 70 nämlich fest, beim Zähl- und Erfolgswert einer Stimme dürfe „sicher nicht differenziert werden nach Bildung, Religion, Vermögen, Klasse, Rasse oder Geschlecht (vgl. auch Art. 3 Abs. 2, 3 GG).“ Auf derselben Ebene – nämlich des Art. 3 Abs. 3 GG – findet sich aber auch das Verbot der Differenzierung aufgrund der Abstammung, Heimat und Herkunft. Die Frage, ob bei der Wahlprivilegierung nationaler Minderheiten eine Bevorzugung oder Benachteiligung vorliegt, lässt sich nur dann beantworten, wenn es gelingt, die in Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG genannten Kriterien mit Inhalt zu ___________ 66

BVerfGE 6, 84 (97 f.). BVerfGE 1, 208 (241), unter Hinweis auf einen Beschluss des Reichsstaatsgerichtshofs v. 23.06.1930, Lammers/Simon IV, S. 142, mit dem das Begehren der polnischen Volkspartei, ihr eine Sonderstellung im Wahlrecht einzuräumen, abgelehnt wurde. Zur Zuwanderung der „Ruhrpolen“ vgl. Pallek (Fn. 7), S. 59 ff. 68 Ebenso BVerfGE 4, 31 (42): „Mit Bezug auf die parlamentarische Repräsentation des als Einheit gedachten Staatsvolkes begründet die Eigenschaft als Partei einer nationalen Minderheit keine Verschiedenheit, die wesentlich ist, und die der Gesetzgeber daher bei der Gestaltung der Rechte der politischen Parteien im Wahlverfahren berücksichtigen müsste“ (Hervorhebung im Original). 69 So wohl auch Becht, E., Die 5-%-Klausel im Wahlrecht, 1990, S. 168. 70 BVerfGE 6, 84 (91). 67

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füllen. Das ist nicht einfach, handelt es sich doch – wie Dürig 71 zutreffend formuliert hat – um eine „holprige, teilweise pleonastische“ Aufzählung typischer menschlicher Ungleichheiten. Dennoch scheint im Schrifttum, soweit man sich damit überhaupt befasst, einhellige Ansicht zu sein, dass nationale Minderheiten – neben dem Kriterium der Sprache 72 – sich von der Mehrheitsbevölkerung vor allem aufgrund ihrer „Abstammung“ 73 unterscheiden. Nicht auszuschließen sind überdies das Merkmal der „Heimat“, verstanden als die „örtliche Herkunft nach Geburt oder Ansässigkeit“, 74 und das der „Herkunft“ im Sinne einer „ständisch sozialen Abstammung und Verwurzelung“ 75 . Diese vom Bundesverfassungsgericht verwendeten Umschreibungen belegen vor allem die Interpretationsunsicherheit, die ihrerseits der maßgebliche Grund für die offenkundige Zurückhaltung des Gerichts bei der Anwendung dieses besonderen Diskriminierungsverbots sein dürfte. Unabhängig davon, bei welchem Merkmal man ansetzt, ist nicht zu leugnen, dass nationale Minderheiten sich gerade dadurch auszeichnen, dass sie – im soziologischen Sinn – eine „Gemeinschaft“ 76 bilden, insbesondere eine Abstammungs- und Sprachgemeinschaft. Die wahlrechtliche Privilegierung der Parteien nationaler Minderheiten knüpft an diese „Verbandszugehörigkeit“ an; gleichzeitig wird allen anderen Parteien, die solche Charakteristika nicht aufweisen, die Privilegierung nicht zuteil. Damit handelt es sich aber offensichtlich um eine Bevorzugung wegen der Abstammung, der Heimat oder der Herkunft. Dagegen lässt sich nicht anführen, die Wahlrechtsvorschrift enthalte keine Bevorzugung wegen der Abstammung, Sprache oder Heimat, weil nicht eine bestimmte, sondern jede nationale Minderheit privilegiert werde, selbst wenn die Vorschrift nur auf die Dänen in Schleswig-Holstein Anwendung finde. 77 Die vom Diskriminierungsverbot gezogene Grenzlinie verläuft nämlich nicht zwischen den verschiedenen nationalen Minderheiten, sondern zwischen den ___________ 71 Dürig (Fn. 63), Art. 3 III Rn. 31. Zu den Beratungen des Parlamentarischen Rates vgl. JÖR n. F., Bd. 1 (1951/52), S. 67. 72 Vgl. Ipsen, H.-P., in: Bettermann, K. A. et al. (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. II, 1954, S.145 ff.; Mangoldt, H. v. / Klein, F., GG, Bd. I, 2. Aufl. 1957, Art. 3 Anm. V 2 a. 73 Dürig (Fn. 63), Art. 3 III Rn. 31. Nach Ansicht des BVerfG (E 9, 124/128) bezeichnet das Abstammungskriterium „vornehmlich die natürliche biologische Beziehung eines Menschen zu seinen Vorfahren“. 74 BVerfGE 5, 17 (22); 17, 199 (203); 23, 258 (262). 75 BVerfGE 5, 17 (22); 48, 281 (287 f.). Letztlich überschneiden und ergänzen sich die Begriffe (Krugmann, M., Das Recht der Minderheiten, 2004, S. 224), so dass eine konturenscharfe Abgrenzung weder möglich noch notwendig ist. 76 s. dazu Dürig (Fn. 63), Art. 3 III Rn. 40 (im Kontext der „Abstammung“), unter Verweis auf die Unterscheidung von Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, 8. Aufl. 1938. 77 So aber Pieroth, B. / Schlink, B., Staatsrecht II (Grundrechte), 21. Aufl. 2005, Rn. 451.

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nationalen Minderheiten auf der einen, der Mehrheitsbevölkerung auf der anderen Seite. Und Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG verbietet nicht nur die Benachteiligung aufgrund der dort genannten Merkmale, sondern nicht minder die darauf gründende Bevorzugung.

b) Kausalität von Abstammung und Bevorzugung Nach dem Wortlaut der Vorschrift („wegen“) 78 ist in der Regel nur die bezweckte Benachteiligung oder Bevorzugung untersagt, nicht aber ein Nachteil oder ein Vorteil, der die Folge einer ganz anders intendierten Regelung ist. 79 Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht 80 auch verdeutlicht, das Gebot, dass die in Abs. 3 genannten Kriterien „nicht als Anknüpfungspunkt für eine rechtliche Ungleichbehandlung herangezogen werden“ dürften, gelte auch dann, „wenn eine Regelung nicht auf eine nach Art. 3 Abs. 3 verbotene Ungleichbehandlung angelegt ist, sondern in erster Linie andere Ziele verfolgt“. Ganz im Sinne eines engen Kausalitätsverständnisses hat das OVG Lüneburg in einer frühen Entscheidung (1950) eine Regelung im schleswigholsteinischen Wahlrecht gebilligt, die von dem Grundsatz, dass am Verhältnisausgleich nur Parteien teilnehmen durften, für die in allen Wahlkreisen Wahlvorschläge zugelassen waren, eine Ausnahme für Parteien nationaler Minderheiten vorsah. Es handele sich, so das Gericht, 81 „bei dieser Bestimmung nicht um eine echte Bevorzugung aufgrund einer nationalen Abstammung, die gemäß Art. 3 Abs. 3 GG unzulässig sein würde, sondern um die Anerkennung der anderen tatsächlichen Voraussetzungen, die bei den Parteien nationaler Minderheiten gegenüber den sonstigen Parteien Schleswig-Holsteins“ vorlägen. Diese „anderen tatsächlichen Voraussetzungen“ werden in der Tatsache verortet, dass der Südschleswigsche Wählerverband (SSW), der insoweit allein als Partei einer nationalen Minderheit in Betracht kam, durch seinen Namen und sein Programm zu erkennen gegeben habe, auf den Landesteil Schleswig beschränkt zu sein und im Landesteil Holstein kein politisches Leben entfalten zu wollen. Die Unhaltbarkeit dieser Argumentation beweist die ___________ 78 Das Merkmal wird zutreffend als „der Dreh- und Angelpunkt des Differenzierungsverbotes“ gesehen; so Heun, W., in: Dreier, H. (Hrsg.), GG, Bd. I, 2. Aufl. 2004, Art. 3 Rn. 119. 79 BVerfGE 75, 40 (69 f.). 80 BVerfGE 85, 191 (206); 97, 186 (197); vgl. Osterloh (Fn. 63), Art. 3 Rn. 249. 81 OVG Lüneburg, OVGE 2, 157 (173) = DVBl. 1950, 530 = AöR, Bd. 76 (1950/51), S. 344 (357); zustimmend Dürig (Fn. 63), Art. 3 III Rn. 55 (mit Fn. 1), der im Hinblick auf Art. 3 Abs. 3 GG sogar eine Differenzierung zugunsten der dänischen Minderheit für verfassungsrechtlich geboten hält („Die Gleichbehandlung wäre hier ein Verstoß gegen Art. 3 III GG.“); ablehnend Forsthoff, E., Anmerkung, in: AöR, Bd. 76 (1950/51), S. 369 (376).

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Überlegung, dass dem Gesetzesbegriff der „nationalen Minderheit“ eine solche Beschränkung auf Teile des Wahlgebiets nicht zu eigen ist, und dass es umgekehrt auch andere politische Parteien geben mag, die ihren Wirkungskreis bewusst nicht auf das gesamte Wahlgebiet erstrecken, die angeführten Rechtfertigungsgründe somit ebenfalls erfüllen, aber dennoch nicht in den Genuss der Privilegierung gelangen. Es bleibt deshalb nur die Schlussfolgerung: Die wahlrechtliche Privilegierung erfolgte ausschließlich wegen der Besonderheit, dass es sich um die Partei einer nationalen Minderheit handelte, also in unmittelbarer und bezweckter Anknüpfung an das Merkmal der „Abstammungsgemeinschaft“.

c) Problemignoranz des Bundesverfassungsgerichts In zwei neueren Beschlüssen hatte das Bundesverfassungsgericht 82 sich mit der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Befreiung von der 5-%-Sperrklausel für Parteien der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein zu befassen. Die Vorlagen des OVG Schleswig 83 hat es zwar für unzulässig erklärt, aber dennoch zu den verfassungsrechtlichen Maßgaben der Minderheitenprivilegierung im Schleswig-Holsteinischen Landeswahlgesetz Stellung genommen. Schleswig-Holstein führte 1997 das Zwei-Stimmen-Wahlrecht ein. Danach wird in 45 Wahlkreisen durch Mehrheitswahl jeweils ein Abgeordneter gewählt; die übrigen Abgeordneten werden durch Verhältniswahl aus der Landesliste der Parteien auf der Grundlage der im Land abgegebenen Zweitstimmen und unter Berücksichtigung der in den Wahlkreisen gewählten Kandidaten ermittelt (personalisierte Verhältniswahl). An dem Verhältnisausgleich nimmt jede Partei teil, für die eine Landesliste aufgestellt und zugelassen worden ist, sofern für sie in mindestens einem Wahlkreis ein Abgeordneter gewählt worden ist oder sofern sie insgesamt 5 % der im Land abgegeben gültigen Zweitstimmen erzielt hat. Diese Einschränkungen gelten nicht für Parteien der dänischen Minderheit (§ 3 Abs. 1 LWahlG). Das OVG Schleswig 84 anerkannte den SSW nach wie vor als Partei der dänischen Minderheit, obwohl für die Mitgliedschaft heute weder ein Bekenntnis zur dänischen Minderheit erforderlich ist, noch die Partei nach ihrem Programm spezifische Minderheiteninteressen vertritt. Nach ihrem Selbstverständnis ist sie eher eine Regionalpartei, die ihren „politischen Auftrag in der Ver___________ 82 BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats), NVwZ 2005, 205 ff.; NVwZ 2005, 568 ff. 83 Erster Vorlageschluss: OVG Schleswig, NVwZ-RR 2003, 161 ff. = JZ 2003, 519 ff. m. Anm. von Zimmermann. 84 OVG Schleswig, JZ 2003, 519 (520).

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antwortung insbesondere für alle in Südschleswig lebenden Menschen“ (Rahmenprogramm des SSW) sieht. Im „Sinne des Integrationsgedankens“, so das OVG, sei dies „nur zu begrüßen“. Der Charakter als Partei der dänischen Minderheit sei auch nicht dadurch verloren gegangen, dass der SSW nach Einführung des Zwei-Stimmen-Wahlrechts auch im Landesteil Holstein wählbar wurde.85 Das OVG86 schließt sich der Kritik an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur wahlrechtlichen Privilegierung von Minderheitenparteien insoweit an, als es ausdrücklich betont, dass es nicht Aufgabe des Gesetzgebers sei, durch Wahlgesetze über die „Parlamentswürdigkeit“ einer Partei zu entscheiden. Ebenso wenig könne es darauf ankommen, ob die Privilegierung einer Partei außenpolitisch opportun sei. Entscheidend sei vielmehr, ob die Privilegierung der nationalen Minderheit aus „zwingenden Gründen“ gerechtfertigt sei. Dies könnten auch Gründe sein, „die durch die Verfassung legitimiert werden und von einem Gewicht sind, das der Wahlrechtsgleichheit die Waage halten kann. Der Schutz und die Förderung nationaler Minderheiten wird vom Völkerrecht und auch von der Landesverfassung Schleswig-Holstein in Art. 5 Abs. 2 legitimiert. Weiterhin gehört zu den Differenzierungen rechtfertigenden Gründen nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts87 die Verwirklichung der mit der Parlamentswahl verfolgten Ziele und damit die Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorganges bei der politischen Willensbildung des Volkes. Die Privilegierung nationaler Minderheiten dient diesem Integrationsvorgang.“ Dennoch zeigte sich das OVG Schleswig88 davon überzeugt, die Privilegierung verstoße gegen den Grundsatz der Wahlgleichheit, insbesondere den Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien (Art. 21 Abs. 1 GG). Mit der Einführung der Zweitstimme für die Wahl einer Landesliste sei nämlich eine wesentliche Änderung eingetreten. Der SSW musste sich, um überhaupt am Verhältnisausgleich teilnehmen zu können, landesweit zur Wahl stellen. Eine Beschränkung auf den Landesteil Schleswig war nicht mehr möglich. Da im Landesteil Holstein aber keine bedeutsame dänische Minderheit vorhanden sei, fehle dem Zweck der Privilegierung, der dänischen Minderheit originär Sitz und Stimme im Parlament zu geben, damit die Basis. Da dem SSW im Landesteil Holstein somit auch keine Mittlerfunktion zwischen dänischer Minderheit und den Staatsorganen zukomme, sei er dort wie jede andere Partei zur Wahl angetreten. Er stehe insoweit mit anderen Parteien im Wettbewerb, ohne jeglichen Grund für eine wahlrechtliche Privilegierung. Das OVG hielt es des___________ 85 86 87 88

OVG Schleswig, JZ 2003, 519 (520 f.). OVG Schleswig, JZ 2003, 519 (521 f.). Hinweis auf BVerfGE 95, 408 (418). OVG Schleswig, JZ 2003, 519 (522 f.).

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halb für verfassungsrechtlich geboten, die landeswahlrechtliche Privilegierungsvorschrift dahin zu ergänzen, dass – sofern das Quorum von 5 % nicht überschritten werde – nur die im Landesteil Schleswig erreichten Stimmen beim Verhältnisausgleich zu berücksichtigen seien. Abschließend lenkte das OVG Schleswig89 den Blick noch auf Art. 3 Abs. 3 GG: Dort sei zwar das Bekenntnis zum Volkstum nicht genannt, „nationale Minderheiten als solche sind jedoch [...] durch Abstammung und Sprache geprägt. Art. 3 Abs. 3 GG fordert, dass niemand wegen seiner Abstammung und Sprache bevorzugt oder benachteiligt werden darf. Das Wahlrechtsprivileg einer nationalen Minderheit, von der Sperrklausel ausgenommen zu sein, dient der Integration einer andernfalls unterliegenden Gruppe im Staatsverband. Verfassungsrechtlich zulässig ist, die Unterlegenheit auszugleichen. Die Unterlegenheit einer Partei der nationalen Minderheit ist darin begründet, dass ihr Wählerpotenzial regelmäßig und naturgemäß beschränkt ist. Hier soll die Ausnahme von der Sperrklausel einen Ausgleich schaffen. Andererseits darf die Privilegierung nicht in eine Bevorzugung zum Nachteil anderer umschlagen. Dies geschieht, wenn eine Partei der nationalen Minderheit wegen ihrer allgemein politischen Aussagen auch außerhalb des Siedlungsgebietes der Minderheit Stimmen in erheblichem Umfang – wie sich im Falle des SSW anlässlich der Landtagswahl 2000 gezeigt hat – erzielt, die am Verhältnisausgleich teilnehmen, obwohl die 5-%-Sperrklausel nicht überschritten ist. Damit erhält die Partei ein Gewicht, das bei anderen politischen Parteien, die gleiche Wahlerfolge erzielen, wegen der Sperrklausel nicht zum Tragen kommt und ihr in ihrer Eigenschaft als Minderheitspartei nicht zukommt.“ In seinen Beschlüssen hat das Bundesverfassungsgericht Art. 3 Abs. 3 GG mit keinem Wort erwähnt. Vielmehr stellt es darauf ab, dass der SSW bereits vor 1997 berechtigt gewesen sei, sich auch im Landesteil Holstein zur Wahl zu stellen. Dass der SSW erst vor dem Hintergrund des neu eingeführten ZweiStimmen-Wahlrechts seine Landesliste auch auf den Landesteil Holstein erstreckt habe, sei allenfalls ein faktischer, verfassungsrechtlich nicht relevanter Unterschied.90 Weiter heißt es im ersten Beschluss: „Im Übrigen ist nicht von vornherein ausgeschlossen, dass die mit der Privilegierung verfolgte Integration der nationalen Minderheit in legitimer Weise auch dadurch gefördert werden kann, dass Wähler, die nicht selbst der dänischen Minderheit angehören, das Integrationsanliegen durch eine Stimmabgabe zu Gunsten von Parteien dieser Minderheit unterstützen. Dem integrationspolitischen Anliegen, der natio-

___________ 89 90

OVG Schleswig, JZ 2003, 519 (523). BVerfG, NVwZ 2005, 205 (206).

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nalen Minderheit eine eigene Vertretung im Landesparlament zu sichern, 91 wäre auch mit dieser Art der Förderung gedient.“ 92 Der zweite Beschluss des Bundesverfassungsgericht 93 hebt maßgeblich auf die Rechtfertigung der wahlrechtlichen Privilegierung am Maßstab der verfassungsrechtlich verbürgten Chancengleichheit der Parteien (Art. 21 Abs. 1, Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG) nach dem Kriterium des „zwingenden Grundes“ ab. Auf den – vom OVG Schleswig noch differenziert dargestellten – Zweck der Privilegierung geht das Bundesverfassungsgericht nicht weiter ein, sondern verweist insoweit auf seine Rechtsprechung aus den 1950er Jahren, um dann festzustellen, ein Verstoß gegen den Erforderlichkeitsgrundsatz müsse schon deshalb ausscheiden, „weil eine weniger einschneidende, aber gleich geeignete Maßnahme zur Verwirklichung des – unstreitig legitimen – gesetzgeberischen Ziels nicht ersichtlich ist.“ Die Rechtfertigung der wahlrechtlichen Sonderregelung ergebe sich gerade aus dem Anliegen, der nationalen Minderheit zur Vertretung ihrer spezifischen Belange die Tribüne des Parlaments zu eröffnen. „Wenn nun also einer Partei, jedenfalls in einem Teilbereich des Wahlgebiets, Funktion und Status einer anerkannten Minderheitspartei zukommt, so muss sich diese Eigenschaft zwangsläufig im gesamten Wahlgebiet auswirken.“

d) Keine verfassungsimmanente Rechtfertigung der Bevorzugung Wie schon in seinen früheren Entscheidungen geht das Bundesverfassungsgericht auf die „Grundsatzfrage“ 94 nicht ein, ob nämlich Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG als Unterscheidungsverbot gerade eine Bevorzugung wegen der Minderheitszugehörigkeit verbietet. Versteht man die Vorschrift als absolutes Differenzierungsverbot 95 , dann ist eine Privilegierung der Parteien nationaler Minderheiten verfassungsrechtlich zwingend untersagt. Sieht man in der Vorschrift hingegen ein relatives, d. h. (begrenzt) wertungsoffenes Gleichbehandlungsgebot, 96 dann dürfen die in Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG aufgeführten Kriterien zwar ausnahmsweise einer Differenzierung zugrunde liegen; diese Ausnahme muss

___________ 91

Hinweis auf BVerfGE 6, 84 (98); BVerfGE 95, 408 (419). BVerfG, NVwZ 2003, 205 (207). 93 BVerfG, NVwZ 2005, 568 (569 f.). 94 So zutreffend Sachs, M., Privilegierung der dänischen Minderheit bei Landtagswahlen, in: JuS 2003, S. 606 (607); vgl. auch ders., Grenzen des Diskriminierungsverbots, 1987, S. 296 (330 f.). 95 So insbesondere Sachs, M., Grenzen des Diskriminierungsverbots, 1987, S. 244 ff., 390 ff., 428 ff.; ders. (Fn. 59), § 126 Rn. 29 ff., 52 ff., 65 ff. 96 So Osterloh (Fn. 63), Art. 3, Rn. 239 ff.; Krugmann (Fn. 75), S. 227. 92

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sich jedoch aus grundlegenden Verfassungsentscheidungen, 97 insbesondere zum Schutz der Menschenwürde, 98 legitimieren lassen. Nur unter strenger Beachtung der Notwendigkeit einer verfassungsimmanenten Begründung vor dem Hintergrund des Postulats der Einheit der Verfassung lässt sich aus dem Differenzierungsverbot allenfalls in Grenzen ein Differenzierungsgebot, 99 zumindest aber ein Erlaubtsein der Differenzierung ableiten. 100 Der gedankliche Ansatzpunkt des OVG Schleswig war deshalb bereits verfehlt, soweit es aus Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG einen Förderungsauftrag, jedenfalls aber eine Förderungserlaubnis zugunsten nationaler Minderheiten herleitet. 101 Das Grundgesetz enthält (im Unterschied zur Landesverfassung SchleswigHolstein 102 und einzelnen anderen Landesverfassungen 103 ) keine Bestimmungen zum Schutz nationaler Minderheiten, aus denen sich eine Differenzierungsrechtfertigung ergeben könnte. Die angebliche innerstaatliche Einzigartigkeit nationaler Minderheiten begründet das Bundesverfassungsgericht 104 seit den 1950er Jahren allein mit für eine verfassungsimmanente Rechtfertigung nicht hinreichenden 105 außenpolitischen Erwägungen. Und selbst diese sind mittlerweile unschlüssig, wenn man als Partei nationaler Minderheiten – wie es dem Wahlgesetzgeber wohl vorschwebte – ausschließlich den SSW bzw. eine sons___________ 97 Osterloh (Fn. 63), Art. 3, Rn. 254: Die abwehrrechtlich geschützten Verbotsgehalte seien „(nur) nach Maßgabe verfassungsimmanenter Grenzen im Rahmen einer ‚strengen‘ Verhältnismäßigkeitsprüfung zu konkretisieren“. 98 Allgemein zum Zusammenhang von Art. 3 Abs. 3 GG und Menschenwürdeschutz: Frowein, J., Die Überwindung von Diskriminierung als Staatsauftrag in Art. 3 Abs. 3 GG, in: Ruland, F. (Hrsg.), Verfassung, Theorie und Praxis des Sozialstaats. Festschrift für H. Zacher, 1998, S. 157 ff. 99 So wohl Schulze-Fielitz, H., Verfassungsrecht und neue Minderheiten – Verfassungstheoretische Überlegungen zur „multikulturellen Gesellschaft“, in: Fleiner-Gerster, Th. (Hrsg.), Die multikulturelle und multi-ethnische Gesellschaft, 1995, S. 133 (142 f.). 100 Strikt gegen einen Förderanspruch aus Art. 3 Abs. 3 GG: Hofmann (Fn. 21), S. 32: „Ein gegen den Staat gerichteter Anspruch auf Förderung einer Minderheit oder einer ihrer Angehörigen kann aus dieser Vorschrift aber nicht abgeleitet werden.“ 101 Vgl. Sachs, M., Privilegierung der dänischen Minderheit bei Landtagswahlen, JuS 2003, S. 606 (607). 102 Art. 5 Abs. 2 enthält über die Bezugnahme auf die „kulturelle Eigenständigkeit“ der dänischen Minderheit und der friesischen Volksgruppe hinaus auch einen Schutzauftrag zu Gunsten der „politischen Mitwirkung“ dieser Gruppen, so dass sich die verfassungsrechtliche Lage anders darstellt als im Bund. 103 Dazu ausführlich Pallek (Fn. 7), S. 469 ff. 104 Vgl. das Zitat bei Fn. 66. 105 Zutreffend Jülich, H.-Ch., Chancengleichheit der Parteien, 1967, S. 113 f.; Klapp, Th., Chancengleichheit von Landesparteien im Verhältnis zu bundesweit organisierten Parteien, 1989, S. 34; Forsthoff (Fn. 81), S. 376; Kisker, G., Zur Bedeutung und zum Geltungsbereich des Grundsatzes der formalen Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl, in: Triffterer, O. / Bader, K. (Hrsg.), Festschrift für W. Mallmann, 1978, S. 103 (109); Mahrenholz, E. G., Wahlgleichheit im parlamentarischen Parteienstaat, 1957, S. 63.

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tige Partei der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein ansieht. Die entsprechende Klausel im dänischen Wahlrecht zugunsten der deutschen Volksgruppe in Nordschleswig wurde nämlich in den 1960er Jahren aufgehoben. 106 Auch der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit 107 des Grundgesetzes lässt eine Privilegierung nationaler Minderheiten im Wahlrecht vor dem Hintergrund des Art. 3 Abs. 3 GG nicht zu. Dies wäre allenfalls 108 dann anders, wenn die Bundesrepublik Deutschland sich völkervertraglich zu einer solchen Privilegierung verpflichtet hätte. Dies ist – wie zuvor gezeigt (sub II.) – nicht geschehen. Die völkerrechtlichen Vorgaben des Bürgerrechtspaktes und des Rahmenübereinkommens des Europarates, dasselbe gilt für das Kopenhagener OSZE-Dokument, enthalten keine Verpflichtung zur Minderheitenprivilegierung im Wahlverfahren, sondern nur allgemeine Zielsetzungen, denen die Bundesrepublik Deutschland innerstaatlich nachgekommen ist. Eine Relativierung des Diskriminierungsverbotes ist deshalb nicht möglich. Die Privilegierung nationaler Minderheiten in § 6 Abs. 6 S. 2 BWahlG verstößt deshalb gegen die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit sowie der parteipolitischen Chancengleichheit, da die in dieser Vorschrift vorgesehene Bevorzugung gerade wegen der Abstammung erfolgt, was sich verfassungsrechtlich nicht legitimieren lässt. 109

IV. Verfassungspolitische Überlegungen Die in § 6 Abs. 6 S. 2 BWahlG aufscheinende Problematik der Differenzierung oder Gleichbehandlung von „klassischen“ und „neuen“ Minderheiten war Gegenstand auch der Beratungen in der Gemeinsamen Verfassungskommission ___________ 106 Vgl. Jülich (Fn. 105), S. 114 (dort Fn. 29). Zur Bonn-Kopenhagener Erklärung (BT-Drs. 2/145) vom 29.03.1955 vgl. Hofmann (Fn. 21), S. 30 f. 107 Vgl. dazu Bleckmann, A., Die Völkerrechtsfreundlichkeit der deutschen Rechtsordnung, in: DÖV 1979, S. 309 ff.; ders., Der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit der deutschen Rechtsordnung, in: DÖV 1996, S. 137 ff. 108 Die Tragweite des Grundsatzes der Völkerrechtsfreundlichkeit ist noch nicht hinreichend ausgelotet. Es erscheint jedoch naheliegend, dass dieser Grundsatz, soweit dies nicht contra constitutionem wäre, eine völkerrechtskonforme Interpretation auch der Diskriminierungsverbote gebietet; vgl. dazu Maidowski, U., Umgekehrte Diskriminierung, 1989, S. 61 ff. 109 Ähnlich Hösch, U., Anmerkungen zur 5-%-Klausel des § 6 Abs. 6 S. 1 BWahlG, in: ThürVBl. 1996, S. 265 (269): Die Regelung verstoße „eindeutig gegen Art. 3 Abs. 3 GG, da es sich um eine Bevorzugung aus nationalen Gründen handelt“; im Ergebnis ebenso Becht (Fn. 69), S. 167: „Eine Differenzierung nach Heimat und Herkunft darf somit nicht vorgenommen werden. Genau dies geschieht aber, wenn Ausnahmeregelungen für Parteien nationaler Minderheiten geschaffen werden, weil hier als alleiniges Differenzierungskriterium die nationale Abstammung einer Wählerschaft, die eine bestimmte, von ihr privilegierte Gruppierung wählt, bestimmend ist.“ Zum Streitstand vgl. die umfangreichen Nachweise bei Kremser (Fn. 28), S.78 f.

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(GVK) von 1992 bis 1994 110 . Dass es im Ergebnis zu keiner mehrheitsfähigen Formulierung für einen in das Grundgesetz aufzunehmenden Minderheitenschutzartikel kam, lag vor allem an dem Versuch, das bisherige Minderheitenverständnis auf „neue“ Minderheiten zu erweitern. Vorgeschlagen wurde zunächst ein Artikel mit folgendem Wortlaut: „Der Staat achtet die Identität der ethnischen, kulturellen und sprachlichen Minderheiten. Er schützt und fördert Volksgruppen und nationale Minderheiten deutscher Staatsangehörigkeit.“

Aus der Hervorhebung des Merkmals der deutschen Staatsangehörigkeit in der Schutz- und Förderklausel des Satzes 2 ist ersichtlich, dass die Achtensklausel in Satz 1 sich auch auf solche Minderheiten erstrecken sollte, die das Erfordernis der deutschen Staatsangehörigkeit nicht erfüllen, also insbesondere Immigrantengruppen. Letztlich einigte man sich in der GVK darauf, nur Satz 1 des Vorschlags – d. h. die so genannte Achtensklausel – als Art. 20b (n. F.) zur Aufnahme in das Grundgesetz zu empfehlen. Die dafür erforderliche ZweiDrittel-Mehrheit wurde jedoch im Bundestag nicht erreicht. Die Gründe für das Scheitern eines Artikels zum Minderheitenschutz im Grundgesetz sind vielfältig, 111 spiegeln aber gleichzeitig die Gesamtproblematik in einer Weise wider, die auch für das Verständnis des Begriffs der „nationalen Minderheit“ in § 6 Abs. 6 S. 2 BWahlG bedeutsam ist. Das gilt zunächst für den Begriff der „ethnischen, kulturellen und sprachlichen Minderheit“. Der Begriff der Minderheit lässt sich kaum in einer konsensfähigen Weise definieren (s. o.). Der seinerzeit geplante Art. 20b GG (n. F.) hätte aber darüber hinaus eine Interpretation nahegelegt, bei der es auf die deutsche Staatsangehörigkeit nicht (mehr) angekommen wäre. 112 Dies war wohl auch durchaus beabsichtigt. Gleichzeitig hätte man das Bestimmungskriterium der „Alteingesessenheit“ 113 der jeweiligen Bevölkerungsgruppe aufgegeben. Die Mehrheit der Bundesländer plädierte bewusst für ein Offenhalten des Minderheitenbegriffs, damit weitere Minderheiten, die sich noch bilden könnten, nicht ausgeschlossen würden. 114 Mit der Aufnahme des Minderheitenschutzartikels wäre der autochthone und neue Minderheiten umfassende Schutz zu einem Verfassungsgut erstarkt mit der Folge, dass durch diese Staatszielbestimmung auch die an sich

___________ 110 Vorausgegangen war die ergebnisoffene Erörterung dieses Themas in der Kommission Verfassungsreform des Bundesrates; vgl. dazu Pallek (Fn. 7), S. 398 ff. 111 Vgl. Murswiek (Fn. 4), § 201 Rn. 50 f.; zur damaligen Diskussion auch Franke/ Hofmann (Fn. 9), S. 401 (406). 112 Vgl. Murswiek (Fn. 41), S. 54 ff. 113 Zu diesem Kriterium vgl. Pallek (Fn. 7), S. 448 f. 114 BR-Drs. 360/92 Rn. 130.

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verbotene Differenzierung nach Maßgabe des Merkmals der „Abstammung“ (Art. 3 Abs. 3 GG) verfassungsrechtlich legitimiert worden wäre. 115

V. Konsequenzen für die Minderheitenprivilegierung im Bundeswahlgesetz Das Wort „Minderheit“ ist heute im gesellschaftlichen Sprachgebrauch, aber auch in der Wissenschaft, z. B. in der Soziologie oder der Politikwissenschaft, omnipräsent. Dahinter steht regelmäßig das Bemühen, eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe als besonders schutzbedürftig darzustellen. Für den Rechtsbegriff „Minderheit“ und mithin auch für die „nationale Minderheit“ ist dies grundsätzlich ohne Bedeutung; allenfalls ist damit ein gewisses, aus dem allgemeinen Sprachgebrauch sich ergebendes (nicht-rechtliches) Vorverständnis verbunden. Aber selbst das Recht – zumal das Völkerrecht – verwendet den Begriff der Minderheit in einem uneinheitlichen Verständnis. Kennzeichnend für eine nationale Minderheit in der Bundesrepublik Deutschland ist bislang der Wille der Gruppe, einen besonderen Volksteil zu bilden. Zumindest für die allgemein anerkannten nationalen Minderheiten (Dänen und Sorben) sowie die ihnen durch die Erklärung der Bundesregierung zum Rahmenübereinkommen des Europarates gleichgestellten Gruppen (Friesen sowie Sinti und Roma) bedeutet dies, dass sie – auch wenn sie mit Ausnahme der dänischen Minderheit zurzeit über keine eigene Partei verfügen – grundsätzlich in den Anwendungsbereich des § 6 Abs. 6 S. 2 BWahlG fallen. 116 Mit einer gewissen Zwangsläufigkeit steht dann aber die Frage im Raum, ob die daraus resultierende Bevorzugung der alteingesessenen („autochthonen“) Minderheiten und Volksgruppen unter Ausschluss der eingebürgerten Immigrantengruppen („neue Minderheiten“) verfassungsrechtlich und rechtspolitisch noch tragbar ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zeichnet sich eine nationale Minderheit in der Bundesrepublik Deutschland dadurch aus, dass sie die deutsche Staatsangehörigkeit mit fremder Volkszugehörigkeit (Nationalität) verbindet. 117 Keine nationale Minderheit bilden, jedenfalls nach bisher vorherr___________ 115

Vgl. Pastor, Th., Die rechtliche Stellung der Sorben in Deutschland, 1997, S. 74, der insoweit von einer Klarstellungs- und Bestandssicherungsfunktion ausgeht; ihm folgend Pallek (Fn. 7), S. 420, dort auch zu den mit Art. 20 b (n. F.) verbundenen negativen Folgen (S. 421 f.), wäre die Vorschrift ins Grundgesetz aufgenommen worden. 116 So auch Pallek (Fn. 7), S. 337; für Einbeziehung möglicher Parteien der sorbischen Minderheit auch Hofmann (Fn. 21), S. 34. 117 BVerfGE 6, 84 (98); ähnlich bereits BVerfGE 1, 208 (240), unter Bezugnahme auf die „staatsbürgerliche Gleichstellung der einzelnen Angehörigen der Minderheit mit

484

Burkhard Schöbener

schender Ansicht, 118 aus persönlichen und wirtschaftlichen Gründen zugewanderte Personengruppen fremder Nationalität; eine diesbezügliche Aussage des Bundesverfassungsgerichts fehlt bislang allerdings. Die Unterschiede zwischen beiden Gruppen sind so grundlegend, 119 dass eine Erstreckung des § 6 Abs. 6 S. 2 BWahlG auf Immigrantenminderheiten ausgeschlossen scheint. Dennoch ist es nicht von der Hand zu weisen, dass der auch völkerrechtlich alles andere als eindeutige Begriff der „nationalen Minderheit“ in § 6 Abs. 6 S. 2 BWahlG zukünftig einem „multikulturellern Bedeutungswandel“ unterliegen könnte, nicht zuletzt unter dem Gesichtspunkt diffuser Integrationserwartungen, wie sie das Bundesverfassungsgericht in seiner letzten Entscheidung zur Wahlrechtsprivilegierung in Schleswig-Holstein artikuliert hat. Außerdem wären die bislang vom Bundesverfassungsgericht 120 vorgebrachten (und gebetsmühlenartig wiederholten) Rechtfertigungskriterien im Hinblick auf die bei Parteien nationaler Minderheiten bestehenden „besonderen Verhältnisse“ (weil „das Völkerrecht und unter Umständen ein fremder Staat, dessen Volkstum die Minderheit zugehört, Interesse an ihrem Status nimmt“) ohne Weiteres auch bei Parteien der „neuen“ Minderheiten gegeben. Eine minderheitenspezifische politische Programmatik solcher Parteien wäre jedenfalls nicht erforderlich. Auch der SSW hat sich schon seit geraumer Zeit von einer reinen Minderheitenpartei weiterentwickelt zu einer Richtungspartei im Sinne der skandinavischen Sozialdemokratie; 121 die Mitgliedschaft in der Partei ist unabhängig von der Zugehörigkeit zur dänischen Minderheit. 122 Auch das Wählerreservoir erstreckt ___________ der Mehrheitsbevölkerung“. Ebenso OVG Schleswig, JZ 2003, 519 (520); Schreiber (Fn. 44), § 6 Rn. 23. 118 Vgl. nur OVG Schleswig, JZ 2003, 519 (520); Schreiber (Fn. 44), § 6 Rn. 23: „Nicht betroffen sind mithin Personen etwa türkischer oder ex-jugoslawischer Herkunft, welche die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Einer ‚Türkenpartei‘ käme danach das Minderheitenprivileg des § 6 Abs. 6 S. 2 >BWahlG@ nicht zugute, weil dieser Personenkreis nicht als in Deutschland traditionell heimisch und hier in angestammten Siedlungsgebieten lebend angesehen werden kann.“ 119 Dies kann hier nicht vertieft werden; vgl. zum Zweck des völkerrechtlichen Minderheitenschutzes und den Unterschieden zu den „neuen Minderheiten“ nur Murswiek (Fn. 41), S. 45 ff.; ders. (Fn. 4), § 201 Rn. 32 ff.; ders., Demokratie und Freiheit im multiethnischen Staat, in: Blumenwitz, D. / Gornig, G. / Murswiek, D. (Hrsg.), Minderheitenschutz und Demokratie, 2004, S. 41 (55 f.). 120 BVerfGE 6, 84 (97 f.). 121 Kremser (Fn. 28), S. 76. 122 Allerdings würde der SSW seinen wahlrechtlichen Status als Partei einer nationalen Minderheit dann verlieren, wenn die Mehrheit der Mitglieder nicht mehr der dänischen Minderheit angehörte; vgl. Pieroth, B. / Aubel, T., Der Begriff der Partei der dänischen Minderheit im Schleswig-holsteinischen Landeswahlrecht, in: NordÖR 2001, S. 141 (143 f.). Zu ungewiss insoweit Kremser (Fn. 28), S. 76, der als maßgeblich ansieht, dass der SSW „von Mitgliedern dominiert würde, die sich nicht zur dänischern Minderheit bekennen“ (Hervorhebung durch den Verf.); teilweise ähnlich Pieroth, B. / Aubel, T., Der Begriff der Partei der dänischen Minderheit im Schleswig-holsteinischen Landeswahlrecht, in: NordÖR 2001, S. 141 (142): Bekenntnis zum dänischen Volkstum

Wahlrechtliche Privilegierung von Minderheiten

485

sich mittlerweile – nicht zuletzt aufgrund der generellen politischen Ausrichtung – auch erheblich auf nicht dänischstämmige Wähler. Wenn unter diesen Voraussetzungen der SSW (noch) als Partei einer nationalen Minderheit anerkannt wird, dann liegt die Öffnung auch für zugewanderte Minderheiten durchaus im Bereich des Möglichen. Vor diesem Hintergrund gilt es, sich auf die verfassungsrechtlichen Vorgaben zu besinnen. Der Anknüpfungspunkt für die wahlrechtliche Privilegierung nationaler Minderheiten, nämlich die Abstammung, gegebenenfalls auch Herkunft, Heimat und Sprache, verstößt gegen Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG (s. o.). Deshalb ist jedenfalls § 6 Abs. 6 S. 2 GG verfassungswidrig.123 Das Bundesverfassungsgericht darf sich der Beantwortung dieser Grundsatzfrage zukünftig nicht mehr verschließen. Überdies ist auch der Gesetzgeber aufgefordert, die Vorschrift bei nächster Gelegenheit zu streichen, zumal es für sie seit Jahrzehnten keinen Anwendungsfall mehr gibt. Der SSW tritt bereits seit den 1960er Jahren nicht mehr zu Bundestagswahlen an, die Sorben haben gar nicht erst eine Minderheitenpartei gegründet. Das Völkerrecht steht einer solchen Maßnahme nicht entgegen, weil es (wie gezeigt) die Bundesrepublik Deutschland nicht zur wahlrechtlichen Privilegierung nationaler Minderheiten verpflichtet.

___________ als entscheidendes Kriterium. Insoweit kann es zur Abgrenzung aber weder auf eine tatsächliche Dominanz noch auf ein Minderheitenbekenntnis ankommen, sondern allein auf die Zahl der Minderheitenangehörigen. Die Zugehörigkeit zur Minderheit muss sich zudem vorrangig an objektiven Kriterien orientieren. 123 Für die Partei der dänischen Minderheit im LWahlG von Schleswig-Holstein erscheint insofern aufgrund der landesverfassungsrechtlichen Besonderheiten (vgl. Fn. 102) eine Privilegierung durchaus verfassungsrechtlich zulässig.

Bedroht das weltweite Sprachensterben auch Europa? Christoph Pan

I. Einleitung Sprache ist mehr als nur ein Mittel der Kommunikation, sie ist der verbalisierte Ausdruck von Kultur. „Sprache ist die eigentliche Heimat.“ 1 Stirbt eine Sprache, dann stirbt auch eine Kultur, verlieren Menschen ihre Heimat. Im August 2004 fand in Leipzig der Weltkongress zur Syntax der Sprachen der Welt statt. 2 Angeblich sind mehr als 60 % aller Sprachen dieser Welt vom Aussterben bedroht, womit ein Stück Weltkultur verloren gehen wird. Der Grund für das vorhergesagte Verschwinden von bis zu 4.000 Sprachen weltweit sei, so die Wissenschaftler, ein „Sprachwechsel“, bei dem sich Menschen den dominanten Sprachen ihrer Region anpassen. Traditionelle Sprachen verlören dadurch an Bedeutung und gingen unter. Wie sieht es damit in Europa aus? Ist die kulturelle Vielfalt Europas durch Sprachensterben bedroht? Der Sprachentod hängt in erster Linie von zwei Arten von Variablen ab, nämlich – von unabhängigen Variablen wie Sprecherzahl oder Minderheitenlage, die kaum oder überhaupt nicht veränderbar sind, und – von abhängigen Variablen wie Reichweite, Leistungsfähigkeit, Reinheit oder Funktion einer Sprache, die durch sprachpolitische Maßnahmen beeinflussbar sind. Zur Beantwortung der gestellten Frage sind daher folgende Faktoren zu untersuchen: 1. empirische Fakten als exogene, unabhängige Faktoren, und 2. sprachpolitische Gegebenheiten. ___________ 1 Sagt Els Oksaar. Aber auch: „So viele Sprachen, wie ich kann, über so viele Zugänge zur Welt verfüge ich“. Sprachen sind auch verglichen worden mit Schlüsseln zur Welt: Je größer der Schlüsselbund, desto mehr Türen können geöffnet werden, desto mehr bereichernde Kontakte kann es geben. Mehr hierzu bei Oksaar 1998. 2 Gastgeber der 1. internationalen Konferenz zu den Sprachen der Welt vom 02. bis 08.08.2004 waren die Universität Leipzig und das Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie.

Christoph Pan

488

Das empirische Datenmaterial, welches den nachfolgenden Überlegungen zugrunde gelegt ist, wurde, sofern nicht anders vermerkt, aus der 2003 erschienenen englischen Fassung des Handbuchs europäischer Volksgruppen 3 geschöpft, wo diese Daten erstmals in so detaillierter und übersichtlicher Form aufbereitet und quellenmäßig belegt sind.

II. Empirischer Hintergrund und Erfahrungswerte 1. Risikofaktor Sprecherzahl Der größte Risikofaktor für eine Sprache besteht erfahrungsgemäß in einer kleinen Sprecherzahl, also in der „Kleinheit“ einer Sprache. Als Faustregel kann gelten: je kleiner eine Sprache, um so größer ist das Risiko, von einer größeren Sprache verdrängt zu werden. In Europa, vom Atlantik bis zum Ural, ohne Kaukasus, aber einschließlich der Türkei, deren Territorium größtenteils in Kleinasien liegt, gibt es über 90 Sprachen (Tab. 1): Tabelle 1 Die Sprachen Europas nach Sprecherzahl 4 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Russisch 5 Deutsch 6 Englisch Türkisch 8 Französisch 10 Italienisch 12

122.000.000 89.300.000 58.000.000 56.550.000 55.000.000 53.000.000

7. 8. 9. 10. 11. 12.

Ukrainisch Polnisch Spanisch 7 Rumänisch 9 Niederländisch 11 Ungarisch

43.000.000 38.300.000 31.100.000 22.500.000 20.700.000 11.650.000

Fortsetzung nächste Seite

___________ 3

2003.

Pan, Ch. / Pfeil, B. S., National Minorities in Europe. Handbook. Ethnos 63,

4 Da es nur für wenige Sprachen spezifische Erhebungen zur Anzahl ihrer muttersprachlichen Sprecher gibt, sind zu ihrer Quantifizierung Schätzungen heranzuziehen. Hier wird davon ausgegangen, dass Muttersprache und ethnische Identität in der Regel positiv korrelieren. Die in dieser Tabelle enthaltenen Daten beruhen auf den jüngsten Volkszählungen, welche über die sprachlich-ethnische Identität der Einwohner in den einzelnen Ländern Europas Aufschluss geben. Zum umfangreichen Datenmaterial vgl. Pan/Pfeil (Fn. 3), S. 17 ff. 5 Gesamtzahl in Europa und Asien. 6 Alle Deutschsprachigen (Bundesdeutsche, Österreicher, Deutschschweizer, Elsässer, Lothringer, Südtiroler, Deutschbelgier, Nordschleswiger, Russlanddeutsche etc.). 7 Inkl. Mirandes und Barranquenho. 8 Gesamtzahl in Europa und Vorderasien. 9 Inkl. Moldawisch. 10 Inkl. Wallonisch, Suisse Romand und Provenzalisch. 11 Inkl. Flämisch. 12 Inkl. Korsisch.

Bedroht das weltweite Sprachensterben auch Europa?

489

Fortsetzung Tabelle 1

13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31. 32. 33. 34. 35. 36. 37. 38. 39.

Portugiesisch 13 Griechisch Weißrussisch Tschechisch Schwedisch Serbisch Bulgarisch Katalanisch 16 Okzitanisch 18 Tatarisch 19 Albanisch Finnisch Slowakisch Dänisch Kroatisch Norwegisch Romanes/Sinti Litauisch Slowenisch Tschuwaschisch Bosnisch Mazedonisch Lettisch Sardisch Mordwinisch Baschkirisch Estnisch

11.600.000 11.500.000 10.200.000 9.800.000 8.000.000 7.700.000 6.700.000 6.400.000 5.950.000 5.700.000 5.300.000 5.300.000 5.035.000 5.100.000 4.800.000 4.100.000 3.800.000 3.140.000 1.900.000 1.800.000 1.600.000 1.580.000 1.416.000 1.270.000 1.070.000 1.350.000 1.000.000

40. 41. 42. 43. 44. 45. 46. 47. 48. 49. 50. 51. 52. 53. 54. 55. 56. 57. 58. 59. 60. 61. 62. 63. 64. 65. 66.

Tschetschenisch Udmurtisch 14 Karelisch Baskisch Tscheremissisch 15 Awarisch Montenegrinisch Walisisch 17 Friaulisch Kaschubisch Irisch-Gälisch Friesisch 20 Bretonisch Ossetisch Kabardinisch Maltesisch Darginisch Aromunisch 21 Komi-Syrjänisch Luxemburgisch 22 Kumykisch Jiddisch 23 Lesgisch Isländisch Inguschisch Ladino 24 Gagausisch

900.000 715.000 700.000 667.000 644.000 544.000 543.000 543.000 526.000 500.500 500.000 462.000 450.000 400.000 386.000 374.000 353.000 336.000 336.000 308.000 277.000 265.000 257.000 250.000 215.000 200.000 197.000

Fortsetzung nächste Seite

___________ 13

Inkl. Galicisch. Wotjakisch. 15 Marisch. 16 Inkl. Valencianisch. 17 Kymrisch. 18 Inkl. Aranesisch. 19 Inkl. Krimtatarisch. 20 West-, Ost- und Nordfriesisch. 21 Wlachisch. 22 Lëtzebuergesch. 23 In vielen Ländern betrachten sich die Juden vor allem als religiöse Gemeinschaft und lehnen eine Zählung ab. Nicht alle Juden sprechen zwangsläufig Jiddisch und die Zahl der Jiddischsprecher ist nur zum Teil bekannt und nicht wirklich feststellbar. 24 Sephardisch oder Judäo-Spanisch, zwei Drittel der Sprecher leben in Israel. Vgl. Ladino Preservation Council. 14

Christoph Pan

490 Fortsetzung Tabelle 1

67. 68. 69. 70. 71. 72. 73. 74. 75. 76. 77. 78. 79.

Tscherkessisch 25 Kalmykisch Karatschaisch Komi-Permjakisch Lakkisch Ruthenisch Tabassaranisch Samisch Balkarisch Nogaiisch Ladinisch Schottisch-Gälisch Sorbisch

174.000 166.000 150.000 147.000 106.000 105.000 94.000 93.000 78.000 74.000 57.000 63.000 60.000

80. 81. 82. 83. 84. 85. 86. 87. 88. 89. 90. 91. 92.

Westgrönländisch 26 Färingisch Rätoromanisch Rutulisch Tatisch Wepsisch Tsachurisch Karaimisch Ostgrönländisch 27 Ingrisch Kornisch 28 Manx-Gälisch 29 Liwisch

53.000 45.000 38.000 20.000 19.000 12.000 6.500 4.600 3.000 1.100 1.000 300 135

Von diesen 92 Sprachen Europas sind – 53 Kleinstsprachen mit weniger als 1 Million Sprechern, – 13 Kleinsprachen mit 1 – 5 Millionen Sprechern, – 15 mittelgroße Sprachen mit 5 – 20 Millionen Sprechern und – 11 große Sprachen mit mehr als 20 Millionen Sprechern. Dies bedeutet, dass gut die Hälfte der europäischen Sprachen (58 %) Kleinstsprachen sind und als solche ein großes Risiko tragen.

2. Risikofaktor Minderheit Ein zweiter Risikofaktor ergibt sich aus der Minderheitenlage einer Sprache. In diesem Fall ist eine Sprache nicht direkt gefährdet, sondern nur insofern, als sie sich in einer Minderheitensituation befindet. Mehr als die Hälfte der europäischen Sprachen (53) sind so genannte „staatslose“ Sprachen, also Minderheitensprachen. 30 Dazu kommen Anteile der Mehrheitssprachen, auf welche die Minderheitenlage zutrifft. Beispielsweise ist Deutsch mit rund 90 Mio. Sprechern die zweitgrößte Sprache Europas und trägt damit ein geringes Überlebensrisiko; doch ___________ 25

Adygisch. Sprache der Inuit. 27 Sprache der Ivi (vgl. dazu Pan, Ch., Die Minderheitenrechte in Dänemark. in: Pan, Ch. / Pfeil, B. S., Minderheitenrechte in Europa. Handbuch der europäischen Volksgruppen, Band 2, zweite überarbeitete und aktualisierte Auflage 2006). 28 Cornwall. 29 Isle of Man. 30 Pan/Pfeil (Fn. 3), S. 37. 26

Bedroht das weltweite Sprachensterben auch Europa?

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dort, wo Deutsch als Minderheitensprache dem Bedrängnis durch dominante Nationalsprachen begegnet, ist es dem Minderheitenrisiko ausgesetzt, dem wiederum die Kleinheit der Zahl zugrunde liegt. Deutsch ist beispielsweise in Europa in 23 Staaten vertreten, davon 4-mal als Mehrheitssprache (Deutschland, Österreich, Schweiz, Liechtenstein) und 19-mal als Minderheitensprache. Von den rd. 90 Mio. muttersprachlichen Deutschen gehören 3,5 Mio. zu den deutschsprachigen Minderheiten in 19 Staaten Europas (Tab. 2). Tabelle 2 Deutsche Minderheiten in Europa 31 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

Belgien Dänemark Estland Frankreich Italien Kroatien Lettland Litauen Moldawien Polen

66.000 20.000 1.300 1.400.000 304.000 3.000 1.800 2.000 7.300 450.000

11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19.

Rumänien Russland Serbien u. Mont. Slowakei Slowenien Tschechien Türkei Ukraine Ungarn

60.000 842.000 5.400 5.500 1.000 38.000 5.000 38.000 220.000 3.470.300

Russisch, die Mehrheitssprache Russlands, befindet sich in zehn europäischen und acht zentralasiatischen Ländern de jure in der Minderheitenposition, obwohl es faktisch noch weitgehend eine dominierende Stellung einnimmt. 32 Von allen europäischen Sprachen haben einzig Englisch und Norwegisch keine muttersprachlichen Sprecher, die sich in einer Minderheitenlage befinden. Alle anderen Mehrheitssprachen haben mehr oder weniger große Anteile in Minderheitenlage. Das Minderheitenrisiko trifft somit die so genannten staatslosen Sprachen wie z. B. Sorbisch, Bretonisch, Ladinisch usw. voll und mit Ausnahme von Englisch und Norwegisch alle europäischen Sprachen partiell in ihren Minderheitenvarianten wie z. B. Deutsch 19-mal, Russisch 18-mal, Griechisch 11-mal, Ungarisch 8-mal, Italienisch und Französisch je 5-mal, Finnisch 4-mal, Schwedisch 2-mal usw. ___________ 31

Pan / Pfeil (Fn. 3), S. 21 und 53 ff. Pan / Pfeil (Fn. 3), S. 28, sowie ausführlich hierzu die Sprachenrechte in Estland, Lettland, Litauen, in der Ukraine und in Moldawien, in: Pan, Ch. / Pfeil, B. S., Minderheitenrechte in Europa. Handbuch der europäischen Volksgruppen, Bd. 2. Ethnos 61, 2002, S. 102 f., 236 f., 250 f., 278 f. und 490 f. 32

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Christoph Pan

III. Sprachpolitische Erwägungen Dem doppelten Druck von Kleinheitsrisiko und Minderheitenrisiko kann durch sprachpolitische Maßnahmen begegnet werden. Zunächst ist an die bekannten bildungspolitischen Maßnahmen zur Erhaltung von Minderheitensprachen wie Unterricht der und in der Muttersprache sowie Zugang zu audiovisuellen und Printmedien in der Minderheitensprache zu denken. Dazu kommen die Legitimierungsbedingungen, worunter unmittelbare gesetzliche Regelungen und sprachrelevante politische Maßnahmen im Rahmen der Sozialpolitik zu verstehen sind. Sie alle zusammen beeinflussen letztlich das Prestige einer Sprache und damit den Wert für die soziale Mobilität ihrer Sprecher, was wiederum auf die Reproduktion und den Gebrauch einer Minderheitensprache zurückwirkt. 33 Darüber hinaus aber sind für das Überleben einer Sprache aus sprachpolitischer Sicht noch einige wesentliche Faktoren ins Kalkül zu ziehen, nämlich – die Prophylaxe gegen Sprachzersplitterung, – die Sprachpflege zur Erhaltung der Leistungsfähigkeit, – der Widerstand gegen die terminologisch unbegründete Ersatzfunktion von Englisch und – die funktionale Aufwertung von Minderheitensprachen.

1. Prophylaxe gegen Sprachzersplitterung Viele große Sprachen wären nicht groß, wenn sie sich nicht erfolgreich einer Strategie bedienen würden, welche sie vor Zersplitterung schützt. Es ist die Strategie der intralingualen Triglossie, worunter eine Art von Dreisprachigkeit innerhalb einer Sprache zu verstehen ist. Jedenfalls bedienen sich dieser Strategie offenbar mit Erfolg viele große Sprachen wie Russisch, Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch, Ukrainisch, Polnisch, Spanisch usw. In diesen Sprachen gibt es z. B. wie im Deutschen drei deutlich nebeneinander existierende Sprachvarianten, nämlich 1. eine Mehrzahl regionaler Varietäten (Dialekte), die man auch als Regionalsprachen bezeichnen kann und die auf lokaler Ebene zu einer schier unübersichtlichen Anzahl lokaler Varietäten differieren, ___________ 33 Vgl. dazu Pfeil, B. S., Ziele der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen und Möglichkeiten staatlicher Umsetzung., in: Europa Ethnica 1–2/ 2003, S. 29 ff.

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2. eine einzige Standardsprache, die als gemeinsamer Nenner allen Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft, z. B. allen Deutschsprechenden, verständlich ist, jedoch insofern ideale bzw. künstliche Züge trägt, als sie kaum jemals in Reinkultur vorkommt, und wenn, dann für den Fall des Deutschen im großen Duden, denn man spricht nicht so wie man schreibt und umgekehrt schreibt man nicht so wie man spricht; 3. die jeweilige Umgangssprache, die situationsbedingt und flexibel zwischen lokaler Mundart und Standardsprache pendelnd variiert und die Kommunikationsprobleme zwischen mehr oder weniger weit voneinander entfernten Dialekten, oder zwischen Standardsprache und Dialekten überwindet, indem sie sich je nach Bedarf mehr und mehr dem Standard angleicht oder sich von diesem entfernt und sich einer mundartlichen Form nähert, die von den jeweiligen Sprechern noch verstanden werden kann. Diese Strategie der intralingualen Triglossie ist die Grundlage für die Erhaltung und Entwicklung der großen europäischen Sprachen. Sprachen, die sich nicht dieser Strategie bedienen, fallen der Zersplitterung anheim. Sehr kleine Sprachen sind durch Zersplitterung in ihrer Existenz extrem gefährdet. Sie sterben zwar nicht unmittelbar und sofort, sondern verfallen einer zunehmenden Bedeutungslosigkeit, indem sie von leistungsfähigeren Sprachen verdrängt werden und aufgrund des Funktionsverlusts im Verein mit der geringen Sprecherzahl schließlich zu Haussprachen verkümmern und allmählich in Vergessenheit geraten. Im Streben nach nationaler Eigenständigkeit haben einige Ethnien im 19. Jahrhundert auf die Gefahr der Sprachzersplitterung nicht geachtet und dem nationalen Anliegen den Vorzug gegeben. Dies vermutlich deshalb, weil sprachpolitische Erwägungen der hier angestellten Art mangels Erfahrungswerten noch keine Rolle gespielt haben. In dieser Situation befinden sich z. B. einige slawische Idiome, die aus politischen Gründen und unabhängig von ihrer Sprecherzahl die sprachpolitisch höchste Stufe, nämlich den Status einer selbstständigen und unabhängigen Standardsprache angestrebt und erreicht haben, ohne die Garantie zu besitzen, dieses Leistungsniveau aus eigenen Kräften auch längerfristig halten zu können. Ein Beispiel von mehreren ist Slowakisch, das mit einer Sprecherzahl von rd. fünf Millionen zu den Kleinsprachen zählt. Slowakisch, das mit Tschechisch nah verwandt ist und mit diesem zur westslawischen Gruppe des slawischen Zweigs der indoeuropäischen Sprachfamilie zählt, wurde erst Ende des 19. Jahrhunderts aus nationalen Gründen verschriftet und zur Standardsprache proklamiert. Tschechisch mit zehn Millionen Sprechern war allerdings bereits im 14. Jahrhundert durch die von Karl IV. veranlasste Bibelübersetzung im Emmaus-Kloster in Prag verschriftet worden. Der Abstand zwischen diesen beiden westslawischen Sprachen ist kleiner als z. B. jener zwischen den drei deutschen Dialekten Bayerisch mit 12 Millionen Spre-

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chern, Pfälzisch mit vier Millionen Sprechern oder Schwyzerdütsch mit vier Millionen Sprechern, 34 wie die Textproben in Tabelle 3 deutlich zeigen. Tabelle 3 Textproben im Vergleich I. Tschechisch, Slowakisch und ausgewählte slawische Sprachen 35 Každý má všechna práva a všechny svobody, stanovené touto Prag/CZ deklarací ... Každý má všetky práva a všetky svobody, vyhlášené v tejto Bratislava/SK deklarácii ... KaĪdy czáowiek posiada wszystkie prawa i wolnoĞci zawarte Warszava/PL w niniejsszej Deklaracji ... Vsakdo je upraviþen do uživanja vseh pravic in svobošþin, ki Ljubljana/SLO so razglašene s to Declaracijo ... Svakome su dostupna sva prava i slobode navedene u ovoj Zagreb/HR Deklaraciji ... Svakom pripadaju sva prava i slobode proglašene u ovoj De36 Beograd/SR klaraciji … Svakome su dostupna sva prava i slobode navedene u ovoj 37 Sarajewo/BiH Deklaraciji ... Allg. Erklär. der Jeder Mensch hat Anspruch auf die in dieser Erklärung nieMenschenrechte 38 dergelegten Rechte und Freiheiten ... II. Ausgewählte deutsche Mundarten und Standardsprache 39 Insa vådar im himö, ghàiligt soi werdn dài nåm. Dài ràich soi München kema ... Unser Vadder im Himmel Doin Name soll heilisch soi, Doi Mainz Känischsherrschaft soll kumme ... Üse Vatter im Himel. Mach, dass dy Name heilig ghalte wird, Zürich mach, dass dys Rych zuen is chunt ... Vater unser, der Du bist im Himmel, geheiligt werde Dein Standard Name, Dein Reich komme …

___________ 34 Befragt, ob die zwischen Sprache und Dialekt verlaufenden Grenzen immer wissenschaftlich feststellbar seien, meinte die Sprachforscherin Els Oksaar im Gespräch mit dem Verfasser, dass die Grenzen gelegentlich fließend seien und die Entscheidungen oft nicht auf wissenschaftlicher, sondern auf politischer Ebene getroffen würden, weshalb sie eine solche politisch entstandene Sprache als „Dialekt mit Armee“ definiere, weil man sich so etwas nur leisten könne, wenn man über die notwendigen Ressourcen verfüge (eigene Grammatik, Schulen, Lehrer, Lehrmaterial etc.). Grundlegendes hierzu bei Oksaar, E., Zweitspracherwerb. Wege zur Mehrsprachigkeit und zur interkulturellen Verständigung, 2003. 35 Language Museum. 36 In lateinischer Schrift. 37 In lateinischer Schrift. 38 Art. 2 Abs. 1 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Resolution 217 (III) der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 10.12.1948. 39 Language Museum.

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Als besonders krasses Beispiel einer rezenten Sprachzersplitterung mag das Zerfallen der südslawischen Standardsprache Serbokroatisch dienen, die vor 150 Jahren aus dem štokavischen Idiom gebildet worden war, nun aber aus politischen Gründen künstlich in vier Standardsprachen zersplittert ist, nämlich in Serbisch (8 Mio. Sprecher), Kroatisch (5 Mio.), Bosnisch (1,5 Mio.) und Montenegrinisch (0,5 Mio.). 40

2. Sprachpflege zur Förderung von Sprachentwicklung und Sprachleistung Mit zunehmender Arbeitsteilung steigt bekanntlich der Grad der gesellschaftlichen Differenzierung und damit auch der Anspruch an die Sprachentwicklung. Archaische Gesellschaften kennen die Schriftsprache ebenso wenig wie den Unterschied zwischen Haussprache und Verkehrssprache, weil ihre Sprache noch allen privaten und gemeinschaftlichen Ansprüchen genügt und somit eine Sprachform allein als Haussprache und als gemeinsame Verkehrssprache fungiert. Dies ändert sich aber mit dem Grad der Arbeitsteilung und dem dadurch bedingten Bedarf an gesellschaftlicher Organisation. So entsteht eine für alle europäischen Hochsprachen recht ähnliche Situation: Mit einem sprachlichen Grundkapital von etwa 2.000 Stämmen und Suffixen ist der gesamte Wortschatz zu bilden, der, die Fachsprachen mit eingerechnet, auf mehrere Millionen Einheiten geschätzt werden kann. Die einzelnen Sprachen bewältigen dieses Entwicklungserfordernis in unterschiedlicher Weise. Vom „Wie“ hängt die Leistungsfähigkeit einer Sprache ab. Sie kann gemessen und in Leistungsklassen ausgedrückt werden. Die Leistungskapazität einiger Sprachen in der Europäischen Union (EU) ist ablesbar aus den bei Eurodicautom, der mehrsprachigen terminologischen Datenbank der Europäischen Kommission in Luxemburg, erfassten Beständen. Diese wurde 1973 aus mehreren lexikographischen Teilen gebildet, erfasste ein breites Spektrum menschlichen Wissens und war fachlich besonders auf die Bereiche Landwirtschaft, Telekommunikation, Transport, Recht und Finanzwesen ausgerichtet, sofern sie für die EU politisch relevant waren. Sie umfasste schließlich die elf Amtssprachen der EU-15, wurde jedoch seit 2003 nicht mehr am Laufenden gehalten und durch die neue interinstitutionelle Datenbank IATE ersetzt. ___________ 40

Der Gipfel der politisch begründeten Absurdität ist am bosnischen Verfassungsgerichtshof in Sarajewo zu finden, wo Übersetzungsdienste für die drei Sprachen Serbisch, Kroatisch und Bosnisch unterhalten werden, die bis vor kurzem noch eine einzige Standardsprache, nämlich Serbokroatisch bildeten.

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Tabelle 4 Amtssprachen der EU-15: Sprecherzahl, Thesaurus und Sprachleistung Einträge 42

Sprecherzahl 41 in Mio. 53,8

Anzahl

%

Kapazität

1.209.999

17,0

100 %

2. Englisch

58,0

1.190.211

16,7

98 %

3. Deutsch

88,3

969.867

13,6

80 %

4. Niederländisch

20,7

643.554

9,1

53 %

5. Italienisch

53,0

629.040

8,8

52 %

6. Dänisch

5,1

552.467

7,8

46 %

7. Spanisch

31,1

520.017

7,3

43 %

8. Griechisch

11,3

490.703

6,9

40 %

9. Portugiesisch

11,6

437.393

6,2

36 %

10. Finnisch

5,3

252.383

3,6

21 %

11. Schwedisch

8,0

213.490

3,0

18 %

7.109.124

100

EU-15 Amtssprachen 1. Französisch

Gesamt

Leistungsfähigkeit Klassen I (75-100) II (50-75)

III (25-50)

IV (- 25)

Bis 2002 waren bei Eurodicautom über sieben Millionen Begriffe registriert, wobei Französisch mit über 1,2 Millionen Einträgen an der Spitze lag, dicht gefolgt von Englisch und Deutsch 43 Zusammen bestreiten diese drei Sprachen allein knapp die Hälfte (47 %) des terminologischen Datenbestandes der EU. Nicht umsonst fungieren sie als die drei Arbeitssprachen der EU. Die andere Hälfte teilen sich acht EU-Sprachen, wobei mit Recht die Frage zu stellen ist, ob denn z. B. Schwedisch mit nur knapp einem Fünftel der begrifflichen Kapazität von Französisch noch dieselben Leistungen erbringen kann wie Französisch oder Englisch? Die Antwort lautet nein. Heute schon können höher spezialisierte Fachdiskussionen nicht mehr in Schwedisch geführt werden, das notgedrungen durch Englisch ersetzt wird. Damit ist die Funktionstüchtigkeit des Schwedischen bereits eindeutig reduziert, und so gesehen ist Schwedisch ja nicht einmal mehr ___________ 41 Innerhalb der EU-25. (Zu den Daten vgl. Pan, Ch. / Pfeil, B. S., National Minorities in Europe. Handbook. Ethnos 63, 2003, S. 11 f.). 42 Zu den Beständen von Eurodicautom, der mehrsprachigen Terminologiedatenbank der EU in Luxemburg, Stand 28.06.2002, vgl. Europäische Kommission und Eidgenössische Bundeskanzlei. 43 Der Grad der terminologischen Erfassung der einzelnen Sprachen ist hier nicht berücksichtigt.

Bedroht das weltweite Sprachensterben auch Europa?

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eine vollwertige Nationalsprache, weil sie des Englischen als Krücke bedarf. Wenn Englisch nicht als Ergänzung, sondern auf Kosten einer Muttersprache gelernt und gebraucht wird, entwickelt es sich zur „Killersprache“. 44 Dies gilt für alle Sprachen, nicht nur für Schwedisch. Sprachpflege wird daher zu einem Muss. 45 Über eine Leistungsfähigkeit erster Klasse (75–100 %) verfügen innerhalb der EU nur Französisch, Englisch und Deutsch, über eine solche zweiter Klasse (50–75 %) Niederländisch und Italienisch, während die Leistungsfähigkeit von Dänisch, Spanisch, Griechisch und Portugiesisch in die dritte Klasse (25–50 %) einzustufen ist und Finnisch und Schwedisch gar die 25-%-Schwelle nicht überschreiten und daher in die vierte Klasse (weniger als 25 %) fallen (Tab. 4).

3. Immunisierung gegen das Killervirus Englisch Im Zeitalter der Globalisierung genügt heute nicht mehr der gute Wille allein, um eine Sprache gegen die schleichende Infiltration von Anglizismen zu schützen, es bedarf schließlich legistischer Maßnahmen. Beispielgebend dafür ist Frankreich, das seine Sprachpflege schon früh auf rechtliche Grundlagen gestellt hat. Schließlich erfolgte in Frankreich 1994 mit der „Loi Toubon“ eine Neuregelung bezüglich des Gebrauchs der französischen Sprache, wobei der Anwendungsbereich erweitert und die Bestimmungen verdichtet wurden. Demnach ist Französisch nicht nur Amtssprache in der öffentlichen Verwaltung und alleinige Verkehrssprache in Körperschaften und Einrichtungen des öffentlichen Rechts, sondern auch bei Privaten mit öffentlichen Dienstleistungen (Art. 4 Abs. 1) und darüber hinaus im Wirtschaftsbereich sogar zwingend als Geschäftssprache bei der Bezeichnung, beim Angebot, bei der Vorstellung, bei der Gebrauchsanweisung eines Gutes, Produktes oder einer Dienstleistung, aber auch bei Rechnungen und Belegen vorgeschrieben (Art. 2 Abs. 1 und 2). Ebenso verbindlich ist Französisch bei jeglicher Werbetätigkeit, in schriftlicher oder audiovisueller Form vorgeschrieben (Art. 2 Abs. 2). Fremdausdrücke sind

___________ 44 Dies lässt sich bereits in vielen Ländern Asiens und Afrikas beobachten. Auch in Europa ist mit Schwedisch und Finnisch bereits der Anfang gemacht, beide sind im Begriff, von Englisch verdrängt zu werden. 45 Als weiterführende Literatur zur Sprachpflege vgl. Hensel, H., Sprachverfall und kulturelle Selbstaufgabe – eine Streitschrift, 1999; Krämer, W., Sich einmischen oder wegschauen – Problemfall deutsche Sprache. www.schul-in-frankfurt.de/42/42-06.htm. 1999; Schmitz, H.-G., Die Amerikanisierung der deutschen Sprache nach dem Zweiten Weltkrieg. Unser-Land-Studie Nr. 1/2006, Starnberg; Sick, B., Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod. Folge 2., 2005.

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nicht zugelassen, wenn es dafür passende Ausdrücke in französischer Sprache gibt (Art. 5 Abs. 1). 46 Die französische Sprachpolitik ist natürlich nicht ausschließlich positiv zu beurteilen. Vor allem wird die Überreglementierung des privaten Bereichs und die gegenüber Minderheitensprachen in Frankreich behauptete absolute Exklusivität des Französischen zu Recht kritisiert. Denn das vor allem gegen das Killervirus Englisch gerichtete legistische Antivirenprogramm Frankreichs müsste nicht ausschließen, dass neben der nationalen Amtssprache Französisch auch regionale oder lokale Amtsprachen bestehen können, d. h. die Immunisierung gegen Anglizismen muss nicht zwangsläufig zu Lasten der Minderheitensprachen gehen.

4. Die funktionale Aufwertung von Minderheitensprachen Sprachgemeinschaften mit kleineren Sprecherzahlen, zu welchen sehr viele Volksgruppen in Europa zählen, sind dem Erfordernis der Sprachdifferenzierung, das an die gesellschaftliche Entwicklung gekoppelt ist, oft nicht gewachsen, insbesondere dann nicht, wenn ihre Sprache weder verschriftet ist wie z. B. „Tunumiit oraatsivut“ („unsere Sprache“) der Ivi-Volksgruppe in Ostgrönland, 47 noch als Verwaltungssprache gebraucht wird wie z. B. Aromunisch, Bretonisch, Sorbisch und viele andere mehr, die zwar über standardisierte Schriftformen verfügen, nicht aber über den Status einer Verwaltungssprache. So haben sehr viele kleine Sprachgemeinschaften erst gar nicht die Möglichkeit, in ihrer Sprachentwicklung mit größeren Sprachgemeinschaften mitzuhalten, vor allem dann nicht, wenn es ihnen nicht gelingt, ihre Sprache zur Verwaltungssprache zu befördern. Fehlt der durch die Verwaltungsfunktion ausgehende Druck zur Weiterentwicklung und Differenzierung, dann verkümmert eine Sprache allmählich zur Haussprache und ist auf Dauer kaum mehr ___________ 46 Leclerc, J., „France : Loi du 4 aonjt 1994 relative à l’emploi de la langue française (Loi Toubon)“ dans L’aménagement linguistique dans le monde, Québec, TLFQ, Université Laval 2005. www.tlfq.ulaval.ca/axl/europe/franceloi-1994.htm, S. 1 f. 47 Die Inuit im Westen und die Ivi im Osten Grönlands (beides bedeutet „Menschen“) sind über 1000 km unwegsames Gelände voneinander getrennt und haben keine direkte Berührung. Sie sprechen zwei verschiedene, wenn auch nahe verwandte Sprachen, von denen Westgrönländisch – zusammen mit Dänisch – als Hauptsprache fungiert, während daneben Ostgrönländisch, das noch nicht einmal verschriftet ist, ein Schattendasein führt. Daher stellen die Ostgrönländer Ivi in Grönland selbst eine Minderheit dar, deren Sprache und Kultur im höchsten Maß bedroht und schützenswert ist, auch wenn sie staatsrechtlich zur staatstragenden Gemeinschaft der autochthonen Grönländer gehören (Pan, Ch., Die Minderheitenrechte in Dänemark, in: Pan, Ch. / Pfeil, B. S., Minderheitenrechte in Europa. Handbuch der europäischen Volksgruppen Band 2, zweite überarbeitete und aktualisierte Auflage, 2006).

Bedroht das weltweite Sprachensterben auch Europa?

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überlebensfähig. Dies gilt für größere Sprachen genauso wie für Minderheitensprachen. Wenn letztere auch nicht auf nationaler Ebene zu Verwaltungssprachen erhoben werden können, so ist dies in vielen Fällen doch auf regionaler oder zumindest auf lokaler Ebene möglich. 48 Hier liegt ihre Chance, sie heißt Minderheitenschutz. Tabelle 5 Minderheitensprachen und Minderheiten in der EU-25 Minderheitensprachen 1. Albanisch 2. Armenisch 3. Aragonesisch 4. Aromunisch 5. Asturisch 6. Baskisch 7. Bretonisch 8. Bulgarisch 9. Dänisch 10. Deutsch 11. Estnisch 12. Finnisch 13. Französisch 14. Friaulisch 15. Friesisch 16. Galizisch 17. Griechisch 18. Irisch 19. Italienisch 20. Jiddisch 21. Karaimisch 22. Kaschubisch 23. Katalanisch 24. Kornisch 25. Kroatisch 26. Ladinisch 27. Lettisch

Minderheiten 2 2 1 1 1 2 1 3 1 12 1 2 2 1 2 1 4 2 2 11 2 1 3 1 4 1 2

Minderheitensprachen 28. Limburgisch 29. Litauisch 30. Liwisch 31. Luxemburgisch 32. Mazedonisch 33. Niederländisch 34. Okzitanisch 35. Polnisch 36. Provenzalisch 37. Romanes 38. Rumänisch 39. Russisch 40. Sami 41. Sardisch 42. Schottisch-Gälisch 43. Schwedisch 44. Serbisch 45. Slowakisch 46. Slowenisch 47. Sorbisch 48. Tatarisch 49. Tschechisch 50. Türkisch 51. Ukrainisch 52. Ungarisch 53. Walisisch 54. Weißrussisch Minderheiten Minderheitensprachen

Minderheiten 1 3 1 1 1 2 2 6 2 19 1 6 2 1 1 2 1 4 3 1 5 3 2 9 4 1 4 156 54

___________ 48 Diese Möglichkeit wird beispielsweise in Südtirol genutzt, wo drei Amtssprachen nebeneinander bestehen, nämlich Italienisch als nationale Amtssprache, Deutsch als regionale Amtssprache nur auf Südtirol begrenzt und Ladinisch als lokale Amtsprache auf nur jene acht Gemeinden Südtirols begrenzt, in welchen die Ladiner die Mehrheit der Bevölkerung bilden. Auf diese Weise konnte eine Kleinstsprache durch Verleihung des Amtssprachen-Status aufgewertet und vor dem Untergang bewahrt werden, ohne dass dies in unangemessener Weise zu Lasten der beiden anderen Amtssprachen (Italienisch und Deutsch) ginge.

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Tatsächlich postuliert das 1998 in Kraft getretene Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten, dessen Geltungsbereich sich derzeit 49 auf 35 europäische und drei kaukasische Staaten erstreckt, dass die Vertragsstaaten „in Gebieten, die traditionell von einer beträchtlichen Zahl von Angehörigen einer nationalen Minderheit bewohnt werden“, sich bemühen, „sofern die Angehörigen dieser Minderheiten dies verlangen und dieses Anliegen einem tatsächlichen Bedarf entspricht, so weit wie möglich die Voraussetzungen dafür sicherzustellen, dass im Verkehr zwischen den Angehörigen dieser Minderheiten und den Verwaltungsbehörden die Minderheitensprache gebraucht werden kann“. 50 Mehrere Staaten sind bereits dazu übergegangen, Minderheitensprachen in begrenztem Umfang im Verkehr mit den Behörden zuzulassen.

IV. Kosten und Finanzierbarkeit der sprachlich-kulturellen Vielfalt Europas In der Vielfalt der Kulturen liegt der Reichtum Europas. 51 Die größte Staatenorganisation Europas ist bekanntlich die EU, denn sie umfasst gegenwärtig zwei Drittel der Staaten und Einwohner Europas. Mit der Erweiterung um zehn neue Mitgliedstaaten am 1. Mai 2004 hat die EU einen Quantensprung vollzogen, denn – die Anzahl der Volksgruppen ist von 73 um mehr als die Hälfte auf 156 geklettert (Tab. 5), 52 – die Zahl der Minderheitensprachen ist von 42 auf 54 angewachsen (Tab. 5) – und die Anzahl der Amtssprachen ist von elf um neun weitere auf insgesamt 20 gestiegen (Tab. 6).

___________ 49

Stand vom 26.07.2006. Art.10 Abs. 2 Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten. 51 „In Vielfalt geeint“ lautet der Leitspruch der Europäischen Union (Art. I-8 Abs. 3 des Entwurfs zum EU-Verfassungsvertrag). 52 Volksgruppen bereichern Europa, denn Angehörige von Volksgruppen sind in der Regel zwei- oder mehrsprachig, wobei gilt, dass jede Sprache ein neues Fenster zu einer anderen Kultur öffnet; außerdem zeichnen sich Angehörige von Volksgruppen durch Flexibilität aus, die sie benötigen, um in der Dauerpräsenz von mindestens zwei verschiedenen Kulturen bestehen und sogar davon profitieren zu können. „Mehrsprachigkeit ist aber nie Gleichsprachigkeit. Kein Mensch beherrscht zwei, drei, vier, fünf usw. Sprachen kognitiv und emotionell gleich gut“, sagt Els Oksaar (mehr hierzu bei Oksaar, E., Mehrsprachigkeit bei Kindern – Eine Chance, kein Hindernis: snackt mehr platt mit jun Kinner; Vortrag [Hrsg.: Arbeidsgrupp Nedderdüütsch för Sleswig-Holsteen], 1998). 50

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Tabelle 6 Amtssprachen in der EU-25 EU-Amtssprachen 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20.

Deutsch Englisch Französisch Italienisch Polnisch Spanisch Niederländisch Portugiesisch Ungarisch Griechisch Tschechisch Schwedisch Finnisch Dänisch Slowakisch Litauisch Slowenisch Lettisch Estnisch Maltesisch 20 Amtssprachen

Sprecher innerhalb der EU in Mio. % 88,3 21,1 58,0 13,9 53,8 12,9 53,0 12,7 37,7 9,0 31,1 7,4 20,7 5,0 11,6 2,8 11,6 2,8 11,3 2,7 9,8 2,3 8,0 1,9 5,4 1,3 5,1 1,2 4,6 1,1 3,1 0,7 1,8 0,4 1,4 0,3 1,0 0,2 0,4 0,1 417,7 99,8

Größenklassen (Mio. Sprecher) 20 Mio.+

10-20 Mio.

1-10 Mio.

bis zu 1 Mio.

Nun ist zwar die Erhebung einer Sprache zur Verwaltungs- bzw. Amtssprache auch eine sprachpolitische Notwendigkeit, um durch den von der Verwaltung ausgehenden Innovationsdruck das Fortbestehen einer Sprache zu sichern, doch stellt sich dabei zwangsläufig auch die Frage nach den Kosten und der Finanzierbarkeit. Kann sich Europa diesen kulturellen Reichtum überhaupt noch leisten? Diese Frage soll hier am Beispiel der EU stellvertretend für Europa beantwortet werden. Die bisher elf Amtssprachen der EU-15 hatten (11x10 =) 110 Übersetzungskombinationen zur Folge, die 20 Amtssprachen der EU-25 bedeuten (20x19 =) 380 Übersetzungskombinationen. Der Aufwand dafür beläuft sich auf knapp 1 Milliarde Euro, das sind 1 % des EU-Haushalts, der 2004 etwa 100 Milliarden Euro betrug, oder anders ausgedrückt bedeutet der Übersetzungsaufwand von 1 Milliarde Euro etwa 15 % des Verwaltungsaufwandes der EU, der sich mit 6,11 Milliarden Euro oder 6 % des EU-Haushalts in durchaus vertretbarem Rahmen hält. 53 ___________ 53 Zum Vergleich: Griechenland hat für die Olympischen Spiele in Athen 2004 sechs Milliarden Euro (= 4 % des BIP) aufgewendet; Südtirols Landeshaushalt 2004 betrug rund fünf Milliarden Euro.

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Tabelle 7 Sprachen in der EU-25 und Fördermittel im EU-Haushalt Sprecher Sprachen in der EU-25 20 Amtssprachen 54 Minderheitensprachen Summe

Aufwand 2004

Mio.

%

Mio. €

%

412

91,5 %

935

99,9 %

38

8,5 %

1

0,1 %

450

100,0 %

936

100,0 %

Die Notwendigkeit dieses Aufwandes ist hinreichend gegeben, denn da die EU-Normen den Bürger direkt treffen, sind sie auch in Sprachen abzufassen, die den EU-Bürgern direkt zugänglich sind. Die gegenwärtige Anzahl der Amtssprachen ist daher aus demokratiepolitischen Gründen ebenso angezeigt wie sie aus Kostengründen vertretbar und finanzierbar ist. 54 Für die Förderung der rund 54 Minderheitensprachen steht im EU-Haushalt allerdings mit 1 Million Euro 55 nur ein Bruchteil (1 %) jener Mittel zur Verfügung, die für die 20 Amtssprachen aufgewendet werden. Hier besteht akuter Handlungsbedarf.

V. Schlussbemerkung Auf die Frage, ob das Sprachensterben auch Europa bedroht, ist wie folgt zu antworten: – Unmittelbar und akut gefährdet sind gegenwärtig einige Kleinstsprachen (z. B. Liwisch, Nordfriesisch. Zimbrisch, Wepsisch u. a. m.), – einem größeren Risiko ausgesetzt sind mehr als die Hälfte der rund 90 Sprachen Europas, und – ein schleichendes Risiko durch die zunehmende Dominanz des Englischen tragen mit Ausnahme von Französisch und vorläufig auch Russisch fast alle Sprachen Europas. ___________ 54 Für eine Reduzierung der Zahl offizieller Sprachen sprechen nicht Kosten-, sondern allein Effizienzgründe, doch hat die Praxis die Problemlösung bereits vorweggenommen durch die Beschränkung auf nur drei Arbeitssprachen, nämlich Englisch, Französisch und Deutsch, in welchen die Aktivitäten der Kommission dokumentiert sind. 55 Mit diesem Betrag wurde das Europäische Büro für Minderheitensprachen (EBLUL) gefördert.

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Eine Risikobegrenzung durch sprachpolitische Maßnahmen zur Verhinderung von Sprachzersplitterung, von Leistungsminderung und zur Immunisierung gegen das „Killervirus“ Englisch ist möglich. Dazu kommt aber auch die funktionelle Aufwertung von Minderheitensprachen zu regionalen oder lokalen Amtssprachen. Mehrere Fälle in Europa zeigen dies wie etwa – die Revitalisierung der bereits totgesagten Kleinstsprache Manx auf der Kanalinsel Man, – oder die im Gange befindliche Wiederbelebung von Irisch-Gälisch, das innerhalb einer Generation von 2 % auf 30 % (passiven) Sprecheranteil in Irland angehoben werden konnte, – oder auch, am ganz anderen Ende der Skala, die erfolgreiche Immunisierung des Französischen gegen das Killervirus Englisch. Frankreich hat mit seinem legistischen Antivirusprogramm die in Europa wohl am weitesten gehende Sprachpolitik entwickelt. – Schließlich zeigen jene Fälle, in welchen eine Minderheitensprache den Status einer Amtssprache erlangen konnte, auch wenn dieser regional oder lokal begrenzt ist, dass der durch Funktionsverlust drohenden Atrophie Einhalt geboten werden kann. Die hier in gebotener Kürze dargelegten Ansätze zeigen, dass abgesehen vom politischen Willen vor allem die Kenntnis der Gefahr und der Wege, ihr zu begegnen, die erste Voraussetzung dafür ist, ob die in Sprachen ausgedrückte kulturelle Vielfalt Europas erhalten bleiben kann oder nicht. Sie zeigen aber auch, dass mit dieser Fragestellung ein weites, interdisziplinäres Forschungsfeld angesprochen ist.

Die Wahl der Abgeordneten in den Selbstverwaltungen der nationalen und ethnischen Minderheiten in Ungarn József Petrétei

I. Einleitung Das Parlament verabschiedete 1993 – zur Gewährleistung der Durchsetzung der in Art. 68 der Verfassung festgelegten Grundrechte der Minderheiten – das Gesetz Nr. LXXVII von 1993 über die Rechte der nationalen und ethnischen Minderheiten (das Minderheitengesetz). 1 Die Begründung für den Entwurf des Minderheitengesetzes hob hervor, dass trotz der beträchtlichen Unterschiede zwischen den nationalen und ethnischen Minderheiten in Ungarn eine einheitliche Regelung getroffen wird. Die Begründung betonte: „Das Gesetz sichert den Minderheiten als hervorgehobenes Gemeinschaftsrecht die Möglichkeit zur Bildung eigener Selbstverwaltungen zu. Damit gewährleistet es den Minderheiten sowohl auf kommunaler als auch auf Landesebene die effiziente und legitime Geltendmachung ihrer politischen Interessen.“ Seit der Verabschiedung des Minderheitengesetzes ist über ein Jahrzehnt vergangen. Zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Gesetzes wurde – unter anderem – dem rechtspolitischen Ziel Geltung verschafft, es zu ermöglichen, dass das sich nach der Wende ausformende demokratische Institutionssystem um die Minderheitenselbstverwaltungen ergänzt wird und infolgedessen die auf kommunaler, wie auf Landesebene gewählten Minderheitenselbstverwaltungen ihre Tätigkeit aufnehmen können. Die damalige Vorstellung des Gesetzgebers legte die Betonung auf die Schaffung des erwähnten Institutionssystems, wobei die detaillierte Ausarbeitung der Funktionsbedingungen – nicht zuletzt auch wegen mangelnder Erfahrungen aus der Praxis – zu einem gewissen Grad in den Hintergrund gedrängt wurde. Heute ist die ungarische Demokratie – auch ___________ 1 Für eine detailliertere Darstellung des Gesetzes siehe Petrétei, J., Die verfassungsrechtliche und einfachgesetzliche Ausgestaltung des Minderheitenschutzes in Ungarn, in: Manssen, G. / Banaszak, B. (Hrsg.), Minderheitenschutz in Mittel- und Osteuropa, 2001, S. 167 ff., sowie Petrétei, J., Stand und Weiterentwicklung des Minderheiten- und Volksgruppenschutzes in der parlamentarischen Diskussion in Ungarn, in: Blumenwitz, D. / Gornig, G. H. / Murswiek, D. (Hrsg.), Rechtsanspruch und Rechtswirklichkeit des europäischen Minderheitenschutzes, 1998, S. 65 ff.

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József Petrétei

in öffentlich-rechtlichem und gesellschaftssoziologischem Sinne – reif dafür, dass der Gesetzgeber den öffentlich-rechtlichen Status der nationalen und ethnischen Minderheiten – als staatsbildende Faktoren 2 – im Einklang mit den Herausforderungen des neuen Jahrtausends und des sich vereinheitlichenden Europas durch eine umfassende Änderung der für den Themenbereich maßgebenden Regelung modernisiert. In Bezug auf die herausgebildete Lagebeurteilung kam zwischen den Parlamentsparteien auf breiter Ebene ein Einvernehmen zustande: 3 Das Parlament brachte sein Verantwortungsbewusstsein und Engagement zum Ausdruck und forderte die Regierung auf, aufgrund der inzwischen gesammelten Erfahrungen das Minderheitengesetz sowie die materiellrechtlichen Regelungen für die Wahl der Minderheitenselbstverwaltungen und das Gesetz Nr. C von 1991 über das Wahlverfahren zu novellieren. Auf der Basis der Regierungsvorlage verabschiedete das ungarische Parlament im Jahr 2005 das Gesetz Nr. CXIV von 2005 über die Wahl der Abgeordneten in den Selbstverwaltungen sowie über die Änderung einzelner Gesetze zu den nationalen und ethnischen Minderheiten. Damit erfolgte eine umfassende Modernisierung des auf die Minderheiten bezogenen Rechtsmaterials. In diesem Rahmen wurden auch die Bestimmungen für die Wahl der Abgeordneten in den Minderheitenselbstverwaltungen vom Parlament neu geregelt. Im Folgenden werden – aufgrund des Umfangs – nur die auf die Wahl der Minderheitenselbstverwaltungen bezogenen Regeln der Gesetzesänderung, insbesondere im Hinblick auf das Problem des Minderheitenwählerverzeichnisses, dargelegt.

II. Gründe für die Gesetzesänderung 1. Die ungarische Verfassung erklärt in Art. 68 Abs. 2 – unter anderem –, dass die Republik Ungarn die kollektive Teilnahme der nationalen und ethnischen Minderheiten am öffentlichen Leben garantiert. Nach Art. 68 Abs. 3 gewährleisten Gesetze die Vertretung der auf dem Landesterritorium lebenden nationalen und ethnischen Minderheiten. Aufgrund von Art. 68 Abs. 4 können die nationalen und ethnischen Minderheiten kommunale und auf Landesebene tätige Selbstverwaltungen gründen. Die Verfassung regelt die Rechte der nationalen und ethnischen Minderheiten unter den Grundrechten. Das Recht auf Teilnahme am öffentlichen Leben ist unter den Grundrechten aufgeführt, doch handelt es sich laut Verfassung um eine kollektive Teilnahme. Der Bestimmung über das Recht zur Vertretung der ___________ 2

Die geltende ungarische Verfassung erklärt in Art. 68 Abs. 1: „Die in der Republik Ungarn lebenden nationalen und ethnischen Minderheiten sind Bestandteile der Macht des Volkes, sie sind staatsbildende Faktoren.“ 3 Dies wurde auch durch die Fassung des Parlamentsbeschlusses Nr. 30/2003 (III. 27.) OGY bewiesen.

Wahl der Abgeordneten in den Selbstverwaltungen

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Minderheiten folgend, erklärt die Verfassung das Recht der Minderheiten auf die Errichtung einer Selbstverwaltung. Die Verfassungsregel beschränkt sich in diesen Fällen auf die Erklärung der Grundsatzregel, während die Festlegung aller weiteren Bestimmungen – aufgrund von Art. 68 Abs. 5 – in einem mit Zweidrittelmehrheit der anwesenden Parlamentsabgeordneten angenommenen Gesetz erfolgt. Die Verfassung legt also nicht fest, wie die Selbstverwaltungen der Minderheiten zustande kommen, was für einen Platz sie in der Staatsorganisation einnehmen und in welcher Verbindung sie zu den staatlichen Organen stehen. 4 In Bezug auf die Regelung der Vertretung der Minderheiten sowie der kommunalen und auf Landesebene tätigen Minderheitenselbstverwaltungen ist auch für die dem Gesetzgeber erteilte Ermächtigung sinngemäß die Feststellung maßgebend, die das Verfassungsgericht über die kommunale Selbstverwaltung im Allgemeinen getätigt hat: der Gesetzgeber verfügt bei der Regelung – im Rahmen der Verfassung – über eine weitreichende Entscheidungsfreiheit. 5 2. Bei der Untersuchung auf der Basis der Verfassungsregel über die Rechte der Minderheiten musste auch berücksichtigt werden, was für internationale Verpflichtungen die Republik Ungarn im Hinblick auf diese Frage hat. Es war auch abzuwägen, was für internationale Erwartungen ohne ausdrückliche Verpflichtungen zur Geltung kommen. 6 In Bezug auf die internationalen Verpflichtungen konnte festgestellt werden, dass – auf der Basis von internationalen Übereinkommen die Staaten auf irgendeine Weise die Teilnahme der Minderheiten an den öffentlichen Angelegenheiten, insbesondere die Mitwirkung bei den sie betreffenden Entscheidungen, gewährleisten müssen; – die Sicherstellung der Teilnahme der Minderheiten an öffentlichen Angelegenheiten in einer engen Beziehung zu den Grundfragen des demokratischen Systems, der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit steht; – bei der Gestaltung der Vorschriften, die die Teilnahme der Minderheiten an öffentlichen Angelegenheiten sichern, mehrere Faktoren zu berücksichtigen sind; zu diesen gehören ein den Eigenheiten des betreffenden Staates entsprechendes Verwaltungssystem und das zur Anwendung gelangende Wahlsystem sowie auch die Präsenz der Minderheiten im betreffenden Staat (geo___________ 4

Vgl. mit der Entscheidung des Verfassungsgerichts Nr. 435/B/1997 AB, ABH 1998. 711 (714). 5 Entscheidung des Verfassungsgerichts Nr. 56/1996 (XII. 12.) AB, ABH 1996. 204 (206). 6 Dies nahm das Verfassungsgericht in seiner Entscheidung Nr. 34/2005 (IX. 29.) AB vor.

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(geografisch konzentrierte oder verstreute Ansiedlung, relativ große oder kleine Personenanzahl usw.); – die internationalen Verpflichtungen eine Beschränkung des Wahlrechts nicht ausschließen und die Beschränkung, sofern sie nicht willkürlich erfolgt, die Ausübung des Wahlrechts nicht ausschließt und nicht mit der Diskriminierung von Minderheiten einhergeht. 7 3. Die Unumgänglichkeit der Änderung der gesetzlichen Regelung wurde leider auch durch die aufgrund der früheren Praxis gemachten negativen Erfahrungen bestätigt, die in der unerwünschten Erscheinung des so genannten „Ethnobusiness“ zutage traten. Das Wesentliche dieser Erscheinung kann dahingehend zusammengefasst werden, dass an den Minderheitenwahlen auch Personen teilnahmen bzw. in Selbstverwaltungspositionen gelangten, die mit der betreffenden Minderheit überhaupt nichts zu tun hatten. Die frühere Regelung ermöglichte es nämlich, dass eine Person, die als Kandidat einer nationalen oder ethnischen Minderheit vorgeschlagen worden war, ihre diesbezügliche Eigenschaft bei der Eröffnung der Kandidatur – mit einer einseitigen Rechtserklärung – anmelden konnte. Das Gesetz forderte vom Kandidaten nicht, seine Zugehörigkeit zu der Minderheit auf irgendeine Weise nachzuweisen, sondern überließ diese Entscheidung dem Kandidaten. Minderheitenkandidaten durften daher nicht nur Personen sein, die zu einer Minderheit gehören: sofern sich jemand in seiner Rechtserklärung verpflichtete, im Falle seiner Wahl die Vertretung einer bestimmten Minderheit wahrzunehmen, standen dieser Person die auf Minderheitenkandidaten bezogenen gesetzlichen Vergünstigungen zu. Die als Kandidat aufgestellte Person musste also keine Erklärung darüber abgeben, zu welcher Minderheit sie sich zugehörig fühlte. Die Rechtserklärung musste sie dazu abgeben, dass sie die Vertretung der im Minderheitengesetz festgelegten Minderheit übernimmt. Das Gesetz stellte nämlich nicht die Zugehörigkeit zu einer Minderheit, sondern den Status der Vertretung der Minderheit unter besonderen Schutz. 8 Diese Lösung hatte in der Praxis allerdings zur Folge, dass die institutionalisierte Ordnung der Minderheitenselbstverwaltungen umgangen werden konnte, an Gehalt verlor und illegitime Tendenzen zum Vorschein kamen, die auch mit den Mitteln des Rechts behandelt werden mussten. ___________ 7

Vgl. Entscheidung des Verfassungsgerichts Nr. 34/2005 (IX. 29.) AB. Der Grund für die seinerzeitige Regelung war, dass, wenn die Angehörigen einer Minderheit der Meinung sind, dass ihre Interessen am besten von einer im öffentlichen Leben stehenden, anerkannten Persönlichkeit der Kommune wahrgenommen werden können, sie diese als ihren Kandidaten vorschlagen können, insoweit die Person, die vorgeschlagen werden soll, sich dahingehend erklärt, dass sie diese Vertretung übernimmt. In der Praxis kam es jedoch in zahlreichen Fällen vor, dass Personen Minderheitenabgeordnete wurden, die sich nur formal zur Vertretung der betreffenden Minderheit verpflichteten: nach ihrer Wahl taten sie nichts im Interesse der Vertretung der Minderheit. 8

Wahl der Abgeordneten in den Selbstverwaltungen

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Deshalb führte die Gesetzesänderung die Institution des Minderheiten-Namensverzeichnisses ein. Demnach ist es eine Bedingung für die Teilnahme an der Selbstverwaltungswahl – dem Prinzip der freien Identitätsbestimmung folgend –, dass der Wahlbürger in dem Wählerverzeichnis der Minderheit eingetragen ist. 9

III. Hauptelemente der Gesetzesänderung bezüglich der Wahl, Richtungen der Änderung 1. Allgemeine Regeln für die Wahl der Abgeordneten in den Minderheitenselbstverwaltungen Im Vergleich zur früheren Lösung wurde der Kreis der Minderheitenselbstverwaltungen erweitert: nicht nur auf kommunaler und Landesebene, sondern auch auf der Ebene der regionalen Selbstverwaltungen wurde die Errichtung von Minderheitenselbstverwaltungen ermöglicht. Denn die Minderheiten hatten sich dadurch beeinträchtigt gefühlt, dass ihre Selbstverwaltungen früher auf Komitats- und hauptstädtischer Ebene nicht tätig sein konnten. Daher können nach der neuen Regelung in Ungarn prinzipiell in den Kommunen und in den Stadtbezirken der Hauptstadt kommunale bzw. in der Hauptstadt und in den Komitaten regionale Minderheitenselbstverwaltungen sowie auf Landesebene Landesselbstverwaltungen der Minderheiten errichtet werden, und in diese Organe können die Mitglieder der Minderheitenselbstverwaltung gewählt werden. Das Gesetz beinhaltet eine einheitliche Regelung in Bezug auf das aktive und das passive Wahlrecht, d. h. an der Wahl der Minderheitenselbstverwaltungen darf als Wähler und wählbare Person nur teilnehmen, wer die für die Ausübung des Wahlrechts erforderlichen vier gemeinsamen Bedingungen erfüllt. Einerseits ist erforderlich, dass der Wahlbürger zu einer nationalen und ethnischen Minderheit gehört 10 und sich dazu bekennt bzw. dies bekundet. Andererseits muss er ungarischer Staatsangehöriger sein, d. h. an der Wahl der Selbstverwaltungen der nationalen und ethnischen Minderheiten dürfen ausschließlich ungarische Staatsangehörige teilnehmen. Die dritte Bedingung ist, dass an der Wahl der Abgeordneten in den Minderheitenselbstverwaltungen die ___________ 9

Im Sinne des Gesetzes darf der Wahlbürger natürlich anlässlich einer Wahl nur im Namensverzeichnis einer Minderheit stehen. 10 Das Gesetz bestimmt in Ungarn zwölf nationale Minderheiten und eine ethnische Minderheit, ermöglicht es aber, dass – bei Erfüllung der gesetzlichen Bedingungen – weitere nationale oder ethnische Minderheiten entstehen können. Vgl. Petrétei, J., Die verfassungsrechtliche und einfachgesetzliche Ausgestaltung des Minderheitenschutzes in Ungarn, in: Manssen, G. / Banaszak, B. (Hrsg.), Minderheitenschutz in Mittel- und Osteuropa, 2001, S. 167 (169).

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Personen teilnehmen können, die bei der Wahl der Abgeordneten in den kommunalen Selbstverwaltungen und der Bürgermeister über ein Wahlrecht verfügen. Schließlich muss nach der vierten Bedingung der Wahlbürger im Wählerverzeichnis der Minderheit stehen. Dadurch wird ermöglicht, dass nur die Personen an der Wahl teilnehmen, die tatsächlich als Minderheit über ein Wahlrecht verfügen. Das Gesetz deklariert, dass sowohl die Ausübung des aktiven als auch des passiven Wahlrechts auf der freien Entscheidung des Minderheitenwählers basiert; so schafft es die Möglichkeit zur unbedingten Geltendmachung des Wahlrechts, was jedoch keine Pflicht zur Stimmabgabe bedeutet. Vom Gesichtspunkt der Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts stellt es einen wesentlichen Unterschied dar, dass, während das aktive Wahlrecht an den Wohnsitz gebunden ist, im Hinblick auf das passive Wahlrecht keine derartige Beschränkung besteht. Damit ermöglicht das Gesetz, dass die Minderheitenwähler Personen zu Abgeordneten in der Minderheitenselbstverwaltung wählen können, die – ihres Erachtens – über die Zugehörigkeit zur betreffenden Minderheit hinaus für die Wahrnehmung der Aufgabe am geeignetsten sind. Die Wahl der Abgeordneten in den Minderheitenselbstverwaltungen wird alle vier Jahre, am Tag der allgemeinen Wahl der Abgeordneten in den kommunalen Selbstverwaltungen und der Bürgermeister, abgehalten. Vorzeitige Neuwahlen sind nicht zulässig. Das Mandat der Vertretungskörperschaft der Minderheitenselbstverwaltung – bzw. in den Komitaten und in der Hauptstadt das Mandat der Vollversammlung – entsteht am Wahltag mit dem Wahlergebnis bzw. erlischt mit dem darauf folgenden Wahltag. Diese Regelung soll die Kontinuität der Tätigkeit der Selbstverwaltung gewährleisten. 2. Regeln für die Wahl der Minderheitenselbstverwaltungen auf kommunaler, regionaler und Landesebene a) Wahl der kommunalen Minderheitenselbstverwaltung Bei der Wahl der Abgeordneten in den kommunalen Minderheitenselbstverwaltungen bildet die Kommune in ihrer Gesamtheit – bzw. in der Hauptstadt der Stadtbezirk der Hauptstadt – einen Wahlbezirk. Eine Vertretung der nationalen und ethnischen Minderheiten auf kommunaler Ebene ist erforderlich, wenn in der betreffenden Kommune eine entsprechende Anzahl von Angehörigen einer Minderheit lebt. Dementsprechend erlaubt das Gesetz die Abhaltung der Wahl nur, wenn aufgrund der Zahl der in das Minderheitenwählerverzeichnis aufgenommenen Wahlbürger in der Kommune das Vorhandensein der Minderheit bewiesen ist. Das Gesetz verfügt deshalb, dass die Wahl nur anzusetzen ist, wenn in der Kommune die Zahl der im Minderheitenwählerverzeichnis aufgeführten Minderheitenwähler am Tag der Feststellung mindestens dreißig Personen beträgt.

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Die Personenzahl in der Vertretungskörperschaft der kommunalen Selbstverwaltung legt das Gesetz auf fünf Personen fest. Diese Zahl ist ausreichend, damit die Körperschaft funktionsfähig ist, effizient tätig ist und die kommunalen Interessenverhältnisse auf entsprechende Weise zum Ausdruck bringt. In Bezug auf die Aufstellung der Kandidaten erklärt das Gesetz, dass der Kandidat von einer vorschlagenden Organisation aufgestellt werden kann. Die vorschlagende Organisation ist – mit Ausnahme der politischen Parteien – eine nach dem Gesetz über das Vereinigungsrecht 11 eingetragene gesellschaftliche Organisation, deren in ihrer Satzung – seit wenigstens drei Jahren vor dem Jahr der Wahl der kommunalen Minderheitenselbstverwaltung – festgelegtes Ziel die Vertretung der betreffenden nationalen oder ethnischen Minderheit ist. Zur wirkungsvolleren Verwirklichung der Interessen der Minderheitenwähler ermöglicht das Gesetz die Aufstellung von gemeinsamen Kandidaten. Um eine Kandidatur zu erlangen, ist es erforderlich, dass wenigstens fünf der Minderheitenwähler den Kandidaten mit ihrer Empfehlung unterstützen. Das bietet die Chance dafür, dass es auch bei einer Mindestanzahl von Minderheitenwählern (30 Personen) in jedem Fall möglich ist, dass die Kandidaten Empfehlungen erhalten und so – da die Wahl nur abgehalten werden kann, wenn es mindestens fünf Kandidaten gibt – jeder Platz in der Vertretungskörperschaft besetzt werden kann. Bei der Wahl der kommunalen Minderheitenselbstverwaltung werden die Regeln der so genannten Kleinlistenwahl angewandt, bei der jeder Wahlbürger über so viele Stimmen verfügt, wie die Zahl der wählbaren Abgeordneten beträgt. Die Wahl ist erfolgreich, wenn fünf oder mehr Kandidaten gültige Stimmen erhalten. Zu Abgeordneten werden die fünf Kandidaten, die die meisten Stimmen erhalten. Erhalten weniger Kandidaten gültige Stimmen, ist die Wahl erfolglos. Bei Stimmengleichheit wird der Kandidat, der das Mandat erhält, per Losentscheid gewählt. Da ein Kandidat, der keine Stimme erhalten hat, von keinem einzigen Minderheitenwähler unterstützt wurde, verfügt das Gesetz, dass dieser Kandidat kein Mandat erhalten darf. Erlischt das Mandat des Abgeordneten der kommunalen Minderheitenselbstverwaltung, besteht keine Möglichkeit zur Abhaltung einer vorzeitigen Neuwahl, sondern der Kandidat erhält das Mandat, der bei der Wahl in der nach Stimmenanzahl festgelegten Reihenfolge folgt. Wenn es keinen solchen Kandidaten gibt oder der in der Reihe folgende Abgeordnete keine einzige Stimme erhalten hat, bleibt das Mandat unbesetzt, doch die Vertretungskörperschaft der kommunalen Minderheitenselbstverwaltung kann weiter tätig sein, solange die Abgeordnetenzahl nicht unter fünf Personen sinkt bzw. die Vertretungskörperschaft nicht aufgelöst wird oder nicht selbst ihre Auflösung erklärt. Tritt dies ein, ist eine vorzeitige Neuwahl abzuhalten. ___________ 11

Gesetz Nr. II von 1989 über das Vereinigungsrecht.

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b) Wahl der Abgeordneten in den regionalen Minderheitenselbstverwaltungen Bei den Wahlen der regionalen – auf Komitats- und hauptstädtischer Ebene tätigen – Minderheitenselbstverwaltungen können Personen wählen und gewählt werden, die Mitglied der kommunalen Minderheitenselbstverwaltung sind, d. h. die Regionalabgeordneten werden – auf indirektem Weg – von den Abgeordneten der kommunalen Minderheitenselbstverwaltungen – als Elektoren – gewählt. Das Mandat der Regionalabgeordneten dauert bis zur nächsten Wahl. Die Vertretung der nationalen und ethnischen Minderheiten auf regionaler Ebene ist nur erforderlich, wenn im betreffenden Komitat oder in der Hauptstadt eine entsprechende Zahl von Angehörigen einer Minderheit lebt. Dementsprechend erlaubt das Gesetz nur dann die Abhaltung einer Wahl, wenn im Gebiet des Komitats in wenigstens zehn Kommunen bzw. in der Hauptstadt in mindestens zehn Stadtbezirken der Hauptstadt eine kommunale Minderheitenselbstverwaltung tätig ist. Die Vertretungskörperschaft der regionalen Minderheitenselbstverwaltung kann aus neun Personen bestehen. Nach den Traditionen des ungarischen Wahlsystems ermöglicht das Gesetz die Aufstellung einer geschlossenen Liste. Bei der Wahl der Vertretungskörperschaft der regionalen Minderheitenselbstverwaltung können die Nominierungsorganisationen, die im Komitat (in der Hauptstadt) wenigstens zehn Prozent der gewählten Elektoren bei der kommunalen Minderheitenselbstverwaltungswahl als Kandidaten aufgestellt haben, eine Liste aufstellen. 12 Die Wahl kann abgehalten werden, wenn auf den durch die Nominierungsorganisationen aufgestellten Listen insgesamt mindestens neun Kandidaten aufgeführt sind. Theoretisch ist es möglich, dass auf den Listen der Nominierungsorganisationen nicht so viele Kandidaten stehen, wie die Zahl der wählbaren Abgeordneten beträgt. In diesem Fall darf die Wahl der regionalen Minderheitenselbstverwaltung nicht abgehalten werden. Der Elektor darf – den Traditionen des ungarischen Wahlrechts entsprechend – nur für eine Liste stimmen. Das Gesetz strebt – im Interesse der Verhältnismäßigkeit – an, dass die Nominierungsorganisationen nach dem Verhältnis ihrer erhaltenen Stimmen an den Mandaten beteiligt werden. Diesem Zweck dient die Methode der Mandatsverteilung und der Umstand, dass keine ___________ 12 In die Abgeordnetenzahl eingerechnet werden die durch die betreffende Nominierungsorganisation selbstständig aufgestellten Kandidaten sowie von den gemeinsamen Kandidaten die auf die betreffende Nominierungsorganisation entfallende Kandidatenquote, die für die jeweiligen gemeinsamen Kandidaten im verhältnismäßigen Anteil der den Kandidaten aufstellenden Nominierungsorganisationen zu bestimmen ist. Auf die gemeinsamen Kandidaten, die als Basis für die Aufstellung der gemeinsamen Liste dienen, entsteht keine Kandidatenquote.

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Mandatsschwelle zur Anwendung kommt. Die Verteilung der Mandate erfolgt mit der Divisionsmethode mithilfe der bei den Selbstverwaltungswahlen in Ungarn und auch in der internationalen Praxis häufig angewendeten modifizierten Sainte-Laguë-Formel. 13 Von den Listen erhalten die darauf aufgeführten Kandidaten in der von den Nominierungsorganisationen im Voraus angemeldeten Reihenfolge ein Mandat. Erlischt das Mandat eines Abgeordneten einer regionalen Minderheitenselbstverwaltung, erhält der von der Nominierungsorganisation benannte, auf der Liste stehende Kandidat das Mandat. Ziel des Gesetzes ist es, dass ein unbesetztes Mandat nur im allerletzten Fall zustande kommen darf, weshalb das Gesetz jeden möglichen, auf der Liste aufgeführten Kandidaten zur Besetzung des erloschenen Mandats berücksichtigt.

c) Wahl der Abgeordneten der Minderheitenselbstverwaltung auf Landesebene Die Regeln für die Abgeordnetenwahl der Minderheitenselbstverwaltungen auf Landesebene stimmen größtenteils mit den Regeln für die Abgeordnetenwahl der regionalen Minderheitenselbstverwaltungen überein, weshalb das Gesetz die Anwendung eines Teils der letzteren Regeln auch für die Wahl der Mitglieder der Minderheitenselbstverwaltungen auf Landesebene vorsieht. 14 Die Vertretung der nationalen und ethnischen Minderheiten auf Landesebene ist nur erforderlich, wenn im Land eine entsprechende Anzahl von Angehörigen einer Minderheit lebt. Dementsprechend lässt das Gesetz die Abhaltung der Wahl nur dann zu, wenn von sämtlichen Kommunen des Landes, in denen nach dem Gesetz eine kommunale Minderheitenselbstverwaltung gewählt werden kann, mindestens in vier Kommunen die Wahl der kommunalen Minderheitenselbstverwaltung ausgeschrieben wurde. ___________ 13 Demnach muss eine Tabelle zusammengestellt werden, in der unter dem Namen einer jeden Liste eine Zahlensäule zu bilden ist. Die erste Zahl der Zahlensäule ist die Anzahl der auf die betreffende Liste abgegebenen Stimmen, die folgende die Hälfte davon, dann ein Drittel, ein Viertel usw. In der Zahlensäule jeder Liste können so viele Zahlen, wie die Anzahl der auf der Liste aufgeführten Kandidaten beträgt, angegeben sein. Mit Hilfe der Tabelle können die Mandate verteilt werden. Es ist die in der Tabelle vorkommende größte Zahl zu suchen, und die Liste, in deren Zahlensäule sich diese Zahl befindet, erhält ein Mandat. Danach ist die nächstgrößte Zahl zu suchen. Die Liste, in deren Zahlensäule sich diese befindet, erhält ein Mandat. Dieses Verfahren ist so lange durchzuführen, bis sämtliche Mandate verteilt werden. Sind bei der Suche nach der in der Tabelle stehenden größten Zahl gleiche größte Zahlen, erhält die Liste ein Mandat, die bereits ein Mandat erzielt bzw. die mehr Mandate erhalten und schließlich, die bei der Listenauslosung die geringere laufende Nummer bekommen hat. 14 Die davon abweichenden Bestimmungen legt das Gesetz in gesonderten Paragraphen dar.

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Die Mitgliederzahl der Minderheitenselbstverwaltung auf Landesebene ist differenziert, je nachdem, in was für einem Verhältnis im Vergleich zu der Zahl der im Land befindlichen Kommunen die Wahl der kommunalen Minderheitenselbstverwaltungen ausgeschrieben wurde. 15 Infolgedessen reicht die Mitgliederzahl der betreffenden Vollversammlung aus, damit die Körperschaft effizient tätig sein kann und um die landesweiten Interessenverhältnisse entsprechend widerzuspiegeln. Prinzipiell kann es auch vorkommen, dass auf den Listen der Nominierungsorganisationen nicht so viele Kandidaten aufgeführt sind, wie die Zahl der wählbaren Vollversammlungsmitglieder beträgt. In einem solchen Fall darf die Wahl der Minderheitenselbstverwaltung auf Landesebene nicht abgehalten werden. Wenn die Mitgliederzahl der Vollversammlung unter die Hälfte der ursprünglichen Mitgliederzahl sinkt, muss eine vorzeitige Neuwahl abgehalten werden. Im Interesse der Eindeutigkeit hält das Gesetz fest, dass die einzelnen Bestimmungen im Hinblick auf jede Minderheit jeweils getrennt anzuwenden sind.

IV. Die verfassungsrechtliche Beurteilung der Institution des Minderheiten-Namensverzeichnisses Aufgrund des seitens der Minderheiten entstandenen berechtigten Anspruchs dürfen – zur Vermeidung des „Ethnobusiness“ – an der Wahl der Minderheitenselbstverwaltungen in Zukunft rechtmäßig die zu einer Minderheitengemeinschaft gehörenden Personen teilnehmen, die in Ungarn über einen Wohnsitz verfügen, sich im Landesterritorium aufhalten und ihre Lebensführung haben und im Minderheitenwählerverzeichnis stehen. Ins Namensverzeichnis kann nämlich nur derjenige aufgenommen werden, der zu der im Minderheitengesetz festgelegten Minderheit gehört und seine Zugehörigkeit zur Minderheit bekennt und bekundet. Dies steht auch im Zusammenhang mit dem Recht auf freie Identitätswahl. Denn aus der Sicht des zur Minderheit gehörenden Individuums und der Gemeinschaft – als Gesamtheit solcher Individuen – ___________ 15 Laut § 23 des Gesetzes beträgt die Anzahl der Mitglieder der Vollversammlung a) 15 Personen, wenn die Zahl der gebildeten kommunalen Minderheitenselbstverwaltungen nicht über 15 liegt, b) 19 Personen, wenn die Zahl der gebildeten kommunalen Minderheitenselbstverwaltungen zwischen 16 und 30 liegt, c) 25 Personen, wenn die Zahl der gebildeten kommunalen Minderheitenselbstverwaltungen zwischen 31 und 50 liegt, d) 31 Personen, wenn die Zahl der gebildeten kommunalen Minderheitenselbstverwaltungen zwischen 51 und 100 liegt, e) 39 Personen, wenn die Zahl der gebildeten kommunalen Minderheitenselbstverwaltungen zwischen 101 und 200 liegt, f) 53 Personen, wenn die Zahl der gebildeten kommunalen Minderheitenselbstverwaltungen über 200 liegt.

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bedeutet das Recht auf Identität das Recht auf ein freies, völlig uneingeschränktes Bekenntnis und die Bekundung der Zugehörigkeit zu einer nationalen oder ethnischen Minderheit. 16 Die zur Minderheit gehörende Person hat also das Recht, selbst die Tatsache der Zugehörigkeit zu einer nationalen oder ethnischen Minderheit zu bekennen und zu bekunden. Das „Bekenntnis“ und die „Bekundung“ sind eindeutig ein Recht und können deshalb im Allgemeinen nicht als Pflicht interpretiert werden. Anderseits kann das Gesetz – oder die zu seiner Durchführung herausgegebene Rechtsnorm – die Ausübung eines Minderheitenrechts an die Erklärung des Individuums binden.17 Diese Bestimmung soll gewährleisten, dass bei der Wahl der Minderheitenselbstverwaltung – im Interesse der Ausübung des Wahlrechts – in Verbindung mit der Aufnahme in das Minderheiten-Namensverzeichnis das Bekenntnis und die Bekundung der Zugehörigkeit zu der Minderheit erfolgt. Diese Lösung tut dem Erfordernis Genüge, dass seitens des zu der Minderheit gehörigen ungarischen Staatsangehörigen keine Möglichkeit zu einer passiven – ohne seine Initiative erfolgenden – Registratur bestehen soll. 18

1. Regelung der Institution des Minderheiten-Namensverzeichnisses Die Gesetzesänderung verfügt in Bezug auf das Minderheiten-Namensverzeichnis, 19 dass das kommunale Wahlbüro im Jahr der Wahl bis zum 31. Mai die ungarischen Staatsangehörigen, die bei der Wahl der Abgeordneten in den kommunalen Selbstverwaltungen und der Bürgermeister über ein Wahlrecht verfügen und bis zum 1. Oktober volljährig werden, per Brief über die Informationen in Verbindung mit der Aufnahme in das Minderheitenwählerverzeichnis informiert und ihnen das Formular übersendet, mit dem der Antrag auf Aufnahme in das Minderheitenwählerverzeichnis eingereicht werden kann. 20 Den Text ___________ 16 Vgl. Pálok-Boda, J. / Cseresnyés, J. / Timár-Vánkos, É., A kisebbségek jogai Magyarországon [Die Rechte der Minderheiten in Ungarn], Közgazdasági és Jogi Könyvkiadó, 1994, S. 45. 17 § 7 Abs. 2 MindG. 18 In Ungarn bestehen historische und psychologische Gründe für die Ablehnung jeder Form der Minderheitenregistratur, d. h. gegen die Angabe der Zugehörigkeit zu einer Minderheit in einem staatlichen Verzeichnis. Im Zweiten Weltkriegs bzw. danach wurden nämlich solche Verzeichnisse zur Deportation und Aussiedlung einzelner Minderheiten verwendet. 19 Die Gesetzesänderung ergänzte das Gesetz Nr. C von 1997 über das Wahlverfahren um zwei Kapitel – die Kapitel XII/A und XII/B – (§§ 115/B–115/U). 20 Der Antrag auf Aufnahme in das Wählerverzeichnis der Minderheit muss den Vor- und Nachnamen des Bürgers, seinen den Vor- und Nachnamen enthaltenden Geburtsnamen, seinen Wohnsitz, seine Personenidentitätsnummer, seine Erklärung dar-

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der Information stimmt das in der Sache der nationalen und ethnischen Minderheiten zuständige Regierungsorgan mit den auf Landesebene tätigen Minderheitenselbstverwaltungen ab. Die Aufnahme in das Minderheitenwählerverzeichnis kann bis zum 15. Juli des Jahres der Wahl bei dem Leiter des laut Wohnsitz zuständigen kommunalen Wahlbüros durch Einwerfen des Antrags in den Sammelkasten im Gebäude der Selbstverwaltung beantragt werden. Die Aufnahme in das Minderheitenwählerverzeichnis kann auch per Brief beantragt werden, wobei das Schreiben spätestens bis zum 15. Juli des Wahljahres im kommunalen Wahlbüro eingehen muss. Wenn der Bürger seine Aufnahme in das Wählerverzeichnis mehrerer Minderheiten beantragt, sind alle seine Anträge ungültig. Der Leiter des kommunalen Wahlbüros entscheidet per Beschluss bis spätestens zum 15. Juli über die Aufnahme des Antragstellers in das Wählerverzeichnis der Minderheit. Der Leiter des kommunalen Wahlbüros überprüft die Staatsangehörigkeit und das Wahlrecht des Antragstellers auf Grund des Personendaten- und Wohnanschriftenregisters sowie anhand des Registers der nicht wahlberechtigten volljährigen Bürger. 21 Er muss den Antragsteller in das Wählerverzeichnis der Minderheit aufnehmen, wenn der Antrag die durch das Gesetz geforderten – in Verbindung mit dem Formular vorgeschriebenen – Daten enthält, der Antragsteller ungarischer Staatsbürger ist und bei der Wahl der Abgeordneten in den kommunalen Selbstverwaltungen und der Bürgermeister über ein Wahlrecht verfügt. Im entgegengesetzten Fall ist die Aufnahme in das Wählerverzeichnis der Minderheit abzulehnen. Der Leiter des kommunalen Wahlbüros unterrichtet den Antragsteller unverzüglich von seinem Beschluss über Ablehnung der Aufnahme in das Minderheitenwählerverzeichnis. Der Beschluss über Ablehnung der Aufnahme in das Minderheitenwählerverzeichnis muss den Grund für die Ablehnung der Aufnahme in das Minderheitenwählerverzeichnis und die diesbezüglichen Beweise sowie auch eine Information über die Möglichkeit des Rechtsmittels gegen den Beschluss enthalten. Gegen den Beschluss über Ablehnung der Aufnahme in das Minderheitenwählerverzeichnis kann innerhalb von drei Tagen nach Erhalt der diesbezüglichen Benachrichtigung beim Leiter des kommunalen Wahlbüros Einspruch eingelegt werden.

___________ über, dass er zu der betreffenden nationalen und ethnischen Minderheit gehört, sowie seine Unterschrift enthalten. 21 Zur Überprüfung des Wahlrechts können das Personendaten- und Wohnanschriftenregister sowie das Register der nicht wahlberechtigten volljährigen Bürger zusammengeschaltet werden.

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2. Verfassungsfragen in Verbindung mit dem Minderheiten-Namensverzeichnis In Verbindung mit dem Minderheiten-Namensverzeichnis hat sich der Parlamentsbeauftragte für die Rechte der nationalen und ethnischen Minderheiten 22 an das Verfassungsgericht gewandt, da seiner Ansicht nach die neue gesetzliche Regelung verfassungswidrig ist. 23 In seinem Antrag legte er dar, die Gesetzesänderung garantiere nicht den Wahrheitsgehalt der auf die Zugehörigkeit zu einer nationalen und ethnischen Minderheit bezogenen Erklärung und lege für den Fall der Unwahrheit der Erklärung keine Sanktionen fest. Aufgrund des festgelegten Wortlauts der Änderung gelange jeder beliebige ungarische Staatsangehörige in das Wählerverzeichnis der Minderheit, wenn er – bei Erfüllung der sonstigen Bedingungen – behauptet, zu einer nationalen oder ethnischen Minderheit zu gehören. Die Vorschriften ermöglichen also nicht die Überprüfung dessen, ob die Zugehörigkeit zu der Minderheit tatsächlich besteht und bestimmen keine Sanktionen für den Fall der Abgabe einer wahrheitswidrigen Erklärung, was – demzufolge – die Möglichkeit zum Missbrauch eröffnet, da auch Personen ihre Aufnahme in das Namensverzeichnis der Minderheit verlangen können, die nicht als zu einer Minderheit gehörende Staatsangehörige anzusehen sind. Infolge dessen kann die angefochtene Regelung – nach dem Standpunkt des Antragstellers – „im Gegensatz zu dem in Art. 2 Abs. 1 der Verfassung formulierten Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit stehen und verletzt die Durchsetzung der in Art. 68 Abs. 1 bis 4 formulierten Grundrechte.“ Daher forderte der Antragsteller die Annullierung der einschlägigen Regeln der Gesetzesänderung und ferner, das Verfassungsgericht möge „das Parlament zur Schaffung einer gesetzlichen Regelung auffordern, die die Durchsetzung des Rechts der Minderheiten auf Selbstverwaltung gewährleistet“.

3. Die Entscheidung des Verfassungsgerichts über das Minderheiten-Namensverzeichnis Das Verfassungsgericht stellte in seiner Entscheidung Nr. 45/2005. (XII. 14.) AB u. a. fest, dass die Entscheidung von Einzelpersonen über die Zugehörigkeit zu einer nationalen und ethnischen Minderheit und deren öffentliche Bekanntmachung in den Kreis des Rechts auf eine von der Menschenwürde abgeleitete Identität und Selbstbestimmung fällt. Die Verfassung legt ___________ 22

Zum Wesen der Institution des Minderheiten-Ombudsmanns s. Petrétei (Fn. 10), S. 183. 23 Dies tat er, indem er in seiner in § 22 lit. a, d und e des Gesetzes Nr. LIX von 1993 über den Parlamentsbeauftragen für staatsbürgerliche Rechte gesicherten sachlichen Zuständigkeit vorging.

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keine Bestimmungen über die Errichtung von nationalen und ethnischen Minderheitenselbstverwaltungen fest, und bei der Schaffung diesbezüglicher Regeln verfügt der Gesetzgeber über eine weitreichende Entscheidungsbefugnis. Die Grenzen dieser Entscheidungsfreiheit werden durch die Bestimmungen der Verfassung, so insbesondere die auf die Grundrechte bezogenen Regeln, festgelegt. Das Verfassungsgericht erklärte in der Begründung seiner Entscheidung, dass für die nationalen und ethnischen Minderheiten die in Art. 68 der Verfassung festgelegten Rechte den Personen zustehen, die zu irgendeiner nationalen und ethnischen Minderheit gehören. Das Bekenntnis der Zugehörigkeit zu einer nationalen oder ethnischen Minderheit und dessen öffentliche Bekanntmachung ist eine auf dem Selbstbestimmungsrecht des Individuums basierende Entscheidung: das Bekenntnis der Zugehörigkeit zu einer nationalen oder ethnischen Minderheit ist ebenfalls ein wichtiges Element der Identität und Selbstbestimmung. Das Selbstbestimmungsrecht beruht auf dem in der Verfassung verankerten Recht auf Menschenwürde 24 als allgemeinem Persönlichkeitsrecht. Das Recht auf Menschenwürde ist ein subsidiäres Grundrecht zum Schutz der Autonomie des Individuums. In den Kreis des Selbstbestimmungsrechts fällt es jedoch auch, wenn jemand seine Zugehörigkeit zu einer Minderheit nicht öffentlich kundgeben will. Dem Verfassungsgericht zufolge stellt das Recht auf Schutz der personenbezogenen Daten ein informationsbezogenes Selbstbestimmungsrecht dar. Das beinhaltet, dass jeder selbst über die Offenlegung und Verwendung seiner personenbezogenen Daten verfügt. Personenbezogene Daten dürfen im Allgemeinen nur mit Zustimmung der betroffenen Person aufgenommen und verwendet werden. 25 Auch für die Beschränkung des informationsbezogenen Selbstbestimmungsrechts ist das von der Verfassung abgeleitete Erfordernis maßgebend, dass die Beschränkung dann als verfassungsgemäß akzeptiert werden kann, wenn sie aus einem zwingenden Grund und mit der geringsten Beschränkung unter Verwendung des geeignetsten Instruments erfolgt. Das Recht auf Errichtung von nationalen und ethnischen Minderheiten kann eine Grundlage für eine Beschränkung des Selbstbestimmungsrechts in Verbindung mit der Bekundung der Zugehörigkeit zu einer Minderheit sein. Die massenweise Ab___________ 24

Vgl. mit Art. 54 Abs. 1 der Verfassung. Entsprechend dem den obigen Grundsatz enthaltenden Beschluss des Verfassungsgerichts wurde § 1 Abs. 1 des Gesetzes LXIII von 1992 über den Schutz der personenbezogenen Daten und die Öffentlichkeit der Daten von öffentlichem Interesse festgelegt. Laut § 2 Ziffer 2a dieses Gesetzes ist die Angabe über die Zugehörigkeit zu einer nationalen und ethnischen Minderheit als eine Sonderangabe anzusehen. Nach § 3 Abs. 2 dürfen Sonderangaben nur dann verwaltet werden, wenn die betroffene Person ihre Zustimmung dazu erteilt hat oder das Gesetz dies im Interesse der Durchsetzung eines – u. a. – in der Verfassung garantierten Grundrechts anordnet. 25

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gabe von wahrheitswidrigen Erklärungen über die Zugehörigkeit zu einer Minderheit kann die Errichtung der Minderheitenselbstverwaltungen stören. Um der Entstehung einer solchen Praxis entgegenzuwirken, mag die Ausarbeitung von entsprechenden Rechtsnormen erforderlich sein. Aus der Verfassung folgt jedoch keine einzige bestimmte Lösung. Durch eine Verfassungsinterpretation kann nicht festgelegt werden, welche Beschränkung des informationsbezogenen Selbstbestimmungsrechts zur Überprüfung des Wahrheitsgehalts der Erklärung über die Zugehörigkeit zur nationalen und ethnischen Minderheit (auf welcher Grundlage, durch wen bzw. in was für einem Verfahren) als verfassungsgemäß akzeptiert werden kann. Das Verfassungsgericht übernimmt mit einer Interpretation der Verfassung die Aufgabe des Gesetzgebers. Auf der Basis der Überprüfung einer durch den Gesetzgeber angenommenen konkreten Vorschrift kann lediglich festgestellt werden, ob die betreffende Beschränkung verfassungsgemäß ist. Laut Antragsteller bestand ein Mangel an Vorschriften zur Gewährleistung der Durchsetzung des Grundrechts, weil es keine Bestimmung gibt, auf deren Grundlage die Überprüfung des Wahrheitsgehalts der Erklärung über die Zugehörigkeit zu einer nationalen oder ethnischen Minderheit und die Anwendung von Sanktionen gegen Personen, die eine wahrheitswidrige Erklärung abgeben, vorgenommen werden könnten. Laut Antrag hätte das Verfassungsgericht das Parlament zur Schaffung einer Überprüfungs- und Sanktionierungsvorschrift mit einem bestimmten Inhalt verpflichten müssen. Im vorliegenden Fall vermisste der Antragsteller Vorschriften, welche Missbräuche verhindern könnten. Laut Verfassungsgericht können durch das Fehlen der vom Antragsteller umrissenen Vorschriften in der Rechtsanwendung tatsächlich Probleme entstehen. Die Beseitigung des Mangels in der Regelung würde jedoch eine Beschränkung des Rechts der sich erklärenden Personen auf Selbstbestimmung und auf Schutz des Privatgeheimnisses nach sich ziehen. Die Feststellung der in dem Versäumnis zutage tretenden Verfassungswidrigkeit und die Verpflichtung zur Rechtsetzung darf nicht damit verbunden sein, dass das Verfassungsgericht den Gesetzgeber zur Schaffung bestimmter Rechtsvorschriften verpflichtet, die mit der Beschränkung von Grundrechten einhergehen. Deshalb wies das Verfassungsgericht auf der Grundlage der Darlegungen den Antrag auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit ab.

4. Bewertung der Entscheidung des Verfassungsgerichts In Verbindung mit der verfassungsgerichtlichen Entscheidung wurde der Gedanke geäußert, das Gremium habe im Falle der Minderheitenrechte nicht jeden Aspekt bewertet, der bei der Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit der gesetzgeberischen Entscheidung begründet gewesen wäre. Verfassungsrichter Dr. András Bragyova hielt es – obwohl er der mit der Mehrheitsentscheidung

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einverstanden ist – jedoch in seiner parallelen Begründung für erforderlich, die Begründung des Gremiumsbeschlusses in Verbindung mit drei Fragen zu ergänzen. Diese sind: a) der Charakter und die Subjekte der Minderheitenrechte, b) die Verbindung zwischen dem Selbstbestimmungsrecht und der Zugehörigkeit zu einer Minderheit und schließlich c) die Pflicht des Gesetzgebers bei der Regelung der Minderheitenwahlen. a) In Verbindung mit dem Charakter und den Subjekten der Rechte der nationalen und ethnischen Minderheiten stellte András Bragyova fest, dass die Rechte der nationalen und ethnischen Minderheiten in erster Linie verfassungsmäßige Rechte von Individuen sind, die über bestimmte gemeinsame – nationale und ethnische – Eigenschaften verfügen, und andererseits Befugnisse zur Teilnahme an Institutionen, die zur gemeinsamen und gemeinschaftlichen Ausübung der individuellen Rechte – zur Autonomie, also zur Selbstverwaltung – errichtet wurden (in erster Linie das aktive und passive Wahlrecht). Diese Rechte sind besondere (spezielle) verfassungsmäßige Rechte der nationalen und ethnischen Minderheiten, die diese Minderheiten – eben wegen ihren von der Mehrheit abweichenden, in erster Linie kulturellen Charakteristika – in den für die Mehrheit geschaffenen Institutionen und überhaupt in den Institutionen der Mehrheitsgesellschaft nicht ausüben können. Die verfassungsmäßigen Rechte der nationalen und ethnischen Minderheiten sind daher besondere verfassungsmäßige Rechte, die nur den Angehörigen der Minderheit zustehen. Subjekte der nationalen und ethnischen Minderheitenrechte können nur diejenigen sein, die sich aus nationaler und ethnischer Sicht von der Mehrheit unterscheiden; allein diese Tatsache legitimiert ihre speziellen Rechte. Daraus folgt das verfassungsmäßige Erfordernis, dass die Minderheitenrechte nur von den zur Minderheit gehörenden Personen – und nicht von anderen an ihrer Stelle – ausgeübt werden. Das verfassungsmäßige Recht der nationalen und ethnischen Minderheiten auf Selbstverwaltung kommt nur dann zur Geltung, wenn die Selbstverwaltung faktisch von Individuen gebildet wird, die zu der nationalen oder ethnischen Minderheit gehören, zu deren Repräsentation und Verwaltung ihrer Angelegenheiten die Selbstverwaltung errichtet wurde. Denn nur die Subjekte der nationalen und ethnischen Minderheitenrechte haben das verfassungsmäßige Recht zur Errichtung von nationalen und ethnischen Minderheitenselbstverwaltungen. Personen, die nicht zu einer nationalen und ethnischen Minderheit gehören – insbesondere die zur nationalen Mehrheit gehören –, können sinngemäß keine solchen verfassungsmäßigen Rechte haben, da es sich bei den Rechten der nationalen und ethnischen Minderheiten um spezielle Rechte handelt, die mit der von der Mehrheit abweichenden Lage nachzuweisen sind. b) In Verbindung mit der Zugehörigkeit zu einer nationalen und ethnischen Minderheit und dem Selbstbestimmungsrecht führte András Bragyova aus, dass der Gemeinschaftscharakter des Minderheitengrundrechts auf dem Recht des

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Individuums auf Bestimmung und aufgrund dessen auf seinem Recht auf Ausübung seiner Zugehörigkeit zu einer Minderheit – seiner nationalen oder ethnischen Identität bzw. Identifizierung – beruht. Daher ist die Klärung der Verbindung zwischen der Zugehörigkeit zu einer nationalen und ethnischen Minderheit und der Selbstbestimmung von grundlegender Bedeutung. Das Selbstbestimmungsrecht des Individuums bedeutet das ohne Eingreifen des Staates ausübbare – zugleich jedoch unbedingt anzuerkennende und somit nicht überprüfbare – Recht des Individuums, aufgrund eigener Entscheidung über sich selbst (seinen Körper und sein Leben) zu verfügen, die grundlegenden Entscheidungen seines Lebens selbst treffen zu können und so seine Persönlichkeit und sein Leben selbst gestalten zu können. Dieses Recht erstreckt sich auch darauf, wie das Individuum die Tatsachen seines eigenen Lebens interpretiert und wie es seine Identität bestimmt und dies in seiner Handlung zum Ausdruck bringt. Das Selbstbestimmungsrecht bedeutet in der Frage der Zugehörigkeit zu einer nationalen und ethnischen Minderheit, dass das Individuum seine Identifizierung mit einer nationalen oder ethnischen Gemeinschaft selbst bestimmt. Das sich mit der Gemeinschaft identifizierende Individuum definiert sich mit seiner Entscheidung als Mitglied dieser Gemeinschaft bzw. mit seiner Zugehörigkeit zu dieser selbst. Das bedeutet, dass das Individuum seine Zugehörigkeit zur betreffenden nationalen oder ethnischen Minderheit als Teil seiner eigenen Persönlichkeit ansieht. Das Selbstbestimmungsrecht bedeutet in diesem Zusammenhang das Recht des Individuums, seine eigene Persönlichkeit, einschließlich seiner nationalen oder ethnischen Identität, selbst zu definieren. Diese Selbstdefinition darf jedoch nicht willkürlich sein, denn das Selbstbestimmungsrecht kann sich nur auf Dinge erstrecken, an denen das Individuum etwas ändern kann, d. h. die mit der Entscheidung, dem Entschluss und der darauf beruhenden Handlung des Individuums beeinflusst oder verändert werden können, über die das Individuum also überhaupt entscheiden kann. Die Selbstidentität des Individuums beruht zum wesentlichen Teil auf den Fakten seines Lebens, deren Änderung nicht möglich ist. Aufgrund dessen ist die nationale und ethnische Identität eine Eigenschaft des Individuums, die nur zum Teil von dem Entschluss des Individuums, von seiner eigenen Entscheidung abhängt. Zum Teil ist sie eine existentielle Gegebenheit des Individuums, die das Individuum überhaupt erst als Individuum definiert. An diesen Gegebenheiten kann das Individuum nichts ändern, es kann aber sein Verhältnis zu diesen Gegebenheiten bestimmen und dieses nach seiner eigenen Überlegung interpretieren. Die verfassungsmäßigen Rechte schützen natürlich diese Entscheidungen des Individuums vor einem staatlichen Eingriff. Die grundlegenden (oben als existentiell bezeichneten) Gegebenheiten des Menschen – wie Zeit und Ort der Geburt, Geschlecht, Alter, Muttersprache, Familie usw. – bestimmen unabhängig vom Willen des Individuums seine Identität. Und die verfassungsmäßigen Rechte schützen insgesamt und auch

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jeweils einzeln die Freiheit des Individuums, auf der Grundlage seiner Gegebenheiten sein eigenes Selbstbild und sein Identitätsbewusstsein (seine Identität) selbst zu bestimmen. Die verfassungsmäßigen Rechte schützen auch die Freiheit des Individuums selbst zu entscheiden, was es von seinen eigenen Lebensfakten für wichtig hält, womit es sich identifizieren möchte oder eben was es davon ablehnen möchte. All dies ändert nichts daran, dass die Zugehörigkeit zu einer nationalen und ethnischen Gruppe nicht einfach von der Entscheidung des Individuums abhängt. Das Individuum kann aufgrund seines informationsbezogenen Selbstbestimmungsrechts 26 darüber entscheiden, welche Fakten seines Lebens es anderen auf welche Weise mitteilen will, und sein Recht auf Menschenwürde gewährleistet ihm, wie es die Komponenten seiner Persönlichkeit, den „Bericht“ oder Sinn seines Lebens für sich selbst und die Außenwelt bestimmt (oder konstruiert). Der Staat kann die selbstbestimmende Entscheidung des Individuums nicht revidieren und nicht ändern, kann sich aber vergewissern, ob die Äußerung, die der Außenwelt den Inhalt der Selbstbestimmung mitteilt, wirklich die eigene und ernste Entscheidung des Individuums ist. Das Verbot des staatlichen Eingreifens schließt jedoch im Bereich der Selbstbestimmung nicht aus, dass das Recht Vorschriften darüber enthalten darf, wie jemand sein Selbstbestimmungsrecht ausübt, und schließt auch nicht die Überprüfung dessen aus, ob der Selbstbestimmungswille wirklich ernsthaft und überdacht ist, und dies eventuell an bestimmte Formen zu binden. Es ist ein verfassungsmäßiges Erfordernis, dass der Gesetzgeber den Inhalt der Entscheidung des Individuums nicht abändert und vor allem nicht durch die Entscheidung seiner eigenen Organe oder von durch ihn bestimmten Personen ersetzt. Der Hauptinhalt der Zugehörigkeit zu einer Minderheit – als Selbstbestimmung – ist, dass niemandem von außen irgendeine Identität aufgezwungen (oder gar zur Pflicht gemacht) werden kann. Der Staat und die Rechtsnormen legen verfassungsmäßig für niemanden eine national-ethnische Identität (Zugehörigkeit) fest. Hieraus folgt allerdings, dass die Wahl der national-ethnischen Identität – Zugehörigkeit – allein die Selbstbestimmung (Entscheidung) des Individuums ist, die niemand in Zweifel ziehen kann. In der Frage der nationalethnischen Zugehörigkeit ist das Individuum nur negativ frei, insofern es nicht verpflichtet ist, sich mit einer nationalen oder ethnischen Gruppe zu identifizieren, mit der es sich nicht identifizieren will, egal wie viele Gründe es nach der Meinung anderer auch hierzu geben mag. Die Zugehörigkeit zu einer nationalen und ethnischen Minderheit, welche die Voraussetzung für die Ausübung der diesen Minderheiten (und nur ihnen) zustehenden verfassungsmäßigen Rechte darstellt, ist daher nicht einfach eine Frage der Selbstbestimmung des Individuums. Die Existenz von nationalen und ethnischen Minderheiten ist eine gesellschaftliche Tatsache, an welche die Verfassung und infolgedessen das ___________ 26

Art. 59 der Verfassung.

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Rechtssystem verschiedene Rechtsfolgen – in erster Linie die Minderheitenrechte und das Verbot der Diskriminierung nach der nationalen Abstammung 27 – knüpft. Die Existenz nationaler und ethnischer Minderheiten ist die gemeinsame Existenz einer gegebenen Gruppe von Individuen, die ihr gemeinschaftliches Identitätsbewusstsein aufrechterhält. Ihre Existenz hängt daher niemals einfach von dem Entschluss und dem Bewusstsein einzelner Individuen ab, sondern davon, ob es Individuen gibt, die eine gemeinsame Identität bekennen. Die Existenz von nationalen und ethnischen Minderheiten besteht darin, dass gewisse Menschen einander einverständlich als Mitglieder einer nationalethnischen Gruppe akzeptieren. Das Individuum hat zweifelsohne ein verfassungsmäßiges Recht darauf, diese – in diesem Fall nur mögliche – Zugehörigkeit nicht zu bekennen oder anderen hierüber keinerlei Angaben zu machen. Es hat jedoch kein verfassungsmäßiges Recht, sich selbst einseitig (willkürlich), lediglich aufgrund seiner „Selbstbestimmung“ zum Mitglied einer bestimmten nationalen und ethnischen Minderheit zu erklären. Im Falle der Zugehörigkeit zu einer nationalen und ethnischen Minderheit besteht das Selbstbestimmungsrecht nur negativ, im positiven Sinne nicht. Aus der relativen Beschränktheit des Selbstbestimmungsrechts in Bezug auf die nationale und ethnische Zugehörigkeit folgt nicht, dass die Bestimmung der nationalen (ethnischen) Zugehörigkeit (Identität) eines Individuums von der über eine rechtliche Wirkung verfügenden Anerkennung anderer abhängig gemacht werden kann. Ganz im Gegenteil folgt hieraus auch, dass jeder das Recht hat, dass seine nationale und ethnische Identität anerkannt wird. Gleichzeitig verbietet sie, dass dessen Bekundung durch den Staat direkt oder indirekt (dadurch, dass er anderen die Kontrolle der „Richtigkeit“ der bekundeten Identität ermöglicht) eingeschränkt wird. Sie möchte lediglich erreichen, dass die Bekundung der nationalen (ethnischen) Identität im guten Glauben (bona fide) erfolgt. Die externe staatlich-rechtliche Kontrolle kann daher nur die – auch für die Außenwelt kontrollierbare – „Ernsthaftigkeit“ der Erklärung prüfen. Wenn die Ernsthaftigkeit der Erklärung nicht angezweifelt werden kann, steht jedem das Recht auf staatliche und rechtliche Anerkennung seiner nationalen und ethnischen Identität zu. Bei diesem Recht geht es um die Festlegung des Verhältnisses des Individuums zu sich selbst, und als solches kann es keinen rechtlichen Anspruch gegenüber den übrigen Individuen – die sich selbst als zu der gewählten Identitätsgruppe zugehörig bekennen oder die nicht dazu oder sogar zur Mehrheit gehören – begründen. Die Selbstverwaltungen der nationalen und ethnischen Minderheiten sind Körperschaften des öffentlichen Rechts, die zur Ausübung der verfassungsmäßigen Rechte der Minderheiten auf der Grundlage der Verfassung im Gesetz gebildet wurden. Von den Selbstverwaltungen der nationalen und ethnischen ___________ 27

Art. 70/A Abs. 1 der Verfassung.

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Minderheiten werden die personellen, materiellen und geistigen Voraussetzungen geschaffen und unterhalten, die zur Ausübung der durch die Mitglieder der Minderheiten nur gemeinsam auszuübenden verfassungsmäßigen Rechte erforderlich sind. Die Selbstverwaltungen der nationalen und ethnischen Minderheiten sind autonome Organe, in denen die Verwaltungsaufgaben von den verwalteten – zu den nationalen und ethnischen Minderheiten gehörenden – Personen selbst verrichtet werden. Die Selbstverwaltung ist eine Art der Verwaltung, die den verwalteten Personen in der sie betreffenden Verwaltung ein weitgehendes Selbstbestimmungsrecht zusichert. Deshalb kann auch ohne eine gesonderte Verfassungsregel die Sicherung der Selbstverwaltung („Autonomie“) dort verfassungsmäßig verbindlich sein, wo zur Ausübung eines verfassungsmäßigen Rechts von den Subjekten des Grundrechts nur mehrere gemeinsam in der Lage sein können. Auch wegen des engen Zusammenhangs zwischen Selbstbestimmungsrecht und Autonomie (Selbstverwaltung) ist es grundlegend wichtig, dass die Wähler und Repräsentanten der Minderheitenselbstverwaltungen wirklich aus Angehörigen der nationalen oder ethnischen Minderheit bestehen. Demzufolge ist es ein verfassungsmäßiges Erfordernis, dass der Gesetzgeber die gesetzlichen Voraussetzungen dafür schafft, dass das spezielle verfassungsmäßige Recht nur von dessen Subjekten ausgeübt wird. Wenn die Rechte der nationalen und ethnischen Minderheiten von Personen ausgeübt werden, die nicht zur Minderheit gehören, ist dies eine Beschränkung des wesentlichen Inhalts des verfassungsmäßigen Rechts der Personen, die tatsächlich zu der Minderheit gehören, und kann als solche auch durch das Gesetz nicht beschränkt werden. Der Gesetzgeber muss mit besonderer Sorgfalt darauf achten, dass er die Minderheiten in der Ausübung ihrer Rechte vor der Mitwirkung von Angehörigen der Mehrheit schützt. c) In Verbindung mit der Pflicht des Gesetzgebers zur Selbstkorrektur stimmte András Bragyova der Ansicht zu, dass die Bestimmungen des Gesetzes Nr. C von 1997 über das Wahlverfahren zur Regelung der nationalen und ethnischen Minderheitenwahlen, die insbesondere die Zusammenstellung des Namensverzeichnisses vorschreiben, nicht verfassungswidrig sind. Gleichzeitig hätte das Verfassungsgericht seiner Meinung nach ebenfalls erklären müssen, dass, auch wenn die durch den Gesetzgeber gewählte Regelung nicht verfassungswidrig ist, der Gesetzgeber die verfassungsmäßige Pflicht hat, die Anwendung und Durchsetzung der bestehenden Regelung mit besonderer Sorgfalt zu beobachten und die vorkommenden Missbräuche durch ein entsprechendes Auftreten – in erster Linie durch eine erforderliche Änderung des Gesetzes – zu verhindern. Im Falle von Grundrechten kann erwartet werden, dass der Gesetzgeber gegen die wichtigeren – insbesondere die früher vorgekommenen oder leicht vorstellbaren – Möglichkeiten des Missbrauchs auftritt und bestrebt ist, diese auszuschließen. Der Schutz der Grundrechte – insbesondere der Schutz von Grundrechten, die (auch) als kollektiv, gemeinsam ausübbares Recht aufgefasst werden, wie die Rechte der nationalen und ethnischen Minderheiten –

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ist eine grundlegende Bedingung dafür, dass die Minderheitenrechte – und nicht nur die Selbstverwaltungsrechte – wirklich von den zur Minderheit gehörenden Individuen ausgeübt werden. Im gegebenen Fall wäre es erforderlich gewesen, festzustellen, dass der Gesetzgeber verpflichtet ist, die Wirksamkeit der durch ihn verfassungsmäßig gewählten Regelungslösung bei der Sicherung der Grundrechte zu kontrollieren. Die Pflicht des Gesetzgebers zur Selbstkontrolle basiert auf der allgemeinen Pflicht zum Schutz der verfassungsmäßigen Rechte. 28 Wenn sich in der Praxis herausstellt, dass die im Gesetz niedergelegte Regelung – entgegen der Erwartung des Gesetzgebers – keinen ausreichenden Schutz der einzelnen grundlegenden Rechte sichert, so ist es die verfassungsmäßige Pflicht des Gesetzgebers, die als mangelhaft erwiesene gesetzliche Regelung zu korrigieren. Der Gesetzgeber ist im Allgemeinen nicht verpflichtet, an einer rechtlichen Regelung etwas zu ändern, wenn diese nicht ihr gesetztes Ziel erreicht hat. Bei einer rechtlichen Regelung, die dem Schutz von Grundrechten oder der Gewährleistung ihrer Ausübung dient, legt jedoch die Verfassung das Ziel der Rechtsetzung fest, obwohl sie den Gesetzgeber bei der Auswahl der Instrumente nicht bindet. Das Verfassungsgericht hätte feststellen müssen, dass der Gesetzgeber in solchen Fällen verpflichtet ist, die Verwirklichung der Regelung mit besonderer Aufmerksamkeit zu verfolgen, und, wenn er sich von verfassungswidrigen Auswirkungen der Regelung überzeugt hat, zur schnellstmöglichen Selbstkorrektur und zur Behebung der wahrgenommenen Mängel verpflichtet ist.

V. Lösung der Probleme in Verbindung mit dem Minderheiten-Namensverzeichnis Die zur Eindämmung des „Ethnobusiness“ gewählte gesetzgeberische Lösung schließt – auch wenn sie vom Verfassungsgericht als verfassungsgemäß beurteilt wurde – nicht eindeutig die Aufnahme von Personen in das Minderheiten-Namensverzeichnis aus, die de facto nicht zu der betreffenden Minderheit gehören. Das war der Hauptgrund dafür, dass der Minderheiten-Ombudsmann sich an das Verfassungsgericht wandte. Obwohl das Minderheiten-Namensverzeichnis – aufgrund der bisherigen Erfahrungen in der Praxis 29 – die Gefahr des „Ethnobusiness“ wesentlich verringert, stellt es keine umfassende ___________ 28

Art. 8 Abs. 2 der Verfassung. Da die Wahl der Minderheitenselbstverwaltungen 2006 bereits auf der Grundlage der neuen Regeln abgewickelt wird, musste bei der Aufstellung der Kandidaten die Institution des Minderheiten-Namensverzeichnisses angewandt werden. Die Erfahrungen zeigen, dass im Vergleich zu den früheren Wahlen die Zahl der Minderheitenkandidaten wesentlich gesunken ist, das Namensverzeichnis also zum Teil seine Filterfunktion erfüllt hat. 29

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Garantie für ein Abwehren dieser Gefahr dar, d. h. es gewährleistet nicht in jeder Hinsicht den Ausschluss der Wahl von nicht zur betreffenden Minderheit gehörenden Personen zu Abgeordneten der betreffenden Minderheit. Das Problem wird im Wesentlichen dadurch verursacht, dass in Ungarn jede Form der staatlichen Registratur der Minderheiten abgelehnt wird. Im Jahr 1998 gaben der Datenschutzbeauftragte und der Minderheiten-Ombudsmann eine gemeinsame Stellungnahme dazu heraus, dass über die Tatsache der Herkunft keine Bescheinigung, sondern nur über das Erfolgen der Bekundung der ethnischen Zugehörigkeit eine Bestätigung erteilt werden darf. 30 Ihrer Meinung nach steht die Ausgabe von „Herkunftsbescheinigungen“ im Widerspruch zu den Bestimmungen des Gesetzes Nr. LXIII von 1992 über den Schutz der personenbezogenen Daten und die Öffentlichkeit von im öffentlichen Interesse stehenden Daten und des Minderheitengesetzes. Eine behördliche Bescheinigung kann über die nationale und ethnische Herkunft nicht erteilt werden, da kein staatliches Organ Kenntnis von einer solchen Tatsache hat oder ein Register darüber führen darf. Eine Bescheinigung mit solchem Inhalt erweckt den Anschein, dass der Ausgeber über eine Dokumentation bzw. ein Verzeichnis verfügt, die bzw. das als Grundlage für die in der Bescheinigung enthaltene Tatsachenbehauptung dient. Die Minderheitenselbstverwaltung ist keine Behörde und deshalb nicht befugt, über den Nachweis einer Tatsache oder eines Zustands ein behördliches Zeugnis auszugeben. Deshalb kann die Bekundung der ethnischen Zugehörigkeit und die Ausstellung des hierüber lautenden Dokuments in den folgenden Fällen rechtmäßig sein: – die Minderheitenselbstverwaltung oder eine minoritäre gesellschaftliche Organisation erteilt eine Bescheinigung darüber, dass der Betreffende ihr Mitglied, ihr Repräsentant bzw. eventuell bei den Wahlen ihr Kandidat war, – die eine Bescheinigung beantragende Person erscheint (eventuell mit einigen Partnern) bei den oben genannten Organisationen und beantragt, ihre Erklärung schriftlich festzuhalten, dass sie sich als Angehöriger der betreffenden Minderheit betrachtet, was von den Anwesenden bestätigt wird, – auch die kommunale Selbstverwaltung kann rechtmäßig eine Bescheinigung ausgeben, das die betreffende Person bei den Wahlen der Minderheitenselbstverwaltung Kandidat war bzw. Mitglied der Minderheitenselbstverwaltung ist. Ihrer Meinung nach steht dem nichts im Wege, dass – obwohl dies keinerlei öffentlich-rechtlichen Charakter haben darf – eine Minderheitenpartei, ein Kulturverein oder eine gesellschaftliche Organisation auf Wunsch ihres Mitglieds eine Bescheinigung erteilt, die ethnische Daten beinhaltet. ___________ 30 Er zitiert den Verfassungsrichter Dr. Péter Kovács in seiner an die Entscheidung Nr. 45/2005 (XII. 14.) AB beigefügten parallelen Begründung.

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Nach Ansicht von Verfassungsrichter Dr. Péter Kovács können die Koordinaten, in denen der Gesetzgeber sich bewegen kann, wie folgt definiert werden: 31 – er muss gewährleisten, dass sich die Selbstverwaltungen der nationalen und ethnischen Minderheiten tatsächlich auf dem durch die Betroffenen ausgeübten aktiven und passiven Wahlrecht aufbauen; – eine auf Individuen aufgegliederte, durch staatliche Behörden vorgenommene Kontrolle würde ein Problem der Verfassungsmäßigkeit und des internationalen Rechts bedeuten, doch verstößt eine Verwendung der glaubwürdigen Bevölkerungsstatistiken nicht gegen die datenschutzrelevanten einheimischen und internationalen Regeln; – unter Berücksichtigung der wahlrechtlichen Verfahrensregeln ist eine Möglichkeit zu schaffen, dass offensichtlich absurde, der Wirklichkeit nicht entsprechende Initiativen und die Realität der Minderheitenwahl entstellende Anomalien verhindert bzw. festgestellt werden können, gegebenenfalls durch Anwendung der Sanktion der Ungültigkeitserklärung; – bei der Beurteilung des Ausmaßes der Anomalien ist die in der Sache abgegebene offizielle Stellungnahme der Landesselbstverwaltung der betreffenden Minderheit besonders zu berücksichtigen.

VI. Zusammenfassung Auf der Grundlage der obigen Darlegungen kann festgestellt werden, das die Entscheidung darüber, ob das Gesetz über das Wahlverfahren in seiner gegenwärtigen Form eine hinreichende Sicherheit für die Lösung des Problems des „Ethnobusiness“ darstellt, in die Freiheit des Gesetzgebers fällt. Wenn die Wahlorgane aufgrund der heutigen Regelung in der Lage sein werden, bei der Wahrnehmung von Gesetzesverletzungen, die das Wahlverfahren in der Sache beeinflussen, entsprechende Schritte einzuleiten und unbefugte – nicht zur Minderheit gehörende – Personen von der Wahl der Minderheitenselbstverwaltungen auszuschließen, stellt die Änderung des Minderheitengesetzes eine ausreichende Lösung dar. Hierzu müssen die gesetzgebenden Organe natürlich die Praxis und die Erfahrungen bei der Abwicklung der Minderheitenwahlen berücksichtigen. Wenn die Rechtsanwendung aufgrund der geltenden Regelung nicht oder nur unzureichend zur Lösung des Problems fähig ist, muss der Gesetzgeber weiter nach einer verfassungsmäßigen Lösung suchen, die auch weiterhin nicht die staatliche Registratur der zur Minderheit gehörenden Personen ___________ 31

Vgl. mit der parallelen Begründung des Verfassungsrichters Dr. Péter Kovács.

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zum Ergebnis haben darf, die jedoch wirksame Schritte dazu ergreift, dass an den Wahlen der Minderheitenselbstverwaltungen nur die zur Minderheit gehörenden Personen teilnehmen können.

Das demokratische Leben der Siebenbürger Sachsen am Beispiel der Gemeinde Felmern Monica Vlad Diese Studie wurde im respektvollen Andenken an Dieter Blumenwitz verfasst. Sie beschäftigt sich mit der Welt und den Werten einer Volksgruppe, die sich heute an der Schwelle des Verschwindens befindet. Sie ist einem viel zu früh verstorbenen Wissenschaftler und Lehrer gewidmet, dessen Forschungsschwerpunkt die Achtung der Menschenrechte war. Blumenwitz hätte heute gerne mitgelesen, wie sich die Minderheit der Siebenbürger Sachsen schon in den frühen Jahrhunderten der menschlichen Geschichte in ihrem täglichen Leben für die demokratische Praxis entschieden hatte und welche die wichtigsten kollektiven Werte dieser Gemeinschaften waren. Die Sachsen lebten in den sieben Burgen Transylvaniens, wo sie im Laufe des 12. Jahrhunderts angesiedelt wurden. Zu den von den Sachsen bewohnten Gebieten in Siebenbürgen gehört(e) auch die Gemeinde Felmern, der Untersuchungsgegenstand dieses Beitrags. Die Gemeinde Felmern (Südsiebenbürgen) wird erstmal am 6. September 1206 in einer Urkunde erwähnt (2006 feierte die Gemeinde 800 Jahre!). Es ist möglich, dass die Gemeinde noch älter ist, als ihre erste Urkunde es ausweist, 1 aber sicher ist, dass in der Grenzbeschreibung einer Schenkung des Königs Andreas II. an Johannes Latinus (den Wallonen) die Ortschaft „Felmer“, ungarisch Felmir und sächsisch Falmern auch unter dem Namen „villa Welmer“ erscheint. Siedler waren schon lange da und lebten verstreut, als 1206 ein neuer Siedler eintraf. Dieser war ein Pfarrer namens Felmer mit Familie. Die Siedler beschlossen, ein Dorf zu gründen, welches den Namen des Gründers – Felmer – erhielt. Damit schließt sich Felmern der Kolonisation Siebenbürgens an: eine Gemeinde, deren Bevölkerungsmehrheit aus Sachsen bestand.

___________ 1 Aus Felmern stammen die Vorfahren der Autorin, wovon jedoch nur die Großmutter, die Mutter und ein enger Verwandtschaftskreis ihre direkten, konkreten Lebenserfahrungen vermitteln konnten.

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Die Siebenbürger Sachsen sind und waren eine starke deutsche Minderheit, die sich im Laufe des 12. Jahrhunderts in Siebenbürgen niedergelassen hatte. Sie waren für fast tausend Jahre eine wichtige Brücke Rumäniens zu den westeuropäischen Staaten, besonders zur Bundesrepublik Deutschland, Österreich, Luxemburg und der Schweiz. Die Siebenbürger Sachsen waren und sind als gute Handwerker bekannt, deren Arbeitskraft und Lebensfreude als außergewöhnlich galten. Als Einwanderer unter eigenem Recht erfreuten sich die Sachsen in Siebenbürgen der Selbstverwaltung und Autonomie: noch Charles Boner, der englische Siebenbürgen-Reisende des Jahres 1863, erlebte als wichtigsten kollektiven Charakterzug der Sachsen „their sense for selfgovernment“. Dadurch schufen die Sachsen blühende Gemeinschaften und lebten hauptsächlich als Bauern oder Handelsleute. In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts fand bei den Sachsen der entscheidende Prozess der Absonderung der Handwerker von den Bauern statt: ein Vorgang, der aus Urkunden zu erschließen ist. 2 Überall, wo deutsche Ostsiedlung erfolgte – Böhmen, Mähren, Ungarn, Siebenbürgen, Schlesien –, gab es spezifische Sozialstrukturen, die nicht unwesentlich waren. Darüber zu forschen ist eine anspruchsvolle Aufgabe, denn die Geschichte der deutschen Ostkolonisation ist schwer erschöpfend zu erfassen. Unbestreitbar bleibt, dass ein wichtiges Motiv für die Ansiedlung der Deutschen in der Sphäre der politischen Machtfaktoren der Ostgebiete lag. Das soll ein Zitat aus dem Werk von Thomas Nägler „Die Ansiedlung der Siebenbürger Sachsen“ illustrieren: „Die einzelnen Herrscher, vielfach untereinander verfeindet, versuchten durch einen intensiven Landesausbau ihre Einkünfte zu erhöhen und ihre Gebiete gegen die Nachbarn abzusichern. Einige Fürsten setzten Deutsche von vornherein in den Grenzschutz ein (...). Nicht selten fühlten sich Herzöge und Bischöfe von der untersten Schicht der Bevölkerung bedrängt und befürchteten, ihre oft auch von außen bedrohte Herrschaft zu verlieren. Durch die Ansiedlung von Deutschen schufen sie sich eine wirtschaftlichsoziale Basis, die ihnen dazu verhelfen sollte, gegen ihre Feinde mit mehr Erfolg aufzutreten.“ 3 Aus welchen Gründen die Ansiedlung der deutschen Volksgruppen in Siebenbürgen auch erfolgt sein mag, die Frage ihrer Herkunft hat die Siebenbürger Sachsen stets stark beschäftigt. Im 16. Jahrhundert wurde etwa die Auffassung vertreten, dass die Deutschen in Siebenbürgen von mittelalterlichen Kolonisten aus Deutschland stammten. Diese Meinung hat sich erst „im Zeitalter der kritischen Geschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts durchgesetzt (...) und über ___________ 2

Pascu, St., Mestesugurile din Transilvania pana in secolul al XVI-lea, 1954, S. 23. Eine ausführliche Untersuchung der Herkunft der Siebenbürger Sachsen findet sich bei Nägler, Th., Die Ansiedlung der Siebenbürger Sachsen, 1992, S. 48–200. 3

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die Herkunft der deutschen Siedler in Ungarn, Siebenbürgen wie auch überall in Südosteuropa sind sehr wenige schriftliche Vermerke bekannt.“ 4 Direkte historische Quellen wurden der Forschung erst im 19. und 20. Jahrhundert zugänglich, so dass man auch andere Quellen heranzog, um die Herkunft der Siebenbürger Sachsen zu bestimmen: In seinem Werk „De Europa“ (1458) meint Aeneas Silvius Piccolomini (Papst Pius II.) über die Siebenbürger Sachsen, sie seien Deutsche aus Sachsen. Dieselbe Meinung vertrat Hartmann Schedel, der von „Theutones e Saxonia originem habent“ spricht, die man „Sybenburgensis“ nenne. 5 Während Anton Bonfinius, der Historiograph des Königs Matthias Corvinus, behauptete, die Siebenbürger Sachsen seien von Karl dem Großen angesiedelt worden, versuchte Sebastian Münster die sächsische Herkunft derselben aufgrund von Ähnlichkeiten zwischen dem siebenbürgischsächsischen und dem niedersächsischen Dialekt zu beweisen. Im Jahre 1546 vertrat der Humanist Christian Pomarius die Meinung, dass in Siebenbürgen schon seit dem Altertum Deutsche gesiedelt hätten und dass Skythen, Ungarn und Slawen erst später hinzugekommen seien. 6 Thomas Bomelius schrieb schon im 16. Jahrhundert über König Geysa II., dass er „Saxones“ nach Siebenbürgen gerufen habe. Johannes Honterus zählte als erster neben Sachsen auch das Rheinland zum Herkunftsgebiet der Siebenbürger Sachsen. 7 Zur Unterstützung der verschiedenen Thesen galten auch die Wortetymologien. Johannes Tröster beispielsweise machte als erster auf den Unterschied zwischen der neuhochdeutschen Schriftsprache und der siebenbürgischen Landsprache (dem siebenbürgischen Dialekt) aufmerksam. Markus Fronius schätzte die siebenbürgisch-sächsische Mundart im Jahre 1705 als eine der europäischen Sprachen. In einer Schrift aus dem Jahre 1764, die erst 1935 veröffentlicht wurde, stellte Martin Felmer fest, dass die Siebenbürger Sachsen im 12. Jahrhundert aus Deutschland gekommen seien. Bei der Einteilung der siebenbürgisch-sächsischen Mundarten in mehrere Gruppen gelangte er zu der Erkenntnis, dass „diese mit einigen deutschen Mundarten verwandt seien“. 8 Obwohl auch er die Meinung vertrat, dass die Siebenbürger Sachsen aus Obersachsen stammten, hatte er bewiesen, dass deren Mundarten mit dem Gotischen nicht verwandt seien. ___________ 4 5 6 7 8

Nägler (Fn. 3), S. 81–83. Nägler (Fn. 3), S. 84. Nägler (Fn. 3), S. 89. Wagner, V., Compendium juris civilis, 1544, S. 1. Brandsch, G., Die Martin-Felmer-Handschrift, 1935.

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Für die Bestimmung der Herkunft der Siebenbürger Sachsen sind die Urkunden der ungarischen Kanzlei, des siebenbürgischen Wojewoden, der päpstlichen Kurie und des siebenbürgischen Bistums wichtiger als die wenigen deutschen Quellen. Diese enthalten juristische Elemente und regeln die Beziehungen zwischen dem ausstellenden Forum und einer bestimmten sächsischen Siedlergruppe. 9 Alle sind aber erst nach der Kolonisation verfasst worden und sind deswegen nur indirekte Quellen zur Erforschung der Herkunftsfragen. Bei der Untersuchung der ältesten Urkunden, in denen Siedlernamen vorkommen, fiel auf, dass die frühesten Dokumente die Sachsen mit verschiedenen Namen benennen und dass offenbar nicht alle Siedler Deutsche waren. 10 Die Sprachwissenschaftler versuchten zu klären, inwieweit die drei Volksnamen – Teutonen, Flandern und Sachsen – der ethnischen Realität entsprechen. Die Untersuchungen aufgrund des Studiums der sächsischen Mundarten haben ergeben, dass alle drei Volkselemente (sowie auch andere) sich mit der Mundart der Siebenbürger Sachsen belegen lassen. 11 Andere Quellen, die für die Erforschung der siebenbürgisch-sächsischen Herkunft nützlich sind, „bilden die verschiedenen Elemente der Sachkultur“. Man hat versucht, die abendländischen Vorbilder für die Bauweise der sächsischen Kirchen-, Wohn- und Befestigungsbauten auszumachen. 12 Es ist aber fraglich, inwiefern die romanischen Kirchen und andere Bauten Siebenbürgens den Typus der Urheimat widerspiegeln: die zu vergleichenden Baudenkmäler entstammen meist einer Zeit, zu der die erste Siedlergeneration nicht mehr lebte. Zusammenfassend sind die Siebenbürger Sachsen „nicht nur die älteste, sondern auch eigenartigste auslandsdeutsche Sprachgruppe ... als das Musterknabenhafte sächsischer Eigenart: ein Klammern an Altbewährtem in Volkskunst, Volksgut und kirchlichen Traditionen, die auf den Landstrich an Rhein und Mosel weisen, an Mundart, Geselligkeit und jene Lust, wie sie zum Surren des Spinnrockens Lieder, Sagen und Märchen, Geschichte und Geschichten weitergeben.“ Und maßgebend ist auch „das Festhalten an einem unverwechselbaren Lebensstil, an längst überholten Formen deutschen Gemeinwesens“, wie es der Kronstädter Adolf Meschendörfer mit „Anders rauschen die Brunnen, anders rinnt hier die Zeit“ umschreibt. 13 ___________ 9

Nägler (Fn. 3), S. 92–93. Vgl. dazu Klein, K. K., Der Sachsenname als Geschichtsquelle, in: Transylvanica, 1963, S. 143–159. 11 Klein, K. K., Luxemburg und Siebenbürgen, 1966, S. 30–34. 12 Nägler (Fn. 3), S. 96–103. 13 Marienburg, F. G., Die Siebenbürger Sachsen ... ein Stamm für die Ewigkeit, Vorwort, in: Lägrin, B. G., Unvergessene Heimat Siebenbürgen. Städte, Landschaften und Menschen auf alten Fotos, 1995, S. 5. 10

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Ein wichtiges Problem ist der Versuch, zwischen der deutschen und der sächsischen Identität zu unterscheiden. Diese Art, mit dem siebenbürgischsächsischen Selbstverständnis umzugehen, ist schwierig. Hier soll nur darauf hingewiesen werden, dass aus dem kulturell-sprachlich-ethischen Prädikat „deutsch“ im Laufe der Zeit eine politische Botschaft entstanden ist. Es ist unbestritten, dass in den Schulen der Siebenbürger Sachsen, auf deren hohes Alter (1334) sie stolz sind, bis tief ins 19. Jahrhundert aus deutschen Texten (hauptsächlich aus der Luther-Bibel) sächsisch gelesen wurde. 14 Das erschwerte das Lesenlernen unsagbar, und Friedrich Teutsch missbilligt diese Praxis: er räumt ein, dass „unter den Sachsen das Hochdeutsche fast gar nicht verstanden wurde“. 15 Die „In-eins-Setzung von deutsch und sächsisch in den historischen Darstellungen wurde und wird so selbstverständlich vorausgesetzt, dass mögliche Unterscheidungskriterien zwischen den beiden Begriffen gar nicht in Betracht gezogen worden sind (...)“, berechtigterweise deutet aber Paul Philippi an, dass „diese Unterscheidung eine Aufgabe von Interesse ist“. 16 Zur aktuellen Situation des Unterschieds zwischen „deutsch“ und „sächsisch“ muss unterstrichen werden, dass um 1790 „sächsisch“ noch das Element des Rechts, der Verfassung und damit den Gegenstand politischen Wollens bezeichnet, so „bezeichnet es jetzt das Element der Folklore. Sächsisch ist zur Mundart ‚abgestuft‘: die soll man lieben, aber deutsch zu sein und zu bleiben ist zum Inhalt des politischen Selbstbewusstseins und zum Ziel des politischen Wollens und Handelns aufgerückt.“ 17 Schlussfolgernd stellt sich die Frage, ob in dem Falle der Siebenbürger Sachsen von einer unvollendeten Nation die Rede sein kann, deren Entwicklungsvorgang abgebrochen wurde. Dazu stellt sich aber eine noch wichtigere Frage, und zwar, ob nur staatlich verfasste Gesellschaften/Ethnien als Nation gelten können. Die Beantwortung dieser Frage ist für die politische Existenz und staatsrechtliche Wertung von Minderheitengruppen lebenswichtig – und auch ganz besonders für das Schicksal der Siebenbürger Sachsen, die heute in großer Zahl nach Deutschland ausgewandert sind, wo sie ihre Identität als einzigartige Volksgruppe nicht mehr bewahren können. Trotzdem ist das Zugehörigkeitsgefühl der Sachsen zu Siebenbürgen nicht verlorengegangen. Aus der Ferne werden viele Initiativen unternommen, wo___________ 14

Philippi, P., „Deutsch“ wird „sächsisch“ – „sächsisch“ wird „deutsch“. Referat am 16.09.2006 bei der Jahrestagung des AKSL in Berlin über „Unvollendete Nationsbildung – Projekte, Hindernisse, Alternativen im östlichen Europa – Siebenbürgen im Vergleich“, S. 2. 15 Vgl. Teutsch, F., Geschichte der Siebenbürger Sachsen für das sächsische Volk, II. Band, 1907, S. 260. 16 Philippi (Fn. 14), S. 1. 17 Philippi (Fn. 14), S. 3 und 4.

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durch die Solidarität, die aus dem Bewusstsein der Schicksalsgemeinschaft herangewachsen ist, erneut bewiesen wird. Das Heimatgefühl der Siebenbürger Sachsen wird ganz besonders durch die Rolle der Evangelischen Kirche geschützt. Auch „Kirche der Siebenbürger Sachsen“ genannt, ist diese Volkskirche heute ein starkes Symbol des Überlebens der sächsischen Gemeinschaften. Durch die massive Auswanderung der Sachsen sehr zusammengeschrumpft, betont die Kirche, dass ihre Stärke nicht in der Anzahl ihrer Mitglieder besteht. Diese Aussage hat eine außergewöhnliche Macht, Mut einzuflößen, war ja die Kirche der Siebenbürger Sachsen schon in vor-reformatorischer Zeit eine Gemeinde-Kirche. Darin unterschied sie sich innerhalb der Papstkirche von den nachgratianischen Führungsstrukturen und nach der Reformation von den lutherischen Kirchen Deutschlands und Skandinaviens. 18 In diesem Raum war das Schicksal der Felmerer Sachsen keine Ausnahme: sie wanderten unter eigenem Recht ein, hatten ihren ungeschriebenen Codex von Regeln und erfreuten sich ihres Sinnes für self-government. Die Felmerer heirateten nur Ortsansässige, obwohl „die Burschen auch in die Fremde arbeiten gingen“, und zu den ungeschriebenen Verhaltensregeln zählte auch die Selbstverständlichkeit, dass niemand bei der Beerdigung eines Dorfmitgliedes fehlen durfte. 19 In Felmern lebten die Sachsen nach den demokratischen Regeln der Autonomie. Hier ein paar Beispiele aus der 800-jährigen Existenz der Sachsen in der Gemeinde Felmern: Eine wichtige Form der gemeinschaftlichen Solidarität waren die Nachbarschaften. Der Nachbarvater wurde offen gewählt. Die wichtigsten Kriterien waren Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit, beispielhaftes Arbeiten und organisatorisches Talent. Auch die Presbyter hatten eine wichtige Funktion: der „Knechtvater“ war ein Mann ohne Söhne und der „Maidvater“ ein Mann ohne Töchter. Diese Personen hatten die Rolle, unparteisch in den Konfliktsituationen zu richten. Nach der Abendglocke während der Adventzeit war es den Kindern verboten, sich im Dorf blicken zu lassen. In Notfällen oder wenn sie von Erwachsenen losgeschickt wurden, mussten sie dies unaufgefordert am nächsten Tag dem Lehrer in der Schule melden. 20 Hier wird deutlich, dass diese Regeln durch ihre charakterbildende Funktion für die Erziehung sehr wichtig waren. Am Nachmittag des Ostermontags wurde im Schulgarten getanzt: die Mädchen durften jedes je einen Tanz nicht absagen oder abbrechen. Das wäre eine Beleidigung gewesen und wurde mit Bußgeld bestraft. Für Da___________ 18 Siehe Philippi, P., Kirche und Politik. Siebenbürgische Anamnesen und Diagnosen aus fünf Jahrzehnten, Band 2, 2006. 19 Ungar, G., Eine Chronik der Gemeinde Felmern. Zu Ehren des 800-jährigen Bestehens von Felmern, 2002, S. 40 und 147. 20 Ungar (Fn. 19), S. 139.

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menwahl galt das Gleiche. 21 Klare Regeln galten auch für die Eheschließung. Am Hochzeitstag bat das junge Ehepaar Eltern und Paten, Pfarrer und Lehrer um Verzeihung, um gereinigt in die Ehe einzutreten. Die Paten und Pfarrer waren diejenigen, die man um Rat bitten konnte. Symbolisch war für die Felmerer Sachsen das so genannte Nachbarzeichen. Dieses war ein handgroßes, herzförmig geschnitztes Holzbrett, das beim jeweiligen Nachbarvater aufbewahrt wurde. Darauf war die Nummer der Nachbarschaft geschrieben und jedesmal, wenn es umging, begleitete es eine Verordnung des Nachbarvaters. Zum Beispiel wurden so Beerdigungen bekanntgemacht oder angeordnet, in den nächsten Tagen Waldarbeit oder Kirchenarbeit zu leisten. Der Nachbarvater trug das Nachbarzeichen zum ersten Haus der Nachbarschaft, von dort trug der Empfänger es zum nächsten Haus und überbrachte die Botschaft. So ging es von Haus zu Haus: der Letzte brachte es dem Nachbarvater zurück. Um Streit zu meiden, gingen alle Wirte zugleich zum gleichen Feld arbeiten. Es war eine Art gemeinsames Arbeiten, und keiner konnte die Abwesenheit der anderen nützen, um Ernte zu stehlen. Diesen Beispielen kann entnommen werden, dass die festen Regeln das Solidaritätsgefühl der Minderheit stärken sollten. Sehr verbunden mit ethischen Werten fehlten ihnen jedoch weder die Sanktion noch die Autorität respektiert zu werden. Seit 1. Januar 2007 ist Rumänien Mitgliedstaat der Europäischen Union geworden. Der erträumte europäische Raum ohne Grenzen öffnet neue Chancen für die Zukunft der sächsischen Minderheit. Die Bindung der Sachsen an den deutschen Kulturraum soll ihre Position als Brücke zwischen Rumänien und den westeuropäischen Staaten stärken, gleich, ob es noch welche geben wird, die nach Rumänien zurücksiedeln werden oder nicht. Dadurch wird auch die Hoffnung genährt, dass die Sachsen sich einfacher unter den Bedingungen des rumänischen Staatswesens behaupten können. Denn der aktuelle rumänische Staat zeichnet sich durch heftigen Nationalismus aus, in dem die Minderheiten zwar verfassungsrechtlich anerkannt, aber praktisch als Fremdlinge behandelt werden. Der wichtige Grundsatz der Politik, dass die Mehrheit großzügig sein muss, um von den Minderheiten Loyalität erwarten zu dürfen, ist unter diesen Bedingungen schwierig. Die juristischen und politischen Dokumente der Europäischen Union versuchen, ein neues Konzept der Staatsangehörigkeit zu erarbeiten, das hauptsächlich auf bürgerlichen Werten beruht. Doch die rumänische Verfassung baut noch immer auf den klassischen Konzepten der Nation auf. Einerseits bestimmt Artikel 4, dass „Rumänien die einheitliche Heimat“ aller Bürger ist, unabhängig von Ethnie, politischer Überzeugung, Rasse oder sozialem Stand. Andererseits aber zeigt Artikel 7, dass der rumänische Staat die Beziehungen zu den „im Ausland lebenden Rumänen“ stärken soll. Das heißt, ___________ 21

Ungar (Fn. 19), S. 151.

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dass die rumänische Nation gemäß Artikel 4 auf dem Konzept „Demos“ beruht, während Artikel 7 das Konzept „Ethnos“ als theoretische Basis der Nation in der verfassungsrechtlichen Definition verwendet. Dieses stellt einen logischen Widerspruch dar, der aber nicht in der Verfassungsauslegung diskutiert wird. Diese Situation zeigt, dass der europäische Sinn des Verfassungspatriotismus und die auf bürgerlichen Werten beruhenden verfassungsrechtlichen Konzepte in Rumänien noch fremde Begriffe sind. In diesem Kontext ist die Mitgliedschaft Rumäniens in der Europäischen Union der einzige politische Weg zur demokratischen Integration der Minderheiten. Mit dem gemeinsamen Europa ist viel Hoffnung und Erwartung verbunden. Die wenigen Sachsen, die vielleicht an Rückwanderung denken, werden in dem Prozess der Integration sehr aktiv werden und bleiben.

Menschenrechte und Minderheitenschutz im Verfassungsrecht Äthiopiens Heinrich Scholler

I. Allgemeine Situation 1. Ausgangspunkt Dieser Beitrag soll nicht nur dem Gedenken an den Wissenschaftler Dieter Blumenwitz, sondern auch seinem persönlichen Interesse und seinem Engagement gegenüber Äthiopien Ausdruck verleihen. Er hat sich ganz besonders für dieses Land und damit auch für die Grundrechte der Äthiopier mit Rat und Tat eingesetzt. Ein Land, welches unter den afrikanischen Ländern zu den so genannten LDC-Gebieten – least developed countries –, gehört, das durch Hunger, Krieg und Gewaltherrschaft seit Jahren von sich reden macht. Im Jahr 1991 erschien ein Buch, dessen Titel treffend die Situation Äthiopiens kennzeichnet: „Evil Days, 30 Years of War and Famine“ 1 . Merkmale wie Feudalismus, Ausbeutung und Rückständigkeit haben das Bild Äthiopiens ebenso verdüstert, wie Terror und Gewaltherrschaft unter Mengistu. Die neuen Unruhen die 2005 nach den Wahlen ausbrachen und zu massiven Grundrechtsverletzungen vor allem gegenüber Minoritäten führten, haben Zweifel hervorgerufen, ob die neue Verfassung und ihre Instrumente in der Lage sind, dem Staate und seinem aus über 80 verschiedenen Gruppierungen zusammengesetzten Volk die notwendige demokratische Freiheit und rechtliche Sicherheit zu geben 2 . Allerdings lässt der erste Freispruch seit Beginn der Unruhen durch den High Court im März 2006 hoffen, dass die Gerichtsbarkeit ihre Unabhängigkeit noch nicht völlig verloren hat3 . ___________ 1 Waal, A. de, Evil Days: Thirty Years of War and Famine in Ethiopia (Africa Watch Report), 1991. 2 Unruhen weiten sich aus – Kriegsgefahr wächst, in: FAZ vom 04.11.2005. 3 Seven Days, Vol. 13 No. 3, March 27, 2006 by Ethiopia Seven Days Update, A WAAG Communications News Digest Service; mit der verschlechterten Menschenrechtssituation hat sich das Europäische Parlament sehr differenziert zuletzt in seiner Resolution vom 15.12.2005 „resolution on the situation in Ethiopia and the new border conflict“ geäußert.

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Dennoch blieben in der deutschen, ja in der europäischen Öffentlichkeit positive Charakteristika unvergessen: ein Land, das auch den Namen des sagenreichen Goldlandes Punt trug, dessen jüdisch-christliches Reich früher begann und länger dauerte als das der christlichen römischen Kaiser 4 , eine Herrschaft, die sich zurückführte auf den Sohn des legendären Königs Salomon und seiner Verbindung mit der sabäischen Königin. Dieser Sohn, Menelik I., soll der Sage nach die Bundeslade nach Aksum gebracht haben, wo noch heute Touristen die Obelisken von über 320 Königen bewundern können. Die alte Kaiserstadt Aksum 5 , in der Region Tigre gelegen, hat sowohl für den konkurrierenden Herrschaftsanspruch der Tigre und der Amharas Bedeutung, als auch für den Herrschaftsanspruch des christlichen Nordens gegenüber dem Ende des 19. Jahrhunderts „kolonialisierten“ Süden. 6,7 Die Unabhängigkeitsforderungen der Oromos, die ca. 45 % der äthiopischen Bevölkerung ausmachen, gründen zu einem erheblichen Teil in der Zurückweisung dieser Kolonialisierungs- und Zivilisationsbewegung des äthiopischen Nordens gegenüber dem nach traditionellen Glauben lebenden Süden Äthiopiens. 8 Im Rahmen der Garantie des eingeforderten Selbstbestimmungsrechts der ethnischen Gruppierungen – Nations, Nationalities and Peoples – ist in den südlichen Stämmen und Nationalitäten der Gebrauch ihrer Sprache in Schulen und vor Gericht garantiert worden9 , wie auch die Anwendung des Gewohnheitsrechtes vor traditionellen Gerichten, die noch eingeführt werden sollen. Die historische Verwandtschaft zu dem alten Königreich der Sabäer und zur salomonischen Linie ist heute noch politisch von Bedeutung, weil sich dadurch eine besondere Beziehung zu Israel entwickelt hat (israelische Militärberater und Entwicklungshelfer spielten eine ebenso wichtige Rolle wie die so genannten „schwarzen“ Juden [Falasha], die nach Israel ausgeflogen wurden). Der vor längerer Zeit ausgebrochene Konflikt mit ___________ 4

Martínez d’Alòs-Moner, A., Christian Ethiopia, The Temptation of an African Polity, in: „Studia Aethiopica“. Festschrift für S. Uhlig, 2004, S. 165 ff.; Scholler, H., Mythos und Wirklichkeit Christlicher Imperien am Ende des Zweiten Jahrtausends: Äthiopien und die Deutsche Reichsidee, ibid., S. 221 ff. 5 Munro-Hay, St., The „Coronation“ of the Emperors on Ethiopia at Aksum (1), S. 177 ff. 6 Amborn, H., Polykephale Gesellschaften Südwest-Äthiopiens zu Zeiten der Sklavenjagden, in: Brüne, H. / Scholler, H. (Hrsg.), Auf dem Weg zum modernen Äthiopien. Festschrift für Bairu Tafla, 2006, S. 1 ff. 7 Novati, G. C., Nationalism and Ethnicism in the Post-Colonial Periphery: the Case of the Horn of Africa, in: Grande, E. (Hrsg.), Transplants Innovation and Legal Tradition in the Horn of Africa, 1995, S. 29 ff. 8 Mattei, U., The New Ethiopian Constitution: First Thoughts on Ethnical Federalism and Reception of Western Institutions, in: Transplants, Innovation and Legal Tradition in the Horn of Africa, 1995, S. 111 ff. 9 Mekonnen, F., Teaching in a Regional Language: Attitude of Student Teachers towards Teaching in the Oromo Language, in: Marcus, H. G. (Hrsg.), New Trends in Ethiopian Studies, Vol. I, 1994, S. 165 ff.

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Jemen, der eritreische Inseln besetzt hat, hat ebenfalls nicht nur die Konfliktskomponente Öl, sondern auch historisch-kulturelle Elemente. Im Mai 1998 brach überraschend ein neuer Konflikt zwischen Äthiopien und Eritrea aus, der trotz der politischen Intervention der USA und der EU sowie des Elf-Punkte-Programms der OAU für einen Waffenstillstand weiter eskalierte und zu einer erfolgreichen Offensive Äthiopiens im Februar 1999 führte. Die besetzten Territorien von Badema, Shiraro und Zelambessa wurden zurückerobert und am 28. Februar 1999 nahm Eritrea das Elf-Punkte-Programm als Grundlage für einen Waffenstillstand an. 10

2. Geopolitische Lage a) Geopolitisch liegt Äthiopien zusammen mit dem seit kurzer Zeit abgetrennten und souveränen Eritrea auf dem Horn von Afrika 11 . Dazu gehören Somalia 12 , Sudan und Djibouti. Das Horn von Afrika wiederum ist ein Teil Ost-Afrikas, zu dem nach Süden ausgreifend auch Kenia, Sambia, Tansania, Uganda und Malawi gehören. Ein weiteres Spezifikum Äthiopiens ist, dass es zu den so genannten Brückenländern Afrikas gehört, das sind solche Staaten oder politische Einheiten, die das weiße Nordafrika mit dem schwarzen Zentral-West- und Ost-Afrika verbinden; dazu gehören neben Äthiopien auch der Sudan und Mauretanien. b) Im Norden und Nordosten Äthiopiens ist die Lage durch die Sezession oder Dismembration Eritreas 13 gekennzeichnet. Nach einem 30-jährigen Bürgerkrieg wurde nach dem Sieg der Aufstandsbewegung der Tigre 14 in Gesamtäthiopien Eritrea 15 von Äthiopien abgetrennt. Diese Abtrennung wurde durch ein Referendum und internationale Anerkennung besiegelt. Eritrea verfügt noch nicht über eine Verfassung im Gegensatz zu Äthiopien, das sich am

___________ 10 Castellani, L., Eritrea: il processo di formazione di uno stato africano, in: Transplants, Innovation and Legal Tradition in the Horn of Africa, 1995, S. 239 ff. 11 Novati (Fn. 7); Mattei (Fn. 8). 12 Scholler, H., Somalias langer Weg zur neuen Staatlichkeit, in: Recht in Afrika 2004/2, S. 229 ff. 13 Kendie, D., The Cold War Dimensions of the Eritrean Conflict 1946–1991, in: New Trends in Ethiopian Studies, Vol. I, 1994, S. 596 ff. 14 Aus dem Aufstand der TPLF wurde durch politische Erweiterung die seitdem herrschende EPRDF (Ethiopian People’s Revolutionary Democratic Front) in welcher allerdings die Gruppe der Tigre die führende Rolle spielt. 15 Asnake, A., Addis Zemen and the Eritrean Issue: A Review of Articles, 1941– 1947.

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8. Dezember 1994 eine Verfassung gegeben hat 16 . Auf dem Territorium des unabhängig und souverän gewordenen Eritreas 17 befinden sich die wichtigen Häfen, die früher Äthiopien Zugang zum Roten Meer erlaubt haben: Massawa und Assab. Äthiopien ist damit ein Binnenland geworden, doch wollte es durch Verträge mit Eritrea die Nutzungen der Häfen aufrechterhalten. Ebenfalls im Nordosten ist die Abgrenzung zu Somalia vor allem in Bezug auf das ehemalige italienische Somaliland umstritten 18 . Die äthiopischen Völkerrechtler vertreten die Auffassung, dass zumindest Somalia an die mit Italien geschlossenen Grenzverträge gebunden ist. Dennoch kann der Umstand nicht übersehen werden, dass in der Ogaden-Provinz, die an Somalia grenzt, lange Zeit ein Bürgerkriegszustand oder ein bürgerkriegsähnlicher Zustand herrschte. Ein weiterer wichtiger geopolitischer Faktor ist der Umstand, dass Äthiopien als „Watertower“ Nordostafrikas gilt 19 . In Äthiopien entspringt der Blaue Nil, der nicht nur Äthiopien, sondern auch besonders Sudan und Ägypten, zwei regenarme Flächenstaaten, mit Wasser versorgt. Nach Norden ausgreifend finden sich erst in der Türkei ähnliche Süßwasserreserven. Nicht von ungefähr ist 1990 der Vorschlag gemacht worden, dass die Türkei zum Preis von 20 Billionen US-Dollar Wasser an die arabischen Staaten und an Israel verkaufen könnte. Würde Äthiopien einen ähnlichen Handelsvorschlag machen, so wäre der Wert des an den Sudan und Ägypten gelieferten Nil-Wassers mit dem Dreifachen des äthiopischen Bruttosozialproduktes zu veranschlagen. 86 % des NilWassers = 72 Billionen Kubikmeter (von insgesamt 84 Billionen Kubikmeter) fließen aus Äthiopien in diese nieder gelegenen Anrainer-Staaten des Nil. Äthiopien braucht nur 3 % des Nil-Wassers zur Bewässerung eigener Anbauflächen. Dennoch werden Versuche Äthiopiens, mehr Nil-Wasser zur Bewässerung zu verwenden, ständig von Sudan und Ägypten nicht nur kritisiert, sondern zum Vorwand von Drohungen gemacht. Dabei dürfte der Umstand, dass Ägypten über eine sehr große und rasch wachsende Population verfügt, nicht ___________ 16 Scholler, H., Jural Postulates in the New Ethiopian Law: A New Approach to Law and Legal Education in Ethiopia, in: New Trends in Ethiopian Studies, Vol. II, 1994; S. 998 ff.; ders., La nouvelle constitution ethiopienne et ses effets sur l’ ordre juridique: La reception du droit occidental en Ethiopie (2), in: Verfassung und Recht in Übersee 2000, S. 454–469; Brietzke, P., Ethiopia’s „Leap in the Dark“: „Private“ Federalism and Self-Determination in the New Constitution, in: Transplants Innovation and Legal Tradition in the Horn of Africa, 1995, S. 65 ff. 17 Jembere, A., Adherence to International Boundary Treaty, Lasting Solution to the Conflict in the Horn of Africa: Ethiopia and Somalia, in: Zwede, B. / Pankhurst, R. / Beyene, T. (Hrsg.), Proceedings of the Eleventh International Conference of Ethiopian Studies, Vol. II., 1994, S. 681 ff. 18 Escher, R., Nationalism and Particularism of the Ogaden Somali in Ethiopia, in: New Trends in Ethiopian Studies, Vol. I, 1994, S. 642 ff. 19 Lemma, L., Ethiopia and Egypt: Towards an Appraisal of Nile Water Sharing in the Context of the Helsinki Rules, in: Zwede/Pankhurst/Bervene (Fn. 17), S. 755 ff.

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ins Feld geführt werden, da die äthiopische Population die ägyptische Population trotz der massiven Einschränkung durch Hunger und Krieg fast erreicht hat 20 . (Es gibt auch Schätzungen, die bereits heute schon von einer höheren Bevölkerungszahl Äthiopiens als der Ägyptens ausgehen.) Der Disput um die Wassernutzung und die Wasserentnahme in Bezug auf den Nil erzeugt eine ständige politische Spannung zwischen Äthiopien und den regenarmen, nördlich gelegenen Großflächenstaaten Sudan und Ägypten. Ein wichtiger Schritt zur friedlichen Regelung der Wasserverteilung war die Gründung der Nile-Basin-Initiative im Jahre 1999, die über eine entsprechende Kommission der zehn beteiligten Länder verfügt 21 . Erwähnenswert ist hier einmal aus jüngster Zeit das Energy Ministers Meeting in Kairo unter Beteiligung der drei großen Flächenstaaten: Ägypten, Äthiopien und Sudan und das Kolloquium „Avoiding a Water War in the Nile Basin“ in New Mexico im März unter Führung der USA. Diese Konferenzen zeigen die wachsende Illabilität im Horn von Afrika und damit verbunden das Ansteigen der politischen Spannung. c) Eine weitere besondere Bedeutung für Afrika hat Addis Abeba aus zwei zusätzlichen Gründen: Es ist die Stadt, in welcher die OAU und die ECA ihren Sitz haben, Addis Abeba ist die Stadt, die neben New York und Genf die meisten internationalen Organisationen und diplomatischen Vertretungen beherbergt. Grund hierfür ist schließlich ein historischer, denn Äthiopien hat diese Rolle in Afrika nicht nur wegen des Sieges über die Italiener in der Schlacht zu Adua 1896 errungen, bei welcher die italienische Armee geschlagen wurde, sondern aufgrund des Umstandes, dass Äthiopien nie Kolonie gewesen ist. d) Zu beachten ist, dass die Aufstandsbewegungen in Eritrea – EPLF Eritrean People’s Liberation Front und die ELF Eritrean Liberation Front – genauso wie die spätere TPLF (aus Tigray) nicht nur lokale revolutionäre Bürgerkriegsbewegungen, sondern dass sie im Ost-West-Konflikt Teile von Stellvertreter-Kriegen waren. Ganz deutlich wurde dies am Konflikt zwischen Äthiopien und Somalia im Jahre 1977/78. Die Sowjetunion, die ursprünglich mit Eritrea vertraglich verbunden war, wechselte ihren Partner und unterstützte fortan das unter Präsident Mengistu nach links abgeschwenkte Äthiopien. Andererseits ließen die USA Äthiopien alleine und wandten sich von ihrem ursprünglich Verbündeten ab 22 . ___________ 20

Einwohnerzahl Ägyptens: 77.505.756 (Stand Juli 2005); Einwohnerzahl Äthiopiens: 73.053.287 (Stand Juli 2005). 21 Unter Beteiligung aller zehn Länder (Ägypten, Äthiopien, Burundi, Eritrea, Kenia, Kongo, Ruanda, Sudan, Tansania und Uganda) wird hier ein strategisches Aktionsprogramm erarbeitet, das Investitionen ermöglichen soll. 22 Zu den Grenzproblemen siehe Jembere (Fn. 17).

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e) Im Jahr 1995 verschärfte sich der Konflikt mit dem Sudan aufgrund des allerdings fehlgeschlagenen Attentats auf den ägyptischen Präsidenten Mubarak. Äthiopien, von den USA unterstützt, steht gegen den fundamentalistischen Sudan, der vor allem vom Iran Hilfe erhält. Das überwiegend noch im Christentum verwurzelte Volk bildete für die Vereinigten Staaten von Amerika wohl einen ausschlaggebenden Grund, sich mit der äthiopischen Regierung im Kampf gegen den drohenden islamistischen Terror zu verbinden, denn eine größere Instabilität in Äthiopien würde das Land zu einem interessanten Ziel für terroristische Zentren machen können. In mancher Hinsicht gleicht die Politik der Vereinigten Staaten in Bezug auf Äthiopien heute wieder derjenigen, die sie bis zum Ende des Kaiserreiches ausgeübt hatten.

II. Die Menschenrechte – Die Verankerung der Menschenrechte in der neuen äthiopischen Verfassung Die äthiopische Verfassung vom 8. Dezember 1994 23 regelt in elf Kapiteln den verfassungsrechtlich relevanten Stoff 24,25 . Sie trägt den Titel: The Constitution of the Federal Democratic Republic of Ethiopia. Für die nachfolgende Betrachtung sind vor allem Kapitel 2 und 3 von Bedeutung. Im 2. Kapitel werden unter der Überschrift: Fundamental Principles die Souveränität (Art. 8), die Verfassungssuprematie (Art. 8 und 9) und die Menschenrechte und die demokratischen Rechte (Art. 10) neben anderen grundsätzlichen Fragen, wie z. B. die Verantwortlichkeit der Regierung (Art. 12) behandelt. Die Menschenrechte werden dann im 3. Kapitel unter der Titel-Überschrift „Fundamental Rights and Freedoms“ im Detail geregelt. Sie umfassen die Artikel 13 bis 44. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Regelung in Art. 13 ___________ 23 Die Verfassung wurde am 08.12.1994 vom Parlament beschlossen und im Mai 1995 zum Gegenstand eines Referendums gemacht; s. a. meine Besprechung zu Fasil Nahum Constitution for a Nation of Nations: The Ethiopian Prospect – Transplants, Innovation and Legal Tradition in the Horn of Africa, in: Verfassung und Recht in Übersee, 2001, S. 577–579, sowie Transplants, Innovation and Legal Tradition in the Horn of Africa – Modelli Autoctoni e modelli d’importazione nei sisemi giurdici del Corno d’Africa AETHIOPICA, Vol. 5 (2002), S. 267. 24 Castellani (Fn. 10); Scholler, H., The Ethiopian Federation of 1952: an Obsolete Model or a Guide for the Future?, in: Woodward, P. / Forsyth, M. (Hrsg.), Conflict and Peace in the Horn of Africa, 1994, S. 10 ff. 25 Zur Verfassung und Rechtsentwicklung Äthiopiens siehe die Beiträge des Verfassers in: Ethiopian Constitutional and Legal Development, Vol. I: Essays on Ethiopian Constitutional Development, 2005; ders., Die Äthiopische Verfassung – ein modernes Modell für eine traditionelle Kultur in Afrika, in: Verfassung und Recht in Übersee (VRÜ) 2007, S. 159.

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Abs. 2, der folgenden Wortlaut hat: „The fundamental rights and liberties contained in this Chapter shall be interpreted in conformity with the Universal Declaration of Human Rights, international human rights covenants, humanitarian conventions and with the principles of other relevant international instruments which Ethiopia had accepted or ratified.“ Die Bindung der drei Gewalten, der Gesetzgebung, der Verwaltung und der Rechtsprechung, an die Grundrechte ist ebenfalls vorgesehen. Die Besonderheit der Regelung in Art. 13 Abs. 2 liegt nun darin, dass die internationalen Menschenrechte, vor allem aufgrund des International Convenant on Civil and Political Rights, nicht Teil der äthiopischen Verfassung sind (Art. 9 Abs. 4), aber doch zur Interpretation herangezogen werden müssen, um ein Auseinanderdriften der beiden menschenrechtlichen Regelungssysteme zu verhindern. Das Kapitel über die Menschenrechte behandelt die Menschenrechte im engeren Sinne (Art. 14–28) und die demokratischen Rechte (Democratic Rights Art. 29–44). Zu den Human Rights zählen das Recht auf Leben, Sicherheit und Freiheit der Person (Art. 15–17). Der folgende Art. 18 verbietet in detaillierter Weise die unmenschliche Behandlung, Sklaverei, Knechtschaft und Zwangsarbeit. Im Vergleich zu Art. 5 der African Charter on Human and Peoples’ Rights 26 ist die äthiopische Menschenrechts-Charta bzw. der Katalog viel weiter. 27 Der Zweck des Art. 18 besteht in dem Schutz vor Gericht (Art. 7 der African Charta); Art. 21 garantiert die Rechte von in Gewahrsam genommenen Personen. Art. 32 und 33 verbieten die Retroaktivität von strafrechtlichen Maßnahmen und schützen vor Doppelbestrafung. Auch Würde und Ruf werden als Menschenrechte in Art. 24 geschützt; Privatsphäre ist durch Art. 25, Religionsfreiheit durch Art. 27 garantiert. Der Katalog der „Democratic Rights“ beginnt mit Art. 29, der Meinungs- und Pressefreiheit (Art. 9 der African Charta). Auch hier ist die äthiopische Regelung weiter als die Regelung der African Charta. (RSA [Verfassung der Republik Südafrika] Art. 22 und Art. 25). Die Versammlungsfreiheit, die Demonstrations- und Petitionsfreiheit werden von Art. 30, 31 und 32 geregelt 28 (vgl. Art. 10, 11 und 12 der African ___________ 26

Zu finden unter www.africa-union.org/official_documents. Im Nachfolgenden werden insbesondere dort, wo es sich um den menschenrechtlichen Schutz von Minderheiten handelt, sowohl die Menschenrechte in der Südafrikanischen Interimsverfassung von 1994 als auch die OAU-Charta (abgedruckt in deutscher Übersetzung in: Jahrbuch für Afrikanisches Recht, Bd. 2, Hrsg.: Madlener, K., 1983) als Vergleichsmaßstab herangezogen. 28 Nach der Bekanntgabe der Wahlergebnisse im Mai 2005 gab es in ganz Äthiopien umfangreiche Protestdemonstrationen, da man die Auszählung anzweifelte. 27

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Charta on Human and Peoples’ Rights). Sehr fortschrittlich ist die Verfassung in Bezug auf die Freiheit der Eheschließung, den Schutz der Ehe und der Familie und der Gleichheitsgarantie für Frauen (Art. 34 und 35). Der Schutz des Kindes ist von Art. 36 in Anlehnung an den internationalen Pakt realisiert29 . Eine ganz besonders wichtige Vorschrift für das Problem des Minderheitenschutzes ist Art. 39. Er garantiert das Recht von „Nationalities and Peoples“ auf Selbstbestimmung. Dieser Begriff „Nations, Nationalities and Peoples“ taucht auch an anderer Stelle der Verfassung auf, so z. B. in der Präambel, und ist auch bereits in der Transitional-Period-Charta von 1991 zu finden. Anschließend findet sich das Eigentumsrecht, das allerdings in Bezug auf Grund und Boden – gleichgültig ob Agrar- oder Bauland – Individualeigentum ausschließt 30 . Folgende Bestimmungen des Minderheitenschutzes finden sich im Grundrechtskatalog: – Allgemeinheit und Gleichheit des Staatsbürgerrechtes bei Abstammung von einem oder beiden Elternteilen mit äthiopischer Staatsbürgerschaft (Art. 6 Abs. 1); – Beachtung der Menschenrechte und „Democratic Rights of Peoples“ (Art. 10 Abs. 2) (RSA Art. 6 und Art. 8; OAU Art. 2 und Art. 3); – Informationsrecht im Falle der Verhaftung in der eigenen Sprache (Art. 19 Abs. 1 und 2); – Recht auf einen Verteidiger, der die eigene Sprache spricht (Art. 20 Abs. 7) (RSA Art. 25; OAU Art. 7); – gleiche Behandlung ohne Rücksicht auf Geschlecht, Sprache, Religion, politische oder soziale Herkunft, Vermögen, Geburt oder Status (Art. 25) (RSA Art. 8; OAU Art. 2); – Freiheit des Glaubens und der Religion, auch für religiöse Minoritäten, also ohne Einschränkung (Art. 27) (RSA Art. 14; OAU Art. 8 und Art. 2); – Gleichheit der Freiheit zur Eheschließung ohne Rücksicht auf Rasse, Nationalität oder Religion; – Gleichheit der Frauen (RSA Art. 8 Abs. 2; OAU Art 2 und Art. 18). Dieser Artikel (RSA Art. 8 Abs. 2) soll hier in vollem Wortlaut wiedergegeben werden, weil er in seinem dritten Abschnitt die so genannte „affirmative ac___________ 29 Convention Against Torture and Other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment, 1984. 30 Abdurazak, H. / Mackinnon, J. / Mohammed, N., The Dynamics of the Ethiopian Private Sector during the Transition from Stalinism to a Market-led Economie, in: New Trends in Ethiopian Studies, Vol. II, 1994, S. 378 ff.; Amare, Y., Land Distribution and Socio-Economic Changes in Ethiopia: The Case of Wogda, Nothern Shewa, in: New Trends in Ethiopian Studies, Vol. II, 1994, S. 636 ff.

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tion“ enthält, worunter man nach US-Recht die Bevorzugung einer bisher benachteiligten Gruppe versteht: „(a) This section shall not preclude measures designed to achieve the adequate protection and advancement of persons or groups or categories of persons disadvantaged by unfair discrimination, in order to enable their full and equal enjoyment of all rights and freedoms.“ Wahlrecht (RSA Art. 21): Das Wahlrecht wird garantiert ohne Rücksicht auf Rasse, Farbe und Nationalität, Volkszugehörigkeit, Geschlecht, Sprache und Religion oder politischer oder sonstiger Ausrichtung. Die Rechte auf Selbstbestimmung für Nationen, Nationalitäten und Peoples (Stämme): Diese Bestimmung ist sehr ausführlich. Die Verfassung sieht auch ein Verfahren zur Realisierung dieses Selbstbestimmungsrechts vor, wenn es flagrant und auf dauerhafte Weise verletzt werden sollte. Hierzu lag übrigens ein Alternativ-Entwurf vor. 31 Gleiche Behandlung in arbeitsrechtlicher Hinsicht für Frauen am Arbeitsplatz auch hinsichtlich der Bezahlung (Art. 43 Abs. 1 d sowie Abs. 2). Recht auf Schutz für Alte und Behinderte (RSA Art. 8 Abs. 2).

III. Rechtstechnische Probleme des Schutzmechanismus Die Technik des Menschenrechtsschutzes in der äthiopischen Verfassung unterscheidet sich von anderen Verfassungsurkunden Afrikas. Die frankophonen Staaten Afrikas haben sich für lange Zeit dem französischen Vorbild angeschlossen und die Menschenrechte nur in Präambeln erwähnt. Diese Technik hatte den Vorteil, dass man die unerwünschte oder doch nur beschränkt gewünschte Drittwirkung oder Sozialwirkung der Grundrechte nicht so sehr zu fürchten brauchte. Darunter versteht man die Einwirkung der Grundrechte auf die soziale Wirklichkeit in Afrika vor allem auf den Familien- und Sippenverband. Da er überwiegend Träger der sozialen Verhältnisse und der Absicherung des Einzelnen ist, bedeutet eine Störung oder Zerstörung der Sozialstruktur gleichzeitig eine entscheidende Schwächung der sozialen Sicherung des Einzelnen. In anderen Teilen Afrikas, vor allem im anglophonen Bereich – hier sei die Republik Südafrika und Namibia erwähnt –, sind zwei Tendenzen hinsichtlich der Menschenrechte zu erkennen: Man schließt sich entweder an das kanadische Vorbild und die kanadische Bill of Rights an oder man versucht in Anlehnung an die deutsche Grundrechtstradition eine verwandte oder modifizierte Regelung zu finden. Äthiopien dagegen hat in seinem dritten Kapitel sich weder an die Charta der OAU, welche die Menschenrechte für Afrika international sichern sollte, noch an europäische oder kanadische Vorbilder angelehnt. ___________ 31

Vgl. dazu RSA Art. 31 u. Art. 32; OAU Art. 20, Art. 21, Art. 22 u. Art. 23.

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Äthiopiens Menschenrechtskatalog orientiert sich im Wesentlichen am Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte aus dem Jahr 1966 32 . Diese sehr weitgehende und differenzierte Menschenrechtsgarantie wird auch gleichzeitig in Art. 13 als Grundlage der Interpretation der nationalen Grundrechte herangezogen. Auf der anderen Seite lässt Äthiopien ganz im Gegensatz zu Südafrika keine stark ausgebaute Verfassungsgerichtsbarkeit zu. Das bedeutet, dass Menschenrechte nicht vor den Gerichten oder einem besonderen Verfassungsgericht eingeklagt werden können. In Fällen eines Grundrechtskonfliktes mit dem bundesstaatlichen oder gliedstaatlichen Gesetz entscheidet letzten Endes der Council of Constitutional Inquiry. Allerdings trifft die letzte Entscheidung das House of Federation 33 , ein dem Bundesrat vergleichbares Organ, als Zweite Kammer, welche aufgrund eines eigenen Gesetzes für zuständig erklärt worden ist. Der größte Unterschied zwischen der südafrikanischen und der äthiopischen Lösung der Minderheitenproblematik liegt wohl darin, dass Südafrika ein Verfassungsgericht nach deutschem Vorbild zur Schlichtung berufen hat, während Äthiopien nur eine politische Regelung der Dismembration oder Selbstbestimmung kennt. Allerdings ist dieser Art. 39 so weitgehend, dass man sich fragen kann, ob noch an dem Gedanken einer einheitlichen souveränen Staatsgewalt festgehalten wird, oder ob die einzelnen Nationen, Nationalitäten und Stämme eigene unabgeleitete Souveränitätsrechte haben. Denkbar ist allerdings auch, dass Art. 39 nur die Unabhängigkeit Eritreas verfassungsrechtlich vorbereiten sollte und für das übrige Äthiopien praktisch nicht zur Anwendung kommen sollte. Art. 39 wäre damit ein Einzelfallgesetz im Range einer Verfassungsnorm. Eine Ähnlichkeit besteht aber im kulturellen Bereich. Ähnlich wie in Äthiopien werden auch in Südafrika die verschiedenen regionalen Sprachen weitgehend anerkannt. So z. B. hat jeder nach Art. 31 der Interimsverfassung Südafrikas das Recht, seine Sprache zu benutzen und am kulturellen Leben nach eigener Wahl teilzunehmen. Diese Regelungen in Bezug auf Sprache, Kultur, Gewohnheitsrecht usw. sind nicht nur Korrekturen einer geschichtlichen Vergangenheit, in der sie unterdrückt oder ignoriert wurden, sondern auch Mechanismen, um Spannungen aus dem gesellschaftlichen Körper zu entfernen, die leicht zu Überhitzungen oder gar zu Explosionen führen könnten.

___________ 32

International Covenants on Civil and Political Rights (1966). Siehe hierzu Proclamation No. 250/2001 (Council of Constitutional Inquiry Proclamation) and Proclamation No. 251/2001 (A Proclamation to consolidate the House of Federation of the Federal Democratic Republic of Ethiopia and to define its power and responsibilities), Federal Negarit Gazeta, No.41, 2001. 33

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IV. Institutionelle Sicherung der Menschenrechte auf der Ebene der Verfassung 1. Funktionale Garantie Die Regelung von Art. 13 Abs. 2, wonach die Internationalen Menschenrechtserklärungen oder Chartas zur Auslegung der äthiopischen Menschenrechte herangezogen werden müssen, kann als eine funktionale Sicherung der Übereinstimmung der nationalen mit den internationalen Erklärungen angesehen werden.

2. Human Rights Commission Nach Art. 55 hat das Council of Peoples’ Representative die Befugnis, eine Human Rights Commission zu errichten und mit Kompetenzen auszustatten. Nach Art. 55 Nr. 15 hat das gleiche Organ die Befugnis, einen Ombudsmann zu wählen und diese Einrichtung mit Mitgliedern zu besetzen sowie die Untersuchungsbefugnis dieser Ombudsmann-Einrichtung zu regeln. Dies sind zwei weitere Einrichtungen, die das Interesse der Verfassung zeigen, auf dem Gebiet des Menschenrechtsschutzes außerhalb und neben der Gerichtsbarkeit politische Kontrolleinrichtungen zu haben. Dabei kann der Ombudsmann im gewissen Sinne – wie in den skandinavischen Ländern und Kanada – in etwa die nicht ausgebaute oder fehlende Verwaltungsgerichtsbarkeit ersetzen. Über die Kontrollmöglichkeiten auf Länderebene (regionale Ebene) sind hier keine Ausführungen gemacht worden. Die dem Referenten bekannten regionalen Verfassungen, die noch nicht alle in englischer Sprache vorlagen, versuchen ähnliche Einrichtungen zu schaffen, wie sie die äthiopische Verfassung vom Dezember 1994 auf Zentralebene vorgesehen hat.

V. Minderheitenschutz Die äthiopische Verfassung ist sich durchaus bewusst, dass der Grundrechtsschutz Individualschutz ist und dass daneben aber kollektive Rechte für Minderheiten geschützt werden müssen. Die starke Betonung des Begriffes Nations, Nationalities und Peoples in verschiedenen Teilen der Verfassung (so z. B. Präambel 3. Absatz und vor allem Art. 39 mit der Überschrift: The Right of Nations, Nationalities and Peoples) zeigen neben dem bewussten föderativen Aufbau und der Garantie des Rechts jeder Nationalität auf den eigenen Staat, dass man sich des Schutzes von Minderheiten bewusst ist. Minderheiten werden als Nationalities gleichberechtigt zusammen mit den Peoples neben die

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Nations gestellt, was natürlich zu sehr schwierigen Abgrenzungsproblemen führt. Man betrachte zum Beispiel die unterschiedliche Formulierung im Entwurf der Verfassung in Art. 40 Nr. 3 im Gegensatz zur endgültigen Fassung, in der ursprünglich das Recht an Grund und Boden als Recht der Nations, Nationalities und Peoples bezeichnet wurde, während es später als Recht des Staates und des Volkes (State and People) bezeichnet wird. In Südafrika ist durch Art. 8 der Interimsverfassung ein Grundrecht auf positive Diskriminierung (affirmative action) eingeführt worden. Sie ist allerdings Angriffen ausgesetzt, da behauptet wird, dass sie zu einer Schwächung der Verwaltung, insbesondere der Polizei geführt hat. Der Sinn der „positiven Diskriminierung“ kann auch im Minderheitenschutz liegen, doch hat er in Südafrika als einer bisher als „devided society“ betrachteten sozialen Größe die Funktion der Überwindung der Apartheid. Der Minderheitenschutz als Sprachenschutz, als kultureller Schutz oder als politischer Schutz wird in verschiedenen Normen und Einrichtungen ausgedrückt. Dazu gehört – die Garantie der Gleichheit aller Sprachen neben der amharischen Arbeitssprache (Art. 5 Nr. 2). – Das Recht jeder Nationalität auf eigene Staatlichkeit wird garantiert. Die Southern Region (Region Nr. 7) umfasst eine Vielzahl von Stämmen (Peoples), die das Recht auf die eigene Staatlichkeit nach Art. 47 Nr. 2 haben. Grenzstreitigkeiten und Grenzprobleme sollen nach Art. 48 von den Vertragsstaaten durch Vertrag geregelt werden. Wird ein solcher Vertrag nicht erreicht, dann entscheidet das Bundesparlament. Die Gleichheit der Rechte der verschiedenen Staaten wird ebenfalls in diesem Abschnitt garantiert. In Südafrika ist der Sprachenschutz in Art 3 Abs. 3–6 der Interimsverfassung ausführlich garantiert. Dem Sprachenschutz kommt eine große Bedeutung für die Entspannung zwischen den verschiedenen, oft auch verfeindeten Bevölkerungsgruppen zu. Allerdings ist in Südafrika wie in Äthiopien – das gilt auch für andere afrikanische Staaten – zu beobachten, dass sich zunehmend politische Parteien nach sprachlich-ethnischen Gesichtspunkten bilden. In Südafrika ist dies bei der „Freedom Party“ der „Afrikaaner“ und der „Inkarta Partei“ der Zulus deutlich zu sehen. Demgegenüber sind „ANC“ und „NP“ nicht ethnisch und sprachlich orientiert. In Äthiopien gilt die sprachliche Orientierung für Tigre und Oromo, aber auch bereits für die „All-AmharaParty“. Anders ist es wohl bei der modernen CUD (Coalition for Unity and Democracy Party), die wohl über die sprachlichen Grenzen hinaus organisiert ist. Äthiopien drohen neben den inneren ethnischen Konflikten auch Krisen mit dem Sudan, Jemen und vielleicht auch Ägypten und wieder Eritrea bzw. eine Verschärfung des aktuellen Konflikts. Zur Genozid-Verhütung mit Hinblick auf Ruanda könnten auch für Äthiopien drei Maßnahmen empfohlen werden:

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– Verstärkung der Peace-Keeping-Operationszentrale der UN; – ein humanitäres Lagezentrum in den Außenministerien der führenden Industriestaaten einrichten und – ein „Antigenozid-Bataillon“ aufstellen. Die Erfahrungen mit Somalia waren aber so negativ, dass auch die positiven Ergebnisse der internationalen Wahlbeobachtung des technischen Wahlablaufes in Äthiopien kaum eine günstigere Beurteilung zulassen dürfte.

VI. Minderheitenschutz durch Gerichte An zwei Stellen der Verfassung wird neben der „ordentlichen Gerichtsbarkeit“ 34 eine weitere Gerichtsbarkeit erwähnt, die keine Sondergerichtsbarkeit und auch keine ad-hoc-Gerichtsbarkeit ist. Es ist eine Gerichtsbarkeit, die islamisches Recht bzw. kulturelles Recht, worunter man traditionelles Recht versteht, anwenden soll. Die erste Stelle, an der diese Rückkehr oder Erweiterung des traditionellen Gewohnheitsrechts bzw. des islamischen Rechts erwähnt wird, ist Art. 78 Nr. 5, in dem das Recht der Parteien garantiert wird, sich freiwillig einer religiösen oder gewohnheitsrechtlichen (traditionellen) Gerichtsbarkeit zu unterwerfen. Der vorhergehende Art. 34 Nr. 4 sieht die Anerkennung gewohnheitsrechtlichen Eherechts vor. Die zweite Regelung findet sich in Art. 78 Nr. 5. Dort wird dem zentralen Parlament und den regionalen Parlamenten das Recht eingeräumt, in Übereinstimmung mit Art. 34 Nr. 3 islamische (religiöse) oder gewohnheitsrechtliche Gerichtsbarkeit zu errichten oder anzuerkennen. Besonders interessant ist diese Regelung deshalb, weil nicht nur die Anerkennung solcher bestehender Gerichtsbarkeit ausgesprochen wird, sondern auch die Errichtung vom Staate möglich ist. Die Gerichtssprache vor diesen religiösen oder gewohnheitsrechtlichen Gerichten, die islamisches oder traditionelles Gewohnheitsrecht anwenden, ist die lokale Sprache. Auch vor den staatlichen Gerichten in den Regionen werden die lokalen Sprachen angewandt. So wird in der Region Nr. 4 (Oromo-Region) vor den drei Instanzen der regionalen Gerichte Oromya gesprochen. Gibt es eine Berufung oder eine sonstige Anrufungsmöglichkeit der Bundesgerichtsbarkeit (Federal Supreme Court), dann müssen allerdings die Akten ins Amhari___________ 34 Scholler, H., Notes on constitutional interpretation in Ethiopia, 2003. Dieser verfassungsrechtliche Schutz ist allerdings nur individualrechtlich garantiert, zeigt aber seine Relevanz für den Minderheitenschutz dadurch, dass die letzte Entscheidung dem House of the Federation vorbehalten ist, indem die verschiedenen ethnische orientierten Regionen vertreten sind.

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Heinrich Scholler

sche, der Arbeitssprache gemäß Art. 5 Nr. 1 der Verfassung, übersetzt werden. Dieser Zustand ist nicht erst von der Verfassung vorgesehen, sondern wird bereits praktiziert. Eine weitere institutionelle Sicherung von Minderheitenrechten stellt die Teilung der Gesetzgebungsbefugnisse zwischen dem Zentralparlament und den Regionalparlamenten dar. So hat das Zentralparlament – das Council of Peoples’ Representatives – auf dem Gebiet des Bürgerlichen Rechts nach Art. 55 Nr. 6 nur das Recht zur Gesetzgebung, wenn dies notwendig ist im Interesse der Schaffung einer einheitlichen, wirtschaftlichen Gemeinschaft. Auf allen anderen Gebieten, also Familien- und Erbrecht, sind die Regionen befugt, eigene Rechtsinstitutionen und Codes zu schaffen. Damit ist auch der Civil Code von David zur Diskussion und Disposition gestellt. In manchen Teilen Äthiopiens hat das bereits zu einer kräftigen Wiederbelebung des Gewohnheitsrechts geführt, das – wie z. B. in Tigray – neuerdings in modernes geschriebenes Recht umformuliert wird.

VII. Schlussbetrachtung Die äthiopische Verfassung vom Dezember 1994, die im Mai 1995 durch Referendum angenommen wurde, zeigt eine Reihe von neuen rechtlichen Instrumenten zum Schutze der Menschenrechte und der Minderheitenrechte. Während beim Menschenrechtsschutz die Verfassung im Wesentlichen auf der Konvention zum Schutze der bürgerlichen und politischen Rechte beruht und diese auch zum Auslegungsmaßstab macht, gilt Art. 39 als kollektives Recht und stellt ein Recht und ein Verfahren zur Sezession dar, das von vielen Seiten als problematisch angesehen wird. Gleichzeitig bekennt sich die Verfassung aber zur nationalen Einheit. Eine weitere Spannung, die von der Verfassung nicht aufgelöst ist, zeigt die gleichwertige Erwähnung von Nations, Nationalities and Peoples. Die Verfassung hat ihre diplomatische Zustimmung von den EU-Botschaftern erfahren. Die Wahlen im Mai 1995 wurden allerdings kritisiert, weil sich wesentliche Teile der Oppositionsparteien und damit der Parteien der ethnischen Minderheiten von den Wahlen ferngehalten haben. Somit hat die siegreiche Revolutionspartei von 1991 (die EPRDF) eine überwältigende Mehrheit der Sitze erlangt. Diese Partei wird also von der siegreichen Teilnation oder der Nation der Tigray kontrolliert und steht in einem Spannungsverhältnis zu politischen Parteien, die sich auf ethnischer Grundlage gebildet haben, wie z. B. der Amhara oder der Oromo. Während die Verfassung wesentliche und neue Elemente zur Integration und Zusammenarbeit von Minderheiten aufweist, hat die Parteistruktur ein solches Maß an Integration bisher nicht entwickeln können.

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Ähnlich wie bei den früheren Wahlen haben auch bei den Wahlen 2005 Wahlverstöße stattgefunden. Der unerwartet hohe Zuwachs der Oppositionspartei CUD war Grund für die Regierung, die Wahl nicht anzuerkennen bzw. nicht erschienene gewählte Delegierte von der Wahrnehmung ihrer Aktivlegitimation auszuschließen. Viele Mitglieder der oppositionellen CUD wurden verhaftet, 110 im Juli 2007 zu langen Freiheitsstrafen verurteilt, aber nach Unterzeichnung eines Schuldeingeständnisses begnadigt. Zwei Anwälte, die die Betroffenen verteidigten, sind jedoch noch in Haft. Amnesty International hat zur Unterstützung der Verfolgten aufgerufen. Zu erwähnen ist weiter die Regionalisierung von Rundfunk und Fernsehen. Hier werden in den lokalen Sprachen nunmehr sehr viele Sendungen ausgestrahlt. Das Gleiche galt vorübergehend auch mit Einschränkungen für die Presse, die unter der neuen Pressefreiheit zu einer Fülle neuer Publikationen geführt hatte, allerdings war auch diese pressefreiheitliche Phase nicht von langer Dauer, da intensivere Maßnahmen der Kontrolle einsetzten. Ob die Instrumente der Verfassung zum Schutz der Menschenrechte und von Minderheiten, wie das Council of Constitutional Inquiry oder die Human Rights Commission, in Zukunft mehr Einfluss und Bedeutung haben werden, kann leider zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur gehofft werden.

III. Völkerrecht und internationale Beziehungen

Democracy and International Law: Reflections on Current Trends and Challenges Thomas Bruha and Katrin Alsen

*

In his diverse and significant publications, Professor Blumenwitz has devoted particular attention to the contribution of international law to the promotion of human rights, self-determination of peoples and democratic governance. These individual and collective liberties have their roots in human dignity, upon which each legal order must be based. It is impossible to separate these liberties from each other. However, whereas human rights and the right of peoples to self-determination belong to the established principles of the international legal order, this is not yet the case with regard to the principle of democracy or even a right to democracy. Notwithstanding this, unlike the times of classic international law based on the epochal Westphalian peace system, modern international law increasingly envisages an emerging principle of democracy, both with regard to democratic governance within the States and also the democratisation of interactions between them and other international and transnational actors. The article tries to shed some light on current trends and challenges which are linked to this process. It argues that the process has to be understood against the background of the transformation of international law into constitutional law of an emerging global society. As such both aspects of the emerging principle of democracy – internal and global democracy – are increasingly intertwined within the framework of multilevel global governance. Whether the emerging global society will become a society based on the rule of law and democracy or on hegemonic or post-hegemonic power, makes up the global constitutional question at the beginning of the XXI. century.

___________ * The article is based on a presentation made by Thomas Bruha at the occasion of the conference “Year of Democracy YEAR OF PERICLES: 2500 years since his birth” (Delphi, July 2005); an earlier version has been published in Greek in:       (ed.),   "$ %& (*(  , 21-. .,, 2006, pp. 137– 159; in the present version later developments are partly considered.

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Thomas Bruha and Katrin Alsen

I. Democracy as an Emerging Principle of International Law 1. Democracy as a Non-Issue of International Law The State centristic classic international law – based on the epochal Westphalian Peace system – did not know anything about democracy (as was the case for other constitutional principles within the States). 1 According to the concept of absolute sovereignty, which prevailed over centuries, States retained full liberty to choose their own polity. Thus, public international law has barely paid attention to the democratic legitimacy of its main subjects – the States. Traditionally, the international legal order was seen to be concerned with relations between States, not within them. The other side of the coin was marked by the perception that the decision-making between the States and later other subjects of international law, such as international organizations, is to be seen as essentially intergovernmental in nature. There was no quest for democracy, neither in the sense of demanding democratic governance within the States nor between them. On the global plane, this neutral position of international law vis-à-vis internal and external democracy/non-democracy continued to exist until the 1990s, that is until the collapse of communism and the end of the cold war. So, even when the UN was founded sixty years ago, no mention was made of the notion of democracy in the Charter, although it emphatically starts with the noble words “We the peoples of the United Nations …” – language decidedly borrowed – slightly amended – from the U.S. Constitution. 2 The reason is not that the democratic dimension of international cooperation and integration was overlooked or underestimated, as was the case when the European Communities were established; but the UN founders deliberately abstained from adressing such a controversial concept as democracy, with regard to which no common understanding was possible between the free West and the communist East. ___________ 1 See with regard to the following, in particular Peters, A., Global Constitutionalism in a Nutshell, in: Dicke, K. et al. (eds.), Weltinnenrecht. Liber Amicorum Jost Delbrück, 2005, p. 535 (541); Kokott, J., Souveräne Gleichheit und Demokratie im Völkerrecht [Sovereign equality and Democracy in International Law], in: 64 ZaöRV 2004, pp. 517 et seq.; Fox, G. H. / Roth, B. R., Democracy and International Law, in: 27 Review of International Studies 2001, pp. 327 et seq.; Joyner, Chr. C., The United Nations and Democracy, in: 5 Global Governance 1999, pp. 333 et seq.; relevant English articles on democracy and international law are also published in: Burchill, R. (ed.), Democracy And International Law, 2006. 2 “We the People of the United States of America ...”; see Brunkhorst, H., Demokratie in der globalen Rechtsgenossenschaft. Einige Überlegungen zur poststaatlichen Verfassung der Weltgemeinschaft [Democracy in the Global Legal Community. Reflections on the Post-Statist Constitution of the Global Society], in: Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft “Weltgesellschaft”, 2005, p. 330 (338 et seq.).

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2. Evolution of the Principle of Democracy at a Regional and Global Level During the cold war, international steps towards enhancing democracy were only possible at a regional level and without the communist countries’ participation. In Europe, 3 an important step was made with the creation of the Council of Europe in 1949. The preamble to its Charter explicitly refers to the objective of democracy, based on personal liberty, political freedom and the rule of law; declared principles which form part of the common heritage of the peoples of Europe and are mandatory requirements for membership. 4 Later, the European Communities postulated comparable commitments, which are now enshrined in Article 6 para. 1 of the EU-Treaty 5 and the famous Copenhagen criteria for EU-membership. Among other legal texts and soft law documents, the Paris Charter for a New Europe 6 and the Final Act of the Conference on Security and Cooperation in Europe (CSCE) – now the Organization for Security and Cooperation in Europe (OSCE), are worthy of mention. 7 During the period of east-west-confrontation, the efforts of the CSCE contributed a lot to the quest for democracy and human rights in the then communist countries of Eastern Europe, resulting in the removal of the iron curtain and the transformation of the communist States into democratic societies. In America, the Organization of American States (OAS) set into motion internal democratization, 8 leading to the Interamerican Democratic Charter of 11 September 2001 9 . Other parts of the world show no comparable efforts vis à vis the democratization issue. 10 ___________ 3 See on this issue e.g., Burchill, R., The Promotion and Protection of Democracy by Regional Organizations in Europe: The Case of Austria, in: 7 European Public Law 2001, pp. 79 et seq. 4 See paras 3 and 4 of the Charter of the Council of Europe of 5 May 1949, entered into force on 3 August 1949 (UNTS, Vol. 87, p. 103). 5 Art. 6 para. 1 EU Treaty reads as follows: “The Union is founded on the principles of liberty, democracy, respect for human rights and fundamental freedoms, and the rule of law, principles which are common to the Member States.” 6 Of 21 November 1990, in: ILM 30 (1991), p. 193. 7 Of 1 January 1995, Bloed, A. (ed.), The CSCE: Basic Documents, 1993–1995, 1997, 1997. 8 See on this issue e.g., Boniface, D. S., Is There a Democratic Norm in the Americas? An Analysis of the Organization of American States, in: 8 Global Governance 2002, pp. 365 et seq. 9 Text in: ILM 41 (2001), p. 1289. 10 See on Africa e.g., Kufuor, K. O., The OAU and the Recognition of Governments in Africa: Analyzing its Pratice and Proposals for the Future, in: 17 American University International Law Review 2002, pp. 369 et seq.; see on Asia e.g., Ghai, Y., Human Rights and Governance: The Asia Debate, in: 15 Australian Yearbook of International Law 1994, pp. 1 et seq.

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With the epochal ending of east-west-rivalry and the cold war linked thereto, the basis for a universal endeavour to establish democratic processes and structures was laid. A milestone was the UN World Conference on Human Rights in Vienna in 1993, which postulated democracy in combination with a human rights agenda and – upon particular request by third world countries – with development: “Democracy, development and respect for human rights and fundamental freedoms are interdependent and mutually reinforcing. Democracy is based on the freely expressed will of the people to determine their own political, economic, social and cultural systems and their full participation in all aspects of their lives. In the context of the above, the promotion and protection of human rights and fundamental freedoms at the national and international levels should be universal and conducted without conditions attached. The international community should support the strengthening and promoting of democracy, development and respect for human rights and fundamental freedoms in the entire world.” 11

These postulates regarding the triangle of democracy, development and human rights have been repeated and refined on various occasions by different kinds of instruments, above all by UN bodies. To be mentioned in particular are GA Resolution 55/96 of 2000 “Promoting and consolidating democracy”, the UN Millennium Declaration 55/2 of the UN GA of September 2000 with its Chapter V on “Human rights, democracy and good governance”, as well as numerous resolutions of the UN Commission on Human Rights. 12 Most recently, the recommendations of the “UN High-level Panel on Threats, Challenges and Change” of December 2004 13 , followed by the Report of the Secretary General “In larger Freedom: Towards Development, Security and Human Rights for all” of March 2005 14 , highlighted the quest for democracy. In the manner of an “abridged version” and with the unavoidable diplomatic language, leaving sufficient room for interpretation, the Conclusions of the UN World Summit of September 2005 adressed the democracy issue with the following words: “We reaffirm that democracy is a universal value based on the freely expressed will of people to determine their own political, economic, social and cultural systems and their full participation in all aspects of their lives. We also reaffirm that while democracies share common features, there is no single model of democracy, that it does not belong to any country or region, and reaffirm the necessity of due respect for sovereignty and the right of self-determination. We stress that democracy, devel-

___________ 11 Conclusions of the Conference, UN Doc. A/CONF.153/27 of 12 July 1993, para. 8. 12 See for ex. Res. 2003/35 “Strengthening of popular participation, equity, social justice and non-discrimination as essential foundations of democracy” of 23 April 2003. 13 UN Doc. A/59/565 of 2 December 2004, pp. 8 et seq. 14 UN Doc. A/59/2005 of 21 March 2005, Part IV.

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opment and respect for all human rights and fundamental freedoms are interdependent and mutually reinforcing.” 15

All of these declarations and statements by the UN belong to the category of “soft law”, which is not legally binding but may lead to conforming political practice and is thus able to induce legal developments via the creation of customary law. 16 In addition, they may be referred to when interpreting other principles and norms of international law.

3. “Building Blocks” of a Global Principle of Democracy Although present international law does not explictly provide for the principle of democracy on a global level, one might deduce it from the other principles which meet universal acceptance: the principle of self-determination of peoples and the universal human rights, which might be considered as “building blocks” of a principle of democracy or even an “Emerging Right to Democratic Governance”. 17 The UN soft law instruments referred to above provide additional support for such an interpretation. To commence with the principle of self-determination. 18 It not only stands prominently in the UN Charter, 19 but also in other important universal treaties, such as the two 1966 International Covenants on Civil and Political and on Economic and Social Rights. 20 To recall the text of Art. 1 (1) of the two UN Covenants of 1966: According to this provision, which is common to the two Covenants, “all peoples, by virtue of the right of self-determination, may freely ___________ 15 Conclusions of the World Summit of the GA of the UN of 15 September 2005, UN Doc. A/60/L.1, para. 135. 16 See e.g., Simma, B. / Alston, Ph., The Sources of Human Rights Law: Custom, Jus Cogens, and General Principles, in: 12 Australian Year Book of International Law 1992, pp. 88 et seq. 17 See in particular Franck, Th. M., The Emerging Right to Democratic Governance, in: 86 American Journal of International Law 1992, pp. 46 et seq. with regard to these expressions and the following thoughts; similarly Wheatley, St., Democracy in International Law: A European Perspective, in: 51 International and Comparative Law Quarterly 2002, p. 225 (227 et seq.); Joyner (fn. 1), pp. 338 et seq. and Crawford, J., Democracy and International Law, in: 64 British Yearbook of International Law 1993, pp. 113 et seq.; see on the development of an international right to democracy Bauer, B., Der völkerrechtliche Anspruch auf Demokratie [The International Right to Democracy], Frankfurt am Main et al. 1998, pp. 234 et seq.; critical Simpson, G. J., Imagines Consent: Democratic Liberalism in International Legal Theory, in: 15 Australian Yearbook of International Law 1994, pp. 103 et seq. 18 Franck (fn 17), at pp. 52 et seq. 19 Arts. 1 (2) and 55. 20 Art. 1 (1) of the International Covenant on Civil and Political (ICCPR); Art. 1 (1) of the International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights (ICESCR).

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determine their political status and freely pursue their economic, social and cultural development.” Of course, this provision was formulated against the background of the process of decolonization. Hence, it primarily aims at guaranteeing the right of the independence of peoples and nations, to be freely exercised without any foreign pressure. But this does not exclude the fact that in the course of time the provision may also be interpreted as granting the people within a given society the right to regularly decide on its fate and future – i.e. the right to take part in public affairs by way of free and open elections. Understood in this way, the link between self-determination and the idea of democracy becomes evident, as will be exemplified later. 21 Thus understood, the right of self-determination, as enshrined in Art. 1 (1) of the UN Covenants of 1966 and accepted in general public international law, could in fact be regarded as an important root from which the entitlement in international law to democracy may have started and continues to grow. Self-determination has even been characterized by the International Court of Justice (ICJ), in its decision in the East Timor Case), as “one of the essential principles of contemporary international law”, having an erga omnes-character. 22 As regards the second “building block” of democracy, the freedoms of expression and of free and open elections might serve as sufficient ground to establish such a principle. 23 Both of human rights are laid down in the UN Convenant on Civil and Political Rights (ICCPR) of 1966. 24 However, it is disputed among scholars whether these rights have also reached the status of norms of customary international law, not to speak of the status of ius cogens (contemporary international law), as was affirmed by the ICJ in the East Timor case for the principle of self-determination. Consequently it is disputed whether States who are not parties to the UN Covenant are bound to the principles of freedom of expression and of free and open elections. What definitely still delays the “emerging right to democracy” is the failure of public international law to provide a universally valid definition of “democracy”. 25 In any case, democratic values can be the basis for rights and obliga___________ 21

See below under 1.3. ICJ Rep. 1995, 90, § 29; see on the ius cogens-character at an earlier stage Gros Espiell, Héctor, Self-Determination and Jus Cogens, in: Cassese, Antonio, UN Law / Fundamental Rights: Two Topics in International Law, Alphen a.d. Rijn 1979, pp. 167 et seq.; see on the dynamic concept of the principle of self-determination e.g. Franck, fn. 17, at p. 54. 23 Franck (fn. 17), at pp. 61–77. 24 Arts. 18, 19, 22 and 25. 25 Doehring, K., Demokratie und Völkerrecht [Democracy and Public International Law], in: Cremer, H.-J. et al. (eds.), Tradition und Weltoffenheit des Rechts. Festschrift für Helmut Steinberger, 2002, p. 127 (128, 130); see on the different positions and conceptions relating to a global democratic principle Beutz, M., Functional Democracy: Responding to Failures of Accountability, in: 44 Harvard International Law Journal 2003, 22

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tions as far as their two “building blocks” reach – with regard to the adressee and the content. Franck identifies as the universal core “a net of participatory entitlements” with the aim of “creating the opportunity for all persons to assume responsibility for shaping the kind of civil society in which they live and work.” 26 Notwithstanding the legal uncertainty and leaving aside certain philosophical doubts as regards the necessary relationship between democracy and human rights, 27 one may safely conclude that “democracy as a global normative entitlement” 28 increasingly finds acceptance in the world. As most meaningfully has been expressed by the President of the European Court of Human Rights, Luzius Wildhaber, in the Loizidou case 1997: “In recent years a consensus has seemed to emerge that peoples may also exercise a right to self-determination if their human rights are consistently and fragrantly violated or if they are without representation at all or are massively underrepresented in an undemocratic and discriminatory way. If this description is correct, then the right to self-determination is a tool which may be used to re-establish international standards of human rights and democracy.” 29

To conclude: Self-determination and democratic principles can be seen as preconditions of the realisation of human rights. 30 Vice versa, human rights and self-determination have to be considered as preconditions of a proper democracy. 31 Self-determination, human rights and democracy mutually reinforce one another. They are indivisible rights linked to the individual acting alone (individual liberty) or with others (collective liberty).

___________ p. 387 (396 et seq.); Bogdandy, A. v., Demokratie, Globalisierung, Zukunft des Völkerrechts – eine Bestandsaufnahme [Democracy, Globalization, Future of the International Law – A Stocktaking], in: 63 ZaöRV 2003, pp. 853 et seq.; Bauer (fn. 17), at pp. 25 et seq., and Ezetah, R., The Right to Democracy: A Qualitative Inquiry, in: 6 Brooklyn Journal of International Law 1997, p. 495 (498 et seq., 514 et seq.). 26 Franck (fn. 17), at p. 79; according to Doehring (fn. 25), at p. 129, the least common denominator is, that authority finally should derive from the people; similarly Kokott (fn. 1), at pp. 525 et seq. 27 See e.g., Böckenförde, E.-W., Ist Demokratie eine notwendige Forderung der Menschenrechte? [Is Democracy a Necessary Postulate of Human Rights?], in: Lohmann, G. / Gosepath, St. (eds.), Philosophie der Menschenrechte, 1998, pp. 233 et seq. 28 On the evolution of “democracy as a global normative entitlement” see Franck (fn. 17), at p. 90. 29 European Court of Human Rights, Case of Loizidou v. Turkey, No. 40/1993/ 435/514 of 18 December 1996, Concurring Opinion of Judge Wildhaber, joined by Judge Ryssdal. 30 See e.g., Gros Espiell (fn. 22), at p. 170; Heintze, H.-J., in: Ipsen, K. (ed.), Völkerrecht, 5th ed. 2004, § 30 note 7. 31 See above at p. 4 and Preamble para. 3 of the Charter of the Council of Europe, referred to in fn. 4.

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II. Democracy in a Globalizing World With the “qualitative leap” of globalization in the last decades, the quest for democracy in international law has arrived at a new dimension. Globalization understood as the “process of denationalization of markets, laws, and politics in the sense of interlacing peoples and individuals for the sake of the common goods” 32 , confronts States with a changing environment. They are no longer the sole architects of the world order and international relations. Even with regard to the use of force, globalization has had an effect. 33 Non-State actors, such as mighty terrorist groups, have entered the scene. Whether globalization is peaceful or non-peaceful: It increases mutual interdepence 34 and puts the States, their internal order as well as their global interaction under strain. Global problems compel them to co-operate within International Organizations and other fora in new ways, including contacts with non-State actors such as multinational enterprises. The most important aspect of globalization is the enormous increase in legal or otherwise mandatory norms which, more or less intensively, affect the citizens, but which no longer can be ascribed to a single nation-State. 35 This must have consequences for democracy (1.), the mode of governance (2.) and the constitutionalization of public power “beyond the nation-State” (3.).

1. Democracy and Globalization As regards democracy, new deficits necessarily occur: With a much observed German treatise on the theory of constitution building beyond the nation-State 36 , one may mention three main democracy deficits: First, an increasingly transnational impact of governance on people having no standing to par___________ 32 Delbrück, J., Globalization of Law, Politics and Markets – Implications for Domestic Law: A European Perspective, in: 1 Indiana Journal of Global Legal Studies 1993, pp. 9 et seq.; discussing Delbrück’s approach towards globalization, Aman Jr., A. C., Globalization as Denationalization: Pluralism, Democracy Deficits in the U.S. and the Need to Extend the province of Administrative Law, in: Weltinnenrecht (fn. 1), pp. 13 et seq.; see on the spectrum of definitions of globalization and it’s meaning for the democratic principle von Bogdandy (fn. 25). 33 See with further references Bruha, Th., Gewaltverbot und humanitäres Völkerrecht nach dem 11. September 2001 [The prohibition of force and humanitarian international law after 9/11], in: 40 Archiv des Völkerrechts 2002, pp. 383 et seq.; further Franck (fn. 17), at pp. 52–60. 34 Peters (fn. 1), at pp. 536. 35 See recently, with regard to this phenonemon and the conclusions to be drawn for democracy, the State and post-national law, Brunkhorst (fn. 2), at p. 330. 36 See on this particularly Peters, A., Elemente einer Theorie der Verfassung Europas [Elements of a Theory about the Constitution of Europe], 2001.

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ticate in this governance; secondly, the impairment of democratic powers of the nation-State (“Staatliche Herrschaft”), due to the ongoing decrease in problems it can solve within its own frontiers; and thirdly, the lack of democratic mandates and control of non-State actors having a more or less important standing in the new national-transnational decision-making processes. 37 Other deficits or problems might be added. 38 Altogether, these deficits and problems – or call them structural changes – necessitate that steps are taken to adopt the forms of governance to the new general framework, including the establishment of governance structures beyond the nation-States.

2. Democracy and Global Governance The premise must be that the adapted or newly established forms of governance are democratic. Each form of governance, be it within the States, between them or in whatever other relationships, must be democratic 39 and of course effective. This makes up the core task of the ongoing undertaking to create and further develop global governance in all fields where decisions affecting people are taken. Due to the interdependencies mentioned above and the fact that the sources of democratic legitimation of power are still rooted in the nation-States, the evolving pattern of global governance necessarily displays a multilevel structure of various layers and actors: local, regional, national and global, with different tasks, powers and competences. The international or national organizations, be they regional in nature, such as the EU 40 , sectoral such as the WTO 41 , or universal such as the UN 42 , play an important role in this structure and the decision-making processes related thereto. 43 ___________ 37

See Peters (fn. 36), at pp. 743 to 748. See for a comprehensive study Zürn, M., Regieren jenseits des Nationalstaates: Globalisierung und Denationalisierung als Chance [Governance Beyond the NationState: Globalization and Denationalization as a Chance], 1998. 39 Peters (fn. 36), at p. 748 with further references. 40 See among others Bruha, Th., EU und Global Governance: Herausforderungen, Ziele und Rechtsprobleme [EU and Global Governance: Challenges, Goals and Legal Problems], in: Bruha, Th. / Nowak, C. (eds.), Die Europäische Union nach Nizza: Wie Europa regiert werden soll, 2003, pp. 223 et seq. 41 See among others Krajewski, M., Democratic Legitimacy and Constitutional Perspectives of WTO Law, in: 35 Journal of World Trade 2001, pp. 167 et seq. 42 See among others Brühl, T. / Rittberger, V., From international to global governance: Actors, collective decision-making, and the United Nations in the world of the 21st century, in: Rittberger, V. (ed.), Global Governance and the United Nations System, 2002, pp. 1 et seq. 43 See Brunkhorst (fn. 2), at p. 339 for a recent comparison of these three organizations from the viewpoint of post-statist constitutional theory. 38

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It is not possible to discuss here the details and developments of global governance structures, including their regional, national or local components. It must suffice to note that global governance intends to achieve legitimate and efficient decisions on the basis of multi-level network cooperation. This implies a minimum of structural congruency and homogeneity among the actors and the various levels of the multi-layer systems. The fact that this is far from being reality worldwide, is no counter argument. It merely shows that global governance cannot yet function between all parts of the world. However, the objective of a universal system cannot be denied.

3. Democracy and Global Constitutionalism It follows from the above that global governance can both be qualified as a necessary reaction to cope with the new challenges of globalization, as well as becoming a part of globalization by enriching it with new global political structures and processes. The same can be said of the globalization of law 44 and the steps taken in the direction of global constitutionalism. 45 Again, details cannot be discussed here. The debate about the existence or non-existence of a world constitution is not new. Well known to each scholar of international law is the treatise of Alfred Verdross, which is from the times of the League of Nations, with the translated title “The Constitution of the International Community as a Legal Community”. 46 What has changed in the meantime, however, is the fact that nation-States are no longer how they were at the time of the League of Nations. Globalization and the increasing role of non-State actors in international and transnational decision-making processes have diverted international legal thinking and the theory of international law away from the classical Statecentric and sovereignty-oriented perception of international relations. The new developments discussed above have – in a manner of speaking – “opened the eyes” for a “new” constitutional thinking which no longer connects the concepts of constitution and constitutionalization to States but to all forms of governance, be it national or international. For the supranational EU, this “new thinking” seems to be accepted, notwithstanding the fact that the Constitutional Treaty of 29 October 2004 47 did not enter into force. For international organizations, such as the UN or the WTO, this constitutional process is still lagging behind compared with the different situation in the supranational EU. How___________ 44

Peters (fn. 36), at p. 131. See for a recent and thorough discussion Brunkhorst (fn. 2), at p. 332 (“Globaler Konstitutionalismus”). 46 Verdross, A. Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft [The constitution of the world community], 2000 (first ed. 1926). 47 Official Journal of the EU C-310 of 16 December 2004, pp. 1 et seq. 45

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ever, also here, demands to understand the international and transnational interactions in the fora of the WTO or the UN, as enactments of governance which require steps taken towards of its constitutionalization, are increasingly attracting support. 48 International law, in particular international institutional law, can be seen on the way towards developing the law of a global society, notwithstanding the severe problems it actually faces with regard to hegemonic claims of power. 49 Among the chief targets of such efforts is the increasingly felt need to make the hitherto international and intergovernmental processes of decision-shaping and decision-making in international organizations more transparent and more open to in-put participation by the civil society and the economy, be it directly in contact with stakeholders or in representative forms of parliamentarian assemblies. These democracy oriented efforts partly go hand in hand with pleas to understand the new governance structures within the framework of international organizations, such as the UN or the WTO, as federal in nature. 50 A third important element of the global constitutionalization are demands to improve the rule of law, which range from a better protection of human rights to judicial remedies against decisions made by UN Security Council, lacking until now, although the decisions of the Council are apt to affect rights of individuals directly and also seriously. 51 ___________ 48 The literature on the constitutionalization of international law is vast. Seen from the viewpoint of the discipline of international law, in particular Frowein, J. Abr., Konstitutionalisierung des Völkerrechts [Constitutionalization of Public International Law], in: Deutsche Gesellschaft für Völkerrecht (ed.), Völkerrecht und internationales Recht in einem sich globalisierenden internationalen System, 2000, pp. 427 et seq.; from the socio-political viewpoint in particular Habermas, J., Eine politische Verfassung für eine pluralistische Weltgesellschaft? [A Political Constitution for a Pluralistic World Society], in: 38 Kritische Justiz 2005, pp. 222 et seq.; further Peters (fn. 1), and Brunkhorst (fn. 2) (both with numerous references). 49 See for similar insights, Delbrück, J., Prospects for a World (Internal) Law?: Legal Developments in a Changing International System, in: 9 Indiana Journal of Global Legal Studies 2002, pp. 401 et seq.; Peters (fn. 1), at p. 541; Kunig, Ph., Das Völkerrecht als Recht der Weltbevölkerung [Public International Law as the Law of the World Population], in: 41 Archiv des Völkerrechts 2003, pp. 327 et seq.; with regard to the difficulties in explaining such constitutional processes under the conditions of hegemonic powers, Brunkhorst (fn. 2), and Fassbender, B., UN Security Council reform and the right of veto: a constitutional perspective, 1998. 50 See for example Delbrück, J., Transnational Federalism: Problems and Prospects of Allocating Public Authority Beyond the State, in: 11 Indiana Journal of Global Legal studies 2004, pp. 31 et seq.; Oeter, S., Internationale Organisation oder Weltföderation? Die organisierte Staatengemeinschaft und das Verlangen nach einer ‘Verfassung der Freiheit’ [International Organization or World Federation? The Organized Community of States and the Claim for a ‘Constitution of Freedom’] in: Brunkhorst, H. / Kettner, M. (eds.), Globalisierung und Demokratie: Wirtschaft, Recht, Medien, 2000, pp. 208 et seq. 51 See with regard to the judicial deficits linked thereto, the judgements of the Court of First Instance of the European Communities, T-306/01 (Yusuf) and T-315/01 (Kadi)

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III. The Two Sides of the Quest for Democracy: Selected Aspects The more that international law displays characteristics of an emerging constitution of the world society, the more that the internal order within the States becomes a matter of international and global concern. A minimum of agreed constitutional principles is indispensable. This is also true in view of the gradual establishment of global governance structures. Being interlinked with the internal orders of the States of the world (e. g. representatives of undemocratic States taking part in or even chairing the parliamantary assemblies), global governance could not function when basic requirements of democracy and the rule of law were ignored in large parts of the world. This leads to the question of whether the international community has a right to induce States to comply with democratic standards and also the means that it may apply for this purpose (1.). Some thoughts about possible developments within the UN to strengthen their democratic legitimacy will follow (2.).

1. Democracy Export and Pro-democratic Intervention The question of whether the international community has a right to exert pressure on States or even to intervene with them for the purpose of enforcing democratic principles 52 requires an answer with different facets. First, one speaks of totally different things when one asks for collective measures to be undertaken by the competent organs of the world community or a regional organization, to when unilateral measures are taken by one State or a group of States without a collective mandate; secondly, “soft” measures of a persuasive character must be sharply distinguished from “hard” measures which take the form of sanctions, which are either economic or military in nature; thirdly, it makes a great difference whether actions are envisaged with regard to States in which democracy already exists, but is endangered by military coups or upheavals, or whether they are considered with regard to States in which democratic structures do not yet exist; fourthly and finally, one should distinguish between measures undertaken in the context of post-conflict peace-building processes under Chapter VII of the UN Charter and cases where the internal order of a State is still functioning (whether in a democratic or non-democratic way). ___________ of 21.09.2005; appeals of Yusuf and Kadi against these judgements are actually pending with the European Court of Justice: C-415/05 P (Yusuf) and C-402/05 P (Kadi). 52 See on the democratization by means of Chapter VII of the UN-Charter, Spagnoli, F., Democratic Imperialism. A Practical Guide, 2004, pp. 72 et seq.; Bauer (fn. 17), pp. 94 et seq.; Ezetah (fn. 25), at pp. 505 et seq.

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This complex picture does not allow for a comprehensive answer to the question which had been raised. Only a few thoughts and hints shall be given. First, it should be clear that there is no right whatsoever to enforce a certain type or even standard of democracy (i. e. parliamentary, representative, participatory, deliberative, liberal, social democracy, and others) in all parts of the world. 53 The cultural varieties and with them diversities in democratic structures, which are dependent on culture in the various parts of the world, must be accepted. Only in comparably homogenous relationships may a higher degree of common standards be required, as for example in the case of Europe (EU, Council of Europe, OSCE) where specific standards and safeguards are institutionalized (Article 6 and 7 EU, Venice Commission, and others). Worldwide, only basic minimum requirements might be postulated and what they are is the crucial question. Here, the above raised question of the universal definition of democracy becomes most relevant. As regards the distinction between the means of enforcement, one should have no hesitations in accepting “soft” measures of a persuasive character as an integral part of a worldwide export of (minimum standards of) democracy. This is also what the States of the world have agreed upon at the last World Summit on 15 September 2005. Immediately after the above cited passage 54 it reads: “We renew our commitment to support democracy by strengthening countries’ capacity to implement the principles and practises of democracy and resolve to strengthen the capacity of the United Nations to assist Member States upon their request.” 55

Hand in hand with this general commitment, the World Summit decided to establish the United Nations Democracy Fund to “finance projects designed to empower civil society, strengthen the rule of law, increase popular participation and ensure that people are able to exercise their democratic rights”.56 Still open to discussion is, whether this Fund should seek to support all elements of democracy or whether it should focus its attention on selected components. Another open question is, in what circumstances the Fund should seek to provide support (in established democracies, fragile democracies, emerging democracies, post-conflict democratization and/or non-democratic states). 57 The Fund’s work has been acknowledged by the 2006 Ministerial Meeting of Communities of Democracy (CD), the 14th Summit of the Non-Aligned Move___________ 53 For an introduction in the various theories of democracy see e. g., Schmidt, M. G., Demokratietheorien [Theories of Democracy], 3rd ed., 2000. 54 See text to fn. 15. 55 Conclusions of the World Summit (fn. 15), para. 136. 56 See the Report of the Secretary General on the work of the Organization, UN Doc. A/61/1, para. 129. 57 http://www.un.org/democracyfund/XSituatingDemocracy.htm.

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ment and the 6th International Conference of New and Restored Democracies (ICNRD). 58 Thus, the acceptance of “soft” measures by the international community to introduce or stabilize democracy in the world can also be evidenced by a broad spectrum of State practices and the practices of other international organizations (human rights and democracy clauses in treaties, good governance conditions in the World Bank’s financial instruments, and others). 59 Adressing the question of “hard” measures, one has to first state very clearly that there is no right whatsoever to unilaterally impose sanctions (unless contractually agreed upon). This is particularly true for military interventions, for which the Iraq war provides an example (although other unfounded justifications have been put forward). Neither the right to self-defence or an analogy to the disputed humanitarian intervention provides any justification for such kind of interventions. Much more difficult to answer is the question of whether collective measures of pro-democratic intervention might be undertaken in cases of full absence of, or flagrant threats to, democracy in a given State. This depends upon whether one may treat such internal situations as “threats to the peace”, which would open up the arsenal of collective security measures available under Chapter VII of the UN Charter. For pro-democratic intervention in order to institute democracy in a State where democracy does not exist at all (for example in a fundamentalist theocratic State), no international practice justifying can be evidenced. As regards collective interventions to protect existing democratic structures against their removal through upheavals, often the intervention of the world community in Haiti, on the basis of resolution of the UN SC acting under Chapter VII of the UN Charter, is mentioned. However, a closer look reveals that this case cannot be taken as a fully fledged precedent justifying prodemocratic intervention in case where democracy is endangered. Given that many states were concerned about the legality of such intervention in the absence of an internal or international armed conflict or widespread violations of the right to life, any wording was avoided which could be used to treat the action as a precedent for a right of the world community to unacceptably intervene in internal matters. In fact, it was the former U.S. ambassadress, Albright, who considered the right to self-determinion as the reason for the intervention in Haiti, but not the Security Council itself. According to Res. 940/1994, the peace was threatened by “the significant further deterioration of the humanitarian situation in Haiti, in particular the continuing escalation by the illegal de facto regime of systematic violations of civil liberties, the desperate plight of ___________ 58

http://www.un.org/democracyfund/XLatestUpdate.htm. Hoffmeister, F., Menschenrechts- und Demokratieklauseln in den vertraglichen Außenbeziehungen der Europäischen Gemeinschaft [Human Rights and Democracy Clauses in the Contractual External Relations of the European Community], 1998. 59

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Haitian refugees and the recent expulsion of the staff of the International Civilian Mission (MICIVIH) …” 60 . Consequently, “the prompt return of the legitimately elected President” 61 was treated as a means to stop the violations of human rights, but not as the final objective of the intervention. This is also reflected in Res. 940/1994, which stated that the Security Council “recognizes the unique character of the present situation in Haiti and its deteriorating, complex and extraordinary nature, requiring an exceptional response”. 62 Nonetheless, for extreme cases (ex. the Taliban de facto-regime in Afghanistan) a right and even a duty to multilateral pro-democratic intervention, even in cases of “self-imposed non-democracy”, 63 should not be excluded a priori, provided that it is authorized by a clear decision by the UN Security Council acting under Chapter VII of the UN Charter. Coming to the particular question of democracy building in the framework of UN post-conflict peace-building measures in the aftermath of an armed conflict, one has to take note that a broad practice exists. 64 The milestones of these developments can easily be named: Bosnia-Herzegowina 1995, 65 Kosovo 1999, 66 East-Timor 2001, 67 Afghanistan 2001, 68 Iraq 2003 69 . Post-conflict measures taken under Chapter VII of the UN Charter aim at initiating a sustainable process of peace and development by coordinating the rebuilding of a state after a conflict. 70 The (re-)erection of democratic structures in the incapable State, to be later approved by the population in the exercise of their right to self-determination, is a cornerstone of such a process. Their principal legality under UN mandate is generally not disputed. However, difficult questions may arise as to the content of the post-conflict peace-building regimes (for example the degree of respect for the cultural specificities of the State or States in question). For good reasons, the World Summit of September 2005 has agreed upon ___________ 60

UN SC Res. 940 (1994), page 1. UN SC Res. 940 (1994), page 2. 62 UN SC Res. 940 (1994), page 2, para. 2. 63 See Doehring (fn. 25), at p. 129, who (somewhat problematically) refers to Hitler’s “Ermächtigungsgesetz” (Enabling Law), which was approved by the German Parliament in 1933. 64 Barnes, S. H., The Contribution of Democracy to Rebuilding Postconflict Societies, in: 95 American Journal of International Law 2001, pp. 86 et seq. 65 SC Res. 1035 (1995) in combination with the Dayton agreement of 14 December 1995, and later resolutions. 66 SC Res. 1244 (1999). 67 SC Res. 1410 (2001). 68 SC Res. 1378 (2001). 69 SC Res. 1483 (2003) and later resolutions. 70 Drews, Chr., Post-Conflict Peace-Building, 2001; Fischer, H. / Quénivet, N. (eds.), Post-Conflict Reconstruction: Nation- and/or State-Building, 2005; Jeong, H., Peacebuilding in Postconflict societies: strategy and process, 2005. 61

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the institutionalization of a new UN Peacebuilding Commission, introducing better expertise into such processes by the appointment of NGO’s and other measures. 71 Particularly problematic is the broad and imprecise mandate that the SC is prepared to give to single States which hold the military power in a given State, such as the U.S. and Great Britain in the case of post-war Iraq. 72

2. UN-Reform and Global Democracy More and more, the democracy issue is also an issue on the reform agenda of the UN 73 (as is the case for several other institutions of the world community such as the WTO). Two strains of discussion may be distinguished which, according to what already has been said, belong together 74 : One is the question of whether the UN, as the central institution of the world community, needs certain aspects of democratic participation from the population of its member States, in particular in the form of a parliamentary assembly. The second strain of discussion are ways in which direct contacts with civil society and the economic sector can be fostered, with the aim of enhancing the participation of those directly concerned. Both discussions have the fact in common that traditional out put legitimation of UN decision-making by parlimanentary approval ___________ 71

Conclusions of the World Summit, fn. 15, paras. 97 and 105. See on the difficult questions linked to the post-war Iraq regime Wolfrum, R., International Administration in Post-Conflict Situations by the United Nations and Other International Actors, in: 9 UNYB 9 2005, pp. 649 et seq.; see on the difficulties before and after the intervention in Iraq in general the critical book of Rieff, D., At The Point Of A Gun: Democratic Dreams and Armed Intervention, 2005. 73 See Varwick, J. (ed.), Die Reform der Vereinten Nationen – Bilanz und Perspektiven [The Reform of the UN – Balance and Perspectives], 2006; Dicke, K., Effizienz und Effektivität. Darstellung und kritische Analyse eines Topos im Reformprozeß der Vereinten Nationen [Efficiency and Effectiveness. Description and Critical Analysis of a Topos in the Process of Reform of the UN], 1994, p. 396; see with regard to the recent reform discussions Zöpel, Ch., Die Vereinten Nationen und die Parlamente. Zur Mitwirkung des Bundestags an der deutschen UN-Politik [The United Nations and National Parliaments. On the part of the Bundestag in German UN policies], in: 3 Vereinte Nationen 2005, pp. 97 et seq., and Die Vereinten Nationen und die Parlamente (II). Zu einer parlamentarischen Dimension der UN [The United Nations and National Parliaments (Part Two). On a Parliamentary Dimension of the UN], in: 4 Vereinte Nationen 2005, pp. 145 et seq.; see on the democratic legitimization of international organizations Stein, T., Demokratische Legitimierung auf supranationaler und internationaler Ebene [Democratic Legitimization on the supranational and international level], in: 64 ZaöRV 2004, pp. 563 et seq. 74 See already Bruha, Th., Die Vereinten Nationen im Lichte der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts [The UN in the light of the challenges of the 21st century], in: Schorlemer, S. v. (ed.), Wir, die Völker (...) – Strukturwandel in der Weltorganisation, 2006, pp. 17 (24 et seq.); see further the interview with former UN Secretary General Boutros Boutros-Ghali, Die UN müssen demokratischer werden (The UN must become more democratic), in: 53 Vereinte Nationen 2005, pp. 88 et seq. 72

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of UN law-making activities or control over the national executive is insufficient and does not correspond anymore to the increased importance of UN policy and law-making. To start with the first set of proposals, bringing democracy into the institutional structure of the UN by way of a proper parliamentary assembly: This is more or less “music of the future”. Although a lot of ideas have been tabled, 75 they barely have a chance to see “the light of the day”. According to visions of a representative parliamentary dimension of the UN, the organization should establish an institutional regime which would allow for the consideration of important – especially binding – decisions by those concerned instead of promoting democracy merely through discourse. 76 As regards the implementation of such institutions, the ideas and proposals differ: Some have the vision of a new worldwide parliament inside 77 or outside the UN; others prefer the strengthening of the existing Inter-Parliamentary Union (IPU 78 ). 79 A parliament inside the UN could have the status of a “Second Assembly” of the GA or of a subsidiary body to it. Comparable with the European Parliament, the functions of this World Parliament could develop from advisory to participatory and monitoring rights; 80 this however sounds very utopian considering the ___________ 75

See for ex. Sheppard, R., Towards a UN World Parliament: UN Reform for the Progressive Evolution of an Elective and Accountable Democratic Parliamentary Process in UN Governance in the New Millenium, in: 1 Asian-Pacific Law & Policy Journal 2000, pp. 1 et seq.; Patomaki, H. /Teivanen, T., A Possible World: Democratic Transformation of Global Institutions, 2004; Zöpel (fn. 73), in: 4 Vereinte Nationen 2005, pp. 145 et seq.; Kissling, C., Repräsentativ-parlamentarische Entwürfe globaler Demokratiegestaltung im Laufe der Zeit. Eine rechtspolitische Entstehungsgeschichte [Representative-Parliamentary Plans of Global Democracy in the Course of Time. A Legal Policy History of Origins], in forum historiae juris, 14 February 2005, http:// www.rewi.huberlin.de/FHI/articles/0502kissling.htm. 76 See on the distinction (within the input-legitimation) between “deliberativeparticipatory” and “representative-parliamentary” ideas as well as between the “theory of discourse” (Diskurstheorie) and proponents of a theory of “institutionalized orders” (institutionalisierte Ordnungen) Kissling (fn. 75), at para. 33, and Brunkhorst (fn. 2), at p. 339. 77 European Parliament, P6_TA(2005)0237, Reform of the UN: EP resolution on the reform of the United Nations, para. 39 (establishment of a United Nations Parliamentary Assembly); proposals of the Campaign for a More Democratic United Nations (CAMDUN), for more information see the official website of this organization http:// www.camdun-online.gn.apc.org/. 78 For more information see the official website of this international organization of Parliaments of sovereign States www.ipu.org. 79 See e. g. the application of the parliamentary parties of the Lower House of German Parliament SPD und Bündnis 90/Die Grünen, Für eine parlamentarische Mitwirlung im System der Vereinten Nationen [For a parliamentary participation in the system of the UN], Drucksache 15/5690 of 15.06.2005, 3–4. 80 With many references Kissling (fn. 75), para. 21–24; the concrete proposals in the strategy paper of the Committee for a democratic U.N. (KDUN), Developing Inter-

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non-comparable tasks, competences and structures of the EU on the one hand and the UN on the other. This is in particular true for proposals to transform the existing GA into a representative body of the peoples of the Member States, with the argument that additional bodies could enhance the lack of transparency and inefficiency of the UN, 81 which already now is deplorable. In any case, the realization of all of these proposals is unlikely to happen in the foreseeable future, as has been mentioned already. Not only will the realpolitik prevent the necessary revision of the UN Charter. Also, the principle of equal per capita representation of the populations cannot be balanced with the antagonistic political, economic and military power considerations within the UN system, which are closely related to the amount of the payment of contributions to the UN. 82 These presently insurmountable difficulties in the form of privileged power representation may also be demonstrated with the actual standstill of the talks about a reform of the composition of the SC. 83 Apart from this, the very preconditions of a world parliament are not yet fulfilled. A parliamentary body which could represent all of the peoples of the world appears to be quite adventurous. Being sufficiently representative, a world Parliament composed of delegates of all (at present 191) Member States of the UN would be too big to work effectively, as a proper parliament cannot be composed according to the principle of “one State one vote”. And even in such a “mega world parliament”, important differences between the peoples, due to different cultures, religions, traditions and living conditions, could not find sufficient expression. Therefore, only a parliamentary component attached to the present GA with a reduced meeting sequence and allowing for selective participation of delegates in agendas they really are in touch with seems to be an option which might be pursued. 84 Much more promising because it is realistic, is the “getting directly in touch with civil society and the economy” track. Among important steps in this direction, one might already mention the “Agenda for Democratization” of former ___________ national Democracy: For a Parliamentary Assembly at the United Nations, September 2004, German, English and French Version under http://www.uno-komitee.de/en/ projects/unpa/strategypaper.php. 81 Sheppard (fn. 75), at pp. 11 et seq. 82 Sheppard (fn. 75), at pp. 10 et seq., has the opinion that this balance could be found by upgrading the GA. 83 Fröhlich, M. et al., Reform des Sicherheitsrats – Modelle, Kriterien und Kennziffern [Reform of the SC – Models, Criteria and Parameters], DGVN Blaue Reihe Nr. 94, 2005. 84 See on the strenghtening of the civil society e.g. the European Parliament (fn. 78), para. 18; Riker, James V., Promising Visions and Strategies to Advancing Global Democracy, May 2005.

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Secretary-General Boutros Boutros-Ghali. 85 The UN bodies themselves propose the strengthening of existing participatory elements. To be mentioned as examples are in particular the “Global Compact” initiative of SG Kofi Annan 86 (dialogue with the economy, in particular multinational enterprises) and the so called Cardoso-Report of June 2004 87 . This report demands the UN e.g. to “foster[…] multi-constituency processes” 88 by enhancing the participation of the civil society and to “engag[e] with elected representatives” more systematically 89 . Noticeable is the broad word “constituency” which “comprises three broad sectors: civil society, the private sector and the State” 90 . Despite the concrete proposals given in the Cardoso-Report and favored by the High PanelReport of December 2004 91 and the following Report of the SG “In larger Freedom” of March 2005 92 , the conclusions of the World Summit of 15 September 2005 contain only a few, more abstract recommendations. They more or less are restricted to commitments to strengthen the dialogues with national parliaments and the involvement of civil society and the economy. 93 In his Report on the work of the Organization in 2006, former Secretary General Kofi Annan again emphasized the need for good relationships between the UN and civil society and the business sector, by devoting to this issue a chapter about “global constituencies”. 94

IV. Final Conclusions We have tried to show that the principle of democracy is on the way to becoming part of the “law of nations”, not unlike the emergence of human rights, ___________ 85

Supplement to Reports A/50/332 and A/51/512 on Democratization, 17 December 1996, paras. 61–115; see further the interview with Boutros-Ghali (fn. 75). 86 Initiative in Davos on 31 January 1999; establishment of the “Global Compact” on 26 July 2000; for more information see http://www.unglobalcompact.org. 87 UN Doc. A/58/817, We the peoples: Civil Society, the United Nations and Global Governance. Report of the Panel of Eminent Persons on United Nations-Civil Society Relations; see with regard to the report of the panel which was chaired by former President of Brazilia Fernando Henrique Cardoso, Volger, H., Mehr Partizipation nicht erwünscht. Der Bericht des Cardoso-Panels über die Reform der Beziehungen zwischen den Vereinten Nationen und der Zivilgesellschaft [More Participation is not Wanted. The Cardoso-Report on the Reform of the Relationships between the UN and the Civil Society], in: 1 Vereinte Nationen 2005, pp. 12 et seq. 88 Ibid., at p. 9. 89 Ibid., at p. 10. 90 Ibid., at p. 13. 91 UN Doc. A/59/565 (fn. 13), para. 243. 92 UN Doc. A/59/2005 (fn. 14), para. 162. 93 Conclusions of the World Summit (fn. 15), paras. 171–175. 94 Fn. 56, paras. 2, 5, 195 et seq.

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the respecting of which was for a long time be considered to be a matter of national conern only. The days of such thinking are over. Today, no one doubts that human rights are a matter of international concern, whether this pleases certain governments or not. The same should progressively also be said of the principle of democracy, in the understanding that we are talking about certain minimum requirements. With this in mind, one may safely conclude that a process is underway whereby the democratic entitlement is taken step by step from moral prescription to an international legal obligation. 95 In contrast with these normative findings is the fact that still half of the States of the world, if not even more, are to a greater or lesser extent undemocratic. The question then is how to harmonize these two findings? Again, the answer can be given by an analogy to the status of human rights. Although declared to be universal, at least as far as their core guarantees are concerned, no one would deny their existence with reference to their daily violation or even principal negation in wide parts of the world. The normative character of international law has to be stressed. International law is more than the minimum sum of commonly agreed voluntary commitments of States. The times of the “Vereinbarungslehre” 96 or similar theories of international law belong to history. Notwithstanding this premise, the tension and the dialectic between the “ought” and the “is”, as regards the principle of democracy in international law, cannot be neglected. In particular when looking for possible ways to foster democracy on the global plane, one may not close ones eyes when faced with these contradictions. One lesson to be learned should be not to demand too much. In particular the transplantation of certain specific understandings of democracy to the “rest of the world” could lead to a failure of the whole undertaking. Only certain minimum standards and key principles may be progressively agreed upon. Linked with this necessarily evolutionary character of the emergence of a principle of, or a right to democracy, one has to accept compromises in regard to the process, progressing step by step. It would, for example, be shortsighted to refuse the institutionalization of new bodies of parliamentarian representation in the UN with the argument that half of their members or even their chairman comes from a totally undemocratic country. This may be. But this has to be accepted in the expectation that the involvement of representatives of non-democratic States in such parliamentarian cooperation might induce positive influences in their home country, provided that the UN ensures the necessary transparency of such meetings, including unhindered access to their re___________ 95

Franck (fn. 17), at p. 47. See Triepel, H., Völkerrecht und Landesrecht [International Law and National Law], 1899. 96

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cords in the countries concerned. The lessons learned from the development of the OSCE before the fall the Berlin wall should give some hope. A last remark shall address the agenda of constitutionalization. Against its background, the process of fostering democracy in all parts of the world, as well as in the context of global decision-making, cannot be isolated from the other parts of the constitutional agenda, among which the rule of law plays a central role. To get democracy accepted as a global principle can only go hand in hand with the acceptance of the rule of law in international relations. Sustainable global democracy cannot grow in the conditions of a multiple class world society, with a hegemon who feels himself unbound by the obligations that he insists upon vis à vis “the other States”. Democracy and the rule of law inseparably belong together, within the States as well as in their relations with one another and other world actors. To this extent, the quest for global democracy must necessarily be conducted in parallel with the strengthening of the rule of law, for all States, however big and mighty they are. Global constitution building can only have success in the absence of a hegemon standing “above the law”.97 The “Leitbild” must be a global order in which the the world society, which acts chiefly but not exclusively through the States, understands itself as a legal community.98 Supreme political power is compatible with such an understanding and is also necessary to protect this order. But it may not place itself above it. If it does, not only will the rule of law be seriously endangered but also the process of fostering democracy in all parts of the world. It is the future of democracy and also the rule of law in the world which makes up the global constituitonal question at the beginning of this century.

___________ 97 See on “Constitution-Building without a Hegemon” Fassbender (fn. 49), at p. 341. 98 For such cosmopolitan understanding of the law see recently Emmerich-Fritsche, A., Vom Völkerrecht zum Weltrecht [From International Law to Global Law], 2007.

Einige Anmerkungen zum Weltgipfel der Vereinten Nationen 2005 Markus Pallek

I. Einleitung Über 15 Jahre ist es nun bereits her, dass ich Herrn Professor Blumenwitz kennen lernen durfte. Während der frühen neunziger Jahre lernte ich von ihm das Staatsrecht Bayerns und der Bundesrepublik, die Grundrechte und später das Völkerrecht. Gerne erinnere ich mich an diese Zeit und an Professor Blumenwitz’ souveränen und angenehmen Vorlesungsstil. Die schönsten Erinnerungen habe ich an seine Vorlesungen und Seminare im Völkerrecht, dem seine besondere Vorliebe galt und das er als das „Recht der obersten Spitze“ zu bezeichnen pflegte, dort wo sich „das Recht und die Politik in besonderem Maße begegnen und bedingen.“ Es war ein besonderes Privileg, zusammen mit nur einer Handvoll Kommilitonen in Würzburgs Alter Uni an der Domerschulstraße von Professor Blumenwitz Völkerrecht zu lernen. Für mich war dies auch ein großes Glück, da ich ohne Professor Blumenwitz und der Begeisterung, die er in mir für das Völkerrecht erweckte, sicher jetzt nicht in der Rechtsabteilung der Vereinten Nationen in New York tätig wäre. Es war ein langer Weg von der Domerschulstraße an den East River, auf dem es auch den einen oder anderen Umweg gab. Eine Konstante gab es aber, und das war der Kontakt zu Professor Blumenwitz, der bis zu seinem viel zu frühen Tod im April 2005 nicht abgerissen ist. Im gleichen Jahr, am 16. September 2005, verabschiedete die Generalversammlung in New York Resolution 60/1, das Abschlussdokument des Weltgipfels, auf dem sich mehr Staats- und Regierungschefs als jemals zuvor trafen. 1 Als kleiner Sekretariatsbeamter hatte ich Gelegenheit, die Entstehung, Annahme und Umsetzung dieses Dokuments zu verfolgen. Nachstehend möchte ich daher einige Anmerkungen zum Weltgipfel der Vereinten Nationen 2005 zu ___________

Die Ausführungen in diesem Beitrag geben ausschließlich die persönlichen Meinungen und Eindrücke des Verfassers wieder. Diese Meinungen entsprechen nicht notwendigerweise denen der Vereinten Nationen oder ihrer Organe. 1 Generalversammlung, Resolution 60/1 vom 16.09.2005 – „2005 World Summit Outcome“.

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dieser Gedächtnisschrift beitragen. Diese Anmerkungen zu den vorgeschlagenen Chartaänderungen, der versuchten Sicherheitsratserweiterung und der Erschaffung eines Menschenrechtsrates und einer Kommission für Friedenskonsolidierung sind natürlich sehr selektiv und erfassen nicht annähernd die rechtliche Dimension von Resolution 60/1 und nachfolgenden Umsetzungsresolutionen. Auch reflektieren sie die persönliche Meinung des Verfassers, die nicht notwendigerweise die der Vereinten Nationen, insbesondere seines Sekretariates, ist.

II. Auf dem Weg zum Weltgipfel 2005 Wie vielleicht keiner seiner Vorgänger war Generalsekretär Kofi Annan während seiner gesamten Amtszeit bemüht, zusammen mit den Mitgliedstaaten Reformen für die Vereinten Nationen zu erarbeiten und umzusetzen. Es mag sein, dass er sich dafür als erster und bislang einziger Generalsekretär, der in der Organisation selbst groß geworden ist, in besonderem Maße berufen und verpflichtet fühlte. Relativ kurze Zeit nach seinem Amtsantritt legte er im Juli 1997 der Generalversammlung den Bericht „Erneuerung der Vereinten Nationen: Ein Reformprogramm“ 2 vor. Der Schwerpunkt dieses Reformkonzepts zielte auf die Verbesserung der Organisation und des Managements des Sekretariates. Kurz darauf wurden im Sekretariat die „Senior Management Group“ 3 als Exekutivgremium gebildet und der Posten einer/eines Stellvertretenden Generalsekretärin bzw. Generalsekretärs (“Deputy Secretary-General“) 4 geschaffen. 5 Diese beiden Maßnahmen seien exemplarisch als Beleg dafür angeführt, dass Generalsekretär Kofi Annan sich zunächst auf eine Innenreform des Sekretariates konzentrierte. Zum Ende seiner ersten Amtszeit und nach seiner Wiederwahl wollte Kofi Annan aber auch eine umfassende Außenreform der Vereinten Nationen verwirklichen, was er sicherlich bereits bei seinem Amtsantritt als großes und blei___________ 2

Bericht des Generalsekretärs, A/51/950 vom 14.07.1997. Vgl. ST/SGB/1997/3 vom 08.09.1997. Ein „Secretary-General’s Bulletin (SGB)“ ist ein die innere Organisation des Sekretariats betreffender rechtlich verbindlicher Akt. 4 Generalversammlung, Resolution A/Res/52/12B vom 19.12.1997. 5 Am Rande sei hier angemerkt, dass das rechtlich Interessante an dieser neu geschaffenen Position die strenge Bindung an den Generalsekretär ist. Ohne originären Legitimationsakt, weder durch den Sicherheitsrat noch durch die Generalversammlung, ist das „Schicksal“ der Person, die das Amt des Deputy Secretary-General bekleidet, von dem des Generalsekretärs abhängig. Dies bedeutet konkret, dass wenn der Generalsekretär durch Ablauf seiner Amtszeit oder anders (etwa durch Tod – Generalsekretär Dag Hammarskjöld starb am 18.09.1961 bei einem Flugzeugabsturz – oder durch Rücktritt) aus dem Amt scheidet, der Deputy Secretary-General ebenfalls aus dem Amt scheidet und nicht etwa ohne Weiteres quasi automatisch zu einer Art „Acting Secretary-General“ wird. 3

Einige Anmerkungen zum Weltgipfel der Vereinten Nationen

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bendes Ziel seiner gesamten Amtszeit als Generalsekretär ins Auge gefasst hatte. Aufschlussreich hierfür ist es, sich seine Reden anlässlich der alljährlichen Vorstellung des Berichts des Generalsekretärs über die Arbeit der Vereinten Nationen zur Einleitung der Generaldebatte in einer Gesamtschau zu betrachten. Am 20. September 1999, zur Eröffnung der 54. Generalversammlung, stellte Kofi Annan das Thema der „humanitären Intervention“ in den Mittelpunkt seiner Rede,6 am 12. September 2002, anlässlich der Eröffnung der 57. Generalversammlung, betonte der Generalsekretär, dass eine effektive Antwort auf die Bedrohung durch den Terrorismus nicht durch unilaterale Maßnahmen, sondern nur durch multilaterale Zusammenarbeit formuliert und gegeben werden könne.7 In seiner „fork in the road“-Rede am 23. September 2003 anlässlich der Eröffnung der 58. Generalversammlung mahnte der Generalsekretär eindringlich „radikale Veränderungen“ an, um die Angemessenheit und die Effektivität der der Organisation zur Verfügung stehenden Mittel zu verbessern, damit sie die Herausforderungen, denen die Welt gegenübersteht, bewältigen könne.8 Und für seine Rede am 21. September 2004 anlässlich der Eröffnung der 59. Generalversammlung wählte Generalsekretär Annan das Rahmenthema der „Herrschaft des Rechts.“9 Während die Weltpolitik selbstverständlich die Rahmenthemen der Generaldebatte und auch das Thema der Eröffnungsrede des Generalsekretärs diktiert, war die Auswahl und Abfolge der von Generalsekretär Kofi Annan gewählten Leitthemen natürlich alles andere als Zufall. Sie geben vielmehr Zeugnis für die Beharrlichkeit, mit der Kofi Annan die Eckpfeiler einer großen Außenreform der Vereinten Nationen setzte, die letztendlich vom Weltgipfel 2005 beschlossen werden sollte. Um auf dem Weg zum Weltgipfel 2005 einen zusätzlichen Impetus zu geben, kündigte Kofi Annan in seiner Rede vor der Generalversammlung am 23. September 2003 die Einsetzung eines Expertengremiums an, das einen Bericht vorlegen sollte, der gegenwärtige Bedrohungen des Friedens und der Sicherheit untersuchen, die Möglichkeiten diesen Bedrohungen mit gemeinsamen Aktionen zu begegnen ausloten, das Funktionieren der wichtigsten Organe der Vereinten Nationen und ihre Beziehungen zueinander analysieren, und Wege zur Stärkung der Organisation durch die Reform ihrer Institutionen und Arbeitsabläufe empfehlen sollte. Am 2. Dezember 2004, ein gutes Jahr später also, legte das „High-level Panel“ dem Generalsekretär diesen Bericht vor.10 ___________ 6

Generalversammlung, A/54/PV.4 vom 20.09.1999. Generalversammlung, A/57/PV.2 vom 12.09.2002. 8 Generalversammlung, A/58/PV.7 vom 23.09.2003. 9 Generalversammlung, A/59/PV.3 vom 21.09.2004. 10 A/59/565 vom 02.12.2004 (Note by the Secretary-General: A more secure world: our shared responsibility. Report of the High-level Panel on Threats, Challenges and Change). 7

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Auf der Grundlage der Empfehlungen des „High-level Panels“ erarbeitete der Generalsekretär dann seinen Bericht „In larger freedom: towards development, security and human rights for all“, 11 der im März 2005 der Generalversammlung übermittelt wurde. In den Bericht des Generalsekretärs flossen auch die Ergebnisse des im Januar 2005 erschienenen und von Jeffrey Sachs geleiteten UN Millennium Projects 12 ein. Diese und andere Dokumente, es ist insbesondere noch der so genannte Cardoso-Bericht vom 11. Juni 2004 13 zu erwähnen, lagen den Mitgliedstaaten und der Generalversammlung vor, als im Frühling 2005 unter der Leitung des Präsidenten der 59. Generalversammlung Jean Ping aus Gabun und seines Kabinettschefs Parfait Onanga-Anyanga dann die Verhandlungen des „2005 World Summit Outcome Documents“ begannen. Verhandlungen von Gipfelabschlussdokumenten sind Sache der Mitgliedstaaten. Präsident Ping und sein Team hielten aber stets informellen Kontakt zum Sekretariat. Rechtstechnische Fragen traten während der Verhandlungen wenige auf. Gelegentlich nahm das Office of Legal Affairs informell Stellung zu konzeptionstechnischen Fragen neu zu schaffender Organe oder Mandate. Eine gewisse Transparenz während der Verhandlungen wurde durch die immer noch interessante Website „www.reformtheun.org“ der NGO „World Federalist Movement – Institute for Global Policy“ hergestellt, auf der eine Vielzahl interner Dokumente auftauchte. Wenn man den „High-level Panel“-Bericht und den „In larger freedom“Bericht des Generalsekretärs mit der „2005 World Summit Outcome“ Resolution 60/1 vom 16. September 2005 einerseits und andererseits die verschiedenen Entwürfe der Resolution 60/1 vergleicht, wird deutlich, dass die große Reform der Vereinten Nationen wieder einmal nicht stattgefunden hat. Darüber hob in der Presse und teilweise auch in der wissenschaftlichen Literatur ein großes Wehklagen an. Und es stimmt sicher auch, dass im September 2005 eine Chance zu einer umfassenden Reform der Vereinten Nationen nicht genutzt wurde, auf die Generalsekretär Kofi Annan lange Jahre hingearbeitet hat. Es konnte im politischen Weltklima im Herbst 2005 allerdings auch niemand wesentlich mehr erwarten. Die tiefe Spaltung des Sicherheitsrates und des westlichen Lagers aufgrund des im März 2003 unter Führung der Vereinigten Staaten begonnenen Irak-Krieges wirkte noch nach bzw. war noch nicht überwunden. Die Konfrontation der Staaten des Westens mit den Staaten der „Gruppe der 77“ im Hinblick auf die Themen Entwicklung und Management-Reform der Vereinten Nationen war in vollem Gange, und sie sollte sich bei den Haushaltsdebatten ___________ 11

A/59/2005 vom 21.03.2005 (Report of the Secretary-General). Millennium Project, Report to the UN Secretary-General, Investing in Development, A practical plan to achieve the millennium development goals, Januar 2005. 13 A/58/817 vom 11.06.2004 (We the Peoples: Civil Society, the United Nations and Global Governance. Report of the Panel of Eminent Persons on United Nations-Civil Society Relations). 12

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fortsetzen. Und schließlich hatte eine Reihe von „Skandalen“ im Sekretariat die Stimmung bei den Schlussverhandlungen äußerst schwierig gemacht. In der Endphase der Verhandlungen sorgte zudem eine Vielzahl von Änderungsvorschlägen der amerikanischen Delegation für zusätzlichen Unmut. Am Vorabend des Eintreffens der Staats- und Regierungschefs war unklar, ob man sich überhaupt auf einen Konsenstext einigen würde können. So gesehen erscheint das erreichte Ergebnis vielleicht in einem etwas positiveren Lichte.

III. Rechtliche Aspekte der durch den Weltgipfel 2005 mandatierten Reform Auch wenn das Sekretariat sich mehr erhofft hatte, so enthielten die Ergebnisse des Weltgipfels 2005 durchaus eine eindrucksvolle Reformagenda, die es auch dem Sekretariat ermöglichen wird, die Mitgliedstaaten besser bei der Bewältigung der immensen Herausforderungen zu unterstützen, mit denen sie am Beginn des 21. Jahrhunderts konfrontiert sind. In einer Rede vor den Rechtsberatern der Außenministerien der Mitgliedstaaten am 24. Oktober 2005 im Rahmen der „Woche des Völkerrechts“, zeigte sich der Legal Counsel der Vereinten Nationen, Untergeneralsekretär Nicolas Michel, erfreut darüber, dass das Völkerrecht und das Konzept der Herrschaft des Rechts breiten Raum in der Resolution 60/1 eingenommen haben. Völkerrecht und die Herrschaft des Rechts sind von den Staats- und Regierungschefs in den Rang eines Querschnittsthemas erhoben worden, welches die gesamte Resolution durchdringt. Dem Völkerrecht und der Herrschaft des Rechts ist eine hervorgehobene Stellung unter den „Werten und Prinzipien“ zugedacht worden, und das Völkerrecht ist als eine Grundlage im Zusammenhang mit beispielsweise dem Prinzip einer nachhaltigen Entwicklung, dem Weltfrieden und der Sicherheit im Allgemeinen und der Gewaltanwendung und dem Kampf gegen den Terrorismus im Besonderen, sowie der „responsibility to protect“ genannt. Das IV. Kapitel von Resolution 60/1 ist in seiner Gesamtheit den „Menschenrechten und der Herrschaft des Rechts“ gewidmet. Besonders erfreut zeigte sich der Legal Counsel über Paragraph 134 (a), in dem die Staats- und Regierungschefs „in Anerkennung der Notwendigkeit, den Grundsatz der Herrschaft des Rechts auf nationaler wie auch internationaler Ebene allgemein einzuhalten und anzuwenden“, ihr „Bekenntnis zu den Zielen und Grundsätzen der Charta und des Völkerrechts sowie zu einer auf der Herrschaft des Rechts und des Völkerrechts beruhenden internationalen Ordnung, eine wesentliche Voraussetzung für die friedliche Koexistenz und die Zusammenarbeit zwischen den Staaten“ bekräftigen. Das ist nicht unerheblich, insbesondere wenn man bedenkt, dass im ersten Entwurf des „outcome documents“ der Begriff des Völkerrechts kein einziges Mal vorkommt.

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IV. Die vom Weltgipfel angeregten Änderungen der Charta der Vereinten Nationen Ganz am Ende enthält Resolution 60/1 drei Bestimmungen betreffend die Charta der Vereinten Nationen. 14 Paragraph 176 besagt, dass der Treuhandrat keine verbleibenden Funktionen mehr hat und demzufolge Kapitel XIII und die in Kapitel XII enthaltenen Verweisungen auf den Treuhandrat gestrichen werden sollten. Seitdem Palau im Jahre 1994 ein unabhängiger Staat geworden war, hatte der Treuhandrat keine Funktion mehr und stellte seine Arbeit faktisch ein. Bestrebungen, ihn abzuschaffen oder ihm neue Funktionen zuzuweisen, scheiterten jedoch. 15 Es wurde darauf hingewiesen, dass die Formulierung von Paragraph 176 Art. 7 der Charta unerwähnt lässt, in welchem der Treuhandrat als eines der Hauptorgane der Vereinten Nationen erwähnt ist. 16 Wenn man sich die Charta genau ansieht, dann ist der Treuhandrat oder Kapitel XIII zudem in den Artikeln 16, 18, 73, 98 und 101 erwähnt, die bei einer Streichung von Kapitel XIII modifiziert werden müssten. Dies mag Absicht gewesen sein oder ein redaktionelles Versehen. Bei den Verhandlungen von Resolution 60/1 hat die Debatte um die Zukunft des Treuhandrates keine große Rolle gespielt. Erstaunlicher finde ich die Entscheidung des Weltgipfels 2005, die Streichung von Kapitel XIII vorzuschlagen, Kapitel XII betreffend ein internationales Treuhandsystem aber zu erhalten. Meines Erachtens hat auch das internationale Treuhandsystem seine Bestimmung erfüllt und es ist mir schlechterdings nicht vorstellbar, dass in Zukunft Gebiete wieder unter das Regime eines internationalen Treuhandsystems gestellt werden. Genau dieses Signal sendet aber der Weltgipfel, wenn er die Streichung von Kapitel XIII unter Beibehaltung von Kapitel XII vorschlägt. Das Office of Legal Affairs hat auf diese Situation mehrfach informell hingewiesen, weswegen anzunehmen ist, dass die Mitgliedstaaten sich bewusst für die gewählte Lösung entschieden haben. Gründe hierfür vermag ich nicht zu erkennen. Ein Thema, das Professor Blumenwitz während seines gesamten wissenschaftlichen Wirkens beschäftigt hat, sind die „Feindstaatenklauseln“ der Charta. 17 Mit diesem Thema befasst sich Paragraph 177 der Resolution 60/1. In dieser Bestimmung beschließt der Weltgipfel 2005 unter Verweis auf Generalver___________ 14

Generalversammlung, Resolution 60/1 vom 16.09.2005 – „2005 World Summit Outcome“, Paragraphen 176, 177 und 178. 15 Vgl. hierzu und zum Ganzen: Eitel, T., in: Varwick, J. / Zimmermann, A. (Hrsg.), Die Reform der Vereinten Nationen. – Bilanzen und Perspektiven, 2005, S. 315, 318 ff. 16 Eitel (Fn. 15), S. 315, 319 f. 17 Vgl. etwa Blumenwitz, D., Feindstaatenklauseln, 1972; Blumenwitz, D., in: Wolfrum, R. (Hrsg.), Handbuch Vereinte Nationen, 2. Aufl. 1991, S. 143 ff.; Blumenwitz, D., in: Wolfrum, R. (Hrsg.), United Nations: Law, Policies and Practice, 1995, S. 470 ff.; Blumenwitz, D., in: Bernhardt, R. (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, Vol. II, S. 459 ff.

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sammlungsresolution 50/52 vom 11. Dezember 1995 und „unter Hinweis auf die diesbezüglichen Erörterungen in der Generalversammlung, eingedenk des tieferen Grundes für die Gründung der Vereinten Nationen und im Hinblick auf unsere gemeinsame Zukunft“, Hinweise auf die Feindstaatenklauseln in den Art. 53, 77 und 107 der Charta zu streichen. In § 298 seines Berichts empfiehlt der „High-level Panel“ keine Streichung, sondern lediglich eine „Revision“ der Feindstaatenklauseln mit dem Hinweis, dass eine derartige Revision nicht rückwirkend die rechtlichen Wirkungen dieser Artikel unterminieren sollte. Diese vorsichtige Formulierung sollte wohl einer Hinterfragung der von den Alliierten nach Ende des Zweiten Weltkrieges getroffenen Maßnahmen in Europa und Asien von vornherein jegliche Grundlage entziehen. In § 217 seines Berichts „In larger freedom“ schlägt der Generalsekretär hingegen eine Streichung der „anachronistischen“ Feindstaatenklauseln vor. § 177 wurde buchstäblich in den letzten Minuten vor der Annahme von Resolution 60/1 noch fertig verhandelt. Die gefundene Kompromissformel deutet an, dass einige Staaten in der Tat Bedenken gegen eine Streichung ohne Weiteres hatten. Rein rechtlich gesehen hätte es der umständlichen Formulierung in § 177 nicht bedurft, da die Streichung der Feindstaatenklauseln keine Rückwirkung gehabt hätte, sondern Wirkung nur in der Zukunft entfaltet hätte. 18 Während der „High-level Panel“ in § 300 seines Berichts die Streichung des Generalstabsausschusses, d. h. die Streichung von Art. 47 der Charta und die Bezugnahme hierauf in den Art. 26, 45 und 46 der Charta, vorschlägt, geht der Generalsekretär in seinem Bericht „In larger freedom“ hierauf nicht ein. Auch wenn es natürlich wahr ist, dass der Generalstabsausschuss seine ihm von der Charta zugedachte Rolle nie ausgefüllt hat, schien sich seine Eliminierung nicht aufzudrängen. Eine Streichung hätte im Gegenteil möglicherweise die Signalwirkung, dass die Mitgliedstaaten davon ausgehen, dass auch in Zukunft dem Sicherheitsrat niemals Streitkräfte formell zur Verfügung gestellt werden. Diese Signalwirkung wird vom Weltgipfel 2005 klar vermieden, indem er in § 178 lediglich den Sicherheitsrat ersucht „die Zusammensetzung, das Mandat und die Arbeitsmethoden des Generalstabsausschusses zu prüfen.“ Vielleicht führt dies ja sogar zu einer Wiederbelebung des Generalstabsausschusses.

V. Die Erweiterung des Sicherheitsrates Wenn es ein Einzelthema gab, das die 59. Generalversammlung besonders spannend gemacht hat, dann war es sicher das Thema einer Erweiterung des Sicherheitsrates. Kanzler Schröder und Außenminister Fischer klopften hörbar zusammen mit Brasilien, Indien und Japan im Verbund der „G-4“ an die Tür ___________ 18

Vgl. auch Eitel (Fn. 15), S. 315, 320 ff.

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des Sicherheitsrates. Jedes leise Zweifeln an den Erfolgsaussichten des Unternehmens wurde einem im „Deutschen Haus“ an der 1. Avenue, Ecke 49. Straße beinahe als Vaterlandsverrat ausgelegt. An Selbstbewusstsein, Emotion und Siegeswillen fehlte es Deutschland, Sicherheitsratsmitglied 2003–2004, 19 bestimmt nicht. Die Welt wurde in Gut und Böse, in „G-4“ und „Coffee Club“ eingeteilt. Mit meinem Kollegen Antonio Menendez de Zubillaga, mit dem ich zu dieser Zeit das Verfahrensrecht der Generalversammlung betreute, haben wir wahre Sternstunden der Generalversammlung erlebt, wo ansonsten selten mit offenem Visier gekämpft wird. Genau dies war aber bei den Debatten im Juli 2005 der Fall. 20 Über Strategie und Dramaturgie des Unternehmens ist viel geschrieben worden und es wird wohl noch mehr geschrieben werden. 21 Ich möchte mich daher hier auf einige rechtstechnische Fragen einer Chartaänderung beschränken, die auch das Office of Legal Affairs beschäftigten. Im Juli 2005 lagen der Generalversammlung drei konkurrierende Resolutionsentwürfe vor: der „G-4“-Entwurf A/59/L.64 vom 6. Juli 2005, der Entwurf einer Gruppe afrikanischer Staaten A/59/L.67 vom 14. Juli 2005 und der „Uniting for Consensus“-Entwurf A/59/L.68 vom 21. Juli 2005. Der Entwurf der „G-4“ sah eine Erhöhung der Mitglieder des Sicherheitsrates auf 25 vor. Von den zehn neuen Sitzen sollten sechs permanent sein. Die Staaten, die neue ständige Sitze erhalten würden, sollten, in einem zweiten Schritt, in einer Wahl bestimmt werden. Nach dieser Wahl sollte, in einem dritten Schritt dann, eine chartaändernde Resolution eingebracht werden, welche die neuen ständigen Mitglieder festschreiben sollte. Der Entwurf enthielt keinen klaren und eindeu___________ 19

Vgl. hierzu Pleuger, G., Deutschland im Sicherheitsrat, Bilanz aus zwei Jahren als gewähltes Mitglied, in: Vereinte Nationen 1/05, S. 1 ff. 20 Die Debatten der 111., 112., 114. und 115. Sitzungen der Generalversammlungen können in den Wortprotokollen (A/59/PV.111 vom 11.07.2005, A/59/PV.112 vom 12.07.2005, A/59/PV.114 vom 18.07.2005 und A/59/PV.115 vom 26.07.2005) nachgelesen werden. Sie erfassen jedoch nicht annähernd die gespannte Stimmung, die in diesen Tagen in der vollbesetzten Generalversammlung herrschte. Besonders erwähnenswert erscheinen mir die Reden von Botschafter Sardenberg (Brasilien), der den „G-4“-Resolutionsentwurf vorstellte (A/59/PV.111, S. 1 ff.), Botschafter Rock (Kanada), der den „Uniting for Consensus“-Resolutionsentwurf vorstellte (A/59/PV.115, S. 1 ff.), und Botschafter Pleuger (A/59/PV.112, S. 12 ff.). Beeindruckend fand ich die aus dem Stegreif und ohne Redemanuskript vorgetragene Intervention von Indiens Botschafter Sen (A/59/PV.112, S. 27 ff.). Die hochemotionale Stimmung der Debatten wird wohl am deutlichsten in der rüden Attacke des algerischen Botschafters Baali gegen Botschafter Pleuger (A/59/PV.112, S. 30) und in der „Enough is enough“-Rede des italienischen Botschafters Spatafora, der den „G-4“ vorwarf, afrikanische Staaten zu bestechen (A/59/PV.115, S. 3 f.). 21 Vgl. etwa, Fassbender, B., On the Boulevard of Broken Dreams: The Project of a Reform of the Security Council after the 2005 World Summit, in: International Organizations Law Review, 2005, S. 391 ff.; Rittberger, V. / Baumgärtner, H., in: Varwick / Zimmermann (Fn. 15), S. 47 ff.; Winkelmann, I., in: Varwick / Zimmermann (Fn. 15), S. 67 ff.

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tigen Verzicht auf ein „Vetorecht“ der neuen ständigen Mitglieder. Er sah aber vor, dass die neuen ständigen Mitglieder auf die Ausübung eines Vetos verzichten sollten, bis im Rahmen einer Überprüfung der Erweiterung, die 15 Jahre nach Inkrafttreten der Chartaänderung stattfinden sollte, über diese Frage entschieden werden sollte. Im Gegensatz dazu sah der Entwurf einer Gruppe afrikanischer Staaten eindeutig ein „Vetorecht“ für die sechs neuen ständigen Mitglieder vor. Dieser Vorschlag sah zudem die Erhöhung der Mitglieder des Sicherheitsrates auf 26 vor. Der Entwurf der „Uniting for Consensus“-Gruppe sah eine Erhöhung der Mitglieder des Sicherheitsrats um zehn nicht-ständige Sitze auf 25 vor. Alle insgesamt 20 nicht-ständigen Mitglieder sollten unmittelbar wieder wählbar sein. 22 Auf Anfrage des Präsidenten der Generalversammlung erstellte das Office of Legal Affairs ein Gutachten betreffend Entscheidungen der Generalversammlung über die Frage einer Änderung der Charta zur Erweiterung des Sicherheitsrates. 23 Das Gutachten geht insbesondere auf die Frage der erforderlichen Mehrheiten und des Abstimmungsmodus ein. Art. 108 der Charta erfordert für chartaändernde Resolutionen eine Zweidrittelmehrheit der Mitglieder der Generalversammlung, also eine absolute Zweidrittelmehrheit. In der kurzen Resolution 53/30 vom 23. November 1998 entschied die Generalversammlung, Resolutionen betreffend eine gerechte Vertretung im Sicherheitsrat und der Erhöhung der Mitglieder des Sicherheitsrates nur mit den positiven Stimmen von mindestens zwei Drittel der Mitglieder der Generalversammlung zu beschließen. Da die Anzahl der Mitglieder der Generalversammlung damals 191 betrug, wäre eine solche absolute Zweidrittelmehrheit mit 128 Stimmen erreicht gewesen. In der Praxis der Generalversammlung werden Resolutionen in den meisten Fällen „im Konsens“, also ohne Abstimmung angenommen. Konsens ist nun nicht etwa mit Einstimmigkeit gleichzusetzen, sondern bedeutet lediglich, dass die Mitglieder keine Einwände gegen das Passieren eines Entwurfes haben, die erheblich genug wären, den betreffenden Staat zu einer negativen Stimme zu veranlassen. 24 Bei Resolutionsentwürfen, die in den Anwendungsbereich von Art. 108 der Charta und Resolution 53/50 fallen, ist allerdings keine Annahme im Konsens möglich, da anderenfalls die Existenz einer absoluten Zweidrittelmehrheit nicht zweifelsfrei festgestellt werden kann. ___________ 22 Vgl. zu Details der verschiedenen Resolutionsentwürfe: Fassbender (Fn. 21), S. 391, 398 ff., und Winkelmann, I., in: Varwick / Zimmermann (Fn. 15), S. 67, 78 ff. 23 Dieses Gutachten ist veröffentlicht in: International Organizations Law Review, 2006, S. 165 ff. 24 Am Rande sei angemerkt, dass jedes Mitglied der Generalversammlung für jeden Resolutionsentwurf eine formelle Abstimmung verlangen und damit den Konsens „brechen“ kann. Dieses Recht ist eines der unveräußerlichen „Grundrechte“ eines jeden Mitgliedes der Generalversammlung.

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Über derartige Resolutionsentwürfe muss also stets formell abgestimmt werden. Falls einzelne Mitgliedstaaten aus politischen Gründen ihr Abstimmungsverhalten in derartig heiklen Fragen nicht offen legen wollen, besteht die Möglichkeit einer geheimen Abstimmung. Für verfahrensrechtliche Anträge allerdings gilt die normale einfache Mehrheit der „present and voting“, 25 es sei denn, die Generalversammlung entscheidet, dass auch für diese Verfahrensanträge eine Zweidrittelmehrheit gelten soll. Für eine verfahrensrechtliche Entscheidung über die Anwendung einer Zweidrittelmehrheit auch für Prozessanträge würde eine einfache Mehrheit der „present and voting“ gelten. Ergänzend sei schließlich noch angemerkt, dass gemäß Art. 108 der Charta eine von der Generalversammlung beschlossene Änderung der Charta für alle Mitglieder völkerrechtsverbindlich nur dann in Kraft treten kann, wenn zwei Drittel der Mitglieder der Vereinten Nationen diese Chartaänderung, also die chartaändernde Resolution, gemäß ihrer nationalen Verfahren auch ratifizieren. Während die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates nicht notwendigerweise in der Generalversammlung für die Änderung der Charta stimmen müssen, kann eine solche Änderung nur dann in Kraft treten, wenn alle ständigen Sicherheitsratsmitglieder die Änderung ratifizieren. Somit haben die ständigen Sicherheitsratsmitglieder auch bei Änderungen der Charta jeweils ein „Vetorecht“. Politisch gesehen ist dieses Vetorecht allerdings wohl nur ein theoretisches, da nach einer Ratifizierung durch zwei Drittel der Mitglieder der Vereinten Nationen der politische Druck auf die ständigen Mitglieder, ebenfalls zu ratifizieren, immens wäre und desto größer würde, je mehr ständige Mitglieder ratifizieren würden. Bekanntlich wurde keiner der eingebrachten Entwürfe während der 59. Generalversammlung zur Abstimmung gebracht. Letztlich hat die tapferen Vier am Ende dann doch der Mut verlassen. Da Resolutionsentwürfe eine Sitzungsperiode nicht überdauern, mussten die Entwürfe in die 60. Generalver___________ 25 Das Konzept der Mehrheit der „present and voting“ scheint eines der großen Mysterien des Verfahrens der Generalversammlung zu sein, das allenthalben und insbesondere von Journalisten selten verstanden wird. Die übliche Mehrheit für Entscheidungen der Generalversammlung ist eine einfache Mehrheit der „present and voting“, also der anwesenden und abstimmenden Mitglieder der Generalversammlung. Hierbei müssen zunächst folgende Quoren beachtet sein: der Präsident der Generalversammlung, als Hüter des Verfahrensrechts, darf eine förmliche Sitzung erst bei Anwesenheit von einem Viertel der Mitglieder eröffnen. Für eine förmliche Entscheidung ist die Anwesenheit einer absoluten Mehrheit der Mitglieder (bei damals 191 Mitgliedern wären dies 96, heute, bei einem Mitgliederstand von 192, wären es 97) erforderlich. Dies gilt auch für eine Annahme eines Resolutionsentwurfes im Konsens. Bei Abstimmungen wird dann erst eine Basis zur Bestimmung der erforderlichen Mehrheit errechnet. Dies geschieht durch Addition aller gültigen Stimmen, wobei ungültige Stimmen und Enthaltungen nicht hinzugezählt werden. Auf der Grundlage dieser Basis wird dann die Mehrheit ermittelt. Somit kann eine Abstimmung der Generalversammlung beispielsweise auch mit 12 zu 4 ausgehen.

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sammlung erneut eingebracht werden. Sowohl die afrikanische Gruppe 26 hat dies getan als auch eine auf „G-3“ zusammengeschrumpfte „G-4“. 27 Aber auch während der 60. Sitzungsperiode wurde nicht über eine Erweiterung des Sicherheitsrates abgestimmt. Der „G-4“ ist es offensichtlich nicht gelungen, genügend afrikanische Staaten von ihrem Entwurf zu überzeugen. Es lag aber nicht nur daran. In große Unwägbarkeiten hätte man sich begeben, wenn man im zweiten Schritt, der Wahl sechs neuer ständiger Sicherheitsratsmitglieder, sozusagen hängen geblieben wäre, wenn also kein oder keine zwei afrikanischen Staaten eine ausreichende Mehrheit bei dieser Wahl gefunden hätten. Es wäre dann mehr als fraglich gewesen, ob man eine halbe Sicherheitsratserweiterung über die dritte Hürde einer förmlichen Chartaänderung gebracht hätte. Hinter den Kulissen wird zwar weiterhin sondiert und es werden auch neue Alternativmodelle erwogen, das Thema einer Sicherheitsratserweiterung dürfte aber auf absehbare Zeit erledigt sein. Die anderen Entwürfe muss man nicht weiter diskutieren, da der afrikanische Vorschlag, der ein „Vetorecht“ für die neuen Möchtegern-Ständigen vorsieht, unrealistisch und der „Uniting for Consensus“ lediglich ein Zerstörervorschlag der Regionalrivalen der jeweiligen „G-4“-Staaten gewesen ist. Trotz ihres Scheiterns haben sich Brasilien, Deutschland, Indien und Japan größten Respekt aufgrund ihres Mutes, ihres Einsatzes und ihrer vernünftigen und auch stets vernünftig und argumentativ schlüssig vorgetragenen konstruktiven Vorschläge erworben.

VI. Der Menschenrechtsrat Nach der harten und teilweise sehr aggressiv geführten Verhandlung der Abschlussresolution 60/1 rang sich der Weltgipfel 2005 zur Schaffung zweier neuer Organe durch, eines Menschenrechtsrates und einer Kommission für Friedenskonsolidierung. Diese beiden neuen Organe waren im „outcome document“ allerdings nur in Grundzügen definiert. Dem Schweden Jan Eliasson, dem Präsidenten der 60. Generalversammlung, fiel also die schwierige Aufgabe zu, die Verhandlungen fortzuführen und den neuen Organen sozusagen zur Geburt zu verhelfen. Die 53 Mitglieder umfassende Menschenrechtskommission, ein Unterorgan des Wirtschafts- und Sozialausschusses, war über die Jahre schwer in die Kritik geraten, nicht oder nicht mehr in der Lage zu sein, ihre Aufgabe effektiv zu erfüllen. Ob diese Kritik in ihrer Schärfe immer berechtigt war, soll hier dahinstehen. Auf dem Weg zum Weltgipfel 2005 schien sich jedoch ein genereller Konsens dahingehend herauszubilden, dass die Menschenrechtskommission ___________ 26

Generalversammlung, Resolutionsentwurf, A/60/L.41 vom 14.12.2005. Generalversammlung, Resolutionsentwurf, A/60/L.46 vom 05.01.2006, wobei Japan nicht mehr als Sponsor auftrat. 27

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entweder fundamental reformiert oder durch ein neues Organ ersetzt werden müsste. Diese Stimmung griff der „High-level Panel“ in seinem Bericht auf und schlug eine Fundamentalreform vor. In § 291 deutete der Bericht an, dass die Mitgliedstaaten erwägen mögen, die Kommission zu einem Menschenrechtsrat „zu erhöhen“, der ein Hauptorgan der Vereinten Nationen sein könnte. In seinem Bericht „In larger freedom“ griff der Generalsekretär diese Idee auf und schlug vor, die Menschenrechtskommission durch einen Menschenrechtsrat zu ersetzen. Es läge dann an den Mitgliedstaaten zu entscheiden, ob dieser Menschenrechtsrat im Rang eines Hauptorgans der Vereinten Nationen oder im Rang eines Unterorgans der Generalversammlung konzipiert werden sollte. 28 Der Vorschlag, den Menschenrechtsrat als Hauptorgan der Vereinten Nationen zu erschaffen, was eine Chartaänderung erfordert hätte, wurde von den Mitgliedstaaten relativ schnell verworfen. Die Idee, die Menschenrechtskommission durch einen Menschenrechtsrat im Rang eines Unterorgans der Generalversammlung zu ersetzen, wurde jedoch weiterverfolgt. 29 Während in verschiedenen Entwürfen des „outcome documents“ ein solcher Menschrechtsrat relativ detailliert beschrieben wurde, enthält die Endversion, Resolution 60/1, vier magere Paragrafen, in denen die Staats- und Regierungschefs lediglich beschließen, einen Menschenrechtsrat zu erschaffen und dem Präsidenten der Generalversammlung aufgeben, Verhandlungen der Mitgliedstaaten zu leiten, in denen das Mandat, die Modalitäten, die Funktionen, die Größe und Zusammensetzung, die Mitgliedschaft, die Arbeitsmethoden und das Verfahren eines solchen Rates bestimmt werden sollten. 30 Damit war der Menschenrechtsrat noch nicht geschaffen. Dies geschah erst durch Resolution 60/251 vom 15. März 2006, durch die die Generalversammlung entschied, die Menschenrechtskommission durch einen Menschenrechtsrat zu ersetzen, der als Unterorgan der Generalversammlung konzipiert ist. 31 Die Tür, den Rat in ein Hauptorgan der Vereinten Nationen umzuwandeln, wurde allerdings noch nicht völlig zugeschlagen, da nach den §§ 1 und 16 von Resolution 60/251 nach fünf Jahren der Status und die Arbeit des Rates einer Überprüfung unterzogen werden soll. Der neue Menschenrechtsrat umfasst 47 Mitglieder, also nur sechs weniger als die alte Kommission, die von der Generalversammlung mit einer absoluten Mehrheit gewählt werden sollten. Der Bericht des Generalsekretärs sah für die Wahl in den ___________ 28 Vgl. § 183 des Berichts des Generalsekretärs „In larger freedom“, A/59/2005 vom 21.03.2005. 29 Vgl. hierzu etwa Corell, H., Reforming the United Nations, in: International Organizations Law Review, 2005, S. 373, 384 f. 30 Generalversammlung, Resolution 60/1 vom 16.09.2005, §§ 157–160. 31 Vgl. hierzu auch A/60/PV.72 vom 15.03.2006, insbesondere die einleitenden Ausführungen von Präsident Eliasson.

Einige Anmerkungen zum Weltgipfel der Vereinten Nationen

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Rat eine Mehrheit von zwei Drittel der „present and voting“ vor. Die einfache absolute Mehrheit wurde letztendlich durch einen Positionswechsel der EUStaaten vorbereitet, gegen die Kritik der Vereinigten Staaten. Eine absolute (einfache) Mehrheit, so die europäische Argumentation, würde dafür sorgen, dass alle neuen Mitglieder des Menschenrechtsrates mit der gleichen demokratischen Mindestlegitimation in den Rat gewählt werden müssen, da es theoretisch möglich wäre, dass eine Zweidrittelmehrheit der „present and voting“ zahlenmäßig kleiner ist als eine absolute Mehrheit der Mitglieder der Generalversammlung. An der absoluten einfachen Mehrheit wurde (informell) kritisiert, dass sie mit der Charta unvereinbar sei, da die Charta eine absolute einfache Mehrheit nicht kennt. Die Vereinigten Staaten kannten dieses Argument, führten es aber in der Debatte nicht an. Da die Menschenrechtskommission ein Unterorgan des Wirtschafts- und Sozialausschusses war, konnte sie die Generalversammlung nicht selbst abschaffen, sondern musste dem Wirtschafts- und Sozialausschuss empfehlen dies zu tun, was in § 13 von Resolution 60/251 geschah. Auch wenn es keine Hierarchie der Hauptorgane der Vereinten Nationen gibt, wird aus dem X. Kapitel der Charta, insbesondere aus Art. 66, deutlich, dass der Wirtschaftsund Sozialausschuss in vielerlei Hinsicht der Generalversammlung untersteht und an die Empfehlungen der Generalversammlung gebunden ist. Die Generalversammlung stellte für den Übergang einen klaren Zeitplan auf: am 9. Mai 2006 sollten die Mitglieder des Menschenrechtsrates gewählt werden, zum 16. Juni 2006 sollte die Menschenrechtskommission abgeschafft werden und am 19. Juni 2006 sollte der neue Menschenrechtsrat zusammentreten, was auch so geschah. Befürchtungen, dass es nicht gelingen werde, die neuen 47 Mitglieder auf Anhieb zu wählen, bestätigten sich nicht, weswegen die delikate rechtliche Frage, ob denn der Menschenrechtsrat zu seiner konstituierenden Sitzung zusammentreten könne, auch wenn nicht alle Sitze besetzt wären, in der Praxis nicht beantwortet werden musste. 32 Eine interessante Bestimmung ist § 7 der Resolution 60/251 betreffend die geographische Verteilung der Sitze auf die fünf Regionalgruppen. Den afrikanischen und asiatischen Staaten wurden jeweils 13 Sitze zugesprochen, was diesen beiden Staatengruppen zusammen eine permanente Mehrheit im Rat zubilligt. Während also der „Westen“ in der alten Kommission, oftmals unter nicht unerheblichen Anstrengungen aber dann eben doch, eine Mehrheit zusammenbekommen konnte, wird dies jetzt wohl erheblich schwerer werden. Ohne hier die Meinung zu vertreten, dass der „Westen“ der Hüter der universalen Menschenrechte ist, möchte ich auf dieses neue Stimmenverhältnis hinweisen. Großartig gepriesen wurde im Rahmen der Annahme von Resolution 60/251 die Bestimmung des § 8 am Ende, die vor___________ 32 Die Frage wäre meines Erachtens zu bejahen mit dem Argument, dass es lediglich auf das für das Eröffnen einer förmlichen Sitzung bzw. zur Beschlussfassung erforderliche Quorum ankommt.

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sieht, dass die Mitgliedschaftsrechte eines Ratsmitglieds, welches schwere und systematische Menschenrechtsverletzungen begeht, mit einer Zweidrittelmehrheit der „present and voting“ suspendiert werden können. Abgesehen davon, dass Staaten, die schwere und systematische Menschenrechtsverletzungen begehen, im Rat nichts zu suchen haben und dort auch gar nicht erst hinein gewählt werden sollten, wage ich die Prognose, dass diese Bestimmung sehr selten, wenn überhaupt jemals zur Anwendung kommen dürfte. Eine Bestimmung, die für große Spannungen während der Anfangsmonate des Rates sorgte, war die des § 6, der die Übernahme, Überprüfung, Verbesserung und Straffung der Mandate, Mechanismen, Aufgaben und Verantwortlichkeiten der Menschenrechtskommission durch den Menschenrechtsrat innerhalb eines Jahres vorsah. Im Gegensatz zur Abschaffung der Kommission war hier kein Beschluss des Wirtschafts- und Sozialrates erforderlich, 33 da die Generalversammlung die Überleitung aus eigener Machtvollkommenheit beschließen konnte. Meinungsverschiedenheiten bestanden aber hinsichtlich der Frage, was denn nun der Menschenrechtsrat mit den übergebenen Mandaten, Mechanismen, Aufgaben und Verantwortlichkeiten der alten Kommission tun sollte. Einige Mitglieder des Menschenrechtsrates versuchten alte, vermeintlich gegen sie gerichtete Maßnahmen der Kommission loszuwerden. Ein Kompromiss wurde dahingehend gefunden, dass der Menschenrechtsrat zunächst alle Mandate, Mechanismen, Aufgaben und Verantwortlichkeiten der alten Kommission global übernahm und dann innerhalb eines Jahres über ihr Schicksal (politisch) entscheiden sollte, nach Empfehlung von eigens dafür eingesetzten Arbeitsgruppen. 34 Ein weiteres Problem, das bislang in der Praxis keine sehr große Rolle gespielt hat, das aber ein gewaltiges Konfliktpotenzial birgt, ist die Frage des Verhältnisses des Menschenrechtsrates zum Dritten Ausschuss der Generalversammlung. Mit der einfachen Antwort, dass beide Gremien die ihnen jeweils zugewiesenen Aufgaben erledigen und sich ansonsten ergänzen, wird man dieses Problem wohl in der Zukunft nicht immer in den Griff bekommen. Spannend wird, welche Teile der Arbeit des Menschenrechtsrates das „General Committee“ dem Dritten Ausschuss und welche direkt dem Plenum zuweisen wird. Grundsätzlich sollte der Dritte Ausschuss sich mit Fragen beschäftigen, die eine Weiterentwicklung des Menschenrechtsbestandes und eine entsprechende Kodifizierung betreffen. Der Dritte Ausschuss und die Generalversammlung sollten jedenfalls darauf verzichten, Situationen zu bewerten, mit ___________ 33 ECOSOC Resolution 2006/2 vom 22.03.2006, Implementation of General Assembly Resolution 60/251. 34 Human Rights Council, Decision 1/102 vom 30.06.2006, Extension by the Human Rights Council of all, mandates, mechanisms, functions and responsibilities of the Commission on Human Rights. Diese Entscheidung listet in ihrem Annex alle zum Zeitpunkt der Abschaffung der Kommission existierenden Mandate, Mechanismen, Aufgaben und Verantwortlichkeiten der alten Kommission explizit auf.

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denen der Menschenrechtsrat befasst ist, oder gar Entscheidungen des Menschenrechtsrates zu überprüfen oder umzukehren. Der Menschenrechtsrat hatte keinen leichten Start. Bedauerlich ist, dass sich die Vereinigten Staaten nicht zu einer Kandidatur entschließen konnten. Das hat den Rat sicher nicht gestärkt. Zudem sind einige Staaten, die nun nicht gerade im Verdacht stehen, die größten Wahrer und Verteidiger der Menschenrechte zu sein, in den neuen Menschenrechtsrat gewählt worden. Außerdem hat der Menschenrechtsrat in den ersten Monaten seiner Existenz gleich eine ganze Serie von nicht besonders ausgewogenen Resolutionen gegen Israel angenommen. 35 Es erscheint fraglich, ob er dadurch zu einer Steigerung seines Ansehens und zu einer Aufwertung der Menschenrechte beigetragen hat. Das wurde sicherlich durch die oben erwähnten neuen Regionalquoten begünstigt. Einige Staaten konnten offenbar der Versuchung nicht widerstehen, der Welt zu zeigen, wer im Menschenrechtsrat den Ton angibt. Ich halte dies für kontraproduktiv. Nahezu unbemerkt wurde im Rahmen der Annahme von Resolution 60/251 ein altes verfahrensrechtliches Tabu gebrochen. Der Resolutionsentwurf 36 für 60/251 wurde als „Konsenstext“ vom Präsidenten der Generalversammlung im Namen aller Mitglieder der Generalversammlung eingebracht. Dennoch wurde der Entwurf nicht im Konsens, sondern durch eine Abstimmung mit 170 zu 4 Stimmen bei 3 Enthaltungen angenommen. Meines Erachtens ist es mit dem absoluten Neutralitätsgebot des Amtes des Präsidenten der Generalversammlung unvereinbar, wenn ein von ihm, im Namen aller Mitglieder erarbeiteter und eingebrachter Text, nicht konsensfähig ist. Zieht der Präsident aber einen nicht konsensfähigen Text nicht zurück, so ergreift er Partei. Aber Jan Eliasson war eben auch kein Präsident wie andere. 37

___________ 35 Alles bisherigen Entscheidungen und Resolutionen des Menschenrechtsrates können von seiner homepage http://www.ohchr.org/english/bodies/hrcouncil/ (19.04.2007) abgerufen werden. 36 Generalversammlung, Resolutionsentwurf, A/60/L.48. 37 Was ich ganz im positiven Sinne meine. Beim Abschlussempfang zu Ehren seiner Präsidentschaft begrüßte Jan Eliasson Antonio und mich wie stets mit einem breiten Grinsen und den Worten „ahhhh, here are my legal advisers.“ Wir kamen ins Plaudern und sagten auf seine Frage, was wir denn mitnähmen aus der 60. Sitzungsperiode: „Herr Präsident, Sie haben alle möglichen Verfahrensregeln gebrochen und sind damit durchgekommen.“ Darauf sagte er den Satz, der für uns beide fast schon legendär ist: M „Well, you see, I would look at this in a different way. I would say that we have made great efforts to put the problem in the center.“ Jan Eliasson wird für mich immer ein großer Diplomat und großer Präsident bleiben.

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VII. Die Kommission für Friedenskonsolidierung Das grundlegende Konzept der Friedenskonsolidierung (peacebuilding) geht auf die visionäre „Agenda für den Frieden“ von Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali 38 zurück. Das Konzept der Friedenskonsolidierung trägt der Tatsache Rechnung, dass sich die Vereinten Nationen in ihrer jüngeren Geschichte mehr und mehr der Stabilisierung und dem Wiederaufbau von Gesellschaften zugewendet haben, die sich in einer post-Konflikt-Situation, also am Ende eines Krieges, Bürgerkrieges oder ähnlichen Konfliktes befinden und deren staatliche Strukturen allenfalls (noch) rudimentär existieren. An diese Konzeption knüpfte bereits der „Brahimi-Bericht“ 39 an und daran knüpfte auch der Bericht des „High-level Panels“ an. In diesen Berichten wurde die Schließung einer „institutionellen Lücke“ empfohlen, die zwischen dem Sicherheitsrat, der Friedensmissionen und andere Maßnahmen zur Erhaltung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit mandatiert, und dem Wirtschafts- und Sozialrat, der die Arbeit vieler Unterorgane mit einem humanitären und insbesondere einem Entwicklungshilfemandat koordiniert, besteht. Ziel war es, den Friedenskonsolidierungsprozess in einer post-Konflikt-Gesellschaft zu unterstützen und insbesondere einem Zurückfallen in gewaltsame Auseinandersetzungen vorzubeugen. Während die Vorschläge zur Schaffung einer Kommission für Friedenskonsolidierung des „High-level Panels“ 40 noch eine vorausschauende Beobachtungsfunktion dieses Gremiums vorsahen, war davon im Bericht „In larger freedom“ des Generalsekretärs 41 nicht mehr die Rede. Einige Staaten waren wenig begeistert von der Vorstellung, sich auf einer Sicherheitsratsbeobachtungsliste wiederzufinden. Auch die ursprüngliche Konzeption der Kommission für Friedenskonsolidierung als Unterorgan des Sicherheitsrates, das an diesen und an den Wirtschafts- und Sozialrat berichten sollte, wurde von den Staats- und Regierungschefs verworfen. In den §§ 97 ff. von Resolution 60/1 wird vielmehr eine Berichterstattung der Kommission für Friedenskonsolidierung an die Generalversammlung beschlossen. Auch wenn die genannten Bestimmungen des „outcome documents“ relativ detaillierte Bestimmungen über die neue Kommission für Friedenskonsolidierung enthalten und sie de jure damit von Resolution 60/1 geschaffen wurde, fehlten noch einige entscheidende Elemente, um dieses neue Organ operationell zu machen. Dies geschah dann am 20. Dezember 2005 mit zwei korrespondierenden Re___________ 38 Boutros-Ghali, B., Agenda für den Frieden, Bericht des Generalsekretärs, A/47/ 277-S/2411. 39 Report of the Panel on United Nations Peace Operation, A/55/305 – S/809. 40 Bericht des High-level Panels (2004), §§ 261 ff. 41 „In larger freedom“, Bericht des Generalsekretärs (2005), §§ 114 ff. und A/59/ 2005/Add.2.

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solutionen der Generalversammlung 42 und des Sicherheitsrates. 43 Sehr zum Verdruss einiger Mitgliedstaaten setzte der Sicherheitsrat mit Resolution 1646 sozusagen noch „eins drauf“, indem er die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates zu „ewigen“ Mitgliedern der Kommission für Friedenskonsolidierung erklärte und zudem eine Berichtspflicht der Kommission auch an den Sicherheitsrat statuierte. Die Hauptaufgaben der als intergouvernementalen Beratungsorgan (intergovernmental advisory body) bezeichneten Kommission für Friedenskonsolidierung sind in § 2 der Resolutionen beschrieben: erstens soll sie die maßgeblichen Hauptakteure auf dem Gebiet der Friedenskonsolidierung in einem institutionellen Kontext zusammenbringen, um kohärente Vorschläge für eine Ressourcenmobilisierung und Strategien für eine Friedenskonsolidierung und für den Wiederaufbau zu erarbeiten; zweitens soll sie die Aufmerksamkeit auf die zum Wiederaufbau und zum Aufbau von Institutionen erforderlichen Maßnahmen lenken sowie die Entwicklung von Strategien unterstützen, um die Grundlagen für eine nachhaltige Entwicklung zu schaffen; und drittens soll sie Empfehlungen zur Verbesserung der Koordinierung aller maßgeblichen Akteure innerhalb und außerhalb der Vereinten Nationen erteilen, best practices entwickeln, bei der Gewährleistung einer berechenbaren Finanzierung für rasche Wiederaufbaumaßnahmen behilflich sein und dafür sorgen, dass dem Wiederaufbau in der Konfliktfolgezeit von der internationalen Gemeinschaft länger Aufmerksamkeit gewidmet wird. 44 Die Resolutionen bestimmen, dass die Kommission für Friedenskonsolidierung in verschiedenen Zusammensetzungen tagen soll und einen Organisationsausschuss (organizational committee) haben soll. Der Organisationsausschuss hat 31 Staaten als Mitglieder: sieben Mitglieder des Sicherheitsrates, darunter, gemäß Sicherheitsratsresolution 1646, die fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates, sieben von diesen gewählte Mitglieder des Wirtschaftsund Sozialrates, fünf der zehn Hauptbeitragszahler und fünf der zehn Haupttruppensteller und schließlich noch sieben – von dieser gewählten – Mitglieder der Generalversammlung. Bereits die Mitgliedschaft des Organisationsausschusses warf viele Fragen auf. Viele Staaten reagierten verstimmt auf Resolution 1646, mit der der Sicherheitsrat seine fünf ständigen Mitglieder zu ewigen Mitgliedern des Organisationsausschusses erklärte, und im Wirtschafts- und Sozialrat musste geklärt werden, dass nur Mitglieder, die noch mindestens zwei ___________ 42

Generalversammlung, Resolution A/60/180 vom 20.12.2005. Sicherheitsrat, Resolution S/Res/1645 vom 20.12.2005. 44 Vgl. hierzu und zum Ganzen: Gareis, S. B., in: Varwick / Zimmermann (Fn. 15), S. 187, 192 f.; Stahn, C., Institutionalizing Brahimi’s „light footprint“: a comment on the role and mandate of the Peacebuilding Commission, in: International Organizations Law Review, 2005, S. 403 ff.; Security Council Report, Special Research Report, Peacebuilding Commission, No. 4, 23.06.2006. 43

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Jahre Mitgliedschaft im Rat vor sich haben, für die zweijährige Amtszeit in der Friedenskonsolidierungskommission wählbar sind. Die vom Sekretariat vorgeschlagenen „top ten“-Listen der Hautbeitragszahler- und Haupttruppenstellerstaaten waren aufgrund der detaillierten Vorgaben der Resolutionen relativ unumstritten. Ein Streitpunkt war allerdings, ob die „ewigen“ Kommissionsmitglieder aus dem Sicherheitsrat aus diesem Grund überhaupt auf den „top ten“Listen auftauchen sollten. Diese Frage wurde letztendlich positiv beantwortet, was in der Konsequenz bedeutete, dass Nachrückerstaaten nicht auf die „top ten“-Listen kamen. Paragraph 12 der Resolution listet die Aktivlegitimierten auf. Die Kommission für Friedenskonsolidierung sollen um Rat fragen dürfen: (1) der Sicherheitsrat; (2) der Wirtschafts- und Sozialrat oder die Generalversammlung mit Zustimmung des betroffenen Staates und „unter außergewöhnlichen Umständen, wenn dieser Staat kurz vor dem Ausbruch oder dem erneuten Ausbruch eines Konflikts steht und der Sicherheitsrat nicht mit der Situation befasst ist, im Einklang mit Art. 12 der Charta“; (3) ein betroffener Staat selbst, wieder „unter außergewöhnlichen Umständen, wenn dieser Staat kurz vor dem Ausbruch oder dem erneuten Ausbruch eines Konflikts steht und die Situation nicht auf der Tagesordnung des Sicherheitsrats steht“; (4) und schließlich der Generalsekretär. In der bisherigen Praxis und wohl auch noch für die absehbare Zukunft werden die Kandidaten wohl vom Sicherheitsrat und mit ihrer ausdrücklichen Zustimmung bestimmt werden. Die ersten beiden Fälle vor der Kommission für Friedenskonsolidierung sind Burundi und Sierra Leone. 45 Die substanzielle oder zumindest die wesentliche substantielle Arbeit soll die Kommission für Friedenskonsolidierung in unterschiedlichen länderspezifischen Zusammensetzungen 46 leisten. Und hier beginnen die grundsätzlichen Probleme, welche die handwerklich schlechten und an vielen Stellen unklaren Resolutionen aufwerfen. Viel Diskussion gab es etwa über die Frage, wie die „institutionelle Geber“ im Sinne des § 9 zu definieren sind und, vor allem, für wie lange diese Erklärung zum „institutionellen Geber“ dann gelten soll, für die jeweils nächste Sitzung oder länderkontextspezifisch oder generell und für immer. Ein weiteres Problem ist, wer an den Entscheidungen der Kommission teilnehmen soll. Nach § 18 der Resolutionen sollen dies die „Mitglieder“ im Konsens tun. „Mitglieder“ sind nach § 7 aber auch „der ranghöchste Vertreter der Vereinten Nationen im Feld und andere zuständige Vertreter der Vereinten Nationen“ und „Vertreter der in Betracht kommenden regionalen und internationalen Finanzinstitutionen“. Hier scheint sich allerdings der vernünftige Konsens herauszuentwickeln, dass Entscheidungen der Kommission ausschließlich ___________ 45 Vgl. den Brief der Präsidentin des Sicherheitsrates an den Generalsekretär vom 21.06.2006, Dokument PBC/1/OC/2. 46 Vgl. §§ 7, 8 und 9 der Resolutionen.

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von Mitgliedsstaaten getroffen werden. Das Problem, dass Entscheidungen, und zwar „in allen Angelegenheiten“, nur im Konsens getroffen werden sollen, ist ein Problem für sich. § 18 kollidiert meines Erachtens mit einem fundamentalen Verfahrensprinzip, dass Mitgliedsstaaten über Entscheidungen Abstimmungen fordern können. Der Wortlaut des § 18 ist allerdings eindeutig. Ob dies in der Praxis so aufrechterhalten werden kann, wird man sehen. Dies bringt mich zum Verfahren der Kommission für Friedenskonsolidierung. Da die Kommission mit dem Sicherheitsrat und der Generalversammlung gleich zwei Eltern hat, 47 stellte sich die Frage des Verfahrensrechts der Kommission. Nach langen informellen Verhandlungen einigte man sich auf zwei Seiten rudimentäre Regeln, die erstaunlicherweise von den Friedenskonsolidierungsexperten, nicht aber von den Verfahrensrechtsexperten ausgehandelt wurden. 48 Diese „rules“ werfen aber mehr Fragen auf, als sie beantworten. Das war kein Unfall, sondern eine bewusste Entscheidung, um die Flexibilität der Kommission zu erhöhen. Der Wille, die Kommission flexibel und unbürokratisch handeln zu lassen, kam auch dadurch zum Ausdruck, dass die Kommission ohne formellen Sitzungsrhythmus sich treffen können sollte, wann und so oft dies nötig ist. Dies stellt natürlich das Sekretariat vor große Herausforderungen. Völlig überfordert sind damit insbesondere die Kollegen des „Friedenskonsolidierungsunterstützungsbüros“ (peacebuilding support office – PBSO), das der Generalsekretär aus vorhandenen Mitteln als „kleines Büro“ aufzustellen hatte. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich der flexible und unbürokratische Ansatz ins Gegenteil verkehren könnte. Völlig unklar ist weiterhin, welche konkreten Ratschläge, in welcher Form und mit welchen Konsequenzen die Kommission für Friedenskonsolidierung geben wird oder kann. Unklar ist zudem das Verhältnis des Organisationsausschusses zur länderspezifischen Zusammensetzung der Kommission. Wird der Organisationsausschuss letztendlich lediglich eine administrative Rolle spielen, wie etwa das „general committee“ im Verhältnis zur Generalversammlung, oder wird es als „Kommission für Friedenskonsolidierung in der Zusammensetzung des Organisationsausschusses“ Entscheidungen treffen, die tief in die jeweiligen Sachmaterien eingreifen? Und schließlich stellt sich die Frage, ob das Vetorecht der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates sich auch auf Entscheidungen betreffend künftige Veränderungen der Gründungsresolutionen der Kommission erstreckt. Diese Fragen werden im Laufe der Zeit in der Praxis oder im Rahmen einer in den Resolutionen bereits vorgesehenen Revision in fünf Jahren geklärt werden müssen. ___________ 47 In der Geschichte der Vereinten Nationen hat sich die Erschaffung eines Unterorgans als „Diener zweier Herren“ immer als äußerst problematisch erwiesen. Das WorldFood-Programm als Geschöpf von Generalversammlung und FAO sei hier als Beispiel genannt. 48 Provisional rules of procedure of the Peacebuilding Commission, Dokument PBC/1/OC/3 vom 23.06.2006.

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Auch wenn sich die Kommission für Friedenskonsolidierung in den ersten Monaten ihrer Existenz im Wesentlichen mit sich selbst beschäftigt hat, so verkörpert sie doch eine Riesenchance, die „institutionelle Lücke“ Sicherheitsrat und Wirtschafts- und Sozialrat zu schließen. Diese Chance müssen die Mitgliedsstaaten nützen. Die Wahl von Burundi und Sierra Leone als erste Länder unter Betrachtung war sicherlich eine vernünftige. An schwierigeren Fällen wie Haiti oder gar Afghanistan, geschweige denn Irak, hätte sich die junge Kommission mit großer Wahrscheinlichkeit verhoben.

VIII. Ausblick Am 14. Dezember 2006 wurde in der vollbesetzten Generalversammlung der Südkoreaner Ban Ki-moon als 8. Generalsekretär der Vereinten Nationen vereidigt und Generalsekretär Kofi Annan mit stehenden Ovationen und minutenlangem Beifall verabschiedet.49 Die vergangene 59. und 60. Sitzung der Generalversammlung waren äußerst ereignisreich und spannend, vieles war in Bewegung, vieles schien möglich. Auch wenn sich, wie bereits gesagt, das Sekretariat umfassendere und weitergehende Reformen gewünscht hätte, ist das, was im September 2005 von den Staats- und Regierungschefs beschlossen wurde, doch beachtlich. Die Vereinten Nationen haben in diesen beiden Jahren der 59. und 60. Generalversammlungen auch emotional eine Achterbahnfahrt hinter sich gebracht. Sie wurden kritisiert und sogar für irrelevant erklärt. Und doch haben sie sich wieder als unverzichtbar und vielleicht relevanter denn je erwiesen. Auf die einzigartige universelle Legitimation der Vereinten Nationen werden die Mitgliedstaaten auch in Zukunft nicht verzichten können noch wollen. Wieder hat sich auch erwiesen, dass die Reform der Vereinten Nationen ist kein Ereignis, sondern ein Prozess ist.50 Generalsekretär Ban Ki-moon wird diesen Prozess von Seiten des Sekretariates unterstützen und vorantreiben. Er wird dabei auf die hohe Professionalität, das große Talent und auch den Enthusiasmus der idealistischen Männer und Frauen seines Sekretariates zählen können.

___________ 49

Generalversammlung, A/61/PV.78 vom 14.12.2006. Paschke, K. Th., UN-Reform – die unendliche Geschichte, in: Vereinte Nationen 5/2005, S. 170 ff. 50

Der Einfluss des Völkerrechts auf das Recht der geografischen Herkunftsangaben Olaf Sosnitza

I. Einleitung 1 Geografische Angaben und Ursprungsbezeichnungen haben im Wirtschaftsleben eine besondere Bedeutung. Es handelt sich dabei um Produktnamen, die eine direkte geografische Zuordnung ermöglichen. 2 Solche Bezeichnungen sind dazu geeignet, die Kaufentscheidung des Verbrauchers maßgeblich zu beeinflussen, da sie Regionen, die den Ruf haben, bestimmte Waren in besonderer Qualität herzustellen, zu erzeugen bzw. zu verarbeiten, mit einem bestimmten Produkt verbinden und eine ständig wachsende Zahl von Verbrauchern insbesondere bei Lebensmitteln der Qualität von Produkten eine herausragende Stellung beimisst. Steigendes Qualitätsbewusstsein und zunehmende Qualitätsansprüche verstärken damit die Nachfrage nach Waren bestimmter geografischer Herkunft wie beispielsweise Lübecker Marzipan, 3 Rügenwalder Teewurst 4 und Warsteiner Bier. 5 Das Ansehen dieser Produkte und das Kaufverhalten der Verbraucher ermöglichen den Erzeugern einen Zugang zu höherpreisigen Märkten 6 und die___________ 1 Meiner Mitarbeiterin Jolanta Kostuch danke ich herzlich für ihre wertvolle Unterstützung bei der Erstellung dieses Beitrags. 2 Eine Auflistung deutscher Herkunftsangaben und in der EU geschützter Bezeichnungen auf dem Stand des Jahres 2002 findet sich in Loschelder, C. / Loschelder, M., Geographische Angaben und Ursprungsbezeichnungen, 2. Aufl. 2002, S. 23 ff. 3 BGH, Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht (GRUR) 1981, 71; OLG Köln, WRP 1984, 224. 4 BGH, GRUR 1956, 270. 5 BGH, GRUR 1999, 251; BGH, GRUR 1999, 252; EuGH, Zeitschrift für das gesamte Lebensmittelrecht (ZLR), 2001, 104, mit Anm. Loschelder, M.; BGH, GRUR 2002, S. 160. 6 Bericht des Ausschusses für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung des Europäischen Parlaments vom 23.02.2006 über den Vorschlag für eine Verordnung des Rates zum Schutz von geografischen Angaben und Ursprungsbezeichnungen für Agrarerzeugnisse und Lebensmittel (A6-0034/2006), S. 3.

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nen damit als Instrument zur Umsatzsteigerung in den Erzeugerunternehmen. 7 Das zeigt, dass geografische Angaben und Ursprungsbezeichnungen immaterielle Güter sind, denen auf dem Markt ein Vermögenswert zukommt. Um zu verhindern, dass sich Unternehmer einer solchen Qualitätsbezeichnung bedienen, ohne dass ihre Produkte auch tatsächlich aus der bezeichneten Region kommen, ist ein internationales Schutzsystem für geografische Angaben und Ursprungsbezeichnungen entstanden, welches auf nationaler, gemeinschaftsrechtlicher und völkerrechtlicher Ebene Sicherheit im Verkehr mit geografischen Angaben und Ursprungsbezeichnungen gewährleistet. Auf europarechtlicher Ebene bewirkt diesen Schutz eine Verordnung des Rates der Europäischen Union, die aktuell neu erlassen wurde. Die neue Verordnung Nr. 510/2006 EG des Rates der Europäischen Union vom 20. März 2006 zum Schutz von geografischen Angaben und Ursprungsbezeichnungen für Agrarerzeugnisse und Lebensmittel 8 ersetzt die gleichnamige Verordnung Nr. 2081/92 EWG vom 14. Juli 1992 9 und enthält zudem zahlreiche Änderungen. Der vorliegende Beitrag zeigt zunächst die Stellung der Verordnung im internationalen Schutzsystem für geografische Angaben und Ursprungsbezeichnungen auf (II.). Im weiteren Verlauf wird untersucht, von welchen Motiven die neue Verordnung getragen wird und in welcher Weise zwei Entscheidungen der Schiedsstelle der WTO die Neufassung der Verordnung beeinflusst haben (III.). Daran anschließend werden Änderungen erläutert, die die neue Verordnung mit sich gebracht hat (IV.). Abschließend soll ein Ausblick gewagt werden (V.).

II. Stellung der VO 510/2006 EG innerhalb des internationalen Schutzsystems Das internationale Recht hält heute in einem komplexen Gefüge aus internationalen Verträgen, Vorschriften der Europäischen Gemeinschaft und nationalen Bestimmungen ein Schutzsystem für geistiges Eigentum bereit, welches auch den Schutz von geografischen Angaben umfasst. Die VO 510/2006 EG trägt innerhalb dieses Schutzsystems ebenso wie die Vorgängerverordnung ___________ 7 Lüken, U., in: Stöckel, M. / Lüken, U., Handbuch Marken- und Designrecht, 2. Aufl. 2006, S. 260. 8 Verordnung (EG) Nr. 510/2006 des Rates vom 20.03.2006 zum Schutz von geografischen Angaben und Ursprungsbezeichnungen für Agrarerzeugnisse und Lebensmittel, ABl. EG Nr. L 93 vom 31.03.2006, S. 12 ff. = GRUR Int. 2006, S. 923. 9 Verordnung (EWG) Nr. 2081/92 des Rates vom 14.07.1992 zum Schutz von geographischen Angaben und Ursprungsbezeichnungen für Agrarerzeugnisse und Lebensmittel, ABl. EG Nr. L 208 vom 24.07.1992, S. 1.

Einfluss des Völkerrechts auf das Recht geografischer Herkunftsangaben

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2081/92 EWG dem Schutz von geografischen Angaben und Ursprungsbezeichnungen auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene Rechnung. Sie ist in den Mitgliedstaaten der EG unmittelbar geltendes Recht, der von ihr gewährte Schutz entsteht unmittelbar auf der Grundlage dieser Verordnung, nicht durch mitgliedstaatliches Recht. Diese europäische Verordnung ist jedoch nur ein Teil des internationalen Schutzsystems. Sie steht dabei im Verhältnis zu weiteren Vorschriften des nationalen und internationalen Kennzeichenrechts und muss auch in diesem Verhältnis betrachtet werden. Schließlich stellt sich die Frage, welchen Einfluss höherrangiges Recht auf die Geltung der Verordnung hat und ob und inwiefern sich die europäische Verordnung auf nationale Vorschriften auswirkt.

1. Grundlagen der VO 510/2006 EG Zum besseren Verständnis der Zusammenhänge gilt es zunächst den Inhalt der VO 510/2006 EG zu skizzieren. Wie sich bereits aus dem Namen der Verordnung ergibt, dient sie dem Schutz geografischer Herkunftsangaben und Ursprungsbezeichnungen für bestimmte Agrarerzeugnisse und Lebensmittel. Art. 1 Abs. 1 der Verordnung bestimmt ihren Geltungsbereich mit Hinweis auf Anhang I zum EG-Vertrag und die Anhänge I und II zur Verordnung 510/2006 EG, in welchen die schützbaren Produkte einzeln aufgelistet sind. Von wohl größter praktischer Bedeutung sind Bezeichnungen für Käsesorten, Fleischsorten und Fleischprodukte sowie Gemüse. Explizit vom Anwendungsbereich ausgenommen sind dagegen Weinbauerzeugnisse und Spirituosen, Art. 1 Abs. 1 Satz 2, da sie Gegenstand speziellerer gemeinschaftsrechtlicher Regelungen sind. 10 Schutzgegenstand der Verordnung sind eingetragene Ursprungsbezeichnungen und geografische Angaben (Art. 2 Abs. 1), unter bestimmten Voraussetzungen auch traditionelle nichtgeografische Bezeichnungen (Art. 2 Abs. 2). All diese zu schützenden Angaben müssen bestimmte Schutzvoraussetzungen erfüllen, die in Art. 2 VO 510/2006 EG näher bezeichnet sind. Darüber hinaus müssen die geschützten Produkte einer Spezifikation im Sinne des Art. 4 VO 510/2006 EG entsprechen, die bestimmte Mindestangaben vorschreibt, damit ein Erzeugnis eine geschützte Ursprungsbezeichnung oder eine geschützte geografische Angabe tragen kann. ___________ 10 Verordnung (EG) Nr. 1493/1999 des Rates vom 17.05.1999 über die Gemeinsame Marktorganisation für Wein, ABl. EG Nr. L 179 vom 14.07.1999, S. 1, und Verordnung (EWG) Nr. 1576/89 des Rates vom 29.05.1989 zur Festlegung der allgemeinen Regeln für die Begriffsbestimmung, Bezeichnung und Aufmachung von Spirituosen, ABl. EG Nr. L 160 vom 12.06.1989, S. 1.

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Der Schutz einer eingetragenen Bezeichnung ist in Art. 13 VO 510/2006 EG geregelt und umfasst Schutz gegen Rufausnutzung, Verwässerung und Irreführung. 11 Zivilrechtliche Sanktionen bei Verwirklichung eines der Verletzungstatbestände des Art. 13 der Verordnung hält die Verordnung nicht bereit. Dafür muss auf nationales Recht zurückgegriffen werden. Nur in einem bei der Kommission angesiedelten Register eingetragene Angaben genießen den Schutz der VO 510/2006 EG. Ziel des europaweiten Eintragungsverfahrens ist es, laut Verordnungsbegründung der Kommission, „die unterschiedlichen Verfahren in den einzelnen Mitgliedstaaten für andere Erzeugnisse als Wein und Spirituosen zu harmonisieren, den Marktteilnehmern dadurch einheitliche Wettbewerbsbedingungen und einen starken und wirksamen Schutz gegen die widerrechtliche Verwendung der betreffenden Bezeichnungen zu geben und letztendlich den Erzeugnissen mit Ursprungsbezeichnung oder geografischer Angabe mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen“. 12 Das Verfahren zur Eintragung einer Angabe in das von der Europäischen Kommission verwaltete Register ist grundsätzlich zweistufig, erfordert sowohl die Mitwirkung nationaler Behörden, wie auch einen Beitrag der Kommission. Es besteht aus einer Anmeldung in Form eines Eintragungsantrags, der Prüfung des Antrags, der Veröffentlichung der Anmeldung mit der Möglichkeit zur Einspruchseinlegung und der Eintragung der zu schützenden Bezeichnung, Art. 5 ff. VO 510/2006 EG. Lediglich bei Eintragungsanträgen aus Drittländern kann neuerdings auf die Mitwirkung nationaler Behörden verzichtet werden, Art. 5 Abs. 9 Satz 2. 13

2. Verhältnis zu völkerrechtlichen Regelungen Auf völkerrechtlicher Ebene werden geografische Angaben und Ursprungsbezeichnungen in verschiedenen Übereinkommen zum Schutz gewerblicher Rechte geschützt. 14 Dabei kommt dem Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (TRIPS) 15 überragende Bedeutung zu. Das TRIPS ist ein multilaterales Übereinkommen, welches zum An___________ 11 Gruber, J., in: Schultz, D. v. (Hrsg.), Kommentar zum Markenrecht, vor §§ 130 ff. Rn. 17. 12 Begründung der Kommission zum Vorschlag der VO 510/2006 EG vom 05.01.2006 (KOM [2005] 698), S. 2. 13 Dazu näher unter III. 3. 14 Siehe dazu die Übersicht über den Stand der internationalen Verträge auf dem Gebiet des gewerblichen Rechtsschutzes zuletzt vom 01.01.2004, in: GRUR Int. 2004, S. 398 ff. 15 Agreement on Trade Related Aspects of Intellectual Property Rights, ABl. EG Nr. L 336/213 vom 23.12.1994; BGBl. 1994 II, S. 1730.

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hang 1 des Übereinkommens zur Errichtung der WTO (ÜWTO) gehört. 16 Es inkorporiert eine Reihe bestehender internationaler Übereinkommen zum Schutz geistigen Eigentums, lässt deren rechtliche Existenz außerhalb des TRIPS jedoch unberührt. 17 Inhaltlich harmonisiert das TRIPS die Gewährung von Immaterialgüterrechten sowohl in materieller Hinsicht wie auch bezüglich ihrer prozessualen Durchsetzbarkeit durch Einbindung in das Streitbeilegungssystem der WTO und die Möglichkeit zur Aussetzung von Zugeständnissen auch aus anderen Übereinkommen (cross-retaliation). 18 Im Zusammenhang mit Herkunftsangaben und Ursprungsbezeichnungen sind die Art. 22–24 TRIPS die bedeutendsten Vorschriften dieses Abkommens. Sie regeln neben den Allgemeinen Bestimmungen und Grundprinzipien (Art. 1–8 TRIPS) den Schutz geografischer Angaben im Einzelnen. Neben dem TRIPS-Übereinkommen gehört auch das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (GATT) von 1994 19 in das internationale Schutzsystem für Immaterialgüterrechte. 20 Das GATT ist ein völkerrechtliches Abkommen, zu dessen Mitgliedern automatisch alle Mitglieder der WTO zählen. Die Regelungen dieses Übereinkommens sollen allgemein den Abbau von Zöllen und anderen Handelsschranken fördern sowie jede Art von Diskriminierung im internationalen Handel beseitigen. Die Grundprinzipien des GATT, das Meistbegünstigungsprinzip (Art. I GATT) und das Prinzip der Inländerbehandlung (Art. III GATT), haben in modifizierter Form auch in das TRIPS Eingang gefunden (Art. 3, 4 TRIPS). Das GATT von 1994 besteht jedoch daneben als eigenständige, zu beachtende Rechtsquelle fort. Die beiden wichtigsten Übereinkommen, die das Schutzsystem geografischer Angaben prägen, ergeben sich folglich aus der WTO-Mitgliedschaft der Europäischen Gemeinschaft. Soweit der Europäischen Gemeinschaft eine Kompetenz für das Welthandelsrecht zusteht, sind die auf Grundlage dieser Kompetenz geschlossenen Verträge als völkerrechtliche Verträge anzusehen, die nach Art. 300 Abs. 7 EGV für die Organe der Gemeinschaft und für die Mitgliedstaaten verbindlich sind. Das Welthandelsrecht ist damit integrierter Bestandteil des EG-Rechts und genießt Vorrang gegenüber nationalem

___________ 16

Ausführlich Stoll, P.-T. / Raible, K., in: Prieß, H.-J. / Berrisch, G. M. (Hrsg.), WTO-Handbuch, 2003, S. 565 ff. 17 Dazu Stoll, P.-T. / Schorkopf, F., WTO, 2002, Rn. 595 ff.; Holeweg, A., Europäischer und internationaler gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht, in: GRUR Int. 2001, 141. 18 Herrmann, Ch., in: Weiß, W. / Herrmann, Ch., Welthandelsrecht, 2003, Rn. 912 i. V. m. Rn. 319. 19 General Agreement on Tariffs and Trade, ABl. EG Nr. L 336/11 vom 23.12.1994. 20 Ausführlich Berrisch, G. M., in: Prieß / Berrisch (Fn. 16), S. 71 ff.

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Recht. 21 In der rechtlichen Rangordnung ist das so eingegliederte Welthandelsrecht zwischen dem EG-Primärrecht und dem EG-Sekundärrecht zu verorten. 22 Zwar hat der EuGH darüber bisher keine ausdrückliche Aussage gemacht, jedoch misst er das sekundäre Gemeinschaftsrecht regelmäßig an den Vorschriften des integrierten Völkerrechts. 23 Der Vorrang des Europäischen Primärrechts gegenüber integriertem Völkerrecht ergibt sich aus dem Sinnzusammenhang der gerichtlichen Äußerungen des EuGH und Art. 300 Abs. 7 EGV, 24 und daraus, dass die Gemeinschaft zur Änderung des EG-Vertrages nicht befugt ist, Art. 48 EUV und Art. 300 Abs. 5, 6 EGV. 25 Aus dieser Rangstellung ist zu folgern, dass die VO 510/2006 EG nicht den Regeln des TRIPS bzw. des GATT von 1994 zuwiderlaufen darf. Bei diesen völkerrechtlichen Bestimmungen handelt es sich um Vereinheitlichungsvorschriften, die lediglich eine Mindestharmonisierung erreichen wollen. Es bleibt den WTO-Mitgliedern überlassen, weitergehenden Schutz in den Grenzen dieser Übereinkommen, insbesondere unter Beachtung der Grundsätze der Inländergleichbehandlung und Meistbegünstigung, anzuordnen, Art. 1 Abs. 1 Satz 2 TRIPS. Das Völkerrecht gibt damit einen Rahmen für den Schutz geistigen Eigentums und somit auch für geografische Angaben vor und begrenzt dadurch die Freiheit des europäischen Gesetzgebers bei der Setzung von Sekundärrecht. Deutlich werden die besondere Stellung und der Einfluss des Völkerrechts beispielhaft im gerade erst abgeschlossenen Verfahren vor dem Streitbeilegungsgremium der WTO, 26 welches im Folgenden unter III.1. noch näher erläutert wird. In dieser Rechtssache war die Konformität der ehemaligen VO 2081/92 EWG mit dem TRIPS und mit dem GATT von 1994 streitig. Das Ergebnis dieses Rechtsstreits hat die Entstehung der neuen VO 510/2006 EG wesentlich beeinflusst.

___________ 21 EuGH, Rs. C-61/94, Slg. 1996, I-3989, Rn. 52 (Kommission/Deutschland); Prieß / Berrisch, in: Prieß / Berrisch (Fn. 16), S. 760. 22 Weiß, W., in: Weiß / Herrmann (Fn. 18), Rn. 130; Ott, A., GATT und WTO im Gemeinschaftsrecht, 1997, S. 73 f.; Siebold, D., Die Welthandelsorganisation und die Europäische Gemeinschaft, 2003, S. 260 f.; Streinz, R., Europarecht, 7. Aufl. 2005, Rn. 605. 23 EuGH, Rs. 21-24/72, Slg. 1972, 219, Rn. 7 „International Fruit Company“; dazu auch Siebold (Fn. 22), S. 260 f. 24 Ott (Fn. 22), S. 74. 25 Schmalenbach, K., in: Calliess, Ch. / Ruffert, M., EUV/EGV, Kommentar, 3. Aufl. 2007, Art. 300 EGV, Rn. 82 m. w. N. 26 Dazu die ausführlichen Berichte des WTO-Panel in den Rechtssachen WT/DS 174/R (United States) und WT/DS290/R (Australia) vom 15.03.2005, veröffentlicht auf der Website der WTO unter „documents“; teilweise auch abgedruckt in GRUR Int. 2006, 930.

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3. Verhältnis zum Recht der Europäischen Gemeinschaft Die Verordnung als Teil des sekundären Gemeinschaftsrechts steht in der Normenhierarchie unter dem Primärrecht der EG und darf daher den Bestimmungen des EG-Vertrages nicht widersprechen. Neben dem Schutz von geografischen Angaben und Ursprungsbezeichnungen für Agrarerzeugnisse und Lebensmittel hält das Recht der Europäischen Gemeinschaft auch besondere Regelungen für geografische Angaben bei Wein und Spirituosen durch die Verordnungen Nr. 1493/1999 EG über die Gemeinsame Marktorganisation für Wein vom 17. Mai 1999 27 und Nr. 1576/89 EWG zur Festlegung der allgemeinen Regeln für die Begriffsbestimmung, Bezeichnung und Aufmachung von Spirituosen 28 bereit. Diese Verordnungen setzen gemeinschaftsweit die Vorgaben zum Schutz von geografischen Angaben für Weine und Spirituosen nach Art. 23 TRIPS um. Da sie ebenso wie die VO 510/2006 EG zum sekundären Gemeinschaftsrecht gehören und sich die Anwendungsbereiche dieser Verordnungen nicht überschneiden, 29 stehen sie selbständig nebeneinander. Problematisch ist die Vereinbarkeit einiger Vorschriften der VO 510/2006 EG mit der Warenverkehrsfreiheit nach den Art. 28 ff EGV. Art. 4 Abs. 1 der VO 510/2006 EG schreibt nämlich vor, dass nur solche Angaben in ein von der Europäischen Kommission geführtes Register als geschützt eingetragen werden können, die einer Produktspezifikation, wie sie in Art. 4 Abs. 2 VO 510/2006 EG näher umschrieben ist, entsprechen. Die Aufstellung von solchen Spezifikationsmerkmalen steht jedoch unter dem Vorbehalt der Vereinbarkeit mit den Vorschriften des EG-Vertrages, namentlich der Warenverkehrsfreiheit nach Art. 28 ff. EGV. Noch unter Geltung der alten VO 2081/92 EWG hatte der EuGH unlängst die Spezifikationsmerkmale der beiden Produkte mit den Bezeichnungen „Prosciutto di Parma“ und „Grana Padano“ auf ihre Vereinbarkeit mit der Grundfreiheit des Warenverkehrs zu untersuchen. 30 In diesen Fällen ___________ 27 Verordnung (EG) Nr. 1493/1999 des Rates vom 17.05.1999 über die Gemeinsame Marktorganisation für Wein, ABl. EG Nr. L 179 vom 14.07.1999, S. 1. 28 Verordnung (EWG) Nr. 1576/89 des Rates vom 29.05.1989 zur Festlegung der allgemeinen Regeln für die Begriffsbestimmung, Bezeichnung und Aufmachung von Spirituosen, ABl. EG Nr. L 160 vom 12.06.1989, S. 1. 29 Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 2 VO 510/2006 EG. 30 EuGH, GRUR Int. 2003, 929 „Prosciutto di Parma“; EuGH, GRUR 2003, 609 „Grana Padano“; zu der Vereinbarkeit von Spezifikationsmerkmalen mit Art. 28, 30 EGV anhand der Beispiele „Prosciutto di Parma“ und „Grana Padano“ Dickertmann, W.-Ch., „Wer darf Parmaschinken schneiden bzw. Parmakäse reiben?“ oder „Gibt es bei geografischen Herkunftsangaben eine Erschöpfung?“, in: WRP 2003, S. 1082; Knaak, R., Der Schutz geographischer Angaben nach der EG-Verordnung Nr. 2081/92, in: Knaak, R. / Schricker, G. / Bastian, E.-M. (Hrsg.), Perspektiven des Geistigen Eigentums und Wettbewerbsrechts. Festschrift für Gerhard Schricker, 2005, S. 816, 822 ff.; Meyer, A. H. / Klaus, B., Kommt Parmesan-Käse aus Parma und Umgebung? Oder: Das Urteil „Parmigiano Reggiano“ im Kontext der bisherigen Rechtsprechung des EuGH zum gemeinschaftsrechtlichen Schutz von Herkunftsangaben, in: GRUR 2003, S. 553.

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ging es darum, dass das Schneiden und Verpacken des Parmaschinkens beziehungsweise das Reiben und Abpacken des Parmesankäses zum Zwecke des Weitervertriebs nur im Erzeugergebiet stattfinden darf und damit eine Benachteiligung derer einhergeht, die ihren Produktionsbetrieb in einem anderen als dem Erzeugergebiet haben. Damit stellt dieses Spezifikationsmerkmal ein Handelshemmnis dar und ist geeignet, die Freiheit des Warenverkehrs zu beeinträchtigen. Trotzdem entschied der EuGH, dass der EG-Vertrag der Aufstellung von Spezifikationsmerkmalen grundsätzlich nicht entgegenstehe, da diese Erfordernisse nach Art. 30 EGV zum Schutze des gewerblichen und kommerziellen Eigentums gerechtfertigt seien. Wie der EuGH bereits mehrmals entschieden hat, fallen unter den Begriff des gewerblichen und kommerziellen Eigentums auch geografische Herkunftsangaben und Ursprungsbezeichnungen. 31 Die Festlegung von Spezifikationsmerkmalen ist jedoch nur dann gerechtfertigt, wenn sie dem spezifischen Schutzgegenstand von geografischen Angaben und Ursprungsbezeichnungen dient. Dieser Schutzgegenstand wird im oben zitierten Parmaschinken-Urteil des EuGH beschrieben als die Gewähr, dass das mit einer solchen Kennzeichnung „versehene Erzeugnis aus einem bestimmten geografischen Bereich stammt und bestimmte besondere Eigenschaften aufweist“. 32 Damit ist der Schutz geografischer Angaben nach der VO 2081/92 wie auch nach der neuen VO 510/2006 EG durch Art. 30 EGV dann gerechtfertigt, wenn die Angaben dem Ziel dienen, die Herkunfts- und Qualitätsgarantie des geschützten Produktes zu sichern und sie dazu ein erforderliches und verhältnismäßiges Mittel sind. 33 In den erwähnten Fällen „Prosciutto di Parma“ und „Grana Padano“ hat der EuGH eine solche Rechtfertigung für die Spezifikationsvorgabe des Schneidens bzw. Reibens und Abpackens im Herkunftsgebiet angenommen, obwohl der Zusammenhang zwischen diesen Tätigkeiten und dem Herkunftsort nicht recht verständlich erscheint. 34 Im Ergebnis entspricht die VO 510/2006 EG hinsichtlich der Vorschriften über die Spezifikationsmerkmale dem EG-Vertrag und schließt auch nicht die Überprüfung der einzelnen Spezifikation im konkreten Fall anhand der Waren___________ 31

Beispielsweise hat der EuGH in seinem „Turrón“-Urteil geografische Angaben, die nach mitgliedstaatlichem Recht geschützt sind, als gewerbliches und kommerzielles Eigentum im Sinne des Art. 30 EGV qualifiziert, EuGH, Rs. C-3/91, Slg. 1992, I-5529, Rn. 25 (Exportur/LOR). Zu geografischen Herkunftsangaben siehe aber auch EuGH, Rs. C-47/90, Slg. 1992, I-3669, Rn. 16 (Delhaize/Promalvin); EuGH, Rs. C-388/95, Slg. 2000, I-3123 Rn. 53 ff. (Belgien/Spanien). Bestätigt wird diese Rechtsprechung durch die neusten Urteile des EuGH in Sachen „Prosciutto di Parma“, EuGH, GRUR Int. 2003, 929, Rn. 63, und „Grana Padano“, EuGH, GRUR 2003, 609, Rn. 65. 32 EuGH, GRUR Int. 2003, 929, Rn. 64 „Prosciutto di Parma“. 33 EuGH, GRUR Int. 2003, 929, Rn. 66 „Prosciutto di Parma“; EuGH, GRUR 2003, 609, Rn. 51 „Grana Padano“; Knaak (Fn. 30), S. 824. 34 Z. T. kritisch auch Dickertmann (Fn. 30), S. 1082, 1086 f.; gänzlich zustimmend dagegen Knaak (Fn. 30), S. 824 f.

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verkehrsfreiheit aus. Deutlich wird an diesem Beispiel zugleich der Einfluss des EG-Primärrechts auf das Sekundärrecht. Die Auslegung von Art. 30 EGV setzt den Normen der Verordnung, hier insbesondere dem Art. 4 VO 510/2006 EG, und ihrer Anwendung im Einzelfall ihre Grenzen. Gleichzeitig ist die Warenverkehrsfreiheit aber auch geeignet, den Schutzbereich der Verordnung zu definieren und damit den Schutz geografischer Angaben zu festigen. 35

4. Verhältnis zu nationalen Schutzvorschriften Auch das nationale Recht hält regelmäßig Vorschriften über den Schutz geografischer Herkunftsangaben bereit. Die im deutschen Recht maßgeblichen Normen sind §§ 126 ff. MarkenG. Die Vorschriften des UWG, insbesondere das Irreführungsverbot nach § 5 UWG, gelten gem. § 2 MarkenG allenfalls subsidiär, ebenso wie der Täuschungsschutz für Lebensmittel nach § 11 Abs. 1 LFBG (= Lebensmittel-, Bedarfsgegenstände- und Futtermittelgesetzbuch).

a) Eintragungserfordernis Nach § 126 Abs. 1 MarkenG können Namen von Orten, Gegenden, Gebieten oder Ländern sowie sonstige Angaben oder Zeichen, die im geschäftlichen Verkehr zur Kennzeichnung der geografischen Herkunft von Produkten benutzt werden, als geografische Herkunftsangaben geschützt werden. Für Gattungsbezeichnungen hingegen besteht keine Schutzmöglichkeit, § 126 Abs. 2 MarkenG. Das deutsche Schutzsystem unterscheidet sich von dem der Europäischen Gemeinschaft zunächst einmal dadurch, dass es kein Eintragungsverfahren der zu schützenden Bezeichnungen vorsieht. Es bietet in § 127 MarkenG vielmehr einen eintragungsunabhängigen Schutz vor Irreführung über die geografische Herkunft eines Produktes und vor unlauterer Rufausbeutung oder Beeinträchtigung der Unterscheidungskraft der geografischen Herkunftsangabe, der mit der bloßen Benutzungsaufnahme beginnt. Um die Effektivität des Schutzes zu gewährleisten, kann der unmittelbar Verletzte, also der berechtigte Benutzer der Herkunftsangabe, auf Unterlassung klagen (§ 128 Abs. 1 MarkenG) und Schadensersatz geltend machen (§ 128 Abs. 2 MarkenG).

___________ 35

So auch Knaak (Fn. 30), S. 825.

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b) Eigentumsschutz vs. Irreführungsschutz Eine weitere Abweichung des deutschen Schutzsystems von dem der Europäischen Gemeinschaft besteht in der unterschiedlichen rechtlichen Einordnung der geografischen Herkunftsangabe. Der EuGH ordnet geografische Herkunftsangaben seit seiner „Turrón“-Entscheidung dem gewerblichen und kommerziellen Eigentum im Sinne des Art. 30 EGV zu und qualifiziert sie damit als gewerbliche Schutzrechte, die ein subjektives Recht gewähren. 36 Dies hat zur Folge, dass es sich bei dem Schutz geografischer Herkunftsangaben auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene um Eigentumsschutz handelt. Seit dieser Entscheidung des EuGH wird teilweise vertreten, auch bei dem deutschen Schutzsystem für geografische Herkunftsangaben handele es sich primär um Eigentumsschutz, nicht um hauptsächlich wettbewerbsrechtlichen Schutz. 37 Allerdings darf die Bedeutung des „Turrón“-Urteils für die Ausgestaltung des nationalen Schutzes nicht überbewertet werden. Die Entscheidung steht in Zusammenhang mit der Frage nach der gemeinschaftsrechtlichen Zulässigkeit nationaler Regelungen zum Schutz geografischer Herkunftsangaben. Aus der bloßen Feststellung des Gerichts, dass geografische Herkunftsangaben unter das gewerbliche und kommerzielle Eigentum in Art. 30 EGV fallen, lässt sich nicht zwingend ableiten, dass solche Angaben auch eine Art. 14 GG unterfallende subjektive Rechtsposition darstellen. Der Charakter der geografischen Herkunftsangaben im Gemeinschaftsrecht als gewerbliches Eigentum besteht nämlich unabhängig davon, wie deren rechtlicher Schutz auf nationaler Ebene ausgestaltet ist. 38 Unabhängig von der umstrittenen 39 Frage, ob geografische Herkunftsangaben in der deutschen Rechtsordnung als subjektive Rechte zu qualifizieren sind oder nicht, bleibt der Schutz geografischer Herkunftsangaben, auch nach Einführung des Markengesetzes, schwerpunktmäßig wettbewerbsrechtlich ausgestaltet. Vor Inkrafttreten des Markengesetzes war der Schutz vor allem durch das Wettbewerbsrecht gewährleistet. Dabei handelte es sich nach überwiegender Meinung primär um einen Schutz des Verbrauchers vor Irreführung, durch den Konkurrenten lediglich reflexartig geschützt wurden, ohne ___________ 36

EuGH, Rs. C-3/91, Slg. 1992, I-5529 „Exportur/LOR“. Zum Eigentumsschutz geografischer Herkunftsangaben ausführlich Ahrens, H.-J., Geographische Herkunftsangaben – Tätigkeitsverbot für den BGH? Über gemeinschaftsrechtlichen Eigentumsschutz und Importbehinderungen kraft Irreführungsschutzes, in: GRUR Int. 1997, S. 508, 512 ff. 37 So Knaak, R., Der Schutz geographischer Herkunftsangaben im neuen Markengesetz, in: GRUR 1995, S. 103, 104 f.; Ahrens (Fn. 36), S. 508, 512; Fezer, K.-H., Markenrecht, 3. Aufl. 2001, § 126 Rn. 4. 38 So zutreffend Beier, F.-K. / Knaak, R., Der Schutz der geographischen Herkunftsangabe in der europäischen Gemeinschaft, in: GRUR Int. 1992, S. 411, 422. Dazu und zur dogmatischen Einordnung geografischer Herkunftsangaben allgemein Sosnitza, O., Markenrecht 2000, S. 77, 87. 39 Dazu statt aller Sosnitza (Fn. 38), S. 77 m. w. N.

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dass ihnen daraus eine eigenständige Rechtsposition erwuchs. 40 An dieser Rechtslage sollte sich durch die Einführung des Markengesetzes nichts ändern. Mit der Schaffung eines neuen Gesetzes wurde lediglich bezweckt, das bisherige, auf Täuschungsschutz angelegte System, das aus mehreren über verschiedene Gesetze verstreuten Regelungen bestand, unverändert in den §§ 126 ff. MarkenG zusammen zu fassen, so dass sich auch nach der Neuregelung der Schutz nur reflexartig ergibt. 41

c) Konkurrenzverhältnis Das Zusammenspiel des nationalen Schutzes und des Schutzes durch die europäische Verordnung wird seit Entstehung der VO 2081/92 EWG kontrovers diskutiert und ist noch nicht abschließend geklärt. 42 Daran hat sich auch durch die Einführung der neuen VO 510/2006 EG nichts geändert, da die Verordnung auf das Verhältnis zu den jeweiligen mitgliedstaatlichen Schutzsystemen nirgends eingeht. Ausgangspunkt der Diskussion war eine offizielle Mitteilung der Kommission von 1993 zur Interpretation der VO 2081/92 EWG, welche selbst keinen Aufschluss über ihr Verhältnis zu nationalem Recht gab. Die Kommission erklärte, dass die Verordnung ein ausschließliches Schutzsystem für geografische Angaben sei und jeder nationale Schutz erlösche, wenn von dem gemeinschaftsrechtlichen Schutz kein Gebrauch gemacht werde, so dass die EGVerordnung absoluten Vorrang vor dem nationalen Recht genieße. 43 Diese überaus weit gehende Auslegung ist allerdings sogleich auf heftigen Widerstand gestoßen, da sie zu einer nahezu vollständigen Verdrängung des nationalen Schutzes geografischer Herkunftsangaben führen würde. Nach ersten Urteilen des EuGH und unterschiedlichen Meinungen in der Literatur lässt sich gegenwärtig folgender Zwischenstand der Diskussion festhalten, der auch für die Rechtslage nach Inkrafttreten der neuen Verordnung gilt. Fällt die gekennzeichnete Ware nicht in den Anwendungsbereich der Verordnung, handelt es sich insbesondere nicht um ein in den Anhängen I und II der VO 510/2006 EG aufgelistetes Agrarerzeugnis oder Lebensmittel, dann ist mangels Kollision der Rechtsordnungen das nationale Recht anwendbar. Ent___________ 40 Nachweise zum Meinungsstand über den nationalen Schutz geografischer Herkunftsangaben vor Einführung des Markengesetzes Sosnitza (Fn. 38), S. 77, 84 Fn. 70. 41 Begründung zum MarkenG, BT-Ds. 12/6581, S. 155, 166 ff. 42 Überblick über den Meinungsstand bei Fezer (Fn. 37), Vorbemerkung zu §§ 130 ff., Rn. 21a ff. 43 Mitteilung der Europäischen Kommission, ABl. Nr. C 273 vom 09.10.1993, S. 4.

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schieden hat das der EuGH im Grundsatzurteil „Warsteiner“ 44 für einfache geografische Herkunftsangaben, also solche, bei denen kein Zusammenhang zwischen den Eigenschaften des Produktes und seiner geografischen Herkunft besteht, 45 da diese nicht in den Anwendungsbereich der Verordnung fallen. 46 Einen weiteren Fall eines Produktes, welches nicht in den Anwendungsbereich der Verordnung fällt, hatte der BGH kürzlich zu beurteilen. Er entschied, dass die Bezeichnung „Königsberger Marzipan“ nicht nach der ehemaligen VO 2081/92 EWG geschützt werden könne, weil sie keine geografische Herkunftsangabe im Sinne des Art. 2 Abs. 2 lit. b dieser Verordnung (oder heute Art. 2 Abs. 1 lit. b der VO 510/2006 EG) darstelle. 47 Nach den einschlägigen Vorschriften könne der Name eines bestimmten Ortes nur dann eine geografische Herkunftsangabe für ein Lebensmittel sein, wenn das Lebensmittel aus diesem Ort stammt. Königsberger Marzipan sei aber lediglich eine so genannte „betriebsbezogene Herkunftsangabe“ als Hinweis auf eine Gruppe von Herstellern, die selbst oder deren Rechtsvorgänger vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Königsberg Marzipan hergestellt haben und ihre dort gepflegte Herstellungstradition an Orten in den Bundesländern Bayern, Baden-Württemberg und Hessen fortsetzen. 48 Da auch keine vernünftigen Zweifel an der Auslegung der Verordnung bestünden, sah der BGH keine Veranlassung ein Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EGV einzuleiten. 49 Handelt es sich dagegen bei dem Produkt um ein von dem Geltungsbereich der Verordnung umfasstes Agrarerzeugnis oder Lebensmittel und ist eine (qualifizierte) geografische Angabe für dieses Produkt nach der Verordnung eingetragen, dann ist der Schutz der Verordnung abschließend. 50 Mit wirksamer Ein___________ 44 EuGH, GRUR Int. 2001, 51 „Warsteiner“; bestätigt durch EuGH, GRUR Int. 2004, 131, 134 „American Bud“. Zu dem Verhältnis von einfachen geografischen Herkunftsangaben und der europäischen Verordnung allgemein Gruber (Fn. 11), Rn. 28; Harte-Bavendamm, H., Ende der geographischen Herkunftsbezeichnungen? in: GRUR 1996, S. 717, 722. 45 Harte-Bavendamm (Fn.44), GRUR 1996, S. 717, 722; Gruber (Fn. 11), Rn. 28; Knaak (Fn. 30), S. 817. 46 Erwägungsgrund 8 der VO 510/2006 EG bzw. Erwägungsgrund 9 der VO 2081/92 EWG. 47 BGH, GRUR 2006, 74, 75 „Königsberger Marzipan“. 48 BGH, GRUR 2006, 74, 75 „Königsberger Marzipan“. Vgl. zur betriebsbezogenen Herkunftsangabe auch BGH, GRUR 1995, 354 „Rügenwalder Teewurst II“ = ZLR 1995, 325 m. Anm. Sosnitza. 49 BGH, GRUR 2006, 74, 75 „Königsberger Marzipan“. 50 EuGH, GRUR Int. 1999, 443 „Gorgonzola/Cambozola“; OLG Frankfurt, GRUR Int. 1997, 751 „Gorgonzola/Cambozola“; Ingerl, R., / Rohnke, Ch., MarkenG, 2. Aufl. 2003, vor § 130 ff., Rn. 2; Ströbele, P. / Hacker, F., Markengesetz, 8. Aufl. 2006, § 126 Rn. 40.

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tragung geht der Schutz in den gemeinschaftsrechtlichen Bereich über. 51 Nationales Recht tritt im Kollisionsfall hinter europäischem Sekundärrecht zurück, sodass es nicht zu einer Koexistenz beider Schutzordnungen kommt. Danach ist im Wesentlichen nur noch offen, wie sich das Verhältnis der Schutzvorschriften bei qualifizierten geografischen Angaben gestaltet, die zwar in den Anwendungsbereich der Verordnung fallen, da ein Zusammenhang zwischen Eigenschaften des Produktes und seiner geografischen Herkunft besteht, die jedoch aus welchen Gründen auch immer nicht oder noch nicht nach der europäischen Verordnung eingetragen sind. Auch ihnen wird man in Hinblick auf den mittlerweile anerkannten Eigentumsschutz gewerblicher Rechte nach Art. 30 EG, zu denen auch geografische Herkunftsangaben zählen, den nationalen Schutz wohl kaum versagen können. Andernfalls stellte sich die Versagung nationalen Schutzes als Sanktion für die Nichtinanspruchnahme gemeinschaftsrechtlichen Schutzes dar, die keinerlei Grundlage im Gemeinschaftsrecht hat. 52 Solche qualifizierten Herkunftsangaben sind damit nach deutschem Recht solange geschützt, bis sie in das Register der Europäischen Kommission aufgenommen werden. 53 Damit lässt sich festhalten, dass das deutsche Recht nur dann von der europäischen Verordnung überlagert wird und nicht zur Anwendung gelangt, wenn die fragliche Bezeichnung in den Anwendungsbereich der VO 510/2006 EG fällt und auch nach den Vorschriften dieser Verordnung in das Register eingetragen wurde.

III. Der Weg zu einer neuen Verordnung und ihre Motive Die Frage nach Bedürfnis und Motiven für eine neue Verordnung über geografische Angaben und Ursprungsbezeichnungen führt ins Recht der Welthandelsorganisation. Am 15. März 2005 hat das Streitbeilegungsgremium der WTO, der „Dispute Settlement Body“ (DSB), 54 Panelberichte über den Schutz der Marken und geografischen Angaben für Agrarerzeugnisse und Lebensmit___________ 51 Knaak, R., in: Sosnitza, O. (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen des deutschen und europäischen Lebensmittelrechts, 2007, S. 113, 124. 52 Knaak (Fn. 30), S. 819. 53 Ebenso Knaak (Fn. 51), S. 116, 128; Ströbele / Hacker (Fn. 50), § 126 Rn. 41. 54 Bei dem Dispute Settlement Body handelt es sich formal um ein eigenes Organ der WTO; inhaltlich ist es aber, abgesehen vom Vorsitz, identisch mit dem Allgemeinen Rat der WTO. Zum Organisationsrecht der WTO und insbesondere zum Streitbeilegungsverfahren ausführlich Herdegen, M., Internationales Wirtschaftsrecht, 5. Aufl. 2005, § 9, Rn. 111 ff.; Stoll / Schorkopf (Fn. 17), Rn. 431 ff.; Weiß, W., in: Weiß / Herrmann (Fn. 18), Rn. 150 ff., 205 ff.; Ohlhoff, S., in: Prieß / Berrisch (Fn. 16), S. 711 ff.

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tel angenommen und aus ihnen völkerrechtliche Verpflichtungen für die Europäische Union abgeleitet, denen die Europäische Union durch die Aufhebung der VO 2081/92 EWG und den Erlass der neuen gleichnamigen VO 510/2006 EG nachgekommen ist. 55 Das von der Europäischen Union erlassene Recht zum Schutz von geografischen Angaben und Ursprungsbezeichnungen für Agrarerzeugnisse und Lebensmittel ist seit dem 20. März 2006 somit wieder völkerrechtskonform.

1. Beschwerden der Vereinigten Staaten und Australiens Anlass für die Erstellung dieser Panelberichte war ein Beschwerdeverfahren, das von den Vereinigten Staaten 56 und von Australien 57 gegen die Europäische Union, nach erfolglosen Konsultationen der Parteien, vor dem Streitbeilegungsgremium der WTO eingeleitet wurde. Dass gerade die Drittländer Australien und die Vereinigten Staaten die Schiedsstelle der WTO wegen eines Diskriminierungsvorwurfes anriefen, verwundert auf den ersten Blick, da bisher noch keine Anträge dieser Staaten, am europäischen System der geschützten geografischen Angaben teilhaben zu wollen, vorliegen. Dahinter steckt aber erkennbar ein handelspolitischer Grundkonflikt. Die Beschwerde führenden Länder wollen zwar umfassenden Schutz für Handelsmarken nach dem TRIPSAbkommen, geografische Angaben hingegen sollen nur ausnahmsweise geschützt werden, weil diese einfach in den dortigen Ländern eine viel geringere Rolle spielen. 58 Die Beschwerden wurden auf die Behauptung gestützt, die VO 2081/92 EWG verstoße gegen Vorschriften des WTO-Abkommens (ÜWTO), insbesondere gegen Bestimmungen des TRIPS, gegen das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (GATT) von 1994 und gegen die Pariser Verbandsübereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums (PVÜ). Kritikpunkte an der Verordnung waren dabei vor allem die Diskriminierung von anderen WTO-Mitgliedern gegenüber EU-Mitgliedstaaten, ein geringerer Schutz von Marken (trademarks) im Verhältnis zu geografischen Angaben und Ursprungsbezeichnungen, ein fehlendes Einspruchsrecht von Handelspartnern gegenüber missbräuchlicher oder wettbewerbsverzerrender Verwendung von geografischen ___________ 55

Europäische Kommission, Verordnungsvorschlag – Begründung KOM (2005) 698 endgültig/2. 56 Report of the Panel WT/DS174/R, abrufbar auf der Website der WTO unter „documents“; teilweise auch abgedruckt in GRUR Int. 2006, 930. 57 Report of the Panel WT/DS290, abrufbar auf der Website der WTO unter „documents“. 58 Vgl. den Bericht des Ausschusses für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung vom 23.02.2006 über den Vorschlag für die VO 510/2006/EG (A6-0034/2006), S. 4.

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Angaben sowie Intransparenz des EU-Systems. 59 Wegen der breiten Auseinandersetzung des WTO-Panels mit diesen Aspekten besonders hervorzuheben sind die beiden erstgenannten Vorwürfe. Nach Ansicht der Beschwerde führenden Parteien verstoßen die Art. 12 ff. der VO 2081/92 EWG über den Schutz von Drittstaatenbezeichnungen zunächst gegen die Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 1 TRIPS 60 und des Art. III Abs. 4 GATT. 61 Die Diskriminierungsregelungen des GATT und des TRIPS verbieten jede nachteilige Behandlung von Staatsangehörigen anderer Mitgliedsländer im Verhältnis zu eigenen Staatsangehörigen im Anwendungsbereich des jeweiligen Abkommens und somit auch in Bezug auf den Schutz geistigen Eigentums und in Bezug auf allgemeine Handels- und Zollbestimmungen. Dabei wurde das bis dahin zwar vorgeschriebene, aber noch nicht explizit geregelte Eintragungsverfahren für Bezeichnungen aus Drittstaaten bei der letzten Änderung der VO 2081/92 EWG im Jahr 2003 durch die VO 692/2003 EG erst neu eingeführt, um die Verordnung TRIPS-konform zu gestalten. 62 Darüber hinaus seien die Regelungen der Art. 14 Abs. 2 und 3 VO 2081/92 EWG betreffend das Verhältnis von geografischen Bezeichnungen und Marken nicht mit Art. 16 TRIPS, der dem Inhaber einer eingetragenen Marke ein ausschließliches Recht gewähre, vereinbar. 63 Die Rechte von Markeninhabern seien durch die VO 2081/92 EWG nicht in hinreichendem Maße gewährleistet, da Art. 14 Abs. 2 VO 2081/92 EWG eine Koexistenz von älteren, bereits eingetragenen Marken und geografischen Herkunftsangaben, welche die ausschließlichen Rechte an Marken gem. Art. 16 TRIPS gerade beeinträchtigen, dulde. 64

___________ 59 Bericht des Ausschusses für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung vom 23.02.2006 über den Vorschlag für die VO 510/2006/EG (A6-0034/2006), S. 1, Fn. 2. 60 Report of the Panel (WT/DS174/R), Ziff. 7.104 ff. Im Folgenden wird allein der Panel-Report in der Rechtssache WT/DS174 zitiert, da das Schiedsgericht der WTO diese Rechtssache gem. Art. 9 DSU (Dispute Settlement Understanding; ABl. EG 1994 Nr. L 336/234) wegen weitgehender Deckung zusammen mit der Rechtssache WT/DS 290 entschieden hat. Die Begründungen der beiden WTO-Panel-Reports unterscheiden sich in den für diesen Beitrag wesentlichen Punkten nicht. Zu der Fundstelle der PanelReports vgl. auch Fn. 24. 61 Report of the Panel (WT/DS174/R), Ziff. 7.219 ff. 62 Erwägungsgründe 8–11 der Verordnung (EG) Nr. 692/2003 des Rates vom 8. April 2003 zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 2081/92, ABl. EG Nr. L 99 vom 17.04.2003, S. 1. 63 Report of the Panel (WT/DS174/R), Ziff. 7.512 ff. 64 Report of the Panel (WT/DS174/R), Ziff. 7.512 und Ziff. 7.555.

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2. Panelberichte Die umfangreichen Berichte des WTO-Panels, einem i. d. R. dreiköpfigen hochqualifizierten und weisungsunabhängigen Gremium der WTO, welches auf Antrag der Parteien die rechtliche Beurteilung der in Streit stehenden Maßnahme vornimmt, befassen sich ausführlich mit den aufgeworfenen Problemen. Sie kommen jedoch zu dem Ergebnis, dass die VO 2081/92 EWG in den meisten der von den Vereinigten Staaten und Australien kritisierten Punkten nicht in Widerspruch zu den WTO-Verpflichtungen steht. Der von Art. 16 TRIPS vorgeschriebene Markenschutz sei hinreichend verwirklicht. Zwar bestehe grundsätzlich die Gefahr der Beeinträchtigung ausschließlicher, bereits bestehender Markenrechte, ein solcher Eingriff sei jedoch auf Art. 17 TRIPS zu stützen, der begrenzte Ausnahmen von der Ausschließlichkeit des Markenschutzes vorsieht. 65 Damit stehe das TRIPS-Übereinkommen einer Koexistenz von Marken und geografischen Herkunftsangaben oder Ursprungsbezeichnungen nicht entgegen und Art. 14 Abs. 2, 3 VO 2081/92 EWG sei nicht völkerrechtswidrig. Der Europäische Gesetzgeber war damit nicht verpflichtet, die Vorschriften über das Verhältnis von Marken und geografischen Angaben zu ändern und hat dies auch nicht getan. Dagegen hält das Panel die Regelungen, welche das Eintragungs- und Einspruchsverfahren von Drittländern betreffen (Art. 12 ff. VO 2081/92 EWG), für nicht völkerrechtskonform. Sie verstießen tatsächlich – wie von den Beschwerde führenden Parteien vorgebracht – gegen die Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 1 TRIPS und des Art. III Abs. 4 GATT. 66 Zum einen stellen Art. 12 ff. der Verordnung im Falle eines Eintragungsantrags eines Drittlandes bzw. in einem durch ein Drittland eingeleiteten Einspruchsverfahren besondere Bedingungen der Gleichwertigkeit und Gegenseitigkeit auf. Die Agrarerzeugnisse oder Lebensmittel müssen hinsichtlich der Garantien des Art. 4 der Verordnung gleichwertig sein, in den von einer beabsichtigten Eintragung betroffenen Drittländern muss eine gleichwertige Kontrollregelung und ein gleichwertiges Einspruchsrecht bestehen und das betroffene Drittland muss bereit sein, einen dem in der Europäischen Gemeinschaft bestehenden gleichwertigen Schutz zu gewähren. Zum anderen schreiben Art. 12 ff. der Verordnung die Beteiligung der Behörden des Drittlandes im Eintragungs- und Einspruchsverfahren vor (Art. 12b Abs. 2 b, Art. 12a Abs. 2). Die Behörden sind dabei aber nicht verpflichtet die notwendigen Eintragungsanträge und Einspruchserklärungen entgegen zu nehmen, sie auf ihre Vereinbarkeit mit den Bestimmungen der VO 2081/92 EWG zu überprüfen, die ___________ 65 66

Report of the Panel (WT/DS174/R), Ziff. 7.658 f. und Ziff. 7.661. Report of the Panel (WT/DS174/R), Ziff. 7.213.

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Gleichwertigkeit und Gegenseitigkeit festzustellen und die Anträge anschließend an die Kommission weiterzuleiten. Da innerhalb des Eintragungs- und Einspruchsverfahrens den drittstaatlichen Marktteilnehmern keine durchsetzbaren Rechte auf ordnungsgemäße Prüfung durch drittstaatliche Behörden und auf Weiterleitung ihrer Anmeldung an die Kommission zustehen, liegt eine formale Ungleichbehandlung dieser Marktteilnehmer vor. 67 Die drittstaatlichen Behörden unterliegen nämlich keinen gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen, da die Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaft ihnen gegenüber keine Geltung beanspruchen. Das gesamte Eintragungs- und Einspruchsverfahren für Drittländer ist insoweit mit den genannten Vorschriften des TRIPS und des GATT unvereinbar. Es bringt Angehörige von Ländern, die kein vergleichbares System und daher auch keine entsprechend spezialisierten Behörden unterhalten, in eine nachteilige Situation. Die Europäische Kommission konnte in dem Beschwerdeverfahren nicht hinreichend darlegen, warum es bei der Überprüfung des Eintragungsantrags sowie im Einspruchsverfahren erforderlich sein soll, dass die Behörden des Drittlandes tätig werden müssen. Auch hatte die Kommission erfolglos versucht darzutun, dass die Bedingungen der Gleichwertigkeit und Gegenseitigkeit in Art. 12 VO 2081/92 EWG nur für Bezeichnungen aus WTODrittländern gelten, nicht aber für Bezeichnungen solcher EU-Drittstaaten, die Mitglieder der WTO sind. Ihre Argumentation stützte die Kommission dabei auf den Wortlaut des Art. 12 Abs. 1 der Verordnung, der die Bedingungen nur „unbeschadet internationaler Übereinkünfte“ für anwendbar erklärt. 68 Im Ergebnis hat das WTO-Streitbeilegungsgremium daher, trotz der rechtfertigenden Einwände der Europäischen Kommission, die VO 2081/92 EWG in den genannten Punkten für völkerrechtswidrig erklärt.

3. Entstehung der neuen VO 510/2006 EG Aufgrund dieses Entscheids der Schiedsstelle der WTO war die EU verpflichtet, die Verordnung in den beanstandeten Punkten bis April 2006 zu ändern. Am 23. Dezember 2005 legte die Kommission einen Vorschlag für eine neue Verordnung zum Schutz von geografischen Angaben und Ursprungsbezeichnungen für Lebensmittel und Agrarerzeugnisse 69 und zwei Wochen später ___________ 67 Report of the Panel (WT/DS174/R), Ziff. 7.271; Knaak, R., Die EG-Verordnung Nr. 510/2006 zum Schutz von geographischen Angaben und Ursprungsbezeichnungen, in: GRUR Int. 2006, S. 893, 894. 68 Report of the Panel (WT/DS174/R), Ziff. 7.84. 69 Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Verordnung des Rates zum Schutz von geografischen Angaben und Ursprungsbezeichnungen für Agrarerzeugnisse und Lebensmittel, KOM (2005) 698 endgültig.

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eine nochmals korrigierte Fassung des Verordnungsentwurfs 70 vor. Das Hauptmotiv für die Verordnungsänderung war zwar der Ausgang der WTO-Streitbeilegungsverfahren, die Kommission nahm jedoch die Rüge zugleich zum Anlass, Neuregelungen in weiteren Bereichen der Verordnung vorzuschlagen, die völkerrechtlich nicht beanstandet wurden (dazu sogleich unter IV.). Letztendlich ist auf der Grundlage dieses Kommissionsvorschlags nach weiteren Beratungen und kleineren Änderungen am 20. März 2006 eine neue Verordnung im Rat verabschiedet worden, die am 31. März 2006 als Verordnung Nr. 510/2006 EG im Amtsblatt der EU veröffentlicht wurde. 71

IV. Änderungen der VO 510/2006 EG gegenüber der VO 2081/92 EG Die Änderungen der Verordnungen betreffen insbesondere das Eintragungsverfahren für neue geografische Angaben und Ursprungsbezeichnungen in das Register der Europäischen Union. Das Verfahren zur Eintragung gliedert sich in zwei Stufen. Es beginnt vor den nationalen Behörden der Mitgliedstaaten, in denen das Gebiet liegt, welches Gegenstand der Eintragung ist. Dort wird der Eintragungsantrag überprüft und an die Europäische Kommission weitergeleitet, die in Vertretung der Europäischen Gemeinschaft tätig wird. Die Kommission prüft, ob der Antrag den Bedingungen der Verordnung entspricht, leitet ein Einspruchsverfahren durch Veröffentlichung des Eintragungsantrags im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften ein und trägt schließlich gegebenenfalls die zu schützende Bezeichnung in das Register ein. Die Details dieses Verfahrens, die im Folgenden noch erläutert werden (dazu sogleich unter 1.-3.), haben in der Vergangenheit regelmäßig zu Doppelarbeit der nationalen Behörden und der Kommission geführt. Auch die unterschiedliche Gestaltung der Verfahren auf nationaler Ebene hat nicht immer wünschenswerte Ergebnisse gebracht. Aus diesem Grund war es neben den völkerrechtlichen Verpflichtungen nach dem von der Kommission vorgelegten Verordnungsvorschlag auch Ziel der neuen Verordnung, „das Verfahren vor den nationalen Stellen und der Gemeinschaft zu vereinfachen und die Zuständigkeiten der zur Prüfung der Anträge berufenen Behörden klarer zu fassen, um die Transparenz bei der Antragstellung und die Gleichbehandlung der unterschiedlichen Antragsteller zu verbessern“. 72 Neben Änderungen im Eintragungsverfahren wurden noch die Kontrollvorschriften neu gefasst (dazu unten 4.), eine Verpflichtung zur Verwendung bestimmter vorgeschriebener Bezeichnungen für geografische ___________ 70

Korrigierter Vorschlag vom 05.01.2006, KOM (2005) 698 endgültig/2. ABl. Nr. L 93 vom 31.03.2006, S. 12. 72 Begründung der Kommission zum Vorschlag der VO 510/2006 EG vom 05.01.2006 (KOM [2005] 698), S. 2. 71

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Angaben und Ursprungsbezeichnungen eingeführt (dazu unten 5.) und einige weitere kleine Änderungen vorgenommen (dazu unter 6.).

1. Einführung eines einheitlichen Dokuments für Eintragungsanträge Die Verordnung 510/2006 EG ändert die Bestimmungen über den Antrag auf Eintragung einer geografischen Bezeichnung in das Register der Europäischen Union, indem sie den Mitgliedstaaten einen einheitlichen Rahmen vorgibt, der Mindestanforderungen für Eintragungsanträge vorsieht. In der neuen Verordnung ist nun ausdrücklich geregelt, dass der Antragsteller seinen Namen und seine Anschrift angeben muss, die in Art. 4 Abs. 2 VO 510/2006 EG aufgelisteten Spezifikationsmerkmale zu erläutern hat und zusätzlich ein „einziges Dokument“ einreichen muss, welches bestimmte vorgegebene Angaben zu enthalten hat, Art. 5 Abs. 3 VO 510/2006 EG. Im Gegensatz dazu wurde nach der alten Verordnung lediglich ein nicht näher bestimmter Antrag gefordert, der nach Art. 5 Abs. 3 VO 2081/92 EWG keine standardisierten Angaben verlangte, sondern lediglich „insbesondere die Spezifikation gemäß Art. 4 VO 2081/92 EWG“ enthalten musste. Damit hatten die einzelnen Mitgliedstaaten nach altem Recht einen größeren Spielraum festzulegen, welche Voraussetzungen sie neben der Erfüllung der Spezifikationsmerkmale gem. Art. 4 Abs. 2 VO 2081/92 EWG noch forderten. Die mitgliedstaatlichen Behörden hatten so die Möglichkeit, den Rahmen ihrer Prüfungskompetenz selbständig zu gestalten, wodurch der einzelne Antragsteller in den verschiedenen Mitgliedstaaten unterschiedlich behandelt wurde. Eine Besonderheit der neuen Verordnung ist demzufolge die Einführung eines einheitlichen Dokumentes für Eintragungsanträge, in dem nur die wichtigsten Elemente der Spezifikation (Namen, Beschreibung des Produkts, Etikettierung) und eine Beschreibung des Zusammenhangs zwischen dem Erzeugnis und seinem geografischen Ursprung aufgeführt sind. Dieses Dokument muss zukünftig jedem Antrag beigefügt werden, Art. 5 Abs. 3 c) VO 510/2006 EG. Es dient allerdings nicht nur dazu, das Antragsverfahren in den unterschiedlichen Mitgliedstaaten zu vereinheitlichen, sondern auch der genaueren Festlegung von Angaben, die vor der Eintragung veröffentlicht werden müssen, damit jeder Marktteilnehmer von seinem Einspruchsrecht Gebrauch machen kann. 73 Gelangt nämlich die Kommission in ihrem Teil des Eintragungsverfahrens nach durchgeführter Prüfung zu der Auffassung, dass die Anforderungen dieser Verordnung erfüllt sind, veröffentlicht sie das einzige Dokument im ___________ 73 Begründung der Kommission zum Vorschlag der VO 510/2006 EG vom 05.01.2006 (KOM [2005] 698), S. 3.

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Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, Art. 6 Abs. 2 Unterabs. 1 VO 510/2006 EG. Einzig die Veröffentlichung dieses standardisierten Dokuments ist Grundlage für die Einsprüche anderer Mitgliedstaaten oder Drittländer. Auch wenn die neue Verordnung gerade dazu geführt hat, dass die Anforderungen an Anträge aus Drittländern insgesamt reduziert wurden, ist das neu eingeführte Dokument doch auch von Drittländern mit dem Antrag auf Eintragung vorzulegen, Art. 5 Abs. 9 Unterabs. 1 i. V. m. Abs. 3 VO 510/2006 EG. Sie sollen in dieser Hinsicht gleich behandelt werden und keine Privilegierung genießen. Im Ergebnis dient das neue Dokument der Einheitlichkeit und Gleichbehandlung bei der Bearbeitung von Anträgen und stellt mehr Transparenz gegenüber anderen möglicherweise betroffenen Marktteilnehmern dar, die ihre Rechte im Wege des Einspruchs durchsetzen wollen. Gleichzeitig wird dadurch der Umfang der Prüfungskompetenz der nationalen Behörden im Eintragungsverfahren näher bestimmt und angeglichen, so dass die Mitgliedstaaten nun nicht mehr autonom bestimmen können, welche Voraussetzungen sie an die Eintragungsanträge stellen. Darüber hinaus ist auch zu erwarten, dass das nunmehr standardisierte Verfahren den Verwaltungsaufwand senkt und damit die am Verfahren beteiligten Behörden entlastet.

2. Zuständigkeiten von Kommission und mitgliedstaatlichen Behörden Ein Schwerpunkt der Änderungen durch die VO 510/2006 EG ist auch die klarere Fassung der Zuständigkeiten der Kommission und der mit dem Verfahren betrauten mitgliedstaatlichen Behörden. Unter der VO 2081/92 EWG hatten die antragsberechtigten Personen oder Vereinigungen ihren Eintragungsantrag an den Mitgliedstaat zu richten, in dem sich das geografische Gebiet befindet, auf das sich die Angabe bezieht. Daraufhin mussten die zuständigen Behörden des Mitgliedstaates den Eintragungsantrag auf seine Vereinbarkeit mit der Verordnung überprüfen und ihn bei positiver Entscheidung samt der eingegangenen und verwendeten Dokumente der Kommission übermitteln, Art. 5 Abs. 5 Unterabs. 1 VO 2081/92 EWG. Die Kommission war dann dafür verantwortlich, die Anträge daraufhin zu überprüfen, ob sie die in Art. 4 Abs. 2 VO 2081/92 EWG festgelegten Spezifikationsmerkmale enthalten. Das Ergebnis der Prüfung war dem am Verfahren beteiligten Mitgliedstaat mitzuteilen und im Amtsblatt der Europäischen Union zu veröffentlichen. Danach war es den Mitgliedstaaten gestattet, Einspruch gegen die beabsichtigte Eintragung einzulegen, nachdem sie auf nationaler Ebene eine Einsichtsmöglichkeit all denjenigen geboten haben, die ein berechtigtes wirtschaftliches Interesse geltend machen können.

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Nach aktueller Rechtslage ist ein abweichendes Verfahren vorgesehen, in welchem den mitgliedstaatlichen Behörden umfangreichere Aufgaben und Kompetenzen zukommen. Art. 5 Abs. 4 Unterabs. 2 und Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 VO 510/2006 EG stellen nun ausdrücklich klar, dass sowohl die Mitgliedstaaten als auch die Kommission den Eintragungsantrag auf geeignete Art und Weise prüfen, um sicherzustellen, dass er gerechtfertigt ist und die Anforderungen der Verordnung erfüllt. Die Tatsache, dass auch die Kommission eine solche Prüfung durchführt, befreit den Mitgliedstaat nicht von seiner eigenen Prüfungsverpflichtung. Eine derart klare Formulierung enthielt die vorangegangene Verordnung nicht. Sie verlangte lediglich, dass die mitgliedstaatlichen Behörden der Auffassung sind, die Anforderungen der Verordnung seien erfüllt (Art. 5 Abs. 5 Unterabs. 1 VO 2081/92 EWG). Die Anforderungen an die Prüfung durch die nationalen Stellen werden in Art. 5 Abs. 5 Unterabs. 1, 2 und 3 präzisiert. Der Mitgliedstaat, aus welchem der Eintragungsantrag stammt, ist nun verpflichtet, zur Sicherstellung der Vereinbarkeit des Antrags mit der Verordnung ein nationales Einspruchsverfahren durchzuführen. Dies erfolgt durch Veröffentlichung innerhalb des Mitgliedstaates, die anderen Marktteilnehmern die Möglichkeit gibt, Kenntnis von aktuellen Eintragungsanfragen zu erlangen und gegebenenfalls Einwände zu erheben. Erst nach Durchführung des Einspruchsverfahrens sind die zuständigen Behörden berechtigt, das Verfahren an die Kommission weiterzugeben. Das Erfordernis eines nationalen Einspruchsverfahrens trägt insbesondere dem Umstand Rechnung, dass der Mitgliedstaat, aus dem der Eintragungsantrag stammt, kein Einspruchsrecht im Einspruchsverfahren auf europäischer Ebene hat. 74 Er muss sich mit allen gegen den Antrag bestehenden Bedenken, die in seinem Hoheitsgebiet geltend gemacht werden, bereits auseinandersetzen, bevor er das Verfahren an die Kommission abgibt. Sind die Anforderungen der Verordnung nach Ansicht des Mitgliedstaates sichergestellt und hält der Mitgliedstaat keinen Einspruch für durchgreifend, dann führt die Kommission das Verfahren weiter. Sie überprüft die von den Mitgliedstaaten übermittelten Anträge und veröffentlicht das „einzige Dokument“ (vgl. oben unter IV. 1.) im Amtsblatt der Europäischen Union, um auch Marktteilnehmern aus anderen Mitgliedstaaten die Möglichkeit des Einspruchs zu eröffnen (Art. 6 Abs. 2 Unterabs. 1 VO 510/2006 EG). Daraufhin prüft die Kommission möglicherweise eingegangene Einsprüche der Mitgliedstaaten oder Drittländer, von denen die Eintragung nicht beantragt wurde, sowie Einsprüche natürlicher oder juristischer Personen, die in einem anderen Mitgliedstaat als dem der beantragten Eintragung oder in einem Drittland ansässig oder niedergelassen sind, Art. 7 Abs. 3 Unterabs. 2 VO 510/2006 ___________ 74 EuGH, Beschluss vom 26.10.2000 in der Rs. C-447/98 P (Molkerei Großbraunshain), Slg. I-2000, 9097, 9127.

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EG. Zuletzt veröffentlicht die Kommission entweder die Eintragung oder, nach Verhandlung mit den Parteien, eine abweichende Entscheidung im Amtsblatt der Europäischen Union, Art. 7 Abs. 4 Unterabs. 2, Abs. 5 Unterabs. 4 VO 510/2006 EG.

3. Antrags- und Einspruchsverfahren bei Drittländern Die Neugestaltung des Eintragungsverfahrens für Drittländer richtet sich, wie auch bei Eintragungen von Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft, nach den Art. 5 bis 7 VO 510/2006 EG, wobei Art. 5 Abs. 9 und Art. 7 Abs. 2 Unterabs. 3 VO 510/2006 EG Modifikationen zugunsten der Drittländer bereithalten. Wegen ihrer Unvereinbarkeit mit völkerrechtlichen Bestimmungen, insbesondere mit Art. 3 Abs. 1 TRIPS und Art. III Abs. 4 GATT 1994, mussten Art. 12 ff. der VO 2081/92 EWG gestrichen werden (dazu oben unter III. 2.). Diese Vorschriften bezüglich der Modalitäten des Eintragungsverfahrens von Drittländern und die darin verankerten Prinzipien der gleichwertigen Standards im Hinblick auf Produktspezifikationen und innerstaatliche Kontrollund Einspruchsregelungen sowie der Gegenseitigkeit wurden erst durch die VO 692/ 2003 EG im Jahre 2003 eingeführt. 75 Folge dieser Streichung ist, dass eine Mitwirkungspflicht der Behörden von Drittländern im Eintragungs- und Einspruchsverfahren nicht mehr besteht. Eintragungsanträge, die ein geografisches Gebiet in einem Drittland betreffen und Einsprüche von natürlichen und juristischen Personen, die in einem Drittland ansässig oder niedergelassen sind, können nun direkt an die Kommission gerichtet werden. Jedoch steht es den Antragstellern in beiden Fällen frei, die Behörden des Drittlandes trotzdem zu bemühen und Anträge und Einsprüche zunächst bei diesen einzureichen bzw. einzulegen (Art. 5 Abs. 9 Unterabs. 2, Art. 7 Abs. 2 Unterabs. 3 VO 510/2006 EG). Einzige zusätzliche Voraussetzung ist mit Blick auf Art. 24 Abs. 9 TRIPS, dass die geografische Angabe oder Ursprungsbezeichnung auch im Drittland geschützt wird, Art. 5 Abs. 9 Unterabs. 1 VO 510/2006 EG. Im Zusammenhang mit dieser Neuregelung wird deutlich, inwieweit Grundsätze völkerrechtlicher Übereinkommen das Europäische Sekundärrecht überlagern und beeinflussen können. Die Streichung der Art. 12 ff. VO 2081/92 dient allein der Umsetzung der Entscheidung der WTO-Schiedsstelle, die durch die Berichte des WTO-Panel vorbereitet wurde. Damit ist die Verordnung über geografische Angaben und Ursprungsbezeichnungen für Agrarerzeugnisse und Lebensmittel wieder völkerrechtskonform. ___________ 75 Bericht des Ausschusses für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung vom 23.02.2006 über den Vorschlag für die VO 510/2006/EG (A6-0034/2006), S. 3.

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4. Kontrollvorschriften Darüber hinaus wurden auch die Kontrollvorschriften mit dem Ergebnis überarbeitet und neu gefasst, dass nun ein zweigliedriges Kontrollsystem vorgeschrieben ist. Während früher einzig der Art. 10 VO 2081/92 EWG Anordnungen zur Kontrolle der Einhaltung von Spezifikationen enthielt, regeln nach neuer Rechtslage Art. 10 und Art. 11 VO 510/2006 EG das Kontrollsystem. In Art. 10 VO 510/2006 EG geht es um Kontrollen in Bezug auf die in der Verordnung festgelegten Verpflichtungen, also um Kontrollen, die einen reibungslosen Ablauf von Antrags- und Einspruchsverfahren auf nationaler Ebene gewährleisten und so den Schutz gem. Art. 13 VO 510/2006 EG verbessern sollen. Um diesem Schutz hinreichend Rechnung tragen zu können, sieht die Verordnung Kontrollen von Amts wegen vor und bezieht sie ausdrücklich in die VO 882/2004 EG über amtliche Kontrollen zur Überprüfung der Einhaltung des Lebensmittel- und Futtermittelrechts 76 mit ein. Dies bedeutet, dass die Mitgliedstaaten in Zukunft zur Überwachung der Verpflichtungen der VO 510/ 2006 EG zuständige Behörden benennen, die den Voraussetzungen der VO 882/2004 EG entsprechen. Dabei spricht Art. 10 Abs. 1 VO 510/2006 EG ausdrücklich von „Behörden“ und schließt seinem Wortlaut nach andere als amtliche „Kontrollstellen“ i. S. d. Art. 2 Nr. 5 VO 882/2004 EG aus. Eine solche Überwachung der Verordnungsvorschriften durch eigenständige Kontrollstellen gab es in der alten VO 2081/92 EWG nicht. Sie wurde insbesondere eingeführt um den Verordnungsvorschriften mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen. 77 Art. 11 VO 510/2006 EG regelt nun die Kontrolle der Einhaltung der Spezifikationen durch die Marktteilnehmer, sowohl hinsichtlich der geografischen Angaben und Ursprungsbezeichnungen, die ein geografisches Gebiet in der Gemeinschaft betreffen (Abs. 1), wie auch hinsichtlich solcher, die ein geografisches Gebiet außerhalb der Gemeinschaft betreffen (Abs. 2). Wahlweise können die Mitgliedstaaten die Kontrolle durch Behörden ausführen, die wegen des Verweises auf Art. 10 VO 510/2006 EG den Vorschriften der VO 882/ 2004 EG entsprechen müssen (Abs. 1 Spiegelstrich 1) oder sie erklären Kontrollstellen i. S. d. Art. 2 Nr. 5 VO 882/2004 EG für zuständig, die als Produktzertifizierungsstellen tätig werden (Abs. 1 Spiegelstrich 2). Damit ist gemeint, dass auch unabhängigen Dritten Kontrollaufgaben übertragen werden können, um die mitgliedstaatlichen Behörden zu entlasten. Für Kontrollstellen hinsichtlich geografischer Angaben und Ursprungsbezeichnungen außerhalb der Ge___________ 76 Verordnung (EG) Nr. 882/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 über amtliche Kontrollen zur Überprüfung der Einhaltung des Lebensmittelund Futtermittelrechts sowie der Bestimmungen über Tiergesundheit und Tierschutz, ABl. EG Nr. L 191 vom 28.05.2004, S. 1. 77 Begründung der Kommission zum Vorschlag der VO 510/2006 EG vom 05.01. 2006 (KOM [2005] 698), S. 4.

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meinschaft entfällt die Bindung an die VO 882/2004 EG, so dass die Kontrolle durch beliebige staatliche Behörden oder Produktzertifizierungsstellen erfolgen darf, Art. 11 Abs. 2 VO 510/2006 EG. Die genannten Produktzertifizierungsstellen müssen im Übrigen die Voraussetzungen der Europäischen Norm EN 45011 oder des ISO-Leitfadens 65 erfüllen, Art. 11 Abs. 3 VO 510/2006 EG. Neu an den Bestimmungen über die Kontrolle der Einhaltung der Spezifikationen ist die Einbeziehung der Behörden und Kontrollstellen in die VO 882/2004 EG und somit in das allgemeine System amtlicher Kontrollen im Lebens- und Futtermittelrecht. Damit genießen die Marktteilnehmer in Zukunft mehr Transparenz und Rechtssicherheit.

5. Bezeichnung der Erzeugnisse Eine weitere Änderung erfolgte im Hinblick auf die Benutzung von Namen, Angaben und Zeichen für Agrarerzeugnisse und Lebensmittel. Bisher bestimmte Art. 8 VO 2081/92 EWG lediglich, dass die Abkürzungen „g. U.“ („geschützte Ursprungsbezeichnung“) und „g. g. A.“ („geschützte geografische Angabe“) nur für die nach der Verordnung geschützten Produkte verwendet werden durften. Nun wurde die Regelung ausgeweitet, mit der Folge, dass Art. 8 VO 510/2006 EG Grundsätze für die Verwendung von Namen, Angaben und Zeichen enthält. Art. 8 Abs. 1 VO 510/2006 normiert erstmalig ein gesetzliches Benutzungsrecht der Marktteilnehmer, die Agrarerzeugnisse oder Lebensmittel vermarkten, die der betreffenden Spezifikation entsprechen. Gleichzeitig ist nach neuer Rechtslage in der Etikettierung der nach Gemeinschaftsrecht geschützten Produkte, die unter einer eingetragenen geografischen Angabe vermarktet werden, entweder die Angabe „geschützte Ursprungsbezeichnung“ bzw. „geschützte geografische Angabe“ oder die entsprechende für sie vorgesehene Gemeinschaftsbezeichnung zu verwenden, Art. 8 Abs. 2 VO 510/2006 EG. Von dieser Verpflichtung sind Produkte aus Drittstaaten ausgenommen. Die Verwendung der Angaben und Gemeinschaftszeichen bei Drittstaatenerzeugnissen steht im Ermessen der jeweiligen Marktteilnehmer, Art. 8 Abs. 3 VO 510/2006 EG. Gemäß Art. 20 Abs. 2 VO 510/2006 EG gilt die Vorschrift des Art. 8 Abs. 2 der Verordnung allerdings erst ab dem 1. Mai 2009. In der neuen Verordnung finden sich keine speziellen Sanktionsvorschriften, welche die Folgen eines Verstoßes gegen Art. 8 Abs. 2 VO 510/2006 EG regeln. Damit fällt die Durchsetzung dieser Verpflichtung in den Verantwortungsbereich der Mitgliedstaaten, die gem. Art. 16 Satz 1 VO 510/2006 EG ermächtigt sind, Durchführungsvorschriften für diesen Bereich zu erlassen.

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6. Weitere Änderungen Weitere Änderungen betreffen das Verfahren zur Löschung und Änderung einer Spezifikation in den Art. 9 und Art. 12 VO 510/2006 EG. Der Anhang II der Verordnung, der die Agrarerzeugnisse im Sinne von Art. 1 Abs. 1 aufzählt, wird um „Schwingflachs“ erweitert. Der Bestrebung des Verordnungsvorschlages, die Begriffsbestimmung für „geografische Angaben“ an den Art. 22 TRIPS anzupassen, da dieser an einigen Punkten weiter gefasst ist als Art. 2 Abs. 2 b) sowohl der alten wie auch der neuen Verordnung über geografische Herkunftsangaben, kommt die neue Verordnung hingegen nicht nach. 78

V. Ausblick Zu guter Letzt sollen drei Aspekte angesprochen werden, die den zukünftigen Umgang mit der neuen VO 510/2006 EG betreffen und noch nicht geklärt sind bzw. Wünsche offenlassen. Dabei geht es zum einen um die materiellrechtliche Frage nach dem Verhältnis von Marken und geografischen Herkunftsangaben sowie in verfahrensrechtlicher Hinsicht um die Zuständigkeit für die Überprüfung und Registrierung von Anträgen sowie zu guter Letzt um das Thema der Transparenz der eingetragenen Angaben. 1. Verhältnis von Marken und geografischen Herkunftsangaben Noch nicht hinreichend geklärt erscheint die Rechtslage, wenn sich Markenschutz, nach der Gemeinschaftsmarkenverordnung oder nach nationalem Recht einerseits und eingetragene geografische Herkunftsangaben nach der neuen VO 510/2006 EG andererseits gegenüberstehen. Im Einzelnen ist hier zu differenzieren. Eine bei der Kommission eingetragene geografische Herkunftsangabe steht einer prioritätsjüngeren Marke grundsätzlich als absolutes Schutzhindernis entgegen, vgl. Art. 14 Abs. 1, 13 VO 510/2006 EG, der aufgrund seiner unmittelbaren Geltung zu beachten ist. Bei prioritätsälteren Marken ist es zunächst denkbar, dass diese ihrerseits der Eintragung der geografischen Herkunftsangabe entgegenstehen. Nach Art. 3 Abs. 4 VO 510/2006 EG wird eine Ursprungsbezeichnung oder eine geografische Angabe allerdings nur dann nicht eingetragen, wenn die Eintragung aufgrund des Ansehens, das eine Marke genießt, ihres Bekanntheitsgrades und der Dauer ihrer Verwendung geeignet ist, den Verbraucher in Bezug auf die tatsächliche Identität des Erzeugnisses irrezuführen. Jenseits dieser ___________ 78 Begründung der Kommission zum Vorschlag der VO 510/2006 EG vom 05.01.2006 (KOM [2005] 698), S. 4.

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engen Voraussetzungen kann eine prioritätsältere Marke auch auf der Ebene des Mitgliedstaats bzw. im Rahmen eines Einspruchs geltend gemacht werden, vgl. Art. 5 Abs. 5 Unterabs. 2 i. V. m. Art. 7 Abs. 3 Unterabs. 1 lit. c) VO 510/2006 EG. Dieser Weg hat allerdings nicht ohne Wieteres zur Folge, dass die Eintragung der Herkunftsangabe abgelehnt wird, vgl. Art. 7 Abs. 5 VO 510/2006 EG. Danach bleiben letztlich diejenigen Fälle übrig, in denen eine eingetragene Herkunftsangabe einer prioritätsälteren Marke gegenübersteht. Für diesen Fall sieht Art. 14 Abs. 2 der VO 510/2006 EG vor, dass eine Marke, die vor dem Zeitpunkt des Schutzes der Ursprungsbezeichnung oder geografischen Angabe im Ursprungsland oder vor dem 1. Januar 1996 79 in gutem Glauben angemeldet, eingetragen oder durch Verwendung erworben wurde, ungeachtet der Eintragung einer Ursprungsbezeichnung oder geografischen Angabe weiter verwendet werden darf. Dass diese Vorschrift im Ansatz davon ausgeht, dass sich die geografische Herkunftsangabe gegen eine ältere Marke durchsetzt, 80 erscheint fraglich. Eher dürfte der Vorschrift eine Koexistenzlage zugrunde liegen, so dass sich aus ihr ein Weiterbenutzungsrecht zugunsten der gutgläubig erworbenen, prioritätsälteren Marke ergibt. 81 Des Weiteren ist in Art. 8 Abs. 1 der VO 510/2006 EG erstmals ausdrücklich festgehalten, dass ein nach dieser Verordnung eingetragener Name von jedem Marktteilnehmer verwendet werden kann, der Agrarerzeugnisse oder Lebensmittel vermarktet, die der betreffenden Spezifikation entsprechen. Damit sieht die Verordnung nunmehr erstmals ein ausdrückliches Benutzungsrecht der gebietsansässigen Mitbewerber vor. In diesem Zusammenhang ist die Frage aufgeworfen worden, ob sich daraus ein positives Recht zur Benutzung eingetragener geografischer Angaben ergibt, welches auch gegenüber gutgläubig erworbenen älteren Marken Bestand hat. 82 Allerdings dürfte der Neuregelung des Art. 8 Abs. 1 der Verordnung kein eigenständiger Bedeutungsgehalt zukommen, da es sich auch schon auf der Grundlage der früheren VO 2081/92 EWG von selbst verstand, dass die in dem betreffenden Gebiet ansässigen Unternehmer die betreffende Bezeichnung verwenden durften, soweit die jeweilige Spezifikation eingehalten wurde. Vor diesem Hintergrund dürfte die nun ausdrückliche Erwähnung eines Benutzungsrechts nichts an der durch das besagte Weiterbenutzungsrecht nach ___________ 79

898 f. 80

Zur Problematik dieses neu eingeführten Stichtages näher Knaak, (Fn. 67), S. 893,

So Hacker, F. / Kunz-Hallstein, H. P. / Loschelder, M. / Spuhler, O., Das Verhältnis zwischen Marken und geographischen Herkunftsangaben, in: GRUR Int. 2006, S. 697, 901. 81 In diesem Sinne auch Ingerl / Rohnke (Fn. 48), 2. Aufl., § 135 Rn. 5; Hacker / Kunz-Hallstein / Loschelder / Spuhler (Fn. 80), S. 697, 901. 82 Knaak (Fn. 67), S. 893, 899.

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Art. 14 der Verordnung etablierte Koexistenzlage zwischen Marke und geografischer Angabe ändern. 2. Zuständigkeit Für die Überprüfung und Registrierung der Anträge auf Eintragung geografischer Angaben ist die Kommission zuständig, Art. 6, 7 VO 510/ 2006 EG. Dem Vernehmen nach waren zumindest zu Beginn des Jahres 2006 noch etwa 300 Anträge bei der Kommission anhängig, so dass bereits ernsthaft darüber nachgedacht wurde, die Prüfung der eingereichten Anträge auf die Mitgliedsstaaten zu verlagern.83 Dieser Weg birgt allerdings unverkennbar die Gefahr einer „Renationalisierung“, da die einheitliche Handhabung wohl kaum zu gewährleisten wäre. Vor diesem Hintergrund war man sicher klug beraten, zunächst einmal abzuwarten, ob hier tatsächlich längerfristig ein „Massenproblem“ droht oder ob sich die Anträge nicht im Laufe der Zeit abbauen lassen. Notfalls ließe sich auch immer noch über eine Übertragung der Prüfungs- und Registriertätigkeit auf eine europäische Agentur diskutieren. 3. Registertransparenz Zu guter Letzt stünde es der Kommission sicherlich nicht schlecht zu Gesicht, im Interesse möglichst weitgehender Transparenz und Anwenderfreundlichkeit endlich ein öffentlich, am besten online einsehbares Register einzurichten, aus dem sämtliche eingetragenen Ursprungsbezeichnungen und geografischen Angaben einschließlich der jeweiligen Spezifikation einzusehen sind. Die bisherige Lösung über die Veröffentlichung der Eintragung durch gesonderte Verordnungen im Amtsblatt und unregelmäßige zusammenfassende Listen84 lassen das gezielte Suchen eher zur Tortur werden.

___________ 83

Vgl. Bericht des Ausschusses für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung (oben Fn. 6), S. 5. 84 Vgl. VO (EG) Nr. 1107/96 vom 12.06.1996, ABl. Nr. L 148 S. 1; VO (EG) Nr. 2400/96 vom 17.12.1996, ABl. L 327 S. 11; Liste der mitgeteilten Kontrollstrukturen, ABl. 2005 Nr. C 317 S. 1.

Kriminologische Definitionsansätze politischer Kriminalität Klaus Laubenthal In der deutschsprachigen Kriminologie fand die politische Kriminalität lange Zeit kaum Berücksichtigung. Nur wenige Autoren1 beschäftigten sich näher mit diesem Bereich abweichenden Verhaltens. Dies stand in einem krassen Missverhältnis zu den folgenschweren Auswirkungen, die politische Delikte für das Individuum, vor allem aber für soziale und ethnische Gruppen bis hin zur Staatengemeinschaft haben. Die bevorzugte Behandlung anderer Erscheinungsformen kriminologisch relevanten Verhaltens unter Vernachlässigung einer umfassenden Erforschung der politischen Kriminalität beruhte wesentlich auf der schwierigen Abgrenzbarkeit gerade dieses Deliktsbereichs. Es lässt sich schon kein allgemein gültiger, situationsunabhängiger Verbrechensbegriff feststellen, weil es an einer absoluten Gestaltungsform gesellschaftlicher Ordnung mangelt. Die Bezeichnung einer Handlung als sozialschädliche Straftat bleibt – von einem Kernbereich des Strafbaren abgesehen – von der jeweiligen Gesellschaftssituation abhängig.2 Diese Relativität des Verbrechensbegriffs tritt bei politischer Kriminalität am deutlichsten zutage. Eine Straftat in einem bestimmten Gesellschaftssystem vermag zugleich in einem anderen Staat als sozialadäquates oder gar als sozial erwünschtes Verhalten zu gelten.3 Die schon länger bestehende Erkenntnis von der Strafwürdigkeit von Genoziden, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen auf der Ebene der internationalen Gemeinschaft hat in den vergangenen Jahren zu einer rasanten Entwicklung des Völkerstrafrechts geführt, welche durch die Errich___________ 1

Siehe z. B. Jäger, H., Makrokriminalität – Studien zur Kriminologie kollektiver Gewalt, 1989; Laubenthal, K., Ansätze zur Differenzierung zwischen politischer und allgemeiner Kriminalität, in: MschrKrim 72 (1989), S. 326 ff.; Schneider, H. J., Kriminologie, 1987, S. 862 ff. 2 Zipf, H., Kriminalpolitik, 2. Aufl. 1980, S. 92. 3 Beispielsweise wurde gem. § 213 StGB-DDR 1974 das widerrechtliche Passieren der Staatsgrenze, d. h. das Verlassen des DDR-Hoheitsgebietes ohne staatliche Genehmigung, mit Geld- oder Haftstrafe bedroht, in schweren Fällen mit bis zu acht Jahren Freiheitsentzug. Eine entsprechende Straftat gegen die staatliche Ordnung kannte und kennt das bundesdeutsche StGB nicht; das Überschreiten der Staatsgrenze stellt vielmehr ein sozialadäquates Handeln dar.

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tung des ständigen Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag am 1. Juli 2002 noch forciert wurde. Obwohl es sich bei der staatlichen Kriminalität um schwerste Kriminalität handelt, blieb in der deutschsprachigen Kriminologie selbst dieser Deliktsbereich nahezu ausgeklammert. Erst in letzter Zeit werden hier die Völkerrechtsverbrechen auch für die Kriminologie entdeckt.4 Auf dem Gebiet der politisch motivierten Kriminalität haben neuere Phänomene insbesondere rechtsextremistischer Angriffe – vor allem fremdenfeindlicher bzw. antisemitischer Hasskriminalität – zu einer intensiveren Befassung auch auf Seiten der kriminologischen Wissenschaft geführt.

I. Der Begriff des politischen Delikts findet seinen Ursprung nicht in kriminologischen Abhandlungen zur Verbrechensphänomenologie. Er entstammt vielmehr dem Bereich des internationalen Rechtshilfeverkehrs.5 Überkommener Grundsatz des Auslieferungsrechts ist die Auslieferungsausnahme bei politischen Delikten.6 Doch auch hier findet sich keine international gültige Definition. Eine Legaldefinition enthielt § 3 Abs. 2 Deutsches Auslieferungsgesetz (DAG) vom 23. Dezember 1929. Danach sollten politische Taten sein: „die strafbaren Angriffe, die sich unmittelbar gegen den Bestand oder die Sicherheit des Staates, gegen das Oberhaupt oder gegen ein Mitglied der Regierung des Staates als solches, gegen eine verfassungsmäßige Körperschaft, gegen die staatsbürgerlichen Rechte bei Wahlen oder Abstimmungen oder gegen die guten Beziehungen zum Ausland richten.“ Das Deutsche Auslieferungsgesetz stellte damit auf die Art des angegriffenen Rechtsguts ab, seiner Definition lag eine objektive Betrachtungsweise zugrunde. Die mit § 3 Abs. 2 DAG verbundene Erwartung, andere Staaten würden dieser objektiven Auffassung folgen, wodurch es zu einer international einheitlichen Bestimmung der politischen Tat kommen könnte, erfüllte sich allerdings nicht. So beinhaltete selbst kein für die Bundesrepublik Deutschland ___________ 4

Vgl. Müller, Ch., Völkerstrafrecht und Internationaler Strafgerichtshof – kriminologische, straftheoretische und rechtspolitische Aspekte, 2003; Reese, C., Großverbrechen und kriminologische Konzepte – Versuch einer theoretischen Integration, 2004; Neubacher, F., Kriminologische Grundlagen einer internationalen Strafgerichtsbarkeit. Politische Ideen- und Dogmengeschichte, kriminalwissenschaftliche Legitimation, strafrechtliche Perspektiven, 2005. 5 Franke, D., Politisches Delikt und Asylrecht, 1979, S. 15 ff. 6 Zu den historischen, staatspolitischen und völkerrechtlichen Gründen dieses Prinzips vgl. Felchlin, P., Das politische Delikt, 1979, S. 145 ff.; Lagodny, O., Die Rechtsstellung des Auszuliefernden in der Bundesrepublik Deutschland, 1987, S. 46 f.; Stein, T., Die Auslieferungsausnahme bei politischen Delikten, 1983, S. 52 ff.

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gültiger Auslieferungsvertrag eine § 3 Abs. 2 DAG entsprechende Regelung. 7 § 6 des Gesetzes über die Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) vom 23. Dezember 1982, 8 das an die Stelle des Deutschen Auslieferungsgesetzes trat, kennt keine Legaldefinition des politischen Delikts mehr. Auch die in Art. 3 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens 9 geregelte Auslieferungsausnahme bei politisch strafbaren Handlungen wird durch keine Begriffsbestimmung konkretisiert. Eine Definition politischer Kriminalität findet sich schließlich ebenso wenig in internationalen Übereinkommen, welche im Hinblick auf bestimmte Verhaltensweisen entweder die Vertragspartner verpflichten, ihr nationales Strafrecht entsprechend einzurichten oder direkt die Strafbarkeit von Zuwiderhandlungen ausdrücken. Dies betrifft etwa folgende Rechtssätze: – Die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes vom 9. Dezember 1948 mit Beitrittsgesetz der Bundesrepublik Deutschland vom 9. August 1954. 10 Art. II der Konvention definiert lediglich die als Völkermord eingestuften Handlungen. Der deutsche Gesetzgeber gab diese Vorgabe in § 220a Abs. 1 StGB a. F. 11 weithin wörtlich wieder. Eine entsprechende Regelung findet sich nunmehr in § 6 VStGB. 12 – Die vier Genfer Rotkreuz-Konventionen aus dem Jahr 1949 befassen sich als bedeutendste Regelungen auf diesem Sektor mit dem Verhalten im Krieg unter besonderer Berücksichtigung der Stellung der Verwundeten, der Kranken, der Kriegsgefangenen sowie der Zivilbevölkerung. 13 Zwei Zusatzprotokolle vom 8. Juni 1977 erweitern den in den Konventionen umrissenen Schutzbereich auf internationale bewaffnete Konflikte, die nicht dem ___________ 7 Jannasch, A., Auslieferung und politische Verfolgung, in: Zeidler, W. / Maunz, Th. / Rollecke, G. (Hrsg.), Festschrift Hans Joachim Faller, 1984, S. 397 ff. (400 f.). 8 BGBl. 1982 I, S. 2071. 9 Für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft getreten mit Bekanntmachung vom 08.11.1976, BGBl. 1976 II, S. 1778. 10 BGBl. 1954 II, S. 729 ff. 11 Eingefügt durch Art. 2 des Gesetzes vom 09.08.1954 (Fn. 10), aufgehoben durch Art. 2 Nr. 10 des Gesetzes zur Einführung des Völkerstrafgesetzbuches vom 26.06. 2002, BGBl. 2002 I, S. 2254 ff. 12 Vom 26.06.2002, BGBl. 2002 I, S. 2254 ff. 13 I. Genfer Abkommen vom 12.08.1949 zur Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken der Streitkräfte im Felde (BGBl. 1954 II, S. 781, 783 ff.), II. Genfer Abkommen vom 12.08.1949 zur Verbesserung des Loses der Verwundeten, Kranken und Schiffbrüchigen der Streitkräfte zur See (BGBl. 1954 II, S. 781, 813 ff.), III. Genfer Abkommen vom 12.08.1949 über die Behandlung der Kriegsgefangenen (BGBl. 1954 II, S. 781, 838 ff.) sowie IV. Genfer Abkommen vom 12.08.1949 zum Schutze von Zivilpersonen in Kriegszeiten (BGBl. 1954 II, S. 781, 917 ff.); zur Entstehungsgeschichte näher Augustin, M., Grundzüge der Entwicklung von Kriegsverbrechen, 2000, S. 120 ff.

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klassischen Bild des Krieges zwischen zwei Staaten entsprechen, 14 sowie auf bestimmte interne bewaffnete Konflikte. 15 Im Rahmen des Gegenstandes der Abkommen bzw. Zusatzprotokolle werden wiederum nur bestimmte Verhaltensweisen, die den Grundsätzen humanitärer Kriegsführung widersprechen, für strafwürdig erklärt. 16 – Weitere internationale Übereinkommen reglementieren das Verhalten in bewaffneten Auseinandersetzungen bzw. im Vorfeld solcher Ereignisse unter der Forderung nach strafrechtlichen Konsequenzen, etwa im Hinblick auf den Schutz von Eigentum und Kulturgütern 17 oder bezüglich des Verbots bestimmter Kampfmittel. 18 Eine grundlegende Änderung der Situation ist auch durch die Schaffung des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs vom 17. Juli 1998 19 nicht eingetreten. Es bleibt insoweit dabei, dass politische Kriminalität nicht als solche definiert und unter Strafe gestellt wird. Vielmehr sind die einzelnen relevanten Tathandlungen in enumerativer Weise beschrieben und mit Strafandrohungen versehen. In Teil 2 des Statuts finden sich die Straftatbestände der einzelnen Delikte in vier Verbrechensgruppen zusammengefasst: – Völkermord (Art. 6), – Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Art. 7), – Kriegsverbrechen (Art. 8), – Verbrechen der Aggression (Art. 5). 20 ___________ 14 Vgl. Art. 1 Abs. 3 u. 4 des Zusatzprotokolls zu den Genfer Abkommen vom 12.08.1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte (Protokoll I), BGBl. 1990 II, S. 1550, 1551 ff. 15 Siehe Art. 1 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zu den Genfer Abkommen vom 12.08. 1949 über den Schutz der Opfer nicht internationaler bewaffneter Konflikte (Protokoll II), BGBl. 1990 II, S. 1550, 1637 ff. 16 Etwa Art. 49 f. I. Genfer Abkommen, Art. 50 f. II. Genfer Abkommen, Art. 129 f. III. Genfer Abkommen, Art. 146 f. IV. Genfer Abkommen, Art. 11 und 85 I. Protokoll. 17 Vgl. Art. 56 Abs. 2 der Anlage zum Abkommen, betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs vom 18.10.1907 (so genannte Haager Landkriegsordnung), RGBl. 1910, S. 107 ff.; Art. 28 der Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten vom 14.05.1954, BGBl. 1967 II, S. 1235 ff. 18 So Art. VII Abs. 1 S. 2 lit. a) des Übereinkommens über das Verbot der Entwicklung, Herstellung, Lagerung und des Einsatzes chemischer Waffen und über die Vernichtung solcher Waffen vom 13.01.1993 (BGBl. 1994 II, S. 807 ff.); Art. 14 Abs. 1 und 2 des Protokolls über das Verbot oder die Beschränkung des Einsatzes von Minen, Sprengfallen und anderen Vorrichtungen in der Fassung vom 03.05.1996 (BGBl. 1997 II, S. 807 ff.) sowie Art. 9 des Übereinkommens über das Verbot des Einsatzes, der Lagerung, der Herstellung und der Weitergabe von Antipersonenminen vom 03.12.1997 (BGBl. 1998 II, S. 779 ff.). 19 BGBl. 2000 II, S. 1393 ff. 20 Hinsichtlich des Aggressionsverbrechens fehlt es noch an der Erarbeitung einer Legaldefinition, die von den Vertragsstaaten nach Art. 5 Abs. 2, 121 und 123 angenommen werden muss; dazu Werle, G., Völkerstrafrecht, 2. Aufl. 2007, S. 519 f.

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Einen Hinweis auf den Charakter solcher Delikte als politische Kriminalität enthält allerdings Art. 8 Abs. 1 IStGH-Statut, wenn dort die Gerichtsbarkeit des IStGH „insbesondere“ („in particular“) für Kriegsverbrechen statuiert wird, die „als Teil eines Planes oder einer Politik (policy) oder als Teil der Begehung solcher Verbrechen in großem Umfang verübt werden“. Nach Art. 7 Abs. 1 lit. h) des Statuts gilt schließlich als Verbrechen gegen die Menschlichkeit u. a. die Verfolgung einer Gruppe aus politischen („political“) Gründen. In vergleichbarer Weise hatten vorher schon Art. 5 lit. h) des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien 21 sowie Art. 3 lit. h) des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs für Ruanda 22 die Verbrechen gegen die Menschlichkeit umschrieben. Der deutsche Gesetzgeber hat in Reaktion auf das Römische Statut das VStGB geschaffen, obwohl er hierzu nicht verpflichtet war. Denn das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs legt die Signatarstaaten nicht darauf fest, ihr nationales Strafrecht unter Berücksichtigung der völkerrechtlich vereinbarten Straftatbestände zu modifizieren. 23 Rechtsfolge fehlender vergleichbarer nationaler Strafnormen bleibt ausschließlich die Eröffnung der Zuständigkeit des internationalen Gerichts, nachdem diese bei nationaler Strafverfolgung prinzipiell subsidiär ist (vgl. Art. 17 IStGH-Statut). Das VStGB pönalisiert Völkermord (§ 6), Verbrechen gegen die Menschlichkeit (§ 7), Kriegsverbrechen (§§ 8–12) sowie spezielles (militärisches) Fehlverhalten im Zusammenhang mit den vorgenannten Delikten (§ 13: Verletzung der Aufsichtspflicht, § 14: Unterlassen der Meldung einer Straftat). Ein dezidiert politischer Charakter der Delikte findet sich nicht herausgestellt. Allerdings ist im Gleichlauf mit dem IStGH-Statut in § 7 Abs. 1 Nr. 10 VStGB die menschenrechtswidrige Verfolgung einer Gruppe u. a. aus politischen Gründen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingeordnet. Objektiv rechtsgutsorientiert wie etwa jene bis 1982 gültige Fassung des § 3 Abs. 2 DAG stellt sich die positivistische Position der Kriminologie dar. Diese rechnet diejenigen Delikte zu den originär politischen Straftaten, welche der Gesetzgeber selbst als gegen Bestand oder Verfassungsordnung des Staates gerichtet für strafbar erklärt hat. 24 Hierbei handelt es sich im Bereich der Bundes___________ 21

Vom 25.05.1993, UN-Sicherheitsrat Res. 827 (1993); BT-Drs. 13/57, S. 14 ff. Vom 08.11.1994, UN-Sicherheitsrat Res. 955 (1994); BT-Drs. 13/7953, S. 16 ff. 23 Für viele Kreß, C., Vom Nutzen eines deutschen Völkerstrafgesetzbuchs, 2000, S. 6 f.; Schmidt, M., Externe Strafpflichten, Völkerstrafrecht und seine Wirkungen im deutschen Strafrecht, 2002, S. 88 f.; Werle, G. / Jeßberger, F., Das Völkerstrafgesetzbuch, in: JZ 2002, S. 725 (727); anders etwa Ebert, U., Völkerstrafrecht und Gesetzlichkeitsprinzip, in: Britz, G. et al. (Hrsg.), Grundfragen staatlichen Strafens. Festschrift für Heinz Müller-Dietz zum 70. Geburtstag, 2001, S. 171 (177). 24 Amelunxen, C., Politische Straftäter, 1964; Groß, H. / Geerds, F., Handbuch der Kriminalistik, 10. Aufl. 1978, S. 449 ff.; vgl. auch Kaiser, G., Kriminologie, 3. Aufl. 22

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republik Deutschland vor allem um die Staatsschutzdelikte 25 der §§ 80–109k StGB: Straftaten des Friedens- und Hochverrats, Gefährdung des demokratischen Rechtsstaats, Landesverrat, Delikte gegen das Völkerrecht, gegen Verfassungsorgane sowie die Ordnungsmäßigkeit bei Wahlen und Abstimmungen, ferner Straftaten gegen die Landesverteidigung. Neben den Abschnitten 1 bis 5 des Strafgesetzbuches Besonderer Teil zählen zu den originär politischen Delikten u. a. auch die Verschleppung (§ 234a StGB), die Politische Verdächtigung (§ 241a StGB) sowie die Bildung terroristischer Vereinigungen nach §§ 129a, 129b StGB. Die Beschränkung des Begriffs politischer Kriminalität insbesondere auf die Staatsschutzdelikte ermöglicht zwar eine Definition anhand objektiver Kriterien. Die persönliche Zielsetzung des Täters und seine Motivation sind insoweit für die Einordnung einer Tat als politisches Delikt aber nicht konstitutiv. Eine derartige – ausschließlich auf gültige Normen begrenzte – Sichtweise 26 überlässt die Definitionsmacht im Wesentlichen dem aktuellen Willen des jeweiligen Gesetzgebers. Den Bereich politischer Kriminalität auf originär politische Delikte zu beschränken, wird zudem der Bandbreite politisch relevanter Straftaten nicht gerecht. Neben diesen auch als „absolut“ politische Delikte bezeichneten 27 steht eine Reihe von Tatbeständen des allgemeinen Strafrechts, deren Verwirklichung zugleich einen Angriff auf Bestand oder verfassungsmäßige Ordnung des Staates zu beinhalten vermag bzw. politische Relevanz aufweist. Während sich in der Terminologie des Auslieferungsrechts 28 für diese Straftaten weitgehend die Bezeichnung als „relativ“ politische Delikte 29 durchgesetzt hat, spricht die Kriminologie insoweit von subjektiv politischer 30 bzw. von politisch motivierter Kriminalität. 31

___________ 1996, S. 337 ff.; Kooistra, P., What is Political Crime? in: Criminal Justice Abstracts 1985, S. 102 f. 25 Hierzu umfassend Harnischmacher, R. / Heumann, R., Die Staatsschutzdelikte in der Bundesrepublik Deutschland, 1984, S. 26 ff. 26 Krit. bereits Hess, H., Repressives Verbrechen, in: KrimJ 8 (1976), S. 4. 27 Vgl. Eisenberg, U., Kriminologie, 6. Aufl. 2005, S. 704. 28 Zwischen den absolut und relativ politischen Delikten unterschied erstmals Lammasch, H., Das Recht der Auslieferung wegen politischer Verbrechen, 1884. 29 Siehe z. B. Schomburg, W. / Lagodny, O. / Gleß, S. / Hacker, Th., Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 4. Aufl. 2006, § 6 IRG, Rn. 20. 30 Schünemann, B., Politisch motivierte Kriminalität, in: Boor, W. de (Hrsg.), Politisch motivierte Kriminalität – echte Kriminalität?, 1978, S. 51. 31 Vgl. Schneider, H. J., Politische Kriminalität, in: Sieverts, R. / Schneider, H. J. (Hrsg.), Handwörterbuch der Kriminologie, 2. Aufl., Band 5, 1998, S. 590; Schwind, H.-D., Kriminologie, 17. Aufl. 2007, S. 135.

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II. Vor allem das Bestreben, gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Bestand des Staates gerichtete Taten der allgemeinen Kriminalität in den Bereich politischer Delikte einbeziehen zu können, führte zunächst zu der Auffassung, 32 die politische Natur der Tätermotivation sei das entscheidende subjektive Kriterium zur Differenzierung von politischer und unpolitischer Kriminalität (so genannter psychologischer Definitionsansatz). Der politisch motivierte Straftäter setzt hiernach deliktisches Handeln nicht zur Befriedigung individueller Bedürfnisse ein. Er verfolgt vielmehr den über ihn hinausreichenden Zweck, durch seine Tat die Grundlagen staatlicher und gesellschaftlicher Ordnung zu verändern. 33 So betrachtet selbst Robert Merton 34 in seinem soziologischen Konzept der Differenzierung zwischen non-conformist deviant und aberrant deviant, auf welches gelegentlich zur Definition politischer Kriminalität zurückgegriffen wurde, 35 die Motivation als ein wesentliches Merkmal: Im Gegensatz zum Kriminellen, der Normen aus Eigeninteresse verletzt, weicht der Nonkonformist aus ganz oder überwiegend uneigennützigen Gründen von bestehenden Normen ab. Die Heranziehung einer altruistischen Motivation als entscheidendes Kriterium durch den psychologischen Definitionsansatz erinnert an strafrechtshistorische Bestrebungen, derartigen Beweggründen des politischen Straftäters auf der Seite der Unrechtsreaktionen Rechnung zu tragen. Unbeschadet vereinzelter Versuche seitens der psychiatrischen Wissenschaft, politische Straftäter überwiegend als Fälle mit schweren Persönlichkeitsstörungen zu bezeichnen, 36 erörterte die Strafrechtswissenschaft wiederholt die Frage nach einer Privilegierung des so genannten Überzeugungsverbrechers. 37 Da der Staat nicht das Recht habe, Täter, die aus elementaren Gründen des Allgemeinwohls heraus handelten, mit entehrender Strafe zu belegen, sah § 20 RStGB 1871 in Verbindung mit den jeweiligen Strafdrohungen bei absolut politischen Delikten die ___________ 32

Vgl. Bonn, R., Criminology, 1984, S. 358; Schünemann (Fn. 30), S. 51. Vgl. Sack, F., Politische Delikte, politische Kriminalität, in: Kaiser, G. et al. (Hrsg.), Kleines Kriminologisches Wörterbuch, 2. Aufl. 1985, S. 325. 34 Merton, R., Social Problems and Social Theory, in: Merton, R. / Nisbet, R. (Hrsg.), Contemporary Social Problems, 2. Aufl. 1966, S. 808 ff. 35 So Sack (Fn. 33), S. 327 f.; Sykes, G., Criminology, 1978, S. 216. 36 Vgl. bereits Lombroso, C. / Laschi, R., Der politische Verbrecher und die Revolutionen, Band 2, 1882, S. 1 ff.; Gaupp, R., Der Überzeugungsverbrecher, in: MschrKrim Psych. 1926, S. 398. 37 Vgl. hierzu Beckstein, G., Der Gewissenstäter im Strafrecht und Strafprozessrecht, 1975; Baltzer, Ch., Die geschichtlichen Grundlagen der privilegierten Behandlung politischer Straftäter im RStGB von 1871, 1966; Eichholz, G., Der Gewissenstäter, 1971; Gödan, J. Ch., Die Rechtsfigur des Überzeugungstäters, 1975; Hirsch, H. J., Strafrecht und Überzeugungstäter, 1996. 33

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nicht entehrende Festungshaft als Regelsanktion oder als wahlweise zu verhängende Folge vor. Voraussetzung war, dass die Handlung nicht einer ehrlosen Gesinnung entsprang. Gustav Radbruch richtete schließlich maßgeblich die Diskussion vom normativen Element der Ehrlosigkeit weg hin auf den Überzeugungsverbrecher als psychologischen Tätertyp, welcher aus persönlicher Pflichtüberzeugung straffällig wurde. 38 Gemäß § 71 des von ihm als Reichsjustizminister erarbeiteten Entwurfs eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches 1922 sollte anstelle von Gefängnis Einschließung von gleicher Dauer treten, „wenn der ausschlaggebende Beweggrund des Täters darin bestand, daß er sich zu der Tat auf Grund seiner sittlichen, religiösen oder politischen Überzeugung für verpflichtet hielt“. Der Überzeugungstäter müsse vom Staat als dessen Gegner zwar bekämpft werden, der Staat könne ihn aber nicht wie einen „sittlich haltlosen bessern wollen“. 39 Mit Hilfe des psychologischen Elements der Überzeugung sollte der Anwendungsbereich auch auf die relativ politischen Delikte erstreckt werden. Die auf dem Wertrelativismus basierende Lehre vom Überzeugungsverbrecher stieß jedoch schon wegen dieser Prämisse auf weitgehende Ablehnung. 40 Zudem gibt es keinen objektiv feststellbaren Typ des Überzeugungstäters; die Zuerkennung dieser Eigenschaft hängt vielmehr von einer subjektiven Bewertung der Beweggründe ab. 41 Zwar gelingt es dem psychologischen Ansatz ebenso wie der Lehre vom Überzeugungsverbrecher, den Bereich relativ politischer Delikte in das Konzept einzubeziehen. Wesentlicher Kritikpunkt an einer Differenzierung von politischer und allgemeiner Kriminalität allein auf der subjektiven Ebene ist aber auch hier die Schwierigkeit, in der Praxis eine Motivation mit zureichender Genauigkeit als politische feststellen zu können. Die Bewertung einer Absicht wird bereits durch den Standort des Beurteilenden in der jeweiligen politischen und sozialen Situation bedingt. Hinzu kommt die bislang ungeklärte Frage nach der Definitionsmacht und deren Ausmaß. Die Beschränkung des psychologischen Definitionsansatzes auf die Motivation als entscheidendes Abgrenzungskriterium kann aber nicht nur zu erheblichen praktischen Schwierigkeiten bei der Bestimmung der Täterabsicht führen. Eine strikt subjektiv orientierte Differenzierung hätte zwangsläufig auch das widersprüchliche Ergebnis zur Folge, dass selbst sog. originär politische Delikte in nicht wenigen Fällen durchaus auch zur Allgemeinkriminalität zu zäh___________ 38

Radbruch, G., Einführung in die Rechtswissenschaft, 2. Aufl. 1911, S. 73; ders., Der Überzeugungsverbrecher, in: ZStW 44 (1924), S. 34 ff. 39 Siehe Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches 1922, Begründung S. 24. 40 Vgl. für viele Wolf, E., Das Tatmotiv der Pflichtüberzeugung, in: ZStW 46 (1925), S. 215. 41 So bereits Nagler, J., Der Überzeugungsverbrecher, in: Gerichtssaal 1927, S. 48 ff.

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len wären. Denn nicht nur politische Überzeugung, sondern auch Gewinnsucht, Abenteuerlust, Geltungsbedürfnis, Zwang und Furcht können etwa Motive einer Straffälligkeit gem. §§ 80 ff. StGB sein. 42 Der Tatbestand des Landesverrats erfasst sowohl den ausschließlich aus finanziellen Erwägungen als auch den aus Überzeugung Handelnden. Die generelle Unterstellung eines politischen Beweggrundes bei den absolut politischen Delikten würde somit der Divergenz der Täterabsichten nicht gerecht. In vergleichbare Schwierigkeiten geraten die Vertreter der rein psychologischen Position bei geisteskranken Tätern. Gerade die Urform politischer Kriminalität, das Attentat auf die physische Existenz des Staatsoberhauptes, 43 welches gem. § 83 StGB i. d. F. von 1951 bis zur Aufhebung durch das 8. Strafrechtsänderungsgesetz 1968 als absolut politisches Delikt normiert war, wird nicht selten unmittelbar von Personen verübt, denen man schwere Persönlichkeitsstörungen attestiert. 44 Dennoch werden auch solche von der subjektiven Seite her eigentlich unpolitischen Delikte von der Gesellschaft als politische Straftaten betrachtet. Dies weist bereits auf die erhebliche Bedeutung, die der sozialen Reaktion für die Einordnung strafbarer Handlungen zukommt. Die Zuordnungsschwierigkeiten eher verstärkt hat schließlich die Ständige Konferenz der Innenminister und -senatoren des Bundes und der Länder (IMK), als sie mit Wirkung vom 1. Januar 2001 sich auf ein umfängliches Definitionssystem der politisch motivierten Kriminalität verständigte. 45 Dieses führte zu einer Ausdehnung der phänomenologischen Bereiche. Danach gilt eine Tat insbesondere dann als politisch motiviert, „wenn die Umstände der Tat oder die Einstellung des Täters darauf schließen lassen, dass sie sich gegen eine Person aufgrund ihrer politischen Einstellung, Nationalität, Volkszugehörigkeit, Rasse, Hautfarbe, Religion, Weltanschauung, Herkunft, sexuellen Orientierung, Behinderung oder ihres äußeren Erscheinungsbildes bzw. ihres gesellschaftlichen Status richtet“. Die politische Kriminalität als neues Erfassungskriterium wurde zugleich verbunden mit der Erfassungsmöglichkeit unter dem Oberbegriff der Hasskriminalität, die als spezielle Unterpunkte fremdenfeindliche und antisemitische Straftaten umfasst. 46 Der Bereich der politisch motivier___________ 42 Vgl. Eisenberg, U. / Sander, G., „Politische Delikte“ in Wandelbarkeit und Wandel, in: JZ 1987, S. 114. 43 Vgl. Middendorff, W., Der politische Mord, 1968. 44 Kooistra (Fn. 24), Criminal Justice Abstracts 1985, S. 107; Middendorff, W., Attentat, in: Sieverts, R. / Schneider, H. J. (Hrsg.), Handwörterbuch der Kriminologie, Ergänzungsband, 2. Aufl. 1979, S. 161 ff.; Schneider, H. J. (Fn. 1), S. 869. 45 Siehe Sammlung der zur Veröffentlichung freigegebenen Beschlüsse der 167. Sitzung der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder am 10.05. 2001. 46 Siehe dazu auch Bundesministerium des Innern / Bundesministerium der Justiz: Zweiter Periodischer Sicherheitsbericht, 2006, S. 134 ff.; Füllgrabe, U., Hassverbrechen, in: Kriminalistik 2004, S. 391 ff.; Schneider, H. J., Politische Kriminalität: Hass-

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ten Kriminalität bleibt damit nicht mehr auf Absichten wie die Überwindung der freiheitlich demokratischen Grundordnung begrenzt. Vielmehr wird von politisch motivierter Kriminalität auch dann gesprochen, wenn Straftaten aus einer vom Täter politisch begründeten und/oder menschenverachtenden Motivation heraus begangen werden – selbst wenn sie nicht ausschließlich von politischen Ideologien getragen sind. Damit erlaubt es die Definition der IMK, auch Straftaten gegen Fremde und Minderheiten den politischen Delikten zuzuordnen. Definiert man wiederum Hassverbrechen als traditionelle Delikte, die durch Hass tätermotiviert sind, also durch rassistische, ethnische, religiöse oder sexistische Tätermotive oder andere Tätervorurteile, so ergibt sich das Problem, dass Hassverbrechen im Einzelfall dem Bereich der politischen Kriminalität nur schwer zuzurechnen sein können. Hassverbrechen lassen sich daher eher von der viktimologischen Perspektive her definieren: 47 Zu einem entscheidenden Kriterium des Hassverbrechens wird die Schädigung des symbolischen Status, der Identität des So-Seins des Opfers, welches der Täter in seiner Existenz und in seiner Menschenwürde in Frage stellt. Wesentlich ist also der symbolische Status des Opfers als Mitglied einer bestimmten sozialen oder ethnischen Gruppe, gegenüber der der Täter eine Abneigungs- und Feindseligkeitseinstellung hat, die er je nach situativer Gelegenheit aktiviert. Eine solche Definition des Hassverbrechens stellt die Tätermotivation hintan und rückt die soziale Bedeutung des Täterverhaltens für das unbeteiligte Publikum in den Mittelpunkt. 48

III. Weniger die vom Täter verfolgte Absicht und die Richtung seines Angriffs, sondern vielmehr Reaktion und Interpretation seiner Tat seitens der staatlichen Behörden sind nach dem soziodynamischen Erklärungsansatz 49 konstitutiv für die Benennung eines Delikts als politisch. Die Etikettierung bestimmter Verhaltensweisen als politische Verbrechen durch die Repräsentanten des Staates ___________ verbrechen, in: Kriminalistik 2001, S. 21 ff.; ders., Hasskriminalität: eine neue kriminologische Deliktskategorie, in: JZ 2003, S. 497 ff.; ders., Organisierte Hasskriminalität, in: Kriminalistik 2004, S. 220 ff. 47 Dazu eingehend Schneider, H. J., Opfer von Hassverbrechen junger Menschen: Wirkungen und Konsequenzen, in: MschrKrim 84 (2001), S. 357 ff.; ders., HassGewalt-Delinquenz junger Menschen: Theoretische Grundlagen und empirische Forschungsergebnisse, in: Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Projekt Primäre Prävention von Gewalt gegen Gruppenangehörige – insbesondere: junge Menschen – Band 1, 2006, S. 44 f. 48 Schneider, H. J. (Fn. 47), 2006, S. 46. 49 Ingraham, B., Political Crime in Europe, 1979, S. 26 ff.; Turk, A., Political Criminality, 1982, S. 114.

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im Kontrollprozess wird abgeleitet aus dem Konflikt zwischen denen, welche staatliche Macht ausüben, und jenen, die eine Änderung der bestehenden Machtverhältnisse anstreben. Dem Bereich der politischen Kriminalität soll damit jedes deliktische Handeln zugeschrieben werden, das Staatsbehörden als Widerstand gegen die herrschenden Machtstrukturen betrachten. Die Einschätzung eines Verhaltens als deren tatsächliche oder potenzielle Bedrohung führt seitens der staatlichen Institutionen einmal zu Reaktionen symbolischer Art (etwa durch Manipulation negativer Stereotype) 50 mit dem Ziel der Zuschreibung einer negativen Identität sowie der sozialen Ausgrenzung solcher Gruppierungen und ihrer Mitglieder. 51 Über diese Strategie der Diskreditierung von Opponenten hinausgehend kommt Funktionsträgern des Staates im Rahmen der formellen Sozialkontrolle aber auch die alleinige Macht zu, ein Handeln als politisches Delikt zu interpretieren. Politische Kriminalität ist danach ein Verhalten, das seitens der staatlichen Behörden aus Gründen der politischen Sicherheit strafrechtlich verfolgt wird, und zwar gleichgültig, ob der Täter tatsächlich eine gegen den Bestand der staatlichen oder sozialen Ordnung gerichtete politische Tat begangen hat. 52 Ein derartiger Erklärungsansatz kann jedoch nur eingeschränkte Tauglichkeit zur Differenzierung allgemeiner und politischer Straftaten besitzen. Dies basiert wesentlich auf einer zu restriktiven Interpretationsautorität. Die ausschließliche Zuordnung eines Verhaltens zum Bereich politischer Delikte gerade durch Vertreter der staatlichen Macht kompliziert insbesondere den Weg zu einer Einbeziehung krimineller Handlungen staatlicher Funktionsträger in das Konzept politischer Kriminalität. Denn dieses umfasst nicht nur gegen den Staat und seine Organe gerichtete Straftaten. Es schließt auch Verbrechen ein, welche von politisch verantwortlichen Personen in ihren jeweiligen Machtpositionen, vor allem auch in Ausübung staatlicher Gewalt, verübt werden. 53 Von Regierungen begangene, geduldete oder veranlasste Verbrechen rechnete schon Louis Proal in seiner 1898 erschienenen Schrift „Political Crime“ zu den politischen Taten. 54 Seitdem richtete sich die Aufmerksamkeit insoweit ___________ 50

Kooistra (Fn. 24), Criminal Justice Abstracts 1985, S. 108. Vgl. hierzu Treiber, H., Die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Terrorismus: Die Inszenierung ‚symbolischer Kreuzzüge‘ zur Darstellung von Bedrohungen der normativen Ordnung von Gesellschaft und Staat, in: Sack, F. / Steinert, H. (Hrsg.), Protest und Reaktion, 1984, S. 319 ff. 52 Turk, A., Analyzing Official Deviance, in: Criminology 1979, S. 469. 53 Bonn (Fn. 32), S. 358 ff.; Clinard, M. / Quinney, R., Criminal Behavior Systems, 2. Aufl. 1973, S. 158; Eisenberg, U., Kriminologisch bedeutsames Verhalten von Staatsführungen und ihren Organen, in: MschrKrim 63 (1980), S. 217 ff.; Roebuck, J. / Weeber, S., Political Crime in the United Staates, 1978, S. 16; Schneider, H. J. (Fn. 1), S. 867 f.; Sykes (Fn. 35), S. 216. 54 Proal, L., Political Crime, 1898, S. 206 ff. 51

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zunächst auf politische Handlungen totalitärer Herrschaftssysteme. 55 Insbesondere unter dem Eindruck nationalsozialistischer Gewalttaten trat der Genozid in den Vordergrund von Darstellungen zur Kriminalität von Staatsführungen. 56 Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International haben die Verletzung der Verfassungs- und Menschenrechte durch diktatorische Regime bis hin zur physischen Vernichtung von Staatsbürgern aufgrund deren tatsächlicher oder vermuteter politischer Überzeugung der Öffentlichkeit bewusst gemacht. 57 Die Begehung derartiger Verbrechen wird begünstigt durch fehlende Gewaltenteilung in totalitären Systemen, d. h. durch eine Gewaltvereinheitlichung, 58 die zu mangelnder Machtkontrolle führt. Solche Machtkonzentrationen versetzen deren Inhaber in die Lage, sich zur Verteidigung und Stärkung ihrer privilegierten Position uneingeschränkt der staatlichen Kontroll- und Strafmechanismen als Repressionsmittel zu bedienen. Erst in jüngerer Zeit begann sich in der Kriminologie die Erkenntnis durchzusetzen, dass auch im demokratischen Rechtsstaat regierende Gruppen oder Einzelpersonen die ihnen auf Zeit übertragene Macht zur Begehung krimineller Handlungen missbrauchen. 59 Zur politischen Kriminalität Regierender zählt daher auch das Phänomen des Machtmissbrauchs. Hierbei wird selbst das Machtmittel des Rechts für kriminelle Zwecke in Anspruch genommen, wobei Machtmissbrauch nicht nur durch aktive Machtausübung, sondern auch durch ein Verhindern von Entscheidungen erfolgen kann, die gegen die Interessen der Herrschenden gerichtet sind. Täter(-gemeinschaften), die ihnen übertragene Macht zum Nachteil ___________ 55 Vgl. z. B. Jäger, H., Verbrechen unter totalitärer Herrschaft, in: Sieverts, R. / Schneider, H. J. (Hrsg.), Handwörterbuch der Kriminologie, Band 3, 2. Aufl. 1975, S. 453 ff. 56 Vgl. Bauer, F., Genocidium, in: Sieverts, R. (Hrsg.), Handwörterbuch der Kriminologie, Band 1, 2. Aufl. 1966, S. 268 ff.; Blau, G., Zur Kriminologie der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen, in: Mergen, A. et al. (Hrsg.), Kriminologische Wegzeichen. Festschrift für Hans von Hentig zum 80. Geburtstag, 1967, S. 189 ff.; Harff, B. / Gurr, T. R., Victims of the State: Genocides, Politicides and Group Repression from 1945 to 1995, in: Friedrichs, D. O. (Hrsg.), State Crime, Vol. I, 1998, S. 147 ff.; Huttenbach, H. R., Locating the Holocaust on the Genocide Spectrum: Towards Methodology of Definition and Categorization, in: Holocaust and Genocide Studies 3 (1988), S. 289 ff.; Schneider, H. J., Politische Kriminalität am Beispiel des Völkermords, in: Schneider, H. J. (Hrsg.), Kriminalität und abweichendes Verhalten, Band 1, 1983, S. 381 ff. 57 Siehe bereits Amnesty International (Hrsg.), Politischer Mord durch Regierungen, 1983. 58 Eisenberg (Fn. 53), MschrKrim 63 (1980), S. 226; Neubacher, F., Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag. – Ein Plädoyer für kriminologische Einmischung, in: Neue Kriminalpolitik 2005, S. 122. 59 Barak, G., Crime, Criminology and Human Rights: Towards An Understanding of State Criminology, in: Journal of Human Justice 2 (1990), S. 11 ff.; Bonn (Fn. 32), S. 365 ff.; Sack (Fn. 33), S. 329; Schneider, H. J. (Fn. 1), S. 868; vgl. ferner Ostermeier, L. / Pelzer, R., Bericht zur interdisziplinären Fachtagung „Kriminalität der Mächtigen“ vom 01. bis 03.12.2005 in Bielefeld, in: KrimJ 38 (2006), S. 146 ff.

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des Gemeinwesens missbrauchen, bedienen sich hierzu selbst des staatlichen Apparates zur Kriminalitätskontrolle. 60 Zum einen benutzen sie Organe der Rechtspflege dazu, ihre bestehenden Machtpositionen zu festigen. 61 Hinzu kommt der umfassende Bereich des „political policing“, 62 d. h. der Einsatz geheimdienstlicher und polizeilicher Kontrollinstanzen, um möglichen oder tatsächlichen Opponenten den Zugang zu gesellschaftlich bedeutenden Stellungen zu verwehren und politischen Widerstand auszuschließen. Dies reicht von einer rechtswidrigen Anwendung der staatlichen Mittel zur Informationsgewinnung im Rahmen der Strafverfolgung bis hin zur Neutralisierung durch Maßnahmen der Einschüchterung mittels staatlicher Gewalt. 63 Machtmissbrauch bezieht sich jedoch nicht nur auf Handlungen zur Bewahrung oder Festigung von Machtpositionen. Erfasst wird auch die Benutzung des staatlichen Machtapparates zur Erzielung finanzieller Vorteile oder sonstiger vermögenswerter Vergünstigungen für den Amtsinhaber selbst oder zugunsten der Bereicherung Dritter. 64 Ein die Definitionsmacht nur auf staatliche Organe und Funktionsträger begrenzender soziodynamischer Ansatz müsste daher zwangsläufig zu einem weitgehenden Ausschluss strafbaren Verhaltens Regierender aus dem Bereich der politischen Kriminalität führen. Denn die Interpretationsherrschaft wird in die Hand derer gelegt, welche eigentlich potentiell Beschuldigte sein können.65 Gerade die dadurch eröffnete Möglichkeit, ihre Definitionsmacht auch zu kriminellem Handeln in Anspruch nehmen zu können, sich im Namen von Recht und Normen rechtswidrig zu verhalten, 66 führt dazu, dass Missbräuche öffentlicher Macht im Vertrauen auf das vermeintlich zwangsläufig legale Verhalten staatlicher Einrichtungen unerkannt bleiben oder als sozialadäquat oder systemimmanent hingenommen werden. Die aufgezeigte eng gefasste soziodynamische Position beschränkt sich auf Reaktion und Definition durch staatliche Behörden. Zwar sind Funktionsträger des Staates eine wesentliche Bezugsgruppe zur Benennung einer Tat als politi___________ 60 Schneider, H. J. (Fn. 1), S. 870; vgl. auch Schneider, W., Kriminalität und Machtmißbrauch: Straftaten und Straftäter außerhalb der Reichweite des Gesetzes, in: Bundesminister der Justiz (Hrsg.), Verbrechensverhütung und Behandlung Straffälliger, 1980, S. 33. 61 Kirchheimer, O., Politische Justiz – Verwendung juristischer Verfahrensmöglichkeiten zu politischen Zwecken, 1985, S. 11; vgl. auch Blasius, D., Geschichte der politischen Kriminalität in Deutschland 1800–1980, 1983, S. 82 ff. 62 Turk (Fn. 49), S. 115 ff. 63 Turk, A., Political Crime, in: Meier, R. (Hrsg.), Major Forms of Crime, 1984, S. 120. 64 Bonn (Fn. 32), S. 367; Schneider, H. J. (Fn. 1), S. 871; Sykes (Fn. 35), S. 223 f. 65 Sack (Fn. 33), S. 330. 66 Schneider, H. J. (Fn. 1), S. 870.

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sches Delikt. Im Konflikt zwischen Befürwortern und Vertretern der herrschenden Machtverhältnisse und jenen, die deren Veränderung anstreben, darf die Interpretation der sozialen Wirklichkeit aber nicht ausschließlich einer Seite überantwortet bleiben, welche an dieser Auseinandersetzung beteiligt ist. Es wird auch der sozialen Bedeutung einer deliktischen Handlung nicht gerecht, bei der Differenzierung von politischer und allgemeiner Kriminalität Interpretation und Reaktionen anderer gesellschaftlicher Gruppen außer Betracht zu lassen.67

IV. Eine systemunabhängig gültige Begriffsbestimmung politischer Kriminalität vermögen weder die positivistische Position noch der psychologische oder der soziodynamische Erklärungsansatz zu konstruieren. Die Beschränkung des Bereichs politischer Kriminalität ausschließlich auf strafrechtlich normierte Staatsschutzdelikte bringt diesen in Abhängigkeit vom Willen der Legislative, der sich aufgrund ständigen Wandels politischer Gegebenheiten rasch ändern kann. Die Bewertung der Tätermotivation im Sinne der psychologischen Definition wird bedingt durch den Standpunkt des Beurteilers in der jeweiligen politischen oder sozialen Situation. Eine Beschränkung der Definitionsmacht auf staatliche Kontrollinstanzen ordnet die Interpretationsherrschaft aktuellen Machtverhältnissen unter. Die Relativität eines Konzepts politischer Kriminalität lässt die aufgezeigten Definitionsansätze deshalb für eine allgemeingültige Differenzierung von politischer und allgemeiner Kriminalität als wenig brauchbar erscheinen. Denn politische Kriminalität ist ein systemabhängiges Phänomen. Ihr jeweiliger Bereich bleibt nur in Bezug auf eine aktuelle gesellschaftliche Situation bestimmbar.

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Kooistra (Fn. 24), Criminal Justice Abstracts 1985, S. 110.

Freiheitlicher Rechtsstaat als internationaler Politikauftrag oder: Anmerkungen zu Terrorismus, Extremismus und Autoritarismus Rupert Scholz Der freiheitliche Rechtsstaat sieht sich heute vor allem auf internationaler Ebene schwersten Gefahren und Herausforderungen gegenüber, die sich auf eine kurze, begriffliche Formel gebracht mit den Tatbeständen von Terrorismus, Extremismus und Autoritarismus umschreiben lassen. Der freiheitliche Rechtsstaat gehört zu den Grundwerten einer jeden demokratischen Gesellschaft. Er verbürgt Freiheit und Menschenrechte, bindet alle staatliche Gewalt an Recht und Gesetz, und er hat den Bürgern neben Freiheit und Menschenrechten stets das nötige Maß auch an rechtlicher Sicherheit, also namentlich Schutz vor Kriminalität jedweder Art zu gewährleisten. Mit dieser Maßgabe gehört der freiheitliche Rechtsstaat zu den Grundprinzipien eines jeden demokratischen Verfassungsstaates; und dennoch sieht sich das Prinzip dieses freiheitlichen Rechtsstaates, ungeachtet seiner auch internationalen Anerkennung wie Selbstverständlichkeit, inzwischen durch neue Entwicklungen und neue Gefahrentatbestände höchster Potenz gefährdet. Die Gefahren von Terrorismus, Extremismus und Autoritarismus gründen sich in aller Regel auf inzwischen international wirksame und international operierende Sachverhalte; und solcher Internationalität oder auch Globalität gegenüber fehlt es in den Systemen der freiheitlichen und demokratischen Verfassungsstaaten nach wie vor bzw. vielfach an den nötigen Schutz- und Abwehrmechanismen. Vor allem im Lichte des Terrorismus ist Kriminalität schwerster Art längst zu einem internationalen Phänomen erstarkt, auf das die nationalen Rechts- und Verfassungsordnungen, also die in aller Regel nur auf nationaler Ebene garantierten und funktionierenden Rechtsstaatsordnungen nur schwer und mitunter auch nur schwerfällig zu reagieren vermögen. Ist Kriminalität gerade dieser Art aber längst von grenzüberschreitender Qualität, so bedarf es auch und gerade aus der Sicht des freiheitlichen Rechtsstaates grenzüberschreitender Reaktion, grenzüberschreitender Verteidigung und damit auch grenzüberschreitender, also internationaler Kooperation. Vor allem der internationale Terrorismus gehört längst zu den furchtbarsten Horrorszenarien der modernen Menschheit. Vor allem die entsetzlichen Terroranschläge am 11. September 2001 in New York und Washington, aber ebenso

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die Anschläge etwa von Madrid und London, haben die eminenten Gefahren des internationalen Terrorismus und dessen Potenziale in dramatischer Weise in das allgemeine Bewusstsein gerückt. Obwohl nationaler wie internationaler Terrorismus keineswegs völlig neue Tatbestände darstellen, hat vor allem der 11. September 2001 doch eine fundamental neue Qualität des internationalen Terrorismus offen gelegt, die grundlegende Veränderungen wie Revisionen auf allen Ebenen internationaler wie nationaler Sicherheits- und Rechtsstaatspolitik notwendig macht. Auf nationaler Ebene deshalb, weil der Terrorismus in dramatischer Weise die innere Sicherheit freiheitlicher Gesellschaften bedroht bzw. gerade auf deren so evidente innere Verletzlichkeit spekuliert; in internationaler Hinsicht deshalb, weil der Terrorismus sich längst als weltweites Phänomen offenbart hat, das buchstäblich grenzüberschreitend operiert, das vielfältig mit staatlicher Unterstutzung oder Duldung eingesetzt wird und das mit ausschließlich nationalen Sicherheitsstrategien nicht mehr wirksam bekämpft werden kann. Nationaler wie internationaler Terrorismus begründen eine buchstäblich existentielle Herausforderung für jeden freiheitlichen Rechtsstaat. Jeder freiheitliche Rechtsstaat muss – national wie in internationaler Solidarität – die Kraft und Fähigkeit entwickeln, terroristischer Gewalt Einhalt zu gebieten, den eigenen Bürgern gerade gegenüber terroristischen Gewalttätern ein Höchstmaß an rechtlicher Sicherheit zu gewährleisten und dabei doch bzw. zugleich die Grundvoraussetzungen eines jeden freiheitlichen Rechtsstaates und seiner eigenen Bewährung zu beachten. So bedeutet freiheitliche Rechtsstaatlichkeit nicht, dass nackter Gewalt von Seiten krimineller Straftäter mit ebenso nackter Staatsgewalt begegnet werden darf. So entsetzlich terroristische Anschläge sind, so bleibt doch stets das Selbstverständnis aller freiheitlichen Rechtsstaatlichkeit darin bestehen, dass sich ein freiheitlicher Rechtsstaat auch in der Abwehr kriminellen Unrechts nicht selbst, d. h. in seiner ureigenen Qualität als Rechtsstaat aufgeben oder selbst in Frage stellen darf. So bedingt der Rechtsstaat Rechtssicherheit für den Bürger auf der einen Seite und bedingt auf der anderen Seite rechtsstaatliche Verfahren bei der Gewährleistung solcher Sicherheit, also auch bei der Bekämpfung krimineller Straftäter. Eine wirksame Bekämpfung des Terrorismus fordert neue sicherheitspolitische Strategien und damit auch eine Fülle neuer rechtlicher Instrumentarien – wiederum auf ebenso nationaler wie internationaler Ebene. Internationaler Terrorismus ist längst in die Dimension nicht nur einer Gefährdung der inneren Sicherheit, sondern auch in die Dimension einer Gefährdung der äußeren Sicherheit hineingewachsen. Innere Sicherheit und äußere Sicherheit lassen sich heute und deshalb nicht mehr voll voneinander unterscheiden – etwa in dem Sinne, wie dies nach wie vor dem Verfassungssystem unseres Grundgesetzes immanent ist bzw. von diesem – über die prinzipiell funktionellen Unterscheidungen von Polizei und Justiz einerseits und Militär bzw. Bundeswehr andererseits – vorausgesetzt wird.

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Voraussetzung für die Entwicklung wirksamer und entsprechend neuer Abwehrstrategien und Schutzinstrumentarien ist zunächst allerdings eine politisch wie rechtlich gültige und entsprechend operationalisierbare Definition dessen, was unter „Terrorismus“ ebenso definitiv wie weltweit verbindlich zu gelten hat. Schon an einer solchen Definition fehlt es indessen nach wie vor, obwohl das Phänomen des Terrorismus schon seit langem auch rechtlich diskutiert worden ist. So versuchte schon die Genfer Konvention zur Verhütung und Bekämpfung des Terrorismus vom 16. November 1937 den Terrorismus zu definieren, indem sie diesen als „kriminelle Taten“ definierte, „die gegen einen Staat gerichtet sind und das Ziel verfolgen, bestimmte Personen, eine Gruppe von Menschen oder die Allgemeinheit in einen Zustand der Angst zu versetzen“. 1 Im Kern trifft dieser Definitionsansatz durchaus auch heute noch zu. Denn der Terrorismus verfolgt stets politische Ziele, gleichgültig ob mit extremistischen, religiösen, sozialen oder ethnischen Motiven. Er bedeutet stets Anwendung schwerster Gewalt, nicht nur physisch, sondern auch psychisch (namentlich durch massive Einschüchterung der Bevölkerung). Der Terrorismus stellt auf der anderen Seite aber keine eigene Ideologie, sondern nichts anderes als eine bestimmte Gewaltstrategie bzw. eine bestimmte Methode politischinstrumental eingesetzter Gewalt dar, die sich gerade deshalb nur schwer auf einen geschlossenen und damit auch tatbestandlich voll justitiablen Sachverhalt konzentrieren lässt. Soweit terroristische Gewaltakte von Staaten eingesetzt, unterstützt oder doch zumindest geduldet werden, sind solche Terrorakte diesen Staaten zuzurechnen, lassen sie sich also unter das allgemeine Kriegsvölkerrecht subsumieren. Ganz in diesem Sinne und durchaus richtig sind etwa die Anschläge vom 11. September 2001 als militärische oder doch zumindest quasi-militärische Aggressionsakte sowohl von der UNO als auch von der NATO qualifiziert worden. Soweit es dagegen um nichtstaatlich organisierte oder „private“ Terrorakte geht, soweit Terrorismus „innergesellschaftlich“ oder „staatsintern“ ausgeübt wird, soweit terroristisches Verhalten also nicht bestimmten Völkerrechtssubjekten zugerechnet werden kann, verbleibt es heute bzw. nach wie vor bei der Feststellung, dass es sich insoweit um zwar schwerwiegendes, aber dennoch bzw. zunächst nur innerstaatlich zu messendes und zu bekämpfendes kriminelles Unrecht handelt. Dies führt wiederum zur rechtsstaatlichen Dimension des Schutzes der inneren Sicherheit zurück; und dies offenbart zugleich, dass die Dimension der äußeren Sicherheit zunächst nicht tangiert zu sein scheint. ___________ 1 Convention for the Prevention and Punishment of Terrorism; League of Nations, International Conference Proceedings on the Repression of Terrorism, Geneva, 1-16 November 1937, LoN Doc. C.94.M.47.1938.V, Annex I, S. 5 ff.

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Näheres Zusehen offenbart indessen rasch, dass dies nicht zutreffend bzw. gerade aus rechtsstaatlicher Sicht viel zu eng ist. Man denke nur an die Horrorszenarien von Terrorakten unter Nutzung nuklearer, biologischer oder chemischer Kampfstoffe. Gegenüber solchen terroristischen Gewaltmaßnahmen oder Gewaltmitteln sind die Organe der inneren Sicherheit, also namentlich die Polizei, von vornherein wehrlos. Die Konsequenz dessen heißt und kann nur heißen, dass in solchen Gefahrenfeldern bzw. gegenüber solchen terroristischen Angriffen auch die Dimension der äußeren Sicherheit erreicht ist – mit der weiteren Konsequenz, dass es insoweit auch des Einsatzes militärischer Ressourcen, in Deutschland also der Bundeswehr bedarf. Gerade hier sind die nötigen Verfassungsänderungen, vor allem im Rahmen der Art. 87a und 35 GG, dringend gefordert. Einen ersten Schritt in die richtige Richtung verkörperte das Luftsicherheitsgesetz, das gegenüber Anschlägen von der Art des 11. September 2001 auch die Luftwaffe zum Einsatz bringen wollte. Aber auch dieses Gesetz reichte in Wahrheit noch längst nicht aus. Es bedarf einer grundsätzlichen Verbindung von innerer und äußerer Sicherheit und damit auch eines umfassenden Sicherheitskonzepts, das eine effektive Kooperation gegenüber allen Gefahren terroristischer Art von Polizei, Bundeswehr, Verfassungsschutz und Nachrichtendiensten bis hin zum Katastrophenschutz gewährleistet. Es bedarf mit anderen Worten dringend der entsprechenden verfassungsrechtlichen Revisionen, um solche rechtsstaatlichen Kooperationsstrategien wirksam umsetzen zu können. Ist damit die nationale Aufgabe einer wirksamen Bekämpfung des Terrorismus einigermaßen umschrieben, so führt dies dennoch nicht über die Grundproblematik der internationalen Dimension hinweg, die der Terrorismus längst erreicht hat. Gerade deshalb sind die neuen Bestrebungen der Vereinten Nationen mit Nachdruck zu unterstützen, die sich hier um Klärung und mehr rechtsstaatliche Effektivität in der Bekämpfung des Terrorismus bemühen. Mit Recht hat die „Hochrangige Gruppe für Bedrohungen, Herausforderungen und Wandel“ in ihrem Bericht an den Generalsekretär der UN vom 1. Dezember 2004 gefordert, dass terroristische Akte, „wenn sie entsprechende Ausmaße annehmen … als ein von den betreffenden Personen begangenes Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ qualifiziert werden. 2 Des Weiteren wird mit Recht gefordert, dass die bestehenden zwölf früheren Übereinkommen zur Bekämpfung des Terrorismus endlich von allen Staaten ratifiziert werden müssen und dass schließlich der Terrorismus als „jede Handlung“ qualifiziert werden muss, „zusätzlich zu den bereits in den bestehenden Übereinkommen über bestimmte Aspekte des Terrorismus, dem ___________ 2 A more secure world: our shared responsibility – Report of the High-level Panel on Threats, Challenges and Change, S. 52 (Ziff. 164, lit. a). Der Bericht ist verfügbar im Internet unter www.un.org/secureworld (31.03.2007).

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Genfer Abkommen und der Resolution 1566 (2004) des Sicherheitsrats umschriebenen Handlungen, die den Tod oder eine schwere Körperverletzung von Zivilpersonen oder Nichtkombattanten herbeiführen soll, wenn diese Handlung auf Grund ihres Wesens oder der Umstände darauf abzielt, die Bevölkerung einzuschüchtern oder eine Regierung oder eine internationale Organisation zu einem Tun oder Unterlassen zu nötigen.“ 3 Dies ist ebenso klar wie richtig und zukunftsweisend. Indessen, nach wie vor sind auf der Ebene der UNO noch längst nicht alle die Voraussetzungen geschaffen worden, um diese Grundsätze in allgemeinverbindliches internationales Recht, also für alle Staaten verbindliches Völkerrecht umzusetzen. Die Resolution des Sicherheitsrats vom 14. September 2005 4 hat jene Vorschläge der „Hochrangigen Gruppe“ leider nicht voll umgesetzt bzw. eher verwässert. Des Weiteren geht es bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus um wirksame präventive Strategien. Das klassische Instrumentarium rechtsstaatlicher Ordnungen, mit repressiven Mitteln auf bestimmte Rechtsbrüche oder Unrechtstatbestände zu reagieren, reicht bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus – leider – nicht aus. Zu groß sind die Gefahren, zu groß sind die Gewaltpotenziale, um deren Bekämpfung und Abwehr es hier geht. Gerade dies hat zu der neuen Nationalen Sicherheitsstrategie (NSS) der USA geführt, die sich eindeutig auch zur Prävention und Präemption bekennen. Dies hat des Weiteren auch zu dem ersten Schritt einer Europäischen Sicherheitsstrategie geführt: Die europäische Staats- und Regierungschefs haben sich beim Europäischen Rat am 12./13. Dezember 2003 auf eine Sicherheitsstrategie verständigt, 5 die drei strategische Ziele enthält: – die Herstellung von „verantwortungsvoller Staatsführung“ und Stabilität in unmittelbarer Nachbarschaft Europas, wozu auch der Kaukasus, der Nahe und Mittlere Osten sowie Nordafrika gezählt werden; – die Schaffung einer internationalen Ordnung, die sich auf einen wirksamen Multilateralismus stützt und – die Bekämpfung alter und neuer Bedrohungen. Dabei wird mit Recht von einer neuen Bedrohungsanalyse ausgegangen, die einen entsprechend erweiterten und damit auch präventiv wirksamen Sicherheitsbegriff impliziert. Indessen, auch dies sind nur erste, noch längst nicht voll operationalisierungsfähige Schritte – ein Manko, das auch in der nach wie vor nicht hinlängli___________ 3

A more secure world: our shared responsibility (Fn. 2), Ziff. 164 lit. d). Resolution 1624 (2005) des UN-Sicherheitsrats vom 14. September 2005, UN Doc. S/RES/1624. 5 A secure Europe in a better World: European Security Strategy, Brussels, 12 December 2003, verfügbar im Internet unter http://ue.eu.int/uedocs/cmsUpload/ 78367.pdf (31.03.2007). 4

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chen europäischen Vergemeinschaftung von innerer Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit und Freiheit besteht. Nach wie vor leidet die hiesige „Säule“ des europäischen Integrationsprozesses an mangelnder Vergemeinschaftung bzw. nach wie vor an zu einseitigem Festhalten an nationalen Souveränitätsvorbehalten gerade im Bereich der Sicherheits- und damit auch einer europäisch-gemeinschaftlichen Rechtsstaatspolitik. Dem Phänomen des internationalen Terrorismus lässt sich naturgemäß nicht ohne Berücksichtigung jener Faktoren begegnen, die terroristische Gewaltpotenziale hervorrufen oder begünstigen – eine Feststellung, die zu den nächsten beiden Stichworten, nämlich denen von Extremismus und Autoritarismus, führt. Der Terrorismus selbst ist und bleibt, um dies noch einmal hervorzuheben, nichts anderes als eine rein kriminelle Gewaltstrategie – eine Gewaltstrategie, die aus unterschiedlichsten Motiven zum Einsatz gebracht wird, sei es nun aus politischen, ethnischen, sozialen, religiösen oder auch sonstigen extremistischen Gründen. Wer Terrorismus also wirksam bekämpfen will, muss sich deshalb auch der Ursachen, die zu terroristischen Gewaltpotenzialen führen, annehmen, muss diese nicht nur mit berücksichtigen, sondern ebenso wirksam, also gleichsam schon von der Wurzel her bekämpfen. Terroristen sind in aller Regel extremistisch motivierte Gewalttäter, wobei allerdings und vor allem eines – gerade aus rechtsstaatlicher Sicht – immer mitund vorausbedacht werden muss: die ebenso definitive wie unabweisbare Feststellung, dass selbst extremistische Zielsetzungen niemals terroristische Gewaltakte rechtfertigen können und niemals geeignet sind oder etwa dazu benutzt werden dürfen, terroristisches Handeln zu rechtfertigen. Dieser Feststellung bedarf es namentlich gegenüber jenen terroristischen Gewalttätern, die sich beispielsweise auf angebliche „Widerstandsrechte“ gegenüber bestimmten staatlichen Obrigkeiten oder auf mehr oder weniger angebliche „Befreiungsideologien“ zu berufen suchen. Freiheitliche Rechtsstaatlichkeit bedeutet auch freiheitlichen und pluralistischen Meinungskampf – auf jedweder Bühne nationaler wie internationaler Politik. Politischer Meinungskampf, bis hin auch zu extremistischen Auffassungen, rechtfertigt aber nie den Einsatz oder Rückgriff auf terroristische Gewalt. Terroristische Gewalt ist und bleibt nichts anderes als Kriminalität und rechtsstaatswidriger Rechtsbruch. So klar und aus rechtsstaatlicher Sicht auch selbstverständlich dieser Satz ist, so wenig Akzeptanz findet er bei jenen, die ihre extremistischen Ziele mit terroristischen Mitteln durchzusetzen suchen. Extremismus findet sich heute, wiederum in umfassend-internationaler Dimension, in unterschiedlichsten Formen, mit unterschiedlichsten Inhalten und unterschiedlichsten Zielsetzungen. Das Hauptproblem liegt heute sicherlich beim religiös motivierten Extremismus, namentlich von Seiten bestimmter islamischer Fundamentalismen. Der

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Islam selbst ist jedoch keine genuin fundamentalistische, extremistische oder gar gewaltsame Religion. Auch der Islam ist, wie jeder Kenner des Islam weiß, eine Religion, die – ebenso wie das Christentum oder das Judentum – im Prinzip eine friedliche und auf zwischenmenschliche Versöhnung wie Toleranz angelegte Religion darstellt. Aber was ist daraus geworden? Extremistische Fundamentalisten nutzen und missbrauchen gerade die islamische Religion heute für ihre gewaltsamen Ziele, missbrauchen Menschen und schaffen unendlich viel Leid auf der ganzen Welt – gleichgültig im Übrigen, ob es sich bei den Opfern entsprechender extremistischer und terroristischer Gewalttaten um Angehörige der eigenen Religion oder um Angehörige einer anderen Religion handelt. Auch hier bedarf es wiederum klarer rechtsstaatlicher und ebenso freiheitswie friedensgerechter Strategien bzw. entsprechender Überzeugungsarbeit. Das gesamte internationale Recht, die gesamte internationale Rechtsordnung fordert Friedlichkeit, Toleranz und Achtung der Menschenrechte. Mit alledem ist jedwede Form von Extremismus, insbesondere jedwede Form von gewaltsamem Extremismus, absolut unvereinbar. Folgerichtig muss sich jede effektive Friedens- und damit bzw. im weiteren Sinne auch Rechtsstaatspolitik allerorts darum bemühen, Extremismus einzudämmen, Extremismus zu überwinden und auch gegenüber oppositionellen politischen Meinungen bzw. Zielsetzungen jenes Maß an rechtsstaatswahrender Sicherheits- und Friedenspolitik durchzusetzen, dessen es zum Schutze der Menschen, der Menschenrechte und des Friedens bedarf. Dies ist wiederum ein Postulat, das an jeden Staat und an die internationale Staatengemeinschaft insgesamt zu richten ist – insbesondere also an die Vereinten Nationen. Auch hierzu ist vieles und richtiges in den Empfehlungen der zitierten „Hochrangigen Gruppe für Bedrohungen, Herausforderungen und Wandel“ vom 1. Dezember 2004 gesagt worden 6 – einmündend in das von der UN-Generalversammlung am 10. Dezember 2004 beschlossene „Weltprogramm für Menschenrechtsbildung“. 7 Aber auch hierzu fehlt es nach wie vor an dem nötigen internationalen Konsens, um aus diesen prinzipalen und unverzichtbaren Forderungen verbindliches internationales Recht und damit international wirksame Garantien für die Rechtsstaatlichkeit insgesamt abzuleiten. Immerhin, es gibt auch insoweit durchaus Fortschritte, die es weiter zu verfolgen und weiter auszubauen gilt. Zu nennen ist hier nur und vor allem das Stichwort von der legitimen humanitären Intervention. Was bedeutet zunächst humanitäre Intervention? Nach ganz herrschender Meinung bedeutet humanitäre Intervention, dass bei Menschenrechtsverletzungen – in Abhängigkeit von ___________ 6

A more secure world: our shared responsibility (Fn. 2), S. 16, 47 und 49. Resolution 59/113 der UN-Generalversammlung vom 10.12.2004, UN Doc. A/RES/59/113. 7

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ihrer Schwere – das Argument der innerstaatlichen Zuständigkeit oder Souveränität nicht mehr zur Rechtfertigung solcher Menschenrechtsverletzungen vorgeschützt werden darf, sondern dass solche Menschenrechtsverletzungen – bis hin zum Völkermord – von jedem anderen Mitglied der Staatengemeinschaft beanstandet und gegebenenfalls auch mit Sanktionen belegt werden dürfen. Tatbestandlich reicht der Interventionsbegriff dabei von der Gewaltanwendung bis zur wirtschaftlichen und politischen Druckausübung bzw. bis zu jeder tatsächlichen oder versuchten Beeinflussung der Dispositionsfreiheit eines wegen Menschenrechtsverletzungen inkriminierten fremden Staates. Staaten und Gesellschaften, die gerade auf der Grundlage bestimmter extremistischer Überzeugungen Völkermord oder gravierende Menschenrechtsverletzungen auf ihrem eigenen Hoheitsgebiet zulassen oder begehen, unterliegen mit anderen Worten dem Verdikt humanitärer lnterventionsrechte von außen. Gerade dies hat zu den zurückliegenden Interventionen von Somalia bis hin zu Bosnien-Herzegowina und zum Kosovo, zum Einsatz in Ost-Timor usw. geführt. Alles dies erfolgte auf der Grundlage entsprechender Beschlüsse der Vereinten Nationen oder auch, wie im Falle des Kosovo, auf der Grundlage des internationalen Nothilferechts über die NATO. Mit dieser Legitimierung des Rechts zur humanitären Intervention werden allerdings klassische Souveränitätsrechte einzelner Staaten relativiert; aber dies durchaus mit Recht. Für das klassische Völkerrecht war dies nur schwer vorstellbar, geschweige denn auch nur denkbar, basiert das klassische, tradierte Völkerrecht doch auf der Vorstellung von der prinzipiell uneingeschränkten Souveränität und damit innerstaatlich absoluten Regelungshoheit auch solcher Staaten, die auf ihrem eigenen Territorium – beispielsweise bei Bürgerkriegen – Menschenrechtsverletzungen bis hin zum Völkermord dulden oder durch ihre Staatsorgane begehen lassen. Dies alles gilt heute nicht mehr uneingeschränkt, obwohl nach wie vor eine Fülle brisantester Problemlagen dieser Art weltweit zu beobachten ist – von Indonesien über viele afrikanische Staaten bis hin zum kaukasischen Raum. Aber dennoch: Die prinzipielle Anerkennung des Rechts zur humanitären Intervention und damit einer international-gemeinschaftlichen Verantwortung wie Zuständigkeit zur Verhinderung und Bekämpfung gravierender Menschenrechtsverletzungen, namentlich des Völkermords, sieht sich heute auch völkerrechtlich anerkannt. Ein gerade aus der Sicht des freiheitlichen Rechtsstaats und seiner prinzipalen Werte evidenter Fortschritt! Dass sich beispielsweise ein Diktator wie Slobodan Miloseviþ vor dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag für seine Untaten zu verantworten hatte, stellt ein herausragendes Beispiel für diese Fortschritte internationaler Rechtsstaatspolitik dar. Der Name dieses Diktators Slobodan Miloseviþ führt bereits zur dritten evidenten Gefahrenquelle für den freiheitlichen Rechtsstaat, nämlich zum politischen Autoritarismus. Autoritarismus bedeutet in aller Regel ungebändigte

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Staatsgewalt – bis hin zur Diktatur. Auch Diktaturen und Diktatoren konnten nach klassischem Völkerrecht in aller Regel nicht von der Staatengemeinschaft bekämpft bzw. mittels internationaler Interventionsmaßnahmen in ihre Schranken verwiesen werden. Auch innerstaatlicher Autoritarismus und innerstaatlich begründete Diktaturen galten prinzipiell als Ausdruck nationaler Souveränität; und jede Intervention bzw. jeder Abwehrmechanismus demgegenüber von außen galt als prinzipiell völkerrechtswidrige Einmischung in die inneren Angelegenheiten eben solcher Staaten. Auch dies sieht sich inzwischen aber glücklicherweise relativiert. Gerade die humanitären Interventionen der internationalen Staatengemeinschaft zugunsten Bosnien-Herzegowinas und zugunsten des Kosovo haben dies belegt. Aber diese Interventionen haben erst gegriffen bzw. kamen erst zum Zuge, als bereits gravierendste Menschenrechtsverletzungen bis hin zum Völkermord geschehen waren. Erneut bedarf es mit anderen Worten auch wirksamer präventiver Strategien, um solchen Unrechtstatbeständen schon früher, also vor der Realisierung solcher Menschenrechtsverletzungen zu begegnen. Wenn man die internationale Situation, gerade was autoritäre Systeme und Diktaturen angeht, näher betrachtet, so kann man nur allzu leicht in Resignation verfallen. Bestimmte Entwicklungen im postsowjetischen Raum, also beispielsweise in Weißrussland oder auch in einzelnen kaukasischen Staaten, ebenso in Teilen Afrikas lassen jedermann nur allzu rasch offenbar werden, über wie wenig Mittel die internationale Staatengemeinschaft nach wie vor verfügt, um auch hier rechtzeitig dem vorzubeugen, was Verletzung von Menschenrechten bedeutet oder doch bedeuten kann. Aber solche Resignation ist nicht am Platze. Auch hier gilt es die nötigen, namentlich völkerrechtlichen Institute und Instrumentarien zu entwickeln, um solche autoritären Systeme rechtzeitig in ihre Schranken zu verweisen – zum Schutze und zum Wohle der Menschen und ihrer rechtsstaatlich verbürgten Freiheiten wie Rechte. Von Seiten der westlichen Staatengemeinschaft wird in aller Regel in diesem Zusammenhang auf das demokratische Verfassungsprinzip und seine auch impliziten Schutzmechanismen für einen funktionierenden Rechtsstaat verwiesen. In der Tat, demokratische Staaten sind in aller Regel auch rechtsstaatliche Staaten; und demokratische Staaten sind in aller Regel auch friedliche, also nicht kriegerische Systeme. Aber auch hier muss mitunter kritisch nachgefragt werden – insbesondere im Hinblick auf die auch immanente Plausibilität eines solchen Allgemeinverbindlichkeitsanspruchs der demokratischen Staatsidee, wie sie in der westlichen Welt auf der Grundlage der Aufklärung gewachsen und für diese längst zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Man denke nur an die so grundlegend anders gearteten Vorstellungen etwa des Islam bzw. seiner dortigen Vorstellungen vom mohammedanischen Gottesstaat, oder etwa auch an die ebenfalls recht anders gearteten Vorstellungen des konfuzianischen Staatsdenkens. Es ist z. B. kein Zufall, dass sich gerade islamische Staaten mit

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den westlichen Forderungen nach mehr Demokratie bzw. nach Demokratisierung nicht nur schwer tun, sondern diese auch oft als für sie wesensfremd und damit als für sie und ihre Religion auch feindlich empfinden. Wie schwer fällt es beispielsweise im Irak, hier an die Stelle des seinerzeitigen totalitären Systems eines Saddam Hussein eine stabile demokratische Ordnung zu setzen. Die westliche Staatengemeinschaft muss sich deshalb und mitunter fragen lassen, ob das Bestehen auf demokratischen Staatsstrukturen nach westlichem Vorbild wirklich immer das richtige Mittel und damit auch die einzig legitime politische Befriedungsstrategie darstellt. Gerade im Lichte freiheitlicher Pluralität und Toleranz müssen auch andere Kulturen und andere staatsrechtliche Traditionen geachtet und gewürdigt werden. Für die westliche Staatenwelt ist nicht nur die Rechtsstaatsidee, sondern auch die demokratische Staatsidee ebenso verbindlich wie vorbildlich. Dies basiert ebenso auf den grundlegenden Entwicklungen der westlichen Staatenwelt wie auf den für sie maßgebenden Grundprinzipien von individueller Freiheit wie Gleichheit einerseits und damit auch demokratischer Staatsorganisation andererseits. In diesem Sinne versteht sich der freiheitliche Rechtsstaat im Sinne westlichen Verfassungsdenkens stets und prinzipiell ebenso als demokratischer Rechtsstaat. Die Idee des materialen Rechtsstaates basiert auf dem grundlegenden Bekenntnis zu den Menschenrechten und Grundfreiheiten eines jeden und findet ihre – folgerichtige – Fortführung wie Ergänzung im Bekenntnis zum demokratisch konstituierten Verfassungsstaat. Dennoch sind Demokratie und materiale Rechtsstaatlichkeit nicht von vornherein identisch. Die Grundprinzipien des freiheitlichen Rechtsstaates und seines Bekenntnisses vor allem zu den Menschenrechten folgen einem universalen Staats- und Werteverständnis, das nicht zuletzt zur Grundlage des auch internationalen Bekenntnisses zu den Menschenrechten geworden ist. Das Bekenntnis zur Demokratie verkörpert dagegen ein spezifisches Verständnis von staatlicher Entwicklung und staatlicher Konstituierung, das in seiner gegebenen Form vor allem in der westlichen Welt gewachsen ist und das keinen vergleichbaren universalen Werte- oder Verbindlichkeitsanspruch wie die Idee der materialen Rechtsstaatlichkeit und ihres Bekenntnisses zu den Menschenrechten erheben kann. Die Idee des freiheitlichen Rechtsstaates basiert auf der universalen und materialen Verbindlichkeit des Schutzes von Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit. Das Bekenntnis zur Demokratie basiert auf dem Bekenntnis zur Freiheit und Gleichheit sowie Selbstbestimmung aller Staatsbürger. Gerade darin liegt aber ein durchaus relevanter Unterschied zur Idee der materialen Rechtsstaatlichkeit; und dieser Unterschied muss auch im Rahmen aller internationalen Rechtsstaatspolitik mit beachtet werden. Die für das westliche Staatsverständnis heute selbstverständliche Einheit von freiheitlicher und demokratischer Rechtsstaatlichkeit lässt sich in dieser Form nicht mit vergleich-

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barer Allgemeinverbindlichkeit auch für andere staatsrechtliche Kulturen oder Traditionen postulieren. Auch ein nach westlichem Verständnis nicht demokratischer Staat kann durchaus ein freiheitlicher Rechtsstaat sein; dies jedenfalls dann, wenn er ungeachtet seiner nach westlichem Verständnis vielleicht nicht demokratischen Staatsstruktur dennoch die Grundwerte der materialen Rechtsstaatlichkeit, also den Schutz von Menschenrechten, Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit aller Menschen verbürgt. Ebenso kann sich ein nach westlichem Verständnis nicht voll demokratischer Staat durchaus zum Primat des Rechts und seiner Grundwerte bekennen, ohne damit aber mit vergleichbarer Notwendigkeit etwa rechtsstaatliche Prinzipien wie die der Gewaltenteilung, einer unabhängigen Justiz und eines für den Bürger unanfechtbaren gerichtlichen Rechtsschutzes zu gewährleisten. Die Entwicklung und Ausbildung innerstaatlicher Staatsstrukturen ist prinzipiell und zunächst Ausfluss der innerstaatlichen Souveränität eines jeden Gemeinwesens; und auch dies gilt es prinzipiell zu respektieren. Folgerichtig muss eine auf Erfolg angelegte internationale Rechtsstaatspolitik auch bereit sein, im internationalen Dialog solche Unterschiede zu akzeptieren und – mit anderen Worten – auch bereit sein, zwischen den unantastbaren und unverzichtbaren, weil universell geltenden Geboten von freiheitlich-materialer Rechtsstaatlichkeit und den Forderungen nach auch innerstaatlich-demokratischer Rechtsstaatlichkeit zu differenzieren. Der Schutz der Menschenrechte ist von globaler Verbindlichkeit; der freiheitliche Rechtsstaat ist damit von ebenso universeller Maßgeblichkeit. Der demokratische Rechtsstaat kann dagegen keine vergleichbaren allgemeinen Verbindlichkeitsansprüche geltend machen. Differenzierungen dieser Art sind für das westliche Staatsverständnis sicherlich nur schwer nachzuvollziehen. Wenn die gerade von der westlichen Staatengemeinschaft aber mit ebenso viel Recht wie Notwendigkeit verfolgte internationale Rechtsstaatspolitik Erfolg haben will, wenn sie namentlich die Wurzeln von Terrorismus, Extremismus und Autoritarismus wirklich wirksam bekämpfen will, muss sie sich solch differenzierenden Maßstäben und Grundverständnissen öffnen. Sie muss mit anderen Worten auch andere Kulturen und andere staatsrechtliche Traditionen respektieren, will sie mit ihren Forderungen nach materialer Rechtsstaatlichkeit, also nach unbedingter und universeller Einlösung der Grundprinzipien des freiheitlichen Rechtsstaates, erfolgreich sein. Vor allem der Schutz der Menschenrechte ist von universeller Verbindlichkeit, muss also von jedem Staat, ungeachtet seiner innerstaatlichen Organisationsstruktur, anerkannt und gewahrt werden. Nur der Schutz der Menschenrechte gewährleistet die Grundlagen einer auch globalen Zivilgesellschaft bzw. einer auch international zu gewährleistenden Zivilisation. Mit Recht hat dies beispielsweise die von UNGeneralsekretär Kofi Annan am 3. September 2005 berufene hochrangige Ex-

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pertengruppe der „Allianz der Zivilisationen“ betont. 8 Die Grundprinzipien des freiheitlichen Rechtsstaates, also namentlich der Schutz der Menschenrechte, sind von wahrhaft strikter Allgemeinverbindlichkeit, und auf diese Allgemeinverbindlichkeit muss sich jeder Staat, auch wenn er sich aus religiösen oder auch aus sonstigen Gründen auf innerstaatliche Strukturen anderer Wesensart verständigt hat, definitiv verpflichten. Der freiheitliche Rechtsstaat ist und bleibt für jeden Staat verbindlich. Andererseits muss der demokratische Rechtsstaat im Sinne unseres westlichen Staatsverständnisses aber auch andere staatliche Strukturen oder Organisationsprinzipien respektieren, die vielleicht in unserem Sinne nicht demokratisch sein mögen, die aber dann als durchaus legitim zu erkennen sind, wenn sie eben jene Grundprinzipien eines freiheitlichen Rechtsstaates und vor allem den Schutz der Menschenrechte ebenso wahren wie anerkennen. Dies alles bedeutet nicht, dass das Ziel, nach Möglichkeit auch weltweit zu demokratischen Rechtsstaaten zu gelangen, politisch zu vernachlässigen wäre. Denn ungeachtet aller vorstehenden Überlegungen verbleibt es doch und ebenso zwingend bei der Feststellung, dass demokratische Rechtsstaaten in aller Regel friedliche und freiheitliche Rechtsstaaten sind und dass das staatsrechtliche Demokratiegebot ein Höchstmaß an Freiheit und Selbstbestimmung für jeden Burger gewährleistet. Politisch stellt sich nur die Frage, nach welchen Prioritäten im einzelnen verfahren werden soll. Nach hiesiger Auffassung gilt die erste Priorität dem freiheitlichen Rechtsstaat und erst die zweite Priorität dem demokratischen Rechtsstaat. Wie richtig eine solche Abstufung im übrigen ist, belegen beispielsweise islamische Länder wie die Türkei, Jordanien und Marokko, d. h. Länder in denen inzwischen durchaus gefestigte bzw. durchaus optimistisch zu bewertende Demokratisierungsprozesse entweder bereits abgeschlossen oder doch zumindest im Wachsen sind. Gerade diese Länder haben sich ohne innere Schwierigkeiten von den gegenläufigen Thesen eines islamischen Gottesstaates oder einer angeblich gegenläufigen islamisch-kulturellen Staatstradition gelöst und sich dem Ideengut des demokratischen Rechtsstaats erfolgreich geöffnet. Solche Entwicklungen gilt es naturgemäß weiter zu fördern und zu unterstützen bzw. anhand gerade solcher Beispiele auch politisch in anderen islamischen Ländern für den demokratischen Rechtsstaat zu werben. Aber kein Demokratisierungsprozess dieser Art wird letztlich erfolgreich sein, wenn es nicht zuvor gelingt, möglichst freiheitliche Rechtsstaaten in den jeweiligen Gemeinwesen zu konstituieren. Das politisch primäre Gestaltungsziel heißt also unverändert, zunächst auf die Durchsetzung freiheitlicher Rechtsstaatsstrukturen zu dringen ___________ 8 Alliance of Civilisations, Report of the High-level Group, 13 December 2006, S. 19 (Ziff. 5.12). Der Bericht ist verfügbar im Internet unter http://www.unaoc.org/ repository/HLG_Report.pdf (31.03.2007).

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und – erst im Anschluss hieran – auch auf demokratische Staatsstrukturen hinzuwirken. Nur der freiheitliche Rechtsstaat wahrt den rechtlichen Frieden und wahrt die Menschenrechte. Der freiheitliche Rechtsstaat umschreibt damit einen heute auch international als verbindlich anzuerkennenden gesamtpolitischen Auftrag, der allein und einzig imstande ist, Terrorismus, Extremismus und Autoritarismus zu überwinden bzw. wirksam zu bekämpfen. Und dies ist ein ebenso international-gemeinschaftlicher wie in allen Facetten der Politik durchzusetzender, von ökonomischen bis zu ethnischen Fragen, von sozialen bis zu religiösen Fragen, konzentriert zu verstehender, also gesamtpolitischer Auftrag. Diesen gesamtpolitischen Auftrag zu erfüllen, heißt heute das wichtigste Gebot internationaler Politik der gesamten Staatengemeinschaft. Er ist vor allem mit den Mitteln des Völkerrechts zu realisieren und muss von allen Staaten, muss von allen staatlich organisierten Gesellschaften anerkannt und gewahrt werden. Denn nur so wird der freiheitliche Rechtsstaat selbst Bestand haben, wird es gelingen, weitweit ein Höchstmaß an Frieden und Achtung der Menschenrechte zu gewährleisten. Oder anders ausgedrückt: Nur so wird es gelingen, Terrorismus, Extremismus und Autoritarismus Einhalt zu gebieten.

„Hacer desaparecer“ und „impunidad“ Das „Verschwindenlassen“, seine Sanktion und Pardonierung Waldemar Hummer und Jelka Mayr-Singer „After democracy returned in 1983 (…) a word, desaparecido – the disappeared one – entered into the Orwellian lexicon in its original Spanish, a sad tribute to the efficiency with which the generals kidnapped and tortured their victims, then made them vanish without a trace.“ 1 „Wir haben den Krieg mit dem Katechismus in der Hand geführt und mit den schriftlichen Befehlen des Oberkommandos.“ 2 „From the origins of mankind until the present day, the history of impunity is one of perpetual conflict and strange paradox: conflict between the oppressed and the oppressor, civil society and the State, the human conscience and barbarism; the paradox of the oppressed who, released from their shackles, in their turn take over the responsibility of the State and find themselves caught in the mechanism of national reconciliation, which moderates their initial commitment against impunity.“3

Dieter Blumenwitz war eine herausragende Figur im Bereich des Menschenrechts- und Minderheitenschutzes und hat auf diesen Gebieten eine Reihe bahnbrechender Arbeiten verfasst. In dieser Tradition stehend, soll nachstehend versucht werden, eines der grauenhaftesten Verbrechen, das je von Menschen ersonnen wurde – nämlich das „Verschwindenlassen“ von Personen 4 – näher darzustellen und seine nachträgliche Pardonierung zu hinterfragen. ___________ 1

Andersen, M. E., Dossier Secreto. Argentina’s Desaparecidos and the Myth of the „Dirty War“, 1993, S. 2. 2 Aussage des Leiters der argentinischen Delegation, General Santiago Omar Riveros, auf der Tagung des Interamerikanischen Rates für Verteidigung am 24.01. 1980; Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg.), Nie wieder! Ein Bericht über Entführung, Folter und Mord durch die Militärdiktatur in Argentinien, 1987, S. 13; vgl. dazu auch El personaje. Un militar involucrado en el robo de bebes, in: La Nación (Buenos Aires) vom 16.09.2006, S. 8. 3 Set of principles for the protection and promotion of human rights through action to combat impunity; VN-ECOSOC-CHR-Subcommission (1996), VN-Doc. E/CN.4/ Sub.2/1996/18, vom 29.06.1996, Ziff. 26, zitiert nach Ambos, K., Straflosigkeit von Menschenrechtsverletzungen. Zur „impunidad“ in südamerikanischen Ländern aus völkerstrafrechtlicher Sicht, 1997, S. VII. 4 Der bekannte spanische Untersuchungsrichter Baltasar Garzón drückt diesen Umstand so aus: „Sólo la mente humana es capaz de imaginar, diseñar y ejecutar los horrores que en estas causas se describen“; zitiert nach Anguita, E., Sano juicio. Baltasar Garzón, algunos sobrevivientes y la lucha contra la impunidad en Latinoamérica, 2001, S. 225.

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I. Einführung Der gegenständliche Beitrag versucht mit dem Phänomen des „Verschwindenlassens“ (hacer desaparecer, (en)forced disappearance) einen komplexen Verbrechenstypus juristisch aufzubereiten und zu systematisieren. Die Art der Begehung, das Zusammenwirken mehrerer Täter – die dem Staatsapparat angehören oder diesem zumindest nahe stehen – die Rechtfertigung durch Berufung auf eine „Doktrin nationaler Sicherheit“ zur Bekämpfung subversiver Tätigkeiten oder auf Befehlsnotstand, die nachträgliche Vertuschung und Irreführung der Angehörigen der Opfer etc. ergeben ein so vielschichtiges Tatbild, dass dessen „idealtypische“, tatbildmäßige Erfassung mehr als schwierig ist. Auch die zur Sanktionierung des „Verschwindenlassens“ geschaffenen partikulärvölkerrechtlichen Normen – seien es völkerrechtliche Verträge oder Beschlüsse von Organen internationaler Organisationen – zeigen ein uneinheitliches Bild und definieren bzw. qualifizieren dieses „delictum iuris gentium“ in unterschiedlicher Form. Dabei lassen sich auch verschiedene Ausprägungsformen feststellen, je nachdem, ob es sich um universelle oder regionale völkerrechtliche Normen handelt. Ganz allgemein muss in diesem Zusammenhang aber festgestellt werden, dass eine divergente Staatenpraxis die Herausbildung von einschlägigem Völkergewohnheitsrecht bisher nicht eindeutig zuließ und auch der Abschluss – einiger weniger – völkerrechtlicher Abkommen zur Sanktionierung dieses Delikts mit großer zeitlicher Verzögerung erfolgte. In kaum einem anderen Bereich des Völkerrechts lässt sich der „social culture lag“ so eindrucksvoll nachweisen wie bei der juristischen Erfassung des Phänomens des „Verschwindenlassens“. Einen schlagenden Beweis für diese Feststellung stellt der Umstand dar, dass es auf universeller Ebene, d. h. im Bereich der Vereinten Nationen, erst im Jahre 2006 (!) zur Ausarbeitung einer „Internationalen Konvention zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen“ gekommen ist, obwohl das Delikt des „Verschwindenlassens“ selbst bereits seit vielen Jahrzehnten bekannt war. Ist schon die Definition und tatbestandliche Qualifikation des Verbrechens des „Verschwindenlassens“ von besonderer Komplexität, so stellt die Vielfalt der Arten der Sühnung und Aufarbeitung dieses Delikts alles in den Schatten. Die Techniken, die von den einzelnen betroffenen Staaten in Zeiten der Transition politischer Systeme diesbezüglich ergriffen wurden, sind unglaublich vielfältig und richten sich grundsätzlich je nach den gegebenen innenpolitischen Zuständen. Neben einer (seltenen) justiziellen Verfolgung und Aburteilung lassen sich vor allem Formen außerrechtlicher Aufarbeitung durch Wahrheitskommissionen sowie letztlich auch der Pardonierung in all ihren Formen (Straflosstellung, Amnestie, Begnadigung) nachweisen.

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II. Das „Verschwindenlassen“ und seine historischen Erscheinungsformen Im März 1974 erteilte das in Buenos Aires erscheinende, deutschsprachige „Argentinische Tageblatt“ Präsident Juan Domingo Perón den Rat, wie er seinen „schmutzigen Krieg“ (guerra sucia) gegen die Guerilla gewinnen könne: Er solle deren Anführer einfach vom Erdboden verschwinden lassen, wenn möglich bei Nacht und Nebel, ohne dies aber an die große Glocke zu hängen. 5 Perón scheute sich noch davor, diesen Ratschlag zu befolgen, die Machthaber der argentinischen Militärdiktatur – die von 1976 bis 1983 an der Macht waren – hatten in der Folge aber keine Skrupel mehr, die Technik des „Verschwindenlassens“ anzuwenden – und zwar mit einer Brutalität, wie sie bis dahin noch nicht bekannt war. Die Schilderungen der Opfer bzw. Zeugen von Entführungen, die im Bericht der Nationalen Kommission zur Untersuchung des Verschwindens von Personen (Comisión Nacional sobre la Desaparición de Personas, CONADEP) minutiös dokumentiert wurden, sind so grauenhaft und sinister, dass sich die Feder sträubt, sie auch nur ansatzweise wiederzugeben. 6 Zur Veranschaulichung, wie ein solches „Verschwindenlassen“ von Personen durch Angehörige des Militärs oder der Polizei während der Militärdiktatur in Argentinien routinemäßig inszeniert wurde, sei aber nachstehend der Fall Roque Núñez dargestellt, der aus dieser Dokumentation wahllos herausgegriffen wurde. Die Tochter von Roque Núñez berichtete über die Operation, bei der ihr Vater entführt wurde, wie folgt: „Am 21. April 1976 um 4 Uhr morgens erschienen mehrere Männer in Zivil in unserem Haus. Sie waren schwer bewaffnet und wiesen sich als Angehörige der Marine und der Bundespolizei aus (...) Sie nahmen meinen Vater mit, der damals schon 65 Jahre alt war (...) Am selben Tag kamen sie später erneut und verschleppten meine Mutter. Sie zogen ihr eine Kapuze über den Kopf und brachten sie an einen Ort, den sie nicht identifizieren konnte. Dort wurde sie 5 Tage lang mit brutaler Gewalt verhört. Die Angehörigen der Armee blieben seit dieser Festnahme in unserem Haus. Am 23. April, als mein Bruder Miguel nach Hause kam, wurde auch er entführt. Während der Operation, die am 21. April 4 Stunden, und die ab dem 22. April 36 Stunden dauerte, haben die Verantwortlichen mir jegliche Hilfe verweigert. Ich bin an beiden Armen und Beinen gelähmt, und musste in derselben Körperhaltung bleiben, ohne zu essen oder meine Notdurft verrichten zu können. Ich wurde ständig un-

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Mattarolo, R., Noche y niebla, in: El Periodista 03.05.–09.05.1985 S. 10, zitiert in: Scheerer, T. M., Nachwort für deutsche Leser, in: Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg.), Nie wieder! (Fn. 2), S. 249. 6 Vgl. dazu CONADEP (Hrsg.), Nunca más: Informe de la Comisión Nacional sobre la desaparición de personas, 7. Aufl. 2006; Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg.), Nie wieder! (Fn. 2); Andersen (Fn. 1); Centro de Estudios Legales y Sociales (CELS), Derechos humanos en Argentina. Informe 2005, 2005; Alfonso, A., Encontrando a los desaparecidos. Traiciones, delaciones y secretos no revelados, 2006.

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ter Druck gesetzt, meine Schwester Maria del Carmen anzurufen (…). Als sich die Entführer zurückzogen, nahmen sie auch den von mir gekauften Pkw Marke Ford Falcon mit. Meine Mutter wurde zwei Häuserblocks von unserem Haus mit verbundenen Augen freigelassen. Mein Vater und mein Bruder sind seitdem verschwunden. Später wurde ich benachrichtigt, dass meine Schwester Maria del Carmen Núñez, ihr Ehemann Jorge Lizaso sowie sein Bruder Miguel Francisco Lizaso entführt und ihre Wohnung gänzlich ausgeplündert worden war. Sie gelten seitdem als verschwunden“. 7

„Verschwindenlassen“, „hacer desaparecer“, „(en)forced disappearance“: Es gibt wohl kein grauenhafteres Verbrechen, als eine Person zunächst zu entführen, sie anschließend zu foltern und danach zu ermorden, um sie letztendlich „verschwinden“ zu lassen. Damit wird nicht nur eine Person malträtiert und in ihrer Identität völlig „ausgelöscht“, sondern es wird auch ihren Angehörigen unmöglich gemacht, entsprechende Trauerarbeit zu leisten. Die Verwandten und Nahestehenden des „Verschwundenen“ wissen in der Regel nicht, wie das Verbrechen geschah, wer dafür verantwortlich ist und bekommen nach vollbrachter Tat nicht einmal den Korpus des Opfers ausgehändigt, um diesen ordnungsgemäß betrauern und bestatten zu können. Diese Ungewissheit ist es, die die Angehörigen eines „Verschwundenen“ einer Psychofolter aussetzt, die im Grunde der physischen des Opfers gleichkommt – im Gegensatz dazu aber über Jahre und Jahrzehnte andauern kann. Die bewusste Irreführung, Täuschung und Leugnung des Vorfalls, noch dazu in der Regel durch staatliche Stellen, führt zu einer völligen Verunsicherung der Nahestehenden und zu einem Vertrauensverlust gegenüber der staatlichen Autorität. 8 Wenngleich man das Phänomen des „Verschwindenlassens“ landläufig mit lateinamerikanischen Staaten wie Guatemala, Chile, Argentinien, Uruguay, Paraguay etc. assoziiert – wo es effektiv auch seine dramatischsten Höhepunkte erreicht hat – ist es beileibe keine Erfindung Lateinamerikas, sondern hat viel ältere Wurzeln. Von den französischen inquisitorischen „lettres de cachet“ 9 („Kabinettsbefehle“) abgesehen, die so manchen französischen Bürger in die Bastille bzw. auf das Schafott brachten, trat das Massenphänomen des spurlosen Verschwindenlassens von Personen erstmals in der Sowjetunion unter Stalin in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts auf. Die Etablierung des von Alexander Solschenizyn so anschaulich beschriebenen Archipels GULAG ___________ 7 Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg.), Nie wieder! (Fn. 2), S. 19 f.; vgl. dazu Frescó, D., Suecuestros S.A. Intimidad de una tragedia argentina. Los casos más resonantes. Los testimonios más dramaticos, 2004. 8 Vgl. Becker, D., Ohne Haß keine Versöhnung. Das Trauma der Verfolgten, 1992, S. 86. 9 Vgl. dazu Cornelius, K., Vom spurlosen Verschwindenlassen zur Benachrichtigungspflicht bei Festnahmen, 2006 S. 10 ff., 402.

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(„Hauptverwaltung der Lager für Besserung durch Arbeit“) 10 schuf dafür die entsprechenden Unterbringungsmöglichkeiten. 11 Offiziell wurden in der UdSSR in der Zeit von 1930 bis 1953 insgesamt 11,8 Millionen Menschen in Gefängnissen oder Besserungsarbeitslagern „incomunicado“ gehalten, von denen ca. 1,7 Millionen umgekommen sind. Informelle Schätzungen gehen davon aus, dass allein in den beiden Jahren 1937 und 1938 zwischen 5 und 7 Millionen. Menschen im GULAG interniert und während der gesamten StalinEpoche 20 Millionen Menschen in den Lagern ermordet wurden.12 Im Dritten Reich waren es die Institute der „Schutzhaft“ 13 und der „Vorbeugehaft“ 14 sowie in der Folge der berüchtigte „Nacht-und-Nebel-Erlass“ vom 7. Dezember 1941 15 , die zum spurlosen Verschwinden von Tausenden Personen führten. Die genaue Zahl der „Nacht-und-Nebel-Häftlinge“ (N-N-Häftlinge) ist nicht bekannt, das Reichsjustizministerium erfasste bis zum 30. April 1944 allerdings die Zahl von 6.639 Häftlingen 16 . Wenngleich dieser Erlass nur für die vom Reich besetzten Westgebiete galt – und damit auf die eigene (deutsche) Bevölkerung nicht angewendet wurde – war die damit verbundene Terrorisierung, Einschüchterung und Abschreckung unübersehbar. 17 Die Konzentrationslager, in denen diese Personen in der Regel inhaftiert wurden, dienten primär allerdings nicht dazu, Häftlinge spurlos verschwinden zu lassen. Es war den Häftlingen in ihnen nämlich nicht grundsätzlich untersagt, (zensurierten) ___________ 10 Solschenizyn, A., Der Archipel GULAG. Versuch einer künstlerischen Bewältigung, 1973; vgl. auch Stettner, R., Archipel GULAG – Stalins Zwangslager, 1996; Dobrowolski, I. (Hrsg.), Schwarzbuch Gulag: Die sowjetischen Konzentrationslager, 2002; Applebaum, A., Der Gulag, 2003; Khlevniuk, O., The History of the Gulag: From Collectivization to the Great Terror, 2004. 11 Vgl. Cornelius (Fn. 9), S. 115 ff. 12 Cornelius (Fn. 9), S. 120 f., 403; Wikipedia, GULAG, geht von einer Gesamtzahl von 18 bis 20 Mio. Internierten im GULAG zwischen 1918 und 1953 aus; in der Zeitspanne von 1918 bis 1991 soll es zu insgesamt 39 Mio. Toten im GULAG gekommen sein. 13 Nach dem Schutzhafterlass von Reichsinnenminister Frick vom 25.01.1938 war ausschließlich das Geheime Staatspolizeiamt (GESTAPO) zur Verhängung der Schutzhaft befugt, die in der Regel in Konzentrationslagern vollstreckt wurde; vgl. Cornelius (Fn. 9), S. 69 ff. 14 Durch den preußischen Erlass Görings vom 13.11.1933 über „Anwendung der vorbeugenden Polizeihaft gegen Berufsverbrecher“ wurde der preußischen Kriminalpolizei die zeitlich unbeschränkte Internierung von Personen ohne Gerichtsurteil – in der Regel in Konzentrationslagern – ermöglicht; Cornelius (Fn. 9), S. 73 ff. 15 Richtlinien für die Verfolgung von Straftätern gegen das Reich oder die Besatzungsmacht in den besetzten Gebieten, vom 07.12.1941; IMT, Bd. XXXVII, S. 572 f.; Text auch als Dokument 1 im Anhang zu Cornelius (Fn. 9), S. 413 f. 16 Cornelius (Fn. 9), S. 95, 404. 17 Cornelius (Fn. 9), S. 85 ff.

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Briefkontakt mit Angehörigen zu unterhalten. Lediglich „N-N-Häftlinge“ wurden „incomunicado“ gehalten und verloren so jeden Kontakt zur Außenwelt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der millionenfachen Internierung von Deutschen und Österreichern in den Lagern der Alliierten betraf das Phänomen des Verschwindenlassens auch Hunderttausende dieser Personen. 18 Verschärft wurde es noch durch das absolute Kontaktverbot zwischen den Internierten und ihren Angehörigen, das zumindest bis zum Herbst 1945 für alle alliierten Internierungslager gegolten hat. In der Folge setzte sich die „Technik“ des Verschwindenlassens auch in den sowjetischen Besatzungszonen in Deutschland und in Österreich 19 fort, wo es zu massenweisen klandestinen Ergreifungen und Deportationen nach Sibirien kam. Seit 1948 unterstanden auch die Speziallager in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands, beziehungsweise der DDR, der Lager-Hauptverwaltung GULAG des Moskauer Innenministeriums. Erst im Gefolge des Anschlags auf das World Trade Center am 11. September 2001 wurde zur Terrorbekämpfung wieder vermehrt auf die „Technik“ des Verschwindenlassens zurückgegriffen und die USA errichteten – außerhalb ihrer Rechtsordnung und damit ihrer Ansicht nach auch ohne irgendeinen Rechtsschutz gewähren zu müssen 20 – nicht nur die Lager „Guantánamo“ 21 und „Bagram“, sondern auch weitere geheime Internierungslager und Verhörzentren in mehreren außereuropäischen und sogar einigen europäischen Staaten 22 . Diese von der amerikanischen Regierung lange geleugnete, zuletzt aber doch eingestandene Vorgangsweise des amerikanischen Geheimdienstes Central Intelligence Agency (CIA) stieß auf massive Kritik, und zwar sowohl im ___________ 18

Vgl. Cornelius (Fn. 9), S. 98 ff. Vgl. dazu exemplarisch den Fall von Margarete Ottilinger, einer Beamtin des Ministeriums für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung, die am 05.11.1948 aus dem Auto heraus, in dem sie in Begleitung ihres Ressortministers, Peter Krauland, von Linz nach Wien fuhr, an der Demarkationslinie von sowjetischen Exekutivorganen verhaftet wurde und erst sieben Jahre später, nämlich im Jahre 1955, aus der sowjetischen Lagerhaft wieder nach Österreich zurückkehrte; Stourzh, G., Um Einheit und Freiheit, 5. Aufl. 2005, S. 123. 20 Der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten wies diese Rechtsansicht in der Rechtssache Rasul u. a. vs. Bush, President of the United States u.a. in seinem Urteil vom 28.06.2004 aber zurück. 21 Amann, D. M., Guantánamo, in: Columbia Journal of Transnational Law 42 (2004), S. 263 ff.; Steyn, J., Guantanamo Bay: The Legal Black Hole, in: ICLQ 53 (2004), S. 1 ff.; Shelton, D., The Legal Status of the Detainees at Guantanamo Bay: Innovative Elements in the Decision of the Inter-American Commission on Human Rights of 12 March 2002, in: HRLJ 23 (2002), S. 13 ff. 22 Vgl. dazu Brody, R., The United States’ „Disappeared“ – Long-Term „Ghost Detainees“, A Human Rights Watch Briefing Paper, October 2004; noticias.info (Hrsg.), noticia No. 35.838 vom 12.10.2004, http://www.noticias.info/Archivo/200e4/200410/ 20041012/20041012_35838.shtm. 19

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Rahmen des Europarates als auch in dem der Europäischen Union. So zeigte der Vorsitzende des Ausschusses für Recht und Menschenrechte der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, der Schweizer Dick Marty, in seinem Bericht „Alleged secret detentions in Council of Europe member states“ 23 eine Reihe von Fällen auf, in denen es zu geheimen Entführungen und anschließendem Verschwindenlassen von Verdächtigen gekommen ist. Auch der Generalsekretär des Europarates, Terry Davis, erstellte auf der Basis von Art. 52 EMRK einen Bericht über diese Vorgänge. 24 Ebenso kritisierte das Europäische Parlament in mehreren Resolutionen die behauptete Indienstnahme europäischer Staaten durch die CIA für den Transport und die illegale Unterbringung von entführten Verdächtigen 25 und forderte auch die Einsetzung eines entsprechenden Untersuchungsausschusses. 26

III. „Hacer desaparecer“ als vordringlich lateinamerikanisches Phänomen Obwohl es sich beim „Verschwindenlassen“ um ein an sich weltweit zu beobachtendes Phänomen handelt, 27 kam es diesbezüglich doch in Lateinamerika zu einer massiven Anwendung dieser Unterdrückungsmethode, wie sie in diesem Ausmaß in keiner anderen Weltregion aufgetreten ist. Allein in der zwanzigjährigen Periode von 1966 bis 1986 „verschwanden“ in Mittel- und Süd-

___________ 23

Marty, D., Report on „Alleged secret detentions and unlawful inter-state transfers of detainees involving Council of Europe member states“; Council of Europe, Doc. 10957 vom 12.06.2006. 24 Report by the Secretary General on the use of his powers under Article 52 of the European Convention on Human Rights, in the light of reports suggesting that individuals, notably persons suspected of involvement in acts of terrorism, may have been arrested and detained, or transported while deprived of their liberty, by or at the instigation of foreign agencies, with the active or passive co-operation of States Parties to the Convention or by States Parties themselves at their own initiative, without such deprivation of liberty having been acknowledged, SG/Inf (2006)5 vom 28.02.2006. 25 Res. P6_TA(2005)0529 vom 15.12.2005; Res. P6_TA(2006)0316 vom 06.07. 2006. Letztere Resolution wurde mit 389 Pro- und 137 Gegenstimmen (bei 55 Enthaltungen) angenommen. 26 Temporary Committee on alleged CIA activities in Europe; Res. A6-0213/2006; Res. P6_TA(2006)0012 ; vgl. auch den Zwischenbericht des Nichtständigen Ausschusses zur behaupteten Nutzung europäischer Staaten durch die CIA für die Beförderung und das rechtswidrige Festhalten von Gefangenen (Berichterstatter: Giovanni Claudio Fava), A6-0213/2006 ; PE 372.179v03-00 vom 15.06.2006. 27 Vgl. Nowak, M., Opinion: Monitoring Disappeareances – The Difficult Path from Clarifying Past Cases to Effectively Preventing Future Ones, in: EHRLR 1996, S. 356 f.

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amerika mehr als 90.000 (!) Personen, 28 deren Verbleib nicht mehr aufgeklärt werden konnte. Es war auch in Lateinamerika, dass das „Verschwindenlassen“ erstmals als eigenständige Unterdrückungsmethode wahrgenommen wurde, 29 nämlich im Rahmen des guatemaltekischen Wahlkampfes des Jahres 1966, als schlagartig 33 oppositionelle Politiker „verschwanden“, was die Aufmerksamkeit einer großen Öffentlichkeit erregte. In Zusammenhang mit diesem so genannten „Fall der 28 Verschwundenen“ 30 tauchte in der Presse auch erstmals der Begriff „desaparecido“ auf. 31 Die in der Literatur in diesem Zusammenhang gemachte Unterscheidung, dass es genauer wäre, für dieses Phänomen nicht die Bezeichnung „desaparecido“ i. S. v. „Vermisster“, sondern die Bezeichnung „detenido-desaparecido“ zu wählen, aus der zweifelsfrei hervorgeht, dass es sich dabei um eine zwangsweise verschwundene Person handelt, 32 hilft in der Praxis nicht weiter, da es in Lateinamerika (bewusst) zur Herbeiführung des Phänomens von „Vermissten“ kam, d. h. dass Personen einfach „verschwanden“, ohne dass sie vorher (erkennbar) zwangsweise entführt oder inhaftiert worden waren. Die Regierungen behaupteten einfach, dass sich diese „subversiven“ Kräfte in das Ausland abgesetzt hätten, 33 um von dort den „Guerrilla-Krieg“ gegen sie fortzusetzen und dass sie dementsprechend für das „Verschwinden“ dieser Personen keinesfalls verantwortlich wären. In Wirklichkeit wurden diese Personen auf grauenhafte Weise von staatlich angewiesenen oder gedungenen Mördern „ausgelöscht“ und physisch vernichtet – sie „verschwanden“ nicht aus eigenem Willen, sondern sie wurden „verschwinden gelassen“ („hacer desaparecer“), in welcher Form auch immer. Eine der wohl schrecklichsten Vernichtungsarten bestand während der Militärdiktatur in Argentinien darin, gefesselte Verdächtige von ___________ 28 Siehe Molina Theissen, A. L., La desaparición forzada de personas en América Latina, in: Instituto Latinoamericano de Derechos Humanos (Hrsg.), Serie Estudios Básicos de Derechos Humanos VII (San José de Costa Rica 1996), S. 65 f. 29 Dass es sich beim „Verschwindenlassen“ keineswegs um eine „Neuheit“ handelt, stellte auch der Interamerikanische Menschenrechtsgerichtshof in den Fällen VelásquezRodríguez (Inter-American Court of Human Rights, Serie C Nr. 4, Urteil vom 29.07. 1988) und Godínez-Cruz (Inter-American Court of Human Rights, Serie C Nr. 5, Urteil vom 29.01.1989) fest. 30 Zunächst war man von nur 28 „Verschwundenen“ ausgegangen; vgl. Grammer, C., Der Tatbestand des Verschwindenlassens einer Person. Transposition einer völkerrechtlichen Figur ins Strafrecht, 2005, S. 8. 31 Amnesty International (Hrsg.), Nicht die Erde hat sie verschluckt. „Verschwundene“ – Opfer politischer Verfolgung, 1982, S. 9; Lüthke, K., Das gewaltsam verursachte oder unfreiwillige „Verschwinden“ und der internationale Menschenrechtsschutz, in: ZRP 1983, S. 89. 32 Grammer (Fn. 30), S. 8 Anm. 12. 33 Vgl. Oficina de Derechos Humanos del Arzobispado de Guatemala (Hrsg.), Nunca Más, Bd. II: Los mecanismos del horror (1998), S. 186, zitiert nach Grammer (Fn. 30), S. 34.

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Militärflughäfen aus über den Río de la Plata oder das offene Meer zu fliegen und diese dann aus dem Flugzeug zu kippen – man nannte diese Opfer dann zynisch „paracaidistas“, d. h. „Fallschirmspringer“. 34 Der Begriff „desaparecido“ hat sich weltweit derart eingebürgert, dass man bei der Erwähnung dieses Phänomens zunächst an Lateinamerika denkt. Es waren aber auch lateinamerikanische Staaten, die diese Unterdrückungsmethode erstmals pardonierten und deren Täter straflos stellten. 35 Im Gegenzug waren es aber ebenso lateinamerikanische Staaten bzw. Nichtregierungsorganisationen, die diese Repressionsmethode erstmals problematisierten und zu deren Sanktionierung aufriefen.

IV. Die „Doctrina de la Seguridad Nacional“ Die ideologische Wurzel für die Unterdrückungsmethode des „Verschwindenlassens“ lag in Lateinamerika in der so genannten „Doktrin der nationalen Sicherheit“ („Doctrina de la Seguridad Nacional“), 36 die als Rechtfertigung für staatliche Repressionsmaßnahmen gegen den „kommunistischen Untergrund“ herangezogen wurde. 37 Es ist eine lateinamerikanische Besonderheit, dass das Militär in diesem Raum nicht so sehr „nach außen“, d. h. in zwischenstaatlichen Kriegen, sondern vielmehr „nach innen“, d. h. vordringlich zur Unterdrückung „subversiver Elemente“ eingesetzt wird. Das Heer dient damit im Grunde nicht zur Abwehr „äußerer“, sondern eher „innerer“ Feinde, die die legale Ordnung zu untergraben versuchen. Nach der „Doctrina de la Seguridad Nacional“ waren die Streitkräfte der einzige verfassungsmäßige Garant für Stabilität, Ruhe und Ordnung. Diese ideologische Grundhaltung legitimierte sie, gegen den „inneren Feind“ mit allen verfügbaren Mitteln vorzugehen, ohne dabei Menschenrechte beachten zu müssen. Um diesen Zustand der (Grund-) Rechtlosigkeit zu „legalisieren“, verhängten die Militärs auch stets sehr rasch den Ausnahmezustand („estado de sitio“), innerhalb dessen die Grund- und Menschenrechte ohnehin sistiert waren. Die repressiven Maßnahmen richteten sich dabei nicht nur gegen Guerilla-Kämpfer und Terroristen, sondern auch gegen Oppositionelle, Andersdenkende oder sogar gänzlich Unbeteiligte. ___________ 34

CONADEP (Fn. 6), S. 238 f.; Grammer (Fn. 30), S. 28. Vgl. dazu nachstehend Kap. X.3. 36 „Tausende von Personen wurden unter Berufung auf die totalitäre Doktrin der nationalen Sicherheit illegal ihrer Freiheit beraubt, gefoltert und ermordet“, Dekret Nr. 158/83 der Regierung Alfonsín, in: Hamburger Institut für Sozialforschung (Fn. 2), S. 244. 37 Vgl. Lázara, S., Desaparición forzada de personas, doctrina de la seguridad nacional y la influencia de factores económico-sociales, in: La desaparición, crimen contra la humanidad. Jornadas sobre el tratamiento jurídico de la desaparición forzada de personas, 1987, S. 31. 35

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V. Erscheinungsformen des „Verschwindenlassens“ Bei der Unterdrückungsmethode des „Verschwindenlassens“ lassen sich grundsätzlich zwei Fallgruppen feststellen, nämlich (1) die „klassische“ Variante des massenhaften und systematischen „Verschwindenlassens“, die heute in Lateinamerika eigentlich nur mehr in Kolumbien zu beobachten ist, und (2) die auch heute nach wie vor zu beobachtende Form des vereinzelten „Verschwindenlassens“ von Personen. Diese Unterscheidung ist vor allem deswegen relevant, da der für das „Verschwindenlassen“ in einzelnen Straftatbeständen – wie z. B. in Art. 17 Abs. 1 lit. i) Römisches Statut 38 als Verbrechen gegen die Menschlichkeit – geforderte „ausgedehnte und systematische Angriff gegen die Zivilbevölkerung“ nur bei der ersten Variante gegeben ist. Das ist auch mit ein Grund, warum es zur Ausarbeitung einer universellen Konvention gegen das „Verschwindenlassen“ von Personen kommen musste. Ad (1) Auslöser für die „klassische“ Variante waren politische Instabilitäten aufgrund gesellschaftspolitischer Spannungen, die allerdings von unterschiedlicher Qualität sein konnten. Sie reichten vom offenen Bürgerkrieg – wie zeitweise in El Salvador oder Guatemala – über eine Bekämpfung der Guerilla – wie etwa zeitweise in Peru (Sendero Luminoso), Mexiko (Chiapas) oder in der argentinischen Provinz Tucumán – bis hin zu weniger gravierenden politischen Erschütterungen durch Terroranschläge oder der Eskalation zunächst friedlicher politischer Auseinandersetzungen – wie etwa in Argentinien oder Chile. All diese Phänomene führten – unter Indienstnahme der vorstehend erwähnten „Doktrin der nationalen Sicherheit“ – zu Militarisierungstendenzen, die eine massive Repression der links gerichteten Opposition durch das „Verschwindenlassen“ begünstigten. Es handelte sich im Grunde bei dieser Fallkonstellation um eine „Säuberung der Gesellschaft“, um einen „schmutzigen Krieg“ gegen subversive Elemente. Die „klassische“ Variante des „Verschwindenlassens“ beruhte daher auf Militarisierungstendenzen, die auf eine zu einem bedeutenden Teil ideologisch bedingte, gesellschaftliche Instabilität reagierten und die über die nationale Sicherheitsdoktrin gerechtfertigt wurden. 39 Ad (2) Mit dem Ende des „Ost-West“-Konflikts zu Beginn der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts und der zunehmenden Demokratisierung der lateinamerikanischen Staaten ist sowohl die ideologische als auch die „militaristische“ Komponente für das „Verschwindenlassen“ von politisch unliebsamen Personen in den Hintergrund getreten, wurde aber durch andere Elemente wie die Bekämpfung des Drogenhandels, der (Beschaffungs-)Kriminalität etc. „ersetzt“. Nunmehr sind es Drogenhändler, Suchtgiftabhängige, Straßenkinder, Gewalttätige, Kriminelle und „sozial Unerwünschte“, die „verschwinden“, wo___________ 38 39

Siehe dazu unten bei Kap. VIII.1.c) und bei Kap. IX.2. Grammer (Fn. 30), S. 13 ff.

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bei diese nun nicht mehr „politischen“, sondern eher „sozialen“ Säuberungen in der Regel auch nicht mehr von Heeresangehörigen, als vielmehr von Einheiten der Polizei vorgenommen werden. 40 Angehörige sozialer Randschichten der Gesellschaft werden dabei vereinzelt und zumeist verdeckt entführt und anschließend „verschwinden gelassen“. Dieses isolierte Auftreten von „Verschwindenlassen“ darf aber nicht über den Umstand hinwegtäuschen, dass es sich dabei bloß um „another type of disappearance“ 41 handelt, der ebenso diesem Deliktstypus zugeordnet werden muss.

VI. Handlungsformen des „Verschwindenlassens“ Beim Begehen der klassischen Deliktsform des „Verschwindenlassens“ kommt es stets zu zwei völlig unterschiedlichen Handlungstypen, nämlich (1) zu Handlungen, die gegen das Opfer gerichtet sind, und (2) Handlungen, die sich gegen andere Personen als den Verschwundenen richten. Ad (1) Obwohl das „Verschwindenlassen“ in der Regel heimlich begangen wird und auch noch danach strikte Geheimhaltung über den Verbleib der entführten Person angesagt ist, lassen die Berichte von freigelassenen oder entkommenen Opfern sowie von Insidern, die innerhalb des repressiven Apparates tätig waren, dann aber gestanden haben, die Rekonstruktion des gängigen „Musters“ von „Verschwindenlassen“ zu. Die in der Regel heimliche Ergreifung des Opfers geschieht in Fällen größter Wehrlosigkeit desselben – z. B. in der Nacht in dessen Privatwohnung durch schwerbewaffnete, vermummte Entführer – und wird noch dadurch verstärkt, dass der Entführte über sein Schicksal völlig im Ungewissen gelassen und „incomunicado“ gehalten wird. Danach kommt es in der Regel zu Misshandlungen und Folterungen sowie in der Folge zur Überstellung in geheime Anhaltelager, die sich in der Mehrzahl auf militärischem Gelände befinden. Damit verlieren die Opfer jedweden Kontakt zur Außenwelt und treten in die „Parallelwelt der Repression“ 42 ein, in der sie den gegen sie gerichteten Handlungen völlig wehrlos ausgeliefert sind. Trat der Tod nicht schon als Folge der Folterungen oder der Lagerhaft ein, dann wurden die endgültig „Verschwundenen“ exekutiert, wobei die Hinrichtungsarten völlig unterschiedlich waren und sich nur in einem glichen – sie wurden so klandestin als möglich vorgenommen, und es wurde Wert darauf gelegt, den Körper ___________ 40

Grammer ( Fn 30), S. 16. Human Rights Watch (Hrsg.), Systemic injustice: Torture, „Disappearance“ and Extrajudicial Execution in Mexico, 1999, S. 88. 42 Vgl. Grammer (Fn. 30), S. 24. 41

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des Opfers entweder bis zur Unkenntlichkeit zu verstümmeln oder ganz zu beseitigen. Ad (2) Durch die Geheimhaltung der Begehungshandlung des „Verschwindenlassens“ werden aber auch die Aufklärungsbemühungen Dritter – wie z. B. Angehöriger, Menschenrechtsaktivisten, Journalisten, Nichtregierungsorganisationen etc. – extrem erschwert, wenn nicht sogar unmöglich gemacht. Diesen Personen, die Nachforschungen anstellen, wird dabei bewusst, dass sie nicht nur vom Staat keine Hilfe zu erwarten haben, sondern dadurch sogar selbst in Lebensgefahr geraten. In der Regel werden ihre Aufklärungsbemühungen durch eine Auskunftsverweigerung der staatlichen Stellen – Regierung, Polizei, Heer etc. – abgeblockt oder die Petenten werden mit Falschauskünften bewusst in die Irre geführt. Die völlige Ungewissheit über das Schicksal eines „Verschwundenen“ kommt bei dessen Angehörigen, wie vorstehend bereits erwähnt, einer „Psychofolter“ gleich – zuletzt wollen sie nur mehr Gewissheit über den Tod des Opfers, um ihren Seelenfrieden zu finden.

VII. Täter Was die Täter betrifft, so sind sie in der Regel im staatlichen Umfeld anzutreffen. Sowohl die Handlungen gegen die Opfer selbst als auch die gegen Dritte laufen unter staatlicher Mitwirkung oder Verwicklung ab, die entweder (a) unmittelbar oder (b) mittelbar sein kann. Nur in wenigen Fällen sind (c) die Täter nicht dem Staatsapparat zuzurechnen sondern rekrutieren sich aus dem Bereich der Guerilla selbst. 43 Ad (a) Eine unmittelbare staatliche Verwicklung ist beim Verbrechen des „Verschwindenlassens“ immer dann gegeben, wenn es sich um eine Tätergruppe handelt, die innerhalb des staatlichen Machtapparates lokalisiert ist – in welcher organisatorischen Form auch immer. Es kann sich dabei um Angehörige des Heeres, der Polizei, der militärischen oder zivilen Geheimdienste, sonstiger Wachkörper, paramilitärischer Verbände sowie von eigens dafür errichteten Organisationseinheiten handeln. Obwohl die Täter stets kollektiv agieren – das „Verschwindenlassen“ ist niemals das Werk einer einzigen Person – ist es aufgrund des mehraktigen Geschehens des Tatbildes des „Verschwindenlassens“ nicht die gleiche Tätergruppe die die einzelnen Begehungshandlungen (Entführung, Misshandlung, Folter, Verwahrung, Exekution und Vertuschung der Tat) vornimmt, sondern es sind immer mehrere Gruppen, die am komplexen Akt des „Verschwindenlassens“ beteiligt sind und ihre Aktionen in räumlichem und zeitlichem Abstand voneinander setzen. In der Literatur werden daher in die___________ 43

Vgl. Grammer (Fn. 30), S. 36.

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sem Zusammenhang zwei Tätergruppen unterschieden, nämlich zum einen die „operativen Täter“ und zum anderen die „Informationstäter“. 44 In der Regel kennen sich die Mitglieder der einzelnen Gruppen untereinander nicht persönlich und bekommen auch von unterschiedlichen Vorgesetzten ihre Anweisungen. Dieses strikt „arbeitsteilige“ Vorgehen in einem „verfassten Unrechtssystem“ 45 ist daher nicht abhängig von einem gegenseitigen SichKennen der Mitglieder und ist auch nicht funktional durch deren Willen verbunden, ein gemeinsames Ziel kollektiv zu erreichen. In diesem hoch komplexen System bestehen eine Reihe von Subsystemen, die durch selektive Kommunikation und Interaktion geprägt sind, so dass der eine Täter vom anderen nichts weiß. Ad (b) Im Falle der mittelbaren staatlichen Verwicklung wird der Staat nicht durch eigene Organe tätig, sondern bedient sich ausgelagerter, „beliehener“ Einrichtungen, die den Anschein erwecken sollen, dass es sich bei ihren Aktivitäten nicht um solche des Staates handelt. Der klassische Fall einer solchen mittelbaren Verstrickung des Staates ist die „Betrauung“ von so genannten „Todesschwadronen“ mit Aufträgen zur Sequestrierung und Liquidierung unliebsamer Personen. Solche Todesschwadronen rekrutieren sich zumeist aus rechtsextremen Kreisen, die dem Heer oder der Polizei nahe stehen oder von diesen Einheiten sogar unterwandert sind. Sie handeln des Öfteren auch in „vorauseilendem Gehorsam“, ohne für eine Tat unmittelbar ermächtigt oder beauftragt worden zu sein. Ihre Funktion besteht im Grunde darin, in Form einer „psychologischen Kriegführung“ in der Bevölkerung Angst und Schrecken zu verbreiten und von den Menschenrechtsverletzungen durch den staatlichen Machtapparat abzulenken. Ad (c) In seltenen Fällen werden Entführungshandlungen aber auch von der Guerilla selbst gesetzt, wobei dies aber grundsätzlich nicht geheim geschieht, da die Guerilla dadurch ja Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit erzielen und in der Regel auch ihr Entführungsopfer gegen Geld oder politische Zugeständnisse „tauschen“ will.

VIII. Das „Verschwindenlassen“ als völker(straf-)rechtliches Problem Wie in kaum einem anderen Bereich lässt sich im Falle des „Verschwindenlassens“ der dem (Völker-)Recht innewohnende „social lag“ dokumentieren: Das (inkriminierte) Verhalten ist zwar seit langem bekannt, die rechtliche ___________ 44

Vgl. Grammer (Fn. 30), S. 40 f. Der Begriff stammt von Lampe, E.-J., Systemunrecht und Unrechtssysteme, in: ZStW 1994, S. 683 ff., zitiert nach Grammer (Fn. 30), S. 41. 45

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Normierung desselben erfolgt aber erst mit einer großen zeitlichen Verzögerung. Wenngleich der Unrechtsgehalt dieses Delikts trotz dessen fehlender Reglementierung und Sanktionierung einsichtig gewesen sein musste, dauerte es doch relativ lange, bis das „Verschwindenlassen“ als eigener Deliktstypus im Völkerrecht – in völkerrechtlichen Verträgen und Satzungen Internationaler Strafgerichtshöfe sowie zumindest in seiner kategorialen Zuordnung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Völkergewohnheitsrecht – und im nationalen Strafrecht ausgeformt und sanktioniert wurde. Dementsprechend lagen der internationalen Gerichtsbarkeit auch lange Zeit keine speziellen Straftatbestände vor. Mitte bzw. Ende der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts zunächst noch als (individuelle) Menschenrechtsverletzung eingestuft, wurde die (inter-)nationale Rechtsprechung erst 20 Jahre später mit dem Phänomen des „Verschwindenlassens“ befasst. Sowohl vor dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte in San José 46 als auch vor argentinischen Strafgerichten kam es Mitte der 1980er Jahre vereinzelt zu ersten einschlägigen Verfahren, die aber noch kein konsistentes Bild dieses speziellen Deliktstypus ergaben, wurden dabei doch immer wieder Anleihen bei bereits bestehenden Tatbildern gemacht – wie z. B. bei dem der Entführung, des Menschenraubes und der Verschleppung. Dies gilt auch für die vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anhängig gemachten Verfahren, die sich vor allem auf Fälle im Kontext des Konflikts zwischen türkischen Sicherheitskräften und Anhängern der kurdischen Arbeiterpartei PKK ereignet hatten. 47 Erst ab Mitte der 1990er Jahre konkretisierten sich die Bemühungen um die Ausformung eines eigenständigen Straftatbestandes des „Verschwindenlassens“ und zwar zeitgleich auf mehreren Ebenen. Nachdem zunächst die Generalversammlung der Vereinten Nationen (VN) in ihrer Erklärung über den Schutz aller Menschen vor dem Verschwindenlassen vom 18. Dezember 1992 48 lediglich eine Beschreibung des Delikts geliefert hatte, enthielt die am 9. Juni 1994 unterzeichnete „Interamerikanische Konvention über den Schutz aller Personen vor dem gewaltsamen Verschwindenlassen“ 49 erstmals eine ei___________ 46 Vgl. Kokott, J., Die Inter-Amerikanische Kommission für Menschenrechte bringt das Problem der „Verschwundenen“ mit 3 Fällen gegen Honduras vor den InterAmerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte, in: EuGRZ 1987, 37 ff.; Heinlein, I., Der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt Honduras, Betrifft Justiz 1989, 13 ff. 47 Vgl dazu die Fälle Kurt v. Türkei (Urteil vom 25.05.1998), Kaya v. Türkei (Urteil vom 28.03.2000) und Tas v. Türkei (Urteil vom 14.11.2000), die sich auf die Verpflichtung zur Achtung der Menschenrechte, auf das Recht auf Leben, auf das Verbot der Folter oder der unmenschlichen Behandlung, das Recht auf Freiheit und Sicherheit, das Recht auf wirksame Beschwerde und auf gerechte Entschädigung bezogen. 48 Vgl. dazu nachstehend Kap. VIII.1.b). 49 Vgl. dazu nachstehend Kap. VIII.2.a)bb).

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gene Definition des „Verschwindenlassens“ – i. S. e. „delictum iuris gentium“ – und verpflichtete dementsprechend alle Konventionsstaaten, diesen Straftatbestand in ihre nationalen strafrechtlichen Bestimmungen aufzunehmen. Als zweiter völkerrechtlich verbindlicher Text definierte das am 17. Juli 1998 angenommene so genannte „Römische Statut“, d. h. die Satzung des Internationalen Strafgerichtshofes, in seinem Art. 17 Abs. 2 lit. i) ebenfalls dieses Verbrechen und gestaltete es i. S. e. „Verbrechens gegen die Menschlichkeit“ aus, falls es in massiver oder systematischer Weise verwirklicht wird. 50 Genau einen Monat nach der Unterzeichnung des „Römischen Statuts“ wurde schließlich am 17. August 1998 von der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen der Entwurf einer universell konzipierten Internationalen Konvention über den Schutz vor Verschwindenlassen 51 vorgelegt, der sich allerdings an der vorerwähnten regionalen, Interamerikanischen Konvention orientierte. Es sollte aber beinahe weitere zehn Jahre dauern, bis auf dessen Basis am 29. Juni 2006 im Schoß des neu eingerichteten VN-Menschenrechtsrates die „Internationale Konvention zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen“ angenommen wurde, die in der Folge am 20. Dezember 2006 auch von der Generalversammlung der Vereinten Nationen durch Konsensus approbiert wurde. 52 In der Folge sollen nun diese völkerrechtlichen Instrumente nach ihrem räumlichen bzw. partikulären Geltungsbereich (universell bzw. regional) insbesondere im Hinblick auf die Ausgestaltung und Qualifikation des Tatbestandes des „Verschwindenlassens“ näher dargestellt werden, wobei auch auf deren unterschiedliche Rechtsquellentypik (Vertrag, Organbeschluss,) eingegangen werden soll. Nicht kann in diesem Zusammenhang auf die mit völkerstrafrechtlichen Tatbeständen des Öfteren mitverbundene Staatenunrechtssituation eingegangen werden. Da Völkerrechtsverbrechen in der Regel – und das des Verschwindenlassens schon tatbildmäßig, wegen seiner Begehung im „staatlichen Umfeld“ oder „im Zusammenhang mit staatlichem Agieren“ 53 – eine staatliche Beteiligung voraussetzen, ist dabei auch der Staat als Zurechnungssubjekt involviert, so dass solche Handlungen für diesen auch völkerrechtliche Unrechtsfolgen nach sich ziehen. 54 ___________ 50

Vgl. dazu nachstehend Kap. VIII.1.c) und Kap. IX.2. VN-Menschenrechtskommission, E/CN.4/Sub.2/1998/WG.1/CRP.2/Rev.2 vom 17.08.1998. 52 Vgl. dazu nachstehend Kap. VIII.1.d). 53 Vgl. vorstehend Kap.VII und nachstehend Kap. IX.1. 54 Vgl. dazu die am 12.12.2001 von der GV der VN angenommene Res. 56/83 über die Verantwortlichkeit der Staaten für völkerrechtswidrige Handlungen; Neuhold / 51

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1. Sanktionierung auf universeller Ebene Die Frage des „Verschwindenlassens“ wurde im Rahmen der Vereinten Nationen seit den frühen 1970er Jahren thematisiert, und zwar sowohl auf genereller Ebene als auch in Bezug auf spezifische Fälle, die sich in Chile im Gefolge des Militärputsches von General Augusto Pinochet gegen Präsident Salvador Allende im Jahre 1973 ereignet hatten. 55 Dementsprechend war auch der Bericht einer Ad-Hoc-Arbeitsgruppe an die Menschenrechtskommission (MRK) der Vereinten Nationen über die Lage der Menschenrechte in Chile im Februar 1976 das erste VN-Dokument, das sich mit der Darstellung eines konkreten Falles des Verschwindenlassens einer Person befasste. 56 Zwar hatten sich sowohl die MRK als auch die Generalversammlung 57 bereits zuvor im Jahre 1975 mit dem Schicksal vermisster Personen im Rahmen des Bürgerkrieges auf Zypern auseinander gesetzt, da es sich dabei jedoch um Personen handelte, die im Zusammenhang mit einem bewaffneten Konflikt abgängig waren, fielen sie nicht unter die enge Bedeutung des Begriffs des „Verschwindenlassens“. 58 Kurz danach, nämlich im Jahr 1978, erkannte die Generalversammlung die zunehmend globale Dimension des Themas und trug ihrer „tiefen Betroffenheit über Berichte aus verschiedenen Teilen der Welt betreffend Akte des gewaltsamen Verschwindenlassens von Personen“ dadurch Rechnung, dass sie die MRK aufforderte, sich mit dieser Materie zu befassen und geeignete Empfehlungen zu erarbeiten. 59 Dementsprechend beauftragte die MRK im Jahre 1978 auch den österreichischen Universitätsprofessor und Menschenrechtsschützer ___________ Hummer / Schreuer (Hrsg.), Österreichisches Handbuch des Völkerrechts, Bd. 2, Materialienteil, 4. Aufl. 2004, S. 511 ff. (Dok. 325); Werle, G., Völkerstrafrecht, 2003, S. 40 ff. 55 Commission on Human Rights, Civil and Political Rights, including Questions of: Disappearances and Summary Executions, Report submitted by Mr. Manfred Nowak, independent expert charged with examining the existing international criminal and human rights framework for the protection of persons from enforced or involuntary disappearances, E/CN.4/2002/71, Ziff. 8. 56 E/CN.4/1188 vom 04.02.1976; es handelte sich dabei um den Fall des französischen Staatsangehörigen Alphonse-René Chanfreau, der 1974 in Santiago de Chile verhaftet und in der Folge verschwinden gelassen wurde. Zu den Kompetenzen dieser AdHoc-Arbeitsgruppe, der auch der Österreicher Felix Ermacora angehörte, siehe Bossuyt, M., The U.N. and Civil and Political Rights in Chile, in: ICLQ 27 (1978), S. 462 ff. 57 GV-Res. 3450 (XXX) vom 09.12.1975. 58 Daher sprechen MRK und GV hier auch nicht von verschwundenen („disappeared“) Personen, sondern gebrauchen den Begriff „missing persons“ oder „persons unaccounted for“. 59 GV-Res. 33/173 „Disappeared Persons“ vom 20.12.1978.

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Felix Ermacora 60 als Experten zur Frage des Schicksals von in Chile vermissten und verschwundenen Personen, der bereits ein Jahr später einen umfangreichen Bericht zu dieser Frage vorlegte. 61 Darin wies er darauf hin, dass das „Verschwindenlassen“ ein nicht bloß auf Chile beschränktes Phänomen sei und schlug die Entwicklung nationaler und internationaler Maßnahmen zur Verhütung solcher Akte vor. a) Die „Working Group on Enforced or Involuntary Disappearances“ Die MRK griff in der Folge die Vorschläge Ermacoras auf und rief im Jahr 1980 auf der Basis einer Initiative Frankreichs eine eigene Arbeitsgruppe – die „Working Group on Enforced or Involuntary Disappearances“ (WGEID), 62 mit einem nicht mehr bloß länderspezifischen, sondern nunmehr universellen Mandat zur Frage des „Verschwindenlassens“ – als ersten so genannten „thematischen Mechanismus“ 63 ins Leben. Das Mandat 64 der WGEID besteht darin, die Familien bei der Aufklärung des Schicksals und des Aufenthaltsortes ihrer verschwundenen Angehörigen zu unterstützen und die Kommunikation zwischen den Familien verschwundener Personen und den jeweiligen Regierungen zu fördern. Die Arbeit der WGEID zielt also darauf ab, konkrete Fälle des „Verschwindenlassens“, die ihr – in der Regel von Familienangehörigen oder von NGOs – zur Kenntnis gebracht werden, dadurch aufzuklären, dass die entsprechende Regierung zu diesbezüglichen Nachforschungen und zur Stellungnahme aufgefordert wird. Die von ihr erhaltenen Informationen werden in der Folge an die betroffenen Familien bzw. an die beschwerdeführende NGO weitergeleitet. Sobald der Verbleib der Verschwundenen als Ergebnis der Untersuchungen der betroffenen Regierung, der von NGOs angestellten Nachforschungen, aufgrund von fact-finding missions der WGEID oder des VNMenschenrechtspersonals, irgendeiner anderen vor Ort agierenden internationalen Organisation oder aufgrund der Suche der Familienangehörigen selbst geklärt ist, endet das Mandat der WGEID. Die Arbeit der WGEID ist dementsprechend rein humanitärer Natur und nicht etwa darauf ausgerichtet, eine allfällige strafrechtliche Verantwortung Einzelner oder gar Staatenverantwortlichkeit festzustellen. ___________ 60 Felix Ermacora war an der Universität Wien akademischer Lehrer von Manfred Nowak; vgl. Fn. 86. 61 A/34/583/Add.1 vom 21.11.1979; vgl. dazu zusammenfassend Nowak, Report (Fn. 55), Ziff. 14. 62 MRK-Res. 20 (XXXVI) vom 29.02.1980. 63 Vgl. dazu Nowak, M., Einführung in das internationale Menschenrechtssystem, 2002, S. 129. 64 Zuletzt aufgrund von MRK-Res. 2004/40 vom 19.04.2004.

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Neben der Befassung mit konkreten Einzelfällen berichtet die Arbeitsgruppe aber auch über „general allegations“, die ihr von seriösen NGOs eingemeldet werden und leitet diese an die Regierungen zur Stellungnahme weiter. Nicht in die Kompetenz der WGEID fallen hingegen Akte des „Verschwindenlassens“ ohne Bezug zu staatlichen Akteuren sowie solche, die sich im Rahmen internationaler bewaffneter Konflikte ereignen, für die das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) zuständig ist. Seit der Verabschiedung der Erklärung der Generalversammlung der Vereinten Nationen über den Schutz aller Menschen vor dem Verschwindenlassen vom 18. Dezember 1992 befasst sich die WGEID – über ihr ursprüngliches Mandat hinaus – aber auch mit der Überwachung der Einhaltung der Bestimmungen dieser Erklärung der Generalversammlung und unterstützt die Regierungen bei deren Umsetzung. 65 Die WGEID setzt sich aus fünf unabhängigen Experten zusammen, deren Mandat für einen Zeitraum von jeweils drei Jahren erteilt wird 66 . Sie hält dreimal im Jahr Tagungen ab und erstattet der MRK (bzw. nunmehr dem Menschenrechtsrat) jährlich Bericht. Seit ihrer Errichtung leitete die WGEID mehr als 50.000 Fälle von „Verschwindenlassen“ an mehr als 90 betroffene Regierungen weiter. Im aktuellen Berichtszeitraum 2005 wurden der Arbeitsgruppe 535 neue Fälle zur Kenntnis gebracht, die diese an 22 Regierungen übermittelte. Im gleichen Zeitraum konnte sie 1309 Fälle in 17 Staaten aufklären. Von den über 40.000 nach wie vor ungeklärten Fällen sind 79 Staaten betroffen; einige wenige 67 sind dem Ersuchen der Arbeitsgruppe um Aufklärung und Auskunft trotz mehrfacher Ermahnung aber nie nachgekommen. Dem aktuellen Bericht zufolge, der erstmals Informationen über jeden von ungeklärten Fällen von Verschwundenen betroffenen Staat enthält, handelt es sich beim Phänomen des „Verschwindenlassens“ heute – im Gegensatz zu früheren Jahren – nicht mehr um ein Instrument autoritärer Regime, sondern um eine Maßnahme, die regelmäßig in Zusammenhang mit innerstaatlichen Konflikt- und humanitären Krisensituationen gesetzt wird. 68 Seit den Attentaten in den USA vom 11. September 2001 ortet auch die Arbeitsgruppe außerdem eine steigende Tendenz, dass Akte des „Verschwindenlassens“ ebenso wie geheime Gefangenenlager ___________ 65 Siehe zu alldem im Detail den aktuellen Bericht der WGEID vom 27.12.2005, E/CN.4/2006/56, Ziff. 9–13 sowie die „Revised methods of work of the Working Group“ vom 14.11.2001, abrufbar auf der Homepage der WGEID unter http://www. ohchr.org/english/issues/disappear/Methods%20of%20work14-11-01.doc. 66 Zuletzt wurde das Mandat durch die MRK-Res. 2004/40 vom 19.04.2004 auf drei weitere Jahre verlängert. 67 Es handelt sich dabei um Burundi, Guinea, Israel, Mozambique, Namibia, die Seychellen und die Palästinensische Selbstverwaltungsbehörde, WGEID, Bericht (Fn. 65), S.126. 68 Als besonders dramatisch stellt sich dem Bericht zufolge die Situation in Kolumbien, Nepal, der Russischen Föderation und dem Sudan dar, WGEID, Bericht (Fn. 65), S. 126.

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von Seiten der betroffenen Staaten mehr und mehr mit Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung zu rechtfertigen versucht werden. 69 b) Erklärung über den Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen vom 18. Dezember 1992 Da das Verschwindenlassen zur Zeit der Entstehung der Konventionen zum allgemeinen Menschenrechtsschutz noch eine untergeordnete Rolle spielte, enthalten diese Instrumente weder auf universeller noch auf regionaler Ebene70 ein spezifisches Menschenrecht auf „Nicht-Verschwinden“ bzw. auf einen Schutz vor gewaltsamem „Verschwindenlassen“. Nachdem die zunehmend globale Dimension des Themas erkannt worden war und in den späten 1970er Jahren sowohl die Vereinten Nationen als auch die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) mit entsprechenden Resolutionen reagiert hatten, wurde seit Anfang der 1980er Jahre der Ruf nach Ausarbeitung einer eigenen Konvention zum Schutz vor gewaltsamem „Verschwindenlassen“ immer lauter. Eine der ersten Initiativen dazu ging vom Menschenrechtsinstitut der Pariser Anwaltskammer aus, das 1981 ein hochrangig besetztes Kolloquium veranstaltete, in dessen Rahmen ein erster Konventionsentwurf vorgelegt wurde. 71 Eine führende Rolle bei der Erarbeitung einschlägiger Entwurfstexte spielten vor allem aber auch in Lateinamerika tätige NGOs, insbesondere die Federación Latinomericana de Asociaciones de Familiares de Detenidos-Desaparecidos (FEDEFAM) 72 , deren 1982 vorgelegter Konventionsentwurf das gewaltsame „Verschwindenlassen“ – in Anlehnung an die VN-Konvention über Verhütung und Bestrafung des Völkermordes (1948) – bereits als völkerrechtliches Ver___________ 69 Vgl. Briceño, G., Reaccionarismo penal frente al ¿terrorismo?, La crisis de los derechos fundamentales ante las reformas penales coyunturales, in: KAS (Hrsg.), Anuario de Derecho Constitucional Latinoamericano, 2006, S. 1191 ff.; vgl. dazu vorstehend Kap. II. 70 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte, Europäische Menschenrechtskonvention, Amerikanische Menschenrechtskonvention, Afrikanische Charta der Rechte der Menschen und Völker und die (noch nicht in Kraft getretene) Arabische Charta der Menschenrechte. 71 Le refus de l’oubli: La politique de disparition forcee, janvier/fevier 1981, zitiert nach Nowak, Report (Fn. 55), Anm. 71 auf S. 46. 72 Die FEDEFAM – ein Zusammenschluss von Familienangehörigen verschwundener Personen in Lateinamerika und der Karibik – wurde 1981 in San Josè (Costa Rica) gegründet; sie genießt Speziellen Konsultativstatus (ehemals Kategorie II) beim ECOSOC; vgl. dazu Hummer, W., Internationale nichtstaatliche Organisationen im Zeitalter der Globalisierung. Abgrenzung, Handlungsbefugnisse, Rechtsnatur, Völkerrecht und Internationales Privatrecht in einem sich globalisierenden internationalen System. Auswirkungen der Entstaatlichung transnationaler Rechtsbeziehungen, in: BdGVR 2000, S. 45 ff. (101 ff.); zur Struktur und den Zielen der FEDEFAM siehe ihre homepage http://www.desaparecidos.org/fedefam/eng.html.

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brechen und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ qualifizierte. 73 In Argentinien formierte sich außerdem eine eigene Initiativgruppe für eine Konvention gegen gewaltsames „Verschwindenlassen“, die ihrerseits einen 50 Artikel umfassenden Entwurf ausarbeitete. Auf der Grundlage eines weiteren Entwurfs aus 1988 von Louis Joinet (Frankreich), einem Experten in der damaligen MRK-Unterkommission zur Verhütung von Diskriminierung und für den Schutz von Minderheiten, 74 wurde schließlich unter Mitarbeit von deren UnterArbeitsgruppe „Detention“ sowie der Internationalen Juristenkommission, der WGEID und diverser NGOs ein Text erarbeitet, der sowohl von der VN-AntiFolterkonvention (1984) als auch von den gleichzeitig im Rahmen der OAS aufgelegten Entwürfen beeinflusst war. 75 Dieser Entwurf wurde am 18. Dezember 1992 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen als Declaration on the Protection of all Persons from Enforced Disappearance 76 ohne förmliche Abstimmung im Konsensus angenommen. Die Deklaration 77 wurde von der Generalversammlung als Grundsatzkatalog für alle Staaten („a body of principles for all states“) verkündet, der allgemein beachtet werden soll – sie ist aber als bloße Deklaration der Generalversammlung nicht rechtsverbindlich. Da es sich bei dieser Erklärung aber eben um einen Organbeschluss mit bloß empfehlendem Charakter handelt, setzten nur wenige Staaten Schritte, um die darin vorgesehenen Standards zu erfüllen.

c) Das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs vom 17. Juli 1998 Ausgehend von den Internationalen Militärtribunalen von Nürnberg und Tokio, die die politische und militärische Führung Deutschlands und Japans wegen Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit abzuurteilen hatten, nahm die VN-Völkerrechtskommission – deren Arbeit an den allgemeinen Prinzipien eines materiellen Völkerstrafrechts seit den 1950er Jahren zum Stillstand gekommen war – zu Beginn der 1990er Jahre ihre Bemühungen um die Errichtung eines ständigen in___________ 73 Siehe dazu Lippmann, M., Disappearances: Towards a Declaration on the Prevention and Punishment of the Crime of Enforced or Involuntary Disappearances, in: Connecticut Journal of International Law 4 (1988), S. 121 (139 ff.). 74 Vgl. dazu Hummer, W., Der internationale Menschenrechtsschutz: Entwicklung und Grundlagen, in: Neuhold, H.-P. / Hummer, W. / Schreuer, Ch. (Hrsg.), Österreichisches Handbuch des Völkerrechts Bd. 1, Textteil, 4. Aufl. 2004, S. 264. 75 Zu alldem siehe Brody, R. / González, F., Nunca Más: An Analysis of International Instruments on Disappearances, Human Rights Quarterly 19, 1997, S. 365 (369 ff.). 76 A/Res/47/133. 77 Die offiziöse deutsche Übersetzung verwendet den Terminus „Erklärung“; im Folgenden wird diesbezüglich die Kurzbezeichnung „VN-Erklärung 1992“ verwendet.

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ternationalen Strafgerichts zur Verfolgung und Bestrafung von natürlichen Personen, die für besonders schwere „Kernverbrechen“ verantwortlich sind, wieder auf. Im Rahmen einer im Juli 1998 in Rom einberufenen Staatenkonferenz unter den Auspizien der Vereinten Nationen wurde schließlich das Statut eines (ständigen) Internationalen Strafgerichtshofes (ICC) 78 angenommen, das nach Hinterlegung der 60. Ratifikationsurkunde am 1. Juli 2002 in Kraft trat. 79 Aufgrund von Art. 5 ICC-Statut fallen vier Straftatbestände unter die Gerichtsbarkeit des ICC – nämlich das Verbrechen des Völkermords, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Verbrechen der Aggression. Dabei wird in Art. 7 Abs. 1 lit. i) das zwangsweise Verschwindenlassen von Personen erstmals explizit als eine mögliche Handlungsalternative unter den Tatbestand des „Verbrechens gegen die Menschlichkeit“ 80 subsumiert.

d) Die Internationale Konvention zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen vom 29. Juni 2006 Da die vorerwähnte VN-Erklärung 1992 wegen ihres bloß empfehlenden Charakters auf die Praxis des Verschwindenlassens kaum einen Einfluss ausüben konnte, waren es wieder vor allem verschiedene NGOs, die – nach der mittlerweile im Rahmen der OAS angenommenen und als Vertrag rechtlich verbindlichen Inter-Amerikanischen Konvention über das gewaltsame Verschwindenlassen von Personen (1994) 81 – auf die Ausarbeitung einer rechtsverbindlichen Konvention auch auf universeller Ebene der Vereinten Nationen drängten. Dabei war es wiederum Louis Joinet, der einen ersten Entwurf dazu vorlegte, auf dessen Basis – nach Konsultationen mit NGOs und unter Einarbeitung der dazu eingegangenen Stellungnahmen – nach mehrjähriger Überarbeitung im August 1998 ein Entwurf für eine Internationale Konvention zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen von der MRK-Unterkommission zur Verhütung von Diskriminierung und für den Schutz von Minderheiten angenommen und an die MRK der Vereinten Nationen zur Beratung weitergeleitet wurde. 82 ___________ 78

A/CONF.183/9 vom 17.07.1998, in Kraft getreten am 01.07.2002. Das Statut wurde bisher von 104 Staaten ratifiziert. 79 Siehe dazu Hummer, W. / Mayr-Singer, J., Internationale Strafgerichtsbarkeit, in: Woyke, W. (Hrsg.), Handwörterbuch Internationale Politik, 10. Aufl. 2006, S. 225. 80 Siehe dazu nachstehend Kap. IX.2. 81 Siehe dazu im folgenden Kap. VIII.2.a)bb). 82 Siehe dazu den Bericht der Sessional Working Group on the administration of justice E/CN.4/Sub.2/1998/19 vom 19.08.1998, dem der Text des Konventionsentwurfs als Annex angefügt ist.

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Im Rahmen ihrer 57. Tagung im April 2001 beschloss die MRK eine eigene Arbeitsgruppe zur Ausarbeitung eines rechtsverbindlichen Instruments zum Schutz aller Personen vor dem „Verschwindenlassen“ einzusetzen. 83 Gleichzeitig ersuchte die MRK ihren Vorsitzenden, einen unabhängigen Experten mit der Untersuchung der einschlägigen straf- und menschenrechtlichen Rahmenbedingungen und der Feststellung der Lücken im bestehenden rechtlichen Rahmen zu betrauen. 84 Die erste formelle Sitzung der in Entsprechung dazu eingesetzten „Intersessional open-ended working group to elaborate a draft legally binding normative instrument for the protection of all persons from enforced disappearance“ (ISWG) fand im Jänner 2003 unter dem Vorsitz von Bernard Kessedjian (Frankreich) statt. 85 Als unabhängigen Experten zur Erstellung des Untersuchungsberichts hatte die MRK Manfred Nowak 86 (Österreich) bestellt, der seinen Bericht bereits am 8. Januar 2002 87 vorgelegt hatte. Dieser Bericht bildete zusammen mit der vorstehend bereits erwähnten VN-Erklärung 1992 sowie des Entwurfs von 1998 die wesentliche Grundlage, aufgrund derer es der ISWG nach mehreren eingehenden Beratungen auf ihrer fünften Sitzung im September 2005 gelang, ihre Arbeit abzuschließen und der MRK einen einschlägigen Konventionsentwurf vorzulegen. 88 Mit seiner Resolution 1/1 nahm der inzwischen neu errichtete Menschenrechtsrat 89 der Vereinten Nationen auf seiner ersten Sitzung diese Internationale Konvention zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen 90 am 29. Juni 2006 an. In der Folge adoptierte auch die Generalversammlung der Vereinten Nationen am 20. Dezember 2006 – auf der Basis eines Berichts ihres Dritten Hauptausschusses – diese „International Convention for the Protection of All Persons from Enforced Disappearance“. 91 Die Konvention war von über 100 Mitgliedstaaten co-gesponsert worden und wurde (ohne formelle Abstimmung) im Konsensus-Verfahren angenommen. Die Generalversammlung schlug aus diesem Anlass vor, die Konvention am 6. Februar 2007 in einer feierlichen Zeremonie in Paris zur Unterzeichnung aufzulegen. Aufgrund der überwältigenden Zustimmung, die sie im Rahmen der Generalversammlung der ___________ 83

MRK-Res. 2001/46 vom 23.04.2001. MRK-Res. 2001/46 (Fn. 83), Ziff. 11. 85 Siehe dazu seinen Bericht E/CN.4/2003/71 vom 12.02.2003. 86 Univ.-Prof. an der Universität Wien und Ko-Direktor des Ludwig-BoltzmannInstituts für Menschenrechte (BIM) in Wien; Nowak war zunächst Schüler und später Mitarbeiter von Felix Ermacora (Fn. 60). 87 Nowak, Report (Fn. 55). 88 Siehe dazu den Bericht Kessedjians E/CN.4/2006/57 vom 02.02.2006. 89 A/Res/60/251 vom 03.04.2006. 90 A/HRC/1/L.2; A/C.3./61/L.17; in der Folge wird diesbezüglich die Kurzbezeichnung „Internationale Konvention 2006“ verwendet. 91 A/Res/61/177 (GA/10563 vom 20.12.2006). 84

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Vereinten Nationen erfahren hat, erwartet man sich eine wahrhaft universelle Ratifikation derselben. Bei dieser Gelegenheit wies der argentinische Delegierte ausdrücklich darauf hin, dass mit dieser Konvention im Schoß der Vereinten Nationen erstmals von der Praxis abgegangen wurde, die Verbrechen der 70er und der darauffolgenden Jahre des vorigen Jahrhunderts stillschweigend zur Kenntnis zu nehmen: Die frühere Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen hatte nämlich für das Verbrechen des „Verschwindenlassens“ während der Militärdiktatur in Argentinien nie ein Wort der Verurteilung gefunden. Auch der finnische Delegierte drückte – im Namen der EU – seine Genugtuung darüber aus, dass sich nunmehr, allerdings erst nach über 25 Jahren (!), im Schoß der Vereinten Nationen eine überwältigende Mehrheit für die Verabschiedung einer solchen Konvention hat finden lassen. 92

2. Sanktionierung auf regionaler Ebene a) Im Rahmen der Organisation amerikanischer Staaten (OAS) aa) Resolutionen der Generalversammlung der OAS vom 31. Oktober 1979 und vom 18. November 1983 Im Rahmen der OAS war es die Inter-amerikanische Kommission für Menschenrechte (IKMR), die erstmals im Jahre 1974 in ihrem Jahresbericht an die Generalversammlung (GV) der OAS auf das Problem des „Verschwindenlassens“ sowohl als allgemeines Phänomen, als auch als solches mit spezifischem Bezug zu Chile aufmerksam gemacht hatte. Die Generalversammlung der OAS griff das Thema aber erst 1979 in einer Resolution auf, in der die Praxis des Verschwindenlassens als ein „affront to the conscience of the hemisphere“ und als „totally contrary to common traditional values“ bezeichnet wird. 93 Obwohl die IKMR in der Folge nach der Auswertung von Berichten von fact-finding-Missionen in Argentinien eine ausgedehnte und systematische Praxis des „Verschwindenlassens“ während der Militärregierung 1976–1983 feststellte, vermied es die Generalversammlung der OAS Argentinien aufzufordern, diese Praxis zu unterbinden – offenbar in Reaktion auf dessen Androhung, für diesen Fall aus der OAS auszutreten. Erst auf Druck von Seiten der Familienangehörigen verschwundener Personen und anderer NGOs wurde die Generalversammlung der OAS aktiv und erklärte in einer als „historisch“ zu bezeichnenden Resolution im November 1983 erstmals, dass die Praxis des ___________ 92 93

Bis November 2007 haben 71 Staaten die Konvention unterzeichnet. OAS doc. AG/Res. 443 (IX-0/79).

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Verschwindenlassen von Personen ein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ darstelle. 94 bb) Die Inter-Amerikanische Konvention über das gewaltsame Verschwindenlassen von Personen vom 9. Juni 1994 Parallel zu den Bemühungen im Rahmen der Vereinten Nationen wurden auch im Schoß der OAS seit Mitte der 1980er Jahre erste Schritte zur Ausarbeitung einer Konvention zum Schutz vor dem „Verschwindenlassen“ unternommen. So beauftragte die Generalversammlung der OAS die IMRK mit der Erarbeitung eines Textentwurfs, den diese – wiederum unter der Mitarbeit von NGOs – im Jahre 1988 vorlegte. Dieser Entwurf wurde von einer eigenen – vom Ständigen Rat/Ausschuss für rechtliche und politische Angelegenheiten eingesetzten – Arbeitsgruppe mehrere Jahre lang diskutiert, überarbeitet und schließlich in einer deutlich „abgemagerten“ Version der Generalversammlung der OAS präsentiert. Sowohl einige Regierungen als auch eine Reihe von NGOs, die in den Drafting-Prozess des Rats-Ausschusses überhaupt nicht eingebunden worden waren, übten heftige Kritik an der mangelnden Effektivität des Entwurfs und legten ein paar Monate später eine eingehende Analyse der einzelnen Artikel vor. Auf deren Basis und unter Einbeziehung der mittlerweile vorliegenden vorstehend bereits zitierten VN-Erklärung 1992 arbeitete der Rats-Ausschuss seinen ersten Entwurf aus und legte ihn anschließend der Generalversammlung der OAS vor, die ihn am 9. Juni 1994 in Belem do Pará in Brasilien ohne förmliche Abstimmung durch Konsensus annahm und damit das erste vertragliche Instrument zum Schutz vor dem Verschwindenlassen zur Unterzeichnung auflegen konnte. 95 Die Inter-Amerikanische Konvention über das gewaltsame Verschwindenlassen von Personen 96 vom 9. Juni 1994 trat am 28. März 1996 in Kraft und wurde bisher von elf Staaten ratifiziert. b) Im Rahmen des Europarates Auch die Parlamentarische Versammlung des Europarates bezeichnete bereits im Jahr 1984 in einer Entschließung 97 das zwangsweise Verschwindenlas___________ 94 OAS doc. AG/Res. 666 (XIII-0/83); vgl. dazu auch Brody / González (Fn. 75), S. 365 ff. (368 f.). 95 Brody / González (Fn. 75), S. 365 (374 f.). 96 OAS doc. OEA/Ser.P/Doc.3114/94; in der Folge wird diesbezüglich die Kurzbezeichnung „OAS-Konvention 1994“ verwendet; ILM 33 (1994), S. 1529 ff. 97 Resolution 828 (1984).

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sen als flagrante Verletzung einer ganzen Reihe von Menschenrechten und als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und rief die Mitgliedstaaten des Europarates zur Zusammenarbeit und zur Unterstützung der Aktivitäten der Vereinten Nationen im Hinblick auf die Verabschiedung der (späteren) VN-Erklärung 1992 auf. Mit dem Jahr 2004 nahm die Parlamentarische Versammlung des Europarats ihre Bemühungen im Kampf gegen das Verschwindenlassen in verstärktem Maße wieder auf. So wurde in einer Entschließung und einer Empfehlung über die Menschenrechtslage in Tschetschenien 98 auf das gewaltsame Verschwindenlassen Bezug genommen und auch eine Entschließung und eine Empfehlung über verschwundene Personen in Belarus 99 verabschiedet. In ihrer Entschließung 1463 und ihrer Empfehlung 1719 betreffend das Verschwindenlassen von Personen 100 verurteilte die Parlamentarische Versammlung im Oktober 2005 einstimmig das Verschwindenlassen als eine sehr gravierende Menschenrechtsverletzung, die mit Folter und Mord gleichzusetzen ist und stellte Ähnlichkeiten zwischen dem Verschwindenlassen von Personen in Belarus und dem in bestimmten lateinamerikanischen Staaten in den 1970er und 1980er Jahren des vorigen Jahrhunderts fest. Insbesondere wies sie aber auf die nach wie vor bestehenden wesentlichen Lücken in dem zu diesem Zeitpunkt ausgebildeten völkerrechtlichen Rahmen hin und machte darauf aufmerksam, dass ein künftiges universelles rechtsverbindliches Instrument vor allem eine klare Definition des „Verschwindenlassens“, die Anerkennung naher Angehöriger als „gesonderte Opfer“, wirksame Maßnahmen gegen die Straflosigkeit dieses Verbrechens, angemessene Vorbeugungsmaßnahmen und ein umfassendes Recht auf Wiedergutmachung enthalten müsse. Sie forderte alle Mitgliedstaaten des Europarates nachdrücklich auf, die Verabschiedung eines solchen rechtsverbindlichen Instruments im Rahmen der Vereinten Nationen zu unterstützen und gegebenenfalls unverzüglich zu unterzeichnen und zu ratifizieren und beschloss, im zweiten Halbjahr 2006 die im Rahmen der Vereinten Nationen erzielten Ergebnisse zu überprüfen. Dazu führte der diesbezügliche Berichterstatter des Ausschusses für Recht und Menschenrechte Christos Pourgourides aus, dass es erst nach der Finalisierung eines VN-Instruments möglich sein werde, die Notwendigkeit eines eigenen regionalen Rechtsinstruments für Europa zu bewerten, was primär von der Qualität des Monitoring und des „rapid intervention mechanism“ abhängig sein werde. 101 ___________ 98

Resolution 1403 (2004) und Recommendation 1679 (2004) vom 07.10.2004. Resolution 1371 (2004) und Recommendation 1657 (2004) vom 28.04.2004. 100 Siehe dazu auch den Bericht des Berichterstatters des Ausschusses für Recht und Menschenrechte, Christos Pourgourides, Doc. 10679 vom 19.09.2005. 101 Doc. 10679 vom 19.09.2005 (Fn. 100) Ziff. 71–72, in der Pourgourides die Auffassung vertritt, dass „the Council of Europe may well be required to produce its own 99

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IX. Vergleichende Darstellung der Instrumente zum Schutz vor dem Verschwindenlassen Nach dieser kursorischen Darstellung der völkerrechtlichen Instrumente, in denen sich Bestimmungen über die Sanktionierung des Verbrechens des „Verschwindenlassens“ finden, sollen nun in rechtsvergleichender Sicht die einzelnen Definitionen und tatbestandlichen Qualifikationen dieses Delikts untereinander verglichen und dabei aufgezeigt werden, ob sich in diesem Zusammenhang ein einheitlicher Deliktstypus herausgebildet hat. 102

1. Definition des „Verschwindenlassens“ Da die Drafter der VN-Erklärung 1992 die Meinung vertraten, dass eine (bloße) Deklaration nicht notwendigerweise eine Definition enthalten müsse, eine solche auch den vielfältigen Erscheinungsformen von „Verschwindenlassen“ kaum gerecht werden könne und dementsprechend unter Umständen sogar zu Problemen in der Eingrenzung dieses Straftatbestandes führen könnte, enthält diese Erklärung der Generalversammlung der Vereinten Nationen keine Definition im technischen Sinn. Sie enthält aber in ihrem dritten Präambelparagraf eine „Arbeitsdefinition“ dessen, was unter gewaltsamem „Verschwindenlassen“ zu verstehen ist: „(…) daß Personen von Angehörigen verschiedener Teile oder Ebenen der Staatsgewalt oder von organisierten Gruppen oder Privatpersonen, welche im Namen oder mit der direkten oder indirekten Unterstützung oder mit dem ausdrücklichen oder stillschweigenden Einverständnis der Staatsgewalt handeln, gegen ihren Willen festgenommen, in Haft gehalten oder entführt, oder auf andere Weise ihrer Freiheit beraubt werden, wobei anschließend die Auskunft über das Schicksal oder den Verbleib der Betreffenden verweigert oder die Freiheitsentziehung abgestritten wird und diese Personen so dem Schutz des Gesetzes entzogen werden.“ 103

___________ instrument in order to rid the continent once and for all from the terrible humanitarian scourge of enforced disappearance.“ 102 Siehe dazu auch Böhm, C., Verschwindenlassen von Personen. Entwicklung des Phänomens und Reaktion der Staatengemeinschaft anhand der in universellen Rechtsinstrumenten enthaltenen Kriminalisierungsverpflichtung, Diplomarbeit / Universität Wien, 2004, S. 31 ff. 103 „… that persons are arrested, detained or abducted against their will or otherwise deprived of their liberty by officials of different branches or levels of Government, or by organized groups or private individuals acting on behalf of, or with the support, direct or indirect, consent or acquiescence of the Government, followed by a refusal to disclose the fate or whereabouts of the persons concerned or a refusal to acknowledge the deprivation of their liberty, which places such persons outside the protection of the law.“ Deutsche Übersetzung aus VN (5/1993), S. 188.

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Nach dieser Umschreibung werden also vier Kriterien als konstitutiv für den Tatbestand des „Verschwindenlassens“ angesehen: (1) Es muss sich um eine Form der Freiheitsentziehung – genannt werden hier spezifisch Festnahme, Inhaftierung oder Entführung – handeln. Diese Freiheitsentziehung muss, (2) in einem gewissen Zusammenhang mit staatlichem Agieren stehen und muss, (3) entweder geleugnet oder verschleiert werden, so dass dadurch (4) die betroffene Person außerhalb des Schutzes der Gesetze gestellt wird. Anders als diese VN-Erklärung 1992 enthält die OAS-Konvention 1994 in ihrem Art. 2 erstmals eine formelle Definition des Verschwindenlassens. 104 Demnach wird darunter der Akt des Freiheitsentzuges – diesmal unspezifisch, in welcher Form auch immer – verstanden, „ausgeführt von staatlichen Organen oder Personen, die mit staatlicher Genehmigung, Unterstützung oder stillschweigenden Duldung agieren, wobei es anschließend keinerlei Information gibt, die Anerkennung der Freiheitsentziehung oder die Auskunft über den Verbleib dieser Person verweigert wird und dadurch ihr Zugriff auf mögliche Rechtsbehelfe and verfahrensrechtliche Garantien behindert wird.“

Wie schon in der VN-Erklärung 1992 werden auch hier die vier Kriterien des Verschwindenlassens verlangt, allerdings mit zum Teil unterschiedlich gelagerter Schwerpunktsetzung. Im Gegensatz zur VN-Erklärung 1992 wird hier das erste Kriterium der Freiheitsentziehung nicht näher umschrieben, sondern schlichtweg jedwede Erscheinungsform in die Begehungshandlung mit einbezogen. Ebenso wie schon in der VN-Erklärung 1992 kommen auch hier nur staatliche (oder zumindest von einem Staat geduldete bzw. gedeckte) Akteure als Täter in Betracht und es muss ebenfalls die Anerkennung des Freiheitsentzugs und die Information über den Aufenthaltsort des Opfers verweigert werden. Auch das vierte Kriterium entspricht jenem der Erklärung der VNErklärung 1992, wenngleich hier nicht nur der fehlende Rechtsschutz als solcher, sondern – spezifischer – sowohl anwendbare Rechtsinstrumente als auch prozessuale Durchsetzungsmöglichkeiten angesprochen werden. Auch das Statut des ICC (1998) enthält in seinem Art. 7 Abs. 2 lit. (i) eine Definition des „Verschwindenlassens“, 105 die sich aber von den beiden voran___________ 104

„... forced disappearance is considered to be the act of depriving a person or persons of his or their freedom, in whatever way, perpetrated by agents of the state or by persons or groups of persons acting with the authorization, support, or acquiescence of the state, followed by an absence of information or a refusal to acknowledge that deprivation of freedom or to give information on the whereabouts of that person, thereby impeding his or her recourse to the applicable legal remedies and procedural guarantees.“ 105 „… means the arrest, detention or abduction of persons by, or with the authorization, support or acquiescence of, a State or a political organization, followed by a refusal to acknowledge that deprivation of freedom or to give information on the fate or

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gehenden Definitionen in zwei Punkten wesentlich unterscheidet. Zwar werden auch hier Freiheitsberaubung und daran anschließend die Verweigerung von deren Anerkennung bzw. der Auskunft über das Schicksal der Verschwundenen verlangt; anders als bisher wird aber der Kreis der Täter über den staatlichen Rahmen hinaus auch auf politische Organisationen – also private Akteure – ausgedehnt. Zudem bedarf es hier der erklärten Absicht, verschwundene Personen über einen längeren Zeitraum dem Schutz der Gesetze zu entziehen. Die im Schoß des Menschenrechtsrates bzw. der Generalversammlung der Vereinten Nationen angenommene Internationale Konvention 2006 schließt in ihrer in Art. 2 enthaltenen Definition 106 an die VN-Erklärung 1992 und an die OAS-Konvention 1994 an und versteht unter gewaltsamem „Verschwindenlassen“ „die Festnahme, den Entzug der Freiheit, die Entführung oder jede andere Form der Freiheitsberaubung durch Bedienstete des Staates oder durch Personen oder Gruppen von Personen, die mit Ermächtigung, Unterstützung oder Duldung des Staates handeln, gefolgt von der Weigerung, diese Freiheitsberaubung anzuerkennen, oder der Verschleierung des Schicksals oder des Verbleibs der verschwundenen Person, wodurch sie dem Schutz des Gesetzes entzogen wird.“

Das erste Kriterium, nämlich das der Freiheitsberaubung, wird damit in allen Definitionen genannt; am umfassendsten ist diesbezüglich die Formulierung in Art. 2 der Internationalen Konvention 2006, die zum einen bestimmte Formen der Freiheitsentziehung explizit anführt, darüber hinaus aber den Anwendungsbereich der Konvention durch eine zusätzliche Generalklausel – die „jede Art der Freiheitsentziehung“ erfasst – absichert und damit allfällige Lücken schließt. Am engsten gefasst ist diesbezüglich die Formulierung im Statut des ICC, wonach lediglich „Festnahme, Freiheitsentzug oder Entführung“ unter den Tatbestand des Verschwindenlassens nach dessen Art. 7 fallen sollen. Im Übrigen wird in der Internationalen Konvention 2006 auch nicht nur die ihrer Freiheit in irgendeiner Form beraubte Person selbst als „Opfer“ verstanden, sondern nach Art. 24 auch jede Person mit einbezogen, die unmittelbar aufgrund eines Akts gewaltsamen „Verschwindenlassens“ einen Schaden erlitten hat, wie z. B. Angehörige oder Versorgungsberechtigte. Hinsichtlich des zweiten Kriteriums, nämlich des Täterkreises, setzen alle Definitionsvarianten eine gewisse Involvierung staatlicher Akteure voraus, ___________ whereabouts of those persons, with the intention of removing them from the protection of the law for a prolonged period of time.“ 106 „… is considered to be the arrest, detention, abduction or any other form of deprivation of liberty committed by agents of the State or by persons or groups of persons acting with the authorization, support or acquiescence of the State, followed by a refusal to acknowledge the deprivation of liberty or by concealment of the fate or whereabouts of the disappeared person, which place such a person outside the protection of the law.“

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selbst wenn es sich dabei nur um Privatpersonen handelt, die aber mit stillschweigender staatlicher Duldung agieren. Lediglich Art. 7 Abs. 2 Statut des ICC lässt einen Bezug zu politischen Organisationen ausreichen, wenngleich dieser Begriff noch einer exakten Klärung bedarf. 107 Die Beschränkung des Täterkreises auf staatliche (oder vom Staat gedeckte) Akteure entspricht zwar der traditionellen auch in Art. 1 Abs. 1 der Antifolterkonvention festgelegten Definition; dennoch schiene es zweckmäßig, auch organisierte nichtstaatliche Akteure mit einzubeziehen, zumal das „Verschwindenlassen“ von Personen oftmals von Guerillabewegungen, paramilitärischen Einheiten oder kriminellen Banden begangen wird und ein Bezug zu staatlichen Akteuren in vielen Fällen nur schwer nachweisbar oder tatsächlich gar nicht existent ist. 108 Auch in Art. 2 der Internationalen Konvention 2006 ist die Einbeziehung eines nichtstaatlichen Täterkreises unterblieben, als Ausgleich dafür verpflichtet aber Art. 3 die Vertragsparteien, die notwendigen Maßnahmen zur Untersuchung und Aburteilung von Akten des „Verschwindenlassens“ zu ergreifen, die von Personen oder Personengruppen ohne Verbindung zum Staat begangen werden. 109 Ein wesentliches, in allen Definitionen gleichermaßen enthaltenes Element ist als drittes Kriterium jenes der Leugnung der Freiheitsberaubung und der Verheimlichung des Schicksals oder des Verbleibs der verschwundenen Person. Opfer dieser Akte werden nicht nur verschwinden gelassen, sondern es kommt als weiteres konstitutives Element noch der Umstand hinzu, dass die Tatsache des Verschwindens und der Aufenthaltsort des Opfers zwar jemandem bekannt ist, dieser aber sein Wissen darüber verheimlicht oder bewusst eine falsche Auskunft erteilt. Erforderlich ist auch das Vorliegen einer Nachfrage, sodass die bloße Nichterteilung der Auskunft ohne entsprechende Nachfrage, etwa durch die Angehörigen des Opfers, nicht ausreichen dürfte, um den Tatbestand zu verwirklichen. Anders als die anderen vertraglichen Regime verlangt Art. 7 Abs. 2 des Statuts des ICC für das vierte Kriterium die Absicht, das Opfer für einen längeren Zeitraum dem Schutz der Gesetze zu entziehen. Das subjektive Tatelement dieser Absicht ist aber mit Sicherheit schwer beweisbar, sodass dessen Einbeziehung die Gefahr einer massiven Einschränkung des sachlichen Anwendungsbereiches dieser Strafbestimmung mit sich bringt. Meist sind am Akt des „Verschwindenlassens“ auch mehrere Personen beteiligt und die unmittelbaren ___________ 107

Hall, C., Article 7 Rn. 124, in: Triffterer, O. (Hrsg.), Commentary on the Rome Statute of the International Criminal Court, 1999. 108 Nowak, Report (Fn. 55), Ziff. 73. 109 „Each State Party shall take appropriate measures to investigate acts defined in article 2 committed by persons or groups of persons acting without the authorization, support or acquiescence of the State and to bring those responsible to justice.“

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Entführer werden oft selbst nicht über das weitere Schicksal des Opfers informiert. In identer Formulierung mit der VN-Erklärung 1992 verzichtet daher auch die Internationale Konvention 2006 nicht nur auf die Einbeziehung des subjektiven Tatbestandselements der Absicht, sondern setzt das Erfordernis der „Entziehung aus dem Schutz der Gesetze“ auch dahingehend in Relation zur Verleugnung der Freiheitsberaubung, dass der Verlust des Schutzes der Gesetze als Folge der Verheimlichung der Freiheitsentziehung zu verstehen sein muss. Auch die Dauer des Entzuges des Schutzes der Gesetze wurde in den anderen Konventionen nicht aufgenommen. Eine Festlegung auf einen „längeren Zeitraum“ – wie dies Art. 7 Abs. 2 des Statuts des ICC vorsieht – würde zum einen wiederum auf eine Einschränkung der Definition und damit des Anwendungsbereiches hinauslaufen und wäre zum anderen in ihrer Formulierung wohl zu unbestimmt. Dementsprechend wird ein Akt des „Verschwindenlassens“ wohl bereits mit der Freiheitsentziehung und deren Leugnung vorliegen, gleichzeitig aber doch das für das Erscheinungsbild des „Verschwindenlassens“ charakteristische Element der Ungewissheit über das Schicksal und des Verbleibs der entführten Person mit zu berücksichtigen sein. Dafür spricht auch die bereits in Art. 17 der VN-Erklärung 1992, in Art. III der OAS-Konvention 1994 und in Art. 8 der Internationalen Konvention 2006 vorgenommene Qualifizierung des „Verschwindenlassens“ als Dauerdelikt, das erst mit der Klärung des Schicksals und des Aufenthaltsortes des Opfers als beendet anzusehen ist. 2. Tatbestandliche Qualifikation des „Verschwindenlassens“ als Verbrechen gegen die Menschlichkeit In der Regel umfasst der komplexe Tatbestand des „Verbrechens gegen die Menschlichkeit“ staatlich organisierte oder gedeckte unmenschliche Taten, die aus politischen oder ideologischen Gründen begangen werden und in ihrem Ausmaß den internationalen Menschenrechtsstandard massiv verletzen. 110 Der Tatbestand mit der Folge einer von der innerstaatlichen Strafbarkeit unabhängigen völkerstrafrechtlichen Verantwortlichkeit des Einzelnen wurde erstmals im Rahmen der Nürnberger Prozesse judiziert. Neben den „Verbrechen gegen den Frieden“ und den „Kriegsverbrechen“ stellte das Statut des Nürnberger Tribunals 111 in seinem Art. 6 lit. c) auch die „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ unter Strafe. Dieser Straftatbestand wies aber noch keine scharfen ___________ 110

Bruer-Schäfer, A., Der internationale Strafgerichtshof, 2001, S. 163. Text abgedruckt in: 39 American Journal of International Law 1945, Suppl., S. 257. 111

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Konturen auf 112 , sondern umfasste neben der Ermordung, Ausrottung, Versklavung und Verschleppung „jede andere an der Zivilbevölkerung begangene unmenschliche Handlung“ und ließ eine Bestrafung nur dann zu, wenn die – nach Kriegsbeginn begangene – Tat in Verbindung mit einem der anderen beiden im Statut genannten Delikte stand. Das Statut enthielt aber noch keinen expliziten Verweis auf gewaltsames Verschwindenlassen. Dementsprechend wurde Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, der sich als erste Person wegen eines Akts des Verschwindenlassens vor einem internationalen Gericht zu verantworten hatte, auch nicht wegen der Begehung eines „Verbrechens gegen die Menschlichkeit“, sondern wegen „Kriegsverbrechen“ verurteilt 113 . Die Statuten der beiden VN-Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) 114 und für Ruanda (ICTR) 115 übernahmen die Straftatbestände des Nürnberger Statuts, fügten diesen aber die Tatalternativen der Inhaftierung, Folter, Vergewaltigung, und der Verfolgung aufgrund religiöser, rassischer oder politischer Gründe hinzu und verlangten außerdem, dass die Verbrechen – die auch hier gegen die Zivilbevölkerung gerichtet sein müssen – in einem internationalen oder internen bewaffneten Konflikt begangen worden sein mussten. 116 Die in Art. 3 ICTR-Statut genannte weitere Voraussetzung, dass die Tathandlung als Teil eines „ausgedehnten oder systematischen Angriffs“ begangen werden muss, fehlt zwar im entsprechenden Art. 5 ICTY-Statut, wird aber als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal auch dort hinzuzudenken sein. 117 Obwohl gewaltsames Verschwindenlassen sowohl im ehemaligen Jugoslawien als auch in Ruanda in großem Umfang praktiziert wurde, sehen die Statuten der beiden Ad-hoc-Tribunale das „Verschwindenlassen“ aber nicht als eigene Handlungsalternative vor. ___________ 112 Gornig, G., Die Verantwortlichkeit politischer Funktionsträger nach völkerrechtlichem Strafrecht, NJ 46 (1992), S. 4 (8). Immerhin wurde durch die „Convention on the Non-Applicability of Statutory Limitations to War Crimes and Crimes against Humanity“ (Anhang zur VN-GV-Res. 2391 (XXIII) vom 26.11.1968) für Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum einen die Unabdingbarkeit durch nationale Gesetze und zum anderen deren Nicht-Verjährbarkeit festgeschrieben. 113 Hall (Fn. 107), Rn. 73. 114 SR-Res 827 (1993) vom 25.05.1993. 115 SR-Res 955 (1994) vom 08.11.1994. 116 Zur Frage, ob der Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit Bestandteil des Völkergewohnheitsrechts geworden ist, siehe ausführlich König, K.-M., Die völkerrechtliche Legitimation der Strafgewalt internationaler Strafjustiz, 2003, S. 239, der meint, dass mit der Anbindung an einen bewaffneten Konflikt (ein Element, das nur im Statut des ICTY, nicht aber im ICTR-Statut verlangt wird) „offenbar die Herleitung des Tatbestandes aus dem humanitären Völkerrecht ermöglicht und dadurch Zweifeln an der gewohnheitsrechtlichen Geltung des Tatbestandes entgegengetreten werden sollte.“ 117 König, ebda.

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Erst das Statut des ICC erweiterte neuerlich den Katalog der Tathandlungen und führte in Art. 7 – unter insgesamt elf Handlungsalternativen – auch das zwangsweise Verschwindenlassen von Personen ausdrücklich als Handlung, die gemäß dessen Abs. 1 lit i) als ein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ anzusehen ist, ein. Während der Nexus mit anderen Straftaten oder mit einem bewaffneten Konflikt als Tatbestandsmerkmal in der Eingangsformulierung des Art. 7 Abs. 1 ICC-Statut fallen gelassen wurde 118 , ist es nach wie vor erforderlich, dass die Tat gegen die Zivilbevölkerung gerichtet sein und als Teil eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs – und in Kenntnis des Angriffs – begangen werden muss. Die Tathandlung wird damit zum einen gegenüber Kombattanten und zum anderen gegenüber isolierten, nur gegen Einzelpersonen gerichteten Akten abgegrenzt. In Bezug auf das Tatbestandsmerkmal des ausgedehnten oder systematischen Angriffs („widespread or systematic attack“) hat der ICTY bereits 1996 in seiner „Vukovar Hospital Decision“ klargestellt, dass diese Voraussetzungen nicht kumulativ vorliegen müssen sondern i. S. v. Alternativerfordernissen zu verstehen sind und dass die Tat sehr wohl auch von einer Einzelperson an einem einzelnen Opfer oder einer beschränkten Anzahl von Opfern begangen werden kann, solange sich die Tat nur in den Kontext eines groß angelegten oder methodisch geplanten Angriffs einordnen lässt. 119 In der Legaldefinition des Art. 7 Abs. 2 lit a) ICC-Statut wird für den „Angriff auf die Zivilbevölkerung“ ein „Politikelement“ eingeführt, indem verlangt wird, dass dieser Angriff „in Ausführung oder zur Unterstützung der Politik eines Staates oder einer Organisation, die einen solchen Angriff zum Ziel hat“, erfolgt. Während die Generalversammlung der OAS bereits in ihrer Resolution aus dem Jahr 1983 das Verschwindenlassen von Personen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnet, enthält die VN-Erklärung 1992 in ihrem vierten Präambelparagraf lediglich eine Kompromissformel dergestalt, dass das systematische Praktizieren des Verschwindenlassens einem Verbrechen gegen die ___________ 118 Wegweisend war diesbezüglich die Rechtsprechung der Berufungskammer des ICTY im Fall Prosecutor v. Tadic, Case Nr. IT-94-1, A. C., vom 02.10.1995 („Appeals Chamber Decision“), Ziff. 78, 140-141: „It is by now a settled rule of customary international law that crimes against humanity do not require a connection to international armed conflict“. 119 „(...) as long as there is a link with the widespread or systematic attack against a civilian population, a single act could qualify as a crime against humanity. As such, an individual committing a crime against a single victim or a limited number of victims might be recognized as guilty of a crime against humanity if his acts were part of the specific context identified above.“ The Prosecutor v. Mrksic et al., Review of the Indictment Pursuant to Rule 61 of the Rules of Procedure and Evidence, Case No. IT-9513-R61, T. Ch. I, („Vukovar Hospital Decision“) vom 03.04.1996, Ziff. 30. Diese Auffassung wurde im Fall The Prosecutor v. Dusko Tadic, Case No. IT-94-I-T, Urteil der Strafkammer vom 07.05.1997, Ziff. 646 ff., bestätigt.

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Menschlichkeit gleichkommt [„(...) is of the nature of a crime against humanity“]. Die OAS-Konvention 1994 wiederum erklärt dagegen in ihrem sechsten Präambelparagraf die systematische Begehung von Akten des gewaltsamen Verschwindenlassens von Personen ausdrücklich als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ 120 . Etwas präziser formuliert die Internationale Konvention 2006, die sowohl in ihrem fünften Präambelparagraf festhält, dass gewaltsames Verschwindenlassen „in certain circumstances defined in international law“ als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zu qualifizieren ist, und darüber hinaus in ihrem Art. 5 bestimmt, dass „the widespread or systematic practice of enforced disappearance constitutes a crime against humanity as defined in applicable international law and shall attract the consequences provided for under such applicable international law.“ Damit konstituiert Art. 5 die ausgedehnte oder systematische Begehung des Verschwindenlassens ausdrücklich als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, das nach Art. 4 von den Vertragsparteien auch im nationalen Strafrecht umgesetzt und nach Art. 7 mit Strafen bedroht werden soll, die die außerordentliche Schwere der Tat berücksichtigen. Im Übrigen verweist Art. 5 auf das „anwendbare“ Völkerrecht. Wenngleich es heute als gesichert gilt, dass der Straftatbestand des „Verbrechens gegen die Menschlichkeit“ Bestandteil des Völkergewohnheitsrechts ist, existiert aber nach wie vor keine allgemein anerkannte Definition des Tatbestandes. Dennoch haben sich bestimmte Tatbestandsmerkmale herauskristallisiert, die einem gewohnheitsrechtlich anerkannten Kerntatbestand zugeordnet werden können. Dazu zählt jedenfalls der Zusammenhang mit einem ausgedehnten oder systematischen Angriff auf die Zivilbevölkerung, der durch einen politischen Hintergrund gekennzeichnet wird. 121 Allerdings fehlt eine rechtsverbindliche Normierung, welche Rechtsfolgen mit der Qualifizierung als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ verbunden sind. Bei diesen so genannten „delicta iuris gentium“ 122 verfügt das Völkerrecht nicht selbst unmittelbar die Strafbarkeit, sondern verpflichtet nur die Staaten zur Strafbarerklärung, sodass nicht das Völkerrecht selbst, sondern vielmehr die staatliche (strafrechtliche) Durchführungsnorm die Grundlage für die Verfolgung und Bestrafung der Täter bildet.

___________ 120 „(...) the systematic practice of the forced disappearance of persons constitutes a crime against humanity“. 121 König (Fn. 116), S. 411. 122 Vgl. dazu Werle (Fn. 54), S. 42 ff. (44); Seidl-Hohenveldern, I. / Hummer, W., Die Staaten, in: Neuhold / Hummer / Schreuer (Hrsg.) (Fn. 75), S. 148, Rn. 756.

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X. Techniken der Aufarbeitung und Sühnung des „Verschwindenlassens“ Als denkmögliche Arten strafrechtlicher Reaktion auf Systemunrecht (i. S. staatsgestützter Kriminalität) in Zeiten der Transition politischer Systeme – wie das „Verschwindenlassen“ ja eines darstellt – lassen sich, vereinfacht ausgedrückt, folgende grundsätzliche Modelle unterscheiden: (1) Normbezogene Reaktionen, wie z. B. Erlass einer neuen Strafgesetzgebung oder Abschaffung von Pardonierungs-Gesetzen etc.; (2) Täterbezogene Reaktionen, wie Strafverfolgung oder Strafverzicht (Schlussstrich- oder Versöhnungsmodelle); (3) Opferbezogene Reaktionen, wie z. B. Rehabilitierung, Wiedergutmachung, Entschädigung etc.; (4) Institutionsbezogene Reaktionen, wie z. B. Einsetzung von Aufklärungsbehörden bzw. Wahrheitskommissionen, Abschaffung der Geheimpolizei etc. 123 Einzelne Elemente dieser idealtypischen Modelle sind untereinander vertauschbar bzw. mehrfach zuordenbar, wie z. B. die Einrichtung von Wahrheitskommissionen, die nicht nur eine institutionsbezogene, sondern letztlich auch eine täterbezogene – als Versöhnungsmodell – Reaktion auf Systemunrecht darstellen. Was den hier vor allem interessierenden Falltypus (2), nämlich die täterbezogene Reaktion der strafrechtlichen Vergangenheitsbewältigung betrifft, so kann das Modell (a) der Strafverfolgung in eine umfassende Strafverfolgung oder in eine eingeschränkte Strafverfolgung bzw. einen eingeschränkten Strafverzicht unterteilt werden. Das Modell (b) des Strafverzichts wiederum lässt sich in einen bedingten und einen unbedingten Strafverzicht aufdifferenzieren. Vereinfacht kann man das täterbezogene Strafverzichtsmodell wiederum in (ba) so genannte „Schlussstrichmodelle“ – die wieder in absolute und relative Modelle unterteilt werden können – und (bb) „Versöhnungsmodelle“ unterscheiden. 124 Das absolute „Schlussstrichmodell“ bezeichnet eine Vorgangsweise, bei der überhaupt keine Strafverfolgung früheren Systemunrechts vorgenommen wurde, während beim relativen Schlussstrichmodell nur eine auf bestimmte Taten oder Täter beschränkte strafrechtliche Reaktion festzustellen ist. Des weiteren wird bei den Schlussstrichmodellen danach differenziert, inwieweit neben dem Strafverzicht bzw. der eingeschränkten Strafverfolgung eine ___________ 123 Sancinetti, M. / Ferrante, M., Argentinien, Bd. 3 der von Eser, A. und Arnold, J. herausgegebenen Reihe Strafrecht in Reaktion auf Systemunrecht. Vergleichende Einblicke in Transitionsprozesse, 2002, S. 16 f. 124 Sancinetti / Ferrante (Fn. 123), S. 14 f.

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Rehabilitierung der Opfer des Systemunrechts erfolgt ist oder nicht. Das „Versöhnungsmodell“ wiederum versucht weniger das Strafrecht einzusetzen, sondern vielmehr Täter und Opfer durch die Arbeit von Wahrheitskommissionen auszusöhnen. 125 Zur besseren Veranschaulichung dieser komplexen Zusammenhänge werden in diesem Zusammenhang die täterbezogenen Reaktionen in folgende drei Alternativen aufdifferenziert: (1) die justizielle Verfolgung und Aburteilung, (2) die Aufarbeitung durch „Wahrheitskommissionen“ sowie (3) die Straflosstellung bzw. Pardonierung des Verbrechens. Schwerpunkt der nachstehenden Ausführungen ist die dritte Alternative, so dass die beiden anderen Varianten nur exemplarisch dargestellt werden.

1. Justizielle Verfolgung und Aburteilung Was den Beginn der strafrechtlichen Aufarbeitung der Verbrechen des „Verschwindenlassens“ betrifft, lässt sich in den Cono-Sur-Staaten Argentinien, Uruguay und Chile eine beinahe unglaubliche Duplizität der Fälle diagnostizieren. In Argentinien wurde genau 30 (!) Jahre nach dem Verschwinden von sieben Jugendlichen und der Ermordung von fünf von ihnen 126 zwischen dem 16. und 21. September 1976 in La Plata (bekannt geworden unter dem Begriff „Die Nacht der Bleistifte“ 127 ) einem der drei Polizeibeamten 128 , die dieses Verbrechen ausgeführt hatten, der Prozess gemacht, ein Verfahren, das lawinenartig eine Reihe weiterer einschlägiger Verfahren ausgelöst hat. Damit kam es zum zweiten mal – nach der Verurteilung von Julio Simón, alias Turco Julián 129 – nach der Annullierung der beiden Pardon-Gesetze 130 zur Eröffnung eines Strafverfahrens gegen einen Polizeiangehörigen wegen eines Verbrechens, das während der Militärdiktatur (1976–1983) begangen wurde. Miguel Etchecolatz, der damalige Vizechef der Polizei der Provinz Buenos Aires, 131 wurde am 19. September 2006 durch das Bundesgericht Nr. 1 von La ___________ 125

Vgl. dazu Kap. X.2. Pablo Díaz, Emilce Moler, María Claudia Falcone, María Clara Ciocchini, Francisco López Muntaner, Daniel Racero, Horacio Ungaro und Claudio de Acha; Díaz und Moler überlebten die Folter und kamen frei. 127 „La Noche de los Lápices“; Seoane, M., La Noche de los Lápices: una deuda abierta, in: Clarin (Buenos Aires), vom 16.09.2006, S. 12. 128 Miguel Etchecolatz, Valentín Pretti (alias „Saracho“) und Roberto Grillo. 129 Vgl. nachstehend bei Fn. 182. 130 Vgl. dazu Kap. X.3.a). 131 Die Polizei der Provinz Buenos Aires wurde von 1976 bis 1979 vom gefürchteten Polizeichef Ramón Camps geleitet; Lucesole, M. J., Condenaron a reclusión perpetua a Etchecolatz, in: La Nación (Buenos Aires), vom 20.09.2006. 126

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Plata als Strafgericht 132 wegen sechsfachen Mordes und zweier Entführungen sowie Folterungen – wobei das Gericht expressis verbis den Begriff „Genozid“ für die Verbrechen der Militärjunta benützte, die auf eine systematische Auslöschung der „subversiven Kräfte“ abzielten 133 – zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Auf seine Bitte hin, die Strafe „im Hausarrest“ verbringen zu können, wiesen die Richter darauf hin, dass ein Gewaltverbrecher wie er „nicht einen einzigen Tag außerhalb des Gefängnisses verbringen dürfe“. 134 Das in diesem Verfahren als Zeuge geführte 77-jährige Folteropfer Jorge Julio López verschwand, nachdem es seine Zeugenaussage deponiert hatte, ebenfalls spurlos. 135 Dieser Vorfall veranlasste den Vorsitzenden der Strafkammer – der selber eine Reihe von Morddrohungen erhalten hatte – um darauf hinzuweisen, dass das argentinische Zeugenschutzprogramm unbedingt verstärkt gehöre, damit es nicht zu einer Einschüchterung wichtiger Belastungszeugen in den bereits laufenden über dreißig Strafverfahren komme. 136 Am 29. Dezember 2006 verschwand ein weiterer Zeuge, der bei einem Parlamentshearing einen früheren Polizeichef der Folter und des Verschwindenlassens beschuldigt hatte. Luis Gerez hatte den Ex-Polizeichef Luis Patti dieser während der Militärdiktatur begangenen Verbrechen beschuldigt und verschwand daraufhin spurlos. 137 Wie sich die Bilder gleichen! Ebenfalls genau 30 Jahre nach dem Verschwinden ihres Mannes Adalberto Waldemar Soba Fernández am 26. September 1976 – ebenfalls während der Militärdiktatur in Argentinien – wurde in derselben Woche (!) dessen Frau María Elena Laguna von der uruguayanischen Untersuchungsrichterin Mirtha Guianze und dem Strafrichter Luis Charles 138 über die näheren Umstände der Entführung und der Verbringung ihres Mannes in das berüchtigte Geheimgefängnis und die Folterzentrale Automotores Orletti in Buenos Aires 139 befragt. Damit nahm am 8. September 2006 der erste uruguayanische Strafprozess gegen sechs Mitglieder des militärischen Geheim___________ 132

Die Richter waren Carlos Rozanski, Horacio Insaurralde und Norberto Lorenzo; vgl. Lara, R., Condenan a reclusión perpetua a Etchecolatz, in: El País (Buenos Aires), vom 20.09.2006. 133 La figura del genocidio, in: La Nación (Buenos Aires), vom 21.09.2006. 134 „Un criminal de tal envergadura como Ud. no puede pasar un día fuera de la cárcel; Etchecolatz no puede pasar un día fuera de la cárcel“, in: La Nación (Buenos Aires), vom 26.09.2006. 135 Vgl. Zeuge verschwunden, in: Salzburger Nachrichten, vom 29.09.2006, S. 7. 136 El juez amenazado teme que el caso López afecte otras declaraciones, in: La Nación (Buenos Aires), vom 28.09.2006; Neue Urteile über Argentiniens Staatsterror, in: Neue Zürcher Zeitung vom 29.09.2006, S. 7. 137 Zeuge gegen Folterer in Argentinien verschwunden, in: Neue Zürcher Zeitung vom 30./31.12.2006, S. 5. 138 Juez letrado en lo Penal de 19o Turno in Buenos Aires. 139 Vgl. Gómez, S., Las tinieblas de Orletti, in: El Observador (Montevideo) vom 16.09.2006, S. 3.

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dienstes (OCOA) 140 und zwei Angehörige einer speziellen Polizeieinheit zur Terrorbekämpfung 141 seinen Anfang, gegen die der argentinische Staatsanwalt Daniel Rafecas einen Haftbefehl erwirkt hatte. Aufgrund der politisch nach der Klage Argentiniens gegen Uruguay vor dem IGH wegen des Baues zweier Zellulose-Fabriken am Río Uruguay 142 sehr angespannten politischen Beziehungen zwischen den beiden Nachbarstaaten zog es Uruguay vor, diesem Auslieferungsbegehren nicht nachzukommen, sondern den Strafprozess in Uruguay selbst abzuführen. Den acht Angeklagten wurden die beiden Delikte der kriminellen Bandenbildung und der Entführung von Personen 143 zur Last gelegt. 144 Wenige Tage vor seiner Vorladung hatte sich der Zeuge Juan Antonio Rodríguez Buratti das Leben genommen, da er fürchtete, ebenfalls angeklagt zu werden. 145 Am 11. September 2006 wurden die acht Angeklagten schuldig gesprochen, zwei linksorientierte uruguayanische Staatsangehörige im benachbarten Argentinien entführt zu haben. 146 Das Strafmaß wird später festgelegt, da noch weitere Anklagepunkte folgen könnten. 147 In der Presse wurde diese erste Verurteilung wegen Verbrechen, die Militär- und Polizeiangehörige während der uruguayanischen Militärdiktatur (1973–1985) begangen hatten, mit den Worten kommentiert: „Uruguay verliert jetzt seinen Status eines ‚Paradieses der Straffreiheit‘“. 148 ___________ 140 José Nino Gavazzo, Gilberto Vázquez, Jorge Alberto Silveira, Ernesto Ramas, José Ricardo Arab und Luis Alfredo Maurente. Gegen Manuel Cordero, der sich in der Zwischenzeit nach São Paulo absetzen konnte, erging ein internationaler Haftbefehl; Fernandez, F., Cordero está „preocupado“, in: El País (Montevideo) vom 13.09.2006, S. 5. 141 Ricardo José Medina und José Felipe Sande Lima; Roba, N., Mandos militares serán citados en nueva etapa de indagatoria, in: El País (Montevideo) vom 13.09.2006, S. 4. 142 Vgl. dazu Hummer, W., Der lange Arm von Greenpeace. Umweltprobleme am Río Uruguay, in: GIGA/Institut für Iberoamerika-Kunde Hamburg (Hrsg.), Lateinamerika Analysen 14 (2/2006), S. 207 ff. 143 Die Höchststrafe für dieses Delikt beträgt nach argentinischem Strafrecht 12 Jahre; vgl. Rossello, R., El cúmulo de testimonios contra los represores determinó el fallo, in: El País (Montevideo), vom 13.09.2006, S. 5. 144 Expediente 2-43332/2005. 145 Muerto. Cuando la policía fue a detenerlo para conducirlo al juzgado, el retirado se pegó un tiro. Falleció una hora y media después en el Militar. Rodríguez Buratti resistió detención, in: El País (Montevideo) vom 11.09.2006, S. 5. 146 Vgl. Uruguay stellt sich Diktatur-Ära, in: Salzburger Nachrichten, vom 13.09. 2006, S. 8; Militares a la sombra, TLC que se entrevé, gremios de paro por consejos tardíos, in: Domingos de el País (Montevideo) vom 17.09.2006, S. 3. 147 Vgl. Pernas, W., Adiós a Babilonia, in: Brecha (Montevideo) vom 15.09.2003, S. 3. 148 Uruguay comenzó a dejar de ser „el paraíso de la impunidad“; Una semana histórica, in: Brecha (Montevideo), vom 15.09.2006, S. 2; vgl. dazu die „Ley de la Ca-

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In Chile wiederum blieben die Verbrechen, die während der Militärdiktatur Augusto Pinochets (1973–1990) begangen wurden, ebenfalls über 30 Jahre lang ungesühnt. Mit dem Tod Pinochets am 10. Dezember 2006 kündigt sich nunmehr eine positive Stimmung für die Ergreifung von Menschenrechtsbeschwerden der Angehörigen der über 3.000 „Verschwundenen“ an. 149 Pinochet selbst stand zuletzt unter Hausarrest, nachdem gegen ihn Anklage wegen der Entführung und Ermordung von zwei Leibwächtern des von ihm am 11. September 1973 gestürzten Präsidenten Salvador Allende erhoben worden war. An seinem 91. Geburtstag, am 25. November 2006, hatte er erstmals die „politische Verantwortung“ für die Aktionen seiner Junta übernommen, die seines Erachtens aber alle notwendig waren, „um den Zerfall Chiles“ zu verhindern. 150 Ein Wort des Bedauerns fand Pinochet dabei nicht.

2. Aufarbeitung durch „Wahrheitskommissionen“ Dort, wo aus innenpolitischen Gründen keine juristische Sanktionierung des Verbrechens des „Verschwindenlassens“ möglich war, versuchte man den traumatisierten Opfern andere Formen der öffentlichen Aufarbeitung der erlittenen Qualen zu ermöglichen. Durch das so genannte „testimonio“ – im Deutschen häufig irreführend mit „Zeugenaussage“ übersetzt – soll den Opfern die Möglichkeit gegeben werden, im öffentlichen (oder aber anonymen) Raum von dem Erlittenen Zeugnis abzulegen. Dafür wurden im Zuge der demokratischen Transitionen in den Staaten des Cono Sur Lateinamerikas in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts erstmals so genannte „Wahrheitskommissionen“ („Comisiones de la verdad“) eingesetzt, die dann auch auf anderen Kontinenten verwendet wurden, wie z. B. in Nordirland 151 oder in Südafrika, wo Mitte der 1990er Jahre die bekannte „Truth and Reconciliation Commission“ (TRC) errichtet wurde. Die „Wahrheitskommissionen“ stellten eine Reaktion auf drei historische Herausforderungen dar, die die damaligen lateinamerikanischen Wirklichkeiten charakterisierten: zum einen bestand das Eigentümliche an der politischen Ge___________ ducidad de la Pretencion Punitiva del Estado“ vom 22.12.1986 (Ley 15.848); siehe dazu Alfonso, A., Buscando a los desaparecidos, 2003; Alfonso, A., Encontrando a los desaparecidos, 2006. 149 Vgl. Amman, B., Pinochet – Massenmörder oder Chiles Retter?, in: Neue Zürcher Zeitung vom 11.12.2006, S. 5. 150 Augusto Pinochet in Santiago gestorben, in: Neue Zürcher Zeitung vom 11.12.2006, S. 1; Augusto Pinochet ist gestorben, a. a. O., S. 8. 151 Vgl. Connolly, C., Living on the Past: The Role of Truth Commissions in PostConflict Societies and the Case Study of Northern Ireland, in: Cornell International Law Journal 2006, S. 401 ff.

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walt in Lateinamerika in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Anwendung klandestiner Repressionspraktiken mit der gleichzeitigen Systematisierung der Straflosigkeit (impunidad). Dagegen entstanden starke Oppositionsund Menschenrechtsbewegungen, die zwei Forderungen erhoben, nämlich die Aufklärung und das Ende der „impunidad“. Als drittes Element sind schließlich die Militärs zu erwähnen, die die Möglichkeiten des politischen Übergangs (transición) bestimmten.152 Angesichts der Haltung der Militärs, die an keiner Inkriminierung ihres Verhaltens interessiert waren und die gegen jede Form der aktiven Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ihr gewaltsames Veto einzulegen drohten, suchten die politischen Eliten nach einer alternativen Form der „Vergangenheitsbewältigung“, die sie letztlich in der Einsetzung von „Wahrheitskommissionen“ zu finden glaubten.153 Dementsprechend verkündete auch der in Argentinien nach der Abdankung des Militärregimes 1983 an die Macht gekommene Präsident Raúl Alfonsín bereits im selben Jahr die Einsetzung einer „Nationalen Kommission über das Verschwindenlassen von Personen“ (Comisión Nacional sobre la Desaparición de Personas, CONADEP), deren Schlussbericht – „Argentina – Nunca Más“154 – schon nach neun Monaten vorgelegt wurde und das spurlose Verschwinden von 8.963 Personen sowie die Existenz von 340 geheimen Folterzentren nachweisen konnte. Die CONADEP hatte für die Erstellung dieses Schlussberichts 7.000 Opfer bzw. deren Angehörige angehört. In der Folge wurden in ganz Lateinamerika155 weitere 12 offizielle Wahrheitskommissionen eingesetzt,156 die alle versucht haben, den staatlichen Terror entsprechend aufzuarbeiten. Ihre Arbeit wurde durch eine Reihe von „wahrheitskommissionsähnlichen“ – staatlichen oder zivilgesellschaftlichen – Institutionen zur Aufarbeitung gravierender Menschenrechtsverletzungen ergänzt. In Chile wurden in diesem Zusammenhang von der im April 1990 eingesetzten „Nationalen Kommission für Wahrheit und Versöhnung“ 3.400 Personen angehört. Die 1999 gegründete „Vereinigung von ehemaligen politischen Häftlingen in Chile“ (Agrupación de Ex-Presos Políticos de Chile) thematisierte in der Folge die Frage der Entschädigung der Folteropfer und die von Präsident Lagos im Jahre 2003 eingesetzte „Nationale Kommission über politische Haft und ___________ 152 Vgl. dazu Pasqualucci, M., The Whole Truth and Nothing but the Truth: Truth Commissions, Impunity and the Inter-American Human Rights System, in: Boston University International Law Journal 1994, S. 321 ff.; Oettler, A., Mehrdimensionale Aufarbeitung: Wahrheitskommissionen in Lateinamerika, in: GIGA (Fn. 142), S. 115 f. 153 Vgl. Bartelt, S., Die Zulässigkeit von Wahrheitskommissionen im Lichte des neuen Internationalen Strafgerichtshofs, in: AVR 2005, S. 187 ff. 154 CONADEP 1985, S. 16, 479; vgl. Fn. 6. 155 Oettler (Fn. 152), S. 116: „Wahrheitskommissionen sind, so ließe sich überspitzt formulieren, eine ureigene lateinamerikanische Angelegenheit“. 156 Für eine Zusammenstellung derselben siehe Oettler (Fn. 152), S. 134 f.

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Folter“ – die so genannte „Valech-Kommission“ – hörte 35.868 Personen an. Von dieser wurden 27.255 Personen der Opferstatus zuerkannt, lediglich 6.845 Personen (19 % der Angehörten) wurde die Zuerkennung des Status eines Opfers von politischer Haft und Folter verweigert. In Guatemala wurden 7.338 individuelle und 500 kollektive Zeugnisse dokumentiert. Die Kommission für Wahrheit und Versöhnung in Peru, die am 2. Juni 2001157 eingesetzt wurde, hatte das Schicksal von über 70.000 Toten während des peruanischen Bürgerkrieges zwischen 1980 und 2000 aufzuklären. In neuerer Zeit wurden außerdem Wahrheitskommissionen im Rahmen der Friedensabkommen für Osttimor und für Sierra Leone errichtet und auch in Ruanda wurde eine spezielle „Commission on Inquiry“ geschaffen. Durch die jeweiligen Schlussberichte der Wahrheitskommissionen wurde aus Fragmenten individueller Leidensgeschichten ein „kollektives Wissen“ um die Vorgänge in den geheimen Folterzentren erzeugt, die es den jeweiligen Gesellschaften nicht mehr erlaubte, zu behaupten, von der staatlichen Repression nichts gewusst zu haben. Dementsprechend gingen auch am 24. März 2006, dem 30. Jahrestag des argentinischen Militärputsches, in Buenos Aires mehr als 100.000 Menschen auf die Straße, um an einer Demonstration teilzunehmen, zu der nicht weniger als 300 Organisationen aufgerufen hatten. Als markantestes Element einer institutionalisierten Erinnerungsbewahrung der Vorgänge unter dem Militärregime (1976–1983) ist die Umwandlung des berüchtigtsten Folterzentrums der damaligen Zeit, der „Escuela Mecánica de la Armada“ (ESMA) in Buenos Aires,158 in ein Erinnerungs-Museum zu erwähnen. Darüber hinaus hat der argentinische Präsident, Néstor Kirchner, angeregt, den 24. März zum offiziellen Gedenktag für die „Verschwundenen“ zu erklären. Damit schließt er an eine Initiative der FEDEFAM an, die den 30. August zum „Internationalen Tag der Verschwundenen“ erklärt hat, der alljährlich an das Schicksal verschwundener Personen erinnern soll.

___________ 157 Decreto supremo No. 065-2001-PCM; vgl. dazu Oelschlegel, A., El Informe final de la Comisión de la Verdad y Reconciliación en el Perú. Un resumen crítico respecto a los avances de sus recomendaciones, in: Konrad Adenauer-Stiftung/Programa Estado de Derecho para Sudamérica (Hrsg.), Anuario de Derecho Constitucional latinoamericano 2006, Tomo II, S. 1335 ff. 158 Vgl. dazu Guest, I., Behind the Disappearences, 1990, S. 34 ff.

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3. „Impunidad“ – Pardonierung bzw. Straflosigkeit des Verschwindenlassens Die lateinamerikanische Literatur verwendet in Zusammenhang mit einer Straflosstellung eines Täters den Begriff „impunidad“ („impunity“) 159 , unter dem sie die Straflosstellung bzw. Pardonierung von strafrechtlichen Delikten im Allgemeinen bzw. von Menschenrechtsverletzungen im Speziellen versteht, die zu einer Nichtbestrafung und damit zu einer Straflosigkeit des Täters führt. Der Begriff ist allerdings ausgesprochen schillernd und wird in folgenden Zusammenhängen gebraucht: Zunächst wird zwischen (1) normativer und (2) faktischer impunidad unterschieden, je nachdem ob die Straflosigkeit expressis verbis von Normen – insbesondere von Amnestie- und Begnadigungsvorschriften – angeordnet wird, oder aber aus dem Umstand einer tatsächlichen Nichtverfolgung und Bestrafung eines Verbrechens resultiert. Des Weiteren kann man zwischen einer (3) materiellrechtlichen und einer (4) prozeduralen impunidad unterscheiden, wobei sich Erstere auf die verfolgbaren Straftaten und Letztere auf Verfahrenshindernisse der Strafverfolgung bezieht. Ad (3) Im Rahmen der materiellrechtlichen impunidad kann man wiederum zwischen einer impunidad im weiteren und einer im engeren Sinn unterscheiden. Impunidad im weiteren Sinn bezieht sich auf die dem allgemeinen Strafrecht zuzuordnenden Taten, während impunidad im engeren Sinn (nur) an Menschenrechtsverletzungen anknüpft – die allerdings wiederum in spezieller Weise „qualifiziert“ sein müssen: Erstens muss es sich dabei um durch Staaten begangene Verletzungen von – zweitens – (bloß) „bürgerlichen“ und „politischen“ Menschenrechten (d. h. Menschenrechten der „ersten Generation“) 160 handeln, die – drittens – einen schweren und systematischen Charakter aufweisen. Ad (4) Im Rahmen der prozeduralen impunidad bietet sich eine Differenzierung der Verfolgungshindernisse einer Straftat nach dem jeweiligen Verfahrensstand an, da es sich dabei um solche im Ermittlungs- oder Hauptverfahren sowie im Rahmen des Strafvollzuges handeln kann. In diesem Zusammenhang werden in der einschlägigen lateinamerikanischen Literatur folgende fünf Verfahrenshindernisse unterschieden: (a) faktische impunidad aufgrund fehlender Anzeige von Straftaten (impunidad de hecho); ___________ 159 Davon sind strikt Begriffe wie „impunibilidad“ (Nichtstrafbarkeit), „imputabilidad“ (Schuldfähigkeit) oder „inmunidad“ (Immunität) zu unterscheiden; vgl. Ambos (Fn. 3), S. 7. 160 Vgl. dazu Hummer (Fn. 74), S. 260, Rn.1350.

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(b) impunidad aufgrund mangelhafter Ermittlungstätigkeit (impunidad investigativa); (c) impunidad aufgrund einer Überlastung der Strafjustiz (impunidad por congestión); (d) impunidad aufgrund prozeduraler Regelungen oder einer Spezialgesetzgebung (impunidad legal) sowie (e) impunidad aufgrund deliktischer Handlungen und Zwangsmaßnahmen gegen Verfahrensbeteiligte (impunidad delictuosa). 161 Ambos fügt diesen prozeduralen Hindernissen noch ein weiteres, nämlich eine Art „Nachverlagerung“ 162 hinzu, von der man dann sprechen kann, wenn impunidad in Zusammenhang mit (fehlender) Entschädigung und Rehabilitierung der Opfer von schweren Menschenrechtsverletzungen erwähnt wird. Der Grund dafür liegt darin, dass strafrechtliche Ermittlungen und Verurteilungen in der Regel eine rechtliche bzw. faktische Vorbedingung für (zivilrechtliche) Entschädigungsansprüche darstellen. In diesem Zusammenhang verletzt eine impunidad daher unmittelbar auch den Grundsatz angemessener Entschädigung bei schweren Menschenrechtsverletzungen. Damit macht eine prozedurale Schauweise deutlich, dass eine Interdependenz zwischen der Prävention und der Bestrafung von Menschenrechtsverletzungen und der Entschädigung der Opfer besteht. Im Rahmen der gegenständlichen Untersuchung wird zum einen nur von der impunidad im engeren Sinn, d. h. von der fehlenden Bestrafung oder Strafverfolgung von Menschenrechtsverletzungen und zum anderen nur von deren normativer Komponente ausgegangen. Bei den verletzten Menschenrechten muss es sich um solche der „ersten Generation“ handeln, so dass solche der „zweiten Generation“ (wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte) außer Betracht bleiben. Nachstehend sollen die Konsequenzen einer solchen impunidad anhand der „leyes de impunidad“ in Argentinien 163 kurz dargestellt werden – und zwar deswegen, da sie Verbrechen pardonierten, die „als die brutalsten in Lateinamerika“ 164 angesehen wurden. ___________ 161 Gutiérrez, T. G., Reflexiones sobre la impunidad, in: Consejería Presidencial para los Derechos Humanos, Justicia, Derechos Humanos e Impunidad, 2. Aufl. 1991, S. 234 ff.; vgl. auch Abellán Honrubia, V., Impunidad de violaciones de los derechos humanos fundamentales en América Latina: Aspectos jurídicos internacionales, in: Mangas Martín (Hrsg.), La escuela de Salamanca y el derecho internacional en América, 1993, S. 191 ff.; Penrose, M., Impunity – inertia, inaction, and invalidity: a literature review, in: Boston University International Law Journal 17 (1999), S. 269 ff. 162 Ambos (Fn. 3), S. 13. 163 Eine Untersuchung der rechtstatsächlichen Erscheinungsformen der impunidad in fünf ausgewählten Ländern Lateinamerikas (Argentinien, Bolivien, Chile, Kolumbien und Peru) enthält die Arbeit von Ambos (Fn. 3), S. 25 ff. 164 Ambos (Fn. 3), S. 71.

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Eng verbunden mit der impunidad ist der Umstand des Vorliegens einer Militärgerichtsbarkeit bzw. eines Ausnahmezustandes, und zwar aus folgenden Gründen: Militärverfahren führen im Zusammenhang mit Menschenrechtsverletzungen in der Regel zu keiner oder nur einer milderen Verurteilung der Angeklagten. Die Verhängung des Ausnahmezustandes wiederum führt regelmäßig zu einer Suspendierung von Grund- und Menschenrechten, so dass die Sanktionierung von Menschenrechtsverletzungen erschwert oder gar verhindert wird. Auf diese Zusammenhänge kann im gegenständlichen Beitrag aber nicht näher eingegangen werden.

a) Die „Leyes de impunidad“ in Argentinien Nachdem Präsidentin Isabel Perón am 24. März 1976 von den Generälen Videla, Massera und Agosti zum Rücktritt gezwungen wurde, 165 etablierte sich in der Folge unter den Präsidenten Videla, Viola, Galtieri und Bignone eine Militärdiktatur (1976–1983), die erst mit dem verlorenen „Falkland-Krieg“ gegen Großbritannien im Jahre 1982 langsam zu Ende ging. Die Zahl der Verschwundenen bzw. der Todesopfer während dieses achtjährigen Zeitraums geht in die Tausende: die CONADEP spricht von mindestens 8.960 Verschwundenen 166 , Moyano von fast 15.000 „dirty war casualties“ 167 , Schmid von 20.000 bis 30.000 Todesopfern 168 und Huhle von 30.000 Verschwundenen. 169 Ganze fünf Wochen vor den für den 30. Oktober 1983 angesetzten allgemeinen Wahlen hatten sich die Militärs durch das Gesetz Nr. 22.924 170 noch rasch selbst für alle während des so genannten „schmutzigen Krieges“ begangenen Menschenrechtsverletzungen Amnestie gewährt. Die nachfolgende demokratische Regierung des Radikalen Raúl Alfonsín (1983–1989), der seinen Wahlsieg über die Peronisten ganz eindeutig seiner Ankündigung zu verdanken hatte, die während der Militärregierung begangenen Menschenrechtsverletzungen einer Überprüfung zu unterziehen, veranlasste bereits am 22. Dezember 1983 die Nichtigerklärung des Amnestie-Gesetzes ___________ 165

Vgl. dazu Andersen (Fn. 2), S. 168 ff. CONADEP (1985) (Fn. 154), wobei mangels Furcht vor Anzeigen von einer sehr hohen Dunkelziffer ausgegangen werden muss. 167 Moyano, M. J., The „Dirty War“ in Argentina: Was it a war and how dirty was it?, in: Tobler / Waldmann (Hrsg.), Staatliche und parastaatliche Gewalt in Lateinamerika, 1991, S. 53. 168 Schmid, A. P., Research on gross human rights violations, 1989, S. 183. 169 Huhle, R., Demokratisierung mit Menschenrechtsverbrechern? Die Debatte um die Sanktion von Menschenrechtsverletzungen in den lateinamerikanischen Demokratien, in: Nolte, D. (Hrsg.), Lateinamerika im Umbruch?, 1991, S. 80. 170 Ley de gobierno de facto Nr. 22.924. 166

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Nr. 22.924 durch beide Häuser des argentinischen Kongresses. 171 In einem historischen Prozess, in dem fünf Mitglieder der ehemaligen Militärjunta – die Generäle Agosti, Lambruschini, Massera, Videla und Viola – zum Teil zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt wurden, bestätigte der argentinische Oberste Gerichtshof in der Folge am 30. Dezember 1986 die Nichtigkeit des von der Militärjunta erlassenen Selbstamnestiegesetzes. Des Weiteren setzte die Regierung Alfonsín mit der bereits vorstehend erwähnten Einsetzung der CONADEP einen bemerkenswerten Schritt in Richtung einer ersten Aufklärung der Verbrechen der Militärjunta. Auf massiven Druck der Militärs 172 begann die Regierung Alfonsín aber schon Ende 1986 mit einer entsprechenden Amnestiegesetzgebung, deren Hauptsäulen das so genannte „Schlussstrichgesetz“ (Ley de Punto Final) vom Dezember 1986 173 und das „Gesetz über die Gehorsamspflicht“ (Ley de obediencia debida) vom 8. Juni 1987 174 waren, die – im Zusammenwirken – jedwede Strafverfolgung gegen (ehemalige) Militärs ausschlossen, die an Menschenrechtsverbrechen während der Militärregierung beteiligt waren. 175 Mit ersterem Gesetz wurde zunächst eine zeitliche Begrenzung für die Erhebung von Strafanzeigen innerhalb von (nur) 60 Tagen (!) vorgesehen und mit letzterem eine gesetzliche Vermutung für eine unausweichliche Zwangslage aufgrund militärischen Befehls statuiert. Der argentinische Oberste Gerichtshof erklärte am 23. Juni 1987 mit 4 : 1 Stimmen das „Gesetz über die Gehorsamspflicht“ für verfassungsmäßig, 176 da es weder willkürlich sei, noch den Gleichheitssatz verletze. 177 Nachdem Präsident Alfonsín sein Amt am 7. Juli 1989 nach verlorenen Wahlen zurückgelegt hatte, übernahm Carlos Menem für die nächsten sechs Jahre das Präsidentenamt (1989–1995) und sprach bereits im Oktober 1989 und im Dezember 1990 zahlreiche Begnadigungen aus, von denen insgesamt 277 Personen erfasst wurden, unter denen sich auch alle noch inhaftierten Kommandanten der Militärjunta befanden. 178 ___________ 171

Durch die Ley Nr. 23.040. Brown, A. S., Adiós Amnesty: Prosecutorial Discretion and Military Trials in Argentina, in: Texas International Law Journal (1/2002), S. 211. 173 Ley 23.492; Text in: Kokott, J., Völkerrechtliche Beurteilung des argentinischen Gesetzes Nr. 23.521 über die Gehorsamspflicht (obediencia debida), in: ZaöRV 47 (1987), S. 534 f.; vgl. La Nación (Buenos Aires), vom 29.12.1986. 174 Ley 23.521; sancionada el 04.06.1987, promulgada el 08.06.1987; Boletín Oficial de la República Argentina No. 26.155, vom 09.06.1987, Suplemento Esp., la legislación y avisos oficiales, S. 1; Text in: Kokott (Fn. 173), S. 535 f. 175 Vgl. Ambos (Fn. 3), S. 107 ff., 248. 176 La Nación (Buenos Aires), Edición Internacional vom 29.06.1987, S. 1 und 5. 177 Vgl. dazu Kokott (Fn. 173), S. 509. 178 Ambos (Fn. 3), S. 75, 108 f.; Brown (Fn. 172), S. 213 f. 172

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Die beiden Pardonierungs-Gesetze 23.492 und 23.521, die unter der Regierung Alfonsín verabschiedet wurden, wurden erst durch das Gesetz 25.779 des Argentinischen Kongresses (Senat und Abgeordnetenkammer) vom 21. August 2003179, in den ersten Monaten der Amtsführung des Präsidenten Nestor Kirchner, für unheilbar nichtig (insanablemente nulas) erklärt. Der Oberste Gerichtshof Argentiniens erklärte in der Folge in seinem Urteil vom 14. Juni 2005180 die beiden Urteile darüber hinaus für ungültig und verfassungswidrig (inválidas e inconstitucionales). Diese beiden Vorgänge sind genau zu unterscheiden: Die Abschaffung der Pardonierungs-Gesetze durch den Obersten Gerichtshof bedeutete die – groteskerweise erst später ergangene – Aussage der Nichtanwendung der Gesetze in der Zukunft, die (frühere) Annullierung durch den Kongress hatte hingegen schon bewirkt, dass die Straflosstellung im Grunde rechtlich nie existierte. Lediglich für den Fall des als besonders abartig betrachteten Delikts des „Kindesraubs“ galten die Pardon-Gesetze nie. Genau um einen solchen Fall ging es aber in dem Verfahren, das sowohl vom „Centro de Estudios Legales y Sociales“ (CELS) und den Großmüttern der Plaza de Mayo (Abuelas de Plaza de Mayo) im Jahre 1998 angestrengt wurde. Angeklagt war das Verbrechen des Kindesraubes an Claudia Victoria Poblete, einem acht Monate alten Kind, deren Eltern – José Poblete und Gertrudis Hlaczik de Poblete – am 28. November 1978 durch eine Gruppe von Personen, die von sich erklärten, ein Teil der „Fuerzas Conjuntas“ zu sein, entführt und im geheimen Folterlager „El Olimpo-División Mantenimiento Automotores de la PFA“ gefangen gehalten wurden. Nach der Ermordung ihrer Eltern wurde Claudia Victoria Poblete dem Ehepaar Landa181 zur Adoption übergeben, bei dem sie aufwuchs, ohne über ihre wahre Identität Bescheid zu wissen. Da, wie vorstehend erwähnt, das „Gesetz über die Gehorsamspflicht“ (lediglich) Kindesraub nicht straffrei stellt, konnte gegen Ceferino Landa nur wegen dieses Verbrechens, nicht aber wegen der Entführung und Ermordung der Eltern des geraubten Kindes ein Strafverfahren eröffnet werden, das am ___________ 179

Veröffentlicht im Boletín Oficial de la República Argentina, vom 02.09.2003; registriert unter der Nr. 25.779. 180 Urteil in der Rechtssache des Kindesraubes von Claudia Victoria Poblete; http:// memoria.cels.org.ar/wp-content/uploads/2006/06/sintesis_fallo_csjn_caso_poblete.pdf; sieben Richter stimmten für die Nichtigkeit der Pardon-Gesetze, einer dagegen (und zwar der Vorsitzende Carlos Fayt) und einer (Augusto Belluscio) enthielt sich der Stimme; vgl. dos Santos Coelho, G., Las Leyes del Perdón son inconstitucionales, in: El Clarín vom 14.06.2005; Amnestie-Gesetze aufgehoben, in: Der Standard vom 15.06. 2005. 181 Dem Militärangehörigen Ceferino Landa und seiner Frau Mercedes Beatriz Moreira; Frau Landa konnte aus biologischen Gründen keine Kinder haben. Aufgrund einer gefälschten Geburtsurkunde durch einen Militärarzt konnte das Ehepaar Landa Victoria Poblete wie ihr eigenes Kind aufziehen. Erst eine DNA-Analyse offenbarte die wahre Abstammung des Kindes.

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9. November 2001 mit der ersten Verurteilung eines Militärs (Julio Héctor Simón, alias „Turco Julián“) wegen Kindesraubes endete. 182 Was die allgemeine Straflosstellung wegen aller anderen Verbrechen während der Militärdiktatur durch die beiden Pardon-Gesetze betraf, erließ der Bundesrichter Gabriel Cavallo 183 am 6. März 2001 eine Resolution von historischer Tragweite, in der er feststellte, dass diese beiden Gesetze nicht nur verfassungswidrig sind, sondern auch gegen tragende völkerrechtliche Grundsätze verstoßen – und dementsprechend auch als nichtig angesehen werden müssen. Damit wurde es zum ersten Mal seit 1987 möglich, Militärs wegen des Verschwindenlassens, Folterns und Tötens von Personen während der Militärdiktatur zu belangen. Am 9. November 2001 schloss sich die Sala II der „Cámara Federal“ dieser Rechtsansicht des Richters Cavallo an und erklärte die beiden Pardon-Gesetze 23.492 und 23.521 für verfassungswidrig. Da gegen dieses Urteil an den Obersten Gerichtshof berufen wurde, musste zunächst der Generalprokurator, Nicolás Becerra, angehört werden, der sich in seiner Stellungnahme vom 29. August 2002 der Rechtsansicht Cavallos und des Gerichts anschloss. Auch dessen Nachfolger im Amt des Generalprokurators, Esteban Righi, erklärte in seiner Stellungnahme vom 5. Mai 2004 die beiden Gesetze für völkerrechts- und verfassungswidrig. Geht man davon aus, dass in die damaligen Verbrechen etwa 3.000 Offiziere involviert waren, von denen 30 bis heute noch im Amt sind, dann könnte bis zu 400 von ihnen eine Anklage drohen. 184 Die beiden Pardonierungs-Gesetze verstoßen aber nicht nur gegen allgemeines Völkerrecht, sondern auch gegen die (partikulärvölkerrechtliche) Amerikanische Menschenrechtskonvention (1969): Bereits in ihrem Bericht 28/92 hatte die Interamerikanische Menschenrechtskommission festgestellt, dass die beiden argentinischen Pardon-Gesetze 23.492 und 23.521 mehrfach die Amerikanischen Menschenrechtskonvention vom 22. November 1969 185 verletzten und Argentinien daher verpflichtet sei, diese Gesetze zu annullieren. Auch die Judikatur des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofs in San José hatte in den Fällen „Velásquez Rodríguez“ 186 und „Barrios Altos“ 187 festgestellt, ___________ 182 Causa No. 17.8890 „Incidente de apelación de Simón, Julio“ – Jdo. Fed. No. 4, Sec. No. 7, Buenos Aires, 09.11.2001 – Landa, Teniente Coronel del Ejercito; vgl. Brown (Fn. 172), S. 203 f., 206 ff. 183 Zur prozessrechtlichen „Zwitter“-Stellung von Bundesrichtern in Argentinien siehe Brown (Fn. 172), S. 204 f., 217 ff. 184 Vgl. Amnestie-Gesetze aufgehoben, in: Der Standard vom 15.06.2005; Amnestie für Militärs in Argentinien verfassungswidrig, in: National Zeitung (Basel) vom 14.06. 2005. 185 Abgedruckt in deutscher Fassung in: EuGRZ 7 (1980), S. 435 ff. 186 Vgl. Fn. 29.

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dass ein solches Straflosstellen die Amerikanische Menschenrechtskonvention verletzt. In letzterem Falle ging es um zwei peruanische Amnestie-Gesetze, die vom Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofs als unzulässige Akte einer „Auto-Amnestie“ von „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ qualifiziert wurden. Im Grunde verstoßen die beiden Pardon-Gesetze 23.492 und 23.521 aber auch gegen argentinisches Verfassungsrecht. Wenngleich Art. 75 inc. 20 der argentinischen Verfassung den Gesetzgeber ermächtigt, allgemeine AmnestieGesetze zu erlassen, so dürfen diese doch nicht gegen grundlegende völkerrechtliche Bestimmungen zur Bestrafungspflicht für schwere Menschenrechtsverletzungen verstoßen, die sowohl aus dem Völkergewohnheitsrecht als auch aus dem Völkervertragsrecht resultieren können. Da nach der Reform der argentinischen Verfassung im Jahre 1994 völkerrechtlichen Verträgen ein höherer Rang als nationalen Gesetzen zukommt – was für menschenrechtliche Konventionen in Art. 75 inc. 22 der Verfassung expressis verbis verankert ist – sind in diesem Zusammenhang bereits im Allgemeinen die Amerikanische Menschenrechtskonvention (1969) und auch der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (1966) zu berücksichtigen, gegen die die beiden Pardon-Gesetze aber eindeutig verstoßen, womit sie als verfassungswidrig anzusehen sind. Im Speziellen verstößt das Verschwindenlassen aber bereits gegen die Interamerikanische Konvention über das Verschwindenlassen von Personen sowie die Konvention über die Unverjährbarkeit von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit („Convención sobre Imprescriptibilidad de los Crímenes de Guerra y Lesa Humanidad“). 188

b) Impunidad und Völkerstrafrecht Impunidad, Amnestien, Begnadigungen und sonstige Straffreistellungen sind als Rechtsakte des nationalen Rechts nur insoweit zulässig, als das anwendbare Strafrecht sie nicht verbietet, indem es für diese Verbrechen eine Bestrafungspflicht vorsieht. Dabei ist zunächst zu untersuchen, welches Strafrecht zur Anwendung kommt – das nationale und/oder das Völkerstrafrecht. Handelt es sich dabei um völkerrechtliche Verbrechen, dann resultiert der Strafanspruch direkt aus dem Völkerrecht, sind es hingegen Verbrechen wider das Völkerrecht („delicta iuris gentium“), das sind – wie oben erwähnt – gewisse völkervertraglich bzw. gewohnheitsrechtlich allgemein für strafwürdig angesehene Delikte, die die einzelnen Staaten in ihren Strafgesetzen zu sanktionieren ha___________ 187 Caso Barrios Altos (Chimbipuma Aguierre v. Peru), Inter-American Court of Human Rights (Serie C) No. 75; 41 ILM (2002), S. 93 ff. 188 Vgl. Fn 112.

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ben 189 – dann stammt der Strafanspruch zwar (formal) aus dem nationalen Strafrecht, darf aber ebenfalls nicht durch nationale Pardonierungsgesetze abbedungen werden, da dies – als Bruch der völkervertraglichen Verpflichtung – einen völkerrechtlichen Unrechtstatbestand darstellen würde. Das nationale Straffreistellungsrecht verhält sich zu einer möglichen völkerrechtlichen Bestrafungspflicht „spiegelbildlich“, da es durch diese begrenzt wird: Die Befugnis, bestimmte Taten von einer Bestrafung freizustellen, kann nämlich immer nur so weit reichen, als völkerrechtliche Bestrafungsgebote nicht entgegenstehen. 190 Untersucht man nun, ob das geltende Völkerstrafrecht für das „Verschwindenlassen“ – und die damit in der Regel verbundene Folter und extralegale Hinrichtung – eine Bestrafungspflicht vorsieht, so ist zunächst rechtsquellentypologisch zwischen (a) Völkervertragsrecht, (b) Völkergewohnheitsrecht und (c) allgemeinen Rechtsgrundsätzen zu differenzieren. Ad (a) Auf völkervertragsrechtlicher Ebene enthalten sowohl die VNErklärung 1992 (in Art. 4) als auch die OAS-Konvention 1994 (in Art. III und Art. IV) ebenso wie die Internationale Konvention 2006 (in Art. 4, Art. 6 und Art. 7) eindeutige Bestimmungen zur Bestrafungspflicht und beinhalten Regeln, die eine möglichst lückenlose Verfolgung sicherstellen 191 . Darüber hinaus werden in allen drei Instrumenten Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe ausgeschlossen 192 . Überdies bestimmt die (allerdings nicht rechtsverbindliche) VN-Erklärung 1992 in ihrem Art. 18, dass Personen, die die Straftat des „Verschwindenlassens“ begangen haben oder ihrer Begehung verdächtig sind, „nicht in den Genuss eines besonderen Amnestiegesetzes oder ähnlicher Maßnahmen kommen, die zur Folge haben könnten, sie von Strafverfahren oder Strafsanktionen zu befreien“. Während die OAS-Konvention 1994 diesbezüglich keine Aussage trifft, wird in der Internationalen Konvention 2006 zumindest im sechsten Präambel-Paragraf der Entschlossenheit Ausdruck verliehen, „to combat impunity for the crime of enforced disappearance“. Ad (b) Völkergewohnheitsrechtlich steht man in diesem Zusammenhang vor dem grundsätzlichen Problem, dass der Nachweis der für die Gewohnheitsrechtsbildung – neben der opinio iuris – notwendigen konsistenten Staatenpraxis angesichts der weltweit geübten impunidad kaum zu erbringen ist, so dass sich das einschlägige Schrifttum zurecht den Vorwurf gefallen lassen muss, ein ___________ 189

Vgl. vorstehend im selben Kap. Ambos (Fn. 3), S. 164. 191 Vgl. insbes. Art. 9 Internationale Konvention 2006. 192 Art. 6 und Art. 7 VN-Erklärung 1992; Art. VII und Art. VIII OAS-Konvention 1994; vgl. Art. 6 (2) Internationale Konvention 2006. 190

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„missionary writing“ 193 darzustellen, um den entsprechenden kriminalpolitischen Erfolg zu erreichen. Methodologisch lässt sich eine solche völkergewohnheitsrechtliche Begründung eines Verbots der impunidad nicht ordnungsgemäß rechtfertigen. Ad (c) Was hingegen eine Pflicht zur Bestrafung von gravierenden Menschenrechtsverletzungen aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen betrifft, so setzt diese zunächst eine rechtsvergleichende Untersuchung der „zivilisierten“ nationalen Rechtsordnungen voraus, wobei man wiederum auf das Problem stößt, dass eine Reihe nationaler Rechtsordnungen eben gerade impunidad-Regelungen enthalten. Seit den Nürnberger und Tokioter Prozessen und neuerdings der Einrichtung der Strafrechts-Tribunale für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda sowie des Internationalen Strafgerichtshofs wird dieser „in foro domestico“-approach im Bereich des allgemeinen Menschenrechtschutzes und des humanitären Kriegsrechts aber immer mehr zurückgedrängt und durch allgemeine Rechtsgrundsätze ersetzt, die sich „in legal form“ 194 im Völkerrecht verfestigt haben, wie dies vor allem die grundlegenden Arbeiten Jescheks 195 und Bassiounis 196 nachdrücklich belegen. 197 Es erscheint daher gerechtfertigt, „von der Entstehung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes auszugehen, der u. a. das Verschwindenlassen einer Bestrafungspflicht unterwirft. Dieser Rechtsgrundsatz verliert auch angesichts einer weitgehend gegenläufigen Staatenpraxis nicht seine rechtsschöpfende Kraft“. 198 Zuletzt sind noch die beiden mit der „impunidad“ eng verbundenen Straflosstellungen in Form von Amnestien und Begnadigungen von einander abzugrenzen sowie auch die Frage des Befehlsnotstandes als Straflosigkeitsgrund zu untersuchen.

c) Völkerstrafrecht und Amnestien und Begnadigungen Im engeren Sinn versteht man dabei unter Amnestie (amnistía) die gesetzliche Aufhebung rechtskräftig verhängter, aber noch nicht vollstreckter Strafen ___________ 193 Vgl. dazu Simma, B., International Human Rights Law and General International Law: a Comparative Analysis, in: Academy of European Law (Hrsg.), Collected Courses of the Academy of European Law, Vol. IV (1995) Book 2, S. 218 ff. 194 Simma (Fn. 193), S. 225, Fn. 212. 195 Jescheck, H.-H., Die Verantwortlichkeit der Staatsorgane nach Völkerstrafrecht. Eine Studie zu den Nürnberger Prozessen, 1952. 196 Bassiouni, Ch., M., A Draft International Criminal Code and Draft Statute for an International Criminal Tribunal, 1987; ders., Crimes against humanity in International Criminal Law, 1992. 197 Ambos (Fn. 3), S. 181 f. 198 Ambos (Fn. 3), S. 203.

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einer unbestimmten Zahl von Personen. 199 Eine Amnestie hindert daher lediglich die Strafvollstreckung und den Vollzug i. S. e. bloßen Bestrafungshindernisses. Im weiteren Sinn wird der Begriff aber auch für Gesetze verwendet, die schon die Strafverfolgung ausschließen, womit er allerdings in bedenkliche Nähe zur impunidad gerückt wird. 200 Bei der Begnadigung (indulto) handelt es sich im Gegensatz dazu nicht um einen (kollektiven) generell-abstrakten Akt der Legislative, sondern um einen individuellen Straferlass durch die Exekutive, d. h. um eine Einzelfallentscheidung zugunsten eines Täters. Eine schwierige Abgrenzungsfrage wirft in diesem Zusammenhang die Zulässigkeit von Akten der Amnestie und der Begnadigung für an sich zu sanktionierende Menschenrechtsverletzungen auf. Weder die universellen noch die regionalen Konventionen gegen das „Verschwindenlassen“ – lediglich Art. 18 der VN-Erklärung 1992 201 bestimmt, dass die Täter dieses Delikts von keiner Amnestie erfasst werden dürfen – verbieten explizit Amnestien oder Begnadigungen. Der Grund dafür ist wohl darin zu sehen, dass das humanitäre Völkerrecht einer Amnestie oder Begnadigung nach Beendigung eines „nichtinternationalen Konflikts“ 202 grundsätzlich positiv gegenübersteht, um so eine Befriedung und Aussöhnung zwischen den Bürgerkriegsparteien zu erleichtern. In diesem Sinne fordert Art. 6 Abs. 5 des II. Zusatzprotokolls zu den Genfer Abkommen (1977) 203 auch die Kampfparteien gerade zu auf, nach Beendigung der Feindseligkeiten „die weitestgehende Amnestie zu gewähren“. Es muss sich dabei aber stets um „notwendige Folgen der kriegerischen Auseinandersetzung“ und darf sich nicht um Maßnahmen eines repressiven Staatsapparates gegen wehrlose Entführungsopfer handeln. 204 In diesem Sinne kam es einem bewussten „Etikettenschwindel“ gleich, wenn die lateinamerikanischen Militärregime bei ihrer Bekämpfung der Guerrilla und der Subversion stets von einer „guerra sucia“, einem „dirty war“ sprachen, da sie damit den Eindruck erwecken wollten, dass es sich bei ihren Maßnahmen eben genau um die vorstehend erwähnten „notwendigen Folgen der kriegerischen Auseinandersetzung“ gehandelt habe. Die Militärs nannten die Phase des „dirty war“ ___________ 199 Vgl. dazu Slye, R., The Legitimacy of Amnesties Under International Law and General Principles of Anglo-American Law: Is a Legitimate Amnesty Possible?, in: Virginia Journal of International Law 43 (2002), S. 173 ff. 200 Vgl. dazu Barcroft, P., The Presidential Pardon – a Flawed Solution, in: HRLJ 14 (1993), S. 381 ff. 201 Vgl. dazu vorstehend Kap. X.3.b). 202 I. S. d. Zusatzprotokolls zu den Genfer Abkommen vom 12.08.1949 über den Schutz der Opfer nicht internationaler bewaffneter Konflikte (Protokoll II) vom 10.12. 1977; BGBl. 1982/527. 203 Neuhold / Hummer / Schreuer (Fn. 54), S. 579 (Dok. 363). 204 Ambos (Fn. 3), S. 210 f.

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von 1976 bis 1983 provokant „the opening battle of World War III“. 205 Der These der Militärs: „those who made it dirty were the subversives: they chose the forms of struggle and determined our actions“ wurde in der Literatur aber die Gegenthese gegenübergestellt, dass der „schmutzige Krieg“ „was conducted in a manner contrary to the principles that the military claimed were animating it, and became an unending stream of corruption“. 206 Der Begriff „schmutziger Krieg“, der nach Ambos 207 eine eindeutige „Beschönigung“ darstellt, wird von Garro / Dahl ebenfalls als Euphemismus enttarnt: „The term ‚dirty war‘ is misleading. The adjective ‚dirty‘ is too narrow to describe the horrendous crimes (…) the noun ‚war‘ is too broad to describe the struggle, since the human rights violations (…) were not perpetrated in open battles.“208 Da dem Völkerrecht somit kein absolutes Verbot von Amnestien und Begnadigungen zu entnehmen ist, hat jeder Staat zwischen der völkerrechtlichen Bestrafungspflicht und vitalen innenpolitischen Belangen, wie etwa der nationalen Aussöhnung und Befriedung von Bürgerkriegsparteien, abzuwägen. Das Völkerstrafrecht setzt dabei aber insoweit eine absolute Grenze, als besonders schwere Menschenrechtsverletzungen – wie etwa systematische Folter, massenhafte extralegale Hinrichtungen und kollektives Verschwindenlassen – als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ einer völligen Straffreistellung unter keinen Umständen zugänglich sind. 209 Absolute Straflosigkeit kann demnach für diese Verbrechen niemals gerechtfertigt werden: „… no higher interest, not even national reconciliation, can legitimize ‚absolute impunity‘“. 210

___________ 205

Andersen (Fn. 1), S. 1. Moyano (Fn. 167), S. 67 f. 207 Ambos (Fn. 3), S. 72. 208 Garro, A. / Dahl, H., Legal Accountability for Human Rights Violations in Argentina: one Step Forward and two Steps Backward, in: HRLJ 8 (1987), S. 291 Fn. 156; ebenso sieht dies Schmid, A. P., Research on Gross Human Rights Violations, 1989, S. 183: „(…) it was not war since most of the victims were unarmed, unorganized and did not see themselves as in a state of belligerence.“ 209 Der argentinische Bundesrichter Norberto Oyarbide drückte dies am 05.09. 2006 in seinem Aufhebungsbeschluss der Begnadigung des ersten de-facto-Präsidenten der argentinischen Militärjunta, Jorge Rafael Videla, durch Carlos Menem im Jahre 1990 (Decreto 2741/90) folgendermaßen aus: „(…) la doctrina de derecho internacional a la que adhiere la Argentina impide amnistiar o perdonar delitos de lesa humanidad“; Sued, G., También anularon el indulto a Videla, in: La Nación vom 06.09.2006, S. 5. 210 Report of the Working Group on Enforced or Involuntary Disappearances, UNECOSOC-CHR-Subcommission (1993), UN-Doc. E/CN.4/1993/25, 7 January 1993, para. 104. 206

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d) Völkerstrafrecht und Befehlsnotstand Zuletzt ist in diesem Zusammenhang noch ein Blick auf die Rechtsfigur des „Handelns auf Befehl“ zu werfen, da Befehlsnotstand – vor allem von unteren Chargen in der polizeilichen und militärischen Hierarchie – immer wieder als Straffreistellungsgrund,211 Strafausschließungsgrund oder übergesetzlicher Entschuldigungsgrund212 vorgebracht wurde. Grundsätzlich erkennt das geltende Völkerstrafrecht ein „Handeln auf Befehl“ nicht als Strafausschließungsgrund an, vor allem dann nicht, wenn es sich um qualifizierte internationale Verbrechen wie Kriegsverbrechen, Völkermord (Genozid) und Verbrechen gegen die Menschlichkeit handelt.213 Seit dem Kriegsverbrechertribunal von Nürnberg (1946) kann eine völkerstrafrechtliche Verantwortlichkeit des Einzelmenschen für solche Delikte als gewohnheitsrechtlich anerkannt gelten – selbst wenn diese nicht unmittelbar im Gefolge eines Krieges gesetzt wurden.214 Ein „Handeln auf Befehl“ ist aber nur dann vorwerfbar, wenn der Untergebene die Rechtswidrigkeit des Befehls erkennen konnte oder – trotz „offensichtlicher Rechtswidrigkeit“ – grob fahrlässig nicht erkannte und diesen, obwohl er durchaus eine andere Wahl gehabt hätte, trotzdem ausgeführt hat. Der Befehl, eine Person zu entführen, „verschwinden zu lassen“, zu foltern oder extralegal hinzurichten, ist ebenso „offensichtlich rechtswidrig“ wie Völkermord an einer bestimmten ethnischen Minderheit oder die Begehung bestimmter Kriegsverbrechen. Nach dem so genannten „manifest illegality“-Prinzip215 kann sich ein entsprechender Täter in diesem Zusammenhang auch nicht auf eine ihn entlastende innerstaatliche Gesetzeslage berufen. Der Umstand einer solchen grundsätzlichen „individual responsibility“ einzelner Personen für die Begehung internationaler Verbrechen darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es dabei nach wie vor eine große Grauzone gibt, z. B. was die Verantwortlichkeit von nicht-staatlichen Zusammenschlüssen von Einzelpersonen, seien es (linksgerichtete) Guerrilleros oder (rechtsgerichtete) Milizen, Paramilitärs oder „Todesschwadronen“, betrifft. Handelt es sich bei den begangenen Menschenrechtsverletzungen hingegen nicht um solche qualifizierte internationale Verbrechen, dann kann in bestimmten Fällen ein „Handeln auf Befehl“ einen Strafausschluss begründen. Es handelt sich dabei um diejenigen Fälle, in denen ein Befehl nicht „offensichtlich“ ___________ 211

Werle (Fn. 54), S. 121 ff., 137 ff. Vgl. Sancinetti / Ferrante (Fn. 123), S. 22. 213 Werle (Fn. 54), S. 139 f. 214 Vgl. dazu Ambos (Fn. 3), S. 187 ff. 215 Werle (Fn. 54), S. 140 f. 212

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als rechtswidrig erkannt werden konnte und es für den Täter auch nicht möglich war, sich diesem Befehl zu widersetzen, ohne dabei gleichzeitig Schaden an seiner Person zu nehmen.

XI. Schlussbetrachtungen Lässt man die vorstehend gewonnenen Erkenntnisse Revue passieren, dann gewinnt ein in Europa beinahe völlig unbekanntes „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, nämlich das „Verschwindenlassen“ von Personen, gewisse Konturen. Vermeintlich als lateinamerikanisches Phänomen angesehen, ist es beileibe keine Erfindung Lateinamerikas, sondern hat viel ältere Wurzeln und geht als Massenphänomen im Grunde auf den „Archipel GULAG“ Stalins zurück, der in den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts in der UdSSR eingerichtet wurde. Im Dritten Reich waren es dann die Institute der „Schutz“- und der „Vorbeugehaft“ sowie der berüchtigte „Nacht und Nebel“-Erlass (1941), die zum spurlosen Verschwinden von Zehntausenden von Personen führten. Seinen traurigen Höhepunkt an Bestialität und damit auch seine allgemein anerkannte Benennung auf Spanisch („hacer desaparecer“, „desaparecidos“) erreichte dieses Verbrechen allerdings in lateinamerikanischen Militärdiktaturen ab den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts Allein zwischen 1966 und 1986 verschwanden in Lateinamerika mehr als 90.000 Personen, ohne dass deren Verbleib je aufgeklärt werden konnte. Das „Verschwindenlassen“ von Personen stellt eine komplexe Begehungshandlung – in der Regel durch mehrere Täter – dar, die in einem „arbeitsteiligen“ Zusammenwirken eine Reihe bisher getrennt erfasster Tatbilder, wie Entführung, Menschenraub, Misshandlung, Folter, Mord, Leichenschändung, Vertuschung eines Straftatbestands etc., in einem einzigen Begehungsdelikt verwirklichen. Die Täter kommen in der Regel aus dem staatlichen Umfeld, und zwar sowohl in Form einer unmittelbaren als auch einer mittelbaren staatlichen Verwicklung. Völker(straf-)rechtlich stellt das „Verschwindenlassen“ ein „delictum iuris gentium“ dar, das als solches aber lange Zeit nicht erkannt und systematisiert war. Dementsprechend wurde es auch nicht sanktioniert und in der Regel vom Staat selbst auch noch pardoniert. Dazu kam noch der Einsatz von Versöhnungsmodellen, bei denen Täter und Opfer durch die Arbeit von Wahrheitskommissionen ausgesöhnt werden sollten. Obwohl das Verbrechen des „Verschwindenlassens“ im universellen Rahmen der Vereinten Nationen seit den frühen 70er Jahren thematisiert wurde, kam es erst 1980 zur Einsetzung einer eigenen Arbeitsgruppe „Working Group on Enforced or Involuntary Disappearances“ (WGEID) im Schoß der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen reagierte überhaupt erst 1992, indem sie die „Declaration

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on the Protection of all Persons from Enforced Disappearances“ durch Konsensus annahm. Im Juli 1998 wurde schließlich das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs angenommen, dessen Art. 7 Abs. 1 lit. i) das zwangsweise Verschwindenlassen von Personen erstmals explizit als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ qualifiziert. Zu einem universell konzipierten Vertragswerk zur Ächtung des „Verschwindenlassens“ kam es aber erst im Dezember 2006, als die Generalversammlung der Vereinten Nationen die „International Convention for the Protection of All Persons from Enforced Disappearance“ im Konsensus-Verfahren annahm und zur Ratifikation auflegte. Auf der regionalen Ebene kam es in Lateinamerika zunächst nur zu zwei Resolutionen der Generalversammlung der OAS in den Jahren 1979 und 1983, denen erst 1994 die Unterzeichnung der „Interamerikanischen Konvention über das gewaltsame Verschwindenlassen von Personen“ folgen sollte. Im Schoß des Europarates wiederum bezeichnete die Parlamentarische Versammlung im Jahr 1984 in einer Entschließung das zwangsweise „Verschwindenlassen“ als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Erst viel später ergingen zwei weitere Entschließungen bzw. Empfehlungen über verschwundene Personen in Tschetschenien und in Belarus, denen ein Jahr später weitere Sekundärrechtsakte der PV folgten, in denen das „Verschwindenlassen“ mit Folter und Mord gleichgesetzt wurde. Gleichwohl führte der Berichterstatter des Ausschusses für Recht und Menschenrechte der Parlamentarischen Versammlung des Europarates aus, dass es erst nach der Finalisierung eines VN-Instruments möglich sein werde, die Notwendigkeit eines regionalen Rechtsinstruments für Europa zu bewerten. Mit der Verabschiedung der vorerwähnten VN-Konvention von 2006 ist der Europarat nun aber unter Zugzwang geraten.

Archive und Vertreibung Michael Silagi

I. Problemstellung Für die Anliegen der Vertriebenen hat sich Dieter Blumenwitz zeitlebens als Forscher und gleichermaßen auch als Rechtslehrer eingesetzt: Dem Besuch seiner Münchener Völkerrechtsvorlesung im Wintersemester 1970/71 verdankt der Verfasser dieses Beitrags sein Interesse an der Materie. Im Folgenden geht es um die Frage, ob nicht § 96 des Gesetzes über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge (Bundesvertriebenengesetz – BVFG) 1 im Einklang mit dem Völkerrecht gebietet, die deutschen Archivbestände, die bis 1945 aus den Ostprovinzen Preußens in den Westen gerettet worden waren, weiterhin in Deutschland zu sichern. 2 Dabei handelt es sich um Archive des Deutschen Ordens und des Altpreußischen Herzogtums sowie um ostdeutsche Kirchenbücher, die vor dem 8. Mai 1945 aus dem Osten Preußens in das Gebiet der späteren Westzonen gelangt waren.

II. § 96 BVFG und das Völkerrecht Der mit „Pflege des Kulturgutes der Vertriebenen und Flüchtlinge und Förderung der wissenschaftlichen Forschung“ überschriebene § 96 BVFG ist Ausdruck des Heimatrechts der Vertriebenen. 3 Er gebietet neben der Sicherung ___________ 1 § 96 Bundesvertriebenengesetz (BVFG) lautet folgendermaßen: „Bund und Länder haben entsprechend ihrer durch das Grundgesetz gegebenen Zuständigkeit das Kulturgut der Vertreibungsgebiete in dem Bewusstsein der Vertriebenen und Flüchtlinge, des gesamten deutschen Volkes und des Auslandes zu erhalten, Archive, Museen und Bibliotheken zu sichern, zu ergänzen und auszuwerten sowie Einrichtungen des Kunstschaffens und der Ausbildung sicherzustellen und zu fördern. Sie haben Wissenschaft und Forschung bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus der Vertreibung und der Eingliederung der Vertriebenen und Flüchtlinge ergeben, zu fördern. Die Bundesregierung berichtet jährlich über das von ihr Veranlasste.“ 2 Zum Folgenden vgl. auch die Referate in Sektion III des 72. Deutschen Archivtages in Cottbus (2001), die sich mit dem Thema „Archivbestände unter den politischen und juristischen Folgen von Krieg und Herrschaftswechseln“ befassten; veröffentlicht in: Der Archivar, Beiband 7 (2002), S. 135 ff. 3 Vgl. Singbartl, H., 50 Jahre Bundesvertriebenengesetz, in: IFLA Informationsdienst 52 (2003), S. 85 (88 f.).

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von Museen und Bibliotheken explizit auch die Sicherung der Archive. 4 Archive stellen eine Kategorie sui generis unter den Aktiva eines Staates dar. 5 Dies zeigt ihre gesonderte Behandlung seit alters her in zahlreichen Friedensverträgen bzw. in Folgevereinbarungen zu Friedensverträgen 6 und neuerdings die im Rahmen der UN-Völkerrechtskommission (International Law Commission – ILC) erstellte Wiener Konvention vom 8. April 1983 über Staatennachfolge in Vermögen, Archive und Schulden von Staaten 7 (im Weiteren „WK 83“). Die Klassifizierung von „Archivgut als bewegliches Kulturgut“ 8 greift also zu kurz. 9 Bei der Zuordnung von Archiven im Vertreibungsfall ist über___________ 4

Siehe dazu auch Silagi, M., Die normative Ausgestaltung des Rechts auf die Heimat in der deutschen Gesetzgebung, in: Das Recht auf die Heimat (Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 23), 2006, S. 77 (94 ff.). 5 Siehe dazu Hecker, H.-J., Archive, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte 2. Aufl., Bd. I, 2. Lfg., 2005, S. 285 ff.; Fitschen, T., „Archive“ im modernen Völkervertragsrecht – ein problematischer (Rechts-)Begriff, in: Der Archivar, Bd. 58 (2005), S. 255 ff. 6 Vgl. Meyer-Landrut, J., Die Behandlung von staatlichen Archiven und Registraturen nach Völkerrecht, in: Archivalische Zeitschrift, Bd. 48 (1953), S. 45–121. Hier geht es im ersten Hauptteil (ab S. 56) um die Revindikation (Restitution) von Archiven, welche während eines Krieges widerrechtlich entführt worden sind, sodann (ab S. 80) um Fragen der Staatennachfolge. 7 Vienna Convention on Succession of States in Respect of State Property, Archives and Debts (vom 08.04.1983), Text in: International Legal Materials (ILM) 22 (1983), S. 306 ff.; eine (ost-)deutsche Übersetzung, der im Weiteren gefolgt wird, findet sich bei Poeggel, W. / Meißner, R. (Leitung), Staatennachfolge im Völkerrecht, OstBerlin 1986, Anlage, S. 156 ff. Die Sonderstellung der Archive wurde im Sommer 2001 durch eine Resolution des Institut de Droit international (IDI) über die Staatennachfolge in Vermögen und Schulden (wiedergegeben in AVR 2002, S. 355 ff.) bestätigt; hier wird ausdrücklich festgehalten, dass die Resolution auf Archive grundsätzlich keine Anwendung findet (Art. 16 Nr. 6). 8 So die Sammelüberschrift über drei Beiträgen in: Der Archivar, Bd. 59 (2006). Dieser Klassifizierung scheinen zu folgen: Schäfer, U., Ziel einer Reform des Kulturgüterschutzrechts aus der Perspektive der Archivverwaltungen, in: Der Archivar, Bd. 59 (2006), S. 19 ff., und Oldenhage, K., Archivgut als Gegenstand des Kulturgüterschutzes, in: Der Archivar, Bd. 59 (2006), S. 21 ff. Odendahl, K., Das Normensystem zum Schutz von Kulturgütern in Deutschland – unter besonderer Berücksichtigung von Archivgütern, in. Der Archivar; Bd. 59 (2006), S. 23 (24), konzediert immerhin, dass nicht alle Archivalien Kulturgut sind. 9 Vgl. Siehr, K., Kulturgüter in Friedens- und Freundschaftsverträgen, in: Festschrift für J. Delbrück, 2005, S. 695 (697); auch der Beobachter der UNESCO auf der Vertragskonferenz in Wien 1983, Evans, Frank B. betonte die Wichtigkeit der Abgrenzung zwischen Archiven und (sonstigen) Kulturgütern: „Archives were a unique category of State property in that they were essential both to the nation’s identity and to the very sovereignty of the State itself. As such they were to be regarded [...] as inalienable. It was their relationship to the sovereignty of the State that distinguished archives from other forms of cultural property that a State might naturally wish to preserve.“ UN Conference on Sucession of States in Respect of State Property, Archives and Debts, Official Records (UN Doc. A/CONF.117/16), Vol I, S. 130 f.

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dies zu unterscheiden zwischen Vertreibungen, die mit einer Staatensukzession in Bezug auf das Vertreibungsgebiet einhergingen, 10 und solchen, bei denen keine Änderung der völkerrechtlichen Zuordnung des betreffenden Gebietes erfolgte. 11 Mit der Vertreibung der Bevölkerung aus den ostdeutschen Vertreibungsgebieten am Ende des Zweiten Weltkriegs ging (wenn auch zeitversetzt) eine Abtretung dieser Teile des ehemaligen Preußen einher. Nach dem Ersten und nach dem Zweiten Weltkrieg fanden aber auch Vertreibungen und Umsiedlungen ethnischer Minderheiten aus ihren angestammten Wohn- und Siedlungsgebieten ohne Wechsel der Staatsgewalt statt, so etwa bei der Umsiedlung der Baltendeutschen in den Jahren 1939–41 und bei der Vertreibung der Südostdeutschen aus ihren angestammten Siedlungsgebieten nach 1945. Was die im Schrifttum 12 als mögliche Präzedenzfälle für die Zuordnung der erwähnten ostdeutschen Archive angeführten Vereinbarungen in Verträgen des Deutschen Reiches anlässlich der Umsiedlung der Balten-Deutschen in den Jahren 1939– 41 13 angeht, so sind diese bei genauer Lektüre eher unergiebig. Dies trifft besonders für die Verträge mit Lettland 14 und mit Estland 15 zu. Allenfalls Archive im Privatbesitz und kirchliche Sammlungen wurden vom grundsätzlichen Ausfuhrverbot für Kulturgüter ausgenommen, aber auch Archive im privaten Besitz deutscher Familien oder aufgelöster deutscher Vereine konnten, so der Direktor des Stadtarchivs von Tallinn (Reval) im Jahr 2005 zur estnischen Praxis, bei der Umsiedlung von 1939–41 regelmäßig nicht mitgenommen werden: „Die estnische Staatsregierung erklärte kulturhistorisch wertvolle Einzelgegenstände und Sammlungen, u. a. auch Privatarchive, die im Besitz der Deutschbalten waren, zum nationalen Kulturgut. Diese durften von den Umsiedlern aus Estland nicht weggeführt werden, sondern sollten den öffentlichen Museen, Archiven und Bibliotheken überlassen werden.“ 16

___________ 10

Vgl. Odendahl, K., Kulturgüterschutz, 2005, S. 151 ff. Ebenda, S. 159 ff. 12 Meyer-Landrut (Fn. 6), S. 119; Turner, S., Die Zuordnung beweglicher Kulturgüter im Völkerrecht, in: Fiedler, W. (Hrsg.), Internationaler Kulturgüterschutz und deutsche Frage, 1991, S. 19 (104 f.). 13 Die Verträge sind wiedergegeben bei Hecker, H., Die Umsiedlungsverträge des Deutschen Reiches während des Zweiten Weltkrieges, 1971. Vgl. dazu auch Loeber, D. A., Die diktierte Option, 2. Aufl. 1974, passim. 14 Dort Zusatzprotokoll Nr. 15 zu Art. 7 sowie Anmerkung 1 nach Nr. 15; wiedergegeben bei Hecker (Fn. 12), S. 73 f. 15 Art. II Nr. 1 Abs. 2, ebenda, S. 18. 16 Oolup, U., Über das Stadtarchiv Tallinn (Reval) in Estland und seine Bestände, in: Archivalische Zeitschrift, Bd. 87 (2005), S. 165 (173, Fn. 13). 11

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Dies habe binnen kurzer Zeit zur Übernahme „zahlreicher Archive privater Provenienz“ 17 durch das Stadtarchiv in Tallinn geführt. Die These MeyerLandruts, mit den Vereinbarungen zur Umsiedlung der Balten-Deutschen wäre international anerkannt, dass die das Land verlassende Bevölkerung ihre Geschichte gleichsam „mitführt“, 18 ist doch etwas weit hergeholt. Allerdings schafften die deutschen Besatzer beim Abzug aus Reval im Jahr 1944 umfangreiche Archivbestände nach Deutschland. 19 Nach der Wende von 1989/90 wurden diese jedoch wieder an die Stadt Tallinn zurückgegeben, 20 und auch bei genuin volksdeutschen Archivalbestände im Südosten bemüht man sich um eine Erhaltung „vor Ort“. 21

III. § 96 BVFG und die Zuordnung von ostdeutschem Archivgut 1. Deutsch-polnische Archivprobleme Zwischen Deutschland und Polen umstritten blieb seit 1945 vor allem die Zuordnung der erwähnten Archive des Deutschen Ordens und des Altpreußischen Herzogtums, die vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs aus dem Osten Preußens in das Gebiet der späteren Westzonen verlagert worden waren. Die polnische Seite sah in diesen Beständen genuin polnisches Archivgut, welches von den Deutschen aus den „wiedergewonnenen“ 22 polnischen Westgebieten ___________ 17

Oolup (Fn. 16), S. 173. Meyer-Landrut (Fn. 6), S. 119. 19 Oolup (Fn. 16), S. 175. 20 Ebenda, S. 178; vgl. auch Wistinghausen, H. von, Im freien Estland: Erinnerungen des ersten deutschen Botschafters 1991–1995, 2004, S. 26–32. 21 So die Archive der ausschließlich volksdeutschen Angehörigen der Augsburger Konfession in Siebenbürgen. Siehe dazu Baier, H., Rettung des Kulturgutes religiöser Minderheiten am Beispiel Siebenbürgen (Transsylvanien/Rumänien) oder wie beharrlicher, oft auswärtiger Sachverstand Fakten schaffen kann, in: Aus evangelischen Archiven 45 (2005), S. 153 ff.; ders., Eine Diasporakirche, ihr Kulturgut und ihre Geschichte als verpflichtendes Erbe. Das Zentralarchiv der evangelischen Kirche A.B. in Rumänien, in: Aus evangelischen Archiven 44 (2004), S. 65 ff. 22 So die Formulierung in der deutschen Zusammenfassung von Stepniak, W., Misja Adama Stebelskiego [Adam Stebelskis Mission: Die Revindikation von polnischen Archivalien aus Deutschland (1945–1949)], 1989, S. 76 ff. A. Stebelski, von dem das Buch handelt, war nach 1945 Direktor des Hauptstaatsarchivs in Warschau; zu seiner Tätigkeit in Deutschland vgl. Meekings, C. A. F., Rückgabe von Archiven an Polen, in: Der Archivar, Bd. 1 (1947/48), S. 71 (74). Die Sprachregelung („wiedergewonnene Gebiete“) ist mit der Wende von 1989/90 keineswegs verschwunden: Auf polnischer Seite findet sich noch im Jahr 2000 die Formulierung, man habe die Freie Stadt Danzig, Emsland und die Masuren, Nieder- und Oberschlesien, das Lebuser Land sowie Hinterpommern „zurückerlangt“; so Brzózka, T., Deutsche Personenstandsbücher und Personenstandseinträge von Deutschen in Polen. 1898–1945 (2000), Einleitung, S. 6. (Herausgeber des Bandes ist der Verband der Standesbeamten der Republik Polen.) 18

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verschleppt worden war. Im Gegensatz dazu unterschied bereits im Jahr 1947 C.A.F. Meekings, der Archives Officer der British Control Commission for Germany, korrekt zwischen „regelrechten Rückerstattungen“ (also Revindikationen) von Archiven, die sich im Jahr 1939 in polnischem Besitz befunden hatten, und Beständen, die an Polen „ausgeliefert“ werden sollten, weil sie sich auf die seit 1945 polnisch verwalteten Gebiete „beziehen“, 23 wie etwa die Archive des Deutschen Ordens und des Altpreußischen Herzogtums, deren Herausgabe an Polen die britischen Besatzungsmacht dann auch verhinderte. 24 Polen setzte sich überdies für die Übergabe kirchlicher Matrikeln ein, 25 und im Jahr 2002 mussten dann die heimatvertriebenen ostdeutschen Katholiken aus der Presse erfahren, dass ihre in den Westen geretteten Kirchenbücher nach Polen übergeben worden waren. 26 Das lebhafte publizistische Echo 27 auf diese Aktion ist Beleg für das anhaltende, ja wachsende deutsche Interesse nicht nur an historischen Archiven, sondern auch am Schicksal der ostdeutschen Familienbücher. Auch diese Kirchenbücher stellen Archivgut im Sinne des Völkerrechts dar. Art. 20 WK 83 geht von einem weiten Archivbegriff aus, wobei insbesondere kein Unterschied zwischen Registraturgut und Archiven von historischer und kultureller Bedeutung gemacht wird. 28 ___________ 23

Meekings (Fn. 22). Eine kriegsrechtliche Qualifikation der Vorgänge wäre abwegig; Ostpreußen war kein von Deutschland besetztes Gebiet. Anders wohl Auer, L., Restitution of Removed Records Following War, in: Proceedings of the International Conferences of the Round Table on Archives XXIX CITRA (= Conférence internationale de la Table ronde des Archives) – Mexico 1993, XXX CITRA – Thessaloniki 1994, XXXI CITRA – Washington 1995 [zitiert wird nach der englischen Fassung, deren Paginierung geringfügig von der französischen abweicht], 1998, S. 172 (176), der bei der Behandlung des Themas „Restitution of Removed Records Following War“ auch das Königsberger Archiv anführt. 25 Auch hier wäre es abwegig, von einer „Restitution“ der Kirchenbücher zu sprechen, handelte es sich doch weitgehend um Bestände aus seinerzeit reichsdeutschen Gebieten; vgl. aber Eitel, T., Beutekunst – Die letzten deutschen Kriegsgefangenen, in: Festschrift für J. Delbrück, 2005, S. 191 (210). 26 Siehe dazu Benl, R., Man verliert, was man verloren gibt, Folge 1, in: Kulturpolitische Korrespondenz (KK) Nr. 1163 (2003), S. 2 ff., Folge 2 in: KK Nr. 1164 (2003), S. 2 ff. 27 Vgl. dazu Benl, ebd.; Zewell, R., Kirchenbücher sind weg, Rheinischer Merkur 2002, Nr. 25, S. 4; Weber, C., Zu den ehemals im Bischöflichen Zentralarchiv Regensburg verwahrten katholischen Ostkirchenbüchern, in: Der Archivar, Bd. 56 (2003), S. 41 ff. 28 Vgl. aber Lodolini, E., Archivistica: Principi e problemi, 9. Aufl. 2000, S. 247 f.: Er hebt die Unterschiede zwischen lebenden und historischen Archiven hervor und spricht im Zusammenhang mit der Staatennachfolge von „due aspetti distinti e fra loro abbastanza diversi: l’uno concerne i documenti dell’amministratione corrente, i titoli di proprietà, la gestione giuridico-amministrativa in genere; l’altro, invece, gli archivi veri e propri, quali beni culturali.“ 24

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2. Zum Archivgut der ostdeutschen Vertreibungsgebiete Für die von Völkerrechts wegen gebotene Zuordnung von Archivgut in den Abtretungsgebieten Ostdeutschlands wäre jeweils zunächst zu prüfen, ob es sich um „staatliche“ oder aber um „sonstige“, d. h. private Archive handelt. Soweit es sich um staatliche Archive handelt, kann zur Beurteilung der korrekten Zuordnung der Archivbestände des Abtretungsgebietes auf die Regelungen in der WK 83 zurückgegriffen werden, auch wenn diese Konvention noch nicht in Kraft getreten ist. 29 Auf den ersten Blick scheint es sich bei den ostdeutschen Kirchenbüchern nicht um „staatliches“ Archivgut zu handeln; die am Ende des Zweiten Weltkriegs in den Westen geretteten katholischen (wie auch die evangelischen) Kirchenbücher befanden sich in kirchlichem Eigentum. Eine Qualifizierung der Kirchenbücher als „nicht-staatlich“ griffe aber trotzdem zu kurz. Die ausschließlich kirchenrechtliche Einordnung der Kirchenbücher wäre aus folgendem Grund äußerst fragwürdig: Bis 1874/76 wurden in Preußen für Christen keine weltlichen Standesregister geführt. 30 Seit 1794 besaßen aber die kirchlichen Matrikeln den Status öffentlich-rechtlicher Urkunden. 31 Daher erschiene es angemessener, die Pfarrer, welche die Kirchenregister geführt haben, als mit der staatlichen Funktion der zivilen Beurkundung betraut oder beliehen anzusehen. 32 Entsprechend wären die katholischen (und die evangelischen) Kirchenbücher aufgrund ihres öffentlich-rechtlichen Charakters als staatliche Archivalien zu qualifizieren. Die generelle Problematik einer Einstufung von Kirchenregistern als nicht-staatlich hat übrigens ein Bericht der UNESCO bereits im Jahr 1978 hervorgehoben: „In discussions of archival claims a distinction is sometimes made between public and private archives. This is a legal distinction that not only differs substantially

___________ 29 Das Übereinkommen tritt nach Hinterlegung der fünfzehnten Ratifikations- oder Beitrittsurkunde in Kraft. Bis Anfang 2006 waren ihm erst sieben Staaten beigetreten, so dass sein Inkrafttreten derzeit noch nicht abzusehen ist. Bemerkenswerterweise handelt es sich bei sechs der bisherigen Vertragsparteien um Kroatien, Mazedonien und Slowenien sowie Estland, Georgien und die Ukraine, also um Staaten, die als Sukzessoren Jugoslawiens bzw. der Sowjetunion an den Regelungen besonders interessiert sind (der siebte Vertragsstaat ist Liberia). Vgl. Multilateral Treaties as Deposited with the Secretary General, http://www.untreaty.un.org (Stand: 07.02.2006). 30 Vgl. dazu Günther, W., Personenstandsüberlieferung in evangelischen Archiven, in: Aus evangelischen Archiven 45 (2005), S. 102 ff. 31 Brzózka (Fn. 22), S. 5. 32 Vgl. dazu Benl, KK 1164 (Fn. 26), S. 2: „Die Kirchenbuchführung stellte also nicht bloß die Buchung geistlicher Amtshandlungen dar, sie war ebenso ein Teil der landesherrlichen, staatlichen Polizeiverwaltung.“ In seinem Referat auf dem 75. Deutschen Archivtag (2005) über die katholischen Pfarrarchive in Bayern im Dritten Reich hielt Peter Pfister für die Zeit von 1803 bis 1876 fest, dass es sich bei der Führung der Personenstandsunterlagen durch die Pfarreien „um eine Art von staatlicher Auftragsverwaltung“ gehandelt habe (zitiert nach dem Tagungsbericht von Hanke, U., in: Der Archivar, Bd. 59 [2006], S. 35 [38]).

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from State to State, but that has undergone change from time to time in the same State. Furthermore, in some States, archives that were once regarded as private have been or are now accorded the status of official records, for example, church registers of births, marriages and deaths that have been used to establish citizenship rights or eligibility for certain public benefits.“ 33

Mit einer solchen Qualifizierung der Kirchenbücher als öffentlich-rechtlich, steht ihrer Subsumtion unter den Archivbegriff des § 96 BVFG nichts im Wege, und es kann für die Beurteilung der Zuordnung der erwähnten, zwischen Polen und Deutschland strittigen Archivbestände insgesamt auf die Regelungen der WK 83 zurückgegriffen werden. Sofern die betreffenden Staaten nicht etwas anderes vereinbaren, bestimmt Art. 27 Abs. 2 WK 83 für den Fall der Gebietsabtretung (Zession) folgendes: Wenn ein Teil des Territoriums eines Staates von diesem Staat einem anderen Staat übertragen wird, so a) soll der Teil der Staatsarchive des Vorgängerstaates, der für eine normale Verwaltung des Territoriums, auf das sich die Staatennachfolge bezieht, dem Staat zur Verfügung stehen sollte, dem das betreffende Territorium übertragen wurde, auf den Nachfolgestaat übergehen; und b) soll der Teil der Staatsarchive des Vorgängerstaates, der nicht durch Unterabsatz (a) erfasst wird und „ausschließlich oder hauptsächlich“ das Territorium betrifft, auf das sich die Staatennachfolge bezieht, auf den Nachfolgestaat übergehen. Wenn wir den Gebietsübergang der Ostgebiete von Deutschland an Polen als Zession bewerten, so scheint zunächst Art. 27 Abs. 2 WK 83 einschlägig zu sein. Für die endgültige Zuordnung von Verwaltungsarchiven in Vertreibungsgebieten kann allerdings die Konvention von 1983 – man könnte sagen: naturgemäß – keine Regeln aufstellen. Entsprechend ihrem Art. 3 findet sie nämlich nur „auf die Auswirkungen einer Staatennachfolge Anwendung, die im Einklang mit dem Völkerrecht und insbesondere mit den in der Charta der Vereinten Nationen niedergelegten Prinzipien des Völkerrechts eintritt.“ Vertreibung steht aber nie im Einklang mit dem Völkerrecht. Für die vorliegende Untersuchung ist zudem wichtig, dass der Sonderberichterstatter der ILC für die WK 83, der spätere Präsident des Internationalen Gerichtshofs Mohammed Bedjaoui, 34 den Sonderfall der Vertreibung durchaus ___________ 33 „Report [20C/102] of the Director-General on the study regarding problems involved in the transfer of documents from archives in the territory of certain countries to the country of their origin“, in: CITRA 1993–1995 (wie Fn. 24), S. 235 (238). 34 Zu Werk und Person des algerischen Völkerrechtlers siehe Yakpo, E. / Boumedra, T. (Hrsg.), Liber Amicorum Judge Mohammed Bedjaoui 1999, S. 2–45. Im Jahr 2001 schied Bedjaoui als ständiger Richter am IGH aus und kehrte in die algerische Politik zurück, wo er im Jahr 2005 zum Außenminister berufen wurde.

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gesehen hat. Sowohl Bedjaoui als auch – ihm folgend – die ILC haben im Falle der Vertreibung oder auch nur der Auswanderung der Mehrheit der angestammten Bevölkerung aus dem Abtretungsgebiet in den Altstaat Art. 27 WK 83 für unanwendbar gehalten. Dies wird durch einen eher unscheinbaren Vorbehalt bei der Begründung Bedjaouis für die in Art. 2735 gefundene Regelung deutlich. Zunächst wird betont, „State archives which were situated in the transferred territory, such as the archives constituted locally by the predecessor State for the purpose of administering the part of the territory in question, must pass to the successor State.“36

Dies sei selbst dann noch angemessen, wenn einige oder viele Bewohner des Abtretungsgebiets für den Vorgängerstaat optierten und abwanderten37, doch sei dann Folgendes zu berücksichtigen: „The State archives that were situated in the transferred territory, such as taxation records or records of births, marriages and deaths, concern these transplanted inhabitants. It will then be for the predecessor State to ask the successor State for all facilities such as microfilming, in order to obtain the archives necessary for administrative operations relating to the evacuated nationals. In no case, however, inasmuch as it is a minority of the inhabitants which emigrates, may the successor State be deprived of the archives necessary for administrative operations relating to the majority of the population which stays in the transferred territory.“38

Entscheidend ist der eben zitierte, mit inasmuch eingeleitete Vorbehalt Bedjaouis, dem die ILC in ihrem Bericht wörtlich gefolgt ist:39 Demnach ist Art. 27 WK 83, der im Falle der Zession die Zuordnung der lokalen Archive zum Nachfolgestaat anordnet, bei Abwanderung der Mehrheit der Bewohner aus dem Abtretungsgebiet aufgrund Option für den bisherigen Heimatstaat nicht anwendbar und erst recht nicht im Falle einer Vertreibung der angestammten Bevölkerung aus dem Abtretungsgebiet. In einer derartigen Situation fallen also entgegen Art. 27 WK 83 „the archives necessary for administrative operations relating to the evacuated nationals“40 nicht an den Nachfolgestaat. Auch die Arbeitsgruppe des weltweiten Dachverbands der Archivare, des Internationalen Archivrats (International Council on Archives – ICA), verlangt in ihrer Stel___________ 35

In der endgültigen Nummerierung. Bedjaoui, „Eleventh report on succession in respect of matters other than treaties“, in: Yearbook of the International Law Commission (YBILC) 1979, Bd. II, 1, S. 107 (Hervorhebung im Original). 37 „This is the obvious, wise and equitable solution. It may happen, however, that in consequence of the transfer of a part of one State's territory, some or many of the inhabitants, preferring to retain their nationality, leave that territory and settle in the other part of the territory, which remains under the sovereignty of the predecessor State.“ (ebd.). 38 Ebenda. 39 Report of the ILC on the work of its 33rd session, in: YBILC 1981, II, 2, S. 42. 40 Bedjaoui (Fn. 36), S. 107. 36

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lungnahme zur WK 83,41 bei der Zuordnung der Archive im Zessionsfall die Abwanderung der Bevölkerung eines zedierten Gebietes in den Vorgängerstaat zu berücksichtigen: „In cases where, in the process of change of sovereignty, a significant part of the population leaves the territory of the successor State and settles in the territory of the predecessor State, this fact shall be taken into account when negotiating the succession of States in respect of archives.“42

3. Konsequenzen für die Zuordnung ostdeutscher historischer Archive Bei den beiden Archiven des Deutschen Ordens und des Altpreußischen Herzogtums handelt es sich um „historische Archive“. Auf deren Zuordnung treffen die Erwägungen, mit denen die ILC ihren Vorbehalt für den besonderen Fall einer Vertreibung der angestammten Bevölkerung aus dem Abtretungsgebiet begründet, zwar nicht im selben Maße zu wie auf Verwaltungsarchive, doch gebietet bei historischen Archiven der Grundsatz der Rücksichtnahme auf das Recht der Völker der beteiligten Staaten auf Entwicklung, auf Information über ihre Geschichte und auf ihr kulturelles Erbe die Zuordnung zu Deutschland.43 Allerdings waren die im Preußischen Staatsarchiv in Königsberg aufbewahrten Bestände des Deutschen Ordens und des Altpreußischen Herzogtums bereits im Jahr 1944 von dort in andere Teile Preußens verlegt worden, also lange vor Eintritt der Staatennachfolge.44 Zunächst wäre also zu prüfen, ob diese Verlegung im Verhältnis zu den möglichen Nachfolgestaaten (neben Polen käme noch die UdSSR/Russland in Frage) als „suspekt“ zu qualifizieren wäre, denn nur dann könnte Polen überhaupt auf diesen Archivbestand Ansprüche aus der Staatennachfolge geltend machen.

___________ 41 Professional Advice formulated in 1983 on the Vienna Convention on Succession of States in Respect of State Property, Archives and Debts, Part III, State archives (art. 19 to 31), in: CITRA 1993–1995 (wie Fn. 24), S. 250–255. 42 Ebenda, S. 254. 43 Zum besonderen Stellenwert dieses Grundsatzes bei der Zuordnung von Archiven siehe auch Hecker (Fn. 5), S. 291. 44 Vgl. Blumenwitz, D., Staatennachfolge und die Einigung Deutschlands (Teil I), 1992, S. 41 f.

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Art. 26 WK 83 45 enthält zwar ein an den Vorgängerstaat gerichtetes Verbot rechtsmissbräuchlicher Verfügungen während der so genannten période suspecte 46 , also im zeitlichen Umfeld einer Staatennachfolge, es gibt aber keinen völkerrechtlichen Grundsatz, der es einem Staat verbieten würde, historische Archive innerhalb seines souveränen Gebietes in eine andere Sammelstätte zu verlegen 47 . Dies gilt in diesem Fall schon deshalb, weil die Aufbewahrung gerade im Staatsarchiv Königsberg ihrerseits eher zufällig war. Überdies kann hinsichtlich der preußischen Gebiete östlich von Oder und Neiße eine période suspecte im Sinne von Art. 26 WK 83 gar nicht angenommen werden, erfolgte doch die Verlegung der Archivbestände lange vor dem frühestmöglichen Zeitpunkt eines Erlöschens der deutschen Verwaltungskompetenz über den Einzugsbereich des Staatsarchivs Königsberg und über Königsberg selber – im Jahr 1944 geschah dies zweifellos nicht in Hinblick auf die damals ja noch unvorhersehbare Entwicklung nach dem 8. Mai 1945 bzw. dem 3. Oktober 1990. Aber selbst wenn unterstellt würde, die Sicherung dieser Bestände und ihre Fortschaffung in westliche Provinzen Preußens sei während einer période suspecte erfolgt, hätte die Rückführung in das heutige Polen (oder nach Königsberg) aus anderen Gründen zu unterbleiben: Die Archive des Deutschen Ordens und des Altpreußischen Herzogtums sind nämlich von historischer und kultureller Bedeutung nicht nur für die vertriebene Bevölkerung der Ostgebiete, sondern für das ganze deutsche Volk. Die Zuordnung der beiden genannten historischen Archivsammlungen zu Deutschland ist also vom Übergang der Verwaltungskompetenz in den Ostgebieten und von der im Jahr 1990 vollzogenen Gebietsabtretung 48 nicht berührt. Das Schicksal der Archive bei Staatennachfolge wurde vom ILC-Sonderberichterstatter Bedjaoui in der Konvention ___________ 45

Art. 26 WK 83 lautet: „Für den Zweck der Erfüllung der Bestimmungen der Artikel im vorliegenden Teil soll der Vorgängerstaat alle Maßnahmen ergreifen, um Beschädigung oder Zerstörung von Staatsarchiven, die in Übereinstimmung mit diesen Bestimmungen auf den Nachfolgestaat übergehen, zu verhindern.“ Zu Art. 26 WK 83 siehe Silagi, M., Staatennachfolge und Archive, in: Archivalische Zeitschrift, Bd. 85 (2003), S. 9 (49–52). 46 Grundsätzlich zum Begriff der période suspecte im Recht der Staatennachfolge vgl. Silagi, M., Staatsuntergang und Staatennachfolge, 1996, S. 231 ff. 47 Dies betont auch Kraus, H., Völkerrechtliches Gutachten, in: ders. / Weise, E., Zwei Gutachten über die Archive des Deutschen Ordens sowie des altpreußischen Herzogtums (als MS. gedruckt) 1949, S. 10 f. (Nr. 12). Anders Stepniak (Fn. 22), S. 76, wonach wertvolle Archivalien aus den „wiedergewonnenen Gebieten“ ins Innere Deutschlands „verschleppt“ worden seien, und – noch im Jahr 1998! – die Generaldirektorin der polnischen Archive, Nalecz, Daria, in ihrem Beitrag „Polish archives after the partition of the State“, in: Archives et Bibliothèques de Belgique 69 (1998), S. 65 (73). 48 Vgl. dazu Blumenwitz, D., Staats- und völkerrechtliche Überlegungen zur Regelung der deutsch-polnischen Grenze, in: Ratza, O. (Hrsg.), Deutschland und seine Nachbarn – Forum für Kultur und Politik, Heft 3, 1990, S. 4 ff.

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ja gerade deshalb gesondert vom übrigen staatlichen Eigentum geregelt, weil ihnen als Teil des kulturellen Erbes ein besonderer Stellenwert zukommt. 49

4. Konsequenzen für die Zuordnung ostdeutscher Registraturen und Kirchenbücher Auf Verwaltungsarchive treffen die zitierten Vorbehalte der ILC für den besonderen Fall einer Vertreibung der angestammten Bevölkerung aus dem Abtretungsgebiet uneingeschränkt zu. Im Falle der deutschen Ostgebiete geht es dabei um zwei Bestände, einmal um Registraturgut aus ostdeutschen Standesämtern, zum anderen um besagte Kirchenbücher. Der größere Teil des Registraturgutes der ostdeutschen Standesämter war bei der Vertreibung der Deutschen im Osten geblieben. Vor Kriegsende waren jedoch in bescheidenem Umfang standesamtliche Register aus den Vertreibungsgebieten in den Westen gerettet worden. Sie wurden im Standesamt I in Berlin (West), teilweise auch im Standesamt I in Berlin (Ost) aufbewahrt. 50 An diesem nach Berlin geschafften Material war man nach 1945 in Warschau offensichtlich nicht sonderlich interessiert. Nur so erklärt es sich, dass derjenige Teil dieser Bestände, welcher bis zur Wende von 1989/90 in Ost-Berlin lagerte – 1250 laufende Meter an Standesamtsregistern und Personenstandsbüchern aus 1300 ehemaligen ostdeutschen Standesämtern 51 –, nicht von der DDR an Polen herausgegeben wurde. Andererseits hat Polen weder vor noch nach 1990 das in den ostdeutschen Standesämtern zurückgelassene Registraturgut an Deutschland übergeben. Dabei hatte Herbert Kraus bereits 1949 festgestellt, dieses sei „für die nunmehr dort tätigen Behörden und in diesen Gebieten wohnhaften Menschen von keiner aktuellen Relevanz; aber [es] ist in vielfacher Hinsicht (z. B. für Familienstand, Vorstrafen, Ausweis über bestandene Prüfungen usw. usw.) für die Behörden der Aufnahmeländer und die Vertriebenen selbst von wesentlicher Bedeutung“ 52 und sei daher an den Vorgängerstaat herauszugeben. Auch nach den von Bedjaoui in Übereinstimmung mit der ILC aufgestellten, von der Arbeitsgruppe des Internationalen Archivrats im ___________ 49

Auf diesen Aspekt für eine Sonderbehandlung der Archive im Vergleich zum sonstigen Staatseigentum weist Bedjaoui (Fn. 36), S. 80, ausdrücklich hin. 50 Verlag für Standesamtswesen (Hrsg.), Standesamtsregister und Personenstandsbücher der Ostgebiete im Standesamt I in Berlin. Gesamtverzeichnis für die ehemaligen deutschen Ostgebiete, die besetzten Gebiete und das Generalgouvernement (1992). Nach dem 3. Oktober 1990 wurde der Gesamtbestand vom wiedervereinigten Standesamt I in Berlin fortgeführt (Schütz, W., Vorwort, ebenda, S. V). 51 Vgl. Schütz, W., Vorwort, ebenda, S. V. 52 Kraus (Fn. 47), S. 9 (Nr. 8); ähnlich Kownatzki, H., Grenzen des Provenienzsystems, in: Archivalische Zeitschrift, Bd. 47 (1951), S. 217 f.

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Jahr 1983 bestätigten Grundsätzen hätten diese Archivalien an den Aufnahmestaat der Vertriebenen, also an Deutschland, zu fallen. Immerhin gelang es dem Verlag für Standesamtswesen im Jahr 2000, ein Verzeichnis der in Polen einschließlich der ehemaligen deutschen Ostgebiete zurückgelassenen und dort aufbewahrten deutschen Standesregister und Personenstandsbücher zusammenzustellen. 53 Im Frühjahr 2002 wurden, wie erwähnt, 3361 ostdeutsche Kirchenbücher, welche am Ende des Zweiten Weltkrieg in den Westen gelangt waren und im bischöflichen Zentralarchiv in Regensburg aufbewahrt wurden, an die nunmehr polnischen Heimatdiözesen übergeben. 54 Diese Transaktion erfolgte aufgrund einer Vereinbarung zwischen dem deutschen und dem polnischen Episkopat vom August 2001. Kirchlicherseits hat man das damit begründet, dass die Kirchenbücher nach dem jus ecclesiasticum weiterhin im Eigentum der rechtlich fortbestehenden katholischen Pfarreien im Osten stünden und als Kirchengut den (allerdings erst seit 1992 55 ) zuständigen polnischen Bistümern übergeben würden. § 96 BVFG gebietet, wie erwähnt, die Sicherung der Archive. Trotzdem haben, soweit ersichtlich, weder die Bundesrepublik Deutschland noch der Freistaat Bayern gegen die Herausgabe der katholischen Kirchenbücher an Polen protestiert. In Hinblick auf den Auftrag des § 96 BVFG, der gleichermaßen an Bund und Länder gerichtet ist, ist dieses Verhalten zumindest problematisch. Auch im Evangelischen Zentralarchiv in Berlin werden Kirchenbücher aus den historischen deutschen Ostgebieten verwahrt; deren Abgabe an Polen ist nicht beabsichtigt. Dies stellte der seinerzeitige Leiter des Evangelischen Zentralarchivs in Berlin, Dr. Hartmut Sander, im September 2001 klar: Eigentümer dieser Kirchenbücher waren die jeweiligen evangelischen Kirchengemeinden in den ostdeutschen Kirchenprovinzen der damaligen Evangelischen Kirche der altpreußischen Union. Sie sind, so der sicherlich besser nachvollziehbare Rechtstandpunkt der Evangelischen Kirche, durch die Vertreibung der Gemeindemitglieder untergegangen. Ihr in der Bundesrepublik Deutschland gelegenes Eigentum ist auf die Evangelische Kirche der Union, die Rechtsnachfolgerin der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union, übergegangen, so ___________ 53 Deutsche Personenstandsbücher und Personenstandseinträge von Deutschen in Polen. 1898–1945 (2000); dieses bereits erwähnte Verzeichnis ergänzt das Gesamtverzeichnis des Verlags für Standesamtswesen aus dem Jahr 1992. 54 Wie Fn. 27. 55 Bis dahin galt auch für die Abtretungsgebiete das Reichskonkordat; vgl. dazu Blumenwitz, D., Zur Bedeutung des Reichskonkordats für die Neuregelung der Diözesen in den Oder-Neiße-Gebieten durch den Hl. Stuhl, in: Gedächtnisschrift für G. Küchenhoff, 1983, S 185 ff.

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dass „keine Ansprüche auf sie erhoben werden können, wie es die Konferenz der polnischen katholischen Bischöfe für die 3361 Kirchenbücher getan hat.“56 Von Völkerrechts wegen war und ist die Abgabe von Kirchenbüchern aus den Vertreibungsgebieten an Polen nicht geboten; der evangelische Standpunkt ist folgerichtig. Dies gilt um so mehr, als es, wie oben dargelegt, abwegig wäre, die Kirchenbücher als bloße nicht-staatliche Urkunden zu qualifizieren.57 Wenn es sich aber bei diesem Bestand um quasi-staatliche Archivalien handelt, so hätte eher Deutschland von Polen die Herausgabe von solchem Archivgut verlangen können, das von den bis 1945 deutschen Kirchengemeinden stammte und damals zurückgelassen wurde. Dies gilt gleichermaßen für katholische wie für evangelische Kirchenbücher, und entsprechendes gilt auch für die in den Ostgebieten zurückgelassenen Standesamtsakten aus der Zeit bis 1945.

___________ 56

So Sander in seinem instruktiven Leserbrief, in: FAZ vom 17.09.2001. Vgl. auch Sander, H., Zur Rechtsproblematik der katholischen Ostkirchenbücher, in: Der Archivar, Bd. 56 (2003), S. 43, wonach die Kirchenbücher zwar „kirchliches Eigentum“ seien, aber „nicht nur Kirchengut, sondern auch Kulturgut und insofern eingeschränktes Eigentum“. 57

The Illegal Implantation of Turkish Settlers in Occupied Northern Cyprus Alfred de Zayas The implantation of Turkish settlers in Northern Cyprus following the Turkish invasion of Cyprus in July 1974 raises many issues of international law, humanitarian law and human rights law. The United Nations Plan for reunification, the so-called “Annan Plan” 1 addressed the thorny issues of the implantation of Turkish settlers in an ambiguous and highly unsatisfactory manner. Pursuant to the Plan, a considerable number of illegal settlers would have been allowed to remain in Cyprus, thus legitimising retroactively the demographic manipulations practiced by Turkey since 1974. The Plan did not adequately accommodate the interests of the expellee Cypriot population to return to their homes and to have restitution for and/or compensation for their property. In two separate referenda held on 24 April 2004, the Plan was rejected. While 65 % of the Turkish voters in the occupied part of Cyprus, including the illegal settlers, voted in favour of the plan, 76 % of the Cypriots in the Republic of Cyprus voted against it. Accordingly, the democratically expressed will of the Cypriot people must be respected. Bearing in mind the fundamental flaws that plagued the Plan; it would be fruitless to try to resurrect it. 2 Instead, the Cypriot people themselves should be given a chance to start a process of constitution-making with a view to determining their future themselves, without any plans or constitutions being imposed on them from the outside. ___________ 1

The best analysis to date of the “Annan Plan” is provided by C. Palley in her book: An International Relations Debacle. The UN Secretary-General’s Mission of Good Offices in Cyprus 1999–2004, 2005. Lord D. Hannay lays out the Turkish-British partisan view in his book: Cyprus, The Search for a Solution, 2005. Bearing in mind Hannay’s personal involvement in the drafting of the “Annan Plan”, the book sounds like a sorry apology and unsuccessfully tries to put the blame on the Greek Cypriots. A more recent, thoroughly flawed book, on the subject is F. Hoffmeister’s Legal Aspects of the Cyprus Problem, 2006. The author had worked both for the European Commission and for the UN Special Advisor on Cyprus, and was committed to the adoption of the Plan. His book is as an attempt at a justification of the conduct of the EU Commission and its lawyers, and provides an unreliable account of the relevant law. 2 Zayas, A. de, The Annan Plan, in: The Cyprus Yearbook of International Relations, Vol. I, 2006, p. 163 et sqq.

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I. Historical and Legal Abstract The factual and legal situation concerning the Turkish invasion of Northern Cyprus in 1974, the expulsion of 180.000 Greek-Cypriots from their homes and the implantation of more than 120.000 Turkish settlers in their place is reasonably clear: 1. The Turkish invasion entailed the crime of aggression, as it violated both the UN Charter and the Nuremberg principles. 2. The expulsion of 180.000 Greek Cypriots constituted a war crime and a crime against humanity – both pursuant to the Nuremberg principles and article 49 of the Geneva Convention IV of 1949. 3. The implantation of 120.000 Turkish settlers in Northern Cyprus constituted a criminal attempt at changing the demography of Cyprus. 4. Turkish settlers are entitled to the human rights stipulated in the International Covenant on Civil and Political Rights and the European Convention on Human Rights and Fundamental Freedoms (which bind both Turkey and Cyprus), but they have no independent claim in international law to continued residence in Cyprus. 5. Following the end of Turkish occupation in Northern Cyprus, the most durable solution would be the gradual and orderly repatriation of a yet to be determined number of settlers, a task which could be facilitated by the United Nations High Commissioner for Refugees and the International Organization for Migration. 6. Bearing in mind that collective expulsions are incompatible with Protocol 4 to the European Convention on Human Rights, individual status determination would have to be carried out, and the human rights to family and home would have to be balanced against the rights of the expelled Greek-Cypriots to return to their homes and property. After formulating these preliminary theses, I may add that international law is, of course, not mathematics – if it were, we would not need lawyers and judges! And, in any event, norms of domestic or international law, are never identical with their enforcement. Thus, many judgments of the ECHR, e.g. the judgment 3 of 10 May 2001, still await implementation, as do the relevant reso___________ 3 In a Grand Chamber judgment delivered at Strasbourg on 10 May 2001 in the case of Cyprus v. Turkey (application no. 25781/94), the European Court of Human Rights held, by sixteen votes to one, that the matters complained of by Cyprus in its application entailed Turkey’s responsibility under the European Convention on Human Rights. The Court held that there had been the following 14 violations of the Convention: Greek-Cypriot missing persons and their relatives: – A continuing violation of Article 2 (right to life) of the Convention concerning the failure of the authorities of the respondent State to conduct an effective investigation

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lutions of the Security Council, the General Assembly, the UN Commission on Human Rights (Human Rights Council since 2006) and the UN Sub-Commission on Promotion and Protection of Human Rights. ___________ into the whereabouts and fate of Greek-Cypriot missing persons who disappeared in life-threatening circumstances; – A continuing violation of Article 5 (right to liberty and security) concerning the failure of the Turkish authorities to conduct an effective investigation into the whereabouts and fate of the Greek-Cypriot missing persons in respect of whom there was an arguable claim that they were in Turkish custody at the time of their disappearance; – A continuing violation of Article 3 (prohibition of inhuman or degrading treatment) in that the silence of the Turkish authorities in the face of the real concerns of the relatives attained a level of severity which could only be categorised as inhuman treatment. Home and property of displaced persons: – A continuing violation of Article 8 (right to respect for private and family life, home and correspondence) concerning the refusal to allow the return of any Greek-Cypriot displaced persons to their homes in Northern Cyprus; – A continuing violation of Article 1 of Protocol No. 1 (protection of property) concerning the fact that Greek-Cypriot owners of property in Northern Cyprus were being denied access to and control, use and enjoyment of their property as well as any compensation for the interference with their property rights; – A violation of Article 13 (right to an effective remedy) concerning the failure to provide to Greek Cypriots not residing in Northern Cyprus any remedies to contest interferences with their rights under Article 8 and Article 1 of Protocol No. 1. Living conditions of Greek Cypriots in Karpas region of Northern Cyprus – A violation of Article 9 (freedom of thought, conscience and religion) in respect of Greek Cypriots living in Northern Cyprus, concerning the effects of restrictions on freedom of movement which limited access to places of worship and participation in other aspects of religious life; – A violation of Article 10 (freedom of expression) in respect of Greek Cypriots living in Northern Cyprus in so far as school-books destined for use in their primary school were subject to excessive measures of censorship; – A continuing violation of Article 1 of Protocol No. 1 in respect of Greek Cypriots living in Northern Cyprus in that their right to the peaceful enjoyment of their possessions was not secured in case of their permanent departure from that territory and in that, in case of death, inheritance rights of relatives living in southern Cyprus were not recognised; – A violation of Article 2 of Protocol No. 1 (right to education) in respect of Greek Cypriots living in Northern Cyprus in so far as no appropriate secondary-school facilities were available to them; – A violation of Article 3 in that the Greek Cypriots living in the Karpas area of Northern Cyprus had been subjected to discrimination amounting to degrading treatment; – A violation of Article 8 concerning the right of Greek Cypriots living in Northern Cyprus to respect for their private and family life and to respect for their home; – A violation of Article 13 by reason of the absence, as a matter of practice, of remedies in respect of interferences by the authorities with the rights of Greek Cypriots living in Northern Cyprus under Articles 3, 8, 9 and 10 of the Convention and Articles 1 and 2 of Protocol No. 1. Rights of Turkish Cypriots living in Northern Cyprus: – A violation of Article 6 (right to a fair trial) on account of the legislative practice of authorising the trial of civilians by military courts.

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II. Norms The principal sources of hard law applicable to the situation prevailing in Cyprus following the Turkish occupation are: 1. The Nuremberg trials established precedents still valid today concerning the illegality of aggressive war, the illegality of expulsions and the illegality of demographic manipulations 4 . The Nazis were condemned for the supreme crime of aggression, but also for the expulsion of 650.000 Poles from Western Poland and for the implantation of German settlers in the occupied Polish territories. (One of the wartime German settlers is the current President of Germany, Horst Koehler, born 1942 in a village near Lodz. His family fled West in the summer of 1944, anticipating their collective expulsion 1945–1948 5 .) It is important to note that several National Socialist officials were not only convicted but also executed for their crimes. The Nuremberg precedent is not without relevance with regard to the criminal responsibility of the late Turkish Prime Minister Bulent Ecevit? 2. Article 49 of the IV. Geneva Convention of 1949 prohibits both the deportation of the civilian population from occupied territory and also the implantation of settlers: “The Occupying Power shall not transfer part of its own civilian population into the territory it occupies”. The 1977 Protocol I to the Geneva Conventions strengthens the prohibition of such implantations – and a violation of article 49 of the IV Geneva Convention constitutes a “grave breach” that pursuant to articles 146 and 147 of the Convention requires prosecution and punishment. 3. Articles 7 and 8 of the Statute of Rome of July 1998 – i.e. the Statute of the International Criminal Court at The Hague – prohibit both expulsions and implantations, which are deemed to be war crimes and crimes against humanity. Admittedly, the ICC statute has no retroactive application, but it is essentially declarative of pre-existing international law. 4. Numerous resolutions of the Security Council, General Assembly called for the removal of foreign troops from Northern Cyprus. These resolutions have been ignored with impunity for more than 30 years. 5. Other provisions of international law applicable in this context are – The International Covenant on Civil and Political Rights, in particular article 2 on the right to a remedy, art. 9 on security of the person, art. 17 on the right to privacy, art. 23 on the right to family life, art. 26 on the right to equality and non-arbitrariness, ___________ 4 Zayas, A. de, International Law and Mass Population Transfers, in: Harvard International Law Journal, Vol. 16, No. 2, Spring 1975, p. 207 et sqq. 5 Blumenwitz, D. (ed.), Flucht und Vertreibung, 1987; Zayas, A. de, Die deutschen Vertriebenen, 2006.

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– The International Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination, – The European Convention on Human Rights and Fundamental Freedoms, in particular article 8 on the right to family life, and Protocol I, which protects the right to property. Besides statutory law and case law, there are applicable general principles of law such as – The principle of non-discrimination. After all, it was the Greek-Cypriots who were expelled and an Apartheid Wall was built separating Cyprus on ethnic and religious grounds, – The principle of self-determination, according to which only the native population of a country can participate in a self-determination referendum. This was the case in Western Sahara and East Timor. In 2002 the United Nations Human Rights Committee adopted Views with respect to case No. 932/2000 (Gillot v. France), in which the French law excluding recent settlers from voting in a self determination referendum in French New Caledonia was found to be in compliance with article 1 of the Covenant, which stipulates the right to self-determination and would thus limit the right to participate in referenda to the autochthonous population, 6 – The right to one’s culture and identity. 7 In addition to these norms of customary international law, and other lex lata or hard law, there is international case law, including four inter-State cases Cyprus v. Turkey, which held that the expulsion of Greek Cypriots from their homes had been illegal and which provided for the right to return and the right to compensation. Besides the various forms of hard law, there is also ample soft law in the form of resolutions of the United Nations General Assembly, the Commission on Human Rights and the Sub-Commission on Promotion and Protection of Human Rights. Resolution 2002/30, adopted on 15 August 2002, concerns the right to return of refugees and internally displaced persons. Operative paragraph 1 “confirms that all those displaced have a right to return voluntarily in safety and dignity, as established in international human rights law”. Operative paragraph 3 “reaffirms that all those displaced have the right o adequate housing ___________ 6

UN Doc. A/57/40, Vol. II, Annex IX, Sect. GG. In 1992 and 1993, as a senior UN lawyer, I participated in the UN missions to the Baltic countries concerning the Russian settlers. The resulting UN reports on the Russian Minorities in Estonia and Latvia did not impose an obligation on Estonia and Latvia to grant their Russian minorities citizenship, and expressed understanding for the Estonian and Latvian concern to defend their cultural identity. 7

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and property restitution, or, should this not be possible, appropriate compensation or another form of just reparation.” Resolution 2005/21, adopted on 11 August 2005, concerns the right to housing and property restitution for refugees and displaced persons. Operative paragraph 1: “Urges States to ensure the right of all refugees and displaced persons to return and have restored to them any housing, land and/or property of which they were arbitrarily or unlawfully deprived, and to develop effective and expeditious legal, administrative and other procedures to ensure the free and fair exercise of this right, including fair and effective mechanisms designed to implement this right.” Operative paragraph 2: “Reiterates that States should neither adopt nor apply laws that prejudice the restitution process, in particular through arbitrary, discriminatory, or otherwise unjust abandonment laws or statutes of limitations.” During the 1990’s there were numerous UN resolutions affirming the right to one’s homeland, namely the right to live in peace and dignity in one’s homeland and the right to return – rights specifically recognized to the Palestinians, the Bosnians, the Croats, the Serbs from the Krajina, the Kossovars, and also the Cypriots 8 . Then and most importantly there are the three UN Sub-Commission studies on the Human Rights Dimensions of Population Transfers by Special Rapporteur of the Sub-Commission Awn Shawkat Al-Khasawneh, now a judge at the International Court of Justice in The Hague. Already in his first report, written together with Sub-Commission member Ribot Hatano, unconditionally condemned all demographic manipulations, particularly through the implantation of settlers in occupied territory. His final report of 1997 appends a 13-point Declaration that is of particular relevance to Cyprus. Article 5 stipulates “The settlement, by transfer or inducement, by the Occupying Power of parts of its own civilian population into the territory it occupies or by the power exercising de facto control over a disputed territory is unlawful”. Article 6 provides that “Practices and policies having the purpose or effect of changing the demographic composition of the region in which a national, ethnic, linguistic, or other minority or an indigenous population is residing, whether by deportation, displacement, and/or the implantation of settlers, or a combination thereof, are unlawful”.

___________ 8 Zayas, A. de, The Right to One’s Homeland, Ethnic Cleansing and the International Criminal Court for the Former Yugoslavia, in: Criminal Law Forum, Vol. 6, No. 2, 1995, p. 257 et sqq.

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Article 7 states “Population transfer or exchanges of population cannot be legalized by international agreement …”. 9 Article 8 “Every person has the right to return voluntarily, and in safety and dignity, to his country of origin and, within it, to the place of origin or choice …”. Article 9 “The above practices of population transfers constitute internationally wrongful acts giving rise to State responsibility and to individual criminal liability” 10 . Article 10 “the international community as a whole, and individual states, are under an obligation: a) not to recognize as legal the situation created by such acts; b) in ongoing situations, to ensure the immediate cessation of the act and the reversal of the harmful consequences; c) not to render aid, assistance or support, financial or otherwise, to the State which has committed or is committing such act …” 11 (E/CN.4/Sub.2/1997/23). The first United Nations High Commissioner for Human Rights, Dr. Jose Ayala Lasso, affirmed these principles of international law in 1995 in a statement in Frankfurt am Main, and most recently in Berlin on 6 August 2005. 12

III. Procedures The solution of the settler issue depends on the reunification of Cyprus. This in turn depends on the freely exercised right of the Cypriot people. No Plan should be imposed on the Cypriot people from the outside. All five Annan Plans were ill conceived, basically colonialist and undemocratic. The Cypriot people have a right to convene a Constitutional Convention to adopt their own constitution, the product of discussion among the communities. This constitution would determine the rights of settlers and the Assembly could recommend special regulations concerning the orderly repatriation of a significant number of Turkish settlers. ___________ 9 Thus, an agreement of the 3 Guarantor Powers would not legalize the Turkish policy of expulsion and implantation. 10 Thus numerous Turkish officials could be prosecuted today not only for the crimes committed in 1974, but also for the continued official policy of implanting settlers in occupied territory. 11 This is a principle of international ordre public. It imposes erga omnes obligations on all States not to recognize the consequences of an illegal aggression, of the illegal expulsions, or of the implantation of settlers. A State cannot acquire and should not allow its citizens to purchase the illegally confiscated property of Greek Cypriots. 12 Both statements are quoted in German in Zayas, A. de, Die Nemesis von Potsdam, 2005, p. 400 et sqq.

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The advisory jurisdiction of the International Court of Justice could prove helpful in facilitating the solution of the problems ensuing from the Turkish invasion and occupation of Northern Cyprus. Thus, the United Nations General Assembly or the Security Council could invoke article 96 of the UN Charter and request an advisory opinion from the ICJ. It is worth noting that, in the case of the Wall being built by Israel on occupied territory in Palestine, the ICJ issued a thorough advisory opinion on 9 July 2004, which will have to be taken into account whenever a settlement of the Israel-Palestinian issue is seriously addressed. An advisory opinion on the issue of the Turkish settlers would obviate the dishonest political manoeuvres that produced the “Annan Plan” for Cyprus, which the Cypriot people democratically and soundly rejected.

IV. Remedies A constitutional Convention in which both communities would participate in drafting a new democratic constitution would be a first step toward reunification of Cyprus. 13 As to the Greek-Cypriot population, the principal remedies would be – The right of all Cypriots to return to their homes, – The right to restitution and compensation. As to the Turkish settlers, an individual determination of who is entitled to residence would be necessary. In this context, it must be stressed that illegal settlers have no claim vis à vis the Republic of Cyprus, which has been prevented from exercising jurisdiction in the occupied territories. The settlers only have claims vis à vis Turkey. Bearing in mind that the settlers were brought into Cyprus following an illegal aggression and that the Republic of Cyprus never granted them admission into the territory, it is clear that they are illegal aliens and that they have no right under articles 12 and 13 of the ICCPR to remain in the territory, since these articles only apply to persons legally within the territory of a State party to the ICCPR. Of course, the Turkish settlers are human beings and possess the same human dignity as all other men and women. They have basic human rights that must be respected – for instance they cannot be subjected to indefinite deten___________ 13

International Expert Panel convened by the Committee for a European Solution in Cyprus. A principles basis for a just and lasting Cyprus settlement in the light of International and European Law, published as Appendix III in: The Cyprus Yearbook of International Relations, Vol. I, 2006, p. 206 et sqq.

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tion 14 like the economic migrants held indefinitely in detention centers by Australia – a practice that has been condemned numerous times by the UN Human Rights Committee. Nor can they be subjected to any kind of degrading or inhuman treatment like many unfortunate illegal migrants in Europe. They have the right to due process and that their cases be individually examined. Moreover, besides their undisputed human rights, other humanitarian considerations should be taken into account – such as family situation, inter-marriage with native Cypriots, length of stay. Nothing prevents the Cypriot people from granting the settlers permanent residence or even citizenship. But this must be the democratic decision of the Cypriots themselves. In international law, the Republic of Cyprus is under no obligation to grant 120,000 illegal settlers citizenship or even the right to stay. Repatriation can be carried out gradually and voluntarily, by means of incentive schemes. Turkey, for instance, could offer the settlers free land and preferential work opportunities at home. Here the international community could also assist financially. It would be a good investment in the name of peace. And organizations with vast experience in the logistics of repatriation, such as UNHCR and the International Organization for Migration would be called upon to organize and coordinate the process. The institution of repatriation, by the way, should not be misinterpreted as punishment of the settlers. No one wants to punish the settlers. But, as in many human endeavours, there are competing rights and interests. On the one side, it is important to reaffirm the right of the Cypriot people to self-determination, to their history and identity, the imperative of reaffirming the international condemnation of aggression and rejection of its consequences, embodied in the principle ex injuria non oritur jus. It is also necessary to balance out the interests of the settlers against the interests of the expelled Greek Cypriots, notably their right to return to their homes and to enjoy their property, which has been wrongly appropriated by the Turkish Government and assigned to the Turkish settlers or even sold to foreign investors. In cases of grave violations of international law, as those committed by Turkey since 1974 – violations that the European Court of Human Rights has held to be continuing violations – the remedy must be restitutio in integrum, or the reestablishment, as far as humanly possible, of the status quo ante, that is, of the situation prior to the violation of international law.

___________ 14 Zayas, A. de, Human Rights and Indefinite Detention, in: International Review of the Red Cross, Vol. 87, March 2005, p. 15 et sqq.

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V. Enforcement Even when the norms are clear, even when Courts issue judgments, enforcement belongs in a different dimension. Without political will, the best norms and the best judgments remain dead letter. At present two of the “Guarantor Powers” for Cyprus, the United Kingdom and Turkey, with the full support of the United States of America, are determined to frustrate the democratic rights of the Cypriot people. It is their intention to perpetuate neo-colonial conditions on Cyprus, maintaining that absurd anachronism of the institution of the three guarantor powers – guarantors who do not guarantee democracy, but only the institutionalisation of a quasiprotectorate over Cyprus. Some leverage in enforcement could, however, be gained if the European Union negotiators would establish a nexus between talks over an eventual Turkish accession to the EU and Turkish respect for international law and human rights norms. For instance, the implementation of the reports and judgments of the European Commission and Court of Human rights should be a prerequisite to any further discussions with Turkey. The same should apply to the enforcement of the relevant resolutions of the Security Council and General Assembly. Unfortunately, the Organization that should be demanding enforcement in the name of the credibility of its resolutions and the validity of international law, is precisely the Organization that betrayed its own principles and presented the Cypriot people with the poisoned plan that was democratically and soundly rejected on 24 April 2004.

VI. Conclusion It is not for the United Nations to try to impose any plans on Cyprus. It is for the sovereign Cypriot people to take their destiny in their hands and convene a Constitutional Convention to draft a new and truly Cypriot Constitution. Bearing in mind that Cyprus is a member of the European Union, it would be a noble task for Brussels to assist the Cypriot people in achieving genuine self-determination. A new Cypriot Constitution could address all relevant issues concerning the return of the Cypriot expellees, the restitution of property, and the modalities of obtaining citizenship and/or residence rights for the Turkish settlers. Voluntary repatriation to Turkey could be organized on the basis of incentives, supported by international solidarity, in a manner consistent with international law and the European acquis communautaire.

Eroberungskrieg bei Machiavelli, Vitoria, Montesquieu und Kant Paul-Ludwig Weinacht „Le fait est que la guerre est inhérente au politique et qu’il ne peut y avoir de société ou d´État sans politique.“ 1

Angriffs- und Eroberungskriege gelten seit dem Briand-Kellogg-Pakt vom 27. August 1928 als völkerrechtswidrig. Das Nürnberger Tribunal machte ihn denn auch zur Grundlage seiner Urteile. Dass kriegführende Staaten „gegeneinander das Recht der Eroberung“ haben, war zuvor anerkannt gewesen. 2 Ein Clausewitz diskutierte nicht die Berechtigung, sondern die Möglichkeit und den Nutzen militärischer Eroberungen. 3 Und doch machte sich schon damals aus der Mitte der Gesellschaft heraus die Tendenz geltend, Kriege und insonderheit Eroberungskriege in Frage zu stellen. 4 Für einen Benjamin Constant waren die Feldzüge Napoleons, sein russischer insonderheit, nicht Waffentaten zur Selbstverteidigung eines Volkes, sondern „Krieg im eigentlichen Sinne“ 5 – und der erschien ihm als ein Bruch europäischer Zivilisation. ___________ 1

Freund, J., L’essence du politique, 1965, S. 611. Dahn, F., Eroberung, in: Poten, B. von (Hrsg.), Handwörterbuch der gesamten Militärwissenschaft, 3. Bd., 1877, S. 157 f. Eine Querschnittsbetrachtung des Kriegsvölkerrechts von Cicero und Tacitus bis zur spanischen Spätscholastik bei Haggenmacher, P., Grotius et la doctrine de la guerre juste, 1983, S. 51 ff. („Le mémoire de 1605 face à la tradition du droit de la guerre“). In einem Handbuch des Jahres 1992 ist entsprechend der aktuellen völkerrechtlichen Lage „Angriffskrieg“ kein Thema mehr, vgl. Gerber, J. (Hrsg.), Landkriegführung. Operation. Taktik. Logistik. Mittel. Ein Handbuch, 1992, und Supplementband (hrsg. zusammen mit Kühr, M.), 2004. 3 Den Nutzen von Eroberungen sah er darin, „dass wir die feindlichen Staatskräfte, folglich auch seine Streitkräfte schwächen und die unsrigen vermehren: dass wir also den Krieg zum Teil auf seine Kosten führen. Ferner, dass beim Friedensschluss der Besitz feindlicher Provinzen als ein barer Gewinn anzusehen ist, weil wir sie entweder behalten oder anderer Vorteile dafür eintauschen können.“ (Clausewitz, C. von, Vom Kriege, 1984, S. 221). 4 Zur Unmöglichkeit, große Reiche zu erobern vgl. Bloch, J. v., Der Krieg. Bd. VI, übers. aus dem Russischen, 1899, S. 211 (zit. bei Schulz, G., Die Irregulären, in: ders. (Hrsg.), Partisanen und Volkskrieg, 1985, S. 28). 5 Constant, B., Über die Gewalt. Vom Geiste der Eroberung und der Anmaßung der Macht, Aus dem Französischen … von H. Zbinden, (= Reclam Nr. 7618-20), 1948, S. 11. Schon der Titel des Pamphlets von Constant verweist auf den Esprit des lois. Im 2

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Zu einer Zeit, als Napoleon Europa unterwarf, hielt das liberale Publikum Kriege also bereits für anachronistisch. Die aufzubietenden Mittel machten sie uninteressant im Vergleich zu dem, was Kaufleute gewaltlos zuwege brachten. Hatte nicht schon Montesquieu den Sinn einer Eroberung im „Erwerb“, nicht in der „Vernichtung“ gesehen? 6 Constant schließt sich – nicht nur hierin – diesem Klassiker des maßvollen politischen Denkens an: „Krieg und friedlicher Austausch sind nichts als zwei verschiedene Mittel zum gleichen Ziel, nämlich zum Besitz dessen, was man begehrt. … Die Erfahrung [eines Besitzbegehrenden], dass der Krieg, also die Anwendung eigener Gewalt gegen die Gewalt eines anderen, ihn vielfachem Widerstand und Misserfolg aussetzt, lässt ihn zum friedlichen Austausch als dem sanfteren und sichereren Mittel greifen, durch welches er das fremde mit dem eigenen Interesse versöhnt.“ 7 Große Eroberergestalten sind damit praktisch überholt und obendrein moralisch blamiert: „Wenn die Menschen, die das Schicksal der Welt in Händen halten … gegen die Interessen, gegen den ganzen sittlichen Daseinsgrund ihrer Zeitgenossen kämpfen, wenden sich diese Kräfte des Widerstands gegen sie; und nach einiger Zeit, lang genug für die Opfer, kurz für das Maß der Geschichte, bleiben von ihren Unternehmungen nur die Verbrechen, die sie begingen, und die Leiden, die sie verursacht.“ 8 Constant verdichtet sein Verdikt gegen den „Eroberer“ in zwei Formeln: Er gilt ihm als „Mensch einer anderen Welt“ – ähnlich der Propaganda spanischer Geistlicher in der guerilla gegen Napoleon, die dem Korsen neben einer menschlichen eine teuflische Natur beilegten, und: „das System der Eroberung, dieses Überbleibsel eines verschwundenen Zustandes, dieser Zersetzer alles Bestehenden, wäre erneut von der Erde verbannt, und durch diese letzte Erfahrung verdammt zu ewiger Schmach“9 – womit der Eroberung das Existenzrecht abgesprochen und völliges Verschwinden prognostiziert wird. Die von Constant und seinem Gesinnungsfreund Spencer 10 gewählte Deutung des Geistes des 19. Jahrhunderts 11 charakterisiert den Geist des Publi___________ 12. und 13. Kapitel zitiert Constant ausführlich aus dem Esprit des lois und bezeichnet seinen Verfasser als „Autorität“. Große inhaltliche Nähe auch zu Montesquieus Essay über die Universalmonarchie. 6 Vgl. unten Abschnitt III. 7 Constant (Fn. 5), S. 13 f. 8 Constant (Fn. 5), S. 7 f. 9 Constant (Fn. 5), S. 52 f. 10 Carl Schmitt behandelt den Friedens-Propagandisten Spencer als ideologischen Förderer des totalen Krieges gegen die „mittelalterliche Figur“ des preußischen Soldaten, „die dem Fortschritt und dem Frieden im Wege steht“, in: Totaler Feind, totaler Krieg, totaler Staat, in: ders., Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles 1923–1939, 3. Aufl. 1994, S. 268 (272).

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kums, kaum die Politik der Regierenden. Was für das 19. gilt, gilt auch für das 20. Jahrhundert. In diesem Aufsatz machen wir mit Rücksicht auf ausgewählte politische Klassiker den soi disant „Krieg im eigentlichen Sinne“ zu unserem Thema. Wir diskutieren ihn anhand klassischer Texte, in denen er zur Politik souveräner Staaten gerechnet wird, und dies keineswegs nur als ultima ratio. Wir betrachten die jeweils relevanten Unterscheidungen des Krieges und zugehörige Vorannahmen und Argumente: des Politikers Machiavelli (1469–1527), des Theologen Vitoria (um 1483–1546), des Juristen Montesquieu (1689–1755), des Philosophen Kant (1724–1804). Der Zusammenhang von Eroberung und Krieg tritt dabei je anders hervor, weil je anderen Überzeugungen im Spiel waren und die politischen Sachverhalte und Lagen sich voneinander unterschieden: Sie waren andere im Italien der Medici, im Spanien Karls V., in Frankreich im Bann des Sonnenkönigs und im Preußen zur Zeit der Französischen Revolution. Die politische Ideengeschichte bietet uns so eine beachtliche Breite von Vorstellungen über den Angriffskrieg. Sie kann uns angesichts neuerer Entwicklungen im Vorfeld des Völkerrechts 12 verdeutlichen, was es mit dem esprit de conquête auf sich hat.

I. Typologie von Krieg und Eroberung bei Machiavelli In den italienischen Fürstentümern und Städten der Renaissance, die dank der fünf Mittelmächte von Mailand bis Sizilien in prekärer Gleichgewichtslage zueinander standen, gehörten Herrschaftswechsel, wechselnde Bündnisse, Eroberung und Rückeroberung von Territorien zum normalen Gang der Politik. Geschäftserfahrene Diplomaten (statisti), wie Machiavelli einer war, prüften die Interessen und die Hilfsmittel. Sie wussten zu sagen, ob ein Fürst oder eine Bürgerschaft das Zeug zum Kampf habe (virtú), ob eine Entscheidung für einen Eroberungskrieg oder einen Waffenstillstand unvermeidlich seien (necessità) 13 , ob sich irgendeine günstige Gelegenheit zu einem Angriff oder einem ___________ 11

Carl Schmitt hat um solcher Unterscheidungen willen Benjamin Constant den „Inaugurator der gesamten liberalen Geistigkeit des 19. Jahrhunderts“ genannt, vgl. Schmitt, C., Der Begriff des Politischen, 6. Aufl. 1996, S. 73. 12 Vgl. die Debatte um humanitäre Interventionen, um den mit dem Terrorismus verknüpften preemptive strike oder um Methoden des Verhörs und Bedingungen der Verwahrung von Terror-Verdächtigen. 13 Vgl. auch Behnen, M., Der gerechte und der notwendige Krieg. Necessitas und Utilitas publica in der Kriegstheorie des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Staatsverfassung und Heeresverfassung in der europäischen Geschichte der frühen Neuzeit, in Zusammenarbeit mit B. Stollberg-Rilinger, hrsg. von Kunisch, J. (= Histor. Forschungen, 28),

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Bündniswechsel ergäbe (fortuna). Machiavelli hat seine politisch-historischen Analysen im Principe nach den angedeuteten Gesichtspunkten angelegt und dabei, wie der Wechsel des Buchtitels wohl zeigt, unter der Hand weniger den Formen der Herrschaft (De principatibus) Aufmerksamkeit geschenkt als den politischen Akteuren (Il Principe, 1513). Seine Haltung dem Krieg gegenüber war am militärischen Charakter (virtù) der Römer ausgerichtet, den er bewunderte. Expansionsfähigkeit war ihm ein Merkmal der Vitalität des Staates, seiner Fürsten und seiner Bürger. Eroberungen zu machen verlangte kalte Entschlossenheit. Die Römer hätten sich noch nicht die Ausrede „kommt Zeit, kommt Rat“ zurechtgelegt, „denn sie wussten, dass der Krieg nicht aufgehoben, sondern immer nur aufgeschoben wird – zum Vorteil der Gegner“ (Il Principe, Kapitel 3). Krieg zu führen war eine quaestio facti. Am genialischen Papstsohn Cesare Borgia bewunderte Machiavelli, dass er die Fundamente, „die andere legen, ehe sie Fürst werden“, nachträglich zu errichten vermochte durch geliehene Waffen, Unbedenklichkeit, militärische Führungskraft, Glück (Il Principe, Kapitel 7). Freilich verlor er alles so schnell, wie er es zusammengerafft hatte, weil ihm im Erfolg fortuna fehlte und politische Vorsicht abging. Dass Machiavelli über Kriegsführung nicht nur räsoniert hat, sondern sich auch als Militärreformer versuchte, ist bekannt, wenn auch im Schrifttum uneinheitlich bewertet. 14 Er brachte es dahin, dass die Infanterie im florentinischen Truppenaufgebot den Kern der Streitkräfte bildete und diese selbst aus Bürgern rekrutiert wurde. 15 Auf die Weise sollten die Söldner entbehrlich werden, die einen Krieg möglichst lange am Leben hielten und eine Entscheidungsschlacht vermieden. Nach einem ersten Erfolg der Bürgerarmee (1509), der das abtrünnige Pisa an Florenz zurückbrachte, unterlag die Miliz als es ___________ 1986, S. 43 ff. Dazu die Gegenerwägungen aus dem Geist des Politischen bei Freund, J. (Fn. 1), S. 611 ff. 14 Während Villari im Blick auf Machiavellis Miliz-Konzept im Licht der Ereignisse von 1512 von „Illusionen“ spricht, bewundert G. Bonghi seinen großen Landsmann im Licht seiner Kriegskunst-Schrift von 1521 als Vorläufer Clausewitz’. Vgl. zu Bonghi: Introduzione a Dell’arte della guerra di Machiavelli, edizione telematica et revisione, 1997. Dass Milizen eine „Niederwerfungsstrategie“ nach außen möglich machten und nach Innen den bürgerschaftlichen Geist (virtù) gesunden ließen, betont nachdrücklich Münkler, H., Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1982, S. 381 ff. Kritisch zu Machiavellis ganzheitlicher Sicht auf die antike Kriegskunst: Pieri, P., Niccolò Machiavelli, in: Hahlweg, W. (Hrsg.), Klassiker der Kriegskunst, 1960, S. 103 ff. (107 f.). 15 „Questo ordine bene ordinato nel contado, de necessità conviene che entri ad poco ad poco nella città, et sarà facilissima cosa ad introdurlo. Et vi advedrete anchora a´vostri dì, che differentia è havere de’vostri cittadini soldati per electione et non per corruptione, come havete al presente ...“, in: Relazione del Machiavelli sulla istituzione della nuova Milizia, in: Pasquale Villari, Niccolò Machivelli e i suoi Tempi illustrate con nuovi documenti, Bd. I, 1877, Doc. XXXVII, S. 641.

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wirklich darauf ankam, nämlich als es um den Bestand der Republik ging. 1512 beendeten spanische Truppen das republikanische Regime und verhalfen den Medici wieder zur Macht. Das Erobern, auf das Republiken, Fürsten, Privatleute aus sind, ist ihm etwas Natürliches. Es ist ihm so selbstverständlich wie den älteren Sozialphilosophen der Drang in Gesellschaft zu leben (ens sociale). Indes schematisiert er das Individuum nicht durch den Willen zur Macht als eine Art von ens expugnans, sondern konzentriert sich auf große einzelne, die die Voraussetzungen mitbringen („Fürsten“); auch stellt er die Aktualisierung des natürlichen Eroberungsdranges unter den Vorbehalt einer Lage: „Die Eroberungslust ist etwas sehr Natürliches und Verbreitetes, und so oft Fürsten auf Eroberungen ausgehen, die die Macht dazu haben, werden sie gepriesen oder wenigstens nicht getadelt. Wenn ihnen aber die Kräfte zu Eroberungen fehlen und sie doch um jeden Preis solche machen wollen, so ist das verkehrt und verdient Tadel.“ (Il Principe, Kapitel 3). Republiken, Fürsten und Privatleute, die das Zeug haben, um Machtgewinn und Machterhaltung kämpfen, sind nichts spezifisch Verschiedenes. Jede Eroberung beginnt mit dem erfolgreichen Einsatz von List und von Gewalt, und es spielt keine Rolle, ob der Erfolgreiche einen legitimen Titel vorweisen kann oder als „Usurpator“ angesehen wird. 16 Machiavelli, der in besonderen Fällen auch den Privatmann als Staatsgründer oder Regierungschef vorsieht, vermeidet es, von Usurpator zu reden. (Jesuiten und Lutheraner haben das getadelt, Liberale des 19. und 20. Jahrhunderts übernahmen ihr kritisches Pathos aus Anlass der Usurpatoren Napoleon oder Adolf Hitler. 17 ) Welche politischen Konsequenzen ergeben sich aus einer Eroberung? Hat sie viel Blut gekostet, darf der Eroberer nicht mit der Unterstützung der Bevölkerung rechnen, und also empfiehlt ihm Machiavelli, das Loyalitätsband zur angestammten Dynastie zu zerschneiden. In dem Fall, dass die Untergebenen an Freiheit nicht gewohnt waren, müsse er die Dynastie sogar ausrotten. Der Eroberer soll an den gewohnten Gesetzen und Abgaben festhalten. Wenn aber zusätzlich Sprache, Sitte und Verfassung fremd seien, soll er den Wohnsitz im neuen Land aufschlagen, wie die Türken es in Griechenland getan hätten, oder Militärkolonien anzulegen (das dafür erforderliche Gelände lasse sich durch die Vertreibung der Vorbesitzer gewinnen). Um handlungsfähig zu werden, soll er ___________ 16

Kleemeier, U., Krieg und Politik bei Machiavelli, in: Münkler, H. / Voigt, R. / Walkenhaus, R. (Hrsg.), Demaskierung der Macht. Niccolò Machiavellis Staats- und Politikverständnis, 2004, S. 83 (91). 17 Für die ältere Literatur Constant, B. (Fn. 5); für die jüngere Literatur dazu vgl. Ritter, G., Die Dämonie der Macht, 6. Aufl. 1948, Strauss, L., Thoughts on Machiavelli, 1958; Sternberger, D., Drei Wurzeln der Politik, 1978. Bei Sternberger wird Machiavelli unter dem Rubrum: „Dämonologik“ und mit ausdrücklichem Verweis auf Hitler interpretiert: u. a. Sinigaglia (1502) = „Röhmputsch“ (1934).

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sich mit den Schwachen verbünden, ohne sie zu stark werden zu lassen, den alten Eliten aber muss er das Wasser abgraben. Keinesfalls dürfe es dazu kommen, dass eine Nachbarmacht sich als Retter aufspiele (das war die klassische Strategie Athens, von der Thukydides berichtet). Republiken machten Eroberern besondere Schwierigkeiten, und daher sein ebenso schlauer wie gnadenloser Rat: Der Eroberer muss versuchen, sie „mit Hilfe ihrer eignen Bürger ... (zu) behaupten als auf irgendeine andre Weise, wenn man sie nicht zerstören will“; misslingt das aber, dann bleibt nur, die Bürger auszutreiben, da Republikaner „ihre Freiheit und Verfassung nie“ vergessen (Il Principe, Kapitel 5). Im berühmten 26. und letzten Kapitel des Principe gibt Machiavelli den Blick auf die Eroberung der der nationalen Einigung im Weg stehenden Gebiete frei. Der Typus der Eroberung ist jedoch ein anderer als bisher gezeichnet: denn hier geht es nicht um eine Folge von Annexionen, sondern zugleich um eine Folge von Desannexionen 18 : „Worte können nicht sagen, mit welcher Liebe ihn all die Gebiete aufnehmen würden, die unter dem Einbruch der Fremden gelitten haben, mit welchem Rachedurst, welcher unerschütterlichen Treue, welcher Ehrfurcht, welchen Tränen! Wie könnte sich ihm ein Tor verschließen, ein Volk den Gehorsam versagen, wie könnte gegen ihn Neid sich regen, wie ein Italiener ihm nicht huldigen: einen jeden ekelt die Herrschaft der Barbaren.“ Man sieht vor seinem geistigen Auge den volkstümlichen Helden und Befreier des Landes, der in den eroberten Gebieten wie der Fisch im Wasser operiert und im Verhältnis zu den Landfremden und – bei unbezweifelter Legitimität seines Vorgehens 19 – alle Register der politischen und Kriegskunst ziehen kann. Die Einigung aller italienischen Staaten wäre die Voraussetzung dafür, dass nicht länger Privatleute ihren Eroberungsgelüsten nachgehen könnten, weil ihr Krieg als Bürgerkrieg bewertet würde. Ein Krieg, den der Repräsentant Italiens führt, würde wie von allein ein Thema des Völkerrechts und mithin eine quaestio juris.

___________ 18

Der Begriff ist in der Zeit zwischen dem Berliner Kongress und dem Ersten Weltkrieg auf dem Balkan in Gebrauch, vgl. Rizoff, D., Die Bulgaren in ihren historischen, ethnographischen und politischen Grenzen, 1917, Vorwort, S. XVI. 19 Vgl. auch Stahel, A., Klassiker der Strategie – eine Bewertung, 3. Aufl. 2003, S. 65.

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II. Typologie von Krieg und Eroberung bei Francesco Vitoria Der Dominikaner Vitoria greift den von Machiavelli mehr geahnten als verbindlich wahrgenommenen Zustand des Krieges zwischen Staaten in seinen relectiones (De Indis recenter inventis, 1539) auf und stellt ihn in dem aktuellen Fall der Eroberung „Indiens“ durch die spanische Krone zur Diskussion. Anders als bei Machiavelli bleibt er nicht bei den Tatsachen stehen, sondern diskutiert den ihnen zugeordneten Zweck und das ihnen zugeordnete Recht. Die Diskussion folgt der scholastischen Methode der Argumentation pro und contra, um die inneren Schwächen und der Stärken rechtfertigender Argumente zu finden. Vitoria hat es darauf abgesehen, die bis dahin am Hofe Carlos I. (seit 1519 Karl V.) und Philipps II. gängigen Lehren eines Joan Gines Sepúlveda zu widerlegen, die darauf zielten, Indianer-„Land zum Objekt einer freien Landnahme“ 20 zum machen, weil seine Besitzer Götzenanbeter und „Sklaven von Natur“ (Aristoteles 21 ) seien. Dagegen trägt Vitoria vor, Indianer besäßen die gleichen natürlichen Rechte und Institutionen wie Europäer, denn sie hätten Anteil an der Vernunft und demzufolge ein Recht auf Eigentum (iurisdictio) und Herrschaft (dominium). Nach unvoreingenommenen Beobachtungen kennen sie beide Institutionen: das Eigentum wie die Herrschaft (De Indis, I.23). Vitoria besteht so auf dem gleichen Recht von Christen und Heiden, von Europäern und Indianern. Man darf weder indianische noch europäische Fürsten oder Einzelne (aut principes, aut privati) ihres Eigentums berauben. Als jura contraria sind diese Rechtstitel reversibel. Darum haben auch die Entdecker und Missionare natürliche Rechte in den „indischen“ Territorien und gegenüber ihren Bewohnern. So steht ihnen z. B. das natürliche Recht auf Besuch und Umgang zu (naturalis societas et communicatio). 22 Während Kant das Besuchsrecht der Entdecker und Händler später unter dem restriktiv verstandenen Grundsatz der Hospitalität aufnehmen wird, 23 behandelt Vitoria das Besuchsrecht seiner Landsleute in der für sie neuen Welt expansiv. Es bedeutet ihm, ausgehend vom Missionsauftrag, das Zutrittsrecht ___________ 20

Schmitt, C., Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, 1950, S. 71. 21 Vgl. dazu inzwischen von Nippel, W., Aristoteles und die Indios. „Gerechter Krieg“ und „Sklaven von Natur“ in der spanischen Diskussion des 16. Jahrhunderts, in: Dippel, Ch. / Vogt, M. (Hrsg.), Entdeckungen und frühe Kolonisation, 1993, S. 69 ff. 22 Daraus folgt das „ius peregrinandi in illas provincias et illic degendi“, Vitoria, De Indis III.2. 23 Dritter Definitivartikel des Ewigen Friedens – Kant, I., Kleinere Schriften zur Geschichtsphilosophie, Ethik und Politik, hrsg. von Karl Vorländer (Philos. Bibliothek, Bd. 47), 1973, S. 135 ff.

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der Missionare, Entdecker, Händler, Kolonisatoren – mit Carl Schmitt zu reden: das „Recht der europäischen Landnahme im ganzen“. 24 Kein Wunder, dass der Missionsauftrag, den der spanische König vom Papst für die neue Welt erhalten hat, eine tragende Rolle spielt; und da kriegerische Konflikte nicht nur zwischen den Neuankömmlingen und den Ureinwohnern, sondern auch zwischen den zum christlichen Glauben bekehrten und den bei den alten Göttern verbliebenen Ureinwohnern aufbrechen, muss Vitoria im Rahmen seiner Methode mit diesen Konflikten umgehen. Er tut dies nach der scholastischen Prüfung der Rechtsgründe, die auch für europäische Kriegsparteien maßgeblich ist: nämlich der Kasuistik, einer eleganteren freilich als die es war, der seine Vorgänger folgten, und mit einem gewissen mathematischen Konstruktivismus, der auf Grotius vorausdeutet 25 (iusta causa belli, in: De Indis, III [1539]; Relectio: De jure belli hispanorum in barbaros [1539]). Die Führung von Kriegen – sei es in Europa oder in den „indischen“ Gebieten – steht in der Kompetenz weltlicher Fürsten (potestas civilis) und bedarf – anders als der Missionsauftrag und die ggf. damit verbundene Landnahme – keiner Mandatierung durch Kaiser oder Papst. Als das natürliche Recht der Staaten wird der Krieg bis ins 20. Jahrhundert hinein nicht in erster Linie nach Angriff und Verteidigung, sondern nach seinem Zweck und unter Rücksicht auf die Verhältnismäßigkeit von Zweck und Mittel beurteilt. Kriege sind gerechtfertigt, wenn es ihr Zweck ist, geraubtes Eigentum dem Eigentümer zurückzuerstatten und mit Strafe zu vergelten, wo Missetaten geschehen sind. „Denn wenn die Barbaren den Spaniern erlauben würden, friedlich mit ihnen Handel zu treiben, so könnten die Spanier von diesem Gesichtspunkt aus ihnen gegenüber mit keinem größeren Recht einen gerechten Grund zur Besitznahme ihrer Güter in Anspruch nehmen als gegenüber Christen.“ (De Indis, III.8). Die Eroberung selbst wird nicht als Zweck, sondern höchstens als Folge anerkannt, sofern diese unvermeidbar ist. Ein Fürst, der Krieg führt, um Eroberungen zu machen, kann dafür keinen zureichenden sittlichen Grund vorbringen (Non est iusta causa belli amplificatio imperii, in: De Jure Belli, Nr. 11), schon gar nicht, wenn er vor allem die Mehrung seines Ruhms oder seinen persönlichen Vorteil im Auge hat (gloria propria aut aliud commodum principis, in: De Jure Belli, Nr. 12). Ein rechtfertigender Kriegsgrund muss am Gemeinwohl Maß nehmen (bonum commune, ebd.); davon abgeleitet gelten als rechtfertigende Gründe: Eigentum verteidigen, geraubtes Eigentum zurückholen, aufgewandte Kriegskosten eintreiben, Missetäter im Interesse des Erdkreises ___________ 24

Schmitt (Fn. 20), S. 70. Haggenmacher, P., Grotius et la doctrine de la guerre juste (= Publications de l’Institut Universitaire de Hautes Ètudes Internationales Genève), 1983, S. 274 f. 25

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bestrafen (necessaria ad gubernationem et conservationem orbis, De Jure Belli, Nr. 19) und die Kriegsgegner friedensgeeignet machen, d. h. sie beschämen, schwächen, unter Aufsicht stellen (necessaria ad defensionem boni publici, ad consequendam pacem et securitatem; De Jure Belli, Nr. 15). Bestehen Zweifel, ob tatsächlich ein gerechtfertigter Grund zum Krieg vorliegt, dann ist ein Angriff verboten: „Im Zweifelsfall darf man den Besitzer nicht berauben.“ (De Jure Belli, Nr. 27). Nichts davon ist neu außer der Tatsache, dass ein innerhalb der Moraltheologie für die europäische respublica christiana entwickeltes RechtfertigungsSchema auch für den Krieg in der neuen Welt zwischen Christen und Nichtchristen zur Anwendung gebracht wird. Allerdings erstreckt sich das Prinzip der Reversibilität und der Reziprozität nicht auf das Besuchsrecht (naturalis communicatio): das päpstliche Mandat an den spanischen König zur Heidenmission durch christliche Orden ist ohnegleichen. Die daraus entstehenden Verwicklungen lösen Kriege aus, die nicht der Intention nach (Eroberung), wie bei Machiavelli, aber als Folge eines bellum iustum, als Maßnahmen zur Selbstverteidigung, zum Schutz des Eigentums und zur Friedenssicherung als conquista gerechtfertigt sind. 26

III. Typologie von Krieg und Eroberung bei Montesquieu Was Krieg zur Politik beiträgt, wie er eine Stadt zu einem Weltreich erweitert, das hat Montesquieu in seinen „Studien zur römischen Geschichte“ 27 breit erörtert und in den „Reflexionen über die Universalmonarchie“ 28 variiert. In seinem Hauptwerk „Vom Geist der Gesetze“ (Esprit des lois, 1748; im Folgenden „Edl“) trägt er nach, wie sich in vergleichender Betrachtung politische Herrschaftsformen zur Kriegsführung, speziell zum Eroberungskrieg, verhalten: Die größten Eroberungen machen Despotien, Monarchien halten sich im ___________ 26

In diesem Sinn auch Schmitt (Fn. 20), S. 83, wenn er schreibt: „Es kommt hier nicht darauf an, alle in Betracht kommenden ‚legitimen Rechtstitel‘ der Spanier, die Vitoria darlegt, im einzelnen zu erörtern. Dass aber ihr Ergebnis schließlich doch zu einer Rechtfertigung der spanischen Conquista führt, hat seinen eigentlichen Grund darin, dass er den Unterschied von Christgläubigen und Nicht-Christen [nicht ]wirklich ignoriert und als nicht-existent betrachtet. Im Gegenteil: das praktische Ergebnis ist ganz in der christlichen Überzeugung begründet.“ 27 Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur decadence (1734), in: Montesquieu, Œuvres complètes, Bd. II (Pléjade), hrsg. von R. Caillois, 1951, S. 69 ff. 28 Réflexions sur la Monarchie Universelle en Europe (1734), in: Montesquieu (Fn. 27), S. 19 ff.

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Mittelfeld, Republiken sind – dem athenischen und römischen Beispiel zum Trotz – ihrer Natur nach am wenigsten auf Eroberungen aus (Edl, Buch X). Im Rückblick auf seine „Römer“, deren kontinuierliche Eroberungspolitik er eingehend analysiert und in ihrer Singularität zu erklären versucht, 29 zieht Montesquieu die uns heute voreilig erscheinende Bilanz, dass eine solche Kriegspolitik chancenlos geworden sei (la guerre continuelle est destructive aujourd’hui). Eine militärische Supermacht (une superiorité constante sur les autres), wie Rom es zu seiner Zeit gewesen sei, sei nicht mehr möglich. Die moderne Industrie und Technik habe nämlich die Kräfte der Individuen und die Macht der Staaten nivelliert, und auf dem Meer wirke sich die Erfindung des Kreiselkompasses mäßigend aus. 30 Derlei Überlegungen werden im Essay über die Universalmonarchie weiter entfaltet: Die Entwicklung der Kriegstechnik und des Völkerrecht machten Eroberungskriege zunehmend unwahrscheinlich. Der Krieg ruiniere die, die am meisten von ihm Gebrauch machten. Holland erwerbe mehr über seine Kaufleute als über seine Soldaten. Die größte Macht stamme nicht aus Eroberungskriegen, sondern aus dem gemeinsamen Handel: Alle Kulturvölker seien die Mitglieder einer großen Republik geworden. Von Land zu Land seien variierende Reichtümer Grundlagen der Staatsmacht: „welchen Erfolg immer ein Eroberungsstaat (état conquérant) haben könne, so gibt es immer eine gewisse Reaktion die ihn in den Zustand zurückkehren lässt, aus dem er ausbrach“ (Universalmonarchie, Nr. II). Was Europa in den letzten 400 Jahren verändert habe, seien nicht die Kriege, sondern die Heiraten, die Thronfolgen, die Verträge, die Gesetze. „Es sind endlich rechtliche Vorkehrungen, wodurch Europa sich verändert und sich verändert hat“ (Universalmonarchie, Nr. III). Montesquieu hält Eroberungskriege nicht mehr für zielführend, da in einem zusammenwachsenden Europa 31 das Schicksal die Staaten eng miteinander verknüpfe und immer neu ins Gleichgewicht bringe. Man sieht, woraus Benjamin Constant seine Kritik des esprit de conquête schöpfen wird. 32 Auch im „Geist der Gesetze“ reflektiert Montesquieu über den Eroberungskrieg. Zunächst dominiert der Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit. Anlass hierfür ist, dass Ludwig XIV. durch aufwendiges Kriegführen seinen Staatsschatz ___________ 29 Dabei geht Montesquieu von der Feststellung aus: „la prodigieuse fortune des Romains nous paraît inconcevable“ Causes de la grandeur des Romains, in: Montesquieu (Fn. 27), S. 80 ff. 30 Dossier des Considérations Nr. 180 a–c, Chapitre IV, in: Montesquieu (Fn. 27), S. 223 ff. 31 „L’Europe n’est plus qu’une Nation composée de plusieurs … et l’État qui croit augmenter sa puissance par la ruine de celui qui le touche s’affaiblit ordinairement avec lui.“ – Montesquieu (Fn. 28), Nr. XVIII, S. 34. 32 Vgl. die Einleitung zu diesem Aufsatz (Fn. 5 ff.).

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dem Landerwerb geopfert hatte. An die gleiche ökonomische Folge der Kriegsführung wird 1784 auch Immanuel Kant erinnern: nämlich dass Krieg die beteiligten Staaten „in einer immer anwachsenden Schuldenlast (einer neuen Erfindung)“ halte. 33 Von dieser Erfahrung her wird der Fall Dünkirchens vorbildhaft, wo der König sich nicht – wie an anderen festen Orten – zu aufwendiger Belagerung hat entschließen müssen, sondern die Stadt zu einem vernünftigen Preis kaufen konnte. 34 Eine alternative Erwägung zu kriegerischen Eroberungen zu Erweiterungen an den Grenzen des eigenen Reiches ist die, dass es oft ein politischer Fehler sei, sich schwächere Nachbarn einzuverleiben. Man müsse nämlich die „absolute Macht“ eines Staats von seiner Machtstellung im Verhältnis zu den Nachbarn („relative Macht“) unterscheiden. Frankreich habe zur Zeit Ludwigs keinen Nachbarstaat zu fürchten gehabt, da alle unorganisiert und schwach waren. Ludwig habe die relative Machtstellung verspielt, weil er nicht begriffen habe, dass es für einen Fürsten nichts Bequemeres gebe als Nachbarn zu haben, die wegen der inneren Zerrüttung ihrer Macht alle Schicksalsschläge (tous les outrages de la fortune) hinnehmen müssten. „Und es ist selten, dass durch die Eroberung eines vergleichbaren Staates so viel reale Macht dazukommt wie relative Macht verloren geht.“ (Edl IX.10. Eine fast machiavellisch zu nennende Erwägung!). War diese Überlegung – unter der Überschrift von der „Verteidigungskraft eines Staates“ (Edl IX.) – noch realpolitischer Natur, so folgen unter der Überschrift von der „Angriffsstärke“ (Edl X.) natur- bzw. völkerrechtliche Erwägungen, die ganz und gar vom Recht der Selbsterhaltung ausgehen. Die natürliche Legitimation des Rechtes zum Krieg im zwischenstaatlichen Bereich sei – so wie die Notwehr des Individuums unter Staatsgesetzen – die Selbsterhaltung des Staates. Dieses Prinzip gelte zwar der Verteidigung, decke im zwischenstaatlichen Bereich aber auch den Fall des Angriffs ab. Das ist der Fall, wenn Angriff „in diesem Augenblick das einzige Mittel ist, diese Vernichtung zu verhindern.“ Vorwegnehmende Verteidigung kommt vor allem den kleinen Staaten zu, die Grund haben, sich zu fürchten, nicht den großen Reichen. Das Recht zum Krieg leitet sich nämlich aus der Notwendigkeit (nécessité) und aus dem Recht im eigentlichen Sinn (le juste droit) ab. Es gibt freilich Räte („welche das Gewissen oder die Entschlüsse der Fürsten lenken“, man denkt unmittelbar an Machiavelli), die eher auf des Fürsten Ruhm, Tadellosigkeit (bienséance) oder Nutzen sehen, als auf Recht – ihre Gewaltpolitik überschwemme die Erde mit Strömen von Blut. Montesquieu benutzt hier eine Wendung wie ___________ 33

Kant, I., Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), Philosophische Bibliothek, Bd. 512, S. 14 f. 34 „Louis XIV acheta Dunkerque 4 millions. Il n’a guère assiégé de places qu’il ait eues à meilleur marché“, Pensée Nr. 1614, in: Montesquieu, Œuvres Complètes, Bd. 1 (Gallimard), hrsg. von R. Caillois, 1949, S. 1390 ff.

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im Gewaltenteilungskapitel, wo sie den völligen Verlust der Freiheit bezeichnet: „alles ist verloren“ (tout est perdu, Edl X.2, vgl. Edl XI.6). Mit Vitoria formuliert er: Ein für den Ruhm des Fürsten geführter Krieg hat kein legitimes Recht auf seiner Seite, denn Ruhm ist Stolz und also eine Leidenschaft. Und wenn schon die fürstliche Reputation die Staatsmacht erhöht, würde Gleiches nicht auch vom Ruf der Gerechtigkeit gelten? Durch Rückgriff auf das jus gentium der Schule von Salamanca relativiert Montesquieu das Machtstaatsdenken seiner Epoche und öffnet einen alternativen Weg in Richtung auf den Rechtsstaat. Aus dem Recht zum Krieg entspringt das Recht der Eroberung als seine Folge – auch dies ein Gedanke, der sich bei Vitoria findet. Montesquieu benutzt ihn jedoch invers: Da Eroberung auf den Geist zurückwirkt, in dem von ihr Gebrauch gemacht wird, dürfe man keine Strategie der verbrannten Erde betreiben, sondern habe sich zu richten nach dem Naturgesetz (Arterhaltung), nach natürlicher Vernunft (goldene Regel), nach dem Gesetz der Dauer (Staaten sterben nicht) und nach der Natur der Sache (Eroberung ziele nicht auf Zerstörung, sondern auf Erwerb). Von daher ergeben sich die Formen, in denen man von Annexionen Gebrauch machen ließen: 1. die alten Gesetze bleiben in Kraft, und der neue Landesherr lässt sie von seinen eigenen Leuten administrieren, 2. eine komplett neue Staats- und Zivilverwaltung wird eingerichtet, 3. die Ausweisung der Gesellschaft und Zerstreuung auf andere Staaten wird beschlossen, 4. alle Bürger werden ausgerottet. Die erste Umgangsweise entspreche dem aktuellen Völkerrecht (que nous suivons aujourd’hui), die letzte den archaischen Sitten der Römer. Wenn ein Staatsrechtler aus dem Grundsatz, dass der Eroberer den eroberten Staatsverband zerstören dürfe, den Schluss ziehe, dass der Eroberer auch die unterworfenen Menschen vernichten oder zu Sklaven machen dürfe, dann irrt er. Zerstörungen freilich sind erlaubt, solange sie zur Sicherung der Eroberung unabdingbar sind. Wie viel Gutes hätten die Spanier den Mexikanern tun können: Sie hätten „die Sklaven befreien können, aber sie machten die Freien zu Sklaven. Sie konnten sie über den Missbrauch der Menschenopfer aufklären, stattdessen rotteten sie sie aus.“ (Edl X.4). In aufklärerischem Geist definiert er „Eroberung“ als „ein notwendiges, legitimes und unglückseliges Recht, das immer eine unendlich große Schuld zurücklässt, die man abgelten muss, um gegenüber der menschlichen Natur quitt zu werden.“ (Die „menschliche Natur“ im normativen Sinn ist nach heutigen Begriffen die „Würde des Menschen“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 GG. 35 ) ___________ 35 Ernst Forsthoff übersetzt: „um sich vor der Menschheit von ihr zu befreien“, was einen etwas anderen Sinn ergibt. Denn es geht hier nicht um das Kollektiv aller Menschen, sondern um die konkret-abstrakte menschliche Natur. Anders liegt der Fall, wo Menschheit Menschengeschlecht („genre humain“) meint, zu dessen „Nutzen“ die Syra-

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Diesen allgemeinen Erwägungen folgt die Kasuistik der Annexionen entsprechend der Form der Regierung (Republiken, Monarchien, Despotien). 36 Montesquieu weist nachdrücklich darauf hin, dass es nicht reicht, Eroberungen zu machen, sondern dass man in der Lage sein muss, sie gut zu gebrauchen und die dort lebenden Menschen ihr Leben so führen zu lassen, wie sie es gewohnt sind und wie es gut ist. Im Sinn seines Mäßigungs-Prinzips bekräftigt er seinen Rat an den Eroberer, den Eroberten die eigenen Gesetze, vor allem die eigenen Sitten (wenn sie menschlich sind) und das damit einhergehende Ehrgefühl zu lassen (Edl X.11 f.).

IV. Typologie der Eroberung und des Kriegs bei Kant Kants historisch-politische Kriegsanalysen kulminieren in den Präliminarien seiner berühmten Friedensschrift aus dem Jahr 1795. Erstmals hat er sich 1784 mit dem Thema auseinandergesetzt, nämlich in der Vorlesung „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ und in der Rechtsphilosophie von 1797, die die in der Friedensschrift geklärten Prinzipien reformuliert. Kant hat Krieg zunächst anthropologisch und geschichtsphilosophisch interpretiert: „ein unvermeidlicher Antagonismus“, der aus der „Unvertragsamkeit der Menschen, selbst der großen Gesellschaften und Staatskörper“ resultiere und der ein Mittel sei, mit dem die Natur „einen Zustand der Ruhe und Sicherheit auszufinden“ versuche. Subjekt ist hier die Natur, die den Menschen als Gattungswesen zum Objekt ihrer Zwecke benutzt. Die menschliche Vernunft freilich brauche „soviel traurige Erfahrung“ gar nicht, um an deren Ende ermattet und ernüchtert das Richtige zu tun: nämlich „aus dem gesetzlosen Zustande der Wilden hinauszugehen und in einen Völkerbund zu treten“ – einen Foedus Amphictyonum. 37 Freilich ist die Vernunft (noch) schwach angesichts des alles überschattenden Hobbesschen Grundmisstrauens. Kant wird jedoch kein Misanthrop, denn wenn wir vom Krieg ständig in Atem gehalten werden, so hat dies auch seine gute Seite: nämlich dass wir schließlich zu einem „weltbürgerlichen Zustand der öffentlichen Staatssicherheit“ kommen, die im Blick auf die „Freiheit“ der Staaten vom „Gesetz des Gleichgewichts“ zu erwarten sei. 38 Ein ___________ kusaner die Karthager genötigt hätten, von den Kindstötungen in ihrer Stadt abzulassen (vgl. Edl X.4, X.5), s. Montesquieu, Vom Geist der Gesetze Bd. 1, übersetzt und herausgegeben von E. Forsthoff, 2. Aufl. 1992, S. 195, 196. 36 Pekarek, M., Absolutismus als Kriegsursache: Die französische Aufklärung zu Krieg und Frieden, 1997. 37 Kant (Fn. 33), S. 12 ff. 38 Kant (Fn. 33), S. 14 f.

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solcher Zustand der Staatensicherheit bedeutete nicht nur ein Ende kriegerischer Gewalt, der Kriegsrüstung und ihrer Folgen, sondern positiv: dass in einem solchen Zustand „alle ursprünglichen Anlagen der Menschengattung entwickelt werden“. 39 Die Naturgeschichte der Kriegführung zeitigt aber nicht nur in „weltbürgerlicher“, sondern auch in staatsbürgerlicher Hinsicht ein Gut: das „des unschätzbaren Gutes der Freiheit“. Die Potentaten können es sich nämlich nicht leisten, ihre Untertanen angesichts der Revolutionsschalmeien zu unterdrücken: „Denn Kriegsgefahr ist auch noch jetzt das einzige, was den Despotismus mäßigt“. 40 (Ein warnendes Beispiel sollte die radikale Mainzer Bürgerschaft geben, als sie mit den französischen Jakobinern fraternisierte.) Auch zivilisatorisch ist Krieg ein Gut, zumindest „auf der Stufe der Kultur … worauf das menschliche Geschlecht noch steht“: insofern nämlich, als er die Funktion eines „unentbehrlichen Mittels, diese [Kultur] noch weiter zu bringen“, erfülle, während ein immerwährender Friede, wenn er „heilsam“ sein soll, nach einer „(Gott weiß wann) vollendeten Kultur“ verlange. 41 Die Frage also, ob wir es mit Krieg oder mit Frieden halten sollen, ist von näheren Umständen abhängig und im Ganzen von ihrer Wirkung auf die Tugend eines Volkes 42 und den Kulturfortschritt der Gattung. 43 Die Allgemeinheit der anthropologischen und kulturphilosophischen („ästhetischen“) Betrachtungsweise Kants bestimmt vor den Arbeiten der 90er Jahre seinen Begriff des Kriegs. Er sieht im Krieg noch nicht eine Niederlage der moralischen Vernunft, sondern eine Naturtatsache menschlicher „Unverträglichkeit“ und ein Ereignis innerhalb des zwischen Staaten fortgeltenden hobbesianischen status juridicus (naturalis). 44 Erst in der Moral- und Rechtsphilosophie, also in der Abhandlung über den Gemeinspruch (1793), den „philosophischen Entwurf“ über den Ewigen Frieden (1795) und die „Rechtslehre“ (1797) tritt an die Stelle der Rechtfertigung ___________ 39

Kant (Fn. 33), S. 17 f. Kant, I., Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786), in: Philosophische Bibliothek, Bd. 512, S. 60 f. 41 Kant (Fn. 40), S. 62. 42 In seiner „Kritik der Urteilskraft“ (1790) preist Kant den völkerrechtlich gehegten Krieg: „Selbst der Krieg, wenn er mit Ordnung und Heiligachtung der bürgerlichen Rechte geführt wird, hat etwas Erhabenes an sich … dagegen ein langer Frieden den bloßen Handelsgeist, mit ihm aber den niedrigen Eigennutz, Feigheit und Weichlichkeit herrschend zu machen und die Denkungsart des Volks zu erniedrigen pflegt.“ Kant, I., Kritik der Urteilskraft (1790), in: Philosophische Bibliothek, Bd. 39, S. 109. 43 Krieg: „eine Triebfeder mehr … alle Talente, die zur Kultur dienen, bis zum höchsten Grade zu entwickeln“ – Kant (Fn. 42), S. 302. 44 Kant, I., Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793), in: Philosophische Bibliothek, Bd. 45, S. 110 f. Anm. 40

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aus dem Naturzweck die Rechtfertigung aus dem Recht, womit der Angriffsund Eroberungskrieg, ja Krieg und Annexionen überhaupt in die Kritik geraten. 45 Jetzt wird der ewige Friede zum „letzten Ziel des ganzen Völkerrechts“ und eine „auf die Pflicht, mithin auch auf dem Rechte der Menschen und Staaten gegründete Aufgabe“. 46 Das Recht zur Kriegsführung ist für Kant kein Recht des Souveräns auf Verpflichtung seiner Untertanen, sondern im Gegenteil: von einer Pflicht des Souveräns gegen das Volk abzuleiten, also im Grundsatz zustimmungspflichtig durch dessen Repräsentanten. 47 Völkerrechtlich betrachtet, ist Krieg ein unvermeidliches Ereignis in einem Zustand allgemeiner Hostilität, wo Rechtsverfolgung „durch eigene Gewalt“ geschieht. Diese Art Rechtsverfolgung hat ihren Ort da, wo ein Staat sich durch einen andern „lädiert glaubt“ („tätige Verletzung“, „erste Aggression“) oder wo er sich von einem oder mehreren anderen bedroht fühlt (durch „vorgekommene Zurüstung“, „durch Ländererwerbung anwachsende Macht“). Der Grundsatz inter arma leges silent mache es freilich schwer, Krieg nach Maßgabe eines Gesetzes als rechtens anzusehen, und also muss man sich darauf beschränken zu fordern, dass es „noch möglich bleibt, aus jenem Naturzustande der Staaten (im äußeren Verhältnis gegeneinander) herauszugehen und in einen rechtlichen zu treten.“ Eroberungskrieg sei im Übrigen selbst dort ein völkerrechtswidriges „Notmittel des Staats“, wo er dazu dient, „zum Friedenszustande zu gelangen“. 48 Kriegerische Eroberungen unterliegen nach dem Völkerrecht festen Unterscheidungen hinsichtlich des Status des Landes und desjenigen seiner Einwohner. Der „überwundene Staat“ könne nicht „Kolonie“ werden, da eine Kolonie sich zwar als „Tochterstaat“ noch regieren könne, vom souveränen „Mutterstaat“ aber beherrscht werde. Auch verlieren die Untertanen des eroberten Staats nicht ihre „staatsbürgerliche Freiheit“, um in Leibeigenschaft zu geraten, denn zu derlei bedürfte es eines „Strafkrieges“, der zwischen gleichberechtigten Staaten ja gerade nicht stattfinden kann. 49 Am Beispiel der feudalen Besitzverschiebungen (Erbung, Tausch, Kauf oder Schenkung) diskutiert Kant im Traktat vom Ewigen Frieden (1775) die Bedingungen für rechtlich zulässige Annexion von Gebieten und ihrer Bevölkerung ___________ 45

Sämtliche Texte zu Krieg und Frieden bei Kant hat Karl Vorländer zusammengetragen in: Kant, I., Zum ewigen Frieden. Mit Ergänzungen aus Kants übrigen Schriften und einer ausführlichen Einleitung über die Entwicklung des Friedensgedankens hrsg. von K. Vorländer, 2. Aufl. 1919, S. 56 ff. 46 Kant, I., Rechtslehre, § 61 (1797), in: Philosophische Bibliothek, Bd. 42, S. 175 ff. 47 Kant (Fn. 46), § 55. 48 Kant (Fn. 46), § 57. 49 Kant (Fn. 46), § 58.

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(1. Präliminarartikel). Das Prinzip der Zulässigkeit ist die Anerkennung der Subjektstellung von Land und Leuten als politisch geeinter Gesellschaft. Demnach hat ein Staat einen Regenten, nicht umgekehrt, gar im Sinn von Eigentum. Ein Staat nämlich, so Kants Grundsatz, ist keine Habe (patrimonium): „Er ist eine Gesellschaft von Menschen, über die niemand anders als er selbst zu gebieten und zu disponieren hat. Ihn aber, der selbst als Stamm seine eigene Wurzel hatte, als Pfropfreis einem andern Staate einzuverleiben, heißt seine Existenz als einer moralischen Person aufheben und aus der letzteren eine Sache machen, widerspricht also der Idee des ursprünglichen Vertrags, ohne die sich kein Recht über ein Volk denken lässt.“ 50 Damit ist ein auf Eroberung im Sinne von Erwerb (vgl. Montesquieu) gerichteter Krieg im Grundsatz sittenund rechtswidrig. Am Beispiel des Interventionskriegs der europäischen Mächte gegen das revolutionäre Frankreich diskutiert Kant die Problematik des politischen „Interventionskrieges“ (5. Präliminarartikel). Er nennt zwei Unterstützer-Argumente: der angebliche Skandal eines schlechten Beispiels eines anderen Staates auf die eigenen Untertanen und die solidarische Hilfeleistung für die Partei des besseren Rechts im Bürgerkrieg. Das eine wie das andere seien jedoch keine berechtigten Interventionsgründe: das erste nicht, weil ein scandalum acceptum keine Läsion für eine moralische Person darstelle, und das zweite nicht, weil dadurch die Autonomie aller Staaten unsicher gemacht würde. 51 Am Beispiel der Kolonialerwerbung in Amerika, den „Negerländern“, den Gewürzinseln, dem Kap usw. stellt Kant den vermeintlichen Grund der Entdeckung und des Besuchs fremder Länder und Völker 52 als Vorwand für Eroberungskriege bloß – und das bei „Mächten, die von der Frömmigkeit viel Werks machen, und, indem sie Unrecht wie Wasser trinken, sich in der Rechtgläubigkeit für Auserwählte gehalten wissen wollen.“ 53

V. Zusammenfassende Überlegungen 1. Eroberungen Für Niccolo Machiavelli ist Krieg der Königsweg zu Gründung und Erweiterung von Staaten. Republiken, Fürsten und Privatleute, die das Zeug zum Fürsten haben, gehen ihrer „Eroberungslust“ nach, sie „ist etwas sehr Natürli___________ 50 51 52

S. 24. 53

Kant (Fn. 45), S. 5. Kant (Fn. 45), S. 7. „… welches ihnen mit dem Erobern derselben für einerlei gilt“ – Kant (Fn. 45), Kant (Fn. 45), S. 23 f.

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ches und Verbreitetes.“ Bei Vitoria sind Eroberungen als Folgen, nicht aber als der Zweck eines Kriegs gerechtfertigt. Montesquieu analysiert Eroberungen als eine von mehreren Ursachen der Größe Roms. In der Gegenwart diskutiert er Eroberungen utilitaristisch: Rom, in die Gegenwart gesetzt, hätte keine Chance mehr sich zu einem Imperium zu entfalten. Und was die Eroberungen Ludwig XIV. betrifft, so widersprechen sie – zumindest in der Pfalz – dem Erwerbsprinzip, denn was bringen vom Krieg verwüstete Annexionen? Für den Kant der 90er Jahre tritt der Nutzen hinter dem Recht zurück: Land und Leute, gleichgültig ob erworben oder erobert, sind ihm keine Habe eines Staatsoberhaupts und keine Kolonie mit Leibeigenen eines Überwinders (also weder Erwerb noch despotische Machterweiterung im Sinne Montesquieus), sondern moralische Personen, die Subjekt der Selbstbestimmung bleiben. Damit verdeutlicht Kant die Bedingungen, unter denen Handel den Krieg abzulösen als vernünftig (und rechtlich) begriffen werden kann: dass er sich nicht auf Land und Leute bezieht, sondern auf deren Habe.

2. Paradigmen des Eroberungskriegs Machiavelli vertritt eine Naturlehre der Eroberung. Ihr aktuelles Paradigma ist die Befreiung Italiens von den Barbaren, die er von einem principe nuovo erwartet, der aus eigenen Staaten aufbricht und von der Bevölkerung in den eroberten Staaten als „Volksfürst“ und Befreier begrüßt wird. Machiavelli appelliert an den Ehrgeiz italienischer Kleinfürsten, sich nicht im Streit um ihre jeweiligen Erblande zu verzetteln, sondern in der Wiedervereinigung des größeren italienischen Vaterlandes eine Lebensaufgabe zu sehen. Vitoria argumentiert auf der Basis des Naturrechts, das zwischen Völkern unterschiedlicher Zivilisation und Religion reversible Ansprüche und Pflichten begründet. Das positive Paradigma der vitorianischen Lehre ist nicht der intentionale, sondern der funktionale Eroberungskrieg in der Neuen Welt. Eroberungen folgen aus der naturalis communicatio, und sie sind als Konflikte gerechtfertigt, bei denen es um die Freiheit der Mission und den Schutz der Bekehrten geht. Intentional, d. h. nach Grundsätzen der Machterweiterung der spanischen Krone und für den Ruhm des Königs, wäre die conquista ebenso unerlaubt wie als Schwertmission. Montesquieu kennt zwei Paradigmen für den Eroberungskrieg: ein erstes, das sich historisch in der Weltherrschaft Roms niederschlägt; ein zweites, zeitkritisches, das Eroberungskriege mit Despotien einhergehen sieht. Im gegenwärtigen Europa, das als eine aus mehreren Nationen gebildete Gesamtnation zu sehen sei (une nation composée de plusieurs), sei kein Raum mehr für einen Eroberungsstaat (état conquérant). Damit nimmt Montesquieu ein halbes Jahr-

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hundert vor Benjamin Constant dessen liberales Verdikt über den Eroberungskrieg vorweg. Der junge Kant akzeptiert Krieg im Rahmen von Anthropologie und Geschichtsphilosophie; der ältere ersetzt in seiner Moral- und Rechtslehre die Unvermeidlichkeit des Krieges durch die Pflicht zum Frieden. Krieg scheint allenfalls zum Schutz der Errungenschaften der Französischen Revolution gegenüber der feudalen Reaktion gerechtfertigt.

3. Modell des Staatsmanns Hat Machiavelli den auf Eroberung ausgehenden „neuen Fürsten“ in der Aufgabe der Wiedervereinigung Italiens zum Volkshelden erhoben, so ist Vitorias Modell eines Königs der Mandatar friedlicher Erkundung, Niederlassung, Evangelisation in der neuen Welt. 54 Bei Montesquieu ist der vorbildliche Monarch „mehr angetan vom Titel des Freundes als von dem des Eroberers“ (Pensées). 55 Kant erwartet vom friedfertigen Fürsten, dass er nicht nur sein Land beglücke, sondern dass er einen internationalen Frieden aufrichte – nach Grundsätzen der Französischen Revolution. So meinte er zu einem Vertrauten: „Wenn nur unser König bald nach Berlin kommt und durch Sieyès Gründe sich bestimmen lässt, eine vernünftige Partei zu ergreifen, damit durch Preußen und Frankreich vielleicht das Kriegführen unmöglich gemacht werde.“ 56 Die liberale Pariser Öffentlichkeit ließ es dem von Elba zurückkehrenden Napoleon geraten erscheinen, auf der Schwelle zur Macht eine Erklärung abzugeben, die dem Fuchs in Lafonteineschen Fabeln abgelauscht ist: „Ich bin nicht länger ein Eroberer, ich kann es nicht sein. … Außerdem ersehne ich den Frieden und ich kann ihn nur durch Siege erringen.“ 57

___________ 54

Vitoria, De Indis III.1 f., III.9. Mes Pensées, Nr. 1644, in: Montesquieu (Fn. 34), S. 1396. 56 So nach einem Tagebucheintrag Abeggs von Sinner 1798, den Karl Vorländer entdeckt hat, vgl. Vorländer, Einleitung, in: Kant (Fn. 45), S. XXI, Fn. 1. 57 Zit. bei Zbinden, H., Einleitung, in: Constant (Fn. 5), S. XX. 55

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4. Geschichtslinien Machiavelli inspirierte und inspiriert gewaltsame politische und wirtschaftliche Machterweiterung bis heute. 58 Vitoria anerkennt militärische Machterweiterung, sofern sie vom Ziel und vom Weg her begrenzt bleibt. 59 Von Montesquieus protoliberalem Eroberungsverständnis („Erwerb“) führt der Weg zum freien Welthandel, von Kants „Ewigem Frieden“ zur Erwägung eines völkerrechtlich institutionalisierten Friedensregimes. Eine solche Erwägung wurde nach dem ErstenWeltkrieg bekanntlich von amerikanischen Pazifisten im Blick auf neuartige, durch den Fortschritt von Wissenschaft und Technik möglich gewordene Zerstörungsweisen angestellt und von Außenminister Kellogg in einen Vertragsentwurf gekleidet. 60 Deutschland erklärte am 27. April 1928 seine Bereitschaft, den vorgeschlagenen Entwurf zur „Ächtung des Krieges“ zu unterschreiben. Noch vor der Ratifikation des – übrigens sanktionslosen und darum unwirksamen – Vertrags, ehrte die Universität Heidelberg zwei Repräsentanten der neuen Friedenspolitik, den Botschafter der USA in Deutschland, Jacob G. Schurman, und Außenminister Gustav Stresemann durch eine Ehrenpromotion. Der Amerikaner begründete die Notwendigkeit der Kriegsächtung (outlaw) dadurch, dass der Fortschritt der Wissenschaften und der Technik dazu zwinge, sich zwischen der Barbarei des Krieges und der Zivilisation des Friedens zu entscheiden. Schon bald werde es möglich sein, „Städte mit ihrer Millionenbevölkerung zu vernichten. ... Und die Erfahrung lehrt, dass Kriegführende alles was sie tun können, auch tun werden, um die Macht ihrer Feinde zu brechen. … Wenn die menschliche Zivilisation und Kultur fortbestehen sollen, muss daher der Krieg geächtet werden. … Deutschland und die Vereinigten Staaten marschieren vorwärts in einem großen und edlen Abenteuer für die Sache der menschlichen Kultur.“ Stresemann blieb abwägend und im Blick auf den Vertrag von Versailles, an dessen Revision er unermüdlich arbeitete, realistisch: „das Völkerrecht wird, ___________ 58 Der Kriegstypus „Befreiungskrieg von den Barbaren“ (Machiavelli) existiert seit der Epoche der Dekolonisation und hält in Gebieten der ehemaligen UdSSR, in Südostasien und im vorderen Orient bis in die Gegenwart an. 59 Vitoria hat Krieg auch zur Durchsetzung natürlicher Rechte gerechtfertigt – ein Argument, das die NATO zugunsten kosovarischer Muslime in Anspruch nehmen konnte. 60 Matz, U., Realistische und utopische Friedensmodelle in historischer Perspektive, in: Rill, B. (Hrsg.), Völkerrecht und Friede, 1995, S. 90 ff.; Gerhardt, V., Immanuel Kants Entwurf „Zum Ewigen Frieden“, 1995; Höffe, O. (Hrsg.), Zum ewigen Frieden, 1995. – Zu den Interpreten des modernen Völkerrechts gehört insonderheit Dieter Blumenwitz, an dessen Lebenswerk zu rühmen ist, dass er halbherzigen bzw. offenkundig interessengeleiteten Neuerungen mutig und kraftvoll widerstand und Fehlentwicklungen ins helle Licht des erreichten Standes des Völkerrechts gerückt hat.

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wie Kant ausspricht, nur auf einem freien Föderalismus der Völker aufgebaut werden können.“ Es lasse sich „die Verhütung des Krieges nicht als Ziel an sich“ ansehen; auch müsse „mit der Vermeidung des Krieges der Ausbau derjenigen Institutionen Hand in Hand gehen, welche unausführbar gewordene Verträge auf friedlichem Weg abzuändern in der Lage sind.“61

___________ 61

Reden bei dem Akt der Ehrenpromotionen des Reichsministers Dr. Stresemann und des Botschafters der Vereinigten Staaten Dr. Schurman in der Aula der Universität Heidelberg, 5. Mai 1928 (= Heidelberger Universitätsreden 4), 1928, S. 16, 24 und 30.

Opus iustitiae pax Anmerkungen zu einem zentralen Topos der Friedenslehre der katholischen Kirche Christian Poplutz „Der Friede besteht nicht darin, daß kein Krieg ist; er läßt sich auch nicht bloß durch das Gleichgewicht entgegengesetzter Kräfte sichern; er entspringt ferner nicht dem Machtgebot eines Starken; er heißt vielmehr mit Recht und eigentlich ein ‚Werk der Gerechtigkeit‘ (Jesaja 32, 17).“ Zweites Vatikanisches Konzil

Mit dem Zusammenhang von Gerechtigkeit und Frieden, mit der ethischen Begründung einer internationalen Friedensordnung hat sich Dieter Blumenwitz im Laufe seines Lebens immer wieder wissenschaftlich befasst. Schon in seiner Dissertation „Die Grundlagen eines Friedensvertrages mit Deutschland“ erörterte er zu Beginn die allgemeinen politischen und völkerrechtlichen Grundlagen einer Friedensordnung; er betrachtete in drei Paragraphen des Ersten Kapitels namentlich den Friedensbegriff und seine Entwicklung, die Gründe der Friedlosigkeit und die Möglichkeit einer Friedensordnung, bevor er sich der konkreten Lage Deutschlands im Hinblick auf den Abschluss eines Friedensvertrages zuwandte.1 Die Suche nach den ethischen Maßstäben einer internationalen Friedensordnung und nach deren Fundamenten jenseits des positiven Rechts war ihm ein stetes Anliegen,2 zumal das Völkerrecht wegen seiner Grundstruktur als einer „herrschaftsfreien Rechtsordnung“3 und der souveränen Gleichheit aller Staaten dringend auf Konsens (und dieser wiederum auf ein ethisches Minimum) ___________ 1 Blumenwitz, D., Die Grundlagen eines Friedensvertrages mit Deutschland, 1966, S. 17 ff. 2 Blumenwitz, D., Die Universalität der Menschenrechte, in: Katholische Sozialwissenschaftliche Zentralstelle Mönchengladbach (Hrsg.), Kirche und Gesellschaft Nr. 307, 2004, S. 5 f. 3 Hillgruber, Ch., Das Verhältnis von Frieden und Gerechtigkeit – völkerrechtlich betrachtet, in: Zeitschrift für Politik (ZfP) 50 (2003), S. 245 ff. (245).

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angewiesen ist. Der Friedenslehre der katholischen Kirche galt das besondere Interesse von Dieter Blumenwitz unter anderem hinsichtlich ihrer Positionen zum Minderheitenschutz 4 sowie vor allem in der Auseinandersetzung um die völkerrechtliche Bewertung des Irak-Krieges, den er für völkerrechtswidrig hielt 5 und gegen den Papst Johannes Paul II. – gerade unter Berufung auf das Völkerrecht und die Friedensethik der Kirche – mehrfach Stellung bezogen hatte. 6 Eingedenk dessen will sich dieser Beitrag dem Friedensbegriff der katholischen Kirche nähern und zu diesem Zweck einen Topos beleuchten, der in den Aussagen der neueren katholischen Lehre zu Frieden und Völkerrecht seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil eine wichtige Stellung einnimmt: „Opus iustitiae pax – der Friede (ist) ein Werk der Gerechtigkeit.“ 7 Gemeint ist mit Frieden hier der „Friede auf Erden“, der von der nach christlichem Glauben verheißenen ewigen Friedensherrschaft Gottes zu unterscheiden, aber nicht ganz zu trennen ist: Das Reich Gottes hat mit der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus bereits begonnen, 8 weshalb die Charakteristika des Friedensreiches Christi – Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe und Freiheit – be-

___________ 4

Blumenwitz, D., Positionen der katholischen Kirche zum Schutz von Minderheiten und Volksgruppen in einer internationalen Friedensordnung, 2000. Vgl. für den Bereich der Menschenrechte auch Blumenwitz, D., Grundlegung der Menschenrechte in der westlichen Kultur, in: Politische Studien, Sonderheft 1/1995, S. 5 ff. 5 Blumenwitz, D., Die völkerrechtlichen Aspekte des Irak-Konflikts, in: ZfP 50 (2003), S. 301 ff.; ders., Der Präventivkrieg und das Völkerrecht, in: Politische Studien Heft 391 (2003), S. 21 ff. 6 Beispielsweise in seiner Angelus-Ansprache vom 16.03.2003, http://www.vatican.va/holy_father/john_paul_ii/ angelus/ 2003/ documents/hf_jp-ii_ang_20030316_ge. html (04.02.2007). 7 Vgl. Jesaja 32, 17: „Das Werk der Gerechtigkeit wird der Friede sein, der Ertrag der Gerechtigkeit sind Ruhe und Sicherheit für immer“, hier zitiert nach der Einheitsübersetzung des Alten und Neuen Testaments. – Auf die biblischen und theologischen Aspekte des Friedens als einer gerechten Ordnung, als Leben in Fülle, wie sie auch an vielen anderen Stellen des Alten (u. a. in den Psalmen 72 über die Herrschaft des gerechten Friedenskönigs und 85) und Neuen Testaments (etwa im Brief an die Epheser 2, 14: „Christus ist unser Friede“) zum Ausdruck kommt, kann hier nicht näher eingegangen werden; vgl. dazu Schick, E. / Biser, E., Friede, in: Lexikon für Theologie und Kirche (LThK), Band 4, 2. Aufl. 1960, Sp. 366–369; Broer, I. / Hoppe, Th., Friede, in: LThK, Band 4, 3. Aufl. 1995, Sp. 137–140; zur Einordnung des Friedensbegriffs in die katholische Soziallehre vgl. auch Ecclesia Catholica – Consilium de Iustitia et Pace, Kompendium der Soziallehre der Kirche, 2006 (Dt. Ausgabe), Nr. 488–493; online: http://www.vatican.va/roman_curia/pontifical_councils/justpeace/documents/rc_pc_just. peace_doc_20060526_compendio-dott-soc_en.html (13.03.2007 – engl., bisher keine deutsche online-Version). 8 Und damit ist auch „der Friede Gottes als ‚Gerechtigkeit Gottes‘ schon gegenwärtig“, vgl. Deutsche Bischofskonferenz (Hrsg.), Katholischer Erwachsenen-Katechismus, Band 2: Leben aus dem Glauben, 1995, S. 319.

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reits hier und jetzt als ethische Ansprüche gelten. 9 Dies kommt auch in einer anderen, freieren Übersetzung des Topos Opus iustitiae pax zum Ausdruck, mit welcher die deutschen Bischöfe 1983 auf dem Höhepunkt des Wettrüstens im Kalten Krieg einen Friedens-Hirtenbrief überschrieben: „Gerechtigkeit schafft Frieden“. 10 Die Umschreibung des Friedens mit dem prophetischen, einer Friedensvision entnommenen Bibelwort als „Werk der Gerechtigkeit“ (Jesaja 32, 17) wird in allen relevanten Kompendien der kirchlichen Lehre, so im Katechismus der Katholischen Kirche von 1993, 11 dem Erwachsenen-Katechismus der Deutschen Bischofskonferenz von 1995 12 und dem vom Päpstlichen Rat für Gerechtigkeit und Frieden herausgegebenen Kompendium der Soziallehre der Kirche von 2004, 13 zitiert und in ihren Bezügen zu den Problemen der Gegenwart entfaltet. Sie gehört damit bis heute zum Kernbestand der kirchlichen Friedenslehre und geht in dieser Formulierung auf das Zweite Vaticanum zurück, worauf Johannes Paul II. kurz vor seinem Tode in seiner Botschaft anlässlich des 40. Jahrestages der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ vom 15. März 2005 ausdrücklich hingewiesen hat: „In sehr vielen Teilen der Welt gibt es weiterhin bewaffnete Konflikte und wiederholte Ausbrüche von Gewalt. Diese traurige Tatsache bestätigt indirekt, ‚e contrario‘, die grundlegende, von Gaudium et spes mit mutiger Klarheit dargelegte Lehre vom untrennbaren Zusammenhang zwischen Gerechtigkeit und Frieden (vgl. Gaudium et spes Nr. 78). In dieser Hinsicht möchte ich nochmals bekräftigen, daß der Friede ein Werk der Gerechtigkeit ist: Er ist Frucht der Ordnung, die dem Willen ihres göttlichen Gründers entsprechend das Fundament der menschlichen Gesellschaft bildet. (...) Im wahren Frieden auf Erden ist die feste Entschlossenheit einbegriffen, die anderen – Einzelpersonen und ganze Völker – in ihrer Würde zu achten, sowie der beständige Wille, die Brüderlichkeit unter den Mitgliedern der Menschheitsfamilie zu fördern (vgl. Kompendium der Soziallehre der Kirche, 194).“14

___________ 9 Ockenfels, W., Die kirchliche Friedenslehre vor neuen Problemen, in: Rauscher, A. (Hrsg.), Nationale und kulturelle Identität im Zeitalter der Globalisierung, 2006, S. 185 ff. (186). 10 Hirtenbrief der deutschen Bischöfe vom 18.04.1983, in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Hirtenschreiben und Erklärungen Nr. 48 – Gerechtigkeit schafft Frieden, Wort der Deutschen Bischofskonferenz zum Frieden (1983) und Erklärungen zum Golfkonflikt (1991), 1992. 11 Ecclesia Catholica, Katechismus der Katholischen Kirche, 1993, Nr. 2304. 12 Katholischer Erwachsenen-Katechismus (Fn. 8), S. 319 ff. 13 Kompendium der Soziallehre der Kirche (Fn. 7), Nr. 494. 14 Johannes Paul II., Schreiben an Renato Raffaele Kardinal Martino, Präsident des Päpstlichen Rates für Gerechtigkeit und Frieden, anlässlich des 40. Jahrestages der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ vom 15.03.2005, Nr. 2; online: http://www. vatican.va/holy_father/john_paul_ii/letters/2005/ documents/ hf_jp-ii_let_20050315_pcgiustizia -pace_ge.html (25.02.2007).

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I. Zur Vorgeschichte der neueren kirchlichen Lehre – von Benedikt XV. zu Benedikt XVI. Wenngleich das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) mit der Pastoralkonstitution Gaudium et spes vom 7. Dezember 1965 einen wichtigen Meilenstein auf dem Weg der Entwicklung der Soziallehre der katholischen Kirche und namentlich ihrer Friedensethik gesetzt hat, 15 so soll doch auch die Vorgeschichte nicht vergessen werden: Die in ihrer Bedeutung für die europäische Geistesgeschichte wie für die Entwicklung des Völkerrechts nicht zu überschätzenden Werke unter anderem Augustins, Thomas von Aquins und Francisco de Vitorias 16 ebenso wenig wie die lehramtlichen Aussagen früherer Päpste zu Krieg und Frieden. Erinnert sei vor allem an Benedikt XV. (1914– 1922), der sich mit aller ihm zu Gebote stehenden Kraft gegen den Ersten Weltkrieg gewandt hatte, 17 sowie an die zahlreichen Friedensappelle Pius’ XII. (1939–1958) vor und während des Zweiten Weltkrieges, dessen Wahlspruch das hier in Rede stehende „Opus iustitiae pax“ war. 18 Die von Benedikt XV. vorgezeichnete Linie wurde von seinen Nachfolgern fortgesetzt, vor allem in der Forderung der Päpste nach einem wirksamen Völkerrecht, nach Abrüstung und nach Überwindung der Gewaltanwendung in innerstaatlichen und internationalen Konflikten. Der jetzige Papst Benedikt XVI. stellt sich sogar bis hin zur Wahl seines Namens ganz bewusst in diese Kontinuität: ___________ 15 Nach ständiger Übung kirchlicher Dokumente geben – wie auch bei den Enzykliken – die Eingangsworte „Gaudium et spes“ des ersten Satzes („Freude und Hoffnung ...“; näher dazu unten II.3.a)) dem Dokument seinen Namen. – Latein. Quelle: AAS 58 (1966), S. 1025–1115; Text m. dt. Übersetzung in: Hünermann, P. / Hilberath, B. J. (Hrsg.), Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Bd. 1, Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils – Konstitutionen, Dekrete, Erklärungen, 2004, S. 592–749; dt. Text auch in: Rahner, K. / Vorgrimler, H., Kleines Konzilskompendium, 26. Aufl. 1994, Nr. 16; online: http://www.vatican.va/archive/hist_ councils/ ii_vatican_council/ documents/ vat-ii_const_19651207_gaudium-et-spes_ge. html (04.02.2007). 16 Vgl. Hobe, St. / Kimminich, O., Einführung in das Völkerrecht, 8. Aufl. 2004, S. 34 f. (mit weiteren Literaturhinweisen); speziell zu Francisco de Vitoria: Deckers, D., Gerechtigkeit und Recht. Eine historisch-kritische Untersuchung der Gerechtigkeitslehre des Francisco de Vitoria (1483–1546), 1991; Utz, A. F., Francisco de Vitoria: Naturrecht im Völkerrecht, in: Die neue Ordnung 53 (1999), http://www.die-neueordnung.de/Nr31999/AU.html (04.02.2007). 17 Von besonderer Bedeutung waren seine Exhortatio (Ermahnung) gegen die „grauenhafte Schlächterei“ („horrenda carneficina“) des Krieges vom 28.07.1915 und sein Apostolisches Schreiben Dès le début („Seit dem Beginn [unseres Pontifikates]“) an die kriegführenden Mächte Europas vom dritten Jahrestag des Kriegsbeginns vom 01.08. 1917. 18 Rauscher, A., Wirtschaft und Friede, in: Rauscher, A., Kirche in der Welt – Beiträge zur christlichen Gesellschaftsverantwortung, 4. Band, 2006, S. 343–354 (351).

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„Der Name Benedikt selbst, den ich am Tag meiner Wahl auf den Stuhl Petri angenommen habe, weist auf meinen überzeugten Einsatz für den Frieden hin. Ich wollte mich nämlich sowohl auf den heiligen Patron Europas, den geistigen Urheber einer friedenstiftenden Zivilisation im gesamten Kontinent, als auch auf Papst Benedikt XV. beziehen, der den Ersten Weltkrieg als ein ‚unnötiges Blutbad‘ (Aufruf an die Staatsoberhäupter der kriegführenden Völker [1. August 1917], AAS 9 [1917], S. 423) verurteilte und sich dafür einsetzte, dass die übergeordneten Gründe für den Frieden von allen anerkannt würden.“ 19

II. Der Topos Opus iustitiae pax im Umfeld des Zweiten Vatikanischen Konzils Zwei klassisch gewordene Dokumente der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts zeigen die neuere Friedenslehre der katholischen Kirche in eindrucksvoller Dichte und Klarheit: Die Enzyklika Pacem in terris 20 von Johannes XXIII. (1963) und die Pastoralkonstitution Gaudium et spes des Zweiten Vaticanums (1965). Beide sind Ausdruck der von Johannes XXIII. (1958– 1963) mit der Einberufung des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965) eingeleiteten grundlegenden Reform der katholischen Kirche – im Grundanliegen des aggiornamento, der zeitgerechten Verkündigung des Evangeliums im Geiste des Guten Hirten unter Beachtung der „Zeichen der Zeit“ und im Eintreten für die Menschenrechte. 21 Dies war für Johannes XXIII. das Gebot der Stunde in einer sich immer schneller verändernden Welt voller vielfältiger Krisen: Im Schatten des Kalten Krieges nahmen in der Dritten Welt Elend und Not zu, gleichzeitig loderten als Begleiterscheinung der Entkolonialisierung vielerorts regionale Konflikte und Bürgerkriege wieder auf. Im Ziel der Sozialverkündigung der Kirche und im Weg dorthin ist er sich dabei mit seinem Vorgänger Pius XII. einig: Ein dauerhafter Friede kann nur durch weltweite Gerechtigkeit gesichert werden. Der Akzent der katholischen Soziallehre verschiebt sich unter Johannes XXIII. jedoch von der naturrecht___________ 19

Benedikt XVI., „In der Wahrheit liegt der Friede“, Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages am 01.01.2006 (08.12.2005), http://www.vatican.va/holy_father/ benedict_xvi/messages/ peace/documents/hf_ben-xvi_mes_20051213_xxxix-world-day-peace_ge.html (04.02.2007), Nr. 2. 20 AAS 55 (1963), S. 257–304; lateinischer Originaltext online zugänglich unter http://www.vatican.va/holy_father/john_xxiii/encyclicals/documents/hf_j-xxiii_enc_110 41963_pacem_lt.html (19.02.2007), deutsche Übersetzung: http://theol.uibk.ac.at/itl/ 333.html (19.03.2007). 21 Sander, H.-J., Theologischer Kommentar zur Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, in: Hünermann, P. / Hilberath, B. J. (Hrsg.), Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Band 4, 2005, S. 695; Schwaiger, G., Johannes XXIII., in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon Recht – Wirtschaft – Gesellschaft, 7. Aufl. (Sonderausg.), 1987/1995, Bd. III, Sp. 216; Alberigo, G., Johannes XXIII., in: LThK, Band 5, 3. Aufl. 1996, Sp. 952–955.

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lich-sozialphilosophischen Ausrichtung, die unter Pius XII. ihren Höhepunkt erreicht hatte, hin zu einer mehr praktisch-pastoralen Orientierung, unter verstärkter Einbeziehung biblisch-theologischer Argumentationen. 22 Pacem in terris und Gaudium et spes kennzeichnen zugleich eine neue Art von kirchlicher Verkündigung, die sich nicht nur an die katholischen Christen, sondern an alle Menschen richtet, die bereit sind, sich mit den Antworten der Kirche auf die drängenden Fragen der Menschheit auseinanderzusetzen. Eingefordert worden war diese Offenheit auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil – zum Teil gegen heftigen Widerstand römischer Kurienkardinäle – unter anderem von den Erzbischöfen Léon-Joseph Kardinal Suenens (Mecheln-Brüssel) und Joseph Kardinal Frings (Köln). Kardinal Suenens hatte in einer vielbeachteten Ansprache im ersten Konzilsjahr 1962 an die Kirche die Aufforderung gerichtet, den Dialog mit der Welt zu beginnen; er bemerkte dazu, dass „die Welt an die Kirche Fragen von größter Bedeutung stellt und dazu von ihr eine Antwort erwartet“. 23

1. Die Friedensenzyklika Pacem in terris vom 11. April 1963 Mit seiner während des Konzils, knapp zwei Monate vor seinem Tode, erschienenen letzten Enzyklika Pacem in terris vom 11. April 1963 über den Frieden unter allen Völkern in Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe und Freiheit wendet sich Johannes XXIII. erstmals in der Geschichte der katholischen Soziallehre nicht nur an Hirten und Gläubige der katholischen Kirche, sondern an „die Christgläubigen des ganzen Erdkreises sowie an alle Menschen guten Willens“, 24 um ihnen auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, knappe zwei Jahre nach der Errichtung der Berliner Mauer und kurz nachdem die Welt in der Kuba-Krise nur knapp einem Dritten Weltkrieg entgangen war, die Frielehre der katholischen Kirche nahe zu bringen. Zusammengefasst ist sie bereits im ersten Satz: 25 ___________ 22 Witetschek, H., Von der katholischen Soziallehre zur christlichen Gesellschaftslehre. – Eine politische Orientierungshilfe für alle Menschen guten Willens, in: Internationale Katholische Zeitschrift Communio 1997, S. 440 ff. (441). 23 Zit. n. Schuijt, W., Die Geschichte des Textes (zum Fünften Kapitel des Zweiten Teils von Gaudium et spes), in: Brechter, H. S. et al. (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche, 2. Aufl. 1968, Das Zweite Vatikanische Konzil, Supplement-Band III, S. 533. 24 Pacem in terris (Fn. 20) Nr. 1, Einleitungsformel: „Litterae encyclicae (...) et christifidelibus totius orbis itemque universis bonae voluntatis hominibus“; vgl. hierzu auch Witetschek, (Fn. 22), S. 445. 25 Daran erinnert Johannes Paul II. in seiner Botschaft zum Weltfriedenstag 2003 anlässlich des 40. Jahrestages vom Pacem in terris vom 08.12.2002 unter dem Titel „Pacem in terris: Eine bleibende Aufgabe“: http://www.vatican.va/holy_father/john_ paul_ii/messages/peace/documents/ hf_jp-ii_mes_20021217_xxxvi-world-day-for-peace _ge.html (19.02.2007), Nr. 1f.

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„Der Friede auf Erden, nach dem alle Menschen zu allen Zeiten sehnlichst verlangten, kann nur dann begründet und gesichert werden, wenn die von Gott gesetzte Ordnung gewissenhaft beobachtet wird.“ 26

Zu dieser von Gott gesetzten Ordnung gehören die vier „Säulen des Friedens“, 27 Wahrheit, Gerechtigkeit, Freiheit und Liebe. 28 Johannes XXIII. führt aus, die der Natur des Menschen zu entnehmenden Gesetze belehrten die Menschen deutlich, wie sie ihre Beziehungen jeweils gestalten sollten, und zwar im Zusammenleben mit anderen Menschen, im Verhältnis zwischen Staatsbürgern und staatlichen Behörden, im Umgang der Staaten miteinander und „schließlich, in welcher Weise die einzelnen Menschen und Staaten und anderseits die Gemeinschaft aller Völker sich gegeneinander zu verhalten haben“. 29 Beachtlich sind drei wesentliche Züge der Enzyklika; zum Ersten die Bedeutung der in der Personenwürde des Menschen gründenden Menschenrechte: Johannes XXIII. betont die Notwendigkeit der Menschenrechte und würdigt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 30 „gleichsam als Stufe und als Zugang zu der zu schaffenden rechtlichen und politischen Ordnung aller Völker auf der Welt“31 und entwickelt so eine positive Haltung der Kirche zum modernen Menschenrechtsverständnis – wobei sich dieser Wandel schon unter dem Pontifikat Pius XII. angedeutet hatte und das Eintreten der Kirche für die Menschenrechte unter Johannes Paul II. weiter entfaltet werden sollte; 32 zum Zweiten die Übertragung der innerstaatlich geltenden Grundsätze – Orientierung am Gemeinwohl, Achtung der Rechte und Pflichten des Menschen – auf das Zusammenleben der Staaten in der internationalen Gemeinschaft; zum Dritten schließlich die Ordnung dieses Zusammenlebens in der internationalen Gemeinschaft unter Gewaltverzicht, mit allseitiger Abrüstung, der Ächtung von Massenvernichtungswaffen sowie der Perspektive auf ein System friedlicher Streiterledigung und im Ziel auf eine Art Weltstaat oder -föderation.

___________ 26

Pacem in terris (Fn. 20), Nr. 1. So Johannes Paul II. (Fn. 25), Nr. 3. 28 Explizit nennt sie Johannes XXIII. als Voraussetzungen menschlichen Zusammenlebens: Pacem in terris (Fn. 20), Nr. 35. 29 Pacem in terris (Fn. 20), Nr. 5–7. 30 UN-Generalversammlung, Resolution Nr. 217 A (III) vom 10.12.1948, http:// www.unhchr.ch/udhr/lang/ger.htm (04.02.2007). 31 Pacem in terris (Fn. 20), Nr. 144. 32 Vgl. Saberschinsky, A., Die Begründung universeller Menschenrechte. – Zum Ansatz der Katholischen Soziallehre, 2002; Johannes Paul II. weist darauf hin, Johannes XXIII. habe „eine Intuition für die dem Phänomen [der Menschenrechte] innewohnende Kraft und dessen außerordentliche Macht, die Geschichte zu verändern“ gehabt, Johannes Paul II. (Fn. 25), Nr. 4. 27

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Pacem in terris legt in seinen vier Hauptteilen einen Weg von der einzelnen Person über die politischen Gemeinschaften und Staaten bis hin zur Völkergemeinschaft zurück, beginnend mit einem Katalog von in seiner Personalität und Würde begründeten Rechten und Pflichten des einzelnen Menschen im ersten Teil über die Ordnung unter den Menschen (Nr. 8–45). Im zweiten Teil über die Beziehungen zwischen den Menschen und der Staatsgewalt innerhalb der politischen Gemeinschaften wird die Sorge für das Gemeinwohl als Existenzgrund der staatlichen Gewalt beschrieben (Nr. 46–79); daraus wird abgeleitet, „den unantastbaren Lebenskreis der Pflichten und Rechte der menschlichen Persönlichkeit zu schützen und seine Verwirklichung zu erleichtern, ist wesentliche Aufgabe jeder öffentlichen Gewalt“. 33 Weiterhin finden sich Ausführungen zum Verhältnis von Rechtsordnung und Gewissen und zur vorstaatlichen Natur der Grundrechte. 34 Der dritte Teil (Nr. 80–129) entwickelt eine wiederum von der Verwirklichung von Wahrheit und Gerechtigkeit in Freiheit und Liebe geprägte Sicht der internationalen Beziehungen, auch hier zunächst unter Benennung von allgemeinen Rechten und Pflichten zwischen den Nationen, bevor im weiteren Verlauf Einzelthemen wie Minderheitenschutz, Flüchtlingsfragen, Abrüstung und Entwicklungshilfe behandelt werden. 35 Besonders eindringlich liest sich die Forderung nach allgemeiner Abrüstung und einem Atomwaffenverbot. 36 Ebenso wichtig ist Johannes XXIII. die Betonung der friedlichen Streiterledigung. 37 Der Topos Opus iustitiae pax wird in Pacem in terris zwar nicht explizit verwendet, kommt aber in der die ganze Enzyklika durchziehenden Quadriga von Wahrheit, Gerechtigkeit, Freiheit und Liebe zum Ausdruck. So verlangt Johannes XXIII. im dritten Teil, die gegenseitigen Beziehungen der Staaten müssten „gemäß den Forderungen der Gerechtigkeit geregelt werden. Dies bedeutet, daß die beiderseitigen Rechte anerkannt und die gegenseitigen Pflichten ___________ 33 Pacem in terris (Fn. 20), Nr. 60; Johannes XXIII. zitiert hier eine – stark an den Wortlaut von Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG erinnernde – Passage aus der Pfingstbotschaft Pius’ XII. vom 01.06.1941, AAS XXXIII (1941), 200. 34 Pacem in terris (Fn. 20), Nr. 79. 35 Pacem in terris (Fn. 20), Nr. 94–97 (Minderheiten), Nr. 103–108 (Flüchtlinge), Nr. 109–119 (Abrüstung), Nr. 121–125 (Entwicklungshilfe). 36 Pacem in terris (Fn. 20), Nr. 112: „Deshalb fordern Gerechtigkeit, gesunde Vernunft und Rücksicht auf die Menschenwürde dringend, daß der allgemeine Rüstungswettlauf aufhört; dass ferner die in verschiedenen Staaten bereits zur Verfügung stehenden Waffen auf beiden Seiten und gleichzeitig vermindert werden; daß Atomwaffen verboten werden; und daß endlich alle auf Grund von Vereinbarungen zu einer entsprechenden Abrüstung mit wirksamer gegenseitiger Kontrolle gelangen.“. 37 Pacem in terris (Fn. 20), Nr. 93: Die Gegensätze zwischen den Staaten „sollen aber nicht mit Waffengewalt und nicht mit Trug und List gelöst werden, sondern, wie es sich für Menschen geziemt, in gegenseitigem Einvernehmen auf Grund reiflicher sachlicher Überlegung und unparteiischer Schlichtung“.

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erfüllt werden.“ 38 Zu diesen gegenseitig zu achtenden Rechten der Staaten zählt er ihr „Recht auf Dasein, ihr Recht auf Entfaltung und Erwerb der für ihren Fortschritt notwendigen Mittel wie auch das Recht auf ihre Erstzuständigkeit dabei sowie das Recht, ihren guten Ruf und die ihnen gebührenden Ehren zu sichern“. 39 Johannes XXIII. warnt vor Verletzungen dieser Rechte: „Wie nämlich die Menschen in ihren privaten Angelegenheiten ihren eigenen Vorteil nicht zum ungerechten Schaden anderer suchen dürfen, so dürfen auch die Staaten nicht – wenn sie nicht ein Verbrechen begehen wollen – einen solchen Vorteil erstreben, durch den anderen Nationen Unrecht zugefügt oder sie ungerecht bedrückt würden. Hier scheint das Wort des heiligen Augustinus zutreffend: ‚Fehlt die Gerechtigkeit, was sind dann die Reiche anderes als große Räuberbanden?‘ (De civitate Dei IV 4; vgl. Pius XII., Weihnachtsbotschaft 1939)“40

Aus der Prämisse, die internationalen Beziehungen gemäß der Wahrheit und der Gerechtigkeit zu regeln, entwickelt Johannes XXIII. schließlich die Forderung nach weltweiter „tätiger Solidarität“ durch vielfältige gegenseitige Zusammenarbeit auf den Gebieten der Wirtschaft, der Sozialarbeit, der Politik, der Kultur, des Gesundheitswesens und des Sportes. 41 In Parallelität zur Abfolge von erstem und zweitem Teil folgt dem dritten Teil schließlich ein vierter über die Beziehungen zwischen den einzelnen politischen Gemeinschaften und der Völkergemeinschaft (Nr. 130–145). Dieser enthält Überlegungen zum universalen Gemeinwohl aller Staaten, zur Rolle der Vereinten Nationen und zur Geltung des Subsidiaritätsprinzips auf internationaler Ebene, 42 wobei die Notwendigkeit einer universalen politischen Gewalt, eingesetzt durch freiwillige Übereinkunft der Völker, hervorgehoben wird. 43 Das weltweite Echo auf diese Enzyklika war so groß, dass sich die Konzilsväter und die mit der Vorbereitung der Konzilstexte befassten Theologen entschlossen, auf die Friedensthematik in der neu zu erarbeitenden Pastoralkonstitution näher einzugehen, um die Aussagen von Pacem in terris zu verstärken. 44

___________ 38

Pacem in terris (Fn. 20), Nr. 91. Pacem in terris (Fn. 20), Nr. 92. 40 Pacem in terris (Fn. 20), Nr. 92. 41 Pacem in terris (Fn. 20), Nr. 98: „Diesbezüglich müssen wir uns vor Augen halten, daß die Staatsgewalt ihrer Natur nach nicht dazu eingesetzt ist, die Menschen in die Grenzen der jeweiligen politischen Gemeinschaft einzuzwängen, sondern vor allem für das Gemeinwohl des Staates zu sorgen, das von dem der ganzen Menschheitsfamilie gewiß nicht getrennt werden kann“. 42 Pacem in terris (Fn. 20), Nr. 140 f. 43 Pacem in terris (Fn. 20), Nr. 138. 44 Schuijt (Fn. 23), S. 534. 39

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2. Die Rede Pauls VI. vor der UN-Vollversammlung (4. Oktober 1965) Zwei weitere wichtige Texte auf dem Weg zur Entstehung der Friedensartikel von Gaudium et spes sind die Ansprache und die Botschaft Pauls VI. an die Vollversammlung der Vereinten Nationen vom 4. Oktober 1965. 45 In seiner Botschaft, welche den Konzilsvätern in ihren Beratungen bereits am 1. Oktober 1965 vorlag, 46 kommt Paul VI. wie schon sein Vorgänger auf die Funktion der Vereinten Nationen zur Sicherung des Gemeinwohls zu sprechen: „Es kann kein anderes System geben, das fähig ist, für das die ganze Menschheit interessierende Öffentliche Wohl zu sorgen, als das ihre (sic!), das auf der Achtung des Rechtes, der gerechten Freiheit, der Personenwürde fußt, und mit dem Bemühen, die verbrecherische Torheit des Krieges und die verderbliche Raserei der Tyrannei auszuräumen. (...) Zugleich im Namen der Väter des Zweiten Vatikanischen Konzils, die sich in Rom versammelt haben, bringen Wir Ihnen eine Botschaft des Friedens (...). Seien Sie fest davon überzeugt, dass die Katholische Kirche ihrem Werk, den Frieden durch Gerechtigkeit zu fördern, alles Gute wünscht (...).“ 47

In diesem letzten Satz, dessen Bedeutung durch die Kürze der Botschaft an die Vereinten Nationen noch verstärkt wird, klingt bereits die Formulierung des Topos Opus iustitiae pax an. In seiner mündlich vorgetragenen Ansprache aus Anlass des 20. Jahrestages der Gründung der Vereinten Nationen versichert Paul VI. die Vereinten Nationen der Unterstützung der Kirche, „überzeugt davon, dass diese Organisation der gebotene Weg für die moderne Zivilisation und den Weltfrieden ist“. 48 Weiterhin hebt er hervor, dass „die Beziehungen unter den Völkern durch Vernunft, Gerechtigkeit, Recht und Verhandlungen und nicht durch Gewalt, Kraft, Krieg und auch nicht durch Furcht und Täuschung geregelt werden müssen“. 49 Rhetorischer Höhepunkt der Ansprache ist ein dringender Friedensap-

___________ 45 Paul VI., Botschaft und Ansprache an die Generalversammlung der Vereinten Nationen, 04.10.1965, in: AAS 57 (1965) S. 877–885; dt. Text in: Hünermann, P. / Hilberath, B. J. (Hrsg.), Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Band 5, 2006, S. 551–558 (Ansprache) und S. 559–560 (Botschaft); hierzu auch Sander (Fn. 21), S. 802 f. 46 Paul VI., Botschaft an die Generalversammlung der Vereinten Nationen (Fn. 45), S. 559, Fn. 1. 47 Paul VI., Botschaft an die Generalversammlung der Vereinten Nationen (Fn. 45), S. 559. 48 Paul VI., Ansprache an die Generalversammlung der Vereinten Nationen (Fn. 45), S. 553. 49 Paul VI., Ansprache an die Generalversammlung der Vereinten Nationen (Fn. 45), S. 553.

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pell Pauls VI., 50 bevor er auf die Notwendigkeit hinweist, den Frieden mit Geist, Ideen und Friedenswerken aufzubauen, namentlich durch Abrüstung 51 und durch die Beachtung von „Grundrechten und Grundpflichten des Menschen“, namentlich von „Würde, Freiheit und Religionsfreiheit des Menschen“. 52 Schließlich erinnert Paul VI. daran, dass die Gefahr für den Frieden vom Menschen ausgeht, weshalb er fordert, der „Bau der modernen Zivilisation“ müsse „auf geistigen Prinzipien errichtet werden“, welche nach seiner Überzeugung nur auf dem Glauben an Gott gründen könnten. 53

3. Die Pastoralkonstitution Gaudium et spes vom 7. Dezember 1965 Die hier nachgezeichnete Entwicklung einer modernen Friedenslehre der katholischen Kirche findet ihren Höhepunkt in der Pastoralkonstitution Gaudium et spes des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Kirche in der Welt von heute. 54 In diesem Zusammenhang ist allerdings darauf hinzuweisen, dass sich die hier zu würdigende positive, dynamische Sichtweise des Friedensbegriffs erst in der Endphase der Beratungen durchsetzen konnte, nachdem zuvor eine eher traditionelle Negativ-Vorstellung vom Frieden als Fehlen von Krieg vorgeherrscht hatte. 55

a) Gaudium et spes: Zielsetzung, Aufbau und Inhalt Das Zweite Vatikanische Konzil, von Johannes XXIII. am 25. Januar 1959 angekündigt, hatte in seinen vier Sitzungsperioden vom 11. Oktober 1962 bis ___________ 50

„Niemals Krieg, niemals mehr Krieg! Der Friede, der Friede muß das Geschick der Völker und der ganzen Menschheit leiten!“, Paul VI., Ansprache an die Generalversammlung der Vereinten Nationen (Fn. 45), S. 555. 51 Hier nimmt Paul VI. ausdrücklich auf Pacem in terris Bezug, Paul VI., Ansprache an die Generalversammlung der Vereinten Nationen (Fn. 45), S. 556 f. 52 Paul VI., Ansprache an die Generalversammlung der Vereinten Nationen (Fn. 45), S. 557. 53 Paul VI., Ansprache an die Generalversammlung der Vereinten Nationen (Fn. 45), S. 558. 54 Zu Gaudium et spes grundlegend Sander (Fn. 21), S. 581–886, sowie die Kommentierungen verschiedener Autoren in: Brechter, H. S. et al. (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche, 2. Aufl. 1968, Das Zweite Vatikanische Konzil, SupplementBand III, S. 241–592. 55 So Schuijt (Fn. 23), S. 534. Zur Dichotomie von positivem und negativem Friedensbegriff auch in der Völkerrechtslehre vgl. Schöbener, B., Verfassungsstaatliche Verantwortung für eine internationale Friedensordnung, in: Dreier, H. / Forkel, H. / Laubenthal, K. (Hrsg.), Raum und Recht. Festschrift 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät, 2002, S. 407–459 (408 f. und 449 ff. m. w. N.).

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zum 8. Dezember 1965 nicht allein die „klassischen“ Konzilsaufgaben, nämlich die Abgrenzung der christlichen Glaubenslehre und die Ordnung des kirchlichen Lebens im Blick, 56 sondern – gemäß dem pastoralen Verständnis von Johannes XXIII. – die Verkündigung der christlichen Botschaft in der Welt von heute in einer Weise, dass diese sich angesprochen fühlt. 57 Die Sendung der Kirche im ausgehenden 20. Jahrhundert ist Gegenstand der erwähnten Pastoralkonstitution Gaudium et spes vom 7. Dezember 1965, die im Gefüge der Konzilsdokumente einen wichtigen Platz als Teil der „zentralen Quadriga“ der konziliaren Texte einnimmt. 58 Zu beachten ist, dass die Aussagen von Gaudium et spes immer auch im Zusammenhang mit der – ihr zeitlich vorausgehenden – dogmatischen Konstitution Lumen gentium zu sehen sind, welche das Selbstverständnis der Kirche behandelt. 59 In Gaudium et spes bestimmt erstmals ein Ökumenisches Konzil – nach Zählung der katholischen Kirche das 21. seiner Art60 – das Verhältnis von Glaube und Welt, Kirche und Gesellschaft und die soziale Ordnungsaufgabe der Christen. 61 Auf die Einzelheiten der Erarbeitung der Pastoralkonstitution während des Zweiten Vatikanischen Konzils – und die Kontroversen um die verschiedenen Vorlagen („Schemata“) und Textpassagen – kann hier nicht näher eingegangen werden. 62 Die Pastoralkonstitution ordnet sich ein in die von Johannes XXIII. intendierte Linie, alle Menschen guten Willens anzusprechen; sie greift dazu die „Zeichen der Zeit“ auf – jene Probleme, welche alle Menschen, Christen wie Nichtchristen, angehen und auf welche die Kirche mit ihrem Text Antwort ge___________ 56

Insgesamt erarbeitete und beschloss das Konzil 16 Texte (vier Konstitutionen, neun Dekrete, drei Erklärungen), die sich mit dem grundsätzlichen Selbstverständnis der Kirche, ihrem inneren Leben und ihrer Sendung nach außen befassen, Rahner / Vorgrimler (Fn. 15), S. 25. 57 Puza, R., Konzil III, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, 7. Aufl. (Sonderausgabe) 1987/1995, Bd. III, Sp. 672. 58 So Moeller, Ch., in: Brechter, H. S. et al. (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche, 2. Aufl. 1968, Das Zweite Vatikanische Konzil, Supplement-Band III, S. 282. – Zu diesen vier zentralen Texten zählen außerdem die dogmatischen Konstitutionen über die Kirche Lumen gentium vom 21.11.1964 und über die Göttliche Offenbarung Dei Verbum vom 18.11.1965 sowie die Konstitution über die Heilige Liturgie Sacrosanctum concilium vom 04.12.1963. 59 Darauf weist Sander (Fn. 21), S. 588, hin. Vgl. auch Witetschek (Fn. 22), S. 446. 60 Vogt, H.-J., Konzil I, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, 7. Aufl. (Sonderausgabe) 1987/1995, Bd. III, Sp. 668 f. 61 Rauscher, A., Sozialenzykliken, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, 7. Aufl. (Sonderausg.), 1988/1995, Bd. IV, Sp. 1250. 62 Vgl. zur Textgeschichte Sander (Fn. 21), S. 617–691, speziell zur Genese des Textes der Nrn. 77-90 Schuijt (Fn. 23), S. 533–543; Darstellung von Gaudium et spes auch bei Pesch, O. H., Das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965), 1993, S. 311–350.

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ben will. 63 So betont die Einleitung von Gaudium et spes die „engste Verbundenheit der Kirche mit der ganzen Menschheitsfamilie“: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände. Ist doch ihre eigene Gemeinschaft aus Menschen gebildet, die, in Christus geeint, vom Heiligen Geist auf ihrer Pilgerschaft zum Reich des Vaters geleitet werden und eine Heilsbotschaft empfangen haben, die allen auszurichten ist. Darum erfährt diese Gemeinschaft sich mit der Menschheit und ihrer Geschichte wirklich engstens verbunden.“ 64

Diese Formulierungen müssen im Zusammenhang mit den Aussagen über das Wesen der Kirche als sacramentum mundi, als Gottes Heilszeichen für diese Welt, in Lumen gentium gelesen werden: „Die Kirche ist ja in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“. 65 Auch wird sie dort das „neue Gottesvolk“ genannt, das „in allen Völkern der Erde wohnt“. 66 Dass das Konzil die von Johannes XXIII. intendierte Linie, alle Menschen guten Willens anzusprechen, fortführt und erweitert, verdeutlicht der zweite Artikel, der „alle Menschen schlechthin“ anspricht. 67 Sodann bietet das Konzil im dritten Artikel, der das Vorwort beschließt, der gesamten Menschheitsfamilie Dialog und Mitarbeit an: „Es geht um die Rettung der menschlichen Person, es geht um den rechten Aufbau der menschlichen Gesellschaft.“68 Die Pastoralkonstitution gliedert sich – sieht man einmal von Vorwort, Einführung und Schlusswort ab – in zwei ihrerseits wiederum in Kapitel gegliederte Teile, deren erster mehr allgemein-lehrhaften Charakter hat, während der zweite in pastoraler Weise einzelne Problemfelder beleuchtet. Diese Zweiteilung ist der Entstehungsgeschichte geschuldet, in deren Verlauf die beiden Teile zunächst getrennt und danach wiedervereinigt wurden. 69 Sie ist zum einen nicht ganz unproblematisch, weil sich im zweiten Teil auch zeitbedingte Aussagen finden, deren Verbindlichkeitsgrad – wie im Text selbst eingeräumt wird – geringer sein muss als derjenige der Grundaussagen des ersten Teils, die ___________ 63

Sander (Fn. 21), S. 623 f. Gaudium et spes (Fn. 15), Nr. 1; zur Rezeption vgl. etwa Roos, L., Zwischen Hoffnung und Angst: „Gaudium et spes“ – vierzig Jahre danach, in: Die neue Ordnung 59 (2005), http://www.die-neue-ordnung.de/Nr62005/LR.html (02.02.2007). 65 Lumen gentium, http://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/ documents/vat-ii_const_19641121_lumen-gentium_ge.html (04.2.02007), Nr. 1. 66 Lumen gentium (Fn. 65), Nr. 13. 67 Gaudium et spes (Fn. 15), Nr. 2. 68 Gaudium et spes (Fn. 15), Nr. 3. 69 Rahner/Vorgrimler (Fn. 15), S. 423. 64

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einen eher lehrhaften Charakter tragen. 70 Zum anderen wirkt sich die Zweiteilung auch in der Sprache der Pastoralkonstitution, welche prophetische und pastorale Sichtweisen verbindet, 71 und in ihrer Gliederung aus: Nach einer Einführung (Nr. 4–10) zur Analyse der Situation des Menschen in der heutigen Welt, der „Zeichen der Zeit“, 72 folgt der erste Teil unter der Überschrift „Die Kirche und die Berufung des Menschen“ (Nr. 11–45) mit vier Kapiteln. 73 Der zweite Teil, überschrieben mit „Wichtigere Einzelfragen“ (Nr. 46–90), besteht aus fünf Kapiteln. 74 b) Der Friede als Aufgabe, opus iustitiae und Frucht der Liebe Im letzten Kapitel des zweiten Teils der Pastoralkonstitution finden sich unter der Überschrift „Die Förderung des Friedens und der Aufbau der Völkergemeinschaft“ (Nr. 77–90) auch die zentralen Aussagen zum Frieden, die es in diesem Beitrag zu würdigen gilt. Methodisch wird dabei der Dreischritt Sehen – Urteilen – Handeln durchgeführt, welcher ein Kennzeichen der katholischen Soziallehre ist: 75 ___________ 70 Vgl. die amtliche Anmerkung zum Titel, Gaudium et spes (Fn. 15), vor Nr. 1; diese geht u. a. auf eine Initiative des damaligen Erzbischofs von Krakau, Karol Wojtyáa, zurück, so Sander (Fn. 21), S. 686 und 708: „Die Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute besteht zwar aus zwei Teilen, bildet jedoch ein ganzes. Sie wird ‚pastoral‘ genannt, weil sie, gestützt auf Prinzipien der Lehre, das Verhältnis der Kirche zur Welt und zu den Menschen von heute darzustellen beabsichtigt. So fehlt weder im ersten Teil die pastorale Zielsetzung noch im zweiten Teil die lehrhafte Zielsetzung. (...) Daher kommt es, daß in diesem zweiten Teil die Thematik zwar den Prinzipien der Lehre unterstellt bleibt, aber nicht nur unwandelbare, sondern auch geschichtlich bedingte Elemente enthält. Die Konstitution ist also nach den allgemeinen theologischen Interpretationsregeln zu deuten, und zwar, besonders im zweiten Teil, unter Berücksichtigung des Wechsels der Umstände, der mit den Gegenständen dieser Thematik verbunden ist.“ 71 Coste, R., Kommentierung zu Art. 78, in: Brechter, H. S. et al. (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche, 2. Aufl. 1968, Das Zweite Vatikanische Konzil, SupplementBand III, S. 544. 72 Gaudium et spes (Fn. 15), Nr. 4. 73 Gaudium et spes (Fn. 15), Nr. 12–22 („Die Würde der menschlichen Person“), Nr. 23–32 („Die menschliche Gemeinschaft“), Nr. 33–39 („Das menschliche Schaffen in der Welt“) und Nr. 40–45 („Die Aufgabe der Kirche in der Welt von heute“). 74 Gaudium et spes (Fn. 15), Nr. 47–52 („Förderung der Würde der Ehe und Familie“), Nr. 53–62 („Die richtige Förderung des kulturellen Fortschritts“), Nr. 63–72 („Das Wirtschaftsleben“), Nr. 73–76 („Das Leben der politischen Gemeinschaft“) und schließlich Nr. 77–90 („Die Förderung des Friedens und der Aufbau der Völkergemeinschaft“). 75 Dazu führt Johannes XXIII. in seiner die katholische Soziallehre systematisierenden und weiter entfaltenden Enzyklika Mater et magistra vom 15.05.1961 aus: „Zunächst muß man den wahren Sachverhalt überhaupt richtig sehen; dann muß man diesen Sachverhalt anhand dieser Grundsätze gewissenhaft bewerten; schließlich muß man feststellen, was man tun kann und muß, um die überlieferten Normen nach Ort und Zeit

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Am Beginn steht eine Einführung über das Problem des Friedens (Nr. 77 f.), sodann folgt eine Einschätzung des Friedensproblems im Ersten Abschnitt „Von der Vermeidung des Krieges“ (Nr. 78–82), bevor das Kapitel mit konkreten Handlungsvorschlägen im Zweiten Abschnitt „Der Aufbau der internationalen Gemeinschaft“ (Nr. 83–90) endet. Die Einleitung kontrastiert zunächst in Nr. 77 die beiden Erfahrungen des gerade zwanzig Jahre zurückliegenden Zweiten Weltkrieges und der gegenwärtigen „Bedrängnisse und Ängste unter den Menschen“ aus den Bedrohungen des Kalten Krieges mit der Erfahrung der zusammenwachsenden Welt und betont, die Christen seien aufgerufen, „mit Hilfe Christi, des Urhebers des Friedens, mit allen Menschen zusammenzuarbeiten, um den Frieden in Gerechtigkeit und Liebe unter ihnen zu festigen und um Werkzeuge des Friedens bereitzustellen“. 76 Dieser Zusammenhang von Frieden und Gerechtigkeit wird in Nr. 78 („Vom Wesen des Friedens“) weiter entfaltet: Dieser Artikel enthält einen positiven, dynamischen Friedensbegriff, 77 der eine gute und gerechte Ordnung umschreibt. Hier sind Anklänge an Augustins Friedensdefinition Pax omnium rerum tranquillitas ordinis („Der allgemeine Friede ist die Ruhe der Ordnung“) 78 nicht zu überhören. 79 Es wird zunächst betont, dass der Friede nicht einfach negativ definiert werden kann durch die Abwesenheit von Krieg: 80 „Der Friede besteht nicht darin, dass kein Krieg ist; er läßt sich auch nicht bloß durch das Gleichgewicht entgegengesetzter Kräfte sichern; er entspringt ferner nicht dem Machtgebot eines Starken; er heißt vielmehr mit Recht und eigentlich ein ‚Werk der Gerechtigkeit‘ (Jesaja 32, 17).“

Damit erteilt das Konzil allen Versuchen, Frieden durch ein „Gleichgewicht des Schreckens“ zu erreichen, eine klare Absage. 81 ___________ anzuwenden.“, Mater et magistra, Nr. 236; lat.: AAS 53 (1961), S. 401–464; dt. OnlineText: http://theol.uibk.ac.at/itl/318.html (19.03.2007); hierzu auch Sander, (Fn. 21), S. 638 f., 699 und 803. 76 Gaudium et spes (Fn. 15), Nr. 77; vgl. dazu Sander, (Fn. 21), S. 803. 77 Nagel, E. J., Die Friedenslehre der katholischen Kirche: eine Konkordanz kirchenamtlicher Dokumente, 1997, S. 99. 78 Augustinus, De civitate Dei, XIX 13, 1. 79 Coste (Fn. 71), S. 544 ff. (545). 80 Sämtliche Textzitate der folgenden Abschnitte entstammen Gaudium et spes (Fn. 15), Nr. 78. – Vgl. auch Rauscher, A., Recht und Gerechtigkeit als Voraussetzung und Grundlage des Friedens, in: Rauscher, A., Kirche in der Welt – Beiträge zur christlichen Gesellschaftsverantwortung, 2. Bd., 1988, S. 87 ff. 81 Sander (Fn. 21), S. 803.

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Sodann wird hervorgehoben, dass der Friede vom Handeln der Menschen abhängt und „niemals endgültiger Besitz, sondern immer wieder neu zu erfüllende Aufgabe“ sei – also nicht das Ergebnis glücklicher Umstände, sondern Folge menschlichen Handelns. 82 Dies um so mehr, als einerseits das Gemeinwohl „in seinen konkreten Anforderungen“ dem ständigen Wandel der Zeiten unterliege und andererseits „der menschliche Wille schwankend und von der Sünde verwundet ist“. Schließlich unterstreicht der Text den Geist der Brüderlichkeit, die dem Frieden den Charakter einer „Frucht der Liebe“ (konkret der Gottes- und Nächstenliebe) verleiht: „Dieser Friede kann auf Erden nicht erreicht werden ohne Sicherheit für das Wohl der Person und ohne daß die Menschen frei und vertrauensvoll die Reichtümer ihres Geistes und Herzens miteinander teilen. Der feste Wille, andere Menschen und Völker und ihre Würde zu achten, gepaart mit einsatzbereiter und tätiger Brüderlichkeit – das sind unerlässliche Voraussetzungen für den Aufbau des Friedens. So ist der Friede auch die Frucht der Liebe, die über das hinausgeht, was die Gerechtigkeit zu leisten vermag. Der irdische Friede, der seinen Ursprung in der Liebe zum Nächsten hat, ist aber auch Abbild und Wirkung des Friedens, den Christus gebracht hat und der von Gott dem Vater ausgeht. Dieser menschgewordene Sohn, der Friedensfürst, hat nämlich durch sein Kreuz alle Menschen mit Gott versöhnt und die Einheit aller in einem Volk und in einem Leib wiederhergestellt. Er hat den Haß an seinem eigenen Leib getötet (Eph 2, 16; Kol 20, 21), und, durch seine Auferstehung erhöht, hat er den Geist der Liebe in die Herzen der Menschen ausgegossen. Das ist ein eindringlicher Aufruf an alle Christen: ‚die Wahrheit in Liebe zu tun‘ (Eph 4, 15) und sich mit allen wahrhaft friedliebenden Menschen zu vereinen, um den Frieden zu erbeten und aufzubauen.“

Diese Erweiterung über den Topos vom „Werk der Gerechtigkeit“ hinaus lenkt den Blick darauf, dass zum Frieden auch eine innere Haltung gehört, die als solche mehr ist als nur das Anstreben eines gerechten Ausgleichs. Sie kann sich bis zur Haltung der Gewaltlosigkeit steigern, wie der Artikel zum Schluss würdigt, wenn er den Zusammenhang von Sünde und Gewalt ins Wort hebt: „Insofern die Menschen Sünder sind, droht ihnen die Gefahr des Krieges, und sie wird ihnen drohen bis zur Ankunft Christi. Soweit aber die Menschen sich in Liebe vereinen und so die Sünde überwinden, überwinden sie auch die Gewaltsamkeit, bis sich einmal die Worte erfüllen: ‚Zu Pflügen schmieden sie ihre Schwerter um, zu Winzermessern ihre Lanzen. Kein Volk zückt mehr gegen das andere das Schwert. Das Kriegshandwerk gibt es nicht mehr‘ (Jes 2, 4).“

Was in Gaudium et spes als Friede beschrieben wird, ist damit eher als ein dynamischer Prozess – zum einen spiritueller, zum anderen politisch-juristischer Natur – denn als ein statischer Zustand aufzufassen: 83 Der Friede wird als ___________ 82 83

Nagel (Fn. 77), S. 96. Vgl. Sander (Fn. 21), S. 803.

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Gabe Gottes und zugleich als Aufgabe gesehen, welche die Menschen in Gerechtigkeit und Liebe anzugehen haben.

c) Einzelne Themenkreise der Friedensproblematik in Gaudium et spes Einzelne Themenkreise der Friedensproblematik werden sodann in den folgenden Artikeln dieses fünften Kapitels näher behandelt. Die klassische Problematik des „Gerechten Krieges“ war in den Beratungen der Konzilsväter äußerst umstritten 84 – und sie ist es heute noch immer, erst recht anlässlich des Irak-Krieges. 85 Angesichts ihrer Vielschichtigkeit kann sie hier nicht behandelt werden. 86 Festzustellen ist aber, dass das Konzil in Gaudium et spes im Text von Art. 79 („Der Unmenschlichkeit der Kriege Dämme setzen“) den Begriff „Gerechter Krieg“ vermeidet und nur von einem „Recht auf sittlich erlaubte Verteidigung“ spricht. 87 Nüchtern stellt das Konzil fest: „Allerdings – der Krieg ist nicht aus der Welt geschafft. Solange die Gefahr von Krieg besteht und solange es noch keine zuständige internationale Autorität gibt, die mit entsprechenden Mitteln ausgestattet ist, kann man, wenn alle Möglichkeiten einer friedlichen Regelung erschöpft sind, einer Regierung das Recht auf sittlich erlaubte Verteidigung nicht absprechen.“ 88

Eine explizite Verurteilung des Angriffskrieges wird allerdings nicht ausgesprochen, 89 die Problematik des ius ad bellum insgesamt weniger stark akzentuiert als das ius in bello, dessen Unabdingbarkeit in Verbindung mit den allgemeinen Prinzipien des Völkerrechts besonders herausgestellt wird. Als ein besonders schweres Vergehen gegen den Frieden verurteilt das Konzil in diesem Zusammenhang das Verbrechen des Völkermordes, vor allem auch an ___________ 84 Vgl. Schuijt, (Fn. 23), S. 538 ff., der dazu (a.a.O., S. 539) u. a. auf eine bedeutende Intervention von Alfredo Kardinal Ottaviani am 07.10.1965 verweist; näher dazu auch Coste (Fn. 71), S. 551 ff. m. w. N.; zur Vorgeschichte auch Pesch (Fn. 62), S. 343 f. 85 Vgl. etwa Spieker, M., Der Krieg gegen Saddam Hussein: Zur Ethik des IrakKonflikts, in: Die neue Ordnung 57 (2003), http://www.die-neue-ordnung.de/Nr32003/ MS.html (04.02.2007), mit zahlreichen Nachweisen; ders., War der Irakkrieg ein bellum iustum?, in: Rauscher, A. (Hrsg.), Nationale und kulturelle Identität im Zeitalter der Globalisierung, 2006, S. 211–233. 86 Einen knappen Überblick der aktuellen Lehre gibt der Katechismus der Katholischen Kirche (Fn. 11), Nr. 2309. 87 Dies läuft allerdings letztlich auf dieselben Kriterien hinaus wie die Lehre vom gerechten Krieg, Coste (Fn. 71), S. 551 ff. 88 Gaudium et spes (Fn. 15), Nr. 79. 89 Hierauf weist Coste (Fn. 71), S. 553, bedauernd hin.

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Minderheiten. 90 Mit besonderer Eindringlichkeit werden der Einsatz von Massenvernichtungswaffen, namentlich der Atombombe, und der „totale Krieg“ verurteilt: 91 „Jede Kriegshandlung, die auf die Vernichtung ganzer Städte oder weiter Gebiete und ihrer Bevölkerung unterschiedslos abstellt, ist ein Verbrechen gegen Gott und gegen den Menschen, das fest und entschieden zu verwerfen ist.“ 92

Eindringlich wendet sich das Konzil auch gegen die Abschreckung und den Rüstungswettlauf, welche immer nur zu einer „Befriedung“, aber nicht zu einem wahren Frieden führen können. 93 Die Gegenmittel erblickt das Konzil in der Beendigung der Rüstungsspirale durch „vertraglich festgelegte gleiche Schritte“ und in der Ächtung des Krieges, sobald Sicherheit, Gerechtigkeit und Recht durch „eine von allen anerkannte öffentliche Weltautorität“ gewährleistet werden. 94 Wirksamer noch als die Ächtung des Krieges ist nach Meinung des Konzils die Beseitigung der Zwietracht in der Welt und ihrer Ursachen, namentlich der Ungerechtigkeiten aufgrund allzu großer wirtschaftlicher Ungleichheiten, aus „Mißachtung der Menschenwürde und, wenn wir nach den tieferen Gründen ___________ 90 Gaudium et spes (Fn. 15), Nr. 79: „Diesen beklagenswerten Zustand der Menschheit vor Augen, möchte das Konzil vor allem an die bleibende Geltung des natürlichen Völkerrechts und seiner allgemeinen Prinzipien erinnern. Das Gewissen der gesamten Menschheit bekennt sich zu diesen Prinzipien mit wachsendem Nachdruck. Handlungen, die in bewußtem Widerspruch zu ihnen stehen, sind Verbrechen; ebenso Befehle, die solche Handlungen anordnen; auch die Berufung auf blinden Gehorsam kann den nicht entschuldigen, der sie ausführt. Zu diesen Handlungen muß man an erster Stelle rechnen: ein ganzes Volk, eine Nation oder eine völkische Minderheit aus welchem Grunde und mit welchen Mitteln auch immer auszurotten. Das sind furchtbare Verbrechen, die aufs schärfste zu verurteilen sind. Höchste Anerkennung verdient dagegen die Haltung derer, die sich solchen Befehlen furchtlos und offen widersetzen.“. 91 Hier zitiert das Konzil Pius XII., Ansprache, 30.09.1954, in: AAS 46 (1954) S. 589; ders., Radiobotschaft, 24.12.1954, in: AAS 47 (1955) S. 15 ff.; Johannes XXIII., Pacem in terris (Fn. 20), in: AAS 55 (1963) S. 286–291; Paul VI., Ansprache an die Vereinten Nationen (Fn. 45), in: AAS 57 (1965) S. 877–885. 92 Gaudium et spes (Fn. 15), Nr. 80; zur Entstehungsgeschichte: Sander, (Fn. 21), S. 682–685. 93 So Sander (Fn. 21), S. 809, der auch darauf hinweist, dass dieser Gedanke in der Entwicklungs-Enzyklika Pauls VI., Populorum Progressio (1967; dazu s. unten zu III.), erneut aufgegriffen wird. – Vgl. Gaudium et spes (Fn. 15), Nr. 81: „Wie immer man auch zu dieser Methode der Abschreckung stehen mag – die Menschen sollten überzeugt sein, daß der Rüstungswettlauf, zu dem nicht wenige Nationen ihre Zuflucht nehmen, kein sicherer Weg ist, den Frieden zu sichern, und daß das daraus sich ergebende sogenannte Gleichgewicht kein sicherer und wirklicher Friede ist. (...) Neue Wege, von einer inneren Wandlung aus beginnend, müssen gewählt werden, um dieses Ärgernis zu beseitigen, die Welt von der drückenden Angst zu befreien und ihr den wahren Frieden zu schenken. Darum muß noch einmal erklärt werden: Der Rüstungswettlauf ist eine der schrecklichsten Wunden der Menschheit, er schädigt unerträglich die Armen.“. 94 Gaudium et spes (Fn. 15), Nr. 82.

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suchen, aus Neid, Mißtrauen, Hochmut und anderen egoistischen Leidenschaften“. 95 Dagegen sollen wirksame internationale Institutionen geschaffen werden, die sich um die verschiedenen Bedürfnisse der Menschen nach Ernährung, Gesundheit, Erziehung und Arbeit sowie nach Entwicklung und nach Unterstützung von Flüchtlingen und Migranten kümmern, außerdem wird ein gerechter Welthandel gefordert; schließlich verwahrt sich das Konzil angesichts des weltweiten Bevölkerungswachstums gegen staatliche Eingriffe bei der Familienplanung. 96 Das Kapitel endet mit der Betonung des Auftrags der Christen und der Kirche zur Hilfeleistung und zur Mitwirkung am Aufbau einer gerechten internationalen Ordnung. 97

d) Fazit In Gaudium et spes findet sich eine Situationsbeschreibung der modernen Welt aus der Sicht der Kirche, die allen Menschen guten Willens ein Angebot zum Dialog macht. Dabei werden die Personwürde des Menschen und seine Freiheit in den Mittelpunkt gerückt, die ihm zugleich Verantwortung für die gerechte Gestaltung der Welt auferlegen. Hervorzuheben ist die vom Konzil hier vorgenommene Beschreibung eines positiven, auf die Errichtung einer guten und gerechten Ordnung gerichteten Friedensbegriffes als Inbegriff einer „internationalen Moral“. 98 Indem sie betont, dass der Frieden als „Werk der Gerechtigkeit“ und „Frucht der Liebe“ in einem dynamischen Prozess unter Beachtung der „Zeichen der Zeit“ und in der Verteidigung der Menschenrechte täglich neu errungen werden muss, entspricht die Friedenslehre des Konzils dem methodischen Dreischritt Sehen – Urteilen – Handeln der katholischen Soziallehre. 99

III. Die Entfaltung der kirchlichen Friedenslehre nach dem Zweiten Vaticanum In einer Vielzahl von Dokumenten des kirchlichen Lehramts wird seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil die Friedensproblematik behandelt. Wie schon ___________ 95

Gaudium et spes (Fn. 15), Nr. 83. Gaudium et spes (Fn. 15), Nr. 84–87. 97 Gaudium et spes (Fn. 15), Nr. 88–90. 98 So Coste (Fn. 71), S. 544 f., der zutreffend darauf hinweist, dass das Konzil hierbei wegen des Respekts der Kirche vor der Eigenverantwortung der Menschen hinsichtlich ihrer Entscheidungen „in den zeitlichen Problemen“ nicht den Weg einer Kasuistik gewählt habe (a. a. O., S. 544). 99 Sander (Fn. 21), S. 695 und 803. 96

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erwähnt, wird dabei mehrfach auch auf den hier vorgestellten Topos Opus iustitiae pax rekurriert. 100 Wichtiger als das wiederholte Auftauchen dieser Wendung erscheint jedoch die Ausdeutung der katholischen Friedenslehre im Hinblick auf einzelne Fragen des Weltfriedens in den neueren Dokumenten. Paul VI., der das Konzil zu seinem Ende geführt hatte, nimmt in seiner Enzyklika Populorum Progressio über die Entwicklung der Völker (26. März 1967) ausführlich Stellung zur konkreten Umsetzung der kirchlichen Friedenslehre in den internationalen Beziehungen. 101 In dieser Enzyklika, welche als erste vollständig dem Thema der Entwicklung der Völker gewidmet ist, weitet Paul VI. den Blick für die internationale Dimension der sozialen Frage und hebt die wirtschaftliche Gerechtigkeit als die Grundlage des Friedens hervor; parallel zur Methode von Gaudium et spes verbindet er einen allgemeinen Teil zur Entwicklungsproblematik mit konkreten Forderungen unter der Überschrift „Solidarische Entwicklung der Menschheit“. 102 Rhetorisch gipfeln diese in der Gleichsetzung „Entwicklung: der neue Name für Friede“. 103 Diese Verknüpfung von Frieden und Entwicklung setzt sich fort unter Johannes Paul II.: „Niemand möge sich der Täuschung hingeben, die bloße Abwesenheit von Krieg, so wünschenswert sie ist, sei gleichbedeutend mit dauerhaftem Frieden. Es gibt keinen echten Frieden, wenn mit ihm nicht Gleichheit, Wahrheit, Gerechtigkeit und Solidarität einhergehen. Jedes Vorhaben, das zwei untrennbare und voneinander abhängige Rechte, das Recht auf Frieden und das Recht auf eine unverkürzte und solidarische Entwicklung, auseinanderhalten möchte, ist zum Scheitern verurteilt.“ 104

Zwei weitere Initiativen zur Verbreitung und Ausdeutung der kirchlichen Friedenslehre gehen ebenfalls auf Paul VI. zurück: Die in Art. 90 von Gaudium et spes bereits angekündigte Gründung der Päpstlichen Kommission „Justitia et ___________ 100 Neben den in Fn. 11–13 erwähnten Katechismen und dem Kompendium der Soziallehre sind hier vor allem die Botschaften Johannes Pauls II. zu den Weltfriedenstagen 1998, 2000 und 2002 zu nennen (dazu sogleich); erstmals in einer Weltfriedenstagsbotschaft wurde der hier untersuchte Aspekt von Frieden durch Gerechtigkeit von Paul VI. in der Botschaft zum Weltfriedenstag 1972 thematisiert: Paul VI., „Willst du den Frieden, so arbeite für die Gerechtigkeit“ (1972), in: AAS 63 (1971), S. 868. 101 AAS 59 (1967), S. 257–299; online: http://www.vatican.va/holy_father/paul_vi/ encyclicals/documents/hf_p-vi_enc_26031967_populorum_en.html (15.03.2007, engl.); dt. Text online: http://theol.uibk.ac.at/itl/317.html (15.03.2007); vgl. dazu Nell-Breuning, O. von, Exkurs über „Populorum Progressio“, in: Brechter, H. S. et al. (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche, 2. Aufl. 1968, Das Zweite Vatikanische Konzil, Supplement-Band III, S. 578 f. 102 Populorum progressio (Fn. 101), Nr. 45–87. 103 So die Überschrift zu Nr. 76 von Populorum progressio (Fn. 101). 104 Johannes Paul II., „Friede auf Erden den Menschen, die Gott liebt“, Botschaft zum Weltfriedenstag 2000, http://www.vatican.va/holy_father/john_paul_ii/messages/ peace/documents/hf_jp-ii_mes_08121999_xxxiii-world-day-for-peace_ge.html (14.03. 2007), Nr. 13.

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pax“ 1967 105 und die jährliche Feier eines Weltfriedenstages am 1. Januar seit 1968. Paul VI. wandte sich am 8. Dezember 1967, dem Hochfest der Unbefleckten Empfängnis Mariens, mit einer Friedensbotschaft an die Regierenden in aller Welt und an alle Menschen guten Willens. 106 Darin erklärte er den Neujahrstag eines jeden Jahres zum Weltfriedenstag, und zwar ausdrücklich nicht als eine nur katholische, religiöse Veranstaltung. Seither wird dieser Tag zur Verbreitung einer jährlichen päpstlichen Friedensbotschaft genutzt, deren wechselnde Themen die Friedensproblematik variieren und so die kirchliche Lehre auf diesem Gebiet weiter entfalten. 107 Mit dieser erstmaligen Ausrufung eines Weltfriedenstages der katholischen Kirche betrat Paul VI. insoweit Neuland, als er die schon im 19. Jahrhundert in pazifistischen und christlichen Kreisen Großbritanniens aufgekommene Forderung nach einem Antikriegstag bzw. Friedenstag aufgriff. Nach einem Beschluss der Vollversammlung der

___________ 105

Diese arbeitet seit einer Kurienreform von 1988 als Päpstlicher Rat weiter, Sander (Fn. 21), S. 819; vgl. auch SwieĪawski, St., Exkurs zur Pastoralkonstitution Artikel 90: Die Kommission „Iustitia et pax“, in: Brechter, H. S. et al. (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche, 2. Aufl. 1968, Das Zweite Vatikanische Konzil, Supplement-Band III, S. 579 f. 106 Paul VI., Botschaft zur Feier eines „Tages des Friedens“ 1968, in: AAS 59 (1967), S. 1100; vgl. auch Kompendium der Soziallehre der Kirche (Fn. 7), Nr. 520. – Die zusätzliche Feier des Weltfriedenstages am weltlichen Neujahrstag tritt zwar liturgisch zurück hinter das Hochfest der Gottesmutter Maria (zugleich Oktavtag von Weihnachten), jedoch bietet die jährlich wiederkehrende Begehung dieses Tages die Möglichkeit, die kirchliche Verkündigung je neu auf einen bestimmten Aspekt zu zentrieren oder eine aktuelle Frage in den Kontext der päpstlichen Friedensethik einzuordnen. Dieses Instrument eines eigenen „Themen-Tages“ – welches im Hinblick auf die Liturgie der einzelnen Sonntage nicht ganz unproblematisch ist – wird von den Päpsten auch in anderem Zusammenhang genutzt, so u. a. durch jährlich wiederkehrende Welttage der Kranken, der Migranten und Flüchtlinge, der Sozialen Kommunikationsmittel, durch Weltmissionstage, Welttourismustage und Weltfamilientage sowie nicht zuletzt durch die von Johannes Paul II. 1983 begründeten Weltjugendtage, welche zudem in zwei- bis dreijährlichem Rhythmus weltweit als Großereignis begangen werden, zuletzt 2005 in Köln, vgl. die jährlichen Botschaften der Päpste hierzu unter http://www.vatican.va/ news_services/press/documentazione/documents/giornate-mondiali_index_ge.html (04. 02.2007). 107 Die weiteren zehn Weltfriedenstags-Botschaften im Pontifikat Pauls VI. (1965– 1978) trugen die Titel „Menschenrechte, der Weg zum Frieden“ (1969), „Erziehung zum Frieden durch Versöhnung“ (1970), „Jeder Mensch ist mein Bruder“ (1971), „Willst du den Frieden, so arbeite für die Gerechtigkeit“ (1972), „Der Friede ist möglich“ (1973) „Der Friede hängt auch von dir ab!“ (1974), „Versöhnung, der Weg zum Frieden“ (1975), „Die echten Waffen des Friedens“ (1976), „Wenn du den Frieden willst, verteidige das Leben“ (1977), „Nein zur Gewalt – Ja zum Frieden“ (1978); sie sind online (u. a. auf Englisch und Französisch) zugänglich unter http://www.vatican. va/holy_father/paul_vi/messages/peace/index_ge.htm (04.02.2007).

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Vereinten Nationen wird auch von diesen seit 1981 jährlich im September ein Weltfriedenstag (International Day of Peace) begangen. 108 Die von seinen Vorgängern begonnene Betonung der kirchlichen Friedenslehre fand bei Johannes Paul II. eine weitere Steigerung, obwohl er keine Friedensenzyklika im engeren Sinne veröffentlicht hatte. 109 Dies liegt zunächst in der sehr langen Dauer seines Pontifikates 110 begründet, in der er – auch bei seinen vielen Auslandsreisen und Audienzen – zahlreiche Gelegenheiten fand, sich zu den verschiedensten Aspekten der Friedenslehre im speziellen und der katholischen Soziallehre im Allgemeinen zu äußern. 111 Sodann spielt vor allem seine philosophische Grundhaltung eines „christozentrischen Humanismus“ eine Rolle, 112 der sich – von der Würde und Personalität des Menschen ausgehend – um eine alle Lebensbereiche umfassende Sichtweise bemüht. Dies kommt in der von ihm veranlassten Herausgabe eines „Kompendiums der Soziallehre der Kirche“ (2004) 113 zum Ausdruck und spiegelt sich in zahlreichen seiner 14 Enzykliken sowie in seiner Ansprache vom 5. Oktober 1995 vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen anlässlich des 50. Jahrestages ihrer Gründung wider, in der er an die Menschenrechte als Ausgangspunkt einer „Logik der Moral“ erinnert: „Sie [die Menschenrechte] erinnern uns auch daran, daß wir nicht in einer irrationalen oder sinnlosen Welt leben, sondern daß es im Gegenteil eine Logik der Moral gibt, die die menschliche Existenz erhellt und den Dialog zwischen den Menschen und zwischen den Völkern möglich macht.“ 114

Auch die 27 Botschaften Johannes Pauls II. zu den Weltfriedenstagen seines Pontifikates beleuchten eine ganze Reihe von Einzelaspekten der katholischen ___________ 108

Nach Ziffer 2 des Beschlusses sollte es der dritte Dienstag eines jeden Septembers sein, vgl. UN-Vollversammlung, Resolution Nr. 36/67 vom 30.11.1981, http://www.un. org/documents/ga/res/36/a36r067.htm (04.02.2007). 109 Justenhoven, H.-G., Die Friedensethik Papst Johannes Pauls II. – Versuch einer systematischen Zusammenschau, in: Stimmen der Zeit 223 (2005), S. 435–445 (435). 110 Länger dauerten nur das Pontifikat Pius’ IX. (1846–1878) und das Pontifikat Petri (33 – ca. 64–68). 111 Gatz, E., Johannes Paul II., in: LThK, Band 5, 3. Aufl. 1996, Sp. 979 f. 112 Punt, J., Die Idee der Menschenrechte: Ihre geschichtliche Entwicklung und ihre Rezeption durch die moderne katholische Sozialverkündigung, 1987, S. 233; Johannes Paul II. spricht in seiner Antrittsenzyklika Redemptor Hominis (Der Erlöser des Menschen) vom 04.03.1979 von einem „wahren Humanismus“, Redemptor Hominis, http:// www.vatican.va/holy_father/john_paul_ii/encyclicals/documents/hf_jp-ii_enc_04 031979_redemptor-hominis_ge.html (19.03.2007), Nr. 10. 113 Kompendium der Soziallehre der Kirche (Fn. 7). 114 Johannes Paul II., „Die Menschheit braucht Mut zur Zukunft“, Ansprache vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen zum 50-jährigen Bestehen vom 05.10.1995, Osservatore Romano (dt.) Nr. 41/95 vom 13.10.1995, Nr. 3; online: http://www.vatican.va/holy_father/john_paul_ii/speeches/1995/october/documents/hf_jp-ii_sp e_05101 995_address-to-uno_en.html (16.03.2007, engl.).

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Soziallehre unter dem Gesichtspunkt des Friedens. 115 Zentral waren für ihn das Eintreten für die Menschenrechte – namentlich für die Glaubens- und Gewissensfreiheit und für das unbedingte Lebensrecht des Menschen von der Zeugung bis zu seinem natürlichen Tod – sowie die Entwicklungsproblematik und das weltweite Defizit an Gerechtigkeit, ferner die Beachtung des universellen Gewaltverbotes in den internationalen Beziehungen und die Verurteilung des Völkermordes. Johannes Paul II. ergänzt den Aspekt der menschlichen Gerechtigkeit, die „immer zerbrechlich und unvollkommen“ sei, unter dem Eindruck der Terroranschläge vom 11. September 2001 und zugleich in Erinnerung an die Leiden der Menschen unter den totalitären Regimes des Nationalsozialismus und des Kommunismus um die vergebende Liebe, welche die Gerechtigkeit erst vervollständige. 116 ___________ 115 Die Themen der 27 Weltfriedenstage im Pontifikat Johannes Pauls II. (1978– 2005) lauteten: „Zum Frieden erziehen, um zum Frieden zu gelangen“ (1979), „Die Wahrheit, Stärke des Friedens“ (1980), „Schütze die Freiheit, dann dienst du dem Frieden“ (1981), „Der Friede, Gottes Geschenk, dem Menschen anvertraut“ (1982), „Der Dialog für den Frieden: Eine Forderung an unsere Zeit“ (1983), „Der Friede entspringt einem neuen Herzen“ (1984), „Frieden und Jugend zusammen unterwegs“ (1985), „Der Friede, Wert ohne Grenzen. Nord-Süd, Ost-West: Ein einziger Friede“ (1986), „Entwicklung und Solidarität: Zwei Schlüssel zum Frieden“ (1987), „Religionsfreiheit, Bedingung für friedliches Zusammenleben“ (1988), „Um Frieden zu schaffen, Minderheiten achten“ (1989), „Friede mit Gott, dem Schöpfer, Friede mit der ganzen Schöpfung“ (1990), „Wenn du den Frieden willst, achte das Gewissen jedes Menschen“ (1991), „Die Gläubigen vereint im Aufbau des Friedens“ (1992), „Willst du den Frieden, komm den Armen entgegen“ (1993), „Aus der Familie erwächst der Friede für die Menschheitsfamilie“ (1994), „Die Frau: Erzieherin zum Frieden“ (1995), „Bereiten wir den Kindern eine friedliche Zukunft“ (1996), „Biete die Vergebung an, empfange den Frieden“ (1997), „Aus der Gerechtigkeit des einzelnen erwächst der Frieden für alle“ (1998), „In der Achtung der Menschenrechte liegt das Geheimnis des wahren Friedens“ (1999), „Friede auf Erden den Menschen, die Gott liebt“ (2000), „Dialog zwischen den Kulturen für eine Zivilisation der Liebe und des Friedens“ (2001), „Kein Friede ohne Gerechtigkeit, keine Gerechtigkeit ohne Vergebung“ (2002), „Pacem in terris“: Eine bleibende Aufgabe“ (2003), „Eine stets aktuelle Aufgabe: Zum Frieden erziehen“ (2004), „Laß dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse durch das Gute!“ (2005); sie sind online (erst ab 1997 auch auf Deutsch) zugänglich unter http://www.vatican. va/holy_father/john_paul_ii/messages/peace/index_ge.htm (04.02.2007). 116 Johannes Paul II., „Kein Friede ohne Gerechtigkeit, keine Gerechtigkeit ohne Vergebung“, Botschaft zum Weltfriedenstag 2002, http://www.vatican.va/holy_father/ john_paul_ii/ messages/peace/ documents/hf_jpöii_mes_20011211_xxxv-word-day-forpeace_ge.html (13.03.2007), Nr. 3: „Der wahre Friede ist daher Frucht der Gerechtigkeit, sittliche Tugend und rechtliche Garantie, die über die volle Achtung der Rechte und Pflichten und über die gerechte Aufteilung von Nutzen und Lasten wacht. Da aber die menschliche Gerechtigkeit, die nun einmal den Grenzen und Egoismen von Personen und Gruppen ausgesetzt ist, immer zerbrechlich und unvollkommen ist, muß sie in der Vergebung, die die Wunden heilt und die tiefgehende Wiederherstellung der gestörten menschlichen Beziehungen bewirkt, praktiziert und gewissermaßen vervollständigt werden. Das gilt sowohl in den Spannungen, die Einzelpersonen betreffen, wie in jenen

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„Der wahre Friede aber – daran sei erinnert – ist niemals das Ergebnis eines errungenen militärischen Sieges, sondern besteht in der Überwindung der Kriegsursachen und in der echten Aussöhnung unter den Völkern.“117

Sein Nachfolger Benedikt XVI. verknüpft in seiner ersten Enzyklika Deus Caritas est vom 25. Dezember 2005 Gerechtigkeit und Liebe als bestimmende Themen der katholischen Soziallehre und erinnert an das Augustinus-Wort von den Staaten, die ohne Gerechtigkeit bloß Räuberbanden wären, um sodann die Gerechtigkeit als „Ziel und daher auch inneres Maß aller Politik“ hervorzuheben.118 Er stellt sich auch bezüglich der Weltfriedenstage in die Tradition seiner Vorgänger, wählt dabei aber für Thematik und Inhalt seiner beiden bisherigen Weltfriedenstags-Botschaften einen eher grundsätzlichen Zugang. So thematisiert er die Wahrheitsfrage in der ersten Weltfriedenstags-Botschaft seines Pontifikates („In der Wahrheit liegt der Friede“, 2006), in der er sich auch dem internationalen Terrorismus widmet.119 Darin zeigt er die Leitlinien einer Spiritualität des Friedens auf und erinnert an den bereits von Gaudium et spes aufgezeigten Zusammenhang, dass es der Menschheit nur dann gelingen werde, „die Welt für alle wirklich menschlicher zu gestalten (...), wenn alle sich in einer inneren Erneuerung der Wahrheit des Friedens zuwenden“.120 Benedikt XVI. führt aus, im Lichte der Wahrheit erscheine der Friede ___________ übergeordneter und auch internationaler Tragweite. Die Vergebung widersetzt sich in keiner Weise der Gerechtigkeit, weil sie nicht auf einer Aufhebung der berechtigten Wiedergutmachungsansprüche für die verletzte Ordnung besteht. Die Vergebung strebt vielmehr jene Fülle von Gerechtigkeit an, welche die Ruhe der Ordnung herbeiführt; diese bedeutet weit mehr als eine zerbrechliche und vorübergehende Einstellung von Feindseligkeiten, nämlich eine tiefgreifende Heilung der in den Herzen blutenden Wunden. Wesentlich für eine solche Heilung sind beide, die Gerechtigkeit und die Vergebung.“ 117 Johannes Paul II., Enzyklika Centesimus Annus zum 100. Jahrestag von Rerum Novarum, http://www.vatican.va/holy_father/john_paul_ii/encyclicals/documents/hf_jpii_enc_01051991_centesimus-annus_ge.html (19.03.2007), Nr. 18; dort auch zum Zusammenhang zwischen Kaltem Krieg, Rüstungswettlauf, Stellvertreterkriegen in den Entwicklungsländern und Terrorismus. 118 Benedikt XVI., Enzyklika Deus Caritas est über die christliche Liebe, online: http://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/encyclicals/documents/hf_ben-xvi_enc_ 20051225_deus-caritas-est_ge.html (17.03.2007), Nr. 28. – Den Auftrag der Kirche beschreibt Benedikt XVI. so: „Die gerechte Gesellschaft kann nicht das Werk der Kirche sein, sondern muss von der Politik geschaffen werden. Aber das Mühen um die Gerechtigkeit durch eine Öffnung von Erkenntnis und Willen für die Erfordernisse des Guten geht sie zutiefst an.“ (a.a.O.); er betont die Aufgabe der christlichen Laien, „für eine gerechte Ordnung in der Gesellschaft zu wirken“ (a.a.O., Nr. 29); vgl. auch Roos, L., Liebe und Gerechtigkeit. Die Enzyklika Benedikts XVI. über Caritas und Soziallehre, in: Die neue Ordnung 60 (2006), http://www.die-neue-ordnung.de/Nr22006/LR.html (02.02. 2007). 119 Benedikt XVI. (Fn. 19); zur Verurteilung des Terrorismus s. auch Kompendium der Soziallehre (Fn. 7), Nr. 513–515. 120 Benedikt XVI. (Fn. 19), Nr. 3, unter Verweis auf Gaudium et spes (Fn. 15), Nr. 77.

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„als Zusammenleben der einzelnen Menschen in einer von der Gerechtigkeit geregelten Gesellschaft, in der so weit wie möglich auch das Wohl eines jeden von ihnen verwirklicht wird. Die Wahrheit des Friedens ruft alle dazu auf, fruchtbare und aufrichtige Beziehungen zu pflegen, und regt dazu an, die Wege des Verzeihens und der Versöhnung zu suchen und zu gehen sowie ehrlich zu sein in den Verhandlungen und treu zum einmal gegebenen Wort zu stehen“.121

In seiner Botschaft zum Weltfriedenstag 2007 („Der Mensch – Herz des Friedens“122) handelt Benedikt XVI. über die Anthropologie des christlichen Menschenbildes und stellt in diesem Zusammenhang die Bedeutung der Menschenwürde und der Grundrechte, namentlich der Rechte auf Leben, Religionsfreiheit und Gleichheit, heraus. Zudem betont er die Bedeutung einer „Ökologie des Friedens“, wenn er schreibt: „Immer deutlicher tritt der untrennbare Zusammenhang zwischen dem Frieden mit der Schöpfung und dem Frieden unter den Menschen in Erscheinung.“123

Von großer Bedeutung für die Friedenslehre ist schließlich ein Kernsatz seiner Vorlesung über Glaube und Vernunft an der Universität Regensburg vom 12. September 2006, welche vor allem in muslimischen Kreisen zunächst einen Sturm der Entrüstung hervorgerufen hatte. Benedikt XVI. nennt darin die Anwendung von Gewalt zur Verbreitung der (je eigenen) Religion nicht vernunftgemäß – und damit dem Wesen Gottes zuwider.124 Der interreligiöse Dialog könnte ein Weg sein, auf dem die Religionen gerade dadurch dem Frieden dienen, dass sie sich frei machen von politischer Instrumentalisierung,125 um so das auch von Dieter Blumenwitz schon in seiner Dissertation aufgeworfene und ihn immer wieder wissenschaftlich beschäftigende Dilemma zu lösen, wie man mit der hohen Verbindlichkeit des im eigenen Glauben begründeten Ethos eine Anerkennung der abweichenden Position des anderen verbinden kann.126

___________ 121

Benedikt XVI. (Fn. 19), Nr. 6. Benedikt XVI., „Der Mensch – Herz des Friedens“, Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages am 01.01.2007 (08.12.2006), http://www.vatican.va/holy_father/benedict_ xvi/messages/peace/documents/hf_ben-xvi_mes_20061208_xl-world-day-peace_ge.html (17.03.2007). 123 Benedikt XVI. (Fn. 122), Nr. 8. 124 Benedikt XVI., Glaube, Vernunft und Universität – Erinnerungen und Reflexionen, in: ders., Glaube und Vernunft. – Die Regensburger Vorlesung, 2006, S. 11–32 (16 f.): „Der entscheidende Satz in dieser Argumentation gegen die Bekehrung durch Gewalt lautet: Nicht vernunftgemäß handeln ist dem Wesen Gottes zuwider“. 125 K. Kardinal Lehmann, Chancen und Grenzen des Dialogs zwischen den „abrahamitischen Religionen“, in: Benedikt XVI. (Fn. 124), S. 97–133 (103). 126 Blumenwitz (Fn. 1), S. 40 ff., wo er den Schweizer Völkerrechtler Max Huber zitiert: „Recht lässt sich schmieden wie Eisen, soweit es selber nicht Ethos ist. Ethos ist aber wie Kristall.“ (a. a. O., S. 42). 122

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Christian Poplutz

Die hier aufgezeigten Aspekte der Friedenslehre der katholischen Kirche machen deutlich, dass diese nicht – wie es der Topos Opus iustitiae pax nahe legen könnte – als ein feststehendes System von Lehrsätzen konstruiert ist, sondern als ein von wenigen Prinzipien geleitetes, immer wieder von neuem notwendiges Eingehen auf die „Zeichen der Zeit“,127 als ein Ringen um die Schaffung eines „gerechten Friedens“, der als „umfassende Ordnungsstruktur für das Zusammenleben, die Gerechtigkeit inner- wie zwischenstaatlich voraussetzt“, dabei aber „nicht statisch, sondern nur dynamisch interpretierbar ist, als ein Prozeß also, der auf die Minderung von Unfreiheit, Not, Gewalt und Ungerechtigkeit ausgerichtet ist“.128

___________ 127

In diesem Zusammenhang spielt auch die Lehre des Konzils von der „richtigen Autonomie der irdischen Wirklichkeiten“ (Gaudium et spes (Fn. 15), Nr. 36; bekräftigt von Benedikt XVI. in Deus Caritas est (Fn. 118), Nr. 28) eine wichtige Rolle, s. dazu Losinger, A., „Iusta autonomia“ – Studien zu einem Schlüsselbegriff des II. Vatikanischen Konzils, 1989. – Einen knappen Aufriss von aktuellen Fragestellungen der kirchlichen Friedenslehre bietet Ockenfels, W., Religion und Gewalt, in: Katholische Sozialwissenschaftliche Zentralstelle Mönchengladbach (Hrsg.), Kirche und Gesellschaft Nr. 300, 2003, S. 12 ff.; auf die Bedeutung der naturrechtlichen Argumentation der Kirche weist Lothar Roos hin: Roos, L., Die Unverzichtbarkeit der naturrechtlichen Argumentation, in: Rauscher, A. (Hrsg.), Nationale und kulturelle Identität im Zeitalter der Globalisierung, 2006, S. 363–372 (365). 128 Marx, R. / Wulsdorf, H., Christliche Sozialethik: Konturen – Prinzipien – Handlungsfelder, 2002, S. 224.

IV. Europarecht

Zwischen Integration und Zerfall: Die „Verstärkte Zusammenarbeit“ des Unionsrechts Rupert Stettner

I. Flexibilität als Konstituens von Integration 1. Die Rolle der Verträge als Integrationsinstrument vom EGKS-Vertrag über die Römischen Verträge bis zum Europäischen Verfassungsvertrag Der Europäische Verfassungsvertrag, wie er am 18. Juni 2004 in Brüssel verabschiedet wurde, ist ebenso wenig wie vorausgegangene Vertragswerke, etwa der EGKS-Vertrag von 1951 oder die Römischen Verträge von 1957, „staatliche Grund- und Rahmenordnung“, die Verfassung nach Werner Kägi sein soll. 1 Er ist viel eher „Norm und Aufgabe“ im Sinne von Ulrich Scheuner. 2 Der europäische Integrationsvorgang findet durch ihn seine organisatorische Bewältigung. Dies stellt nach Hermann Heller zwar die klassische Funktion der staatlichen Verfassung dar, 3 aber nur im Verein mit dem Willen zur Staatsschöpfung. Gerade letzterer liegt aber für Europa (noch?) nicht vor; auch der Europäische Verfassungsvertrag wird für den Fall seines Inkrafttretens kein Staatswesen konstituieren. Er wird vielmehr Ausdruck einer bestimmten Momentaufnahme im Werden Europas und „Ausdruck eines kulturellen Entwicklungsstandes“ sein. 4 Er ist Essenz und Weiterentwicklung der Gründungsverträge und ihrer konventionalen Fortschreibung durch Übereinkommen, von denen aus neuerer Zeit Maastricht, Amsterdam und Nizza genannt werden sollen. Die Bildung der Einheit Europas wird auch nach einem potentiellen Inkrafttreten des Verfassungsvertrags nicht abgeschlossen sein, dies auch dann nicht, wenn Staatlichkeit möglicherweise weder Ziel ist, noch jemals erreicht werden wird. Der Integrationsvorgang bedarf weiterhin der umsichtigen politischen ___________ 1 Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, unv. Nachdruck der Ausgabe 1945, 1971, S. 148 f. 2 Staatslexikon, Bd. VIII, 1963, Spalte 117, 118. 3 Niemeyer, G. (Hrsg.), Staatslehre, 4. Aufl. 1970, siehe etwa S. 191, 243, 269. 4 Vgl. dazu Häberle, P., Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 269, 652, 692 u. ö.

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Steuerung und gleichzeitig auch der jederzeitigen Fähigkeit zu Prävention und Reaktion. Flexibilität (hier verstanden in einem weiteren Wortsinn, nicht in dem verengten, der mit der nachstehend zu thematisierenden „Verstärkten Zusammenarbeit“ in Verbindung gebracht wird) ist eine der wichtigsten Voraussetzungen zur Beförderung des weltgeschichtlichen Vorgangs der europäischen Einigung; sie ist geradezu ein Konstituens für das Zusammenwachsen Europas und seiner Völker. Freilich liegt es im vielschichtigen Charakter dieses Prozesses mit seiner heterogenen Vielzahl von Akteuren mit unterschiedlichem Vorverständnis und divergierender Zielsetzung, dass ein Übermaß an Rücksichtnahme auf Individualitäten und nationale Egoismen in das Gegenteil des Gewünschten, nämlich in Auflösung und Zerfall münden könnte. Dieter Blumenwitz hat 2004 eindringlich auf die Gefahren hingewiesen, die dem Bestand der Union aufgrund einer unterschiedlichen Integrationsbereitschaft der Mitgliedstaaten und einer darauf reagierenden abgestuften Integrationsgangart drohen. Nicht nur die Verletzung des Prinzips der Gleichheit der Mitgliedstaaten kann die Folge sein, sondern, weiterreichend, die Destabilisierung der Integrationsgemeinschaft als Ganzes. 5 Hier den rechten Mittelweg zu wahren, ist nicht die geringste Aufgabe aller Verantwortlichen, die Europa nicht nur als geographischen Begriff aufzufassen, sondern als einheitliche politische Größe zu verankern suchen.

2. Strukturwandel von Integration Die „immer engere Union der Völker Europas“, 6 die gemäß Art. 1 Abs. 2 EUV verwirklicht werden soll, war im Europa der Fünfzehn, wie es nach Maastricht bestand, sicherlich eher zu erreichen, als dies nach den Erweiterungsrunden zum 1. Mai 2004 mit zehn neuen Mitgliedstaaten und zum 1. Januar 2007 mit dem Beitritt Rumäniens und Bulgariens der Fall sein kann. Der Beitrittskandidat Türkei bleibt dabei noch ausgespart; auch andere Staaten, die noch auf der Agenda stehen mögen, werden nicht einberechnet. 7 Es geht nicht nur darum, dass ohnehin seit eh und je Unklarheit über die finalité politique ___________ 5 Siehe dazu Blumenwitz, D., Der Europäische Verfassungsvertrag. – Die Chancen und Gefahren des Entwurfs für das Gelingen von Erweiterung und Vertiefung der Europäischen Union, in: Zeitschrift für Politik (ZfP) 2004, S. 115 (128 f.). 6 Dazu auch Bungenberg, M., Dynamische Integration, Art. 308 und die Forderung nach dem Kompetenzkatalog, in: Europarecht (EuR) 2000, S. 879 (886). 7 Siehe dazu Hatje, A., Grenzen der Flexibilität einer erweiterten Europäischen Union, in: EuR 2005, S. 148 (150), der Kroatien und Mazedonien als weitere vor der Tür stehende europäische Staaten bezeichnet und darüber hinaus nach dem Mitgliederverzeichnis des Europarats mindestens 20 weitere europäische Staaten wie Asabaidschan, Georgien, Weißrussland, die Ukraine und, derzeit kaum vorstellbar, auch die Russische Föderation anführt.

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Europas besteht, also über das endgültige Ziel und die zu erreichende Gestalt der Union. Es tritt die Schwierigkeit hinzu, Staaten zu integrieren, die sich in einem umfassenden ökonomischen Umstrukturierungsprozess befinden und in ihrer überwiegenden Zahl auch noch das Trauma einer langjährigen Zugehörigkeit zum totalitären System des Ostblocks verarbeiten müssen. 8 Es geht weiterhin darum, tiefgreifende Unterschiede in traditionellen Verhaltensmustern und kulturellen Kristallisationen zu überwinden oder zumindest Brücken zu bauen, die den Weg zueinander trotz vorhandener Gräben ermöglichen. 9 Die gegeneinander stehenden Fronten sind allerdings mehrfach gestaffelt: Zum einen betreffen sie die westlich-freiheitliche Rechts- und Staatskultur, zum anderen die zu überwindende Last des östlichen Totalitarismus. Sie reichen aber weiter: Auch wenn man undifferenziert von den christlich-abendländischen Wurzeln der europäischen Kultur spricht, ist Europa seit je durch die Entwicklung einer Kirche des Westens einerseits, einer solchen des Ostens andererseits kulturell gespalten, und zwar – ohne dass dies gewöhnlich gesehen oder gar hervorgehoben wird – in einer sehr viel intensiveren Form, als dies die Reformation vermochte, die auf dem Gedankengut der Westkirche aufbaute, ja es teilweise erst schärfte. Nur der Westen war einer Reformation und Aufklärung unterworfen, der Osten blieb davon unberührt, war vielmehr durch direkte Kontakte mit dem Islam und durch langjährige kommunistische Herrschaft genötigt, traditionale Glaubensbestände und -güter beharrlich zu verteidigen. Das Schisma von 1054 zwischen West- und Ostkirche war nur markantes Ende einer Entwicklung, die schon viel früher eingesetzt hatte und mit dem Akt der Niederlegung der Bannbulle auf dem Altar der Hagia Sophia nur ihren manifestativen Höhepunkt erlebte. Allerdings mag angesichts einer voranschreitenden Säkularisierung der einst ausschließlich vom Christentum geprägten europäischen Staaten der west-östliche Gegensatz an Bedeutung verlieren oder zumindest aus dem politischen Bereich ausgrenzbar sein. Schon baut sich aber ein neuer Zwiespalt auf. Er betrifft einzelne Staaten des ehemaligen Jugoslawien und der früheren Sowjetunion (so ist etwa Kasachstan islamisch geprägt, es liegt aber teilweise auf europäischem Boden und könnte deshalb um Aufnahme in die Europäische Union nachsuchen), aber vor allem den Beitrittskandidaten Türkei. Die einstige Auffassung, dass auch bei einem muslimischen kulturellen Hintergrund Religion und Politik so getrennt werden könnten, wie es in den bisherigen Mitgliedstaaten der Fall ist, könnte sich zunehmend als Irrtum erweisen. Dies wäre vor allem auch dann der Fall, wenn sich der Atatürk’sche Laizismus nur als dünne Tünche über einer Gesellschaft von 80 Millionen türkischen Muslimen erweisen sollte. Dann ___________ 8

Vgl. dazu auch Bungenberg (Fn. 6), S. 882. Vgl. zur europäischen Identität auch Bogdandy, A. von, Europäische Verfassung und europäische Identität, in: Juristenzeitung (JZ) 2004, S. 53 (54 ff.). 9

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wäre aber die Union vor die Aufgabe gestellt, den „clash of cultures“ (Huntingdon) mit seinen weltpolitischen Dimensionen auch in ihrem eigenen Binnenbereich zu bewältigen. Ob sie das auf eigene Faust vermag, ist ungewiss. Jedenfalls ist insoweit eine besondere Kunst von Integration gefordert, wenn diese Aufgabe denn überhaupt lösbar ist. Als eine auf Recht gegründete supranationale Organisation, die neben dem Mittel bindender Normierung noch das Medium der „europäischen Politik“ zur Verfügung hat, ist für die Europäische Union die Einsichtsfähigkeit und der gute Wille der beteiligten Staaten und ihrer Lenker essenziell. Die Grundsätze von der unmittelbaren und vorrangigen Geltung des Gemeinschaftsrechts, die vom Europäischen Gerichtshof entwickelt 10 und vom Verfassungsvertrag übernommen wurden (vgl. Art. I-10 Abs. 1 VE), sind zwar auch unter neuen Verhältnissen nicht disponibel. Die Verpflichtung zur Vorabvorlage zur Sicherung der einheitlichen Auslegung (Art. 234 EGV) sowie die Aufgabe der Mitgliedstaaten, für die volle Wirksamkeit des Rechts der Union zu sorgen (Art. 10 EGV), bleiben bestehen. 11 Gleichwohl kann das Unionsrecht als Recht, das auf Akzeptanz und reale Wirksamkeit angelegt ist, gewandelte, komplexer gewordene Verhältnisse nicht ignorieren. Transformationsprozesse sind hier bereits sichtbar und werden sich in der Zukunft noch verstärken. Biegsamkeit der europäischen Strukturen ist also angesagt. Der Europäischen Union als einem nach wie vor im Werden befindlichen und in seinen endgültigen Konturen und Strukturen derzeit nicht abschätzbaren Gebilde ist Starrheit im Bewahren von Grundsätzen dann nicht adäquat, wenn dadurch das Zusammenwachsen eher gefährdet denn gefördert würde. So wie in der juristischen Sprache „grundsätzlich“ bedeutet, dass Ausnahmen in begründeten Fällen zulässig sind, muss dies auch für die Grundsätze und Prinzipien der Europäischen Union der Fall sein. Schon im Vertrag von Amsterdam12 ist die Union von der ausschließlichen Geltung des Grundsatzes der Kohärenz des Unionsrechts abgegangen (vgl. Art. 1 Abs. 3 EuV). 13 Der Satz von der Kohärenz des ___________ 10 Vgl. dazu EuGH Rs. 26/62 (Van Gend & Loos/Niederländische Finanzverwaltung), Slg. 1963, S. 1, und EuGH Rs. 6/64 (Costa/E.N.E.L), Slg. 1964, S. 1251. 11 Vgl. dazu auch EuGH Rs. 9/65 (San Michele), Slg. 1967, S. 37; Bieber, W. / Epiney, A. / Haag, M., Die Europäische Union. Europarecht und Politik, 6. Aufl. 2005, § 7 Rn. 42. 12 Siehe zu den von diesem Vertragswerk vorgenommenen Änderungen des primären Gemeinschaftsrechts Ehlermann, C., Engere Zusammenarbeit nach dem Amsterdamer Vertrag: Ein neues Verfassungsprinzip?, in: EuR 1997, S. 362 (371 ff.); dazu auch Brok, E., Der Amsterdamer Vertrag – Eine Bewertung des Gipfels von Amsterdam, in: Ehlermann, C. (Hrsg.), Der rechtliche Rahmen eines Europas in mehreren Geschwindigkeiten und unterschiedlichen Gruppierungen. Schriftenreihe der Europäischen Rechtsakademie Trier, Bd. 26 (1999), S. 151 ff. 13 Ebenso Buttlar, C. von, Rechtsprobleme der „Verstärkten Zusammenarbeit“ nach dem Vertrag von Nizza, in: Zeitschrift für Europarechtliche Studien (ZEuS) 2001, S. 649 (653); vgl. auch Oppermann, T., Europarecht, 2. Aufl. 1999, Rn. 525. Zu den

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Unionsrechts ist zwar nicht gleichbedeutend mit unmittelbarer und vorrangiger Geltung des Rechts der Integrationsgemeinschaft, ihr aber nahe verwandt und bedeutet, dass das europäische Recht in allen Mitgliedstaaten in gleicher Weise gelten und von diesem Postulat grundsätzlich keine Ausnahmen gestatten will. Der Schritt in Richtung auf Zulassung einer stärkeren Flexibilisierung des Unionsrechts durch ein spezielles Mittel, die „Verstärkte Zusammenarbeit“ einer Teilmenge von Mitgliedstaaten, wurde erstmals formell in Amsterdam getan; das neue Instrument wurde im Vertrag von Nizza verfeinert und findet nunmehr eine neuerliche Bestätigung durch den Europäischen Verfassungsvertrag. 14 Der „Verstärkten Zusammenarbeit“ liegt der Gedanke einer schnelleren Erreichung der Ziele der Union, wenn schon nicht in allen ihren Mitgliedstaaten, so doch in einem Teil von ihnen zugrunde; zu diesem Zweck stellt die Union ihre Organe und Prozeduren für den integrationswilligeren Kreis ihrer Mitglieder zur Verfügung. 15 Der Grundsatz der Kohärenz des Gemeinschaftsrechts konnte aber auch in früheren Jahren nicht ausschließliche Geltung beanspruchen; die Geschichte der europäischen Integration kennt wichtige Fälle seiner Durchbrechung. 16 Zu erinnern ist etwa an das Europäische Währungssystem des Jahres 1979, die Schengen-Abkommen 17 , an das Sozialprotokoll und das Sozialabkommen von Maastricht 18 sowie an die Wirtschafts- und Währungsunion 19 . In all den genannten Fällen blieb ein oder blieben mehrere ___________ Prinzipien von Einheit, Kohärenz und Vollständigkeit der Rechtsordnung, insbesondere im Hinblick auf das europäische Recht auch Balaguer Callejón, F., Der Integrationsprozess in Europa und die Beziehungen zwischen der Europäischen Rechtsordnung und den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, in: Verfassung im Diskurs der Welt. Liber amicorum für P. Häberle, 2004, S. 311 (316 f.). 14 Vgl. hierzu Art. 43–45 EUV; Art. 27a–27e EUV; Art. 40–40b EUV; Art. 11–11a EGV; Art. 1–43; 3–322, 3–329 EV. 15 Martenczuk, B., Die differenzierte Integration nach dem Vertrag von Amsterdam, in: ZEuS 1998, S. 447 (461); Thun-Hohenstein, Chr., Der Vertrag von Amsterdam, 1997, S. 118, 122; vgl. auch Bender, T., Die verstärkte Zusammenarbeit nach Nizza. Anwendungsfelder und Bewertung im Spiegel historischer Präzedenzfälle der differenzierten Integration, in: ZaöRV 61 (2001), S. 730 (731). 16 Siehe dazu Hailbronner, K., European Immigration and Asylum Law under the Amsterdam Treaty, in: CMLR 1998, S. 1047 (1060 ff.); Bender, T. (Fn. 15), S. 742 ff.; Cuntz, E., Flexibilität und Erweiterung – Differenzierte Integration vor und nach Beitritt, in: Ehlermann, C. (Hrsg.), Der rechtliche Rahmen eines Europas in mehreren Geschwindigkeiten und unterschiedlichen Gruppierungen, 1999, S. 133 (136). 17 Blanke, H.-J., in: Grabitz, E. / Hilf, M. (Hrsg.), Kommentar zu EUV/EGV, Stand August 2003, Vor Art. 43–45 EUV, Rn. 9; Satzger, H., in: Streinz, R. (Hrsg.), EUV/EGV, 2003, Art. 29 EUV, Rn. 3; Weiß, W., ebd., Art. 61 EGV, Rn. 24 ff., bes. 36 ff.; dort auch zum Titel IV EGV als Beispiel differenzierter Integration. 18 Streinz, R., Europarecht, 6. Aufl. 2003, Rn. 900; Ehlermann (Fn. 12), S. 362 (365); Blanke (Fn. 17), Vor Art. 43–45 EUV, Rn. 10. 19 Zum Europäischen Währungssystem und zur Wirtschafts- und Währungsunion Streinz (Fn. 18), Rn. 871 ff.; Ehlermann (Fn. 12), S. 365; Buttlar v. (Fn. 13), S. 653 f.; Blanke (Fn. 17), Vor Art. 43–45 EUV, Rn. 10.

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Mitgliedstaaten abseits. Auch für die Sicherheitspolitik als einem der Tätigkeitsbereiche der Union nach dem Europäischen Verfassungsvertrag dürfte gelten, dass nicht alle Mitgliedstaaten willens oder fähig sein werden, an ihr teilzunehmen, wenn der Verfassungsvertrag in Kraft treten sollte. 20 Der Unterschied zur nunmehr kodifizierten „Verstärkten Zusammenarbeit“ liegt darin, dass in den früheren Lagen das Prinzip der Kohärenz stillschweigend zurückgenommen oder eine spezialisierte rechtliche Ausnahme geschaffen wurde, ohne dass aber das Unionsrecht formalisierte Bahnen und Wege in genereller Form bereitgestellt hätte. 3. Der Paradigmenwechsel von der (prinzipiellen) Kohärenz zur (auch möglichen) positiven Differenzierung Was soeben aufgezählt wurde, waren Ausnahmen von der Regel der Kohärenz, die diese aber grundsätzlich bestätigen sollten. Teilweise wurde das mitgliedstaatliche opting-out 21 auch sehr schnell beendet; so sind im Vertrag von Amsterdam der sozialpolitische Auftrag der Union und die entsprechende Änderung der vertraglichen Grundlagen auch vom ursprünglich dissentierenden Vereinigten Königreich nach einem Regierungswechsel akzeptiert worden. Nunmehr ist, möglicherweise noch nicht allseits wahrgenommen, eine Paradigmenveränderung eingetreten. 22 Das neu entwickelte politische Ziel einer Flexibilisierung des Gemeinschaftsrechts wird durch die Möglichkeit einer „Verstärkten Zusammenarbeit“, also der Vertiefung von Gemeinschaftszielen durch eine (Teil-)Gruppe von Mitgliedstaaten innerhalb des Unionsrahmens, verwirklicht. 23 Amsterdam hat die partiale Integration im Wege der „Verstärkten Zusammenarbeit“ noch sehr restriktiv behandelt; 24 in Nizza herrschte hinsichtlich der Flexibilisierung des Gemeinschaftsrechts bereits eine liberalere Attitüde vor; 25 der Europäische Verfassungsvertrag 26 bestätigt nunmehr den neuen Weg. 27 ___________ 20

Buttlar v. (Fn. 13), S. 659 und dort Fn. 42. Bieber/Epiney/Haag (Fn. 11), § 3 Rn. 44; Huber, P. M., Differenzierte Integration und Flexibilität als neues Ordnungsmuster der Europäischen Union?, in: EuR 1996, S. 347 (349); Brok (Fn. 12), S. 151 (157). 22 Vgl. hierzu Pechstein, M., in: Streinz, R. (Hrsg.), EUV/EGV, 2003, Art. 43 EUV, Rn. 1 ff. 23 Siehe hierzu auch Ost, N., Flexibilität des Gemeinschaftsrechts. – Vom Notantrieb zum Vertragsprinzip?, in: DÖV 1997, S. 495 ff. 24 Siehe hierzu Art. 11 (ex-Art. 5a) des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (Amsterdam konsolidierte Fassung), ABl. Nr. C 340 v. 10.11.1997, S. 0173–0306. 25 Art. 43–45 EUV mit Konkretisierungen für die einzelnen Vertragspfeiler Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik in Art. 27a–27e EUV und Zusammenarbeit auf den Gebieten von Justiz und Innerem in Art. 40–40b EUV sowie in Art. 11–11a EGV; vgl. 21

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Das (bisher allerdings noch nie genutzte 28 und durch die rechtliche Regelung wenig geschmeidig ausgestaltete) Instrument der „Verstärkten Zusammenarbeit“ behält zwar den Rahmen des organisatorischen und prozeduralen Gerüsts der Europäischen Union und ihres acquis communautaire bei. Es erhebt aber nunmehr das Avantgardeprinzip in den Rang eines europäischen Instituts, insofern ein Freiraum zur Herbeiführung einer intensivierten Integration für einen Teil von Mitgliedstaaten geschaffen wird, dem sich andere Mitgliedstaaten möglicherweise erst später anschließen werden, wenn sie nicht gänzlich Distanz wahren. Der Bereich der ausschließlichen Kompetenz der Union bleibt dabei ausgeschlossen. Im Übrigen wird dem „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ oder dem Konzept eines „Kerneuropa“ und wie die Bezeichnungen alle lauten mögen, ausdrücklich die rechtliche Approbation erteilt. 29 Die vertragschließenden Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“ haben sich in die Notwendigkeit geschickt, von der Kohärenz des Gemeinschaftsrechts Abstriche zu machen, um das Tempo der europäischen Flotte nicht auf Dauer von der Leistungsfähigkeit des langsamsten Geleitschiffs abhängig zu machen. 30 Insgesamt schwingt wohl auch der Gedanke mit, aus der Not eine Tugend machen und durch eine Vorhut 31 die Nachzügler zu einer schnelleren Gangart antreiben zu können. 32 ___________ dazu konsolidierte Fassung des Vertrags über die Europäische Union, ABl. Nr. C 325 v. 24.12.2002 und konsolidierte Fassung des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, ABl. Nr. C 325 v. 24.12.2002; siehe hierzu Wiedmann, T., Anmerkungen zum Vertrag von Nizza, in: JuS 2001, S. 846 (848); die Liberalisierung wird allerdings durch die unübersichtliche Regelung nicht sofort deutlich. 26 Zur „Verstärkten Zusammenarbeit“ nach den Verträgen von Amsterdam und Nizza siehe Buttlar v. (Fn. 13), S. 659; Thym, D., Ungleichzeitigkeit und Europäisches Verfassungsrecht. Die Einbettung der Verstärkten Zusammenarbeit, des Schengener Rechts und anderer Formen von Ungleichzeitigkeit in den einheitlichen rechtlichen institutionellen Rahmen der Europäischen Union, 2004, S. 43 ff.; vgl. dazu auch Kellerbauer, M., Von Maastricht bis Nizza. Neuformen differenzierter Integrationen der Europäischen Union, 2003, S. 26 ff., 156 ff. Siehe weiterhin López-Pina, A., Die „Verstärkte Zusammenarbeit“ als europäische Regierungsform, in: Verfassung im Diskurs der Welt. Liber amicorum für P. Häberle, 2004, S. 275 (286 f.). 27 Art. I-44; III-416 bis III-423. 28 Siehe auch dazu Kugelmann, D., „Kerneuropa“ und der EU-Außenminister – die verstärkte Zusammenarbeit in der GASP, in: EuR 2004, S. 322 (325). 29 Vgl. hierzu etwa Ost (Fn. 23), S. 495 (496); Ehlermann (Fn. 12), S. 16 f.; Hatje, D., in: Schwarze, J. (Hrsg.), EU-Kommentar, 2000, Art. 43 EUV, Rn. 8; Giering, C., Vertiefung durch Differenzierung – Flexibilisierungskonzepte in der aktuellen Reformdebatte, in: integration 1997, S. 72 (73 ff.); Martenczuk (Fn. 15), S. 452; Stubb, A., Categorization of Differentiated Integration, in: JCMS 1996, S. 283 (288); Pechstein (Fn. 22), Rn. 3; Thym (Fn. 26), S. 28 ff. 30 Buttlar v. (Fn. 13), S. 664. 31 Bender (Fn. 15), S. 736 f. 32 Zum Gedanken einer Flexibilisierung und Differenzierung vgl. Giering, C. / Janning, J., Flexibilität als Katalysator der Finalität? Die Gestaltungskraft der „Verstärkten

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Freilich ist denkbar, wie Dieter Blumenwitz angedeutet hat, 33 dass das Instrument der „Verstärkten Zusammenarbeit“ eine Zwei-Klassen-Mitgliedschaft produziert, im schlimmsten Fall sogar den Keim der Spaltung in sich trägt. Über die Spannung zwischen Integrationsförderung und Destabilisierung, in der sich die „Verstärkte Zusammenarbeit“ bewegt, wird noch zu sprechen sein. Aber auch das ist zu berücksichtigen: Eine engere Verbindung einer Teilmenge von Staaten zum Zweck stärkerer oder schnellerer Integration einerseits, das Zurückbleiben anderer, ein „opting-out“ oder gar eine „Sezession“, die in den Bahnen des Rechts verlaufen, können nur politisch enttäuschen, aber nicht das Rechtsgefühl empören. Die europäische Integration baut ausschließlich auf der Freiwilligkeit und auf dem Integrationswillen der Mitgliedstaaten auf; sind diese nicht (mehr) vorhanden, so müssen neue Konzeptionen geschaffen werden, um den weltgeschichtlichen Vorgang der europäischen Einigung nicht scheitern zu lassen.

II. Flexibilität als Integrationskonzept – „Verstärkte Zusammenarbeit“ als Mittel 1. Begriffsbildung und Konzeptualisierung Die „Verstärkte Zusammenarbeit“, der diese Zeilen gewidmet sind, ist eine besonders markante, aber nicht die einzige Form intensivierter Kooperation, die sich innerhalb des Rahmens der Europäischen Union entwickelt hat. Gegenüber vergleichbaren Instrumenten (vgl. dazu unter 3.) sticht sie durch die gesetzliche Normierung hervor, mit der Anwendungsbereich und Grenzen umrissen werden. Diese hat es aber möglicherweise gerade verhindert, dass das Institut praktisch wurde, woran nicht nur die Kompliziertheit der Regelung Schuld tragen mag. 34 Als Kooperation einer (Teil-)Gruppe von Mitgliedstaaten innerhalb des institutionellen Rahmens der Union, mit der Gemeinschaftsziele schneller oder in vertiefterer Form erreicht werden sollen, liegt dem Instrument der „Verstärkten Zusammenarbeit“ die Vorstellung zugrunde, auf diese Weise könnten bereichspezifische Blockaden leichter überwunden 35 und neue Gravitationszentren erschlossen werden. Selbstverständlich setzt die Mitgliedschaft in der Europäi___________ Zusammenarbeit“ nach Nizza, in: integration 2001, S. 146 (147 f.); Blanke (Fn. 17), Vor Art. 43–45 EUV, Rn. 5; Hilf, M. / Pache, E., Der Vertrag von Amsterdam, in: NJW 1998, S. 705 (711). 33 Vgl. dazu bei Fn. 5. 34 Vgl. für die Regelung des Instituts durch den Vertrag von Amsterdam Giering / Janning (Fn. 32), S. 146. 35 Giering / Janning (Fn. 32), S. 153; Kugelmann (Fn. 28), S. 325.

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schen Union voraus, dass zwischen den Staaten, die sich an ihr beteiligen, ein Grundkonsens besteht, der nicht nur den acquis communautaire umfasst, sondern über ihn hinausgeht. Dieser Grundkonsens bezieht sich nicht nur auf einzelne Rechtsinstitute, sondern bedeutet politische Gleichgestimmtheit im Grundsätzlichen und im Willen zur fortschreitenden Integration. Trotzdem wäre es naiv, die Mitgliedstaaten als amorphe Masse zu betrachten und ihre jeweilige Eigenprägung zu übersehen. Ihnen sind je unterschiedliche Interessenlagen zu eigen, die etwa sicherheitspolitischer, geostrategischer oder auch historischer Natur sein mögen und mit dem Beitritt zur Europäischen Union nicht automatisch zum Verschwinden kommen. Die „Verstärkte Zusammenarbeit“ könnte dazu dienen, Integrationsfortschritte in Teilbereichen zu erzielen, die im Europa der mittlerweile 27 Mitgliedstaaten (mit weiterer Tendenz nach oben) im Augenblick nicht für alle erzielbar sind. 36 Schengen, das Vorgehen im Streit um das Sozialprotokoll, die Wirtschafts- und Währungsunion haben bewiesen, dass ein solches Prozedere erfolgreich sein kann. 37 Allerdings: Es ist nachvollziehbar, dass gerade das Unternehmen, die „Verstärkte Zusammenarbeit“ in ein Institut formellen Rechts umzuwandeln, Erfolge verhindert, wie sie seinerzeit erzielt wurden. Gerade die informelle Möglichkeit des opting-out einiger Staaten machte die Einführung des SchengenBesitzstands oder die Wirtschafts- und Währungsunion für die anderen möglich. Flexibilität, die rechtlich positiviert wird, verliert schon dadurch ein gutes Stück ihrer Beweglichkeit. Dies gilt umso mehr, wenn sie in so viele umständliche Regelungen gezwängt wird, wie sie Amsterdam, Nizza und jetzt auch der Europäische Verfassungsvertrag produziert haben. So ist es nach den gesetzlichen Regelungen ausgeschlossen, mit Hilfe der „Verstärkten Zusammenarbeit“ ein Ziel erreichen zu wollen, das in früheren Jahren in diesem Zusammenhang auch genannt wurde, nämlich die Möglichkeit, Drittstaaten und Beitrittskandidaten, denen die Vollmitgliedschaft auf absehbare Zeit nicht möglich ist, durch Teilmitgliedschaften in bestimmte Gemeinschaftspolitiken einzubinden. 38 Noch weniger kann das neue Rechtsinstitut „Verstärkte Zusammenarbeit“ der Union neue Politikfelder erschließen, auf die der Integrationsprozess ausgreifen könnte, weil die rechtlichen Regelungen die „Verstärkte Zusammenarbeit“ nur für rechtlich bereits fixierte Gemeinschaftsziele zulassen. Wer Flexibilität rechtlich zu regulieren versucht, vergisst, dass Flexibilität und Recht schon in der Wurzel Gegensätze bilden. Optiert man für Rechtssicherheit, wie dies nor___________ 36

Wiedmann, T., Der Vertrag von Nizza – Genesis einer Reform, in: EuR 2001, S. 185 (214 f.); Thym (Fn. 26), S. 43 f. 37 Ehlermann (Fn. 12), S. 366. 38 Siehe hierzu Giering / Janning (Fn. 32), S. 149, die darauf verweisen, dass Norwegen und Island in das Schengener Abkommen als assoziierte Staaten eingebunden wurden.

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mativ im Verfassungsvertrag geschieht, kann dies nur zu Ungunsten der politischen Beweglichkeit ausgehen.

2. Genese des Rechtsinstituts – politische Vorbereitung und rechtliche Ausformung Als geistige Ahnherren der „Verstärkten Zusammenarbeit“ wird eine Reihe von Politikern und europäischen Publizisten genannt, ohne dass eine alleinige Urheberschaft ausgemacht werden könnte. Teilweise werden noch eine Rede Willy Brandts aus dem Jahre 1974 und der Tindemans-Bericht des Jahres 1975 als Quelle für eine erste Konzeption eines aus den Gründungsmitgliedern bestehenden „Kerneuropas“ angegeben; 39 auch der frühere Kommissionspräsident Jacques Delors, der eine Avantgarde der sechs EG-Gründungsmitglieder vorschlug, kann Meriten beanspruchen. 40 Weitere Impulse gingen von Helmut Schmidt und Valéry Giscard d’Estaing aus, die eine Allianz von Deutschland und Frankreich, unter Unterstützung durch die Benelux-Staaten, als Motor der zukünftigen Einigung ins Gespräch brachten. Eine Rede des ehemaligen Außenministers Joschka Fischer in der Berliner Humboldt-Universität vom Mai 2000 setzte einen weiteren Akzent, 41 den der frühere französische Staatspräsident Jacques Chirac aufnahm und zu einer Forderung nach Pioniergruppen zur Wegbereitung der zukünftigen europäischen Einigung zuspitzte. Amsterdam hat hierfür schließlich die vertraglichen Grundlagen gelegt und offiziell die Möglichkeit einer vorläufigen partialen Integration im Rahmen der Union geschaffen. 42 Den die „Verstärkte Zusammenarbeit“ tragenden Mitgliedstaaten wird nicht mehr zugemutet, sich durch fehlende Einstimmigkeits- oder Mehrheitsbeschlüsse von ihrem Wunsch auf schnellere Verwirklichung von Zielen der Union abbringen zu lassen. Die Infrastruktur der Europäischen Union steht ihnen zu Gebot; ihre Bürger genießen die von Europa gewohnten parlamentarischen und justiziellen Garantien. Den sich verweigernden Mitgliedstaaten wird gewährleistet, dass ihr Interesse und das der Union beachtet wird 43 und dass ___________ 39

Bender (Fn. 15), S. 732; vgl. auch Giering (Fn. 29), S. 73; Stubb (Fn. 29), S. 284. Siehe seine Rede vom 14.11.1999 „Reuniting Europe: Our Historic Mission“, in: Agence Europe 7625 v. 03./04.01.2000, S. 3 f. und Agence Europe 7626 v. 05.01.2000, S. 3 f. 41 Vom Staatenverbund zur Föderation – Gedanken über die Finalität der europäischen Integration, in: Walter-Hallstein-Institut (Hrsg.), Verfassungsrechtliche Reformen zur Erweiterung der Europäischen Union, 1. Aufl. 2000, S. 171 ff.; siehe hierzu Giering / Janning (Fn. 32), m. w. N. 42 Siehe dazu auch Blanke, H.-J., in: Grabitz / Hilf (Hrsg.), Kommentar zu EUV/ EGV, Stand August 2003, Art. 43 EUV Rn. 4. 43 Buttlar v. (Fn. 13), S. 667 zum acquis communautaire. 40

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die „Verstärkte Zusammenarbeit“ offen bleibt für eine spätere Teilhabe der zunächst abseits Stehenden. 44 In Amsterdam wurde allerdings das Tor zur vertraglich gestatteten Differenzierung nur sehr behutsam geöffnet. Zu deutlich begleitete die Sorge um den Verlust gemeinsamer Werte und Institutionen, ja der Identität der Union insgesamt den Normgebungsprozess. Nach wie vor gilt als Grundsatz der „Verstärkten Zusammenarbeit“ (auch nach dem Europäischen Verfassungsvertrag), dass auf dieses Instrument nur als letztes Mittel zugegriffen werden darf und dass der Zutritt allen Mitgliedstaaten offen stehen muss. 45 Doch ist die Anzahl der Mitgliedstaaten, die eine „Verstärkte Zusammenarbeit“ begründen können, die in Amsterdam noch mit der Mehrheit der Mitgliedstaaten angegeben wurde, in Nizza bereits auf die Zahl Acht gesenkt worden. Eine weitere Liberalisierung durch Nizza bedeutet die Eliminierung des Rechts zum Veto gegen die Teilintegration aus dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft. Stattdessen wurde die Möglichkeit eingeführt, dass ein Mitgliedstaat, der sein Einvernehmen nicht erteilen kann und will, den Europäischen Rat anrufen kann. 46 Seit Nizza ist die „Verstärkte Zusammenarbeit“ auch im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zulässig, aber nur, wenn es darum geht, eine gemeinsame Aktion oder einen gemeinsamen Standpunkt zu begründen, nicht dagegen bei Sachverhalten mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen. 47 Der Europäische Verfassungsvertrag hat das Instrument der „Verstärkten Zusammenarbeit“ gegenüber den Ausformulierungen in den Verträgen von Amsterdam und Nizza erheblich umgestaltet. 48 Die Leitgedanken für die Neufassung waren eine Vereinfachung des Gesetzestextes (der in Nizza eine kaum zu überbietende Kompliziertheit erreicht hatte), eine Herabsetzung der Zugangshürden und eine Orientierung an thematischen Kriterien, nicht wie bisher an Säulen. Außerdem sollte die Rolle von Parlament und Kommission gestärkt werden. Darüber hinaus war es Absicht, vor allem die Bedingungen für eine spätere Beteiligung von Staaten zu formulieren, die ursprünglich die Teilnahme an der „Verstärkten Zusammenarbeit“ abgelehnt hatten. 49 Auch wenn, wie erwähnt, bei der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik jetzt eine „Ver___________ 44

Siehe dazu auch Ehlermann (Fn. 12), S. 27. Huber (Fn. 21), S. 353. 46 Vgl. dazu Art. 11 (ex Art. 5a) Abs. 2 EGV in der Amsterdamer Fassung, Abl. Nr. C 340 vom 10./11./1997, S. 0173–0306 einerseits, Art. 11 Abs. 2 Unterabsatz 2 EGV in der Fassung von Nizza, Abl. Nr. C 325 vom 24.12.2002. 47 Epiney, A. / Freiermuth Abt M. / Mosters, R., Der Vertrag von Nizza, in: Deutsches Verwaltungsblatt (DVBl.) 2006, S. 941 (948); Thym (Fn. 26), S. 163 f. 48 Vgl. zum Ganzen den Übermittlungsvermerk des Präsidiums für den Europäischen Konvent CONV 723/03, 11 (Synopse) und 12 ff. 49 Buttlar v. (Fn. 13), S. 663 ff. 45

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stärkte Zusammenarbeit“ möglich ist, 50 bleibt hier die Rolle der Kommission zugunsten der Entscheidungsbefugnis des Rates zurückgedrängt, wodurch den nationalen Interessen weiterhin gegenüber den integrativen Belangen Vorrang eingeräumt wird. Aber auch im Europäischen Verfassungsvertrag ist die Zurückhaltung der potenziellen Verfassungsschöpfer gegenüber einer Teilintegration deutlich spürbar (vgl. Art. I-44; III-416–423 der Verfassung). Sie betrifft zum einen die Kreationsphase, in der sowohl die formellen als auch die materiellen Vorgaben und Grenzen der Verfassung zu achten sind, wozu insbesondere das vorgeschriebene Quorum von Mitgliedstaaten und die Einschaltung von Rat und Kommission gehören. Zum anderen ist die Vorgabe materieller Direktiven zu nennen (Verwirklichung von Zielen der Union, die nicht zu deren ausschließlichem Zuständigkeitsbereich gehören, Achtung ihrer Verfassung und ihres Rechts, Nichtbeeinträchtigung des Binnenmarkts sowie Rücksichtnahme auf Zuständigkeiten, Rechte und Pflichten der nicht an der Zusammenarbeit beteiligten Mitgliedstaaten). Aber auch durch die Bereitstellung des administrativen Apparats der Union für die Durchführung der „Verstärkten Zusammenarbeit“ wird das Bemühen deutlich, der jeweiligen Teilkooperation nicht ein Eigenleben zu gestatten, sondern sie in den Unionsrahmen zu integrieren. Ein Europa à la carte, bei dem sich jeder herauspickt, was ihm an europäischen Zielen gelegen ist, ist mit dieser Regelung unvereinbar. 51 Nicht umsonst wird auch im Europäischen Verfassungsvertrag die „Verstärkte Zusammenarbeit“ ausdrücklich als letztes Mittel bezeichnet. Allerdings darf daraus nicht geschlossen werden, dass eine Teilkooperation immer nur zeitlich befristet genehmigt werden könnte oder dass die Organe der Union zumindest auf baldige Beendigung hinzuwirken hätten. Davon weiß die Verfassung nichts. Es ist nicht zu vergessen, dass allzu hoch gehängte vertragliche Hürden für eine „Verstärkte Zusammenarbeit“ die Mitgliedstaaten veranlassen könnten, andere Mittel und Wege für Integrationsfortschritte zu suchen. 52 Mitgliedstaaten sind nicht gezwungen, ihre Integrationswünsche und -absichten innerhalb des Gerüsts der Union zu befriedigen. Nach dem gegenwärtigen Stand der europäischen Integration und ihrer rechtlichen Grundlagen ist es unbezweifelbar, dass die Mitgliedstaaten auch zur intergouvernementalen Zusammenarbeit berechtigt sind, eine Zusammenarbeit also nicht ausschließlich innerhalb des Rahmens der Union und der für sie maßgeblichen rechtlichen Grundlagen stattfinden muss. 53 Ob Grenzen einer intergouvernementalen Kooperation anzuerkennen sind, die sich aus Prinzipien ___________ 50

Siehe dazu ausführlich Kugelmann (Fn. 28), S. 322 ff.; Thym (Fn. 26), S. 159 ff. Siehe hierzu Hatje (Fn. 7), S. 157. 52 Siehe hierzu Hatje (Fn. 7), S. 159 ff. 53 Hall, Ph., Verstärkte Zusammenarbeit – „Flexibilität“, in: Bergmann, J. / Lenz, C. (Hrsg.), Der Amsterdamer Vertrag, 1998, S. 341; vgl. dazu eingehend auch Thym (Fn. 26), S. 298 ff. 51

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wie Gemeinschaftstreue und -solidarität ergeben, kann dahingestellt bleiben, obwohl sich aus dem Gedanken eines Staaten-„Verbunds“, wie er vom Bundesverfassungsgericht im Maastricht-Urteil formuliert wurde, 54 vergleichsweise leicht folgern lässt, dass es solche geben kann und muss. 55 Zwar nicht in jedem Fall, aber doch nicht selten kann es für die Integrationsgemeinschaft unerwünscht sein, wenn Mitgliedstaaten sich außerhalb ihres vertraglichen Rahmens miteinander verbinden.

3. Abgrenzung der „Verstärkten Zusammenarbeit“ von sonstigen Kooperations- und Konsultationsverfahren innerhalb des Rahmens der Europäischen Union Die „Verstärkte Zusammenarbeit“ ist als Kooperationsform einer (Teil-) Menge von Mitgliedstaaten zwar inzwischen vertraglich fixiert und in ihrer (theoretischen) Legitimität bestätigt, ohne aber bislang praktisch geworden zu sein. Davon bleiben aber andere Dialogformen unberührt, die sich vornehmlich zwischen den Organen der Union und der Mitgliedstaaten in unterschiedlichen Funktionen und Zweckbindungen entwickelt haben. Die „Verstärkte Zusammenarbeit“ war zwar ursprünglich im Kreis dieser Dialogformen beheimatet, wurzelte gleichfalls in der Informalität kommunitären Handelns und überschnitt sich mit ihnen partiell, ist aber mittlerweile durch ihre normative Festlegung herausgehoben (aber auch zementiert). Den hier zu nennenden informalen Instrumenten ist gegenüber der „Verstärkten Zusammenarbeit“ gemeinsam, dass sie regelmäßig von den Organen der Union selbst ausgehen oder jedenfalls diese in weit intensiverem Maße einbinden, als dies bei der „Verstärkten Zusammenarbeit“ der Fall ist, die die Gemeinschaftsorgane im Wesentlichen auf die Genehmigung der Teilkooperation und ihre Überwachung beschränkt. In neuerer Zeit hat hier vor allem die „offene Methode der Koordinierung“, gelegentlich auch „Methode der offenen Koordinierung“ genannt, Aufmerksamkeit erregt. 56 Auch diese bezweckt die Förderung des Integrationsfort___________ 54

BVerfGE 89, 155 (212). Hatje (Fn. 7), S. 160. 56 Siehe hierzu eingehend Höchstetter, K., Die offene Koordinierung in der EU – Bestandsaufnahme, Probleme und Perspektiven, 2007, S. 25 ff.; Lang, J. / Bergfeld, K., Zur „offenen Methode der Koordinierung“ als Mittel der Politikgestaltung in der Europäischen Union, in: EuR 2005, S. 381 ff.; Danner, G., Die „Offene Methode der Koordinierung“ als europäische Vernetzung im gesundheitspolitischen Bereich subsidiärer Ordnung. Harmonisierung auf kaltem Weg oder ein weiteres Brüsseler Symbol?, in: Deutscher Sozialrechtsverband (Hrsg.), Offene Methode der Koordinierung im Sozialrecht, Schriftenreihe des Deutschen Sozialrechtsverbands, Bd. 53, 2005, S. 81 ff.; Bauer, M. / Knöll, R., Die Methode der offenen Koordinierung: Zukunft europäischer Politikgestaltung oder schleichende Zentralisierung?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zu Das Parlament 2003, B 1-2/2003, S. 33 ff. 55

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schritts und der Erreichung der Ziele der Union. Sie verbleibt aber anders als die „Verstärkte Zusammenarbeit“ insofern im europapolitischen Bereich, als sie nicht darauf abzielt, verbindliches Recht zu setzen. Die offene Methode der Koordination bindet alle Mitgliedstaaten ein und vermeidet das partiale Vorgehen, das für die „Verstärkte Zusammenarbeit“ essentiell ist. Weil ihr die Gefahr der Zentrifugalität nicht anhaftet, die die „Verstärkte Zusammenarbeit“ trotz ihres primären integrationistischen Ansatzes auch begleitet, hat der Gemeinschaftsgesetzgeber (ebenso wie die Schöpfer des Europäischen Verfassungsvertrags) es bislang nicht für nötig angesehen, der offenen Methode der Koordination einen rechtlichen Rahmen zu geben. Die Pflicht der Mitgliedstaaten zur Gemeinschaftstreue und zur Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts bleibt aber unberührt. Da man sich auf der Ebene der Politik befindet, wenn Kommission oder Rat gegenüber den Mitgliedstaaten die offene Methode der Koordination einsetzen, müssen auch nicht die strikten Grenzen beachtet werden, die für die „Verstärkte Zusammenarbeit“ gezogen sind (letztes Mittel, keine Beeinträchtigung des Binnenmarktes, keine Änderung der vertraglichen Grundlagen, Offenhaltung der „Verstärkten Zusammenarbeit“ für die ursprünglich nicht beteiligten Mitgliedstaaten u. a.). Wenn keine Rechtsetzung im eigentlichen Sinn beabsichtigt ist, kann man sich auf das allgemeine Rechtsgerüst des Unionsrechts zurückziehen und sich in diesem bewegen, wie dies auch sonst für Politik charakteristisch ist. Darüber hinaus haftet der „offenen Methode der Koordinierung“ noch ein weiterer Vorzug an, der bei der „Verstärkten Zusammenarbeit“ ausgeschlossen ist: Sie kann auch Bereiche erfassen, die nicht zu den von den Verträgen geregelten Zielen der Union gehören. Damit wird es möglich, weitere integrative Fortschritte vorzubereiten, die bislang bei Schaffung und Fortschreibung der vertraglichen Grundlagen (einschließlich des Europäischen Verfassungsvertrags) ausgespart wurden, weil zu große Disparitäten in den Auffassungen der Mitgliedstaaten herrschen bzw. die vertragliche Zielsetzung für diese Bereiche noch nicht definiert ist. Darüber hinaus beschränkt sich die „offene Methode der Koordination“ als Verfahren politischer Konsultation und Kommunikation nicht auf die etatistische Ebene, sondern kann, ganz nach dem Willen der Akteure, auf gesellschaftliche Zielgruppen in den Mitgliedstaaten ausgedehnt werden. Ein letzter wesentlicher Unterschied zur „Verstärkten Zusammenarbeit“ ist darin zu sehen, dass mit dem Europäischen Rat als Motor der „offenen Methode der Koordinierung“ häufig eine Institution aktiv wird, die zwar durch ihre Verankerung in Art. 4 EUV Organ der Union ist, aber nicht ein solches der Gemeinschaft. 57 ___________ 57

Siehe hierzu Stumpf, C., in: Schwarze, J. (Hrsg.), EU-Kommentar, 2000, Art. 4 EUV, Rn. 4 und 11; vgl. demgegenüber Oppermann (Fn. 13), Rn. 299.

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Andere Kommunikationsformen, deren sich die europäischen Organe bei ihrer Integrationspolitik bedienen, haben von vornherein thematisch weitgehend festgelegte Strukturen. Dies gilt zunächst für den so genannten „strukturierten Dialog“, 58 der allerdings durch seine Bezeichnung verdeckt, dass er zwei völlig unterschiedliche Anwendungsformen kannte und kennt: zum einen als Mittel zur Heranführung der Beitrittskandidaten an die Union und ihren acquis communautaire anlässlich der Erweiterungsrunde 2005 und zum anderen als Form der Gespräche der Kommission mit Europäischem Parlament und Rat. Im letzteren Fall bleibt ein interorganschaftlicher Charakter gewahrt, während sich die erstgenannte Form des strukturierten Dialogs auf die staatliche Ebene der Verhandlungen mit den Beitrittskandidaten beschränkte. 59 An mitgliedstaatliche Konzertierungsverfahren, wie sie die frühere Konzertierte Aktion nach dem Stabilitäts- und Wachstumsgesetz der Bundesrepublik Deutschland darstellte (vgl. § 3 StabG 60 ), erinnern der soziale und der zivile Dialog, den die Kommission in vergangenen Jahren mit den Sozialpartnern oder mit maßgeblichen Gruppen der Zivilgesellschaft eingeleitet hat. 61 All diese Instrumente besitzen nicht die normative Verfestigung der „Verstärkten Zusammenarbeit“; der Gesetzgeber hat ihnen bislang sein Augenmerk nicht zugewandt. Gerade im umgekehrten Verhältnis zu dieser gesetzgeberischen Missachtung steht aber die praktische Bedeutung der informalen Instrumente für den Fortschritt der europäischen Integration. Sie sind flexibler als die „Verstärkte Zusammenarbeit“, die weitgehend auf die hölzernen Handschuhe des Rechts verwiesen ist, sie sind weniger ins Licht der Öffentlichkeit gestellt und vermitteln auch weniger das Gefühl eines fait accompli, als dies für die „Verstärkte Zusammenarbeit“ trotz aller ihr vom Gesetzgeber zugedachten Vorläufigkeit gilt.

___________ 58

Cuntz (Fn. 16), S. 136. Siehe hierzu eingehend Höchstätter (Fn. 56), S. 34 ff. 60 Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums v. 28.06.1967, BGBl. I, S. 582. 61 Vgl. dazu Europäische Kommission, Ziviler Dialog und Sozialpolitik in der erweiterten Europäischen Union. Amt für öffentliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, 2004, passim. 59

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III. Not und Chance der „Verstärkten Zusammenarbeit“ des Unionsrechts 1. Das Grundproblem: Differenzierung in der auf Einheit angelegten Integrationsgemeinschaft Es ist nicht zu übersehen, dass das Institut der „Verstärkten Zusammenarbeit“ die Wurzeln des Kommunitätsgedankens berührt. Wer die europäische Einigung schaffen will, möchte sie mit allen einigungswilligen Staaten schaffen. Jede Form von Teilintegration, von Voranpreschen im Einswerden, läuft diesem Grundansatz an sich zuwider. Mit dem EGKS-Vertrag von 1951, mit den Römischen Verträgen von 1957 wurden Einigungswerke geschaffen, die durchaus auf Staaten mit Sonderproblemen, auf Mitgliedsländer mit temporär retardierenden Regierungen Rücksicht nehmen wollten. Zu diesem Zweck wurde das Einstimmigkeitsprinzip zur Entscheidungsbildung, jedenfalls im Anfangsstadium des Integrationsprozesses, gewählt. Dies sollte uns aber auch heute noch zu denken geben. Die europäische Einigung muss nicht im Husarenstreich vollzogen werden; der Eindruck, dass europäische Politiker diese Dinge zum Teil zu schnell vorantreiben, weil sie sich selbst Erfolge zu Buche schreiben wollen, drängt sich durchaus nicht unbegründet auf. Die Völker Europas wollen sich integrieren, aber ob dies in der in den letzten Jahren ablaufenden Geschwindigkeit der Fall sein muss, bleibt zu bezweifeln. Das europäische Staatensystem, das nach dem Verfall der Universalmächte des Mittelalters (Kaiser, Papst) mehr als 500 Jahre unter nationalstaatlichem Vorzeichen existierte, braucht seine Zeit, um möglicherweise künstliche, aber inzwischen zur Gewohnheit gewordene Schranken zu überwinden, die der Nationalismus des 19. Jahrhunderts nochmals besonders verstärkt hat. Wenn vor allem gegenwärtig die potenzielle Unflexibilität eines Europas der inzwischen 27 Staaten beklagt wird, dann sind denkbarerweise bei der Neuaufnahme die Kriterien zu weitmaschig, sind Staaten zu Mitgliedern geworden, bei denen Integrationspotenzial und Integrationswille nicht ausreichend entwickelt sind, ist im durchaus anerkennenswertem Eifer, die Spaltung Europas zu überwinden, wie sie als Folge des Ost-West-Gegensatzes über Jahrzehnte zementiert war, vergessen worden, auf die Details zu blicken und die Aufnahmekriterien gerade im Hinblick auf zukünftige Integrationsfortschritte auch ausreichend streng zu formulieren. Wurde sowohl in Amsterdam als auch in Nizza und jetzt wieder im Europäischen Verfassungsvertrag die „Verstärkte Zusammenarbeit“ als letztes Mittel formuliert, das nur zur Anwendung kommen kann, wenn Integrationsfortschritte für die Gesamtheit nicht zu erreichen sind, so kommt darin zum Ausdruck, dass Teildifferenzierungen den Grundgedanken der Union prinzipiell diametral entgegen laufen. Dieter Blumenwitz hat berechtigterweise auch darauf hinge-

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wiesen, dass mit der Nutzung des Instruments der „Verstärkten Zusammenarbeit“ ein Flickenteppich neuer Bestimmungen entstehen könne, der der Union den großen Vorteil eines einheitlichen Wirtschaftsraumes nähme.62 Dem kann auch nicht seitens der Verfechter eines „Kerneuropas“ entgegen gehalten werden, dass hier nur ein Motor entstünde, der die Retardierenden mitzuziehen vermöge. Die „Verstärkte Zusammenarbeit“ ist im Grunde ein Sonderbund, wenn auch im Rahmen des Unionsrechts und mit dessen Mitteln, der tendenziell systemsprengende Wirkung hat oder zumindest gewinnen kann. Das Instrument einer Teildifferenzierung oder Teilintegration kann durchaus zu einer Gratwanderung führen, bei der der Absturz nach der einen oder anderen Seite denkbar ist. Sonderbünde haben auch die Konsoziation der in ihnen Vereinigten und die Dissoziation gegenüber den abseits Stehenden zum Gegenstand. Noch ist die europäische Einigung nicht unumkehrbar, wie die Aufnahme von Art. 60 EV in den Europäischen Verfassungsvertrag beweist, wonach der Austritt eines Mitgliedstaates nach freiem Belieben möglich ist. Man hat zu Recht den Austritt als am weitesten reichende Form der Differenzierung bezeichnet, die nach dem Unionsrecht möglich ist. 63 Demgegenüber hat das so häufig gescholtene Einstimmigkeitsprinzip, mit dem die europäische Einigung begann, den kaum zu bestreitenden Charme, dass zwar das integrative Voranrücken langsam vorangehen mag, aber alle einbezieht. Gerade in der Gegenwart, in der der gemeinschaftliche Besitzstand einen doch sehr befriedigenden Grad erreicht hat, sind die Europäer nicht gezwungen, im Einigungsprozess mit Sieben-Meilen-Schritten voranzukommen, umso mehr, als offen ist, in welche Richtung die europäische Einigung eigentlich gehen soll. Für die Deutschen der Kriegs- und Nachkriegsgeneration war weithin der europäische Bundesstaat das erstrebenswerte Endziel und ist es teilweise auch heute noch. Es ist aber auch offensichtlich, dass sowohl bei der deutschen Bevölkerung ein teilweiser Bewusstseinswandel eingetreten als auch bei den anderen Europäern die Bereitschaft zu einem so engen Zusammenrücken (noch?) nicht gegeben ist. Geduld zu haben ist für den wahren Europäer sicherlich eine der wertvollsten Eigenschaften, die er haben kann.

2. Negative Potenzialitäten Das auch vom Europäischen Verfassungsvertrag übernommene Institut der „Verstärkten Zusammenarbeit“ ruft aber nicht nur den möglicherweise berechtigten Argwohn hervor, als Keim der Spaltung wirken zu können. Es gibt noch andere Einwände. Hierzu gehört, dass eine potenzielle Ausgrenzung der abseits ___________ 62 63

Blumenwitz (Fn. 5), S. 129, 134. Siehe dazu Hatje (Fn. 7), S. 161.

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stehenden Staaten zwar nicht von Anfang an in verletzender Weise erfolgen mag, sich aber auch nachträglich entwickeln kann, trotz des guten Willens aller und der Vorschriften der Verträge beziehungsweise der Europäischen Verfassung, dass die „Verstärkte Zusammenarbeit“ offen bleiben müsse für den jederzeitigen Beitritt anderer Unionsmitglieder. Damit muss noch nicht der Zerfall der Union programmiert sein. Gleichwohl dürfte sich ein Verlust an Grundkonsens, der die Mitglieder der europäischen Integrationsgemeinschaft insgesamt umfangen sollte, nicht verhindern lassen. Dass solche Einbrüche später erst wieder aufgefangen und gut gemacht werden müssen, um ein Voranschreiten aller im Integrationswerk zu ermöglichen, liegt in der Rationalität der Dinge. In den vorausgehenden Zeilen ist bereits angeklungen, dass die „Verstärkte Zusammenarbeit“ möglicherweise (nicht unbedingt ihrem Sinn entsprechend!) auch als Korrekturmechanismus gegenüber voreiligen Aufnahmen von Neumitgliedern eingesetzt werden könnte, 64 die nicht einmal in der Lage sind, einen stetig, aber nicht überstürzt und auch nicht in großen Sprüngen ablaufenden Integrationsprozess mit zu vollziehen. Hier ist kluge Vorausschau und Vorsorge auf jeden Fall der bessere Weg als eine nachträgliche Reparaturmaßnahme, die die neu zugegangenen Staaten nur vor den Kopf stoßen kann. Eine weitere Negativerscheinung, die von der „Verstärkten Zusammenarbeit“ zwar nicht zu vermuten ist, aber zumindest in ihrem Potenzialitätsspektrum liegt, ist die Umgehung von Einstimmigkeitsentscheidungen, die das Primärrecht vorschreibt, weil in diesen Fällen ein Einigungsfortschritt nicht über die Köpfe einzelner Mitgliedstaaten hinweg erfolgen soll. Es könnte, je nach Motivationslage und Fallsituation, ein agere in fraudem legis, also eine formal legale, materiell aber illegitime Handlungsweise darstellen, die dissentierenden Staaten durch eine „Verstärkte Zusammenarbeit“ auszubooten.

3. Der erhoffte positive Effekt: kleine oder große Integrationsfortschritte? „Avantgarde“, die ein Kerneuropa sein soll, entspringt der militärischen Vorstellung von der Signalwirkung einer voranpreschenden Truppe der Mutigsten. Ergreift Mutlosigkeit die Armee, so kann sie durch Worte oder auch beherzte Taten angefeuert werden. Ob das von der „Verstärkten Zusammenarbeit“ in ihrer hochregulierten Form, wie sie auch Teil des Verfassungsvertrages geworden ist, erwartet werden kann, ist offen; als Institut hat sie jedenfalls diese Signalwirkung bisher nicht entfalten können, sonst wäre sie seit ihrer Ein___________ 64 Cuntz (Fn. 16), S. 137; Gaja, G., How Flexible is Flexibility under the Amsterdam Treaty, in: Common Market Law Review (CMLRev.) 98, S. 855 (859).

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führung durch den Vertrag von Amsterdam wenigstens ein einziges Mal genutzt worden. Sicher ist aber, dass die stärker integrationswilligen Mitgliedstaaten nicht mehr in der Zukunft genötigt sind, auf eine intergouvernementale Zusammenarbeit außerhalb der europäischen Integrationsgemeinschaft zurückzugreifen, wenn sie gemeinsame Ziele verwirklichen wollen, die vom Tableau der Gründungsverträge und des Verfassungsvertrags umfasst sind. Dies ist aber wieder gleichzeitig eine der Achillesfersen des neuen Instituts: Nur für vertraglich festgelegte Politiken und nur durch Vollmitglieder der Europäischen Union ist eine „Verstärkte Zusammenarbeit“ begründbar und vollziehbar. Neue Politikfelder lassen sich auf diese Weise nicht eröffnen; sollen sie integrativ in Angriff genommen werden, bleibt auch den Mitgliedstaaten der Europäischen Union nur der Weg zu bilateralen oder multilateralen Kooperationen außerhalb der Verträge und des europäischen Verfassungswerkes. Dass dies den Mitgliedstaaten nicht untersagt ist, wurde bereits oben dargelegt. Geschieht aber solches, so ist die Gefahr eines desintegrativen Rückstoßes auf die Europäische Union nicht von der Hand zu weisen. Ob es dann nicht besser ist, die kleinen Integrationsfortschritte den großen vorzuziehen und das Geschäft der europäischen Einigung zwar planmäßig, aber unauffälliger als das zurzeit geschieht, zu betreiben?

4. Praktikabilität der Regelungen über die „Verstärkte Zusammenarbeit“ – von Amsterdam über Nizza bis zum Europäischen Verfassungsvertrag? Der Einbau des Instruments der „Verstärkten Zusammenarbeit“ in die Verträge und in die Europäische Verfassung macht den Eindruck der Halbherzigkeit, des Unfertigen, des Wollens und doch wieder Nichtwollens. Die normativen Regelungen sind so unübersichtlich und zerrissen, dass sie kaum zur wissenschaftlichen Bearbeitung einladen, geschweige denn zu ihrer Umsetzung in die Praxis. Die „Verstärkte Zusammenarbeit“ ist zwar als allgemeines Instrument ausgestaltet, also nicht auf bestimmte Politiken eingegrenzt (auch wenn im Bereich der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik Besonderheiten eingebaut sind), aber ihr Anwendungsbereich innerhalb des vertraglichen Rahmens ist doch so verhältnismäßig eng, dass sie sicherlich nicht grundsätzliche integrative Impulse vermitteln wird. Ihr Feld ist eher Implementation denn Innovation. Sie ist nur als letztes Mittel zulässig, sie kann nur auf den vergemeinschafteten Politikfeldern stattfinden und auch dort nicht, soweit es sich um ausschließliche Zuständigkeiten der Union handelt. Eine Adaption neuer Politikfelder, wie dies bei früheren Partialintegrationen stattfand, ist heute nicht mehr möglich. Immerhin ist das Vetorecht eines Mitgliedstaates, das im Amsterdamer Vertrag enthalten ist, gefallen. So mag die „Verstärkte Zusammenarbeit“ wohl in Einzelfällen einmal von der Papierform ins reale Leben wech-

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seln, den wirklichen Integrationsschub wird man von ihr aber wohl nicht erwarten können. Wird bei der Neuaufnahme von Mitgliedstaaten in Zukunft weniger auf Quantität als auf Qualität geachtet, wird der Zeitfaktor in dem Maße berücksichtigt, als er Berücksichtigung verdient, wird die Politik der kleinen Schritte auch von ehrgeizigen Politikern als den großen Paukenschlägen fallweise überlegen angesehen, so wird es eines Rekurses auf das wenig biegsame, überregulierte Institut der „Verstärkten Zusammenarbeit“ nicht bedürfen – zum Wohle Europas und der in ihm lebenden Menschen.

Die Beziehungen zwischen der Türkei und der Europäischen Union und die neuen Entwicklungen Füsun A. Arsava

Der Assoziationsvertrag von Ankara vom Jahre 1963 bildet die Grundlage für die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der Türkei. Der Vertrag sieht drei Phasen der Annäherung vor: die Vorbereitungsphase, die Übergangsphase und die Endphase. Mit dem Zollunionsbeschluss des Assoziationsrates vom 6. März 1995 wurde die Übergangsphase abgeschlossen. Seitdem befindet sich die Türkei in der Endphase, die die Türkei gemäß Art. 28 des Assoziationsvertrags von Ankara zur Vollmitgliedschaft führen soll. Laut Art. 28 des Assoziationsvertrags „werden die Vertragsparteien die Möglichkeit eines Beitritts der Türkei zur Gemeinschaft prüfen, sobald Aussicht besteht, dass die Türkei Verpflichtungen aus dem Gründungsvertrag der EWG vollständig übernimmt“. 1 Der Zollunionsbeschluss des Assoziationsrates stellt in den Beziehungen nicht nur deswegen einen Wendepunkt dar, weil damit die Übergangsphase abgeschlossen wurde und die Endphase angefangen hatte, sondern auch deswegen, weil dadurch umfassende wirtschaftsrechtliche Reformen veranlasst wurden. Diese Reformen wurden teilweise vor dem Inkrafttreten des Zollunionsbeschlusses vorgenommen. Die Restreformen müssen im Laufe der Endphase mit der Dynamik des EU-Rechts weiter gehen. Auf dem Gipfel von Helsinki im Jahre 1999 erhielt die Türkei parallel zu den anderen zwölf Kandidatenstaaten den Beitrittsassoziationsstatus.2 Die Erfüllung der Kopenhagener Kriterien von 1993 wurde auf diesem Gipfel als einzige Voraussetzung für die EU-Mitgliedschaft betrachtet. Im Jahre 1993 konkretisierte der Europäische Rat von Kopenhagen diese Anforderungen insoweit, als Staaten „als Voraussetzung für die Mitgliedschaft eine institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, für die ___________ 1 Riemer, A. K., Die Türkei und die Europäische Union, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), 2003, S. 10 f. 2 Özel, S., Der lange Weg nach Europa. Die Saga von den Beziehungen der Türkei zur EU, in: Internationale Politik (IP), November/ Dezember 2004, S. 115 ff.; Lippert, B., Von Kopenhagen bis Kopenhagen: Eine erste Bilanz der EU-Erweiterung, in: APuZ, B.1-2/2003, S. 7 ff.

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Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten“ verwirklicht haben müssen. Weitere an den Beitrittsstaat gerichtete Voraussetzungen sind die Verwirklichung von Markwirtschaft und Wettbewerbsfreiheit sowie die Übernahme des Rechtsbestandes der Europäischen Union. Die Fähigkeit der Union, neue Mitglieder aufzunehmen, dabei jedoch die Stoßkraft der europäischen Integration zu erhalten und ihren inneren Zusammenhalt und ihre grundlegenden Prinzipien zu wahren, stellt ebenfalls einen sowohl für die Union als auch für die Beitrittskandidaten wichtigen Gesichtspunkt dar. Jede Erweiterung der Union und jeder Beitrittsantrag sind deswegen aus zwei Perspektiven zu betrachten, einer Außen- und einer Binnenperspektive. Die Außenperspektive nimmt in den Blick, ob der Beitrittskandidat die Kopenhagener Kriterien erfüllt. Die Binnenperspektive hingegen richtet das Augenmerk auf die Auswirkungen einer Erweiterung auf die EU selbst, auf die innere Ordnung der Europäischen Union, auf ihren Zusammenhalt, auf ihre Integrationsfähigkeit und auf das internationale System. Der in den Kopenhagener Kriterien niedergelegte Grundsätzekanon kennzeichnet die Europäische Union als Wertegemeinschaft; er ist grundlegendes Element der EU-Identität. Auf der Einhaltung dieses Wertekanons muss die Union bei der Aufnahme von weiteren Mitgliedern daher unter allen Umständen bestehen. Die Kopenhagener Kriterien von 1993 dienen als Ausgangsbasis, die jedes Land vor der Aufnahme erfüllen muss. Beitrittsverhandlungen sollten nur dann eröffnet werden, wenn die volle Erfüllung der politischen Beitrittsvoraussetzungen in Theorie und Praxis zum Zeitpunkt des Beitritts mit Sicherheit erwartet werden kann. Die Beitrittskandidaten sind gezwungen, ihre Beitrittsreife in einem enormen Anpassungsprozess bis zum Zeitpunkt der Mitgliedschaft unter Beweis zu stellen. Bewertet man im Lichte der bis jetzt verabschiedeten Harmonisierungspakte und der Verfassungsänderungen die Reformen im Bereich der Meinungsfreiheit, der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, der Bekämpfung von Folter und Misshandlungen, der zivilen Kontrolle des Militärs und der Respektierung der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, wird ersichtlich, wie die Türkei in wichtigen Bereichen große Fortschritte gemacht hat. In den letzten Jahren hat der Grundkonsens über die Marktwirtschaft, der die Voraussetzung für ein kohärentes, wirkungsvolles Wirtschaftsprogramm ist, zugenommen. Die Staatsverschuldung, die Arbeitslosigkeit, die Privatisierung der Wirtschaft und die Umstrukturierung des Wirtschaftssystems gehören dennoch momentan zu den ungelösten Wirtschaftsproblemen. In den Sektoren Banken, Telekommunikation, Energie und Landwirtschaft sind positive Veränderungen erkennbar. In den von der Zollunion erfassten Bereichen ist ein gutes Maß an Rechtsangleichung erreicht. Für andere Sektoren trifft dies in geringerem Maß zu. Um dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der

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Europäischen Union standzuhalten, steht der Türkei noch einiges bevor. Zur Umsetzung und Durchführung der EU-Vorschriften bedarf es insbesondere noch erheblicher Anstrengungen im Verwaltungsbereich (neue Strukturen, ausreichendes Personal und entsprechende Finanzmittel). 3 Bestimmt werden die europäisch-türkischen Beziehungen jedoch nicht allein von den Kopenhagener Kriterien. 4 Die Türkei verzeichnete in den vergangenen 75 Jahren ein großes Bevölkerungswachstum. Gemäß Zensus 2000 hat die Türkei zurzeit 68 Millionen Einwohner. Bei einem anhaltenden Wachstum wird die Türkei im 21. Jahrhundert die 100-Millionen-Grenze überschreiten. Gegen das Überangebot an billigen Arbeitskräften haben viele EU-Mitglieder Bedenken. Die aktuell sehr angespannte wirtschaftliche Lage innerhalb der Europäischen Union lässt diese Bedenken verständlich erscheinen. Die Bevölkerungssituation in der Türkei hätte zudem Auswirkungen auf die Entscheidungsprozesse innerhalb der Union. Da die Anzahl der EU-Parlamentarier aufgrund der Bevölkerungszahl bestimmt wird, käme der Türkei als Vollmitglied eine entscheidende Position bei Beschlüssen zu. Hinter vorgehaltener Hand ist niemand in der Europäischen Union an der Dominanz der Türkei interessiert. Die Anrainerschaft der Türkei an Iran, Irak, Armenien, Aserbaidschan und Syrien erhöht die Furcht in der Europäischen Union vor Instabilität. Der unterschiedliche Lebensstandard in der Türkei erschwert ebenfalls den Beitritt der Türkei in die Union. Im Falle eines Beitritts der Türkei müsste die Union massive finanzielle Hilfe leisten, um die Defizite auszugleichen. Dass dies nicht im Interesse der neuen Mitglieder und von Staaten wie Griechenland, Spanien oder Portugal liegt, die bisher am stärksten vom Kohäsionsfonds profitieren, ist offenkundig. 5 Bei der Frage nach einer EU-Mitgliedschaft der Türkei geht es im Kern auch um das Konstrukt „Europa“. Nach Art. 49 EU-Vertrag kann jeder Staat die Mitgliedschaft in der Union beantragen, der „europäisch“ ist. 6 Der Wortlaut dieses Artikels gibt keinen eindeutigen Leitfaden. Ist Europa ein Kulturraum, ein geographischer oder ein historischer Raum? Ist „Europa“ ein Begriff für die Einheit in Vielfalt in einem System souveräner Staaten? Die Antworten sind vielschichtig und spiegeln die Komplexität der Problematik wider. ___________ 3 Wehler, H. U., Verblendetes Harakiri. Der Türkei-Beitritt zerstört die EU, in: APuZ, B.33-34/2004, S. 6 ff. 4 Wehler (Fn.3), S.6 ff. 5 Vgl. zur Meinungsumfrage zur Vollmitgliedschaft der Türkei: Mertes, M., Enorme Unterschiede. Aktuelle Demoskopie zum EU-Beitritt der Türkei, in: IP, Januar 2005, S. 61 ff. 6 Meier, G., Ernstgemeinte Ratschläge für ewig gestrige, die immer noch den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union verhindern wollen, in: Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (EuZW) 5/2005, S. 134.

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Das Konzept der „europäischen Gesellschaft“ rückt die gemeinsame Kultur und Geschichte, die gemeinsamen Werte, Interessen, Regeln, Abkommen und Institutionen in den Mittelpunkt. In der Perspektive des Gesellschaftskonzepts verbindet Europa gemeinsame Werte und Institutionen. 7 Es geht in diesem Rahmen um die Eigen- und Fremdperzeption: Wer sind „wir“ und wer sind „die Anderen“? Dieses Argument hat zwar nie Eingang in offizielle EU-Dokumente gefunden, von Einzelpersonen wird beispielsweise „die islamische Karte“ aber immer wieder gespielt. In dieser Rhetorik liegt eine Art „Kulturclubgedanke“. Weder in den Römischen Verträgen von 1957 noch in den anderen Gründungs- oder Ausgestaltungsverträgen war der Aspekt der „christlichabendländischen Identität“ ein Thema. Keiner der EU-Verträge bezieht sich an irgendeiner Stelle, weder in der Präambel noch in einschlägigen Artikeln, auf die Begriffe „christlich-abendländisch“, „christlich“ oder „abendländisch“. Ganz im Gegenteil: In der Präambel des EU-Vertrags wird die Überwindung der Teilung des europäischen Kontinents angestrebt und in der Präambel der konzipierten EU-Verfassung wird die Entschlossenheit der Völker Europas, „die alten Trennungen zu überwinden“, angesprochen. Europa sollte „in Vielfalt geeint“ sein und „den Reichtum seiner kulturellen und sprachlichen Vielfalt wahren“. In Art. 2 Abs. 2 steht sogar: „Die Union steht allen europäischen Staaten offen, die ihre Werte achten und sich verpflichten, ihnen gemeinsame Geltung zu verschaffen“. Die Hauptsorge ist übrigens unbegründet, nämlich dass es als Ergebnis des Beitritts der Türkei zu einer verstärkten Islamisierung der Europäischen Union kommen würde. In den EU-Ländern leben bereits etwa 15 Millionen Muslime. 8 Das Islamismus-Argument ist deswegen ein Scheinargument, das leicht zu entkräften wäre. 9 Der Islam gehört zu Europa. In Europa gibt es zwei muslimische Staaten, Albanien und Bosnien. Es ist also völlig unangebracht, den Islam aus Europa verdrängen zu wollen. Es geht um das tolerante Zusammenleben von Menschen mit verschiedenem religiösem und kulturellem Hintergrund. Der „Clash of civilisations“ würde sonst vor der EU-Haustür stattfinden, falls auf Grund der Religion der Beitritt der Türkei erschwert würde. Die Instrumentalisierung des Christentums kann politisch sogar gefährlich sein. Denn eine Betonung der angeblich fehlenden Kulturkreiszugehörigkeit kann ein ausgrenzendes und kategorisches Wir-Gefühl in der Bevölkerung erzeugen, welches zu unerwünschten Folgeerscheinungen führen kann; so kann es Überlegenheitsgefühle auf europäischer und auf türkischer Seite auslösen und auf diese Weise Minderwertigkeitskomplexe oder unerwünschte Animositäten schüren. Diese dürften zwar aufgrund historischer Erfahrungen ___________ 7 Steinbach, U., Die Türkei und die EU. Die Geschichte richtig lesen, in: APuZ, B.33-34/2004, S. 3 ff. 8 Kyaw, D. v., Grenzen der Erweiterung. Die Türkei ist ein Teil des „Projekts Europa“, in: IP, März 2003, S. 47 ff. 9 Steinbach (Fn. 7), S. 5.

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ungewollt sein, könnten aber politisch unkontrollierbar werden. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn man davon ausgeht, dass sich das Wir-Gefühl dynamisch fortentwickelt und eines Tages politischen Entscheidungen im Wege steht. Diese Aspekte gewinnen vor allem dort an Relevanz, wo bereits wirtschaftlich und sicherheitspolitisch wichtige Annäherungsprozesse und vertrauensbildende Maßnahmen zwischen der Türkei und der Europäischen Union in Gang gesetzt worden sind. Diese positive Entwicklung kann durch eine missverständliche Rhetorik in eine Sackgasse geraten. 10 Die Türkei ist übrigens der einzige laizistische Staat, dessen Bevölkerung überwiegend muslimisch ist. Die Leute müssen in Zukunft in ihrem Land zusammen mit anderen Kulturen leben lernen. Die Religionen müssen sich gegenseitig tolerieren. Alles andere ist eine Frage von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Europa stellt nicht nur ein Gesellschaftssystem, sondern auch ein internationales System dar. Die Europäische Union ist ein System souveräner Staaten. Obwohl die Mitgliedsländer in vielen Bereichen Kompetenzen an die Union abgeben mussten, steht die Sicherung der eigenen Position nach wie vor im Mittelpunkt. Das mit dem Westfälischen Frieden (1648) und dem Frieden von Utrecht (1713) etablierte Konzept der Souveränität hat bis heute nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Diese Definition von Europa war und ist eng mit machtpolitischen Aspekten und der Idee des politischen Gleichgewichts verbunden. Diese beiden Perspektiven, nämlich die Gesellschaftsperspektiven und die Perspektiven des internationalen Systems, die Europa ausmachen, gehen weit über geographisch-historische Abgrenzungen hinaus. Sie sind komplementär für die Mitgliedschaft eines Staates bestimmend. Dieses Gesamtpaket macht Europa aus und zieht die Linie zwischen den EU-Mitgliedern und den nicht EU-Mitgliedern. Wenn die Union ein Gesellschaftssystem und ein internationales System zugleich darstellt, können die Mitgliedstaaten nicht nur Teil des einen oder des anderen Systems sein. Die Europäische Union ist heute nicht mehr nur eine auf Integration ausgerichtete Gemeinschaft mit gemeinsamen Wertvorstellungen, sondern in verstärkter Weise zugleich eine Union von Staaten, der die Gewährleistung von Stabilität in Europa obliegt. Diese Komplexität bereitet im Falle der Türkei große Probleme. Die Erfüllung der Kopenhagener Kriterien reicht allein für die EU-Mitgliedschaft nicht aus. Weit über diese hinaus spielen die machtpolitischen Interessen der Mitgliedstaaten eine große Rolle. Während des Kalten Krieges brauchte die Europäische Union wegen der geostrategischen Lage die Türkei. Die großzügigen Versprechungen in dieser Phase sind überwiegend von der Dominanz der damaligen Machtinteressen ausgegangen. Die Kalte-Kriegs-Zeit ist vorüber. 11 Das Ende des Kalten ___________ 10 11

Ondarza, P. v., in: IP, Juli 2005, S. 90. Özel (Fn. 2), S. 115 ff.

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Krieges verringerte die strategische Bedeutung der Türkei aber nicht. Die Türkei ist ein Eckpfeiler in der globalen Strategie für den Nahen und Mittleren Osten und für den Persischen Golf. Ökonomisch und strategisch spielt die Türkei zwischen Ost und West auch als Energiebrücke eine wichtige Rolle. Dementsprechend kann die Türkei für den Transport des Rohstoffs aus dem Kaspischen Raum nach Europa eine ausschlaggebende Funktion übernehmen. Die Eröffnung der Baku-Tbilisi-Ceyhan-Pipeline und der Blue-Stream-Pipeline sind die ersten Schritte auf diesem Weg. Die Türkei liegt an der Schnittstelle von Nahem Osten, Kaukasus und Südosteuropa. Die Türkei kann mit ihrer Brücken- oder Bindegliedrolle sowohl zur Zuspitzung als auch zur Entschärfung des Konflikts in dieser Region beitragen. 12 Auch wenn die dominierende Rolle im internationalen System zurzeit von den Vereinigten Staaten von Amerika übernommen ist, 13 will die Europäische Union im internationalen System auf seine Rolle als eine Weltmacht anderen Typs nicht verzichten. Die Union ist sich dessen bewusst, dass langfristige Stabilität und Sicherheit in Europa nur zu garantieren sind, wenn Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und die Achtung der Menschenrechte sich als gemeinsame Werte in Europa etablieren. Die Europäische Union hat deswegen die ehemaligen Ostblockstaaten aufgrund der historischen Verantwortung in die Union aufgenommen. Die „Idee Europa“ hat eine ungeheure Anziehungskraft. Die Menschen leben für dieselben Ziele und Ideale. Die Kopenhagener Kriterien bilden in diesem Sinne ein Orientierungsmittel für die Beitrittskandidaten, das friedlich zum Systemwandel der Einbindung Südosteuropas in europäische Strukturen führt. 14 Die Europäische Union bietet eine Art Leitfaden für die alle Wirtschafts- und Gesellschaftsbereiche umfassenden Reformen. Mit der Erweiterung ist Europa bereits eine kontinentale Macht geworden. Die Mitgliedschaft der Türkei bedeutet für die weltpolitische Rolle der Europäischen Union gleichfalls einen quantitativen Schritt nach vorne. In dem Moment, in dem die Türkei Mitglied ist, wird Europa ein globaler Akteur. 15 Die Stabilität und Sicherheit der Türkei garantiert auch die Stabilität und Sicherheit von Europa. Eine demokratische und entwickelte Türkei, die in die Institutionen der Union

___________ 12

Guérot, U. / Witt, A., Europas neue Geostrategie, in: APuZ, B. 17/2004, S. 6 ff. Die Vereinigten Staaten von Amerika unterstützen nachdrücklich Ankaras Streben nach EU-Mitgliedschaft und seine Forderung nach Eröffnung von Beitrittsverhandlungen; siehe: Larrabee, F. S., Die Türken vor Brüssel. Eine amerikanische Sicht der Beziehungen zwischen der Türkei und der EU, in: IP, November/Dezember 2004, S. 125 ff. 14 Hartwig, I., Die Europapolitik Rumäniens. Entwicklung institutionalisierter Kooperation, 2001; zu Rumänien und Bulgarien als Beispiele siehe Leiße, O., Rumänien und Bulgarien vor dem EU-Beitritt, in: APuZ 27/2006, S. 7. 15 Steinbach (Fn. 7), S. 3. 13

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integriert ist, stellt den regionalen Nachbarstaaten mit ihren Wertvorstellungen ein gutes Modell dar. Die Europäische Union braucht klar eine Phase der Konsolidierung, der Erweiterung und Konzentration auf die politischen und wirtschaftlichen Ziele der Union selbst. Sie befindet sich in einer kritischen Phase ihrer Entwicklung. Wenn wir die letzten 15 Jahre betrachten, kann man die Dynamik der Union einfach als atemberaubend bezeichnen. 16 Binnenmarkt, Währungsunion, Erweiterung um zehn Staaten im Mai 2004, die Erweiterung um Bulgarien und Rumänien und die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, Verfassung, Außenund Sicherheitspolitik, Innen- und Rechtspolitik sind lauter Marksteine in sehr kurzer Zeit. Es ist ganz sicher, dass sich dieser Prozess verdichten und es auf diesen Feldern zu mehr Integration kommen wird. Auf dem Kopenhagener Gipfel vom Jahre 2002 haben sich die Staats- und Regierungschefs für die Eröffnung der Verhandlungen mit der Türkei auf den nächstmöglichen Termin nach dem 2004 fälligen Prüfungsbericht der Kommissionen geeinigt. 17 Dieses Ergebnis des Kopenhagener Gipfels vom Jahre 2002, das der Türkei kein konkretes Datum für den Beginn der Beitrittsverhandlungen in Aussicht gestellt hat, bedeutete für die Türkei eine große Enttäuschung. In der Empfehlung zur Türkei vom Oktober 2004 sprach endlich die Kommission von „einer erheblichen Annäherung des rechtlichen und institutionellen Rahmens an europäische Standards“. Die Europäische Kommission bescheinigte der Türkei damit eine funktionierende Demokratie und die Wahrung der rechtsstaatlichen Grundsätze. Es blieben jedoch wichtige Fragen, die soweit wie möglich ausgeräumt werden müssen. Dabei handelte es sich um: Justizreform, andauernde Fälle von Menschenrechtsverletzungen, Religionsfreiheit, Rechte der Frau sowie die zivile Kontrolle des Militärs. Zugleich betonte sie, dass sich „die Unumkehrbarkeit des Reformprozesses erst über einen längeren Zeitraum bestätigen“ müsse. Im Ergebnis hat die Kommission die politischen Kriterien bereits in „ausreichender Weise“ für erfüllt gehalten, um Beitrittsverhandlungen zu eröffnen. Gemäß den Kopenhagener Beitrittskriterien ist die Erfüllung der politischen Kriterien für die Aufnahme von Verhandlungen vorausgesetzt. Die Erfüllung der wirtschaftlichen Kriterien ist dagegen Voraussetzung für den Abschluss der Verhandlungen. Der Beschluss des Europäischen Rates ___________ 16 Wagner, C.-L., Europa vor und nach der Erweiterung, in: Arndt, H.-W. et al. (Hrsg.), Völkerrecht und deutsches Recht. Festschrift für Walter Rudolf zum 70. Geburtstag, 2001, S. 223 ff.; Arsava, A. F., 17 Aralik 2004 zirvesi isiginda Kibris sorunu, Ankara Üniversitesi Avrupa Topluluklari Arastirma ve Uygulama Merkezi, Bahar 2005, sayi 2, S. 2 ff. 17 Arsava, A. F., Kopenhag zirvesi isiginda Türkiye-AB iliksileri, in Persembe Konferanslari (Hrsg. Rekabet Kurulu), 2002, S. 4 ff.; Arsava, A. F., Cyprus Issue in the New Process on the Way of European Union Membership. The Diplomatic Newsbridge, February 2005, S. 22 ff.

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vom 17. Dezember 2004 nannte die Vollmitgliedschaft der Türkei als vorrangiges Ziel der Beitrittsverhandlungen. Gleichzeitig bezeichnete er die Verhandlungen im Ergebnis offen, setzte viele „Wenn“ und „Aber“ ein und schloss ein Aussetzen oder gar einen Abbruch der Verhandlungen nicht aus. Dieser Ausgangspunkt hat sowohl mit Blick auf die Fortsetzung des Reformprozesses in der Türkei, auf die Integrationsfähigkeit der Union als auch auf die „privilegierte Partnerschaft“ mit der Türkei viel zur Diskussion beigetragen. 18 Man muss kein Hellseher sein, um vorherzusagen, dass sich die langen Beitrittsverhandlungen mit der Türkei im Lichte der verschiedenen Gesichtspunkte als besonders schwierig erweisen werden. Die Zumutungen werden für die Türkei groß sein. Übergangs- und Ausnahmeregelungen sowie Schutzklauseln bislang ungekannten Ausmaßes werden der Türkei die Vollmitgliedschaft schwer machen. Die privilegierte Partnerschaft wird von denjenigen, die sie vertreten, nicht näher beschrieben. Gibt die Türkei ihr Ziel der Vollmitgliedschaft zugunsten einer privilegierten Partnerschaft mit der Europäischen Union auf, die strategische Elemente einschließt und auf wirtschaftlicher Ebene die Zollunion als Maximum akzeptiert, würde dies eine Abkehr vom Ankara-Vertrag aus dem Jahre 1963 bedeuten. Diese Variante, die von der Union immer wieder gerne ins Spiel gebracht wird, ist jedoch mit den bisherigen EU-Beschlüssen und Versprechungen schwer zu vereinbaren. Seit dem Assoziationsvertrag von Ankara mit der EWG aus dem Jahre 1963 hat die Türkei an der ihr zugesicherten Beitrittsperspektive festgehalten und ihre Entschlossenheit in Bezug auf die Mitgliedschaft durch umfassende Reformschritte bestätigt. Die seit 1996 gültige und inzwischen gut funktionierende Zollunion und die auf dem HelsinkiGipfel des Jahres 1999 ausdrücklich bestätigte Kandidatur der Türkei untermauert ganz offen den Vollmitgliedschaftswillen der beiden Seiten. Die Türkei akzeptiert, dass die Union nicht nur eine Wirtschafts- und Stabilitäts-, sondern auch eine Wertegemeinschaft, eben eine politische Union, ist. Sie wehrt sich aber dagegen, wenn die Union sich ihr gegenüber als ein seine Verpflichtungen vernachlässigender Club verhält, der Kultur- und Glaubensunterschiede als Ausschlussgründe pflegt. Sie sieht sich deswegen gegenüber anderen Kandidaten diskriminiert. Gleichzeitig ist die Türkei sich ihres Gewichts und ihrer Rechtsposition gegenüber der Europäischen Union bewusst. Man kann mit der Türkei über die Frage des „Wann“ und „Wie“ eines Beitritts reden, nicht aber über eine privilegierte Partnerschaft. 19 Der Zug für alternative Lösungen wie ___________ 18 Winkler, H. A., Die Grenzen der Erweiterung. Die Türkei ist kein Teil des „Projekts Europa“, in: IP, Februar 2003, S. 65 f.; Langenfeld, C., Erweiterung ad infinitum? – Zur Finalität der Europäischen Union, in: ZRP 2005, S. 73 ff. 19 Peter Glotz weist auf den Artikel 42 des Vorentwurfes zur europäischen Verfassung hin; siehe Glotz, P., Chance für ein vereintes Europa. Der Kopenhagener Gipfel in realistischer Perspektive, in: APuZ B.1-2/2003, S. 6.

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eine „Mitgliedschaft minus“ oder eine „Assoziation plus“ ist längst abgefahren, denn eine „privilegierte Partnerschaft“ besteht mit der Türkei bereits seit der Vollendung der Zollunion. Gegenüber der Türkei besteht seit 1963 ein rechtliches wie politisch verpflichtendes und wiederholt bestätigtes Beitrittsversprechen. Sicher ist, dass die Türkei an ihrem Beitritt festhalten wird und sich die Union auf absehbare Zeit damit beschäftigen muss. Aufgrund der historischen Verbundenheit mit der Union und der strategischen Lage kann die Türkei von der Europäischen Union nicht ausgeschlossen bleiben. Dieser Gedanke findet seinen Ausdruck im Ratsbeschluss vom 3. Oktober 2005, der den Verhandlungsrahmen mit der Türkei bestimmt. Die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ist eine welthistorische Entscheidung. Sie ist nicht mehr zu ändern, wenn sie einmal getroffen ist. Der Beitrittsprozess der Türkei wird sich schwieriger als der für die anderen bereits beigetretenen Mittel- und Osteuropastaaten gestalten. Die Türkei wird während der Verhandlungsphase aber weiter entschlossen in Richtung zur Vollmitgliedschaft fortschreiten. Die „Road Map“ der Europäischen Union avisierte die Aufnahme der Türkei am frühesten für das Jahr 2014. Der Verhandlungsprozess ist offen und wird mindestens zehn Jahre dauern. Die Verhandlungen zwischen der Union und der Türkei wurden gleich nach dem Europäischen Ratsbeschluss vom 3. Oktober 2005, der den Verhandlungsrahmen bestimmte, aufgenommen. Voraussichtlich wird es die Türkei mit der erfolgreichen Schließung aller 35 Verhandlungskapitel nicht leicht haben. Der Verhandlungsprozess der Türkei ist nicht ungetrübt. Insbesondere erweisen sich der Vorbehalt zur Rücknahme der Beitrittszusage und stattdessen die festere Verankerung der Türkei in den europäischen Institutionen, ferner die so genannten „Benchmark“-Kriterien und Schutzklauseln und die Anerkennungsforderung der Zypriotischen Republik seitens der Türkei als brisant. Die Union kann jeder Zeit für das einzelne Kapitel neue „Benchmarks“ hervorbringen. Das heißt, dass jedes Kapitel nach der Verhandlung nur provisorisch geschlossen werden kann; die Union behält sich Schutzklauseln in den Bereichen der Personenfreiheit, des Agrarfonds usw. vor. Für die Türkei wird dadurch die dauerhafte Einschränkung des Gemeinschaftsrechts erwogen. Die Zypriotische Republik wurde im Mai 2004 als Vollmitglied in die Union aufgenommen. Auf dem Gipfeltreffen vom 17. Dezember 2004 wurden der Türkei unter Bedingungen Verhandlungen zugesagt: die Türkei solle die – damals – zehn neuen EU-Mitglieder, unter denen die Zypriotische Republik zu zählen ist, als Vertragspartner des Ankara-Vertrags vom Jahre 1963, der das Assoziationsverhältnis zwischen der Union und der Türkei begründet hatte, akzeptieren und dazu ein Zusatzprotokoll bis zum 3. Oktober 2005 unterzeichnen. 20 Als die Türkei das Zusatzprotokoll im Juli 2005 unter___________ 20 Arsava, A. F. (Fn. 17), S. 2 ff.; Arsava, A. F., Ek Protokol Tartisilmali, SiyasiAktüel Dergi; Yanki, Kasim 2005, S. 22 ff.

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zeichnete, erklärte eine Deklaration, dass die Unterzeichnung des Zusatzprotokolls seitens der Türkei nicht die Anerkennung der Zypriotischen Republik zur Folge habe. Auf diese Deklaration reagierte die Union im September 2005 mit einer Gegen-Deklaration; in der Gegen-Deklaration wurde betont, dass die Deklaration für die Türkei völkerrechtlich unverbindlich sei und die Türkei bis Ende 2006 die aus dem Zusatzprotokoll entstehenden Verpflichtungen einschließlich zur Öffnung der See- und Flughäfen erfüllen solle; andernfalls werde man, so wurde der Türkei gedroht, die Verhandlungen einstellen. Die Türkei verschiebt momentan die Ratifizierung des Zusatzprotokolls auf die Aufhebung der wirtschaftlichen Isolation gegenüber der Türkischen Republik von Nordzypern. Die aufgenommenen Verhandlungen gehen zurzeit im Schatten des Zypernkonflikts weiter. Solange die Lösung des Zypernkonflikts weit über die Kopenhagener Kriterien hinaus Voraussetzung für die Mitgliedschaft ist, wird die Türkei-Mitgliedschaft wahrscheinlich lange Zeit auf der EU-Tagesordnung bleiben. Der unvoreingenommene Betrachter merkt schnell, dass sich diese Beitrittsverhandlungen von allen bisherigen unterscheiden; die Türkei ist kein Kandidat wie alle anderen. Während mit allen früheren Bewerbern darum gerungen wurde, „wie“ der Beitritt vollzogen werden solle, geht es mit der Türkei um das „Ob“. Für die Verhandlungen spielt es natürlich eine Rolle, dass die Türkei den Kopenhagener Kriterien genügt, die der Europäische Rat 1993 entwickelt hat. Damit besteht aber die Gefahr, dass die Beitrittsverhandlungen, sollen sie denn erfolgreich beendet werden, auf den letzten Metern scheitern könnten, nämlich bei der Ratifizierung. Einige Staats- bzw. Regierungschefs haben den Beschluss des Rates vor der eigenen Bevölkerung oder vor sich selbst dadurch gerechtfertigt, dass sie ein abschließendes Referendum angekündigt haben. Frankreich hat sogar seine Verfassung entsprechend geändert. Damit soll gesagt werden: Es ist ja noch nicht entschieden, ihr könnt am Ende alles ablehnen. Das heißt: Der Beitrittsvertrag wird in einem oder mehreren Mitgliedstaaten keine Billigung finden. An einem solchen Ausgang kann niemand Interesse haben. Um die Enttäuschung und den Zeitverlust zu vermeiden, dürfen daher die beiden Seiten die Grundentscheidung nicht auf die Zukunft verschieben, sondern müssen fair miteinander, bevor es zu spät ist, klären, wie bzw. ob überhaupt die Beziehung miteinander geregelt werden kann. Zum „europäischen Rechtskulturerbe“ gehört der aus dem Römischen Recht stammende Grundsatz „pacta sunt servanda“. Wer ihn gegenüber der Türkei ignoriert, macht sich unglaubwürdig und schwächt die offizielle EU-Position, wonach die Türkei wie jeder andere Kandidat nur nach ausreichender Vorbereitung und Erfüllung der Kopenhagener Beitrittskriterien in die Europäische Union aufgenommen werden kann. Es handelt sich hierbei um bindende und ganz bewusst beschlossene Festlegungen des Gemeinschaftsrechts, die schon

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damals auf das Ziel einer fortschreitenden Integration ausgerichtet waren. Das verdeutlichen insbesondere die Ausführungen von Hallstein bei der Unterzeichnung des Ankara-Vertrags.21

___________ 21 Hallstein, W., Europäische Reden, hrsg. von Th. Oppermann, 1979, S. 439; Kyaw (Fn. 9), S. 50.

Wer sind die Herren der Europäischen Verfassung? Norbert Riedel

I. Einleitung Der am 29. Oktober 2004 in Rom von den Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union unterzeichnete 1 „Vertrag über eine Verfassung für Europa“ sollte ein Meilenstein in der Geschichte der europäischen Einigung sein. Nachdem die Verfassungsreferenden in Frankreich 2 und in den Niederlanden 3 gescheitert sind, hat es Europa nicht nur mit einer Verfassungskrise zu tun, sondern wohl auch mit etwas, das als Vertrauenskrise umschrieben werden kann. 4 Die Menschen sind gegenüber dem gemeinsamen Projekt Europa skeptischer geworden. Sie sehen Europa nicht mehr in jedem Fall als Teil der Antwort auf viele Fragen und als Teil der Lösung von Problemen, sondern vielleicht sogar als Teil der Probleme. Es scheint, als hätten sich die Bürger gegen die Vorstellungen der europäischen Regierungen und Parlamente von einer Verfasstheit der Europäischen Union ausgesprochen. Ein Machtwort also, das darauf hindeutet, dass nicht die ___________ 1 Vertrag über eine Verfassung für Europa, CIG 87/2/04 vom 29.10.2004; Protokolle und Anhänge I und II zum Vertrag über eine Verfassung für Europa, CIG 87/04 ADD 1 REV 1 vom 13.10.2004; Erklärungen zur Schlussakte der Regierungskonferenz und Schlussakte, CIG 87/04 ADD 2 REV 2 vom 25.10.2004 (Amtsblatt der Europäischen Union vom 16.12.2004). 2 Am 29.05.2005 stimmen 54,87 % der Franzosen mit „Nein“ gegen den Europäischen Verfassungsvertrag. 3 Am 01.06.2005 stimmten 61,6 % der Niederländer mit „Nein“ gegen den Europäischen Verfassungsvertrag. 4 Dabei hatten vor dem Referendum bereits neun Staaten den Vertrag ratifiziert. Die Zustimmung der Parlamente zur Europäischen Verfassung erfolgte in Litauen am 11.11.2004, in Ungarn am 20.12.2004, in Slowenien am 01.02.2005. In Italien am 25.01.2005 (Abgeordnetenhaus) bzw. 06.04.2005 (Senat), in Griechenland am 19.04. 2005, in der Slowakei am 11.05.2005, in Spanien nach einem erfolgreichen Referendum (20.02.2005) am 28.04.2005 (Abgeordnetenhaus) bzw. 18.05.2005 (Senat), in Österreich am 11.05.2005 (Nationalrat) bzw. 25.05.2005 (Bundesrat). In Deutschland stimmten der Bundestag am 12.05.2005 und der Bundesrat am 27.05.2005 zu. Aufgrund einer anhängigen Verfassungsklage hat der Bundespräsident allerdings die Unterzeichnung der Ratifizierungsurkunde ausgesetzt.

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Mitgliedstaaten, sondern die nationalen Bürger in Wahrheit die „Herren der Verträge“ sind. 5 Die Europäische Verfassung betont an vielen Stellen die Bedeutung der Unionsbürger. In den Bestimmungen über das Europäische Parlament erklärt sie dieses zum Ort der Repräsentation der Unionsbürger und nicht mehr, wie bisher, der Völker. Dieter Blumenwitz hatte auf die Frage: „Wer gibt die Verfassung Europas?“ 6 eine klare Antwort: „Die verfassunggebende Gewalt liegt in Europa beim Bürger, der weiterhin durch seine mitgliedstaatliche Staatsangehörigkeit mediatisiert wird, aufgrund seiner Unionsbürgerschaft (Art. 17 EGV) aber auch einen auf die Union bezogenen politischen Status besitzt.“ 7 Für Blumenwitz leiteten sich daraus konkrete politische Forderungen ab. Dem besonderen politischen Status als Unionsbürger sollte bei der Verabschiedung des Verfassungsvertrags in besonderer Weise Rechnung getragen werden, zum Beispiel „durch ein konsultatives Plebiszit in Zusammenhang mit den Europawahlen“. 8

II. Die Herren der Europäischen Verfassung 1. Die Rolle der Mitgliedstaaten Vertragsparteien der europäischen Verträge sind die Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Dies hat auch das Bundesverfassungsgericht in seiner Maastricht-Entscheidung 9 hervor gehoben: „Deutschland ist einer der ‚Herren der Verträge‘, die ihre Gebundenheit an den „auf unbegrenzte Zeit“ geschlossenen Unions-Vertrag (...) mit dem Willen zur langfristigen Mitgliedschaft begründet haben, diese Zugehörigkeit aber letztlich durch einen gegenläufigen Akt auch wieder aufheben können.“ 10 Diese Feststellung entsprach der allgemeinen Auffassung der Regierungen der Mitgliedstaaten, die in den Schluss___________ 5 So auch Häberle, P., Juristische und politische Konsequenzen des doppelten Neins von Frankreich und den Niederlanden zur EU-Verfassung, in: Bausback, W. / Irmscher, T. (Hrsg.), Recht und Menschlichkeit, Reden und Festvortrag zur akademischen Gedächtnisfeier für Dieter Blumenwitz, 2006, S. 29 ff. (32). 6 Vgl. Blumenwitz, D., Wer gibt die Verfassung Europas?, in: Politische Studien, Sonderheft 1/2003, Februar 2003, S. 44 ff., sowie Blumenwitz, D., Der Europäische Verfassungsvertrag – Die Chancen und Gefahren des Entwurfs für das Gelingen von Erweiterung und Vertiefung der Europäischen Union, in: ZfP 2004, S. 115 ff. 7 Blumenwitz (Fn. 6), in: ZfP 2004, S. 130. Vgl. auch Tomuschat, Ch., Staatsbürgerschaft – Unionsbürgerschaft – Weltbürgerschaft, in: Drexl, J. et al. (Hrsg.), Europäische Demokratie, 1999, S. 73 ff. 8 Blumenwitz (Fn. 6), in: Politische Studien 2003, S. 44 ff. (50). 9 BVerfGE 89, 155 ff. 10 BVerfGE 89, 155 (189).

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folgerungen zum Europäischen Rat in Maastricht bekräftigt hatten, dass die Staaten selbst weiterhin Herren der Verträge und ihrer Fortentwicklung seien. 11 Die eigentliche Herrschaft über die Verträge verbleibe bei der Exekutive, den Regierungen, da die Mitgliedstaaten nicht selbst handeln könnten. Diese seien auf das vertraglich vorgesehene Verfahren festgelegt. 12 Die Europäische Verfassung ist im eigentlichen Sinne ein Verfassungsvertrag. 13 Mit ihm sollten die geltenden Europäischen Verträge 14 geändert und weiterentwickelt werden. Parteien eines völkerrechtlichen Vertrages können nur Völkerrechtssubjekte sein. 15 Staaten können von ihrer Fähigkeit, Verträge zu schließen, nur Gebrauch machen, indem sie durch Organe handeln. Grundsätzlich bestimmen die Mitgliedstaaten die für sie beim Abschluss europäischer Verträge handelnden Organe. Ihre Beteiligung am völkerrechtlichen Vertragsschlussverfahren ist in den nationalen Verfassungen geregelt. Die eigentliche Änderung wird zwischen den Mitgliedstaaten als völkerrechtlicher Vertrag ausgehandelt. Dieser muss von allen Staaten abgeschlossen werden. 16 Nach Art. 48 EUV müssen sich die Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten im Rahmen einer Regierungskonferenz auf Vertragsänderungen einigen. In Kraft treten können die Änderungen erst, nachdem sie von allen Mitgliedstaaten gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften ratifiziert worden sind. Die Europäische Verfassung will allerdings mehr sein als ein „bloßer“ Vertrag, sie hat einen „doppelten Charakter“ 17 . Das unterstreicht die Entstehungsgeschichte und das Zustandekommen des Verfassungsvertrages. Der Europäische Rat hatte am 9. Dezember 2000 in Nizza eine „Erklärung über die Zukunft der Union“ 18 verabschiedet. Mit dieser Erklärung sollte ein Reformprozess der ___________ 11 Schlussfolgerungen des Vorsitzes, abgedr. in BullBReg. Nr. 140 vom 28.12.1992, S. 1280 ff., S. 1290. Vgl. BVerfGE 89, 155 (199), und bereits BVerfGE 75, 223 (242). So auch Bundeskanzlerin Angela Merkel am 06.11.2006 in einem Interview in der Süddeutschen Zeitung (S. 6): „Der Begriff muss mehr aussagen als die herkömmlichen Verträge, deswegen sein besonderer doppelter Charakter. Es wird klar, dass die Mitgliedstaaten die Herren der Verträge sind. Ohne sie geht es nicht, die europäische Ebene darf sich nicht einfach irgend etwas nehmen. Und gleichzeitig ist die Idee eines Verfassungsvertrages grundsätzlicher und enthält Grundrechte.“ 12 EuGH – Defrenne/Sabena, 43/75 – Slg. 1976, 455 (478). 13 Die korrekte Bezeichnung lautet daher „Vertrag über eine Verfassung für Europa“; vgl. Riedel, N., Gott in der Europäischen Verfassung, in: EuR 2005, S. 676 ff. (683). 14 Insbesondere der „Vertrag über die Europäische Union (EUV)“ und der „Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV)“. 15 Ipsen, K., Völkerrecht, 5. Aufl. 2004, S. 117. 16 Meng, W., in: Groeben, H. von der et al. (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 5. Aufl. 1997, Rn. 7 zu Art. N EUV. 17 So Bundeskanzlerin Angela Merkel in Süddeutsche Zeitung vom 06.11.2006, S. 6. 18 Erklärung Nr. 23 zur Schlussakte zum Vertrag von Nizza, BT-Drs. 14/6146 vom 25.05.2001, S. 40.

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Europäischen Union eingeleitet werden, der über die in Nizza behandelten Themen der Regierungskonferenz zur Änderung des Amsterdamer Vertrages hinaus reicht. Erste Weichen hierzu stellten die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union auf ihrem Gipfel in Laeken am 14./15. Dezember 2001. Einstimmig beschlossen sie die „Erklärung von Laeken zur Zukunft Europas“. 19 Darin wurde festgelegt, dass ein Konvent Vorschläge unterbreiten sollte, wie die Union „demokratischer, transparenter und effizienter“ werden kann. Diese Vorschläge sollten in eine Regierungskonferenz eingebracht werden, bei der dann entsprechende Änderungen der europäischen Verträge vereinbart werden sollten. Der „Weg zu einer Verfassung für die europäischen Bürger“ war damit beschritten. 20 „Für“ die europäischen Bürger wohlgemerkt, nicht „durch“ sie. Damit schien vorgezeichnet, was Dieter Grimm bereits 1994 beklagt hatte: „Während Nationen sich selbst eine Verfassung geben, wird der Europäischen Union eine Verfassung von Dritten gegeben.“ 21 Blumenwitz sah darin allerdings keinen Widerspruch: Die Neubestätigung und Weiterentwicklung der Gemeinschaftsverfassung in der Form eines Verfassungsdokuments verfolge lediglich die „Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas“, nicht die Kreation des Unionsvolkes. Da die Mitgliedstaaten der Europäischen Union alle demokratisch verfasst seien, handelten nach seiner Ansicht nicht „Dritte“, sondern die „Völker Europas“ – gemäß ihren verfassungsrechtlichen Verfahren durch ihre zuständigen Organe. 22

2. Die Rolle der Parlamente Bereits während der Verhandlungen zu den Verträgen von Amsterdam und Nizza war Kritik am Verfahren der Regierungskonferenzen geübt worden, deren Verhandlungen hinter verschlossenen Türen und unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt wurden. Beklagt wurden die geringen Beteiligungsrechte des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente, denn Art. 48 Abs. 2 EUV sieht eine Anhörung des Europäischen Parlaments lediglich im Hinblick auf den Zusammentritt einer Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten vor. 23 Die Anwesenheit von Vertretern des Europäischen ___________ 19 Anlage I der Schlussfolgerungen des Vorsitzes zum Europäischen Rat Laeken am 14./15.12.2001, Dok. SN 300/01. 20 Vgl. Riedel, N., Der Konvent zur Zukunft Europas, in: ZRP 2002, S. 241 ff. (246). 21 Grimm, D., Braucht Europa eine Verfassung?, 1994, S. 31. 22 Blumenwitz (Fn. 6), in: Politische Studien 2003, S. 50; vgl. Pernice, I., Der Europäische Verfassungsverbund auf dem Weg der Konsolidierung, in: JöR 48 (2000), S. 205 ff. (213). 23 Änderungen der Europäischen Verträge bedürfen anders als Beitritte nicht der Zustimmung des Europäischen Parlaments. Artikel IV-443 der Europäischen Verfassung

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Parlaments während der Sitzungen der Regierungskonferenzen von Nizza und Amsterdam war abgelehnt worden. 24 Begründet wurde dies mit dem Vertragswortlaut, der ausdrücklich nur von den Vertretern der „Regierungen“ spricht. Die Einbeziehung der nationalen Parlamente erfolge im Rahmen des innerstaatlichen Ratifizierungsverfahrens. Die Möglichkeiten der nationalen Parlamente, bei der Willensbildung ihrer Regierungen in Angelegenheiten der Europäischen Union mitzuwirken, nehme zwar immer mehr zu. 25 Dennoch bleibe den Abgeordneten der nationalen Parlamente am Ende nur die Möglichkeit, den von den Regierungen ausgehandelten Vertrag entweder abzulehnen oder ihm zuzustimmen. Nach der erfolgreichen Ausarbeitung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union durch einen Konvent 26 und aufgrund der allgemein als unbefriedigend empfundenen Erfahrungen insbesondere mit der letzten Regierungskonferenz, die am 9. Dezember 2000 in Nizza ihren Abschluss gefunden hatte, nahm der politische Druck zu, das Konventsmodell zukünftig auch zur Vorbereitung einer Regierungskonferenz für Vertragsänderungen heranzuziehen. Mit dem beim Europäischen Rat in Laeken am 15. Dezember 2001 beschlossenen Konvent zur Zukunft Europas wurden deshalb erstmals in der Geschichte der Europäischen Union gemeinsam mit den Regierungen auch die nationalen Parlamente und das Europäische Parlament bei der Ausarbeitung von Vorschlägen für eine Vertragsänderung beteiligt. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union, vertreten durch ihre Regierungen, blieben zwar weiterhin formell die Herren des geplanten Verfassungsvertrags. Dennoch war klar, dass nunmehr auch den Parlamenten eine größere und direkte Verantwortung zukommen sollte. Nach den Vorgaben der Erklärung von Laeken gehörten dem Konvent die „Hauptakteure der Debatte über die Zukunft der Union“ an. Er setzte sich zusammen aus je einem Vertreter der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten (zusammen 15), je zwei Vertretern der nationalen Parlamente (zusam___________ sieht erstmals vor, dass auch das Europäische Parlament formell das Recht erhält, von sich aus Entwürfe zu Vertragsänderungen vorzulegen. 24 Vgl. Riedel, N., Der Vertrag von Amsterdam und die institutionelle Reform der Europäischen Union, in: BayVBl. 1998, S. 545 (547); ders., Reform der Europäischen Union – Bilanz der EU-Regierungskonferenz, in: Kreuzer, K. et al. (Hrsg.), Europäischer Grundrechtsschutz, 1998, S. 78 ff. 25 Vgl. „Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union“ vom 12.03.1993 (BGBl. 1993 I S. 311) und „Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union“ vom 12.03.1993 (BGBl. 1993 I, S. 313). Im Zusammenhang mit der Ratifizierung der Europäischen Verfassung haben Bundesregierung und Bundestag vereinbart, diese Mitwirkungsrechte weiter auszubauen. 26 Vgl. hierzu ausführlich Meyer, J. (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Aufl. 2006.

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men 30), 16 Vertretern des Europäischen Parlaments und zwei Vertretern der Europäischen Kommission. Für jedes Konventsmitglied war ein Abwesenheitsvertreter vorgesehen. Hinzu kamen noch je ein Regierungsvertreter und zwei Parlamentsvertreter aus den Beitrittsländern (13 + 26), die an den Beratungen teilnahmen, ohne jedoch einen Konsens, der sich zwischen den Mitgliedstaaten abzeichnete, verhindern zu können. Rein zahlenmäßig hatten damit die Parlamentsvertreter das Übergewicht im Konvent. Daran änderte sich auch nichts, als die Bundesregierung mit der Entsendung des damaligen Bundesaußenministers Joschka Fischer in den Konvent ein Zeichen setzte, dem mehrere andere Regierungen folgten, und das den Arbeiten des Konvents durch die hochrangige politische Vertretung einen zusätzlichen Impuls gab.

3. Regierungskonferenz Der Verfassungskonvent sollte die Handlungsfähigkeit der sich erweiternden Europäischen Union nicht nur sichern, sondern verbessern und dabei gleichzeitig die europäische Integration den Bürgerinnen und Bürger näher bringen. Diese hochgesteckten, von manchen für unrealistisch gehaltenen Erwartungen hat der Konvent durch die Vorlage eines ehrgeizigen Verfassungsentwurfs erfüllt, der eine weitreichende, in sich geschlossene Reform der Verträge darstellt. 27 Der Konvent konnte allerdings keine Vertragsänderungen „beschließen“. Auf Grundlage der geltenden europäischen Verträge konnte er nur Vorarbeiten für Vertragsänderungen leisten bzw. entsprechende Vorschläge ausarbeiten. Formelle Abstimmungen hätten im Konvent aufgrund seiner gemischt gouvernemental-parlamentarischen Zusammensetzung zudem über keine Legitimationskraft verfügt. 28 Der Konvent war so gesehen eine rein politische Veranstaltung, die (noch) keine Verankerung im EU-Vertrag besaß. Art. 48 EUV schreibt für Vertragsreformen eben zwingend den Weg der Regierungskonferenz vor, d. h. Vertragsänderungen müssen zwischen den Mitgliedstaaten als völkerrechtlicher Vertrag ausgehandelt werden. 29 Dabei sind die Regierungen – jedenfalls rechtlich gesehen – inhaltlich nicht gebunden. Dennoch war allen klar, dass die erhebliche Arbeit, die im Konvent geleistet wurde und die damit verbundenen politischen Debatten nicht ignoriert werden ___________ 27 Die Konventsarbeiten endeten mit der 27. Tagung des Plenums am 09./10.07. 2003. Die Übergabe des endgültigen Verfassungsentwurfs an die italienische Ratspräsidentschaft in Rom erfolgte am 18.07.2003 (Entwurf eines Vertrages über eine Verfassung für Europa, CONV 850/03, Bericht des Konventsvorsitzenden an den Präsidenten des Europäischen Rates, CONV 851/03 und Erklärung von Rom vom 18.07.2003). 28 Vgl. Oppermann, Th., Europäischer Verfassungskonvent und Regierungskonferenz 2002–2004, in: DVBl. 2004, S. 1264 ff. (1268). 29 Vgl. Meng, W. (Fn. 16), Rn. 7.

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konnten. Zwischen den Regierungen bestand zunächst keine Einigkeit darüber, wie viel Zeit zwischen dem Ende des Europäischen Konvents 30 und dem Beginn der Regierungskonferenz vergehen sollte. Diejenigen, die integrationspolitisch eher zurückhaltend eingestellt waren, hofften offenbar darauf, dass die öffentliche Aufmerksamkeit gegenüber den Vorschlägen des Konvents bei einem Beginn der notwendigen Regierungskonferenz sechs oder zwölf Monate später bereits wieder nachgelassen haben würde. Die Staats- und Regierungschefs hätten dann freiere Hand im Umgang mit dem vom Konvent vorgelegten Verfassungsentwurf gehabt. 31 Demgegenüber drängten vor allem Deutschland und Frankreich darauf, das vorhandene Momentum zu nutzen und schnellstmöglich in eine Regierungskonferenz überzugehen, die über die rechtlich nicht bindenden Vorschläge des Konvents entscheiden konnte. 32 Nur wenn der Entwurfstext noch allen vor Augen war, würde er nicht einfach zum Gegenstand des üblichen Regierungstauziehens gemacht werden können. 33 Am 20. Juni 2003 und damit noch vor dem formellen Abschluss des Konvents im Juli einigten sich die Staats- und Regierungschefs beim Europäischen Rat in Thessaloniki, 34 auf der kommenden Ratstagung im Juli das notwendige Verfahren nach Art. 48 EUV einzuleiten, damit eine Regierungskonferenz im Oktober 2003 einberufen werden konnte. Über den Umfang des Mandats der Regierungskonferenz wurde zwischen den Regierungen heftig gerungen. Sollte die Regierungskonferenz politisch an den Entwurf des Konvents gebunden sein und nur noch Änderungen am Konventstext beraten können? Oder sollten die Regierungen wie zuvor bei der Ausarbeitung der Verträge von Amsterdam und Nizza einen eigenständigen Vertragstext aushandeln können? Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents fand breite Zustimmung im Europäischen Rat, was aber Vorbehalte einzelner Mitgliedstaaten in einzelnen Punkten nicht ausschloss. Die Staats- und Regierungschefs einigten sich auf eine Formulierung, wonach „der Wortlaut des Entwurfs des Vertrags über die Verfassung eine gute Ausgangsbasis für den Beginn der Regierungskonferenz bildet.“ Die politische Bindungswirkung des Konventsentwurfs wurde anerkannt, indem die Regierungskonferenz „von den Staats- und Regierungschefs mit Unterstützung der Mitglieder des Rates (Allgemeine Angelegenheiten und Außenbeziehungen) durchgeführt“ 35 werden sollte. Dies sollte ___________ 30

Die Konventsarbeiten endeten mit der 27. Tagung des Plenums am 09./10.07.

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Göler, D. / Marhold, H., Die Konventsmethode, Integration 2003, S. 317 ff., 320. Vgl. hierzu Riedel (Fn. 20), S. 241 ff. (243). 33 Göler / Marhold (Fn. 31), S. 320. 34 Europäischer Rat (Thessaloniki), Tagung vom 19./20.06.2003, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Ziff. 5, Dok. 11638/03 vom 01.10.2003. 35 Europäischer Rat (Thessaloniki), Tagung vom 19./20.06.2003, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Ziff. 6, Dok. 11638/03 vom 01.10.2003. Der Vertreter der Kommis32

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dazu beitragen, eine erneute Diskussion über Details des Verfassungsentwurfs etwa auf Beamtenebene nach Möglichkeit zu vermeiden und den im Konvent erzielten Paketkonsens, der einen ausgewogenen Kompromiss darstellte, grundsätzlich nicht wieder aufzuschnüren. 36 Dies mag sowohl im Hinblick auf die Stellung der Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“ als auch auf Art. 48 EU-Vertrag „verfassungsjuristisch fragwürdig“ sein. 37 Aber allen war klar, dass die Regierungskonferenz selbstverständlich Änderungen beschließen konnte. 38 Allerdings lag die politische Argumentationslast nun bei denjenigen, die Nachbesserungen wünschten 39 und die damit in der schwächeren Verhandlungsposition waren. Fast ein Jahr nach dem Ende der Beratungen im Verfassungskonvent und nach einem gescheiterten Anlauf zur Verabschiedung der Verfassung im Dezember 2003 einigten sich die Staats- und Regierungschefs schließlich am 18. Juni 2004 in Brüssel auf die Europäische Verfassung als „Vertrag über eine Verfassung für Europa“.

4. Ratifizierungsverfahren Art. IV-447 der Europäischen Verfassung legt die Ratifikationsbedürftigkeit des Verfassungsvertrages nach Maßgabe der verfassungsrechtlichen Bestimmungen der Mitgliedstaaten fest und bestimmte den 1. November 2006 als Datum für das Inkrafttreten, sofern bis dahin alle Ratifikationsurkunden hinterlegt worden sind, andernfalls den Beginn des zweiten Monats nach Hinterlegung der letzten Ratifikationsurkunde. Die Regierungskonferenz hatte in der Erklärung Nr. 30 zur Schlussakte die politische Verpflichtung vereinbart, den Europäischen Rat zu befassen, wenn zwei Jahre nach der Unterzeichnung mindestens vier Fünftel der Mitgliedstaaten ratifiziert haben und in einem oder mehreren Mitgliedstaaten Schwierigkei___________ sion sollte an der Regierungskonferenz teilnehmen. Das Europäische Parlament sollte eng an den Beratungen der Konferenz beteiligt und in diese mit einbezogen werden. 36 Für Valéry Giscard d’Estaing war deshalb klar, dass die beste Möglichkeit für die Regierungskonferenz darin bestand, den Verfassungsentwurf ohne große Änderungen anzunehmen; vgl. Giscard d’Estaing, in: Marhold, H. (Hrsg.), Europa auf dem Weg zur Verfassung, 2004, S. 149. 37 So Ruffert, M., Schlüsselfragen der Europäischen Verfassung der Zukunft, in: EuR 2004, S. 165 ff., 195. 38 Vgl. Oppermann (Fn. 28), S. 1269. 39 Der deutsche Außenminister Joschka Fischer hob bei der Pressekonferenz im Anschluss an den Europäischen Rat in Thessaloniki hervor, dass ein Mitgliedstaat, der in einem Punkt den Konsens im Konvent in Frage stelle, einen neuen, anderen Konsens erst herbeiführen müsse. Auf diese Weise werde das Ergebnis des Konvents eine große Bestandskraft entfalten. Vgl. hierzu Ruffert (Fn. 37), S. 195.

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ten bei der Ratifikation aufgetreten sind. Diese Regelung entspricht Art. IV442 Abs. 4 der Europäischen Verfassung. Nach ausführlicher Erörterung des Themas im Konvent hatte allerdings Einvernehmen bestanden, diese Frage nicht näher zu regeln, da eine allgemein gültige Lösung im Voraus nicht vereinbart werden könne. Bereits kurze Zeit nach seiner Unterzeichnung wurde der Verfassungsvertrag am 11. November 2004 durch das Parlament in Litauen als erstem Mitgliedstaat ratifiziert. 40 Bis Ende 2006 folgten 15 weitere Mitgliedstaaten, vorwiegend im Rahmen eines rein parlamentarischen Ratifizierungsverfahrens; in Spanien 41 und Luxemburg 42 stimmte die Bevölkerung in Referenden zu. 43 Hinzu kommen Rumänien und Bulgarien, die den Verfassungsvertrag mit der Zustimmung zum Beitrittsvertrag ratifiziert haben. In Deutschland war dem Verfassungsvertrag zwar am 12. Mai 2005 vom Bundestag und am 27. Mai 2005 vom Bundesrat zugestimmt worden. Aufgrund einer vor dem Bundesverfassungsgericht anhängigen Klage gegen die Verfassung hatte Bundespräsident Köhler im Juni 2005 allerdings zugesagt, die Ratifikationsurkunde vor einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht zu unterzeichnen. 44

___________ 40 Bis Dezember 2006 hatten 16 Mitgliedstaaten die Europäische Verfassung ratifiziert: Litauen, Ungarn, Slowenien, Italien, Griechenland, Slowakei, Spanien, Österreich, Deutschland, Lettland, Zypern, Malta, Luxemburg, Belgien, Estland und Finnland. 41 Am 20.02.2005. 42 Am 10.07.2005. 43 Die Volksbefragungen waren allerdings nicht zwingend vorgeschrieben. 44 Das Bundesverfassungsgericht teilte Ende Oktober 2006 in einem Schreiben an die Verfahrensbevollmächtigten von Bundestag und Bundesregierung mit: „Angesichts der anhaltenden Diskussion über die Fortführung des Europäischen Verfassungsprozesses nach dem Scheitern der Referenden in Frankreich und den Niederlanden und der Absicht der Europäischen Union, während des deutschen EU-Ratsvorsitzes im ersten Halbjahr 2007 einen Fahrplan vorzulegen, wie ein möglicherweise veränderter Vertrag unter neuem Namen bis 2009 in Kraft treten kann“, sei eine Entscheidung nicht dringlich. Würden Änderungen oder Ergänzungen des Vertragstextes vorgenommen, müssten Bundestag und Bundesrat erneut über das Gesamtpaket beschließen, und „dem Beschwerdeführer steht es frei, gegen das entsprechende Zustimmungsgesetz wiederum mit der Verfassungsbeschwerde vorzugehen. (...) Eine Entscheidung zum gegenwärtigen Zeitpunkt könnte das Bundesverfassungsgericht in die Rolle eines Mitgestalters des Europäischen Verfassungsprozesses führen, die mit seiner Funktion als Träger der Letztentscheidungskompetenz unvereinbar ist.“ Sollte es beim jetzigen Vertragstext bleiben, werde die Arbeit an der Verfassungsbeschwerde wieder aufgenommen. Dazu sei bis zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Vertrages im Jahr 2009 „in jedem Fall ausreichend Zeit.“ (zitiert nach Die Welt, vom 01.11.2006, S. 4). Mit seiner Weigerung, eine Entscheidung über die Klage herbeizuführen, wird das Bundesverfassungsgericht damit entgegen den eigenen Verlautbarungen gerade doch zu einem Mitgestalter des Verfassungsprozesses.

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Bereits während der Regierungskonferenz war allen klar, dass die Ratifizierungen in einigen Mitgliedstaaten Referenden zwingend voraussetzen würden, so z. B. in Irland und Dänemark. Nachdem der britische Premierminister Blair ein Referendum über die Europäische Verfassung angekündigt hatte, überraschte der französische Staatspräsident Chirac die Öffentlichkeit mit der gleichen Ankündigung. Beim französischen Referendum am 29. Mai 2005 wurde der Verfassungsvertrag abgelehnt. Die niederländische Bevölkerung lehnte drei Tage später ebenfalls ab. Die Gründe hierfür waren in beiden Fällen wohl weniger europäischer sondern vielmehr innenpolitischen Natur. In der Folge wurden die bereits angekündigten Referenden in Irland, Polen, Dänemark, Tschechien, Portugal und Großbritannien auf unbestimmte Zeit ausgesetzt. Einer der Lösungswege, die diskutiert wurden, um zu einem Inkrafttreten der europäischen Verfassung doch noch zu kommen, war der Vorschlag eines europaweiten Referendums, d. h. einer Volksabstimmung aller Völker der Europäischen Union über die Verfassung. 45 Angenommen solle die Verfassung sein, wenn die Mehrheit der europäischen Bevölkerung in einer Mehrheit der Staaten zustimme. Einem solchen Vorgehen stünden jedoch grundlegende Hindernisse im Wege: Eine europaweite Volksabstimmung und die Anwendung des Mehrheitsprinzips bedürften eines einstimmigen Beschlusses aller Mitgliedstaaten und einer Ratifizierung dieses Beschlusses durch Parlamente oder wiederum Volksabstimmungen. In einigen Ländern wie Deutschland müsste das Instrument der Volksabstimmung erst eingeführt werden. Der andere Lösungsweg ist, dass ein Vertrag mit geringfügig geändertem Inhalt, d. h. unter Beibehaltung seiner Substanz und nicht unter der Bezeichnung „Verfassung“ zwischen den Regierungen vereinbart und anschließend in allen Mitgliedstaaten ratifiziert werden könnte. Aus Anlass des 50. Jahrestages der Unterzeichnung der Römischen Verträge am 25. März 2007 haben die Staats- und Regierungschefs der europäischen Mitgliedstaaten eine gemeinsame Erklärung 46 abgegeben, die nicht nur Rückblick und Bilanz enthält, sondern durch die auch eine Verpflichtung für die Zukunft der Europäischen Union zum Ausdruck gebracht wird. Mit dieser europäischen Erklärung ist der Verfassungsprozess erneut in Gang gesetzt worden. Bis zum Ende der deutschen Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 wurde ein klares Verfahren und ein klarer Zeitplan vereinbart, mit dem möglichst sichergestellt werden soll, dass alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Substanz der Verfassung bis zum Jahr 2009 ratifiziert haben werden. ___________ 45

Vgl. auch Mayer, F., Ein Referendum für die Europäische Verfassung?, in: EuZW 2003, S. 321 ff.; Hölscheidt, S. / Putz, I., Referenden in Europa, in: DÖV 2003, S. 737 ff. 46 Erklärung von Berlin anlässlich des 50. Jahrestages der Unterzeichnung der Römischen Verträge vom 25.03.2007.

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III. Ausblick Die Europäische Einigung ist ein politisches Projekt, das die Bürger mittlerweile nicht mehr den Regierungen überlassen wollen. Europa ist nicht nur bei den Parlamenten, sondern auch beim Volk angekommen. Noch nie wurden Änderungen der Gründungsverträge auf eine so „demokratische“ Weise ausgehandelt wie im Falle des Verfassungsvertrages. Die Einbeziehung der nationalen Parlamente und des Europäischen Parlaments im Verfassungskonvent und die eingehende öffentliche Diskussion und Beteiligung der Zivilgesellschaft haben das doppelte „Nein“ in Frankreich und in den Niederlanden gleichwohl nicht verhindern können. Die für den Abschluss von Änderungen der europäischen Verträge verfassungs- und vertragsrechtlich berufenen Organe konnten sich nicht durchsetzen. Die Bürger Frankreichs und der Niederlande, die das vorläufige Scheitern der Europäischen Verfassung bewirkt haben, haben jedoch weder unmittelbaren Einfluss auf den Inhalt noch auf den Abschluss eines europäischen Vertrages. Der europäische Einigungsprozess ist an eine entscheidende Stelle gelangt, an der weitere Integrationsschritte nur noch gelingen können, wenn die Mitgliedstaaten, vertreten durch ihre Regierungen, und die sie kontrollierenden Parlamente und Bürger der Union übereinstimmen. Es sind auch weiterhin die Mitgliedstaaten, die das Schicksal der Gemeinschaft in der Hand haben, sie haben ihre Stellung als souveräne Staaten nicht eingebüßt. 47 Die Europäische Union nähert sich verfassungsrechtlichen Leitbildern an, ohne gleichwohl das Modell des Staatenverbundes auf völkerrechtlicher Grundlage preiszugeben. 48 Die Mitgliedstaaten sind die demokratisch direkt legitimierten Entscheidungszentren der eigentlichen Träger der Staats- und damit auch Unions- und Gemeinschaftsgewalt: nämlich der Gemeinschaftsbürger. Wenn also die Bürger durch ihre demokratische Repräsentanz oder im Rahmen von Referenden die vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union nicht verändern wollen, so ist dies eine Frage der völkervertraglichen Koordinationsebene zwischen den Mitgliedstaaten. Wenn von diesen bislang gesagt wurde, sie seien „Herren der Verträge“, so ist dies nur ein Kürzel für die vollständigere Realität: die nationalen Regierungen unter der bestimmenden Kontrolle der Parlamente und damit die Unionsbürger sind die durch die demokratischen Entscheidungsmechanismen bestim___________ 47 Zuleeg, M., in: Groeben, H. von der et. al. (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EGVertrag, 6. Aufl. 2003, Rn. 8 zu Art. 1 EG. 48 Vgl. hierzu Kadelbach, S., Bedingungen einer demokratischen Europäischen Union, in: EuGRZ 2006, S. 384 ff (388).

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menden Faktoren.49 Nicht die Herrschaft über die Verträge hat sich also geändert. Es ist die Kontrolle über die auf europäischer Ebene Handelnden, die ausgeübt wurde.

___________ 49

Vgl. Meng, W. (Fn. 16), Rn. 21.

Gott im Verfassungsrecht – warum nicht im EU-Verfassungsvertrag? Rudolf Streinz

I. Einleitung Ob der am 29. Oktober 2004 in Rom unterzeichnete Vertrag über eine Verfassung für Europa 1 jemals in Kraft tritt, ist nach den ablehnenden Referenden in Frankreich und den Niederlanden und der skeptischen Haltung in Polen, der Tschechischen Republik, wohl auch in Großbritannien fraglich. Bis Juni 2007 haben 17 Mitgliedstaaten den Vertrag ratifiziert, entgegen anders lautenden Meldungen aber noch nicht die Bundesrepublik Deutschland. Zwar haben Bundestag und Bundesrat dem Vertrag mit überwältigender Mehrheit bzw. bei nur einer Enthaltung zugestimmt und damit den Weg zur Ratifikation durch den Bundespräsidenten frei gemacht. Dieser sieht sich darin jedoch bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Organklage und Verfassungsbeschwerde des Bundestagsabgeordneten Peter Gauweiler 2 gehindert, was dem Prinzip der Organtreue entspricht. Diesem Prinzip würde es freilich auch entsprechen, wenn das Bundesverfassungsgericht über diese Klagen zügig entscheiden würde, anstatt mit mehr als fragwürdiger Begründung dies auf die lange Bank zu schieben 3 . Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hat zu einem der Schwerpunkte der deutschen Präsidentschaft im Europäischen Rat und im Rat der Europäischen Union das Voranbringen des Verfassungsprozesses erklärt 4 . Dies ist ein ehrgeiziges Unterfangen, ist dieser Prozess doch ziemlich festgefahren. Die ___________ 1

Europäischer Verfassungsvertrag (EVV), ABl. 2004 Nr. C 310/1. Zum Scheitern des Verfassungsvertrags s. u. Fn. 5. 2 Vgl. EuGRZ 2005, 340. Verfrühte Anträge Dr. Gauweilers waren zurückgewiesen worden, vgl. BVerfGE 112, 363 (365 f. bzw. 366 f.). 3 Vgl. dazu Streinz, R. / Herrmann, C., Missverstandener „Judicial Self-restraint“ – oder: Einmischung durch Untätigkeit, in: EuZW 2007, S. 289. 4 Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel vor dem Europäischen Parlament in Straßburg am 17.01.2007. Vgl. auch EU-Nachrichten, Themenheft Nr. 18 (25 Jahre Römische Verträge), 2007, S. 2 (Chef des Bundeskanzleramts Dr. Thomas de Maizière zur deutschen Ratspräsidentschaft).

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nach dem Schock der Referenden vom Europäischen Rat beschlossene „Denkpause“ war mehr eine Pause des Denkens als eine Pause zum Nachdenken, als die eine „Reflexionsphase“ eigentlich gedacht ist 5 . Das Dilemma liegt auf der Hand: Den Franzosen und den Niederländern den Vertrag noch einmal unverändert zur Abstimmung vorzulegen wäre zwar nicht ohne Vorbild, aber doch sehr riskant und wird wohl ernsthaft nicht erwogen. Ändert man den Vertrag aber inhaltlich, so brüskiert man die 17 Mitgliedstaaten, die ihn in der gegenwärtigen Fassung ratifiziert haben. Die Bundeskanzlerin hat selbst einen Änderungswunsch bekundet, nämlich die Einfügung eines „Gottesbezugs“ in den Verfassungsvertrag 6 . Mit besonderer Verve wird dies aber offensichtlich nicht verfochten, wohl auch in der Er___________ 5

Der Europäische Rat von Brüssel vom 16./17.06.2005 beschloss in einer Erklärung der Staats- und Regierungschefs zur Ratifizierung des Vertrags über eine Verfassung für Europa (Schlussfolgerungen des Vorsitzes, EU-Nachrichten, Dokumentation Nr. 2/2005, S. 28), es sei „notwendig, die Lage gemeinsam zu überdenken“ und „diese Zeit der Reflexion“ für eine ausführliche Diskussion zu nutzen. Im ersten Halbjahr 2006 sollte „eine Bewertung aller einzelstaatlichen Diskussionen“ vorgenommen und der „weitere Fortgang des Ratifizierungsprozesses“ vereinbart werden. Der Europäische Rat von Brüssel vom 15./16.06.2006 bezog sich darauf, begrüßte die seitherigen Initiativen und Beiträge zur Reflexionsphase und vereinbarte einen „zweigleisigen Ansatz“. Zum einen sollten die Möglichkeiten, die die derzeitigen Verträge bilden, bestmöglich ausgeschöpft werden, zum anderen soll der Vorsitz (das ist Deutschland) dem Europäischen Rat in der ersten Jahreshälfte 2007 einen Bericht vorlegen, der sich auf ausführliche Konsultationen mit den Mitgliedstaaten stützt und eine Bewertung des Stands der Beratungen über den Verfassungsvertrag und mögliche künftige Entwicklungen aufzeigen soll. Spätestens im zweiten Halbjahr 2008 sollen konkrete Schritte für die Fortsetzung des Reformprozesses unternommen werden. Jeder Mitgliedstaat, der während der (also offenbar verlängerten) „Reflexionsphase“ den Vorsitz innehat, stehe in einer „besonderen Verantwortung, für die Kontinuität dieses Prozesses zu sorgen“. Zum 50. Jahrstag der Unterzeichnung der Römischen Verträge sollte in Berlin am 25.03.2007 eine „politische Erklärung“ angenommen werden (Schlussfolgerungen des Vorsitzes, EU-Nachrichten, Dokumentation Nr. 2/2006, S. 9 f., Nr. 42–49). Diese Berliner Erklärung „Europa ist unsere gemeinsame Zukunft“ wurde am 25.03.2007 verabschiedet (EU-Nachrichten Nr. 12/2007, S. 3). Der Europäische Rat von Brüssel vom 21./22.06.2007 einigte sich nach schwierigen Verhandlungen auf ein Mandat für einen „Reformvertrag“, der statt des Verfassungsvertrags die bestehenden Verträge ändern soll. Der Begriff „Verfassung“ wurde ausdrücklich aufgegeben, ebenso wurden sämtliche Elemente gestrichen, die eine „Staatlichkeit“ der Europäischen Union suggerieren könnten (Flagge, Hymne, Motto; Bezeichnung „Europäisches Gesetz“ bzw. „Rahmengesetz“). Im Übrigen sollen die wesentlichen Inhalte des Verfassungsvertrags aber übernommen werden. Der EUV behält seinen Namen, der EGV wird „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ genannt (EU-Nachrichten Nr. 23/2007, S. 1; Schlussfolgerungen des Vorsitzes, EU-Nachrichten, Dokumentation Nr. 2/2007, S. 9 ff.). Am 23.07.2007 begann die Regierungskonferenz unter portugiesischer Präsidentschaft. Der Reformvertrag soll bereits im Oktober 2007 verabschiedet und bis Ende 2008 ratifiziert werden (EUNachrichten Nr. 27/2007, S. 1). 6 Rede auf dem Deutschen Katholikentag 2006, vgl. Financial Times Deutschland vom 25.05.2006: „Merkel fordert Gottesbezug in EU-Verfassung“.

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kenntnis, dass damit das Voranbringen des Verfassungsprozesses nicht gerade gefördert wird. War dies doch bereits im so genannten Grundrechtekonvent, der die Charta der Europäischen Grundrechte ausgearbeitet hat, ein sehr umstrittenes Thema, so umstritten, dass nicht einmal die Textfassungen in den verschiedenen gleichermaßen verbindlichen Sprachen hinsichtlich des ohnehin sehr schwachen religiösen Bezugs übereinstimmen. Letzteres blieb wenigstens der Präambel des Verfassungsvertrags erspart, die u. a. aus dem „religiösen Erbe“ Europas schöpft. Zu mehr konnte man sich aber nicht einigen. Hier zeigen sich Grenzen der viel beschworenen „Wertegemeinschaft“: Während die Verfassungen einiger Mitgliedstaaten, darunter das Bonner Grundgesetz, einen ausdrücklichen Gottesbezug enthalten, versteht sich insbesondere Frankreich als betont „laizistischer“ Staat. Der Frage, warum Gott zwar im nationalen, aber nicht im europäischen Verfassungsrecht vorkommt, soll näher nachgegangen werden. Dabei kann an Dieter Blumenwitz angeknüpft werden, der zwar hauptsächlich wegen seiner besonderen Verdienste um Deutschlands Rechtslage 7 – das Festhalten an von machen nur noch belächelten Rechtspositionen hat maßgeblich zur Deutschen Wiedervereinigung beigetragen – bekannt ist, dessen Forschungsgebiete aber weit darüber hinausgehen und eine erstaunliche Vielfalt und Breite aufweisen. So hat er sich zum einen schon früh mit dem europäischen Verfassungsprozess beschäftigt, angeregt durch den Entwurf eines Vertrags zur Gründung der Europäischen Union des Europäischen Parlaments von 1984 8 , und diesen bis zuletzt, bis zum Verfassungsvertrag, verfolgt 9 . Zum anderen widmete er sich auch der Frage des Gottesbezugs, der so genannten „invocatio dei“ im Grundgesetz 10 . ___________ 7 Beispielhaft sei hier nur genannt Blumenwitz, D., Was ist Deutschland? – Staatsund völkerrechtliche Grundsätze zur deutschen Frage, 3. Aufl. 1989. 8 Blumenwitz, D., Eine Verfassung für Europa. – Bemerkungen zum Vertragsentwurf des Europäischen Parlaments zur Gründung einer Europäischen Union aus deutscher Sicht, in: Zeitbühne Jan/Feb 1986, S. 20 (20 ff.); ders., Deutschland und Europa – Deutschlandpolitische und deutschlandrechtliche Aspekte des Vertragsentwurfs des Europäischen Parlaments zur Gründung einer Europäischen Union, Politik und Kultur, 1987, S. 36 (36 ff.). Text des Entwurfs in: integration 7 (1984), Sonderheft. Der Entwurf orientierte sich in seiner Präambel am EWG-Vertrag und dessen Zielen, verzichtete auf den Begriff „Verfassung“ und enthielt (daher) auch keinen Gottesbezug. 9 Blumenwitz, D., Wer gibt die Verfassung Europas?, in: Politische Studien, Sonderheft 1/2003, S. 44 (44 ff.); ders., Der Europäische Verfassungsvertrag – Die Chancen und Gefahren des Entwurfs für das Gelingen von Erweiterung und Vertiefung der Europäischen Union, in: Zeitschrift für Politik 51 (2004), S. 115 (115 ff.); ders., Wer gibt die Verfassung Europas? Zur verfassunggebenden Gewalt (pouvoir constituant) in der Europäischen Union, in: Castellano, D. (Hrsg.), Quale Costituzione per quale Europa?, 2004, S. 31 (31 ff.). 10 Blumenwitz, D., Gott im Bonner Grundgesetz, in: zur debatte, Themen der Katholischen Akademie in Bayern, September/Oktober 1980, S. 12 f.; ders., Die verfassungs-

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II. Gottesbezüge in europäischen Verfassungen 1. Überblick In der Europäischen Union haben allein die Verfassungen Dänemarks, Griechenlands, Irlands und der Bundesrepublik Deutschland, also ganze vier der seit 1. Januar 2007 27 Mitgliedstaaten, einen ausdrücklichen Gottesbezug. Hinzu kommt das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland, das kein einheitliches Verfassungsdokument hat, wohl aber eine Reihe geschriebener Verfassungsdokumente, die, wie die Magna Charta Libertatum von 1215 11 , auf Gott Bezug nehmen. In einigen Verfassungen wird ein Gottesbezug indirekt deutlich, wenn in der Leistung des Amtseides dessen Bekräftigung durch die Anrufung Gottes fakultativ vorgesehen ist, wie in Art. 56 GG für den Amtseid des Bundespräsidenten („So wahr mir Gott helfe.“) und in Art. 64 Abs. 2 GG für den Amtseid des Bundeskanzlers und der Bundesminister. Eine solche Regelung enthalten die Verfassungen der Niederlande 12 , Österreichs 13 , Maltas 14 und Rumäniens 15 . Die Verfassung der Slowakischen Republik wird „im Sinne des cyrillo-methodeischen Erbes“ beschlossen 16 . In den Verfassun-

___________ rechtliche Bedeutung der „invocatio dei“ im Bonner Grundgesetz, in: Würzburger Studien zur Soziologie 7 (1982), S. 82 (82 ff.); ders., Gott im Grundgesetz, in: Behrendt, E. L. (Hrsg.), Rechtsstaat und Christentum, Bd. I, 1982, S. 127 (127 ff.). 11 Deutsche Übersetzung in: Kimmel, A. / Kimmel, C., Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten, 6. Aufl. 2005, Nr. 24, S. 892 ff. (Präambel: „Johann, von Gottes Gnaden König von England … daß Wir, den Blick auf Gott gerichtet ... zur Ehre Gottes … an erster Stelle Gott gelobt“. 12 Verfassung des Königreichs der Niederlande vom 24.08.1815, i. d. F. der Neubekanntmachung vom 17.02.1983, zuletzt geändert am 07.02.2002; deutsche Übersetzung in: Kimmel / Kimmel (Fn. 11), Nr. 14. Zusatzartikel der Verfassung über den Eid des Regenten; Eid des Königs auf die Verfassung, Gelöbnis des Vorsitzenden der Generalstaaten und von dessen Mitgliedern. 13 Art. 62 Abs. 2, Art. 72 Abs. 1 Satz 2 Bundesverfassungs-Gesetz vom 10.11.1920 i. d. F. vom 07.12.1929, zuletzt geändert am 28.06.2002. Abgedruckt in: Kimmel / Kimmel (Fn. 11), Nr. 15. 14 Art. 50 und Art. 89 des Zweiten Anhangs zur Verfassung der Republik Malta vom 21.09.1964, zuletzt geändert im Juli 2003. Englischer Text in: Kimmel / Kimmel (Fn. 11), Nr. 13, S. 436. 15 Art. 82 Abs. 2 Satz 2, Art. 103 Abs. 1 Verfassung der Republik Rumänien vom 21.11.1991: „So wahr mir Gott helfe!“. Geändert am 29.10.2003. Aktuelle Fassung in Flanz, G. H. (Hrsg.), Constitutions of the Countries of the World (Loseblatt), Bd. XV (2005), ins Englische übersetzt von R. Wolfrum und R. Grote; deutsche Übersetzung im Internet. 16 Präambel, Erwägungsgrund 2, Verfassung der Slowakischen Republik vom 01.09.1992, zuletzt geändert am 11.04.2002; deutsche Übersetzung in: Kimmel / Kimmel (Fn. 11), Nr. 19.

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gen aller Mitgliedstaaten wird die Religionsfreiheit garantiert 17 , wobei gemäß den Verfassungen einiger Staaten eine bestimmte Konfession hervorgehoben und zum Teil auch privilegiert wird, nämlich in Dänemark die Evangelischlutherische Kirche als „die dänische Volkskirche“ 18 , in Finnland die Evangelisch-lutherische Kirche 19 , in Griechenland die „Östlich-Orthodoxe Kirche Christi“ als „vorherrschende Religion“ 20 , in Malta die Römisch-KatholischApostolische Kirche 21 . Eine entsprechende Bestimmung der Verfassung Schwedens über die Staatskirche wurde 1998 gestrichen; allerdings bestimmt das Thronfolgegesetz, „dass der König stets von der reinen evangelischen Lehre zu sein hat“, und, wer von der königlichen Familie sich nicht zur selben Lehre bekennt, von der Sukzession ausgeschlossen sei 22 . Die Verfassung Italiens betont die Trennung des Staates und der katholischen Kirche, deren Beziehungen durch die Lateranverträge geregelt werden, und die gleichermaßen bestehende Freiheit aller religiösen Bekenntnisse sowie das Recht der von der katholischen Religion abweichenden Bekenntnisse, sich nach ihren eigenen Statuten zu organisieren, soweit diese nicht in Widerspruch zur italienischen Rechtsordnung stehen 23 . Die Verfassung Polens betont die Gleichberechtigung der Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften und die Regelung der Beziehungen zwischen diesen und dem Staat hinsichtlich der Katholischen Kirche durch das Konkordat mit dem Heiligen Stuhl und die Gesetze, hinsichtlich der anderen Kirchen sowie Religionsgemeinschaften durch Gesetze, die aufgrund von Ab___________ 17 Vgl. dazu Gaitanides, C., Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, in: Heselhaus, F. S. M. / Nowak, C. (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2006, § 29, Rechtsquellenübersicht und Rn. 5 ff. 18 Kapitel I, § 4, Kapitel VII, §§ 66-70 Verfassung des Königreichs Dänemark vom 05.06.1953; deutsche Übersetzung in Kimmel / Kimmel (Fn. 11), Nr. 2. 19 § 76 (Gesetz über die Kirche) Finnlands Grundgesetz vom 11.06.1999; deutsche Übersetzung in Kimmel / Kimmel (Fn. 11), Nr. 5. 20 Art. 3 Abs. 1 Satz 1 Verfassung der Republik Griechenland vom 09.06.1975, zuletzt geändert am 17.04.2001; deutsche Übersetzung in Kimmel / Kimmel (Fn. 11), Nr. 7. Art. 3 enthält auch nähere Bestimmungen zur orthodoxen Kirche Griechenlands und zum Text der Heiligen Schrift, der „unverändert erhalten“ bleibt und dessen offizielle Übertragung in eine andere Sprachform ohne vorherige Genehmigung der Autokephalen Kirche Griechenlands und der Großen Kirche in Konstantinopel verboten ist. 21 Kapitel I, Abschnitt 2 Verfassung der Republik Malta (Fn. 14): Abs. 1: „Die Religion Maltas ist die Römisch-Katholisch-Apostolische Religion“. Die Autoritäten der Römisch-Katholischen-Apostolischen Kirche haben die Pflicht und das Recht zu lehren, welche ihrer Prinzipien richtig und falsch sind (Abs. 2). Entsprechender Religionsunterricht ist verpflichtendes Lehrfach an allen staatlichen Schulen (Abs. 3). 22 Thronfolgegesetz, Sukzessionsordnung, § 4, das gem. Kapitel 1 § 3 Verfassung des Königreichs Schweden vom 01.01.1975, zuletzt geändert am 01.01.2003, ein Grundgesetz des Reiches ist. Deutsche Übersetzung in Kimmel / Kimmel (Fn. 11), Nr. 18, S. 712 f. 23 Art. 7 bzw. Art. 8 Verfassung der Republik Italien vom 27.12.1947, zuletzt geändert am 30.03.2003; deutsche Übersetzung in Kimmel / Kimmel (Fn. 11), Nr. 9.

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kommen des Ministerrats mit den jeweils zuständigen Vertretern abgeschlossen werden 24 . Die französische Verfassung betont den „laizistischen“ Charakter der Republik 25 . Gleiches gilt für die Verfassung der Republik Türkei 26 , mit der seit Oktober 2005 Beitrittsverhandlungen geführt werden 27 . Die Verfassung des weiteren Beitrittskandidaten Kroatien 28 enthält ebenfalls keinen Gottesbezug. ___________ 24 Art. 25 Abs. 1 bzw. 4 und 5 Verfassung der Republik Polen vom 02.04.1997; deutsche Übersetzung in Kimmel / Kimmel (Fn. 11), Nr. 16. 25 Art. 1 Satz 1 Verfassung der Republik Frankreichs vom 04.10.1958, zuletzt geändert am 01.03.2005; deutsche Übersetzung in Kimmel / Kimmel (Fn. 11), Nr. 6: „Frankreich ist eine unteilbare, laizistische, demokratische und soziale Republik“. Vgl. zum Verhältnis zum in Absatz 2 der Präambel der in die geltende Verfassung einbezogenen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26.08.1789 (ebd. S. 191 ff.) erwähnten „allerhöchsten Wesen“ („Être suprème“) Häberle, P., „Gott“ im Verfassungsstaat?, in: Fürst, W. et al. (Hrsg.), Festschrift für Wolfgang Zeidler, 1987, S. 3 (6), Fn. 13. 26 Verfassung der türkischen Republik vom 07.11.1982, zuletzt geändert am 27.12.2002; deutsche Übersetzung in: JöR N. F. Bd. 32 (1983), S. 552 ff. Aktuelle Fassung in Flanz (Fn. 15), Bd. XVIII (2003), ins Englische übersetzt von Ganckaya, Ö. F. Vgl. dazu Rumpf, C., Das türkische Verfassungssystem, 1996, und ders., Einführung in das türkische Recht, 2004. Zum Verbot des islamischen Kopftuchs an türkischen Universitäten und zur Bewahrung des säkularen Charakters der Bildungseinrichtungen als legitimen Zweck zur Einschränkung der Religionsfreiheit vgl. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Urt. v. 29.06.2004, EuGRZ 2005, 31, bestätigt durch die Große Kammer des EGMR, Urt. v. 10.11.2005, EuGRZ 2006, 28. 27 Gemäß dem Beschluss des Europäischen Rates von Brüssel vom 16./17.12.2004 (Schlussfolgerungen des Vorsitzes, EU-Nachrichten, Dokumentation Nr. 5/2004, S. 5 ff., Nr. 17–23) wurden die Beitrittsverhandlungen, nachdem weitere erhebliche Schwierigkeiten zu überwinden waren, am 03.10.2005 aufgenommen (vgl. EU-Nachrichten Nr. 35/2005, S. 1, 5 ff.). Der Europäische Rat von Brüssel vom 14./15.12.2006 hat wegen der Probleme der Anerkennung des EU-Mitgliedstaats Zyperns durch die Türkei die Schlussfolgerungen des Rates (Allgemeine Angelegenheiten und Außenbeziehungen) vom 11.12.2006 angenommen (Schlussfolgerungen des Vorsitzes, EUNachrichten, Dokumentation Nr. 3/2006, S. 3, Nr. 10), wodurch acht wichtige Verhandlungskapitel suspendiert wurden (vgl. EU-Nachrichten Nr. 47/2006, S. 1). 28 Verfassung der Republik Kroatien vom 21.12.1990, zuletzt geändert am 23.04. 2001. Französische Übersetzung in JöR N.F. 45 (1997), S. 197 ff. Deutsche Übersetzung im Internet. Aktuelle Fassung in Flanz (Fn. 15), Bd. V (2001), ins Englische übersetzt von Deletis, K. / Martinovic. O. Vgl. dazu Häberle, P., Die Verfassung Kroatiens im europäischen Rechtsvergleich, in: ders., Europäische Verfassungslehre in Einzelstudien, 1999, S. 365 (365 ff.). Die Beitrittsverhandlungen mit Kroatien wurden gemäß dem Beschluss des Europäischen Rates von Brüssel vom 16./17.12.2004 (Schlussfolgerungen des Vorsitzes, EU-Nachrichten, Dokumentation Nr. 5/2004, S. 4 f., Nr. 14–16) aufgenommen, allerdings verzögert erst zum 04.10.2005, nachdem die Chefanklägerin des Haager Kriegsverbrechertribunals, Carla del Ponte, die zufriedenstellende Kooperationsbereitschaft Kroatiens bestätigt hatte. Der Europäische Rat von Brüssel vom 14./15.12.2006 hat die Schlussfolgerungen des Rates (Allgemeine Angelegenheiten und Außenbeziehungen) vom 11.12.2006 angenommen (Schlussfolgerungen des Vorsitzes, EU-Nachrichten, Dokumentation Nr. 3/2006, S. 3, Nr. 11), worin der Rat den positiven Fortschrittsbericht der Kommission zu Kroatien vom 08.11.2006 anerkennend würdigte.

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2. Deutschland a) Grundgesetz Die Präambel des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 beginnt mit den Worten: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“. Diese Formulierung geht, nachdem die Abgeordneten Süsterhenn (CDU) und Seebohm (DP) die Verantwortung vor Gott vorgeschlagen hatten 29 , auf einen Vorschlag des Abgeordneten der FDP und späteren Bundespräsidenten Theodor Heuss im Parlamentarischen Rat zurück 30 . Die Entstehungsgeschichte zeigt, dass im Parlamentarischen Rat durchaus verschiedene Motive für die Verankerung eines Gottesbezugs bestanden haben. Übereinstimmend zeigt sich darin aber, wie schon bei den Gottesbezügen in den zuvor erlassenen Landesverfassungen 31 , die bewusste Abkehr vom, wie die Verfassung des Freistaats Bayern von 1946 ausdrücklich hervorhebt, „gottlosen“ System des Nationalsozialismus 32 . Mit der Anrufung Gottes ist keine invocatio dei in dem Sinne verbunden, dass der Verfassungsgeber sich auf Gott berufen würde, in dessen Namen er gehandelt habe – so z. B. die Verfassung Irlands, die „Im Namen der Allerheiligsten Dreifaltigkeit“ erlassen wurde 33 , oder in dem Sinne, dass der Verfassungsgeber wie der Monarch im „Gottesgnadentum“ seine Herrschaftsgewalt von Gott herleite 34 . Aus diesem Grunde halten einige Autoren den Begriff invocatio dei für die Formulierung des Grundgesetzes 35 für unzutreffend 36 bzw. nur bei einem weiten Verständnis ___________ 29 Parlamentarischer Rat, Hauptausschuss (Bonn 1948/49), Verhandlungen, S. 77. Vgl. dazu Starck, Ch., in: Mangoldt, H. v. / Klein, F. / Starck, Ch. (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. 1, 5. Aufl. 2005, Präambel, Rn. 36. 30 Doemming, K.-B. v. / Füsslein, R.. W. / Matz, W., Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, in: JöR N. F. Bd. 1 (1951), S. 1 (34, 38). Vgl. dazu Maunz, T., in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar (Loseblatt, 1991), Präambel, Rn. 18. 31 Vgl. dazu Starck (Fn. 29), Präambel, Rn. 36, Fn. 112. Siehe dazu unten II. 2.b). 32 Vgl. Kunig, P., in: Münch, I. v. / Kunig, P., GG-Kommentar, Bd. 1, 5. Aufl. 2000, Präambel, Rn. 15. Die Formulierung „gottlos“ für den NS-Staat verwendet Bachof, O., Rezension der Festschrift für Zeidler (vgl. Fn. 25), in: AöR 115 (1990), 514 (516). Diese besondere Situation erklärt auch den Unterschied zur Weimarer Reichsverfassung vom 11.08.1919, die keinen Gottesbezug enthielt. Zur „invocatio dei“ im deutschen Verfassungsrecht vgl. Papenheim, A., Präambeln in der deutschen Verfassungsgeschichte seit Mitte des 19. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung der „invocatio dei“, Diss. 1998. 33 Vgl. dazu Dreier, H., in: Dreier, H. (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. I, 2. Aufl. 2004, Präambel, Rn. 14 f. m. w. N. Zur Verfassung Irlands s. u. II.3. 34 Vgl. zu dieser verfassungsgeschichtlichen Wurzel und zum Wandel durch die Demokratie Blumenwitz (Fn. 10), in: zur debatte, September/Oktober 1980, S. 12. 35 Gebraucht z. B. von Huber, P. M., in: Sachs, M. (Hrsg.), GG-Kommentar, 4. Aufl. 2007, Präambel. Rn. 38; Münch, I. v., in: Münch, I. v. / Kunig, P. (Hrsg.), GGKommentar, Bd. 1, 4. Aufl. 1992, Präambel, Rn. 6; Häberle (Fn. 25), S. 3.

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des Begriffes „Anrufung“ für zutreffend 37 . Die Bekundung der Verantwortung vor Gott betont vielmehr die Grenzen der verfassungsgebenden Gewalt sowie – in Verbindung mit der ergänzenden Formel der Verantwortung vor den Menschen – „die dienende, verantwortungsbeladene Stellung des … neu geschaffenen Staatswesens“ 38 , das, wie die Formulierung des Herrenchiemseer Entwurfs lautete, „um des Menschen willen da“ sein sollte 39 . In dem Bezug auf Gott, der auch und wohl zutreffender als nominatio dei 40 oder commemoratio dei 41 bezeichnet wird, liegt eine „Absage an menschlichen Größenwahn und Mahnung zur Bescheidenheit“ 42 – mit einem Blick nicht nur zurück auf den Nationalsozialismus, sondern auch auf die Seite, den anderen Teil Deutschlands, auf ein System, das den „wahren Menschen“ erst hervorbringen will 43 , ein Bekenntnis zur „Demut“, zur Bindung des im Übrigen rechtlich ungebundenen Verfassungsgebers an bestimmte allgemeingültige Werte, die – je nach Anschauung des Betrachters – als sittlich, moralisch oder religiös eingestuft werden können 44 . In der Einkleidung dieses Bekenntnisses in eine „invocatio dei“ wird lediglich eine Reverenz an die christlich-abendländische Tradition Deutschlands

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So Dreier (Fn. 33), Präambel, Rn. 14 m. w. N. So ausdrücklich auch die Befürworter der Beibehaltung des Gottesbezugs in der Präambel des Grundgesetzes in der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat, Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission gemäß Beschluss des Deutschen Bundestages (BTDrs. 12/1590, 12/1670) und Beschluss des Bundesrates (BR-Drs. 741/91), BT-Drs. 12/6000, S. 110 (2.c). Die Kommission wurde 1991 infolge Art. 5 des Vertrags zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands – Einigungsvertrag vom 31.08.1990 (BGBl. 1990 II, S. 885) eingesetzt. 37 So Kunig (Fn. 32), Präambel, Rn. 13. 38 Hamann, A. / Lenz, H., GG-Kommentar, 3. Aufl. 1970, Präambel, Anm. A. 39 Vgl. v. Doemming / Füsslein / Matz (Fn. 30), in: JöR N. F. Bd. 1 (1951), S. 1 (48): Art. 1 Abs. 1 des Herrenchiemseer Entwurfs lautete: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen“. 40 So Czermak, G., „Gott“ im Grundgesetz?, in: NJW 1999, S. 1300 (1300). 41 So Merten, D., Bürgerverantwortung im demokratischen Verfassungsstaat, in: VVDStRL 55 (1996), S. 7 (9), der auf den Gegensatz zur schweizerischen Bundesverfassung hinweist. 42 So Starck (Fn. 29), Präambel, Rn. 37. 43 Vgl. Starck (Fn. 29), Präambel, Rn. 37. Vgl. auch Blumenwitz (Fn. 10), in: zur debatte 1980, S. 12: „Aus der allgemeinen Religionsphänomenologie einschließlich ihrer historischen Wurzeln läßt sich jedoch unschwer herleiten, daß der Mensch um seiner selbst willen als Rechtssubjekt anerkannt wird, daß er nicht ‚staatlicher Homunculus‘ ist und daß er im Spannungsfeld Individuum – Gesellschaft über eigene Rechte verfügt, die ihn vor der Willkür derer, die an der Macht sind, bewahren“. 44 Huber (Fn. 35), Präambel, Rn. 39. Vgl. zur „Demutsformel“ Dreier (Fn. 33), Präambel, Rn. 15. Vgl. auch BVerfGE 33, 23 (27 f.) – Verweigerung jeglichen Eides aus religiösen Gründen durch Art. 4 Abs. 1 GG geschützt.

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gesehen 45 . Inhaltlich bestehe kein Unterschied zur im gleichen Atemzug beteuerten „Verantwortung vor den Menschen“, einer Verantwortung vor der Allgemeinheit oder einer solchen vor künftigen Generationen 46 . Es werde lediglich allen Formen totalitärer Ideologien sowie einem relativistischen Gesetzespositivismus eine Absage erteilt 47 . Dies wirft die Frage auf, ob dann der Gottesbezug nicht „im Grunde überflüssig“ ist 48 . Die Präambel stellt jedenfalls die religiöse und weltanschauliche Neutralität des Staates 49 nicht in Frage 50 . Entsprechend weit muss der „Gottesbegriff“ des Grundgesetzes sein. Die Anrufung Gottes bringt entgegen einer auch nur vereinzelt vertretenen Ansicht 51 nicht eine pro-christliche Auslegungsregel hervor 52 , selbst wenn bei der Verfassungsgebung an den Gott des Christentums gedacht wurde 53 . Angesichts der durch Art. 4 Abs. 1 GG garantierten Religionsfreiheit, die nicht nur andere Religionen, sondern als negative Religionsfreiheit auch Agnostiker 54 und auch Atheisten 55 erfasst, darf die Bezugnahme auf „Gott“ von vorneherein nicht auf Ausgrenzung angelegt sein. Die Berufung auf die Verantwortung vor Gott in der Präambel des Grundgesetzes war und bleibt immer wieder der Kritik ausgesetzt, und zwar von zwei ganz gegensätzlichen Standpunkten. Einerseits wird aus religiösen Gründen ___________ 45 BVerfGE 41, 29 (52) – Badische Simultanschule; BVerfGE 93, 1 (23) – Kruzifixbeschluss; Häberle (Fn. 25), S. 11 f. 46 Vgl. Wiegand, B., Das Prinzip Verantwortung und die Präambel des Grundgesetzes, in: JöR N. F. Bd. 43 (1995), S. 31 (49). Zustimmend Huber (Fn. 35), Präambel, Rn. 39, Fn. 70. 47 So der Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat (Fn. 36), BT-Drs. 12/6000, S. 110 f. Vgl. auch Hilpert, K., Im Namen Gottes. Anspruch und Grenzen der Religionsfreiheit, 2006, S. 29 f. 48 So in der Tat Zuleeg, M., in: Denninger, E. u. a. (Hrsg.), GG-Kommentar (Reihe Alternativkommentare, AK), 3. Aufl. (Loseblatt, 2001), Präambel, Rn. 10. 49 Vgl. z. B. BVerfGE 33, 23 (28); 41, 29 (50). 50 Huber (Fn. 35) Präambel, Rn. 39. 51 So Behrendt, E. L., Gott im Grundgesetz, 1980, S. 171, 183. 52 Ganz h. M., vgl. Kunig (Fn. 32), Präambel, Rn. 16 m. w. N.; a. A. v. Schlabrendorff,, abwM BVerfGE 33, 23/35 (39). 53 Vgl. dazu Ennuschat, J., „Gott“ und Grundgesetz, in: NJW 1998, S. 953 (954). 54 Also auch Leute, die sich wundern, dass an der Universität Bonn sich gleich zwei Fakultäten mit etwas befassten, das es gar nicht gebe, nämlich Gott, wie Papst Benedikt XVI. in seiner Vorlesung „Mut zur Weite der Vernunft“ vom 12.09.2006 an der Universität Regensburg berichtete, abgedruckt in Posselt, M. (Hrsg.), Benedikt XVI. –„Der Liebe kann man glauben“. – Die Predigten und Reden zum Papst-Besuch in Bayern, 2006, S. 101 (104 f.). 55 Die negative Religionsfreiheit schützt als zugleich positive Weltanschauungsfreiheit sowohl eine areligiöse als auch eine antireligiöse Haltung, vgl. Morlok, M., in: Dreier, H., GG-Kommentar, Bd. I, 2. Aufl. 2004, Art. 4, Rn. 65; Starck (Fn. 29), Art. 4 Abs. 1, 2, Rn. 23.

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eine solch „unspezifische Rede von Gott“ abgelehnt 56 . Andererseits wird befürchtet, die Bezugnahme auf Gott könne für Atheisten desintegrierend wirken 57 und damit den Auftrag einer Verfassung als Integrationsfaktor 58 verfehlen. Diese Kritik kulminierte nach der Wiedervereinigung Deutschlands und der dadurch motivierten Diskussion um eine (grundlegende) Reform des Grundgesetzes in dem Vorschlag seitens BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der von der PDS übernommen wurde, die Berufung auf Gott aus dem Grundgesetz zu streichen. In einem säkularisierten Gemeinwesen, in dem viele Menschen nicht an Gott glaubten, habe dieser Passus seine Berechtigung verloren 59 . Die Gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat zur Reform des Grundgesetzes lehnte diese Streichungsvorschläge aber mit großer Mehrheit ab 60 . Die Formulierung sei ein politisches Dokument darüber, in welchem Geist der Akt der Verfassungsgebung vollzogen wurde, und dokumentiere die Achtung vor überpositivem Recht. Das „offene“ Verständnis des Gottesbegriffs in der Präambel des Grundgesetzes entkräftet einerseits die auf eine desintegrative Wirkung abstellende Kritik, wirft andererseits aber die Frage nach dem normativen Wert und letztlich dem Wert überhaupt dieser Bezugnahme auf „Gott“ auf. Die Verankerung in einer Präambel spricht nicht per se gegen den rechtlichen Gehalt, da auch die Präambel Bestandteil des Grundgesetzes ist 61 . Wie Carlo Schmid im Parlamentarischen Rat betonte, ist sie nicht nur ein rhetorischer Vorspruch, der aus Gründen der Dekoration oder Feierlichkeit dem eigentlichen Verfassungstext vorangestellt wurde, sondern ein „wesentliches Element des Grundgesetzes“, von dem aus der ganze Verfassungstext erst seine eigentliche politische und juristische Qualifikation erhält 62 . Der rechtliche Gehalt der Präambel ist allerdings nicht einheitlich 63 . Verfassungsgrundsätze und Staatszielbestimmungen stehen hier neben eher deklaratorischen Bekundungen zur historischen, politischen und verfassungsrechtlichen Lage 64 . Hinsichtlich des Gottesbezugs ist ___________ 56 Vgl. den Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat (Fn. 36), BT-Drs. 12/6000, S. 107, 109 f. 57 Vgl. Huber (Fn. 35), Präambel, Rn. 38 m. w. N. 58 Vgl. zu dieser Funktion einer Verfassung Hesse, K., Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 4. 59 Vgl. den Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat (Fn. 36), BT-Drs. 12/6000, S. 108 f., 109 f. 60 Ebd., S. 108 f. (vier Ja-Stimmen, vier Enthaltungen bei zahlreichen Nein-Stimmen). Vgl. dazu Jahn, F.-A., Empfehlungen der Gemeinsamen Verfassungskommission zur Änderung und Ergänzung des Grundgesetzes, in: DVBl. 1994, S. 177 (186). 61 BVerfGE 5, 85 (126) – KPD-Urteil; Huber (Fn. 35), Präambel, Rn. 8 m. w. N. 62 Doemming / Füsslein / Matz (Fn. 30), in: JöR N. F., Bd. 1 (1951), S. 28 f. 63 Vgl. dazu Badura, P., Staatsrecht. Systematische Erläuterung des Grundgesetzes, 3. Aufl. 2003, B, Rn. 2. 64 Huber (Fn. 35), Präambel, Rn. 11.

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fraglich, ob sich über die Motivation der Absetzung vom Nationalsozialismus und jeder Form totalitärer Herrschaft und Ideologie hinaus, die ihre instrumentelle Umsetzung in speziellen Normen des Grundgesetzes, insbesondere in der herausgehobenen Stellung der Grundrechte findet 65 , rechtliche Konsequenzen ergeben. Das „Wissen um die Grenzen menschlichen Tuns“ hätte sich auch ohne Bezug auf Gott zum Ausdruck bringen lassen, wie beispielsweise in der Verfassung Mecklenburg-Vorpommerns 66 . Gleiches gilt freilich für den in jüngerer Zeit unternommenen Versuch, die Präambel für einen generationenübergreifenden Umweltschutz fruchtbar zu machen und die entsprechende Staatszielbestimmung des Art. 20a GG dadurch anzureichern 67 , zumal dies nicht notwendig in Verantwortung für die „Schöpfung“, sondern auch allein in Verantwortung für die künftigen Menschen geschehen kann. Steht Gott lediglich als „Chiffre für eine transzendente Institution“ 68 , lässt sich der Norm jedenfalls kein spezifisch auf „Gott“ bezogener Inhalt entnehmen. In der Tat wird die Direktionskraft der Norm als gering 69 bis auf Null reduziert 70 eingeschätzt. Als religionsbezogene Folge wird immerhin angenommen, dass sie einer die Freiheit der Religion und des weltanschaulichen Bekenntnisses negierenden Staatsideologie entgegensteht und insoweit auch bei der Auslegung der betreffenden Vorschriften des Grundgesetzes (Art. 4, Art. 19 Abs. 2, Art. 79 Abs. 3, Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 1 WRV) zu beachten ist 71 . Allerdings wird Gott auch bei der Konzeption moderner Verfassungen offenbar als geeignete „Chiffre für einen über alles Menschliche hinausgehenden Verpflichtungshorizont“ angesehen, so dass die „Formel sogar Atheisten annehmen“ könnten, wie die Expertenkommission für die Totalrevision der Schweizerischen Bundesverfassung den erneut vorgesehenen Gottesbezug in der Präambel begründet, worin sich „ein Bekenntnis zur Relativität aller staatlichen Macht“ dahingehend zeige, „dass das Schweizervolk seinen Staat nicht als das Höchste betrachte, sondern dass es einen göttlichen Auftrag zur Verwirklichung einer menschenwürdigen Ordnung des Zusammenlebens anerkenne“. Diese Art der Verfas___________ 65

Vgl. Dreier (Fn. 33), Präambel, Rn. 17. Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern vom 23.05.1993 (GVOBl. S. 372), geändert durch Gesetz vom 04.04.2000 (GVOBl. S. 158); Text in Pestalozza, C., Verfassungen der deutschen Bundesländer, 8. Aufl. 2005, Nr. 8. Präambel: „Im Bewusstsein der Verantwortung aus der deutschen Geschichte sowie gegenüber den zukünftigen Generationen ...“. 67 So Dreier (Fn. 33), Präambel, Rn. 22; Wiegand (Fn. 46), in: JöR N. F. Bd. 43 (1995), S. 53 f.; Zuleeg (Fn. 48), Präambel, Rn. 11. 68 So Dreier (Fn. 33), Präambel, Rn. 16. Vgl. auch Hilpert (Fn. 47), S. 30: Gedanke der Transzendenz, chiffriert mit dem Symbol „Gott“. 69 So z. B. Huber (Fn. 35), Präambel, Rn. 40. 70 So Zuleeg (Fn. 48), Präambel, Fn. 10: „keinerlei rechtlichen Gehalt“. 71 BVerfGE 19, 206 (216); Huber (Fn. 35), Präambel, Rn. 40 m. w. N. in Fn. 79; Häberle (Fn. 25), S. 14 f. 66

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sungseinleitung dürfe freilich „nicht eine Verpflichtung auf eine bestimmte Weltanschauung mit sich bringen“. Sie „wolle lediglich eine Grundhaltung ausdrücken, dass sich Mensch und Staat nicht auf sich selbst gründen wollten“ 72 .

b) Landesverfassungen Von den bereits vor dem Grundgesetz erlassenen Landesverfassungen enthält neben der eindrucksvollen Präambel der Verfassung des Freistaates Bayern vom 2. Dezember 1946, die sich das Bayerische Volk „angesichts des Trümmerfeldes, zu dem eine Staats- und Gesellschaftsordnung ohne Gott, ohne Gewissen und ohne Achtung der Würde des Menschen die Überlebenden des Zweiten Weltkrieges geführt hat“ 73 , die Verfassung für Rheinland-Pfalz vom 18. Mai 1947 74 einen ausdrücklichen Gottesbezug. Von den nach dem Grundgesetz erlassenen Landesverfassungen der „alten“ Bundesländer enthalten die Baden-Württembergs 75 , Nordrhein-Westfalens 76 und – aufgrund einer Volksinitiative 1994 eingefügt – Niedersachsens 77 einen an der Formulierung des Grundgesetzes orientierten Gottesbezug. Neben Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen 78 sieht das Saarland 79 fakultativ die Leis___________ 72 Expertenkommission für die Vorbereitung einer Totalrevision der Bundesverfassung, Bericht, 1977, S. 18. Vgl. dazu Fleiner, T., Die rechtliche und staatsphilosophische Bedeutung der Präambel unserer Bundesverfassung, in: Reformatio Nr. 25/1 (1976), 24 f. 73 GVBl. 1946, S. 333. Insoweit unverändert in der aktuellen Verfassung i. d. F. d. Bek. vom 15.12.1998 (GVBl. S. 991), zuletzt geändert durch Gesetze vom 10.11. 2003 (GVBl. S. 816 f.). Text in Pestalozza (Fn. 66), Nr. 2. Art. 131 Abs. 2 nennt als „oberste Bildungsziele“ u. a. „Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor religiöser Überzeugung und vor der Würde des Menschen“. 74 VOBl. 1947, S. 209. Zuletzt geändert durch das 35. Landesgesetz zur Änderung der Verfassung vom 14.06.2004 (GVBl. S. 321). Text in Pestalozza (Fn. 66), Nr. 11. Der Vorspruch der Verfassung beginnt mit den Worten: „Im Bewusstsein der Verantwortung vor Gott, dem Urgrund des Rechts und Schöpfer aller menschlichen Gemeinschaft“. Art. 33 nennt als Erziehungsziel u. a. die „Gottesfurcht“. 75 Vorspruch der Verfassung des Landes Baden-Württemberg vom 11.11.1953 (GBl. S. 173), zuletzt geändert durch Gesetz vom 23.05.2000 (GBl. S. 449). Text in Pestalozza (Fn. 66). Art. 12 Abs. 1 enthält als Erziehungsziele u. a. die „Ehrfurcht vor Gott“ sowie den „Geist der christlichen Nächstenliebe“. 76 Präambel der Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen vom 28.06.1950 (GV NW S. 127), zuletzt geändert durch Gesetz vom 22.06.2004 (GV NW, S. 360). Text in Pestalozza (Fn. 66), Nr. 10. Art. 7 Abs. 1 enthält als Erziehungsziel u. a. „Ehrfurcht vor Gott“. 77 Niedersächsische Verfassung vom 19.05.1993 (GVBl. S. 107), zuletzt geändert durch Gesetz vom 21.11.1997 (GVBl. S. 480). Text in Pestalozza (Fn. 66), Nr. 9. Einfügung der Präambel durch Gesetz vom 06.06.1994 (GVBl. S. 229). 78 Art. 48 S.2, 3 BaWüVerf.; Art. 53 S. 1, 2 NRWVerf.; Art. 31 S. 2 NdsVerf.

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tung des Amtseides mit der religiösen Beteuerung („So wahr mir Gott helfe“) vor. In den Verfassungen Berlins, Bremens und Hamburgs sowie Hessens und Schleswig- Holsteins kommt das Wort „Gott“ nicht vor. Die Verfassung Schleswig-Holsteins sieht die Bekräftigung des Amtseides fakultativ durch eine religiöse Bekräftigung vor 80 ; für die Verfassungen Hessens 81 und Bayerns 82 ergibt sich dies mittelbar aus dem Recht, diese zu verweigern. Die Verfassungen Bremens 83 und Hamburgs 84 sehen ohne einen solchen Umkehrschluss lediglich die Vereidigung auf die Verfassung vor. Die Verfassung Berlins 85 enthält insoweit keine Vorschrift. In den nach der deutschen Wiedervereinigung entstandenen bzw. wiedererstandenen so genannten „neuen“ Bundesländern wurde in den Verfassungen Sachsen-Anhalts 86 und Thüringens 87 ein ausdrücklicher Gottesbezug („Verantwortung vor Gott“) vorgesehen, in der Verfassung Sachsens 88 immerhin der Wille bekundet, „der Bewahrung der Schöpfung“ zu dienen. Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Sachsen-Anhalt sehen für den Amtseid fakultativ die religiöse Beteuerung „So wahr mir Gott helfe“ vor 89 , Brandenburg und Thüringen fakultativ eine unspezifizierte religiöse ___________ 79 Art. 89 Satz 2, 3 Verfassung des Saarlands vom 15.12.1947 (ABl. S. 1077), zuletzt geändert durch Gesetz Nr. 1478 zur (22.) Änderung der Verfassung vom 05.09. 2001 (ABl. S. 1630). Text in Pestalozza (Fn. 66), Nr. 12. 80 Art. 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 Verfassung des Landes Schleswig-Holstein vom 13.06.1990 (GVOBl. S. 391), zuletzt geändert durch Gesetz vom 14.02.2004 (GVOBl. S. 54). Text in Pestalozza (Fn. 66), Nr. 15. 81 Art. 111 mit Umkehrschluss aus Art. 48 Abs. 2 Verfassung des Landes Hessen vom 01.12.1946 (GVBl. S. 229), zuletzt geändert durch Gesetz vom 18.10.2002 (GVBl. S. 628). Text in Pestalozza (Fn. 66), Nr. 7. 82 Art. 56 BayVerf. (s. o. Fn. 73) sieht ohne nähere Bestimmung den Eid der Mitglieder der Staatsregierung „auf die Staatsverfassung“ vor. Aus Art. 107 Abs. 6 BayVerf. ergibt sich, dass er ohne religiöse Beteuerung geleistet werden darf. 83 Art. 109 Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen vom 21.10.1947 (GBl. S. 251), zuletzt geändert durch Gesetz vom 08.04.2003 (GBl. S. 157). Text in Pestalozza (Fn. 66), Nr. 5. 84 Art. 74 Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg vom 06.06.1952 (GVBl. S. 117), zuletzt geändert durch Gesetz vom 16.05.2001. Text in Pestalozza (Fn. 66), Nr. 6. 85 Verfassung von Berlin vom 23.11.1995 (GVBl. S. 779), zuletzt geändert durch Gesetz vom 01.09.2004 (GVBl. S. 367). Text in Pestalozza (Fn. 66), Nr. 3. 86 Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt vom 16.07.1992 (GVBl. S. 600). Text in Pestalozza (Fn. 66), Nr. 14. Präambel: „in Achtung der Verantwortung vor Gott“. 87 Verfassung des Freistaats Thüringen vom 25.10.1993 (GVBl. S. 625), zuletzt geändert durch Gesetz vom 11.10.2004 (GVBl. S. 745). Text in Pestalozza (Fn. 66), Nr. 16. Präambel: „auch in Verantwortung vor Gott“. 88 Verfassung des Freistaates Sachsen vom 27.05.1992 (GVBl. S. 243). Text in Pestalozza (Fn. 66), Nr. 13 (Präambel). 89 Art. 44 S. 2 MV (s. o. Fn. 66); Art. 61 S. 3 SächsVerf; Art. 66 Abs. 2 SachsAnhVerf.

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Bekräftigung 90 . Die ausdrückliche oder immerhin indirekte Aufnahme von Gottesbezügen in diesen Verfassungen auf dem Gebiet eines sich zu einer betont atheistischen Ideologie bekennenden Staates erscheint bemerkenswert 91 .

3. Irland In der Präambel der Verfassung der Republik Irland vom 1. Juli 1937 92 wird Gott nicht nur erwähnt, sondern deutlich gemacht, dass von ihm alle Autorität kommt. Das Volk von Irland nimmt die Verfassung an anerkennend „in Demut alle unsere Verpflichtungen gegenüber unserem göttlichen Herrn, Jesus Christus, der unseren Vätern durch Jahrhunderte der Heimsuchung hindurch beigestanden hat“, in ihrem „heldenhaften und unermüdlichen Kampf um die Wiedererlangung der rechtmäßigen Unabhängigkeit“. Die für den Präsidenten der Republik vorgesehene Eidesformel, für die ein Weglassen der religiösen Beteuerung nicht ausdrücklich vorgesehen ist, erbittet nicht nur den Beistand, sondern auch die Führung Gottes (Art. 12 Abs. 8 UAbs. 2). Der Staat erkennt an, dass „dem allmächtigen Gott die Huldigung öffentlicher Verehrung gebührt“, er „erweist Seinem Namen Ehre und achtet und ehrt die Religion“ (Art. 44 Abs. 1), wobei allerdings ausdrücklich keine Religion finanziell unterstützt wird und jede unterschiedliche Behandlung aufgrund eines religiösen Bekenntnisses ausgeschlossen wird (Art. 44 Abs. 2). Die Verfassung endet mit den Worten „Zur Ehre Gottes und zum Ruhme Irlands“. Diese in der Europäischen Union einzigartige Betonung des Religiösen lässt sich historisch erklären. Die bevorzugte Stellung („special position“), die der „Heiligen RömischKatholischen Kirche“ zugemessen wurde, ist 1972 gestrichen worden 93 . Die vom Parlament 1995 eingesetzte Review Group, die Empfehlungen über eine Verfassungsänderung abgeben sollte, äußerte Kritik am „Tonfall der Verfassung“ und empfahl eine weniger religiöse Färbung 94 . Jedoch bleiben die ge___________ 90 Art. 88 Satz 2 Verfassung des Landes Brandenburg vom 20.08.1992 (GVBl. I S. 298), zuletzt geändert durch Gesetz vom 16.06.2004 (GVBl. I, S. 254). Text in Pestalozza (Fn. 66), Nr. 4; Art. 71 Abs. 2 ThürVerf. 91 Vgl. auch Häberle, P., Die Schlussphase der Verfassungsbewegung in den neuen Bundesländern (1992/93), in: ders., Das Grundgesetz zwischen Verfassungsrecht und Verfassungspolitik. Ausgewählte Studien zur vergleichenden Verfassungslehre in Europa, 1996, S. 309 (316 f., 365). Die Gegner des in die Verfassung Sachsen-Anhalts aufgenommenen Gottesbezugs (s. o. Fn. 86) begründeten ihre Ablehnung damit, dass sich in Sachsen-Anhalt nur etwa 20 Prozent der Bevölkerung zu Gott bekennen, vgl. Mahnke, H. H., Die Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt, 1993, Präambel, Rn. 5. 92 Deutsche Übersetzung in Kimmel / Kimmel (Fn. 11), Nr. 8. 93 Vgl, dazu Kloevekorn, A., Die irische Verfassung 1937, 2000, S. 117 ff., 172 ff. 94 Vgl. Kloevekorn (Fn. 93), S. 180.

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nannten Formulierungen auch nach der letzten Änderung der Verfassung vom 24. Juli 2004 unverändert.

4. Griechenland Die Verfassung Griechenlands vom 9. Juni 1975 95 wurde „Im Namen der Heiligen, Wesensgleichen und Unteilbaren Dreifaltigkeit“ beschlossen. Damit weist die Präambel wie die irische Verfassung und im Gegensatz zum Grundgesetz eine „echte“ invocatio dei auf. Im Abschnitt über die Beziehung zwischen Kirche und Staat, die die Religion der Östlich-Orthodoxen Kirche Christi als „vorherrschende Religion“ in Griechenland bezeichnet, wird von „unserem Herrn Jesus Christus“ gesprochen (Art. 3 Abs. 1). Art. 14 Abs. 3 Satz 2 lit. a lässt als Ausnahme von der Pressefreiheit die Beschlagnahme von Zeitungen und sonstigen Publikationen auf Anordnung des Staatsanwaltes und nach Veröffentlichung (so genannte Nachzensur) u. a. wegen „Verunglimpfung der christlichen und jeder anderen bekannten Religion“ zu. Zu den Erziehungszielen gehört u. a. die Entwicklung des „religiösen Bewußtseins“ (Art. 16 Abs. 2).

5. Dänemark In der dänischen Verfassung 96 kommt „Gott“ in Zusammenhang mit der Religionsfreiheit vor. Gemäß § 67 haben die Bürger „das Recht, sich in Gemeinschaften zusammenzuschließen, um Gott auf die Weise zu dienen, die ihrer Überzeugung entspricht“. Es „darf jedoch nichts gelehrt oder unternommen werden, was gegen die Sittlichkeit oder gegen die öffentliche Ordnung besteht“. Diese Einschränkung hat leider – nicht nur in Dänemark – aktuelle Bedeutung erlangt. Gemäß § 68 ist niemand verpflichtet, persönliche Beiträge zu einer anderen als der von ihm selbst befolgten Art der „Gottesverehrung“ zu leisten.

6. Polen Polen war nicht trotz, sondern wohl gerade wegen der betriebenen, aber hier nur eingeschränkt möglichen Unterdrückung der Kirche durch das kommunistische Regime neben Irland der am stärksten „christlich“ und d. h. hier wie dort „katholisch“ geprägte Staat Europas. Nach der Überwindung des Kommunismus im Rahmen der großen Wende 1989/1990 galt es, eine neue Verfassung zu ___________ 95 96

s. o. Fn. 20. s. o. Fn. 18.

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formulieren, wie es in der Präambel der Verfassung vom 2. April 1997 97 heißt, „nachdem wir in 1989 die Möglichkeit wiedergewonnen haben, souverän und demokratisch über unser Schicksal zu bestimmen“. Um diese Präambel wurde in der polnischen Öffentlichkeit lange – die polnische Verfassungsgebung dauerte von allen postkommunistischen Staaten am längsten – und heftig gestritten, insbesondere um die Frage eines „Gottesbezugs“ 98 . Schließlich einigte man sich auf folgende Kompromissformel, die alle Beteiligten einbeziehen sollte: „beschließen wir, das Polnische Volk – alle Staatsbürger der Republik, sowohl diejenigen, die an Gott als die Quelle der Wahrheit, Gerechtigkeit, des Guten und Schönen glauben, als auch diejenigen, die diesen Glauben nicht teilen, sondern diese universellen Werte aus anderen Quellen ableiten … im Bewusstsein der Verantwortung vor Gott oder vor dem eigenen Gewissen, uns die Verfassung der Republik Polen zu geben“. Damit wird die Berufung auf Gott und auf christliche Werte der Berufung auf universelle und allgemeinmenschliche Werte gleichgestellt 99 . Dies an sich und die gefundene Formulierung wurde von einigen Autoren als besonders gelungen empfunden und auch für einen Vertrag über eine Europäische Verfassung empfohlen 100 . Eine befriedende Wirkung hatte sie zumindest zunächst nicht. Vor allem seitens der Katholischen Kirche Polens wurde Kritik an der Präambel geäußert und die Aufnahme einer „Invocatio Dei“ vergleichbar der Bundesverfassung der Schweiz gefordert 101 . Der Ausgang des Referendums über die Verfassungsnovelle war nicht zuletzt deshalb sehr knapp. Dies muss freilich auch im Zusammenhang mit dem Streit über das grundsätzliche Verhältnis von Staat und Kirche gesehen werden, der zugunsten der Neutralität des Staates entschieden wurde 102 .

___________ 97

s. o. Fn. 24. Vgl. dazu Diemer-Benedict, T., Die neue Verfassung der Republik Polen, in: Osteuropa, Bd. 43 (1997), S. 223 (225). 99 Vgl. Diemer-Benedict (Fn. 98), S. 225. Vgl. zur Problematik dieses Ansatzes Isensee, J., Rekurs des Verfassungsgebers auf Gott: Invocatio dei und provocatio ad deum in der Verfassung des säkularen Staates, in: Valeat aequitas. Festschrift für Remigius Sobanski, 2000, S. 177 (177 ff.). 100 So Häberle, P., Europäische Verfassungslehre, 4. Aufl. 2006, S. 243: „die beste Alternativ-Klausel in Sachen Gottesbezug“. Vgl. auch Meyer, J., in: Meyer, J. (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Kommentar, 2. Aufl. 2006, Präambel, Rn. 14. 101 Vgl. Freytag, G., Die Verfassung der Republik Polen vom 1. April 1997 im Spiegel des gesamteuropäischen Verfassungsstandards, in: ROW 1998, S. 1 (4), Fn. 36. 102 Vgl. dazu Diemer-Benedict (Fn. 98), S. 226. Zur Regelung in Art. 25 der Verfassung siehe oben II.1. 98

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III. Exkurs: Gottesbezüge in Verfassungen außerhalb der Europäischen Union In Europa findet sich ein Gottesbezug, wie gezeigt, in der Schweiz, und zwar nicht nur in der Bundesverfassung 103 , sondern auch – zum Teil in sehr ausgeprägter Form – auch in den Verfassungen einiger Kantone 104 . Gottesbezüge enthalten außerhalb Europas z. B. die Präambel der Verfassung der Republik Südafrika von 1996 105 und die Verfassung Kanadas 106 . Soweit sich islami___________ 103 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18.04.1999 (Amtliche Sammlung – AS 1999, S. 2556), in Kraft seit 01.01.2000, zuletzt geändert am 16.12.2005 (AS 2006, S. 3033). Präambel: „Im Namen Gottes des Allmächtigen!“ Indirekt ferner: „… in der Verantwortung gegenüber der Schöpfung …“ Text in: Flanz (Fn. 15), Bd. XVII (1999). 104 Vgl. insbesondere den Vorspruch der Verfassung des Kantons Uri vom 28.10. 1984: „Im Namen Gottes! Das Volk von Uri, das sich in seiner grossen Mehrheit zum christlichen Glauben bekennt, …“. Einen Gottesbezug enthalten z. B. auch die Verfassung des Kantons Unterwalden vom 19.05.1968, zuletzt geändert am 28.11.2004 („Im Namen Gottes, des Allmächtigen!“) und die Verfassung des Kantons Aargau vom 25.06.1980 („in der Absicht die Verantwortung vor Gott gegenüber Mensch, Gemeinschaft und Umwelt wahrzunehmen“). Einen mittelbaren Gottesbezug (die „Schöpfung“ muss ja einen Schöpfer haben) enthalten z. B. die Verfassung des Kantons Basel-Stadt vom 23.03.2005 („In Verantwortung gegenüber der Schöpfung und im Wissen um die Grenzen menschlicher Macht …“) und die Verfassung des Kantons Bern vom 06.06. 1993, zuletzt geändert am 22.09.2002 („Verantwortung gegenüber der Schöpfung“). Im Kanton Zürich war bei den Beratungen der neuen Verfassung strittig, ob ein solcher mittelbarer oder ein unmittelbarer („… im Vertrauen auf Gott …) Bezug in die Präambel aufgenommen werden soll, vgl. Protokolle des Zürcher Verfassungsrats, 53. Sitzung vom 25.06.2004, S. 2826 ff. Eine „offene“, wohl an der polnischen Verfassung (s. o. II.6.) orientierte Formulierung enthält die neue Verfassung des Kantons Freiburg/Fribourg vom 16.05.2004: „Im Glauben an Gott oder an eine andere Quelle unserer Werte …“. Keinen Gottesbezug enthält z. B. die Verfassung des Kantons Neuenburg/ Neuchatel vom 25.04.2000, geändert durch Dekret vom 22.03.2005 („Verantwortung gegenüber den Menschen, der Gemeinschaft, der natürlichen Umwelt und den künftigen Generationen“), die auch die strikte Trennung von Staat und Kirche ausdrücklich vorsieht (Art. 97 Abs. 2, 3), gleichwohl die evangelisch-reformierte, die römisch-katholische und die christkatholische Kirche als „Institutionen von öffentlichem Interesse“ anerkennt, „welche die christliche Tradition des Landes verkörpern“ (Art. 98). Eine strikte Trennung sieht die Verfassung des Kantons Genf vom 24.05.1847 i. d. F. des Verfassungsgesetzes vom 17.10.1958, zuletzt geändert durch Verfassungsgesetz vom 10.06. 2005, vor (Art. 164 Abs. 2 [keine Unterhaltung und Unterstützung eines Kultus] und Abs. 3 [keine Kirchensteuer]). Die zitierten Verfassungen sind im Internet abrufbar. Vgl. auch Waser-Huber, L., Die Präambeln in den schweizerischen Verfassungen, 1988. 105 Verfassung der Republik Südafrika vom 09.05.1996, in Kraft seit 04.02.1997, geändert am 11.04.2003. Präambel: „May God protect our people“ … „God bless South Africa“. Text in Flanz (Fn. 15), Bd. XVI (Flanz, G. / Ward, P. H., 2004). 106 Im in Ergänzung zur Verfassung von 1867 erlassenen Constitutional Act von 1982, Anhang B, Teil I: Canadian Charter of Rights and Freedoms: „Whereas Canada is founded upon principles that recognize the supremacy of God and the rule of law“. Text in: Flanz (Fn. 15), Bd. IV (1999).

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sche Staaten eine Verfassung geben, enthalten diese einen Gottesbezug, und zwar nicht nur in der Präambel, sondern durchgehend. Als Beispiel sei hier die Verfassung der Islamischen Republik Iran vom 15. November 1979 genannt, die mit den Worten „Im Namen Gottes des Allerbarmers, des Gnädigen!“ (Allah mit „Gott“ übersetzt) beginnt und in Art. 2 die Islamische Republik als eine „Ordnung auf der Grundlage des Glaubens“ bestimmt 107 . In den USA enthält die Verfassung von 1787 keinen Gottesbezug und normiert das Erste Amendment vom 15. Dezember 1791 – das Trennungsprinzip – wonach der Kongress kein Gesetz erlassen darf, das die Einführung einer Religion betrifft oder die freie Ausübung einer Religion verbietet 108 . Die Virginia Declaration of Rights vom 12. Juni 1776, das Vorbild für Bürger- und Menschenrechtskataloge, spricht dagegen von der Religion oder Ehrfurcht, „die wir unserem Schöpfer schulden“, und die Unabhängigkeitserklärung von 1776 betont, dass „alle Menschen gleich sind von Geburt, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind“. Im Gegensatz zur Bundesverfassung enthalten die Verfassungen aller 50 Bundesstaaten einen ausdrücklichen Bezug auf Gott, meist bereits in der Präambel 109 .

IV. Kein Gottesbezug im Verfassungsvertrag 1. Religionsrechtliche Bezüge im Europarecht Im gegenwärtig geltenden Europarecht, d. h. dem Vertrag über die Europäische Union und den Verträgen zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft und zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft in der Fassung des Vertrages von Nizza, findet sich kein Bezug auf „Gott“. Allerdings zeigte sich bald, dass das Europarecht auch Auswirkungen auf die Religionsfreiheit und die Stellung der Kirchen und Religionsgemeinschaften hat. So entwickelte der EuGH im Rahmen seiner Grundrechtsrechtsprechung, basierend auf der Europäischen Menschenrechtskonvention, die in Art. 9 u. a. die Religionsfreiheit einschließlich der Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekennen, gewährleistet, und den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten, die Religionsfreiheit als allgemeinen Grundsatz des Gemeinschafts-

___________ 107 Verfassung der Islamischen Republik Iran von 1979, geändert 1989. Text in: Flanz (Fn. 15), Bd. IX (1992). 108 Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika vom 17.09.1787 mit 27 Zusatzartikeln, zuletzt ergänzt 1992. Zusatzartikel I als Bestandteil der Bill of Rights. Text in: Flanz (Fn. 15), Bd. XIX (1996). 109 Vgl. dazu Guttenberg, K.-T. zu, Verfassung und Verfassungsvertrag. Konstitutionelle Entwicklungsstufen in den USA und der EU, Diss. 2007, S. 308 ff. m. w. N.

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rechts (vgl. Art. 6 Abs. 2 EUV) 110 . Die Grundfreiheiten, insbesondere die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, sowie die allgemeinen und speziellen Diskriminierungsverbote (Art. 12, 13 EGV), die Gleichberechtigung und Gleichstellung von Mann und Frau im Arbeitsleben (vgl. Art. 141 EGV) sowie das auf die Ermächtigungsgrundlagen des Primärrechts (insbesondere Art. 13 Abs. 2 EGV, der den Rat ermächtigt, „geeignete Vorkehrungen zu treffen, um Diskriminierungen u. a. aufgrund der Religion oder der Weltanschauung zu bekämpfen“, sowie Art. 141 Abs. 3 EGV) gestützte Sekundärrecht hatten und haben auch Auswirkungen auf die Kirchen und Religionsgemeinschaften, die mit dem ebenfalls geschützten Recht der Kirchen und Religionsgemeinschaften auf (kollektive) Religionsfreiheit auszugleichen waren und sind 111 . Erwähnt sei hier nur die Umsetzung der so genannten Antidiskriminierungsrichtlinien durch das so genannte Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz 112 . Dem Recht der Kirchen und Religionsgemeinschaften auf Selbstbestimmung im „religiösen“ Bereich sollte die Erklärung (Nr. 11) zum Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften zum Vertrag von Amsterdam113 Rechnung tragen. Darin verpflichtet sich die Europäische Union, den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen sowie weltanschauliche Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, zu achten und nicht zu beeinträchtigen. Inwieweit diese Erklärung hilfreich ist, wäre ein eigenes Thema.

___________ 110 EuGH, Urt. v. 27.10.1976, Rs. 130/75 (Prais/Rat), Slg. 1976, 1589. Vgl. dazu Pernice, I., Religionsrechtliche Aspekte im europäischen Gemeinschaftsrecht, in: JZ 1977, S. 777 (777 ff.). Generell dazu Bausback, W., Religions- und Weltanschauungsfreiheit als Gemeinschaftsgrundrecht, in: EuR 2000, S. 261. 111 Vgl. dazu Streinz, R., Auswirkungen des Europarechts auf das deutsche Staatskirchenrecht, in: Marré, H. / Schümmelfeder, D. / Kämper, B. (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, Bd. 31 (1997), S. 53 (53 ff.). 112 Gesetz zur Umsetzung europäischer Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung (Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz – AGG) vom 14.08.2006, BGBl. I, S. 1897, in Kraft seit 18.08.2006. Das AGG musste in Fortführung rot-grüner Gesetzgebungstradition durch die Große Koalition bereits „nachgebessert“ werden, was durch Art. 8 Abs. 1 des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Betriebsrentengesetzes vom 02.12.2006 (BGBl. I, S. 2742) erfolgte. Vgl. zur zulässigen unterschiedlichen Behandlung wegen der Religion oder Weltanschauung als speziellen Rechtfertigungsgrund § 9 AGG, der Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl.2000 Nr. L 303/16) umsetzt. Vgl. dazu Bauer, J.-H. / Göpfert, B. / Krieger, S., Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz. Kommentar, 2007, § 9, Rn. 8 ff. 113 ABl. 1997 Nr. C 340/1. Diese Erklärung wurde inhaltlich in Art. I-52 EVV übernommen. Vgl. dazu Waldhoff, C., in: Calliess, C. / Ruffert, M. (Hrsg.), Verfassung der Europäischen Union. Kommentar der Grundlagenbestimmungen, 2006, Art. I-52, Rn. 13 ff.

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2. Kein Gottesbezug in der Grundrechtecharta Um die vom EuGH entwickelten Gemeinschaftsgrundrechte auf eine festere, d. h. geschriebene Grundlage zu stellen, wurde vom Europäischen Rat von Köln 1999 ein Gremium eingesetzt, das eine Charta der Europäischen Grundrechte ausarbeiten sollte, und zwar auf der Basis der auf der Ebene der Europäischen Union geltenden „Freiheits- und Gleichheitsrechte, wie sie in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und der Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben“ 114 . Damit war, gerade auch angesichts des Selbstverständnisses der Europäischen Union nicht nur als Rechtsgemeinschaft 115 , sondern als „Wertegemeinschaft“ und der Bestimmungen in einigen Mitgliedstaaten, die Frage eines Gottes- bzw. Religionsbezugs in der Präambel verbunden. Diese Debatte wurde sehr intensiv und äußerst kontrovers geführt 116 . Die vom Präsidium dieses Gremiums, das sich selbst „Konvent“ nannte, unter Leitung des ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Roman Herzog vorgeschlagene Ausgangsformulierung eines Bewusstseins der Union ihres „kulturellen, humanistischen und religiösen Erbes“ erwies sich während der Beratungen als nicht konsensfähig. Während die Delegierten der Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) den Hinweis auf das religiöse europäische Erbe nachdrücklich einforderten, sprachen sich insbesondere die französische Regierung und die Delegierten der Fraktion der Sozialistischen Partei Europas strikt dagegen aus. Man einigte sich auf einen „Kompromiss“, der ein bezeichnendes Licht auf die angebliche „Wertegemeinschaft“ wirft: Der zweite Absatz der Präambel der in Nizza feierlich verkündeten und vom Europäischen Rat „begrüßten“ Grundrechtecharta 117 lautet in der deutschen Sprachfassung: „In dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität“. Dieser explizite Religionsbezug ist aber eine Besonderheit der deutschen Fassung, die in den übrigen, gemäß der auf die Charta analog anwendbaren Regel des Art. 53 EUV gleichermaßen verbindlichen Sprachfassungen keine Entsprechung findet. So heißt es im Französischen ___________ 114

Europäischer Rat (Köln) vom 03./04.06.1999, Schlussfolgerungen, Anhang IV (EU-Nachrichten, Dokumentation Nr. 2/1999, S. 39). 115 Vgl. dazu Pache, E., Begriff, Geltungsgrund und Rang der Grundrechte der EU, in: Heselhaus / Nowak (Fn. 17), § 4 (S. 142 ff.), Rn. 94 ff. 116 Vgl. dazu Bernsdorff, N. / Borowsky, M., Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Handreichungen und Sitzungsprotokolle, 2002, S. 246 ff.; Meyer (Fn. 100), Präambel, Rn. 18 ff., 31 f. m. w. N. 117 Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl. 2000 Nr. C 364/1. Zur Entstehungsgeschichte vgl. Streinz, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV-Kommentar, 2003, Vorbem GR-Charta, Rn. 1 ff. m. w. N.

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‚patrimoine spirituel et moral‘, im Englischen ‚spiritual and moral heritage‘, im Spanischen ‚património espiritual e moral‘ 118 . Der beschwerliche Vorgang, ein gemeinsames „Bewusstsein“ zu suchen und dann doch nicht zu finden, zeigt, dass die behauptete „Wertegemeinschaft“ keineswegs selbstverständlich ist und auch nicht undifferenziert besteht 119 . Dies hat auch konkrete Folgen in der Beurteilung z. B. der Verwendung embryonaler Stammzellen 120 . Dem Auftrag von Köln entsprechend enthält die Charta auf der Basis der in Art. 6 Abs. 2 EUV genannten Rechterkenntnisquellen die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 10 Abs. 1), das Recht der Eltern auf religiöse Kindererziehung (Art. 14 Abs. 3), das Verbot der Diskriminierung aufgrund Religion oder Weltanschauung (Art. 21 Abs. 1) und die Pflicht zur Achtung der Vielfalt der Religionen (Art. 22). Die Bestimmungen der Charta wurden mit einigen zum Teil durchaus bedeutsamen Änderungen, wie z. B. der Ersetzung des Begriffs „Person“ durch „Mensch“ 121 , als Teil II (Art. II-61 bis Art. II-114 EVV) in den Vertrag über eine Verfassung für Europa übernommen. Bereits vor ihrer Verbindlichkeit, die erst mit der Ratifikation des Verfassungsvertrags durch alle Mitgliedstaaten eintreten würde, entfaltet sie Wirkung in der Rechtsprechung durch Bezugnahmen seitens der Generalanwälte des EuGH, des EuG und zuletzt des EuGH selbst 122 .

___________ 118 Vgl. zur Interpretation dieser Bestimmung den „nonischen“ Ansatz von Meyer (Fn. 116), Präambel, Rn. 32, nämlich zuerst zu ermitteln, was davon nicht erfasst ist, um dann einen möglichen gemeinsamen „Restgehalt“ an positivem Inhalt herauszuarbeiten. Vgl. auch Bères, P., Die Charta – Ein Kampf für die Werte der Union, in: Kaufmann, S.-Y. (Hrsg.), Grundrechtscharta der Europäischen Union, 2001, S. 21 f.; Heinig, H. M., Die Religionen, die Kirchen und die europäische Grundrechtscharta, in: ZEvKR 2001, S. 440 (457); Robbers, G., Religionsrechtliche Gehalte der Europäischen Grundrechtscharta, in: Arndt / Geiss / Lorenz (Hrsg.), Festschrift für Hartmut Maurer, 2001, S. 425 (431). 119 Vgl. dazu Streinz (Fn. 117), Präambel GR-Charta, Rn. 9. 120 Vgl. dazu Borowsky, M., in: Meyer (Fn. 100), Art, 2, Rn. 30, 33 m. w. N. 121 Vgl. dazu Borowsky (Fn. 120), Art. 2, Rn. 29. Auch insoweit stimmen die Sprachfassungen allerdings nicht überein, vgl. ebd., Rn. 29a. 122 Vgl. dazu Streinz, R., Europarecht, 7. Aufl. 2005, Rn. 758 m. w. N. Der EuGH nahm auf die Grundrechtecharta erstmals im Urt. v. 27.06.2006, Rs. C-540/03 (Europäisches Parlament/Rat), Rn. 38, 58, Bezug (Hinweis auf Art. 7 und Art. 24 Abs. 2, 3: Achtung des Familienlebens, Rechte des Kindes). Gemäß dem Mandat für den „Reformvertrag“ (s. o. Fn. 5) soll die Grundrechtecharta nicht in diesen aufgenommen, jedoch in der durch die Regierungskonferenz 2004 beschlossenen und zu bestätigenden Fassung durch einen Verweis im geänderten EUV die gleiche Rechtsverbindlichkeit wie dieser erhalten.

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3. Diskussionen im Verfassungskonvent Durch den Europäischen Rat von Laeken wurde ein Gremium eingesetzt, das Entwürfe für einen Vertrag über eine Verfassung für Europa ausarbeiten sollte 123 . Dieses im Gegensatz zum „Grundrechtekonvent“ auch offiziell „Konvent“ genannte Gremium setzte sich aus Abgeordneten des Europäischen Parlaments und der Parlamente der Mitgliedstaaten einschließlich der damaligen Beitrittskandidaten, der zehn zum 1. Mai 2004 und der beiden zum 1. Januar 2007 beigetretenen Staaten, ferner der Türkei als Staat mit offiziellem Kandidatenstatus sowie Vertretern der Regierungen dieser Staaten, schließlich der EU-Kommission zusammen. Präsident des Konvents war der ehemalige französische Staatspräsident Valéry Giscard d’Estaing 124 . Von den 27 Plenartagungen des Konvents waren drei der Diskussion über die Werte und Ziele der – nach der angestrebten Überwindung der Säulenstruktur des Vertrags von Maastricht – einheitlichen Europäischen Union gewidmet. Dabei wurde die nach den Erfahrungen mit der Grundrechtecharta zu erwartende Kontroverse um einen „Gottesbezug“ zunächst ohne konkrete Textvorlage des Präsidiums geführt, weil Giscard d’Estaing sich trotz der Skepsis des Konvents die Formulierung der Präambel selbst vorbehielt und seinen Entwurf erst in der Endphase der Beratungen präsentierte. Die Fraktion der EVP im Europäischen Parlament hatte bereits im November 2002 einen vollständigen Entwurf des Verfassungsvertrags ausgearbeitet, auf dem der vom stellvertretenden Mitglied des Konvents, Joachim Würmeling, im Januar 2003 eingebrachte Vorschlag beruhte. Zum einen sollte in der Präambel ein Hinweis auf das „geistig-religiöse Erbe“ Europas erfolgen, zum anderen sollte in Anlehnung an die polnische Verfassung die folgende Formulierung aufgenommen werden: „Die Werte der Europäischen Union umfassen die Wertvorstellungen derjenigen, die an Gott als die Quelle der Wahrheit, Gerechtigkeit, des Guten und des Schönen glauben, als auch derjenigen, die diesen Glauben nicht teilen, sondern diese universellen Werte aus anderen Quellen ableiten“125 . Im Februar 2003 reichten drei Mitglieder des Konvents eine von 163 Abgeordneten des Europäischen Parlaments unterzeichnete Entschließung ein, wonach der Text des Verfassungsvertrages keinen direkten oder indirekten Hinweis auf eine be___________ 123

Europäischer Rat (Laeken) vom 14./15.12.2001, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Anlage 1 (EU-Nachrichten, Dokumentation Nr. 3/2001, S. 16 [24 f.]). 124 Zur Zusammensetzung des Konvents vgl. EuGRZ 2003, 442 ff. Zur Entstehungsgeschichte des Verfassungsvertrags vgl. Streinz, R., Entstehungsgeschichte des Vertrages über eine Verfassung für Europa, in: Streinz, R. / Ohler, C. / Herrmann, C., Die neue Verfassung für Europa. Einführung mit Synopse, 2005, § 2 (S. 12 ff.) m. w. N. 125 Dokument CONV 480/03 v. 31.01.2003. Neben Würmeling unterzeichneten u. a. E. Brok, MdEP, P. Altmeier, MdB sowie der damalige Ministerpräsident von BadenWürttemberg, Erwin Teufel, als Mitglieder des Konvents.

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stimmte Religion oder einen bestimmten Glauben enthalten dürfe. Dies wurde von den Delegierten Frankreichs und zahlreichen Mitgliedern der Gruppe der SPE unterstützt. Angesichts dieser sich abzeichnenden Spaltung des Konvents unterbreitete Giscard d’Estaing folgenden als Kompromiss gedachten Vorschlag: „Schöpfend aus den kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen Europas, die – aus griechischer und römischer Zivilisation hervorgegangen und erst durch das geistige Streben, von dem Europa durchdrungen war und das noch heute in seinem Erbe fortlebt, und dann durch die Philosophie der Aufklärung geprägt – die zentrale Stellung des Menschen und die Vorstellung von der Unverletzlichkeit und Unveräußerlichkeit seiner Rechte sowie vom Vorrang des Rechts in der Gesellschaft verankert haben“. Dieser Vorschlag kam nach der mehrfach – u. a. bei einer Privataudienz bei Papst Johannes Paul II. 126 bekundeten Ablehnung Giscard d’Estaings, eine ausdrückliche Anrufung Gottes in die Verfassungspräambel aufzunehmen, eigentlich nicht überraschend, rief aber gleichwohl den Widerstand der Gruppe der Befürworter eines Gottesbezugs im Konvent hervor. Der Verzicht auf die Aufnahme des jüdisch-christlichen Erbes verkürze den historischen Tatbestand angesichts der Tatsache, dass das Christentum einer der wichtigsten Einflüsse in der europäischen Geschichte sei. Die Versuche, das Christentum oder die christlichen Wurzeln in die Präambel einzubeziehen, wurden wiederum von der Gegenseite kritisiert. Jeder, der mehr als die Erwähnung der religiösen Überlieferungen verlange, übersehe, dass es vielen Delegierten bereits schwer falle, die vom Präsidium vorgelegte Formulierung zu akzeptieren. Insgesamt wurden 18 Änderungsanträge zur Präambel eingebracht 127 . Aufgrund des sich daraus ergebenden Stimmungsbildes wurde dem Plenum des Konvents abschließend am 12./13. Juni 2003 eine überarbeitete Version der Präambel vorgelegt, in der das Präsidium auf die Erwähnung der griechischen und römischen Zivilisation sowie den Bezug auf die Aufklärung verzichtete. Der Hinweis auf die kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen Europas wurde beibehalten und durch den Zusatz ergänzt, dass „deren Werte in seinem Erbe weiter lebendig sind“. Ein ausdrücklicher Gottesbezug wurde ebensowenig aufgenommen wie ein Hinweis auf das Christentum oder auch nur das (jüdisch-)christliche Erbe. Dem stimmte der Konvent im Zuge des politischen Gesamtkompromisses im Consensusverfahren, d. h. ohne förmliche Abstimmung, allerdings mit Sondererklärungen, zu 128 . Der Text lautete: „Schöpfend aus den kulturellen, religiösen ___________ 126 Vgl. dazu Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16.11.2002: „Gott in Europa“; DIE WELT vom 30.01.2003: „Gottloses Europa“. 127 Vgl. zur Debatte im Konvent zu Guttenberg (Fn. 109), S. 289 ff. m. w. N.; Heit, H., Universale Werte und partikulare Identitätspolitik in der EU-Verfassung, in: Lemke, C. / Joachim, J. / Katenhusen, I. (Hrsg.), Konstitutionalisierung und Governance in der EU. Perspektiven einer europäischen Verfassung, 2000, S. 67 (75 ff.). 128 Vgl. das Plenarprotokoll der Sitzung des Konvents vom 12./13.6.2003, Fn. 17.

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und humanistischen Überlieferungen Europas, deren Werte in seinem Erbe weiter lebendig sind und die die zentrale Stellung des Menschen und die Vorstellung von der Unverletzlichkeit seiner Rechte sowie vom Vorrang des Rechts in der Gesellschaft verankert haben“ 129 .

4. Die Regelung im Verfassungsvertrag Die im Oktober 2003 in Rom eröffnete Regierungskonferenz griff die Frage des Gottesbezuges erneut auf, ohne eine Einigung zu erzielen. Die italienische Ratspräsidentschaft stellte fest, dass „einige Delegationen es nach wie vor für wichtig hielten, dass in der Präambel auf die christlichen Werte Bezug genommen wird“, während „die übrigen Delegationen der Ansicht waren, dass der Text des Konvents den unterschiedlichen Anliegen in ausgewogener Weise Rechnung trage“ 130 . Die Regierungskonferenz, die den Text des Verfassungsvertrags verabschieden sollte, scheiterte schließlich an anderen Fragen, insbesondere der Frage der Stimmenwägung im Rat. Erst der irischen Ratspräsidentschaft gelang nach mehreren Kompromissen und begünstigt durch den Regierungswechsel in Spanien, nach dem Polen als zweiter Opponent isoliert war, auf dem Gipfel von Dublin im Juni 2004 eine Einigung, so dass der Verfassungsvertrag am 29. Oktober 2004 in Rom unterzeichnet werden konnte 131 . Von diesen Streitfragen blieb der Text der Präambel jedenfalls hinsichtlich des Gottesbezugs unberührt 132 . Es erfolgte allerdings eine Straffung und Ergänzung des Textes. Der betreffende Absatz lautet jetzt: „Schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben“. ___________ 129

Der Text des abschließenden Entwurfs des Konvents des EU-Verfassungsvertrags ist abgedruckt in: EuGRZ 2003, S. 357 ff., 389 ff. 130 Dokument der Regierungskonferenz CIG 60/03 ADD 2 vom 11.12.2003. Vgl. dazu Epping, V., Eine Verfassung für Europa? Chancen und Probleme aus rechtlicher Perspektive, in: Lemke / Joachim / Katenhusen (Fn. 127), S. 87 (94 f.). 131 Vgl. dazu Streinz (Fn. 124), S. 16 ff. m. w. N. 132 Gestrichen wurde der Vorspruch aus dem Epitaphios des Perikles aus Thukydides, Geschichte des peloponnesischen Krieges. Vgl. dazu Streinz, R., Kompetenzabgrenzung zwischen Europäischer Union und ihren Mitgliedstaaten, in: Hoffmann, R. / Zimmermann, A. (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa. Die Rechtsordnung der Europäischen Union unter dem Verfassungsvertrag, 2005, S. 71 (71 ff.). Eingehend dazu und zu den unterschiedlichen Ansichten zu diesem Vorspruch Klein, H. H., Die Antike kehrt nicht wieder! Überlegungen zu dem den Konventionsentwurf für einen Vertrag über eine Verfassung für Europa einleitenden Zitat aus der Gefallenenrede des Perikles, in: Grote, R. u. a. (Hrsg.), Die Ordnung der Freiheit. Festschrift für Christian Starck, 2007, S. 579 (579 ff.). Vgl. auch (kritisch) Heit (Fn. 127), S. 71 ff.

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V. Fazit Für „Gott“ war also im Europäischen Verfassungsvertrag kein Platz. Vielleicht wäre seine Aufnahme auch eine Irreführung über den Zustand Europas gewesen. Bezeichnend ist, dass auch ansonsten alles konkret „Geistige“ vermieden wurde und man sich auf eine eher allgemeine Formel beschränkte. Immerhin ist die „religiöse“ Überlieferung im Gegensatz zur Präambel der Grundrechtecharta – die allerdings insoweit unverändert in den Verfassungsvertrag übernommen wurde133 – in allen gleichermaßen verbindlichen Sprachfassungen enthalten. Mehr war angesichts der gravierenden Gegensätze in den politischen Auffassungen zu diesem Thema und auch angesichts des Befundes in den Verfassungen der Mitgliedstaaten nicht zu erwarten. Die Ansicht, der fehlende Gottesbezug habe maßgeblich zur Ablehnung des Verfassungsvertrags im Referendum in Frankreich beigetragen134, ist eine Einzelmeinung, die gerade hinsichtlich Frankreichs kaum zutreffen dürfte. Die Frage des Gottesbezugs in der Grundrechtecharta wie im Verfassungsvertrag führte nicht nur in den Konventen, sondern auch in der Öffentlichkeit zu einer lebhaften und jedenfalls zum Teil auch ernsthaft und nicht nur als politisches „Schaulaufen“ geführten Diskussion. Allein dies zeigt ebenso wie z. B. die Diskussion in der Schweiz, die zur Beibehaltung eines Gottesbezugs in der neuen Bundesverfassung führte, und auch die Beibehaltung des Gottesbezugs im Grundgesetz und dessen Einfügung in immerhin zwei der Verfassungen der so genannten neuen Bundesländer, dass Verfassungspräambeln mit Gottesbezügen keineswegs eine überwundene, anachronistische, atypische Entwicklungsstufe, sondern eine mögliche kulturelle Variante des Verfassungsstaates sind135, freilich keine für einen Verfassungsstaat zwingende136. Dass der Verfassungsvertrag das religiöse Erbe nur eher beiläufig und die Realität der religiösen Gegenwart überhaupt nicht zur Kenntnis nimmt, könnte aber auf das Fehlen des Bewusstseins hindeuten, dass wie jeder Staat auch Europa von

___________ 133

Zu den Änderungen vgl. die Synopse in Streinz / Ohler / Herrmann (Fn. 124), S. 158 f. Zum Status der Grundrechtecharta nach dem Reformvertrag s. o. Fn. 122. 134 So die Mitteilung der Katholischen Volkspartei (KVP) der Schweiz vom 29.05. 2005: „Die gottlose EU-Verfassung abgestraft“. 135 Häberle (Fn. 100), S. 276. 136 Vgl. Häberle (Fn. 25), S. 11 f., hinsichtlich der Verfassungen Portugals von 1976 und Spaniens von 1978 mit der Vermutung, dass die Gottesbezüge in den autoritären Verfassungen unter Franco und Salazar diskreditierend wirkten. Angesichts der (historisch bedingten) sozialistischen Rhetorik der Verfassung Portugals hätte ein Gottesbezug allerdings auch unabhängig davon verwundert.

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Voraussetzungen lebt, die es selbst nicht zu schaffen vermag137, selbst wenn dies mittlerweile ein Gemeinplatz ist.

___________ 137 Vgl. Böckenförde, E.-W., Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1976, S. 60: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt, mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren versuchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“

Anmerkungen zum unterlassenen Gottesbezug im Europäischen Verfassungsvertrag Hans Zehetmair

Der erste Abschnitt der Präambel zum Europäischen Verfassungsvertrag beginnt mit der Formulierung: „Schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas ...“. Von verschiedener, nicht nur kirchlicher, Seite ist bemängelt worden, dass die Formulierung eines „religiösen Erbes“ zu allgemein ausgefallen sei. Es wurde stattdessen eine klare Bezugnahme auf Gott gefordert, vergleichbar dem Beginn der Präambel des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen ...“. Der Verfassungsvertrag ist, wie bekannt, nicht rechtsverbindlich geworden, und es steht im gegenwärtigen Zeitpunkt dahin, ob und in welchem Umfang oder in welcher Umformulierung er das jemals werden wird. Immerhin hat Bundeskanzlerin Merkel anlässlich ihres Besuches bei Papst Benedikt XVI. (Ende August 2006) sinngemäß geäußert, dass ein Verfassungsvertrag nach wie vor notwendig sei, da er die europäische Identität verkörpern würde, und dass in diesem dann eine Bezugnahme auf das Christentum nicht fehlen dürfe, denn es habe nun einmal unsere Geschichte wesentlich geprägt. Als der Papst im September 2006 Bayern besuchte, fand die Bundeskanzlerin erneut Gelegenheit, ihm zu versichern, dass die deutsche Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 sich um die Einbeziehung christlicher Werte in den Verfassungsvertrag bemühen werde. Aus Polen ist zu vernehmen, falls eine neue Verfassungsdiskussion zustande komme, müsse ein Hinweis auf die christliche Identität Europas verlangt werden. Mittlerweile ist die portugiesische Ratspräsidentschaft (zweites Halbjahr 2007) mit der Neufassung des zunächst gescheiterten Verfassungsvertrages befasst. Unser Thema ist also mit der Ablehnung des Verfassungsvertrages durch die Referenden des Jahres 2005 in Frankreich und in den Niederlanden in keiner Weise erledigt. Der Prozess der Verfassunggebung ist noch nicht an seinem Endpunkt angelangt. Die Bundesregierung verfolgte für die Zeit der deutschen Ratspräsidentschaft (erstes Halbjahr 2007) das Ziel, „den Verfassungsvertrag ohne Änderungen anzunehmen, aber, um Frankreich und den Niederlanden entgegenzukommen und den Diskussionsergebnissen der letzten

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Zeit gerecht zu werden, eine verbindliche interpretierende Erklärung zum Verfassungsvertrag vorzuschlagen. In einer solchen Erklärung könnte u.a. die Erwähnung des christlichen Erbes und der Gottesbezug aufgenommen werden. – Sollte dieses Ziel allerdings nicht erreichbar sein, wird der Verfassungsvertrag als Ganzes neu diskutiert werden müssen ...“. 1

Die Diskussion ist nach dem Scheitern des Verfassungs-Projektes also neu eröffnet worden, und die danach ausgerufene „Denkpause“ mag dabei sogar zur Vertiefung dienlich sein. Es soll im Folgenden nicht darum gehen, die womöglich noch bestehenden Verwirklichungschancen des vorliegenden Verfassungsvertrages oder irgendeine politische Strategie zu seiner Durchsetzung oder zu seiner wie auch immer gearteten Modifikation zu untersuchen. Es soll einzig darum gehen, den im vorliegenden Text unterlassenen direkten Gottesbezug zu diskutieren. Dabei kann zunächst pauschal auf die Argumentation verwiesen werden, die innerhalb und außerhalb des Verfassungskonvents bis zur Unterzeichnung am 29. Oktober 2004 in Rom des zur Volksabstimmung und zur Ratifikation in den Mitgliedsstaaten zu stellenden Textes stattgefunden hat. Folgendes ist dabei ganz grundsätzlich festzuhalten: Es ist unmöglich, das Erbe Europas zu bestimmen, ohne dabei das Christentum mit einzubeziehen. Ein „religiöses Erbe“ in dieser allgemeinen Formulierung haben andere Kulturkreise ebenfalls, wie deren Kurz-Charakterisierung überhaupt gerne von der Religion ausgeht. Eine europäische Verfassung verlangt aber diejenige Spezifizierung, die Europa angemessen ist. Dass Europa einer in der Kulturgeschichte der ganzen Welt wohl beispiellosen Säkularisierung anheimgefallen ist, ändert an der Bedeutsamkeit des christlichen Erbes nichts, denn diese Säkularisierung hat erst eingesetzt, nachdem das Christentum in Spätantike und Mittelalter alle Völker des Kontinents in einen dauerhaft zivilisierten Zustand erhoben hatte. Kirchliche Grundstrukturen wurden als Vorbedingung für die organisatorische und zivilisatorische Durchdringung eines Raumes angesehen. Große Teile unseres Kontinents sind gewissermaßen erst durch den Anschluss an die römische Kirche oder an den Patriarchen von Konstantinopel zum Bewusstsein ihrer selbst und zu einer dauerhaften Position innerhalb der europäischen Völker- und Staatenfamilie gelangt. Dem oströmischen Kaisertum wird als fortwirkendes Verdienst angerechnet, dass es die Serben, Bulgaren, Rumänen und Russen für immer in den Bereich des christlichen Glaubens hineingeführt hat. Auf diese Leistung war es bis zu seinem Untergang besonders stolz. Man hätte am Goldenen Horn mit Indignation darauf reagiert, wenn hier nur von „religiösem“ und nicht von „christlichem“ Erbe ge___________ 1 Vgl. Vollversammlung der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft, ComECE, 22.03.2006, Bericht des Präsidenten zur Lage der EU, Punkt 2.3 (2).

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sprochen würde – denn mit Ersterem konnten sich auch der Hauptfeind in der Nachbarschaft, der Kalif in Bagdad bzw. der osmanische Sultan schmücken. Es ist, um es mit den Worten von Papst Benedikt XVI. auszudrücken, als ob Europa sich selber hassen würde, da es diese Erbschaft nicht direkt anspricht. Man kann seine Traditionen nicht einerseits beschwören, wie es in der Präambel ja durchaus geschieht, und sie andererseits so offensichtlich selektiv behandeln. Das untergräbt sogar die Glaubwürdigkeit der Beschwörung jener Teile, zu denen man sich bekennt. Gott wird eigentlich nicht negiert, indem er in der Präambel nicht erwähnt wird – aber er bleibt dort ein Unbekannter. Es fehlt uns Europäern an Bekennermut, und das ausgerechnet im großen Ozean der Globalisierung – ich sage einschränkend: nicht an spezifisch religiösem Bekennermut, denn wenn wir diesen in unseren nationalen Verfassungen nicht verlangen, dann hat er auch in der gesamt-europäischen Verfassung keinen Platz. Ich meine vielmehr einen allgemeinen Bekennermut zu den unbestreitbar konstruktiven Elementen unserer Vergangenheit, deren Vorliegen jedermann plausibel gemacht werden kann, und unter denen die christliche Religion nicht weggedacht werden kann. Haben wir aber, wenn wir einen Text formulieren, der für alle EU-Europäer verbindlich sein soll, nicht besser vom Willen der Europäer auszugehen und also auf einen affirmativen Akzent zu verzichten, da er nun einmal nicht mehrheitsfähig war? Wird damit nicht einer Bewusstseinslage entsprochen, die wir zwar bedauern mögen, der wir jedoch Rechnung zu tragen haben, nach dem bekannten Motto, dass Politik die Kunst des Möglichen sei? Ich meine, Gesetzes- und Verfassungstexte können auch eine gewisse pädagogische Wirkung entfalten. Die mag schwer einzuschätzen sein, und ein undifferenzierter Optimismus mag sich hier verbieten. Aber wir hätten doch auch nicht auf die Möglichkeit verzichten sollen, ein Zeichen zu setzen, für das uns spätere Generationen vielleicht sogar dankbar sein werden. Verfassungsgebung ist nicht ausschließlich der Nachvollzug von gerade aktuellen Stimmungen, sondern, als Normsetzung, die natürlicherweise in die Zukunft zielt, auch verbindliche, fortwirkende Vorgabe durch den Verfassungsgeber. Denselben Mangel an Bekennermut, und zwar in einer durchaus weltlichen Angelegenheit, kann man übrigens diagnostizieren angesichts des Entschlusses, das Zitat von Thukydides (II, 37) zur Einleitung der Präambel letztlich doch nicht zu verwenden. Das Zitat hat (hätte) gelautet: „Die Verfassung, die wir haben ... heißt Demokratie, weil der Staat nicht auf wenige Bürger, sondern auf die Mehrheit ausgerichtet ist.“ In dieser Version ist der Passus ausgelassen worden: „... vergleicht sich mit keiner fremden, viel eher sind wir für sonst jemand ein Vorbild als Nachahmer anderer.“ Es ist generell Geschmackssache, ob man einen normativen Text mit einem Literatur-Zitat einleiten will, wie würdig dieses auch immer sein mag. Ferner

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kann man Verständnis dafür haben, dass Nicht-Europäer in den hochgemuten Worten des Perikles, die diesem zur Aufmunterung seiner Athener in einer brisanten kriegerischen Situation in den Mund gelegt werden, fast unverschlüsselt einen Anspruch der Europäer formuliert finden, sich ihre politische Kultur weltweit zum Vorbild zu nehmen. Ein solcher Anspruch würde aber, nachdem das Zeitalter des Kolonialismus schon mehr als eine Generation hinter uns liegt und die europäische Weltgeltung, wie sie bis 1914 bestanden hat, nur noch eine ferne Sage ist, sicherlich auf Unverständnis, ja auf Entrüstung stoßen. Aber es lässt sich nicht bestreiten, dass die athenische Demokratie des fünften vorchristlichen Jahrhunderts, wie sie Thukydides mit großem Respekt vor Perikles, der wohl bedeutendsten ihrer Leitfiguren, beschreibt, und wie sie auch bei Aristoteles in einer seiner Staatsschriften dokumentiert ist, von allen Staatsformen der europäischen Vergangenheit am meisten Ähnlichkeit mit unserer modernen Massendemokratie hat. Die Demokratie ist im klassischen Athen „erfunden“ worden, und eben nicht an den Ufern des Ganges oder des Gelben Flusses. Dies ist ein Erbe, zu dem wir Europäer stehen müssen, weil es konstitutiv ist für unsere Identität, und weil wir uns nicht dafür genieren müssen, dass es sich auf der Welt zuerst in Europa geltend gemacht hat. Es hat sich mittlerweile so sehr auf dem Globus ausgebreitet, wenn auch etwas weniger als europäische Technik und Naturwissenschaft, dass es schon nicht mehr als „europazentrisch“ denunziert werden kann. Ein Wert, den – grosso modo – die ganze Welt teilt, gehört nicht mehr der Weltgegend, in der er entstanden ist, er hat sich seinerseits „globalisiert“. Es ist mit dem Gedanken der Demokratie ähnlich wie mit den Prinzipien des Römischen Rechts, die weiter bestehen und sich der Wertschätzung aller einschlägig Gebildeten, wenn schon nicht allgemeiner Geltung, erfreuen, nachdem die klassischen Römer schon lange physisch untergegangen sind. Deshalb ist an dem Zitat von Thukydides über die Demokratie, wenn man es mit der oben besprochenen Auslassung anführt, festzuhalten. Zurück zu dem unterlassenen Gottesbezug: Dieser findet sich bereits in einigen Verfassungen, außer in der deutschen auch in derjenigen Irlands, Griechenlands, der Slowakei und Polens. Am umfangreichsten formuliert die irische Verfassung: „In the Name of the Most Holy Trinity, from Whom is all authority and to Whom, as our final end, all actions both of men and States must be referred, We, the people of Eire, Humbly acknowledging all our obligations to our Divine Lord, Jesus Christ, Who sustained our fathers through centuries of trial, Gratefully remembering their heroic and unremitting struggle to regain the rightful independence of our Nation ...“ 2

___________ 2 Zitiert nach Weiler, J. H. H., Ein christliches Europa – Erkundungsgänge, 2004, S. 154 f.

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Die griechische Verfassung beginnt mit der Wendung: „Im Namen der Heiligen, Wesensgleichen und Unteilbaren Dreieinigkeit ...“

Die Präambel der Verfassung der Slowakischen Republik lautet: „We, the Slovak nation, mindful of the political and cultural heritage of our forebears, and of the centuries of experience from the struggle for national existence and our own statehood, in the sense of the spiritual heritage of Cyril and Methodius and the historical legacy of the Great Moravian Empire ...“3

Schließlich die polnische Verfassung von 1997: „… beschließen wir, das Polnische Volk – alle Staatsbürger der Republik, sowohl diejenigen, die an Gott als die Quelle der Wahrheit, Gerechtigkeit, des Guten und des Schönen glauben, als auch diejenigen, die diesen Glauben nicht teilen, sondern diese universellen Werte aus anderen Quellen ableiten, … in Dankbarkeit gegenüber unseren Vorfahren für ihre Arbeit, für ihren Kampf um die unter großen Opfern erlangte Unabhängigkeit, für die Kultur, die im christlichen Erbe des Volkes und in allgemeinen menschlichen Werten verwurzelt ist …“ 4

Diesen Texten fehlt es also durchaus nicht an Bekennermut. Nicht zu übersehen ist allerdings, dass manche ihrer Formulierungen aus den besonderen historischen Bedingungen erklärbar sind, unter denen die betreffenden Staatsvölker gelebt haben, und die auf europäischer Ebene nicht verallgemeinerbar sind. So, wenn die Slowakische Republik sich auf das „Great Moravian Empire“ des frühen Mittelalters beruft, das sie als einen ruhmreichen Vorläufer heutiger slowakischer Staatlichkeit ansieht. In den Worten der irischen VerfassungsPräambel spiegelt sich unverkennbar der lange Freiheitskampf der Iren gegen die Briten wider, die auch als konfessionelle Antipoden wahrgenommen wurden. In der polnischen Präambel kommt das Bedürfnis zum Ausdruck, nach den Jahrzehnten kommunistischer Einparteien-Herrschaft über eine Nation, die sich in ihrer großen Mehrheit als katholisch-gläubig verstand und versteht, die Hand zur Versöhnung zu reichen: an den Segnungen der neuen freiheitlichen Verfassung sollen sowohl die Gläubigen als auch die ehemals mächtigen Atheisten mit ihrer marxistisch-materialistischen Weltanschauung teilhaben, wenn sie nur „diese universellen Werte“ respektieren, nämlich Wahrheit, Gerechtigkeit, das Gute und das Schöne. Es ist schon im Verfassungskonvent und außerhalb desselben angesprochen worden, was hier näher ausgeführt werden soll: Diese polnische Formulierung gibt uns den entscheidenden Fingerzeig, wie ein Gottesbezug gestaltet sein sollte. Er muss in der Präambel enthalten sein, aber er darf den Materialisten und Atheisten nicht den Eindruck vermitteln, sie sollten marginalisiert werden, ___________ 3 Im Internet verfügbar unter http://www.concourt.sk (legal resources – legal materials: 31.03.2007). 4 Im Internet verfügbar unter http://www.trybunal.gov.pl (legal basis: 31.03.2007).

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denn dagegen können sie sich mit Recht unter Berufung auf Pluralismus und weltanschauliche Toleranz zur Wehr setzen. Gehen wir davon aus, dass der Gottesbezug in der Art von an die Öffentlichkeit gewandtem Text, wie es eine Verfassungspräambel ist, nicht als ein Glaubensbekenntnis zu verstehen ist. Er ist vielmehr der Hinweis auf die Quelle, aus der die Güter fließen, auf deren Hochschätzung sich alle Wohlmeinenden unter den Staatsbürgern einigen können. So erkennen wir, dass es der Verfassung „lediglich“ um diese Güter („unverletzliche und unveräußerliche Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit ...“) geht. Das „lediglich“ ist mit seinen Anführungszeichen so zu verstehen, dass es gewissermaßen ein irdisches Minus im Verhältnis zur göttlichen Wahrheit anspricht. Dieses irdische Minus ist aber konsensfähig, da seine Akzeptanz keinen Glaubensakt voraussetzt, und nur um diesen Konsens kann es auf gemeinsamer europäischer Ebene gehen. Davon bleiben die christlichengagierten Formulierungen einzelner Verfassungen der Mitgliedsstaaten, wie sie oben angeführt worden sind, selbstverständlich unberührt, denn die nationale Rechtsordnung besteht auch weiterhin neben der europäischen – das ist ein juristischer Anwendungsfall von „Einheit in Vielfalt“. Die so genannte „negative Religionsfreiheit“, die zu respektieren ist, würde dadurch nicht beeinträchtigt werden. Denn dem Atheisten, dessen Glauben darin besteht, dass er nicht glaubt, wird auf solche Weise nicht zugemutet, dass er glauben soll. Und allein die Erwähnung des Glaubens neben der Anspielung auf seinen Unglauben diskriminiert ihn nicht, solange die betreffende Formulierung eindeutig genug ist, d. h. nur deskriptiven und nicht wertenden Charakter hat. Eine weitere Überlegung, einen Gottesbezug in der Verfassung für Atheisten akzeptabel zu machen, kann folgendermaßen skizziert werden: Hugo Grotius, der Vater des neuzeitlichen Völkerrechts, hat formuliert, dass die Satzungen des Völkerrechts verbindlich seien, „etiamsi daremus ... non esse deum“, auch wenn wir voraussetzen würden, dass Gott nicht existierte. 5 Gemeint war: Recht muss Recht bleiben, auch wenn es nicht von Gott hergeleitet wird. Damit gelang Grotius ein großer Schritt im Prozess der geistigen Säkularisierung Europas, auch wenn er als frommer reformierter Christ dies nicht beabsichtigt haben mag. Schlagen wir dem Atheisten vor, die Präambel zu lesen, „als ob Gott tatsächlich existierte“, kehren wir also das Gedankenexperiment des Grotius um. Damit machen wir die Säkularisierung nicht rückgängig, denn wir stellen nur eine Hypothese auf, und wir nötigen folglich den Atheisten nicht zum Glauben an Gott, da wir ihm ja nur eine Hypothese unterbreiten. Wir können aber von ___________ 5

Grotius, H., De iure belli ac pacis libri tres, 1625, prolegomena § 11.

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seiner Toleranz erwarten, dass er unsere Hypothese bestehen lässt und damit den Gottesbezug. Besonders von französischer Seite ist an dieser Stelle das Gegenargument zu erwarten, der Staat (nehmen wir in dieser Diskussion die EU als „Staat“, denn es kommt für unseren Zusammenhang nicht darauf an, dass das Bundesverfassungsgericht 6 sie nur als „Staatenverbund“ klassifizieren will) habe sich weltanschaulich strikt neutral zu verhalten und dürfe daher in seine Verlautbarungen und erst recht nicht in seine Rechtssätze irgendeine religiöse Aussage aufnehmen. Dies ist eine Auffassung, wie sie speziell aus der französischen Verfassungsentwicklung heraus verständlich und daher eigentlich ebenso wenig auf europäischer Ebene der Verallgemeinerung fähig ist wie die Formulierungen in den zitierten Präambeln nationaler Verfassungen. Man sollte in Frankreich auch einmal daran denken, dass Europa das Konzept der Laizität auf gewissermaßen dialektische Weise überhaupt erst der Kirche verdankt. Denn im Investiturstreit des hohen Mittelalters, als die Kirche begann, sich von der Vereinnahmung durch die weltlichen Gewalten im Reiche (das sich damals noch nicht „Heiliges Römisches“ nannte) zu emanzipieren, legte sie auch die Grundlage für die Trennung zwischen der priesterlichamtskirchlichen Sphäre und derjenigen der Laien. Der Kaiser verlor daraufhin – allerdings in einem Prozess, der Jahrhunderte in Anspruch nahm – den sakralen Charakter, der seinem Amte bis dahin angehaftet hatte. Seitdem ist die Trennung von Staat und Kirche für das öffentliche Recht in Europa konstitutiv geworden. Niemand kann doch daran denken, ausgehend von einem klar formulierten Bezug auf Gott in der Verfassungspräambel diese Entwicklung umkehren zu wollen und – man denke – die Uhr der Geschichte nicht nur „ins Mittelalter“, sondern sogar noch hinter dessen Investiturstreit zurückzudrehen. All dem steht die politische Erwägung entgegen, dass ohne Zustimmung des wichtigen Partnerstaates Frankreich eine europäische Verfassung nicht zustande kommen kann. Das entscheidende Verweigerungspotential Frankreichs hat sich in dem ablehnenden Referendum vom 29. Mai 2005 deutlich gezeigt. Es ist nicht abzusehen, dass Frankreich, das seine Traditionen weitaus mehr ehrt, als das in Deutschland der Fall ist, auf das Gebot strikter Laizität Verzicht leisten wird. Die Zukunft mag allerdings immer Überraschungen bergen – aber es kann gegenwärtig nicht mit Sicherheit behauptet werden, dass die Neuaufnahme von Verhandlungen über den Verfassungsvertrag zur Einbeziehung eines Gottesbezuges in die Präambel führen wird. Den französischen Laizisten wäre aber zweierlei ins Stammbuch zu schreiben: ___________ 6

BVerfGE 89, 155 (181 ff.).

Hans Zehetmair

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Erstens, der Verfassungsvertrag ist der bis jetzt ehrgeizigste Versuch der EU, aus dem Stadium der Wirtschafts- und Wohlstandsgemeinschaft in das eines umfassenden politischen Zusammenschlusses zu treten. Seit dem Maastrichter Vertrag versuchen die europäischen Staatsmänner, diese entscheidende qualitative Weichenstellung herbeizuführen. Historisch gesehen war die Schaffung der Wirtschaftsgemeinschaft durch die Römischen Verträge nur ein Ausweichmanöver, um die Integrationsidee nicht aufzugeben, nachdem die politisch-militärische Gemeinschaft zunächst gescheitert war. Das Manöver hat seinen Zweck großartig erfüllt. Nun aber ist genug Zeit vergangen, weshalb die politische Integration erneut in Angriff zu nehmen ist. Und zweitens: Auch überzeugte Laizisten und/oder Atheisten dürften dem fundamentalen Satze zustimmen, dass die Würde des Menschen oberster Richtpunkt einer freiheitlich-demokratischen Verfassung ist. Diese Würde kann man grundgelegt sehen im Naturrecht, dessen Prinzipien entweder der als absolut gesetzten „Natur“ entstammen oder der religiösen Vorstellung von einem obersten Schöpfergott, der uns nach seinem Ebenbild geschaffen hat. 7 Die Menschenwürde folgt aus der Gottes-Ebenbildlichkeit. Bezieht man sich also im Text der Verfassung auf Gott, dann verankert man gleichzeitig damit die Menschenwürde auch in ihrer Eigenschaft als ein Postulat menschlicher Satzung in der religiösen Sphäre und schützt sie damit auf eine viel wirkungsvollere Weise, als wenn man diesen Schutz der menschlichen Satzung allein überlassen würde. Denn folgte sie nur aus letzterer, dann könnte sie auch wieder abgeschafft werden, es würde der über-menschliche Ursprung fehlen, der sie letztlich unangreifbar macht. Es lässt sich schließen: da die Wahrung der Menschenwürde als die Grundlage aller Menschen- und Bürgerrechte, die dann im Grundrechts-Teil der Verfassung aufgelistet werden, sowohl für die Gläubigen als auch für die Ungläubigen oder Skeptiker einen gemeinsamen Wert darstellt, kann der religiöse Bezug gleichzeitig als ein menschenrechtlicher angesehen werden. Man kann sogar formulieren, dass die Religion den Menschenrechten „dient“, da diese auf einem fundamentalen Glaubenssatz beruhen. Ob dabei die Ungläubigen oder Skeptiker mit der Formulierung einverstanden sind, das Leben besitze sakralen Wert, oder nicht, verschlägt angesichts des gemeinsamen Anliegens, es zu schützen, nichts. Der Anlass ist also bedeutend genug, und es steht für Europa so viel auf dem Spiel, dass die französischen Laizisten sich die Frage vorlegen lassen dürfen, warum sie nicht zur Kenntnis nehmen wollen, dass die Religion, d. h. das Christentum, ein Europa wesentlich bestimmender Faktor ist. Müssen wir denn immer noch in den Frontstellungen der Französischen Revolution verharren? ___________ 7

Genesis 1,27.

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Diese Revolution muss man ja nicht ausschließlich als die Urheberin des Laizismus verstehen. Denn mit der Revolution ist der Kampf um „Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit“, die Güter, die die Präambel beschwört, auf die Bühne der Geschichte getreten – und in der „Gleichheit“ steckt doch der Keim nicht nur zur weltanschaulichen Abstinenz, sondern auch zur religiösen Toleranz des Staates!

V. Verfassungsrecht

Pädagogische Briefe an einen jungen Verfassungsjuristen – Skizze eines Projekts – Peter Häberle

Wissenschaft in Sachen Verfassungsstaat – in „weltbürgerlicher Absicht“ – hat viele Ausdrucksformen bzw. Literaturgattungen entwickelt: von der Monographie über das Lehrbuch bis zum Kommentar und der Rezension, auch den Beiträgen in einer Festschrift oder Gedächtnisschrift. Der Dialog in der heute national, regional (z. B. in Europa und Lateinamerika) und universal entstehenden „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ sollte aber auch einmal eine neue Form wagen, zumal wenn er sich gezielt von einem älteren Verfassungsjuristen an einen jüngeren, vielleicht „wahlverwandten“ richtet. 1. Die Briefform eröffnet – neben den vor allem in den lateinamerikanischen Ländern üblichen wissenschaftlichen Interviews – ganz eigene Möglichkeiten: Im Brief lässt sich freier argumentieren, man ist nicht an die strengen Strukturformen z. B. des Aufsatzes gebunden, kann Systemgrenzen überspringen, Spontanes wagen und der Wissenschaft als um Erkenntnis ringende „ewige Wahrheitssuche“ im Sinne Humboldts Momente des Bekenntnishaften und Autobiographischen beimischen. In der Schönen Literatur hat die Briefform große Klassiker, man denke nur an Goethes „Werther“; auch sonst gibt es in der Weltliteratur 1 zahlreiche Beispiele für die Fruchtbarkeit des Briefwechsels zwischen Autoren und ihren Freunden als Medium der Kommunikation 2 . Brieffreundschaften waren stilisierte Formen auch unter Wissenschaftlern 3 . Im Folgenden sei die Briefform gewählt, um einen älteren Autor die Möglichkeit zu geben, einen jüngeren Juristen fachlich und menschlich zu erreichen, zu beraten und zu ermutigen. Zumal in Zeiten des flüchtigen E-Mail-Verkehrs emp___________

D. Blumenwitz war ein leidenschaftlicher Lehrer nicht nur in seinem Seminar. Darum sei ihm dieser erste Brief gewidmet, obwohl er der erste Autor hätte sein können. 1 Z. B. Ortega y Gasset, J., Brief an einen Deutschen, 1932; s. auch den Sammelband „Briefe zur Weltgeschichte“, von Cicero bis Roosevelt, hrsg. von K. H. Peter, 1964. 2 Z. B. die 2005 publizierten Briefe von S. Zweig. 3 Vgl. den 2005 von D. Mussgnug veröffentlichen Briefwechsel E. Levy und W. Kunkel, 1923–1968.

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fiehlt sich der Brief fast von selbst. Vielleicht kann er sogar eher in der „Provinz“ als in der Hauptstadt geschrieben werden. 2. Der „pädagogische Eros“ ist seit Platon ein „geflügeltes Wort“ im Sinne Homers und auch heute noch Wirklichkeit im Rahmen glückender LehrerSchüler-Verhältnisse. Auch und gerade in den Massenuniversitäten unserer Tage bleiben solche Bindungen und Verbindungen wichtig. Je mehr in Deutschland Humboldts seit 1810 praktizierten Universitätsideale schwinden (Einheit von Forschung und Lehre, Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden, Einsamkeit und Freiheit, „zweckfreie Wissenschaft“), desto mehr muss darum gerungen werden, ein Stück des pädagogischen Eros auch heute noch zu leben, ja zu „erleben“. Junge Verfassungsjuristen brauchen authentische Vorbilder, sie brauchen Lehrer vom Zuschnitt eines K. Hesse, der z. B. in seinem Freiburger Seminar Werk und Person glaubhaft verbunden hat 4 . Auch sonst gibt es in Deutschland auf dem Felde der Verfassungsrechtswissenschaft noch so etwas wie „Schulen“ und „Kreise“. E. Forsthoff hatte solches in Heidelberg bzw. Ebrach begründet, über die Weimarer Zeit hinaus bis in die Welt des Grundgesetzes ein R. Smend in Göttingen. In Bonn lebte E. Friesenhahn ein solches Seminar, dessen Mitglieder (mittlerweile schon pensioniert) sich noch heute regelmäßig treffen. Im europäischen Ausland denkt man an C. Esposito und V. Crisafulli in Rom 5 , in Spanien beginnt sich in Granada eine Schule von Verfassungsjuristen (angeleitet durch F. Balaguer) zu entwickeln. Das Engagement des Älteren muss dem Jüngeren gegenüber so intensiv sein, dass es sich nicht nur über den viel zitierten „pädagogischen Eros“ beflügeln lässt – in Griechenland prägte er ja ganze Akademien. Während in der Kunst, selbst Philosophie das Werk wegen ethischer Verfehlungen der Person nicht an Legitimität verliert, ist dies beim Verfassungsjuristen anders: Ein Mindestmaß an ethischem Verhalten in der Person bzw. Biographie ist m. E. unverzichtbar, denn der Dienst am Verfassungsstaat, also das Werk, verliert an Glaubwürdigkeit, z. B. durch Kollaboration mit totalitären Regimen, Falschzitaten und Formen der Korruption. Daher bleiben ein G. Radbruch, R. Thoma und E. Friesenhahn Vorbilder, in Spanien ein G. Peces Barba und L. Sanchez Agesta. 3. Der wissenschaftliche Generationenvertrag – Teil des kulturellen – ist ein Paradigma, das den Austausch zwischen dem älteren und jüngeren Verfassungsjuristen theoretisch zu begründen vermag. Der „Generationenvertrag“ ist nichts anderes als der in die Zeit umgedachte bzw. fortgedachte klassische Gesellschaftsvertrag, seit J. Rawls wieder belebt, jetzt speziell auf die Wissenschaft bezogen. Im Sozialrecht seit langem praktiziert, kann der wissenschaftliche Generationenvertrag helfen, Erfahrungswerte, Einsichten, erprobte ___________ 4

Dazu der Verf. in: Zum Tode von Konrad Hesse, in: AöR 130 (2005), S. 289 ff. Dazu Nocilla, D., Crisafulli – ein Staatsrechtslehrerleben in Italien, in: JöR 44 (1996), S. 255 ff. 5

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Handwerks- und Kunstregeln an die junge Generation als „Vermächtnis“ weiterzureichen. Der Verfassungsstaat ist selbst als „kulturelle Errungenschaft“ vieler Generationen zu deuten, seine Fortschreibungen in der Zeit lassen sich vertragstheoretisch darstellen. Warum sollte nicht im höchstpersönlichen Lehrer/Schülerverhältnis, sozusagen im Kleinen, ein Generationenvertrag ebenfalls möglich, ja notwendig sein. Ein gelingendes Staatsrechtslehrerleben, wie es sich im Werk selbst, aber auch in erklärten Selbstzeugnissen darstellt 6 , ist genügend reich, um in einzelnen Aspekten weitergegeben zu werden: nicht um epigonal nachgeahmt zu werden, sondern um kreativ als „Vorbild“ zu dienen. Handwerk und Kunst der Verfassungsrechtswissenschaft ist „geprägte Form, die lebend sich entwickelt“. Sie zeichnet sich durch eminent „personale Elemente“ aus, die oft übersehen werden 7 . Entsprechend persönlich muss das Medium der kommunizierenden Weitergabe an einen „Jünger“ in der nächsten Generation sein. 4. Die hier noch fingierte Briefform (bei deren Niederschrift der Verfassung durchaus einzelne seiner ihm anvertrauten Schüler auch im Ausland im Blick hat) ist Ausdruck der „Verfassung als öffentlicher Prozess“, an deren Fortschreibung viele beteiligt sind, sie ist zugleich Ausdruck der „Verfassung als Kultur“. Solche (und andere) Konzepte 8 sind dem jungen Verfassungsjuristen im In- und Ausland nahe zu bringen: möglichst schon vom Studium an, etwa in denkbar frühen (z. B. ab dem 3. Semester besuchten) Seminaren (nicht nur Doktorandenkursen), in Graduiertenkollegs, in gemeinsamen Besuchen öffentlicher Verhandlungen von Verfassungsgerichten wie dem BVerfG, den BayVerfGH, dem EuGH oder dem EGMR; in Lateinamerika wäre der Menschenrechtsgerichtshof in Costa Rica einschlägig oder der Supreme Court in den USA, in Mexiko oder Brasilien sowie das Verfassungsgericht in Peru. Solche Vorschläge richten sich im Grunde an ältere Staatsrechtslehrer, denn die jüngeren verfügen oft noch nicht über die Möglichkeit, sich tatsächlich, etwa in „Klassenform“, Zugang zu großen Gerichtsprozessen zu verschaffen. Den Studenten sollte schon vom ersten Semester an empfohlen werden, Tageszeitungen pluralistisch zu verarbeiten, d. h. das Abonnement von Zeit zu Zeit zu wechseln. „Ratschläge für Erstsemester“ wären ein Thema für einen „zweiten Brief“. ___________ 6

Vgl. etwa die Reihe in JöR mit Namen wie Burdeau, G., Du droit à la science politique, in: JöR 33 (1984), S. 151 ff.; Simson, W. v., Der Staat als Erlebnis, in: JöR 32 (1983), S. 31 ff.; Klinghoffer, H., Ein Jurist des öffentlichen Rechts auf Wanderungen, in: JöR 34 (1985), S. 71 ff.; Jahrreiss, H., Sich mühen um Recht und Gesetz, in: JöR 35 (1986), S. 125 ff., und wie es einem G. Dürig (s. seine Dankesrede am 65. Geburtstag in: JöR 36 [1987], S. 91 ff.), auch E. Friesenhahn, H. Mosler sowie R. Bernhardt hätte gelingen können. 7 Dazu Vitzthum, W. Graf, in: Häberle, P., Kleine Schriften, 2004, S. 1 ff., 396 ff. 8 Etwa von G. Zagrebelsky in Turin: „Diritto mite“, 1992.

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5. Der Verfassungsstaat ist heute ein universales Ideal bzw. (Entwicklungs-) Projekt, wenngleich er in der Praxis erst in einer Minderheit der den UN angehörenden 191 Mitgliedern bzw. Staaten schon Realität ist. So wie das Völkerrecht als „werdendes Menschheitsrecht“ sich im Grunde langsam aus und zu einer offenen Gesellschaft der Völkerrechtsinterpreten entwickelt (so groß das Gewicht der Staaten noch bleibt, so ermutigend aber auch das Wirken der NGO’s bei der Rechtsbildung schon ist), so lässt sich der Gedanke von Art. 38 Abs. 1 lit. d IGH-Statut („Lehrmeinung der fähigsten Völkerrechtler“) vom Völkerrecht übertragen auf den Verfassungsstaat und seine Interpreten weltweit. Es gab und gibt vor allem nationale Verfassungsjuristen, die diesen Ehrentitel für sich in Anspruch nehmen könnten: ein H. Kelsen über Österreich hinaus bis heute vor allem in Lateinamerika, von der philosophischen Seite her derzeit ein J. Habermas, ein H. Jonas. Sie sind auf eine Weise „fähigste Verfassungsrechtler“. Ihre Lehrmeinungen entwickeln den Verfassungsstaat weltweit mit. 6. Dem jungen Verfassungsjuristen sind viele Lebensformen und Foren zu seiner Bildung und Ausbildung zu empfehlen. Herzstück bleibt das ständige Seminar, in dem viele Studienjahrgänge unterschiedlicher Altersgruppen zusammenarbeiten – der Verf. hat seit 1969 ein solches Forum in Marburg, Augsburg und Bayreuth begründet und hier bis heute weitergeführt. Manche seiner Schüler setzen diese Idee fort. Charakteristisch sind die zuvor vom Leiter entwickelten strengen Gliederungen, sodann die „Einstimmung“ des Referenten zu seiner Arbeit, die acht Tage lang vorher schriftlich vorliegt, Fragen zur Information und zum Verständnis und sodann die mehrstündige Diskussion. In Deutschland sind die Smend- und Hesse-Seminare berühmt geworden, mit in Wissenschaft und Praxis greifbaren Nachwirkungen bis in die Gegenwart. Damit werden die „Blockseminare“ entschieden abgelehnt, sie lassen keine „Seminarkultur“ heranwachsen, bleiben oft beim eiligen, den Hörer meist überfordernden Verlesen vieler Referate an einem einzigen Wochenende stehen: ein öffentlicher Diskussionsrahmen kann hieraus nicht geschaffen werden. Besonders ergiebig ist der Brauch, das Seminar am späten Abend auf eher lockere Weise beim Ausklang in einem Restaurant fortzusetzen. Nicht wenige Lebensfreundschaften können aus solchen Seminargemeinschaften erwachsen (der Verf. durfte dies bei seinen Schülern beobachten). Vereinzelt gibt es auch „Praktikerseminare“ (mit einem professoralen und einem aus der Praxis kommenden Leiter). Gemeinsame Exkursionen bilden weitere Möglichkeiten, den wissenschaftlichen Generationenvertrag zu leben. Denkbar sind viele Reiseziele: Neben den schon erwähnten hohen Gerichten auch Fahrten zu Seminaren ausländischer Staatsrechtslehrer (so vom Verf. etwa praktiziert in Bezug auf die Schweiz: mit Bern, d. h. P. Saladin und J. P. Müller, und mit St. Gallen). In Frage kamen bzw. kommen auch Bonn- bzw. Berlinfahrten zu den dortigen Verfassungsorganen mit Fragestunden an die Adresse von Parlamentariern

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oder hohen Ministerialbeamten. Die Lehrer sollten überdies die ihnen anvertrauten jungen Verfassungsjuristen auf eigene Vortragsreisen ins Ausland mitnehmen, um neue Kontakte zu eröffnen (J. Esser in Tübingen war hier ein Vorbild). Gemeinsame Fahrten mit privaten Arbeitskreisen oder Organisationen wie der ELSA seien empfohlen. Ein studentischer Juristenkreis besonderer Art besteht an der Bundesuniversität Brasilia. Bemerkenswert ist, dass es in Peru zwei von Jura-Studenten herausgegebene Fachzeitschriften gibt. 7. Der Studienaufenthalt im europäischen „Ausland“ gehört im heutigen Europa als Verfassungsgemeinschaft eigener Art zu den wichtigsten Möglichkeiten einer Ausbildung zum Verfassungsjuristen. Die 27 EU-Mitglieder sind einander nicht mehr „Ausland“ im klassischen Sinne, sie sind Inland: Die Jellineksche Staatselementenlehre bedarf der Revision. Der Verf. hat sich in seiner Europäischen Verfassungslehre 9 darum bemüht. Staatenübergreifende, Ländergrenzen überspringende wissenschaftliche Seminare mehrerer Lehrer, die ihre nationalen Seminare auf Zeit zusammenführen, empfehlen sich als besonders glückliche Lehr- und Lernform (z. B. die vom Verf. zusammen mit M. Kotzur in Leipzig/Bayreuth derzeit durchgeführten Seminare). Überdies sei das individuelle, zeitlich begrenzte Studium (nicht nur „Praktikum“) im Ausland eigens erwähnt („Wahlstation“). Der europäische Jurist wird nur dann zur Realität, wenn der Studierende mehr als nur eine einzige nationale Rechtskultur kennenlernt. Das Studium mehrerer Sprachen gehört heute zum selbstverständlichen Rüstzeug. Goethes Satz: „Wer keine fremden Sprachen kennt, kennt nicht die eigene“, gilt auch für die verschiedenen nationalen Rechtskulturen. Nur so kann die Rechtsvergleichung zur „fünften Auslegungsmethode“ im Sinne des Verfassers reifen. Die Pflege des Deutschen als Wissenschaftssprache in Deutschland sollte nicht weiter vernachlässigt werden. 8. Ein eigenes Wort verdient der Impuls zur Gründung einer europäischen Juristenfakultät in Budapest, wie ihn der Verf. unternommen hat. Die Denkschrift vom 21. November 2000 10 lautet in ihren Kernaussagen: – Das Projekt könnte über West- bzw. Ost(mittel)europa hinaus pionierhaft wirken, indem es die eigene (integrierte) Disziplin „Europawissenschaft“ kreiert (an der Historiker, Juristen und Ökonomen mitwirken). – Stichworte und Schwerpunkte könnten aus meiner Sicht die wissenschaftlichen Erkenntnisse sein, die in den letzten Jahren seit dem „annus mirabilis“ 1989, der „Weltstunde des Verfassungsstaates“, z. B. vom Unterzeichneten entwickelt worden sind: „Verfassungslehre als Kulturwissenschaft“, „Ge___________ 9

1. Aufl. 2001/02, 4. Aufl. 2006, 5. Aufl. 2007. Schweizer, R. / Burkert, H., / Gasser, U. (Hrsg.), Festschrift für J. N. Druey 2002, S. 115 ff., bzw. JöR 53 (2005), S. 354 ff. (Anhang: Denkschrift vom 21.11.2000, Entwurf für einen Studiengang „Europawissenschaft an der geplanten deutschsprachigen Universität in Budapest [Ungarn]). 10

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meineuropäisches Verfassungsrecht“, „Europäische Rechtskultur“, „Rechtsvergleichung als kulturelle Verfassungsvergleichung“ bzw. als „fünfte“ Auslegungsmethode sowie das „Europäische Verwaltungsrecht“ im Sinne von J. Schwarze. – Ungarn bietet sich als besonders günstiger „Standort“ an, da hier auch ein Land des alteuropäischen Kulturerbes wiedergeboren ist und mit dem für bald zu erhoffenden EU-Beitritt die unvergessliche historische Grenzöffnung von 1989 dazu führt, dass Ungarn „Freundesland“ wird. Die Grenzöffnung hat das klassische Element der Allgemeinen Staatslehre, die „Staatsgrenze“, ein Stück weit gegenstandslos werden lassen (spätestens seit „Schengen“). – Bei allem Respekt vor dem, was die USA seit mehr als 200 Jahren zum Typus „Verfassungsstaat“ beigetragen haben: Bayern bzw. Deutschland sowie Ungarn und seine Nachbarländer sollten durch die Profilierung eines deutschsprachigen Studienganges dem entgegenwirken, was US-amerikanische „Law firms“ „verkaufen“: der weltweite Produktions- und Rezeptionszusammenhang in Sachen Verfassungsstaat (Stichwort: Transformationsund Rezeptionsforschung) sollte heute vom alten Europa aus selbstbewusster befördert werden, d. h. innereuropäisch konzipiert sein. – Ungarn gehört derzeit „nur“ zum Europa(recht) im weiteren Sinne von Europarat und OSZE. Durch seinen EU-Beitritt wird es Teil des Europa (-rechts) im engeren Sinne. Gerade dieser „Seitenwechsel“ könnte besonders lehrreich sein und verlangt viel Juristenhandwerk und -kunst in Ungarn selbst. – Im Ganzen könnte Leitbild des Studienplans das sein, was der Verfasser seit Jahren als „europäischer Jurist“ propagiert und in seinem 1999 in Bayreuth gegründeten „Institut für europäische Rechtskultur“ zusammen mit hiesigen Kollegen zu verwirklichen sucht. Weitere Stichworte lauteten: a) Die spezifisch juristische „Europawissenschaft“ als Kulturwissenschaft, b) die Lehre von den internationalen Beziehungen im Lichte der Europawissenschaft, c) die ökonomische Dimension der juristischen Europawissenschaft. Ein eingehender Stundenplan konkretisierte das Memorandum des Verfassers. 9. Darum wird auch ein „kräftiges Wort“ zum bzw. gegen den unseligen „Bologna-Prozess“ notwendig. Ganz abgesehen von dem ihn prägenden vordergründigen Effizienzdenken, seinem ökonomistischen, quantifizierenden Ansatz und seinem Nützlichkeitswahn ist er aus vielen Gründen fragwürdig: Wissenschafts- bzw. Rechtskulturen lassen sich nicht in Punktesysteme zerlegen

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und in das Korsett von Modulen zwängen. Die nationale Vielfalt als Kennzeichen des vereinten Europa wird durch solche Egalisierungen im Kern getroffen. Für den jungen Verfassungsjuristen gesagt und geschrieben (und ähnliches gilt wohl für andere Geistes- bzw. Kulturwissenschaften): Man studiert mit Gewinn eben gerade in Wien, um H. Kelsen kennenzulernen und das, was er auf Dauer in Österreich prägend hervorgebracht hat (von der Verfassung von 1920 bis zur „Wiener Schule“). Man fährt nach Pisa, um die Schule von A. Pizzorusso zu studieren. Man lernt in Bologna, um einen Ursprung europäischer Rechtskultur (seit 1100) vor Ort zu erleben und den Kreis um G. de Vergottini zu erfahren. Gleiches gilt für die Schülerkreise um A. D’Atena, A. A. Cervati und P. Ridola in Rom. In den 50er und 60er Jahren schrieb man als Student sich in Tübingen ein, um G. Dürig und O. Bachof kennenzulernen. Von 1965 bis 1992 wollte man in Gestalt des legendären Hesse-Seminars die vielzitierte „Freiburger Schule“ (so ein feststehender Begriff seit R. Herzog, 1971) kennenzulernen. Es kam zur produktiven Konkurrenz der Universitäten untereinander, auch dank des deutschen Kulturföderalismus. All dies droht im Bologna-Prozess verloren zu gehen. Er schmückt sich mit einem großen Namen, den er selbst zerstört. Dieser Abschnitt im „Brief an einen jungen Verfassungsjuristen“ ist besonders wichtig, er müsste vertieft und erweitert werden. Was die 68er-Revolution in Deutschland in der Universitätskultur nicht hat zerstören können, droht nun heute bei uns z. B. wegen der Entscheidungsbefugnisse für externe „Hochschulräte“, blinder Übernahme des US-amerikanischen Modells, wegen der Ökonomisierung (Universität als wirtschaftliches Unternehmen und Betrieb) und Modularisierung zerstört zu werden (man vergegenwärtige sich auch die sprachliche Verhunzung in Worten wie „Exzellenzcluster“ und die Infragestellung von „Orchideenfächern“ wie der Papyrologie). Stiftungen wie die an der Universität St. Gallen 2004 gegründete (den Namen des Verf. tragend) in Sachen „Verfassungslehre als Kulturwissenschaft“ können Forum für die Weitergabe von Wissen und Können an junge Verfassungsjuristen werden. Hier kann (nicht quantifizierbare, „zweckfreie“) Grundlagenforschung entstehen, die sich nicht an kurzfristigen Erfolgen messen lässt. Das Berliner „Manifest Geisteswissenschaft“ von 2005 11 ist zu begrüßen. 10. Zusammenfassend lässt sich in dieser ersten al fresco skizzierten Briefform, der viele Einzelbriefe zu speziellen (z. T. schon erwähnten) Themen folgen müssten, dieses sagen: Der Verfassungsstaat als Idealtypus ist heute eine tendenziell universale Errungenschaft. Er muss in „weltbürgerlicher Absicht“ von vielen nationalen Wissenschaftlergemeinschaften gesamthänderisch entwickelt und fortgeschrieben werden. Verfassungsstaatliches Völkerrecht als ___________ 11 Kritisch leider Schieder, W., Die Zukunft der geisteswissenschaftlichen Forschung liegt jenseits der Universität, FAZ vom 04.01.2006, S. 32.

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Peter Häberle

„Menschheitsrecht“ ist eine komplementäre „konkrete Utopie“ im Sinne von E. Bloch, an der heute Völkerrechtler und Verfassungsrechtler arbeiten müssen. In der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten haben heute vor allem die jungen Verfassungsjuristen einen besonderen Auftrag und große Verantwortung. Sie müssen sich dabei von der älteren Generation „anleiten“ lassen. In diesen Prozessen entwickeln sich auch Klassiker zu solchen. Sie sind ein Ergebnis der Arbeit aus vielen wissenschaftlichen Generationenverträgen (z. B. in Sachen der „Weimarer Riesen“). Dabei ist wissenschaftlicher Optimismus unverzichtbar, so wie der Verfassungsstaat und das Völkerrecht als „Menschheitsrecht“ ein unverzichtbares „Utopiequantum“ brauchen, um sich weiter zu entwickeln. Briefe der hier versuchten Art müssten von vielen älteren Staatsrechtslehrern und Völkerrechtlern an viele junge Juristen möglichst vieler Kulturkreise geschrieben und praktiziert werden. Denn die einzelnen Rechts- und Wissenschaftskulturen sind höchst vielfältig, sie sollten nicht eingeebnet werden. Jede nationale Rechtsgemeinschaft kann etwas zur „Weltliteratur in Sachen Verfassungsstaat“ und zum Völkerrecht als „Menschheitsrecht“ beitragen. Dazu bedarf es aber eines weltweit gelebten und erlebten Generationenvertrages und vieler intensiver Kommunikationsformen. Die vergleichsweise altmodische Form des Briefes ist nur ein Anfang. D. Blumenwitz könnte sie, gerade auch als Völkerrechtler, gefallen haben. Anleitungen zum Verfertigen einer Dissertations- und Habilitationsschrift12 hätte er leicht schreiben können. Sie wären gewiss Gegenstand einer seiner ersten Briefe gewesen bzw. geworden.

___________ 12

Vgl. auch Münch, I. v., Promotion, 2. Aufl. 2003.

Zur deutschen Nationalhymne Günter Spendel

I. Einleitung Über die Bestimmung des Deutschlandliedes zur Nationalhymne haben von Anfang an, so muss man leider feststellen, zum Teil unklare und unrichtige Vorstellungen bestanden. Auch die heutige Regelung, nach der nur noch die dritte Strophe Staatssymbol sein soll, ist fragwürdig. Immer wieder wird die Schöpfung August Heinrich Hoffmanns von Fallersleben 1 als nicht mehr zeitgemäß angegriffen. Wohl in keinem anderen Staate wäre es möglich gewesen, Einwände gegen die eigene Nationalhymne ausgerechnet in einer Zeit zu erheben, in der das Land als Gastgeber für viele andere Nationen bei einem großen Sportereignis auftrat, wie es bei der Fußballweltmeisterschaft 2006 in der Bundesrepublik der Fall war. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, die damit ihren völligen Mangel an Sinn für Tradition und Nationalbewusstsein offenbarte, hat schon Haydns schöne Melodie beanstandet, weil sie „bei Angehörigen der Opfer des Zweiten Weltkrieges schlimme Erinnerungen“ wecken müsste und weil wir – ein besonders törichtes Argument – ein „Einwanderungsland“ seien. 2 Der einfache Gedanke, dass die Einwanderer sich nach den Sitten und Gebräuchen des Gastlandes zu richten haben und nicht umgekehrt dieses nach den Neubürgern, ging diesen seltsamen Gewerkschaftsvertretern völlig ab. ___________ 1

Seinen Namen hat der Dichter so erläutert: Unpolitische Lieder, 1. Teil, 2. Aufl. 1840, S. 34, Gedicht „Von“: „An meine Heimat dacht’ ich eben, Da schrieb ich mich von Fallersleben. Ich schrieb’s und dachte nie dabei An Staatszensur und Polizei. So schrieben sich viel Biederleute Nach ihrem Ort und tun’s noch heute. Und keiner dachte je daran, Durch von würd’ er ein Edelmann.“ 2 Vgl. den Bericht in FAZ vom 17.06.2006 (Nr.138) S. 40 1. Sp., den Artikel „Weiter Kritik am Deutschlandlied“ und die Beilage „Fußballweltmeisterschaft“ der FAZ vom 16.06.2006 (Nr.137) S. 44, Glosse „Patriotismus II“.

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Günter Spendel

Als der Verfasser anlässlich seiner Arbeit an der Gustav-Radbruch-Gesamtausgabe (GRGA) in zwei Gedenkartikeln Radbruchs über den ersten Reichspräsidenten auch auf Ausführungen zu Eberts Deklaration der Nationalhymne gestoßen war und sich näher mit der Entstehungsgeschichte befasst hatte, gab er das Manuskript zu dem Thema für die JZ seinem Fakultätskollegen Dieter Blumenwitz zur Einsicht und Kontrolle, weil es u. a. eine staatsrechtliche Frage betraf. Dieser fand die These, dass das Deutschlandlied in der Weimarer Republik und später zum Teil auch durch staatsrechtliches Gewohnheitsrecht als Staatssymbol begründet worden ist, überzeugend und bestärkte den „fachfremden“ Verfasser darin, an seiner Auffassung festzuhalten. Da die Vorgeschichte der Nationalhymne teilweise immer noch unbekannt ist oder unrichtig wiedergegeben wird, darf das Thema, zu dem sich der Autor bereits mehrfach geäußert hat, 3 hier noch einmal in dankbarer Erinnerung an die ermutigende Zustimmung des so früh dahin gerafften Staatsrechtlers behandelt werden. Denn die Wahrheit kann man nicht oft genug kundtun. Oder wie Goethe in seinen Gesprächen mit Eckermann gesagt hat: „Man muss das Wahre immer wiederholen, weil auch der Irrtum um uns her immer wieder gepredigt wird …“ 4

II. Vorgeschichte der Nationalhymne Das „Lied der Deutschen“ wurde von dem Germanisten und Dichter Hoffmann von Fallersleben am 26. August 1841 auf der damals noch britischen Insel Helgoland zu Joseph Haydns schöner Melodie der österreichischen Kaiserhymne gedichtet. Es war die Zeit des Deutschen Bundes, der mit dem Wiener Kongress 1815 an die Stelle des 1806 aufgelösten Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation getreten war und 37 deutsche Einzelstaaten und vier Freie Städte umfasste. Für den Dichter, einen liberal und demokratisch gesinnten Patrioten, der unter der staatlichen Zerrissenheit seines Vaterlandes, unter Zensur und polizeistaatlichen Verhältnissen im reaktionären Preußen litt, brachte das Deutschland-Lied die Sehnsucht nach einem geeinten und freiheitlichen Staatswesen zum Ausdruck. Die später als anstößig empfundene Formel des „Deutschland über alles“ wurde von ihm nicht im Sinne von „soll herrschen“, sondern von „wollen wir lieben“ verstanden. 5 Ähnlich wurde die Wendung im ___________ 3 Spendel, G., Einigkeit und Recht und Freiheit, in: Der Literat 1988, S. 153; ders., Zum Deutschland-Lied als Nationalhymne, in: JZ 1988, S. 744; ders., Die Nationalhymne als Staatssymbol und ihr Schutz, in: MUT – Forum für Kultur, Politik und Geschichte, Nr. 291 (1991), S. 18. 4 Eckermann, J. P., Gespräche mit Goethe, Gespr. vom 16.01.1828. 5 So treffend Knopp, G. / Kuhn, E., Das Lied der Deutschen. Schicksal einer Hymne, 1988, S. 12.

Zur deutschen Nationalhymne

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Revolutionsjahr 1848 von einem österreichischen Dichter aufgefasst, wenn es bei diesem hieß: „Preußen nicht, noch Österreich mehr, Bayern nicht, noch Sachsen, Deutschland über alles hehr Sprossen soll’s und wachsen, Nord und Süden Hand in Hand, Frei zum Himmel schall’ es Ungepreßt und unverwandt: Deutschland über alles!“ 6

Dem entspricht, dass Hoffmann von Fallersleben schon 1841 in dem zweiten Band seiner „Unpolitischen Lieder“, die er seinem ersten Band (2. Aufl. 1840) folgen ließ und die im Gegensatz zum Titel Kritik an den politischen Zuständen übten, in der dritten Strophe eines Gedichts gefordert hatte: „Deutschland erst in sich vereint! Danach strebet, danach ringet! Daß der schöne Tag erscheint, Der uns Einheit wiederbringet.“ 7

Neben diesem Streben nach Einheit des Staates waren für den Dichter das Recht der Staatsangehörigen und die Freiheit seiner Bürger die beiden anderen ihn bestimmenden Werte, wie dies aus einem weiteren kleinen Gedicht hervorgeht: „Nicht betteln, nicht bitten! Nur mutig gestritten! Nie kämpft es sich schlecht Für Freiheit und Recht.“ 8

Ein solcher Mann war im reaktionären Preußen auf die Dauer nicht gelitten. Am 14. April 1842 wurde er aus seiner Breslauer Professur ohne Pension entlassen. Als politischer Flüchtling und Verfolgter musste er in den nächsten Jahren in Deutschland ein unstetes Leben führen. Erst nach der Revolution von 1848 wurde ihm vom preußischen König ein Wartegeld gewährt, das ihm zu heiraten erlaubte. 9 Aber noch 1871, wenige Jahre vor Hoffmanns Tod, wurde die Eingabe eines Hamburger Freundes an Bismarck, den patriotischen Dichter wieder in seine Breslauer Professur einzusetzen, von der Preußischen Kultus-

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Zitiert nach Knopp / Kuhn (Fn. 5), S. 44. Hoffmann von Fallersleben, Unpolitische Lieder, 2. Teil, 1841, S. 3, Gedicht „Eins und alles“. 8 Hoffmann (Fn. 7), S. 25, Gedicht „Numquam retrorsum“ (Niemals zurück); der gedruckte Titel „Numquam retorsum“ enthält im zweiten Wort einen Druckfehler. 9 Schmitz, W., Hoffmann von Fallersleben, in: Bertelsmanns Lit. Lex., 5. Bd. 1990, S. 421, 422 r. Sp. 7

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verwaltung abgelehnt, 10 da man diesem offenbar die frühere Kritik an den politischen Verhältnissen in Preußen nicht vergessen hatte. Das Deutschland-Lied hatte zunächst keinen großen Erfolg. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren kämpferische Lieder wie „Die Wacht am Rhein“ beliebter. Noch zur Zeit des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 klagte der Dichter, dass sein Lied im Gegensatz zu solch kriegerischen Gesängen wenig angestimmt würde. Bei einem Staatsakt, und zwar bei der feierlichen Übergabe der bis dahin britischen Insel Helgoland an Deutschland im Tausch gegen die Insel Sansibar, ertönte es zum ersten Male öffentlich 1890. Erst seit Anfang des 20. Jahrhunderts wurde es immer mehr als Nationallied angesehen und angestimmt, so auch 1901 in Gegenwart des letzten Kaisers bei der Enthüllung des Bismarck-Denkmals in Berlin, 11 dies um so mehr, als das Kaiserreich keine National-, nur die Kaiserhymne „Heil dir im Siegerkranz“ kannte. Dabei wurden die Eingangsworte der ersten Strophe „Deutschland über alles“ besonders im Ausland oft im Sinne eines anmaßenden Nationalismus und eines weltbeherrschenden Strebens verstanden. Als nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs die deutsche Nationalversammlung die als unerhört empfundenen Friedensbedingungen erfahren und in ihrer 39. Sitzung vom 12. Mai 1919 in der Berliner Universitätsaula debattiert hatte, schloss ihr Präsident Fehrenbach die Tagung mit den Sätzen: „Wie in glücklichen Tagen, so jetzt in dieser ernsten Stunde bekennen wir uns zu unserem vaterländischen Hymnus. Er ist missdeutet worden. Man hat gesagt, es sei eine Überhebung gegenüber den anderen Völkern. Nein, das ist er nicht. Er ist nur der Ausdruck unserer innigen, gemütstiefen Liebe zu unserer Heimat. Er war der Ausdruck der Verehrung für das Land unserer Väter. Er war der Ausdruck der Freude über seine Kraft und Stärke. Er war der Ausdruck des Heimwehs für alle die, die in fernen Landen deutsche Laute entbehren mussten. Wie in glücklichen Tagen so auch heute und für immer in schwerer Not und bedrängter Stunde rufen wir hinaus: Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt!“ 12

III. Die Nationalhymne seit der Weimarer Republik Wie jeder Staat brauchte gerade auch die neu gegründete erste deutsche Republik ihre Symbole, d. h. Wahrzeichen, in denen sie sich „versinnbildlicht“ und der einzelne Bürger sich „wiedererkennt“. Diese Sinnbilder drücken die ___________ 10

Knopp / Kuhn (Fn. 5), S. 53. Knopp / Kuhn (Fn. 5), S. 55. 12 Heilfron, E. (Hrsg.), Die deutsche Nationalversammlung im Jahr 1919, 4. Bd., o. J., S. 2716. Wie angesichts dieses Protokolls in dem verdienstvollen Buch von Knopp / Kuhn (Fn. 5), S. 72 f., behauptet werden kann, das Deutschland-Lied wäre als „eine Geste des Trotzes, freilich auch der Ohnmacht“ von den Abgeordneten gesungen worden, bleibt unerfindlich. 11

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Beziehung des Einzelnen zum Gemeinwesen aus und haben so eine gewisse integrierende Kraft. Die beiden bedeutsamsten Staatssymbole sind die Staatsflagge mit den Nationalfarben und die Nationalhymne, die eine das Auge, die andere Ohr und Gemüt ansprechend. 13 Die erstere war nach 1918 sehr umkämpft und in Art. 3 der WRV geregelt, heute in Art. 22 GG. Über die letztere schwieg und schweigt die jeweilige Verfassung. Friedrich Ebert, der erste Reichspräsident, dem das „Recht zur Regelung der Gestaltung“ von Staatssymbolen zugestanden wurde, 14 ging bei der Bestimmung der Nationalhymne eher „behutsam“ vor. Am dritten Jahrestag der Verkündung der Reichsverfassung, am 11. August 1922, veröffentlichte er in den Morgenblättern der Berliner Tagespresse einen Aufsatz unter dem Titel „Kundgebung“. Von diesem Begriff heißt es später allgemein in dem gewichtigen „Handbuch des deutschen Staatsrechts“ von Anschütz/Thoma: „Der Reichspräsident hat das in der Verfassung nicht erwähnte Recht, durch persönliche Kundgebungen auf das deutsche Volk und seine Willensbildung politischen Einfluss zu üben. Sofern in solchen Kundgebungen keine ‚Anordnung‘ oder ‚Verfügung‘ enthalten ist, bedürfen sie keiner ministeriellen Gegenzeichnung.“ 15 In dieser Veröffentlichung Eberts war also kaum eine „Proklamation“, vielmehr ein „Aufruf“ 16 oder Appell zu sehen, mit dem das Staatsoberhaupt die Bevölkerung nur aufgefordert hat, die dritte Strophe des Deutschland-Liedes als „festlichen Ausdruck unserer vaterländischen Gefühle“ zu singen; 17 eine weitergehende, ausdrückliche Bestimmung zur Nationalhymne und zum Staatssymbol konnte man darin noch nicht erblicken, wie es aber z. B. Reichskanzler Dr. Luther in seiner Trauerrede vom 4. März 1925 nach Eberts plötzlichem Tod tat, wenn er dem Verstorbenen nachrühmte, dass „die Worte des von ihm zur rechten Stunde als Lied aller Deutschen neu verkündeten Liedes ‚Deutschland Deutschland über alles‘“ (gemeint ist die „Kundgebung“ vom 11. August 1922) Leitstern seines politischen Wirkens gewesen seien. 18 In seinem Aufruf war Ebert von der neuen Verfassung ausgegangen: „Vor drei Jahren, am 11. August [1919], hat sich das deutsche Volk seine Verfas___________ 13

Vgl. dazu schon näher Spendel (Fn. 3 – Staatssymbol), in: MUT 1991, S. 19. Pohl, H., Die Zuständigkeiten des Reichspräsidenten, in: Anschütz, G. / Thoma, R. (Hrsg.), Handb. des Deutschen Staatsrechts, I. Bd., 1930, S. 482, 494 vor Nr. VII. 15 Pohl (Fn. 14), S. 484 vor Nr. II. 16 Von einem „Aufruf“ spricht auch Poetzsch, F., Vom Staatsleben unter der Weimarer Verfassung, in: JöR 13 (1925), S. 1, 32, der aber schon in der „Kundgebung“ vom 11.08.1922 die Deklaration der Nationalhymne sieht. 17 So der Reichspräsident in seiner „Kundgebung“, s. Spendel (Fn. 3 – DeutschlandLied), in: JZ 1988, S. 744, 745 r. Sp. 18 Zit. nach Pohl (Fn. 14), S. 502. 14

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sung gegeben, das Fundament seiner Zukunft. Diesen Tag wollen wir, trotz aller Not der Gegenwart, mit Freude und Hoffnung begehen. An ihm wollen wir unsere Liebe zum Vaterlande bekunden. Deutschland soll nicht zugrunde gehen! Das ist unser Schwur, solange wir atmen und arbeiten können. Wir wollen keinen Bürgerkrieg, keine Trennung der Stämme. Wir wollen Recht. Die Verfassung hat uns nach schweren Kämpfen Recht gegeben. Wir wollen Frieden. Recht soll vor Gewalt gehen. Wir wollen Freiheit. Recht soll uns Freiheit bringen. Wir wollen Einigkeit. Recht soll uns einig zusammenhalten. So soll die Verfassung uns Einigkeit, Recht und Freiheit gewährleisten.“ Damit war Ebert bei den Zielen seines politischen Wirkens angelangt, die er in der dritten Strophe des Deutschland-Liedes aufgeführt sah und unter die er seine „Kundgebung“ gestellt hatte: „Dieser Dreiklang aus dem Liede des Dichters gab in Zeiten innerer Zersplitterung und Unterdrückung der Sehnsucht aller Deutschen Ausdruck; er soll auch jetzt unseren harten Weg zu einer besseren Zukunft begleiten. Sein Lied, gesungen gegen Zwietracht und Willkür, soll nicht Missbrauch finden im Parteikampf …“ Und zu der Eingangsformel der Hymne, die so oft zum Stein des Anstoßes wurde, zu der Wendung „Deutschland über alles“ führte der Reichspräsident ganz im Sinne Hoffmanns von Fallersleben aus: Das Lied „soll auch nicht dienen als Ausdruck nationalistischer Überhebung. Aber so, wie einst der Dichter, so lieben wir heute ‚Deutschland über alles‘. In Erfüllung seiner Sehnsucht soll unter den schwarz-rot-goldenen Fahnen der Sang von Einigkeit und Recht und Freiheit“ – dann folgt die schon vorstehend zu Fußnote 17 zitierte Wendung – der „festliche Ausdruck“ der nationalen Gesinnung sein. Eberts Worte in seiner Verkündung sind nach Radbruchs treffendem Urteil so eindrucksvoll und „so schön, dass sie als ein Vermächtnis des ersten Reichspräsidenten einstmals in den Lesebüchern aller deutschen Schulen stehen werden“. 19 Es ist daher eine Ironie der Geschichte, dass statt dessen nach 1945 von sozialdemokratischer Seite, aber auch von CDU-Vertretern abfällige Äußerungen über die Nationalhymne gemacht worden sind. 20 Der Reichspräsident hatte aber außer seiner „Kundgabe“ in der Presse vom 11. August 1922 noch mehr unternommen. Zur Verfassungsfeier um 12 Uhr schritt er unter den Klängen des Deutschland-Liedes vor dem Reichstag eine Ehrenkompanie der Reichswehr ab. Im Plenarsaal des Parlaments war auf der Stirnseite ein weißes Band mit den Worten „Einigkeit und Recht und Freiheit“ gespannt. Am Ende der Veranstaltung, nach der Festrede des badischen Staats___________ 19 Radbruch, G., Friedrich Ebert – Deutschlands erster Reichspräsident, in: Ztschr. „Der Leuchtturm“, 7. Jg. 1931, Nr. 59/60 v. 11.08.1931, Beil. = GRGA, 16. Bd. „Biogr. Schriften“, eingef. u. bearb. v. Spendel, G., 1988, S. 102, 107. 20 Dazu näher Spendel (Fn. 3 – Deutschland-Lied), in: JZ 1988, S. 744, 748 r. Sp.

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präsidenten, sangen Regierungsvertreter und Abgeordnete (die deutschnationalen waren dem Festakt ferngeblieben) eine Strophe des Deutschland-Liedes (wohl die dritte), die von den ausländischen Diplomaten, darunter auch dem sowjetrussischen Botschafter, stehend mit angehört wurde. Noch am gleichen Tage jubelte ein Blatt der Abendpresse: „Von heute an hat die deutsche Republik ihre anerkannte Nationalhymne.“ 21 Dafür, dass der Reichspräsident selbst in seiner „Kundgebung“ vom 11. August 1922 noch keine rechts- und allgemeinverbindliche Bestimmung der Nationalhymne gesehen hat, spricht auch sein weiteres Vorgehen. Vielleicht erst noch die Reaktion in der Öffentlichkeit abwartend, gab er paar Tage später, und zwar am 17. August 1922 als Oberbefehlshaber der Wehrmacht (Art. 47 WRV), mit der vorgeschriebenen Gegenzeichnung des Reichswehrministers Geßler, folgenden Erlass heraus: „Entsprechend meiner Kundgebung vom 11. August 1922 bestimme ich: Die Reichswehr hat das ‚DeutschlandLied‘ als Nationalhymne zu führen. Ausführungsbestimmungen erlässt der Reichswehrminister.“ 22 Mit dieser Anordnung hatte der Reichspräsident kraft positiven, öffentlichen Rechts für einen Teil der Staatsgewalt, und zwar für die bewaffnete Macht die Nationalhymne rechtlich festgelegt, nicht aber für alle staatlichen Organe und nicht für den einzelnen Staatsbürger. Allgemeines Staatssymbol wurde das Deutschland-Lied erst auf Grund staatsrechtlichen Gewohnheitsrechts. 23 Denn wenn fortan bei Staatsakten, z. B. bei Staatsbesuchen ausländischer Staatsoberhäupter, von der Truppe die Hymne gespielt wurde, musste auch der „einfache Mann auf der Straße“ die Überzeugung gewinnen, dass hier die Nationalhymne erklänge. Sie wurde als solche von dem Großteil des Volkes bereitwillig aufgenommen und anerkannt. So hat sich auch das „Reichsbanner Schwarz-RotGold“, das 1924 zur Verteidigung der Republik gegen ihre inneren Feinde von Kriegsteilnehmern und Republikanern gegründet worden war, zu dem Lied als Staatssymbol bekannt. 24 Der Einwand, dass für dessen Begründung durch Gewohnheitsrecht die Zeit zu kurz gewesen sei, greift nicht durch angesichts der häufigen Anwendung der Hymne und ihrer Anerkennung auch nach 1933 in der NS-Diktatur, die sie nur durch den Nachgesang des primitiven „Horst-

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Voss. Zeit., Abend-Ausg. v. Fr., 11.08.1922, Nr. 378, S. 2 r. Sp. Heeres-VOBl., 4. Jg.‚ Nr. 47 v. 23.09.1922, S. 407 u. Marine-VOBl., 53. Jg., H. v. 22.10.1922, S. 365. 23 So nur kurz Dahlmann, A., Die Befugnis des Bundespräsidenten, Staatssymbole zu setzen, Diss., 1959, S. 65/66. 24 Nach Radbruch, G., Friedrich Ebert, der Staatsmann, in: Schlesw.-Holst. Volksz., Nr. 52 v. 03.03.1925 = GRGA, 16. Bd., S. 96, 99 f. 22

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Wessel-Liedes“ und die Verbindung mit dem Hitlergruß (Singen mit erhobenem und gestrecktem rechtem Arm) diskreditierte. 25 Hatte sich also das Deutschland-Lied seit 1922 aufgrund ständiger Übung bei staatlichen Veranstaltungen und der Überzeugung von seinem Charakter als Nationalhymne durchgesetzt, so waren doch die Ansichten über ihre Rechtsgrundlage verschieden. In der NS-Diktatur führten z. B. Sch1egelberger/Hoche für die „Erklärung des Deutschlandliedes zur Nationalhymne“ nur unvollständig und z. T. unrichtig den „Erlass 17. August 1922 (HVBl. 407)“ an, wobei die genauere Angabe, dass es eine Anordnung des ersten Reichspräsidenten war, weggelassen ist, um wohl nicht die Erinnerung an ihn zu wecken. 26 Noch unrichtigere Vorstellungen über die Rechtsgrundlage des bedeutsamen Staatssymbols bestanden z. T. nach 1945. So hat der Rechtshistoriker Hattenhauer 1984 fälschlich behauptet, Eberts „Proklamation“ (womit dessen „Kundgebung“ vom 11. August 1922 gemeint ist) sei „politisch halbherzig“ gewesen und „allein Reichswehrminister Geßler“ habe das Lied für die Reichswehr zur Nationalhymne bestimmt. 27 Trotz entsprechender Hinweise des Verf. hat der Buchautor auch in der zweiten Auflage von 1990 an seinem Fehler festgehalten und in den dem Reichswehrminister vom Reichspräsidenten aufgetragenen Ausführungsbestimmungen und nicht in dem Ebertschen Erlass vom 17. August 1922 einen Rechtsgrund gesehen. 28 Der Fehler wird noch deutlicher und der Wirrwarr noch größer, wenn Hattenhauer in der dritten Auflage seines Buches ,,Deutsche Nationalsymbole“ von 1998 nunmehr selbst auf den Erlass des Reichspräsidenten für die Reichswehr hinweist. 29 Dass es dann ungereimt ist, diese Anordnung noch einmal dem Reichswehrminister zuzuschreiben, ist offensichtlich. Selbst Stern spricht in seinem großen Werk über „Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland“ irrtümlich davon, dass der erste Reichspräsident durch „Verordnung“ vom 11. August 1922 das Deutschlandlied zur Nationalhymne bestimmt habe. 30 Hiervon kann keine Rede sein, weil eine entsprechende Verordnung eine Gegenzeichnung des Reichswehrministers erfordert hätte. 31 ___________ 25

Vgl. schon Spendel (Fn. 3 – Deutschland-Lied), in: JZ 1988, S. 744, 746 f. Schlegelberger, F. / Hoche, W. Das Recht der Neuzeit, 17. Ausg. 1942, S. 345; 19. Ausg. 1944, S.330. Zur NS-Zeit Spendel (Fn.3 – Deutschland-Lied), in: JZ 1988, S. 746 f. 27 Hattenhauer, H., Deutsche Nationalsymbole, 1. Aufl. 1984, S. 60. 28 Hattenhauer, H., Geschichte der deutschen Nationalsymbole, 2. Aufl. 1990, S. 72. 29 Hattenhauer, H., Deutsche Nationalsymbole, 3. Aufl. 1998, S. 56/57; Wiederholung des Fehlers auch in der 4. Aufl. 2006, S. 88. 30 Stern, K. in seinem Werk 1. Bd., 2. Aufl. 1984, S. 281. 31 Vgl. das Zitat zu Fn. 15. 26

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IV. Das Staatssymbol nach 1945 An dem vorstehend dargelegten Rechtszustand hatte sich nach 1945 nichts geändert. Denn die Hymne war nicht abgeschafft worden. Nur ihr Singen und Spielen hatte die Besatzungsmacht in der amerikanischen und englischen Zone neben Militär- und NS-Liedern zeitweilig verboten. 32 Für die 1949 gegründete Bundesrepublik, die als „(subjekts-)identisch“ und bezüglich ihres Staatsgebietes als „teilidentisch“ mit dem früheren Staatswesen angesehen wurde, galt auch das vorkonstitutionelle Staats- und Verfassungsrecht weiter, soweit es nicht überholt oder ausdrücklich aufgehoben worden war, wie es z. B. in der DDR hinsichtlich der Nationalhymne geschah. 33 Schon 1924 hatte Gustav Radbruch in seltener Voraussicht gefordert, dass der Dreiklang von „Einigkeit und Recht und Freiheit“ aus der dritten Strophe des Deutschland-Liedes für uns Deutsche eine „kanonische Formel“ werden müsse wie für die Franzosen die Devise „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ aus der großen Französischen Revolution. 34 Jetzt nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes und der Begründung der Bundesrepublik tauchte im August 1949 bei den Wahlen zum ersten Deutschen Bundestag dieser Gedanke wieder in dem Zeitungsartikel eines späteren Landeskultusministers auf, das Deutschland-Lied als „Bundeslied“ mit der dritten Strophe wiederaufleben zu lassen. 35 Auch Abgeordnete und Bürger befassten sich mit der Frage. Um die zweideutige Wendung des „Deutschland über alles“ zu vermeiden, wurde z. B. in Zuschriften und Leserbriefen die Formel „Du mein alles“ vorgeschlagen. Sehr bald ergriff in der Frage der erste Bundeskanzler die Initiative. Am 18. April 1950 schloss Adenauer eine Veranstaltung in Berlin unter Zustimmung der meisten Zuhörer mit dem Singen der dritten Strophe des Deutschland-Liedes, was er wohl auch im Hinblick auf die Bemühungen um eine neue Nationalhymne in der DDR getan hatte. Er hatte sich damit nur dem fortgeltenden Rechtszustand gemäß verhalten. Es ging in Wahrheit nicht darum, ob das Lied wieder als Nationalhymne einzuführen, sondern ob es, wie der erste Bundespräsident Heuss beabsichtigt hatte, abzuschaffen sei. Adenauer trug mit seinem Verhalten nur zum Wiederaufleben des Staatssymbols bei. Die ungehaltene Reaktion von Heuss, der in dem Vorgehen des Kanzlers einen Eingriff in seine Prärogative sah, war also unbegründet. Sein Versuch, eine neue Natio___________ 32

Dazu s. schon Spendel (Fn. 3 – Deutschland-Lied), in: JZ 1988, S. 744, 747,

1. Sp. 33

So bereits Spendel (Fn. 3 – Deutschland-Lied), in: JZ 1988, S. 744, 747, r. Sp. Radbruch, G., Die Aufgaben des staatsbürgerlichen Unterrichts, 1924 = GRGA, 13. Bd. „Politische Schriften aus der Weimarer Zeit“, eing. u. bearb. v. Baratta, 1993, S. 239, 242; ders., Republikanische Pflichtenlehre, o. J. (1926?) = GRGA, 14. Bd. „Staat und Verfassung“, eing. u. bearb. v. Schneider, H. P., 2002, S. 85–88. 35 Nach Knopp / Kuhn (Fn. 5), S. 94/95. 34

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nalhymne einzuführen, hatte keinen Erfolg. Seine „Kundgebung“ an die Bürger in Gestalt einer Neujahrsansprache zum Jahreswechsel 1950/51, in der er im Rundfunk ein neues Lied vorstellte, d. h. vorlas und vorspielen ließ, fand in der Bevölkerung nicht wie damals Eberts Aufruf Widerhall und Zustimmung. So musste der Bundespräsident schließlich nachgeben und auf die Bitte des Kanzlers vom 29. April 1952, der zugleich im Namen der Bundesregierung sprach, das Hoffmann/Haydnsche Lied in seinem Antwortbrief vom 2. Mai 1952 anerkennen, wobei alle Beteiligten davon ausgingen, dass bei staatlichen Veranstaltungen nur die dritte Strophe gesungen werden solle, das ganze Lied aber Nationalhymne sei, was auch in einer mündlichen Pressemitteilung des Bundespräsidialamtes bestätigt wurde. 36 Die folgende Zeit war durch Diskussionen, ja Dispute ausgefüllt, wann auch die beiden ersten Strophen gesungen werden dürften. So war und ist nichts dagegen einzuwenden, wenn z. B. Studenten bei einem Festkommers anlässlich des Stiftungsfestes ihrer Universität das ganze Deutschland-Lied singen. Dass die geographischen Angaben über das Gebiet des ehemaligen Deutschen Bundes im 19. Jahrhundert heute historisch überholt sind, spricht auch nicht gegen die erste Strophe. Es ist schon früher darauf hingewiesen worden, kein Franzose würde daran denken, die Marseillaise deshalb als französische Nationalhymne nicht mehr zu singen, weil sie ein Marsch- und Kriegslied der französischen Rheinarmee von 1792 ist, das zum Gebrauch der Waffen und zum Vergießen des Feindesblutes aufruft.

V. Neueste Entwicklung seit 1990 War mit der von Bundeskanzler Adenauer initiierten Lösung der Frage eine glückliche, von Klugheit und Weitsicht zeugende Regelung der Nationalhymne gefunden, so ist diese bedauerlicherweise teilweise wieder rückgängig gemacht worden, und zwar jeweils durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundespräsidenten von Weizsäcker. In einem Strafprozess wegen Verunglimpfung der Nationalhymne hatten Ende der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts bayerische Gerichte (Amtsgericht, Landgericht und Bayerisches Oberstes Landesgericht) mit Recht einen Journalisten wegen zweier Vergehen nach § 90 a I Nr. 2 StGB zu vier Monaten Gefängnis verurteilt. 37 Im August 1986 hatte der Täter in einem Nürnberger „Stadtmagazin“ ein „Deutschlandlied ‚86‘“ veröffentlicht, dessen Text in einer obskuren, z. T. ob___________ 36

Nach Knopp / Kuhn (Fn. 5), S. 111; dort auch das Bulletin der Bundesregierung mit dem Abdruck des Briefwechsels zwei Seiten vor S. 105. Vgl. weiter Spendel (Fn. 3 – Deutschland-Lied), in: JZ 1988, S. 744, 748 1. Sp. 37 Zu dem Fall s. BVerfGE 81, 298 (305 ff.); Spendel (Fn. 3 – Staatssymbol), S. 22 ff.

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szönen Reimerei bestand und dem der Autor in einem Begleitartikel „Erläuterungen“ zum Inhalt und zu den Verwendungsmöglichkeiten des „Gedichts“ beigegeben hatte. Die Beschlagnahme der Magazin-Ausgabe hatte er unter Wiedergabe seines Machwerks in einer in Nürnberger Buchläden ausgelegten „Presseerklärung“ kommentiert. Auf die Verfassungsbeschwerde des Verurteilten hat das BVerfG durch Beschluss vom 7. März 1990 die Entscheidung des BayObLG unter zwei Gesichtspunkten aufgehoben: Einmal sei der Täter in seinem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 2 S. 1 GG (Freiheit der Kunst) verletzt, zum andern in seinem Recht aus Art. 103 Abs. 2 GG (gesetzliche Bestimmtheit der Straftat), soweit die ersten beiden Strophen Grundlagen der Bestrafung seien. Das oberste Gericht hat in seiner unergründlichen Weisheit in der primitiven, grob verunstaltenden „Nachdichtung des Deutschlandliedes“ ,,bei ausschließlich formaler“ wie auch „bei einer eher inhaltsbezogenen“ Betrachtungsweise „Kunst“ i. S. d. Art. 5 GG gesehen, weil es dafür „auf die ‚Höhe‘ der Dichtkunst nicht ankommt“. 38 Von einer näheren Kritik an dem Beschluss sei hier abgesehen; 39 denn im vorliegenden Zusammenhang interessiert lediglich ein kurzer Satz des BVerfG: „Da bei staatlichen Anlässen jedoch nur die dritte Strophe des Deutschlandliedes gesungen wird, kann sich der Schutz des staatlichen Symbols von vornherein“ (?!) „nur auf diese Strophe beziehen.“ 40 Dieser apodiktische Kausalsatz entbehrt in Wahrheit der inhaltlichen Begründung und stand mit der herrschenden Rechtsauffassung zum Umfang der Nationalhymne in eindeutigem Widerspruch. Er stellt allein auf die tatsächliche Übung ab und setzt sich nicht mit der bisherigen Rechtslage auseinander. Es fragt sich daher, ob ein solcher Satz ausreichend ist, ein Staatssymbol wie die Nationalhymne zu verstümmeln und ihr einen „nur eingeschränkten verfassungskräftigen Schutz“ zuzubilligen. 41 Aber nicht nur das BVerfG, sondern auch Bundespräsident von Weizsäcker hat zu der „Verkürzung“ des Liedes beigetragen. Auch er hat – ausgerechnet noch zum Gedenken an den 150. Jahrestag der Entstehung des DeutschlandLiedes und merkwürdigerweise unter Nichtberücksichtigung der einschlägigen Vorentscheidung des BVerfGs! – in seinem Schreiben vom 19. August 1991 an Bundeskanzler Kohl kategorisch mit dem Satz geschlossen: „Die dritte Strophe des Liedes der Deutschen von Hoffmann von Fallersleben mit der Melodie von Joseph Haydn ist die Nationalhymne für das deutsche Volk“. 42 Dieser Satz er___________ 38

BVerfGE 81, 298 (305 ff.). Zur Kritik an dem Beschluss des BVerfG s. Spendel (Fn. 3 – Staatssymbol), S. 23 ff. 40 Vgl. BVerfGE 81, 298 (308); Spendel (Fn. 3 – Staatssymbol), S. 24. 41 BVerfGE 81, 298 (308), Hervorh. vom zitier. Verf. 42 Bekanntmachung des Briefwechsels durch Bundesinnenminister Schäuble in BGBl. 1991 I, S. 2135 (Hervorh. v. zitier. Verf.), ein „Kuriosum eigener Art“, so mit Recht Lippold, Die Staatssymbole … in: KritV, Bd. 75 (1992), S. 38, 48. 39

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scheint geradezu als ein Bruch in der Gedankenführung, wenn es in den vorhergehenden Sätzen ganz richtig heißt: „Das ‚Lied der Deutschen‘, von Hoffmann von Fallersleben vor hundertfünfzig Jahren in lauteren Gedanken verfasst, ist seither selbst der deutschen Geschichte ausgesetzt gewesen. Es wurde geachtet und bekämpft, als Zeichen der Zusammengehörigkeit und gemeinsamen Verantwortung verstanden, aber auch in nationalistischer Übersteigerung missbraucht. Als ein Dokument deutscher Geschichte bildet es in allen seinen Strophen eine Einheit.“43 Aber auch der damalige Bundespräsident spricht dann nur davon, dass sich die dritte Strophe des Hoffmann/Haydnschen Liedes als Symbol bewährt hat und kommt so zu dem vorstehend angeführten Schlusssatz. Der frühere Bundeskanzler Kohl hat in seinem Antwortschreiben vom 23. August 1991 diesen Ausführungen zugestimmt, obwohl er zur Zeit der deutschen Wiedervereinigung im Anschluss an ein Fernsehinterview zusammen mit Willy Brand auf eine entsprechende Journalistenfrage erklärt hat, für ihn sei natürlich das Deutschland-Lied, also das ganze die Nationalhymne.

VI. Schluss und Kritik Die Begründung des bedeutsamen Staatssymbols ist in formeller und materieller Hinsicht unbefriedigend und fragwürdig, in inhaltlicher Hinsicht deshalb, weil nunmehr nach den Erklärungen vom Bundesverfassungsgericht und von einem Bundespräsidenten die beiden ersten Strophen der Hymne strafrechtlich nicht mehr geschützt sind und straflos herabgesetzt und angegriffen werden können. Ihre Verunglimpfung durch einen verunstalteten und schmähenden Text wird besonders dann auf die dritte Strophe ausstrahlen, wenn sie gesungen werden, ohne dass die Übeltäter belangt werden können. Hier wird sich die von dem ehemaligen Bundespräsidenten von Weizsäcker mit vollem Recht betonte Einheit aller Strophen negativ auswirken. Wir haben jedenfalls infolge zweier fragwürdiger Entscheidungen eine im Grunde doch verstümmelte Nationalhymne.

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Vgl. den Schriftwechsel von Weizsäcker / Kohl (Fn. 42), S. 2135 1. Sp.

„Republik“ als verfassungsunmittelbare Grundrechtsschranke? Fabian Wittreck

I. Das Republikprinzip auf dem Weg zum „Allesproblemlöser“? „Der deutschen Staatsrechtslehre fällt heute zur ‚Republik‘ nichts ein.“ – Mit diesem nur scheinbar resignierenden Satz hat vor 25 Jahren Josef Isensee sein bekanntes Plädoyer für die Aktivierung des „Sinnpotentials“ des Republikbegriffs eingeleitet. 1 Ein Vierteljahrhundert später bliebe ihm wohl nur die Feststellung, dass die deutsche Staatsrechtslehre beim Thema ‚Republik‘ ihrer Phantasie freien Lauf lässt. Denn das im Staatsnamen und in Art. 20 Abs. 1 GG niedergelegte republikanische Prinzip wird nicht mehr auf den bislang konsentierten Aussagegehalt der Absage an jede Form von Monarchie beschränkt; 2 es soll darüber hinaus etwa für die Anerkennung der Bundesrepublik als Einwanderungsland oder wenigstens weitere Reformen des Staatsangehörigkeitsrechts streiten, 3 den Instrumenten der direkten Demokratie Grenzen setzen, 4 in Ge___________ 1

Isensee, J., Republik – Sinnpotential eines Begriffs, in: JZ 1981, S. 1 ff. (1). Für diese überkommene Deutung votieren etwa BVerfG (3. Kammer des Ersten Senats), NJW 2004, 2008 (2011); Herzog, R., in: Maunz, T. / Dürig, G. (Hrsg.), GG, Art. 20 III (1980), Rn. 5; Stern, K., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 581; Schnapp, F. E., in: Münch, I. v. / Kunig, P. (Hrsg.), GGKommentar, Bd. 2, 4./5. Aufl. 2001, Art. 20 Rn. 7; Roellecke, G., in: Umbach, D. C. / Clemens, T. (Hrsg.), GG, Bd. I, 2002, Art. 20 Rn. 12; Sachs, M., in: ders. (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2003, Art. 20 Rn. 9; Stein, E. / Frank, G., Staatsrecht, 19. Aufl. 2004, § 8 VI (S. 63); Zippelius, R. / Würtenberger, T., Deutsches Staatsrecht, 31. Aufl. 2005, § 10 I (S. 72); Pieroth, B., in: Jarass, H. D. / Pieroth, B., GG, 8. Aufl. 2006, Art. 20 Rn. 3; zuletzt Dreier, H., in: Dreier, H. (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. II, 2. Aufl. 2006, Art. 20 (Republik), Rn. 17 ff. – Für die Weimarer Reichsverfassung hatte bereits Anschütz, G., Die Verfassung des Deutschen Reichs, 14. Aufl. 1933, Art. 1 Anm. 1 (S. 37) ein formales Verständnis zugrunde gelegt. 3 Frankenberg, G., Die Verfassung der Republik, 1991, S. 121 ff. (bes. S. 213); gleichsinnig Wallrabenstein, A., Integration und Staatsangehörigkeit: Das Optionsmodell im deutschen Staatsangehörigkeitsrecht, in: Sahlfeld, K. et al. (Hrsg.), Integration und Recht (43. Assistententagung Öffentliches Recht), 2003, S. 243 ff. (246 f.). 4 So – in extremer Zuspitzung – Schulz-Schaeffer, H., Der demokratische Rechtsstaat als Republik, als „gemeinsame Sache aller“, in: JZ 2003, S. 554 ff. (555, 559 f.); in 2

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stalt einer „republikanischen“ Richterbestellung die Mitwirkung richterlicher Interessenverbände fordern 5 oder die Publizität allen staatlichen Handelns zur Norm machen, 6 um nur einige neuere Deutungen anzuführen. Armin von Bogdandy hat unlängst noch den Versuch hinzugefügt, die „Europäische Republik“ als Ziel des europäischen Verfassungsprozesses auf den Schild zu heben. 7 Ganz im Zentrum der Bemühungen um ein „materiales“ Verständnis des Republikprinzips steht aber das Unterfangen, es unter Rückgriff auf die reichhaltige Begriffsgeschichte der „res publica“ als Heimstatt des Gemeinwohls einzurichten und diesem damit den ersehnten Verfassungsrang zuzuweisen. 8 Die Urheber solch materialer Konzepte müssen sich freilich die kritische Frage gefallen lassen, ob sie nicht vergleichsweise leichtfertig mit verfassungsrechtlichen Gefahrgütern hantieren. Denn ganz abgesehen von den gravierenden methodischen wie dogmatischen Einwänden gegen diese Form der „Anseilung“ des Gemeinwohls an das Republikprinzip scheinen auch die Konsequenzen einer solchen Neuinterpretation nicht hinreichend durchdacht. Einer dieser möglichen Nebenwirkungen soll im Folgenden in drei Schritten nachgegangen werden, nämlich der Gefahr, dass eine materiale Deutung des Republikprinzips letztlich alle Grundrechte einem generellen Gemeinwohlvorbehalt unterstellen und damit das fein ausdifferenzierte Schrankenregime des Grundgesetzes mit einem Federstrich obsolet machen müsste. Zunächst ist anhand ausgewählter Beispiele zu zeigen, dass sich das Republikprinzip auch in der überkommenen, nunmehr als „formal“ gekennzeichneten Lesart zur verfassungsunmittelbaren Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen eignet (II.). In einem zweiten Schritt werden die Argumentationsstrategien der Vertreter eines ___________ der Tendenz ähnlich, aber zurückhaltender Gröschner, R., Unterstützungsquoren für Volksbegehren: eine Frage des Legitimationsniveaus plebiszitärer Gesetzesinitiativen, in: ThürVBl. 2001, S. 193 ff. (196 ff.), sowie Müller-Franken, S., Plebiszitäre Demokratie und Haushaltsgewalt, in: Der Staat, Bd. 44 (2005), S. 19 ff. (26 ff.). 5 Staats, J.-F., Defizitäres Recht der deutschen Richterbeförderung, in: DRiZ 2002, S. 338 ff. (339). 6 Frankenberg, G., in: AK-GG, Art. 20 Abs. 1-3 I (2001), Rn. 33 ff. 7 Bogdandy, A. v., Konstitutionalisierung des europäischen öffentlichen Rechts in der europäischen Republik, in: JZ 2005, S. 529 ff. (533 ff.). 8 Außer den in Fn. 29 ff. aufgeführten Autoren sprechen sich für eine im Republikprinzip verortete Gemeinwohlbindung staatlichen Handelns noch aus Löw, K., Was bedeutet „Republik“ in der Bezeichnung „Bundesrepublik Deutschland“?, in: DÖV 1979, S. 819 ff. (820 ff.); Evers, H.-U., in: Dolzer, R. et al. (Hrsg.), Bonner Kommentar, Art. 79 III (Zweitb. 1982), Rn. 179; Münch, I. v., Staatsrecht, Bd. 1, 6. Aufl. 2000, Rn. 110; Horn, H.-D., Kantischer Republikanismus und empirische Verfassung, in: ZÖR 57 (2002), S. 203 ff. (205 ff.), sowie Unruh, P., Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, 2002, S. 196 ff., 578 f. (Letzterer im Sinne eines primär moralischen Appells an den Gemeinsinn von Bürgern wie Amtsträgern). – Ohne Erwähnung des Gemeinwohls lässt auch Degenhart, C., Staatsrecht I, 22. Aufl. 2006, Rn. 11, eine gewisse Sympathie für die Anreicherung des Republikbegriffs erkennen.

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materialen Republikverständnisses skizziert und einer ersten Kritik unterzogen (III.), bevor der Nachweis versucht wird, dass seine Durchsetzung, namentlich in Gestalt der Figur einer „wehrhaften Republik“ mit gravierenden Einbußen im effektiven Garantiebereich der Grundrechte einhergehen müsste (IV.). Am Ende steht die Frage, ob solche Bestrebungen einer verfassungsrechtlichen Aufwertung und „Wehrhaftmachung“ des Gemeinwohls nicht lediglich Teil einer viel breiteren Tendenz in Richtung einer Neujustierung des Verhältnisses von Individual- und Gemeinschaftsgütern zugunsten der letztgenannten sind (V.).

II. Das formale Republikprinzip als Rechtfertigung für Eingriffe in die Rechte der Angehörigen ehemaliger Herrscherhäuser Dass das Republikprinzip auch bei herkömmlichem Verständnis als Verbot der Wiedereinführung einer Erbmonarchie grundrechtssystematisch als Eingriffsrechtfertigung fungieren kann, tritt vergleichsweise selten in den Blick der Staatsrechtslehre. Das mag daran liegen, dass die einschlägigen Normen überwiegend solche des ausländischen Rechts sind (1.), während sich in Deutschland nur die Hessische Landesverfassung an eher entlegener Stelle um eine Bewehrung der Republik bemüht (2.) und der vom Bundesverfassungsgericht unlängst vorgenommene Rekurs auf das republikanische Prinzip verschwommen geblieben ist (3.). Der schmale Anwendungsbereich wird aber mehr als aufgewogen durch die zumeist einschneidende Eingriffsintensität der einschlägigen Bestimmungen.

1. Europäisches Panorama: Exil, Enteignung, Entzug des Wahlrechts Europaweit haben mehrere Verfassungen den Übergang von der Monarchie zur Republik zum Anlass genommen, diesen Schritt durch gezielte Rechtsminderungen zu Lasten der ehemaligen Herrscher und ihrer Familien möglichst unumkehrbar zu machen. 9 Als klassische Bauelemente des Schutzwalls gegen die Restauration begegnen hier die Einschränkung der Freizügigkeit durch die Landesverweisung der Herrscherfamilie, der Entzug des materiellen Substrats der Monarchie durch ihre Enteignung sowie die Beschneidung des status activus durch den Ausschluss des passiven, teils auch aktiven Wahlrechts. Das bekannteste noch geltende Beispiel ist das Habsburgergesetz der Republik Öster___________ 9 Kursorischer Überblick bei Groß, R., in: Zinn, G. A. / Stein, E. (Hrsg.), Verfassung des Landes Hessen, Art. 101 (1984/1991), Rn. 9b a. E.

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reich; 10 vergleichbare Regelungen in den Nachkriegsverfassungen von Frankreich (Art. 44) 11 und Italien (13. Übergangsbestimmung) 12 sind 1958 bzw. 2002 ganz oder teilweise aufgehoben worden. 13 Unabhängig von der technischen Ausgestaltung im Einzelfall wird oder wurde hier in grundrechtsdogmatischer Perspektive die Verfassungsentscheidung für die republikanische Staatsform aktiviert, um Einschränkungen von individuellen Rechtspositionen zu legitimieren, die ihrerseits Verfassungsrang genießen. 14 In der Sache wird damit republikanisches Sonderrecht gegen einzelne Rechtssubjekte geschaffen, das seine historische Rechtfertigung wiederum in der privilegierten Stellung finden soll, die diese zuvor im monarchischen System für sich reklamiert hatten. Gleichwohl wirken derartige Bestimmungen im Verfassungsstaat des ___________ 10 Gesetz vom 03.04.1919, betreffend die Landesverweisung und die Übernahme des Vermögens des Hauses Habsburg-Lothringen, StGBl. 1919 Nr. 71 v. 10.04.1919, S. 513. – Dazu in einem ersten Überblick Kelsen, H., in: ders. (Hrsg.), Die Verfassungsgesetze der Republik Deutschösterreich, Bd. III, 1919, S. 163 ff.; Ermacora, F., Handbuch der Grundfreiheiten und Menschenrechte, 1963, S. 100 ff.; Impallomeni, G., Das Habsburgergesetz und die XIII. Transitorische Schlussbestimmung zur italienischen Verfassung, in: ders., Scritti giuridici vari, Mailand 1996, S. 179 ff. (179 ff.); Kolonovits, D., in: Korinek, K. / Holoubek, M. (Hrsg.), Österreichisches Bundesverfassungsrecht, HabsbG (2001), Vorb. Rn. 1 ff.; Binder, D. A., Die Funktion des HabsburgerGesetzes von 1919 und seine politisch-historische Instrumentalisierung, in: ZÖR 60 (2005), S. 597 ff.; zuletzt erschöpfend Kadgien, M., Das Habsburgergesetz, 2005. – Das Habsburgergesetz gilt gem. Art. 149 Abs. 1 Nr. 5 B-VG als Verfassungsgesetz; es wird flankiert durch den in Art. 60 Abs. 3 S. 2 B-VG angeordneten Ausschluss der Mitglieder ehemals regierender Häuser von der Wahl zum Staatsoberhaupt. 11 Die Bestimmung lautete „Die Mitglieder der Familien, die in Frankreich regiert haben, sind zum Präsidium der Republik nicht wählbar.“ (Gosewinkel, D. / Masing, J. [Hrsg.], Die Verfassungen in Europa 1789-1949, 2006, S. 360 [366]); vgl. noch Franzke, H.-G., Die Unteilbarkeit der Republik und des französischen Volkes, in: EuGRZ 2002, S. 6 ff. (13); Robert, J., La forme républicaine du Gouvernement, in: Revue de droit public 2003, S. 359 ff. (364 ff.). 12 Die Ursprungsfassung lautete: „Die Mitglieder und Nachkommen des Hauses Savoyen haben kein Wahlrecht und können keine öffentlichen Ämter oder durch Wahl zu besetzenden Stellen bekleiden. Den vormaligen Königen aus dem Hause Savoyen, ihren Gemahlinnen und ihren männlichen Nachkommen sind das Betreten des Staatsgebiets und der Aufenthalt in ihm verboten.“ (Gosewinkel/Masing [Fn. 11], S. 1383 [1406]); vgl. dazu näher Ruini, M., L’avocazione dei beni dei Savoia (Commento alla Disposiz. XIII transitoria e finale della Costituzione), in: Rivista di diritto pubblico 1 (1949), S. 69 ff.; Nicolò, R., Sulla interpretazione della disposizione XIII della Costituzione Italiana, ebd., S. 75 ff.; Gherro, S., La XIII disposizione „finale e transitoria“ della Costituzione ed i „principi supremi“ dell’ordinamento, in: Il diritto di famiglia e delle persone 14 (1985), S. 245 ff.; Impallomeni (Fn. 10), S. 184 ff. 13 Legge costituzionale per la cessazione degli effetti dei commi primo e secondo della XIII disposizione transitoria e finale della Costituzione vom 23.10.2002 (Gazzetta Ufficiale Nr. 252 v. 26.10.2002, S. 3; vgl. Nr. 164 v. 15.7.2002, S. 3). – Nach wie vor in Kraft ist danach die weitgehende Enteignung der Savoyer durch den dritten Unterpunkt der 13. Übergangsbestimmung. 14 Am Beispiel Italiens Marzano, F., Art. Esilio, in: Enciclopedia Giuridica, Bd. XIII, 1988, S. 1 ff. (3 f.).

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21. Jahrhunderts seltsam disloziert, erweisen sich letztlich als ins Negative gewendete Fortschreibung einer zutiefst vormodernen Vorstellung von „Königsheil“. 15 Ganz zu Recht sind die noch geltenden Vorschriften daher in der jüngsten Vergangenheit unter Rechtfertigungsdruck geraten, der aus ihrer – prekären – Vereinbarkeit mit Europäischer Menschenrechtskonvention wie dem Freizügigkeitsrecht der Unionsbürger resultiert. 16

2. Überzogener Republikschutz: Art. 101 Abs. 3 Hessische Verfassung In Deutschland begegnet eine vergleichbare Rechtsminderung lediglich auf Landesverfassungsebene in Gestalt des Art. 101 Abs. 3 der Hessischen Verfassung vom 1. Dezember 1946, der „Angehörige der Häuser, die bis 1918 in Deutschland oder einem anderen Land regiert haben oder in einem anderen Lande regieren“, von der Mitgliedschaft in der Landesregierung ausschließt. In abstracto lassen sich der damit verbundene Eingriff in den Gewährleistungsbereich von Art. 33 Abs. 2 GG (gleicher Zugang zu öffentlichen Ämtern) bzw. die Ungleichbehandlung aufgrund der Abstammung (Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG) hier durch den Rekurs auf das Republikprinzip rechtfertigen, das für die Länder nach dem Homogenitätsgebot des Art. 28 Abs. 1 GG Verbindlichkeit beansprucht. 17 Denn es hat sich unlängst in Bulgarien einmal mehr beobachten lassen, dass die Wahl eines ehemaligen Monarchen in hohe Staatsämter – lässt man die Gefahr der von einer solchen Position aus betriebenen Restauration einmal außer Acht 18 – allein durch die Vermengung von demokratischen und

___________ 15 Zu diesem mittelalterlichen Konzept grundlegend die Monographien von Bloch, M., Die wundertätigen Könige (1924), 1998, sowie Eichmann, E., Die Kaiserkrönung im Abendland, 1942. 16 Für unvereinbar mit den gemeinschafts- bzw. unionsrechtlichen Gewährleistungen halten das Habsburgergesetz etwa Fischer, P., Die Unionsbürgerschaft: Ein neues Konzept im Völker- und Europarecht, in: Festschrift G. Winkler, 1997, S. 237 ff. (258 f.); Rill, H. P. / Schäffer, H., in: dies. (Hrsg.), Bundesverfassungsrecht, Art. 1 B-VG (2001), Rn. 58, sowie Kadgien (Fn. 10), S. 201 ff. (237). – Der in der Sache ebenfalls gegebene Normwiderspruch zur EMRK (namentlich das Ausweisungsverbot des Art. 3 des 4. Zusatzprotokolls) bleibt allerdings durch einen wirksamen Vorbehalt der Republik Österreich folgenlos; zusammenfassend m. w. N. Kadgien, ebd., S. 191 ff. 17 So Groß (Fn. 9), Art. 101 Rn. 9b, der noch 1984 ein Ausführungsgesetz zu Art. 101 Abs. 3 anregt, um „die Unklarheit, ob das Verbot für alle Namensträger dieser Familien gilt und bis zu welchem Grade der Verwandtschaft es reicht“ zu beseitigen(!). 18 Als historisches Vor- und Schreckbild steht hier der Aufstieg Napoleons III. vor Augen; siehe statt aller Hattenhauer, H., Europäische Rechtsgeschichte, 4. Aufl. 2004, Rn. 1857 ff.

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dynastischen Legitimationselementen verfassungsrechtliche Friktionen nach sich ziehen kann. 19 In concreto dürfte dem Art. 101 Abs. 3 HessVerf freilich mittlerweile derogiert sein, wenn er denn jemals grundgesetzkonform war: genauer fehlt es grundrechtstechnisch gesprochen schon an der Eignung der Bestimmung. 20 Sie zieht nämlich auf der einen Seite den Kreis der Betroffenen bis an die Grenze der Unbestimmtheit weit und erfasst damit auch solche Herrscher, denen die für eine Restauration notwendige Verankerung in Hessen vollständig fehlt. Auf der anderen Seite schließt sie aufgrund des insoweit klaren Wortlauts („bis 1918“) die Mehrzahl der in Hessen ehemals regierenden Dynastien (und damit doch wohl die „geborenen“ Kandidaten für einen Restaurationsversuch) gerade aus, sofern sie nach 1866 der preußischen Flurbereinigung zum Opfer gefallen sind. 21 Die Begründung für die Aufnahme der Norm belegt schließlich, dass ihr niemals ein realistisches Bedrohungsszenario zugrunde lag, sie vielmehr von Anfang an einen Fall der (unzulässigen) grenzüberschreitenden intraföderalen Problembewältigung darstellte: die Antragsteller stützen sich ausdrücklich auf Restaurationsbestrebungen im benachbarten Bayern … 22

3. Der Hohenzollern-Beschluss: republikanisches Erbscheinsrecht? Zuletzt begegnet die Republik als Grundrechtsschranke in einem Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom März 2004. 23 Aufgehoben wurden Entscheidungen der ordentlichen Gerichte, die den erbvertraglichen Ver___________ 19 Zur Regierungsübernahme des 1946 abgesetzten Zaren Simeon Sakskoburggotski im Jahr 2001 vgl. die Notiz von Schrameyer, S., Bulgarien, in: WiRO 2001, S. 317. 20 So Lange, K. / Jobs, A. T., Brauchen wir eine Verfassungsreform?, in: Eichel, H. / Möller, K.-P. (Hrsg.), 50 Jahre Verfassung des Landes Hessen. Eine Festschrift, 1997, S. 445 ff. (463); Dreier, H., in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. III, 2000, Art. 142 Rn. 66; ders. (Fn. 2), Art. 20 (Republik), Rn. 15 m. Fn. 52; zuletzt pointiert Stolleis, M., Der Staat behält sich die sinnvolle Lenkung der Güter vor, in: FAZ Nr. 250 v. 27.10.2006, S. 38. 21 So zutreffend Groß (Fn. 9), Art. 101 Rn. 9a. – Knapper Überblick zu den hessischen Fürstenhäusern bei Dölemeyer, B., Die vier Dynastien in Hessen, in: Heidenreich, B. / Böhme, K. (Hrsg.), Hessen. Land und Politik, 2003, S. 93 ff. 22 Vgl. die Erläuterung zum Verfassungsentwurf: Drucksachen der Verfassungberatenden Landesversammlung Groß-Hessen, Abt. III: Stenographische Berichte über die Plenarsitzungen, 1946, S. 173; zur Bayerischen Königspartei eingehend Fait, B., Demokratische Erneuerung unter dem Sternenbanner, 2. Aufl. 1998, S. 104 ff., 341 ff. 23 BVerfG (3. Kammer des Ersten Senats), NJW 2004, 2008 (2011). – Vgl. dazu (durchweg kritisch) Isensee, J., Inhaltskontrolle des Bundesverfassungsgerichts über Verfügungen von Todes wegen. – Zum „Hohenzollern-Beschluss“ des BVerfG, in: DNotZ 2004, S. 754 ff. (755 ff.); Gutmann, T., Der Erbe und seine Freiheit, in: NJW 2004, S. 2347 ff.; Otte, G., Die Bedeutung der „Hohenzollern“-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts für die Testierfreiheit, in: ZEV 2004, S. 393 ff. (395 ff.).

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zicht eines Preußenprinzen für den Fall einer nicht „ebenbürtigen“ Heirat als wirksam erachtet hatten. 24 Die damit verbundene Einschränkung der Testierfreiheit des Erblassers stützt die Kammer im Kern auf die Eheschließungsfreiheit des potenziellen Erben, führt daneben in freilich durchaus unklarer Weise auch das Republikprinzip an: bei der zivil- wie grundrechtlichen Würdigung des Erbvertrags durch die Gerichte müsse berücksichtigt werden, dass die Ebenbürtigkeitsklausel nach dem Ende der Monarchie ihre ursprüngliche staatsrechtliche Funktion nicht mehr erfüllen könne. 25 Die teils drastische Kritik an der Entscheidung weist demgegenüber zu recht darauf hin, dass der Jahre nach dem Untergang der Monarchie ausgesprochene Erbverzicht vielleicht auf Standesdünkel schließen lasse, aber mit der Sicherung dynastischer Herrschaft nichts mehr zu tun habe. 26 Das Bestreben, den Familienbesitz zusammenzuhalten, ist kein Proprium (ehemals) regierender Häuser, sondern begegnet bis weit in das Bauern- und Bürgertum hinein. 27 So oder so belegen die Beispiele zweierlei: das Verständnis der Republik als Nichtmonarchie ist keineswegs völlig obsolet, sondern besitzt durchaus praktische Relevanz. Diese folgt gerade aus seiner strukturellen Eignung zur Rechtfertigung von Grundrechtseinschränkungen. 28

III. Das materiale Republikprinzip in der gegenwärtigen Diskussion Welches dogmatische Konzept soll nun diesen überkommenen „formalen“ Republikbegriff ersetzen? Wie eingangs umrissen, sind die Befürworter einer materialen Deutung zu einer Fülle durchaus konträrer Schlüsse gelangt, operieren zum Teil erkennbar auch mit einem Modewort. Beschränkt man sich auf die nach Begründung und Konturierung anspruchsvolleren Konzepte – neben Isensee 29 wären hier noch ohne Anspruch auf Vollständigkeit Schachtschnei-

___________ 24 Vgl. BGH, NJW 1999, 566, und BVerfG (1. Kammer des Ersten Senats), NJW 2000, 2495 (m.w.N. zu den Vorinstanzen). 25 BVerfG (3. Kammer des Ersten Senats), NJW 2004, 2008 (2011). – Zustimmung findet diese Argumentation etwa bei Gröschner, R., in: Dreier, H. (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. I, 2. Aufl. 2004, Art. 6 Rn. 58 (m. w. N.). 26 Isensee (Fn. 23), S. 756 f.; skeptisch auch Dreier (Fn. 2), Art. 20 (Republik), Rn. 18. 27 Treffend Isensee (Fn. 23), S. 756. 28 Insofern missverständlich Pieroth (Fn. 2), Art. 20 Rn. 3: „Das Republikprinzip ermächtigt nicht zu Grundrechtseingriffen.“ 29 Vgl. oben Fn. 1.

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der, 30 Frankenberg, 31 Sommermann 32 und zuletzt Anderheiden 33 zu nennen –, so dürfen als konsentierte Bestandteile eines materialen Republikprinzips die Gemeinwohlbindung und die damit eng verknüpfte Institution des Amtes gelten. 34 Als der in der gegenwärtigen Diskussion am weitesten ausgreifende und gleichzeitig elaborierteste Entwurf soll im folgenden das „gehaltvolle“ Republikprinzip zugrunde gelegt werden, das Rolf Gröschner in der Tradition seines Lehrers Wilhelm Henke im Handbuch des Staatsrechts zur Diskussion gestellt hat. 35

1. Das Gemeinwohl als Inbegriff des Republikprinzips Wer mit der Verfassungsentscheidung für die Republik auch eine Entscheidung für die Gemeinwohlorientierung staatlichen Handelns gefallen sieht, befindet sich in guter Gesellschaft, hat doch bereits Konrad Hesse bekräftigt, dass dieser „Verpflichtung … auf die salus publica“ die „Bedeutung eines positiven Leitprinzips“ zukomme. 36 Diese noch mit charakteristischer Zurückhaltung formulierte Leitlinie wird jetzt kleinteilig ausbuchstabiert: 37 die „Republik als ___________ 30 Schachtschneider, K.-A., Res publica res populi. Grundlegung einer allgemeinen Republiklehre, 1994; vgl. speziell dazu die kritische Besprechung von Huster, S., Republikanismus als Verfassungsprinzip?, in: Der Staat, Bd. 34 (1995), S. 606 ff. 31 Frankenberg (Fn. 3), S. 121 ff.; ders. (Fn. 6), Art. 20 Abs. 1-3 I Rn. 22 ff. 32 Sommermann, K.-P., in: Mangoldt, H. v. / Klein, F. / Starck, Ch. (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. II, 5. Aufl. 2005, Art. 20 Abs. 1 Rn. 14 ff. 33 Anderheiden, M., Gemeinwohl in Republik und Union, 2006, S. 218 ff.; zuvor gleichsinnig ders., Verfassungsrechtliche Potentiale des Republikprinzips, in: Berliner Debatte Initial 2003, S. 45 ff.; ders., Ökonomik, Gemeinwohl und Verfassungsrecht, in: Bungenberg, M. et al. (Hrsg.), Recht und Ökonomik (44. Assistententagung Öffentliches Recht), 2004, S. 113 ff. (131 ff.). 34 Das Amt, näher das Amtsethos, steht insbesondere im Zentrum der Überlegungen von Isensee (Fn. 1), S. 8; vgl. ders., Transformation von Macht in Recht – das Amt, in: ZBR (= Zeitschrift für Beamtenrecht) 2004, S. 3 ff. (3 ff.). 35 Gröschner, R., Die Republik, in: Isensee, J. / Kirchhof, P. (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 23 Rn. 34 ff.; vgl. zuvor ders., Freiheit und Ordnung in der Republik des Grundgesetzes, in: JZ 1996, S. 635 ff.; ders., Res Publica Thuringorum. Über die Freistaatlichkeit Thüringens, in: ThürVBl. 1997, S. 25 ff. – Vorbild ist Henke, W., Zum Verfassungsprinzip der Republik, in: JZ 1981, S. 249 ff.; ders., Republikanische Verfassungsgeschichte mit Einschluß der Antike, in: Der Staat, Bd. 23 (1984), S. 75 ff.; ders., Die Republik, in: Isensee, J. / Kirchhof, P. (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 1. Aufl. 1987, § 21 Rn. 10 ff. 36 Hesse, K., Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 121. – Auf Hesse stützt sich etwa Henke (Fn. 35), § 21 Rn. 8. 37 Siehe etwa die Aufzählung „spezifisch republikanische[r] Bestimmungen“ bei Frankenberg (Fn. 6), Art. 20 Abs. 1–3 I Rn. 30; ähnlich zuvor Henke (Fn. 35), § 21 Rn. 28.

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Gestaltungsprinzip“ verlangt nach der bestmöglichen Erfüllung des als „Optimierungsaufgabe“ ausgeflaggten Gemeinwohls. 38 Ausdrücklich abgelehnt wird hingegen ein inhaltlich bestimmtes Gemeinwohlkonzept; 39 die salus publica hat danach zwar vermittels Art. 20 Abs. 1 GG als regulative Idee Verfassungsrang, ihr handlungssteuernder Inhalt wird jedoch erst im Prozess der Konkretisierung durch Amtsträger sichtbar. 40 Im Rahmen der grundgesetzlichen Kompetenzordnung formulieren diese für konkrete Rechtsverhältnisse durch Gesetz oder Einzelakt die Forderungen des Gemeinwohls. Ob in diesem Konkretisierungsprozess eine „republikanische Legitimationskette“ zustande kommt, 41 hängt letztlich nur vom Modus der Aufgabenerfüllung durch den Amtswalter ab; geht dieser „republikanisch“, also nichtdespotisch vor und orientiert er sich am Gemeinwohl statt an Eigeninteressen, so glückt die Gemeinwohlkonkretisierung.

2. Zuordnungs- und Konkurrenzprobleme infolge der Schließung der vermeintlichen republikanischen Lücke Eine solche Ineinssetzung von Gemeinwohl und „Republik“ begegnet buchstäblich schon im Ansatz Bedenken. Erster argumentativer Ausgangspunkt für die Anreicherung des Republikbegriffs ist nämlich oft genug die Feststellung, das Verbot einer Wiedereinführung der Monarchie sei mangels realistischer Restaurationsbestrebungen obsolet geworden; 42 Art. 20 Abs. 1 GG heische daher regelrecht nach neuen Inhalten. Das kann nicht überzeugen, weil es weder die vermeintliche Lücke noch (erst recht) einen Zwang zu ihrer Schließung gibt. Richtig ist, dass die Wiedererrichtung einer Monarchie in Deutschland praktisch ausgeschlossen erscheint, ohne dass dies noch nach einer ausdrücklichen rechtlichen Absicherung verlangte; 43 in rechtssoziologischer Perspektive dürften vielmehr die in der Öffentlichkeit präsenten Prätendenten derzeit die beste Gewähr gegen entsprechende Gelüste bieten. 44 Dieser Befund belegt zugleich, ___________ 38 Gröschner (Fn. 35), § 23 Rn. 35, 38, 40 ff. (die Bezeichnung als „Optimierungsaufgabe“ ebd., Rn. 40). 39 Gröschner (Fn. 35), § 23 Rn. 42, 65. 40 Näher Gröschner (Fn. 35), § 23 Rn. 53 ff. 41 Diese Wendung bei Gröschner (Fn. 35), § 23 Rn. 70. 42 In diese Richtung Hesse (Fn. 36), Rn. 119 f.; siehe auch Gröschner (Fn. 35), § 23 Rn. 2. 43 So Unruh (Fn. 8), S. 575 f.; Roellecke (Fn. 2), Art. 20 Rn. 12; Dreier (Fn. 2), Art. 20 (Republik), Rn. 10, 21. 44 Hier ist im Einzelfall das Stadium der Gerichtsnotorietät erreicht: siehe nur BGH, FamRZ 2000, 88 f.; BGH, NJW 2006, 599.

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dass die Gefahr einer Restauration neben sozialen Prozessen von Personen und damit historischen Zufällen abhängt; die unterschiedliche Entwicklung der zeitund inhaltsgleich kodifizierten deutschen und österreichischen Republikbestimmungen belegt dies deutlich. 45 Schließlich sollte nicht unberücksichtigt bleiben, dass gerade Regelungen über einen Staatsformwechsel zu den Bestandteilen einer Verfassungsurkunde gehören, in denen sich ihre Funktion als „kulturelles Gedächtnis“ eines Volkes aktualisiert. 46 Selbst wenn man die Norm trotz alledem für obsolet halten wollte, folgt daraus kein irgendwie gearteter Zwang, ihr einen neuen Gehalt beizulegen. Es gibt weder eine verfassungsdogmatische noch eine methodische Regel des Inhalts, die Staatsrechtslehre habe der desuetudo einer Vorschrift durch deren „Verfüllung“ mit neuen Inhalten entgegenzuwirken, als sei sie ein kariöser Zahn, der andernfalls das ganze Gebiss der Verfassung zu infizieren drohe. Die einzige richtige Antwort wäre vielmehr die des schweizerischen verfassungsändernden Gesetzgebers, der die als obsolet empfundene Verpflichtung der Kantone auf die „republikanische“ Regierungsform (Art. 6 Abs. 2 lit. b aBV) in die „nachgeführte“ Bundesverfassung von 1999 nicht übernommen hat. 47 Das gilt umso mehr – und das ist der gewichtigere Einwand – als die nunmehr für das „freigewordene“ Republikprinzip reklamierten Regelungsgehalte samt und sonders entweder im Grundgesetz eine spezielle Regelung erfahren haben oder aber trennschärfer und sachlich angemessener anderen Verfassungsprinzipien zuzuordnen sind. 48 Spekulationen etwa über das Republikprinzip als Gewährleistung einer nichtmetaphysischen Begründung staatlicher Herrschaft 49 sind nicht nur ideengeschichtlich fragwürdig, sondern ignorieren ___________ 45 Während das Habsburgergesetz (oben Fn. 10) in Österreich noch heute die Gemüter bewegt, zuletzt in Gestalt des Streits um etwaige Ansprüche des Erzhauses auf Entschädigung als Opfer des Nationalsozialismus (vgl. dazu Graf, G., Die österreichische Rückstellungsgesetzgebung, 2003, S. 370 ff.; Böhmer, P. / Faber, R., Die Erben des Kaisers, 2004, S. 11 ff. u. passim), sind schon im Deutschland der Zwischenkriegszeit nach dem Volksbegehren zur „Fürstenenteignung“ (dazu jetzt Schwieger, C., Volksgesetzgebung in Deutschland, 2005, S. 51 ff.) keine nennenswerten Kontroversen mehr zu verzeichnen; siehe nur Henke (Fn. 35), § 21 Rn. 5. 46 Siehe dazu Häberle, P., Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 930. 47 Vgl. zur Neuregelung Schweizer, R. J., Homogenität und Vielfalt im schweizerischen Staatsrecht, in: Thürer, D. / Aubert, J.-F. / Müller, J. P. (Hrsg.), Verfassungsrecht der Schweiz, 2001, § 10 Rn. 2 f., 16 ff.; knapp Dreier, H., in: ders. (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. II, 2. Aufl. 2006, Art. 28 Rn. 41. 48 Auch auf diesen Umstand hat schon Hesse (Fn. 36), Rn. 121 hingewiesen. Eingehend zur Problematik Dreier (Fn. 2), Art. 20 (Republik), Rn. 21 ff.; wie er ferner Unruh (Fn. 8), S. 577; Stein / Frank (Fn. 2), § 8 VI (S. 63), sowie Maurer, H., Staatsrecht I, 4. Aufl. 2005, § 7 Rn. 17. 49 So Henke (Fn. 35), § 21 Rn. 14 ff., 23, 33; gleichsinnig außer Gröschner (Fn. 35), § 23, Rn. 21 f., noch Frankenberg (Fn. 6), Art. 20 Abs. 1–3 Rn. 29, und Sommermann (Fn. 32), Art. 20 Rn. 15.

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auch hartnäckig den Aussagegehalt von Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG, demzufolge alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht (und eben nicht von Gott, wie Teile der CDU noch im Parlamentarischen Rat formulieren wollten). 50

3. „Republikanische Verfassungsgeschichte“ als retrospektive Inszenierung Festen Grund für ihre teils weit ausgreifenden Thesen orten Anhänger eines materialen Republikbegriffs – zweitens – in den Zeugnissen der Begriffsgeschichte der „Republik“ sowie der Entstehungsgeschichte von Grundgesetz und Weimarer Verfassung. Bei näherer Betrachtung wird allerdings klar, dass Verfassungsgeschichte und Verfassungsdogmatik hier eine morganatische Ehe eingehen (wenn man nicht rundheraus von Mesalliance sprechen will), denn schon die historische Rekonstruktion erweist sich als idealisierte Rückprojektion moderner Vorstellungen; erst recht bleibt die Aktivierung der historischen „Befunde“ für die Interpretation des Art. 20 GG prekär. Das gilt, wie zu zeigen sein wird, für die Begriffs- wie die Entstehungsgeschichte gleichermaßen. Unstrittig verbindet sich mit dem Terminus der Republik eine wenigstens bis auf die römische Antike zurückgehende und in ihrer Reichhaltigkeit oft genug als erdrückend empfundene Tradition 51 (John Adams wird der Ausspruch zugeschrieben, er habe nie verstanden, was eine Republik sei, und er glaube auch nicht, dass ein anderer dies jemals getan habe oder tun werde). 52 Beschränkt man sich auf die wichtigsten Stränge, so treten neben das von Tolomeo von Lucca geprägte und von Machiavelli lediglich popularisierte Verständnis als ___________ 50 Zu Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG als Absage an theonome oder vergleichbare Begründungen staatlicher Herrschaft siehe nur Böckenförde, E.-W., Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee, J. / Kirchhof, P. (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 24 Rn. 10. – Die Vorstöße aus der CDU sind dokumentiert in: Pikart, E. / Werner, W. (Bearb.), Der Parlamentarische Rat 1948-1949. Akten und Protokolle, Bd. 5/II, 1993, S. 525 ff. 51 Im Überblick Mager, W., Art. Republik, in: Brunner, O. / Conze, W. / Koselleck, R. (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, 1984, S. 549 ff.; ders., Art. Republik, in: Gründer, K. (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, 1992, Sp. 858 ff.; Isensee, J., Art. Republik, in: Staatslexikon der Görres-Gesellschaft, 7. Aufl., Bd. 4, 1987, Sp. 882 ff.; Henke (Fn. 35), § 21 Rn. 10 ff.; Toews, H.-J., Art. Republik, in: Erler, A. / Kaufmann, E. (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. IV, 1990, Sp. 916 ff.; Reinalter, H., Zur Einführung: „Republik“. Zu Theorie und Begriff seit der Aufklärung, in: ders. (Hrsg.), Republikbegriff und Republiken seit dem 18. Jahrhundert im europäischen Vergleich, 1999, S. 15 ff.; Maissen, T., Art. Republik, in: Cancik, H. / Schneider, H. / Landfester, M. (Hrsg.), Der Neue Pauly, Bd. 15/2, 2002, Sp. 714 ff.; knappe Zusammenfassungen bei Gröschner (Fn. 35), § 23 Rn. 13 ff., sowie Dreier (Fn. 2), Art. 20 (Republik), Rn. 1 ff. 52 Nachweis bei: Maissen (Fn. 51), Sp. 714.

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Widerpart zur Monarchie 53 noch die vielfach variierte Identifizierung mit Gemeinwohl oder Gemeinwesen, 54 die Verwendung als Synonym für „Staat“, 55 seine Anreicherung um Elemente der Freiheitlichkeit oder der Mischverfassung 56 sowie insbesondere seit der Französischen Revolution die enge Verknüpfung mit demokratischen Gehalten. 57 Besonders voraussetzungsvoll und komplex ist das Verständnis von „Republik“ als repräsentativer Demokratie mit rechtsstaatlichen Elementen, wie es bei Kant begegnet und ganz ähnlich Eingang in die US-Verfassung gefunden hat. 58 Man tut dieser hier natürlich bestenfalls schlaglichtartig aufgehellten Ideengeschichte allerdings entweder Gewalt oder zuviel Ehre an, wenn man ihr ein geschlossenes Konzept im Sinne eines republikanischen „intelligenten Designs“ entnehmen will. 59 Vielmehr präsentiert sich diese Tradition als derart inhomogen, dass jeder Versuch, einzelne Bestandteile oder Stränge als sinntragend auszuweisen, andere aber als Deformationen oder Fehlentwicklungen auszuscheiden, die Gefahr der interessengeleiteten Interpretation heraufbeschwören muss. 60 ___________ 53 Tolomeo v. Lucca, De regno ad regem Cypri continuatio IV.1, aufgenommen von Niccolo Machiavelli, Il principe (1513), Einleitung (dt.: Der Fürst, 1986, S. 9); vgl. zu beiden Autoren und der von ihnen begründeten Tradition der Republik als Nichtmonarchie Mager (Fn. 51), S. 582 f., 586; Isensee (Fn. 51), Sp. 884; Dreier (Fn. 2), Art. 20 (Republik), Rn. 2; speziell zu Machiavelli und seiner Einbettung in die italienische Republikdebatte näher Viroli, M., Die Idee der republikanischen Freiheit, 2002, S. 29 ff. 54 Besonders wirkmächtig ist hier die römische Tradition: Mager (Fn. 51), S. 550 ff.; Maissen (Fn. 51), Sp. 717 ff., u. passim; auf sie stützen sich maßgeblich Henke (Fn. 35), § 21 Rn. 10 f., und Gröschner (Fn. 35), § 23 Rn. 19 ff., 62 f. u.ö.; vgl. auch Sommermann (Fn. 32), Art. 20 Abs. 1 Rn. 14. 55 Prominent bei Bodins „De republica“: Maissen (Fn. 51), Sp. 716; vgl. zu diesem wohl weitesten Begriffsverständnis Mager (Fn. 51), S. 565 ff.; Toews (Fn. 51), Sp. 916 f. 56 Grundlegend Mager (Fn. 51), S. 573 ff., 580 ff., 589 ff.; siehe auch Maissen (Fn. 51), Sp. 718, 721 ff. 57 Zu diesem Zug Mager (Fn. 51), S. 596 ff.; Frankenberg (Fn. 6), Art. 20 Abs. 1–3 I Rn. 8 f.; Maissen (Fn. 51), Sp. 730 ff.; Gröschner (Fn. 35), § 23 Rn. 32 f. 58 Zentral Kant, I., Metaphysik der Sitten (1797), §§ 45, 49, 52; vgl. dazu Mager (Fn. 51), S. 608 ff.; Gerhardt, V., Die republikanische Verfassung, in: Deutscher Idealismus und Französische Revolution, 1988, S. 24 ff. (36 ff.); Horn (Fn. 8), S. 206 ff., 209 ff.; zuletzt Dreier, H., Kants Republik, in: JZ 2004, S. 745 ff. (750 ff.). – Art. 4 Sec. 4 der US-Verfassung von 1787 verpflichtet bis heute die Einzelstaaten auf eine „Republican Form of Government“ und damit nach amerikanischem Verständnis eine repräsentative Regierungsform: Dreier (Fn. 2), Art. 20 (Republik), Rn. 13; ders., ebd., Art. 28 Rn. 41. 59 Von einer „List republikanischer Vernunft“ spricht Gröschner (Fn. 35), § 23 Rn. 18. 60 Für Zurückhaltung bei der Aktivierung „des“ Republikbegriffs plädiert unter Hinweis auf seine „Polysemie“ auch Maissen (Fn. 51), Sp. 714, 716 u. passim (Zitat Sp. 716).

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Nicht weniger fragwürdig ist – zum zweiten – der Rekurs auf die Genese der Verfassungsbestimmungen zur Republik in den Konstituanten von Weimar und Bonn. 61 Zwar ist richtig, dass sich beide Male eine Fülle von Wortmeldungen verzeichnen lassen, die entweder die herausragende Bedeutung der Entscheidung für die Republik unterstreichen oder mit ihr weitreichende Hoffnungen für die Entwicklung des neuen Staatswesens verbinden: 62 für Oskar Cohn folgt in Weimar aus der Selbstbezeichnung „die Verpflichtung […], etwas völlig Neues zu schaffen“; 63 Carlo Schmid appelliert in Bonn an „das demokratische und soziale Pathos der republikanischen Tradition“. 64 Selbst wenn man einige Sympathie für das Abstellen auf den subjektiven Willen des Verfassunggebers hegt, so lässt sich diesen disparaten und rechtlich kaum informierten Voten kein tragfähiger Konsens entnehmen, der über eine rhetorische Verneigung vor der oft genug mehr erahnten republikanischen Tradition hinausginge. 65 Wollte man sich bei der Interpretation von Verfassungsbestimmungen in dieser Weise vom diskursiven Umfeld im Prozess der Verfassunggebung leiten lassen, wären dogmatische Bemühungen herkömmlicher Art weitgehend entbehrlich.

IV. Das materiale Republikprinzip als Gemeinwohlschranke der Grundrechte Lassen wir die geschilderten Bedenken einmal beiseite und wenden uns den Konsequenzen einer solchen Identifizierung des Republikprinzips mit einer Garantie des – wie auch immer näher konkretisierten – Gemeinwohls zu. Als „sonstiges mit Verfassungsrang ausgestattetes Rechtsgut“ lässt sich die salus publica nunmehr nach den anerkannten Regeln der Grundrechtsdogmatik 66 ___________ 61 Er begegnet bei Gröschner (Fn. 35), § 23 Rn. 2, 8, sowie besonders ausgeprägt bei Anderheiden, Gemeinwohl (Fn. 33), S. 225 ff., 239 ff. 62 Hierauf stützt sich maßgeblich Anderheiden, Gemeinwohl (Fn. 33), S. 239 ff.; vgl. auch ders., Verfassungsrechtliche Potentiale (Fn. 33), S. 52, der in der Weimarer Konstituante den „verfassungsrechtlichen Höhepunkt“ des Republikprinzips ortet. Ähnlich Gröschner (Fn. 35), § 23 Rn. 2, der im Parlamentarischen Rat einen „breite[n] Verfassungskonsens“ konstatiert. 63 Zitiert nach Heilfron, E. (Hrsg.), Die Deutsche Nationalversammlung im Jahre 1919 in ihrer Arbeit für den Aufbau des neuen deutschen Volksstaats, o. J. [1919], S. 23. 64 Zitiert nach JöR N. F. Bd. 1 (1951), S. 20. 65 Selbst Anderheiden, Verfassungsrechtliche Potentiale (Fn. 33), S. 52 f., muss einräumen: „Es ist kaum möglich, genau zu sagen, welche dieser Bedeutungsfacetten in den Begriff der Republik in der Weimarer Reichsverfassung Eingang fanden und welche nicht.“ 66 Zur Dogmatik der Rechtfertigung von Eingriffen in normtextlich schrankenlose Grundrechte im Überblick Dreier, H., in: ders. (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. I, 2. Aufl. 2004, Vorb. Rn. 139 ff.; Pieroth, B. / Schlink, B., Grundrechte, 22. Aufl. 2006, Rn. 258 ff., 314 ff.

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insbesondere gegen vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte ins Feld führen. 67 Als keineswegs fiktives Beispiel böte sich ein Streik von Ärzten, Fluglotsen oder Lokführern an, die überproportionale Lohnerhöhungen durchzusetzen versuchen. 68 Selbst wenn Krankenversorgung bzw. Luftsicherung gewährleistet sind, ließe sich dem Ausstand immer noch entgegenhalten, dass er schon deshalb einen gemeinwohlwidrigen Zweck verfolge, weil mit der Gehaltssteigerung allein Partikularinteressen bedient werden. Fasst man zweitens und ebenfalls nicht völlig fiktiv die – wohlgemerkt erhofften – Effizienzgewinne durch die konsequente Ökonomisierung staatlicher Funktionserfüllung als gemeinwohlförderlich auf, so sähe sich auch die Wissenschaftsfreiheit in der aktuellen Reformdiskussion um Hochschulräte und andere betriebswirtschaftliche Konterbande mit einem prima facie gleichrangigen Widerpart konfrontiert. 69 Diese Konsequenz einer allgemeinen verfassungsrechtlichen Gemeinwohlgarantie ist so evident, dass sich die Frage stellt, ob die Autoren, die einer materialen Deutung der Republik zuneigen, sie denn übersehen haben. Das ist natürlich nicht der Fall; vielmehr legen sie großen Wert darauf, dass ihre Gemeinwohlkonzepte keineswegs die Hand zu einer Einschränkung der Grundrechte reichen sollen. 70 Freilich wird sich zeigen, dass die zu diesem Zwecke vorgesehenen Mechanismen zum Teil unzureichend sind (1.), zum Teil auch offen konterkariert werden (2.). In letzter Konsequenz müsste ein materiales Republikverständnis alle Grundrechte einem einheitlichen Schrankenregime unterwerfen, das im Schutzniveau der allgemeinen Handlungsfreiheit entspricht (3.).

___________ 67

Offen als Zielvorgabe ausgewiesen wird dies von Anderheiden, Gemeinwohl (Fn. 33), S. 396: „Hier nun erweist sich, dass die vorgelegte Interpretation des Republikprinzips Grundrechtseingriffe legitimieren kann. Die Konstruktionsaufgabe, die sich eingangs des 6. Kapitels stellte, ist bewältigt.“; vgl. zuvor ders., Verfassungsrechtliche Potenziale (Fn. 33), S. 50, 51 aus. – Eine deutliche Warnung vor dieser Konsequenz bei Dreier (Fn. 2), Art. 20 (Republik), Rn. 26. 68 Vgl. nur ArbG Kiel, Entscheidung v. 30.06.2006, Beck-RS 2006 42854, Ls. 6: „Der Aspekt ‚Gefährdung des Gemeinwohles‘ führt grundsätzlich nicht zur Rechtswidrigkeit eines Ärztestreikes trotz Notfallpläne“ (sic). 69 Zum neuen bayerischen Hochschulrecht jetzt statt aller Steiner, U., Zur neuen Hochschulverfassung in Bayern, in: BayVBl. 2006, S. 581 ff. (speziell zum Hochschulrat S. 582 f.). 70 Siehe etwa Gröschner (Fn. 35), § 23 Rn. 70, sowie Anderheiden, Gemeinwohl (Fn. 33), S. 402 ff., 404 ff.: das Republikprinzip sei zwar grundsätzlich zur Legitimation von Grundrechtseingriffen geeignet (vgl. nochmals oben Fn. 67), im Ergebnis folge aus der Bereitstellung kollektiver Güter aber eine Stärkung des Grundrechtsschutzes.

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1. Grundrechte in der Gemeinwohlkonkretisierung durch Amtsträger Nicht allein Gröschner versucht sich gegen solche Nebenwirkungen seiner Republiklehre dadurch in Schutz zu nehmen, dass er lediglich Amtsträger in der Pflicht zur Gemeinwohloptimierung sieht, eine allgemeine Bindung der Bürger aber verneint. Art. 20 Abs. 1 GG entfaltet in dieser Optik – vergleichbar den Grundrechten – eine asymmetrische Verpflichtungskraft. Eine Legitimation zu Grundrechtseingriffen sei damit gerade nicht verbunden. 71 Der Hinweis auf den Charakter der Grundrechte als Abwehrrechte (lediglich) gegen den Staat deutet allerdings bereits auf die Grenzen dieses Konzepts einer aus dem Republikprinzip hergeleiteten „hinkenden“ Gemeinwohlbindung hin. Die Kollision von Individualrecht und „gemeinem Wohl“ ist nämlich nicht anders als im geläufigen Falle der „entgegenstehenden Grundrechte Dritter“ nur aufgeschoben: auch diese verpflichten den Bürger unmittelbar gerade nicht, der nach Art. 1 Abs. 3 GG gebundene staatliche Funktionsträger muss sie jedoch bei seiner Entscheidung berücksichtigen und möglicherweise zu ihrem Schutz in die Rechtspositionen des Betroffenen eingreifen. 72 Steht nun der von Verfassungs wegen zur Gemeinwohloptimierung gehaltene Amtsträger im konkreten Fall vor der Frage, ob er in Verfolgung dieser Pflicht in Grundrechte des Bürgers eingreift, so kann er – gänzlich unabhängig von der Frage nach dessen Verpflichtung auf das republikanische Gemeinwohl – den möglichen Konflikt zwischen den beiden Normbefehlen nur im Wege der praktischen Konkordanz, mithin der Abwägung zwischen beiden Verfassungswerten auflösen. 73 Diese Abwägung muss selbstverständlich nicht stets zugunsten des Gemeinwohls ausfallen, erfordert namentlich die lege artis vorgenommene Abarbeitung der Verhältnismäßigkeitsprüfung. Gerade dem vorbehaltlos gewährleisteten Grundrecht steht aber ein neues Rechtsgut mit Verfassungsrang gegenüber, das potenziell Eingriffe zu rechtfertigen vermag, die bislang mangels einer spezialgesetzlichen Gemeinwohlklausel ausgeschieden wären. 74 ___________ 71 So ausdrücklich Gröschner (Fn. 35), § 23 Rn. 70: „berechtigt also nicht zu frontalen Grundrechtseingriffen“; vgl. auch noch ebd., Rn. 48: keine „Herleitung eigenständiger Rechtspflichten“ aus dem Republikprinzip. 72 Zu diesem nach wie vor herrschenden Konzept der „mittelbaren Drittwirkung“ siehe nur Ruffert, M., Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 61 ff.; Poscher, R., Grundrechte als Abwehrrechte, 2003, S. 227 ff., 315 ff.; Dreier (Fn. 66), Vorb. Rn. 98 ff. 73 So ausdrücklich Gröschner (Fn. 35), § 23 Rn. 51. 74 Gegen die hier und andernorts geltend gemachten Bedenken wendet Anderheiden, Gemeinwohl (Fn. 33), S. 394 f. u. a. ein, das Bundesverfassungsgericht rechtfertige ohnehin Grundrechtseingriffe mit Gemeinwohlüberlegungen, ohne dass diese sich auf eine Verfassungsnorm stützen könnten; die Radizierung des Gemeinwohls im Republikprinzip schränke den Spielraum des Gerichts also diesbezüglich eher ein. Damit wird frei-

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2. Kulminationspunkt: die „wehrhafte Republik“ Dass sich die Waagschale offenbar tatsächlich im Zweifel auf der Seite des Gemeinwohls senken soll, ergibt sich aus Überlegungen in Richtung einer „freiheitlichen“ oder auch „wehrhaften Republik“, 75 die freilich in einem Spannungsverhältnis zur bislang dargestellten Lehre stehen, nach der lediglich Amtsträger zur Gemeinwohloptimierung verpflichtet sind. Denn allen Freiheitsgrundrechten eigne eine „objektive[n] republikanische[n] Dimension“, aus der zwar keine Grundpflichten folgen, die aber für die „Schranken bestimmende Wirkung des Republikprinzips“ konstitutiv sei. 76 Insbesondere Gröschner geht freilich noch weiter, fußt seine Interpretation des Republikprinzips doch auf der Annahme eines Korrespondenzverhältnisses mit Art. 18 GG. Das Bundesverfassungsgericht hat von der Aufnahme der Republik in den Kanon der Schutzgüter der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ wohlweislich abgesehen; 77 auch die Lehre ist gegenüber einer Anwendung des Instrumentariums der „wehrhaften Demokratie“ auf – ohnehin hypothetisch gebliebene – monarchistische Bestrebungen zu recht skeptisch geblieben. 78 Nunmehr erhebt sich die Forderung nach der Einbeziehung des gesamten Inhalts des „gehaltvollen“ Republikprinzips; Art. 18 GG sei „Ausdruck der wehrhaften Republik: einer Ordnung, die sich eben dadurch als freiheitlich erweist, dass sie … allen Freiheiten ordnungs- und freiheitswahrende Schranken setzt.“ 79 Von hier aus ist es nicht mehr weit bis zu der Erkenntnis, dass „die republikanische Pointe der Freiheitsgrundrechte in der objektiven Notwendigkeit und Möglichkeit ihrer Begrenzung“ 80 liegt. In dieser auch begrifflich zugespitzten Dialektik von Ordnung und Freiheit behält offenbar die Ordnung die Oberhand.

___________ lich eine nicht unbedenkliche (und möglicherweise auch zugespitzt dargestellte) Rechtsprechungspraxis zur Norm gemacht, an der die Verfassung zu messen ist (und nicht umgekehrt). 75 Sie finden sich bei Gröschner (Fn. 35), § 23 Rn. 45 ff. (Zitat Rn. 45) sowie bei ders., in: Dreier, H. (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. I, 2. Aufl. 2004, Art. 18 Rn. 29, 32. 76 Gröschner (Fn. 35), § 23 Rn. 45 ff., 50 ff. (Zitate Rn. 47, 48). 77 Siehe BVerfGE 2, 1 (12 f.); kritisch Frankenberg (Fn. 6), Art. 20 Abs. 1–3 I Rn. 25. 78 Gegen die Anwendung der Art. 9 II, 18 und 21 II 1 GG auf monarchistische Bestrebungen etwa Löw (Fn. 8), S. 822; Isensee (Fn. 1), S. 2 m. Fn. 2; Dreier (Fn. 2), Art. 20 (Republik), Rn. 19. – A.A. allerdings Henke (Fn. 35), § 21 Rn. 3. 79 Gröschner (Fn. 35), § 23 Rn. 45; ähnlich zuvor ders., Freiheit (Fn. 35), S. 644. 80 Gröschner, Freiheit (Fn. 35), S. 644; aufgenommen von ders., (Fn. 35), § 23 Rn. 46.

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3. Konsequenz: das Schrankenregime der allgemeinen Handlungsfreiheit Die Einrede der Anhänger eines „republikanischen Gemeinwohls“, dieses sei zur Grundrechtseinschränkung ungeeignet, erweist sich nach alledem als protestatio facto contraria. Vielmehr lässt sich unter Berufung auf das nach diesem Verständnis von Art. 20 Abs. 1 GG mit Verfassungsrang versehene Gemeinwohl jeder Freiheitsausübung entgegenhalten, sie diene vornehmlich oder ausschließlich Individualinteressen und habe daher zu unterbleiben. Grundrechtsdogmatisch avanciert das Gemeinwohl damit von der SchrankenSchranke, konkret der im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung aufgeworfenen Frage, ob Gesetz oder Einzelakt einem legitimen Zweck dienen, 81 zur Schranke der Grundrechte selbst, deren effektiver Garantiebereich nur noch so weit reicht, wie es die vom zuständigen Amtswalter konkretisierte salus publica zulässt. Unabhängig vom Normwortlaut des Grundgesetzes und seinem aus gutem Grunde differenzierten Schrankenregime unterstehen danach alle Grundrechte – insbesondere auch die normtextlich vorbehaltlosen – einem allgemeinen Gemeinwohlvorbehalt, der sich in der Prüfungspraxis auf die Frage nach der Rechtsgrundlage für das Handeln des Amtswalters und der Verhältnismäßigkeit seines Tuns beschränken wird. Damit aber herrscht in der Sache das Regime von Art. 2 Abs. 1 GG. Verschärft wird das Problem schließlich noch durch den herausgehobenen Status des Art. 20 GG, der aus seinem Korrespondenzverhältnis mit der „Ewigkeitsklausel“ des Grundgesetzes resultiert. 82 Ohne hier zu dem (in seinem heuristischen Wert ohnehin begrenzten) Streit um einen generell höheren Normrang der von Art. 79 Abs. 3 geschützten „Gehalte“ Stellung nehmen zu wollen, 83 lässt sich gleichwohl feststellen, dass die Verortung des Gemeinwohls in einem der veränderungsfesten Verfassungsprinzipien diesem in der notwendigen Abwägung mit den einzelnen Grundrechten aller Erfahrung nach mehr Durchsetzungskraft verleihen dürfte, als einem „normalen“ Rechtsgut von Verfassungsrang zukommt.

___________ 81

Dazu Dreier (Fn. 66), Vorb. Rn. 146; Pieroth/Schlink (Fn. 66), Rn. 279 f. Zur Einbeziehung der Verfassungsentscheidung für die Republik in den Gewährleistungsbereich des Art. 79 Abs. 3 GG siehe Herzog (Fn. 2), Art. 20 III Rn. 2; Gröschner (Fn. 35), § 23 Rn. 3, 63, 74; Sachs (Fn. 2), Art. 20 Rn. 9; Pieroth (Fn. 2), Art. 20 Rn. 3; Dreier (Fn. 2), Art. 20 (Republik), Rn. 16, 27. – A. A. Löw (Fn. 8), S. 822. 83 Siehe statt aller Dreier, H., in: ders. (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. II, 2. Aufl. 2006, Art. 79 III Rn. 14 (m. w. N.). 82

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V. Ausblick: „Republik“ und „Gemeinwohl“ – die Staatsrechtslehre auf der Suche nach Halt in einer Welt verloren gegangener Gewissheiten? Die geschilderten Extensionstendenzen in der Interpretation des Republikprinzips sind nur eine Facette einer wahrhaft erstaunlichen Renaissance des Gemeinwohls in den letzten Jahren, die nicht allein rechtswissenschaftliche Diskurse erfasst hat. 84 Ob die damit wieder aufgenommene „Suche nach Substanz“ 85 letztlich von Erfolg gekrönt sein wird, sei hier dahingestellt. Auf jeden Fall ist auch sie nur Teil einer größeren Debatte um die Gewichtung von Individual- und Gemeinschaftsgütern, deren gegenwärtiger Grundton ein tiefes Unbehagen daran zu sein scheint, dass die imaginären Grenzmarkierungen zwischen den Rechtspositionen des einzelnen und denen der Allgemeinheit zu weit zugunsten der ersteren verrückt worden sind. 86 Grundrechtsdogmatisch gesprochen wird eine Tendenz der Grenzkorrektur zu Lasten des effektiven Garantiebereichs erkennbar. 87 Gehört die stete Frage nach dem richtigen Verlauf dieser virtuellen Trennlinie zu den Aufgaben der viel beschworenen „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“, so steht zu befürchten, dass sich in den Bestrebungen zur Neujustierung des Verhältnisses von Freiheit und Ordnung in der „Freiheitlichen Republik“ möglicherweise das Verlangen Bahn brechen könnte, in Gestalt des Gemeinwohls eine Handhabe gerade gegen solche Formen des Freiheitsgebrauchs zu gewinnen, die von der jeweiligen Mehrheit als unmoralisch, störend oder schlicht fremd perhorresziert werden. Die Debatte um das Schächten ist insofern ein warnendes Beispiel, hat sie doch mit dem Gemeinwohlbe-

___________ 84 Vgl. aus der reichhaltigen Auswahl an neueren Titeln nur die folgenden (siehe auch Fn. 85): Münkler, H. / Bluhm, H. (Hrsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn. Historische Semantiken politischer Leitbegriffe, 2001; Brugger, W. / Kirste, S. / Anderheiden, M. (Hrsg.), Gemeinwohl in Deutschland, Europa und der Welt, 2002; Bonvin, J. M. / Kohler, G. / Sitter-Liver, B. (Hrsg.), Gemeinwohl/Bien commun, 2004. 85 Schuppert, G. F. / Neidhardt, F. (Hrsg.), Gemeinwohl. – Auf der Suche nach Substanz, 2002. 86 Gerade in der US-amerikanischen Debatte ist die Maxime vom „Republicanism“ denn auch von Denkern aufgegriffen worden, die dem Kommunitarismus zugerechnet werden; vgl. dazu statt aller m. w. N. Maissen (Fn. 51), Sp. 737. 87 Vgl. etwa Böckenförde, E.-W., Schutzbereich, Eingriff, verfassungsimmanente Schranken. Zur Kritik gegenwärtiger Grundrechtsdogmatik, in: Der Staat, Bd. 42 (2003), S. 165 ff. (174 ff.), der insbesondere die Neigung zur konturlos weiten Auslegung des Schutzbereichs rügt.

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lang Tierschutz sehr wenig, mit einem Abwehrreflex gegen „den Islam“ hingegen sehr viel zu tun.88 Was macht in dieser Konstellation die besondere Attraktivität der Republik aus? Sie ist regelrecht getränkt mit dem Lockstoff der vermeintlichen weltanschaulichen Neutralität. Denn dass aus der Verfassungsentscheidung für die Republik auch eine „metaphysikfreie“ oder eben neutrale Begründung des Staates folgen soll, gilt unter Anhängern eines materialen Verständnisses des Republikprinzips als ausgemacht.89 In dieser Optik erlaubt Art. 20 Abs. 1 GG die Ableitung solcher Maximen, die sich religiös motivierten Freiheitsverständnissen entgegenhalten lassen, ohne dem Vorwurf ausgesetzt zu sein, ihrerseits transzendental (also: christlich) fundiert zu sein. Gröschner sieht denn auch in seiner „republikanischen“ Deutung des Art. 18 GG die zentrale Antwort des Verfassungsstaates auf die islamische Herausforderung.90 Die „Republik“ wird in dieser Perspektive zum Fixstern, von dem aus der durch die tiefgreifende weltanschauliche Pluralisierung in Unordnung gebrachte Kosmos des Verfassungsrechts neu geordnet werden kann. Wie der Verfasser zu zeigen versucht hat, ist das Verfassungsprinzip der Republik für diese Rolle schlecht gerüstet. Denn schon in seiner formalen Lesart lässt es sich zur Rechtfertigung von Grundrechtseinschränkungen aktivieren. Lädt man es ungeachtet methodischer wie dogmatischer Bedenken mit weiteren Gehalten auf, weist ihm insbesondere die Rolle als verfassungsrechtlicher „Sitz im Leben“ des Gemeinwohls zu, so kann das gravierende Einbußen im effektiven Garantiebereich der Grundrechte nach sich ziehen. Die viel beschworene „freiheitliche Tradition“ der Republik mündet nicht in ein Mehr, sondern in ein Weniger an grundrechtlicher Freiheit. Und damit wäre einem der zentralen Anliegen des wissenschaftlichen Wirkens von Dieter Blumenwitz denkbar schlecht gedient.

___________ 88 Siehe zur Debatte im Anschluss an die einschlägige Entscheidung (BVerfGE 104, 337) im Überblick Wittreck, F., Religionsfreiheit als Rationalisierungsverbot, in: Der Staat, Bd. 42 (2003), S. 519 ff. (526 f.). 89 Vgl. nochmals oben Fn. 49. 90 Gröschner (Fn. 75), Art. 18 Rn. 30.

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„Spiel nicht mit den Schmuddelkindern ...“ Franz Josef Degenhardt

I. Die Strategie der Ausgrenzung Wirkliche und angebliche Verfassungsfeinde werden von den Verfassungsschutzbehörden auf sehr effektive Weise mit zwei Mitteln bekämpft: Erstens werden sie im Verfassungsschutzbericht als „Extremisten“ 1 bezeichnet, also als nicht zur Gemeinschaft der „Demokraten“ gehörend gebrandmarkt und an den Schandpfahl der aufgeklärten demokratischen Gesellschaft gestellt. 2 Das Bundesverfassungsgericht hat zutreffend festgestellt, dass die Erwähnung im Verfassungsschutzbericht Sanktionscharakter hat. 3 Mit der öffentlichen Erklärung zum Verfassungsfeind wird zweitens angestrebt, dass die Verfassungsfeinde aus dem politischen Leben ausgegrenzt werden. Sie sollen möglichst keine Gelegenheit erhalten, für ihre Ziele zu werben, ihre Meinungen zu verbreiten, ___________ 1 Zur Terminologie: „Verfassungsfeind“ ist, wer darauf ausgeht, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beseitigen oder zu beeinträchtigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden (vgl. Art. 21 II GG). Der von den Verfassungsschutzbehörden verwendete Begriff „Extremist“ kann juristisch nur gleichbedeutend zu verstehen sein und darf hier also nicht in einem davon abweichenden politischen Sinne verstanden werden. Wenn im Folgenden Beispiele aus Verfassungsschutzberichten zitiert werden, in denen der Extremismus-Begriff sich auf konkrete Organisationen oder Personen bezieht, werden die Wertungen des Verfassungsschutzes wiedergegeben. Eine Stellungnahme des Autors zu der Frage, ob diese zutreffen, ist damit nicht verbunden. – Verfassungsschutzberichte werden nach der Internetversion zitiert. (Die Druckversionen haben teilweise abweichende Seitenzählungen.) Der vom Bundesministerium des Innern herausgegebene Verfassungsschutzbericht des Bundes wird als VSB zitiert, die Verfassungsschutzberichte der Länder als VSB mit dem Kürzel des jeweiligen Landes. Die Jahreszahl bezeichnet das Jahr, über das berichtet wird. 2 Dazu näher Murswiek, D., Der Verfassungsschutzbericht – das scharfe Schwert der streitbaren Demokratie. Zur Problematik der Verdachtsberichterstattung, in: NVwZ 2004, S. 769 (771 ff.). 3 BVerfGE 113, 63 (77) – „Junge Freiheit“.

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Anhänger und Mitglieder zu gewinnen. Dies wird ihnen zwar nicht verboten – bei politischen Parteien könnte ein Verbot ohnehin nur vom Bundesverfassungsgericht ausgesprochen werden –, aber der Sumpf soll trockengelegt, die realen Wirkungsmöglichkeiten sollen den Verfassungsfeinden abgeschnitten werden. Die Wirkung, welche die Verfassungsschutzbehörden von ihren Verfassungsschutzberichten vor allem erhoffen, ist die Ausgrenzungswirkung: Verfassungsfeinde sollen gesellschaftlich isoliert werden. Dann – so das Kalkül – bleiben sie mit ihren Parolen unter sich, in ihrem politischen und gesellschaftlichen Ghetto, und können keinen Einfluss auf die Masse der Bevölkerung gewinnen. Die Verfassungsschutzbehörden sehen es offenbar als die beste, wenn nicht – abgesehen von Partei- und Vereinsverboten – die einzige Methode der Bekämpfung von Verfassungsfeinden und zur Verteidigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung an, den Extremisten durch umfassende Ausgrenzung den Boden ihrer Wirksamkeit zu entziehen. Wenn niemand deren Veranstaltungen besucht, wenn niemand an ihren Demonstrationen teilnimmt, wenn die Medien nicht über sie berichten, wenn sie keine Gelegenheiten bekommen, sich in Zeitungen oder im Fernsehen darzustellen, wenn alle guten Bürger sie meiden wie die Pest und schon gar nicht Mitglied in einer solchen, im Verfassungsschutzbericht erwähnten, Organisation werden, dann wird ihre Chance, politischen Einfluss zu gewinnen, minimiert. Da die Verfassungsschutzbehörden im Übrigen keine Exekutivbefugnisse haben – sie sind für die Gewinnung von Erkenntnissen über verfassungsfeindliche Bestrebungen, nicht aber für deren Bekämpfung zuständig –, ist der Verfassungsschutzbericht das einzige legale Instrument, das ihnen selbst zur Bekämpfung des Extremismus zur Verfügung steht. Die Ausgrenzungsstrategie ist keine Erfindung des Verfassungsschutzes. Sie ist wohl zuerst von Politikern entwickelt worden, die sie als Parteipolitiker wie auch als Amtsträger – als Bundeskanzler, als Parlamentspräsidenten, als dem Verfassungsschutz übergeordnete Innenminister – seit langem praktizieren, indem sie immer wieder zur „Ächtung“ von Extremisten aufrufen. 4 Sie setzen die Ausgrenzungsstrategie insbesondere als eine weitgehend erfolgreiche Alternative zum Parteiverbot ein. Aus der Sicht dieser Politiker hat die Ausgrenzungsstrategie gegenüber einem Parteiverbotsverfahren den Vorteil, nicht einer ___________ 4 Beispiele: Bundeskanzler Kohl laut FAZ v. 28.09.1993, Nr. 225, S. 5; ders., Bulletin v. 04.09.1993, Nr. 69, S. 734; Bundestagsvizepräsidentin Bläss, Pressemitteilung 16.06.2000, www.bundestag.de/presse/presse/2000/ pz_000616.html; Bundesinnenminister Kanther laut FAZ v. 15.04.1994, Nr. 87/15, S. 1; ders., Bulletin v. 24.2.1995, Nr. 14, S. 114; Innensenator Wrocklage, Pressemitteilung vom 11.8.2000, Pressestelle der Innenbehörde, www.hamburg.de/Behoerden/Pressestelle/Meldungen/tagesmeldungen/2000/aug/w32/fr/news.htm.

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Vorabkontrolle durch das Bundesverfassungsgericht zu unterliegen und auch im Übrigen sich gerichtlicher Kontrolle weitgehend zu entziehen. Bei der Umsetzung der politisch gewollten Ausgrenzungsstrategie kommt dem Verfassungsschutz eine Schlüsselstellung zu: In den Verfassungsschutzberichten definieren die Verfassungsschutzbehörden, welche Organisationen „extremistisch“ sind und somit „geächtet“ werden sollen, und außerdem sorgt der Verfassungsschutz dafür, dass die Ausgrenzung auch tatsächlich stattfindet. Die Verfassungsschutzbehörden erwarten von allen Bürgern, dass sie sich an der Ausgrenzung der Verfassungsfeinde beteiligen. Ausgrenzung, gesellschaftliche Isolierung, Boykott können von den Verfassungsschutzbehörden nicht selbst vorgenommen werden. Sollen die Extremisten wirksam aus dem politischen Leben ausgeschlossen werden, dann bedarf es der Mitwirkung der gesamten Gesellschaft, in erster Linie der Medien, die ja nicht in staatlicher, sondern in privater Hand sind beziehungsweise als öffentlichrechtliche Rundfunkund Fernsehanstalten dem unmittelbaren Einfluss des Staates entzogen sind. Es bedarf der Mitwirkung der „demokratischen“ Parteien. 5 Es bedarf der Mitwirkung der Gastwirte, die keine Versammlungslokale an Extremisten vermieten sollen, der Mitwirkung der Druckereien, die keine extremistischen Plakate drucken sollen, ja der Mitwirkung jedes Einzelnen, der nicht an Versammlungen und Demonstrationen von Extremisten teilnehmen soll. Nicht nur aus dem faktischen Grunde, dass eine umfassende Ausgrenzung von Extremisten dem Staat gar nicht möglich ist, sondern nur von der Gesellschaft im Ganzen geleistet werden kann, auch aus rechtlichen Gründen lässt sich die von den Verfassungsschutzbehörden verfolgte Ausgrenzungsstrategie nur durch Ausgrenzung seitens der Bürger verwirklichen. Denn was der Staat, handelnd durch die Verfassungsschutzbehörden, von den Bürgern verlangt, ist ihm selbst rechtlich versagt: Solange eine politische Partei oder sonstige Vereinigung nicht verboten ist, stehen ihr alle Freiheits- und Gleichheitsrechte zu. Sie darf nicht aus politischen Gründen diskriminiert werden. Der Staat darf zwar nach der Rechtsprechung und der herrschenden Meinung verfassungsfeindliche Bestrebungen mit Argumenten bekämpfen; das rechtfertigt die Darstellung der verfassungsfeindlichen Zielsetzung im Verfassungsschutzbericht und ihre Bewertung als extremistisch beziehungsweise verfassungsfeindlich sowie die damit verbundene Warnung an die Bürger. Er darf jedoch nicht über die geistig-politische Einwirkung hinausreichende Eingriffe in die Freiheitsund Gleichheitsrechte extremistischer Organisationen zum Zwecke ihrer Be___________ 5 Im Sprachgebrauch der Verfassungsschutzberichte ist „demokratisch“ der Gegenbegriff zu „extremistisch“, also zu verfassungsfeindlich. Dieser Sprachgebrauch ist verfassungsrechtlich unzutreffend, denn auch eine demokratische (die Volkssouveränität, die Mehrheitsherrschaft, das Mehrparteiensystems usw. bejahende) Partei kann extremistisch sein, z. B. wenn sie das Rechtsstaatsprinzip bekämpft.

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kämpfung vornehmen, solange er sich nicht entschließt, sie in den dafür vorgesehenen Verfahren und unter den verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Voraussetzungen zu verbieten. Insbesondere sind nicht verbotene politische Parteien rechtlich uneingeschränkt gleich zu behandeln. Extremistische Parteien dürfen beim Zugang zu öffentlichen Einrichtungen, etwa bei der Benutzung von Stadthallen für Parteiveranstaltungen oder bei der Benutzung öffentlicher Plätze, bei der Zuteilung von Sendezeiten für Wahlwerbespots oder bei der staatlichen Parteienfinanzierung nicht benachteiligt werden. 6 Öffentlichrechtlich organisierte Sparkassen oder privatrechtlich organisierte, aber in staatlicher Hand befindliche Kreditinstitute dürfen nicht einer Organisation das Konto kündigen, weil sie im Verfassungsschutzbericht als extremistisch ausgewiesen sei. 7 Solche dem Staat verbotene Ausgrenzungs- und Boykottmaßnahmen sind dagegen Privaten grundsätzlich erlaubt. Für sie gilt das Freiheitsprinzip, das grundsätzlich auch die Freiheit zur Diskriminierung aus politischen Gründen impliziert. Es gibt Einschränkungen, etwa für Monopolunternehmen, und der Gesetzgeber mag aus verfassungs- oder aus europarechtlichen Gründen verpflichtet sein, auch für Private gewisse Diskriminierungsverbote zu erlassen. Darauf kann hier nicht näher eingegangen werden. Entscheidend ist: Jeder Einzelne und regelmäßig auch private Unternehmen dürfen das tun, was der Staat nicht darf – sie dürfen nicht verbotene, aber vom Verfassungsschutz als extremistisch eingestufte Organisationen ausgrenzen und boykottieren. Der Verfassungsschutz ist also für seine Ausgrenzungsstrategie auf die Privaten angewiesen; der Staat muss die Gesellschaft in Dienst nehmen, damit diese Strategie umgesetzt werden kann. Diese Vorgehensweise wirft mehrere Rechtsfragen auf, von denen nur eine in dieser Abhandlung behandelt werden soll. So ließe sich bereits fragen, ob in einem Rechtsstaat überhaupt der Staat an die Gesellschaft insgesamt beziehungsweise an jeden Einzelnen die Erwartung herantragen darf, Sanktionen zu exekutieren, die der Staat sozusagen verhängt, aber nicht selbst ausführt. Es ließe sich fragen, ob nicht jedenfalls insoweit ein Missbrauch staatlicher Macht vorliegt, als der Staat mit seinem an Private gerichteten Ausgrenzungs- und Boykottansinnen das für ihn selbst geltende Verbot umgeht, die Ausgrenzungs- und Boykottmaßnahmen vorzunehmen, die er von den Privaten erwartet. Es ließe sich auch fragen, ob der Verfassungsschutzbericht überhaupt als Bekämpfungsinstrument eingesetzt werden darf. 8 Ich werde auf diese Fragen hier nicht eingehen und beschränke mich auf ___________ 6 Vgl. z. B. BVerfGE 47, 198 (224 ff., insb. 227 f.); 69, 257 (268 ff.); zum „Parteienprivileg“ allgemein z. B. BVerfGE 5, 85 (140); 13, 123 (126); 12, 296 (304 ff.); 39, 334 (382). 7 Vgl. z. B. BGH, 11.3.2003, NJW 2003, 1658 (1659) = BGHZ 154, 146. 8 Es ist noch gar nicht ins Bewusstsein der Öffentlichkeit, nicht einmal der Fachöffentlichkeit, gedrungen, dass der Verfassungsschutzbericht längst nicht mehr nur ein Informationsmedium, sondern auch und vor allem eine Waffe ist. Daher fehlt, von einigen

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ein besonderes und besonders gravierendes Problem: Darf der Staat zur Durchsetzung seiner Ausgrenzungsstrategie Druck auf die Bürger ausüben, indem er diejenigen, die sich an der Ausgrenzung nicht beteiligen, ihrerseits mit der Sanktion der Erwähnung im Verfassungsschutzbericht belegt?

II. Die Sanktionierung der Nichtausgrenzung Genau dies tut der Verfassungsschutz immer wieder, indem er Kontakte zu Extremisten als Anhaltspunkte für extremistische Bestrebungen desjenigen wertet, der mit diesen in Kontakt getreten ist. Manche Verfassungsschutzberichte enthalten in ihrer Beweisführung für den extremistischen Charakter konkreter Organisationen sogar besondere Kapitel über „Kontakte zu (anderen) Extremisten“. 9 Beispiele für solche aus der Sicht des Verfassungsschutzes „verbotene“ – d. h. rechtlich zwar erlaubte, aber als Ausdruck einer verfassungsfeindlichen Bestrebung zu verurteilende und durch Erwähnung im Verfassungsschutzbericht zu sanktionierende – Kontakte sind etwa die Teilnahme an einer von Extremisten organisierten Veranstaltung, 10 auch wenn – das gilt sinngemäß auch für alle weiteren Beispiele – das Thema der Veranstaltung und die dort propagierten Ziele nicht extremistisch sind, das Halten eines Vortrags vor einer Versammlung, zu der Extremisten eingeladen haben, 11 oder die Beteiligung an der Diskussion auf einer solchen Veranstaltung. 12 Auch die Einladung eines Extremisten zu einem Vortrag 13 wird vom Verfassungsschutz beanstandet, und die Teilnahme von Extremisten an einer Demonstration, insbesondere wenn sie dort Rederecht erhalten, wird als Beleg für die extremistische Zielsetzung der veranstaltenden Organisation gewertet. 14 Ebenso wird im Verfassungsschutzbericht als „Zusammenarbeit mit Extremisten“ beanstandet, wenn Angehörige einer Partei an Demonstrationen teilnehmen, an denen sich auch Angehörige extremistischer Organisationen beteiligen, auch wenn – wie in allen anderen hier aufgeführten Beispielsfällen ebenfalls – eine verfassungs___________ Ansätzen abgesehen (vgl. z. B. Murswiek, o. Fn. 2), auch noch die wissenschaftliche Aufarbeitung der damit verbundenen politischen und verfassungsrechtlichen Problematik. 9 Vgl. z. B. VSB BW 2000, S. 42; 2001, S. 39; 2002, S. 60; vgl. auch VSB BW 1999, S. 47; 2003, S. 175; 2004, S. 145; 2005, 150. 10 Vgl. z. B. VSB BW 1999, S. 48, 2001, S. 40. 11 Vgl. z. B. VSB NW 1998, S. 83; 2002, S. 99. 12 Vgl. VSB BW 2001, S. 40. 13 Vgl. VSB BW 1998, S. 62 f.; 1999, S. 47. 14 VSB NW 2003, S. 26; zustimmend VG Düsseldorf, 21.10.2005 – 1 K 3189/03 – Bürgerbewegung L1 (= pro Köln), Juris, dort auch genauerer Sachverhalt; VSB BW 1998, S. 62.

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feindliche Zielsetzung nicht ersichtlich ist, z. B. bei Demonstrationen „gegen den Irak-Krieg“, „gegen Arbeitslosigkeit“ oder „gegen Sozialabbau“. 15 Blättert man in den Verfassungsschutzberichten, so kann man eine Vielzahl weiterer Beispiele dafür finden, dass der Verfassungsschutz Kontakte zu Extremisten, also die – auch nur sporadische – Nichtbefolgung des Ausgrenzungsansinnens, als Anhaltspunkte für extremistische Bestrebungen desjenigen wertet, der sich in dem konkreten Einzelfall an der Ausgrenzung nicht beteiligt hat. Erwähnt seien die Veröffentlichung von Interviews mit Extremisten 16 oder von Artikeln als extremistisch angesehener Autoren in einer Zeitung 17 sowie die Gewährung eines Interviews für eine extremistische Zeitung. 18 Auch die Veröffentlichung von Inseraten extremistischer Zeitschriften 19 oder Parteien 20 begründet in den Augen des Verfassungsschutzes den Verdacht, die veröffentlichende Zeitung verfolge ihrerseits extremistische Ziele; auch die Veröffentlichung von Inseraten in einer extremistischen Zeitschrift wird im Verfassungsschutzbericht moniert. 21 Indem der Verfassungsschutz solche Fälle von Nichtbeteiligung an der Ausgrenzung von Extremisten im Verfassungsschutzbericht als Anhaltspunkte für extremistische Bestrebungen des Betreffenden darstellt, belegt er die Unterlassung der geforderten Ausgrenzung mit einer Sanktion: Der Betreffende wird nun selbst öffentlich einer extremistischen Verhaltensweise geziehen. In der Regel wird zwar der vereinzelte Kontakt zu Extremisten nicht schon für sich genommen zur Erwähnung im Verfassungsschutzbericht führen, sondern nur dann, wenn es auch andere Anhaltspunkte für eine extremistische Bestrebung gibt. Entscheidend aber ist in unserem Zusammenhang, dass dort, wo es geschieht, die Darstellung des Kontakts als Anhaltspunkt für eine verfassungsfeindliche Bestrebung die betreffende Verhaltensweise als verfassungsschutzrechtlich verwerflich öffentlich inkriminiert. Auf diese Weise wird nicht nur der von dieser Sanktion unmittelbar Betroffene für sein Verhalten „bestraft“. Wird die Nichtbeachtung des Ausgrenzungsansinnens im Verfassungsschutzbericht als Anhaltspunkt für eine verfassungsfeindliche Bestrebung des Betreffenden dargestellt, dann hat das auch generalpräventive Wirkung: Es wird für die Allgemeinheit deutlich gemacht, dass jeder, der dem Ausgrenzungsansinnen nicht Folge leistet, sich damit aus Sicht des Verfassungsschut___________ 15

Vgl. z. B. VSB Bay 2002, S. 109; 2003, S. 106; 2004, S. 127. Vgl. z. B. VSB NW 2002, S. 100. 17 Vgl. z. B. VSB 2002, S. 95; VSB BW 2002, S. 73; 2004, S. 160. 18 Vgl. z. B. VSB NW 2000, S. 109; 2002, S. 64, 99. 19 Vgl. z. B. VSB NW 1998, S. 83; 2001, S. 98; 2002, S. 101; VSB BW 2002, S. 74; 2003, S. 191; 2004, S. 159 f. 20 Vgl. z. B. VSB NW 1999, S. 96; 2001, S. 98; 2002, S. 100. 21 Vgl. z. B. VSB NW 2002, S. 101; VSB BW 2002, S. 74. 16

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zes verdächtig macht, verfassungsfeindliche Bestrebungen zu verfolgen; er muss also damit rechnen, selbst in den Blick des Verfassungsschutzes zu geraten und im Verfassungsschutzbericht erwähnt zu werden.

III. Rechtliche Voraussetzungen für die Sanktionierung der Nichtausgrenzung 1. Ermächtigungsgrundlage in den Verfassungsschutzgesetzen Wird das Verhalten einer Person im Verfassungsschutzbericht als Anhaltspunkt für eine verfassungsfeindliche Bestrebung dargestellt, so liegt darin ein Eingriff in Freiheitsrechte der betroffenen Person. 22 Je nachdem, an welches Verhalten angeknüpft wird, kann das ein Eingriff in die Meinungsfreiheit oder z. B. die Religions-, die Presse-, die allgemeine Handlungsfreiheit oder bei politischen Parteien in die Parteienfreiheit sein. Voraussetzung eines solchen Eingriffs ist in jedem Fall, dass er auf eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage gestützt werden kann. Einzige Ermächtigungsgrundlage für negative Wertungen im Verfassungsschutzbericht ist eine Bestimmung, die im Verfassungsschutzgesetz des Bundes (BVerfSchG) wie folgt lautet: § 16 Berichtspflicht des Bundesamtes für Verfassungsschutz (1) Das Bundesamt für Verfassungsschutz unterrichtet den Bundesminister des Innern über seine Tätigkeit. (2) Die Unterrichtung nach Absatz 1 dient auch der Aufklärung der Öffentlichkeit durch den Bundesminister des Innern über Bestrebungen und Tätigkeiten nach § 3 Abs. 1, die mindestens einmal jährlich in einem zusammenfassenden Bericht erfolgt. [...] § 3 Aufgaben der Verfassungsschutzbehörden (1) Aufgabe der Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder ist die Sammlung und Auswertung von Informationen, insbesondere von sach- und personenbezogenen Auskünften, Nachrichten und Unterlagen, über 1. Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes oder ihrer Mitglieder zum Ziele haben, 2. sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten im Geltungsbereich dieses Gesetzes für eine fremde Macht,

___________ 22

Vgl. BVerfGE 113, 63 (74 ff.); zuvor bereits Murswiek, D., Warnungen, Wertungen, Kritik als Grundrechtseingriffe. Zur Wirtschafts- und Meinungslenkung durch staatliches Informationshandeln, in: DVBl. 1997, S. 1021 (1028 ff.); ders. (Fn. 2), S. 773.

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3. Bestrebungen im Geltungsbereich dieses Gesetzes, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden, 4. Bestrebungen im Geltungsbereich dieses Gesetzes, die gegen den Gedanken der Völkerverständigung (Art. 9 Abs. 2 GG), insbesondere gegen das friedliche Zusammenleben der Völker (Art. 26 Abs. 1 GG) gerichtet sind.

In den Verfassungsschutzgesetzen der Länder finden sich ähnlich formulierte Ermächtigungsgrundlagen. Gemäß diesen Ermächtigungsgrundlagen darf in Verfassungsschutzberichten nur über verfassungsfeindliche Bestrebungen berichtet werden. Im Rahmen dieser Berichterstattung darf und muss die Verfassungsschutzbehörde (bzw. das Innenministerium, das den Verfassungsschutzbericht herausgibt) auch Verhaltensweisen der betreffenden Organisationen beziehungsweise der für sie handelnden Menschen darstellen, auf die sie ihre Bewertung stützt, dass eine verfassungsfeindliche Bestrebung vorliege. Diese Verhaltensweisen, aus denen sich in der Gesamtschau die Beurteilung ergibt, dass die betreffende Organisation extremistische Bestrebungen verfolgt, werden als „tatsächliche Anhaltspunkte“ für extremistische Bestrebungen (beziehungsweise für den Verdacht extremistischer Bestrebungen) bezeichnet. Der Verfassungsschutz ist jedoch nicht ermächtigt, solche Verhaltensweisen im Verfassungsschutzbericht anzuprangern, die nicht Ausdruck verfassungsfeindlichen Verhaltens sind.

2. Nichtausgrenzung von Extremisten als extremistische Bestrebung? Unter welchen Voraussetzungen also können Kontakte zu Extremisten beziehungsweise die Nichtbeteiligung an der Ausgrenzung von Extremisten als Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen eingestuft werden?

a) „Tatsächliche Anhaltspunkte“ für verfassungsfeindliche Bestrebungen – rechtliche Kriterien Verfassungsfeindliche Bestrebungen sind nach der gesetzlichen Definition „ziel- und zweckgerichtete Verhaltensweisen in oder für einen Personenzusammenschluss“, 23 der darauf gerichtet ist, einen Grundsatz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu beseitigen. 24 Diese Definition ist sprachlich ___________ 23

Bei hinreichendem Gefährdungspotential auch Verhaltensweisen von Einzelpersonen, BVerfSchG § 4 I 4. 24 Oder eines der anderen verfassungsschutzrechtlichen Schutzgüter zu beeinträchtigen, s. im Einzelnen BVerfSchG § 4 I 1. Die anderen Schutzgüter werden im Folgenden nicht besonders erwähnt.

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schief. Der Sache nach geht es um Verhaltensweisen von Organisationen („Personenzusammenschlüssen“), die freilich nur durch Menschen („natürliche Personen“) handeln können. Die eigentlichen Beobachtungs- und Berichtsobjekte des Verfassungsschutzes sind Organisationen; natürliche Personen grundsätzlich 25 nur insoweit, als sie in diesen oder für diese Organisationen handeln. Der Begriff der verfassungsfeindlichen Bestrebungen umfasst zwei Elemente: ein inhaltliches Element, welches ein politisches Ziel umschreibt (Zielelement), sowie ein instrumentales Element, welches auf die praktische Verwirklichung des Ziels gerichtet ist (Aktivitätselement). Ziel ist die Beseitigung eines Bestandteils der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Das Mittel ist die aktive politische Betätigung, mit der die Durchsetzung des Ziels erstrebt wird. Der politische Wille des Handelnden hält beide Elemente zusammen. Man kann den Willen – die Intention, die subjektive Ausrichtung – auch als drittes, übergreifendes Element ansprechen. Verfassungsfeindliche Bestrebungen sind also durch den Willen gekennzeichnet, durch aktives politisches Handeln die Verfassungsordnung so umzugestalten, dass zumindest ein die freiheitliche demokratische Grundordnung kennzeichnendes Element beseitigt wird. Eine verfassungsfeindliche Bestrebung liegt dagegen nicht vor, wenn entweder kein verfassungsfeindliches Ziel oder keine auf die Verwirklichung eines solchen Ziels gerichtete politische Aktivität vorhanden ist. Tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass eine Organisation verfassungsfeindliche Bestrebungen verfolgt, können sich aus Verhaltensweisen der in der oder für die Organisation tätigen Menschen ergeben, insbesondere natürlich aus Beschlüssen der Organe der jeweiligen Organisation und aus den Handlungen ihrer Funktionsträger. Diese Verhaltensweisen müssen Elemente sein, aus denen auf das Vorliegen einer verfassungsfeindlichen Bestrebung geschlossen werden kann, ohne dass der einzelne Anhaltspunkt für sich genommen bereits den Beweis für die Existenz der verfassungsfeindlichen Bestrebung liefern muss. Äußerungen und andere Verhaltensweisen von Funktionären oder einfachen Mitgliedern einer Organisation können Beweisstücke („tatsächliche Anhaltspunkte“) für den verfassungsfeindlichen Charakter der Organisation sein, während der Beweis sich nur in der Zusammenschau vieler solcher Beweisstücke führen lässt, sofern sich die Verfassungsfeindlichkeit der Organisation nicht schon aus Satzung oder Programm ergibt. Ob einzelne konkrete Verhaltensweisen in diesem Sinne als Anhaltspunkte für die Verfassungsfeindlichkeit einer Organisation betrachtet werden können, hängt davon ab, ob sich aus ihnen eine verfassungsfeindliche Zielsetzung able-

___________ 25

Mit Ausnahme des in BVerfSchG § 4 I 4 genannten Falls.

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sen lässt. 26 Das Verhalten muss also den Willen erkennen lassen, einen Bestandteil der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu beseitigen.

b) Kontakte zu Extremisten als Anhaltspunkte für extremistische Bestrebungen? Eine pauschale Beantwortung der Frage, ob „Kontakte“ zu oder „Zusammenarbeit“ mit Extremisten auf eine extremistische Zielsetzung schließen lassen, ist nicht möglich. Dazu sind die Arten möglicher Kontakte und Kooperationen zu unterschiedlich. Kontakte zu extremistischen Organisationen sind dann – aber auch nur dann – im Verfassungsschutzbericht verwertbare Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen, wenn und soweit sich aus ihnen ergibt, dass der Betreffende die extremistische Zielsetzung der betreffenden Organisation fördern will beziehungsweise sich zu eigen macht. Eine solche Schlussfolgerung ist in manchen Fällen von Kontakten durchaus möglich, in anderen Fällen jedoch nicht. Eine Bank, bei der eine extremistische Partei ein Konto hat, ein Elektrounternehmer, der für den Parteitag dieser Partei die Lautsprecheranlage installiert, gehen ihren gewöhnlichen Geschäften nach. Aus ihren Kontakten zu dieser Partei lässt sich in keiner Weise schließen, dass sie deren Ziele unterstützen. Alle unpolitischen Kontakte zu Extremisten sind von vornherein ungeeignet, Anhaltspunkte für extremistische Bestrebungen zu liefern. Auf der anderen Seite sind Anhaltspunkte für eigene extremistische Bestrebungen immer dann gegeben, wenn jemand die extremistischen Zielsetzungen einer extremistischen Organisation durch sein Verhalten bewusst unterstützt. Davon kann man ausgehen, wenn jemand auf dem Parteitag einer extremistischen Partei ein Grußwort spricht und – ohne deutliche Einschränkungen – der Partei „viel Erfolg auf ihrem Weg“ wünscht. Auch Spenden an eine extremistische Partei können als Unterstützung auch ihrer extremistischen Ziele gewertet werden, sofern sich nicht aus den Umständen ergibt, dass lediglich verfassungskonforme Zwecke gefördert werden sollen. Entscheidend ist somit, welchen Zwecken die Kontakte zu Extremisten dienen: Will der Betreffende mit seinem Verhalten die extremistischen Ziele der jeweiligen Organisation fördern oder verfolgt er andere Zwecke? Der Unterschied lässt sich am Beispiel von Demonstrationen gut zeigen. Ruft die extremistische Organisation E zu einer Demonstration auf und die Or___________ 26

Ob zusätzlich zu verlangen ist, dass auch das auf die praktische Durchsetzung dieses Ziels gerichtete Element politischer Aktivität zum Ausdruck kommen muss – so BVerfGE 113, 63 (81 f.); dazu Murswiek, D., Neue Maßstäbe für den Verfassungsschutzbericht, in: NVwZ 2006, S. 121 (124 f.) –, kann hier dahinstehen.

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ganisation O ermuntert ihre Mitglieder, daran teilzunehmen, dann kann das Verhalten von O nur dann als Anhaltspunkt für eigene extremistische Bestrebungen gewertet werden, wenn mit der Demonstration verfassungsfeindliche Ziele verfolgt werden, wenn sie also beispielsweise der Verherrlichung einer Diktatur oder der Propagierung terroristischen Kampfes dient. Die Beteiligung an Demonstrationen gegen Arbeitslosigkeit, gegen Sozialabbau, gegen Atomkraftwerke lässt jedoch nicht auf eine extremistische Zielsetzung schließen, auch dann nicht, wenn die Demonstration von Extremisten veranstaltet wird, und erst recht nicht, wenn die Demonstration von Nichtextremisten veranstaltet wird und sich an ihr auch Extremisten beteiligen. 27 Entsprechendes gilt für Bürgerinitiativen, „Aktionsbündnisse“ und ähnliches. Die Beteiligung von Extremisten macht „Initiativen“ oder „Bündnisse“, die verfassungskonforme Ziele verfolgen, nicht zu extremistischen Vorhaben, auch dann nicht, wenn es extremistische Gruppen sind, die diese „Bündnisse“ initiieren. Es wird zwar in etlichen Fällen so sein, dass extremistische Organisationen „Initiativen“ und „Bündnisse“ mit populären verfassungskonformen Zielen gründen oder sich an solchen bereits vorhandenen Initiativen beteiligen, um auf diese Weise Einfluss auf andere Organisationen zu gewinnen oder deren Mitglieder für sich zu gewinnen. Es kann also hinter solchen Vorhaben die Absicht der extremistischen Organisationen stehen, ihren politischen Einfluss zu stärken, um so ihre extremistischen Ziele besser verfolgen zu können. Deshalb kann es durchaus berechtigt sein, dass im Verfassungsschutzbericht im Zusammenhang mit der Darstellung der jeweiligen extremistischen Organisation auch über ihre Zusammenarbeit mit nichtextremistischen Organisationen und insbesondere über Infiltrationsversuche berichtet wird. 28 Solche Informationen dienen dem Verständnis der Tätigkeit und Vorgehensweise der betreffenden Organisation (ebenso wie z. B. Informationen über Mitgliederzahl oder Beteiligung an Wahlen sowie über andere für sich genommen verfassungskonforme Tätigkeiten); 29 sie dürfen jedoch nicht als Beweisstücke für den extremistischen Charakter der betreffenden Organisation und erst recht nicht als Beweisstücke für den extremistischen Charakter der anderen Organisationen, mit denen sie in „Bündnissen“, „Initiativen“ oder bei Demonstrationen zusammenwirkt, dargestellt werden. Denn den anderen Organisationen darf nicht einfach unterstellt werden, sie wollten durch die Mitwirkung in dem „Bündnis“ trotz seiner verfassungskonformen Ziele indirekt die verfassungsfeindlichen ___________ 27

Vgl. VG München, 09.07.1980, BayVBl. 1980, 696 (697). Vgl. VG München, 09.07.1980, BayVBl. 1980, 696 (698). 29 Insoweit zutreffend Klein/Grabowski, Zur Öffentlichkeitsarbeit des Verfassungsschutzes, in: BayVBl. 1981, S. 265 (266). 28

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Bestrebungen der an dem „Bündnis“ ebenfalls beteiligten extremistischen Organisationen stärken. Im Übrigen scheint der Verfassungsschutz, indem er jede politische Zusammenarbeit mit Extremisten als Anhaltspunkt für extremistische Bestrebungen des Zusammenarbeitenden wertet, davon auszugehen, dass extremistische Organisationen und als Extremisten eingestufte Einzelpersonen in ihrer politischen Tätigkeit nichts anderes tun, als verfassungsfeindliche Ziele zu verfolgen. Diese Annahme ist ziemlich lebensfremd. Sie beruht auf einem manichäischen Schwarz-Weiß-Denken. Entweder man ist gut oder böse, Extremist oder Verfassungsdemokrat. In Wirklichkeit dürfte regelmäßig das politische Denken und Streben von Organisationen und Individuen, die extremistische Ziele verfolgen, keineswegs ausschließlich durch diese Ziele bestimmt sein. Wenn jemand Extremist ist, weil er sich für die Abschaffung der Gewaltenteilung (also gegen das Rechtsstaatsprinzip) engagiert, dann kann doch sein politisches Handeln überwiegend durch verfassungskonforme Ziele bestimmt sein. Wenn dieser Extremist sich für den Frieden oder gegen Atomkraft engagiert, kann man nicht einfach unterstellen, dieses Engagement sei nur der Tarnmantel, unter dem er sein verfassungsfeindliches Ziel umso besser verfolgen könne. Organisationen und Menschen sind in der Regel nicht eindimensional, und wenn eine Organisation auch langfristig auf Beseitigung eines fundamentalen Verfassungsgrundsatzes hinarbeitet, kann es doch sein, dass in der Tagespolitik bei ihr ganz überwiegend völlig verfassungskonforme Themen auf der Agenda stehen. Wer mit einer solchen Organisation bei Demonstrationen, in Initiativen usw. kooperiert, wird dies oft um der Verwirklichung dieser verfassungskonformen Ziele willen tun. Analysiert man unter Beachtung dieser Gesichtspunkte typische Fälle von Kontakten zu Extremisten, die in Verfassungsschutzberichten als Anhaltspunkte für extremistisches Verhalten gewertet wurden, so ergibt sich, dass diese Wertung in vielen Fällen unberechtigt ist. Der wohl größte Teil der in den Verfassungsschutzberichten genannten Fälle lässt sich in die Kategorien „Extremisten ein Forum bieten“ oder umgekehrt „ein extremistisches Forum nutzen“ einordnen. Wer Extremisten „ein Forum bietet“, indem er sie zu Vorträgen einlädt, sie an eigenen Demonstrationen teilnehmen lässt, Artikel extremistischer Autoren oder Inserate extremistischer Organisationen in einer Zeitung veröffentlicht usw., wird dafür in Verfassungsschutzberichten gerügt. Dieses „Forum-Bieten“ lässt sich aber jedenfalls dann nicht als Ausdruck der Förderung verfassungsfeindlicher Bestrebungen verstehen, wenn den Extremisten das jeweilige Forum nicht zur Werbung für ihre extremistischen Ziele zur Verfügung gestellt wird. Ein Redner, der einer extremistischen Partei angehört, ist für den Einladenden vielleicht deshalb interessant, weil er über gute außenpolitische Kenntnisse und analytische Fähigkeiten verfügt; ein Artikelschreiber mag zwar Extremist,

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aber zugleich ein guter Kenner ökonomischer Zusammenhänge sein. Soweit diejenigen, die Reden halten, Artikel schreiben, Interviews geben oder Inserate veröffentlichen, in ihren Reden, Artikeln oder Inseraten nichts Verfassungsfeindliches veröffentlichen, kann das Überlassen des Rednerpodiums oder die Veröffentlichung des Artikels oder Inserats nicht als Förderung einer verfassungsfeindlichen Bestrebung betrachtet werden. Das „Forum-Bieten“ als solches ist in keinem Fall Ausdruck einer verfassungsfeindlichen Zielsetzung. In den vielen Fällen, in denen Verfassungsschutzberichte die Teilnahme von Extremisten an Demonstrationen, Vorträge oder Referate von Extremisten, Artikel oder Inserate von oder Interviews mit Extremisten als Anhaltspunkte für eine extremistische Zielsetzung des Veranstalters oder der veröffentlichenden Zeitung gewertet haben, konnten sich die Verfassungsschutzbehörden somit nicht auf die Ermächtigungsgrundlage in den Verfassungsschutzgesetzen stützen. Wenn jedoch das Forum gerade deshalb zur Verfügung gestellt wird, damit der Extremist seine extremistischen Ziele propagieren kann, liegt darin eine beanstandenswerte Unterstützung dieser extremistischen Ziele. Nicht in allen Fällen, in denen einem Extremisten Gelegenheit gegeben wird, seine extremistischen Ziele dem Publikum vorzustellen, kann aber darin eine Zustimmung des Forum-Gebers zu diesen Zielen oder gar eine Förderung dieser Ziele gesehen werden. Bei der Veröffentlichung von Inseraten durch eine Zeitung ist vielmehr davon auszugehen, dass diese gegen Entgelt erfolgt, also aus kommerziellen Interessen. Eine Identifizierung von Verlag oder Redaktion der Zeitung mit dem Inhalt der von ihr veröffentlichten Inserate kann nicht unterstellt werden. Inserate stellen erkennbar nur die Meinung des Inserenten, nicht des Verlags oder der Redaktion dar. Veröffentlicht eine Zeitung Artikel oder Interviews, in denen der Autor oder der Interviewte verfassungsfeindliche Auffassungen vertreten, kommt es darauf an, ob die Zeitung sich diese Äußerungen zurechnen lassen muss. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn sie – etwa in einem Kommentar oder in Äußerungen des das Interview führenden Journalisten – ausdrücklich Zustimmung bekundet. Dies kann auch dann der Fall sein, wenn die Äußerungen auf der Redaktionslinie liegen. Das setzt freilich voraus, dass sich der extremistische Charakter der Zeitung schon aus anderen Umständen ergibt und die Äußerungen des Gastautors beziehungsweise des Interviewpartners nur als zusätzliche Anhaltspunkte herangezogen werden. Andererseits können verfassungsfeindliche Äußerungen in einem Interview nicht als Anhaltspunkte für eine extremistische Zielsetzung der Zeitung verstanden werden, wenn die Zeitung deutlich macht, dass sie diese Äußerungen nicht billigt, etwa in einem kritischen Kommentar. In einem solchen Fall kann das „Forum-Bieten“ geradezu den Zweck haben, die betreffende extremistische Richtung zu entlarven oder zu bekämpfen. Was Artikel von Gastautoren oder Leserbriefen mit extremistischem Inhalt angeht, hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, solche Artikel dürften dann

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nicht als Anhaltspunkte für eine extremistische Zielsetzung der Zeitung herangezogen werden, wenn die Zeitung einen „Markt der Meinungen“ bieten will und die Veröffentlichung in diesem Rahmen – also als eine unter anderen Meinungen, mit denen die Redaktion nicht notwendig übereinstimmt und von denen sie sich deshalb bei Nichtübereinstimmung auch nicht ausdrücklich distanzieren muss – stattfindet. 30 Entsprechendes muss für sonstige „Foren“ gelten. Wird auf einem Parteitag einem externen, einer extremistischen Organisation angehörenden Redner Gelegenheit gegeben, seine verfassungsfeindlichen Vorstellungen zu propagieren, so ist das ein Anhaltspunkt dafür, dass die betreffende Partei selbst solche Vorstellungen gutheißt. Lädt dagegen eine studentische Organisation einen bekannten Extremisten als Referenten ein, um sich von dessen Ideen ein eigenes Bild zu machen und darüber zu diskutieren, kann daraus nicht geschlossen werden, diese Studenten teilten die Überzeugungen des Redners. Unter den gleichen Aspekten sind die Fälle des „Forum-Nutzens“ zu lösen. Allein der Umstand, dass jemand auf einem extremistischen Forum (z. B. als Versammlungsredner bei einer extremistischen Organisation, Teilnehmer an einer von Extremisten organisierten Demonstration, Gastautor oder Interviewpartner in einer extremistischen Parteizeitung) auftritt, lässt – entgegen den Darstellungen in etlichen Verfassungsschutzberichten – noch nicht den Schluss zu, dass er selbst extremistische Ziele verfolgt. Dieser Schluss ist vielmehr nur dann möglich, wenn sich aus den konkreten Umständen ergibt, dass er die extremistischen Ziele des Forum-Gebers teilt beziehungsweise fördern will. Dies ist nicht nur dann der Fall, wenn der Betreffende das extremistische Forum dazu nutzt, ausdrücklich extremistische Ziele zu propagieren, sondern auch dann, wenn er ohne Einschränkung seine Sympathie oder seine Unterstützung der veranstaltenden extremistischen Organisation bekundet. Wenn der Betreffende jedoch seine eigenen – nicht verfassungsfeindlichen – Ideen einem extremistischen Publikum vortragen will, kann darin kein Anhaltspunkt für eigene extremistische Ziele gesehen werden. 31 Und wer an einer Versammlung einer extremistischen Organisation lediglich teilnimmt, ohne sich dort zu äußern, tut dies möglicherweise, um sich an der Quelle zu informieren; man kann ihm nicht einfach unterstellen, er wolle durch seine Anwesenheit die Ziele der betreffenden Organisation unterstützen. 32 Wir sehen an diesen wichtigsten Fallgruppen, dass zwar manche, längst aber nicht alle Kontakte zu Extremisten Anhaltspunkte für eigenen Extremismus des Kontaktierenden sein können. Der Kontakt als solcher reicht niemals aus; es ___________ 30 31 32

BVerfGE 113, 63 (83 f.) – „Junge Freiheit“. Vgl. auch BVerwGE 114, 258 (270 f.). Vgl. BVerwGE 114, 258 (270 f.).

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müssen immer besondere Umstände hinzukommen, aus denen sich eine Unterstützung extremistischer Bestrebungen ergibt. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht zutreffend denjenigen Behörden entgegengehalten, die schon Gespräche mit Extremisten – unabhängig von deren Inhalt – als Ausdruck einer extremistischen Bestrebung verstehen wollten. 33 Angesprochen seien noch die ebenfalls praktisch wichtigen Fallgruppen „Wahlabsprachen“, „Wahlbündnisse“ und „Wahlaufrufe“. Kleinparteien stehen immer wieder vor dem Problem, dass sie um ein begrenztes Potential von (Protest-)Wählern konkurrieren, die mit keiner der etablierten Parteien zufrieden sind. Sie nehmen sich dabei gegenseitig die Stimmen weg, die nötig wären, die 5%-Hürde zu überwinden. Deshalb werden unter Kleinparteien des linken wie des rechten Spektrums immer wieder Wahlabsprachen diskutiert und mitunter auch praktiziert. Diese können gebietsbezogen in der Weise getroffen werden, dass die Parteien P und X vereinbaren, dass bei Landtagswahlen in bestimmten Ländern P, in anderen Ländern X auf die Teilnahme an der Wahl verzichtet oder dass nur P an der Bundestagswahl und nur X an der Europawahl teilnimmt. Wenn X vom Verfassungsschutz als extremistisch beurteilt wird, dann werden solche Wahlabreden in Verfassungsschutzberichten der P-Partei als Anhaltspunkte für eine eigene extremistische Zielsetzung angekreidet. 34 Eine solche gebietsbezogene Wahlabsprache lässt jedoch nicht den Schluss zu, dass die P-Partei damit die Ziele der X-Partei fördern will. 35 Sie ist vielmehr dadurch motiviert, das 5-%-Quorum zu erreichen. Der Kandidaturverzicht in einigen Gebieten dient nicht der Förderung der X-Partei, sondern dazu, diese zum gegenseitigen Kandidaturverzicht zugunsten der P-Partei zu bewegen und somit die eigenen Chancen zu fördern. Auch der Umstand, dass die Parteien ein sich überschneidendes Wählerpotential ansprechen und dass die P-Partei sich dort, wo sie antritt, auch um die von den extremistischen Zielen der X-Partei überzeugten Wähler bemüht, lässt nicht auf extremistische Ziele der P-Partei schließen. Auch etablierte Parteien werben um die Stimmen extremistischer Wähler, was völlig unbedenklich ist, solange diesen nicht in Aussicht gestellt wird, auf ihre extremistischen Ziele hin einzuschwenken, sondern man sie für eine nichtextremistische Politik gewinnen will. Problematischer sind gemeinsame Wahlvorschläge. Gibt eine Partei Kandidaten einer extremistischen Partei die Möglichkeit zur Kandidatur auf der eigenen Liste (Kandidaten der DKP auf Listen der PDS 36 ), kann darin eine Unterstützung – auch – der extremistischen Zielsetzung der betreffenden Kandidaten ___________ 33 34 35 36

BVerwGE 114, 258 (270). Vgl. z. B. VSB BW 1998, 21, 61; VSB BW 1999, 47. BVerwGE 114, 258 (269 f.). Vgl. z. B. VSB Bay 2005, S. 182; VSB BW 2005, S. 192; VSB SH 2003, S. 45.

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gesehen werden. 37 Allerdings ist das nicht immer zwingend so. Bei einem Geschäft auf Gegenseitigkeit im Rahmen einer gebietsbezogenen Wahlabsprache (im Land A kandidiert die Partei P, im Land B die extremistische Partei X, beide lassen jeweils Kandidaten der anderen Partei auf ihren Listen zu), kann dies auch allein durch den Willen motiviert sein, eigene Kandidaten in die Parlamente zu bringen. Die P-Partei müsste sich dann von den extremistischen Zielen der X-Partei klar abgrenzen, was in einem gemeinsamen Wahlkampf schwer möglich ist. Ein Schluss auf eine extremistische Zielsetzung der P-Partei kommt auch in Betracht, wenn sie (dort, wo sie selbst nicht zur Wahl antritt) ihre Anhänger und Wähler aufruft, die X-Partei zu wählen. Ein Wahlaufruf dürfte regelmäßig als Förderung der Ziele derjenigen Partei zu verstehen sein, zu deren Wahl aufgerufen wird. Dennoch ist auch hier Vorsicht geboten. Im Falle einer gebietsbezogenen Wahlabsprache könnte ein wechselseitiges Versprechen, die jeweils eigenen Anhänger zur Wahl der anderen Partei aufzurufen, allein dadurch motiviert sein, dass im Hinblick auf den zu eigenen Gunsten zu erwartenden Wahlaufruf des Absprachepartners die eigenen Chancen erhöht werden. In solchen Fällen dürfte es darauf ankommen, wie der Wahlaufruf öffentlich begründet wird. Unabhängig von Wahlabsprachen gegebene Wahlempfehlungen zugunsten einer extremistischen Partei können regelmäßig als Anhaltspunkte dafür gewertet werden, dass der Empfehlende auch die extremistische Zielsetzung dieser Partei unterstützt. Denkbar ist aber auch, dass eine Wahlempfehlung ausgesprochen wird, ohne dass damit die Unterstützung extremistischer Ziele zum Ausdruck gebracht wird, etwa wenn eine linksextremistische Partei nach Auffassung des Empfehlenden die einzige zur Wahl antretende Partei ist, die sich konsequent gegen Militärinterventionen in anderen Ländern ausspricht und die Wahlempfehlung damit begründet wird, dass ein Wahlerfolg dieser Partei Druck auf die etablierten Parteien erzeugen würde, Bundeswehreinsätze im Ausland zu unterlassen. Es kommt also darauf an, ob ein begrenzter – verfassungskonformer – Zweck der Wahlempfehlung klar zum Ausdruck gebracht wird. Die Funktionalisierung einer extremistischen Partei als Protestpartei ist nicht Ausdruck einer extremistischen Zielsetzung, sofern sich der Protest nicht gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, sondern nur gegen eine bestimmte Politik richtet.

___________ 37 Vgl. OVG Koblenz, 22.06.1999, AS RP-SL 27, 382 = NVwZ-RR 1999, 705 = DVBl. 1999, 1751.

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c) Zwischenergebnis Wir können somit festhalten: Als Beleg für extremistische Bestrebungen des Betreffenden können Kontakte zu Extremisten auf der Grundlage der in den Verfassungsschutzgesetzen enthaltenen Ermächtigungsgrundlagen nur dann in Verfassungsschutzberichten dargestellt werden, wenn in diesen Kontakten zum Ausdruck kommt, dass der Betreffende die extremistische Zielsetzung der Organisation, mit der er in Kontakt tritt, unterstützt. Dies ist zum Beispiel bei einer Wahlempfehlung zugunsten einer extremistischen Partei der Fall (sofern sich nicht aus der Begründung der Empfehlung eine nicht die extremistischen Ziele umfassende Zwecksetzung der Empfehlung ergibt) oder bei Teilnahme an einer (von Extremisten veranstalteten) Demonstration, die verfassungsfeindliche Ziele propagiert. Kontakte zu oder Zusammenarbeit mit Extremisten lassen aber nicht bereits als solche – unabhängig von ihrem Inhalt und ihren Zwecken – darauf schließen, dass der Zusammenarbeitende die verfassungsfeindlichen Ziele der Extremisten unterstützt.

3. Selbstständige Ausgrenzungsobliegenheit? a) Verpflichtung zur Ausgrenzung? Somit könnte es nur dann berechtigt sein, unabhängig von Inhalt und Zwecksetzung Kontakte oder Zusammenarbeit mit Extremisten im Verfassungsschutzbericht zu rügen, wenn es eine rechtliche Verpflichtung gäbe, sich an der staatlichen Ausgrenzungspolitik zu beteiligen. Einigen Verfassungsschutzberichten liegt anscheinend die Ansicht zugrunde, eine solche Verpflichtung ergebe sich aus dem Grundgesetz; die aktive Mitwirkung an der Ausgrenzung von Extremisten sei staatsbürgerliche Pflicht. Anders lässt sich nicht erklären, dass die Unterlassung dieser Mitwirkung auch dann gerügt wird, wenn in ihr keine extremistische Zielsetzung zum Ausdruck kommt. Aus der fehlenden Unterstützung der Strategie, mit der die Verfassungsschutzbehörden den Extremismus bekämpfen wollen, wird aus dieser Sicht ein Angriff auf die Verfassung. Wer bei der Extremismusbekämpfung – und zwar beim Einsatz genau dieser Methode der Extremismusbekämpfung – nicht mitwirkt, ist selbst ein Extremist. Er ist nach dieser Auffassung auch dann Extremist, wenn er selbst keine extremistischen Ziele verfolgt. Er ist „Extremist durch Unterlassung“, nämlich dadurch, dass er es unterlässt, Extremisten in der vom Verfassungsschutz für richtig gehaltenen Weise auszugrenzen. Diese Auffassung ist mit dem Grundgesetz unvereinbar. Die freiheitliche Verfassung verpflichtet die Bürger keineswegs zur aktiven Extremismusbekämpfung, so dass ihnen die Nichtbeteiligung an der Erfüllung dieser staatlichen Aufgabe auch nicht als verfassungsfeindliches Verhalten angekreidet wer-

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den kann. Es mag sein, dass man aus der Entscheidung des Grundgesetzes für die „streitbare“ 38 beziehungsweise „wehrhafte Demokratie“ 39 (Art. 79 III, 21 II, 18, 9 II, 20 IV GG) die Erwartung ableiten kann, dass die Bürger sich für die Erhaltung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und somit gegen Verfassungsfeinde aktiv engagieren. Eine solche „Verfassungserwartung“ aber mit einer Rechtspflicht oder einer rechtlichen Obliegenheit gleichzusetzen, deren Verletzung im Verfassungsschutzbericht angeprangert werden darf, ist ein Missverständnis, das den freiheitlichen Charakter der Verfassung völlig verkennt. Dieses Missverständnis aber liegt anscheinend der verfassungsschutzbehördlichen Wertung der Nichtausgrenzung als Anhaltspunkt für extremistische Bestrebungen zugrunde. Daher scheinen einige Bemerkungen zum Verhältnis von Verfassungserwartungen und Rechtspflichten oder rechtlichen Obliegenheiten in diesem Zusammenhang angebracht.

b) Verfassungsengagement als Verfassungserwartung Kann, ja muss nicht der freiheitliche Staat von seinen Bürgern erwarten, dass sie seine Verfassungsordnung bejahen und sich für ihre Verteidigung gegen verfassungsfeindliche Bestrebungen einsetzen? Wäre nicht der freiheitliche demokratische Rechtsstaat auf die Dauer zum Untergang verurteilt, wenn die große Mehrzahl der Bürger ihm feindselig oder gleichgültig gegenüberstünde und die politische Agitation verfassungsfeindlicher Kräfte stillschweigend und achselzuckend hinnähme? Es spricht viel dafür, dass diese Fragen zu bejahen sind. Gerade freiheitliche politische Systeme sind in vielfältiger Weise auf Unterstützung ihrer Bürger angewiesen. Die freiheitlichen Institutionen sind auf Mitwirkung der Bürger angelegt. Sie können nur funktionieren, wenn die Bürger von den Mitwirkungsangeboten auch Gebrauch machen. Ein parlamentarisches Regierungssystem kann nur funktionieren, wenn sich genügend Bürger in Parteien engagieren, sich zur Wahl stellen und als Wähler an den Wahlen beteiligen. Es setzt voraus, dass die Bürger sich jedenfalls ein Mindestmaß an politischen Informationen verschaffen, die sie zu sinnvollen Wahlentscheidungen erst in die Lage versetzen. Voraussetzung der Demokratie ist auch eine freie Presse. Das Grundgesetz garantiert die Pressefreiheit, organisiert aber nicht die Presse, sondern setzt voraus, dass es Unternehmer gibt, die von der Pressefreiheit Gebrauch machen und Zeitungen auf den Markt bringen. Und wenn die politische Willensbildung, wie das Grundgesetz es vorsieht, vom Volke ausgehen ___________ 38 39

Vgl. z. B. BVerfGE 25, 44 (58); 30, 1 (19, 21); 39, 334 (369, 383), 40 (287 (291). Vgl. z. B. BVerfGE 39, 334 (349, 369); 111, 147 (158).

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soll, dann setzt dies voraus, dass die Meinungsfreiheit nicht nur garantiert ist, sondern dass die Menschen von dieser Freiheit auch tatsächlich Gebrauch machen. Dies sind nur einige Beispiele für sogenannte „Verfassungserwartungen“. 40 Die Verfassung „erwartet“ von den Bürgern, dass sie sich in bestimmter Weise verhalten, wenn diese Verhaltensweisen Funktionsbedingungen von Verfassungsinstitutionen sind. Wenn eine Verfassung sich als „streitbare“ beziehungsweise „wehrhafte Demokratie“ gegen die Beseitigung ihrer zentralen Prinzipien schützt und sogar ein – als „Widerstandsrecht“ bezeichnetes – Staatsnothilferecht zur Verteidigung dieser Prinzipien garantiert (Art. 20 IV GG), wird man daher auch davon ausgehen können, dass sie von ihren Bürgern die Bereitschaft erwartet, die freiheitliche demokratische Grundordnung gegen verfassungsfeindliche Bestrebungen in Schutz zu nehmen und Verfassungsfeinde nicht nur nicht zu unterstützen, sondern ihnen aktiv entgegenzutreten.41

c) Zur Unterscheidung von Verfassungserwartungen und Rechtspflichten Solche „Verfassungserwartungen“, die der Staat insbesondere an die Gewährleistung der Grundrechte knüpft, haben nur beschreibenden, nicht normativen Charakter. Die Freiheitlichkeit der Verfassungsordnung zeichnet es gerade aus, dass es sich lediglich um politische Erwartungen handelt, nicht um Rechtspflichten und auch nicht um Obliegenheiten. 42 Der freiheitliche Staat vertraut darauf, dass die Bürger im Großen und Ganzen – ob aus Verantwortung für das Gemeinwesen oder aus Eigeninteresse – gemeinwohldienlich handeln, ohne dazu gezwungen werden zu müssen. 43 Gerade auch hierdurch unterscheidet sich der freiheitliche Rechtsstaat von einem totalitären System. Während etwa in der sozialistischen DDR die Bürger verpflichtet waren, von ihrer Meinungsfreiheit im Sinne des Aufbaus des Sozialismus Gebrauch zu machen (so dass Kritik an der Politik der SED geradezu gegen die Meinungsfreiheit ___________ 40 Zu diesem Begriff umfassend Isensee, J., Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen, in: HStR V, 2. Aufl. 2000, § 115. 41 Vgl. etwa BVerfGE 28, 36 (48); Sondervotum Simon, in: BVerfGE 63, 266 (310). Allerdings erwartet die Verfassung nicht, dass die Bürger sich gerade an der Strategie beteiligen, die von den Verfassungsschutzbehörden für richtig gehalten wird. Dies anzunehmen, ist absurd. Verfassungsschutzbehörden, die dies tun, verwechseln ihre eigenen Erwartungen mit denen der Verfassung. 42 Vgl. Isensee (Fn. 40), Rn. 3, 163 ff., 183, 195, 223 ff., 233; speziell gegen die Annahme einer rechtlich verpflichtenden Erwartung der Verfassungstreue Klein, H. H., Verfassungstreue und Schutz der Verfassung, in: VVDStRL 37, 53 (80 f.). 43 Vgl. Isensee (Fn. 40), Rn. 223 ff., 233.

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verstieß), 44 mag die freiheitliche Demokratie von ihren Bürgern „erwarten“, dass diese sich für ihren freiheitlich verfassten Staat engagieren und ihre Meinungsfreiheit dazu gebrauchen, verfassungsfeindlichen Bestrebungen entgegenzutreten. Verpflichten darf der Staat sie aber nicht, sonst gäbe er seine Freiheitlichkeit auf. 45 Dabei spielt es keine Rolle, ob eine unmittelbare Rechtspflicht begründet oder das erwünschte Verhalten nur mittelbar – durch Sanktionierung seiner Unterlassung (also durch eine Obliegenheit) – erzwungen wird. Verfassungserwartungen machen deutlich, wovon das Funktionieren des freiheitlichen Staates abhängt. Sie leiten dazu an, mit geeigneten, freiheitskompatiblen Mitteln – etwa im Schulunterricht – darauf hinzuwirken, dass diese faktischen Voraussetzungen und Funktionsbedingungen der freiheitlichen Demokratie erhalten bleiben. 46 Mit den Grundrechten unvereinbar wäre es jedoch, die Verfassungserwartungen in Rechtspflichten oder in rechtliche Obliegenheiten umzuformen. Dies kommt nur in einzelnen Hinsichten und unter genau bestimmten gesetzlichen Voraussetzungen in Betracht. Eine umfassende Sanktionierung der Nichterfüllung von Verfassungserwartungen würde aus der freiheitlichen Demokratie tendenziell eine totalitäre Demokratie machen. Die individuelle Freiheit würde zur staatsunterstützenden Verpflichtung umgefälscht.

d) Inhalt der Verfassungserwartung Die Erwartung der Verfassung, dass die Bürger sich für die Aufrechterhaltung des Staates und seiner freiheitlichen demokratischen Grundordnung engagieren, ist also eine politische Erwartung, nicht eine rechtliche, mit hoheitlichen Maßnahmen durchsetzbare Verpflichtung. 47 Freilich gehört es zu den Aufgaben der Staatsorgane, im Rahmen ihrer Kompetenzen den Bürgern zu verdeutlichen, was die Verfassung von ihnen erwartet, beispielsweise indem sie zur Wahlteilnahme aufrufen. Daher gehört die Ermunterung und Ermutigung zum Engagement gegen Extremismus zur „Staats-“ und „Verfassungspflege“. 48 ___________ 44 Vgl. z. B. Sorgenicht, K. u. a. (Hrsg.), Verfassung der DDR. Dokumente. Kommentar, Bd. II, 1969, S. 13 f.; Staatsrecht der DDR, 2. Aufl. 1984, S. 180, 184 ff., 189, 193 ff., insb. 194; dazu z. B. Brunner, G., Einführung in das Recht der DDR, 2. Aufl. 1979, S. 87; Mampel, S., Die sozialistische Verfassung der DDR, 3. Aufl. 1997, Art. 27 Rn. 6 ff. 45 Vgl. BVerfG, 24.3.2001, NJW 2001, 2069 (2070). 46 Vgl. Isensee (Fn. 40), Rn. 262 ff.; Klein, H.H. (Fn. 42), S. 107. 47 Wenn es schon keine Bürgerpflicht zur Verfassungstreue gibt – zutreffend Klein, H. H. (Fn. 42), S. 80 f. –, dann erst recht nicht zur Bekämpfung von Verfassungsfeinden. 48 Zu diesen Aufgaben vgl. Murswiek, D., Verfassungsfragen der staatlichen Selbstdarstellung. Anmerkungen zur Staatspflege und zur staatlichen Selbstdarstellung im demokratischen Verfassungsstaat, in: Festschrift für H. Quaritsch, 2000, S. 307 (309 ff.) m. w. N.

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Dabei ist allerdings zu beachten, dass die Verfassung keine bestimmte Methode der Extremismusbekämpfung vorgibt. Die Ausgrenzungsstrategie ist eine mögliche, aber nicht die einzige in Betracht kommende Strategie. Sie hat sich über viele Jahre als erfolgreich erwiesen, aber sie muss nicht in allen politischen Lagen die richtige Strategie sein. Sie kann zur Radikalisierung der ausgegrenzten Gruppen beitragen 49 und jedenfalls dann, wenn die Unzufriedenheit mit den etablierten Parteien hinreichend groß ist und das Potential für Protestparteien wächst, die Problematik verschärfen, statt sie zu lösen. Zumindest dort, wo in einer ausgegrenzten Gruppe nicht nur extremistische, sondern auch verfassungskonform arbeitende Strömungen mitwirken, ist die Ausgrenzung problematisch, weil sie tendenziell dazu führt, die verfassungstreuen Mitglieder hinauszudrängen und den Einfluss von Desperados zu erhöhen, während die Nichtausgrenzung die verfassungskonformen Kräfte stärkt. 50 Zudem birgt die Ausgrenzungsstrategie Missbrauchsgefahren, weil sie die etablierten Parteien dazu verführen kann, sich mit ihrer Hilfe – durch unberechtigte ExtremismusVorwürfe – gegen unliebsame Konkurrenz abzuschirmen. Andere Methoden und Strategien der Bekämpfung des Extremismus erscheinen manchen deshalb vorzugswürdig. Wer auf geistige Auseinandersetzung, Überzeugung und Inte gration statt auf Ausgrenzung setzt, mag in manchen Fällen naiv, vielleicht politisch dumm sein. Aber er ist weder Extremist, noch enttäuscht er die Verfassungserwartung des Verfassungsengagements. Und in manchen Situationen ist er wohl klüger als die dogmatischen Ausgrenzer.

e) Inkonsistente Praxis? In der Praxis zieht der Verfassungsschutz übrigens keinesfalls immer aus der Nichtbeteiligung an der Ausgrenzungsstrategie den Schluss, dass dies ein extremistisches Verhalten sei. Es gibt Organisationen, denen er sogar ausdrücklich bescheinigt, nicht extremistisch zu sein, obwohl sie Extremisten nicht ausgrenzen, sondern mit ihnen zusammenarbeiten oder sie sogar innerhalb der eigenen Organisation mitarbeiten lassen, beispielsweise Attac, die Netzwerkorganisation der Globalisierungsgegner. 51 Als Anhaltspunkt für extremistische Bestrebungen wird die Nichtausgrenzung von Extremisten, soweit ich sehe, nur dort (und auch dort nur selektiv) verwendet, wo die Verfassungsschutzbehörde neben der Nichtausgrenzung auch andere Anhaltspunkte für extremistische ___________ 49

Gusy, Ch., Die „freiheitliche demokratische Grundordnung“ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: AöR, Bd. 105 (1980), S. 279 (303 f.). 50 Vgl. Backes, U. / Jesse, E., Streitbare Demokratie in der Krise?, in: Jb. Extremismus und Demokratie 8 (1996), S. 13 (18). 51 Vgl. z. B. VSB BW 2002, S. 119 f. (allerdings mit Kritik an der Nichtausgrenzung); 2003, S. 240 f.; VSB SH 2001, S. 58 f.

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Bestrebungen meint erkennen zu können. Diese Praxis kann nicht per se als inkonsistent angesehen werden. Denn eine Organisation darf im Verfassungsschutzbericht nicht schon dann als extremistisch oder als unter dem Verdacht des Extremismus stehend eingestuft werden, wenn lediglich einzelne Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie verfassungsfeindliche Bestrebungen verfolgt. Voraussetzung ist vielmehr, dass die vorhandenen Anhaltspunkte so gewichtig sind, dass nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz der schwerwiegende Grundrechtseingriff, den die Anprangerung als „extremistisch“ im Verfassungsschutzbericht darstellt, gerechtfertigt werden kann. 52 Dies ist regelmäßig bei nur punktueller Zusammenarbeit von ansonsten „demokratischen“ Politikern oder Organisationen mit Verfassungsfeinden nicht Fall, so dass unter der Prämisse, dass es richtig wäre, die Nichtausgrenzung als Anhaltspunkt für eine verfassungsfeindliche Bestrebung zu werten, die praktizierte Differenzierung in manchen Fällen berechtigt wäre. Unter dieser Prämisse müsste also – konsequent argumentiert – auch die Nichtausgrenzung von Extremisten durch „demokratische“ Politiker oder Organisationen als Anhaltspunkt für verfassungsfeindliche Bestrebungen betrachtet werden, nur dass dieser Anhaltspunkt für sich genommen nicht hinreichend gewichtig ist, darüber im Verfassungsschutzbericht zu berichten. Nicht möglich ist hingegen die Argumentation, wenn „demokratische“ Politiker oder Organisationen sich an der Ausgrenzung nicht beteiligen, sei das kein Anhaltspunkt für eine extremistische Bestrebung, während das gleiche Verhalten von Politikern oder Organisationen, bezüglich derer es auch andere Anhaltspunkte dafür gibt, dass sie verfassungsfeindliche Bestrebungen verfolgen, als (zusätzlicher) Anhaltspunkt gewertet werden könne. Mag also die Praxis der Verfassungsschutzberichte insoweit noch konsistent sein – die in der Politik und den Massenmedien geübte Praxis, einigen Parteien die Zusammenarbeit mit wirklichen oder angeblichen Extremisten zum Vorwurf zu machen und anderen nicht, ist Ausdruck doppelter Moral und politischer Instrumentalisierung des Verfassungsschutzgedankens. Dass die Ausgrenzung heute de facto stärker nach rechts als nach links praktiziert wird, lässt sich daran ablesen, dass sie auf der Rechten mit aller Schärfe eine Partei erfasst, die zwar in den meisten Verfassungsschutzberichten erwähnt wird, von der das Bundesverwaltungsgericht aber gesagt hat, dass eine verfassungsfeind___________ 52 BVerfGE 113, 63 (81). Nach der von mir vertretenen Auffassung reicht der (auf Anhaltspunkte gestützte) Verdacht selbst dann nicht aus, eine Berichterstattung im Verfassungsschutzbericht zu rechtfertigen, wenn eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür spricht, dass er zutrifft; Voraussetzung der Berichterstattung ist vielmehr, dass der Nachweis des Vorliegens einer verfassungsfeindlichen Bestrebung geführt wird, Murswiek (Fn. 2), S. 774 ff.; ebenso OVG Berlin-Brandenburg, 06.04.2006, NVwZ 2006, 838 (839).

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liche Zielsetzung nicht nachgewiesen sei, 53 während die ebenfalls in den meisten Verfassungsschutzberichten erwähnte „Linkspartei“ / PDS 54 nicht nur von den Massenmedien nicht ausgegrenzt wird, sondern von der SPD in verschiedenen Ländern sogar an der Regierung beteiligt wird, ohne dass dies auf Empörung oder auch nur auf nachhaltige Kritik stößt.

IV. Verdachtsberichterstattung: Verschärfung des Problems Wie gezeigt, ist die Praxis der Verfassungsschutzbehörden, die Nichtbeteiligung an der staatlichen Ausgrenzungsstrategie im Verfassungsschutzbericht zu rügen und als Anhaltspunkt für extremistische Bestrebungen des sich dem Ausgrenzungsansinnen Verweigernden zu bewerten, rechtswidrig. Die Auswirkungen dieser rechtswidrigen hoheitlichen Einwirkung auf das politische Handeln werden dadurch dramatisch verschärft, dass nicht nur Kontakte zu tatsächlichen Extremisten mit der Sanktion der Erwähnung im Verfassungsschutzbericht belegt werden, sondern auch Kontakte zu Organisationen, die der Verfassungsschutz extremistischer Bestrebungen nur verdächtigt. Das ist eine Konsequenz der Verdachtsberichterstattung: In den Verfassungsschutzberichten wird nicht nur über nachweislich extremistische, sondern auch über (aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte) einer extremistischen Zielsetzung lediglich verdächtigte Organisationen berichtet. 55 Das Ausgrenzungsansinnen bezieht sich auf alle Organisationen, über die im Verfassungsschutzbericht berichtet wird. Dies hat zum Beispiel dazu geführt, dass eine Zeitung unter anderem deshalb in Verfassungsschutzberichten einer extremistischen Zielsetzung verdächtigt wurde, weil sie Inserate der „Republi___________ 53

„Die Republikaner“, dazu BVerwGE 114, 258 ff.; das OVG Berlin-Brandenburg, 06.04.2006, NVwZ 2006, 838 (841 ff.), hat entschieden, dass mangels nachgewiesener Verfassungsfeindlichkeit die Erwähnung der REP im VSB des Landes Berlin rechtswidrig war. – In den nach Abschluss des Manuskripts publizierten Verfassungsschutzberichten 2006 des Bundes und der meisten Länder sind „Die Republikaner“ nicht mehr Berichtsobjekt. 54 Vgl. z. B. VSB 2004, S. 144 ff.; 2005 (Vorabfassung), S. 159 ff.; VSB BW 2004, S. 187 ff.; 2005 (Presse), S. 186 ff.; VSB Bre 2004, S. 34 ff.; VSB Hbg 2004, S. 113 ff.; VSB He 2004, S. 90 ff.; VSB Nds 2004, S. 92 ff.; VSB NRW 2004 (Presse), S. 77 ff.; 2005 (Presse), S. 58 ff.; VSB RPf 2004, S. 56 ff.; beschränkt auf Gruppierungen innerhalb der PDS: VSB Sachsen 2005, S. 63 ff. 55 Die Verdachtsberichterstattung ist weder von den Ermächtigungsgrundlagen der Verfassungsschutzgesetze gedeckt noch mit dem Grundgesetz vereinbar, vgl. Murswiek (Fn. 2), S. 774 ff. Das BVerfG hat leider das verfassungsrechtliche Problem nicht gesehen und sie ohne Begründung für verfassungsrechtlich unbedenklich erklärt, BVerfGE 113, 63 (80 f.). Für Berlin hat das OVG Berlin-Brandenburg, 06.04.2006, NVwZ 2006, 838 (839), die Verdachtsberichterstattung verboten.

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Dietrich Murswiek

kaner“ 56 oder Interviews mit deren Vorsitzendem 57 veröffentlichte und weil sie in ihrer Berichterstattung diese Partei nicht als „extremistisch“ bezeichnete. 58 Ihr wurde also als eigenes extremistisches Verhalten vorgeworfen, dass sie die Wertungen des Verfassungsschutzes nicht – bis in die Wortwahl hinein – übernahm und die „Republikaner“ nicht ausgrenzte, obwohl schon nach den Darstellungen der Verfassungsschutzberichte die Verfassungsfeindlichkeit dieser Partei nicht erwiesen ist und ein Verdacht – sonst wäre er keiner – immer auch unbegründet sein kann. Der Verfassungsschutz bekämpft also Organisationen, für die er lediglich „Anhaltspunkte“ dafür hat, dass sie verfassungsfeindliche Bestrebungen verfolgen, genauso wie erwiesene Verfassungsfeinde, und er setzt sein Sanktionsinstrumentarium auch gegen diejenigen ein, die sich – weil sie den Verdacht nicht teilen – an der Ausgrenzung dieser des Extremismus lediglich verdächtigten Organisationen nicht beteiligen. Schon die erste Stufe – die Bekämpfung auf Verdacht hin – ist rechtsstaatswidrig. Die zweite Stufe, die Verdächtigung und Bekämpfung auch desjenigen, der den auf der ersten Stufe Verdächtigten nicht ausgrenzt, ist noch schlimmer. Konsequent weitergedacht, muss jetzt auch der auf der zweiten Stufe Verdächtigte ausgegrenzt werden, und wer das nicht tut, gilt wiederum als ausgrenzungsbedürftiger Extremist. So lassen sich Kaskaden des Verdachts konstruieren. 59 Die Verteidigung der Verfassung führt sich dann selbst ad absurdum.

___________ 56

Vgl. z. B. VSB NW 1999, S. 96; 2002, S. 100. Vgl. z. B. VSB NW 1999, S. 96; 2002, S. 100. 58 Vgl. z. B. VSB NW 2001, S. 128. 59 Ein Beispiel für eine absurde Verdachtskaskade: Ein rechtsextremistischer Liedermacher wird von einer Organisation („Die Deutschen Konservativen“) eingeladen, um bei einer Versammlung mit den Teilnehmern deutsche Volkslieder zu singen. Damit macht diese Organisation sich wegen Nichtausgrenzung des Extremismus verdächtig, obwohl sie dem Sänger nicht etwa Gelegenheit gibt, auf der Versammlung extremistische Ansichten zu äußern oder Lieder mit extremistischem Inhalt zu singen – erste Stufe. Der Ehrenpräsident dieser Organisation, ein bekannter CDU-Politiker, wird kraft dieses Amtes vom Verfassungsschutz als „mitverantwortlich“ für den Sänger-Auftritt bezeichnet; anscheinend gilt auch er deshalb als Extremismus-verdächtig – zweite Stufe. Der Ehrenpräsident ist auch Kolumnist einer Wochenzeitung. Somit ergibt sich aus dem Sängerauftritt bei den „Deutschen Konservativen“ ein Anhaltspunkt dafür, dass diese Zeitung extremistische Ziele verfolgt – und zwar ein so gravierender Anhaltspunkt, dass darüber im Verfassungsschutzbericht berichtet wird – dritte Stufe, vgl. VSB NW 2002, S. 99. Begründung: Ein ständiger Mitarbeiter der Zeitung (eben dieser Ehrenpräsident) arbeite mit einem erwiesenen Rechtsextremisten (dem Sänger) zusammen, ebd. S. 98 i. V. m. S. 99. 57

Verfassungsschutz-Mitarbeit als staatsbürgerliche Obliegenheit?

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V. Schlussbemerkung Die freiheitliche Demokratie bedarf des Schutzes gegen Verfassungsfeinde. Sie braucht einen rechtsstaatlichen Verfassungsschutz. „Verfassungsschützerische“ Maßnahmen, die mit rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbar sind, schützen aber nicht die Verfassung, sondern schaden ihr. Die hoheitliche Bekämpfung von Organisationen auf Verdacht hin ist mit dem Rechtsstaat ebenso unvereinbar wie die indirekte Inpflichtnahme der Bürger für Bekämpfungsmaßnahmen ohne gesetzliche Grundlage sowie die öffentliche Inkriminierung bloßer Kontakte zu Extremisten als angeblich extremistische Verhaltensweise.60 Im Übrigen gilt auch hier, was Simon über den Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung schon in anderem Zusammenhang gesagt hat: „Je perfekter der Schutz ist, je ungeeigneter oder übereifriger die damit betrauten Organe sind und je weiter die Maßnahmen indirekt über den Kreis der eigentlich Gemeinten hinauswirken und Duckmäusertum erzeugen, desto mehr wächst die Gefahr, dass das Schutzobjekt seinerseits verändert oder erstickt wird und die freiheitliche Demokratie an Überlegenheit und Leuchtkraft verliert.“61

___________ 60

Die Schlussfolgerung, wer Kontakt zu Extremisten habe, sei selbst ein Extremist, hat übrigens eine Struktur, die historisch immer wieder aufgetreten ist, insbesondere dort, wo sich wahnhafte Verfolgung breit gemacht hat, von der Inquisition bis zur McCarthy-Ära, wie folgendes Zitat veranschaulichen mag: „Hat sie mit Hexen gearbeitet? Hat sie mit anderen Besessenen ihr Süppchen gekocht und das Tanzbein geschwungen? Das war die entscheidende Frage an die der Hexerei verdächtige Frau. […] Wer den Umgang mit Hexen zugeben musste, gestand, selbst eine Hexe zu sein.“, Patrick Bahners, FAZ v. 08.12.2006, S. 37. 61 Sondervotum in BVerfGE 63, 266 (310).

VI. Wirtschafts- und Währungsrecht

Rechnungsprüfung im Ausland – ein Grenzproblem des Staatsrechts* Josef Isensee

Zum Andenken an Dieter Blumenwitz, der in seiner wissenschaftlichen Arbeit sich zu einem bedeutenden Teil Themen im Grenz- und Überschneidungsbereich von Staatsrecht und Völkerrecht gewidmet hat.

I. Generalauftrag zu umfassender Rechnungsprüfung Als Kaiserin Maria Theresia im Jahre 1761 die Rechen-Cammer gründete – den Vorläufer der heutigen Rechnungshöfe Österreichs, Ungarns und der anderen Nachfolgestaaten des Habsburgerreiches –, gab sie ihr den Auftrag auf den Weg, „die Bemängelung aller Rechnungen zu besorgen und zugleich alle im Finanz-Wesen, besonders aber bei der Ausgab wahrnehmende Gebrechen anzuzeigen“. 1 Was die Kaiserin in einem Handschreiben verfügte, findet sich heute sinngemäß wieder in Verfassungs- und Gesetzestexten aller Welt, welche die Aufgaben ihrer Obersten Rechnungskontrollbehören umschreiben. Gemäß dem Bundes-Verfassungsgesetz der Republik Österreich und ihrem Rechnungshofgesetz hat der Rechnungshof die „gesamte Staatswirtschaft“ zu überprüfen. 2 Desgleichen obliegt in Deutschland den Rechnungshöfen des Bundes und der Länder die Aufgabe, „die gesamte Haushalts- und Wirtschaftsprüfung ___________ * Nukleus der vorliegenden Studie ist der Vortrag, den der Verf. vor dem Symposion der Internationalen Organisation der Obersten Rechnungskontrollbehörden (INTOSAI) am 20.06.2006 in Wien gehalten hat. 1 Handschreiben der Kaiserin Maria Theresia vom 23.12.1761 an Ludwig Graf Zinzendorf, Faksimile und Transkription, in: Präsidium des Rechnungshofes (Hrsg.), 200 Jahre Rechnungshof, Wien 1961, S. 117. Zu Entstehung und Entwicklung der Finanzkontrolle in Österreich Hengstschläger, Johannes, Der Rechnungshof, 1982, S. 17 ff. 2 „Der Rechnungshof hat die gesamte Staatswirtschaft des Bundes, ferner die Gebarung von Stiftungen, Fonds und Anstalten zu überprüfen, die von Organisationen des Bundes oder von Personen (Personengemeinschaften) verwaltet werden, die hierzu von Organen des Bundes bestellt sind“ (Art. 126 b Abs. 1 Bundes-Verfassungsgesetz in der Fassung von 1929). Zur Reichweite der Kontrollkompetenz Hengstschläger (Fn. 1), S. 172 ff. m. w. N.; Korinek, Karl, in: ders. / Holoubek, Michael (Hrsg.), Österreichisches Bundesverfassungsrecht, Stand 2001, Art. 121/1 B-VG, Rn. 20.

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des Bundes und der Länder einschließlich ihrer Sondervermögen und Betriebe“ zu kontrollieren. 3 Die Formulierung steht zwar nur im einfachen Gesetz. Dieses aber interpretiert zutreffend die Intention der Verfassung. 4 Hinter allen positivrechtlichen Regelungen steht der Leitgedanke, dass die Staatsorgane nicht die Herren der öffentlichen Finanzen sind, sondern lediglich die Treuhänder des Volkes, die sie in seinen Diensten und in seinem Interesse haushälterisch zu verwalten haben und ihm Rechenschaft schulden. 5 Zur Absicherung der treuhänderischen Pflichten ist Finanzkontrolle geboten, und zwar in ihren zwei Erscheinungen: als Selbstkontrolle der Exekutive und als Außenkontrolle durch einen unabhängigen Rechnungshof. Was immer sich in den zweieinhalb Jahrhunderten seit dem Handschreiben der Kaiserin verändert hat: geblieben ist der Generalauftrag 6 zur Überprüfung aller Rechnungen und der Anzeige aller Gebrechen, wenn das geltende Recht die gesamte Staatswirtschaft, in ihr die gesamte Ausgaben- und Einnahmegebarung des Bundes, der Rechnungsprüfung unterstellt. Der Rechnungshof hat die Kompetenz zu flächendeckender Kontrolle. Sein „Generalauftrag“ duldet keine kontrollfreien Reservate. 7 Dieses Prinzip macht sich die Weltorganisation der ___________ 3

§ 42 Abs. 1 HGrG. Entsprechend für den Bundesrechnungshof § 88 Abs. 1 BHO. – Dazu Haverkate, Görg, Prüfungsfreie Räume, in: Zavelberg, Heinz-Günter (Hrsg.), Die Kontrolle der Staatsfinanzen, 1989, S. 197 ff. 4 Das ergibt sich nicht nur aus dem Auftrag des Art. 114 Abs. 2 S. 3 GG, dass im Übrigen die Befugnisse des Bundesrechnungshofes geregelt werden, sondern auch und vornehmlich aus dem verfassungsrechtlich umschriebenen Umfang der Rechnungslegung, die dem Bundesfinanzminister obliegt: sie ergeht „über alle Einnahmen und Ausgaben sowie über das Vermögen und die Schulden“ (Art. 114 Abs. 1 GG). Die Rechnungsprüfung bleibt in ihrer Reichweite nicht hinter der Rechnungslegung zurück. – Die umfassende interne wie externe Finanzkontrolle entspricht dem Selbstverständnis aller Obersten Rechnungskontrollbehörden, die sich weltweit in INTOSAI (International Organization of Supreme Audit Institutions) organisiert haben. Ausdruck des Selbstverständnisses sind die Deklaration von Lima vom Oktober 1977 und die Wiener Erklärung vom Juni 2006 (Wiener Erklärung zum Internationalen Symposion über die Stärkung der weltweiten öffentlichen Finanzkontrolle vom Juni 2006 (Österreichischer Rechnungshof [Hrsg.], Reihe 2006/2, S. 25). 5 Die Deklaration von Lima (Fn. 4) stellt denn auch fest, dass die Institution der Kontrolle der öffentlichen Wirtschaft als einer treuhänderischen Verwaltung eigen ist („… as the management of public funds represents a trust“). Vgl. auch Wiener Erklärung (Fn. 4), Abschnitt 8. 6 Terminus: Mutius, Albert von, Kontrollbedarf und Instrumentarium der Rechnungshöfe in der dezentralisierten Statsorganisation, in: Böning, Wolfgang / Mutius, Albert von / Schlegelberger, Hartwig (Hrsg.), Finanzkontrolle im föderativen Staat, 1982, S. 26 (29, 38). Vgl. auch Hufeld, Ulrich, Der Bundesrechnungshof und andere Hilfsorgane des Bundestages, in: Isensee, Josef / Kirchhof, Paul (Hrsg.), HStR Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 56 Rn. 9. 7 Zum österreichischen Recht: Hengstschläger (Fn. 1), S. 172. Schäffer, Heinz, Kontrolle der Verwaltung durch Rechnungshöfe, in: VVDStRL 55 (1996), S. 278 (290); Korinek (Fn. 2), Rn. 20. – Zum deutschen Recht: Haverkate, Görg, Die Einheit der

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Obersten Rechnungskontrollbehörden (INTOSAI) zu eigen in ihrer Deklaration von Lima: „Die gesamte staatliche Gebarung, ungeachtet, ob und in welcher Weise sie im allgemeinen Staatsbudget ihren Niederschlag findet, unterliegt der Kontrolle der Obersten Rechnungskontrollbehörde. Eine Ausgliederung aus dem Staatsbudget darf nicht dazu führen, dass diese Teilbereiche der Kontrolle der Obersten Rechnungskontrollbehörden entzogen werden.“ 8 Aus dem Generalauftrag folgt freilich keine umfassende Kontrollpflicht, wohl aber ein umfassendes Kontrollrecht. 9 Auch wenn der Rechnungshof nach Stichprobentechnik verfährt, ist er virtuell in der gesamten Finanzwirtschaft präsent. Er hat überall ein Zutrittsrecht und, wo es sein muss, ein Zugriffsrecht. Zum Generalauftrag gehört die „Einschau an Ort und Stelle“. 10 Denn der Rechnungshof kann sich an seinem Amtssitz nicht durchwegs allein anhand der eingereichten Unterlagen ein klares und zuverlässiges Bild von den Vorgängen machen, die er zu prüfen hat, insbesondere darüber, ob die Exekutive den Geboten der ziffernmäßigen Richtigkeit, der Ordnungsmäßigkeit, der Wirtschaftlichkeit, Sparsamkeit und Zweckgerechtigkeit Genüge getan hat. Vielfach bedarf es des persönlichen Kontaktes zu den Beteiligten und des Augenscheins. Staatsrechtlich gesehen versteht sich diese Befugnis von selbst. 11

II. Kontrollfreie Räume im Ausland? Doch die Ausübung der Befugnis wird zum Problem, wenn Ort und Stelle im Ausland liegen, wenn die Ausgaben, etwa im Zuge der auswärtigen Kulturarbeit, der Entwicklungshilfe, der internationalen Katastrophenhilfe 12 erfolgen, ___________ Verwaltung als Rechtsproblem, in: VVDStRL 46 (1988), S. 217 (231); ders. (Fn. 3), S. 197 ff.; Krebs, Walter, Kontrolle in staatlichen Entscheidungsprozessen, 1984, S. 182; Kisker, Gunter, Staatshaushalt, in: Isensee, Josef / Kirchhof, Paul (Hrsg.), HStR Bd. IV, 1. Aufl. 1990 (2. Aufl. 1999), § 89 Rn. 117 ff.; Schulze-Fielitz, Helmuth, Kontrolle der Verwaltung durch Rechnungshöfe, in: VVDStRL 55 (1996), S. 231 (241 f.); Hufeld (Fn. 6), § 56 Rn. 9. Appell zur Vermeidung kontrollfreier Räume: Abschnitt 13 der Wiener Erklärung (Fn. 4). 8 Deklaration von Lima (Fn. 4), § 18 Nr. 3. 9 Hufeld (Fn. 6), § 56 Rn. 9. 10 Dazu Hengstschläger (Fn. 1), S. 265 ff. Vgl. auch Dreßler, Karl, Rechnungsprüfung im internationalen Vergleich, in: Schäfer, Friedrich (Hrsg.), Finanzwissenschaft und Finanzpolitik, 1964, S. 31 (34 f.). 11 Dazu Österr. VfGH Slg. 4106/1961; Hengstschläger (Fn. 1), S. 26 f. 12 Dazu Bericht des österreichischen Rechnungshofes (Hrsg.) vom Juni 2006 „Humanitäre Hilfe und Wiederaufbauhilfe nach der Flutkatastrophe in Südostasien“ (Reihe BUND 2006/6). Allgemein zur internationalen Katastrophenhilfe: Faßbender, Bardo, „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch?“ Die Internationalisierung von Risiken und die Entwicklung des völkerrechtlichen Katastrophenschutzrechts, in: KritV 88 (2005), S. 375 ff.

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wenn sie grenzüberschreitenden Projekten der Landschaftspflege, des Umweltschutzes, grenzüberschreitenden Verkehrswegen, Bauvorhaben im Ausland (unter der Regie des Partnerstaates) oder Lieferungen aus dem Ausland gewidmet sind. 13 Der Anteil der Staatsausgaben, die im Ausland getätigt werden, nimmt zu mit der internationalen Verflechtung und Solidarisierung der Staaten, 14 mit ihnen das Bedürfnis nach Finanzkontrolle im Ausland. Das Bedürfnis richtet sich sowohl auf die Eigenkontrolle der Exekutive als auch auf die Außenkontrolle durch den unabhängigen Rechnungshof. 15 Die Finanzkontrolle vermag nicht ohne Weiteres, dem Geldfluss über die Staatsgrenze hinweg auf ausländisches Territorium zu folgen, also in den Geltungsraum einer anderen Rechtsordnung und in den Hoheitsbereich eines anderen Staates einzudringen. 16 Der Geldfluss verliert sich leicht in undurchdringlichem Dunkel. Hier droht er zu versickern, da droht gefährlicher Stau.17 Die Finanzkontrolle stößt auf rechtliche wie praktische Hindernisse, wenn sie zuverlässige Informationen erlangen, wenn sie vor Ort recherchieren will. Die Risiken der Vertuschung und Täuschung auf der einen Seite sowie der Fehlbeurteilung auf der anderen nehmen in dem Maße zu, in dem die realen und die rechtlichen Verhältnisse im Geber- und im Nehmerland sich unterscheiden. Vollends werden die Erhebungen erschwert, wenn die Zuwendungen über mehrere Mittler geleitet werden, so dass sich eine Kette bildet von der karitativen Einrichtung im Inland über deren internationale Dachorganisation zu einer Einrichtung im Nehmerland und weiter zu der lokalen Stelle, die am Ende den Finanzierungszweck verwirklicht. Hier hat die Finanzkontrolle ihre Not, einen „lückenlosen Prüfungspfad“ 18 durch den Dschungel zu bahnen. Der Sachverhalt kompliziert sich darüber hinaus, wenn mehrere Staaten ihre Mittel für einen gemeinsamen Zweck vereinen, so dass der jeweilige Anteil des einzelnen Gebers sich nicht mehr gesondert erfassen lässt. Aus mehreren Gründen droht ___________ 13

Frühe Analyse der Probleme: Dreßler (Fn. 10), S. 32 ff. In diesem Kontext Blumenwitz, Dieter, Der grenzüberschreitende Regionalismus als mögliches Instrument der Konfliktentschärfung, in: Flämig, Christian (Hrsg.), Vielfalt des Wissenschaftsrechts. Gedächtnisschrift für Otto Kimminich, 1999, S. 1 ff. 15 Erstreckung des Generalauftrags auch auf das Ausland, Hengstschläger (Fn. 1), S. 172. 16 In mancher Hinsicht vergleichbar sind die Schwierigkeiten für den Fiskus, wenn er der Steuerflucht ins Ausland wehren und ausländische Steuersachverhalte erfassen will. Dazu Musil, Andreas, Spielräume des deutschen Gesetzgebers bei der Verhütung grenzüberschreitender Steuerumgehung, in: RIW 2006, S. 287 ff. 17 Zu den Problemen überbordender Hilfsbereitschaft öffentlicher und privater Hände nach der Tsunami-Katastrophe: Kleinhubbert, Guido, Groteskes Stück, in: Der Spiegel v. 23.12.2005, Heft 52, S. 64 f.; Bericht und Vorschläge des österreichischen Rechnungshofs (Fn. 12), S. 21 ff., 27 ff. 18 Terminus: Wiener Erklärung (Fn. 4), Abschnitt 13. 14

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also Gefahr, dass kontrollfreie Räume entstehen im Widerspruch zum Generalauftrag der Verfassung. Schwierigkeiten liegen nicht nur im Zugang zu den Fakten, sondern auch in ihrer angemessenen Beurteilung. Ausländische Vorgänge lassen sich nicht ohne Weiteres nach inländischen Kriterien beurteilen, soweit sie in einem völlig anderen rechtlichen, ökonomischen und kulturellen Kontext stehen und die organisatorischen, fachlichen und mentalen Voraussetzungen fehlen, auf denen das Haushaltsrecht des Geberlandes aufbaut. Die Maßstäbe im Ausland müssen sich mit denen im Inland nicht decken. Die Standards regulären Verwaltens sind nicht unbedingt kompatibel. Das Geberland darf bei ausländischen Zuwendungsempfängern nicht ohne Weiteres davon ausgehen, dass sie seinen Ansprüchen an die Effizienz der Verwaltung und an das Ethos uneigennütziger Amtsführung tatsächlich genügen, auch wenn sie zugesagt haben, die ihnen von Haus aus fremden Haushaltsvorschriften einzuhalten. Wo die Handlungsmaßstäbe nicht identisch sind, können auch die Kontrollmaßstäbe nicht unverändert bleiben. So darf der von außen kommende Rechnungsprüfer nicht seine heimischen Vorstellungen von Ordnungsmäßigkeit, Wirtschaftlichkeit und Wirksamkeit auf Biegen und Brechen durchsetzen. Vielmehr muss er die realen Gegebenheiten berücksichtigen und auf nationale wie lokale Usancen achten. Die Maßstäbe werden praktisch relativiert.

III. Adressaten und Erhebungsbetroffene der Rechnungsprüfung Der Rechnungsprüfung unterliegt die Exekutive des Geberlandes, in ihr alle Behörden der unmittelbaren und mittelbaren Verwaltung des Bundes und der Länder einschließlich ihrer Sondervermögen und Betriebe. 19 Zu diesen gehören auch die Botschaften und ihre gleichgestellten Behörden im Ausland sowie deren Annexeinrichtungen wie die auswärtigen Kulturinstitute. Sie alle sind die eigentlichen Adressaten der Rechnungsprüfung. Diese erfasst ihre gesamte Haushalts- und Wirtschaftsführung. Von den Adressaten zu unterscheiden sind die erhebungsbetroffenen Stellen außerhalb der Staatsverwaltung, bei denen der Rechnungshof unter bestimmten Bedingungen prüfen darf („Bei-Prüfung“), insbesondere dann, wenn sie Teile des Haushaltsplans ausführen, Mittel oder Vermögensgegenstände des Staates verwalten oder staatliche Zuwendungen erhalten. Es kann sich um öffentlichrechtliche oder privatrechtliche Rechtsträger handeln. 20 Soweit diese Stellen die staatlichen Mittel an Dritte weiterleiten, ___________ 19 §§ 42, 55 ff. HGrG, §§ 88, 104, 111, 112 Abs. 1 BHO, §§ 88 Abs. 1, 104, 111, 112 nwLHO. – Dazu Haverkate (Fn. 3), S. 198 ff. 20 Nebel, Andreas, in: Piduch, Erwin Adolf, Bundeshaushaltsrecht, Stand 2004, § 23 Rn. 2.

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wird auch bei ihnen geprüft. 21 Die Prüfung erstreckt sich auf die bestimmungsmäßige und wirtschaftliche Verwaltung und Verwendung. Bei Zuwendungen und bei Krediten und Bürgschaften kann sie darüber hinausgehen. 22 Die betreffenden Stellen werden dadurch nicht selber zu Adressaten der Prüfung. Vielmehr dient die Erhebung nur als Erkenntnismittel für die Kontrolle der staatlichen Behörden, die für die Weitergabe der Mittel verantwortlich sind. 23 Die „Bei-Prüfung“ stößt schon im Inland auf rechtliche Schwierigkeiten, weil die Autonomie der Organisationen und ihre Privatheit, ihr forum internum, resistent sind, 24 weil die Eigengesetzlichkeit der Funktionsbereiche (etwa Forschung, Kulturarbeit, Caritas) sich gegen eine vollständige Durchleuchtung wehren und dabei grundrechtlichen Sukkurs von Seiten der Verfassung bekommen. 25 Die Schwierigkeiten wiederholen sich für die auswärtige Rechnungsprüfung in gesteigerter Form, schon deshalb, weil der unmittelbare Zugang zum Zuwendungsmittler und -empfänger durch die Barriere der Gebietshoheit des anderen Staates verstellt wird. Die Kette der Mittler kann lang, der Prüfungspfad unübersichtlich, überwachsen, sumpfig und lückenhaft sein. Dennoch bleibt der rechtliche Generalauftrag zur Rechnungsprüfung bestehen. Die Schwierigkeiten der Kontrolle zentrieren sich um die Zuwendungen, also Leistungen, die der Staat um eines Zieles willen erbringt, das in der Zukunft liegt. 26 Davon sind Leistungen zu unterscheiden, mit denen er eine in der Ver___________ 21

§ 43 Abs. 1 HGrG, § 91 Abs. 1 BHO, § 91 Abs. 1 nwLHO. Dazu Lange, Klaus, Die Prüfung staatlicher Zuwendungen durch den Rechnungshof, in: Zavelberg (Fn. 3), S. 279, 290 ff.; Heintzen, Markus, in: Münch, Ingo von / Kunig, Philip (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. III, 5. Aufl. 2003, Art. 114 Rn. 27 ff.; Gröpl, Christoph, Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit staatlichen Handelns, in: HStR Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 121 Rn. 42. Zur Rechtslage in Österreich Wenger, Karl, Rechnungskontrolle über die Verwendung öffentlicher Mittel, in: Korinek, Karl (Hrsg.), Die Kontrolle wirtschaftlicher Unternehmungen durch den Rechnungshof, 1986, S. 49 ff., 56. 22 § 43 Abs. 2 und 3 HGrG, § 91 Abs. 2 und 3 BHO, § 91 Abs. 2 und 3 nwLHO. 23 Nebel (Fn. 20), § 91 BHO Rn. 1. 24 Dazu Isensee, Josef, Anwendung der Grundrechte auf juristische Personen, in: HStR, Bd. V, 1. Aufl. 1992, § 118 Rn. 59 f. 25 Exemplarisch zur Volkswagen-Stiftung: BVerwGE 74, 58 (60 ff.); Isensee, Josef, Stiftung, Staat und Gesellschaft, in: Impulse geben – Wissen stiften, 40 Jahre Volkswagen-Stiftung, 2002, S. 13 (35 ff.) m. w. N. Zum kirchlichen Bereich: Leisner, Walter, Staatliche Rechnungsprüfung kirchlicher Einrichtungen, 1991, S. 20 ff., 33 ff., 84 ff.; Mainusch, Rainer, Staatliche Rechnungsprüfung gegenüber kirchlichen Einrichtungen, in: NVwZ 1994, S. 736 ff.; Waldhoff, Christian, Brauchen wir ein Steuergeheimnis für gemeinnützige Organisationen?, in: Walz, W. Rainer (Hrsg.), Rechnungslegung und Transparenz im Dritten Sektor, 2004, S. 157 (165 ff.). Zu den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten: Haverkate (Fn. 3), S. 212 ff. Zu den Sozialversicherungsträgern ders. (Fn. 7), S. 217 f.; Heuer, Ernst, Grenzen von Prüfungs- und Erhebungsrechten, in: Zavelberg (Fn. 3), S. 181 (189). Zu Rüstungsfirmen ders. (Fn. 3), S. 190 ff. 26 Zum Tatbestand der Zuwendung Lange (Fn. 21), S. 280 ff.

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gangenheit liegende Schuld tilgt, etwa als Entschädigung oder Wiedergutmachung. Hier scheidet von vornherein eine Verwendungskontrolle aus. 27 Ebenso entfällt sie für Mitgliedsbeiträge zu internationalen und supranationalen Organisationen. 28

IV. Gebietshoheit: völkerrechtliche Barriere grenzüberschreitender Rechnungsprüfung Die Rechnungsbehörde des Geberlandes trifft auf eine völkerrechtliche Barriere, wenn sie außerhalb seines Territoriums Ermittlungen durchführen will. Sie stößt auf die Schranke der Gebietshoheit. 29 Diese schließt grundsätzlich die Hoheitstätigkeit im Ausland aus. Auch in der Ära der Globalisierung erweisen sich die Staaten zueinander weiterhin als impermeabel. Recherchen im Ausland, die für private Medien rechtlich unbedenklich wären, sind Staatsorganen ___________ 27 Ein Beispiel aus den Finanzleistungen des Staates an die Kirchen: Zuwendungen für karitative Einrichtungen oder Denkmalschutz unterliegen der Verwendungskontrolle, nicht aber Staatsleistungen, die als Ausgleich für frühere Säkularisierungen geschuldet werden. Dazu Isensee, Josef, Staatsleistungen an die Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: Listl, Joseph / Pirson, Dietrich (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1994, S. 1009 ff. (1060 ff.). 28 Dreßler (Fn. 10), S. 39. 29 Zur völkerrechtlichen Grenze der Rechnungsprüfung Dreßler (Fn. 10), S. 32. – Zur Gebietshoheit als völkergewohnheitsrechtlichem Verbot, Hoheitsakte auf dem Gebiet eines fremden Staates ohne dessen Zustimmung vorzunehmen: Geck, Karl Wilhelm, Hoheitsakte auf fremdem Staatsgebiet, in: Strupp / Schlochauer (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts, 1. Bd., 2. Aufl. 1960, S. 795 f.; Dahm, Georg, Völkerrecht, Bd. I, 1958, S. 250 ff. (539 ff.); Verdroß, Alfred, Völkerrecht, 5. Aufl. 1964, S. 237 f.; Berber, Friedrich, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. I, 1975, S. 305 ff.; Doehring, Karl, Völkerrecht, 2. Aufl. 2004, Rn. 88 ff.; Vitzthum, Wolfgang Graf, Staatsgebiet, in: HStR Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 18 Rn. 4; Herdegen, Matthias, Völkerrecht, 4. Aufl. 2005, § 23 Rn. 1 ff.; Ipsen, Knut, Völkerrecht, 4. Aufl. 1999, S. 245 ff. Zur Reichweite des nationalen Verfassungsrechts auf Auslandsbeziehungen: Schröder, Meinhard, Zur Wirkkraft der Grundrechte bei Sachverhalten mit grenzüberschreitenden Elementen, in: Münch, I. v. (Hrsg.), Festschrift für Hans-Jürgen Schlochauer, 1981, S. 137 ff.; Heintzen, Markus, Auswärtige Beziehungen privater Verbände, 1988, S. 96 ff. (Nachw.); Isensee, Josef, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung, in: HStR Bd. V, 1. Aufl. 1992 (2. Aufl. 2000), § 115 Rn. 77 ff.; Blumenwitz, Dieter, Intertemporales und interlokales Verfassungskollisionsrecht, in: HStR, Bd. IX, 1. Aufl. 1997, § 211 Rn. 13 ff.; Badura, Peter, Territorialprinzip und Grundrechtsschutz, in: Isensee, Josef / Lecheler, Helmut (Hrsg.), Freiheit und Eigentum. Festschrift für Walter Leisner, 1999, S. 403 ff.; Merten, Detlef, Räumlicher Geltungsbereich von Grundrechtsbestimmungen, in: Dörr, Dieter et al. (Hrsg.), Die Macht des Geistes. Festschrift für Hartmut Schiedermair, 2001, S. 331 ff. Allgemein zur Bedeutung des Staatsgebiets im Zeitalter internationaler Verflechtung Vitzthum, Wolfgang Graf, Der Staat der Staatengemeinschaft, 2006, S. 19 ff. Zur Gebietshoheit im Fall der Katastrophenhilfe Faßbender (Fn. 12), S. 379 ff. (397).

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nicht ohne weiteres gestattet. Hier tut sich eine völkerrechtliche Grauzone auf, die bisher noch nicht exakt vermessen ist. Eindeutig unzulässig wären staatliche Zwangsmaßnahmen, etwa obrigkeitliche Vollstreckungsakte. Diese aber sind der Rechnungsbehörde fremd. Sie beobachtet und berichtet, aber sie verfügt über keinerlei Sanktionsmittel, um ihren Erkenntnissen und Folgerungen Nachdruck zu verschaffen. Der Zugang auf das exekutivische Arsenal der unwiderstehlichen Gewalt ist ihr verwehrt. Ihre Macht liegt allein im Wort. Aber ihr Wort hat auch Macht: die Macht einer auf Sachverstand und Unabhängigkeit gegründeten amtlichen Autorität. Die Öffentlichkeit vertraut ihr, die Verwaltung fürchtet sie. Von ihrem Spruch gehen erzieherische Wirkungen und Einflüsse aus. 30 In ihrer äußeren Erscheinung unterscheidet sich die Tätigkeit eines Rechnungsprüfers nicht von der eines Journalisten, der Eindrücke sammelt, interviewt und berichtet, auch nicht von der Tätigkeit eines privaten Wirtschaftsprüfers oder der Innenrevision eines Unternehmens. Doch der rechtliche Unterschied besteht darin, dass der Rechnungsprüfer in amtlicher Eigenschaft arbeitet. Sein Handeln wird dem Staat zugerechnet, in dessen Diensten er steht. Er übt Staatsgewalt aus. 31 Es geht auch nicht lediglich um privatwirtschaftliche (fiskalische) Tätigkeit des Staates, in dem sein spezifischer Hoheitscharakter nicht zur Geltung kommt und er auch keinen Anspruch auf völkerrechtliche Immunität erheben kann (acta iure gestionis). Vielmehr ist die Finanzkontrolle hoheitlicher Natur; ihre Maßnahmen sind als acta iure imperii zu behandeln. 32 Grenzüberschreitendes Staatshandeln verletzt die Gebietshoheit, wenn es aus der Sicht des betroffenen Staates als hoheitlich gilt. Das ist der Fall bei Zustellungen von belastenden oder begünstigenden Verwaltungsakten, 33 brieflicher Ladung zu einem Gerichtstermin oder brieflicher Aufforderung, einem Gericht eine bestimmte Urkunde vorzulegen, Zeigen fremder Hoheitszeichen durch Staatsorgane, Einholung von Auskünften. 34 Es genügt also schlichthoheitliches Handeln. 35 Der Aktualisierung von Befehls- und Zwangsgewalt bedarf es nicht, um die Kollision mit der fremden Gebietshoheit auszulösen. 36 ___________ 30 Dazu Krebs (Fn. 7), S. 177, 213, 216 ff. Vgl. auch Schulze-Fielitz (Fn. 7), S. 242 f., 266 ff.; Hufeld (Fn. 6), § 56 Rn. 20 ff. 31 Dreßler (Fn. 10), S. 32. 32 Zu der Unterscheidung Ipsen (Fn. 29), § 26 Rn. 17 ff.; Doehring (Fn. 29), Rn. 661 ff. 33 BVerfGE 63, 343 (372) – Zustellung österreichischer Abgabenbescheide auf deutschem Staatsgebiet. 34 Geck (Fn. 29), S. 796; Ipsen (Fn. 29), § 23 Rn. 6 ff. 35 Kategorie: Jellinek, Walter, Verwaltungsrecht, 3. Aufl. 1931, S. 21 ff., 323. 36 Geck (Fn. 29), S. 796.

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Soweit der Rechnungshof im Ausland belegene Teile der eigenen Staatsorganisation prüft, realisiert er allerdings echte Befehlsgewalt, wie sie innerhalb der Behörden- und Ämterhierarchie besteht. Das gilt im Verhältnis zu den Botschaften wie zu den sonstigen Einrichtungen der unmittelbaren Staatsverwaltung, darüber hinaus auch für die rechtlich verselbständigten Einheiten der mittelbaren Staatsverwaltung, die der Aufsichts- und Weisungskompetenz der staatlichen Zentrale unterliegen, gleich ob sie öffentlich- oder privatrechtlich organisiert sind. Schwieriger ist das Verhältnis zu den von ihm genuin unabhängigen Stellen, die Zuwendungen erhalten haben. Für private Organisationen, deren Zentrale im Inland liegt und die in ihren ausländischen Aktivitäten der inländischen Personalhoheit unterworfen sind, besteht die gesetzliche Pflicht, sich der Verwendungskontrolle des Rechnungshofes zu unterziehen. Obwohl dieser seine Kontrollbefugnisse nicht vor Ort durchsetzen kann, vermag er Druck auf die inländische Zentrale auszuüben. Dagegen kann eine solche Pflicht für ausländische Stellen, die weder der Gebiets- noch der Personalhoheit unterliegen, nur durch Vereinbarung begründet werden. Selbst dann, wenn die Vereinbarung in privatrechtlicher Form erfolgt, steht die staatliche Finanzkontrolle unter dem ius imperii. Die auswärtige Rechnungsprüfung sichert die Budgethoheit des Parlaments und ist daher selber (schlicht-)hoheitlicher Natur. Noch ist nicht verbindlich geklärt, ob und wieweit das Völkerrecht die Finanzkontrolle auf fremdem Territorium ohne Zustimmung des Gebietsstaates erlaubt. Dazu besteht derzeit auch kein praktisches Bedürfnis, weil sich die auswärtige Rechnungsprüfung durchwegs im allseitigen Einvernehmen vollzieht und die Nehmerstaaten die Erlaubnis zur grenzüberschreitenden Rechnungsprüfung ohne Weiteres erteilen. Doch der Umstand, dass bislang rechtliche Reibungen ausgeblieben sind, rechtfertigt nicht die Annahme, dass es künftig so bliebe. Juridisches Nachdenken sollte tunlichst einsetzen, ehe es zu rechtlichen Konflikten kommt. Es ist Gebot juridischer Vorsicht, von der strengen Auffassung der Gebietshoheit auszugehen und die Zustimmung als rechtlich geboten zu behandeln. Im Übrigen ist es Sache der politischen Klugheit und der zwischenstaatlichen Courtoisie, dass der Rechnungshof das Plazet des Empfangsstaates einholt. Er muss sich zum amtlichen Charakter seiner Tätigkeit bekennen und alles vermeiden, was den Eindruck von lichtscheuer Investigation oder gar Spionage wecken könnte. Aus gutem Grund reisen die Beamten der Rechnungskontrollbehörden im Ausland mit Dienstpass, nicht mit Privatpass. Die grenzüberschreitende Finanzkontrolle bedarf also des völkerrechtlichen Titels. Hier ist Differenzierung notwendig: 1. Die Zustimmung des Sitzstaates zur Rechnungsprüfung kann generell vorausgesetzt werden für Botschaften, Konsulate und ihnen zugeordnete Ein-

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richtungen mit gleichem völkerrechtlichen Status (Missionen bei internationalen Organisationen, Pressedienste), ohne dass es im Einzelfall auf die Teilhabe an sämtlichen diplomatischen Vorrechten und Immunitäten ankommt. Die Exterritorialität, die das Völkerrecht für das externe Wirken der Botschaft gewährleistet, schließt die internen Inspektionsbefugnisse ein. Dieser Titel hat heute die Qualität von Völkergewohnheitsrecht. 2. Der völkergewohnheitsrechtliche Titel deckt nicht solche staatlichen Einrichtungen ab, denen der diplomatische oder quasi-diplomatische Status abgeht, wie das bei Kulturinstituten oder Außenhandelsstellen der Fall sein kann. Hier ist die besondere Zustimmung des Sitzstaates erforderlich. Dieser kann, muss sie aber nicht ausdrücklich erteilen. Wenn er sein Plazet zur Errichtung einer solchen Organisation auf seinem Gebiet gibt, ist er in der Regel auch damit einverstanden, dass der Entsendestaat seine Weisungs- und Kontrollbefugnisse wahrnimmt. Im Zweifel ist die stillschweigende Zustimmung anzunehmen. 3. Dagegen kann sich die Finanzkontrolle bei nichtstaatlichen Einrichtungen im Zweifel nicht auf eine solche Zustimmung stützen. Daher bedarf die Rechnungsprüfung hier der ausdrücklichen Zustimmung des Gebietsstaates. Es macht keinen Unterschied, ob es sich um die ausländische Tochter eines inländischen Konzerns handelt, um eine staatliche oder private Einrichtung des Sitzlandes oder um die regionale Niederlassung einer internationalen Organisation. Das Geberland holt die Zustimmung über seine diplomatische oder konsularische Vertretung ein. Das Empfangsland kann sich bei der Erteilung oder Versagung legitim vom Prinzip der Gegenseitigkeit leiten lassen.

V. Unbedingtheit des Verfassungsauftrags zur Finanzkontrolle Der Rechnungshof darf vor den rechtlichen und realen Schwierigkeiten nicht resignieren. Sein Generalauftrag zur lückenlosen Finanzkontrolle endet nicht an der Staatsgrenze. Auf öffentlichem Geld lastet die Kontrollpflichtigkeit als Hypothek. Sie wird im Ausland nicht abgeschüttelt. Die Rechnungsprüfung sichert die Budgethoheit des Parlaments. 37 Damit vermittelt sie dem Finanzgebaren die demokratische Legitimation. Sie sorgt für seine rechtliche Einbindung und seine ökonomische Rationalität. 38 Zugleich dient sie der Ak___________ 37 Dazu Mußgnug, Reinhard, Der Haushaltsplan als Gesetz, 1976, S. 263 ff.; Isensee, Josef, Budgetrecht des Parlaments zwischen Schein und Sein, in: JZ 2005, S. 971 (980 f.). 38 Zum Verfassungsrang des Wirtschaftlichkeitsprinzips Schmidt-Jortzig, Edzard, Der Grundsatz der Wirtschaftlichkeit, in: Butzer, Hermann (Hrsg.), Wirtschaftlichkeit durch Organisations- und Verfahrensrecht, 2004, S. 17 (21 ff.).

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zeptanz der auswärtigen Katastrophen- und Entwicklungshilfe. Sie hegt die Spendenbereitschaft und wehrt dem leicht entzündbaren Verdacht, dass die öffentlichen Mittel im Ausland vergeudet oder zweckentfremdet würden, dass sie in Misswirtschaft und Korruption versickerten. Im staatlichen Haushaltsrecht steckt etwas von der Lenin’schen Parole „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“. Aber die Kontrolle ist ihrerseits eine unentbehrliche Stütze des Vertrauens der Öffentlichkeit in die Integrität des Finanzgebarens. Der Normbefehl der Verfassung bricht sich auch nicht am Völkerrecht, wie er umgekehrt nicht das Völkerrecht derogiert. Vielmehr beansprucht er Beachtung innerhalb der Möglichkeiten, die das Völkerrecht offenhält. Die Regierung des Geberstaates ist von Verfassungs wegen verpflichtet, ihre außenpolitischen Möglichkeiten im Rahmen des Völkerrechts zu nutzen, um die effektive parlamentarische Hoheit über die Verwendung von Haushaltsmitteln im Ausland zu gewährleisten und dafür zu sorgen, dass es zuverlässige Informationen erhält. Das reguläre Medium des Parlaments ist neben der Eigenkontrolle der ihm politisch verantwortlichen Exekutive die Außenkontrolle durch den unabhängigen Rechnungshof. Beide Formen der Finanzkontrolle müssen durch vertragliche Vorkehrungen mit dem Empfangsstaat und durch Zuwendungsbedingungen gegenüber dem öffentlichen oder privaten Leistungsmittler nutzbar gemacht werden. Die Geberseite kann sich ihrer verfassungsrechtlichen Last nicht dadurch entledigen, dass sie nominelle Prüfungsbefugnisse aushandelt, die praktisch nicht wahrgenommen werden können, so dass sich das Schicksal der öffentlichen Mittel im fernen Dunkel verliert. Vielmehr muss ein begehbarer, ununterbrochener Prüfungspfad bis zum Ort der Zielverwirklichung gebahnt werden. Die Regel, dass der Geberstaat selbst die Kontrolle durchführt, verträgt Ausnahmen, wenn die außenpolitische Staatsraison oder der Zwang der realen Umstände sie gebietet. So darf er sich auch des Kontrollpotenzials des Nehmerstaates bedienen, freilich unter der Voraussetzung, dass dieser überhaupt fähig und willens ist, ein angemessenes Kontrollniveau zu prästieren. Er muss also seinerseits über ein angemessenes Instrumentarium der Kontrolle verfügen. Unverzichtbar und unabdingbar ist aber das Verfassungsgebot, dass das Parlament zuverlässig über die Ausführung des Haushaltsplans informiert wird und so seine Budgethoheit wahren kann. 39 ___________ 39

Zweifel an der Ernsthaftigkeit und praktischen Belastbarkeit, damit an der Verfassungskonformität, einer Ausnahme von der Regel erheben sich bei der Vereinbarung zwischen der Minerva Gesellschaft für Forschung GmbH und der hebräischen Universität Jerusalem vom 21. und 24.03.1990, in der die Vergabe von 9,05 Mio. DM aus Bundesmitteln für die Einrichtung und den Betrieb eines Zentrums für deutsch-jüdische Literatur- und Kulturgeschichte vorgesehen sind, mit folgender Auflage: „Die Verwendung des Finanzbeitrags sowie die Höhe und die Verwendung seiner Erträge lässt die Hebräische Universität in der Form und von den Stellen prüfen, wie dies bei der Kontrolle der ihr von der israelischen Regierung zufließenden Mittel üblich ist. Auf Verlangen ist MINERVA Rechnung zu tragen. Die Hebräische Universität ist damit einver-

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Dass die Finanzkontrolle auch die Staatstätigkeit im Ausland erfasst, ist die Forderung der Deklaration von Lima: „Staatliche Behörden und sonstige Einrichtungen, die im Ausland errichtet sind, sollen grundsätzlich ebenfalls von der Obersten Rechnungskontrollbehörde geprüft werden. Bei der Überprüfung am Sitze dieser Einrichtungen ist auf die durch das Völkerrecht gezogenen Grenzen Bedacht zu nehmen; in sachlich gerechtfertigten Fällen sollten jedoch derartige Beschränkungen im Wege der dynamischen Entwicklung des Völkerrechts abgebaut werden.“ (§ 19)

Vorausgegangen war die Entschließung des IV. Internationalen Kongresses der Obersten Rechnungskontrollbehörden zu Wien 1962, die Finanzgebarung im Ausland „mit dem gleichen Recht zu kontrollieren, als ob sie im Inland ausgeübt würde“. Gleichwohl stößt die praktische Umsetzung des Postulats auf erhebliche Schwierigkeiten.

VI. Budgethilfe als Alternative Das Ei des Kolumbus scheint sich in der Budgethilfe zu zeigen, wie Japan oder Großbritannien sie praktizieren. Der Geberstaat weist zweckgebundene Mittel unmittelbar dem Empfangsstaat zu. Dieser stellt sie in seinen Haushalt ein, ohne sie auf der Ausgabenseite gesondert auszuweisen. Sie teilen das Schicksal seines eigenen Finanzaufkommens. Der Geber überlässt sie auch diesem Schicksal und entsagt seiner Finanzverantwortung. Für ihn bricht der Haushaltskreislauf vorzeitig ab mit der Überweisung an die andere Staatskasse. Die Vorzüge dieses Verfahrens liegen auf der Hand. Es ist komplikationslos. Der Zuwender verzichtet darauf, das Finanzgebaren des Empfängers zu steuern und schont dessen Empfindlichkeit. Er respektiert ihn als gleichberechtigten Partner, ermöglicht ihm, in eigener Sache seine Vorstellungen durchzusetzen, vertraut seinem Verantwortungssinn und regt an, die Verwaltungsstrukturen der Finanzierungsaufgabe gemäß fortzuentwickeln. Die Budgethilfe ist auf ihre Weise sogar besonders wirtschaftlich, weil sie dem Zuwender den Aufwand der auswärtigen Finanzkontrolle erspart. (Immerhin kann die Kontrolle der Wirtschaftlichkeit zuweilen unwirtschaftliche Ausmaße annehmen.) Doch opfert er damit die Chance einer eigenen Wiederaufbau- und Entwicklungspolitik. Zu solcher Abstinenz dürften die meisten Staaten nicht bereit sein. Freilich dürfte dem Empfangsstaat in der Regel die Zusage leicht fallen, die Zweckbindung der Hilfe einzuhalten und den Regeln der good governance zu ___________ standen, dass die zuständige israelische Rechnungsprüfungsstelle oder eine andere von der Bundesrepublik Deutschland beauftragte Stelle die zweckentsprechende Verwendung des Finanzbeitrags und seiner Erträge prüfen kann und MINERVA eine Abschrift des Prüfungsberichts erhält.“

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folgen. Doch ob und wie er seine Zusage einlöst, entzieht sich der Wahrnehmung des Geberstaates, es sei denn, er bedänge sich Zugangs- und Aufsichtsrechte aus und errichtete eine Art Finanzprotektorat. Das aber ist für keine Seite erstrebenswert. Aus Gründen politischer wie völkerrechtlicher Fairness ist hier Zurückhaltung geboten. Ein europäischer Geberstaat sollte einem Entwicklungsland in Afrika nicht Zugeständnisse abverlangen, die er einer Großmacht wie China nicht ansänne. Juridisch heißt das: Budgethilfe bedeutet Verzicht des Geberstaates auf Kontrolle. Damit erheben sich staatsrechtliche Bedenken. Wenn das Parlament des einen Staates Haushaltsmittel für Budgethilfe zugunsten eines anderen einsetzt, gibt es Einfluss- und Kontrollzuständigkeiten preis, die ihm die Finanzverfassung zuweist. Diese Zuständigkeiten unterliegen nicht seiner Disposition. Es verfügt nicht über die verfassungsrechtlichen Grundlagen, denen es seine Existenz als Staatsorgan und seine Handlungsvollmachten verdankt. Ihm gehört auch nicht das Geld, über dessen Ausgabe es entscheidet. Das Parlament ist nicht Herr, sondern nur Verwalter der öffentlichen Finanzen. Es hat treuhänderisch mit ihnen umzugehen im Dienste der Allgemeinheit, welche die Mittel aufbringt, und es schuldet ihr Rechenschaft. Diesem Ziel dienen die Normen über die Ausführung des Haushaltsplans. Sie aber laufen leer, wenn sich der Geberstaat der Haushaltsmittel entäußert. Der Kontrollauftrag des Parlaments und des Rechnungshofes als seines Hilfsorgans erledigt sich durch Wegfall des Substrats. Die Budgethilfe ist also grundsätzlich unvereinbar mit der Verfassung. Das Dilemma der auswärtigen Rechnungsprüfung wird auf solchem Wege nicht gelöst. Das soll nicht heißen, dass sie schlechthin unzulässig sei. Es mag anomale außenpolitische Konstellationen geben, Grenzsituationen, in denen ein legitimer Zweck nur durch Budgethilfe wirksam gefördert werden kann oder sonst gewichtige Gründe für eine Ausnahme sprechen. Doch darf sie nur Ausnahme sein. Zur Regel darf sie nicht werden, weil sonst der Haushaltsgesetzgeber das Kontrollsystem der Verfassung unterlaufen könnte. Daraus folgt, dass die Finanzkontrolle keine Verfügungsmasse für völkerrechtliche Abkommen ist, welche die Modalitäten der Zuwendungen für den Wiederaufbau nach einer Naturkatastrophe oder die der Finanzierung eines auswärtigen Forschungsinstituts bestimmen.

VII. Vorsorge im Inland Der Geberstaat ist gut beraten, wenn er die juridischen Probleme der auswärtigen Finanzkontrolle erst gar nicht aufkommen lässt, sie jedenfalls minimiert oder doch die Voraussetzungen zu ihrer Lösung herstellt.

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1. Wichtigste Maxime der auswärtigen Finanzkontrolle ist die: je schwieriger die begleitende oder nachträgliche Kontrolle der Mittelverwendung am Zielort ist, desto wichtiger sind präventive Maßnahmen im Geberland. Die Finanzierungsvorhaben, die Gegenstand künftiger Kontrolle sind, müssen von vornherein so organisiert werden, dass sie den Maßstäben der Zwecktauglichkeit, der Wirtschaftlichkeit und der Ordnungsmäßigkeit genügen und, so weit und so einfach wie möglich, der Innenkontrolle der Exekutive wie der Außenkontrolle des Rechnungshofes zugänglich sind. Vorkehrungen dafür sind die hinlänglich bestimmte, unmissverständliche Zweckwidmung: unmissverständlich für alle, die sie im In- und Ausland angeht, 40 ferner die umsichtige Ausgestaltung der Zuwendungstitel mit ihren Auflagen und sonstigen Nebenbestimmungen; die Verpflichtung der Leistungsmittler, die Regeln und Kontrollverfahren des Geberlandes einzuhalten, vor allem die Auswahl zuverlässiger Leistungsmittler. 2. Der Geberstaat hat vorab darauf hinzuwirken,  dass Transparenz gewährleistet wird für den Finanzfluss von der inländischen Quelle bis zur ausländischen Mündung, vom Haushaltsplan und der bewilligenden Stelle des Geberstaates über die etwaigen inländischen und ausländischen Durchlauforganisationen bis zu der Stelle, welche den Widmungszweck realisiert und die Mittel einsetzt;  dass in jeder Phase der Vergabe, Weiterleitung und Verwendung der Mittel Klarheit darüber besteht, welche Stelle Entscheidungsbefugnisse hat und Verantwortung trägt, insbesondere dass der Leistungsempfänger identifizierbar ist; 41  dass alle Beteiligten sich glaubwürdig und nachprüfbar verpflichten, die widmungsgemäße, wirtschaftliche und ordnungsgemäße Verwendung der Mittel zu sichern sowie Misswirtschaft und Korruption zu vermeiden. 3. Der Geberstaat hat sich vor der Vergabe der Mittel mit dem Empfangsstaat zu verständigen über die Maßstäbe, die Zuständigkeiten und das Verfahren der Finanzkontrolle sowie über einen lückenlosen Prüfungspfad. Er erfüllt damit ein Gebot der Verfassung, wenn er die vertragliche Voraussetzung für die Durchführung der auswärtigen Finanzkontrolle herstellt. Falls der Empfangsstaat seine Zustimmung verweigert, weil er darin kränkendes Misstrauen wittert, sollte der Geberstaat seine Leistung zurückhalten. Es wäre diplomatisches Versagen, wenn der Geberstaat es versäumte, in diesem rechtzeitigen Stadium die erforderliche Übereinkunft zu erwirken und die gegenläufigen Interessen auszugleichen. Beide Seiten ersparen sich die Peinlichkeit, sich nachträglich auf ein Kontrollverfahren verständigen zu müssen, wenn in der späte___________ 40 41

Forderung der Wiener Erklärung (Fn. 4), Abschnitt 14. Vgl. Wiener Erklärung (Fn. 4), Abschnitt 15.

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ren Mittelbewirtschaftung der Verdacht von Unregelmäßigkeiten aufkäme oder gar ein öffentlicher Skandal aufflammte. 4. Die inländischen Stellen der Exekutive wie der privaten Zuwendungsempfänger haben eine effektive Eigenkontrolle über die Verwendung der öffentlichen Mittel im Ausland zu gewährleisten, auch wenn sie sich auswärtiger Leistungsmittler bedienen. Soweit möglich und zumutbar, sorgen sie dafür, dass der Rechnungshof die Prüfung über das auswärtige Finanzgebaren im Inland durchführen kann und ihm dafür hinreichende Unterlagen zur Verfügung stehen. Sie informieren ihn frühzeitig über Abweichungen von den inländischen Standards der Haushalts- und Wirtschaftsführung. Gleichwohl muss bei Bedarf die gründliche Erhebung an Ort und Stelle im Ausland ermöglicht werden. 5. Die gesetzlichen Vorschriften über die Aufgaben und Befugnisse des Rechnungshofes sind, soweit ihr Wortlaut es zulässt, so zu verstehen und so zu handhaben, dass sie dem Generalauftrag zur lückenlosen Finanzkontrolle auch außerhalb der Staatsgrenzen gerecht werden. Soweit eine solche Auslegung nicht möglich ist, sind die Vorschriften entsprechend zu ändern und auszubauen.

VIII. Pragmatische Lösungen Perfekte Lösungen sind nicht auf ganzer Linie zu erwarten. Die Probleme sind so neu, dass sich noch keine herrschende Rechtsauffassung und keine gefestigte Praxis hat bilden können. Pionierarbeit ist unerlässlich. Wege sind zu erschließen, um dem staatsrechtlichen Auftrag wenigstens annähernd gerecht zu werden. Das nationale Recht gibt der Rechnungsbehörde das Ziel vor, die Ordnungsmäßigkeit und Rationalität der Mittelverwendung zu kontrollieren. Doch es respektiert den Vorbehalt des faktisch und des (völker-)rechtlich Möglichen. Es hält dem Rechnungshof Spielräume offen, wie das Ziel erreicht werden kann, und erwartet Intuition, Phantasie, Klugheit, Fingerspitzengefühl, vor allem Wachheit und Resistenz gegen Bluff. Er darf sich nicht täuschen lassen, wenn die Wiederaufbauhilfe nur zu Potemkin’schen Dörfern führt, die den Geboten der Wirksamkeit und der Nachhaltigkeit spotten. Die Anforderungen an die auswärtige Finanzkontrolle weisen über Recht und Rechtswissenschaft hinaus. Hier ist der Jurist mit seinem Latein am Ende. Für den Rechnungshof gibt es kein Alles oder Nichts. Er setzt seine nationalen Maßstäbe nicht starr durch. Vielmehr passt er sie den Gegebenheiten des Landes und den Besonderheiten der Situation an. Er respektiert die Eigengesetzlichkeit der zu kontrollierenden Organisation, mag sie staatlicher oder nichtstaatlicher Natur sein. Er nutzt das Flexibilitätspotenzial seiner Befugnisse. Die unvermeidliche Ausdünnung der Kontrolldichte nimmt er in Kauf,

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ebenso die unvermeidliche Anpassung der exportierten Kontrollmaßstäbe an die Gegebenheiten des Empfangslandes. In manchem Empfangsland droht der Zuwendung das Menetekel der drittelparitätischen Distribution: ein Drittel für Bestechung, ein Drittel für Misswirtschaft, (allenfalls) ein Drittel für zweckentsprechenden Gebrauch. Legalistischer Rigorismus könnte dem Übelstand nicht abhelfen, wohl aber die Chance beseitigen, überhaupt einen (wenn auch reduzierten) gemeindienlichen Effekt zu erzielen. 42 Unter bestimmten Umständen kann der Ein-Drittel-Erfolg die Hinnahme der Zwei-Drittel-Sicker-Quote als das geringere Übel rechtfertigen. Glatte Lösungen für ein Dilemma gibt es nicht. Das ist nun einmal das Wesen des Dilemmas. Ein klassisches Paradigma für eine Dilemmabewältigung findet sich in der Geschichte der ersten globalen, auf hohem Rationalitätsniveau und in strenger Disziplin operierenden Organisation der Neuzeit, des Jesuitenordens. Sein Gründer und General, Ignatius von Loyola, erteilte dem in Indien missionierenden Ordensmann Franz Xaver genaue Direktiven. Dieser schrieb zurück, er habe sie sorgfältig studiert, sie an den Gegebenheiten vor Ort gemessen und sodann in allem das Gegenteil getan. Der Kommentar des Ordensgenerals: „Daran erkenne ich den wahren Gehorsam.“ Modifikationen der Handlungs- und Kontrollmaßstäbe kommen insbesondere für die Ersthilfe im Katastrophenfall in Betracht. Die Ersthilfe fordert rasches Handeln und verträgt in der Regel keine zeitaufwendige, genaue Prüfung des Bedarfs vor Ort und der Bedürftigkeit im Einzelfall. Bis dat, qui cito dat. Das Risiko, dass ein Teil der Zuwendungen in falsche Hände gerät, kann und muss in Kauf genommen werden, wenn nur so die Chance eröffnet wird, dass ein möglichst hoher Anteil in die richtigen Hände gelangt. Improvisationen und Durchbrechungen von Regeln können gerechtfertigt sein, wenn sie denkendem Rechtsgehorsam angesichts einer anomalen Lage entspringen. Eine solche Rechtfertigung kommt allerdings nicht in Betracht, wenn es um die Wiederaufbauhilfe geht, die nach Plan erfolgt und sich über einen längeren Zeitraum erstreckt. Pragmatische Wege, dem Rechnungshof eine effektive auswärtige Finanzkontrolle zu ermöglichen, sind etwa: ___________ 42 Die Europäische Union, die in den Jahren 2001 und 2002 der palästinensischen Autonomiebehörde monatlich 10 Mio. € Budgethilfe geleistet hatte, zog sich den Vorwurf Israels zu, dass ein Teil der Zahlungen zur Finanzierung der Al-Aksa-MärtyrerBrigaden und zur Belohnung der Familien von Selbstmord-Attentätern abgezweigt worden sei. Die Europäische Union stellte daraufhin die Budgethilfe auf Projektförderung um. Ihre Finanzkontrolle kam zu keinen eindeutigen Ergebnissen. Sie prüfte nicht die Frage, ob und wieweit ihre Zuwendungen und die ihrer Mitgliedstaaten auf die Privatkonten des Palästinenserpräsidenten Arafat flossen. Quellen: FAZ v. 07.05.2002, Nr. 105, S. 7; Die Welt v. 24.07.2004 (Rubrik Außenpolitik, 7 171); Stuttgarter Zeitung v. 29.07.2004, S. 3.

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– Auswertung der allgemein zugänglichen Informationsquellen, zumal der – –

– – – –

Medienberichte, über die Vorgänge vor Ort; Einschaltung privater Wirtschaftsprüfer; 43 Übertragung von Kontrollaufgaben an die Prüfungsbehörde des Empfangsstaates 44 , freilich unter dem Vorbehalt, dass sie ein vergleichbares Prüfungsniveau gewährleistet, und – in Absprache – Abordnung eigener Prüfbeamter an die Partnerbehörde; Amtshilfe der Obersten Rechnungskontrollbehörden in Erwartung der Gegenseitigkeit; 45 Zusammenarbeit der Prüfungsbehörden beider Seiten und, bei mehreren Geberländern, zwischen den Behörden aller beteiligten Staaten sowie mit überund zwischenstaatlichen Prüfungsbehörden; 46 supranationale Lösungen der Kontrollprobleme im Rahmen der Europäischen Union, auch unter Mitwirkung des Europäischen Rechnungshofes; last, but not least: die Aktivierung des Erfahrungsschatzes der überstaatlichen Zusammenschlüsse der Obersten Rechnungskontrollbehörden, zumal der kontinentalen von EUROSAI und der Weltorganisation von INTOSAI. Die Synergie trägt dazu bei, die Transparenz der zwischenstaatlichen Finanzhilfe zu erhöhen, die Rechenschaftspflicht zu sichern, die Finanzierungsstandards und die Kontrollmethoden zu vereinheitlichen und eine zuverlässige Wissensbasis für eine effektive Finanzkontrolle herzustellen. 47

Von INTOSAI gehen Impulse aus, dass sich über die Grenzen der Staaten und über die Unterschiede der politischen Systeme hinweg weltweite Verhaltensregeln entwickeln zum treuhänderischen und rationalen Umgang mit öffentlichem Geld. Ein wichtiger Impuls ist das vom Österreichischen Rechnungshof als Generalsekretariat der INTOSAI entworfene Grundlagenpapier, das von dem Internationalen Symposion über die Stärkung der weltweiten öffentlichen Finanzkontrolle in Wien am 20. Juni 2006 beschlossen wurde, die ___________ 43

Dreßler (Fn. 10), S. 36. Gesetzliche Grundlage im deutschen Recht § 93 Abs. 2 BHO: „Der Bundesrechnungshof kann durch Vereinbarung mit ausländischen oder über- oder zwischenstaatlichen Prüfungsbehörden die Durchführung einzelner Prüfungen übertragen oder übernehmen sowie Prüfungsaufgaben für über- oder zwischenstaatliche Einrichtungen übernehmen, wenn er durch völkerrechtliche Verträge oder Verwaltungsabkommen oder durch die Bundesregierung dazu ermächtigt wird.“ 45 Vorschlag von Dreßler (Fn. 10), S. 33, 34. 46 Vgl. Wiener Erklärung (Fn. 4) Abschnitt 18; Grundlagenpapier des österreichischen Rechnungshofes zur Internationalen Zusammenarbeit (RH Reihe 2006/2, S. 7 ff.). Zu den Organisationen: Broesigke, Tassilo, Die internationale Zusammenarbeit der Obersten Rechnungskontrollbehörden, in: Zavelberg (Fn. 3), S. 435 ff.; Nawrath, Axel, Die internationale Zusammenarbeit der Rechnungshöfe, in: DÖV 2000, S. 861 ff. 47 Dazu Nawrath (Fn. 46), S. 861 ff. 44

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„Wiener Erklärung“. Anlass bot die Tsunami-Katastrophe in Südostasien am 26. Dezember 2004, die beispiellose Hilfsbereitschaft in aller Welt auslöste. Damit meldete sich auch die Dringlichkeit weltweiter Finanzkontrollen an, die „den Betroffenen und den maßgeblichen Geberländern die Gewähr dafür bieten, dass die Hilfen ordnungsgemäß verwaltet und widmungsgemäß verwendet werden.“48 Die Wiener Erklärung enthält Appelle und Empfehlungen an die Akteure in allen Bereichen der Katastrophenhilfe, die Regierungen der Geberund Empfangsländer, die internationalen Organisationen, die Hilfsorganisationen, die Obersten Rechnungskontrollbehörden sowie an den Europäischen Rechnungshof. Die Rechnungskontrollbehörden dienen dem Gemeinwohl des Geberstaates auch außerhalb seiner Grenzen. Sie tragen dazu bei, dass der parlamentarische Wille, der sich im Budget verkörpert, für Ausgaben im Ausland wirksam bleibt und dass mit der knappen Ressource der öffentlichen Finanzen haushälterisch im zwiefachen Sinne des Wortes umgegangen wird. Geld ist heute das wichtigste Machtinstrument der Staaten wie der internationalen Organisationen. Deshalb darf es keine unkontrollierte Geldmacht geben, mag sie sich auf eigenem oder auf fremdem Territorium bewegen. Die Finanzkontrolle wirkt darauf hin, dass nicht Geld die Welt regiert, sondern das Recht.

___________ 48 Zitat: der Präsident des österreichischen Rechnungshofes und Generalsekretär von INTOSAI Josef Moser, Vorwort zur Wiener Erklärung (Fn. 4), S. 4.

Zum verfassungsrechtlichen Schutz der IHK-Tätigkeit Ralf Jahn

I. Einführung Aktuell existieren in Deutschland rund 250 wirtschaftliche 1 und freiberufliche 2 Kammern. 3 Die Kammern, die als öffentlich-rechtliche Körperschaften mit gesetzlicher Pflichtmitgliedschaft korporiert sind, nehmen gegenüber ihren jeweiligen Mitgliedern eine Fülle von Aufgaben im Bereich der Berufszulassung und -aufsicht, der Aus-, Fort- und Weiterbildung, der Wirtschaftsverwaltung sowie im Bereich der Interessenvertretung und Beratung der Politik wahr. Auf diese Art und Weise werden durch die Kammertätigkeit die unmittelbare Staatsverwaltung und die öffentlichen Haushalte in erheblichem Umfang auch finanziell entlastet. 4 Die Industrie- und Handelskammern (IHKs) haben sich „längst als fester Bestandteil wirtschaftlicher Selbstverwaltung“ etabliert 5 , stellen also heute einen unverrückbaren Teil der Wirtschaftsordnung in Deutschland dar. Unter dem Dach des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) gibt es aktuell 81 IHKs, bei denen bundesweit rund 4,453 Millionen gewerbliche Unternehmen aus Industrie, Handels- und Dienstleistungsgewerbe organisiert sind, davon rund 1,194 Millionen Unternehmen im Handelsregister, 5.432 im Genossenschaftsregister eingetragene Unternehmen sowie rund 3,253 Millionen Kleingewerbetreibende. 6 Rechtsgrundlage der IHK-Tätigkeit ist das ___________ 1 Dazu zählen die Industrie- und Handelskammern (IHKs), Handwerkskammern (HWKs) und Landwirtschaftskammern. 2 Dazu zählen etwa die Kammern für die Rechtsanwälte, Steuerberater, Ärzte, Ingenieure. 3 Eine vollständige Übersicht findet sich unter http://www.kammerrecht.de/links_ Deutschland.html. (Stand: Januar 2007); vgl. ferner Tettinger, P. J., Kammerrecht. Das Recht der wirtschaftlichen Selbstverwaltung. 1997, passim. 4 Nach Angaben der Bundesregierung beträgt die Entlastung der öffentlichen Haushalte allein für den Bereich der Berufsbildung rund eine Milliarde Euro, vgl. BT-Drs. 15/3265 vom 28.05.2004, S. 4. 5 Vgl. Knemeyer, F. L., Wirtschaftsrelevante Dienstleistungen der Industrie- und Handelskammern – Zulässigkeit und Grenzen, in: Wirtschaft und Verwaltung (WiVerw) 2001, S. 1 ff. 6 Zahlen zum Stichtag 01.01.2006, Quelle: IHK-Gesellschaft für Informationsverarbeitung mbH (GfI), Dortmund.

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„Gesetz zur vorläufigen Regelung des Rechts der Industrie- und Handelskammern“ (IHKG). 7 § 2 Abs. 1 IHKG sieht vor, dass die betroffenen Unternehmen im Inland kraft Gesetzes Pflichtmitglieder der jeweiligen IHKs sind. Ausgenommen sind nur Handwerksbetriebe, freie Berufe und landwirtschaftliche Betriebe (§ 2 Abs. 1, 2 IHKG). Die IHKs vertreten damit Unternehmen aller Branchen und Betriebsgrößen. Sie nehmen als Körperschaften des öffentlichen Rechts (§ 3 Abs. 1 IHKG) hoheitliche Aufgaben wahr (§ 1 Abs. 1, 3 und 4 IHKG), sind darüber hinaus auch Berater und Interessenvertreter ihrer Mitgliedsunternehmen gegenüber Kommunen, Landesregierungen und regionalen sowie staatlichen Stellen in wirtschaftlichen Angelegenheiten. Institution und Arbeit der IHKs in Deutschland finden inzwischen allerdings nicht mehr nur ungeteilten Beifall, sondern werden durchaus kritisch betrachtet, ja zum Teil wird den Wirtschaftskammern allgemein eine Legitimationskrise nachgesagt. 8 Neben einem Wahrnehmungsdefizit der Mitglieder hinsichtlich der Leistungsfähigkeit der IHKs sind es vor allem die Beitragspflicht (§ 3 Abs. 2, 3 IHKG) und die Pflichtmitgliedschaft (§ 2 Abs. 1 IHKG), die für die Kritik an den IHKs verantwortlich zeichnen. Verbandsflucht und Kammerverweigerung bestimmen die Wahrnehmung vom Kammerwesen inzwischen fast mehr als der Blick auf das eigentliche Leistungsportfolio der IHKs. 9 Obwohl nach den Instanzgerichten der Verwaltungsgerichtsbarkeit 10 vor allem das Bundesverfassungsgericht 11 für die verschiedenen Kammertypen die Vereinbarkeit der gesetzlichen Pflichtmitgliedschaft mit dem Grundgesetz immer wieder bestätigt hat 12 und obwohl auch die Politik ein klares Bekenntnis zu öffentlich-

___________ 7

IHKG vom 18.12.1956, BGBl. I, S. 920, mit Folgeänderungen. Zu den letzten materiellen Änderungsgesetzen siehe Jahn, R., Die Änderungen im Recht der Industrieund Handelskammern per 01.01.2004, in: Gewerbearchiv (GewArch) 2004, S. 41 ff. Zu den Änderungen per 01.01.2008 siehe Jahn, R., Die Änderungen im Kammerrecht durch das Zweite Mittelstands-Entlastungsgesetz, in: GewArch 2007, S. 353 ff. 8 Siehe zu dieser Entwicklung Jahn, R., Wirtschaftliche und freiberufliche Selbstverwaltung durch Kammern – Standortbestimmung und Entwicklungsperspektiven, in: GewArch 2002, S. 353 ff. m. w. N.; Stober, R., Kammern der Wirtschaft: Mehr als Pflichtmitgliedschaft, in: GewArch 2001, S. 393 ff. 9 Vgl. nur Müller, H., „Druck von unten“, in: managermagazin 4/2004, S. 147. 10 Überblick bei Jahn, R., Zur Entwicklung des Beitragsrechts der Industrie- und Handelskammern, in: GewArch 2005, S. 169 ff. 11 Siehe BVerfG, NVwZ 2002, 335 ff. (337). BVerfG, Beschl. vom 22.03.2006, 1 BvR 1726/05. 12 Zustimmend auch die juristische Literatur, vgl. Kluth, W., IHK-Pflichtmitgliedschaft weiterhin mit dem Grundgesetz vereinbar, in: NVwZ 2002, S. 298 ff.; Schöbener, B., Verfassungsrechtliche Aspekte der Pflichtmitgliedschaft in wirtschafts- und berufsständigen Kammern, in: Verwaltungsarchiv (VerwArch) 2000, S. 374 ff.

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rechtlich organisierten Selbstverwaltungseinrichtungen mit Pflichtmitgliedschaft abgelegt hat, 13 werden die IHKs „nach Tageslaune“ in Frage gestellt. Eine Ursache für diesen Befund ist sicher darin zu suchen, dass das Grundgesetz und die meisten Landesverfassungen in Deutschland keine besonderen Vorschriften zum Schutz der funktionalen Selbstverwaltung durch Kammern beinhalten. 14 Dies erklärt, warum die IHK-Organisationen in der Praxis immer wieder ihre Daseinsberechtigung und ihr Selbstverwaltungsrecht verteidigen müssen. In diesem Zusammenhang stellt sich allerdings auch die Frage, ob es über den näher zu betrachtenden verfassungsrechtlichen Schutz der Selbstverwaltungsidee hinaus auch einen weitergehenden verfassungsrechtlichen Schutz der IHK-Tätigkeit gibt. Insbesondere soll in dem nachfolgenden Beitrag auch der Frage nachgegangen werden, ob und in welchem Umfang die IHK-Tätigkeit, insbesondere im Bereich ihrer wettbewerbsrelevanten wirtschaftlichen Betätigung, Grundrechtsschutz beanspruchen, eine IHK also gegenüber dem Staat Abwehrrechte aus Grundrechtspositionen reklamieren kann. Daneben soll der Frage nachgegangen werden, ob sich über den aktuellen rechtlichen Status quo hinaus empfiehlt, die IHK-Tätigkeit als Bestandteil funktionaler Selbstverwaltung in Deutschland mit stärkerem verfassungsrechtlichen Schutz auszustatten.

II. Aufgabenspektrum und Aufgabenzuwachs der IHKs „Nach Schutz fragt, wer sich bedroht sieht.“ 15 Eine solche „Bedrohungslage“, die die Frage nach einem stärkeren verfassungsrechtlichen Schutz der IHK-Tätigkeit aufwirft, könnte sich aus dem Aufgabenspektrum der IHKs ergeben. Dazu ist zunächst ein Blick auf die Aufgabenvielfalt einer IHK zu werfen, nach der Qualität, der Beeinflussbarkeit von Aufgaben durch eine IHK und den Zugriffsrechten des Staates bei der Aufgabenerledigung zu fragen sowie schließlich zu untersuchen, welche Konsequenzen die Übertragung zusätzlicher Aufgaben vom Staat auf die IHKs haben. ___________ 13

Vgl. Ziff. 1 des Entschließungsantrages des Deutschen Bundestages vom 01.04. 1998, BT-Drs. 13/10297: „Der Deutsche Bundestag hält Kammern in der Form öffentlich-rechtlicher Körperschaften mit Pflichtmitgliedschaft als Selbstverwaltungseinrichtungen der Wirtschaft für weiterhin erforderlich und sachgerecht. Sowohl die Rechtsform als auch die daraus folgende gesetzliche Mitgliedschaft aller Kammerzugehörigen sind Konsequenz der den Kammern übertragenen hoheitlichen Aufgaben sowie der Aufgabe, das Gesamtinteresse der Wirtschaft im Kammerbezirk wahrzunehmen“. Siehe ferner BT-Drs. 15/3114 vom 04.05.2004. 14 Dazu näher unter IV. 15 Kluth, W., Das Selbstverwaltungsrecht der Kammern und sein verfassungsrechtlicher Schutz. – Exemplarisch untersucht am Beispiel des Art. 57 Nds. Verfassung, in: Kluth, W. (Hrsg.) Jahrbuch des Kammer- und Berufsrechts 2004, 2005, S. 13 ff. (14); siehe auch Kluth, W., Das Selbstverwaltungsrecht der Kammern und sein verfassungsrechtlicher Schutz, in: Die Öffentliche Verwaltung (DÖV) 2005, S. 368 ff.

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1. Gesamtinteressenvertretung Nach § 1 Abs. 1 IHKG obliegt es den IHKs, das Gesamtinteresse der ihnen zugehörigen Gewerbetreibenden zu vertreten; unterschiedliche Interessen einzelner Branchen und Unternehmen hat sie dabei abwägend und ausgleichend zu berücksichtigen. Im Rahmen der Gesamtinteressenvertretung sind die IHKs auf sämtlichen Ebenen des Staates durch Anhörungen und Stellungnahmen an der wirtschafts- und rechtspolitischen Meinungsbildung beteiligt. Auf Kommunalebene nehmen sie etwa zur Realsteuerpolitik (Art. 106 GG) oder als Träger öffentlicher Belange zu Bauleitplänen Stellung (§ 4 Abs. 3 BauGB). Sie äußern sich gegenüber den Kommunen auch zu anderen Infrastrukturmaßnahmen oder im Zusammenhang mit so genannten „weichen Standortfaktoren“. Auf Länderebene stehen die IHKs in ständigem Kontakt zu den Landesregierungen, Ministerien und wirken auf dieser Ebene bei Wirtschaftsförderungsmaßnahmen, Landesentwicklungsplanungen oder überörtlichen Infrastrukturfragen mit. Auf Bundesebene nehmen die IHKs – in der Regel über den DIHK als Spitzenorganisation – Einfluss auf die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung, äußern sich zu wirtschaftsrelevanten Gesetzes- und Verordnungsentwürfen und setzen sich für wirtschaftsfreundliche Rahmenbedingungen ein. Angesichts der überaus heterogenen Mitgliederstruktur einer IHK wird die Gesamtinteressenvertretung der IHK häufig als „undemokratisch“ betrachtet, weil es keine gleichgerichteten Interessen unterschiedlicher Branchen und Unternehmen unterschiedlicher Größe geben könne. Diese Sichtweise verkennt allerdings, dass „Gesamtinteressenvertretung“ im Sinne von § 1 Abs. 1 IHKG nicht mit der „Vertretung gemeinsamer Interessen“ gleichgesetzt werden darf und erst recht nicht gleichgesetzt werden darf mit der „Vertretung von Individualinteressen“. Die „abwägende und ausgleichende Berücksichtigung“ unterschiedlicher Interessenlagen ist das Ergebnis eines umfassenden Erkenntnisund Abwägungsprozesses. Verfahrensrechtlich wird dieser Abwägungsprozess durch die Beteiligung der dazu berufenen Organe, insbesondere der IHK-Vollversammlung (§ 4 IHKG), abgesichert und damit sichergestellt, dass die gesetzliche Aufgabe der Gesamtinteressenvertretung auf einem repräsentativen Willensbildungsprozess beruht. Mit dieser Maßgabe haben die Kammermitglieder über ihre in die Vollversammlung der IHK gewählten Vertreter (§ 5 IHKG) auch Einfluss auf den Umfang der wahrzunehmenden und zu finanzierenden Aufgaben. 2. Mitgliederservice Neben der Gesamtinteressenvertretung obliegt es nach § 1 Abs. 1 IHKG den IHKs, die gewerbliche Wirtschaft im eigenen Kammerbezirk zu fördern. Dieser Förderauftrag betrifft in erster Linie die Betreuung der kammerzugehörigen

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Unternehmen, ist also „nach innen“ gerichtet. Die IHKs stellen in diesem Kontext vielseitige und qualitativ hochwertige Dienstleistungsangebote zur Verfügung. Dazu zählen etwa Individualberatungen, Rundschreibendienste, Broschüren zu aktuellen Wirtschaftsfragen, Erstauskünfte und Merkblätter sowie regionale Wirtschaftsmagazine. 16

3. Aufgaben der Wirtschaftsverwaltung a) Klassifizierung der Wirtschaftsverwaltungsaufgaben IHKs sind Körperschaften öffentlichen Rechts (§ 3 Abs. 1 IHKG), die hoheitliche Aufgaben wahrnehmen, die der Staat ihnen durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes überträgt. Anders als die Kommunen haben die IHKs kein Recht auf Eigenzugriff zur Erledigung bestimmter Aufgaben, also keine Allzuständigkeit im Rahmen ihres räumlichen Hoheitsgebietes. 17 Den IHKs ist vielmehr ihr Aufgabengebiet vom Gesetzgeber ausdrücklich zugewiesen, so dass die Zuweisung die Zulässigkeit der Aufgabenerledigung bestimmt. Hierbei kann wie folgt unterschieden werden: – durch Spezialgesetz oder Rechtsverordnung übertragene Aufgaben (§ 1 Abs. 4 IHKG), deren Erledigung auch in Kooperation erfolgen kann (§ 1 Abs. 4 a IHKG); – aus § 1 Abs. 3 IHKG sich ergebende pflichtige Aufgaben (Erteilung von Ursprungszeugnissen und anderen dem Wirtschaftsverkehr dienende Bescheinigungen); – durch die Generalklausel des § 1 Abs. 1 IHKG zugewiesene Aufgaben.

b) Aufgabenerledigung als Teil der Selbstverwaltung Anders als bei Kommunen, die die Dichotomie von Aufgaben in eigener Verantwortung als Selbstverwaltungsangelegenheit einerseits und Erledigung staatlicher, übertragener Aufgaben andererseits kennen, sind für eine IHK sämtliche gesetzlich zugewiesene Pflichtaufgaben Selbstverwaltungsaufgaben mit Ordnungs- und Dienstleistungsfunktionen; das bedeutet, dass bei sämtlichen den IHKs übertragenen Aufgaben die Staatsaufsicht auf eine bloße Rechtmäßigkeitskontrolle beschränkt ist (§ 11 IHKG), eine Fachaufsicht also ___________ 16 Siehe auch Jahn, R., Interne Willensbildungsprozesse in wirtschaftlichen Selbstverwaltungskörperschaften am Beispiel der Industrie- und Handelskammern, in: WiVerw 2004, S. 133 ff. (139). 17 Vgl. Knemeyer (Fn. 5), S. 1 ff. (3).

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nicht stattfindet. 18 Die meisten Aufgabenzuweisungen (§ 1 Abs. 4 IHKG) sind in Fachgesetzen außerhalb des IHKG und in Rechtsverordnungen normiert. Nach mehr als 50 Einzelvorschriften verschiedener Gesetze und Verordnungen sind den IHKs auf diese Weise verschiedene hoheitliche Aufgaben übertragen. 19 Zu diesen spezialgesetzlich zugewiesenen Aufgaben zählen etwa die Registrierung von Ausbildungsverträgen und die Abnahme von Prüfungen nach dem Berufsbildungsgesetz (BBiG), die Bestellung und Vereidigung von Sachverständigen (§ 36 Abs. 1 GewO) oder die Begutachtung von Anträgen bei zulassungspflichtigen Gewerben (§ 34 c GewO) sowie die Abnahme von Sachkundeprüfungen (z. B. im Bewachungsgewerbe, § 34 a GewO). c) Zuwachs an staatlicher Aufgabenübertragung In den letzten Jahren sind gerade den IHKs eine Reihe zusätzlicher Aufgaben übertragen worden, deren sich der Staat entledigt hat. Dies gilt sowohl auf Bundes- wie auf Landesebene. Auch auf EU-Ebene zeigt sich inzwischen in einer Vielzahl von Stellungnahmen und Richtlinienentwürfen der EU-Kommission der Trend, die IHKs als Akteure im Binnenmarkt im Sinne einer bürgernahen Verwaltung in Dienst zu nehmen. 20 Im Bereich der Bundesgesetzgebung ist in den letzten Jahren beispielsweise intensiv über die Verlagerung der Zuständigkeit für die Führung des Handelsund anderer Register von den Zivilgerichten auf die IHKs diskutiert worden. 21 In der jüngsten Vergangenheit sind den IHKs bundesgesetzlich übertragen worden: – die Umsetzung der Berufskraftfahrerrichtlinie 22 . Hierbei haben die IHKs ab September 2008 bei Fahrerlaubnisinhabern im Omnibus- und gewerblichen Personenbeförderungsverkehr zusätzlich zur Fahrerlaubnis eine (beschleunigte) Grundqualifikation durch Abnahme einer Prüfung festzustellen, ___________ 18

Siehe Jahn (Fn. 16), in: WiVerw 2004, S. 133 ff. (139). Siehe zum Aufgabenspektrum BT-Drs. 14/9195, S. 9, Ziff. 4 b, Anlage 1; Industrie- und Handelskammern der Bundesrepublik Deutschland – Aufgaben und Gesetz, herausgegeben vom DIHK, Stand: April 2004, S. 6. 20 Siehe in diesem Kontext insbesondere den Entwurf für eine EU-Dienstleistungsrichtlinie, vgl. Kluth, W., Die Bedeutung der EU-Dienstleistungsrichtlinie für die Kammern und ihre Aufgaben, in: Kluth, W. (Hrsg.), Jahrbuch des Kammerrechts 2003, 2004, S. 94 ff. 21 Siehe zu dieser Diskussion Schöpe, V., Rechtsprobleme der Reorganisation des Handelsregisters, in: Zeitschrift für Rechtspolitik (ZRP) 1999, S. 449 ff.; Ulmer, P., Handelsregisterführung durch die Industrie- und Handelskammern?, in: ZRP 2000, S. 47 ff.; Borchert, H.-U., Übertragung der Handelsregisterführung von den Gerichten auf die Industrie- und Handelskammern, in: BB 2003, S. 2642. Siehe auch BT-Drs. 15/1890, S. 15. 22 Siehe Gesetz vom 14.08.2006, BGBl. I, S. 1958 ff. 19

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– die Umsetzung der EU-Versicherungsvermittlerrichtlinie durch das Gesetz zur Neuregelung des Versicherungsvermittlerrechts 23 . Nach dem neuen Gesetz dürfen Versicherungsvermittler und Versicherungsberater gewerbsmäßig nur noch tätig werden, die in einem zentralen Online-Register verzeichnet sind, das der DIHK als gemeinsame Stelle führt. Zudem benötigen Versicherungsmakler und Versicherungsvertreter grundsätzlich eine Erlaubnis; als Registrierungs- und Erlaubnisstelle sieht das Gesetz die IHKs vor. Auch im Bereich der Landesgesetzgebung werden in der jüngeren Vergangenheit vermehrt Überlegungen angestellt, den IHKs weitere staatliche Aufgaben zu übertragen. 24 In Bayern wird derzeit beispielsweise erwogen, im Sachverständigenwesen bislang bei den Bezirksregierungen als Mittelbehörde angesiedelte Bestellungszuständigkeiten auf die IHKs zu übertragen. 25

d) Konsequenzen des Aufgabenzuwachses Die Zuweisung neuer staatlicher Aufgaben an die IHKs bewirkt nicht nur eine Zunahme an Erledigungsverantwortung, sondern zusätzliche Verwaltungsund Finanzierungslast. Damit einher geht ein tendenziell steigender Personalbedarf mit der damit verbundenen finanziellen Verantwortung. Außerdem ist mit der Ausdehnung staatlicher Aufgabenübertragung auf IHKs immer auch die Frage des staatlichen Einflusses durch Weisungsrechte bei der Aufgabenerledigung verbunden; insbesondere wird in diesem Kontext regelmäßig diskutiert, ob die IHKs bei der Aufgabenerledigung auch einer Fachaufsicht unterworfen sein sollen oder (weiterhin) bloß einer Rechtsaufsicht der nach Landesrecht zuständigen Aufsichtsbehörde (§ 11 IHKG). Die hiermit angesprochenen Fragen rücken den Blick nicht nur auf den Geltungsumfang des IHK-Selbstverwaltungsrechts bei der Aufgabenerledigung, sondern auch auf weitergehende Schutzrechte der IHKs gegenüber dem Staat, an dessen Stelle die IHKs tätig werden.

___________ 23 Vom 19.12.2006, BGBl. I, S. 3233 ff. Siehe dazu Jahn, R. / Klein, T., Neues Versicherungsvermittlerrecht – Eine systematische Darstellung der rechtlichen Grundlagen und Probleme, in: Neue Wirtschafts-Briefe (NWB) 2007, S. 1707 ff. 24 Zur Rechtslage in Niedersachen siehe Kluth (Fn. 15), Jahrbuch des Kammerrechts 2004, 2005, S. 13 ff. (17 ff.). 25 Die zweite Ressortanhörung zur Aufhebung des Bayerischen Sachverständigengesetzes ist inzwischen abgeschlossen.

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III. Grundrechtsschutz der IHK-Tätigkeit? Die Beantwortung der Frage nach der Reichweite des verfassungsrechtlichen Schutzes der IHK-Tätigkeit reizt zu der Frage, ob sich IHKs im Verhältnis zum Staat auch auf die Geltung von Grundrechten berufen können. Hierbei ist zu differenzieren nach den Verfahrensgrundrechten einerseits und den materiellen Grundrechten andererseits.

1. Geltung der Justiz-Grundrechte Das Grundgesetz schützt subjektive Rechte des Einzelnen nicht nur durch den Grundrechtskatalog der Art. 1 ff. GG, sondern verschafft durch die so genannten Prozessgrundrechte bzw. Justiz-Grundrechte (Art. 101 Abs. 1; 103 GG) auch Grundrechtsschutz durch Verfahren. Diese Prozessgrundrechte sind wesentlicher Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips 26 und sowohl Normen des objektiven Rechts wie auch grundrechtsähnliche Rechte der Begünstigten, die mit Verfassungsbeschwerde verteidigt werden können (Art. 93 Abs. 4a GG; §§ 90 ff. BVerfGG). Allgemein anerkannt ist, dass sich auf die Prozessgrundrechte auch der Staat und öffentlich-rechtliche Organisationen, also auch IHKs, berufen können. 27

2. Grundrechtsfähigkeit der IHKs a) Grundrechtsfähigkeit bei Beteiligung an gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen Nach Art. 19 Abs. 3 GG wird die Grundrechtsträgerschaft auch inländischen juristischen Personen zuerkannt. Hierzu zählen jedenfalls juristische Personen des Privatrechts, soweit die jeweiligen Grundrechte ihrem Wesen nach auf die juristische Person anwendbar sind, also nicht wegen ihres ausschließlichen Bezugs zu Menschen als Individuen (z. B. Art. 1 Abs. 1 GG – Menschenwürde; Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG – Leben und körperliche Unversehrtheit; Art. 3 Abs. 2 GG – Gleichberechtigung der Geschlechter; Art. 6 GG – Ehe und Familie) von vornherein auf rechtlich verselbstständigte Personenvereinigungen übertragbar sind. ___________ 26

BVerfGE 9, 95. BVerfGE 6, 45 (49 ff.); 13, 32 (139 ff.); 21, 362 (373 ff.); 61, 82 (104 ff.); 75, 192 (200); Heusch, A., in: Kluth, W. (Hrsg.), Handbuch des Kammerrechts, 2005, M Rn. 84; Schöbener, B., in: Kluth, W. (Hrsg.), Handbuch des Kammerrechts, 2005, M Rn. 14 (Fn. 26). 27

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Nach § 1 Abs. 2 IHKG können die IHKs Anlagen und Einrichtungen, die der Förderung der gewerblichen Wirtschaft oder einzelner Gewerbezweige dienen, begründen, unterhalten und unterstützen. Solche der Förderung der gewerblichen Wirtschaft dienenden Anlagen und Einrichtungen sind neben betrieblichen Lehrwerkstätten, Bildungszentren und Schlichtungsstellen 28 auch Beteiligungen an Wirtschaftsförderungsgesellschaften oder Technologiezentren, häufig in der Rechtsform einer GmbH, an denen häufig auch Private als Gesellschafter beteiligt sind. Ein solches gemischt-wirtschaftliches Unternehmen, an dem eine IHK zulässigerweise beteiligt ist, 29 kann sich gemäß Art. 19 Abs. 3 GG auch auf Grundrechtspositionen (etwa Art. 2 Abs. 1; 14 Abs. 1 GG) berufen. 30

b) Grundrechtsgeltung für IHK-Tätigkeit Gerade vor dem Hintergrund zunehmender staatlicher Aufgabenübertragung auf die IHKs stellt sich die Frage, ob IHKs auch außerhalb ihrer Beteiligung an „gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen“ grundrechtsberechtigt sind. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 31 gelten die Grundrechte für juristische Personen des öffentlichen Rechts grundsätzlich nicht, soweit sie öffentliche Aufgaben wahrnehmen. Der Grund hierfür liegt darin, dass die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben durch juristische Personen des öffentlichen Rechts wie IHKs regelmäßig nicht unter Inanspruchnahme grundrechtlicher Freiheit erfolgt, sondern kraft staatlicher Kompetenzzuweisung zur Erfüllung gesetzlich zugewiesener öffentlicher Aufgaben. Neben den Prozessgrundrechten genießt eine juristische Person des öffentlichen Rechts ausnahmsweise Grundrechtsschutz auch bei der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben dann, wenn sie ausnahmsweise dem durch das Grundrecht geschützten Lebensbereich unmittelbar zuzuordnen ist, 32 nämlich den Bürgern zur Verwirklichung ihrer Grundrechte dient und als eigenständige, vom Staat unabhängige oder jedenfalls distanzierte Einrichtung Bestand hat. Dies ist bislang in der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung für Universitäten und deren ___________ 28

Vgl. dazu Frentzel, G. / Jäkel, E. / Junge, W., IHKG, 6. Aufl. 1999, § 1 Rn. 68 ff. Siehe zu den Beteiligungsgrenzen bei einer Beteiligung an einer Flugplatz-Betriebs GmbH BVerwG, GewArch 2001, 161; VG München, Urteil vom 29.08.2006, M 16 K 05.4790; Jahn, R., Abwehransprüche gegen eine Industrie- und Handelskammer bei Aufgabenüberschreitung, in: NWB Fach 15, S. 715 ff.; Jahn, R., Die Kontrolle von Unternehmen und Beteiligungen der Kammern, in: GewArch 2006, S. 89 ff. 30 Schöbener (Fn. 27), L Rn. 16, dort offen gelassen. 31 BVerfGE 21, 362 (371 ff.); 39, 302 (312 ff.); 45, 78; 61, 82 ff. (101); 68, 193 ff. (206 ff.). 32 BVerfGE 31, 322; 62, 369 ff. 29

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Fakultäten in Bezug auf das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG) sowie für die Rundfunkanstalten hinsichtlich des Grundrechtes der Freiheit der Berichterstattung (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG) anerkannt worden. 33 Entsprechendes gilt für die Kirchen und sonstigen Religionsgesellschaften sowie ihre Untergliederungen – auch in Form von Körperschaften des öffentlichen Rechts – hinsichtlich des Grundrechtes der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG), da sie in diesem Eigenbereich weder staatliche Aufgaben wahrnehmen noch staatliche Gewalt ausüben. 34 Die Ausdehnung des vorgenannten Ausnahmekatalogs der Grundrechtsfähigkeit öffentlich-rechtlicher Körperschaften auf IHKs versagt. Allerdings versagt die verfassungsrechtliche Rechtsprechung den IHKs die Grundrechtsberechtigung bislang nur, „soweit“ sie öffentliche Aufgaben wahrnimmt. Diese Einschränkung indiziert, dass es offenbar auch bei Körperschaften öffentlichen Rechts einen Bereich geben kann, der grundrechtsgeschützt ist, weil es gerade dort eine „grundrechtstypische Gefährdungslage“ gibt, die ein entsprechendes verfassungsrechtliches Abwehrrecht gegenüber dem Staat erfordert. Ein solcher grundrechtsgeschützter Bereich einer IHK ist beispielsweise denkbar in Bezug auf ihr eigenes Körperschaftsvermögen, das insoweit unter Berufung der IHK auf Art. 14 Abs. 1 GG grundsätzlich einem staatlichen Zugriff entzogen ist. Fraglich ist, ob sich eine solche Erweiterung des (verfassungsrechtlichen) Schutzes auf die IHK-Tätigkeit auch auf deren wirtschaftliche Betätigung ausdehnen lässt. Die wirtschaftliche Betätigung von IHKs genießt gerade vor der gesetzgeberischen Idee, dass sich IHKs nur nachrangig aus Pflichtbeiträgen ihrer Mitglieder finanzieren sollen (§ 3 Abs. 2 IHKG), zunehmend an Bedeutung. 35 IHKs ist es nicht von vornherein verboten, am wirtschaftlichen Wettbewerb teilzunehmen, sich also erwerbswirtschaftlich zu betätigen. Insbesondere schützt Art. 12 Abs. 1 GG konkurrierende private Wettbewerber grundsätzlich nicht vor (staatlicher) IHK-Konkurrenz. 36 Allerdings sind IHKs im Unterschied zu privaten Rechtsträgern bei ihrer wirtschaftlichen Betätigung gerade keine Grundrechtsträger, weil ihre wirtschaftliche Tätigkeit nicht auf der Inanspruchnahme grundrechtlicher Betätigungsfreiheit beruht, sondern kraft staatli___________ 33

BVerfGE 61, 102. BVerfGE 53, 387; 57, 240 ff. 35 Die IHK Würzburg-Schweinfurt hat sich beispielsweise im Jahr 2006 nur zu rund 40 % aus Beitragseinnahmen, im Übrigen aber auch eigenerwirtschafteten Einnahmen finanziert. Dazu zählen insbesondere auch Einnahmen aus Weiterbildungsgeschäft, also aus wirtschaftlicher Betätigung. 36 Vgl. BVerwGE 17, 306 (308 ff.); 71, 183 (193 ff.); Schöbener (Fn. 27), L Rn. 15 m. w. N. 34

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cher Kompetenzzuweisung (§ 1 Abs. 1, 2 IHKG) erfolgt. Wenn sich eine IHK also erwerbswirtschaftlich betätigt, tut sie dies nicht unter Berufung auf eine unternehmerische Entfaltungsfreiheit, sondern Erledigung einer öffentlichen Aufgabe, die ihr von Gesetzes wegen zugewiesen ist. 37 Das bedeutet, dass die IHK im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Betätigung nicht grundrechtsberechtigt, sondern vielmehr grundrechtsverpflichtet ist, also die widerstreitenden Grundrechte privater Konkurrenten zu beachten hat. Diese Grundsätze fehlender Grundrechtsfähigkeit, soweit öffentliche Aufgaben erledigt werden, gelten auch, wenn sich eine IHK zur Erfüllung der Aufgabe zulässigerweise privatrechtlicher Organisationsformen (z. B. GmbH) bedient. Denn eine IHK kann auch nicht durch eine „Flucht ins Privatrecht“ einen Grundrechtsschutz erlangen, der ihr als öffentlich-rechtlicher Körperschaft nicht zusteht. 38

IV. (Verfassungs-)rechtlicher Schutz der funktionalen Selbstverwaltung 1. Einfachgesetzlicher Schutz der IHK-Selbstverwaltung Als Kammer wirtschaftlicher Selbstverwaltung findet die Tätigkeit der IHK ihre unmittelbare Legitimation zunächst im einfachen Gesetzesrecht, nämlich im IHKG. Hierbei lassen sich typische Strukturelemente ausmachen, die für eine öffentlich-rechtliche Körperschaft mit Selbstverwaltungsbefugnissen wesentlich sind. Diese Strukturelemente lassen sich wie folgt zusammenfassen:39 – Die Bezirksgebietshoheit beschreibt als einfachgesetzliche Garantie die räumliche Zuständigkeit der jeweiligen IHK. Diese hat nach § 1 Abs. 1 IHKG u. a. das Gesamtinteresse der Kammerzugehörigen „ihres Bezirkes“ wahrzunehmen, wobei das räumliche Hoheitsgebiet der jeweiligen IHK durch die nach Landesrecht zuständige Stelle definiert wird. 40

___________ 37

Im Bereich des IHK-Weiterbildungsgeschäftes, also in Erledigung des öffentlichen Bildungsauftrages nach § 1 Abs. 1 IHKG in Verbindung mit dem BBiG. 38 Vgl. Knemeyer (Fn. 5), S. 1 (21 ff.). Zur „Flucht ins Privatrecht“ siehe auch BGHZ 29, 76 (80); 91, 84 (96 ff.). 39 Vgl. auch Jahn, R., Grundlagen wirtschaftlicher Selbstverwaltungskörperschaften am Beispiel der Industrie- und Handelskammern, in: Juristische Ausbildung (JA) 1995, S. 972 ff. (977); Frentzel / Jäkel / Junge (Fn. 28), § 1 Rn. 224 ff. 40 In Bayern beispielsweise durch die Bayerische Staatsregierung, die durch Rechtsverordnung die Bezirksgrenzen einer IHK ändern kann, vgl. Art. 8 AGIHKG vom 25.03.1958, Bay RS 701-1-W.

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– Die Mitgliederhoheit verkörpert die gesetzliche Pflichtmitgliedschaft der kammerzugehörigen Gewerbetreibenden im jeweiligen IHK-Bezirk (§ 2 Abs. 1 IHKG). 41 – Die Aufgabenhoheit garantiert die eigenverantwortliche Erledigung freiwillig wahrzunehmender und gesetzlich übertragener Aufgaben (§ 1 Abs. 1, Abs. 3, Abs. 4 IHKG). – Die Organisationshoheit ist die Befugnis zur Selbstordnung der inneren Organisationsstrukturen und Verwaltungsabläufe, insbesondere die Bildung eigenständiger Organe (z. B. § 5 Abs. 1, § 6 Abs. 1, § 7 Abs. 1, § 8 IHKG) aufgrund freier, nach demokratischen Grundsätzen erfolgender Wahlen. – Die Kooperationshoheit beschreibt die Befugnis, die gesetzlich zugewiesenen Aufgaben einer IHK auch in Zusammenarbeit mit anderen kooperativ zu erledigen (§ 1 Abs. 4 a IHKG). – Die Personalhoheit beschreibt die Befugnis einer IHK, ihren Personalbedarf auf Grundlage der zu erledigenden Aufgaben selbst zu definieren und das hierfür erforderliche Personal anzustellen. – Die Finanz-, Haushalts- und Abgabenhoheit (§ 3 Abs. 2; § 4 Satz 2 Nr. 2, 3 und 4 IHKG) garantieren die finanzielle Unabhängigkeit auf der Einnahmen- und Ausgabenseite der IHK. – Die Satzungshoheit verkörpert die autonome Rechtsetzungsbefugnis im jeweiligen IHK-Bezirk (§ 4 IHKG). – Eine gegenständlich beschränkte Rechtsaufsicht und das Fehlen einer Fachaufsicht sichert der IHK die gegenüber dem Staat bei der Aufgabenerledigung erforderliche Unabhängigkeit.

2. Verfassungsrechtlicher Schutz der IHK-Selbstverwaltung a) Schutzregelungen im Landesverfassungsrecht Die überwiegende Zahl der Landesverfassungen enthalten keine besonderen Vorschriften zum Schutz der funktionalen Selbstverwaltung, und damit auch nicht zum Schutz der IHKs, sondern beschränken sich auf die verfassungsrechtliche Garantie des Selbstverwaltungsrechts der Gemeinden und Landkreise (z. B. Art. 11 Abs. 2 Bayerische Verfassung). Allerdings verfügen die Landesverfassungen von Baden-Württemberg, Niedersachsen und Sachen-Anhalt ___________ 41

Zur Verfassungsmäßigkeit der IHK-Pflichtmitgliedschaft siehe die umfangreichen Rechtsprechungsnachweise bei Jahn, R., Zur Entwicklung des Beitragsrechts der Industrie- und Handelskammern – ein Rechtsprechungsreport 2000 bis 2004, in: GewArch 2005, S. 169 ff. (171 f.).

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über Regelungen zum verfassungsrechtlichen Schutz der funktionalen Selbstverwaltung. Dabei gewähren die Verfassungen von Baden-Württemberg (Art. 71 baden-württembergische Landesverfassung) und Niedersachsen (Art. 57 niedersächsische Landesverfassung) 42 den Trägern funktionaler Selbstverwaltung einen der kommunalen Selbstverwaltung vergleichbaren Schutz, während die Verfassung von Sachsen-Anhalt (Art. 87 Abs. 5 Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt) lediglich die Bildung von Trägern funktionaler Selbstverwaltung legitimiert. Soweit im Landesrecht spezifische Schutzregelungen für das Selbstverwaltungsrecht der Kammern (also auch der IHKs) enthalten sind, ist dies eine verfassungsrechtliche Grundentscheidung des jeweiligen Landesgesetzgebers für eine subsidiäre, dezentrale und bürgernahe Verwaltungsform.

b) Kein Schutz durch Bundesverfassungsrecht Neben dem zuvor beschriebenen landesverfassungsrechtlichen Schutz funktionaler Selbstverwaltungstätigkeit stellt sich die Frage, ob auch das Grundgesetz für die funktionale Selbstverwaltung in Wirtschafts- und berufsständischen Kammern, mithin auch für die IHKs, eine der kommunalen Selbstverwaltung (Art. 28 Abs. 2 GG, Art. 93 Abs. 1 Nr. 4b GG) ähnliche institutionelle und gerichtlich durchsetzbare Gewährleistung vorsieht. Ausgangspunkt ist dabei die Feststellung, dass das Grundgesetz die Selbstverwaltungsidee durchaus an mehreren Stellen wach hält. „Selbstverwaltung“ verkörpert hierbei als staatliche Untergliederung den auf freiheitlichen Grundüberzeugungen beruhenden Partizipationsgedanken, die Gesellschaft an öffentlichen Angelegenheiten zu beteiligen. Im Grundgesetz ist dieser Selbstverwaltungsgedanke neben der kommunalen Selbstverwaltung verkörpert für die Kirchen (Art. 140 GG; Art. 137 Abs. 3 WRV), für die akademische Selbstverwaltung (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG) sowie für die soziale Selbstverwaltung (Art. 87 Abs. 2 GG). Die wirtschaftliche Selbstverwaltung durch IHKs (und andere Kammern) genießt demgegenüber im positiven Recht keinen unmittelbaren verfassungsrechtlichen Schutz, insbesondere keine explizite Funktionsgarantie. 43 Die IHKs ___________ 42

Art. 57 Abs. 1 Nds. Verfassung vom 19.05.1993, Nds. GVBl S. 107, hat folgenden Wortlaut: „(1) Gemeinden und Landkreise und die sonstigen öffentlich-rechtlichen Körperschaften verwalten ihre Angelegenheiten im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung.“ Zur genauen Analyse dieser Vorschrift und Anwendbarkeit auf die Kammern siehe Kluth (Fn. 15), Jahrbuch des Kammer- und Berufsrechts 2004, 2005, S. 13 ff. (20 ff.). 43 Vgl. Hendler, R., Geschichte und Idee der funktionalen Selbstverwaltung, in: Kluth, W. (Hrsg.) Jahrbuch des Kammerrechts 2002, 2003, S. 9 ff.; Tettinger (Fn. 3), S. 73 ff.; ders., Wirtschaftliche und freiberufliche Selbstverwaltung. – Aktuelle Rechtsund Organisationsfragen, in: DÖV 1995, S. 169 ff. (170); Schöbener (Fn. 15), L Rn. 17.

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können nach Funktionsweise und Aufgabenzuweisung auch nicht mit den Gemeinden oder Landkreisen verglichen werden: Während letztgenannte im Rahmen ihrer örtlichen Allzuständigkeit im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung entscheiden, stehen IHKs nur die ihr gesetzlich zugewiesenen Aufgaben und Befugnisse zu. Dennoch kann bereits kraft Erwähnung funktionaler Selbstverwaltungseinrichtungen im Grundgesetz (Art. 90 Abs. 2; 86; 87 Abs. 2 und 3; Art. 130 Abs. 3 GG) davon ausgegangen werden, dass auch IHKs als funktionale Selbstverwaltungskörperschaften aus Sicht des Grundgesetzes die Selbstverwaltungsidee verkörpern und damit an sich schutzwürdig sind. 44

3. Erweiterung des verfassungsrechtlichen Schutzes der IHKs? a) Notwendigkeit erweiterter verfassungsrechtlicher Schutzgewährleistung In der jüngeren verfassungsrechtlichen Rechtsprechung hat der Rückgriff auf den Selbstverwaltungsgedanken bei Wirtschaftskammern an Bedeutung gewonnen. Nach dem Bundesverwaltungsgericht, das nicht nur die Verfassungsmäßigkeit der Pflichtmitgliedschaft in der IHK (§ 2 Abs. 1 IHKG), 45 sondern auch die Verfassungsmäßigkeit der Pflichtmitgliedschaft in der Handwerkskammer (§ 90 Abs. 2 HandwO) festgestellt hat, 46 ist die Pflichtmitgliedschaft auch vom Bundesverfassungsgericht mehrfach bestätigt worden. Insbesondere für die Verfassungsmäßigkeit der IHK-Pflichtmitgliedschaft hat das Bundesverfassungsgericht 47 darauf abgestellt, dass die IHKs „legitime öffentliche Aufgaben erfüllen“, und die „freiheitssichernde und legitimatorische Funktion durch die Chance zur Beteiligung und Mitwirkung an staatlichen Entscheidungsprozessen“ bekräftigt. Später hat das Bundesverfassungsgericht 48 besonders die funktionale Selbstverwaltung betont: Der Gesetzgeber schaffe ein wirksames Mitspracherecht der Betroffenen durch Wahlen, aktiviere verwaltungsexternen Sachverstand, erleichtere einen sachgerechten Interessenausgleich und trage so dazu bei, dass die von ihm beschlossenen Zwecke und Ziele effektiver erreicht werden. Das Bundesverfassungsgericht misst also jedenfalls in seiner jüngeren Rechtsprechung der funktionalen Selbstverwaltung durch Kammern ein stärkeres Gewicht als bislang bei und betont mit der Dezentralität (also Orts- und Bürgernähe) und der Betroffenen- Mitwirkung (also Sachnähe), ___________ 44 45 46 47 48

BVerfGE 10, 89 ff. (104). BVerwGE 107, 169. BVerwGE 108, 169. BVerfG, GewArch 2002, S. 111 ff. = NVwZ 2002, 335 ff. BVerfG, GewArch 2003, S. 290 ff.; BVerfG, GewArch 2005, 72 ff.

Zum verfassungsrechtlichen Schutz der IHK-Tätigkeit

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der Kooperation und der Subsidiarität auch für die IHKs Leitbilder, die bislang in gleicher Weise auch für die kommunale Selbstverwaltung prägend waren. Für einen stärkeren (bundes-)verfassungsrechtlichen Schutz der IHK-Selbstverwaltung spricht auch der oben beschriebene, gerade in den letzten Jahren feststellbare Aufgabenzuwachs bei IHKs. Mit dieser Aufgabendelegation werden für die IHKs Erledigungspflichten und in aller Regel von den Kammerzugehörigen zu tragende Abgabenlasten begründet. Wenn der Staat also im Sinne von mehr Subsidiarität und Dezentralität die IHKs für geeignete Stellen erachtet, um in Selbstverwaltung bislang staatliche Aufgaben zu erledigen, wäre es nur konsequent, wenn mit der Aufgabendelegation auch der entsprechende verfassungsrechtliche Schutz der IHK-Selbstverwaltung einherginge. In diese Richtung weist auch der Entwurf einer „Charta der funktionalen Selbstverwaltung durch Wirtschafts- und Berufskammern“. 49 Mit Regelungen zum Wesen der funktionalen Kammerselbstverwaltung, Umfang und Schutz des Selbstverwaltungsrechtes, der Staatsaufsicht und der Finanzierung beinhaltet dieser Entwurf einer Charta ein Bekenntnis zur funktionalen Selbstverwaltung als Fundament eines leistungsfähigen und bürgernahen Verfassungsstaates. Mit der Charta soll die Rolle und Funktion von Wirtschafts- und Berufskammern in der Staats- und Gesellschaftsordnung des Grundgesetzes verdeutlicht und die Gesetzgebungsorgane auf Bund- und Länderebene aufgefordert werden, über eine Stärkung der verfassungsrechtlichen Grundlagen des Selbstverwaltungsrechts der Kammern zu beraten.

V. Fazit Die Untersuchung hat gezeigt, dass der verfassungsrechtliche Schutz der IHK-Tätigkeit derzeit auf Bundes- und Länderebene nur bruchstückhaft geregelt ist. Als öffentlich-rechtliche Körperschaften genießen IHKs keinen Grundrechtsschutz, soweit sie sich auf dem Gebiet der Erledigung gesetzlich zugewiesener Aufgaben bewegen. Außerhalb dieses Bereiches erscheint allerdings eine Grundrechtsberechtigung der IHKs im Sinne subjektiver Abwehrrechte gegen den Staat durchaus denkbar. Das Selbstverwaltungsrecht der IHKs ist aktuell nur einfach gesetzlich im IHKG, im Übrigen nur in einigen Landesverfassungen verfassungsrechtlich abgesichert. Die Selbstverwaltungsgarantie des Grundgesetzes (Art. 28 Abs. 2 GG) ist auf IHKs weder unmittelbar noch analog anwendbar, weil IHKs – anders als Gemeinden und Landkreise – gerade keine Allzuständigkeit besitzen, ___________ 49 Siehe den Text der Charta auf der Homepage des Instituts für Kammerrecht (Halle), Stand: Dezember 2006, www.kammerrecht.de.

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sondern ihr Tätigwerden von der Aufgabenzuweisung bestimmt wird. Ein in den letzten Jahren zu beobachtender stetiger Aufgabenzuwachs bei den IHKs durch Delegation ehemals staatlicher Aufgaben ließe es allerdings konsequent erscheinen, umgekehrt den Kammern auch einen verfassungsrechtlichen Schutz ihrer Selbstverwaltungstätigkeit zu konzedieren.

Die Kollisionsnormen des Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetzes – anwendbares Recht und Aufsichtszuständigkeit nach Umsetzung der Übernahmerichtlinie Michael Hakenberg

I. Die Entwicklung des Übernahmerechts Als ich Ende der siebziger Jahre in Würzburg bei Dieter Blumenwitz studierte und später promovierte, gab es weder eine europarechtliche Regelung von Übernahmen noch verbindliche deutsche Vorschriften dazu. Das Übernahmerecht, also die Regulierung öffentlicher Angebote zum Erwerb der Anteile an einer börsennotierten Gesellschaft 1 , steckte hierzulande in den Kinderschuhen. Insgesamt war das Europarecht damals stärker vom öffentlichen Recht geprägt als heute, da die Harmonisierung des Rechts der Mitgliedstaaten vielen Aktivitäten der EG ein eher privat- oder wirtschaftsrechtliches Antlitz verleiht. Dieter Blumenwitz hat die friedenssichernde Rolle dieser Entwicklung, die ihm völkerrechtlich so am Herz lag, früh erkannt und mit großem Interesse verfolgt.

1. In Europa Die europarechtliche Entwicklung des Übernahmerechts 2 hatte 1974 mit dem Pennington-Report 3 begonnen und führte 1989 zu einem ersten Kommissionsentwurf einer Richtlinie 4 , die man damals noch als 13. gesellschaftsrechtliche Richtlinie plante und entsprechend bezeichnete. Dieser Entwurf wurde erst geändert und dann verworfen. Es folgten Jahre politischer Diskussionen, ___________ 1

Vgl. §§ 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz (WpÜG). Hierzu insgesamt Hirte, H., in: Kölner Kommentar zum WpÜG, 2003, Einl. Rn. 60 ff.; Maul, S. / Muffat-Jeandet, D., Die EU-Übernahmerichtlinie – Inhalt und Umsetzung in nationales Recht, in: Die Aktiengesellschaft (AG) 2004, S. 221 (223 ff.). 3 Dazu Pötzsch, T., in: Assmann, H.-D. / Pötzsch, T. / Schneider, U. (Hrsg.), Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz, 2005, Einl. Rn. 60. 4 Amtsblatt (ABl.) EG Nr. C 64 v. 14.03.1989, S. 8. 2

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bei denen immer die Frage im Zentrum stand, ob Leitungs- und Verwaltungsorgane einer Zielgesellschaft eher einer strengen oder weniger strengen Neutralitätspflicht unterliegen sollten. Je strenger diese Pflicht ausgestaltet ist, desto weniger Abwehrmöglichkeiten stehen der Zielgesellschaft zur Verfügung, die Übernahme zu vereiteln. Die Deutsche Bundesregierung hat dabei stets eine übernahmeskeptische Haltung eingenommen, während z. B. Großbritannien einen kapitalmarktorientierten, liberaleren Ansatz vertrat. Trotz dieser Gegensätze wurde 2000 vom Rat ein Gemeinsamer Standpunkt 5 verabschiedet, der als politischer Kompromiss die Billigung aller zu haben schien, aber überraschend im Europäischen Parlament durch fiel. Nach Einsetzung einer Expertenkommission 6 und einem neuerlichen, von Portugal angeregten Kompromiss wurde die Richtlinie am 16. Dezember 2003 doch noch vom Europäischen Parlament und am 30. März 2004 vom Rat gebilligt. Sie trat am 20. Mai 2004 in Kraft 7 und war bis zum 20. Mai 2006 von den Mitgliedstaaten umzusetzen. 8 Die Verabschiedung der Übernahmerichtlinie war nur möglich geworden, weil sie den Mitgliedstaaten größtmögliche Freiheiten bei der Verwirklichung ihrer kapitalmarktrechtlichen Ordnungsvorstellungen lässt. Die Richtlinie enthält zwar in Art. 9 ein relativ strenges Verbot, Übernahmen zu vereiteln 9 , und mit Art. 11 eine flankierende Vorschrift, die Verfügungs- und Stimmrechtsbeschränkungen unwirksam macht, die Mitgliedstaaten können von der Umsetzung dieser Vorschriften jedoch absehen (Art. 12 Abs. 1, sog. Opt–out). Es steht ihnen dadurch frei, inländischen Zielgesellschaften an Stelle der übernahmefreundlicheren Regelungen der Art. 9 und 11 größere Verteidigungsmöglichkeiten einzuräumen. Es muss lediglich sichergestellt sein, dass die nationalen Gesellschaften von sich aus in ihrer Satzung auf die Anwendung der nationalen Regeln verzichten und zu den übernahmefreundlicheren Art. 9 und 11 der Übernahmerichtlinie zurückkehren können (Art. 12 Abs. 2 Unterabs. 1 ___________ 5

ABl. EG Nr. C 23 v. 24.01.2001, S. 1, abgedruckt in: Ebenroth, C. / Boujong, K. / Joost, D. (Hrsg.), Handelsgesetzbuch, 2001, Bd. 2, BankR IX Rn. 660. 6 Unter dem Vorsitz des Holländers Jaap Winter (Winter-Gruppe), dazu Meyer, A., Änderungen im WpÜG durch die Umsetzung der EU-Übernahmerichtlinie, in: WM 2006, S. 1135. 7 Art. 22 der Richtlinie 2004/25/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21.04.2004 betreffend Übernahmeangebote, ABl. EU Nr. L 142 v. 30.04.2004, S. 12. Dazu Krause, H., Der Kommissionsvorschlag für die Revitalisierung der EUÜbernahmerichtlinie, in: Betriebsberater (BB) 2002, S. 2341; Maul, S., Die EU-Übernahmerichtlinie – ausgewählte Fragen, in: Neue Zeitschrift für Gesellschaftsrecht (NZG) 2005, S. 151; Maul/Muffat-Jeandet (Fn. 2), S. 221, 306; Seibt, C. / Heiser, K., Der neue Vorschlag einer EU-Übernahmerichtlinie und das deutsche Übernahmerecht, in: ZIP 2002, S. 2193. 8 Art. 21 Abs. 1 Übernahmerichtlinie. 9 Vereitelungsverbot oder Neutralitätspflicht, dazu Krause, H., Die EU-Übernahmerichtlinie – Anpassungsbedarf im Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz, in: BB 2004, S. 113 (114).

Kollisionsnormen des Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetzes

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der Übernahmerichtlinie, sog. Opt-in). Dass die Richtlinie eine Rahmenrichtlinie ist, die den Mitgliedstaaten auch darüber hinaus die Möglichkeit lässt, bei der Umsetzung über die Mindestvorgaben hinauszugehen, versteht sich von selbst. 10

2. In Deutschland Die Entwicklung verlief in Deutschland zwar insgesamt weniger kontrovers, war aber dafür lange von dem Bemühen geprägt, verbindliche Regelungen zu vermeiden. Beeinflusst vom Gedanken einer freiwilligen Regelung wie in Großbritannien 11 galten in Deutschland für öffentliche Übernahmen von 1979 an die Leitsätze für öffentliche Kauf- und Umtauschangebote. 12 Sie waren wenig effektiv 13 und wurden 1995 vom Übernahmekodex 14 abgelöst, der ebenfalls ohne große Wirkung blieb. Nach verschiedenen vorangegangenen Anläufen verstärkten der Regierungswechsel 1998 und die Übernahme der Mannesmann AG durch Vodafone AirTouch plc den politischen Willen, eine verbindliche Übernahmeregelung zu verabschieden. Dies führte 2001 zum Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz (WpÜG) 15 sowie den hierzu ergangenen vier Verordnungen. 16

___________ 10 Art. 3 Abs. 2 und Erwägungsgründe 25 („… Festlegung von Mindestvorgaben …“) und 26 („… um eine Rahmenregelung zu schaffen …“) der Richtlinie; Seibt, C., / Heiser, K., Analyse der EU-Übernahmerichtlinie und Hinweis für eine Reform des deutschen Übernahmerechts, in: ZGR 2005, S. 200 (201). 11 City Code on Takeovers and Mergers, dazu Hirte (Fn. 2), Einl. Rn. 72 ff. 12 Abgedruckt in: Baumbach, A. / Hopt, K., Handelsgesetzbuch, 29. Aufl. 1995, VI. Bankgeschäfte (18), S. 1398 ff. 13 Kirchner, C., / Ehricke, U., Funktionsdefizite des Übernahmekodex der Börsensachverständigenkommission, in: AG 1998, S. 105. 14 Dazu Hakenberg, M., in: Ebenroth/Boujong/Joost (Hrsg.) (Fn. 5), BankR IX Rn. 644 ff.; dort auch abgedruckt bei Rn. 659. 15 BGBl. 2001 I, S. 3822, mit späteren Änderungen. Dazu Hakenberg, M., in: Ebenroth, C. / Boujong, K. / Joost, D., Handelsgesetzbuch – Aktualisierungsband, 2003, BankR IX Rn. 643 ff.; ders., Übernahme- und Pflichtangebote nach dem Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz, in: NWB Fach 18, S. 3953 (2003); ders., Die Übernahme börsennotierter Unternehmen, in: NWB Fach 21, S. 1589 (2007); ferner Assmann/ Pötzsch/Schneider (Fn. 3); Geibel, S. / Süßmann, R. (Hrsg.), WpÜG, 2002; Kölner Kommentar (Fn. 2); Steinmeyer, R. / Häger, M., WpÜG, 2. Aufl 2007. 16 WpÜG-Beiratsverordnung, WpÜG-Widerspruchsausschussverordnung, WpÜGAngebotsverordnung und WpÜG-Gebührenverordnung, alle BGBl. 2002 I, S. 4259 ff., jeweils mit späteren Änderungen.

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Der Erlass der Übernahmerichtlinie machte eine Anpassung des WpÜG erforderlich, die durch das Übernahmerichtlinie-Umsetzungsgesetz vom 8. Juli 2006 und zwei weitere Verordnungen 17 erfolgte. Der Gesetzgeber hat dabei auf eine umfassende Reform verzichtet und sich für die bloße Umsetzung der Richtlinie „eins zu eins“ entschieden. 18 Das ist folgerichtig, da das Kernstück des WpÜG, § 33, beibehalten werden konnte. Danach bleibt es für deutsche Zielgesellschaften weiterhin bei der dort vorgesehenen Möglichkeit, durch Vorratsbeschlüsse oder ad hoc mit Zustimmung des Aufsichtsrates Verteidigungsmaßnahmen gegen feindliche Übernahmen zu ergreifen. Indem diese Vorschrift unverändert beibehalten wird, macht der deutsche Gesetzgeber von dem in Art. 12 Abs. 1 der Übernahmerichtlinie enthaltenen Wahlrecht Gebrauch (Opt-out). Der Umsetzungsbedarf erstreckte sich daher vor allem auf die nunmehr deutschen Gesellschaften einzuräumende Wahlmöglichkeit (Optin), 19 die Offenlegung übernahmerelevanter Tatsachen, 20 den neu geschaffenen übernahmerechtlichen Ausschluss (Squeeze-out) nebst Andienungsrecht (Sellout) 21 und den Anwendungsbereich des WpÜG. Hier lag der größte Änderungsbedarf. Wie der Gesetzgeber in §§ 1, 2 WpÜG diese Aufgabe gelöst hat, wird im Nachfolgenden kritisch beleuchtet.

___________ 17 Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2004/25/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21.04.2004 betreffend Übernahmeangebote, BGBl. 2006 I, S. 1426. Dazu Diekmann, H., Änderungen im Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz anlässlich der Umsetzung der EU-Übernahmerichtlinie in Deutsches Recht, in: NJW 2007, S. 17; Handelsrechtsausschuss des Deutschen Anwaltsvereins, Stellungnahme zum Diskussionsentwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Übernahmerichtlinie, in: NZG 2006, S. 217; Hopt, K. / Mülbert, P. / Kumpan, C., Reformbedarf im Übernahmerecht, in: AG 2005, S. 109; Krause (Fn. 9), S. 113; Meyer (Fn. 6), S. 1135; Merkt, H. / Binder, J.-H., Änderungen im Übernahmerecht nach Umsetzung der EG-Übernahmerichtlinie: Das deutsche Umsetzungsgesetz und verbleibende Problemfelder, in: BB 2006, S. 1285; Mülbert, P., Umsetzungsfragen der Übernahmerichtlinie – erheblicher Änderungsbedarf bei den heutigen Vorschriften des WpÜG, in: NZG 2004, S. 633; Schüppen, M., WpÜG-Reform: Alles Europa, oder was?, in: BB 2006, S. 165; Seibt, C. / Heiser, K., Analyse des Übernahmerichtlinie-Umsetzungsgesetzes (Regierungsentwurf), in: AG 2006, S. 301. Zu den Verordnungen s. Fn. 58 und 74. 18 Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung v. 17.03.2006, BT-Drs. 16/1003, S. 12. 19 Jetzt §§ 33a–c WpÜG. 20 Art. 10 Übernahmerichtlinie, umgesetzt durch Änderung der §§ 289, 315 HGB zu Lage- und Konzernlagebericht. 21 §§ 39a–c WpÜG.

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II. Das in Deutschland auf Übernahmen anwendbare Recht 1. Regelungstechnik Art. 4 der Übernahmerichtlinie trägt die Überschrift „Aufsichtsstelle und anwendbares Recht“. Tatsächlich enthält die Vorschrift aber keine klassischen Kollisionsnormen, sondern regelt fast ausschließlich die sachliche Zuständigkeit der jeweiligen Aufsichtsstellen der Mitgliedstaaten. 22 Die Bestimmung des anwendbaren Rechts erfolgt nur indirekt durch Festlegung der zuständigen Aufsichtsstelle: Soweit sie zuständig ist, wendet sie ihr eigenes Recht an. Im Falle einer gespaltenen Zuständigkeit kommt es daher zu einer parallelen Rechtsspaltung. 23 Damit sollen die Problemfelder der doppelten oder fehlenden Zuständigkeit vermieden werden. 24 Ganz anders die Regelungstechnik des WpÜG: §§ 1 und 2 enthalten fast ausschließlich Vorschriften zur sachlichen, persönlichen und räumlichen Anwendbarkeit des Gesetzes, die an Sitz und Börsenzulassung 25 der Zielgesellschaft und nicht an die Befugnisse der Aufsichtsstelle geknüpft sind. Hier folgen die Befugnisse der Aufsichtsstelle, das ist in Deutschland die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bundesanstalt), 26 dem anwendbaren Recht: Soweit deutsches Recht den Übernahmesachverhalt regelt, ist die Bundesanstalt zuständig. 27 Aus diesem Grund konnte auch der ihre Aufgaben und Befugnisse regelnde § 4 WpÜG fast unverändert beibehalten werden. Trotz dieses von den Vorgaben der Übernahmerichtlinie abweichenden Regelungsansatzes kommt das WpÜG zu richtlinienkonformen Ergebnissen, 28 nämlich dem Gleichlauf 29 des anwendbaren Rechts mit den Befugnissen der zuständigen Aufsichtsstelle. Der Regelungsansatz der §§ 1, 2 WpÜG ist daher nicht zu beanstanden. ___________ 22 Mülbert (Fn. 17), S. 637; Schüppen (Fn. 17), S. 169; a. A. wohl Hein, J. v., Zur Kodifikation des europäischen Übernahmerechts, in: Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht (ZGR) 2005, 528 (529, 540), der vom „Anknüpfungssystem“ des Art. 4 der Übernahmerichtlinie spricht. 23 Art. 4 Abs. 2 Übernahmerichtlinie; dazu unten II. 4. b) und c) und III. 24 Hein, v. (Fn. 22), S. 533. 25 Nach den Worten der Übernahmerichtlinie in Art. 1 Abs. 1 müssen die Wertpapiere zum Handel auf einem „geregelten Markt“ zugelassen sein. Dies entspricht dem „organisierten Markt“ des WpÜG und § 2 Abs. 5 WpHG. Hierzu gehörten bis zum Finanzmarktrichtlinie-Umsetzungsgesetz vom 16.07.2007 (BGBl. 2007 I, S. 1330) der amtliche und geregelte Markt. Jetzt heißt es „regulierter Markt“, vgl. § 2 Abs. 7 WpÜG. 26 § 1 Abs. 3 Nr. 2 Buchst. b) Doppelbuchst. bb), § 4 WpÜG. 27 Meyer (Fn. 6), S. 1138. 28 So auch Schüppen (Fn. 17), S. 169. 29 Hein, v. (Fn. 22), S. 534, 537.

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Die Frage, ob die Anwendungsvorschriften der §§ 1, 2 WpÜG einseitige Kollisionsnormen oder selbst begrenzte (autolimitierte) Sachnormen darstellen, ist ohne praktische Relevanz. 30 Da es sich um Normen handelt, die nur erklären, wann deutsches Übernahmerecht zur Anwendung kommt, 31 handelt es sich zwar um einseitige Kollisionsnormen, 32 allerdings fällt die Abgrenzung zu selbst begrenzten Sachnormen, die ihren eigenen Anwendungsbereich definieren, 33 schwer. Praktische Bedeutung ist mit dieser Einordnung nicht verbunden. Zusätzlich ist zu berücksichtigen, dass die Terminologie des Internationalen Privatrechts deshalb nicht wirklich passt, da es sich beim WpÜG überwiegend um öffentliches Recht handelt. Im Internationalen Öffentlichen Recht wird aber grundsätzlich nur die Frage beantwortet, wann inländisches Recht zur Anwendung kommt, und nicht auf fremdes öffentliches Recht verwiesen. 34 Die Unterscheidung zwischen einseitigen Kollisionsnormen und selbst begrenzten Sachnormen hat daher im Internationalen Öffentlichen Recht noch weniger Bedeutung als im Internationalen Privatrecht.

2. Der sachliche Anwendungsbereich Nach § 1 ist das WpÜG „anzuwenden auf Angebote zum Erwerb von Wertpapieren, die von einer Zielgesellschaft ausgegeben wurden und zum Handel an einem organisierten Markt zugelassen sind.“ Der so umrissene sachliche Anwendungsbereich erfasst neben Übernahmeangeboten, die auf den Erwerb der Kontrolle gerichtet sind, und Pflichtangeboten, die nach Kontrollerwerb erfolgen müssen, auch einfache Angebote. 35 Dabei handelt es sich um Angebote, die weder Übernahme- noch Pflichtangebote sind, wie z. B. Aufstockungsangebote. 36 Obwohl die Übernahmerichtlinie nur Übernahme- und Pflichtangebote betrifft (Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 Buchst. a)), ist der insoweit größere ___________ 30 Ekkenga, J. / Kuntz, T., Grundzüge eines Kollisionsrechts für grenzüberschreitende Übernahmeangebote, in: Wertpapier-Mitteilungen (WM) 2004, S. 2427 (2430), sprechen von einem Scheinproblem. Anders und kritisch zum Begriff der autolimitierten Sachnorm v. Hein (Fn. 22), S. 541 ff. 31 Kegel, G. / Schurig, K., Internationales Privatrecht, 9. Aufl. 2004, S. 254. 32 So auch Hahn, V., Übernahmerecht und Internationales Privatrecht, in: RIW 2002, S. 741, allerdings zu §§ 1, 2 WpÜG a. F.; ferner v. Hein (Fn. 22), S. 540 ff., zur kollisionsrechtlichen Einordnung von Art. 4 Abs. 2 der Übernahmerichtlinie. Ekkenga / Kuntz (Fn. 30), S. 2430, qualifizieren § 1 WpÜG a. F. gleichzeitig als Kollisions- wie Sachnorm. 33 Kegel / Schurig (Fn. 31), S. 261. 34 Ekkenga / Kuntz (Fn. 30), S. 2430. 35 Hakenberg (Fn. 15), BankR IX Rn. 652. 36 Bei einem Aufstockungsangebot will der Bieter seine Beteiligung aufstocken, ohne dass er ein Pflichtangebot abzugeben hat, etwa weil sein Kontrollerwerb vor dem Inkrafttreten des WpÜG lag.

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sachliche Anwendungsbereich des WpÜG zumindest für Inlandsfälle unproblematisch 37 , da die Mitgliedstaaten außerhalb der Übernahmerichtlinie ihre Regelungsbefugnis behalten haben. Auch Teilangebote, die sich nur auf einen Prozentteil oder eine bestimmte Anzahl der emittierten Wertpapiere beziehen, unterliegen dem sachlichen Anwendungsbereich des WpÜG nach § 19. 38 Gleiches gilt für stimmrechtslose Vorzugsaktien nach § 139 Abs. 1 AktG, die von der Wertpapierdefinition des § 2 Abs. 2 und damit dem WpÜG erfasst werden, auch wenn sie die Übernahmerichtlinie ebenfalls ausklammert. 39 Ein weiterer Unterschied zwischen Richtlinie und WpÜG betrifft eigene Aktien. Die Definition des Art. 2 Abs. 1 Buchst. a) der Übernahmerichtlinie schließt Angebote aus, die die Zielgesellschaft selbst abgibt. 40 Der Erwerb eigener Aktien unterliegt daher nicht der Übernahmerichtlinie. Beim WpÜG sehen die Dinge wiederum anders aus: Hier fehlt es an einer einschränkenden Definition, die diesen doch recht speziellen Erwerbsvorgang von seiner Anwendung ausschlösse. Vielmehr vertraten der Gesetzgeber 41 und die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht die Auffassung, dass das WpÜG auf den Erwerb eigener Aktien anzuwenden sei. Diese Auffassung hat die Bundesanstalt mittlerweile zu Recht revidiert. 42

3. Der persönliche Anwendungsbereich Das WpÜG unterscheidet gemäß den Vorgaben der Übernahmerichtlinie in Art. 4 zwischen inländischen und ausländischen Zielgesellschaften. Inländische können Aktiengesellschaften oder Kommanditgesellschaften auf Aktien mit Sitz im Inland sein (§ 2 Abs. 3 Nr. 1 WpÜG), ausländische Zielgesellschaften sind Gesellschaften mit Sitz in einem anderen Staat des Europäischen Wirtschaftsraumes (EWR, § 2 Abs. 3 Nr. 2). Neben dem Sitz der Zielgesellschaft ist die Börsenzulassung ein weiteres Kriterium für die Bestimmung des Anwendungsbereiches. Dabei unterscheiden die Übernahmerichtlinie in Art. 4 Abs. 2 ___________ 37

Maul / Muffat-Jeandet (Fn. 2), S. 225 f.; Seibt/Heiser (Fn. 10), S. 203. Ein Übernahme- oder Pflichtteilangebot ist allerdings grundsätzlich unzulässig, §§ 32, 24, 39 WpÜG. 39 Nach Art. 2 Abs. 1 Buchst. e) unterliegen nur Wertpapiere, „… die Stimmrechte in einer Gesellschaft verleihen …“, der Übernahmerichtlinie; Seibt / Heiser (Fn. 10), S. 202 f. 40 Angebot „… ist ein an die Inhaber der Wertpapiere einer Gesellschaft gerichtetes (und nicht von der Zielgesellschaft selbst abgegebenes) … Angebot …“. 41 Begründung des Gesetzentwurfs (Fn. 18), S. 17. 42 Rundschreiben der Bundesanstalt vom 09.08.2006, mit dem das Merkblatt vom 05.07.2005 aufgehoben. Zum Meinungsstreit s. Angerer, L., in: Geibel / Süßmann (Fn. 15), § 1 Rn. 99; Büscher, P., Zur Verfassungswidrigkeit der Anwendung des WpÜG auf den öffentlichen Erwerb eigener Aktien, in: ZBB 2006, S. 107. 38

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Buchst. a) und b) sowie das WpÜG in § 1 danach, ob die Wertpapiere der Zielgesellschaft im Sitzstaat zum Börsenhandel zugelassen sind oder nicht. Die Anknüpfung an Sitz und Börsenzulassung der Zielgesellschaft entspricht dem Grundsatz der Sachnähe, dem das Kollisionsrecht von Übernahmerichtlinie und WpÜG verpflichtet ist. Auf den Sitz oder Wohnsitz der Aktionäre der Zielgesellschaft wird daher zu Recht ebenso wenig abgestellt 43 wie auf Sitz oder Wohnsitz des Bieters. Deutsche Zielgesellschaften können nach der Definition des § 2 Abs. 3 Nr. 1 WpÜG nur Aktiengesellschaften und Kommanditgesellschaften auf Aktien sein. Selbstverständlich gehört hierhin auch die Europäische Gesellschaft (SE) mit Sitz in Deutschland, die nach Art. 10 der VO (EG) Nr. 2157/2001 44 in jedem Mitgliedstaat wie eine dort gegründete Aktiengesellschaft zu behandeln ist und auf die nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. c) Doppelbuchst. ii) subsidiär das Aktienrecht Anwendung findet. 45 Bei ausländischen Zielgesellschaften spricht § 2 Abs. 3 Nr. 2 WpÜG lediglich neutral von „Gesellschaften“, ohne dies zu präzisieren. Da es sich um Gesellschaften handeln muss, deren Anteile zum Börsenhandel zugelassen sind, ist sichergestellt, dass es sich nur um den inländischen Zielgesellschaften ähnliche Rechtsformen handeln kann. Strittiger ist, was unter dem Sitz der Zielgesellschaft i. S. v. §§ 1 und 2 Abs. 3 46 zu verstehen ist. Trotz entsprechender Anregungen in der Literatur präzisieren weder das WpÜG noch die Begründung des Gesetzentwurfs diesen Schlüsselbegriff. Auch die Übernahmerichtlinie schweigt hierzu; ihre verschiedenen amtlichen Übersetzungen lassen lediglich unterschiedliche Schlüsse zu. 47 Dennoch sollte kein Zweifel daran bestehen, dass nur der Satzungssitz (im Sinne der Gründungstheorie) und nicht der effektive Verwaltungssitz (im Sinne der Sitztheorie) gemeint sein kann: Erstens hat sich die Qualifizierung dieses Begriffes am Aktienrecht zu orientieren, da es sich bei deutschen Zielgesellschaften überwiegend um Aktiengesellschaften und Kommanditgesellschaften auf Aktien handelt. Nach § 5 Abs. 1 AktG ist Sitz der Gesellschaft aber der Ort, „den die Satzung bestimmt“. Für die SE gilt nach § 2 SE-Ausführungsgesetz nichts anderes. Und zweitens dürfte sich die im deutschen Internationa___________ 43 Ausnahmsweise spielt der Sitz oder Wohnsitz der Wertpapierinhaber eine Rolle, etwa in § 24 WpÜG. 44 Vom 08.10.2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE), ABl. EU Nr. L 294 v. 10.11.2001, S. 1. 45 So auch Begründung des Gesetzentwurfs (Fn. 18), S. 17; ebenso Meyer (Fn. 6), S. 1137; Seibt / Heiser (Fn. 17), S. 302; Versteegen, P., in: Kölner Kommentar (Fn. 2), § 2 Rn. 106. 46 Das WpÜG verwendet den Begriff „Sitz“ vielfach, neben den §§ 1, 2 auch in §§ 10, 11, 24, 43 und 66. 47 Die deutsche Fassung spricht von „Sitz“, die englische von „registered office“, in der französischen heißt es „siège social“; dazu v. Hein (Fn. 22), S. 545 f.

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len Gesellschaftsrecht lange vertretene Sitztheorie, die für die Anerkennung fremder Gesellschaften auf den effektiven Verwaltungssitz abstellte, im Lichte der Rechtsprechung des EuGH erledigt haben. Nach Centros, 48 Überseering 49 und Inspire Art 50 steht fest, dass es gegen die europarechtliche Niederlassungsfreiheit der Art. 43, 48 EG-Vertrag verstößt, die Beurteilung einer in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union wirksam gegründeten Gesellschaft primär nach dem Recht des effektiven Verwaltungssitzes vorzunehmen. Dem hat sich nunmehr auch der BGH angeschlossen. 51 Eine europarechtskonforme Auslegung des WpÜG führt daher zu dem Schluss, dass mit Sitz nicht der effektive Verwaltungssitz, sondern nur der Satzungssitz gemeint sein kann. 52

4. Der räumliche Anwendungsbereich Der räumliche Anwendungsbereich des WpÜG wird durch § 1 in Verbindung mit den in § 2 WpÜG enthaltenen Definitionen, insbesondere derjenigen der Zielgesellschaften, also der Emittenten der nachgefragten Wertpapiere, festgelegt. Während die Kollisionsvorschriften der Übernahmerichtlinie allerdings von Sitz oder Börsenzulassung in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union sprechen, stellt das WpÜG auf den Europäischen Wirtschaftsraum ab. Dadurch werden über die 27 Mitgliedsstaaten hinaus auch Gesellschaften mit Sitz oder Börsenzulassung in Island, Norwegen und Liechtenstein erfasst. Diese Ausdehnung entspricht Art. 1 des Beschlusses des Gemeinsamen EWRAusschusses Nr. 70/2005 vom 29. April 2005 zur Änderung des Anhangs XXII (Gesellschaftsrecht) des EWR-Abkommens, durch den die Übernahmerichtlinie auf den EWR ausgedehnt wurde. 53

___________ 48

EuGH Urt. v. 09.03.1999 – Rs. C-212/97, Slg. 1999, I-1459 = NJW 1999, 2027. EuGH Urt. v. 05.11.2002 – Rs. C-208/00, Slg. 2002, I-9919 = NJW 2002, 3614. 50 EuGH Urt. v. 30.09.2003 – Rs. C-167/01, Slg. 2003, I-10155 = NJW 2003, 3331. 51 BGH Urt. v. 19.09.2005 – II ZR 372/03 (liechtensteinische AG) = NJW 2005, 3351; BGH Urt. v. 14.03.2005 – II ZR 5/03 (englische private limited company) = NJW 2005, 1648. 52 So auch Hein, v. (Fn. 22), S. 553 f.; Josenhans, M., Das neue ÜbernahmeKollisionsrecht, in: Zeitschrift für Bankrecht und Bankwirtschaft (ZBB) 2006, 269 (276); Kiesewetter, M., Der Sitz der Zielgesellschaft als Anknüpfungspunkt für die Anwendung des WpÜG n. F., in: RIW 2006, S. 518 (519); Mülbert (Fn. 17), S. 638; Pötzsch (Fn. 3), § 2 Rn. 94; Seibt / Heiser (Fn. 10), S. 208; Versteegen (Fn. 45), § 2 Rn. 107; a. A. Hahn (Fn. 32), S. 741; Angerer (Fn. 42), § 1 Rn. 40. 53 Begründung des Gesetzentwurfs (Fn. 18), S. 15 f. 49

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a) Reine Inlandssachverhalte Als reine Inlandssachverhalte, bei denen ausschließlich das WpÜG zur Anwendung kommt, kann man Erwerbsangebote für die in Deutschland börsennotierten Wertpapiere von Zielgesellschaften, die hier ihren Sitz haben, bezeichnen. Dabei spielt es keine Rolle, ob alle oder nur Teile der Wertpapiere börsennotiert sind. 54 Genauso wenig spielt die Nationalität des Bieters eine Rolle oder ob neben der Zulassung in Deutschland auch eine weitere Zulassung (Dual listing) im oder außerhalb des EWR existiert. Dies ergibt der Vergleich mit § 1 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 Buchst. b) und Abs. 5 WpÜG, in denen in Übereinstimmung mit Art. 4 Abs. 2 Buchst. a) der Übernahmerichtlinie die Rechtsspaltung ausgeschlossen wird, wenn die Wertpapiere der Zielgesellschaft auch im Sitzstaat zum Börsenhandel zugelassen sind. 55 Ferner erfasst das WpÜG bei reinen Inlandsfällen auch diejenigen Vorgänge, die von der Übernahmerichtlinie nicht geregelt werden, nämlich einfache Angebote sowie den Erwerb stimmrechtsloser Vorzugsaktien. 56 Dieses über die Übernahmerichtlinie Hinausgehen ist bei reinen Inlandsfällen unproblematisch, da die Übernahmerichtlinie als Rahmenrichtlinie den Mitgliedstaaten ihre grundsätzliche Regelungskompetenz nicht genommen hat. Bei Fällen mit Auslandsbezug ist dies anders. Da die Befugnis, solche Fälle zu regeln, zum Teil erst durch die Übernahmerichtlinie vermittelt wird, musste der deutsche Gesetzgeber deren Anwendungsbereich hier sehr viel genauer nachzeichnen.

b) Inländische Zielgesellschaften mit Börsenzulassung in einem EWR-Staat Sitz der Zielgesellschaft und Ort der Börsenzulassung der nachgefragten Wertpapiere sind die alleinigen Kriterien von Übernahmerichtlinie und WpÜG für die Bestimmung des anwendbaren Rechts. Befinden sich beide Orte in unterschiedlichen EWR-Staaten, so kommt es – und das ist neu – zur Rechtsspaltung: 57 Sind bei einem Übernahme- oder Pflichtangebot die stimmberechtigten Aktien einer inländischen Zielgesellschaft nicht in Deutschland, sondern in einem anderen EWR-Staat zum Handel an einem organisierten Markt zugelassen, ___________ 54

Art. 1 Abs. 1 der Übernahmerichtlinie: „… sofern alle oder ein Teil dieser Wertpapiere zum Handel … zugelassen sind“; Seibt / Heiser (Fn. 10), S. 203 f. 55 Begründung des Gesetzentwurfs (Fn. 18), S. 16; v. Hein (Fn. 22), S. 537; Seibt / Heiser (Fn. 10), S. 205. 56 s. oben II. 2. 57 So Ekkenga / Kuntz (Fn. 30), S. 2436; Seibt / Heiser (Fn. 17), S. 303; dies. (Fn. 10), S. 204. Meyer (Fn. 6), S. 1138, spricht vom „gespaltenen“ Übernahmerechtsstatut.

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so sind nach § 1 Abs. 2 nur die gesellschaftsrechtlichen Regelungen des WpÜG anwendbar. Dagegen unterliegt das Angebot den kapitalmarktrechtlichen Vorschriften des Ortes der Börsenzulassung. Welche übernahmerechtlichen Regelungen gesellschafts- und welche kapitalmarktrechtlichen Charakter haben, präzisieren Art. 4 Abs. 2 Buchst. b) und e) der Übernahmerichtlinie und § 1 Abs. 2 und 3 WpÜG recht genau. Vorschriften über Kontrolle, die Verpflichtung zur Abgabe eines Angebots und hiervon abweichende Regelungen, die Unterrichtung der Arbeitnehmer der Zielgesellschaft oder des Bieters und Handlungen des Vorstands der Zielgesellschaft, durch die der Erfolg eines Angebots verhindert werden könnte, gehören zum gesellschaftsrechtlichen Kreis. Vorschriften über Gegenleistung, den Inhalt der Angebotsunterlage und das Angebotsverfahren werden dem Kapitalmarktrecht zugeordnet. Eine noch präzisere Zuordnung enthält die Verordnung über die Anwendbarkeit von Vorschriften betreffend Angebote im Sinne des § 1 Abs. 2 und 3 des WpÜG vom 17. Juli 2006. 58 Darin listet der Gesetzgeber genau auf, welche Vorschriften des WpÜG im Falle einer Rechtsspaltung entweder im Rahmen von § 1 Abs. 2 als gesellschaftsrechtliche oder im Rahmen von § 1 Abs. 3 WpÜG als kapitalmarktrechtliche Normen zur Anwendung kommen. 59 Diese Aufspaltung des anwendbaren Rechts hat den Vorteil größerer Sachnähe gegenüber starren Regelungen. Sie hat sich deshalb bei Entstehung der Übernahmerichtlinie gegenüber einer reinen Sitzlösung, die bei internationalen Sachverhalten immer auf das Recht des Sitzes der Zielgesellschaft abgestellt hätte, durchgesetzt. 60 Bei einer weiteren Börsenzulassung (Dual listing) der nachgefragten Wertpapiere ist zu unterscheiden: Eine Zulassung auch in Deutschland, dem Sitzstaat der Zielgesellschaft, verhindert die Rechtsspaltung und macht den hier besprochenen Fall zu einem reinen Inlandssachverhalt. 61 Eine zusätzliche Zulassung zum Handel in einem weiteren EWR-Staat verändert den Anwendungsumfang des WpÜG nicht. Dessen gesellschaftliche Vorschriften bleiben als Sitzstaatsrecht einschlägig, und um die Anwendung der kapitalmarktrechtlichen Vorschriften streiten die Rechte der Börsenstaaten, wobei deren Abgrenzung nach Art. 4 Abs. 2 Buchst. b) Unterabs. 2 und Buchst. c) der Übernahmerichtlinie zu erfolgen hat.

___________ 58

BGBl. 2006 I, S. 1698. Die Verordnung basiert auf der Ermächtigungsgrundlage des § 1 Abs. 4 WpÜG. Im Gesetzgebungsverfahren ist zu Recht angemerkt worden, die Verordnung wäre nicht notwendig, da die Aufzählung der jeweils anwendbaren Vorschriften durchaus im Gesetz selbst hätte erfolgen können; so etwa Merkt / Binder (Fn. 17), S. 1287; Handelsrechtsausschuss (Fn. 17), S. 217. 60 Maul / Muffat-Jeandet (Fn. 2), S. 227. 61 s. oben II. 4. a). 59

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Die Vorschrift des § 1 Abs. 2 WpÜG führt zu einer Einschränkung des Anwendungsbereichs gegenüber dem WpÜG a. F. 62 Die Rechtsspaltung bei internationalen Sachverhalten basiert auf der Übernahmerichtlinie und ist für das deutsche Übernahmerecht entsprechend neu. Nach §§ 1, 2 Abs. 3 WpÜG a. F. war das WpÜG auf alle Angebote, die Aktien einer deutschen Zielgesellschaft zu übernehmen, anwendbar, auch wenn die ausschließliche Börsenzulassung außerhalb der Bundesrepublik erfolgt war. 63 Es stellt sich daher die Frage, ob die Rechtsspaltung auch für diejenigen internationalen Sachverhalte Bestand hat, die § 1 Abs. 2 WpÜG nicht erfasst. Wie bereits angesprochen, 64 unterliegen dem WpÜG im Gegensatz zur Übernahmerichtlinie auch einfache Angebote und Angebote zum Erwerb stimmrechtsloser Vorzugsaktien. Da § 1 Abs. 2 WpÜG die Rechtsspaltung seinem Wortlaut nach auf Übernahme- und Pflichtangebote stimmberechtigter Aktien beschränkt, müsste das WpÜG unbeschränkt zur Anwendung gelangen, wenn eine deutsche Zielgesellschaft mit Börsenzulassung in einem EWR-Staat Gegenstand eines einfachen Angebots wird oder sich Übernahme- und Pflichtangebot ausschließlich auf stimmrechtslose Vorzugsaktien bezögen. Diese Fälle mögen selten sein, beleuchten aber anschaulich die Frage, wie ernst es dem WpÜG mit der Rechtsspaltung und der durch sie gewährleisteten Anwendung des sachnäheren Rechts ist. Zum Teil wird vorgeschlagen, dass in denjenigen internationalen Sachverhalten, die § 1 Abs. 2 WpÜG nicht erfasst, das WpÜG weiterhin insgesamt anzuwenden sei. 65 Auch der Gesetzgeber geht davon aus. 66 Es kämen dann sowohl die gesellschafts- wie auch die kapitalmarktrechtrechtlichen Vorschriften zur Anwendung. Sinnvoller ist es jedoch, auch in diesen Fällen dem Prinzip der Rechtsspaltung zu folgen. Denn die vollständige Anwendung des WpÜG verhindert ja nicht, dass gleichzeitig auch die Übernahmevorschriften des Börsenstaates zur Anwendung kommen. In der Praxis führte dies unter dem WpÜG a. F. dazu, dass ein Bieter – schon um auf Nummer sicher zu gehen – u. U. gezwungen war, neben den Vorschriften des Sitzstaates gleichzeitig auch die Vorschriften des Börsenstaates einzuhalten. 67 Die mit diesem Nebeneinander verbundenen Anwendungs- und Beratungsschwierigkeiten können durch die Rechtsspaltung verringert werden. 68 Es ist daher überlegenswert, den Anwendungsbereich des § 1 Abs. 2 WpÜG auszudehnen. Dies könnte dadurch ge___________ 62

Begründung des Gesetzentwurfs (Fn. 18), S. 16; Maul (Fn. 7), S. 157; Seibt / Heiser (Fn. 17), S. 303; dies. (Fn. 10), S. 204. 63 Meyer (Fn. 6), S. 1136. 64 Oben II. 2. 65 Meyer (Fn. 6), S. 1137; Schüppen (Fn. 17), S. 169; Seibt / Heiser (Fn. 17), S. 303 f. 66 Begründung des Gesetzentwurfs (Fn. 18), S. 16. 67 Hein, v. (Fn. 22), S. 533; Meyer (Fn. 6), S. 1136. 68 So grundsätzlich Krause (Fn. 9), S. 117.

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schehen, dass man § 1 Abs. 2 WpÜG als allseitige Kollisionsnorm69 versteht, was aber der Systematik von Übernahmerichtlinie und WpÜG nicht entspricht. 70 Eher käme eine Anwendung analog oder nach dem Grundsatz a majore ad minus in Betracht. Letztendlich könnte sich auch die Bundesanstalt entscheiden, wegen der größeren Sachnähe des ausländischen Übernahmerechts im Wege der aufsichtsrechtlichen Selbstbeschränkung auf die Anwendung der deutschen kapitalmarktrechtlichen Regelungen in Abstimmung mit der ausländischen Aufsicht zu verzichten.

c) Ausländische Zielgesellschaften mit Börsenzulassung in Deutschland Angebote zum Erwerb der stimmberechtigten Wertpapiere einer Zielgesellschaft, die ihren Satzungssitz in einem ausländischen EWR-Staat hat, deren Wertpapiere aber an einem regulierten Markt in Deutschland zum Handel zugelassen sind, unterliegen ebenfalls einer Spaltung des anwendbaren Übernahmerechts. Wie im Fall der inländischen Zielgesellschaft mit EWR-Zulassung unterliegen die gesellschaftsrechtlichen Fragen dem Übernahmerecht des Sitzstaates, während die kapitalmarktrechtlichen Aspekte an den Sitz der Börsenzulassung geknüpft werden. Das WpÜG ist daher in diesem Fall nur anzuwenden, soweit es Fragen der Gegenleistung, des Inhalts der Angebotsunterlage und des Angebotsverfahrens regelt, § 1 Abs. 3 WpÜG. 71 Bei mehreren Börsenzulassungen im EWR entscheidet die erste (Initial Public Offering); 72 bei mehreren gleichzeitigen hat die Zielgesellschaft ein Wahlrecht, § 1 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 Buchst. b) WpÜG, Art. 4 Abs. 2 Buchst. b) und c) Übernahmerichtlinie. Voraussetzung ist natürlich immer, dass die Wertpapiere nicht auch im Sitzstaat zugelassen sind, da in diesem Fall die Rechtsspaltung stets ausgeschlossen ist. 73 Die kapitalmarktrechtlichen Vorschriften des WpÜG kommen bei einer Mehrfachzulassung also nur zur Anwendung, wenn die erste Börsenzulassung in Deutschland erfolgte oder wenn sich bei zeitgleicher Mehrfachzulassung die ausländische Zielgesellschaft für die Bundesanstalt als zuständige Aufsichtsbehörde entschieden hat. Aus diesem Grund haben ausländische Zielgesellschaften, wenn sie gleichzeitig in Deutschland und in einem anderen EWR-Staat zum Börsenhandel zugelassen werden, eine entsprechende Entscheidung zu ___________ 69 Das ist nach Kegel / Schurig (Fn. 31), S. 254, eine Kollisionsnorm, die im Gegensatz zur einseitigen Kollisionsnorm auf eigenes oder auf fremdes Recht verweisen kann. 70 Hein, v. (Fn. 22), S. 534, 544 f.; so aber Hahn (Fn. 32), S. 742. 71 Die genaue Auflistung der in diesem Fall anwendbaren Vorschriften des WpÜG enthält § 2 WpÜGAnwendV (Fn. 58). 72 Seibt / Heiser (Fn. 17), S. 303. 73 s. oben Fn. 55.

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treffen und diese der Bundesanstalt mitzuteilen. 74 Für ausländische Zielgesellschaften, die vor Ablauf der Umsetzungsfrist der Richtlinie am 20. Mai 2006 bereits zeitgleich in mehr als einem EWR-Staat zum Börsenhandel zugelassen waren, enthält § 68 Abs. 2 WpÜG eine Übergangsregelung. 75 § 1 Abs. 3 WpÜG erfasst nur den Erwerb stimmberechtigter Wertpapiere. Ferner muss es sich um ein so genanntes europäisches Angebot handeln. Das sind nach § 2 Abs. 1a WpÜG Angebote zum Erwerb der Wertpapiere einer ausländischen Zielgesellschaft, die auch nach dem nationalen Übernahmerecht der Zielgesellschaft als Angebote im Sinne der Übernahmerichtlinie angesehen werden. Dadurch sollen im EWR einheitlich Ergebnisse gewährleistet werden. 76 Somit stellt sich erneut die Frage, welches Recht in den Fällen zur Anwendung kommt, in denen der Anwendungsbereich des WpÜG über den der Übernahmerichtlinie hinausgeht, also insbesondere bei einfachen Angeboten sowie solchen Übernahme- und Pflichtangeboten, die sich ausschließlich auf stimmrechtslose Wertpapiere erstrecken. Vor Umsetzung der Übernahmerichtlinie fand das WpÜG auf den Erwerb von Aktien von Zielgesellschaften, die ihren Sitz nicht in Deutschland hatten, keine Anwendung. Insofern führt § 1 Abs. 3 WpÜG zu einer Ausdehnung seines Anwendungsbereichs; 77 so wie § 1 Abs. 2 zu einer Einschränkung führt. Man müsste daraus folgern, dass bei ausländischen Zielgesellschaften trotz Börsenzulassung im Inland für einfache Angebote oder solche, die ausschließlich auf den Erwerb stimmrechtsloser Aktien gerichtet sind, keine Vorschriften des WpÜG zur Anwendung kämen. Dies entspricht der Rechtslage zum WpÜG a. F., dem Wortlaut des neu gefassten § 1 Abs. 2 und der Tatsache, dass die Regelungsbefugnis für ausländische Zielgesellschaften nur insoweit existiert, als die Übernahmerichtlinie sie vorzeichnet. 78 Dennoch ist dieses Ergebnis unbefriedigend. Da einfache Angebote und stimmrechtslose Wertpapiere von der Übernahmerichtlinie nicht erfasst werden, unterliegen sie womöglich nicht dem Übernahmerecht des Sitzstaates der Zielgesellschaft. Damit sind Situationen möglich, in denen entweder keine Übernahmevorschriften auf übernahmerelevante Vorgänge Anwendung finden ___________ 74 § 1 Abs. 5 S. 2 WpÜG. Einzelheiten regelt die VO über den Zeitpunkt sowie den Inhalt und die Form der Mitteilung und der Veröffentlichung der Entscheidung einer Zielgesellschaft nach § 1 Abs. 5 Satz 1 und 2 des Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetzes vom 13.10.2006 (BGBl. 2006 I, S. 2266). 75 Danach wird in diesen Altfällen die zuständige Aufsichtsbehörde von den betroffenen Aufsichtsbehörden selbst bestimmt. Anders Art. 4 Abs. 2 Buchst. c) Unterabs. 2 der Übernahmerichtlinie, die insofern im WpÜG nicht korrekt umgesetzt worden ist: Sofern die betroffenen Aufsichtsstellen sich nicht bis zum 19.06.2006 auf eine Aufsichtsstelle geeinigt hatten, ist das Wahlrecht zurück an die Zielgesellschaft gefallen. Vgl. Meyer (Fn. 6), S. 1138; kritisch dazu Krause (Fn. 7), S. 2344. 76 Seibt / Heiser (Fn. 17), S. 304. 77 Krause (Fn. 9), S. 117; Seibt / Heiser (Fn. 17), S. 303. 78 Begründung des Gesetzentwurfs (Fn. 18), S. 17; Meyer (Fn. 6), S. 1137.

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oder die Bundesanstalt ausländisches Recht anzuwenden hat. 79 Ähnlich der Argumentation zu II. 4. b) oben sollten hier zumindest die kapitalmarktrechtlichen Übernahmevorschriften des deutschen Börsenorts zur Anwendung kommen.

d) Sonstige Sachverhalte mit Auslandsbezug Sonstige Übernahmesachverhalte mit Auslandsbezug entstehen, wenn der Sitz der Zielgesellschaft in Deutschland liegt und die alleinige oder erste Börsenzulassung außerhalb des EWR erfolgte, und umgekehrt. 80 Seinem Wortlaut nach ist das WpÜG auch anwendbar auf Erwerbsangebote, bei denen die Wertpapiere einer inländischen Zielgesellschaft z. B. nur in den USA zum Handel zugelassen sind. Dies folgt daraus, dass die für die EWR-Zulassung in § 1 Abs. 2 WpÜG gemachte Ausnahme einer Rechtsspaltung nicht greift und das WpÜG daher zu seiner aus §§ 1, 2 Abs. 3 Nr. 1 folgenden umfassenden Anwendbarkeit auf alle Erwerbsvorgange einer deutschen Zielgesellschaft zurückkehrt. Umgekehrt soll das WpÜG überhaupt nicht zur Anwendung kommen, wenn ausschließlich in Deutschland börsennotierte Wertpapiere einer Zielgesellschaft mit Sitz außerhalb des EWR Gegenstand eines öffentlichen Erwerbsangebots werden. Die Bedenken hiergegen wurden bereits erläutert. 81 Eine Lösung fällt allerdings noch schwerer, da in diesen Fällen die betroffenen Rechtsordnungen nicht durch eine gemeinsame Übernahmerichtlinie verbunden sind. 82 Den betroffenen Bietern wird daher nichts weiter übrig bleiben, als die Absprache mit sämtlichen Aufsichtsstellen zu suchen und im Zweifel möglichst allen berührten Übernahmerechten zu genügen. 83 Dass § 24 WpÜG hier viel hilft, darf bezweifelt werden. 84 Zum Glück sind diese Fälle jedoch selten.

5. Der europäische Pass „Die von der zuständigen Aufsichtsstelle eines anderen Staates des Europäischen Wirtschaftsraums gebilligte Angebotsunterlage über ein europäisches Angebot zum Erwerb von Wertpapieren einer Zielgesellschaft im Sinne des § 2 ___________ 79

Seibt / Heiser (Fn. 17), S. 304. Nach Hein, v. (Fn. 22), S. 558 f., werden diese Fälle von der Übernahmerichtlinie nicht erfasst; die Mitgliedstaaten haben hier volle Regelungsfreiheit. 81 Oben II. 4. b) und c). 82 Nach Hein, v. (Fn. 22), S. 558 f., könnten die Mitgliedstaaten sich auch in diesen Fällen für das harmonisierte Recht der Übernahmerichtlinie entscheiden. 83 Vgl. Hein, v. (Fn. 22), S. 559 ff. 84 Danach kann es in Härtefällen einem Bieter gestattet werden, Inhaber von Wertpapieren mit Sitz außerhalb des EWR vom Angebot auszunehmen, wenn er sonst die Übernahmevorschriften dieses Staates einzuhalten hätte. 80

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Abs. 3 Nr. 2, deren Wertpapiere auch im Inland zum Handel an einem organisierten Markt zugelassen sind, wird im Inland ohne zusätzliches Billigungsverfahren anerkannt.“ 85 Dieser europäische Pass für Angebotsunterlagen entspricht dem europäischen Pass für Wertpapierprospekte der §§ 17, 18 WpPG 86 und soll die mehrfache Genehmigung von Angebotsunterlagen im EWR vermeiden. Die Vorschrift schränkt damit die Anwendbarkeit des WpÜG gegenüber ausländischen Zielgesellschaften ein, da die gebilligten ausländischen Angebotsunterlagen diejenigen nach § 11 WpÜG ersetzen. 87 Allerdings ist fraglich, inwieweit für § 11a überhaupt Anwendungsraum existiert. Die Anerkennung von im Ausland gebilligten Angebotsunterlagen ist beschränkt auf europäische Angebote, d. h. auf Angebote für in Deutschland börsennotierte Wertpapiere von Zielgesellschaften aus anderen EWR-Staaten. Ferner muss die ausländische Aufsichtsstelle zuständig gewesen sein. Damit kommen für den europäischen Pass grundsätzlich nur die Sachverhalte des § 1 Abs. 3 WpÜG 88 in Betracht. Nach dieser Vorschrift ist aber die Bundesanstalt für die Anwendung der kapitalmarktrechtlichen Regelungen, zu denen auch § 11 mit den Anforderungen an die Angebotsunterlagen gehört, 89 verantwortlich. Die Zuständigkeit einer anderen Aufsichtsstelle ist gedanklich ausgeschlossen, da die Abgrenzungen in allen EWR-Staaten einheitlich entsprechend Art. 4 Abs. 2 Buchst. b) und e) der Übernahmerichtlinie vorgenommen werden müssen. Man könnte daran denken, dass § 11a WpÜG diejenigen Fälle erfasst, in denen die Anwendung des § 1 Abs. 3 lediglich daran scheitert, dass die Zulassung in Deutschland nur eine und nicht die entscheidende ist. 90 Dafür sprächen die Worte „… auch im Inland zum Handel … zugelassen …“. Nach dem Wortlaut des § 1 Abs. 3 WpÜG und den entsprechenden Vorschriften der Übernahmerichtlinie dürfte deutsches Übernahmerecht hier jedoch gar nicht zur Anwendung kommen; die Billigung einer ausländischen Angebotsunterlage wäre insofern zwingend. Wie dem auch sei, fest stehen dürfte zumindest, dass der Anwendungsbereich des § 11a gering bleiben wird. 91 ___________ 85

§ 11a WpÜG. Seibt / Heiser (Fn. 17), S. 305. 87 Meyer (Fn. 6), S. 1138. Interessanterweise hat der Gesetzgeber keinen der nach Art. 6 Abs. 2 Unterabs. 2 der Übernahmerichtlinie möglichen Vorbehalte gemacht, wie etwa die Aufnahme zusätzlicher Angaben speziell für den deutschen Kapitalmarkt. Noch nicht einmal eine Übersetzung wird in § 11a erwähnt; vgl. Seibt / Heiser (Fn. 17), S. 305. Gleichwohl sollte die Bundesanstalt gegebenenfalls eine Übersetzung fordern dürfen. 88 Oben II. 4. c). 89 Dies folgt aus dem Wortlaut von § 1 Abs. 3 S. 2 WpÜG („… des Inhalts der Angebotsunterlage …“). Es verwundert daher, dass § 2 WpÜGAnwendV § 11 nicht erwähnt. 90 So Seibt / Heiser (Fn. 17), S. 305. 91 Meyer (Fn. 6), S. 1138; Seibt / Heiser (Fn. 17), S. 305; ähnlich Klepsch, O., in: Steinmeyer / Häger (Fn. 15), § 11a, Rn. 4. 86

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III. Die zuständige Aufsichtsstelle § 4 Abs. 1 S. 1 WpÜG regelt die Zuständigkeit der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht als Aufsichtsstelle im Sinne der Übernahmerichtlinie klar und einfach: „Die Bundesanstalt übt die Aufsicht bei Angeboten nach den Vorschriften dieses Gesetzes aus.“ Dieser Regelung liegt der richtige Gedanke zugrunde, dass die Befugnisse der Bundesanstalt dem Geltungsbereich des Gesetzes folgen und es daher keiner expliziten Zuständigkeitsregelung bedarf. 92 Die Regelungstechnik der Übernahmerichtlinie, die lediglich die Zuständigkeiten der Aufsichtsbehörden von einander abgrenzt und das anwendbare Recht an die Aufsichtszuständigkeit knüpft, 93 verhält sich dazu spiegelbildlich. Letztendlich führen beide Wege zum selben Ergebnis, nämlich der Parallelität von anwendbarem Recht und Aufsichtszuständigkeit. 94 Reine Inlandsfälle, 95 bei denen die Zielgesellschaft ihren Sitz in Deutschland hat und ihre Wertpapiere hier zum Börsenhandel zugelassen sind, unterstehen daher der alleinigen Aufsicht der Bundesanstalt. In den Fällen des § 1 Abs. 2 und 3 WpÜG, in denen sich nur eines der beiden Kriterien „Sitz der Zielgesellschaft“ und „Ort der Börsenzulassung“ in Deutschland, das andere im EWR-Ausland befindet, kommt es zur gespaltenen Aufsicht. 96 Entsprechend den Ausführungen oben 97 obliegt der Bundesanstalt nur die Aufsicht über die gesellschaftsrechtlichen oder die kapitalmarktrechtlichen Vorschriften des deutschen Übernahmerechts. Hier und bei den sonstigen Sachverhalten mit Auslandsbezug 98 folgt die Zuständigkeit zur Aufsicht der Anwendbarkeit deutschen Rechts. Das führt bei den besprochenen Problemfeldern, etwa einem einfachen Angebot zum Erwerb der nur in London zugelassenen Wertpapiere einer deutschen Zielgesellschaft, zur ausschließlichen Zuständigkeit der Bundesanstalt. Das ist kein wirklich praktikables Ergebnis, und es ist fraglich, ob dies dem Sinn und Zweck der Übernahmerichtlinie entspricht.

___________ 92

Begründung des Gesetzentwurfs (Fn. 18), S. 13; vgl. oben II. 1. Dies ergibt sich aus der Gesetzessystematik, findet aber auch in den Formulierungen von § 4 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 WpÜG eine Stütze: „… nach den Vorschriften dieses Gesetzes …“ und „… die ihr nach diesem Gesetz zugewiesenen Aufgaben und Befugnisse …“. Vgl. hierzu auch Zimmer, D., Aufsicht bei grenzüberschreitenden Übernahmen, in: ZGR 2002, S. 731. 93 Maul / Muffat-Jeandet (Fn. 2), S. 227. 94 Hein, v. (Fn. 22), S. 537; Meyer (Fn. 6), S. 1138; Schüppen (Fn. 17), S. 169. 95 Oben II. 4. a). 96 Maul / Muffat-Jeandet (Fn. 2), S. 228; Seibt / Heiser (Fn. 17), S. 304. 97 II. 4. b) und c). 98 II. 4. d).

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IV. Fazit Die materiellrechtlichen Vorschriften der Übernahmerichtlinie stellen einen politischen Kompromiss zwischen den Befürwortern einer liberalen Übernahmepolitik und ihren Gegnern dar. Einen gemeinsamen Übernahmemarkt mit gleichen ordnungspolitischen Bedingungen hat die Übernahmerichtlinie wohl nicht geschaffen,99 da die verschiedenen Wahlmöglichkeiten es den EWR-Staaten im Prinzip gestatten, alles beim Alten zu lassen. Von dieser eher pessimistischen Beurteilung auszunehmen sind die hier besprochenen Vorschriften zum anwendbaren Recht und der Aufsichtszuständigkeit. Sie bringen eine deutliche Verbesserung, da sie bei grenzüberschreitenden Sachverhalten die fraglichen Kompetenzen klar und sachnah abgrenzen. Damit wird für die meisten Übernahmen im EWR eine Doppelzuständigkeit oder gar fehlende Zuständigkeit vermieden werden.100 Dass nicht alle denkbaren Fälle befriedigend gelöst sind, wurde oben erläutert. Letztendlich müssen sich die Vorschriften in der Praxis bewähren. Dabei wird viel davon abhängen, ob die Umsetzung von Art. 4 der Übernahmerichtlinie in den Mitgliedstaaten gleich vollzogen wird. Ferner bleibt abzuwarten, wie gut die betroffenen Aufsichtsbehörden in Fällen der gespaltenen Aufsicht miteinander kooperieren und Kompetenzkonflikte selbst lösen,101 also nicht auf dem Rücken der Bieter austragen. In diesem Fall würden die Kollisionsnormen der Übernahmerichtlinie ihre streitvermeidende Wirkung voll entfalten, indem sie innerstaatliches Recht sachnah und damit gerecht von einander abgrenzen. Diese Fragen an der Schnittstelle von Völker-, Europaund Internationalem Privatrecht waren Dieter Blumenwitz immer ein besonderes Anliegen. Ich bin mir sicher, er hätte mit Interesse ihr weiteres Schicksal verfolgt.

___________ 99 Das level playing field sei durch die Übernahmerichtlinie nicht geschaffen worden, so Begründung des Gesetzentwurfs (Fn. 18), S. 13; Merkt / Binder (Fn. 17), S. 1286; Meyer (Fn. 6), S. 1136. 100 Hein, v. (Fn. 22), S. 563; Krause (Fn. 9), S. 117; Schüppen (Fn. 17), S. 169. 101 Seibt / Heiser (Fn. 17), S. 304. Nach Art. 4 Abs. 4 der Übernahmerichtlinie arbeiten die betroffenen Aufsichtsstellen bei Übernahmevorgängen soweit erforderlich zusammen, insbesondere in den Fällen des Art. 4 Abs. 2 Buchst. b), c) und e).

Die Unabhängigkeit der Notenbank – institutionelle Voraussetzung für Wachstum und Wohlstand Franz-Christoph Zeitler * „Inflation ist das größte Verbrechen gegen eines der Grundrechte des Menschen, gegen das private Eigentum.“ Richard Gaettens, Geschichte der Inflation, München 1987 „Die Kardinalfrage der Währung ist die der Unabhängigkeit der Notenbank.“ Wilhelm Vocke, erster Präsident der Deutschen Bundesbank

I. Der Schutz wirtschaftlicher und sozialer Rechte durch funktionsfähige Institutionen Menschen- und Grundrechte werden nach überkommener und durch Erfahrung gehärteter Auffassung in erster Linie als Abwehrrechte des Individuums gegen hoheitliche Eingriffe 1 verstanden. Die Zurückhaltung von Verfassungs___________ *

Der Autor gibt ausschließlich seine persönliche Auffassung wieder. Nach Art. 1 Abs. 3 GG binden die Grundrechte grundsätzlich nur den Staat. Das Grundgesetz selbst sieht nur in wenigen Fällen, wie in Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG, ausdrücklich vor, dass das Grundrecht auch unmittelbare Beachtung im Verkehr zwischen Privaten finden soll. Nur sehr vereinzelte Stimmen in der Literatur (vgl. Münch, I. von, Staatsrecht II, 5. Aufl. 2002, Rn. 185), der damalige Präsident des Bundesarbeitsgerichts (BAG) Hans Carl Nipperdey (Gleicher Lohn der Frau für gleiche Leistung, in: Recht der Arbeit (RdA) 1950, S. 151 (154)) und die frühe Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (vgl. BAGE 1, 185, 191 ff.) nahmen eine umfassend unmittelbare Drittwirkung an. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Form der Drittwirkung der Grundrechte stets abgelehnt, aber doch darauf hingewiesen, dass die Grundrechte eine objektive Wertordnung darstellen, die den Staat verpflichten, den Grundrechten auch in Privatrechtsverhältnissen im Rahmen seiner Schutzpflicht Geltung zu verschaffen, vgl. grundlegend BVerfGE 7, 198 (205) – Lüth und zur Entwicklung der Schutzpflichtendogmatik insbesondere BVerfGE 39, 1 (41) Schwangerschaftsabbruch I; aus der Literatur vgl. nur Stern, K., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, III/1, 1988, S. 1509 ff. – Der EuGH nimmt hingegen zumindest für einen Teil der Grundfreiheiten des EGVertrages eine Drittwirkung an, namentlich für die Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 39 EG (vgl. EuGH, Slg. 1974, 1405, 1419 f., und EuGH, Slg. 2000, I-4139) und die Dienstleistungsfreiheit nach Art. 49 EG (vgl. insbesondere EuGH, Slg. 2000, I-2549). 1

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lehre wie Verfassungspolitik 2 gegen „wirtschaftliche und soziale Grundrechte“, etwa gegen ein Recht auf Arbeit, Wohnung, letztlich „ein Recht auf Wohlstand“, beruht zum großen Teil auf den Schwierigkeiten des Rechtsschutzes, der nur beschränkten Möglichkeit, wirtschaftliche und soziale Rechte „einklagen“ zu können, zumal das Bedürfnis nach Einforderung derartiger Rechte sich vor allem in wirtschaftlichen und sozialen Krisen zeigt, in denen die Belastbarkeit der öffentlichen Haushalte und der steuerzahlenden Unternehmen und Bürger schnell erschöpft ist. Wirtschaftliche und soziale Rechte unter dem Vorbehalt der Kassenlage, der allgemeinen Wirtschafts- und Finanzsituation, würden aber nicht nur Legitimität und Glaubwürdigkeit eben dieser Rechte, sondern letztlich des Grundrechtskatalogs insgesamt schwächen. Der tiefere Grund, warum das klassische Verständnis von Grundrechten als Abwehrrechte verfassungspolitisch weise ist, liegt m. E. jedoch darin, dass Abwehrrechte sich „eindimensional“ verstehen lassen, aus dem Verhältnis eines potenziell Bedrohenden (öffentliche Gewalt, ggf. auch intermediäre Körperschaften und starke gesellschaftliche Einrichtungen) und eines potenziell Bedrohten, der sich mit den Mitteln der Justiz gegen Eingriffe wehren kann. Die Realisierung wirtschaftlicher und sozialer Rechte lässt sich demgegenüber – von eher extrem gelagerten Fällen abgesehen – nicht als eindimensionale Leistungsbeziehung begreifen, sondern nur als Ergebnis eines Zusammenspiels – und zwar weitgehend freien Zusammenspiels – vieler Marktteilnehmer: Unternehmen und Verbraucher, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Exporteure und Importeure, des Produktions- und Dienstleistungssektors, sowie von Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen. Dieses mehrdimensionale Zusammenspiel innerhalb eines „Wirtschaftssystems“ benötigt zur dauerhaften Sicherung des Erfolgs eine Abstützung durch Institutionen, die wir in Deutschland herkömmlich als Elemente einer marktwirtschaftlichen „Ordnungspolitik“ und Grundlagen der sozialen Marktwirtschaft begreifen: Schutz des Wettbewerbs vor wettbewerbsbeschränkenden und unfairen Handlungsweisen, funktionierende Zivilrechtsordnung (die z. B. auch dem sozial Schwachen die Vollstreckung materiell berechtigter Forderung garantiert), der Schutz von materiellem wie geistigem Eigentum als Anreiz für Innovationen, ein durchlässiges Bildungssystem und ein funktionsfähiges Arbeitsrecht. ___________ Er hält diese Grundfreiheiten auch für alle Verträge zwischen Privatpersonen für unmittelbar verbindlich. 2 Der Europäische Konvent hat in seinen Entwurf eines Verfassungsvertrages für Europa die Charta der Grundrechte der Europäischen Union als Teil II integriert. Diese enthält unter der Überschrift „Solidarität“ in Kapitel IV auch so genannte Grundrechte der dritten Generation wie das Recht auf „die Leistungen der sozialen Sicherheit“ (Art. II-94). Kritisch hierzu etwa Tettinger, P. J., Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, in: NJW 2001, S. 1010 (1014), unter Hinweis auf die erforderliche „dogmatische Strukturierungsarbeit“. Unter ökonomischen Gesichtspunkten kritisch Sinn, in: CES-ifo Vol. 5, Nr. 3. S. 4 ff. (2004).

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Wer wirtschaftliche und soziale Positionen effektiv fördern und schützen will, muss deshalb auf die Funktionsfähigkeit der Institutionen achten. Dieses Geschäft ist zwar mühsamer als das Ausklügeln sozialer Rechte gegenüber dem Staat, es erfordert einen interdisziplinären Ansatz von ökonomischer und juristischer Seite, aber nur dieser Weg ist letztlich erfolgreich. Zu behaupten, wirtschaftliche und soziale Rechte wären in diesem Verständnis nur ein „Reflex“ der Wirtschaftsordnung, wäre zu blass; denn die Steigerung des Wohlstands und vor allem die breite Teilhabe aller Bevölkerungsschichten an diesem Wohlstand, ist nicht nur ein Zufallsreflex, sondern intendiertes Ziel einer derart skizzierten Wirtschaftsordnung. Eine nicht zu unterschätzende und vor allem in Deutschland durch einschneidende historische Erfahrungen belegte Institution ist eine auf ein stabiles Geldwesen zielende Währungsordnung. Dieter Blumenwitz hat sich diesen Zusammenhängen u.a. in seiner zusammen mit Burkhard Schöbener verfassten und auf Anregung des Autors dieser Zeilen zurückgehenden Schrift „Stabilitätspakt für Europa“ 3 gewidmet und damit die Kontrolle der öffentlichen Defizite als einen institutionellen Pfeiler einer einheitlichen europäischen Währung bei fortdauernder nationaler Budgethoheit herausgestellt. In den folgenden Überlegungen will ich eine dem Stabilitätspakt gewissermaßen vorgelagerte institutionelle Sicherung der Währungsordnung, die Unabhängigkeit der Notenbanken und speziell der Notenbanken des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB) beleuchten.

II. Die Unabhängigkeit der Notenbank in Deutschland und Europa – rechtliche Entwicklung und aktuelle Praxis – 1. Die Unabhängigkeit der deutschen Notenbanken bis zum Zweiten Weltkrieg Die Einrichtung einer Notenbank ist in Deutschland, 4 wie auch in anderen Ländern, 5 ein Kind des 19. Jahrhunderts. Im deutschen Kaiserreich des 19. Jahrhunderts nahm die Reichsbank 6 am 1. Januar 1876 – und somit fünf Jahre nach der Gründung des deutschen Reiches – ihren Geschäftsbetrieb auf. Von ___________ 3 Blumenwitz, D. / Schöbener, B., Stabilitätspakt für Europa: Die Sicherstellung mitgliedstaatlicher Haushaltsdisziplin im Europa- und Völkerrecht, 1997. 4 Zu der Historie des Notenbankwesens in Deutschland siehe beispielsweise Deutsche Bundesbank, Währung und Wirtschaft in Deutschland 1876–1975, 1976. 5 Das Federal Reserve System (FED) wurde im Jahr 1913 durch den Federal Reserve Act gegründet. Eine Regelung der Banknotenausgabe noch ohne Zentralbank erfolgte durch den National Currency Act von 1863 und den National Banking Act von 1865. 6 Durch das Bankgesetz vom 14.03.1875 gegründet.

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einer unabhängigen Bank konnte man damals allerdings nicht sprechen. Zum Beispiel bestand ein direktes Weisungsrecht des Reichkanzlers gegenüber der Reichsbank, 7 wobei die zentralistische innere Struktur der Bank ein solches Weisungsrecht von außen begünstigte. Die daraus folgende fehlende „innere Unabhängigkeit“ war wohl auch ein Grund dafür, dass die Reichsbank die monetären Ursachen der Inflation nach dem ersten Weltkrieg nicht erkannte (durch hohe Kreditgewährung an den Staat, durch Festhalten an einem niedrigen Diskontsatz und Hinnahme hoher Wechselkursverluste sogar noch verstärkte), sondern – wie die politische Führungsschicht jener Tage – ausschließlich die hohen Reparationslasten, das Leistungsbilanzdefizit und fehlende Auslandskredite dafür verantwortlich machte. 8 1924 erlangte die Reichsbank vorübergehende Unabhängigkeit. So heißt es im Bankgesetz vom 30. August 1924: „Die Reichsbank ist eine von der Reichsregierung unabhängige Bank …“. 9 Diese Unabhängigkeit wurde jedoch durch die nationalsozialistische Regierung rasch wieder eingeschränkt. Durch das Gesetz vom 27. Oktober 1933 10 erhielt der Reichskanzler das Recht der Ernennung und Abberufung des Reichsbankpräsidenten und der Direktoriumsmitglieder; der durch seine Internationalität plural besetzte Generalrat wurde abgeschafft. Ferner wurde die Basis der Notendeckung durch die Hereinnahme von Pfandbriefen sowie Schuldverschreibungen des Reiches, der Länder und der Kommunen erweitert. Damit war (erneut) der Grundstein für notenbankalimentierte Staatsfinanzierung gelegt. 1937 wurde das Reichsbankdirektorium ausdrücklich „dem Führer und Reichskanzler unmittelbar“ unterstellt. 11 Das Gesetz über die Deutsche Reichsbank vom 15. Juni 1939 bildete schließlich den letzten formellen Schritt zur Aufhebung sämtlicher Autonomiereste. In der Präambel des Gesetzes heißt es, dass die Reichsbank „der Verwirklichung der durch die nationalsozialistische Staatsführung gesetzten Ziele im Rahmen des ihr anvertrauten Aufgabengebiets“ dienen soll. Und weiter in § 3: „Die Deutsche Reichsbank wird nach den Weisungen und unter der Aufsicht des Führers und Reichskanzlers von dem Präsidenten der Deutschen Reichsbank und den übrigen Mitgliedern des Reichsbankdirektorium geleitet und verwaltet.“ 12 ___________ 7

Bankgesetz von 1875, § 26. Siehe Schlesinger, H., Stabilität und Solidarität – Perioden der Währungspolitik 1922 bis 2002, Vortrag vom 15.01.1997, Auszüge aus Presseartikeln der Deutschen Bundesbank, No. 10, 1997, S. 9 f. 9 Reichsbankgesetz vom 30.08.1924, § 1 S. 1, RGBl. 1924 II, S. 235. 10 Gesetz zur Änderung des Bankgesetzes vom 27.10.1933, RGBl. 1933 II, S. 827 ff. 11 § 6 Abs. 1 S. 1 des Gesetzes zur Neuregelung der Verhältnisse der Reichbank und der Deutschen Reichsbahn vom 10.02.1937. 12 Gesetz über die Deutsche Reichsbank vom 15.06.1939, Präambel und § 3 S. 1. 8

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Die juristische und auch faktische Abhängigkeit der Reichsbank belegt ein Zeitdokument: Ein (schriftlicher) Versuch des damaligen Reichsbankdirektoriums unter Präsident Hjalmar Schacht, Hitler zur Aufgabe der inflationären Politik zu bewegen, endete in der sofortigen Entlassung aller Direktoriumsmitglieder. 13 Die inflationäre Politik wurde unvermindert fortgesetzt. 14 Vor und auch noch während des Zweiten Weltkriegs konnte die nationalsozialistische Führung dem durch den immensen Geldüberhang bestehenden Inflationsdruck noch mit Preis- und Lohnkontrollen und drastischen Strafen bei deren Missachtung entgegenwirken. 15 Wenn man so will, gelang es der Führung, die „Kaufkraftillusion“ des Geldes in breiten Bevölkerungsschichten bis 1944 aufrecht zu halten. Als danach die Wirksamkeit der Kontrollen jedoch rasch nachließ, wurde der Geldüberhang sichtbar und die Kaufkraftillusion zerplatzte. Die Konsequenzen – Notwendigkeit der Währungsreform 1948 – sind bekannt.

2. Die Entwicklung der Unabhängigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg Art. 88 GG verpflichtete den Bund zur Errichtung einer Notenbank, ohne allerdings eine Aussage zu deren Verhältnis zur Bundesregierung zu treffen. 16 Bis zur Gründung der Deutschen Bundesbank am 26. Juli 1957 gab es mehrere „Vorläuferinstitutionen“. In der amerikanischen und französischen Besatzungszone wurden 1946 und 1947 Landeszentralbanken gegründet. Im Februar 1948 entstanden auch in der britischen Besatzungszone Landeszentralbanken. 17 Diese unterlagen zwar der staatlichen Aufsicht, in der Praxis hielten sich die Lan___________ 13

Brief des Präsidenten des Reichsbank-Direktoriums an den Führer und Reichskanzler vom 07.01.1939. Bundesarchiv, Az. R 43 II/234. 14 Das „Dritte Reich“ hatte am Ende des Zweiten Weltkriegs fast 30 % seiner Schuld bei der Reichsbank, den Rest – weitgehend zwangsweise – im Bankenapparat. Siehe Schlesinger, H., Deutsche Währungsgeschichte als Lehrstück für eine Europäische Währungsunion, Vortrag anlässlich des Symposiums „Monetäre Geschichte als Wegweiser für die Europäische Zentralbank“ zur Verleihung der Ehrendoktorwürde an Bundespräsident Richard von Weizsäcker, Erasmus-Universität Rotterdam, 08.11.1991. 15 Ein Bruch der Lohn- und Preisverordnungen wird als „wirtschaftlicher Landesverrat“ bezeichnet und „mit allen zu Gebote stehenden Mitteln, insbesondere auch mit solchen staatspolizeilicher Art“ bekämpft. Aus einem „Brief des Beauftragten für den Vierjahresplan an den Leiter der Reichswirtschaftskammer“ vom 09.09.1939, Bundesarchiv, Az. R 2/13716. 16 Die mittelbare Absicherung der Unabhängigkeit in Art. 88 S. 2 GG erfolgte erst 1992 im Zusammenhang mit der europäischen Währungsunion. 17 In der sowjetischen Besatzungszone gab es sog. Emissions- und Girobanken, die in Gestaltung und Funktion den Landeszentralbanken ähnlich waren.

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desregierungen jedoch mit Weisungen zurück. 18 Allerdings ernannten die Landes-Ministerpräsidenten Präsident und Vizepräsident der Landeszentralbanken und den Vorsitzenden des Verwaltungsrats. Zudem war mit dem Leiter der Bankenaufsichtsbehörde ein Regierungsvertreter im Verwaltungsrat vertreten. Als Vorgängerinstitut der Deutschen Bundesbank wurde am 1. März 1948 für die britische und amerikanische Besatzungszone die Bank deutscher Länder gegründet. Nach US-amerikanischem Vorbild war das neue Zentralbankensystem zweistufig und dezentral (mit der Bank deutscher Länder als Kopfstelle und den Landeszentralbanken). Am 16. Juni traten die Landeszentralbanken der französischen Besatzungszone dem System bei. 19 Diese neue Zentralbank war zwar – worauf die Alliierten aus politischen Gründen (Misstrauen gegenüber „alten Seilschaften“) Wert legten – unabhängig von deutschen Regierungsstellen, nicht jedoch von der „Alliierten Bankenkommission“. So heißt es in Artikel II des Gesetzes über die Errichtung der Bank deutscher Länder von 1949: „Bei der Festsetzung der Politik der Bank unterliegt der Zentralbankrat den gegebenenfalls von der Alliierten Bankenkommission erlassenen Anordnungen.“ Als das Besatzungsstatut im Frühjahr 1951 gelockert wurde, boten die Alliierten der Bundesregierung an, ihre Vorbehaltsrechte gegenüber dem deutschen Zentralbanksystem 20 aufzugeben, sobald ein entsprechendes deutsches Gesetz in Kraft sei. Die Unabhängigkeit der Bank deutscher Länder von deutschen Regierungsstellen war dabei nicht von vornherein anerkannt. Faktisch gab es ein hartes innenpolitisches Ringen um die Frage, ob die Notenbank im Exekutivbereich des Staates anzusiedeln sei oder nicht. Ein Versuch der Bundesregierung, im Gesetz über die Bank deutscher Länder den Ausdruck „Alliierte Bankenkommission“ lediglich durch „Bundesregierung“ zu ersetzen und somit die Bank deutscher Länder letztlich von der Bundesregierung abhängig zu machen, 21 scheiterte. 1952 trat das „neue“ Notenbankgesetz in Kraft. In Bezug auf die Unabhängigkeit heißt es im Artikel I.3 des Gesetzes über die Errichtung der ___________ 18

So betonte der erste Präsident der Landeszentralbank von Bayern, weder er noch seine Kollegen der anderen Landeszentralbanken seinen jemals mit irgendwelchen Weisungen der Landesregierungen konfrontiert worden. Vgl. Jahresbericht der Landeszentralbank in Bayern 1996, S. 21, mit weiteren Hinweisen zur Notenbankgeschichte in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. 19 Einen guten Überblick über das deutsche Notenbankwesen nach dem Zweiten Weltkrieg geben das Buch „Die Deutsche Bundesbank: Aufgabenfelder, Rechtlicher Rahmen, Geschichte“, Selbstverlag der Deutschen Bundesbank, 2006, S. 23–31, sowie Buchheim, C., Wie es zur Unabhängigkeit der Bundesbank kam, Vortrag vom 22.11. 2000 in der Landeszentralbank in Rheinland-Pfalz. 20 Und zusätzlich gegenüber dem deutschen Geschäftsbankensystem. 21 Der Grundsatzbeschluss des Bundeskabinetts vom 20.03.1951 hierzu erfolgte unter Einschluss Ludwig Erhardts, vgl. Buchheim (Fn. 19), S. 17.

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Bank deutscher Länder: 22 „Sofern […] nichts anderes vorgesehen ist, ist die Bank nicht den Anweisungen irgendwelcher politischer Körperschaften oder öffentlichen Stellen mit Ausnahme der Gerichte unterworfen.“ Obwohl das Gesetz also – auch nach Aufgabe der Alliierten-Vorbehaltsrechte – eine von den deutschen Regierungsstellen weitgehend unabhängige Notenbank vorsah, zeigt die etwas unsichere Formulierung („sofern … nichts anderes vorgesehen ist“) die Schwierigkeiten im konzeptionellen Umgang mit der Unabhängigkeit. Auch hatte sich die Bundesregierung immerhin noch die Einflussmöglichkeit gesichert, Beschlüsse des Zentralbankrats um acht Tage aufzuschieben. 23 In der Praxis spielte diese Klausel jedoch nie eine Rolle, da sich die Unabhängigkeit der Bank deutscher Länder bzw. später der Deutschen Bundesbank im Bewusstsein der Bevölkerung rasch festsetzte und somit eine faktische Verstärkung des – formal gesehen – relativ einfach zu ändernden Bundesbankgesetzes bewirkte. Das bekannteste Beispiel hierfür ist die sogenannte „Gürzenich-Rede“ des Jahres 1956, in der Bundeskanzler Adenauer der Bank deutscher Länder vorwarf, die damals beschlossene Leitzinserhöhung sei ein „Fallbeil für die kleinen Leute“. Die überwältigende Mehrheit der Öffentlichkeit unterstützte jedoch die Position der Zentralbank. Gleiches galt seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts für die Frage der Verwendung der Goldreserven – einer Vertrauensgrundlage der Währung. Insgesamt dürfte damit die Unabhängigkeit der Bundesbank weniger auf früher konzeptioneller Erkenntnis von ökonomischer, politischer oder Notenbankseite beruhen, sondern ergab sich aus der historischen Chance des Rückzugs der Alliierten aus ihren früheren Vorbehaltsrechten (bei fortbestehender Unabhängigkeit gegenüber deutschen Regierungsstellen) und erstarkte dann durch den Erfolg der Institution Bundesbank und ihr Durchsetzungsvermögen gegenüber der Regierung zu materiellem und seit 1992 auch formellem Verfassungsrang. 24

___________ 22

Gesetz über die Errichtung der Bank deutscher Länder vom 01.05.1952, Art. I.3. Gesetz über die Errichtung der Bank deutscher Länder vom 01.05.1952, Art. II, 6.c. Das aufschiebende Vetorecht wurde später auf zwei Wochen verlängert und am 30.12.1997 aufgrund der Unvereinbarkeit mit den Unabhängigkeitsforderungen im EGRecht abgeschafft. 24 Siehe auch Buchheim (Fn. 19), S. 2, und Zitat S. 23 „Ohne den amerikanischen Druck (hätte) es eine Zentralbank nach dem Muster der Bank deutscher Länder – d. h. dezentral und unabhängig – wohl nicht gegeben.“ 23

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3. Die rechtliche Situation im Europäischen System der Zentralbanken Seit Einführung der Gemeinschaftswährung im Jahr 1999 bilden die Deutsche Bundesbank, die Europäische Zentralbank und die Notenbanken der anderen an der Gemeinschaftswährung partizipierenden Länder das Europäische System der Zentralbanken (ESZB). Die Unabhängigkeit der Notenbanken des ESZB ist in mehreren legislativen Schichten verankert und hat mehrere Dimensionen. 25 Die folgende Tabelle gibt hierüber einen Überblick: Deutsche Bundesbank

EZB/ESZB

Institutionelle Unabhängigkeit

Art. 88 S. 2 GG, § 12 BBkG*, Art. 7 ESZB-Satzung

Art. 108 EG, Art. 7 ESZB-Satzung

Personelle Unabhängigkeit

§ 7 Abs. 4 BBkG, Art. 14.2 ESZB-Satzung

Art. 11.2, 11.4 und 14.2 ESZB-Satzung

Finanzielle Unabhängigkeit

§ 26 Abs. 4 BBkG

Art. 28.1 und 2 ESZB-Satzung

Funktionale Unabhängigkeit

§ 3 BBkG

Art. 105 Abs. 1 EG, Art. 2 ESZB-Satzung

Strukturelle Unabhängigkeit

§ 7 Abs. 3 BBkG

Art. 112 b EG, Art. 11.2 ESZB-Satzung

Art. 101 EG, Art. 21.1 ESZB-Satzung

Art. 101 EG, Art. 21.1 ESZB-Satzung

Nachrichtlich: Verbot der Kreditgewährung an öffentliche Stellen * = Bundesbankgesetz

 Der Kern der Unabhängigkeit ist die sogenannte „institutionelle Unabhängigkeit“, die Unabhängigkeit von politischen Weisungen. Art. 108 EG verbietet aber nicht nur die Entgegennahme von „Weisungen von … Einrichtungen der Gemeinschaft, Regierungen der Mitgliedstaaten oder anderen Stellen“, sondern enthält darüber hinaus das Gebot an alle Exekutivorgane, ___________ 25

Zu den unterschiedlichen Möglichkeiten der Systematisierung vgl. Sietzmann, Die Unabhängigkeit von EZB und Bundesbank nach geltendem Recht und dem Vertrag über eine Verfassung für Europa, Institute for Law and Finance, in: working paper series, No. 35, 1/2005, S. 10 ff.

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„nicht zu versuchen, die Mitglieder der Beschlussorgane der EZB oder der nationalen Zentralbanken bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu beeinflussen“. Die Unabhängigkeit der Notenbanken und ihrer Beschlussorgane wird somit – um die strafrechtliche Terminologie zu bemühen – nicht nur als „konkretes Erfolgsdelikt“ geschützt (Verbot von Weisungen), sondern bereits als „abstraktes Gefährdungsdelikt“: Schon der „Versuch“, die „Mitglieder der Beschlussorgane der Zentralbanken bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu beeinflussen“, ist demnach verboten. Inwieweit insbesondere dieser zweite Satz des Art. 108 EG schon Gemeingut in der öffentlichen Auseinandersetzung im Euroraum geworden ist, wird später noch dargestellt.  Ein weiteres Element der Unabhängigkeit nach dem EG-Vertrag ist die „personelle Unabhängigkeit“. Demnach haben die Mitglieder der Beschlussorgane der ESZB-Notenbanken mit acht, mindestens aber fünf Jahren lange Amtszeiten. Vor allem aber ist eine Abberufung nur bei schweren Verfehlungen oder im Falle der Nichterfüllung der Voraussetzungen zur Amtsausübung und nur durch Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs möglich (Art. 11.4 ESZB-Statut). Darüber hinaus können Mitglieder des EZB-Direktoriums sogar nur eine Amtszeit ausüben (Art. 11.2 ESZBStatut), was aber nach der Staatspraxis nicht eine spätere erneute Mitgliedschaft im ESZB-Rat als Präsident einer nationalen Notenbank ausschließt.  Die Unabhängigkeit der Notenbanken wäre leicht auszuhöhlen, würden sie in ihrem Budget vom „Tropf“ des Staatshaushaltes bzw. jeweiligen Finanzministeriums abhängen. Deshalb sind die Notenbanken im ESZB auch finanziell unabhängig und bei der Erfüllung ihrer Aufgaben nicht auf Mittelzuweisungen Dritter angewiesen. So sind die Zeichner des Kapitals der EZB die nationalen Notenbanken (Art. 28.2 ESZB-Satzung). Ferner sind die Budgets der Zentralbanken des Eurosystems weder Bestandteile des EUnoch der nationalen Haushalte. Die Prüfung der Jahresabschlüsse erfolgt durch unabhängige Wirtschaftsprüfer, die Prüfung der Wirtschaftlichkeit durch die Rechnungshöfe, soweit nicht die Geldpolitik berührt ist.  Ein weiterer wichtiger Aspekt der Unabhängigkeit ist die sogenannte „funktionale Unabhängigkeit“. Der Grund hierfür ist, dass die Unabhängigkeit der Notenbank leicht zu unterlaufen wäre, könnte man ihr ein verbindliches Ziel vorgeben, dass sich von monetären Größen (Preisstabilität) entfernt, etwa die Unterstützung der jeweiligen Wirtschaftspolitik der Regierung oder des Wirtschaftswachstums. Die dem ESZB in Art. 105 Abs. 1 EG vorgegebene Ausrichtung am Hauptziel der Preisstabilität und die Verfolgung allgemeiner wirtschaftspolitischer Ziele nur, soweit dieses Primärziel nicht beeinträchtigt wird, ist deshalb eine zentrale innere Absicherung der Unabhängigkeit. Ein Teilaspekt der funktionalen Unabhängigkeit ist auch das Verbot der Kreditgewährung an öffentliche Stellen (Art. 101 EG) und das Verbot eines

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bevorrechtigten Zugangs öffentlicher Stellen zu den Finanzinstituten, denn damit wird das Stabilitätsziel gegenüber der Versuchung abgesichert, die Notenbank zu monetärer Budgetfinanzierung heranzuziehen.  Die bisher aufgeführten vier Dimensionen der Unabhängigkeit sind in der Literatur weitgehend anerkannt. 26 Darüber hinaus scheint mir der Aspekt der „strukturellen Unabhängigkeit“ wichtig. Diese betrifft das Vorschlagsrecht und die Besetzung der Führungspositionen in den Notenbanken. So wird der Vorstand der Bundesbank 27 jeweils zur Hälfte von Bundesregierung und Bundesrat und somit von politisch unterschiedlich ausgerichteten Stellen besetzt. Der EZB-Rat besteht aus den nationalen Notenbankgouverneuren (von den jeweiligen Regierungen vorgeschlagen) und sechs Direktoriumsmitgliedern, die von den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten einvernehmlich auszuwählen sind. 28 Damit folgt das ESZB-Statut der bewährten Einrichtung des früheren Zentralbankrats der Deutschen Bundesbank, der sich ebenfalls aus einem Direktorium und den Präsidenten der Landeszentralbanken zusammensetzte. Zudem enden die Amtszeiten der Entscheidungsträger des EZB-Rats zu unterschiedlichen Zeitpunkten, was nicht nur der Kontinuität des Gremiums dient, sondern auch große Bedeutung für die Unabhängigkeit hat, weil damit ausgeschlossen wird, dass eine – zu einem bestimmten Zeitpunkt vorherrschende – politische Strömung das gesamte Direktorium der EZB neu besetzen kann (plurales und zeitlich versetztes Bestellungsverfahren). Wichtig ist ferner die Bestandsfestigkeit der die Unabhängigkeit sichernden Rechtsakte. Grundgesetz und EG-Vertrag können nur mit qualifizierten Mehrheiten geändert werden; die Änderung des EG-Vertrags und des ESZB-Statuts erfordert über einen einstimmigen Ratsbeschluss hinaus auch die Ratifikation in den nationalen Parlamenten. Die juristische Absicherung der Unabhängigkeit ist im ESZB somit umfassender als die der Bundesbank in der Zeit vor der Währungsunion. Das ist insofern wichtig, als eine „gesamteuropäische Öffentlichkeit“, die der Unabhängigkeit des EZB-Rates Rückhalt geben könnte, bislang nur in Ansätzen besteht; die historische Erfahrung der Bundesbank stützt jedoch die These, dass die öffentliche Meinung eine wichtige, wenn nicht zen-

___________ 26 Siehe z. B. Kahl, W. / Häde, U. in: Calliess, Chr. / Ruffert, M. (Hrsg.) EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Kommentierung zu Art. 108, und Cukierman, A., Central Bank Independence and Policy Results: Theory and Evidence, Lecture at the International Conference on: “Stability and Economic Growth: The Role of the Central Bank”, Mexico City, 11/2005. 27 § 7 Abs. 3 BBkG. 28 Art. 112 Abs. 2 lit. b EG.

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trale Stütze der Unabhängigkeit der Zentralbank bei der Inflationsbekämpfung ist. 29 4. Die Beachtung der Unabhängigkeitsgarantie des Art. 108 EG in der Praxis Bei der Würdigung der Beachtung der Unabhängigkeit in der politischen Praxis ist zunächst hervorzuheben, dass die EZB und die Notenbanken des Eurosystems den „inneren Kern“ der Unabhängigkeit – das Verbot, Weisungen von anderen Stellen einzuholen oder ihnen gar zu entsprechen – durchgesetzt haben. Der erste Präsident der EZB, Wim Duisenberg, hat dies in die klassische Formel gefasst: „I hear, but I do not listen.“ 30 Auch hat die EZB in ihren Konvergenzberichten immer darauf bestanden, dass „Sekundärziele“ (also meist: Rücksicht auf die nationale Wirtschaftspolitik und Wachstumsziele) für die Notenbanken von Beitrittsstaaten stets dem Primärziel der Preisstabilität nach Art. 105 Satz 1 EG nachgeordnet bleiben und das Stabilitätsziel nicht beeinträchtigen dürfen. 31 Auch verfahrensrechtlichen Aufweichungen der Unabhängigkeit, etwa Vorab-Informationspflichten der nationalen Notenbanken gegenüber der Regierung vor geldpolitischen Beschlüssen, hat die EZB erfolgreich widerstanden. Nicht ganz so eindeutig ist jedoch die Akzeptanz von Art. 108 Satz 2 EG, wonach schon der Versuch der Beeinflussung der Beschlussorgane der Notenbank durch die Exekutive ausgeschlossen ist. Auf der einen Seite darf diese Klausel sicherlich nicht als „Kontaktverbot“ für Gespräche zwischen Politik, Wirtschaft und Notenbankern verstanden werden, im Gegenteil: eine erfolgreiche Kommunikation ist schon „die halbe Miete“ einer erfolgreichen Geldpolitik. Andererseits steht der Versuch einer direkten Einflussnahme mit dem Ziel, ___________ 29 Berger, H., The Bundesbank’s Path to Independence. Evidence from the 1950s, in: Public Choice 93 (1997), S. 427 ff.; Berger, H. / Haan, J. de, A State within a State? An Event Study on the Bundesbank, in: Scottish Journal of Political Economy, vol. 46 (1999), S. 17 ff. Siehe auch Buchheim (Fn. 19), S. 23. 30 Vgl. Antwort von W. F. Duisenberg auf die Frage eines Journalisten nach den häufigen Anfragen nach Zinssenkungen, Pressekonferenz der EZB, 11.04.2001. 31 Dies bleibt in der Praxis eine Daueraufgabe. So hat z. B. die polnische Regierung in ihrem Koalitionsprogramm für die Jahre 2006–2009 „Solidarischer Staat“, Anlage 1, Kapitel 5 „Grundsätze der Geld- und Finanzpolitik“ zwar unter Punkt a) festgehalten, sie plane „eine Geld- und Fiskalpolitik [zu verfolgen], die einem schnellen und stabilen Wirtschaftswachstum freundlich gegenüber steht, unter Beibehaltung der Unabhängigkeit der Notenbank.“ Unter Punkt b) heißt es, dass die Regierung die Bedeutung des Inflationsziels der Notenbank anerkennt, „in Verbindung mit einer Erweiterung des Bereichs [der] Verantwortung [der Notenbank] beim Wirtschaftswachstum“. Das Koalitionsprogramm ist abrufbar auf der Homepage der Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“ (www.gazetawiborcza.pl).

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eine Entscheidung der Notenbank zu erreichen oder zu verhindern, im Widerspruch zu Art. 108 Satz 2. 32 Auch ist der Versuch, eine „öffentliche Druckkulisse“ vor einer anstehenden Entscheidung der Notenbank aufzubauen, nicht von Art. 108 EG gedeckt. Wim Duisenberg hat nach seinem Ausscheiden aus dem Amt in der letzten großen öffentlichen Rede vor seinem Tod, 33 bei der Verabschiedung von Tommaso Padoa-Schioppa als Mitglied des EZB-Direktoriums den Schleier gelüftet und namentlich die Politiker Lafontaine, Schröder, Berlusconi, Chirac genannt, die alle „at times – tried to influence the ECB“. Kürzlich wurde ein gemeinsamer Brief des Vorsitzenden der Eurogruppe und des Währungskommissars an den Präsidenten der EZB bekannt, 34 in dem eine „Anzahl relativ kleiner Schritte“ vorgeschlagen wird, „die unternommen werden können, um die Interaktion zwischen den wichtigsten Politikentscheidern der Eurozone zu verbessern“. Ziel sollte es sein, „eine gemeinsame Eurozonenstrategie“ unter anderem zu Wechselkursfragen zu formulieren. Eine von einer Ankerwährung verfolgte explizite Wechselkursstrategie kommt jedoch erfahrungsgemäß schnell in Konflikt mit dem Stabilitätsziel. Der EG-Vertrag sieht deshalb in Art. 111 ein geregeltes und transparentes Verfahren für Fragen des Wechselkurssystems und – bei frei schwankenden Wechselkursen – der Wechselkurspolitik vor. 35 Von Zeit zu Zeit gab es auch immer wieder Versuche, die die Unabhängigkeit konstituierenden Rechtsakte des ESZB-Systems aufzuweichen. 36 Unterliegt deshalb die volle Anerkennung der Unabhängigkeit der EZB und der Notenbanken des Eurosystems noch gewissen „Geburtswehen“, so ist doch letztlich die Gegebenheit tröstlich, die Wim Duisenberg ebenfalls schilderte: ___________ 32 Vgl. zur Parallelität mit dem Schutz der Unabhängigkeit der Mitglieder der EUKommission Gnan, E. / Wittelsberger, H., in: Groeben, Hans von der / Schwarze, J., Art. 108 EG Rn. 46, 6. Aufl. 2003. 33 Vgl. Duisenberg, W. F., Introduction, in: ECB, The Eurosystem, the Union and beyond. The single currency and implications for Governance. An ECB colloquium held in honour of Tommaso Padoa-Schioppa, 27.04.2005, Frankfurt/Main 2005, S. 11. 34 Berichterstattung hierüber u. a. in vielen Medien, z. B. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31.05.2006, S. 11. 35 „Allgemeine Orientierungen“ für die Wechselkurspolitik sind demnach nur nach Anhörung der EZB und durch Entscheidung des Rates mit qualifizierter Mehrheit möglich. Solche Orientierungen sind bisher jedoch mit guten Gründen – sie könnten sich schnell als kontraproduktiv erweisen – unterblieben. 36 Z. B. der frühere französische Innenminister und heutige Präsident Sarkozy (Süddeutsche Zeitung vom 31.07.2006) zitiert nach „Auszüge aus Presseartikeln“ der Deutschen Bundesbank vom 02.08.2006, S. 9): „Ich würde mir wünschen, dass man den Euro in den Dienst von Konjunktur und Wachstum stellt …“. Sarkozy bezeichnete es als dringlich, der EZB eine politische Wirtschaftsregierung aus den Euromitgliedstaaten gegenüber zu stellen, die Satzung der Bank zu überarbeiten und ihr neue Ziele zu geben.

Die Unabhängigkeit der Notenbank

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Ein von ihm namentlich nicht genannter Ministerpräsident eines Mitgliedstaates aus dem Eurogebiet versuchte ihn in einem längeren Telefongespräch dazu zu bewegen, die Zinssätze zu senken. Nicht nur unter Hinweis auf die Verfassung des EZB-Rats als Kollegialorgans blieb Duisenberg dieser Forderung gegenüber taub. Erst ganz zum Schluss ihres langen Gesprächs besann sich der namenlose Ministerpräsident und entschuldigte sich für seinen Versuch, den EZB-Präsidenten zu beeinflussen unter Hinweis darauf, dass die Unabhängigkeit der Zentralbank von der Politik noch nicht Teil der politischen Kultur seines Landes sei.

III. Die Bedeutung der Unabhängigkeit der Notenbank für inflationsfreies Wachstum 1. Ökonomische und politische Vorteile der Preisstabilität Der EZB-Rat hat im Rahmen seiner geldpolitischen Strategie eine quantitative Definition des Stabilitätsziels des ESZB beschlossen. 37 Demnach ist Preisstabilität definiert als mittelfristig zu gewährleistendes Ziel und zwar als Anstieg des Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI) für den Euroraum von unter 2 % gegenüber dem Vorjahr. Sinn dieser Definition ist es u. a., eine ausreichende Sicherheitsmarge gegen Deflationsrisiken zu haben. 38 Außerdem begründet sie der EZB-Rat mit den Inflationsunterschieden innerhalb des EuroWährungsgebiets und „evtl. vorliegenden Messfehlern beim HVPI“ (die durch schrittweise Übernahme hedonischer Meßmethoden beim Preisindex – also die Berücksichtigung von Qualitätsverbesserungen – jedoch an Bedeutung verloren haben). Wichtig bleibt weiterhin der Unterschied von „Disinflation“, tendenziell rückläufigen Preissteigerungsraten, die nicht von Erwartungen eines generell fallenden Preisniveaus begleitet werden und „Deflation“, die sich als fortschreitender Verfall von Güter- und Faktorpreisen, der von entsprechenden Zukunftserwartungen getragen wird, darstellt. Im Einzelnen zeigt sich die Bedeutung eines preisstabilen Umfelds für Wirtschaftswachstum und damit letztlich für den Wohlstand der Bevölkerung in folgenden Zusammenhängen: ___________ 37

Pressemitteilung vom 08.05.2003; die EZB-Veröffentlichung „Die Geldpolitik der EZB“, 2004, kostenlos erhältlich unter www.ecb.int (10.01.2007), führt anschaulich in diese Thematik ein. 38 Eine Notenbank kann Inflation durch Anheben der Leitzinsen bekämpfen. Der Bekämpfung der Deflation ist jedoch mit einem nominalen Zinssatz von null eine Grenze gesetzt. Wird zu einem Nullzins immer noch nicht investiert, z. B. weil die Wirtschaftsakteure fallende Preise erwarten und Investitionen daher zurückstellen, ist die Notenbank mit dem Instrument des Leitzinses machtlos. Sie ist dann in der von J. M. Keynes so benannten „Liquiditätsfalle“ gefangen. Die Wirtschaftsakteure horten Geld, da es an Kaufkraft gewinnt.

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a) Die Effizienz des Wirtschaftens wird gesteigert.  Bei Preisstabilität können Veränderungen der relativen Preise, die die Allokationsentscheidung der Wirtschaftsakteure lenken, leichter erkannt werden, da sie nicht durch Schwankungen des allgemeinen Preisniveaus überlagert werden. Folglich führen klar erkennbare relative Preise zu einem effizienteren Ressourceneinsatz. Zudem mindert Preisstabilität die „Verteilungskämpfe“, die Arbeitgeber und Gewerkschaften bei Tarifverhandlungen führen, so dass der Ressourceneinsatz hierfür niedrig bleiben kann. Die Unternehmen können sich folglich auf Produktivitätssteigerung, Produktinnovationen u. ä. konzentrieren und so stärker wohlstandsehrend wirken.  Darüber hinaus bewirkt Inflation einen realen positiven Vermögenseffekt für Schuldner (in nominalen Verbindlichkeiten), während Gläubiger real im Laufe der Zeit und unter ceteris paribus-Bedingungen Vermögen verlieren. Ein preisstabiles Umfeld schafft also den notwendigen Rahmen für das Ausbleiben von (ineffizienten) Inflationsrisikoprämien als Vergütung für das längerfristige Halten von nominalen Vermögenspositionen.  Des Weiteren besteht in einem preisstabilen Umfeld kein Anreiz für Wirtschaftsakteure, Waren zu horten. Findet bei hoher Inflation beispielsweise eine Flucht in Sachwerte statt, so ist diese letztlich von der Sorge vor Kaufkraftverlusten getrieben und aus individueller Sicht zwar rational, gesamtwirtschaftlich jedoch ineffizient.  Inflation kann ferner als eine Form der Besteuerung von Bargeldbeständen gesehen werden. Die Wirtschaftsakteure werden weniger Bargeld halten als in einem preisstabilen Umfeld und damit höhere Transaktionskosten in Kauf nehmen. Diese sog. „Schuhsohlenkosten“ 39 stiften keinen volkswirtschaftlichen Nutzen und können vermieden werden. In einem deflationären Umfeld dagegen horten die Wirtschaftssubjekte Geld; der Binnenkonsum, die Bonität der Unternehmen und der Finanzwirtschaft können hierunter beträchtlich leiden. ___________ 39 Die wörtliche Übersetzung des originalen Begriffs shoe-leather costs als „Schuhlederkosten“ träfe nicht den Sinn: Der Begriff stammt aus den frühen Modellen zur Erklärung von Geldhaltung. Diese verursacht Opportunitätskosten, da auf Bargeld keine Zinsen gezahlt werden. Trotzdem ist die Bargeldhaltung nicht null oder sehr klein, da Bargeld zu Transaktionszwecken benötigt wird und der Bargeldbeschaffungsvorgang, das Laufen zur Bank oder zum Geldausgabeautomaten, mit Kosten (Zeitaufwand, Gebühren, „Ablaufen der Schuhsohlen“) behaftet ist. Im Optimum wählt ein rationaler Mensch seine Geldhaltung so, dass die Summe dieser beiden Kostenkomponenten möglichst klein wird. Zu den frühen Geldhaltungsmodellen siehe beispielsweise Baumol, W. J., The Transaction Demand for Cash: An Inventory Theoretic Approach, in: Quarterly Journal of Economics 66 (1952), S. 545–556.

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b) Preisstabilität fördert soziale Gerechtigkeit und beugt einem Generationenkonflikt vor.  Inflation gleichwie Deflation bewirken eine – aus wirtschaftlicher Sicht – willkürliche Umverteilung von Vermögenswerten. Insbesondere den schwächeren gesellschaftlichen Gruppen fehlen meist die Möglichkeiten für eine (gesamtwirtschaftlich ineffiziente, siehe auch a)) umfassende Absicherung gegen diese Umverteilung. Nicht zuletzt die deutsche Geschichte hat im 20. Jahrhundert gezeigt, wie hohe Inflationsraten zu sozialer und politischer Instabilität führen können.  Langfristige Preisniveaustabilität ermöglicht den älteren Mitbürgern, von den Früchten ihrer früheren Arbeit zu leben, ohne den Kindern und Enkeln zur Last zu fallen. Auch die Möglichkeit werthaltiger Vererbung, der intertemporale Vermögenstransfer, ist ein wichtiger Anreiz für Arbeit und Leistung. Hierfür ist Preisstabilität unabdingbar. Schon geringe Unterschiede in den Inflationsraten können langfristig bedeutende Auswirkungen auf die Kaufkraft des Geldes haben. Während die Kaufkraft einer Geldeinheit nach 50 Jahren bei 10 % Inflation p.a. nahezu null ist, ist diese Geldeinheit bei 2 % Inflation p.a. immerhin noch 0,37 wert. Über den Zeithorizont von zehn Jahren bedeutet bereits 1 % mehr Inflation (z. B. 3 % Inflation p.a. gegenüber 2 % p.a.) einen deutlichen Kaufkraftverlust (siehe folgende Tabelle): Kaufkraft in % nach Jahren 10 Jahre

20 Jahre

30 Jahre

40 Jahre

50 Jahre

bei 2 % Inflation

82 %

67 %

55 %

45 %

37 %

bei 3 % Inflation

74 %

55 %

41 %

31 %

23 %

Quelle: Eigene Berechnungen.

Solche Berechnungen sind nicht nur „Zahlenspiele“. Die durchschnittliche Geldentwertung der Deutschen Mark betrug von 1950 bis 1998 2,77 %, die des US-Dollars 4,05 %. Diese um 1,32-%-Punkte höhere Geldentwertung in den USA führte dazu, dass der US-Dollar in diesem Zeitraum 86 %, die Deutsche Mark „nur“ 74 % an Kaufkraft eingebüßt hat. 40 Die Wohlfahrtswirkungen von Preisstabilität sind empirisch belegt. Small stellt in seiner Studie die Ergebnisse von 13 Untersuchungen (jeweils für einzelne Länder oder Ländergruppen) zusammen und folgert, dass „a 5 percentage ___________ 40 Bei durchschnittlichen 4,05 % bzw. 2,77 % Inflation war ein US-Dollar des Jahres 1950 Ende 1998 real nur noch 0,14 Cent wert, eine Deutsche Mark dagegen 0,26 Pfennig.

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point reduction in inflation could boost annual growth by between 0,1 and 0,5 percentage points“.41

-4

-2

in %-Punkte 0 2

4

6

In Deutschland könnte der positive Wachstumseffekt durchaus etwas größer sein. Die „Spitzen“ der Veränderungen von BIP-Wachstum und Inflationsrate lagen in einigen Phasen der letzten 30 Jahre deutlich auseinander.

1972

1976

1980

1984

1988 Jahr

1992

1996

2000

2004

Veränderung der Wachstumsrate des BIP Veränderung der Inflationsrate, ein Jahr verzögert Quelle: Deutsche Bundesbank. Eigene Berechnung.

Abbildung 1: Veränderung der Inflations- und Wachstumsraten

Bei aller Zurückhaltung gegenüber „monokausalen“ Erklärungen des Wachstums – selbstverständlich dürfen Faktoren wie Lohnkostenentwicklungen, Wechselkurse, exogene Schocks wie Ölpreisveränderungen, qualitative Faktoren wie Steuer- und Abgabenlast nicht übersehen werden – besteht in einer längerfristigen Perspektive eine deutliche Korrelation von hoher Preisniveaustabilität und Wachstum. Wie bei der Diskussion des Ziels der EZB bereits angesprochen, bedeutet Preisstabilität die Abwesenheit sowohl von Inflation als auch von Deflation. Auch vor letzterer dürfen Notenbanken die Augen nicht verschließen. Die Wohlfahrtsverluste durch eine Deflation lassen sich deutlich am Beispiel Japans ablesen:42 In Erwartung (weiter) fallender Preise reduzierten die Japaner ihren Konsum mit deutlichen Folgen für die Realwirtschaft und auch für den finanziellen Sektor. Der anhaltende Rückgang des Preisniveaus mit seinen re___________ 41 Small, M. M., The Cost of Inflation, South African Reserve Bank, in: Quarterly Bulletin, 09/1998, S. 43. 42 International Monetary Fund, Japan: Selected Issues, Country Report No. 06/276, July 2006.

Die Unabhängigkeit der Notenbank

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alwirtschaftlichen Folgen gipfelte um den Jahrtausendwechsel in einer Produktionslücke 43 von 4-%-Punkten. Die Arbeitslosenquote stieg in der Zeit von 1992 bis 2003 von 2 % auf über 5 %. Selbst enorme Anstrengungen der öffentlichen Hand – das fiskalische Defizit lag von 1995 bis 2005 zwischen 5 % und 8 % des BIP – sowie eine jahrelange Nullzinspolitik der japanischen Notenbank hatten es schwer, die Deflation und ihre realwirtschaftlichen Folgen zu mildern. Mittlerweile hat die Notenbank ihre Nullzinspolitik beendet, die Periode fallender Preise und entsprechender Erwartungen scheint sich dem Ende zu nähern – auch wenn das Ende der Deflation noch nicht offiziell verkündet worden ist – und die Wirtschaft ist auf einen mittelfristigen Wachstumskurs eingeschwenkt. 2. Der Zusammenhang zwischen Unabhängigkeit der Notenbank und Preisniveaustabilität Eine theoretische Begründung für den Erfolg unabhängiger Notenbanken bei der Inflationsvermeidung liegt in dem so genannten „ZeitinkonsistenzProblem“ von (gewählten) Regierungen: 44 Eine Regierung kann heute zwar versichern, dass sie niedrige Inflationsraten bevorzugt, diese Versicherung ist jedoch dann nicht glaubwürdig, wenn Haushalte und Unternehmen antizipieren, bzw. aus Erfahrung damit rechnen, dass die Regierung etwa vor Wahlen versucht sein könnte, den theoretischen positiven Zusammenhang zwischen einer – unerwarteten – Inflation und Wirtschaftswachstum bzw. Beschäftigung auszunutzen, 45 um damit kurzfristige Vorteile zu Lasten von langfristiger Sta___________ 43

Differenz zwischen tatsächlichem BIP-Wachstum und Potenzialwachstum. Frühe Arbeiten hierzu sind: Kydland, F. W. / Prescott, E. C., Rules rather than Discretion: The Inconsistency of the optimal Plans, in: Journal of Political Economy 85 (1977), 473–491, und Barro, R. J. / Gordon, D., Rules, Discretion and Reputation in a positive Model of Monetary Policy, in: Journal of Monetary Economics 12 (1983), S. 101–121. 45 Hierunter versteht man das so genannte „Reiten auf der Phillips-Kurve“, benannt nach dem englischen Statistiker A. W. H. Phillips. Dieser fand im Jahre 1958 heraus, dass fallende Arbeitslosenzahlen hohen Inflationsraten folgen. Heute ist jedoch Konsens, dass der Zusammenhang nur bei unerwarteten Inflationsschüben besteht. Außerdem ist die Richtung des Kausalzusammenhangs zu beachten: dass ein hoher Beschäftigungsstand über die Lohnpreisspirale inflationstreibend wirken kann, belegt noch nicht den gegenteiligen Zusammenhang einer beschäftigungsfördernden Wirkung hoher Preissteigerungen. Im Übrigen treten auf Grund der eingespielten Erwartungsbildung der Wirtschaftsakteure Fehlerwartungen in Bezug auf die Inflationsraten recht selten auf. Trotz dieser wirtschaftswissenschaftlichen Erkenntnis gab es auch in der jüngeren Vergangenheit immer wieder Belege für Versuche, auf die kurzfristigen Vorteile einer unerwarteten Inflation zu setzen; die langfristigen Schäden derselben scheinen dagegen weniger Beachtung zu finden. Vgl. auch grundlegend Alesina, A. / Summers, L., Central Bank Independence and macroeconomic Performance: Some international Evidence, in: Journal of Money, Credit and Banking. 25 [2] (1993), S. 151–162. 44

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bilität und Wachstum zu erzielen. Wird die Inflation von den Wirtschaftsakteuren aber weitgehend antizipiert, bleibt der erhoffte Wirtschaftsaufschwung aus oder ist nur eine kurze „Scheinblüte“. Die anschließend notwendige Rückführung der höheren Inflationsraten auf langfristig tragfähige Preissteigerungsraten – eine sogenannte Disinflationspolitik – ist hingegen mit „hohen Anpassungsschmerzen“46 verknüpft. Eine unabhängige Notenbank mit klarem Mandat zur Preisniveaustabilität hat es dagegen leichter, rechtzeitig gegenzusteuern, wenn die Inflationswirkungen noch nicht für jedermann erkennbar, aber dafür auch die Nebenwirkungen der Stabilisierung geringer sind. Das folgende Schaubild verbildlicht diesen Zusammenhang. Bei den Ländern des heutigen Eurosystems bestanden in den 80er Jahren erhebliche Unter47 schiede – gemessen an einem von Cukierman entwickelten Index – in der Abhängigkeit der jeweiligen Zentralbank von der Regierung. Der Grad der Unabhängigkeit korrelierte dabei negativ mit den Inflationsraten dieser Zeit.

20

0 = abhängig; 10 = unabhängig

15

PO GR

10

IT ES

IR

FR FI

5

BE

LU

AU

DE

0

NL

0

2

4 Zentralbankunabhängigkeit

6

8

Inflationsrate; Durchschnitt der 80er Jahre im jew. Land in % Quellen: Daten: OECD World Economic Outlook; Unabhängigkeits-Index entnommen aus Polillo, S. und Guillen, M., Globalisation Preasure and the State: The global Spread of Central Bank Independence, American Journal of Sociologe, 05/2005, S. 1764- 1802. Eigene Berechnungen.

Abbildung 2: Zusammenhang zwischen Inflation und Zentralbankunabhängigkeit

___________ 46 Der „Opferquotient“ oder, wie es in der englischsprachigen Literatur heißt, die sacrifice-ratio misst den Verlust an Wachstumsrate des BIP in %-Punkten bei Reduktion der Inflationsrate um einen %-Punkt. In der Praxis erweist sich die exakte Messung des Opferquotienten als schwierig. Die Ergebnisse hängen in hohem Maße von der Methodik und dem jeweiligen Umfeld (z. B. Zeitfenster der Messung) ab. Vgl. z. B. Tödter, K.-H. / Ziebarth, G., Pricestability vs. low inflation in Germany: An Analysis of Costs and Benefits, in: NBER Working Paper, 6170, 1997, für einen Überblick über verschiedene Ergebnisse. 47 Cukierman, A., Central Bank Strategy, Credibility, and Independence, 1992.

Die Unabhängigkeit der Notenbank

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Gemessen an diesem Index haben die Zentralbanken des ESZB übrigens heute „Unabhängigkeitswerte“ von ca. 9 und belegen damit weltweit einen Spitzenplatz. 48,49 Über diese Erfahrungsevidenz hinaus haben ökonomische Studien verschiedene Maße, die alle unterschiedliche Aspekte des Grades an Unabhängigkeit von Zentralbanken reflektieren sollen, und deren Interdependenz mit den Inflationsraten untersucht. Berger et. al. schließen ihren Literaturüberblick mit den Worten: „It is shown, that both independence and inflation aversion of the central bank matter for the inflation performance, provided that government cannot change the ‚rules of the game‘ at zero cost.“ 50 Diese Voraussetzungen sind im Euroraum gegeben. Das Vertrauen der Marktteilnehmer in die Unabhängigkeit der Notenbank und somit die Preisstabilität des Euro wird unter anderem daran deutlich, dass die langfristigen Inflationserwartungen des Marktes (knapp) unter 2 % liegen. 51

IV. Fazit Die Unabhängigkeit einer Notenbank ist kein Selbstzweck und auch nicht Vorwand für institutionelle Eigeninteressen. Ihr rechtlicher Schutz ist ökonomisch sinnvoll und notwendig, um die Stabilität des Geldwerts mittel- und langfristig, d. h. über den Rhythmus der Wahlperioden hinaus, zu verankern und damit eine Art „Generalbass“ für Wachstum und Wohlstand zu schaffen – ein Generalbass über den sich die im Wettstreit liegenden Melodien, d. h. Programme wechselnder politischer Mehrheiten legen. Über die rechtlichen Gewährleistungen hinaus ist der eigentliche Schutz der Zentralbankunabhängigkeit das Vertrauen und die Akzeptanz, die eine stabilitätsorientierte Geldpolitik in der Öffentlichkeit findet. Diese Erfahrung gilt es insbesondere in der gegenwärtigen Phase einer schrittweisen Erweiterung der ___________ 48 Polillo, S. / Guillén, M., Globalization Pressures and the State: The Global Spread of Central Bank Independence, in: American Journal of Sociology 110 (2005), S. 1764 ff., geben einen weltweiten Überblick über den Cukierman-Unabhängigkeitsindex. 49 Der heutige Spitzenplatz der ESZB-Notenbank erklärt auch, warum die Graphik auf Unabhängigkeitswerte der 80er Jahre zurückgreift. Heute gibt es zwar immer noch Unterschiede in den Inflationsraten der verschiedenen Länder der Eurogebiets, die Unabhängigkeit der jeweiligen nationalen Notenbanken ist jedoch annähernd gleich. 50 Berger, H., Central Bank Independence: An update of Theory and Evidence, in: CES-ifo Working Paper No. 255, 2000, S. 36. Die Autoren geben einen guten Literaturüberblick über das Thema Zentralbankunabhängigkeit und Inflation. 51 Die EZB veröffentlicht vierteljährlich in ihrem Monatsbericht die Ergebnisse des „Survey of Professional Forecasters“. In diesem Survey fragt sie u. a. die Inflationserwartungen für in fünf Jahren ab.

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Währungsunion um die neuen Mitgliedstaaten der EU zu beherzigen; können doch die meisten dieser Staaten aus historischen Gründen über keine tiefer verwurzelten Erfahrungen mit einer unabhängigen Geldpolitik verfügen.52 Aufgabe der EZB und der Notenbanken des Eurosystems ist es deshalb, länderübergreifend für eine öffentliche Meinung zu werben, die in Gefährdungssituationen einer unabhängigen Geldpolitik die gleiche Unterstützung vermittelt wie dies in westeuropäischen Staaten mit längerfristiger Stabilitätstradition, vor allem in Deutschland, stets der Fall war.

___________ 52 Siehe z. B. Süddeutsche Zeitung Nr. 211 vom 13.09.2006, S. 24: „Angriffe auf die Notenbank. – Präsident Leszek Balcerovicz machte den Zoty zur stärksten Währung Europas – nun muss er um die Unabhängigkeit der polnischen Zentralbank fürchten.“; oder vor zwei Jahren in Ungarn: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14.12.2004, S. 10: „Der Streit um die ungarische Notenbank spitzt sich zu“. Dort heißt es: „Notenbankpräsident […] Jarai sieht die Novellierung als plumpen Versuch der Regierung an, die Unabhängigkeit der Notenbank zu beschneiden, um Einfluss auf die Geldpolitik zu gewinnen.“

Grundrechtsschutz gegenüber Zentralbanken, am Beispiel der Europäischen Zentralbank und der Deutschen Bundesbank Ludwig Gramlich

I. Einleitung „Am Gelde hängt, zum Gelde drängt doch alles.“ 1 Der Schutz von Grundrechten im nationalen wie vor allem im internationalen Recht nimmt im Werk von Dieter Blumenwitz eine zentrale Stelle ein. 2 Aber auch Rechtsfragen des Zentralbankwesens beschäftigten ihn immer wieder, sei es als Zweit-Referent zu mehreren vom Würzburger Kollegen Hugo J. Hahn betreuten währungsrechtlichen Dissertationen, 3 sei es als (Ko-)Autor einiger gutachtlicher Stellungnahmen, etwa zum Stabilitäts- und Wachstumspakt4 oder zur Zulässigkeit der Übertragung der Bankenaufsicht auf die Deutsche Bundesbank. 5 Mag diese Interessensbekundung allein die eher ungewöhnliche Themenwahl noch nicht hinreichend rechtfertigen, so sollte als ein weiterer Grund die – zumindest auf den ersten Blick erstaunliche – Feststellung dienen, dass das Stichwort Grundrechte bzw. Grundrechtsschutz weder bei Hahn 6 oder Hahn/Häde 7 noch bei Proctor 8 oder Gaitanides 9 erscheint, obwohl die Bindung auch „unabhängiger“ ___________ 1 Frei nach J. W. Goethe, Faust I, Abend-Szene; der Dichter sprach freilich vom „Gold“ und fügte (aus Gretchens Munde) hinzu: „Ach, ihr Armen“. 2 s. nur Blumenwitz, D., Die Menschenrechte im Vergleich unterschiedlicher Weltanschauungen und Kulturen an der Wende zum dritten Jahrtausend, 2000; ders., Der völkerrechtliche Schutz des Eigentums, in: Politische Studien, Sonderheft 1/2000, S. 100 ff. 3 U. a. Gramlich, L., Europäische Zentralbank und Art. 24 Abs. 1 GG, 1979. 4 Blumenwitz, D. / Schöbener, B., Stabilitätspakt für Europa. Die Sicherstellung mitgliedsstaatlicher Haushaltsdisziplin im Europa- und Völkerrecht, 1997. 5 Blumenwitz, D. / Bausback, W., Gutachtliche Stellungnahme zur Übertragung der Bankenaufsicht auf die Deutsche Bundesbank und ihre Landeszentralbanken, 14.10. 2000; http://www.uni-leipzig.de/bankinstitut/dokumente/2000-10-14-01.pdf (11.10. 2006). 6 Hahn, H. J., Währungsrecht, 1990. 7 Hahn, H. J. / Häde, U., Art. 88 (Dez. 1999), in: Dolzer, R. (Hrsg.), Bonner Kommentar zum GG. 8 Proctor, C., Man on the Legal Aspect of Money, 6. Aufl. 2005.

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Ludwig Gramlich

(staatlicher) Zentralbanken an Vorgaben des (Verfassungs-)Gesetzgebers heute ebenso unbestritten 10 ist wie die Unterwerfung ihres Verhaltens unter gerichtliche Kontrolle. 11 Die Zahl jedenfalls der veröffentlichten Urteile, bei denen die deutsche Währungs- und Notenbank (beklagte) Partei war, ist freilich überaus klein, obwohl ihre Verwicklung in einen Rechtsstreit im Vergleich zu anderen europäischen Staaten noch vergleichsweise oft erfolgt zu sein scheint. 12 Die Europäische Zentralbank (EZB) schließlich nimmt insoweit eine Sonderstellung ein, als ihr Auftreten vor Gemeinschaftsgerichten im EG-Vertrag explizit geregelt wurde. 13 Andererseits fehlt im EG-Recht noch immer ein positiv normierter Grundrechtskatalog, was entsprechende Rügen gegenüber dem Verhalten dieser „Einrichtung“ 14 nicht eben erleichtert, weil einem Beschwerdeführer der konkrete Stand richter(recht)licher Erkenntnis zum Ineinandergreifen von Art. 6 Abs. 2 EUV, EMRK und Grundrechte-Charta 15 nicht ohne Weiteres ersichtlich sein dürfte. 16 Im Folgenden sollen daher in gedrängter und notgedrungen eher allgemeiner Form einige Facetten dieses Themas systematisch aufgezeigt und – soweit möglich – anhand von gerichtlichen Entscheidungen veranschaulicht (II.), schließlich das Konzept des (noch zu realisierenden) Verfassungsvertrags skizziert und bewertet werden (III.).

___________ 9

Gaitanides, C., Das Recht der Europäischen Zentralbank, 2005. Hahn / Häde (Fn. 7), Rn. 261. 11 Hahn / Häde (Fn. 7), Rn. 253, 289; Hahn (Fn. 6), § 20, Rn. 14. 12 Zu einzelnen Entscheidungen in Österreich bzw. der Schweiz s. unten II. 13 Die Änderungen im Bereich Rechtsschutz in Art. 230, 232 – 234, 237, 241 EGV (in der konsolidierten Fassung des Vertrages von Nizza, ABl. EG Nr. C 235 vom 24.12.2004) erfolgten durch den Maastricht-Vertrag vom 07.02.1992 (ABl. EG Nr. C 191 vom 29.07.1992); zur Rechtslage nach dem Verfassungsvertrag s. unten III. 14 Vgl. Art. 8 EGV; die EZB ist also – ebenso wenig wie das Europäische System der Zentralbanken (ESZB) – (bislang) kein Haupt- oder Hilfsorgan der Gemeinschaft i. S. v. Art. 7 EGV; vgl. Manger-Nestler, C., Par(s) inter pares? – Die Bundesbank als nationale Zentralbank im Europäischen System der Zentralbanken, Diss. Chemnitz, 2006, § 10 C.II.1.; Hahn/Häde (Fn. 7), Rn. 518 f.; Häde, U., in: Calliess, C. / Ruffert, M. (Hrsg.), Kommentar zu EU-Vertrag und EG-Vertrag, 2. Aufl. 2002, Art. 8 EGV, Rn. 4. 15 Vom 07.12.2000, ABl. EG Nr. C 364 vom 18.12.2000, S. 1. 16 Vgl. als Einstieg Geiger, R., EUV/RGV, 4. Aufl. 2004, Art. 6 EUV, Rn. 7 ff.; Streinz, R., Europarecht, 7. Aufl. 2005, Rn. 753 ff. 10

Grundrechtsschutz gegenüber Zentralbanken

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II. Theorie und Praxis 1. Grundlagen (grund)rechtlicher Bindung a) Im nationalen deutschen Recht folgt (auch) die Bindung der (Deutschen) Bundesbank als der nach Art. 88 Satz 1 GG errichteten Währungs- und Notenbank des Bundes an die „nachfolgenden“ 17 Grundrechte aus Art. 1 Abs. 3 GG, denn unabhängig davon, ob und inwieweit die Bundesbank auch zur „Gesetzgebung“ im Sinne dieser Vorschrift 18 berufen ist, übt sie doch jedenfalls (und primär) „vollziehende Gewalt“ 19 aus. Diese Rückbindung an die staatliche Verfassung wird durch ihre – im Einklang mit Art. 88 Satz 2 GG 20 erfolgte – Einbeziehung als „nationale Zentralbank“ in das Europäische System der Zentralbanken (ESZB) 21 nicht aufgehoben, vielmehr lediglich modifiziert: „Leitlinien“ oder „Entscheidungen“ des Rates der EZB (Art. 12.1. UAbs. 1 Satz 1 ESZB-Satzung) 22 bzw. in deren Ausführung ergangene „Weisungen“ des EZBDirektoriums (Art. 12.1. UAbs. 2 Satz 2 23 ) nehmen, soweit und solange sie rechtlichen Bestand haben 24 , am Vorrang des Gemeinschafts- gegenüber jedwedem nationalen Recht teil und überlagern damit regelmäßig auch die Bindung an das eigene Verfassungsrecht; hier sind vielmehr die EZB-Organe

___________ 17

GG.

Trotz des Wortlauts bezieht sich diese Bindung auch und gerade auf Art. 1 Abs. 1

18 Die Festsetzung von Zins- und Diskontsätzen nach § 15 BBankG a. F. erachtete das BVerfG nicht als Rechtsetzung; s. BVerfGE 34, S. 307 (315); ferner Hahn / Häde (Fn. 7), Rn. 247, 279. Anders hingegen entschied das BVerwG im Hinblick auf die Anordnung der Mindestreservehaltung, BVerwGE 41, 334 (351, 358). 19 Hahn / Häde (Fn. 7), Rn. 119, 273. 20 Eingefügt durch Art. 1 Nr. 7 des 38. Gesetzes zur Änderung des GG vom 21.12. 1992 (BGBl. I, S. 2086); dazu Weikart, Th., Die Änderung des Bundesbank-Artikels im Grundgesetz im Hinblick auf den Vertrag von Maastricht. – Entstehen und Rechtswirkungen einer reformierten Norm, in: NVwZ 1993, S. 834 (840 f.); Hahn / Häde (Fn. 7), Rn. 18 ff., 292 ff. 21 Direkt europapolitisch geprägt waren die 5. und die 6. Novellierung des Gesetzes über die Deutsche Bundesbank vom 08.07.1994 (BGBl. I, S. 1465) bzw. vom 27.12. 1997 (BGBl. I, S. 3274); s. Hahn / Häde (Fn. 7), Rn. 106, 109 f. 22 Vgl. Manger-Nestler (Fn. 14), § 12 III; als Beispiel s. Leitlinie der Europäischen Zentralbank vom 17.02.2005 über die statistischen Berichtsanforderungen der Europäischen Zentralbank und die Verfahren für den Austausch statistischer Daten im Europäischen System der Zentralbanken im Bereich der staatlichen Finanzstatistiken (EZB/ 2005/5), ABl. EU Nr. L 109 vom 29.04.2005, S. 81. 23 Vgl. Hahn / Häde (Fn. 7), Rn. 577, 594; Hahn, H. J. / Häde, U., Die Zentralbank vor Gericht, in: ZHR 165 (2001), S. 30 (39). 24 Insbesondere nicht auf Nichtigkeitsklage einer nationalen Zentralbank hin vom EuGH aufgehoben werden; vgl. Manger-Nestler (Fn. 14), § 15 B.II.2.b).

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selbst an europäisches Primär- und dem gleichrangiges Recht 25 (und damit auch an auf dieser höheren Ebene gewährleistete Grundrechte) gebunden. 26 b) Zentralbanken – die Bundesbank und andere nationale Institutionen 27 ebenso wie die EZB – sind freilich nicht nur, wenn auch in erster Linie – und überdies nicht exklusiv 28 – für Geld- und Währungspolitik zuständig; ihnen dürfen auch andere (hoheitliche) Aufgaben übertragen werden, was vielfach in unterschiedlich großem Ausmaß geschieht und in Deutschland im Rahmen von Art. 87 Abs. 3 GG 29 und § 3 Satz 3 BBankG 30 vonstatten geht. Aus Gemeinschaftsrecht ergibt sich dabei für alle Teilnehmerstaaten der Währungsunion lediglich die Grenze einer (vom EZB-Rat festgestellten) Unvereinbarkeit mit „Zielen und Aufgaben des ESZB“ (Art. 14.4. Satz 1 ESZB-Satzung“) 31 , im Übrigen werden solche weiteren Angelegenheiten aber von den nationalen Zentralbanken „in eigener Verantwortung und auf eigene Rechnung wahrgenommen“ und „gelten nicht“ als Aufgaben des Systems (Art. 14.4. Satz 2). In diesem Bereich kommen daher keine „Richtlinien“ oder „Weisungen“ von EZB-Organen in Betracht 32 und das Handeln der jeweiligen nationalen Zentralbank hat allein das interne (Verfassungs-)Recht als Grundlage wie als Schranke. c) Zentralbanken sind, selbst wenn sie zuweilen noch formal als (spezialgesetzliche) Aktiengesellschaft organisiert sind 33 , funktional Teil der öffentli___________ 25

Vgl. Streinz (Fn. 16), Rn. 412 ff. So explizit EuGH, Urteil vom 10.07.2003, Rs. C-11/00, Kommission und Rat/ EZB, Slg. 2003, I-7147; dazu Gaitanides (Fn. 9), S. 247. 27 s. nur Art. 5 Abs. 3 des Bundesgesetzes über die schweizerische Nationalbank (NBG) vom 03.10.2003, SR 951.11.: Die Nationalbank „wirkt bei der internationalen Währungskooperation mit. Sie arbeitet dazu … mit dem Bundesrat zusammen“. 28 Art. 111 EGV; dazu Hahn, H. J., „Allgemeine Orientierungen“ oder „allgemeine Leitlinien“ für die Wechselkurspolitik der Europäischen Währungsunion? – Zur juristischen Beschaffenheit der Beschlussbefugnis des Rates gemäß Art. 111 Abs. 2 EGV (exArt. 109 II), in: BayVBl. 1999, S. 741 ff.; Hahn / Häde (Fn. 7), Rn. 183 ff., 528, 602 ff.; Häde (Fn. 14), Art. 111 EGV, Rn. 1; Proctor (Fn. 8), Rn. 31.20 ff.; zur früheren nationalen Rechtslage Hahn (Fn. 6), § 15, Rn. 21. 29 BVerfGE 14, 197 (210 ff.); zur Diskussion anlässlich der Errichtung der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) s. neben Blumenwitz / Bausback (Fn. 4) vor allem Häde, U., Bankenaufsicht und Grundgesetz, in: JZ 2001, S. 105 ff. 30 Manger-Nestler (Fn. 14), § 14 A.; Hahn / Häde (Fn. 7), Rn. 150 ff.; Hahn (Fn. 6), § 17, Rn. 22 ff. 31 Manger-Nestler (Fn. 14), § 10 D.; Hahn / Häde (Fn. 7), Rn. 559 f. 32 Art. 12.1. Satz 1 und Art. 14.3. ESZB-Satzung betreffen nur die im EGV bzw. in dieser Satzung dem Eurosystem übertragenen Aufgaben, also nicht „andere als in dieser Satzung bezeichnete“; wie hier Häde (Fn. 14), Art. 108 EGV, Rn. 11. 33 Wie in Österreich – s. (österr.) VfGH, Vorlage-Beschluss vom 12.12.2000 (KR 1/00-13 u. a.), 18 f. – und der Schweiz; dazu Art. 1 Abs. 1, 25 ff. NBG; ferner 26

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chen Gewalt 34 und werden auch bei einer formellen Verselbstständigung als juristische Person des öffentlichen Rechts (so § 2 Satz 1 BBankG) 35 durch ein System von persönlichen, finanziellen und strukturellen Verflechtungen 36 in den Staatsaufbau einbezogen. Dadurch wird zugleich die Frage nach Art und Reichweite einer „Unabhängigkeit“ 37 aufgeworfen. Im Gemeinschaftsrecht erfährt dieser Status eine primärrechtliche Absicherung durch Art. 108 EGV; 38 verbunden damit sind mitgliedstaatliche Verpflichtungen zur Anpassung des nationalen (Währungsorganisations-)Rechts, die bereits vor der Teilnahme an der Endstufe der Währungsunion bzw. der Eingliederung in das ESZB gelten (Art. 109, 116 Abs. 5, 122 Abs. 3 EGV). 39 Soweit die Unabhängigkeit (sachlich) reicht, führt sie zwar keine völlige Freistellung der EZB, einer nationalen Zentralbank oder der Mitglieder von deren Beschlussorganen 40 von einer richterlichen Kontrolle ihres Verhaltens 41 herbei. Jedoch werden hierdurch Umfang bzw. Dichte dieser Überprüfung tangiert, wenn und soweit die normative Bindung bei geld- und währungspolitischen Entscheidungen in materieller Hinsicht nur schwach ausgeprägt ist – sein kann? – oder gar lediglich prozedurale Vorschriften die Erreichung der in Art. 105 EGV vorgegebenen Ziele sicherstellen sollen. 42 Derartige eingeschränkte Justiziabilität lässt sich aber – unter dem weiteren Vorbehalt, dass von EG-Organen gesetztes Sekundärrecht keine stärkere Einschränkung der währungspolitischen Entscheidungsfreiräume vornimmt 43 – nur wieder im Hinblick auf die der EZB wie den nationalen Zentralbanken „durch diesen Vertrag und die Satzung des ESZB übertragenen Aufgaben, Befugnisse und Pflichten“ rechtfertigen, nicht aber für die daneben wahr___________ Hahn / Häde (Fn. 7), Rn. 120; Gramlich, L., Bundesbankgesetz – Währungsgesetz – Münzgesetz, 1988, § 2 BBankG, Rn. 2. 34 Hahn / Häde (Fn. 7), Rn. 217. 35 Vgl. Hahn (Fn. 6), § 17, Rn. 1; Gramlich (Fn. 33), § 2 BBankG, Rn. 5; Hahn / Häde (Fn. 7), Rn. 123 f. 36 Vgl. BVerwG 41, 334 (356 ff.); dazu Hahn / Häde (Fn. 8), Rn. 283 ff. 37 Zu den verschiedenen Dimensionen Hahn / Häde (Fn. 7), Rn. 305 ff., 529 ff.; Gaitanides (Fn. 9), S. 41 ff. 38 Differenzierend hierzu Gaitanides (Fn. 9), S. 45 ff.; ferner Häde (Fn. 14), Art. 108 EGV, Rn. 6 ff. 39 Vgl. Häde (Fn. 14), Art. 122 EGV, Rn. 22 ff. 40 Bei der Deutschen Bundesbank existiert seit Mai 2002 als einziges Organ nur noch ein Vorstand (§ 7 BBankG); vgl. Manger-Nestler (Fn. 14), § 14 F.II.1. 41 s. bereits oben bei Fn. 11 sowie unten 2. 42 Näher unten 5.a), b); ferner Gaitanides (Fn. 9), S. 248 f., 275 f., und Häde, U., Zur rechtlichen Stellung der Europäischen Zentralbank, in: WM 2006, S. 1607 (1610 f.), zum Urteil des EuGH vom 10.07.2003, Rs. C-11/00 (Fn. 26). 43 So etwa im Hinblick auf Obergrenzen der Mindestreservesätze und Sanktionen bei Nichteinhaltung dieser Verpflichtung nach Art. 4, 7 der Verordnung (EG) Nr. 2531/98 des Rates vom 23.11.1998 über die Auferlegung einer Mindestreservepflicht durch die Europäische Zentralbank, ABl.EG L 318 vom 27.11.1998, S. 1.

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genommenen „anderen Aufgaben“ 44 . Insoweit gelten die allgemein für eine Kontrolle jeglichen Verwaltungshandelns geltenden Prüfungsmaßstäbe; 45 verminderte Intensität – also die Wahrung von Beurteilungsspielräumen oder Entscheidungsprärogativen der Exekutive 46 – ist zwar nicht undenkbar, muss sich jedoch an den Kriterien ausrichten, die auch sonst für die Abgrenzung und Zuordnung von Kompetenzen der „Zweiten“ und „Dritten“ Gewalt herangezogen werden. 47 2. Dimensionen des Grundrechtsschutzes a) Grundrechtsschutz durch Organe der Judikative vollzieht sich vornehmlich auf nationaler Ebene, im Rahmen der Fach-, insbesondere der Verwaltungs-, aber auch der spezifischen Verfassungsgerichtsbarkeit. Diese Feststellung gilt auch für nationale Zentralbanken der EG-Mitgliedstaaten inner- wie außerhalb des ESZB, für jene überdies auch dann, wenn sie von der EZB (nach Art. 12.1. UAbs. 3 ESZB-Satzung) zur Durchführung von Geschäften in Anspruch genommen werden, die zu den Aufgaben des ESZB gehören. 48 Handeln jedoch Organe der EZB selbst, so kommt, obwohl es sich bei dieser Einrichtung um eine eigenständige juristische Person (Art. 107 Abs. 2 EGV) 49 handelt, gegen ihre Maßnahmen Rechtsschutz nicht vor (mitglied)staatlichen, 50 sondern nur vor Gemeinschaftsgerichten in Frage, der im EG-Vertrag denn auch durch Einbeziehung der EZB in die einschlägigen Bestimmungen 51 ähnlich wie gegenüber „echten“ Gemeinschaftsorganen eigens normiert ist. Gerichtlicher Schutz durch den EGMR ist hingegen bis auf Weiteres nur gegen Akte staatlicher Vertragsparteien der EMRK 52 eröffnet und wäre daher allenfalls im Lichte der Ausführungen der „Bosphorus“-Entscheidung 53 des Strasbourger Gerichtshofs relevant. ___________ 44 45

§ 1. 46

s. oben, bei Fn. 30, 31; ferner Proctor (Fn. 8), Rn. 21.04. Vgl. dazu zusammenfassend Hufen, F., Verwaltungsprozeßrecht, 6. Aufl. 2005,

Vgl. Maurer, H., Allgemeines Verwaltungsrecht, 16. Aufl. 2006, § 7, Rn. 26 ff. Dazu Maurer (Fn. 46), § 7, Rn. 56 ff. 48 Vgl. Manger-Nestler (Fn. 14), § 12 C.V.; Gaitanides (Fn. 9), S. 273 f. 49 Art. 9.1. ESZB-Satzung präzisiert lediglich ihre Rechts- und Geschäftsfähigkeit in jedem EG-Mitgliedstaat (s. Art. 43.1.); vgl. Häde (Fn. 14), Art. 107 EGV, Rn. 3; eher vage Proctor (Fn. 8), Rn. 27.08. 50 Zu einer Einschränkung s. unten 3.a). 51 Art. 230 (Abs. 3), 232 (Abs. 4), 233 (Abs. 3), 234 Abs. 1 lit. b), 235 (i. V. m. Art. 288 Abs. 2), 237 lit. d), 241 EGV; vgl. Hahn / Häde (Fn. 7), Rn. 595. 52 Art. 1, 56, 59 EMRK i. V. m. Art. 2, 4 der Europarats-Satzung. 53 Bosphorus vs. Ireland, Urteil vom 30.06.2005, in: NJW 2006, 197 ff.; dazu Schohe, G., Das Urteil Bosphorus: Zum Unbehagen gegenüber dem Grundrechtsschutz durch 47

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b) Eine richterliche Überprüfung des Verhaltens von Zentralbanken scheitert nicht schon daran, dass diese jedenfalls im engeren geld- und währungspolitischen Bereich eher selten über Eingriffsbefugnisse im traditionellen Sinne 54 verfügen, die – in normativ vorgeprägter und insoweit zulässiger Weise – bewusst und gezielt grundrechtlich geschützte Freiheitsbereiche verkürzen. Zudem war und ist eine derartige Qualifizierung bei ungerechtfertigten Diskriminierungen weniger bedeutsam55 . In vielen europäischen Rechtsordnungen wird heute im Hinblick auf die gebotene Kontrolle durch die Judikative stärker auf Wirkung und Intensität eines (staatlichen) Handelns als auf dessen Rechtsnatur oder unmittelbares Ziel abgestellt 56 ; die speziell für Zentralbanken typische rechtserhebliche, aber nicht rechtsverbindliche Einflussnahme durch moral (per)suasion 57 fällt daher nicht schon per se aus dem Bereich richterlicher Kontrolle heraus. Überdies sind Zentralbanken des Öfteren Kompetenzen zum Erlass verbindlicher (Außen-)Rechtsakte übertragen: Mochte dies bei der „alten“ Bundesbank im Hinblick auf § 16 BBankG a. F. (Mindestreserve) noch unter mehreren Aspekten bedenklich sein 58 , so ist die seinerzeitige Kritik durch die Eingliederung in das ESZB für die weiterhin auch auf § 18 BBankG basierende „Anordnung“ von statistischen Erhebungen 59 weithin obsolet, weil (und soweit) diese Regelung zur Wahrnehmung der Aufgaben des Eurosystems erfolgt ist und auf einer vom Ministerrat nach Art. 107 Abs. 6 EGV, Art. 5.4 und 42 ESZB-Satzung geschaffenen Sekundärrechtsvorschrift 60 beruht. Die Mindestreservebestimmungen im ESZB setzen sich sogar aus zwei Schichten von Rechtsakten (des Rats nach Art. 19.2. 61 sowie des EZB-Rats nach Art. 19.1. ESZB-Satzung 62 ) zusammen. Während es sich in diesen Fällen nach Inhalt und ___________ die Gemeinschaft, in: EuZW 2006, S. 33; Heer-Reißmann, C., Straßburg oder Luxemburg? – Der EGMR zum Grundrechtsschutz bei Verordnungen der EG in der Rechtssache Bosphorus, in: NJW 2006, S. 192 ff.; Bröhmer, J., Die Bosphorus-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, in: EuZW 2006, S. 71 ff.; Lavranos, N., Das So-Lange-Prinzip im Verhältnis von EGMR und EuGH, in: EuR 2006, S. 79 ff. 54 Hahn (Fn.6 ), § 19, Rn. 1; allgemein Maurer (Fn. 46), § 5, Rn. 9 ff. 55 Vgl. Osterloh, L., in: Sachs, M. (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2003, Art. 3, Rn. 8 ff. 56 Vgl. Sachs, M., in: ders. (Fn. 55), Vor Art. 1, Rn. 78 ff. 57 Hahn (Fn. 6), § 20, Rn. 1. 58 Hahn (Fn. 6), § 19, Rn. 28 ff.; Gramlich (Fn. 34), § 16 BBankG, Rn. 68 ff.; Siebelt, J. / Eckert, L., Mindestreserven, Rechtssätze eigener Art und Verfassungsrecht, in: ZBB 1991, S. 153 ff. 59 Gramlich (Fn. 34), § 18 BBankG, Rn. 5 ff. 60 VO (EG) Nr. 2533/98 des Rates vom 27.11.1998 über die Erfassung statistischer Daten durch die Europäische Zentralbank, ABl. EG Nr. L 318 vom 27.11.1998, S. 8. 61 s. oben Fn. 44. 62 VO (EG) Nr. 1745/03 der EZB vom 12.09.2003 über die Auferlegung einer Mindestreservepflicht (EZB/2003/9) in der berichtigten Fassung, ABl. EG Nr. L 58 vom 26.02.2004, S. 28; vgl. Gaitanides (Fn. 9), S. 177 ff.

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Adressatenkreis 63 um Rechtsnormen handelt, sind in anderen Konstellationen, etwa bei Sanktionsmaßnahmen 64 oder Entscheidungen im Rahmen der Offenmarkt- oder Kreditpolitik (Art. 18 ESZB-Satzung), 65 Verhaltensweisen konkret-individueller oder doch -genereller Art feststellbar, die als Einzelfallregelungen (Verwaltungsakte) 66 zu qualifizieren und als solche anfechtbare Maßnahmen öffentlicher Gewalt sind. Bei Akten bloß „hortatorischer Beschaffenheit“ 67 dürften zwar nicht die gleichen Rechtsbehelfe wie bei solchen mit Rechtsverbindlichkeit verfügbar, jedoch kann auch hier die Klärung des (Nicht-)Bestehens eines Rechtsverhältnisses zwischen Zentralbank und Betroffenem (im Wege einer Feststellungsklage) 68 vorgesehen sein. Soweit im ESZB die Festlegung der Politik (durch Leitlinien der EZB-Organe) und die Durchführung der Geschäfte (durch nationale Zentralbanken) auseinander fallen, bewirkt auch diese Aufspaltung zwar eine Komplizierung, nicht aber den Wegfall des (Grund-)Rechtsschutzes: Zumindest in Deutschland handelt die Bundesbank im Rahmen der Vorschriften über ihren „Geschäftskreis“ (§§ 19 ff. BBankG) seit jeher privatrechtlich 69 , ohne dass dabei jedoch die Bindung an ihre öffentliche (Kern-)Aufgabe entfällt – im Gegenteil, ihr sind als staatlicher Einrichtung nur die dort abschließend aufgelisteten Transaktionen gestattet, 70 und sie bleibt dabei insbesondere an Art. 3 Abs. 1 GG, aber auch an andere nationale Grundrechte gebunden, 71 soweit ihr im Verhältnis zur EZB und zum EG-Recht Spielräume verbleiben. Die EZB-Organe ihrerseits stützen ihre Befugnisse zu (Außen-)Rechtsakten (Art. 110 EGV) wie zu (internen) „Leitlinien“ etc. gegenüber nationalen Zentralbanken auf (primäres) Gemeinschaftsrecht und müssen hier (indirekt, im Hinblick auf Letztbetroffene72 ) wie dort (unmittelbar) bei ihrem Tätigwerden Gemeinschaftsgrundrechte respektieren. ___________ 63

Zu den maßgeblichen Kriterien Maurer (Fn. 46), § 9, Rn. 14 ff. Zu Art. 110 Abs. 3 EGV s. Häde (Fn. 14), Art. 110 EGV, Rn. 9 f.; Gaitanides (Fn. 9), S. 180 ff. 65 Hahn / Häde (Fn. 7), Rn. 568 ff. 66 Zu „Entscheidungen“ der EZB-Organe Häde (Fn. 14), Art. 110 EGV, Rn. 5; zur Bundesbank Hahn / Häde (Fn. 7), Rn. 274, 275 ff. 67 Die nicht strikt rechtsverbindlich sind, wohl aber dem Adressaten ein bestimmtes Verhalten ansinnen oder schmackhaft machen; s. oben bei Fn. 58. 68 Vgl. Hahn (Fn. 6), § 20, Rn. 19. 69 Hahn (Fn. 6), § 20, Rn. 1; Gramlich (Fn. 34); Einf: BBankG, Rn. 31. 70 Gramlich (Fn. 34), Einf. BBankG, Rn. 28. 71 Vgl. Hahn (Fn. 6), § 20, Rn. 16, der (allerdings gegenüber „Normierungsakten“) Art. 12 und 14 GG nennt, in Bezug auf Offenmarktgeschäfte allein Art. 3 anführt (§ 19, Rn. 42). 72 D. h. die Geschäftspartnern der nationalen Zentralbanken; zunächst handelt es sich um „Rechtsakte im Innenverhältnis“, s. Hahn / Häde (Fn. 7), Rn. 594. 64

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c) Grundrechtsschutz setzt eine „spezifische“ bzw. „typische Gefährdungslage“ 73 voraus. Von Justiz- bzw. Verfahrensgrundrechten einmal abgesehen, die als Konkretisierung der Rechtsstaatlichkeit absolute Geltung beanspruchen und daher auch im staatlichen Binnenbereich jedenfalls zwischen „Kontrast“Organen oder -Einrichtungen gelten, 74 und den im vorliegenden Zusammenhang irrelevanten spezifischen Gewährleistungen für Religions- 75 , Medien- 76 und Wissenschaftsinstitutionen 77 dienen Freiheits- und Gleichheitsrechte der Sicherung privater Lebensbereiche vor (rechtswidriger) hoheitlicher Beeinträchtigung. Vorrangiger Träger von Grundrechten ist folgerichtig die natürliche Person, das menschliche Individuum, und erst in zweiter Linie, wenn auch nicht prinzipiell oder stets in geringerem Maße 78 die juristische Person des Privatrechts, Vereinigung oder Unternehmen. 79 Soweit Zentralbanken also geld- und währungspolitische, aber auch andere Maßnahmen gegenüber „öffentlichen Stellen“ (Art. 17, 21 ESZB-Satzung) bzw. „Verwaltungen“ (§ 20 BBankG) 80 treffen oder Geschäfte mit diesen vornehmen, scheidet Grundrechtsschutz für den zuletzt genannten gouvernementalen Personenkreis regelmäßig von vornherein aus. Gerade umgekehrt ist es allerdings, wenn beliebige, nicht näher eingegrenzte „Marktteilnehmer“ 81 oder „jedermann“ (§ 22 BBankG) 82 Adressat von Rechtsakten oder Partner von Transaktionen sein kann; hier greift lediglich (erneut) der Ausschluss staatlicher Betroffener von der Trägerschaft und damit auch prozessualen Geltendmachung von Grundrechten ein. An der Schnittstelle zwischen beiden Konstellationen hingegen ___________ 73

Grundlegend hierzu BVerfGE 61, 82 (102). Insbesondere Art. 103 Abs. 1 GG. 75 Art. 4 Abs. 1, 2 GG; Art. 9 EMRK; Art. 10 GR-Charta; vgl. Kokott, J., in: Sachs (Fn. 56), Art. 4, Rn. 8 f. 76 Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG; Art. 10 EMRK; Art. 11 GR-Charta; zu öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten Bethge, H., in: Sachs (Fn. 56), Art. 5, Rn. 107 f. 77 Art. 5 Abs. 3 GG; Art. 13 GR-Charta; vgl. Bethge, H., in: Sachs (Fn. 56), Art. 5, Rn. 210 ff.; zu den Ausnahmen insgesamt Krüger / Sachs, in: Sachs (Fn. 56), Art. 19, Rn. 93 ff. Allerdings kommt in allen drei genannten Fällen ein Rekurs von Zentralbankbediensteten gegenüber ihrem (hoheitlichen) Dienstherrn in Betracht, gestützt auf das individuelle Grundrecht und unter Berücksichtigung der für Grundrechtsschutz im öffentlichen Dienst geltenden Besonderheiten. Konflikte im Hinblick auf Wissenschaftsfreiheit etwa könnten aus einem Verbot, Forschungsergebnisse zu publizieren, herrühren; zum „Forschungszentrum“ der Bundesbank s. Deutsche Bundesbank, Geschäftsbericht 2005, S. 115 f. 78 Vgl. Krüger / Sachs, in: Sachs (Fn. 56), Art. 19, Rn. 67. 79 Art. 19 Abs. 3 GG für (inländische juristische Personen des Privatrechts); zur EGEbene s. Streinz (Fn. 16), Rn. 769. 80 Vgl. Gramlich (Fn. 34), § 20 BBankG, Rn. 7, 18. 81 So die generelle Formulierung in Art. 17 ESZB-Satzung und in der Überschrift zu § 19 BBankG. 82 Vgl. zum Personenkreis Gramlich (Fn. 34), § 22 BBankG, Rn. 9 ff. 74

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stehen die wichtigsten Kontrahenten von Zentralbanken, nämlich „Kreditinstitute“83 bzw. „monetäre Finanzinstitute“.84 Hier ist weiter zu differenzieren: Öffentliche Banken bilden – neben Genossenschafts- und (privaten) Geschäftsbanken85 – nicht nur in Deutschland eine wesentliche Säule der Wirtschaftsbranche; rechtlich zählen zu dieser Gruppe allerdings nicht nur Einrichtungen in öffentlich-rechtlicher Rechtsform (wie kommunale Sparkassen,86 Landesbanken87 und einige Spezialbanken88), sondern auch Gesellschaften in Privatrechtsform, die von (zentralen, regionalen oder lokalen) staatlichen Stellen zumindest kontrolliert werden, also „gemischte Unternehmen“.89 Schutz vor staatlicher Intervention können private Gesellschafter hier jedoch nur innerhalb des betreffenden Unternehmens – regelmäßig einer Kapitalgesellschaft90 – für sich beanspruchen, wenn und weil der Mehrheits- oder dominante staatliche Aktionär ihre (Eigentümer-)Interessen zugunsten seiner eigenen Belange beiseite schiebt; allerdings geschieht dies auf der Grundlage und mit den Mitteln des Gesellschaftsrechts,91 so dass auch in diesem Kontext Rechtsbehelfe ergriffen werden müssen.92 Im Außenverhältnis führt der Status als „öffentliche ___________ 83 Insoweit knüpft das Bundesbankgesetz nach wie vor – s. Hahn (Fn. 6), § 19, Rn. 29 – an die Legaldefinition des § 1 Abs. 1 S. 1 KWG an, wie vor allem die Differenzierung gegenüber (bestimmten) Finanzdienstleistungsinstituten in § 36 (Abs. 1–3) zeigt. Insoweit wurde in § 19 und § 18 BBankG auch nach der Eingliederung in das ESZB gerade keine Änderung vorgenommen, so dass die bisherige Abgrenzung nach wie vor Gültigkeit behalten sollte. 84 So die EG-Terminologie; s. (für statistische Zwecke) Art. 2 Abs. 1 der EZB-Verordnung (EG) Nr. 2423/2001 vom 22. November 2001 über die konsolidierte Bilanz des Sektors der monetären Finanzinstitute (EZB/2001/13), ABl. EG L 333 vom 17.12.2001, S. 1. Die beiden Gruppen decken sich nicht zur Gänze. 85 Zur Gestalt der Banken-„Landschaft“ und den Merkmalen dieser Einteilung Gramlich, L., Recht der Bankwirtschaft, in: Schmidt, R. (Hrsg.), Öffentliches Wirtschaftsrecht. – Besonderer Teil, Bd. 1, 1995, § 5, Rn. 1. 86 Z. B. Teil 1 (Sparkassen im Freistaat Sachsen) des Gesetzes über das öffentlichrechtliche Kreditwesen im Freistaat Sachsen vom 13.12.2002, SächsGVBl. S. 333. 87 Z. B. Teil 2 (Landesbank Sachsen Girozentrale) des in Fn. 86 genannten Gesetzes. 88 Z. B. Gesetz über die Kreditanstalt für Wiederaufbau vom 05.11.1948, Gesetzblatt der Verwaltung des Vereinigten Wirtschaftsgebietes, S. 123. 89 Vgl. Krüger / Sachs, in: Sachs (Fn. 56), Art. 19, Rn. 112. 90 Zur haushaltsrechtlichen Vorgabe (z. B. § 65 BHO) vgl. Storr, S., in: Ruthig, J. / Storr, S., Öffentliches Wirtschaftsrecht, 2005, Rn. 471 ff. 91 Zu verfassungsrechtlichen Aspekten eines „squeeze out“ s. Seuffert, G., Der Schutz des Aktieneigentums nach Art. 14 GG und seine Auswirkungen im Zusammenhang mit dem Ausschluss von Minderheitsaktionären gemäss §§ 327a ff. AktG, Diss. 2005. 92 Näher dazu Amberger, C.-P., Die Missbrauchskontrolle im Rahmen des aktienrechtlichen Squeeze-out, Diss. 2006.

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Bank“ im Zusammenhang mit deren jeweiligem „öffentlichen Auftrag“ dazu, dass das Institut selbst nicht spezifische Grundrechtsverletzungen gerichtlich rügen kann.93 Wird (im Wege der Rechtsänderung) die Aufgabe modifiziert oder gar aufgehoben, ist als Abrundung einer solchen materiellen auch eine gleichzeitige Eigentümer-Privatisierung konsequent; solange allerdings die öffentlich-rechtliche Organisationsform aufrechterhalten bleibt, ist dies ein wichtiger Umstand, der einer völligen Angleichung an private Bank(unternehm)en zuwiderläuft. d) Das Halten von Konten bei und die Aufnahme von (weiteren) Geschäftsbeziehungen mit der Zentralbank darf auch einzelnen Nicht-Bank-Unternehmen oder Individuen als „sonstigen Marktteilnehmern“ gestattet werden. Wird dies verweigert, von Bedingungen abhängig gemacht, sonst eingeschränkt oder gar eingestellt94, muss der betroffene Personenkreis ein solches Verhalten („öffentlicher Gewalt“95) ebenfalls auf seine (Verfassungs-)Rechtmäßigkeit überprüfen lassen können. Von solch außenwirksamem Verhalten, bei dem allerdings auch sowohl das eigene Leitungspersonal als auch andere Bedienstete „Kunden“ der jeweiligen Zentralbanken (Art. 24 ESZB-Satzung, § 25 BBankG)96 oder Adressaten von deren Entscheidungen97 sein mögen, zu trennen sind allerdings Maßnahmen einer solchen Einrichtung in Bezug auf die Rechtsstellung eigenen Personals. Diese können (aufgrund entsprechender normativer Ermächtigung – etwa in Art. 36.1 ESZB-Satzung, § 31 Abs. 4 BBankG98 –) zumindest partiell durch ein eigenes, untergesetzliches Statut99 geregelt werden; auch dann werden freilich in aller Regel typische Konstellationen von Rechtsstreitigkeiten in Beschäftigungsverhältnissen auftreten, bei denen nicht allein bei der Ausgestaltung des Dienstrechts, sondern auch bei dessen Anwendung im Einzelfall Grundrechte des Bediensteten – gerade hier auch

___________ 93

BVerfGE 75, 192 (200 f.). Abschnitt I. Nr. 1 Abs. 2, Nr. 27 Abs. 2 der Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Deutschen Bundesbank vom 01.10.2006, http://www.bundesbank.de/download/ presse/publikationen/agb_200610.pdf (10.10.2006). 95 Zur Einordnung s. Gramlich (Fn. 34), Einf. BBankG, Rn. 29; Hahn (Fn. 6), § 16, Rn. 28. 96 Vgl. Gramlich (Fn. 34), § 25 BBankG, Rn. 5 f. 97 Bei erforderlichen Genehmigungen für Kapital- oder Zahlungsverkehrstransaktionen (etwa im Falle von Finanzsanktionen); vgl. Deutsche Bundesbank, Geschäftsbericht 2005, S. 112 f.; Gramlich, L., Finanzsanktionen zur Terrorismusbekämpfung, in: Ehlers, D. / Wolffgang, H. M. / Lechleitner, M. (Hrsg.), Risikomanagement im Exportkontrollrecht, 2004, S. 135 (174 ff.). 98 Vgl. Gramlich (Fn. 34), § 31 BBankG, Rn. 18 ff.; Hahn (Fn. 6), § 17, Rn. 7. 99 Für die EZB s. http://www.ecb.de/ecb/jobs/pdf/conditions_of_employment.pdf (12.10.2006). 94

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solche mit nur geringem Bezug zu wirtschaftlichen Aspekten 100 – schutzbedürftig und -würdig sind. 101 e) Relativ neu ist die Problematik eines allgemeinen, „voraussetzungslosen“ Zugangs zu bei Gemeinschafts- oder staatlichen Stellen vorhandenen Informationen, 102 von dessen Gewährung Zentralbanken nicht, jedenfalls nicht generell ausgenommen sind. 103 Wird hier einem Antrag eines (privaten) Interessenten nicht (zur Gänze) stattgegeben, könnten hierdurch Mediengrundrechte, vor allem die Informationsfreiheit 104 betroffen sein; wird andererseits der Anfrage nachgekommen, können dadurch unbefugt personenbezogene Daten (i. S. v. § 3 Abs. 1 BDSG) 105 preisgegeben oder kann rechtswidrig in geistiges Eigentum Dritter 106 eingegriffen werden, so dass eine solche Dreieckskonstellation Grundrechtsschutz durch angemessene Verfahrensgestaltung verlangt 107 und auch bei der Rechtsanwendung eine grundrechtsverträgliche Lösung im Sinne „praktischer Konkordanz“ gefunden werden muss. 108 f) Regelungen, Maßnahmen oder andere Tätigkeiten von Zentralbanken können schließlich zu durchaus unterschiedlichen Grundrechtsbeeinträchtigungen führen. Insoweit wirkt sich der im Hinblick auf das jeweilige „Wesen“ verschiedene Schutz 109 für natürliche bzw. juristische Personen wohl lediglich beim Vorgehen gegenüber (eigenem) Personal aus, denn insoweit können sich auch Verstöße gegen nur auf jene natürlichen Personen anwendbare Grundrechte ereignen, etwa Religionsfreiheit, 110 Gesundheit bzw. körperliche Unver___________ 100

s. unten f). Vgl. Gaitanides (Fn. 9), S. 193 f., 249; s. z. B. EuG, Urteil vom 08.01.2003, verb. Rs. T-94/01, T-152/01, T-286/01 – Hirsch u. a./EZB. 102 Bereits vor Einfügung des Art. 255 EGV durch den Amsterdamer Vertrag wurden erste sekundärrechtliche Regelungen getroffen, in Konkretisierung des allgemeinen Transparenzgebots nach Art. 1 Abs. 2 EUV. 103 Beschluss (EZB/2004/3) vom 04.03.2004 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten der Europäischen Zentralbank, ABl. EU Nr. L 80 vom 18.03.2004, S. 42; Gesetz zur Regelung des Zugangs zu Informationen des Bundes (IFG) vom 05.09.2005, BGBl. I, S. 2722; dazu näher Gramlich, L. / Manger-Nestler, C. / Orantek, K., Bessere Währungspolitik durch Recht auf freien Zugang zu Informationen bei und von Zentralbanken?, in: Fs. H. J. Hahn, 2007, S. 21 (34 ff.). 104 Zur gemeinschaftsrechtlichen Gewährleistung Art. 11 Abs. 1 GR-Charta. 105 So § 6 Satz 1 des nach § 1 Abs. 1 Satz 2 IFG auch für die Bundesbank geltenden Gesetzes. 106 Vgl. z. B. EuGH, Urteil vom 20.05.2003, Rs. C-465/00, Slg. 2003, I-4989. 107 In Bezug auf die EZB s. den Fall Pitsiorlas; dazu EuG, Urteil vom 14.02.2002, Rs. T-3/01, Slg. 2001, II-717; EuGH, Urteil vom 15.05.2003, Rs. C-193/01 P, Slg. 2003, I-04837. 108 Vgl. nur BVerfGE 83, 130 (143). 109 Zur Notwendigkeit der Differenzierung Krüger / Sachs, in: Sachs (Fn. 56), Art. 19, Rn. 10. 110 Vgl. BVerfGE 108, 282 (297). 101

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sehrtheit 111 oder das Recht auf informationelle Selbstbestimmung 112 betreffen 113 . Hingegen dürfte der Schwerpunkt möglicher Rechtsverletzungen auf dem Gebiet der wirtschaftlichen Grundrechte (vor allem Übergriffe in Eigentums- 114 und Berufsfreiheit 115 ) sowie – in der ungenügenden Beachtung – des (allgemeinen) Gleichheitssatzes 116 liegen. Auch nicht-wirtschaftliche Grundrechte, die freilich nicht allein natürlichen Personen eingeräumt sind, 117 sind beim Streit um Informationszugang im Spiel.

3. Grundrechtsschutz: Zuständigkeiten a) Gegenüber an Grundrechtsträger adressierten oder diese jedenfalls betreffenden Rechtsakten (der Organe) der EZB ergeben sich Rechtsschutzmöglichkeiten aus verschiedenen Vorschriften des EGV, insbesondere aus Art. 230 (Abs. 4) und 232 (Abs. 4) 118 ; allgemein stellt Art. 35.1. der ESZB-Satzung klar, dass die Handlungen und Unterlassungen der EZB der Überprüfung und Auslegung 119 durch den (Europäischen) Gerichtshof – d. h. (zunächst) das Gericht erster Instanz 120 – (nur) „in den Fällen und unter den Bedingungen“ unterliegen, die im EG-Vertrag 121 selbst vorgesehen sind. Hiervon erfasst werden aber auch Konflikte um freien Informationszugang, selbst wenn Art. 255 EGV sich nicht direkt auf EZB bzw. ESZB bezieht. 122 Im Hinblick auf Grundrechtsschutz kaum relevant werden können hingegen die expliziten Zuweisungen bestimmter Rechtsstreitigkeiten an Gemeinschafts- (Art. 35.4.) 123 oder staatliche ___________ 111 Etwa im Hinblick auf Nichtraucher; s. BVerfG, Beschluss vom 09.02.1998, http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rk19980209_1bvr223497.html (12.10.2006). 112 Zur Relevanz vgl. Beyreuther, F., Videoüberwachung am Arbeitsplatz, in: NZA 2005, 1038 ff. 113 Meinungs- oder Koalitionsfreiheit hingegen sind nicht auf Individuen beschränkt, sondern haben auch eine kollektive Komponente. Zu Besonderheiten des Grundrechtsschutzes öffentlicher Bediensteter Battis, in: Sachs (Fn. 56), Art. 33, Rn. 74 f. 114 s. unten 5.a). 115 s. unten 4.d). 116 Ähnlich Hahn (Fn. 6), § 16, Rn. 23 ff. 117 Zur verfassungsrechtlichen Grundlage dieses Anspruchs Gramlich / MangerNestler / Orantek (Fn. 104), S. 38 ff. 118 Vgl. Gaitanides (Fn. 9), S. 246 ff. 119 Art. 234 Abs. 1 lit. b) EGV; s. Gaitanides (Fn. 9), S. 247. 120 Art. 225 Abs. 1 EGV, Art. 51 Protokoll über die Satzung des Gerichtshofs. 121 „Dieser“ Vertrag umfasst nach Art. 311 EGV auch die ESZB-Satzung (als Protokoll Nr. 18 zum EGV); vgl. Hahn / Häde (Fn. 7), Rn. 595, 599. 122 Dazu näher Gramlich / Manger-Nestler / Orantek (Fn. 104), S. 36 f. 123 Hierauf bezieht sich etwa das Urteil des EuGH vom 08.12.2005, Rs. C-220/03, EZB/Bundesrepublik Deutschland.

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Gerichte (Art. 35.2. ESZB-Satzung), da sich die zugrunde liegenden Konflikte nicht aus hoheitlichen Maßnahmen der Zentralbank ergeben, sondern aus einem Vertrag herrühren 124 . Für personalrechtliche Streitsachen ergänzt Art. 36.2 ESZB-Satzung die Regelung des Art. 236 EGV; hierfür wurde auf der Grundlage des Art. 225a EGV Ende 2004 ein spezielles Gericht für den öffentlichen Dienst der EU errichtet 125 , das 2006 seine Tätigkeit aufgenommen hat und auch schon mit Klagen von EZB-Bediensteten befasst war 126 . b) Auf nationaler Ebene ist nicht nur in Deutschland zwischen mehreren Rechtswegen zu unterscheiden; gerade Zentralbanken handeln – als „Banken“ 127 – häufig/zumeist in Formen des Privat-/Vertragsrechts, so dass bei Streitigkeiten mangels abdrängender besonderer Zuweisung Zivilgerichte zur Entscheidung berufen sind (§ 13 GVG). 128 Hoheitliches Handeln solcher Einrichtungen unterliegt hingegen, sofern entsprechende Fachgerichte (auf Bundesebene) eingerichtet sind, der Kontrolle durch spezifische, nämlich (allgemeine) Verwaltungsgerichte (§ 40 Abs. 1 VwGO). 129 Nur wenn deren Rechtswegzuständigkeit entweder nicht gegeben oder wenn bzw. nachdem ein Kläger vor solchen Spruchkörpern letztinstanzlich erfolglos geblieben ist, können sich (nationale) Verfassungsgerichte in der Regel mit der Frage einer Grundrechtsverletzung durch Rechtsakte einer Zentralbank – und speziell nur dieser Problematik – befassen. 130 Gehören diese Gerichte einem EG-Mitgliedstaat an, sind auch sie gehalten, eine bei ihnen anhängige Sache dem EuGH vorzulegen, wenn es auf Gültigkeit oder Auslegung von Handlungen der EZB-Organe ankommt 131 – (wiederum) nicht zuletzt auf deren Übereinstimmung mit Grundrechten des Gemeinschaftsrechts.

___________ 124 Vgl. Gaitanides (Fn. 9), S. 255 f. Für die außervertragliche Haftung der EZB nach Art. 288 Abs. 2 ist hingegen nach Art. 235 EGV, Art. 35.3. Satz 1 ESZB-Satzung der EuGH zuständig. 125 Dazu Hakenberg, W., Das Gericht für den öffentlichen Dienst der EU. – Eine neue Ära in der Gemeinschaftsgerichtsbarkeit, in: EuZW 2006, S. 391 ff. 126 Vgl. etwa Beschl. vom 18.05.2006, Rs. F-13/05, Corvoisier u. a./EZB; ferner EuGH. Urteil vom 26.05.2005, Rs. C-301/02 P – Tralli/EZB. 127 Vgl. Hahn / Häde (Fn. 7), Rn. 129 ff.; Siebelt, J., Der juristische Verhaltensspielraum der Zentralbank, 1988, S. 218 f. 128 Vgl. Hahn (Fn. 6), § 20, Rn. 19. 129 Hahn / Häde (Fn. 7), Rn. 289. 130 Vgl. Hahn / Häde (Fn. 7), Rn. 290. 131 Diese werden in Art. 234 Abs. 1 lit. b) EGV eigens neben den EG-Organen aufgeführt.

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4. Voraussetzungen für eine Entscheidung in der Sache a) Das „Nadelöhr“ auf dem Weg zu einer wirksamen Grundrechtskontrolle von Zentralbanken durch unabhängige Gerichte ist freilich – zumindest wenn und soweit der Judikative nicht (zumindest teilweise) eine objektive Kontrolle rechtmäßigen hoheitlichen Handelns übertragen ist 132 – das für Systeme subjektiven Rechtsschutzes zentrale Erfordernis einer (möglichen) unmittelbaren und gegenwärtigen Betroffenheit in eigenen (Grund-)Rechten. 133 Diese Voraussetzung liegt am ehesten vor, wenn Zentralbanken (meist im Bereich ihrer „anderen“ Aufgaben 134 ) mit Vollzugskompetenzen betraut sind, also außen stehenden Personen/Unternehmen gegenüber Genehmigungen erteilen oder versagen (etwa nach §§ 28, 30 AWG) 135 oder auch Gebote aussprechen und nötigenfalls mit Zwangsmitteln durchsetzen dürfen. Auch bei Maßnahmen gegen eigene Bedienstete werden Verweigerungen oder Entziehungen von Begünstigungen oder auch (nur) belastende Akte häufig direkt (etwa aus disziplinarischen Gründen 136 ) gegenüber Individuen getroffen; dann ist zumindest deren Beschwerde (als Adressat) evident. Im Kernbereich ihrer Zuständigkeiten verfügen Zentralbanken über derartige Befehls- und Zwangsinstrumente jedoch in aller Regel nur am Rande, zum Zwecke der Erhebung für ihre Tätigkeit erforderlicher Daten oder im Fall der Sanktionierung von Fehlverhalten, 137 auch wenn Art. 110 Abs. 2 UAbs. 3 EGV einen anderen Eindruck erwecken mag. 138 Selbst wenn (wie seitens der EZB) Rechtsvorschriften erlassen werden (dürfen), so enthalten gerade „Verordnungen“ typischerweise keine Regelungen für einzelne Personen und Sachverhalte, sondern solche abstrakt-genereller Art. 139 Damit erwachsen auch in Bezug auf Art. 110 Abs. 2 UAbs. 1 EGV dieselben kontrovers diskutierten Fragen wie im Kontext von Verordnungen von EG___________ 132 Wie etwa in Frankreich; zur Konzeption des subjektiven öffentlichen Rechts Maurer (Fn. 46), § 8, Rn. 2 ff. 133 Ebenso Hahn (Fn. 6), § 20, Rn. 19; Gaitanides (Fn. 9), S. 262 ff. 134 s. bereits oben bei Fn. 30, 31; neuerdings mag dies vor allem beim Vollzug von Finanzsanktionen bedeutsam werden. 135 Vgl. Just, C., in: Hohmann, H. / John, K. (Hrsg.), Ausfuhrrecht, 2002, § 28 AWG, Rn. 5 ff. 136 Für die Bundesbank sind insoweit BBG und BDG maßgeblich. 137 Auch bei Verstößen gegen die Mindestreservepflicht; vgl. Gaitanides (Fn. 9), 271 ff.; ferner Mitteilung der Europäischen Zentralbank über die Verhängung von Sanktionen aufgrund von Verletzungen der Mindestreservepflicht, ABl. EG Nr. C 39 v. 11.02.2000, S. 3. 138 Aus dieser Vorschrift resultiert keine eigene Kompetenz, vielmehr dient sie nur der Charakterisierung der Eigenschaften der (auch nichtstaatlichen Stellen gegenüber zulässigen) „Entscheidung“ (i. S. v. Art. 249 Abs. 4 EGV); s. Häde (Fn. 14), Art. 110 EGV, Rn. 5. 139 Häde (Fn. 14), Art. 110 EGV, Rn. 3, 6.

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Organen. 140 Insbesondere kommt eine Nichtigkeitsklage nur in Betracht, wenn ein lediglich formell als Verordnung ergangener, materiell jedoch die Merkmale einer „Entscheidung“ aufweisender Rechtsakt vorliegt. 141 b) Nach deutschem Recht setzt die Zulässigkeit von (nur gegen objektiv vorliegende Verwaltungsakte nach § 35 VwVfG eröffneten) Anfechtungsklagen eine denkbare und mögliche eigene Rechtsverletzung des Klägers 142 voraus (§ 42 Abs. 2 VwGO). Diese Möglichkeit eines Rechtsschutzes war früher für den Fall einer Heranziehung zur Erfüllung der Bardepotpflicht nach § 6a AWG vorgesehen (§ 28a AWG) 143 und kommt auch heute gegenüber Auskunftsverlangen nach § 44 AWG in Betracht, die (u. a.) zur Durchsetzung von Meldepflichten (gegenüber der Zentralbank) nach der AWV dienen dürfen. 144 Im Rahmen ihrer Mitwirkung an der Bankenaufsicht ist es der Bundesbank hingegen verwehrt, aufsichtsrechtliche Maßnahmen zu treffen; auch hierbei erforderliche Prüfungsanordnungen (nach § 44 Abs. 1 Satz 2 oder § 44b Abs. 2 Satz 1 KWG) werden ausschließlich durch die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht getroffen (§ 7 Abs. 2 Satz 4 KWG). 145 Eine (mittels Verwaltungsakt konkretisierbare) Auskunftsbefugnis wird der Bundesbank jedoch für die Durchführung von Statistiken nach § 18 Satz 1 BBankG gegenüber „Kreditinstituten“ eingeräumt (§ 18 Satz 2 i. V. m. § 15 Abs. 6 BStatG), 146 auch soweit dies zugleich Zwecken der Bankenaufsicht dient (s. § 25 KWG, § 6 Abs. 1 MonAwV 147 ). Ein „Aufruf“ von Euro-Banknoten zur Einziehung darf weiterhin auch seitens der nationalen Zentralbank erfolgen (§ 14 Abs. 2 Satz 1 ___________ 140 Vgl. etwa Frotscher, W., Wirtschaftsverfassungs- und Wirtschaftsverwaltungsrecht, 4. Aufl. 2004, Rn. 211. 141 s. die ständige Rechtsprechung des EuGH zu den Kriterien einer unmittelbaren und individuellen Betroffenheit (gem. Art. 230 Abs. 4 EGV) seit dem Urteil vom 15.07.1963, Rs. 25/62, Slg. 1963, 213 (238), Plaumann/Kommission; zuletzt Urteil vom 01.04.2004, Rs. C-263/02 P, Jégo-Quéré; vgl. Gaitanides (Fn. 9), S. 262 ff.; Hahn/Häde, ZHR 2001, S. 30 (42 ff.). 142 Dazu etwa BVerwG, NJW 1996, 3223 f. In der Regel ist im Hinblick auf § 29 Abs. 1 BBankG kein vorheriges Widerspruchsverfahren statthaft; s. Gramlich (Fn. 34), § 29 BBankG, Rn. 5. 143 Vgl. Gramlich, L., in: Hohmann / John (Fn. 136), § 28a AWG, Rn. 8; Hahn (Fn. 6), § 23, Rn. 35. 144 Vgl. Gramlich, L., in: Wolffgang, H. M. / Simonsen, O. (Hrsg.), AWR-Kommentar, § 56b AWV, Rn. 13. 145 Zur Neufassung dieser Vorschrift durch das Gesetz vom 22.04.2002 (BGBl. I, S. 1310) s. Hagemeister, H.-O., Die neue Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, in: WM 2002, 1773 (1779 f.); Gramlich, L., Die rechtswissenschaftliche Sicht einer neuen Bankenaufsichtsstruktur in Deutschland, in: Pitschas, R. (Hrsg.), Integrierte Finanzdienstleistungsaufsicht, 2002, S. 313 (353 ff.). 146 Gesetz zur Statistik über Bundeszwecke vom 22.01.1987, BGBl. I, S. 462, 565. 147 Verordnung zum Einreichen von Monatsausweisen nach dem KWG. vom 31.05. 1999, BGBl. I, S. 1080, 1330.

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BBankG); eine derartige Maßnahme erfolgt (im ersten Schritt) durch Allgemeinverfügung (§ 35 Satz 2 VwVfG) 148 , freilich nur noch „unbeschadet“ des Art. 106 Abs. 1 EGV, d. h. nach Genehmigung durch die EZB und in Bezug auf die selbst ausgegebenen Banknoten. Bei Euro- oder Cent-Münzen hingegen obliegt die Außerkurssetzung der Bundesregierung (§ 9 MünzG); 149 insofern wird die mitgliedstaatliche Kompetenz nach Art. 106 Abs. 2 EGV nicht durch Mitwirkungsbefugnisse der EZB beschränkt. c) Soweit – wie bei „Anordnungen“ der Bundesbank nach § 18 Satz 1 BBankG – nicht Allgemeinverfügungen, sondern Außen-Rechtsvorschriften erlassen werden (sollten), 150 ist eine verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle nach § 47 VwGO nicht statthaft, da es sich hierbei jedenfalls nicht um (untergesetzliches) Landesrecht handelt. Jedoch dürfte im Hinblick auf hierdurch statuierte konkrete Meldepflichten und daraus resultierende finanzielle Belastungen ein „rechtliches Interesse“ an der allgemeinen Klärung der Grundlage und des Ausmaßes der auferlegten Verpflichtungen bestehen und daher eine fachgerichtliche Kontrolle auf dem Weg einer Feststellungsklage nach § 43 Abs. 1 VwGO zulässig sein. 151 d) Der Geschäftsverkehr mit der Bundesbank vollzieht sich nach gem. § 33 BBankG im Bundesanzeiger veröffentlichten Allgemeinen Geschäftsbedingungen der deutschen Währungs- und Notenbank. Die generellen Bestimmungen (AGB Bundesbank) halten in Abschn. I.1 Abs. 2 fest, sie begründeten „keinen Anspruch auf die Vornahme bestimmter Geschäfte durch die Bank“; vielmehr „behält“ diese sich „ausdrücklich vor, bestimmte Geschäfte aufgrund allgemeiner Gesichtspunkte, insbesondere von Vorgaben der EZB, beispielsweise geldpolitischer Art, nur in beschränktem Umfang, nur mit einem beschränkten Kreis von Geschäftspartnern oder gar nicht zu betreiben“. Entsprechend sehen die Regelungen insbesondere zur außerordentlichen Kündigung (der gesamten Geschäftsverbindung, von einzelnen Teilen oder bestimmten Geschäftsarten) in Abschn. I.27 sowie die speziellen Vorschriften für „geldpolitische Geschäfte“ (Abschn. V.) die gänzliche wie partielle, vorübergehende wie dauerhafte Beendigung der Beziehung zu bestimmten Geschäftspartnern nicht nur im Hinblick auf deren individuelles Fehlverhalten vor. Freilich trennen die relevanten ___________ 148

Vgl. Hahn (Fn. 6), § 5, Rn. 22 ff., 37 ff., § 20, Rn. 10; Gramlich (Fn. 34), § 14 BBankG, Rn. 24 ff. 149 Zur Vorgängerregelung Gramlich (Fn. 34), § 10 MünzG, Rn. 7 ff. 150 Vgl. Hahn (Fn. 6), § 20, Rn. 10. Als Grundlage hierfür könnten Art. 2 Abs. 2 und 3 Abs. 2 der EZB-Verordnung (EG) Nr. 63/2002 der Europäischen Zentralbank vom 20.12.2001 über die Statistik über die von monetären Finanzinstituten angewandten Zinssätze für Einlagen und Kredite gegenüber privaten Haushalten und nichtfinanziellen Kapitalgesellschaften (EZB/2001/18), ABl. EG L 10 vom 12.01.2002, S. 24, dienen. 151 Vgl. VG Frankfurt/M., WM 1989, 1416 (1417); HessVGH, WM 1993, 1328 (1329); BVerwGE 102, 238 (239); Hahn / Häde (Fn. 7), Rn. 289.

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Rechtsvorschriften des EG- wie des deutschen Rechts insoweit nicht explizit zwischen dem „Ob“ und dem „Wie“ des Zugangs zum Geschäftsverkehr bzw. des Ausschlusses hiervon. Die für die AGB maßgeblichen Rahmenbedingungen in §§ 19 ff. BBankG sowie die regelmäßig vorgesehene Anwendung handelsrechtlicher Bestimmungen auf die Tätigkeiten der Bundesbank 152 sprechen vielmehr gegen eine Spaltung des Rechtswegs zwischen zwei Stufen; ein sachlich ungerechtfertigter Abbruch von Geschäftsbeziehungen einschließlich dadurch erfolgter Beeinträchtigung des Geschäftspartners in Art. 3 Abs. 1 i. V. m. 12 Abs. 1 GG (im Hinblick auf verwaltungsprivatrechtliche Bindungen) 153 ist daher zivilgerichtlicher Überprüfung im Rahmen einer Leistungs- oder Feststellungsklage zuzuführen.

5. Grundrechtsverletzungen durch Maßnahmen von Zentralbanken? a) Selbst wenn also Handlungen oder Unterlassungen von Zentralbanken vielfach und vielfältig den Schutzbereich von Grundrechten tangieren können, so ist damit noch keinesfalls geklärt, ob sie diese auch verletzen, ein Rechtsbehelf also speziell im Hinblick auf Verstöße gegen grundrechtliche Bindungen dieser Einrichtungen erfolgreich sein kann. Allerdings mag sich schon bei der genaueren Bestimmung des jeweiligen Schutzbereichs eines bestimmten Grundrechts herausstellen, dass das inkriminierte Verhalten unter persönlichen, sachlichen oder zeitlichen Aspekten bereits überhaupt nicht von ihm erfasst wird, selbst wenn unmittelbar bevorstehende Gefährdungen bereits eingetretenen Beeinträchtigungen gleich gesetzt werden. 154 Insoweit erlangt die spezifische (rechtliche) Form der Maßnahme in einem System subjektiven Rechtsschutzes zentrale Bedeutung. Bezogen auf die Kernaufgabe der Gestaltung der Geld- und Währungspolitik, zeigt sich dies gerade bei den Entscheidungen, wie viel Geld der Allgemeinheit zur Verfügung stehen soll: Die (jeweils in zwei Phasen vor sich gehende) Ausgabe und Einziehung von gesetzlichen Zahlungsmitteln (Banknoten und in eingeschränktem Maße auch Münzen) ist unmittelbar eigentumsrelevant; wird Geldzeichen die ihnen durch Hoheitsakt verliehene besondere Geldqualität auf gleiche Weise wieder aufgehoben, so liegt ein zielgerichteter Eingriff in die Freiheitssphäre des Eigentümers der hiervon ___________ 152 § 26 Abs. 2 und § 29 Abs. 3 BBankG; vgl. Gramlich (Fn. 34), § 29 BBankG, Rn. 11; Hahn (Fn. 6), § 17, Rn. 22. 153 s. oben bei Fn. 72; allgemein Maurer (Fn. 46), § 3, Rn. 9. Ebenso im Hinblick auf die SNB das schweizerische Bundesgericht im Urteil vom 03.06.1983, BGE 109 Ib, 146 (155); unklar BGH, NJW 1978, 1852 f.; s. aber die Vorinstanz, OLG Frankfurt/M., BB 1976, 758 (759 f.). 154 Vgl. BVerfGE 45, 63 (79), 66, 39 (58); Sachs, M., in: ders. (Fn. 56), Vor Art. 1, Rn. 95.

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betroffenen Noten oder Münzen vor, der allerdings durchaus unterschiedlich – als Inhalts- und Schrankenbestimmung wie als Enteignung – normiert werden kann, weil hier nicht notwendig oder regelmäßig die Sachsubstanz entzogen oder zerstört, wohl aber deren zentrale, mit dem körperlichen Träger verbundene Funktionen beseitigt werden. Damit verbietet das Eigentumsgrundrecht eine Außerwertsetzung solcher Geldzeichen ohne jeden Ersatz, fordert vielmehr eine gesetzliche Regelung auch und gerade des „Umtauschs“ und bietet daher (grundsätzlich) Schutz gegen einen Missbrauch der einschlägigen Zentralbankbefugnisse. 155 Der Wert, insbesondere die Kaufkraft nicht allein des Bargelds wird freilich primär durch (andere) geldpolitische Instrumente beeinflusst. Stellt daher der EZB-Rat „Grundsätze“ für Offenmarkt- und Kreditgeschäfte im ESZB (Art. 18.2. ESZB-Satzung) auf oder ändert diese – einschließlich der Bedingungen und Entgelte für derartige Operationen –, so wird damit zunächst nur das Feld abgesteckt, erweitert oder auch wieder verengt, auf dem andere „Marktteilnehmer“ (wirtschaftlich, in Ausübung eines Berufs oder als Eigentümer) agieren. Diese werden weder individuell noch unmittelbar (verpflichtend) adressiert. Anders ist dies nur beim normativ statuierten Gebot, Mindestreserven zu unterhalten, es sei denn, für die Umsetzung dieser Pflicht bzw. für Sanktionen bei Nichteinhaltung seien noch weitere Umsetzungsakte erforderlich. Zudem kennzeichnen zwar Art. 18 und 19 ESZB-Satzung bestimmte (herkömmliche) währungspolitische Instrumente näher nach Gegenstand, Inhalt und Adressaten und ermöglicht Art. 20 auch den Einsatz anderer zweckmäßiger Mittel; durchweg wird dafür aber nur ein überaus weiter rechtlicher Rahmen vorgegeben, nämlich die Vorgabe auferlegt, die „Ziele“ des ESZB (Art. 105 Abs. 1 EGV, Art. 2 ESZB-Satzung) anzustreben und dessen „Aufgaben“ (Art. 105 Abs. 2 EGV, Art. 3.1 ESZB-Satzung) angemessen zu erfüllen. In den dadurch abgesteckten Grenzen sind währungs-„politische“ Maßnahmen kaum justiziabel, weil der dafür notwendige Maßstab fehlt. Um erfolgreich zu sein, müssen die Maßnahmen zwar hinreichend klar, bestimmt und konsistent sein; mangelt es hieran, werden dadurch gleichwohl nicht Grundrechte der Geschäftspartner oder gar jedes Geld(zeichen)besitzers verletzt, sondern wird allein „schlechte“ (Währungs-) Politik betrieben. Außerhalb des Aufgabenkerns weisen die normativen Bindungen allerdings keine größeren Unterschiede zu den je allgemeinen Regelungen auf, auch im Hinblick auf die Beachtung der Grundrechte – Dritter wie des eigenen Personals. Eine spezifisch „politische“ Komponente kommt allenfalls bei der Ver___________ 155

Vgl. Gramlich (Fn. 34), § 14 BBankG, Rn. 11, 27 ff.; Hahn (Fn. 6), § 5, Rn. 41; Häde, U., Ersatzpflicht der Bundesbank für gestohlene und beschädigte Banknoten, in: JuS 1994, S. 923 (925); Hahn, H. J. / Eckert, L., Anmerkung zu BVerwG,Urteil v. 23.11.1993, in: JZ 1994, S. 675/677 (679). Gesetzliche Währungsreformen hingegen sind in der Regel weder eine völkerrechtswidrige Konfiskation (s. Proctor [Fn. 8], Rn. 19.20 ff.) noch eine Verletzung des Art. 14 GG (Hahn, § 5, Rn. 38).

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weigerung des Informationszugangs in Betracht, wenn und soweit hierdurch aus monetären Erwägungen (sachlich) gebotene Geheimhaltung/Vertraulichkeit rundum abgesichert werden soll (vgl. § 3 Nr. 3, 4 IFG). 156 b) Zwischen umfassender richterlicher Nachprüfung von Akten der Exekutive in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht und Grenzen der Justiziabilität (bzw. gerichtsfreien Hoheitsakten) existieren vielfache Abstufungen der Kontrolldichte. Kriterien, wie sie allgemein für eine (zulässigerweise durch Legislativakt erfolgte) Einräumung von Entscheidungsspielräumen auch auf der Tatbestands-, nicht nur auf der Rechtsfolgenseite einer Norm herangezogen werden (pluralistisch zusammengesetztes Gremium, komplexes und/oder final strukturiertes Verfahren der Entscheidungsfindung, prognostischer oder hochpolitischer Charakter einer Maßnahme) 157 , sind gerade auch für die Leitungsorgane von Zentralbanken typisch. Der Grund dafür liegt in der überaus begrenzten Überprüfbarkeit monetärer Begriffe (des Primärrechts), etwa einer „Bindung an die Preisstabilität“ (Art. 105 Abs. 1 Satz 1 EGV), oder auch des allgemeinen „Grundsatz(es) der offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ (Art. 105 Abs. 1 Satz 3). Alle Gerichte, auch der EuGH, haben den weiten geldpolitischen Ermessens- und Beurteilungsspielraum des EZB-Rates zu respektieren. Denn die EZB nimmt nicht direkt auf Einzelentscheidungen der Wirtschaftssubjekte Einfluss, sondern steuert makroökonomische Größen. Im Falle gerichtlicher „Korrektur“ wären daher schwere Störungen des volkswirtschaftlichen Kreislaufes zu gewärtigen. 158 Richterliche Kontrolle ist daher auf eine Nichtigerklärung offensichtlich ungeeigneter, dem Stabilitätsziel eindeutig zuwiderlaufender Maßnahmen beschränkt. 159 Um die einheitliche geldpolitische Entscheidungsfindung und deren Umsetzung nicht zu verzerren oder zu behindern, sollte hierbei der Position der EZB – und nicht der Auffassung einer einzelnen nationalen Zentralbank – bei Differenzen der Vorrang eingeräumt werden, da nach allgemeinen verwaltungsrechtlichen Grundsätzen die Einräumung von Direktions- und Ingerenzbefugnisse in Konfliktfällen die Durchsetzung der Auffassung des Inhabers dieser Befugnisse zur Folge hat. 160 Hingegen richtet sich die Gewährleistung der „Unabhängigkeit“ gerade auch bei der Verfolgung ihres (Haupt-)Ziels in erster Linie gegen eine Einflussnahme seitens der Regierung sowie – angesichts der primärrechtlichen Absicherung dieses besonderen Status im ESZB – auch gegen mitgliedstaatliche wie EG-(Sekundär-)Rechtsetzung, durch die Autonomie nicht näher ausgestaltet, ___________ 156

Vgl. dazu BT-Drs. 15/4493, S. 10 f. s. bereits oben bei Fn. 72. 158 Manger-Nestler (Fn. 14), § 15 B.I. 159 Enger wohl Gaitanides (Fn. 9), S. 278 f. Ähnlich bereits BVerwGE 41, 1 (8). 160 Manger-Nestler (Fn. 14), § 15 B.I. 157

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sondern sach- und rechtswidrig beschnitten wird. 161 Umgekehrt liegt es vielmehr nahe, dass die mit der Unabhängigkeitsgarantie verbundenen Beschränkungen demokratischer Verantwortlichkeit durch eine umfassende (nachträgliche) gerichtliche Kontrolle kompensiert werden und dies zugleich eine Konsequenz rechtsstaatlicher Funktionenteilung darstellt. 162 Freilich setzt dies, wie schon erwähnt, voraus, dass der Judikative entsprechende Maßstäbe (durch die Gesetzgebung) an die Hand gegeben werden; überdies ist eine Beschränkung der gerichtlichen Überprüfungsbefugnisse auf bestimmte (wichtige) Verfahrens- und Sachgründe eine jedenfalls auf der jeweils obersten Normebene durchaus zulässige Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzips, das nicht absolut gilt, sondern seine Grenzen an gleichermaßen bedeutsamen weiteren (Staats-) Strukturprinzipien findet. Ein derartiger Mittelweg kommt etwa in Art. 230 Abs. 2 (und 3) EGV zum Ausdruck. 163 Allgemein dürften auch hier formalprozessuale Fragen eher einer strikten Nachprüfung zugänglich sein als inhaltliche, wobei allerdings auch insoweit eine reine Evidenz- bzw. Missbrauchskontrolle das absolute Minimum darstellt. Für Handlungen oder Unterlassungen einer Zentralbank ist ein solches Mindestmaß an Fremdkontrolle jedoch nicht hinreichend, wenn und soweit grundrechtlich geschützte Positionen individuell und unmittelbar berührt werden, denn ansonsten bliebe die umfassende Grundrechtsbindung der nationalen wie der supranationalen öffentlichen Gewalt außer Acht. c) Allerdings werden Zentralbanken gerade dann, wenn sie (finanzielle) Sanktionen vollziehen, zunehmend in einem Kontext tätig, in dem ihnen keine eigenen Handlungsspielräume mehr bleiben, sondern sie als letztes Glied einer Entscheidungskette agieren. Damit ist zwar nicht ausgeschlossen, dass ihr Handeln etwa im Rahmen einer Ausnahmegenehmigung zum Gegenstand eines Rechtsbehelfs gemacht wird; soweit freilich UN- und EG-Recht alle wesentlichen Voraussetzungen für den je getroffenen Einzelakt bis ins Detail vorgeben, sind die hierbei relevanten Grund- und Menschenrechtsfragen auch allein auf dieser höheren Ebene zu lösen, so dass ein nationales oder auch europäisches Gericht der Zentralbank hier insoweit kein (grund)rechtswidriges Verhalten attestieren oder die Bindung an höherrangiges Recht beiseite schieben darf. 164 ___________ 161

Vgl. Häde (Fn. 14), Art. 108 EGV, Rn. 6 ff.; Gaitanides (Fn. 9), S. 64 ff. Gaitanides (Fn. 9), S. 246 f. 163 Zu den dort normierten Maßstäben s. Geiger (Fn. 16), Art. 230 EGV, Rn. 30 ff. 164 Hierzu EuG, Urteile vom 21.09.2005, Rs. T-306/01, 315/01 – Yusuf bzw. Kadi / Rat und Kommission, Urteil vom 12.07.2006, Rs. T-253/02 – Ayadi / Rat; Harings, L., Die EG als Rechtsgemeinschaft. EuG versagt Individualrechtsschutz, in: EuZW 2005, S. 705; Schmalenbach, K., Normentheorie vs. Terrorismus: Der Vorrang des UN-Rechts vor EU-Recht, in: JZ 2006, S. 349 (352 f.); Tietje, C. / Hamelmann, S., Gezielte Finanzsanktionen der Vereinten Nationen im Spannungsverhältnis zum Gemeinschaftsrecht und zu Menschenrechten, in: JuS 2006, S. 299 (301 f.); Steinbarth, S., Individualrechtsschutz gegen Maßnahmen der EG zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus, in: 162

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Exkurs: Zur Immunität ausländischer Zentralbanken Immer wieder virulent wird für Zentralbanken das Problem der Immunität im gerichtlichen Erkenntnis- und Vollstreckungsverfahren; Anlass dafür ist ihre Zwitterstellung, einerseits staatliche Einrichtung mit hochpolitischen Zielen und hoheitlichen Befugnissen, andererseits Durchsetzung ihres Auftrags im Wesentlichen mit bankmäßigen, „marktkonformen“ Mitteln. 165 Vor den Gerichten eines anderen als ihres „Heimat“-Staates erwächst hieraus die Frage, ob und ggf. wie weit – sofern die Zentralbank nicht durch Vertragsklauseln oder ad hoc wirksam auf Immunität verzichtet (hat) 166 – eine Klage nicht bereits unzulässig ist, wenn und soweit ihr Gegenstand (fremdstaatliche) acta iure imperii sind. Dabei ergibt sich aus der Ausübung von Währungshoheit durch diese Stellen (als normativ zugewiesener Aufgabe) keine klare völkerrechtliche Vorgabe für die nähere Qualifizierung der Aktivitäten (Operationen, Geschäfte), sondern bleibt diese staatlicher Regelung vorbehalten; im Hinblick auf vertraglich begründete und ausgestaltete Beziehungen zu Marktteilnehmern dürfte dabei auch die Einordnung als acta iure gestionis kaum davon abhängen, ob hierfür das Recht des Forum- oder des Herkunftsstaates maßgeblich ist. 167 Anders verhält es sich beim Einsatz hoheitlicher Instrumente (wie Reservepflicht oder Sanktionen); zwar kann deren Durchsetzung außerhalb des Gebiets des Herkunftslandes ohnehin nur unter angemessener Wahrung der Souveränität des Staates erfolgen, dem der Maßnahmenadressat an- bzw. zugehört, daneben mag aber auch implizit die Frage der Rechtmäßigkeit und Rechtsverbindlichkeit derartiger Maßnahmen (als „acts of State“ 168 ) aufgeworfen werden, selbst – oder gerade – wenn sich die Klage nicht direkt gegen die Zentralbank richtet. Dabei geht es nicht um die (nur dem Herkunftsland mögliche) Aufhebung, sondern darum, sie unter bestimmten Voraussetzungen ganz oder teilweise nicht anzuwenden, also ihre Rechtswirkungen nicht anzuerkennen. 169 Dies darf letztlich allein aufgrund völkerrechtlicher Aspekte erfolgen, sei es wegen Missbrauchs von Kompetenzen in territorialer Hinsicht, sei es wegen materiell___________ ZEuS 2006, S. 269 (277 ff.), sowie bereits Bartelt, S. / Zeitler, H. E., „Intelligente Sanktionen“ zur Terrorismusbekämpfung in der EU, in: EuZW 2003, S. 712 (714 ff.). 165 Vgl. Hahn / Häde (Fn. 7), Rn. 131, 269; Gramlich, L., Staatliche Immunität für Zentralbanken?, in: RabelsZ 45 (1981), S. 545 (564 f., 582 f.). 166 Vgl. BVerfGE 46, 342 (401 f.); Strebel, H., Staatenimmunität, RabelsZ 44 (1980), S. 66 (80 ff.); Ohler, C., Der Staatsbankrott, in: JZ 2005, S. 590 (595 f.). 167 Vgl. BVerfGE 16, 27 (62 ff.); ähnlich Krauskopf, B. / Steven, C., Immunität ausländischer Zentralbanken im deutschen Recht, in: WM 2000, S. 269 (278). 168 Zum Zusammenhang etwa M. Angulo, R. / Wing, A. K., Proposed Amendments to the Foreign Sovereign Immunities Act of 1976 and the Act of State Doctrine, in: Denver Journal of International Law and Policy 14 (1986), S. 299 (300 ff.); Strebel, H. (Fn. 166), RabelsZ 44 (1980), S. 66 (71 ff.). 169 Vgl. Proctor (Fn. 8), Rn. 19.03 f.

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rechtlicher Bedenken (wie eines Verstoßes gegen elementare Grund- und Menschenrechte);170 beim Handeln von Zentralbanken ist der letzte Punkt allerdings kaum zu gewärtigen. Eine derartige inhaltliche Kontrolle seitens fremd(staatlich)er Gerichte setzt freilich voraus, dass die Zentralbanken zukommende Immunität nicht absolut, sondern relativ ist; in der Tat ist lediglich das Ausmaß der Einschränkungen streitig, auch im Hinblick auf die EZB, bei der allerdings „immunity from jurisdiction“ ohnehin – wie bei (allen) Internationalen Organisationen171 – funktional begrenzt ist.172 Bei einer Vollstreckung in die einer (ausländischen) Zentralbank zustehenden Vermögenswerte reicht der Immunitäts-Schutz hingegen weiter. Nicht allein die Währungsreserven,173 sondern auch die anderen Aktiva sind – von eher kuriosen Ausnahmen abgesehen174 – ausschließlich der Erfüllung der Aufgaben gewidmet; diese Zweckbindung macht sie zum Verwaltungsvermögen, über das die Zentralbank zwar auch durch Veräußerung nicht mehr benötigter Gegenstände verfügen darf, auf die jedoch ein zwangsweiser Zugriff gegen ihren Willen ausgeschlossen ist.175 In dieser Hinsicht entspricht die „immunity from execution“ der Situation bei diplomatischen Vertretungen176 und bleibt es ohne Bedeutung, dass die Rechtsverhältnisse, welche die jeweiligen Vermögenswerte der Zentralbank zuordnen, privatrechtlicher Art sind.177

___________ 170 Vgl. dazu etwa Bank, R., Der Fall Pinochet: Aufbruch zu neuen Ufern bei der Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen, in: ZaöRV, Bd. 59 (1999), S. 677 ff.; Bohnert, J., Pinochet und die allgemeine Norm, in: JZ 1999, S. 511 ff. 171 Vgl. Wenckstern, M., Verfassungsrechtliche Fragen der Immunität internationaler Organisationen, in: NJW 1987, S. 1113 ff.; Kunz-Hallstein, H. P., Internationale Organisationen im Rechtsverkehr, in: EuZW 1994, S. 402 (403). 172 Dazu näher Proctor (Fn. 8), Rn. 21.16 ff. 173 Vgl. Proctor (Fn. 8), Rn. 21.07; BVerfGE 64, 1 (45 f.); Krauskopf / Steven, (Fn. 167), WM 2000, S. 269 (270, 278 f.). 174 So ist die schweizerische Nationalbank, an der Private knapp die Hälfte der Aktien halten, der Bund jedoch überhaupt keine, seit langem auch Eigentümer eines Hotels. 175 Proctor (Fn. 8), Rn. 21.08; Gramlich (Fn. 165), RabelsZ 1981, S. 545 (594 f., 600); ferner Ohler (Fn. 166), JZ 2005, S. 590 (596); einschränkend jedoch schweizerisches Bundesgericht, Urteil vom 24.04.1985, BGE 111 Ia, 62 (65 f.); wohl auch BVerfGE 64, 1 (40, 43). 176 Vgl. BVerfGE 46, 342 (394 ff.); ferner van Houtte, H., Die Vollstreckungsimmunität der Bankguthaben einer Botschaft, in: IPRax 1986, S. 50 (52). 177 BVerfGE 46, 342 (399).

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III. Ausblick: Änderungen durch den Verfassungsvertrag? Der Entwurf eines Verfassungsvertrages für Europa 178 , dessen Schicksal bis auf Weiteres ungewiss ist, widmet sich der Europäischen Zentralbank (und dem ESZB bzw. Eurosystem) in Teil I (Art. I-30) in teils recht kryptischen Formulierungen 179 . Andererseits soll das Protokoll über die ESZB-Satzung von redaktionellen Anpassungen abgesehen unverändert fortgelten (Art. IV-442 i. V. m. Protokoll Nr. 4), und auch die Vorschriften zu Organen der EZB (Art. III-382, 383) sowie zu den von ihnen zu treffenden Maßnahmen (Art. III185–III-191, III-196 180 ) führen im Wesentlichen Art. 105–110 181 und 112 f. EGV weiter. Nachdem die EZB im Verfassungsvertrag als (sonstiges) „Organ“ – freilich mit „Rechtspersönlichkeit“ – gekennzeichnet wird (Art. I-30 Abs. 3 S. 1, 2) 182 , wäre auch die fehlende Konsistenz in den (inhaltlich in Art. III-360 ff. übernommenen) Rechtsschutzregelungen, weil bisher auf Gemeinschaftsebene teils Organe, teils die „Einrichtung“ EZB 183 nebeneinander als Partei aufgeführt wurden (Art. 230 ff. EGV), behoben. Anders als heute würde bei Inkrafttreten des Vertrags aber eine ausdrückliche Bindung der „Union“ und damit auch ihres „Organs“ EZB an die Grundrechte (des Teils II) sowie die Bestimmungen der EMRK gelten (Art. I-6). Umgekehrt erscheint zumindest der Wortlaut von Art. I-30 Abs. 3 S. 4 und 5 den Bereich der (funktionellen und finanziellen) Unabhängigkeit weiter zu ziehen als bislang, und dieser geänderten Formulierung entspricht ein (in Art. III-188 S. 2 formuliertes) Einmischungsverbot auch für „Stellen“ der Union, die weder Organe noch Einrichtungen sind. Gleich geblieben ist als „vorrangiges“, obgleich nicht ausschließliches „Ziel“ des ESZB, „die Preisstabilität zu gewährleisten“, das sogar doppelt (in Art. I-30 Abs. 2 S. 2 wie in Art. III-185 Abs. 1 S. 1) zum Ausdruck gebracht wird. Für den (Grund-)Rechtsschutz dürften damit insoweit keine grundlegend neuen oder anderen Fragen aufgeworfen werden als bisher 184 , denn egal, ob die deutlichere Einbeziehung der EZB in die (künftige) Union Gefahren für deren ___________ 178

http://europa.eu.int/constitution/de/lstoc1_de.htm (12.10.2006). Zumindest in der deutschen Fassung; im englischen bzw. französischen Text bleibt die EZB eine „institution“ (mit eigenen „bodies“ bzw. „organes“). 180 Zu dieser neuen Bestimmung BT-Drs. 15/4900, S. 271. 181 Art. 111 EGV findet sich modifiziert in Art. III-326 wieder; BT-Drs. 15/4900, S. 284. 182 Vgl. Häde (Fn. 42), WM 2006, S. 1605 (1613); ohne Klärung BT-Drs. 15/4900, S. 261. 183 Die allerdings durchaus als „Quasi-Organ“ betrachtet werden mag; so Häde (Fn. 42), WM 2006, S. 1605 (1612 f.), m. w. N.; s. aber auch oben Fn. 180. 184 s. bereits oben II.5. 179

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Aufgabenerfüllung hervorrufen kann185, resultieren die Probleme eines angemessenen Grundrechtsschutzes gegenüber ihren Maßnahmen und Handlungen nicht aus einer Verringerung richterlicher Kontrolle, sondern eher aus einer zu weit abgesteckten oder einem ihre Schranken missachtenden Gebrauch der Unabhängigkeit der EZB – wie der nationalen Zentralbanken im ESZB.

___________ 185 In diesem Sinne Gramlich, L. / Manger-Nestler, C., Währungsrechtliche Defizite der Verfassung für Europa, in: EuZW 2005, S. 193; dies., Währungsrechtliche Aspekte des Reformprojekts „Europäische Verfassung“, in: ZfgK 2005, S. 478 ff.; anders Häde (Fn. 42), in: WM 2006, S. 1605 (1613).

Die Pflicht zur Anhörung der Europäischen Zentralbank nach Art. 105 Abs. 4 EGV Ulrich Häde

I. Einleitung Art. 105 Abs. 4 UAbs. 1 EGV schreibt vor, dass die Europäische Zentralbank (EZB) gehört wird „– zu allen Vorschlägen für Rechtsakte der Gemeinschaft im Zuständigkeitsbereich der EZB, – von den nationalen Behörden zu allen Entwürfen für Rechtsvorschriften im Zuständigkeitsbereich der EZB, und zwar innerhalb der Grenzen und unter den Bedingungen, die der Rat nach dem Verfahren des Art. 107 Abs. 6 festlegt“.

Mit dem Recht der EZB, gehört zu werden, ist für die Gemeinschaftsorgane und die Mitgliedstaaten die Pflicht verbunden, die EZB einzubeziehen. Bisher ist die Frage, welche Konsequenzen das Nichtbefolgen dieser Pflicht hat, noch nicht abschließend geklärt.

II. Reichweite der Anhörungspflicht 1. Adressaten und anhörende Behörde Art. 105 Abs. 4, 1. Spstr. EGV wendet sich an die Gemeinschaft; Art. 105 Abs. 4, 2. Spstr. EGV an die Mitgliedstaaten. Auf der Seite der Gemeinschaft können Adressaten der Anhörungspflicht alle Stellen sein, zu deren Aufgaben es gehört, Vorschläge für Rechtsakte auszuarbeiten. Im Regelfall wird das die Kommission sein, die in weiten Bereichen ein Initiativmonopol innehat. Im Bereich der Mitgliedstaaten nennt Art. 105 Abs. 4, 2. Spstr. EGV die nationalen Behörden. Nähere Hinweise darauf, welche Behörden gemeint sind, gibt die Entscheidung 415/98, 1 durch die der Rat die notwendigen Konkretisie___________ 1 Entscheidung des Rates vom 29.06.1998 über die Anhörung der Europäischen Zentralbank durch die nationalen Behörden zu Entwürfen für Rechtsvorschriften (98/415/EG), ABl. 1998 L 189, S. 42.

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rungen der primärrechtlichen Anhörungspflicht der Mitgliedstaaten vorgenommen hat. Art. 3 Abs. 1 und Art. 4 Satz 2 dieser Entscheidung verweisen auf die Behörde, „die einen Entwurf für Rechtsvorschriften vorbereitet“. Diese Behörde wird in Art. 2 Abs. 3 und Art. 3 Abs. 2 und 3 der Entscheidung auch als die „anhörende Behörde“ bezeichnet. Der Mitgliedstaat hat nach Art. 4 Satz 2 der Entscheidung 415/98 sicherzustellen, „daß die EZB rechtzeitig gehört wird, so daß die Behörde, die einen Entwurf für Rechtsvorschriften vorbereitet, die Stellungnahme der EZB berücksichtigen kann, bevor sie zur Sache selbst entscheidet“. Wer anhörende Behörde ist, richtet sich daher nach der innerstaatlichen Aufgabenverteilung. In Deutschland werden Regelungsentwürfe der Bundesregierung in dem jeweils zuständigen Fachministerium vorbereitet. Letztlich beschließt aber die Bundesregierung nach § 15 Abs. 1 lit. a ihrer Geschäftsordnung über die Gesetzentwürfe und deren Einbringung beim Bundestag. Anhörende Behörde ist demnach grundsätzlich das Ministerium, in dem die Vorlage entsteht, 2 eventuell auch die Bundesregierung. Wesentlich ist insoweit, dass die Anhörung in der Vorbereitungsphase erfolgt, wenn sich die Rechtsvorschrift noch im Entwurfsstadium befindet, 3 jedenfalls aber bevor die Bundesregierung über die Einbringung des Gesetzentwurfs beschließt. Gesetzentwürfe können nach Art. 76 Abs. 1 GG auch aus der Mitte des Bundestages oder vom Bundesrat eingebracht werden. Landesrecht kann den Zuständigkeitsbereich der EZB ebenfalls berühren. Entwürfe zu solchen Rechtsvorschriften müssen der EZB von den jeweils zuständigen Stellen vorgelegt werden.

2. Gegenstand der Anhörung Gegenstand der Anhörung sind einerseits Vorschläge für Rechtsakte der Gemeinschaft und andererseits Entwürfe für nationale Rechtsvorschriften. Art. 1 Abs. 1 UAbs. 2 der Entscheidung 415/98 definiert „Entwürfe für Rechtsvorschriften“ als „Entwürfe verbindlicher Vorschriften, die im gesamten Gebiet eines Mitgliedstaats rechtsverbindlich und allgemein anwendbar sind, Regeln für eine unbestimmte Anzahl von Fällen festlegen und sich an eine unbestimmte Anzahl von natürlichen oder juristischen Personen richten.“ In Anlehnung daran wird man als „Rechtsakte der Gemeinschaft“ nur die verbindlichen Handlungsformen, also im Wesentlichen Verordnungen, Richtlinien und ___________ 2 EZB, Leitfaden zur Anhörung der Europäischen Zentralbank durch die nationalen Behörden zu Entwürfen von Rechtsvorschriften, 2005, S. 12 f. 3 EZB (Fn. 2), S. 10.

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Entscheidungen i. S. v. Art. 249 EGV sowie sonstige Beschlüsse, anzusehen haben. 4

3. Zuständigkeitsbereich der EZB a) Zuständigkeitsbereich i. e. S. und i. w. S. Die Anhörungspflicht besteht nach Art. 105 Abs. 4 UAbs. 1 EGV jeweils nur im Zuständigkeitsbereich der EZB. Dieser Begriff lässt sich in einem engeren und in einem weiteren Sinne verstehen. So hat die EZB eigene Rechtsetzungsbefugnisse. Nach Art. 110 EGV kann sie u. a. Verordnungen und Entscheidungen erlassen. In einem engeren Sinne bezeichnet „Zuständigkeitsbereich“ daher die Gebiete, in denen die EZB selbst Regelungen treffen kann. Diesen Zuständigkeitsbereich kann Art. 105 Abs. 4 EGV allerdings nicht meinen; denn sonst müsste sich die EZB selbst anhören. Die Vorschrift bezieht sich daher allein auf Materien, für deren Regelung die EZB zwar nicht selbst zuständig ist, die aber sachlich in einem engen Zusammenhang mit ihren Zielen und Aufgaben stehen. Gemeint ist folglich dieser Zuständigkeitsbereich im weiteren Sinne. Die Anhörungspflicht setzt deshalb voraus, dass die EZB im fraglichen Gebiet nicht regelungsbefugt ist, sondern im Bereich fremder Rechtsetzungszuständigkeiten mitwirkt.

b) Regelungen der Gemeinschaft Der EuGH hat sich mit der Auslegung des Art. 105 Abs. 4 EGV und insoweit vor allem mit der Abgrenzung des Zuständigkeitsbereichs der EZB in seinem Urteil vom 10.07.2003 5 auseinandergesetzt. Im Hinblick auf die in Art. 105 Abs. 4, 1. Spstr. EGV geregelte Pflicht der Gemeinschaftsorgane zur Anhörung der EZB weist er darauf hin, dass mittelbare Auswirkungen gemeinschaftsrechtlicher Regelungen auf die EZB nicht ausreichen. Vielmehr sei darauf abzustellen, dass Art. 105 Abs. 4 EGV im Dritten Teil, Titel VII, Kapitel 2 zu finden ist und dass sich dieses Kapitel auf die Währungspolitik bezieht. 6 Das deutet da-rauf hin, dass der EuGH den Zuständigkeitsbereich der EZB i. S. v. Art. 105 Abs. 4 EGV auf die währungspolitischen Ziele, Aufgaben und Befugnisse der EZB begrenzen will. ___________ 4 Für die Einbeziehung unverbindlicher Rechtsakte Smits, R., in: Groeben, H. von der / Schwarze, J. (Hrsg.), EU-/EG-Vertrag Kommentar, Band 4, 6. Aufl. 2004, Art. 105 EG, Rn. 55. 5 EuGH, Rs. C-11/00 (Kommission/EZB), Slg. 2003, I-7215. 6 EuGH, Slg. 2003, I-7215, Rn. 110.

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Generalanwalt Jacobs hat den Zuständigkeitsbereich der EZB in seinen dem Urteil vorangehenden Schlussanträgen sogar noch etwas enger bestimmt. Er will Art. 105 Abs. 4 EGV so auslegen, „dass er für vorgeschlagene Maßnahmen gilt, die sich mit Aufgaben im Sinne von Art. 105 Abs. 2 EG (Währungspolitik, Devisengeschäfte, Verwaltung von Währungsreserven, Funktionieren der Zahlungssysteme) und vielleicht mit den Aufgaben im Sinne von Art. 105 Abs. 5 und 6 EG (Aufsicht) und von Art. 106 EG (Ausgabe von Banknoten und Münzen) befassen. Art. 105 Abs. 4 EG gilt indessen nicht für Maßnahmen, die in die besonderen Zuständigkeiten fallen oder sich mit ihnen überschneiden, die der EZB nach den Art. 12 und 36 der Satzung übertragen wurden“. 7 Aus diesen weiterführenden Einschränkungen, die sich der EuGH jedenfalls nicht ausdrücklich zu eigen gemacht hat, könnte man folgern, dass eine Anhörung der EZB speziell im Bereich der Art. 12 und 36 ESZB-Satzung nicht erfolgen muss. Und tatsächlich besteht insoweit kein Raum für eine beratende Mitwirkung der EZB. Das jedoch nur, weil diese Vorschriften eigene Regelungsbefugnisse der EZB begründen. So ermächtigt etwa Art. 36 ESZBSatzung den EZB-Rat, die Beschäftigungsbedingungen für das Personal der EZB festzulegen. In diesem Zuständigkeitsbereich der EZB i. e. S. ist ihre Anhörung überflüssig. Die Argumente sowohl des Generalanwalts als auch des EuGH sollen die Zuständigkeit der EZB für solche Regelungen nicht in Frage stellen, sondern zielen in eine andere Richtung. In dem diesem Urteil zugrunde liegenden Verfahren hatte die EZB u. a. vorgetragen, Regelungen über die Kompetenzen der Antibetrugsbehörde OLAF im Bereich der EZB griffen in ihre interne Organisationsgewalt ein, die sich aus den Art. 12 und 36 ESZB-Satzung ergebe. 8 Es ging demnach nicht direkt um Beschäftigungsbedingungen des EZB-Personals. Gegenstand des Streits war vielmehr die Forderung der EZB, auch zu Entwürfen von Rechtsvorschriften gehört zu werden, die nur mittelbar auf ihre interne Struktur und die Beschäftigungsbedingungen für ihr Personal einwirken. Hätte der Gerichtshof dem stattgegeben, wäre der Zuständigkeitsbereich der EZB i. w. S. überaus weit geworden. Indem er diese Forderung zurückwies, hat er demgegenüber klargestellt, dass nur mittelbar auf die EZB einwirkende Vorschriften nicht in ihren Zuständigkeitsbereich fallen. Der Zuständigkeitsbereich der EZB i. S. v. Art. 105 Abs. 4, 1. Spstr. EGV ist demnach anhand der Aufgaben der EZB zu bestimmen, nicht jedoch nach solchen nur mittelbaren Wirkungen.

___________ 7

Generalanwalt Jacobs, in: EuGH, Slg. 2003, I-7155, Ziff. 137. Vgl. den Hinweis auf das Vorbringen der EZB, in: EuGH, Slg. 2003, I-7215, Rn. 107. 8

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c) Regelungen der Mitgliedstaaten Während es zur Anhörungspflicht für die Gemeinschaftsorgane keine sekundärrechtlichen Ausführungsbestimmungen gibt, sieht Art. 105 Abs. 4, 2. Spstr. EGV solche Regelungen im Hinblick auf die Anhörung durch Mitgliedstaaten ausdrücklich vor. Der Rat hat sie in Form der bereits erwähnten Entscheidung 415/98 erlassen. Dieser Rechtsakt legt die Grenzen und Bedingungen der Anhörungspflicht fest. Art. 2 Abs. 1 der Entscheidung 415/98 spricht von „allen nach dem Vertrag in die Zuständigkeit der EZB fallenden Entwürfen für Rechtsvorschriften“ und nennt dann als Regelbeispiele die folgenden Bereiche: – „Währung, – Zahlungsmittel, – nationale Zentralbanken, – Erhebung, Zusammenstellung und Weitergabe statistischer Daten in den Bereichen Währung, Finanzen, Banken, Zahlungssysteme und Zahlungsbilanz, – Zahlungs- und Verrechnungssysteme, – Bestimmungen zu Finanzinstituten, soweit sie die Stabilität der Finanzinstitute und Finanzmärkte wesentlich beeinträchtigen.“ Diese Beispiele stellen nach der Absicht des Rates zwar keine abschließende Aufzählung dar. 9 Die Vorschrift bringt aber zum Ausdruck, dass es sich jedenfalls bei den explizit erwähnten Gebieten um solche handelt, die in den Zuständigkeitsbereich der EZB fallen. Über die Auslegung des Begriffs „Zuständigkeitsbereich“ i. S. v. Art. 105 Abs. 4, 2. Spstr. EGV hat der EuGH bisher nicht entschieden. Es gibt jedoch keine Anhaltspunkte dafür, dass etwas anderes gemeint sein könnte als in Art. 105 Abs. 4, 1. Spstr. EGV. 10 Daher lässt sich auch hier auf die Ausführungen im OLAF-Urteil zurückgreifen. Insoweit könnte man versucht sein, aus den Bemerkungen des Generalanwalts und insbesondere aus seinem Hinweis auf Art. 36 ESZB-Satzung zu schließen, dass Regelungen der Beschäftigungsbedingungen des Personals der nationalen Zentralbanken nicht vom Anhörungsrecht der EZB betroffen sein sollten. Wäre das der Fall, müsste man insoweit an der Vereinbarkeit der sekundärrechtlichen Konkretisierung mit den primärrechtlichen Vorgaben zweifeln.

___________ 9

So der ausdrückliche Hinweis in Satz 3 des dritten Erwägungsgrundes von Entscheidung 415/98. 10 Potacs, M., in: Schwarze, J. (Hrsg.), EU-Kommentar, 2000, Art. 105 EGV, Rn. 7, sieht die in Art. 2 der Entscheidung 415/98 erwähnten Bereiche jedenfalls auch vom Anhörungsrecht nach Spstr. 1 erfasst an.

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Zu beachten ist aber erneut, dass die Zielrichtung sowohl des EuGH als auch des Generalanwalts eine andere war. Das OLAF-Urteil des EuGH bezieht sich nur auf die erwähnten mittelbaren Einwirkungen und spricht deshalb nicht gegen ein Anhörungsrecht der EZB zu Regelungen der Mitgliedstaaten über die nationalen Zentralbanken. Bestätigt wird diese Einschätzung durch das Eingehen des Generalanwalts auf die Ratsentscheidung 93/717, 11 die das Anhörungsrecht des Europäischen Währungsinstituts (EWI), des Vorgängers der EZB, betraf. Dort waren als ein Bereich, für den die Anhörungspflicht bestand, „Satzungen und Kompetenzen der nationalen Zentralbanken“ erwähnt. Der Generalanwalt bezweifelte mit keinem Wort, dass das EWI deshalb zu allen Entwürfen von Rechtsvorschriften anzuhören war, die das Recht der nationalen Zentralbanken betrafen. Ihm ging es vielmehr nur darum, auch hier wieder auszuschließen, „dass Vorschriften über Untersuchungen von Betrug und anderen Unregelmäßigkeiten von Mitgliedern und Personal von Zentralbanken in den Zuständigkeitsbereich des EWI oder analog in die Zuständigkeitsbereiche der EZB fallen.“ 12 Weder der Generalanwalt noch der EuGH halten es demnach für unzulässig, dass die in Art. 105 Abs. 4, 2. Spstr. EGV vorgesehenen näheren Bestimmungen des Rates in Form der Entscheidung 415/98 alle Regelungen z. B. über nationale Zentralbanken zum Zuständigkeitsbereich der EZB zählen. Eine Anhörung muss nur dann nicht stattfinden, wenn Entwürfe für Rechtsvorschriften zwar Auswirkungen auf die EZB, die nationalen Zentralbanken oder die anderen in Art. 2 der Entscheidung 415/98 erwähnten Themen haben können, aber Bereiche betreffen, in denen das Gemeinschaftsrecht der EZB keine spezifischen Aufgaben übertragen hat. 13

III. Konsequenzen eines Verstoßes von Gemeinschaftsorganen In ständiger Rechtsprechung geht der EuGH davon aus, dass das rechtswidrige Absehen von der im Gemeinschaftsrecht vorgeschriebenen Anhörung oder sonstigen Mitwirkung von Organen oder anderen Institutionen der Gemeinschaft eine Verletzung wesentlicher Formvorschriften i. S. v. Art. 230 Abs. 2 EGV darstellt. 14 Auf diese Weise erlassene Rechtsakte sind nichtig. In seinen Schlussanträgen im OLAF-Verfahren hat Generalanwalt Jacobs ausdrücklich ___________ 11

ABl. 1993 L 332, S. 14. Generalanwalt Jacobs, in: EuGH, Slg. 2003, I-7155, Ziff. 143. 13 EuGH, Slg. 2003, I-7215, Rn. 111. 14 Vgl. nur EuGH, Rs. 138/79 (Roquette Frères/Rat), Slg. 1980, 3333, Rn. 37; Schwarze, J., in: ders. (Fn. 10), Art. 230 EGV, Rn. 61. 12

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auf diese Rechtsprechung hingewiesen und den Verstoß gegen die Anhörungspflicht aus Art. 105 Abs. 4 UAbs. 1 EGV als Verletzung wesentlicher Formvorschriften bezeichnet. 15 Der EuGH musste sich dazu nicht äußern; seine Entscheidungsgründe geben aber keinen Hinweis darauf, dass er die Situation anders beurteilen wollte. Daher bleibt festzuhalten, dass eine Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften vorläge, wenn die Gemeinschaftsorgane die Anhörung der EZB rechtswidrig unterließen. 16 Auf eine Klage würde der Gerichtshof einen entsprechenden Rechtsakt für nichtig erklären (Art. 231 Abs. 1 EGV).

IV. Konsequenzen eines Verstoßes von Mitgliedstaaten 1. Vertragsverstoß Art. 230 EGV lässt die Nichtigerklärung nationaler Rechtsvorschriften nicht zu. Die Verletzung der Anhörungspflicht durch einen Mitgliedstaat würde allerdings einen Vertragsverstoß darstellen. 17 Dieses Verhalten kann Gegenstand eines Vertragsverletzungsverfahrens sein, falls die Kommission (Art. 226 EGV) oder ein anderer Mitgliedstaat (Art. 227 EGV) einen entsprechenden Antrag stellen. Auch dann kann der EuGH aber nur feststellen, dass der Mitgliedstaat gegen eine Verpflichtung aus dem EG-Vertrag verstoßen hat. Unmittelbare Auswirkungen auf eine unter Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht erlassene nationale Rechtsvorschrift hat ein solches Urteil nicht. Der EuGH kann sie nicht aufheben oder für unanwendbar erklären. 18 Allerdings verpflichtet ein Urteil des EuGH, das eine Vertragsverletzung feststellt, den betroffenen Mitgliedstaat nach Art. 228 Abs. 1 EGV dazu, „die Maßnahmen zu ergreifen, die sich aus dem Urteil des Gerichtshofs ergeben.“ Bei einem Vertragsverstoß durch Gesetzgebung kann sich deshalb aus dem Urteil die Pflicht des Mitgliedstaats ergeben, die entsprechenden Normen zu ändern oder aufzuheben. 19 ___________ 15

Generalanwalt Jacobs, in: EuGH, Slg. 2003, I-7155, Ziff. 131. Häde, U., in: Calliess, Ch. / Ruffert, M. (Hrsg.), Kommentar zu EU-Vertrag und EG-Vertrag, 3. Aufl. 2007, Art. 105 EGV, Rn. 38. Ebenso Gaiser, Gerichtliche Kontrolle im Europäischen System der Zentralbanken, in: EuR 2002, S. 517 (519); Gaitanides, Ch., in: von der Groeben / Schwarze (Fn. 4), Art. 230 EG, Rn. 124 f.; Kempen, B., in: Streinz, R. (Hrsg.), EUV/EGV, 2003, Art. 105 EGV, Rn. 23; Laschat, Das Europäische System der Zentralbanken und die Europäische Zentralbank, in: europablätter 2002, S. 2 (13). 17 Vgl. Häde (Fn. 16), Art. 105 EGV, Rn. 38; Kempen (Fn. 16), Art. 105 EGV, Rn. 23. 18 Vgl. nur Ehricke, U., in: Streinz (Fn. 16), Art. 228 EGV, Rn. 1. 19 Vgl. Cremer, H.-J., in: Calliess / Ruffert (Fn. 16), Art. 228 EGV, Rn. 4. 16

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2. Innerstaatliche Konsequenzen a) Vorrang des Gemeinschaftsrechts Über die innerstaatlichen Folgen eines solchen Vertragsverstoßes entscheidet grundsätzlich das nationale Recht. Wesentlichen Einfluss hat aber der allgemein anerkannte (Anwendungs-)Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber dem Recht der Mitgliedstaaten. 20 Entgegenstehendes nationales Recht gilt zwar grundsätzlich weiter, ist aber unanwendbar. 21 Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts führt allerdings nicht dazu, dass jeder Verstoß gegen gemeinschaftsrechtliche Bestimmungen zur Unanwendbarkeit nationaler Rechtsvorschriften führt. Das Gemeinschaftsrecht gilt zwar unmittelbar in den Mitgliedstaaten. Davon zu unterscheiden ist jedoch seine unmittelbare Anwendbarkeit. 22 Erst sie führt dazu, dass die entsprechenden Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts zur Grundlage von Entscheidungen der nationalen Behörden und Gerichte werden und einzelne Bürger aus ihnen unmittelbar Rechte und Pflichten herleiten können. 23 Die unmittelbare Anwendbarkeit von Verordnungen ergibt sich schon aus ihrer Definition. Sie haben nach Art. 249 Abs. 2 EGV allgemeine Geltung, sind in allen Teilen verbindlich und gelten unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Auch an natürliche oder juristische Personen gerichtete Entscheidungen (Art. 249 Abs. 4 EGV) sind jedenfalls für die Adressaten unmittelbar anwendbar. Demgegenüber sind rein staatengerichtete Verpflichtungen, also Pflichten der Mitgliedstaaten, die sich aus dem primären Gemeinschaftsrecht, aus Richtlinien oder an die Mitgliedstaaten gerichteten Entscheidungen ergeben, nicht von vornherein unmittelbar anwendbar. Voraussetzung dafür ist nach der Rechtsprechung des EuGH, dass die gemeinschaftsrechtlichen Normen eine klare und uneingeschränkte (unbedingte) Verpflichtung enthalten, die nicht durch einen Regelungsvorbehalt zugunsten des nationalen Gesetzgebers oder eine Bedingung eingeschränkt ist. 24 Da sich sowohl Art. 105 Abs. 4, 2. Spstr. EGV als ___________ 20 s. dazu die grundlegende Entscheidung EuGH, Rs. 6/64 (Costa/ENEL), Slg. 1964, S. 1261 (1269 f.). Aus der Literatur vgl. nur Oppermann, Th., Europarecht, 3. Aufl. 2005, § 7 Rn. 1 ff.; Schroeder, W., in: Streinz (Fn. 16), Art. 249 EGV, Rn. 40 ff.; Wegener, B., in: Calliess / Ruffert (Fn. 16), Art. 220 EGV, Rn. 22 ff. 21 Vgl. EuGH, verb. Rs. C-10/97 bis C-22/97 (IN.CO.GE.’90), Slg. 1998, I-6307, Rn. 21; BVerfGE 73, 339 (374 f.); Haratsch, A. / Koenig, Ch. / Pechstein, M., Europarecht, 5. Aufl. 2006, Rn. 187 ff. 22 Vgl. Haratsch / Koenig / Pechstein (Fn. 21), Rn. 192. 23 Vgl. Ruffert, M., in: Calliess / Ruffert (Fn. 16), Art. 249 EGV, Rn. 18; Schroeder (Fn. 20), Art. 249 EGV, Rn. 48. 24 In diesem Sinne die grundlegenden Entscheidungen EuGH, Rs. 26/62 (van Gend & Loos/Niederländische Finanzverwaltung), Slg. 1963, S. 1 (24); Rs. 57/65 (Alfons Lütticke GmbH/Hauptzollamt Saarlouis), Slg. 1966, S. 257 (266).

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auch die Entscheidung 415/98 an die Mitgliedstaaten wenden, versteht sich ihre unmittelbare Anwendbarkeit und die damit verbundene Möglichkeit Einzelner, sich auf einen Verstoß gegen die Vorschriften zu berufen, nicht von selbst.

b) Rechtsprechung des EuGH aa) Keine unmittelbar einschlägigen Entscheidungen Der Gerichtshof hatte bisher nicht darüber zu entscheiden, welche Konsequenzen sich ergeben, wenn die in Art. 105 Abs. 4, 2. Spstr. EGV vorgesehene Anhörung der EZB durch Behörden der Mitgliedstaaten unterblieb. Urteile nationaler Gerichte, die darauf eingehen, sind ebenfalls nicht bekannt.

bb) Rechtsprechung zu Mitteilungspflichten In der Literatur wird aber von einigen unter Hinweis auf Entscheidungen des EuGH die Ansicht vertreten, eine innerstaatliche Norm könne unanwendbar sein, wenn die erforderliche Anhörung der EZB unterlassen wurde. 25 Auch die EZB verweist auf diese Rechtsprechung und folgert daraus zumindest ein deutliches Risiko für ohne Anhörung erlassene Vorschriften des nationalen Rechts. 26 Die fraglichen Entscheidungen des EuGH betreffen Verstöße insbesondere gegen in Richtlinien festgelegte Pflichten der Mitgliedstaaten, die Kommission über Entwürfe zu nationalen Regelungen zu unterrichten. So verpflichtet die Richtlinie zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers 27 die Mitgliedstaaten, Garantieeinrichtungen zu schaffen, um die Befriedigung von nicht erfüllten Ansprüchen von Arbeitnehmern sicherzustellen. Die Mitgliedstaaten sind berechtigt, die Zahlungspflicht dieser Garantieeinrichtungen zu begrenzen. In diesem Fall trifft sie allerdings die Pflicht, der Kommission mitzuteilen, nach welchen Methoden die Höchstgrenze der Zahlungspflicht festgesetzt wurde. Der EuGH hatte zu entscheiden, ob ein Verstoß gegen diese gemeinschaftsrechtliche Mitteilungspflicht die im nationalen Recht festgesetzte Höchstgrenze rechtswidrig macht. 28 ___________ 25

Vgl. Selmayr, M., Das Recht der Wirtschaft- und Währungsunion, 2002, S. 286; Zilioli, Ch. / Selmayr, M., The Law of the European Central Bank, 2001, S. 101. 26 EZB (Fn. 2), S. 26. 27 Richtlinie 89/987/EWG des Rates vom 20.10.1980, ABl. 1980 L 283, S. 23. 28 EuGH, Rs. C-235/95 (Dumon und Froment), Slg. 1998, I-4531.

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Die Richtlinie über Abfälle 29 enthält die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die Kommission von dem Entwurf von Regelungen, die den Gebrauch und Verkauf von biologisch nicht abbaubarem Verpackungsmaterial einschränken, rechtzeitig vor dem endgültigen Erlass zu unterrichten. In zwei Urteilen aus den Jahren 1989 und 2002 hatte der EuGH zu entscheiden, welche innerstaatlichen Folgen ein Verstoß gegen diese gemeinschaftsrechtliche Pflicht hat. 30 Die Richtlinie über ein Informationsverfahren auf dem Gebiet der Normen und technischen Vorschriften 31 verpflichtet die Mitgliedstaaten, der Kommission alle Entwürfe von technischen Vorschriften mitzuteilen und die vorgesehenen Rechtsvorschriften erst nach einer bestimmten Frist zu erlassen. Auch insoweit hatte der EuGH in mehreren Urteilen zu befinden, welche innerstaatlichen Konsequenzen Verstöße gegen diese Pflichten haben sollen. 32 Der EuGH prüfte in allen diesen Fällen, ob die entsprechenden Bestimmungen der Richtlinien unmittelbar anwendbar sind und ob ein Verstoß gegen sie zur Unanwendbarkeit der auf diese Weise erlassenen nationalen Rechtsvorschriften führt.

cc) Prüfprogramm des EuGH Diesen Entscheidungen lässt sich trotz gewisser Abweichungen im Einzelfall ein gemeinsames Prüfprogramm des Gerichtshofs entnehmen.

(1) Mitteilungspflicht Der EuGH prüft zunächst, ob sich aus der jeweiligen Richtlinienbestimmung die Pflicht der Mitgliedstaaten ergibt, die Kommission von Entwürfen zu nationalen Rechtsvorschriften zu unterrichten. 33

___________ 29

Richtlinie 75/442/EWG des Rates vom 15.07.1975, ABl. 1975 L 194, S. 47. EuGH, Rs. 380/87 (Enichem Base/Comune de Cinisello Balsamo), Slg. 1989, 2491; C-159/00 (Sapod), Slg. 2002, I-5031. 31 Richtlinie 83/189/EWG des Rates vom 28.03.1983, ABl. L 109, S. 8. 32 EuGH, Rs. C-194/94 (CIA Security International), Slg. 1996, I-2201; Rs. C-226/ 97 (Lemmens), Slg. 1998, I-3711; Rs. C-443/98 (Unilever Italia/Central Food), Slg. 2000, I-7565; Slg. 2002, I-5031; Rs. C-303/04 (Lidl Italia Srl/Comune di Stradella), Slg. 2005, I-7865, Rn. 20 ff. 33 Vgl. EuGH, Slg. 1989, 2491, Rn. 12 ff.; Slg. 1996, I-2201, Rn. 22 ff. 30

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(2) Unmittelbare Anwendbarkeit Im zweiten Schritt untersucht der Gerichtshof, ob eine Richtlinienbestimmung, die eine Mitteilungspflicht begründet, unmittelbar anwendbar ist. Voraussetzung dafür ist, dass die entsprechenden Vorschriften „unbedingt und hinreichend genau sind, um von einzelnen vor einem nationalen Gericht herangezogen werden zu können“. 34 Denn nur wenn die „Bestimmungen einer Richtlinie inhaltlich als unbedingt und hinreichend genau erscheinen, [können] diese Bestimmungen gegenüber allen nicht richtlinienkonformen nationalen Vorschriften herangezogen werden“. 35 Mit diesen Worten umschreibt der EuGH somit die Voraussetzungen dafür, dass sich der grundsätzliche Vorrang des Gemeinschaftsrechts im konkreten Einzelfall auswirken kann.

(3) Unanwendbarkeit Die unmittelbare Anwendbarkeit und damit die grundsätzliche Eignung einer Richtlinienbestimmung, von den Einzelnen vor den nationalen Gerichten herangezogen zu werden, reichen allerdings nicht aus. Der Gerichtshof prüft zusätzlich, ob die jeweilige Richtlinienbestimmung so auszulegen ist, „daß der Verstoß gegen die Mitteilungspflicht, der einen Verfahrensfehler beim Erlaß der betreffenden technischen Vorschriften darstellt, zur Unanwendbarkeit dieser technischen Vorschriften führt, so daß sie einzelnen nicht entgegengehalten werden können.“ 36 Wenn die Auslegung ergibt, dass die Richtlinienbestimmung ausschließlich die institutionellen Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft betrifft, führt ein Verfahrensfehler nicht zur Unanwendbarkeit. 37 Der EuGH stellt aber fest, dass die Unanwendbarkeit nicht davon abhängt, ob diese Rechtsfolge ausdrücklich in der Richtlinienbestimmung vorgesehen ist. Vielmehr kommt es auf die Auslegung der Bestimmung an. 38 Insoweit stellt der Gerichtshof wesentlich auf den Zweck der Regelung ab. 39 Wenn die Richtlinie die Mitgliedstaaten lediglich verpflichtet, die Kommission rechtzeitig von den Regelungsentwürfen zu unterrichten, aber keinen darüber hinausgehenden Zweck verfolgt und kein Kontrollverfahren vorsieht, dann resultiert aus einem ___________ 34

EuGH, Slg. 1996, I-2201, Rn. 32. EuGH, Slg. 1996, I-2201, Rn. 42. 36 EuGH, Slg. 1996, I-2201, Rn. 45. 37 Vgl. EuGH, Rs. 174/84 (Bulk Oil/Sun International), Slg. 1986, S. 559, Rn. 62; Slg. 1996, I-2201, Rn. 46; Slg. 1998, I-4531, Rn. 32. 38 EuGH, Slg. 1996, I-2201, Rn. 48. 39 Vgl. Klagian, W., Die objektiv unmittelbare Wirkung von Richtlinien, in: ZÖR 56 (2001), S. 305 (362). 35

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Verstoß gegen die Mitteilungspflicht nicht die Unanwendbarkeit der nationalen Rechtsvorschrift. 40 Anderes gilt jedoch dann, wenn die Richtlinienbestimmung einen über die bloße Information hinausgehenden Zweck (z. B. Beseitigung der Handelsschranken) verfolgt und ein Kontrollverfahren vorsieht, das der Gemeinschaft einen gewissen Einfluss auf das nationale Normerlassverfahren gibt. In einem solchen Fall führt der Verfahrensfehler grundsätzlich zur Unanwendbarkeit der Norm mit der Folge, dass die nationale Rechtsvorschrift Einzelnen von Behörden und Gerichten nicht entgegen gehalten werden kann. 41 Dass die gemeinschaftsrechtliche Vorschrift dazu bestimmt sein müsste, zumindest auch dem Schutz Einzelner zu dienen, gehört demgegenüber nicht zu den Kriterien des EuGH. 42 Das Prüfprogramm des Gerichtshofs entspricht von daher nicht dem im deutschen Recht typischen Vorgehen im Sinne der Schutznormtheorie. 43 Die unmittelbare Anwendbarkeit der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmung und die Unanwendbarkeit der entgegen stehenden nationalen Rechtsvorschrift hängen nicht vom Nachweis subjektiver Rechte ab, sondern sind vielmehr Voraussetzung dafür, dass sich der Einzelne vor Behörden und Gerichten auf die Unanwendbarkeit der Vorschrift berufen und insoweit subjektive Rechte daraus ableiten kann. 44

(4) Keine Ausnahmen Selbst dann, wenn ein Verstoß gegen die Mitteilungspflicht grundsätzlich zur Unanwendbarkeit einer nationalen Rechtsvorschrift führt, kann es Gründe geben, die im konkreten Fall doch ein anderes Ergebnis fordern. So hat der EuGH geprüft, ob es speziell mit der jeweiligen Richtlinienbestimmung „zusammenhängende Gründe gibt, die es nicht zulassen, sie dahin auszulegen, daß sie zur Unanwendbarkeit von unter Verstoß gegen die Richtlinie erlassenen technischen Vorschriften auf Dritte führt.“ 45 In dem damals zu entscheidenden Fall hätte der Gerichtshof eine solche Ausnahme wohl dann angenommen, ___________ 40 EuGH, Slg. 1989, 2491, Rn. 20; Slg. 1996, I-2201, Rn. 49; Slg. 1998, I-4531, Rn. 28 ff.; Slg. 2002, I-5031, Rn. 60. 41 EuGH, Slg. 1996, I-2201, Rn. 50; Slg. 2000, I-7565, Rn. 42. 42 Vgl. Gassner, U. M., Richtlinien mit Doppelwirkung, in: Classen, C. D. et al. (Hrsg.), „In einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen ...“. Liber amicorum Thomas Oppermann, 2001, S. 503 (518 f.). 43 Vgl. dazu nur BVerwGE 52, 122 (128); 98, 118 (120 f.); Bull, H. P. / Mehde, V., Allgemeines Verwaltungsrecht mit Verwaltungslehre, 7. Aufl. 2005, Rn. 144 ff., 1045 ff. 44 In diesem Sinne auch Ruffert (Fn. 23), Art. 249 EGV, Rn. 90 m. w. N. 45 EuGH, Slg. 1996, I-2201, Rn. 51.

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wenn die Unanwendbarkeit der erlassenen Norm eine im Hinblick auf den Bereich der Sicherheit nicht hinnehmbare Regelungslücke hätte entstehen lassen. 46

(5) Zweckidentität Der EuGH verwehrt dem Einzelnen die Berufung auf die Unanwendbarkeit einer nationalen Rechtsvorschrift auch dann, wenn der Fall außerhalb des Zwecks oder Schutzbereichs der verletzten Richtlinienbestimmung liegt. 47 Konkret ging es darum, dass ein Autofahrer wegen Fahrens unter Alkoholeinfluss bestraft werden sollte. Die niederländische Rechtsvorschrift über die technischen Daten für das Messgerät, das zur Ermittlung des Alkoholgehalts seines Atems eingesetzt worden war, war der Kommission allerdings unter Verstoß gegen eine Bestimmung der Richtlinie über ein Informationsverfahren auf dem Gebiet der Normen und technischen Vorschriften 48 nicht vor ihrem Erlass mitgeteilt worden. Der Angeklagte berief sich nun darauf, dass das Gerät nicht hätte eingesetzt werden dürfen. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs führt ein Verstoß gegen die Mitteilungspflicht aus dieser Richtlinie normalerweise zur Unanwendbarkeit der nationalen Rechtsvorschrift. Die Mitteilungspflicht hat jedoch den Zweck, den freien Warenverkehr durch eine vorbeugende Kontrolle zu schützen. 49 Indem die Richtlinie die Mitgliedstaaten verpflichtet, neue technische Vorschriften, die Handelshemmnisse darstellen können, zuvor der Kommission mitzuteilen, verfolgt sie das Ziel, „Handelsschranken zu beseitigen oder zu verringern“. 50 In dem Strafverfahren ging es aber nicht um den Schutz des Warenverkehrs. Der Angeklagte war durch die nationale Rechtsvorschrift nicht etwa gehindert worden, von ihren Vorgaben abweichende Messgeräte zu verkaufen. Es ging ihm nur darum, eine Verurteilung zu vermeiden, die sich auf den mit Hilfe des Messgeräts ermittelten Alkoholgehalt stützte. Eine Beschränkung des Handels war mit den entsprechenden Vorschriften nicht verbunden. Der Verfahrensfehler führte daher nicht zur Unanwendbarkeit. 51 Das auch deshalb, weil es in dem Strafverfahren nur auf die entsprechenden Strafvorschriften und die Bestimmungen, die zum Blasen in das Messgerät verpflichten, ankam. Dem Angeklagten werde, so der EuGH, aber nicht die technische Vorschrift entgegen___________ 46 47 48 49 50 51

Vgl. EuGH, Slg. 1996, I-2201, Rn. 52 f. Vgl. EuGH, Slg. 1998, I-3711, Rn. 34 ff. s. o. Fn. 31. EuGH, Slg. 1996, I-2201, Rn. 40. EuGH, Slg. 1996, I-2201, Rn. 50. EuGH, Slg. 1998, I-3711, Rn. 35 f.

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gehalten, die unter Verstoß gegen die Mitteilungspflicht erlassen wurde. 52 Dieses Argument ergänzt und konkretisiert die Forderung nach Zweckidentität. Eine nationale Rechtsvorschrift ist daher dann nicht unanwendbar, wenn sie allenfalls mittelbar auf den zu entscheidenden Sachverhalt einwirkt, dem am behördlichen oder gerichtlichen Verfahren beteiligten Einzelnen aber nicht direkt entgegen gehalten wird. Demgegenüber ist es ein deutliches Indiz für die Unanwendbarkeit, wenn Einzelnen gerade die unter Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht zustande gekommene nationale Rechtsvorschrift entgegen gehalten wird.

c) Übertragung auf Pflichten zur Anhörung der EZB aa) Übertragbarkeit Die Entscheidungen des EuGH beziehen sich auf die Verpflichtung von Mitgliedstaaten, der Kommission bestimmte Mitteilungen zu machen. Überwiegend ging es um Pflichten zur Übermittlung von Entwürfen zu nationalen Rechtsvorschriften. Diese Situation ist durchaus vergleichbar mit der, in der eine Pflicht der Mitgliedstaaten besteht, die EZB zu Entwürfen von Rechtsvorschriften anzuhören. In beiden Fällen geht es um die Frage, welche innerstaatlichen Konsequenzen ein Verstoß gegen die Verpflichtung hat, ein Organ oder im Falle der EZB eine organähnliche Einrichtung 53 der Gemeinschaft am nationalen Rechtsetzungsverfahren zu beteiligen. Ein Unterschied besteht allerdings darin, dass die erwähnten Gerichtsurteile ganz überwiegend Sachverhalte betreffen, in denen die Mitteilungspflichten in Richtlinien verankert sind. Die Pflicht, die EZB anzuhören, ergibt sich demgegenüber aus einer Norm des Primärrechts und der Ratsentscheidung 415/98. Die Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit von Gemeinschaftsrecht stellt sich aber nicht nur bei Richtlinien, sondern in ähnlicher Weise auch bei primärrechtlichen Bestimmungen und an die Mitgliedstaaten gerichteten Entscheidungen. In Rechtsprechung und Literatur besteht Übereinstimmung darin, dass insoweit im Wesentlichen die gleichen Voraussetzungen gelten. 54 Bestätigt wird das dadurch, dass der EuGH die Kriterien für die unmittelbare Anwendbarkeit von Gemeinschaftsrecht zunächst anhand des Primärrechts entwickelt ___________ 52

EuGH, Slg. 1998, I-3711, Rn. 34. Vgl. Beutel, J., Differenzierte Integration in der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, 2006, S. 39; Häde, U., Zur rechtlichen Stellung der Europäischen Zentralbank, in: WM 2006, S. 1605 (1612). 54 Vgl. EuGH. Rs. 9/70 (Franz Grad/Finanzamt Traunstein), Slg. 1979, S. 825, Rn. 5; Ruffert (Fn. 23), Art. 249 EGV, Rn. 118; Schroeder (Fn. 20), Art. 249 EGV, Rn. 138; Streinz, R., Europarecht, 7. Aufl. 2005, Rn. 468. 53

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hat. 55 Dass sich die meisten einschlägigen neueren Entscheidungen auf Richtlinien beziehen, liegt vor allem daran, dass dort die unmittelbare Anwendbarkeit noch am ehesten problematisch erscheint. Außerdem betreffen nicht alle hier erwähnten Urteile nur Richtlinienbestimmungen. 56 Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die meisten der zitierten Gerichtsentscheidungen die besonders umstrittene horizontale Wirkung von Richtlinien betreffen. Insoweit geht es um die Frage, ob die nach Art. 249 Abs. 3 EGV grundsätzlich nur die Mitgliedstaaten verpflichtenden Richtlinien auch Private verpflichten können. Der EuGH lehnt es in ständiger Rechtsprechung ab, dass sich der Staat gegenüber Einzelnen auf Richtlinien beruft. Ebenfalls ausscheiden muss eine unmittelbare horizontale Wirkung einer Richtlinie zwischen Privaten. 57 Die hier erwähnten Urteile des EuGH betreffen nicht diese beiden Fallgestaltungen, sondern meist die Frage, ob eine Richtlinienbestimmung im Rechtsstreit zwischen Privaten zwar nicht als Anspruchsgrundlage dienen kann, aber eben doch auf diesen Streit einwirkt. In diesem Zusammenhang hat der EuGH z. B. entschieden, dass sich der Einzelne in einem wettbewerbsrechtlichen Streit mit einem Konkurrenten auf Richtlinienbestimmungen berufen kann, um zu belegen, dass der Vertrieb eines bestimmten Produkts zulässig ist, obwohl er nationalen Rechtsvorschriften widerspricht. Die nationale Rechtsvorschrift war nämlich deshalb unanwendbar, weil sie unter Verstoß gegen die gemeinschaftsrechtliche Mitteilungspflicht erlassen wurde. 58 Diese Fragen der umstrittenen horizontalen Wirkungen stellen sich im vorliegenden Fall nicht und bedürfen deshalb auch keiner Vertiefung. Es geht nur um das Verhältnis des Staates zu von einer nationalen Rechtsvorschrift betroffenen Bürgern. Das spricht aber nicht gegen die Übertragbarkeit der Kriterien des EuGH, sondern dafür, dass die Unanwendbarkeit von unter Verstoß gegen die Pflicht zur Anhörung der EZB zustande gekommenen nationalen Rechtsvorschriften beim Vorliegen dieser Kriterien erst recht anzunehmen ist. Denn wenn ein vergleichbarer Verfahrensverstoß sogar Auswirkungen in einem Rechtsstreit zwischen Privaten entfalten kann, muss er umso mehr dann bedeutsam sein, wenn sich der Mitgliedstaat, der den Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht begangen hat, gegenüber einem betroffenen Bürger auf die fragliche nationale Rechtsvorschrift berufen will. Das ergibt sich schon daraus, dass ein wesentlicher Grund für die unmittelbare Anwendbarkeit nicht rechtzeitig ___________ 55

Vgl. Ruffert (Fn. 23), Art. 249 EGV, Rn. 17. Vgl. EuGH, Slg. 1986, 559, Rn. 55 ff. 57 Vgl. dazu EuGH, Rs. C-91/92 (Faccini Dori), Slg. 1994, I-3325, Rn. 24 f.; Gassner (Fn. 42), S. 503 (512); Haratsch / Koenig / Pechstein (Fn. 21), Rn. 342 f.; Ruffert (Fn. 23), Art. 249 EGV, Rn. 78. 58 In diesem Sinne EuGH, Slg. 1996, I-2201, Rn. 55; siehe auch Slg. 2002, I-5031, Rn. 50. 56

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umgesetzter Richtlinienbestimmungen darin liegt, dass sich der Mitgliedstaat dem Bürger gegenüber nicht auf sein gemeinschaftsrechtswidriges Verhalten berufen können soll. 59 Durch diese Sanktion wird die praktische Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts gesichert. 60 Sie ist häufig effektiver als das gelegentlich als „Papiertiger“ bezeichnete Vertragsverletzungsverfahren. 61 Um die Effektivität und praktische Wirksamkeit der gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften über die Anhörung der EZB geht es auch hier. Ohne die unmittelbare Anwendbarkeit der gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften und die damit verbundene Unanwendbarkeit des entgegen stehenden nationalen Rechts wäre die Anhörungspflicht nicht mehr durchzusetzen und bliebe sanktionslos, falls die EZB oder die Gemeinschaftsorgane einen Verstoß aufgrund politischer Rücksichtnahmen auf sich beruhen ließen. Das würde die Wirksamkeit und die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts gefährden. Diese Überlegungen sprechen im Ergebnis dafür, dass eine Verletzung der in Art. 105 Abs. 4, 2. Spstr. EGV und der Entscheidung 415/98 niedergelegten Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die EZB zu Entwürfen von nationalen Rechtsvorschriften anzuhören, jedenfalls dann zur Unanwendbarkeit der fraglichen Rechtsvorschriften führt, wenn die Voraussetzungen vorliegen, die der EuGH in seinen erwähnten Urteilen formuliert hat.

bb) Prüfung im Hinblick auf Art. 105 Abs. 4, 2. Spstr. EGV (1) Mitteilungspflicht und unmittelbare Anwendbarkeit Art. 105 Abs. 4, 2. Spstr. EGV begründet eine Pflicht der Mitgliedstaaten zur Anhörung der EZB zu allen nationalen Rechtsvorschriften, die in den Zuständigkeitsbereich der EZB fallen. Die Vorschrift enthält einen Regelungsvorbehalt. Danach erfolgt die Anhörung „innerhalb der Grenzen und unter den Bedingungen, die der Rat“ festlegt. Schon diese primärrechtliche Norm ist ausreichend bestimmt. Sie legt einen Tatbestand fest (eine nationale Rechtsvorschrift fällt in den Zuständigkeitsbereich der EZB) und knüpft daran eine Rechtsfolge (Anhörungspflicht). Die Vorschrift enthält eine klare und eindeutige Verpflichtung, ist daher grundsätz___________ 59 Vgl. Dougan, M., Case Law, Case C-443/98, Unilever Italia v. Central Food, CMLRev., vol. 38 (2001), S. 1503 (1510). 60 Vgl. EuGH, Rs. 41/74 (van Duyn/Home Office), Slg. 1974, S. 1337 (1348 f.); Rs. 147/78 (Ratti), Slg. 1979, 1629 (1641); Rs. 8/81 (Becker/Finanzamt MünsterInnenstadt), Slg. 1982, S. 53 (70). 61 Vgl. Slot, P. J., Case C-194/94, CIA Security International SA v. Signalson SA and Securitel SPRL, CMLRev., vol. 33 (1996), 1035 (1047 f.); siehe auch EuGH, Slg. 2005, I-7865, Rn. 23.

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lich subsumtionsfähig und kann somit von den zuständigen Behörden angewendet werden. 62 Dass es einer näheren Regelung nicht unbedingt bedarf, belegt der Vergleich mit Art. 105 Abs. 4, 1. Spstr. EGV, der die Anhörungspflicht der Gemeinschaftsorgane nahezu mit den gleichen Worten, aber ohne den Regelungsvorbehalt formuliert. Der Regelungsvorbehalt in Art. 105 Abs. 4, 2. Spstr. EGV stünde der unmittelbaren Anwendbarkeit allenfalls dann entgegen, wenn es sich um einen Vorbehalt zugunsten der Mitgliedstaaten handelte. 63 Hier ermächtigt er aber nur den Rat als Gemeinschaftsorgan zur Bestimmung von Grenzen und Bedingungen der Anhörungspflicht. Ein Hindernis für die unmittelbare Anwendbarkeit dieser Vorschrift besteht daher nicht. Die Entscheidung 415/98 konkretisiert Art. 105 Abs. 4, 2. Spstr. EGV und legt die Modalitäten der Anhörungspflicht fest. Jedenfalls zusammen genommen enthalten beide Rechtsakte hinreichend bestimmte, eindeutige und unbedingte Regelungen. Sie sind daher unmittelbar anwendbar.

(2) Unanwendbarkeit Die Unanwendbarkeit der innerstaatlichen Rechtsvorschrift hängt nach der Rechtsprechung des EuGH im Wesentlichen davon ab, dass die gemeinschaftsrechtliche Bestimmung nicht lediglich dazu dient, eine Einrichtung der Gemeinschaft rechtzeitig über Regelungsentwürfe zu unterrichten, sondern einen darüber hinausgehenden Zweck verfolgt und ein Kontrollverfahren vorsieht, das der Gemeinschaft einen gewissen Einfluss auf das nationale Normerlassverfahren gibt. 64

(a) Zweck der Anhörungspflicht Nach der Rechtsprechung des EuGH soll Art. 105 Abs. 4 EGV „im Wesentlichen gewährleisten [...], dass der Urheber eines solchen Rechtsakts diesen erst erlässt, nachdem er die Einrichtung gehört hat, die aufgrund der spezifischen Zuständigkeiten, die sie im Gemeinschaftsrahmen auf dem betreffenden Gebiet wahrnimmt, und aufgrund ihres großen Sachverstands in besonderem Maße in der Lage ist, zu dem beabsichtigten Erlassverfahren in zweckdienlicher Weise beizutragen.“ 65 Daraus lässt sich schließen, dass der EuGH davon ausgeht, dass ___________ 62 63 64 65

Vgl. Schroeder (Fn. 20), Art. 249 EGV, Rn. 48. Vgl. EuGH, Slg. 1963, S. 1 (25). EuGH, Slg. 1996, I-2201, Rn. 50; Slg. 2000, I-7565, Rn. 42. EuGH, Slg. 2003, I-7215, Rn. 110.

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der Zweck der Regelung sich nicht in der bloßen Information der EZB erschöpft. Vielmehr geht es darum, den währungspolitischen Sachverstand der EZB sowohl bei dem Erlass von gemeinschaftsrechtlichen Rechtsakten (1. Spstr.) als auch bei dem Erlass mitgliedstaatlicher Rechtsvorschriften in diesem Bereich (2. Spstr.) in Anspruch zu nehmen. Darüber hinaus soll jedenfalls die in Art. 105 Abs. 4, 2. Spstr. EGV geregelte Anhörungspflicht der Mitgliedstaaten nicht allein die Inanspruchnahme des Sachverstandes der EZB sicherstellen. Vielmehr gibt sie der EZB auch die Möglichkeit, speziell die Einhaltung der in Art. 109 EGV verankerten Verpflichtung jedes Mitgliedstaates zu kontrollieren, „seine innerstaatlichen Rechtsvorschriften einschließlich der Satzung seiner Zentralbank“ mit dem Gemeinschaftsrecht in Einklang zu bringen und zu halten. 66 Die Vorschrift dient daher auch den Interessen der Gemeinschaft und speziell der EZB im Hinblick auf die Ziele und Grundsätze der Währungspolitik, das Primat der Preisstabilität und die Gewährleistung der Unabhängigkeit.

(b) Kontrollverfahren Die Entscheidung 415/98 lässt es nicht bei einer bloßen Mitteilung an die EZB bewenden. Sie errichtet vielmehr ein Verfahren für eine gemeinschaftsrechtliche Kontrolle der nationalen Entwürfe zu Rechtsvorschriften. So weist schon Satz 2 des sechsten Erwägungsgrunds der Entscheidung 415/98 darauf hin, dass die der EZB gesetzten Fristen ihr die Möglichkeit geben müssen, „die ihr vorgelegten Texte mit der erforderlichen Sorgfalt zu prüfen.“ Die anhörende Behörde muss der EZB den Entwurf so rechtzeitig vorlegen, dass die Stellungnahme der EZB noch berücksichtigt werden kann, bevor über den Entwurf entschieden wird (Art. 4 Satz 2). Daran wird erneut deutlich, dass es nicht nur darum geht, die EZB zu informieren, sondern dass sie auch die Möglichkeit haben soll, inhaltlich Einfluss zu nehmen. Die EZB muss darüber hinaus genügend Zeit haben, sich äußern zu können. Die anhörende Behörde kann ihr zwar eine Frist für die Übermittlung der Stellungnahme setzen; diese Frist muss aber grundsätzlich mindestens einen Monat betragen (Art. 3 Abs. 1). Und die EZB kann Verlängerung um höchstens weitere vier Wochen verlangen (Art. 3 Abs. 2). Nur bei äußerster Dringlichkeit kann die Frist verkürzt werden (Art. 3 Abs. 2). Art. 3 Abs. 4 Satz 1 der Entscheidung 415/98 legt außerdem fest, dass die anhörende nationale Behörde nach Ablauf der Frist auch bei Fehlen einer Stellungnahme der EZB weitere Maßnahmen ergreifen kann. Im Umkehrschluss ___________ 66

Vgl. EZB (Fn. 2), S. 10.

Die Pflicht zur Anhörung der Europäischen Zentralbank

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folgt daraus, dass die nationale Behörde während des Laufs der Frist auf die Stellungnahme der EZB warten muss. Sie darf dann keine weiteren Maßnahmen ergreifen. Als weitere Maßnahme wird man insbesondere die in Art. 4 Satz 2 der Entscheidung 415/98 erwähnte Entscheidung zur Sache selbst ansehen müssen. Daher ist es der nationalen Behörde, die den Entwurf für die fragliche Rechtsvorschrift erstellt, grundsätzlich untersagt, vor Fristablauf und vor Eingang der Stellungnahme der EZB über den Erlass der Rechtsvorschrift (wenn sie selbst dafür zuständig ist) oder über die Einbringung des Entwurfs bei einer anderen Stelle, die die Rechtsvorschrift erlässt, zu entscheiden. Diese Entscheidungsmöglichkeiten sind daher nach Gemeinschaftsrecht bis zum Eingang der Stellungnahme der EZB ausgesetzt. 67 Aus alledem ergibt sich, dass Art. 105 Abs. 4, 2. Spstr. EGV i. V. m. der Entscheidung 415/98 sowohl einem über die Information der EZB hinausgehenden Zweck dient als auch ein Verfahren für die gemeinschaftliche Kontrolle der nationalen Entwürfe für Rechtsvorschriften vorsieht. Das Inkrafttreten der nationalen Rechtsvorschriften hängt zwar nicht von der Zustimmung oder vom fehlenden Widerspruch der EZB ab. Die Aussetzung der Entscheidungsmöglichkeiten während der Stellungnahmefrist erfüllt jedoch zum Teil eine ähnliche Funktion. Im Ergebnis liegen die Voraussetzungen vor, die nach der Rechtsprechung dafür erforderlich sind, dass ein Verstoß gegen eine Mitteilungspflicht grundsätzlich zur Unanwendbarkeit einer dennoch erlassenen nationalen Rechtsvorschrift führt.

(3) Ergebnis Die Vorschriften, die die Pflicht der Mitgliedstaaten zur Anhörung der EZB begründen, sind unmittelbar anwendbar, falls keine Ausnahmesituation vorliegt und die nur im Einzelfall zu prüfende Zweckidentität gegeben ist. Einzelne können sich daher auf diese Vorschriften berufen. Ein Verstoß gegen die gemeinschaftsrechtliche Anhörungspflicht führt grundsätzlich zur Unanwendbarkeit der erlassenen Rechtsvorschrift. Diese Vorschrift darf Einzelnen von Behörden und Gerichten nicht entgegen gehalten werden. Vielmehr ist ihre Unanwendbarkeit von Amts wegen zu beachten. 68 Dieses Ergebnis entspricht wertungsmäßig der Nichtigkeit von Rechtsakten auf der Ebene der Gemeinschaft. Der EuGH hat diese Gemeinsamkeiten auch terminologisch verstärkt und einen Verstoß gegen Mitteilungspflichten der Mitgliedstaaten gegenüber der Ge___________ 67

Vgl. EZB (Fn. 2), S. 19 f. Im Ergebnis ebenso EZB (Fn. 2), S. 26; Selmayr (Fn. 25), S. 286; Zilioli / Selmayr (Fn. 25), S. 101, und wohl auch Smits, R., The European Central Bank, 1997, S. 213. 68

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Ulrich Häde

meinschaft als Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften bezeichnet.69 Damit weist er auf die Parallele zu der in Art. 230 Abs. 2 EGV geregelten Situation sehr deutlich hin. Als konkreten Anwendungsfall ist auf Art. 6 des deutschen Haushaltsbegleitgesetzes 200670 hinzuweisen. Die Vorschrift ändert das Bundesbankgesetz, also eine nationale Rechtsvorschrift, die sich auf eine nationale Zentralbank bezieht, die nach Art. 107 Abs. 1 EGV dem Europäischen System der Zentralbanken angehört. Nach Art. 105 Abs. 4, 2. Spstr. EGV i. V. m. Art. 2 Abs. 1, 3. Spstr. Entscheidung 415/98 wäre eine Anhörung der EZB erforderlich gewesen. Obwohl die EZB ihre Beteiligung verlangte, unterblieb die Anhörung.71 Rechtliche Folge ist die innerstaatliche Unanwendbarkeit von Art. 6 HBeglG 2006.

___________ 69

So EuGH, Slg. 1996, I-2201, Rn. 48; Slg. 2002, I-5031, Rn. 49. Vom 29.06.2006, BGBl. 2006 I, S. 1402 (1404). 71 Vgl. nur „Notenbank fühlt sich von Berlin übergangen“, in: Börsen-Zeitung vom 06.06.2006, S. 6; „Regierung wehrt sich gegen Kritik der EZB“, in: Financial Times Deutschland vom 06.06.2006, S. 23. 70

VII. Ausländisches öffentliches Recht

Gedanken über die Hochschulautonomie László Kiss Dr. Dr. h. c. mult. Dieter Blumenwitz ist eine herausragende Persönlichkeit nicht nur des deutschen, sondern auch des europäischen öffentlichen Rechts. Gerade deshalb ist die Würdigung seiner Arbeit für all jene eine Ehre und eine Pflicht, die ihn persönlich gekannt haben oder seine Schriften haben lesen können. Ich gehöre zu letzteren: Als Leser seiner Monographien und Lehrbücher verneige ich mich vor einem der herausragendsten deutschen ÖffentlichRechtler des 20. Jahrhunderts. Ein bedeutender Teil der Arbeiten von Prof. Blumenwitz befasste sich mit der Lehre und der Forschung an den Hochschulen. Daher ergab sich eine Untersuchung der Hochschulautonomie von selbst als Gegenstand meines Beitrags für seine Gedenkschrift 1 .

I. Theoretischer Ausgangspunkt 1. Zwischen Autonomien auf territorialer Basis (autonomen Gebietskörperschaften) und Autonomien für Institutionen (z. B. funktionale Autonomien) muss deutlich unterschieden werden. Dennoch gibt es Anforderungen, die für alle Typen von Autonomie gleichermaßen gelten. Hierzu gehören z. B. die innere Organisation und die Finanzierung. Prinzipielle Unterschiede sind in diesen Fragen nicht zu verzeichnen. Im Hinblick auf die grundlegenden Garantien liegt daher Übereinstimmung zwischen den Autonomietypen vor. Deshalb ist es trotz der Unterschiede sinnvoll, die kommunalen Selbstverwaltungen mit den institutionellen Autonomien und hier insbesondere mit der Autonomie der Hochschulen 2 auf einer allgemeinen Ebene zu vergleichen. ___________ 1

Nicht verschweigen möchte ich, dass mir bei dieser Wahl das Schicksal zur Hilfe gekommen ist, denn gerade zu diesem Thema habe ich zwei Sondervoten zu den Verfassungsgerichtsentscheidungen 41/2005. (X. 27.) AB und 39/2006. (IX. 27.) AB abgegeben. Der Inhalt dieses Beitrags baut auf diesen Sondervoten auf. Einen Überblick über die Entscheidungen, ihren Hintergrund und die Sondervoten bietet Küpper, H., Die Hochschulautonomie im Spiegel der jüngeren ungarischen Verfassungsrechtsprechung, in: Osteuropa Recht 2007, S. 55 ff. 2 Nach ungarischer Auffassung ist die Autonomie der Hochschulen keine Autonomie eines Personenverbands, sondern eine Selbstverwaltung, die der Institution Univer-

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Die kommunalen Selbstverwaltungen sind in der ungarischen Verfassung in einem eigenen Kapitel geregelt, das zu ihren Gunsten zahlreiche Garantien festlegt. Die Verletzung dieser Verfassungsbestimmungen durch Gesetz hat das ungarische Verfassungsgericht in mehreren Fällen „entschuldigt“ und die Verfassungsmäßigkeit der staatlichen Eingriffe betont. So stellte es aufgrund einer rein grammatischen Auslegung fest, dass das Gesetz 1990:LXV über die örtlichen Selbstverwaltungen in Bezug auf den Beamten der Komitatsselbstverwaltung von „Vizepräsident“ im Singular spricht, weshalb die Selbstverwaltung nur einen Vizepräsidenten wählen kann. Nach Ansicht des Verfassungsgerichts braucht der Staat bei der Festlegung einer kommunalen Pflichtaufgabe nicht für die in der Verfassung vorgeschriebenen „Finanzmittel im Verhältnis zur Erfüllung der Aufgabe“ zu sorgen, sondern es genügt, dass ein „komplexes System“ der Finanzierung eingerichtet wird. Schließlich haben wir, d. h. das Verfassungsgericht, als Maßstab der Verfassungswidrigkeit von Eingriffen in die kommunalen Selbstverwaltungsrechte das Kriterium der „Aushöhlung“ entwickelt und konsequent angewandt, wonach ein staatlicher Eingriff erst dann verfassungswidrig ist, wenn er „die Ausübung der kommunalen Rechte unmöglich macht“. In der Hochschulentscheidung 41/2005. (X. 27.) AB sehe ich einen anderen Maßstab. Mir scheint, dass hier aus den zwei kurzen einschlägigen §§ 70/F und 70/G der Verfassung ein wesentliches Mehr an Schutz destilliert wird als bei den örtlichen Selbstverwaltungen aus einem ganzen Verfassungskapitel. Das genannte Urteil lässt bereits jede „Berührung“ der Universitäten und Hochschulen als verfassungswidrig erscheinen. So kann der Träger der Hochschule diese noch nicht einmal zur Erfüllung ihrer gesetzlich vorgesehenen Pflichten auffordern. Den Grund sehe ich darin, dass die bisherigen hochschulbezogenen Urteile des ungarischen Verfassungsgerichts versuchen, diesen Institutionen eine praktisch vollständige Unabhängigkeit zu garantieren. Deshalb ist meiner Ansicht nach die Zeit gekommen, dass das Gericht unter diesem Gesichtspunkt seine bisherige Rechtsprechung überprüft und nötigenfalls davon Abstand nimmt. Diese Ansicht wurde von der Mehrheit des Gerichts nicht geteilt, und hieraus entspringt eine erste Abweichung zwischen meinen grundlegenden Standpunkten und denen des Gerichts. Diese Abweichung habe ich in meinen beiden Sondervoten dargelegt. 2. Die zweite Abweichung zeigt sich in der Auslegung der Anträge, die das Verfahren eingeleitet haben. Das Urteil basiert auf einer strikten Bindung an den Antrag. Ich hingegen vertrete – ausgehend von der allgemeinen verfas___________ sität übertragen wurde. Daher wird die Hochschulautonomie hier als institutionelle und nicht als Personalautonomie bezeichnet.

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sungsgerichtlichen Aufgabe des Verfassungsschutzes – die Ansicht, dass bei einem engen inhaltlichen Zusammenhang von angegriffenen und nicht angegriffenen gesetzlichen Bestimmungen der Antrag erweiternd ausgelegt und ggf. der nicht angegriffene Teil ebenfalls einer verfassungsgerichtlichen Prüfung unterzogen werden kann, soweit dies im Einzelfall berechtigt ist. Eine erweiternde Auslegung der Bindung an den Antrag war von Anfang an typisch für die Praxis des ungarischen Verfassungsgerichts. In der häufigsten Fallkonstellation hat das Verfassungsgericht unter Berufung auf einen „engen inhaltlichen und logischen Zusammenhang“ auch solche Regelungen einer Verfassungskontrolle unterzogen, die vom Antragsteller nicht angegriffen wurden 3 . Die einschlägige Rechtsprechung bietet ein buntes Bild. So ist es z. B. vorgekommen, dass das Verfassungsgericht unter Berufung auf einen engen inhaltlichen Zusammenhang eine für sich nicht verfassungswidrige Regelung aufgehoben hat. 4 In anderen Fällen erstreckte das Verfassungsgericht seine Prüfung wegen des engen Zusammenhangs über die angegriffene Norm hinaus auch auf deren Durchführungsvorschriften. 5 Dieses Streben nach der „vollständigen Aufdeckung des verfassungsrechtlichen Problems“ und die Rolle, die das Verfassungsgericht durch die in den zitierten Entscheidungen praktizierte erweiternde Auslegung übernimmt, stehen im Einklang mit der Funktion, die diesem Organ im System des ungarischen Verfassungsschutzes zukommt. Als „oberstes Organ des Verfassungsschutzes“, wie sich das Verfassungsgerichtsgesetz (fortan: VerfGG) 6 in seiner Präambel ausdrückt, versieht das Gericht den objektiven Verfassungsschutz. Hieraus entspringt die Möglichkeit, die eingehenden Anträge erweiternd auszulegen. In diesem Zusammenhang ist es – in Ermangelung einer ausdrücklichen Verbotsvorschrift in der Verfassung – sogar statthaft, dass es im Zeichen und im Interesse eines vollständigen Verfassungsschutzes unter Berufung auf einen engen Zusammenhang innerhalb der ihm gesetzlich zur Verfügung gestellten Verfahrensarten und unter Einhaltung der diesbezüglichen Vorschriften des VerfGG die Grenzen des Antragstextes überschreitet. So stellte es in der Entscheidung 48/1993. (VII. 2.) AB neben der Beurteilung des vom Präsidenten der Republik eingereichten Antrags auf präventive Normenkontrolle von Amts wegen eine

___________ 3

Verfassungsgerichtsentscheidungen 3/1992. (I. 23.) AB, ABH [offizielle Entscheidungssammlung des ungarischen Verfassungsgerichts] 1992, 329, 330; 29/1993. (V. 4.) AB, ABH 1993, 227, 229; 34/1992. (VI. 1.) AB, ABH 1992, 192, 193; 34/1994. (VI. 24.) AB, ABH 1994, 175, 180; 4/1998. (III. 1.) AB, ABH 1998, 72; 16/1998. (V. 8.) AB, ABH 1998, 153. 4 Verfassungsgerichtsentscheidung 797/B/1995. AB, ABH 1995, 812, 813. 5 Verfassungsgerichtsentscheidung 31/1995. (V. 25.) AB, ABH 1995, 159. 6 Gesetz 1989:XXXII über das Verfassungsgericht.

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Verfassungswidrigkeit durch legislatives Unterlassen fest 7 . In dieser Entscheidung formulierte das Gericht sogar die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Auslegung und Anwendung des der präventiven Normenkontrolle unterliegenden verabschiedeten, aber noch nicht verkündeten Gesetzes 8 . Das Verfassungsgericht handhabte mithin seine Kompetenzen aus dem VerfGG nicht starr, sondern „überschritt“ sie unter Berufung auf einen engen Zusammenhang recht frei und nahm dabei die Regelung einzelner Verfahrensarten im VerfGG als Grundlage. Auch vor der Verbindung von Anträgen auf präventive und nachträgliche Normenkontrolle schreckte das Gericht nicht zurück 9 . Es ist allerdings eine nicht zu leugnende Tatsache, dass das Verfassungsgericht in den letzten Jahren von dieser Praxis abgewichen ist. Insbesondere bei der präventiven Normenkontrolle hat sich die Rechtsprechung auf den Standpunkt einer strikten Bindung an den Antrag gestellt. Wie gesagt, stimme ich dem nicht unbedingt zu, und hier hat die erwähnte zweite Abweichung zwischen der grundlegenden Ansicht der Mehrheitsentscheidung und meiner Ansicht in Bezug auf die zu entscheidende Sache ihren Ursprung. 3. Gegenstand der präventiven Normenkontrolle bildete 2005 das verabschiedete, aber noch nicht verkündete Gesetz über die Hochschulen (fortan: neuHochschG). Gemäß dessen § 23 Abs. 1 sollten Hochschulen in staatlicher Trägerschaft verpflichtet sein, einen Leitungsrat einzurichten. Daher brauchte das Verfassungsgericht bei seiner Prüfung des Normenkontrollantrags keine Stellung zu Universitäten in der Trägerschaft von Kirchen, Privaten oder Stiftungen zu nehmen. Diese konnten nach dieser Vorschrift einen Leitungsrat einrichten, mussten es aber nicht. Natürlich wird sich das Verfassungsgericht, falls es in Zukunft Normenkontrollanträge in Bezug auf die nicht staatlichen Universitäten geben wird, bei seiner Rechtsprechung auf die Grundlagen der bereits entschiedenen Sachen zu den staatlich getragenen Hochschulen stützen. Die Notwendigkeit einer vergleichenden Betrachtung von Eingriffen des Trägers bei den unterschiedlich gegründeten und unterhaltenen Hochschulen ergibt sich aus § 70/G Verf., der im Hinblick auf die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung nicht zwischen den Typen der Hochschulen differenziert. Dies ist der dritte Grund, warum mein Standpunkt von dem der Mehrheitsentscheidung abweicht. Nachdem ich dies vorangeschickt habe, werde ich meinen Standpunkt nunmehr vorstellen. ___________ 7

ABH 1993, 314, 319. Gegenstand des Verfahrens war § 14 Abs. 2 des Gesetzes 1986:II über die Presse. 8 ABH 1993, 314, 318. 9 Verfassungsgerichtsentscheidung 66/1997. (XII. 29.) AB, ABH 1997, 398.

Gedanken über die Hochschulautonomie

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II. Die Säulen der Autonomie (Selbstverwaltung) Um als autonom gelten zu können, muss ein Rechtsträger – und insbesondere eine Universität – meiner Ansicht nach über die folgenden gesetzlichen Garantien verfügen. 1. Der Rechtsträger muss eine Rechtspersönlichkeit haben. Das bedeutet, dass er selbstständig in Rechtsverhältnisse eintreten kann, dass er gesetzlich garantierte Rechte hat und gemäß eigenem Willen Verpflichtungen eingehen kann. Das setzt voraus, dass er auch über das in Punkt 4. erwähnte eigene Vermögen verfügt. 2. Der Rechtsträger muss über eigene Kompetenzen verfügen und diese selbstständig ausüben können. Eine Rechtsaufsicht steht dem nicht entgegen, aber es muss das Verbot des Kompetenzentzugs gelten. Das bedeutet zum einen, dass sich kein anderer Rechtsträger und keine andere Behörde die der Selbstverwaltung gesetzlich übertragenen Kompetenzen aneignen dürfen (positives Verbot des Kompetenzentzugs). Zum anderen bedeutet dies, dass die Selbstverwaltung zur Wahrnehmung des ihr überlassenen Kompetenzbereichs in der Sache in der Lage und damit auch in dieser Hinsicht „geschützt“ ist (negatives Verbot des Kompetenzentzugs). 3. Seine innere Organisation und Geschäftsordnung muss der autonome Rechtsträger – allerdings in dem gesetzlich gezogenen Rahmen – selbst bestimmen können. Auch in Personalsachen muss er frei entscheiden können. Die Autonomie – unabhängig davon, ob sie als Gebiets- und/oder Personalautonomie ausgestaltet ist – wird vom Gesetz verliehen, und daher kann das Gesetz sie auch beschränken. Das Gesetz darf allerdings die Verfassung nicht verletzen. Der Vorbehalt und Vorrang des Gesetzes schließen allerdings nicht aus, dass auch eine an eine eindeutige gesetzliche Grundlage gebundene Verordnung Selbstverwaltung gewähren kann. In dieser Frage kommt es auf die Präzision, aber auch auf die Qualität der Delegierung an. 4. Der Rechtsträger muss wirtschaftlich selbstständig sein und über ein eigenes Vermögen verfügen. Das bedeutet, dass ihm frei verfügbare Geldmittel zur Verfügung stehen müssen, über deren Verwendung er selbst ohne jede staatliche Einflussnahme und Einwirkung frei entscheiden kann. Das alles setzt eigene Einnahmen in einer spürbaren Größenordnung voraus. Einrichtungen, die ausschließlich oder überwiegend aus staatlichen Geldzuweisungen finanziert werden, haben eine „Scheinautonomie“ oder hängen doch zumindest existenziell davon ab, dass der Finanzier ihre Erwartungen erfüllt. Von anderen stammende Finanzmittel ermöglichen keine unbegrenzte Autonomie, und wenn sie dennoch besteht, kann sie nur scheinbar sein. Auf jeden Fall hängt es in einem solchen Modell vom Zuwendungsgeber ab, wo und wie lange er Autonomie gewährt und wo er die Grenzen seiner Einwirkungsmöglichkeiten zieht.

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Natürlich kann er durch Selbstbeschränkung auf Einwirkungen verzichten, und schließlich können die Verfassung oder ein Gesetz die Selbstständigkeit des staatlich unterhaltenen Rechtsträgers garantieren. 5. Dem Rechtsträger muss das Recht auf eine eigenständige interne Rechtsetzung zustehen. Das umfasst neben der in Punkt 3 erwähnten Organisationsund Geschäftsordnungshoheit auch – im Rahmen der Gesetze – die Regelung des Verhaltens, der Rechte und der Pflichten der dem Rechtsträger zugehörigen Personen.

III. Die Autonomie der Hochschulen (im Lichte des zuvor Ausgeführten) 1. Das neuHochschG gewährt ebenso wie die Vorläuferregelung den Hochschulen Rechtspersönlichkeit. Von dieser Seite ist daher garantiert, dass die Hochschulen als Selbstverwaltung (autonome Einrichtung) funktionieren können. 2. Bei der Prüfung, ob das Verbot des Kompetenzentzugs gilt, müssen auf jeden Fall die Vorschriften in §§ 70/F und 70/G der Verfassung beachtet werden. Diese lauten: § 70/F. (1) Die Republik Ungarn gewährleistet den Staatsbürgern das Recht auf Bildung. (2) Die Republik Ungarn verwirklicht dieses Recht, indem sie die öffentliche Bildung ausweitet und allgemein zugänglich macht, durch die kostenlose und obligatorische Volksschule, durch einen für jedermann auf der Grundlage seiner Fähigkeiten zugänglichen Ober- und Hochschulunterricht, weiterhin durch die materielle Unterstützung der am Unterricht Teilnehmenden. § 70/G. (1) Die Republik Ungarn respektiert und unterstützt die Freiheit des wissenschaftlichen und künstlerischen Lebens, die Lehr- und Lernfreiheit 10 und die Freiheit des Unterrichtens. (2) In Fragen wissenschaftlicher Wahrheiten zu entscheiden und den wissenschaftlichen Wert von Forschungen festzustellen sind ausschließlich diejenigen berechtigt, die Wissenschaft betreiben.

Die zitierten Verfassungsvorschriften verpflichten den Normgeber, bei der Regelung der Hochschulen ihre Vorgaben zu beachten. Diese beinhalten, ___________ 10 Der ungarische Ausdruck „tanszabadság“ umfasst zum einen die Freiheit des Lehrers, sich Schüler und Inhalte auszusuchen, zum anderen die Freiheit des Lernenden, sich Lehrer, lehrende Institution und Lerninhalte auszusuchen. Daher muss der einheitliche ungarische Ausdruck „tanszabadság“ im Deutschen mit dem Doppelbegriff „Lehrund Lernfreiheit“ wiedergegeben werden.

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a) dass die Rechtsverhältnisse der Hochschulen auf möglichst wenig Ebenen geregelt werden. Im Fokus der Verfassung steht die Regelung durch Gesetz. Das bedeutet allerdings nicht, wie bereits ausgeführt, dass die Autonomie ausschließlich durch eine Regelung im Gesetzesrang garantiert werden kann. Die Autonomie hängt nämlich nicht von der Regelungsebene ab, sondern von der Delegierung der Regelungskompetenz und dem Ausbau eines Systems von Garantien. Dieses muss allerdings im Wesentlichen auf Gesetz oder strengen gesetzlichen Vorgaben beruhen; b) dass kein Normgeber, weder das Parlament noch die Regierung noch der zuständige Minister, die Garantien des § 70/G Verf. einschränken kann. Konkret heißt das, dass auf keiner Regelungsebene Vorschriften erlassen werden können, die den Wesensgehalt (den Kern) von § 70/G Verf. verletzen. Die Kompetenzvorschriften müssen bei der Regelung der Aufgaben und Zuständigkeiten der Hochschule die reale Möglichkeit einräumen, ihren verfassungsrechtlichen Aufgaben zu genügen. Das schließt die Verwirklichung des in § 70/F Abs. 2 gewährten Rechts ein. Hieraus ergibt sich, dass es durchaus von Bedeutung ist, auf welche Weise die Vorgaben in § 70/G Verf. durch die Regelung umgesetzt werden, etwa als Anhörungs-, Vorschlags- oder Zustimmungsrechte. Sofern die Hochschule über ein substanzielles Mitwirkungsrecht verfügt, können staatliche Einwirkungen – etwa in Gestalt von Entscheidungs- oder bloßen Beteiligungsrechten – statthaft sein und jedenfalls aus verfassungsrechtlicher Sicht Bestand haben. 3. Unabhängig von einer ausdrücklichen hochschulbezogenen Regelung können diese ihre Organisations- und Geschäftsordnungshoheit nur im Rahmen des Gesetzes ausüben. Das bedeutet konkret: a) Gemäß § 70/G Verf. ist eine wesentliche Grundvoraussetzung für ein selbstständiges Wirken der Hochschulen deren Recht, eigene Organe und Einrichtungen zu schaffen. Daher gehört dieses Recht zum Kern der „Autonomie“, und als solches wird es bei uns in Ungarn im Wesentlichen durch Gesetz normiert. Das gilt für die Gründung, für die Umgestaltung und für die Schließung von Organen und Einrichtungen. Dieses Kriterium enthält weiterhin die – seit Jahrzehnten geltende und spürbare – Erwartung, dass eine Einrichtung, die der Gesetzgeber geschaffen hat, nur durch den Gesetzgeber reorganisiert oder geschlossen werden kann. Es ist jedoch wichtig zu bemerken, dass eine derartige Entscheidung des Trägers, die auf einer Ermächtigung des Gründers, d. h. des Parlaments, beruht, nicht unbedingt als verfassungswidrig einzustufen ist, soweit der Gesetzgeber die Kriterien und Bedingungen für eine Reorganisation oder Schließung klar und eindeutig festlegt. Dann kann auch der „Träger“ unter Berücksichtigung der durch den Staat als Gründer vorgegebenen Kriterien in dessen Namen und gemäß der gesetzlichen Ermächtigung vorgehen. Die Lösung, die in solchen Fällen die Rechte des Gründers und die des Trägers (ein-

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schließlich des Rechts zur Umorganisation und Schließung) voneinander trennt, ist also nicht ohne Weiteres verfassungswidrig. Diese Lösung wählt auch das neuHochschG. Die Entscheidung über die Schließung ist in diesem Fall keine im freien Ermessen des Trägers stehende Entscheidung, sondern die Durchsetzung des Willens des Gründers. Es sei nochmals nachdrücklich darauf hingewiesen, dass die Rechte des Gründers und des Trägers z. B. im Hinblick auf die Schließung nur dann verfassungsrechtlich unbedenklich voneinander getrennt werden können, wenn die Entscheidungen des Trägers eindeutig auf den Willen des Gründers zurückgeführt werden können. Ich betone dies deshalb, weil so gesehen eine ungarische Hochschule auch dann autonom sein könnte, wenn sie nicht vom Parlament gegründet, umorganisiert und geschlossen würde. Zahlreiche ausländische Beispiele zeigen, dass diese Entscheidungen auch in der Zuständigkeit z. B. der Regierung liegen können. Die erwähnte Entscheidung des ungarischen Verfassungsgerichts von 2005 verneint die Verfassungsmäßigkeit einer Verordnung, die die Autonomie der Hochschulen einschränkt. Dies verstößt gegen den Standpunkt des Gerichts in einer früheren Entscheidung, die in dieser Frage eindeutig feststellt: „... die institutionelle Autonomie ist nicht schrankenlos und kann durch Gesetz oder durch eine aufgrund eines Gesetzes erlassene andere Rechtsvorschrift im öffentlichen Interesse – beispielsweise im Interesse der Vereinheitlichung der Hochschulbildung oder der Sicherstellung der Grundvoraussetzungen, die zur Verleihung eines Abschlusses vorliegen müssen – einschränkt werden und wird auch eingeschränkt“ 11 . Der Gründer kann – unter Berufung auf das öffentliche Interesse – nach freiem Ermessen Hochschulen errichten und schließen. Dem Träger hingegen steht kein derart unbestimmtes Recht auf Schließung zu, sondern er kann eine Schließung nur in den ausdrücklich normierten Fällen, im Namen und in Vertretung des Staates und aufgrund dessen ausdrücklicher, durch Gesetz gegebener Ermächtigung anordnen. Bei der Aus- und Umformung der bereits nach freiem Ermessen gegründeten oder errichteten Einrichtungen ist der Staat als Gründer hingegen an die Verfassung gebunden, denn eine gesetzlich durchgeführte Ausformung kann die Bestimmungen der §§ 70/F und 70/G Verf. nicht verletzen. Tatsächlich entsteht dadurch eine Lage, in der der Staat als Gründer zwar im Hinblick auf die wirklich einschneidenden Befugnisse, nämlich die Gründung und Schließung einer Einrichtung, rechtlich frei ist, aber bei begrenzteren Kompetenzen wie der Reorganisation und Ausformung den Beschränkungen durch §§ 70/F und 70/G Verf. unterliegt. Der Gesetzgeber hat daher das Recht, auch die Grundelemente der inneren Struktur der Hochschulen zu normieren. Das bedeutet, dass eine derartige staat___________ 11

Verfassungsgerichtsentscheidung 870/B/1997. AB, ABH 1999, 611, 613.

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liche Einwirkung nicht als Verletzung der institutionellen Autonomie aufgefasst werden kann 12 . b) Die Frage nach der institutionellen Autonomie der Hochschulen und ihrer Tätigkeit beinhaltet auch, welche Kompetenzen die Regierung und die Minister im Hinblick auf die Hochschulen haben. Die Verfassung enthält mehrere diesbezügliche Vorschriften: „§ 35. (1) Die Regierung f) bestimmt die staatlichen Aufgaben der wissenschaftlichen und kulturellen Entwicklung und gewährleistet die zu deren Verwirklichung notwendigen Voraussetzungen; (...) § 37. (2) Die Minister führen entsprechend den Bestimmungen der Rechtsvorschriften und den Beschlüssen der Regierung die in ihren Aufgabenbereich gehörenden Zweige der Staatsverwaltung und leiten die ihnen nachgeordneten Organe. (...)“

Sowohl die Regierung als auch die Minister können ihre genannten Kompetenzen nur so ausüben, dass sie dadurch nicht die aus § 70/G Verf. folgende institutionelle Autonomie verletzen. Andererseits enthalten die zitierten Verfassungsbestimmungen Verpflichtungen für die Regierung ebenso wie für den zuständigen Minister, denen diese genügen müssen. Wenn sie diese Verpflichtungen nicht erfüllen, verstoßen sie gegen die Verfassung. Die Regierung bestimmt die staatlichen Aufgaben der wissenschaftlichen und kulturellen Entwicklung und ist verpflichtet, die zu deren Verwirklichung notwendigen Voraussetzungen zu gewährleisten. Sie verbleibt daher so lange innerhalb ihrer verfassungsmäßigen Zuständigkeiten, wie sie bei der Ausübung ihrer Kompetenzen nicht § 70/G Verf. verletzt. Zugleich ist es ihre Pflicht, ihre verfassungsmäßigen Zuständigkeiten innerhalb dieses Rahmens und innerhalb dieser Schranken – d. h. des § 70/G Verf. – auszuüben. Der zuständige Minister kann i. S. v. § 37 Abs. 2 Verf. den in seinen Bereich gehörenden Zweig der Staatsverwaltung nur so führen und die ihm nachgeordneten Behörden nur dann leiten, wenn er über die geeigneten Instrumente verfügt. Im Hinblick auf die Hochschulen beschränken die Bestimmungen in § 70/G Verf. die Ausübung der ministeriellen Kompetenzen. Sie weisen nämlich dem Gesetzgeber die Hauptrolle bei der Schaffung eines Systems von Garantien für die Hochschulautonomie zu, wie oben unter Punkt a) bereits näher ausgeführt wurde. 4. Die wirtschaftliche Selbstständigkeit ist ein wesentliches Element einer institutionellen Autonomie. Hierbei ist es wichtig zu betonen, dass die durch den Antrag an das Verfassungsgericht im Jahre 2005 betroffenen Universitäten und Hochschulen staatliche Einrichtungen sind, bei denen dem Staat als Grün___________ 12

Verfassungsgerichtsentscheidung 870/B/1997. AB, ABH 1999, 611, 613.

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der, Träger und Finanzier Kompetenzen zustehen (können), die die Ausgestaltung und den Betrieb der Hochschulen ändern und formen können. Wenn dies nicht der Fall wäre, wäre der Staat auf die Stellung eines „Bürgen“ für die Wirtschaftsführung der Hochschulen beschränkt. Hieraus ergeben sich mehrere Schlussfolgerungen: a) Der Staat hat das Recht und zugleich die Pflicht, auf die Funktionsfähigkeit des Hochschulsystems hinzuwirken. Um dies zu erreichen, ist es für sich genommen nicht verfassungswidrig, wenn der Staat eine neue Organisation schafft, die effizienter als die bisherige erscheint. Im vorliegenden Fall war dies die Einführung eines neuen Universitätsorgans, des Leitungsrats. Der Staat hat jedoch die Pflicht, neue Organisationselemente so in das organisatorische System der Hochschulen einzupassen, dass er damit nicht §§ 70/F und 70/G Verf. verletzt. Anmerkungsweise sei hinzu gefügt, dass der sog. Leitungsrat keine Zuständigkeiten in der „Leitung“, sondern in der „Führung“ erhalten hat. Mein Eindruck ist, dass das ungarische Verfassungsgericht 2005 zu streng war, denn es hielt bereits die bloße Existenz des Leitungsrates für verfassungswidrig. Aus dem Vorangehenden folgt daher, dass der Staat die institutionellen Konsequenzen daraus ziehen kann, dass das ungarische Hochschulwesen bislang von einer Verwaltung geprägt ist, die auf dem Grundprinzip der Kollegialität basiert und mehrheitlich von in Fragen des Managements unbedarften Laien geführt wird. An dieser negativen Einschätzung konnte und kann die Einführung weder der Gesellschaftlichen Räte noch der Generaldirektoren für Wirtschaftsfragen und der Universitätskanzler in das Hochschulverwaltungssystem spürbar etwas ändern. Staatliche Konsequenzen hieraus kann beispielsweise die Einführung eines neuen, bislang unbekannten Organtyps sein. Im Zuge dieser organisatorischen Modernisierung halte ich die Tatsache, dass die Mitglieder des neuen Organs, des Leitungsrats, nicht mit der Hochschule in einem Dienstverhältnis stehen und nicht unbedingt über einen Hochschulabschluss verfügen müssen, nicht für besonders bedeutend. In dieser Hinsicht teile ich die Ansicht der deutschen Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, wonach es „nicht zu beanstanden ist, dass keine besonderen Ausbildungsanforderungen an die Mitglieder des Landeshochschulrats geregelt sind“. Mutatis mutandis ist die Lage im Falle der Bestimmungen des neuHochschG, wonach die Mehrheit der Mitglieder des Leitungsrates von den Hochschulen gewählt wird. Das deutsche Verfassungsgericht hat sich in seiner Entscheidung vom 26. Oktober 2004 13 ebenfalls zu derartigen Einrichtungen geäußert: „Die zur ___________ 13

licht).

BVerfG vom 26.10.2004, 1 BvR 911/00 (nicht in amtlicher Sammlung veröffent-

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Sicherung der Wissenschaftsadäquanz von hochschulorganisatorischen Entscheidungen gebotene Teilhabe der wissenschaftlich Tätigen muss nicht in jedem Fall im Sinne der herkömmlichen Selbstverwaltung erfolgen. Auch hochschulexterne Institutionen können dazu beitragen, einerseits staatliche Steuerung wissenschaftsfreiheitssichernd zu begrenzen und andererseits der Gefahr der Verfestigung von status quo-Interessen bei reiner Selbstverwaltung zu begegnen“. Des Weiteren betonte das Gericht: „Er [gemeint ist der Gesetzgeber; L. K.] ist dabei weder an überkommene hochschulorganisatorische Strukturen noch an deren einzelne Elemente gebunden. Der Gesetzgeber darf nicht nur neue Modelle und Steuerungstechniken entwickeln und erproben (vgl. BVerfGE 47, 327 [404]: ‚Wissenschaftsmanagement‘), vielmehr ist er sogar verpflichtet, bisherige Organisationsformen kritisch zu beobachten und zeitgemäß zu reformieren (vgl. BVerfGE 35, 79 [117])“. Ob ein neues Organ verfassungsgemäß oder verfassungswidrig ist, wird nicht durch seine bloße Existenz entschieden, sondern dadurch, ob die ihm übertragenen Kompetenzen die Ausübung der verfassungsrechtlich garantierten Funktionen der Kollegialorgane des autonomen Organs unmöglich macht. Eine Antwort auf diese Frage kann nur die satzweise Analyse der durch den Antrag angegriffenen Bestimmungen geben. b) Der Staat ist als Träger und Finanzier berechtigt, bei der Hochschule „Bestellungen“ zu tätigen. Dementsprechend ist es nicht verfassungswidrig, wenn der Staat z. B. zeitweise die anwendungsorientierte Forschung präferiert und dabei vorübergehend die Grundlagenforschung weniger honoriert. Dem Staat stehen das Recht und die Möglichkeit zur Gestaltung derartiger Zuwendungssysteme zu. Das verletzt für sich gesehen noch nicht die Freiheit der Wissenschaft. c) Der Staat kann zudem nur zweckdienliche und mit der Erfüllung seiner öffentlichen Aufgaben in engem Zusammenhang stehende Forschungen unterstützen. Wenn dies nicht der Fall wäre, müsste er unter Berufung auf die Freiheit der Wissenschaft auch Hobbyforschungen sklavisch bis ans Ende aller Zeiten unterstützen. d) Auch die grundlegende Ordnung der Ausbildung darf der Staat regeln. Als gesetzlich festgelegter Träger kann er auch differenzieren, welche Ausbildungen er unterstützt oder gar präferiert und um welche er sich nicht kümmert, sondern den Hochschulen und deren Finanzierungsmöglichkeiten überlässt. Die Ausübung dieser Kompetenz eines Trägers verletzt nicht § 70/F Verf., sondern stellt im Gegenteil geradezu eine aus dieser Vorschrift fließende Pflicht dar. In den Hochschulen müssen einerseits die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung, die Lehr- und Lernfreiheit sowie die Freiheit des Unterrichtens und andererseits das Recht der Bürger auf Bildung und die Voraussetzungen zur Verwirklichung dieses Rechts garantiert werden. Gemäß § 70/F

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Abs. 2 Verf. ist den Bürgern je nach Befähigung die Teilnahme am Hochschulunterricht zu ermöglichen. Hieraus folgt die Pflicht des Staates, ein § 70/F Abs. 2 Verf. entsprechendes Hochschulsystem zu betreiben, und das bedeutet dessen materielle und sonstige Voraussetzungen sicher zu stellen. Zugleich erwächst dem Staat hieraus das Recht, den Betrieb der Hochschulen auszugestalten. In diesem Zusammenhang verfügen die Hochschulen nicht über eine vollständige Autonomie, denn in dem Maße und auf die Weise, wie es zur Verwirklichung des Rechts auf Bildung notwendig ist, kann der Staat in den Aufbau, die Organisation, den Betrieb und die Ausbildungsstruktur der Hochschulen eingreifen.

IV. Die Beantwortung des Antrags an das Verfassungsgericht Aufgrund der vorangegangenen Ausführungen kann man die folgenden Schlüsse wagen. 1. § 25 Abs. 1 neuHochschG ist verfassungswidrig, denn er räumt dem Leitungsrat das Recht zur Entscheidung von Angelegenheiten ein, die wesentlich für die institutionelle Autonomie der Hochschulen sind. Diese Vorschrift beraubt damit – wenn man sie zusammen mit § 5 Abs. 3 neuHochschG auslegt – die Hochschulen der Möglichkeit eines autonomen Betriebs und damit der freien wissenschaftlichen Tätigkeit, weil sie ihnen in Fragen, in denen nur ein Entscheidungsrecht der Hochschule selbst mit § 70/G in Einklang stünde, noch nicht einmal ein Konsultationsrecht gewährt. Nicht die Existenz des Leitungsrats, der wegen seiner Zusammensetzung kein Organ der Hochschulautonomie ist, verletzt die Verfassung, sondern seine dergestalt normierten Zuständigkeiten. 2. Verfassungswidrig ist zudem § 25 Abs. 2 Buchst. fg) neuHochschG, weil nach seiner Konzeption der Leitungsrat „souverän“ und ausschließlich in Angelegenheiten entscheidet, welche ihrem Inhalt zufolge den „Kern“ der institutionellen Autonomie bilden: das Recht zur Reorganisation und Schließung organisatorischer Einheiten der Hochschule. Es sei noch einmal betont: Die Mitwirkung – des Leitungsrats oder einer anderen staatlichen Stelle – an einer solchen Entscheidung durch Konsultation oder Vorschläge wäre nicht verfassungswidrig, weil der Staat zur Sicherstellung der Funktionsfähigkeit das Recht hat, auch neue Organe zu schaffen. Auch hier liegen die verfassungsrechtlichen Bedenken nicht in der Existenz des Organs, sondern in seinen Befugnissen. Es sei angemerkt, dass auch § 25 Abs. 3 neuHochschG in die Verfassungsprüfung einbezogen werden muss. Der gesamte Absatz ist verfassungswidrig, weil er Zuständigkeiten aus dem Kreis der Hochschulautonomie praktisch dem

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Senat entzieht und dem Leitungsrat überträgt. Genauso ist § 20 Abs. 1 neuHochschG berührt. Auch diese Vorschrift wird im Normenkontrollantrag nicht ausdrücklich genannt, kann aber nicht aus der Verfassungsprüfung ausgespart bleiben. An dieser Stelle kommen die obigen Ausführungen zur Bindung des Verfassungsgerichts an den Antrag ins Spiel. Das Verfassungsgericht, das sich auf den Standpunkt einer strengen Bindung an den Antrag stellt, prüft § 20 Abs. 1 und § 25 Abs. 3 neuHochschG nicht. Das hat jedoch zur Folge, dass das Verfassungsgericht zwar § 25 Abs. 2 Buchst. fg) für verfassungswidrig erklärt, hingegen § 20 Abs. 1 als „verfassungsmäßig“ in Geltung belässt, der lautet: „Der Leitungsrat ist das Organ der Hochschule, das strategische Entscheidungen trifft und deren Ausführung kontrolliert.“ Weiterhin schreibt § 25 Abs. 3 neuHochschG vor: „Der Leitungsrat bestimmt [sic!] die organisatorische Gliederung der Hochschule. Der Leitungsrat holt vor seiner Entscheidung die Stellungnahme des Senats ein. Der Senat kann seine Stellungnahme innerhalb von dreißig Tagen ab dem Ersuchen des Leitungsrats abgeben. Die Frist ist eine Ausschlussfrist. Der Senat bestimmt auf der Grundlage der Entscheidung des Leitungsrats [sic!] – in der Grundsatzung – die Betriebsordnung der Hochschule.“ Macht es Sinn, dass das Verfassungsgericht nur § 25 Abs. 2 neuHochschG aufgehoben hat? Meiner Ansicht nach nicht. 3. Die Bestimmungen in § 32 Abs. 11 Buchst. c) neuHochschG, wonach die Regierung die Voraussetzungen zum Erwerb eines Doktortitels und die Verfahrensordnung zur Gründung einer Doktorschule festlegt, sind nicht gänzlich verfassungswidrig. Wenn wir diese Vorschrift für verfassungswidrig erklären, berauben wir die Regierung der Möglichkeit, ihre Pflicht aus § 35 Abs. 1 Verf. zu erfüllen. Daher steht die Regelung im Einklang mit dem verfassungsrechtlichen Aufgabenbereich der Regierung. Andersherum argumentiert: Wenn man der Regierung die in § 32 Abs. 11 Buchst. c) neuHochschG zugesprochene Kompetenz verweigert, welches Mittel bleibt ihr dann noch zur Erfüllung ihrer Pflicht aus § 35 Abs. 1 Buchst. f) Verf.? Warum kann diese Kompetenz des neuHochschG nicht unter die Formulierung subsumiert werden, dass die Regierung „die staatlichen Aufgaben der wissenschaftlichen und kulturellen Entwicklung bestimmt und die zu deren Verwirklichung notwendigen Voraussetzungen gewährleistet“? Zugegebenermaßen kann die Formulierung des neuHochschG, dass „die Regierung die zu den einzelnen Wissenschaftsgebieten gehörenden Wissenschaftszweige, in denen eine Doktorausbildung stattfindet, festlegt“, verfassungsrechtlich auch anders beurteilt werden. In dieser Hinsicht ist dem Parlament ein Mitwirkungsrecht in der Sache zuzubilligen, welches allerdings nicht unbedingt durch den Erlass einer Regelung im Gesetzesrang ausgeübt werden muss. 4. Die Mehrheitsentscheidung hat § 37 Abs. 4 neuHochschG aufgehoben. Meiner Ansicht nach sind nicht sämtliche Einzelheiten dieser Regelung verfas-

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sungswidrig. Zunächst sei festgestellt, dass die Formulierung „– über die Bestimmungen in Abs. 1 hinaus –“ im Einleitungssatz des § 37 Abs. 4 neuHochschG darauf hinweist, dass der Träger auch in den Fällen des Abs. 1 die Hochschule „schließen“ kann. Hier vermischt sich die „Streichung“ mit der „Schließung“. Meiner Ansicht nach ist in § 37 Abs. 1 keine Rede von einer Schließung durch den Träger; eine solche ist eher in § 37 Abs. 2 geregelt. Auf diese geht das Verfassungsgericht allerdings wegen der engen Auslegung des Antrags nicht ein. Die differenzierte Prüfung der Vorschriften in den einzelnen Buchstaben von § 37 Abs. 4 führt zu folgendem Ergebnis: a) § 37 Abs. 4 Buchst. a): Hier liegt der Grund, eine Verfassungswidrigkeit festzustellen, in der übereilten und nicht ausreichend durchdachten Regelung oder genauer: deren Sprachgebrauch. Der Träger kann nämlich in dem in Buchst. a) geregelten Fall gleich die gesamte Hochschule schließen und nicht bloß die Fächer, die beispielsweise über Jahre hinweg zu geringe Bewerberzahlen aufweisen. Wenn in der Norm nur der letztgenannte Fall erfasst wäre, dann wäre sie meiner Ansicht nach nicht verfassungswidrig. b) § 37 Abs. 4 Buchst. b): Hier ist eine Abwägung nötig, die auf der Grundlage einer mit Tatsachen untermauerten Vorlage des Trägers durchzuführen der Gründer ein Recht hat. Deshalb halte ich eine Schließung aus diesem Grund durch den Träger für verfassungswidrig. Wenn dies nicht so wäre, könnte der Träger nach seinem Ermessen in der Frage der Schließung entscheiden, die einer der wesentlichen Faktoren der Hochschulautonomie ist. c) § 37 Abs. 4 Buchst. c): Die vom Gesetzgeber verwendeten Begriffe der „Anforderungen einer vernünftigen und sparsamen Wirtschaftsführung“ sind nur scheinbar unbestimmt. Das Gesetz bestimmt nämlich selbst, was damit gemeint ist, denn die genannten Anforderungen sind verletzt, wenn „deswegen der Haushalt überschritten wird und der ... Schuldenstand über mehr als ein Haushaltsjahr zwanzig Prozent des jährlichen Haushalts übersteigt“. Daher sind die Anforderungen nicht unbestimmt, sondern der Gesetzgeber definiert ganz im Gegenteil selbst, was er darunter versteht. Hinzugefügt sei, dass wir wegen der Unbestimmtheit ihrer Begriffe eigentlich Dutzende weiterer Rechtsvorschriften für verfassungswidrig erklären müssten. Meist entstehen durch die Praxis gewisse Anhaltspunkte für deren Inhalt; diese legen die Rechtsanwender wie z. B. der Rechnungshof ihrer Tätigkeit zu Grunde. Im vorliegenden Fall halte ich die Feststellung der Mehrheitsentscheidung, dass „der Inhalt der vernünftigen und sparsamen Wirtschaftsführung praktisch unbestimmbar“ sei, für nicht haltbar, denn der Gesetzgeber bestimmt deren näheren Inhalt. Im gegebenen Fall besteht für den Rechtsanwender kein freies Ermessen, sondern seine Vorgehensweise ist an tatsächliche Voraussetzungen geknüpft: an die Überschreitung des Haushalts und an die Höhe des Schuldenstands über einen defi-

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nierten Zeitraum hinweg. Zu betonen ist, dass ein solcher Schuldenstand ohne eigenes Verschulden entstanden sein muss. d) § 37 Abs. 4 Buchst. d) neuHochschG halte ich für verfassungswidrig, weil sein Text suggeriert, dass auch der Träger eine Hochschule schaffen kann: „Der Träger kann die Hochschule – über die Bestimmungen in Abs. 1 hinaus – in den folgenden Fällen schließen: d) wenn er an Stelle der bestehenden Hochschule ein oder mehrere andere Hochschulen schafft.“

e) § 37 Abs. 4 Buchst. e) ist ebenfalls verfassungswidrig. Hier ist die praktisch auf freiem Ermessen beruhende Entscheidung des Trägers über die Schließung unvereinbar mit den zu schützenden Interessen und Werten, d. h. mit der Hochschulautonomie. Der Mangel an „Voraussetzungen, die für die fortlaufende Tätigkeit notwendig sind“, muss von dem Träger in einer auf Tatsachen beruhenden Vorlage glaubhaft gemacht werden. Die daraus folgende Entscheidung darf nur der Gründer treffen dürfen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass § 37 Abs. 4 Buchst. c) neuHochschG, auf den sich § 115 Abs. 3 neuHochschG beruft, nicht verfassungswidrig ist. Wenn wir § 37 Abs. 4 neuHochschG in seiner Gänze betrachten, dann stimme ich der Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Buchstaben a), b), d) und e) zu. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang, dass die Mehrheitsentscheidung über diese Buchstaben hinausgeht. Wegen des inhaltlichen und logischen Zusammenhangs hätte sie dies auch in Bezug auf § 20 Abs. 1, § 25 Abs. 3 und § 37 Abs. 2 neuHochschG tun müssen. 5. Die Vorschrift des § 115 Abs. 3 Satz 1 neuHochschG ist meiner Ansicht nach nicht verfassungswidrig. Sollte dem Träger, der für die Schulden der Hochschule einstehen muss, noch nicht einmal eine „Aufforderung“ möglich sein? Für die Gewährung des Rechts und der Möglichkeit des Trägers zu einer Aufforderung sprechen zwei Argumente. Die erste Möglichkeit besteht darin, dass ein Maßnahmeplan die Probleme löst. Dann ist es offensichtlich, dass weitere Maßnahmen nicht notwendig sind. Die zweite Möglichkeit hingegen geht davon aus, dass ein Maßnahmeplan die Probleme nicht löst. Dann begründet diese „Aufforderung“ die Notwendigkeit von Maßnahmen seitens des Gründers. Auch § 115 Abs. 3 Satz 2 neuHochschG würde ich nicht ohne Weiteres für verfassungswidrig halten. Wenn wir, wie soeben geschehen, den Spielraum des Trägers gemäß § 37 Abs. 4 Buchst. c) für genau bestimmt halten, können wir den darauf aufbauenden zweiten Satz als Selbstbeschränkung des Gesetzgebers betrachten, insoweit er als Gründer den Träger ermächtigt, die Konsequenzen wie den weiteren Betrieb, die Reorganisation, die Schließung usw. zu ziehen. Diese gesetzliche Ermächtigung gründet in § 35 Abs. 1 Buchst. f), § 37 Abs. 2 Verf. Es sei noch einmal ausdrücklich betont: Die verfassungsrechtliche Lei-

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tungskompetenz der Minister besteht auch in Bezug auf die Hochschulen, soweit sie nicht gegen § 70/G Verf. verstößt, denn der Gesetzgeber hat sie nicht aus der ministeriellen Kompetenz ausgenommen. Die Einschränkung des „ohne Weiteres“ im ersten Satz dieses Absatzes weist darauf hin, dass die genannte Vorschrift sich allerdings aus anderen Gründen als verfassungswidrig erweisen kann. Gemäß den Darlegungen unter Punkt 4 ist § 37 Abs. 4 neuHochschG nicht verfassungswidrig. Deshalb kann in diesem Zusammenhang auch § 115 Abs. 3 Satz 2 neu HochschG nicht als verfassungswidrig qualifiziert werden. 6. Verfassungswidrig ist hingegen § 115 Abs. 8 neuHochschG, wonach die zuständige Ebene, nämlich der Minister, gemessen an Charakter und Inhalt der Aufgabe im Hinblick auf § 70/G Verf. zu niedrig ist. Diese in Ermangelung näherer Anhaltspunkte praktisch im freien Ermessen bestehende Kompetenz des Erziehungsministers, dass er „die Auszahlung der Zuwendungen aus dem Staatshaushalt aussetzen kann“, könnte faktisch dazu führen, dass der Betrieb der Hochschule unmöglich wird. 7. Nach Ansicht des Normenkontrollantrags verstoßen § 115 Abs. 3 und § 115 Abs. 8 neuHochschG auch deshalb gegen § 57 Abs. 1, § 70/G und § 70/K Verf., weil sie der Hochschule gegen eine Entscheidung des Erziehungsministers als Träger der Hochschule keinen Rechtsweg zu den Gerichten einräumen. Die Gewährung des gerichtlichen Rechtsschutzes gegen die Entscheidungen eines Trägers ist dem ungarischen Rechtssystem fremd, genauer gesagt wäre dort ohne Beispiel. Ohne Beispiel wäre auch in der Praxis des Verfassungsgerichts, wenn es in diesem Zusammenhang den im Antrag angeregten Test des „unvermeidlich notwendig“ und des „verhältnismäßig“ zugrunde legen würde. Meiner Ansicht nach kann sich eine Hochschule gegen eine Rechtsvorschrift, die dem Träger derartige Entscheidungen ermöglicht, als „Jedermann“ mit einem Normenkontrollantrag an das Verfassungsgericht wenden.

V. Das Thema ist zum Abschluss gekommen?! 1. Das ungarische Parlament hat das neue Hochschulgesetz entsprechend der (Mehrheits-)Entscheidung des Verfassungsgerichts abgeändert. An die Stelle des „Leitungsrats“ stellte es einen „Wirtschaftsrat“, dessen Zuständigkeiten das ungarische Verfassungsgericht in der Folge wiederum als verfassungswidrig beurteilte 14 . Meine Zweifel bleiben auch angesichts dieses zweiten Hochschul___________ 14 Verfassungsgerichtsentscheidung 39/2006. (IX. 27.) AB, Magyar Közlöny [ungar. Gesetzblatt], 2006 Nr. 117.

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urteils bestehen, und ich habe versucht, ihnen mit neuen prinzipiellen Anmerkungen in einem Sondervotum Ausdruck zu verleihen. So bin ich weiterhin der Ansicht, dass nicht alle der an die Stelle des § 25 Abs. 1 neuHochschG getretenen, von Gegenstand und Inhalt her nicht homogenen Vorschriften verfassungswidrig sind. Demgegenüber erklärte die Mehrheitsentscheidung sämtliche ausdifferenzierten Zuständigkeiten des Wirtschaftsrats, die § 25 Abs. 1 Buchst. a) HochschG ausmachen, einheitlich für verfassungswidrig. Allerdings hat selbst der Normenkontrollantrag betont, dass das Zustimmungsrecht des Wirtschaftsrats nur „im Hinblick auf taxativ aufgezählte Vorlagen“ des Rektors an den Senats besteht. Der Antrag hebt einige dieser Punkte hervor, z. B. die „Einleitung einer Entwicklung“ oder den „Abschluss einer Kooperationsvereinbarung“, und verallgemeinert den hiergegen erhobenen Befund der Verfassungswidrigkeit auf alle Elemente dieses Absatzes: Unter Berücksichtigung der Verfassungsgerichtsentscheidung 15 sind die Entscheidungen, die der Zustimmung des Wirtschaftsrates unterliegen, grundlegende Entscheidungen, die die durch die Autonomie der Hochschule geschützte wissenschaftliche Lehr- und Forschungstätigkeit berühren. Das Verfassungsgericht nannte als Beispiele dafür die Annahme des Entwicklungsplans der Einrichtung, die Festlegung der organisatorischen Gliederung und die Annahme des Haushalts sowie des Berichts über dessen Durchführung. Der durch den vorliegenden Antrag berührte Absatz unterwirft alle diese Fragen der Zustimmung des Wirtschaftsrats, aber es ist nicht zweifelhaft, dass sämtliche Entscheidungen, die in dem neu gefassten § 25 Abs. 1 Buchst. a) HochschG genannt werden – darunter die Einleitung einer Entwicklung oder der Abschluss einer Kooperationsvereinbarung – mindestens von gleicher Bedeutung sind und daher in den Schutzbereich der Autonomie gehören. Die Mehrheitsentscheidung teilt die Ansicht des Normenkontrollantrags. Meiner Ansicht nach gibt es keine verfassungsrechtliche Grundlage dafür, alle in § 25 Abs. 1 Buchst. a) aufgezählten Kompetenzen unmittelbar mit dem autonomen Betrieb einer Hochschule und damit mit der Wissenschaftsfreiheit in Beziehung zu setzen. Daher war es notwendig, die Kompetenzen in drei Gruppen zu gliedern. In die erste Gruppe gehören die Kompetenzen, bei denen das Zustimmungsrecht des Wirtschaftsrats tatsächlich eine verfassungswidrige Lage hervorrufen würde. Zu diesen Kompetenzen zählen: – der Entwicklungsplan der Hochschule, – die Nutzung und Veräußerung der im Eigentum der Hochschule stehenden Immobilien; – die Organisation der Hochschule, die Schaffung, Umformung und Schließung ihrer organisatorischen Einheiten. ___________ 15

Gemeint ist die Entscheidung 41/2005. (X. 27.) AB.

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In der zweiten Gruppe finden sich die Kompetenzen, bei denen das Zustimmungsrecht des Wirtschaftsrats die Verfassung nicht verletzt. Sie sind keine integralen Bestandteile der Autonomie einer Hochschule. In diese Gruppe gehören die folgenden Kompetenzen: – die Festlegung des Buchhaltungssystems der Hochschule; – die Gründung einer Wirtschaftsgesellschaft, der Erwerb einer Beteiligung an einer Wirtschaftsgesellschaft, die Zusammenarbeit mit einer Wirtschaftsgesellschaft; – die Kreditaufnahme gemäß HochschG; – die Nutzung und Veräußerung der der Hochschule zur Verfügung gestellten Immobilien; – die Annahme des Haushalts der Hochschule und des Berichts gemäß den Rechnungslegungsbestimmungen. Die dritte Gruppe bilden die Kompetenzen in § 25 Abs. 1 Buchst. a) HochschG, deren Verfassungsmäßigkeit nicht abstrakt beurteilt werden kann, sondern von der konkreten Anwendung auf bestimmte Fragen abhängt. Hierzu gehören: – die Einleitung einer Entwicklung. Wenn diese Kompetenz sich auf eine Reform der Lehre oder Ausbildung bezieht, dann wäre sie verfassungswidrig. Soweit sie auf Investitionen und Renovierungen abzielt, kann sie nicht als verfassungswidrig betrachtet werden. Kann man überhaupt die Verfassungsmäßigkeit einer Kompetenz beurteilen, die der Gesetzgeber in solcher Allgemeinheit formuliert? Ich würde daher bestreiten, dass dieses Zustimmungsrecht des Wirtschaftsrats ohne Weiteres und unabhängig von den Fragen, auf die sich die Zustimmung bezieht, für verfassungswidrig erklärt wird; – der Abschluss einer Kooperationsvereinbarung. Aus der Verfassung kann nicht abgeleitet werden, dass ein Zustimmungsrecht zu einer Kooperationsvereinbarung, die eine Hochschule abschließen möchte, in jedem Fall verfassungswidrig ist. Auf jeden Fall sind z. B. Kooperationsabkommen, die nur auf die Verwendung staatlicher Zuwendungen abzielen, anders zu beurteilen als die, hinter denen eigene Mittel der Hochschule stehen. Meiner Ansicht nach hätte die Mehrheitsentscheidung die Kompetenzen in § 25 Abs. 1 Buchst. a) differenziert und jeweils einzeln für sich prüfen müssen. Die neun Einzelkompetenzen hätten auf jeden Fall eine Verfassungsprüfung verdient und erfordert. Und dieses Vorgehen berücksichtigt noch nicht einmal, dass die einzelnen Teilkompetenzen in sich wiederum komplex sind und eine getrennte Prüfung ihrer einzelnen Elemente nötig machen. So ist es offensichtlich, dass die Nutzung und die Veräußerung der im Eigentum der Hochschule stehenden Immobilien unterschiedliche Dinge sind, die eine getrennte verfassungsrechtliche Beurteilung erfahren müssen.

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2. Dass die bisherige Verwaltung der Hochschulen im Wesentlichen auf dem Kollegialitätsgrundsatz durch meist in Verwaltungs- und Managementdingen unerfahrene Laien geführt wird, kann meines Erachtens der Staat abändern, etwa indem er ein bislang unbekanntes Organ kreiert. Zu diesem Zweck hat der ungarische Gesetzgeber den Wirtschaftsrat in die Hochschulverfassung eingeführt, der angesichts seiner Zusammensetzung 16 nicht als „externes“ Organ qualifiziert werden kann, wie es die Begründung zur Mehrheitsentscheidung getan hat. Der Wirtschaftsrat ist daher in der Lage, die Probleme der Hochschule im wirtschaftlichen und finanziellen Bereich „von innen“ nachzuempfinden. Wenn er zu deren Lösung jedoch keine entsprechenden Befugnisse erhält, etwa in Gestalt eines Zustimmungsrechts zu Entscheidungen wirtschaftlicher und finanzieller Natur, wird seine Existenz eher formal sein, und er ist für die Hochschule eher eine Last denn ein Partner, der sich helfend in die Hochschulorganisation einordnet. Ein bloßes Anhörungsrecht würde den Wirtschaftsrat zu einem derartigen seifenblasenartigen Organ reduzieren. Die Mehrheitsentscheidung „befreite“ die Hochschulen dadurch, dass sie die Zustimmungsrechte des Wirtschaftsrats undifferenziert für verfassungswidrig erklärte, von diesem Organ und hat für die Hochschulen unter Berufung auf deren Autonomie eine derartige Unabhängigkeit vom Staat, der sie trägt und finanziert, geschaffen, die in der gesamten ungarischen Verwaltungsorganisation ihresgleichen sucht. In der vom Verfassungsgericht vorgegebenen Konstruktion bleibt dem Staat als Träger nur noch die Pflicht zur Finanzierung, während er mit der Verwendung der von ihm geleisteten Zuwendungen nichts mehr zu tun hat. Ich hätte es für notwendig erachtet, dass die Mehrheitsentscheidung eindeutig klärt, wer eigentlich „autonom“ in der Institution Hochschule ist. In der Entscheidung 861/B/1996. AB hatte das Gericht ausgeführt: „Der Träger der Autonomie hingegen ist die Institution selbst, die Universität, ..., und an sie richtet sich die Erwartung, die Institutionalisierung der Lehr- und Lernfreiheit zu sein und auch die Verwirklichung der Freiheit der Forschung zu garantieren.“ 17 Nach dieser Ansicht sind weder der Senat noch der Rektor autonom, sondern die Hochschule selbst. Folglich ist es eine wichtige Grundsatzfrage, ob das Zustimmungsrecht die Autonomie der Institution selbst verletzt, wenn einzelne ihrer Organe (z. B. der Rektor oder der Wirtschaftsrat) in bestimmten Angelegenheit nur im gegenseitigen Einverständnis handeln können. Meiner Ansicht nach ist dies der wesentliche Inhalt des Normenkontrollantrags des Präsidenten der Republik. Meine Antwort ist, dass das Zustimmungsrecht einzelner Organe der Institution in bestimmten Angelegenheiten in dieser Allge___________ 16 Gemäß § 23 Abs. 3-4 HochschG sind im Wirtschaftsrat die vom Senat delegierten Mitglieder zusammen mit dem Rektor in der Mehrheit. 17 ABH 1998, 650, 654.

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meinheit die Autonomie der Institution noch nicht verletzt. Daher wäre es unbedingt nötig gewesen, dass das Gericht die (Teil-)Befugnisse in § 25 Abs. 1 Buchst. a) HochschG differenziert geprüft hätte. 3. Ich möchte nochmals wiederholen, dass nur Hochschulen in staatlicher Trägerschaft verpflichtet sind, einen Wirtschaftsrat einzurichten. Folglich brauchte das Verfassungsgericht bei seinen Antworten keine Rücksicht auf Universitäten, die von Kirchen, Privaten oder Stiftungen getragen werden, zu nehmen; für diese ist die Einrichtung eines Wirtschaftsrats eine Möglichkeit, aber keine Pflicht. Es steht allerdings außer Zweifel, dass sich das Gericht bei einem eventuellen Verfahren im Hinblick auf diese nicht staatlichen Hochschulen auf die Urteilsgründe in den jetzigen Entscheidungen stützen wird. Die Notwendigkeit einer vergleichenden Betrachtung der Universitäten je nach Gründer und Träger fließt aus § 70/G Verf., der im Hinblick auf die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung nicht zwischen den Hochschultypen differenziert. Ich befürchte, dass die tragenden Gründe der Mehrheitsentscheidung im Hinblick auf die bei staatlichen Hochschulen überaus streng ausgelegten Rechte des Trägers bei Universitäten, die nicht vom Staat gegründet und getragen werden, nicht zur Geltung kommen, weil sie dort nicht zur Geltung kommen können. Bei ihnen wird damit der Prüfungsmaßstab des § 70/G ein anderer sein als bei staatlichen Universitäten, während die Verfassung selbst, die ausschließlich von der Freiheit der Forschung und der Forscher spricht, keinen Unterschied zwischen einzelnen Typen von Hochschulen macht. Ich halte es für unvorstellbar, dass bei einer Schule in der Trägerschaft einer Kirche oder Stiftung der Gründer oder der Träger keinen Anspruch darauf erhebt, die wirtschaftliche und effiziente Verwendung der von ihm zur Verfügung gestellten Geldmittel zu kontrollieren. Das lässt sich aber mit einem bloßen Anhörungsrecht nicht erreichen. Abschließend möchte ich für die Gelegenheit danken, dass ich mit dieser bescheidenen Schrift dem Andenken des von mir hoch geschätzten Dieter Blumenwitz Tribut zollen durfte.18

___________ 18 Der Text wurde aus dem Ungarischen übersetzt von Privatdozent Dr. Herbert Küpper vom Institut für Ostrecht in München.

Im Land der Skipetaren Zum Stand des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes in der Republik Albanien Friedrich Dehner

I. Vorbemerkung Der vorliegende Beitrag geht zurück auf Eindrücke und Erkenntnisse, die der Verfasser im April 2006 in Tirana als Teilnehmer an einer von der Deutschen Stiftung für Internationale Rechtliche Zusammenarbeit e.V. (Bonn) 1 in Zusammenarbeit mit dem Justizministerium der Republik Albanien im Rahmen des so genannten CARDS-Projekts 2 der Europäischen Union organisierten sogenannten Technical Assistance Mission gewinnen konnte. Gegenstand dieser Mission waren einerseits Feststellungen zu den rechtlichen Rahmenbedingungen und zur Praxis hinsichtlich verwaltungsinterner (außergerichtlicher) Rechtsschutzmöglichkeiten gegen die öffentliche Verwaltung 3 und zum anderen der – hier behandelte – Stand des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz in der Republik Albanien. Es wurden Gespräche geführt mit Vertretern des Hohen Justizrates, des Justizministeriums, der Richterakademie, des Bezirksgerichts in Tirana, des Volksanwaltes, einer privaten Rechtshilfeorganisation und der Nationalen Anwaltskammer.

II. Einführung Albanien versteht sich nach seiner aktuellen Verfassung vom 18. November 1998 4 als Parlamentarische Republik (Art. 1 Nr. 1), unter anderem aufgebaut ___________ 1

Vgl. im Internet unter http://www.irz.de (30.08.2006). Vgl. Verordnung (EG) Nr. 2662/2000, Abl. L 306 vom 07.12.2000 mit späteren Änderungen; im Übrigen siehe im Internet http://europa.eu/scadplus/leg/de/lvb/r18002 (18.07 2006). 3 Vgl. hierzu Heilek, W., Das Verwaltungsverfahrensgesetz der Republik Albanien, in: Osteuropa-Recht 2006, Doppelheft 5/6. 4 Gesetz Nr. 8417 vom 22.11.1998 über die Verfassung der Republik Albanien; im Internet in englischer Sprache z. B. veröffentlicht unter http://www.ipls.org (26.08. 2006); vgl. hierzu auch Schmidt-Neke, M., Die Verfassung der Republik Albanien vom 28. November 1998, in: Jahrbuch für Ostrecht, Bd. 40 (1999), 2. Halbband, S. 267–281; 2

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auf dem Prinzip der Gewaltenteilung und Gewaltenbalance zwischen den Organen der Legislative, Exekutive und Judikative (Art. 7). Die in der Verfassung in Teil 2 im zweiten Kapitel (Persönliche Rechte und Freiheiten) aufgeführten Gewährleistungen umfassen in Art. 42 Nr. 2 ausdrücklich auch das Recht eines jeden, zum Schutz seiner verfassungsmäßigen und einfachgesetzlichen Rechte, Freiheiten und (sogar) Interessen auf eine faire und öffentliche Verhandlung innerhalb vernünftiger Zeit durch ein unabhängiges und unparteiisches Gericht – nach näherer Bestimmung durch das Gesetz. Eingeräumt ist darüber hinaus das Recht, sich gegen eine gerichtliche Entscheidung an ein Obergericht zu wenden, es sei denn dies wird durch die Verfassung ausgeschlossen (Art. 43 der Verfassung). Nach Erschöpfung des allgemeinen Rechtsweges sieht die Verfassung ausdrücklich auch die Möglichkeit einer Individual-Verfassungsbeschwerde gegen die Verletzung der verfassungsmäßigen Rechte vor (Art. 131 Buchstabe i der Verfassung).

III. Die Organisation des Gerichtswesens 1. Die näheren Bestimmungen sind für den Verfassungsgerichtshof enthalten in Teil 8 der Verfassung (Constitutional Court) 5 mit den Artikeln 124 bis 134 und dem Gesetz Nr. 8577 vom 10. Februar 2000 „On the Organization and Operation of the Constitutional Court of the Republic of Albania“. 6 Das Gerichtswesen im Übrigen basiert im Wesentlichen auf Teil 9 der Verfassung (The Courts) mit den Art. 135–139, dem Gesetz Nr. 8436 vom 28. Dezember 1998 über die Rechtsprechende Gewalt in der Republik Albanien („On the Organization of the Judicial Power in the Republic of Albania“) 7 sowie in einschlägigen Verfahrensordnungen für die jeweiligen Gerichtsbarkeiten. 2. Wie auch in anderen Ländern des westlichen Balkans üblich, existiert neben der Verwaltungsspitze „Justizministerium“ ein so genannter „High Council of Justice“ (= Hoher Justizrat). Die Zusammensetzung und weitere Details regelt Art. 147 der Verfassung; zur näheren Ausführung wurde das Gesetz Nr. 8811 vom 17. Mai 2001 „On the Organization and the Functioning of the ___________ ebenso zu finden bei Roggemann, Herwig (Hrsg.), Die Verfassungen Mittel- und Osteuropas, 1999, S. 327 ff. 5 Da die verwendeten Gesetzesquellen fast sämtlich nur in englischer Übersetzung vorliegen, werden im Folgenden sowohl für Gesetzesbezeichnungen als auch für die Bezeichnung der Gerichte jeweils die englischsprachigen Bezeichnungen verwendet. Eine einheitliche Terminologie ist leider auch dort nicht vorzufinden. 6 Im Internet in englischer Sprache veröffentlich unter http://www.law.nyu.edu/ eecr/baycountryrefs/albaniaConstCourt.html (26.08.2006). 7 Im Internet veröffentlicht in englischer Sprache unter http://www.legislation.online.org/legislation.php.

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High Council of Justice“ 8 erlassen. Dem Hohen Justizrat sind wesentliche Aufgaben bei der Bestellung, Beurteilung disziplinaren Überwachung, Versetzung und Abberufung von Richtern übertragen. Er besteht aus dem Präsidenten der Republik, dem Vorsitzenden des Obersten Gerichtshofes, dem Justizminister, drei vom Parlament gewählten Mitgliedern und neun Richtern aus allen Instanzen, die von einer „Nationalen Justizkonferenz“ gewählt werden. Vorsitzender ist von Verfassungs wegen der Präsident der Republik, als Verwaltungschef fungiert ein vom Organ selbst gewählter Stellvertreter. Die Amtszeit beträgt fünf Jahre, eine unmittelbare Wiederwahl ist nicht zulässig.9 3. Die rechtsprechende Gewalt außerhalb der Verfassungsgerichtsbarkeit ist von Verfassungs wegen (Art. 135) Sache des Obersten Gerichtshofes („High Court“), der Gerichte zweiter Instanz („Courts of Appeal“) und der Gerichte der ersten Instanz („Courts of First Instance“). Die Verfassung lässt es ausdrücklich zu, dass das Parlament Gerichtshöfe für besondere Zuständigkeiten errichtet, aber niemals als „außerordentliche Gerichte“ (Art. 135 Nr. 2 der Verfassung). Nach den zugänglichen Informationen fungieren in Albanien so insgesamt 29 Gerichte erster Instanz, daneben die Gerichte für Schwere Straftaten („Courts of Serious Crimes“) sowie ein Wahlgericht („Electoral College“), sechs Berufungsgerichte, ein Militärgericht als Berufungsgericht und der Oberste Gerichtshof. 10 4. Neben anderen Institutionen, die dem Gerichtswesen zugerechnet werden können (Staatsanwaltschaft, Gerichtsvollzieher, Notare, Volksanwalt), gibt es erst seit wenigen Jahren wieder eine – im Aufbau befindliche – organisierte Rechtsanwaltschaft. Mittlerweile existieren eine Nationale Anwaltskammer sowie auch Regionale Anwaltskammern. Nach Angaben des zuständigen Gesprächspartners der Nationalen Kammer in Tirana war es unter Enver Hodscha über zwanzig Jahre lang in Albanien nicht möglich, als Rechtsanwalt tätig zu sein. Die gesetzlichen Regelungen seit 1990 lassen dies seither wieder zu. In einem nunmehr erlassenen Gesetz über Rechtsanwälte Nr. 9109 vom 17. Juli 2003 „On the Legal Profession in the Republic of Albania“ 11 ist einerseits die Selbstverwaltung der Rechtsanwaltschaft normiert und sind daneben die näheren Einzelheiten des Berufsrechtes und die Voraussetzungen für die Ausbil___________ 8

Im Internet veröffentlich in englischer Sprache unter http://www.osce.org/item/ 4327.html. 9 Einen ausführlichen Überblick zu dieser Institution enthält der Bericht der OSCE, Legal Sector Report For Albania 2004, http://www.osce.org/albania13143 (26.08.2006), S. 25 ff. 10 Hierzu OSCE (Fn. 9), S. 3 ff.; Organization Study of the Albanian Judicial Sector, http//:www.ipls.org (30.08.2006); Courts and Cases Albania, http//:www.lexadin.nl/wlg/ courts (30.08.2006). 11 Vgl. ausführlich hierzu OSCE (Fn. 9), S. 88 ff.; eine Veröffentlichung des Gesetzes im Internet ist offenbar nicht verfügbar.

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dung, Prüfung und Zulassung sowie das Tätigwerden als anwaltlicher Beistand festgeschrieben, ebenso ein Ehrenkodex und Disziplinarvorschriften. Als Aufsichtsbehörde fungiert das Justizministerium. Zur Zulassung gefordert werden neben einem juristischen Diplom die albanische Staatsangehörigkeit, ein entsprechendes Praktikum sowie eine abschließende Prüfung mit der Verleihung des Anwaltsdiploms. Derzeit besteht die Verwaltung der „Anwaltskammer“ in Tirana neben dem Vorsitzenden nur aus einer Koordinatorin und einer Verwaltungskraft in der Buchhaltung. Zugelassen und lizenziert sind mittlerweile für ganz Albanien insgesamt 2300 Anwälte, aber nur 1300 hiervon sind aktiv als Anwalt tätig. Detailfragen zur Stellung des Rechtsanwalts im Prozess und seinen prozessualen Rechten finden sich für den Zivilprozess (und damit auch für den Rechtsschutz gegen Verwaltungsmaßnahmen) in den Art. 84–89 des „Code of Civil Procedure of the Republic of Albania“ (Teil 1 Titel IV). 12

IV. Die Richterschaft 1. Schon von Verfassungs wegen sind die Richter in Albanien mit einem besonderen Status ausgestattet. Richter sind unabhängig und nur der Verfassung und dem Gesetz unterworfen (Art. 145 Nr. 1 der Verfassung; Art. 3 des Gesetzes Nr. 8436 vom 28. Dezember 1998 „On the Organization of the Judical Power in the Republic of Albania“). 13 Die nähere Ausgestaltung des Status enthalten die Art. 26 ff. des Gesetzes Nr. 8436. So genießen Richter (vorbehaltlich der Beteiligung des High Council of Justice, bei Richtern des High Court sogar des Parlamentes) die Immunität (Art. 26 des Gesetzes Nr. 8436; Art. 137 der Verfassung), verlieren ihr Amt nur in den vom Gesetz vorgesehenen Fällen (Art. 138 und 139 der Verfassung; Art. 27 des Gesetzes Nr. 8436), und können gegen ihren Willen nicht befördert oder versetzt werden (Art. 28 des Gesetzes Nr. 8436). Richtern ist es verboten, Mitglied in einer politischen Partei zu sein oder Aktivitäten politischer Natur zu unternehmen. Die Funktion als Richter ist nicht vereinbar mit einem wählbaren Amt beziehungsweise jeder anderen öffentlichen oder privaten Funktion oder Betätigung (s. auch Art. 143 der Verfassung). Ein Richter kann sich nicht im Management oder der Direktion einer ___________ 12

Zivilprozessordnung der Republik Albanien / Kodi I Procedures Civile I Republikes se Shqiperise, Gesetz Nr. 8616 vom 29.03.1996 mit späteren Änderungen; ursprüngliche Fassung: Gesetzblatt der Republik Albanien / Fletorja Zyrtare e Republikes se Shqiperise, Jahrgang 1996, Nr. 9, S. 343; aktualisierter Text in albanischer Sprache im Internet unter http://www.qpz.gov.al/botime/kusht_kode/Kodi_Proc_civile (Abruf vom 19.07.2006); Text in englischer Sprache im Internet unter:http://unpan1.un.org/ intradoc/groups/public/documents (19.07.2006). 13 Vgl. oben Fn. 7.

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zivilen oder einer Handelsgesellschaft betätigen, weder persönlich noch vertretungsweise (Art. 130 S. 2 des Gesetzes Nr. 8436). Einem Richter ist es weiterhin untersagt, als Sachverständiger oder Schiedsrichter in schiedsgerichtlichen Verfahren tätig zu sein (Art. 31 S. 2 des Gesetzes Nr. 8436). Richter sind verpflichtet, die Würde des Gerichtes zu wahren (Art. 29 ff. des Gesetzes Nr. 8436). Diese Aufzählung von Einzelrechten und Pflichten ist indes keineswegs vollständig. 2. Nach den zugänglich gemachten Informationen sind in Albanien derzeit an den Gerichten der ersten und zweiten Instanz etwa 350 Richter tätig, am Obersten Gerichtshof sind es 17 Richter. 14 Der Zugang zum Richteramt ist für die Richter des Obersten Gerichtshofes eigens in Artikel 136 der Verfassung geregelt. Hiernach werden die Mitglieder des Obersten Gerichtshofes vom Präsidenten der Republik ernannt, unter Zustimmung des Parlamentes. Im gleichen Verfahren wird der Vorsitzende des Gerichtes bestimmt. Die Amtszeit der Richter des Obersten Gerichtshofes beträgt neun Jahre, eine Wiederwahl ist nicht zulässig. Die Gerichte an den Instanzgerichten werden ebenfalls vom Präsidenten der Republik ernannt, indes nach Empfehlung durch den Hohen Justizrat. Generell können Richter nur albanische Staatsangehörige mit einer höheren juristischen Ausbildung werden. Die näheren Einzelheiten enthält wiederum das Gesetz Nr. 8436 vom 28. Dezember 1998 „On the Organization of the Judical Power in the Republic of Albania“, 15 hier in den Art. 19 ff. Hiernach ist es unter anderem auch möglich, Personen zum Richter zu ernennen, die nicht an der so genannten Richterakademie ausgebildet worden sind, aber über vergleichbare (im Gesetz näher definierte) juristische Vorbildung und Praxis verfügen. Richter am Berufungsgericht („Court of Appeal“) kann grundsätzlich nur jemand werden, der wenigstens fünf Jahre lang als Richter der ersten Instanz tätig gewesen ist und sich entsprechend bewährt hat (Art. 24 des Gesetzes). Das Richteramt endet grundsätzlich mit dem Erreichen des 65. Lebensjahres (Art. 25 des Gesetzes). Das Gehalt eines Richters steht in Abhängigkeit von dem eines Ministers. Richter der ersten Instanz erhalten nach Auskunft der Gesprächspartner hiervon 50 %, Richter der zweiten Instanz 70 %, Mitglieder des Hohen Justizrates dagegen ein volles Ministergehalt. Ein Richter der ersten Instanz kommt so auf angeblich etwa 600 €, was vor dem Hintergrund eines gesetzlichen Mindestlohnes von ca. 120 € und vergleichsweise hoher Lebenshaltungskosten zu sehen ist. 16 ___________ 14 Aufschluss über die Zahlen und die Geschäftsbelastung vor 2004 gibt auch der Bericht der OSCE (oben Fn. 9). 15 Vgl. oben Fn. 7. 16 Nach einer anderen Quelle innerhalb des Deutsch-Albanischen Wirtschaftsportals (http//:www.daw-online.com [30.08.2006]) beträgt der gesetzliche Mindestlohn 9.403 Lek (= ca. 80 €) und verdient ein ungelernter Arbeitnehmer im Unternehmenssektor

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V. Der gerichtliche Rechtsschutz gegen Verwaltungsmaßnahmen 1. Ausgehend von dem oben zitierten Art. 135 der Verfassung wird die rechtsprechende Gewalt grundsätzlich nur durch den „High Court“, die „Courts of Appeal“ und die „Courts of First Instance“ ausgeübt, sind aber Gerichte für besondere Rechtsgebiete auf gesetzlicher Grundlage möglich. Das zur Ausführung erlassene Gesetz Nr. 8436 vom 28. Dezember 1998 „On the Organisation of the Judical Power in the Republic of Albania“ 17 behandelt als solche Spezialgerichte nur die Militärgerichte. Fragt man nach dem gerichtlichen Rechtsschutz gegen Verwaltungsmaßnahmen, bleibt festzuhalten, dass eine allgemeine oder besondere Verwaltungsgerichtsbarkeit westlicher Prägung nicht existiert. Vielmehr liegt die Ausübung der materiellen Verwaltungsgerichtsbarkeit ausdrücklich und ausschließlich in der Zuständigkeit der erwähnten Gerichte, wie in Art. 2 des Gesetz Nr. 8436 vom 28. Dezember 1998 „On the Organization of the Judical Power in the Republic of Albania“ geregelt ist. Nähere und grundlegende Vorschriften zum Tätigwerden hierzu enthält sodann die albanische Zivilprozessordnung, („The Code of Civil Procedure of the Republic of Albania“) 18 . Es wird also der Verwaltungsprozess nach albanischem Rechtsverständnis als besonderes „Zivilverfahren“ begriffen. 19 Im zweiten Teil des letztgenannten Gesetzes („Trial in first level“) sind unter Titel III die so genannten „Special Trials“ behandelt. Dabei handelt es sich gemäß Art. 320 des Gesetzes um verwaltungsrechtliche Streitigkeiten, Handelsstreitigkeiten und Streitigkeiten bezogen auf Minderjährige und Familien. Spezifische Vorschriften zur Verhandlung in verwaltungsrechtlichen Streitigkeiten finden sich sodann in den Art. 324–333 des Gesetzes. 2. Der „Code of Civil Procedure of the Republic of Albania“ sieht in Art. 321 vor, dass der Präsident auf Empfehlung des Justizministers festlegt, an welchen Gerichten erster Instanz solche „Sektionen“ für die genannten Rechtsstreitigkeiten errichtet werden und mit welcher örtlicher Zuständigkeit. Die Zahl der Richter wird durch das Justizministerium festgelegt. 3. Die Besetzung der Gerichte bzw. Spruchkörper hat für die Gerichte erster Instanz auszugehen von Art. 6 des Ausführungsgesetzes Nr. 8436, worin auf die jeweiligen Prozessordnungen verwiesen wird. Der „Code of Civil Proce___________ über 20.000 Lek; dies entspricht auch den Angaben der Bundesagentur für Außenwirtschaft unter http//:www.bfai.de (30.08.2006). 17 Fundstelle oben Fn. 7. 18 Fundstelle oben Fn. 12. 19 Vgl. hierzu auch den Überblick von Ibrahimi, G., Administrative Justice in Albania, http//:www.oecd.org/document (30.08.2006).

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dure of the Republic of Albania“ schreibt fest, dass die „Courts of First Instance“ durch einen Spruchkörper in der Besetzung mit einem Richter und zwei Assistenzrichtern entscheiden (Art. 35 S. 1). Die „Courts of Appeal“ und der „High Court“ entscheiden in der Regel durch einen Spruchkörper mit drei Richtern (Art. 35 S. 2 des „Code of Civil Procedure of the Republic of Albania“; Art. 7 S. 2 des Gesetzes Nr. 8436). 20 4. Die Geschäftsverteilung innerhalb der Gerichte hat auszugehen von Art. 14 des Gesetzes Nr. 8436 vom 28. Dezember 1998 „On the Organization of the Judical Power in the Republic of Albania“. Hiernach ist es Aufgabe des Präsidenten, jährlich eine Einteilung in Zivilkammern (einschließlich der Spezialkammern) und Strafkammern vorzunehmen. Bei kleineren Gerichten kann eine gleichwertige Verteilung unter der Richterschaft vorgenommen werden. Die Geschäftsverteilung auf die Richter selbst erfolgt von Gesetzes wegen (Art. 15 des Gesetzes Nr. 8436) durch Los („by lottery“), und zwar in einem gesetzlich festgelegten Verfahren. Fundiertere tatsächliche bzw. rechtliche Erkenntnisse hierzu konnten wegen des zeitlichen Rahmens der Mission nicht gewonnen werden. Es steht damit gleichwohl fest, dass es an einem System der Geschäftsverteilung – wie etwa vom deutschen Gerichtsverfassungsgesetz 21 dezidiert geregelt – fehlt. 5. Für das verwaltungsgerichtliche Verfahren existieren – mangels eigener Prozessordnung – nur wenige eigenständig normierte Verfahrensgrundsätze. Vielmehr schreibt der „Code of Civil Procedure of the Republic of Albania“ in Art. 323 die grundsätzliche Anwendbarkeit der – in erster Linie auf das Zivilverfahren bezogenen – Verfahrensgrundsätze des Ersten und Zweiten Teiles des „Code of Civil Procedure“ vor. Ausdrücklich anwendbar sind damit auch der Beibringungsgrundsatz des Zivilverfahrens (Art. 7–10) und die dortigen Beweis- bzw. Beweislastregeln (Art. 11–15). Es obliegt den Parteien, die zur Entscheidung notwendigen Tatsachen beizubringen, das Gericht entscheidet alleine auf dieser Grundlage. 6. Die sachliche Zuständigkeit der Gerichte in Verwaltungssachen erstreckt sich dem „Code of Civil Procedure of the Republic of Albania“ folgend auf Verfahren, – in denen die Aufhebung oder Änderung eines Verwaltungsaktes („administrative act“) verlangt wird (Art. 324 Buchst. a), – in denen die Behörde die erstrebte Verbesserung eines Verwaltungsaktes abgelehnt oder die Behörde innerhalb der geltenden gesetzlichen Frist nicht über einen begehrten Verwaltungsakt entschieden hat (Art. 324 Buchst. b), ___________ 20 21

Vgl. oben Fn. 7. Vgl. §§ 21 ff. GVG.

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– in denen die Suspendierung (Aussetzung der Vollziehung) eines Verwaltungsaktes verlangt wird, so bei der Gefahr schwerer und nicht reparabler Schäden (Art. 334). 7. Nicht justiziabel sind nach Art. 326 des „Code of Civil Procedure of the Republic of Albania“ bestimmte administrative Akte der Regierung und anderer zentraler oder lokaler Organe der staatlichen Verwaltung, ausgenommen sie berühren gesetzliche Rechte und Interessen der Staatsbürger. Ebenfalls ausgenommen sind Verwaltungsakte, die nach der Verfassung der Prüfungskompetenz des Verfassungsgerichtshofes unterliegen. Zudem ausgenommen sind Verwaltungsakte, gegen die nicht fristgerecht das gesetzlich vorgesehene Beschwerderecht wahrgenommen wurde. 8. Regelungen zur örtlichen Zuständigkeit enthält Artikel 327 des „Code of Civil Procedure of the Republic of Albania“. Maßgeblich für die örtliche Zuständigkeit ist grundsätzlich der Sitz der Behörde, gegen die der Prozess gerichtet ist. Wird ein unzuständiges Gericht angegangenen, ist das Verfahren innerhalb von drei Tagen an das zuständige Gericht mit einer Verwaltungssektion abzugeben. 9. Die maßgeblichen speziellen Zulässigkeitsvoraussetzungen für den Verwaltungsprozess finden sich schließlich verstreut in den Art. 325 bzw. 328 des „Code of Civil Procedure of the Republic of Albania“. 22 a) Art. 325 legt fest, dass ein Verwaltungsprozess vom Bürger nur bei Gericht angestrengt werden kann, wenn der Bürger behauptet, der Verwaltungsakt sei rechtswidrig und es seien seine Interessen und Rechte berührt. Dies entspricht der Klagebefugnis in § 42 Abs. 2 der deutschen Verwaltungsgerichtsordnung. b) Dass ein Vorverfahren innerhalb der Verwaltung stattzufinden hat, bevor ein Verwaltungsprozess bei Gericht eingeleitet werden kann, lässt sich herauslesen aus Art. 328 des „Code of Civil Procedure of the Republic of Albania“ und korrespondiert mit der gesetzlichen Regelung im Verwaltungsverfahrensrecht (Art. 140 des Verwaltungsverfahrensgesetzes) 23 . Vorgesehen ist eine Klagefrist, beginnend ab Bekanntgabe der Entscheidung des höheren Verwaltungsorgans, ausgenommen die Fälle, in denen von Gesetzes wegen eine direkte Anrufung des Gerichtes zulässig ist. Im Abs. 2 dieser Vorschrift ist darüber hinaus vorgesehen, dass im Falle der Untätigkeit der Behörde beziehungsweise der höheren Verwaltungsbehörde eine direkte Einleitung des Klageverfahrens statthaft ist (Untätigkeitsklage). ___________ 22

Fundstelle oben Fn. 12. Hierzu Heilek (Fn. 3); das Gesetz ist in englischer Fassung veröffentlicht unter http://www.qpz.gov.al/botime/kusht_kode/Kodi_Proc_Admin.pdf (18.07.2006). 23

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c) Der eben zitierte Art. 328 des „Code of Civil Procedure of the Republic of Albania“ legt eine Klagefrist von 30 Tagen, beginnend ab Bekanntgabe der verwaltungsbehördlichen Entscheidung fest. Im Falle der Untätigkeitsklage (siehe oben b) gilt ebenfalls eine Frist von 30 Tagen, beginnend ab dem Ende der Frist, die von Gesetzes wegen für die Gesetze für die behördliche Entscheidung vorgeschrieben ist. d) Das albanische Verfahrensrecht regelt darüber hinaus den Fall der Klagenhäufung. Mehrere Verfahren – damit wohl auch verschiedener Kläger – können zu einem einheitlichen Prozess verbunden werden, wenn sie sich gegen dasselbe Verwaltungsorgan richten, denselben Gegenstand betreffen und innerhalb der Kompetenz eines Gerichtes liegen (Art. 330 des „Code of Civil Procedure of the Republic of Albania“). e) Art. 327 S. 2 des „Code of Civil Procedure of the Republic of Albania“ schreibt vor, dass die Beschäftigung mit dem Streit innerhalb von 30 Tagen seit der Registrierung des Verfahrens bei Gericht abgeschlossen sein soll. Das heißt nach unserem Verständnis, der Rechtsstreit soll innerhalb von 30 Tagen nach Eingang entschieden sein, was indes nach den Äußerungen der befragten Richter in der Praxis nicht zu realisieren ist. 10. Inhalt einer Endentscheidung des Gerichtes kann nach Art. 331 des „Code of Civil Procedure of the Republic of Albania“ sein: – die Abweisung der Klage, wenn der Verwaltungsakt als rechtens erachtet wird, – die Feststellung der Fehlerhaftigkeit des Verwaltungsaktes, – die teilweise oder völlige Aufhebung des Verwaltungsaktes. In den Gesprächen mit den örtlichen Richterinnen des Bezirksgerichtes Tirana wurde bestätigt, dass die Gerichte in erhobenen Leistungsklagen durchaus auch die Behörden zu einem bestimmten Verhalten verpflichten, darüber hinaus auch die Möglichkeit der Gerichte zur Feststellung weiterer Rechte des Bürgers (Folgenbeseitigung und Entschädigung) besteht. Diese Kompetenz lässt sich mit einiger Wahrscheinlichkeit mit dem Rückgriff auf die allgemein anwendbaren Instrumentarien des Zivilprozessrechtes erklären. 11. Als vorläufiges Rechtsschutzverfahren vorgesehen ist in Art. 329 des „Code of Civil Procedure of the Republic of Albania“ nur die Möglichkeit des Gerichtes, den Vollzug eines Verwaltungsaktes auszusetzen. Damit fehlt andererseits offenbar eine Rechtsschutzmöglichkeit – gerade bei Beteiligung Dritter –, einen solchen Sofortvollzug zu erreichen. Weiterhin fehlt offenkundig ein auf Leistungsbegehren bezogenes einstweiliges Rechtsschutzverfahren vergleichbar etwa der einstweiligen Anordnung/Verfügung des deutschen Verfahrensrechtes. Vor dem Hintergrund der zeitlichen Vorgabe von 30 Tagen für eine Hauptsacheentscheidung mag dies aus Sicht des albanischen Gesetzgebers

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indes nachvollziehbar sein und den Verzicht auf einen einstweiligen Rechtsschutz in diesem Sinne erklären. 12. Die Entscheidung des Gerichtes muss gemäß Art. 142 der Verfassung bzw. Art. 332 des „Code of Civil Procedure of the Republic of Albania“ eine Begründung enthalten, insbesondere wenn sie die Rechtswidrigkeit oder fehlender Rechtsgrundlage des angegriffenen Verwaltungsaktes behandelt. 13. Schon von Verfassungs wegen sind gerichtliche Entscheidungen zu veröffentlichen (vgl. dort Art. 142 Nr. 2; Art. 146 Nr. 2). 14. Als Rechtsmittel vorgesehen ist die Berufung auf der Grundlage der Regelungen für den Zivilprozess. Dem zuständigen Spruchkörper des Berufungsgerichtes sollen Richter angehören, die auf dem Gebiet der Verwaltungsakte spezialisiert sind (Art. 332 ZPO). Das Rechtsmittelverfahren zum Berufungsgericht bzw. zum Obersten Gerichtshof ist für den Zivilprozess dezidiert in Titel IV Teil 3 des „Code of Civil Procedure of the Republic of Albania“ (Art. 442–509) normiert und gilt damit auch für den Verwaltungsprozess.

VI. Erkenntnisse vor Ort In den maßgeblichen Gesprächen vor Ort wurde versucht, einen aktuellen Überblick über den tatsächlichen Stand der Gerichtspraxis auf dem Gebiete der Überprüfung von Verwaltungsmaßnahmen zu gewinnen. Besonders herausgestellt von den Gesprächspartnern wurden die folgenden Teilaspekte: 1. Defizite bei der gesetzlichen Festlegung der Kompetenzen und des Verfahrens innerhalb des „High Council of Justice“. Dies namentlich auch wegen des Interessenkonfliktes zwischen der Funktion als Mitglied dieses Organs und der Stellung als Richter. Für wünschenswert gehalten wurde die Installation so genannter Kommissionen für einzelne Arbeitsbereiche unter der Verantwortung bestimmter Mitglieder, ebenso weitere Maßnahmen zur Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit, namentlich auch in den Verfahren zur Ernennung, beruflichen Fortbildung sowie im Rahmen von Disziplinarmaßnahmen gegen Richter und deren Evaluierung. 2. Defizite bei der Ermöglichung des Rechtsschutzes gegen Verwaltungsmaßnahmen. Geäußert wurde von den beteiligten Kreisen außerhalb von Verwaltung und Justiz der Wunsch nach staatlicher Organisation und Finanzierung des Zugangs zum Recht für benachteiligte und arme Bevölkerungsteile im Sinne einer Beratungshilfe und Prozesskostenhilfe. Bestimmte Teile der Bevölkerung seien oft nicht in der Lage, die derzeit geforderten Gebühren für ein Tätigwerden öffentlicher Stellen und damit auch der Gerichte selbst aufzubringen. Als sinnvoll erachtet wurden gesetzliche Festschreibungen in diesem Bereich.

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3. Defizite auf Seiten der Richter in der Erfassung und Bewältigung der verwaltungsrechtlichen Probleme. Betroffene Rechtsgebiete seien insbesondere das Recht der Behinderten, Krankenversicherungsrecht, Rentenrecht, Eigentumsfragen, Personenstandsrecht, Grundbuchangelegenheiten, Rechtsangelegenheiten der Kriegsveteranen, Prüfungsrecht. Es wurde die Notwendigkeit einer verbesserten Aus- und Fortbildung im verwaltungsrechtlichen Bereich gesehen. 4. Defizite bei der personellen und sachlichen Ausstattung der Gerichte. Dieser Eindruck wird ausdrücklich durch die Gesprächspartner/innen aus der Richterschaft selbst bestätigt. Die Bedingungen wurden als verbesserungsbedürftig bezeichnet. Es fehle an Räumlichkeiten, die Sitzungssäle seien oft belegt, es müsse auf das eigene Arbeitszimmer als Sitzungssaal ausgewichen werden, es gebe Probleme mit der Ordnung innerhalb des Gerichtes, verbunden damit auch ein Sicherheitsproblem. Die Arbeitsbelastung wurde mit 70 bis 100 Fällen aus dem Verwaltungsrecht jährlich als zu hoch empfunden, neben Literatur fehle es auch insbesondere am notwendigen nichtrichterlichen Personal. Es wurde die Notwendigkeit gesehen, hier wenigstens auf Sicht Möglichkeiten zur Veränderung zu nutzen und die Arbeitsabläufe anhand moderner Arbeitstechnik (Computer) und verbesserter Ausstattung im Übrigen zu verbessern. 5. Defizite in der Verfahrensgestaltung. Die Dauer der Verfahren wird selbst als zu lang empfunden, oft auch verursacht durch die als mühsam empfundene Aktenbeschaffung, die offenkundig dem Richter obliegt bzw. die durch die ZPO vorgegebene Verfahrensgestaltung überhaupt. Hinzu komme im laufenden Geschäftsjahr die Zuteilung von Rechtsfällen aus anderen Rechtsgebieten (so Strafrecht), in denen dann die Bearbeitungsroutine im Einzelfall fehle. 6. Defizite auf Seiten der Gerichte zum Verständnis der Rolle des Rechtsanwaltes werden von der Anwaltschaft beklagt. Insoweit sei generell eine Sensibilisierung der staatlichen Institutionen notwendig. Generell müsse der Respekt der Richter vor der Anwaltschaft erst erkämpft werden. Vor Gericht erhielten Rechtsanwälte zuweilen kein Rederecht, es müsse der betreffende Richter erst überzeugt werden. Auf Seiten der Gerichte würden die gesetzlichen Fristen nicht eingehalten. Gerichtliche Entscheidungen würden in der Verwaltung zuweilen nicht befolgt, es fehle an Instrumenten der Verwaltungsvollstreckung dem Staat und anderen Hoheitsträgern gegenüber. Auch auf der Ebene der Gerichte gebe es Elemente der Korruption, korruptem Verhalten der Verwaltung werde durch die Gerichte nicht genügend nachgegangen.

VII. Fazit Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass in der Republik Albanien durchaus ein – angesichts der jüngeren Geschichte sogar beachtlicher – rechtlicher

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Grundstandard existiert, der den gerichtlichen Rechtsschutz des Bürgers gegen Verwaltungsmaßnahmen gewährleistet. Gleichwohl erscheinen sowohl Änderungen und Ergänzungen auf rechtlicher Ebene geboten, als auch die Verbesserung der faktischen Voraussetzungen für eine hinreichende Sicherstellung eines effektiven subjektiven Rechtsschutzes. Erster Schritt in diese Richtung wäre die Schaffung einer eigenständigen Verwaltungsgerichtsbarkeit mit einer eigenständigen Verfahrensordnung. Dies scheint auf Legislativebene derzeit aber nicht durchsetzbar.

Hong Kong’s International Legal Status and Treaty-Making Competence Yongping Ge

I. Introduction Hong Kong was under the rule of the United Kingdom for more than one century. In 1842 under the Treaty of Nanking, Hong Kong Island was permanently ceded by the Qing government to the United Kingdom. Parts of the adjacent Kowloon Peninsula south of Boundary Street and the nearby Stonecutters Island were then ceded to the United Kingdom under the Convention of Peking in 1860. Various other adjacent lands, known as the New Territories, including New Kowloon and Lantau Island, were leased to the United Kingdom for ninety-nine years under the Kowloon Extension Agreement in 1898. Hence, in 1898, the British occupied the entire island of Hong Kong. 1 Already during World War II, the Chinese Nationalist Government initiated negotiations with the British government concerning Hong Kong. However, due to China’s civil war lasting from 1945 until 1949 and the establishment of the People’s Republic of China (PRC) thereafter, negotiations on Hong Kong’s return to China were stopped. 2 The Chinese and British governments began again to negotiate Hong Kong’s return to China in the 1980s in preparation for the 30 June 1997 lease expiration. From 1 July 1997, Hong Kong was returned to motherland China and has become a special administrative region (SAR). International law stipulates parameters for the categorization of a territory as an independent sovereign entity subject to international law. However, the treaty-making competence of a state or regional entity which is a part of a sovereign state is determined by the domestic law of that state. States that violate international law in order to realize their own particular political purposes must be aware of the legal political consequences of such actions, given the accep___________ 1

See Yuankai, Xiao, The Relationship Between UK and China and the Question of Hong Kong, West-Europe Research (Chinese) 5 (1992), pp. 13–14. 2 Meissner, W., Hongkong. Von der britischen Kronkolonie zur chinesischen Sonderverwaltungsregion, in: Herrmann-Pillath, C. / Lackner, M. (Hrsg.), Länderbericht China, 2000, p. 222.

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tance of international law principles by the international society at large. 3 Therefore in order to avoid negative consequences, such entities normally endeavour to bring their domestic law in compliance with the general principles of international law. Due to Hong Kong’s past of economic prosperity and reputation as a centre for global trade, Hong Kong has historically been viewed as the gateway connecting China to the rest of the world. With their own interests in mind, many countries and international organizations strongly insisted that Hong Kong maintains its peace and prosperity. 4 A clarification of Hong Kong’s unique status as a SAR of China is necessary because only this status as a SAR of China provides the legal basis for Hong Kong’s current participation in international affairs and ensures the autonomy necessary for its economic prosperity. In order to understand Hong Kong’s unique status as a SAR of China, it is necessary to clarify Hong Kong’s status as a political entity and its treatymaking power in history. This paper first discusses Hong Kong’s autonomous status as a province of China prior to British rule. As a province of China, Hong Kong did not enjoy any sort of special status. Later, the status of Hong Kong had been less clear. Therefore, this paper will continue in discussing Hong Kong’s autonomous status during British reign and then its autonomy status subsequent to the British rule. After discussing the historical context of Hong Kong’s status and treaty-making power, this paper will analyse in depth Hong Kong’s current autonomous status and treaty-making competence as an SAR. It will focus on (1) the establishment, organization, and procedures regarding Hong Kong’s treaty-making competence, (2) the scope and legal effect of, and responsibility for, international treaties entered into, and (3) the principle of pacta sunt servanda. Lastly, the paper will appraise the 1990 Law of the People’s Republic of China on the Procedure of the Conclusion of Treaties and discuss (1) China’s changing attitude towards international law, (2) the evolving characteristics of Hong Kong’s status as a subject of international law, and (3) the ramifications of Hong Kong’s treaty-making competence as an SAR of China.

___________ 3

Buergenthal, T. et al., Grundzüge des Völkerrechts, 2nd ed., 2000, p. 7. See Communication from the Commission to the Council – The European Union and Hong Kong: Beyond 1997, EC Doc. COM/97/0171 Final, p. 1. As early as in 1992, the US Congress promulgated the United States-Hong Kong Policy Act. 22 U.S.C.

United States Code §§ 5701–5732 (Suppl. V 1994). The Act allowed the US government to treat Hong Kong as an autonomous region with respect to economy and trade. 22 U.S.C. § 5713 (3). The US supports Hong Kong’s democratization after 1997 (§ 5701 (6)) and respects Hong Kong’s status as contracting party of GATT and grants Hong Kong most-favoured nation treatment. (§§ 5712 [3] and 5713 [4]). 4

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II. Hong Kong’s Status as a Subject of International Law Hong Kong has never been deemed an independent and autonomous political entity because it has never satisfied the three basic requirements necessary to realize such status: people, territory, and effective government. 5 However, according to international law theory, Hong Kong could be regarded as a member state of a federation and therefore could also consequently enjoy the status of an autonomous subject of international law.

1. Hong Kong as a Province of China Until 1842 a) Hong Kong’s Status as a Legal Entity and as a Subject of International Law Legal subjectivity and legal capacity are two key concepts in legal theory. The understanding of a legal system requires an understanding of these two concepts. 6 A subject of international law has the ability to enjoy rights afforded by and assume obligations commanded by international law. It is also capable of participating in legal relationships with other international legal subjects. The possession of a right to act is a precondition to an entity’s legal ability to carry out certain actions. In this way, there is no difference between international and domestic laws. Any exercise of a right, or performance of an obligation, is only meaningful if the entity performing the action possesses a right to do so. Whether or not an entity has the legal capacity for acting, does not affect its status as subject of international law. 7

___________ 5

Ipsen, K., Völkerrecht, 4th ed. 1999, p. 55; Kimminich, O. / Hobe, S., Einführung in das Völkerrecht, 7th ed. 2000, p. 74 ff. 6 See Baumann, J., Einführung in die Rechtswissenschaft, Rechtssystem und Rechtstechnik, 8th ed. 1989, p. 117. 7 For example, the German Empire’s legal status as subject of international law did not terminate at the end of the World War II, while it lost its capacity to act after the declaration depriving the highest level of administration from German government on June 5, 1945 made by the coalition of UK, US, France and the Soviet Union. Another example is that, during Germany’s occupation of Belgium during the two world wars, Belgium did not lose its status as subject of international law. See Blumenwitz, D., Was ist Deutschland? 3rd ed. 1989, p. 33 et seq.; Doehring, K., Die Wiedervereinigung Deutschlands und die europäische Integration, in: NJW 1982, p. 2209 ff.

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b) As a Province of China, Hong Kong does not Enjoy the Status of Being the Subject of International Law Hong Kong’s administrative history and its geography show that it had undoubtedly been part of China until 1842. Under the centralized dynastic government systems of historical China, all rights afforded to and all obligations demanded from political subdivisions were controlled by the central government. Historically, only the centralized Chinese dynastic governments acted on the international level. These governments always represented the interests of the entire territory of modern China in the international community. There are no historical records indicating that Hong Kong ever possessed the status of an autonomous subject of international law.

2. Hong Kong Under the Reign of Britain 1842–1997 a) Whether Hong Kong once Possessed the Status as Subject of International Law According to general theories of international law, a subject of international law is first and foremost an independent, autonomous, political entity. However, a member state or political subdivision of a federation can also enjoy the status of a subject of international law if the constitution or constitutional practice of that federation renders the state the necessary independence recognized by the international community. 8 The rights and obligations of such member state of a federation are normally limited. Therefore, it can normally only partially enjoy the status of a subject of internal law. Thus, when Hong Kong was a district under the reign of the British government, if Hong Kong could have been classified as a member state of a federation, it could possibly also have been regarded as a subject of international law. The precondition for Hong Kong’s classification as a subject of international law would have been its competence for concluding international treaties. Since Britain did not have a constitution, finding the relevant legal text necessary to prove this precondition is difficult. Moreover, in general, there is no official recognition in treaties with third states. However, the British government never opposed Hong Kong’s ability to conclude treaties suggesting that the British government adopted an implied policy of approval. 9 ___________ 8

For example, Ukraine and Belarus were two member states of the former Soviet Union and the constitution of soviet rendered them with treaty-making competence. See Gornig, G., Hongkong. Von der britischen Kronkolonie zur chinesischen Sonderverwaltungszone. Eine historische und rechtliche Betrachtung, 1998, p. 149. 9 See Alder, J., Constitutional and Administrative Law, 2nd ed. 1994, p. 3.

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Without a third party’s willingness to conclude a treaty with Hong Kong, it could not have claimed to have been a contracting party or a subject of international law. During British reign, Hong Kong concluded many commercial agreements including bilateral agreements with other countries. The conclusion of such bilateral agreements indicates the third party’s recognition of Hong Kong’s status as a subject of international law. The conclusion of bilateral agreements is even more indicative of a contracting party’s status as a subject of international law because bilateral treaty making requires the direct cooperation of both parties, certainly as regards binding obligations. 10 However, another opinion holds that the joining of international organizations by itself constitutes recognition by the international community of an entity’s status as a subject of international law. 11 Therefore, Hong Kong’s status as a subject of international law could also be proven by the existence of evidence showing that Hong Kong had joined international organizations during the reign of the British government. 12 Even though Hong Kong was not a member of the United Nations, Hong Kong participated with membership rights in the Asian Development Bank (ADB), in the General Agreement on Tariffs and Trade (GATT), 13 and in the World Meteorological Organization (WMO). As a full member of these international organizations, Hong Kong was required to fulfil its obligations to other member states, and these member states were likewise required as well to fulfil their obligations vis-à-vis Hong Kong. According to this theory, it is not important whether the other members recognized Hong Kong’s status expressly, by implication 14 , or not at all. Instead, membership in such an organization creates a legal relationship that binds all members of the organization. Therefore, according to this theory, since Hong Kong belonged to such organizations during British reign, Hong Kong enjoyed the status of a subject of international law even if it was not an autonomous, sovereign state.

___________ 10

Gornig (note 8), p. 152. There are still conflicts about this point, e.g. Israel is a member of the United Nations but is not recognized by Arab countries. 12 See Uibopuu, H.-J., Die Völkerrechtssubjektivität der Unionsrepubliken der UdSSR, 1975, p. 271 ff.; Verdross, A., Die Völkerrechtssubjektivität der Gliedstaaten der Sowjetunion, in: Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht 1 (1948), p. 212 ff. 13 See Shi Jiuyong, Hong Kong and GATT, Chinese Yearbook of International Law (1987) (Chinese), pp. 259–279. 14 See Dahm, G., Völkerrecht, vol. 1, 1958, p. 144; Kelsen, H., The Law of the United Nations, 1951, p. 79. 11

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b) The Characteristics of Hong Kong’s Status as a Subject of International Law As previously discussed, the answer to the question, whether Hong Kong enjoyed the status of a subject of international law during the time of the British is unclear. For the sake of argument, the following discussion assumes an affirmative answer to this question. It will address the characteristics of this legal status including whether this status was inherent or derivative and whether it is limited or universal. Whether an entity’s status as a subject in international law is inherent or derivative depends on the status’s origin. If an entity declares its own right to participate in international affairs, then the status is original. Conversely, if an entity’s right to participate in international affairs is derived from a separate entity with original status, then the status is derivative. 15 Hong Kong’s status as a independent subject of international law was not original. Hong Kong’s status as a subject of international law instead depended on whether or not the British government vested Hong Kong with independent treaty-making competence and whether or not other sovereign states recognized this competence. Subjects of international law can be divided in those with full legal capacity and those with partial legal capcity only. Subjects can either have full or partial treaty-making competence. 16 In principle, subjects with full treaty-making competence enjoy full rights and are fully responsible for the discharge of their obligations in international legal relations. This status is based on their characteristic as a “recognised politically and legally organised territorial entity.” 17 Some political entities gain qualification as subjects of international law based on an individual right or obligation of international law. The treaty-making competence of such entities can be limited, and consequently, their legal capacity as a subject of international law is limited. Subjects of international law that only possess partial rights and obligations in international law 18 have thus a partial legal capacity in international law only, while other entities possessing full rights and obligations have full legal capacity. The latter entities can transfer part of their rights and obligations to other entities.19 Entities unto which these rights and obligations are bestowed become partial subjects of international law. ___________ 15 Original subject of international law refers to a state, while a derivative subject of international law can be, for example, an international organizations. 16 See Münch, I. v., Völkerrecht, 2nd ed. 1982, p. 11. 17 Ibid. 18 Entities with limited qualification as the subject of international law are the Pope, the International Committee of the Red Cross and member states of a federation. 19 See Seidl-Hohenveldern, I. / Stein, T., Völkerrecht, 10th ed. 2000, p. 129.

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Special or individual qualification as a subject of international law refers to qualification by recognition from other subjects of international law. According to international law, the granting of rights and obligations can only be applied to subjects with a potential treaty-making competence. 20 Thus, these entities can be considered to possess special or individualized qualifications as subjects of international law which are recognized by specific sovereign states or organizations. 21 Though Hong Kong was permitted to make treaties with third countries in the fields of commerce and trade, it did not have any treaty-making competence with respect to the field of foreign affairs, which can be deemed as the evidence of Hong Kong’s derivative and partial qualification of subject of international law only. 22 Besides, since it was only recognized by contracting parties, Hong Kong can only be deemed as a partial subject of international law.

3. Hong Kong as the SAR of China from 1997 to the Present The development of Hong Kong’s political situation has attracted close attention from the international community. Hong Kong’s current political situation is the result of the will of the Chinese government, which has its own and different understanding of international law.

a) China’s Attitude Towards International Law and its Basic Concepts Until the 1960’s, China had been wary of the international law promulgated by the western countries. In fact, the PRC and the United Soviet Socialist Republic (USSR) claimed to have established their own special socialist international law. It was not until 1971 – when China’s status as a member of the United Nations (UN) was restored – that China accepted western international law concepts including acceptance of and identification with the objectives and purposes set out in the UN-Charter. 23 However, the following three basic con___________ 20

Seidl-Hohenveldern / Stein (note 19), p.130. Take, for example, the independent Sovereign Order of Malta. It is recognized as subject of international law by some countries but not by others. However, this does not mean that recognition is a precondition of the existence of a subject of international law. On this see Seidl-Hohenveldern / Stein (note 19), pp.139–141. 22 Dicks, A., in: Shepher, V. (ed.), Round Table Conference on International Law Problems in Asia, 1969, p. 153. According to him Hong Kong can at most be a partial subject of international law. 23 Lecture delivered by former Chinese leader Jiang Zemin at the 16th and 17th plenary conferences of Communist Party in 1997 and 2002. He pointed out that the new world order was deeply based on the five principles of peaceful coexistence and was 21

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cepts are still unalterable and indispensable components of China’s understanding of international law. The first and most important component is the concept of state sovereignty. As some foreign scholars have noted, the concept of state sovereignty has become part of the sacrosanct “Five Principles” and comprises the “holy trilogy” of territorial integrity, non-interference with internal affairs and reciprocity. 24 The second component is the concept that unequal treaties 25 like those imposed by imperialist governments over the course of history must be abolished or replaced by other agreements. The third component is the importance of the principle of pacta sunt servanda 26 and rebus sic stantibus. 27 Based on the principle of pacta sunt servanda, China had tolerated the fragmentary state of its territorial sovereignty over 99 years. With reference to the principle of rebus sic stantibus, the government and scholars in China state that the definition in the juridical theory is surely important, but those who deduce its validity from reason or morality make the natural law eventually prior to the law of jurists. 28 However, China’s understanding of the basic concepts of international law has not seemed to influence the issue of Hong Kong’s qualification as a subject of international law. The reason for this development may be attributable to the fact that international law doctrine in China paid more attention to the issues, whether the treaty ceding Hong Kong to the British in the 19th century was valid and consequently whether Hong Kong should have belonged to China during the time of British reign. In fact, many scholars avoid talking about the ___________ also compliant with the objectives and principles of the UN Charter, which reflect the spirit of peace and development, see People’s Daily, 9 November 2002, p. 3. 24 Weggel, O., Chinas Außenpolitik am Ende des 20. Jahrhunderts, in: China aktuell, November 1998, p. 1228. 25 On “unequal treaties”, see Thönnes, A., Das Ende der ungleichen Verträge in China, Archiv des Völkerrechts 4 (1953/1954), p. 158 ff.; Wesley-Smith, P., Unequal Treaty 1898–1997: China, Great Britain and Hong Kong’s New Territories, 2nd ed., 1983; Li Yuming, The treaty system in recent China (Chinese), Press of Hunan Normal University, Edition 1995, p. 6. 26 Pacta sunt servanda means “promises must be kept” or “pacts must be respected”. 27 Rebus sic stantibus means “at this point of affairs; in these circumstances”. This is a tacit condition attached to all treaties to the effect that they will no longer be binding as soon as the state of facts and conditions upon which they were based changes to a substantial degree. If the background and basic conditions have changed, the content of treaties should be renegotiated and revised, and the ex-treaties will become invalid. 28 Weggel (note 24), p. 1228. Law of jurists is a concept contrary to natural law. It is statute law, namely law and rule. Herein, it involves the distinction between justice/equity and law, but not all the laws represent justice. Law should be measured through natural law in order to identify its justice. For example, the law is unjust if it prescribed that Jews must be executed, for it disobeys people’s natural principles of justice/natural law. However, as natural law has been influenced by different kinds of traditions and cultures, perceptions of justice differ. And this would undermine the stability and popularity of law.

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so-called “problem” of Hong Kong’s qualification as a subject of international law 29 and shift the focus of their discussions to the return of Hong Kong to China and the autonomy of the Hong Kong SAR. 30

b) The Evolution of Hong Kong’s Character as Subject of International Law Since the return of Hong Kong as a SAR of China in 1997, Hong Kong has continued to possess derivative and partial qualification as a subject of international law. However, a difference is that now Hong Kong’s qualification as a subject of international law has now been confirmed by Article 31 of the Constitution of the People’s Republic of China of 1982, the 1984 Joint Declaration of the Government of the UK and the Government of the People’s Republic of China (PRC) on the Question of Hong Kong (“Joint Declaration”), and the Basic Law of the Hong Kong SAR. 31 The scope of Hong Kong’s capacity as a subject of international law is now much greater then it was under the reign of the United Kingdom, as will be shown later in detail.

III. Hong Kong’s Competence to Conclude Treaties in International Law 1. The Conclusion of Treaties in International Law According to Article 6 of the 1969 Vienna Convention on the Law of Treaties, every sovereign state possesses the capacity to conclude treaties. International norms can be found in international treaties, international customary law ___________ 29 “Chinese are generally not willing to express clearly what they had done in fact.” – Prof. Mushkat, Hong Kong University, in a private conversation with the author about the status of Hong Kong as an international subject and its competence to conclude treaties on 25 January 2002. Cf. Mushkat, R., One Country, Two International Legal Personalities. The Case of Hongkong, 1997; Ress, G., The Legal Status of Hongkong after 1997, ZaöRV 46 (1986), p. 647 et seq. 30 See Ren Wanxing, General discussion of the Basic Law of the Hong Kong SAR (Chinese), 1997, pp. 66–103. Zhang Xueren, General Introduction to Law of Hong Kong (Chinese), 1996, pp. 40–41. Zeng Huaqun, On the basic characteristics of Hong Kong’s Highly Autonomy and its practices in foreign affair (Chinese), in: Studies and Comparison on the legal systems between Hong Kong and the Mainland, 2000, pp. 570– 586. Yang Jinghui / Li Xiangqin, Studies on Comparison of the Basic Law between Hong Kong and Macau (Chinese), 1997, pp. 164–184. 31 See Ge, Y., Verfassungsrechtliche Grundlagen von Hongkong, in: Verfassung und Recht in Übersee 35 (2002) , p. 355 ff.

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and in the general principles of law, 32 all of which together provide the sources of international law. 33 International treaty law comprises legal norms on treatymaking. The law of treaties 34 does not involve the content of treaties. Instead, the law of treaties covers the form and validity of written treaties, including treaties establishing international organizations 35 and addresses, inter alia, the conclusion of treaties, the entry into force, the application and interpretation of treaties, their validity, invalidation and termination, and the basic principle of pacta sunt servanda. Negotiations for treaty conclusion are generally initiated by representatives of the contracting parties. Therefore, these representatives need “full powers” of representation so as to confirm their identity and competence. According to the constitution of e.g. Germany, a representative with “full powers” refers to heads of state or ministers of foreign affairs. 36 “Full powers” according to international law may be shown expressly, by implication or are presumed in view of the official function of the representative. 37 ___________ 32 See Art. 38, para. 1, of the Statute of International Court of Justice. Generally thinking, this article’s enumeration of the sources of international law is not very exhaustive, and the sources of international law will also develop with the development of international society. 33 See Herdegen, M., Völkerrecht, 2nd ed. 2000, p. 105. 34 Which is also called “formal law of treaties”, cf. Li Haopei, General Discussion on the Law of Treaties (Chinese), 2003, p. 55. 35 Art. 1 and 5 of Vienna Convention on the law of treaties of 1969. 36 Cf. Federal Constitutional Court of Germany which stated that according to the German constitutional practice, the Imperial Agreement (Reichskonkordat) signed by Hitler on 20 July 1933 was legally valid, notwithstanding his violation of the Constitution (Weimarer Reichsverfassung) which was still valid at that time – BVerfGE 6, p. 319, 331. 37 See Art. 7 of the Vienna Convention which reads: (1) A person is considered as representing a State for the purpose of adopting or authenticating the text of a treaty or for the purpose of expressing the consent of the State to be bound by a treaty if: (a) he produces appropriate full powers; or (b) it appears from the practice of the States concerned or from other circumstances that their intention was to consider that person as representing the State for such purposes and to dispense with full powers. (2) In virtue of their functions and without having to produce full powers, the following are considered as representing their State: (a) Heads of State, Heads of Government and Ministers for Foreign Affairs, for the purpose of performing all acts relating to the conclusion of a treaty; (b) heads of diplomatic missions, for the purpose of adopting the text of a treaty between the accrediting State and the State to which they are accredited; (c) representatives accredited by States to an international conference or to an international organization or one of its organs, for the purpose of adopting the text of a treaty in that conference, organization or organ.

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The method for establishing an international treaty is the same as it is for creating a contract. In order to establish an international treaty or a contract, there must be offer and acceptance. When the authentic intent of each contracting party is expressed and each contracting party assents to be bound by the treaty, a treaty is established. According to Article 12 of the Vienna Convention, the consent of a state to be bound by a treaty can be expressed by the signature of its representative or, as provided by Article 13, by the exchange of instruments. In the former procedure, the signature serves a double function. The signature certifies the text of the treaty and the treaty’s entry into force. 38 However, according to international law, a treaty must go through the following procedures to be legitimized; representatives of the contracting parties must first meet to negotiate the treaty, compose the treaty, sign the treaty, and finally perform the ratification procedure.

2. Hong Kong’s Competence to Conclude Treaties Under UK’s Reign a) Competence of Special Regions to Conclude Treaties Some specific territories are considered to be special regions. These special regions can be classified as follows: regions directly governed by a central government, states belonging to a federation, protectorates, trust territories, regions governed by de facto Regimes, free cities, international regions, international administrative regions, non-military/immune/neutral regions, sovereign state territories within another sovereign state, colonies, regions governed by more than one sovereign state, leased regions, and autonomous regions. 39 The international law of treaties in these regions is different and depends on the extend of the powers granted to the governing agency. Normally, the scope of the treaty-making competence of these regions is limited. International agreements into which these regions enter must generally be approved by their governing agency in order to be legitimized. Governing agencies, therefore, are normally co-responsible for these treaties.

___________ 38

Herdegen (note 33), p. 112. See Scheuer, M. P., Die Rechtslage von Hongkong und Macau nach den „Gemeinsamen Erklärungen” vom 19.12.1984 und 13.04.1987: unter besonderer Berücksichtigung der chinesischen Verfassung und der “Grundgesetze” (Basic Law, Lei Básica), 1993, p. 160. 39

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b) Hong Kong Possessed the Limited Competence to Conclude Treaties Although Hong Kong was vested with partial qualification as a subject of international law under British reign, it rarely possessed the competence to conclude treaties. According to the general policy principles in dealing with its colonies, the British government retained the power to conclude treaties. 40 Despite this, Hong Kong concluded numerous international treaties under British reign. To understand this situation, one must look at Hong Kong’s special status over the course of history in international law. In practice, the Foreign and Commonwealth Office of the United Kingdom ordered the political advisors of Hong Kong to assume responsibility for the foreign affairs of Hong Kong. 41 Instead of political affairs, the political advisors restricted themselves to establishing lasting economic relationships with foreign countries for Hong Kong. Hong Kong’s history of economic independence was derived from its special historical status in international law. Hong Kong under British reign concluded various kinds of multilateral and bilateral agreements and was accepted by many international organizations. 42 Some of these agreements were concluded by Hong Kong with prior approval of the British government but some were not. 43 Therefore, most treaties entered into by Hong Kong were essentially concluded by the British government, but in some areas Hong Kong participated in the negotiating process independently – only with the implied approval of the British government. However, for all such implied agreements the British government was co-responsible for Hong Kong’s independent actions.

___________ 40

See Gornig (note 8), p. 123. See Zhang Xueren, General Introduction to Law of Hong Kong (Chinese), 1996, p. 24. The international treaties and agreements concluded by Hong Kong are mainly concerned with economy, culture and technical problems, see Laws of Hong Kong, Chapter 190. 42 Such as Asia-Pacific Telecommunity, International Labour Organization, and International Monetary Fund. On the problem of the relation between Hong Kong and international organizations before 1990’s, see Yao Zhuang, Hong Kong and international organizations (Chinese), Chinese Yearbook of International Law (1989), pp. 321–335. The relationship after 1990 until 2003, see Ge, Y., Hongkong und die Europäische Union, 2003, p. 224–234. 43 See Nieh Yu-Hsi, Hong Kong Political Social Economic Data, in: China aktuell 1995, p. 157. But the agreement concerning textiles between Hong Kong and EC concluded on 8 April 1976 even didn’t include the clause of approval. See EC OJ 1976, No. L 108/1. 41

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3. Hong Kong as a SAR of China a) The Provisions and Scope of Hong Kong’s Treaty-Making Competence Contrary to the situation under the control the UK, Hong Kong has now its own capacity to conclude treaties. In fact, as a SAR, Hong Kong’s competence is much wider than it was before 1997. The Hong Kong SAR enjoys the general treaty-making ability to maintain and develop economic and cultural relations with foreign states and other international organizations, according to Art. 3, para. 10, of the Joint Declaration 44 and Art. 6 of Annex I. 45 Additionally, according to Art. 116, 133, 134, and 150–155 of the Basic Law, the Hong Kong SAR is entitled to establish and maintain foreign relations with third states and international organizations. The Hong Kong SAR also has the right to participate in the defence and foreign affairs relevant its own profits, 46 and they may do so within the scope of authorisation by the Central People’s Government (CPG) and the Basic Law. Therefore, Hong Kong can take part in the World Trade Organization and other international agreements using the name “Hong Kong, China”. 47 Moreover, Hong Kong is authorized to conclude air service agreements with foreign states. 48 According to the Art. 150 Basic Law, Representatives of the Government of the Hong Kong SAR may, as members of delegations of the Government of the PRC, participate in negotiations at a diplomatic level directly affecting the Region. The extension of Hong Kong’s treaty-making competence is based in Art. 151 Basic Law, which provides that the Hong Kong SAR may use the name “Hong Kong, China”, maintain and develop relations and conclude and implement agreements with foreign states and other relevant international organizations in related fields, including those fields dealing with the economy, trade, financial and monetary, shipping, communications, tourism, culture, and sports. Furthermore, according ___________ 44

Art. 3, para. 10, Joint Declaration: Using the name of ‘Hong Kong, China’, the Hong Kong Special Administrative Region may on its own maintain and develop economic and cultural relations and conclude relevant agreements with states, regions, and relevant international organisations. 45 Annex I of the Joint Declaration: Elaboration by the government of People’s Republic of China of its basic polices regarding Hong Kong. 46 Art. 13, 14, 132 and 153 Basic Law. 47 Art. 116 Basic Law. 48 Art. 133 and 134 Basic Law. The Air Agreement with the UK concluded on 25 July 1997 is the first bilateral treaty that the Hong Kong SAR concluded in the name of “Hong Kong, China” according to Joint Declaration, Basic Law, and the authorization of the Chinese foreign minister. See Hong Kong Information Note, Information Services Department, Annex 1, Major Topics Covered in Bilateral Agreements or Arrangements, p. 4, December 2001.

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to Art. 155, the Hong Kong SAR can conclude visa abolition agreements with foreign states or regions. 49 It must be pointed out that the head of the Hong Kong SAR has no power to expand the ability to conclude treaties. Some closely linked problems are: What is the function and effect of the ability to conclude treaties? What is its connotation? First, the ability to conclude treaties is a great progress as compared to Hong Kong’s limited ability under the reign of the UK. Secondly, the ability of the Hong Kong government to have more autonomy leads to a greater freedom of operation and lays the foundation to Hong Kong’s abilities as authorized by the National People’s Congress (NPC). 50,51 According to the Basic Law, the Hong Kong SAR is only entitled to exercise its existing competence. The power of interpretation and amendment is vested exclusively in the NPC 52 and the Hong Kong SAR has only a limited right of proposals. 53

b) The Executing Organ and Procedure of Hong Kong’s Treaty-Making Competence The conclusion of treaties between China and foreign states is governed by the Law of the People’s Republic of China on the Procedure of the Conclusion of Treaties (LPCT). The Law was enacted in accordance with the 1982 Constitution of the PRC 54 and entered into force in 1990. According to article 3 LPCT, the Ministry of Foreign Affairs of the PRC is responsible for arranging the conclusion of treaties and agreements with foreign states, whereas this must be under the leadership of the State Council (the same as CPG). It is the State Council that concludes treaties and agreements with foreign states. The decision about the ratification and abrogation of treaties and other important agreements lies with the Standing Committee of the NPC of the PRC, they are signed into force by the President of the PRC. 55 ___________ 49

Of course it is under the assistance or authorization of CPG. With respect to the election of the people’s congress in different levels, refers to Jacobs, J. B., Elections in China, in: Australian Journal of Chinese Affairs, January 1991, pp. 171 et seq.; O’Brien, K., China’s National People’s Congress: Reform and its Limits, in: Legislative Studies Quarterly, vol. 13, August 1988, pp. 349 ff. 51 Art. 2 Basic Law. 52 Art. 158 and 159 Basic Law. 53 See Ge (note 32), p. 369–370. 54 Art. 1 of Law of the People’s Republic of China on the Procedure of the Conclusion of Treaties. 55 Art. 3 of Law of the People’s Republic of China on the Procedure of the Conclusion of Treaties and Article 67, para. 14, of the Constitution of China in 1982. 50

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So far, there is no law or regulation concerning the executing organ and procedure of Hong Kong’s treaty-making. In principle, the procedure would have to be similar to the one set out in the LCPT. Hong Kong can negotiate with foreign states independently in accordance with the authorization of CPG. Because there is no Ministry of Foreign Affairs in Hong Kong, the competent organs are responsible for the negotiations, assisted by the International Law Division of the Department of Justice. 56 There are different procedures for concluding bilateral and multilateral treaties. 57 With respect to bilateral treaties, Hong Kong will send representatives to negotiate and sign the agreements, if the issues in the negotiations are within the competence of the Hong Kong SAR in accordance with Art. 151 Basic Law. Otherwise, the Hong Kong SAR has to request permission by the CPG via the Office of the Commissioner of the Ministry of Foreign Affairs of the PRC in the Hong Kong SAR (Office of the Commissioner of the Ministry). These applications will be examined case by case. 58 A specific procedure applies for treaties of a similar nature, such as air service agreements. In these cases, the supervisory organs (air service agreements are implemented by the Economic Development and Labour Bureau) prepare a lists of partners that Hong Kong wants to negotiate with and submit the lists as annexes to the applications for authorization. This kind of authorization can be used several times without applying anew. Where a multilateral treaty is to be concluded, the Hong Kong SAR government can apply for participation to the competent organ, or apply for the assistance of the CPG. If the application is confirmed, representatives of the government of the Hong Kong SAR will take part in the negotiations as members of the delegation of the PRC. 59 In this situation, the Hong Kong SAR decides for itself which provisions of the treaty to accept or refuse. In practice, the Hong Kong SAR government prepares each year a list of the agreements it wants to conclude, and attaches this to the application mentioned above. In exceptional cases, such list may consist of one treaty only. 60 The application and the list will first be examined by the Office of the Commissioner ___________ 56 Information from a private conversation between the writer and an officer of the Office of the Commissioner of the Ministry of Foreign Affairs of the People's Republic of China in the Hong Kong SAR in January 2002, who did not want to make his name known. 57 Information from a private conversation between the writer and Ms Li Xiujing, senior law officer of International Law Division of the Hong Kong SAR Department of Justice, January 2002. 58 Ibid. 59 Similar to Art. 152, para. 1, Basic Law. 60 The text is published in the Hong Kong Government Official Gazette. Some memorandum or secret economic treaty will not be published, see Li Shiguang, Multilateral Treaty and Negotiation Skills (Chinese), Chinese Yearbook of International Law (1998), pp. 53–56.

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of the Ministry, and then be submitted to the CPG. 61 The entire process of negotiation is under the primary responsibility of the Chief Secretary for Administration. However, it is the Department of Justice which is responsible for specific legal questions and for the translation of the texts. Therefore, the delegation of the Hong Kong SAR consists of one or two representatives from each relevant department. Normally, when exchanging the texts, the documents provided by the Hong Kong SAR are proposed to be treated as the official text. Because the text is normally written in English and not in Chinese, there is no language problem with the other contracting parties.62 After successful negotiations, treaties or agreements will be initially signed by the head of the delegation, usually the Chairman of the Department of Administration. 63 Multilateral treaties in which the Hong Kong SAR takes part, are signed by the delegate with full power of CPG. 64 If both China and Hong Kong are contracting parties, either signs each text. At the end, texts of treaties or agreements shall be submitted to the Standing Committee of the NPC for the record. In the Hong Kong SAR, each functional department of the government independently takes charge of certain fields. Each department can decide itself whether the negotiation of an international treaty would be within the competence of the Hong Kong SAR or if it needs the authorization of CPG. In the latter case, the treaty shall be listed and submitted to the CPG with the application. If a treaty concerns several fields, relevant departments team up and make decisions together. That is to say, no department can make any decisions on its own. Nevertheless, the Constitutional Affairs Bureau plays a coordinative role between the Hong Kong SAR and the CPG. The Office of the Commissioner of the Ministry has similar functions. 65 Sometimes, the CPG channels proposals through the Office of the Commissioner of the Ministry, or inquires through the Constitutional Affairs Bureau, whether the Hong Kong SAR has the intention to make a treaty applicable to the Hong Kong SAR, or to participate in the negotiation or drafting of a treaty. 66 The Department of Justice plays a very important role in the conclusion of treaties and provides advice for the governmental organs as required. Being a ___________ 61

There has been one rejection till January 2002. Information from a private conversation between the writer and Xiujing Li, senior law officer of International Law Division of the Hong Kong SAR Department of Justice, January 2002. 63 The law prescribes that it should be signed by the governor of the Hong Kong SAR, but usually he authorises the head of the delegation to sign – ibid. 64 Ibid. 65 Information from a private conversation between the writer and Xiujing Li, senior law officer of International Law Division of the Hong Kong SAR Department of Justice, January 2002. 66 Ibid. 62

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subordinate unit of the International Division the Treaties and Law Unit is the main operative organ for the participation in the conclusion of treaties. The Mutual Legal Assistance Unit mainly deals with supplementary agreements and the implementation of treaties, but participates sometimes also in negotiations. The tasks related to treaties include negotiation and providing advisory opinions. In the case of multilateral treaties, lawyers and advisors of the Department of Justice participate in the negotiations, draft texts, and assist relevant organs in their decision-making as to which treaties shall be applied to the Hong Kong SAR. Subsequently, they assist in the adoption of new laws or amendments to current laws and regulations. 67 Lastly, they provide judicial advices and proposals on the interpretation and implementation of some treaties.

c) The Principle of Observation and Application of International Treaties There is no explicit confirmation in the Basic Law or the LCPT of the pacta sunt servanda principle, 68 but Art. 142, para. 2, General Principles of the Civil Law of the PRC, which was adopted at the fourth session of the sixth NPC and effective as of 1 January 1987, provides that if any international treaty concluded or acceded to by the PRC contains provisions differing from those in the civil laws of the PRC, the provisions of the international treaty shall prevail, unless the PRC has validly expressed a reservation. However, Art. 150 provides that the application of foreign laws or international practice in accordance with the provisions of this chapter shall not violate the public interest of the PRC. As a principle of Chinese compliance, if China has not announced reservations and the application does not violate the public interest, the treaty will likely to be applied. 69

d) The Territorial Scope and Legal Effect of International Treaties The legal effect of international treaties in the Hong Kong SAR depends on Hong Kong’s involvement in the treaty. If Hong Kong accedes to conventions as a contracting party itself, it enjoys rights regulated in those conventions and assumes obligations. If, on the other hand, China is the contracting party while ___________ 67

In the Hong Kong SAR, the Law Drafting Division of the Department of Justice is in charge of the preparation of law drafting. 68 See Art. 26 of the Vienna Convention on the Law of Treaties: Every treaty in force is binding upon the parties to it and must be performed by them in good faith. 69 See Wang Liyu, Application of International Treaties in the Domestic Law of China (Chinese), Chinese Yearbook of International Law (1993), pp. 296–301.

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Hong Kong is not, and the scope of validity of that convention covers Hong Kong, even though Hong Kong has the obligation to comply with the convention, 70 it is China who is responsible for the implementation under public international law. According to Art. 29 of the Vienna Convention on the Law of Treaties, this situation is nothing exceptional since Hong Kong is a part of China. 71 Given Hong Kong’s special status based on the principle of “One country, Two systems”, a provision is usually added to conventions: If a country has two or more regions in which different legal systems exist, 72 and these national laws are affected by a convention, the country may, at the time of signature, ratification, acceptance, approval, or accession, declare that this convention applies to all its territory or only to one or more regions, and may amend its declaration by submitting another declaration at any time. 73 These declarations are to be submitted to the depositary and need to state the regions to which the convention shall apply. 74 Thus, the Hong Kong SAR reserves rights different from other regions of China, i.e. the right to make one convention apply to it or not by a declaration, and to submit a declaration to the depositary of treaty.

IV. Relationship Between the Status and Treaty-Making Competence of Hong Kong 1. Relationship Between the Hong Kong SAR and CPG Chapter two of the Basic Law sets forth the relationship between the Hong Kong SAR and the CPG. The following provisions apply to the external relations: The Hong Kong SAR shall be a local administrative region of the PRC, which shall enjoy a high degree of autonomy and come directly under the CPG (Art. 12 Basic Law). The CPG shall be responsible for the foreign affairs relat___________ 70

On the regional level, international conventions or agreements are implemented by the Hong Kong Government with executive measures in the Hong Kong SAR, if they concern civil norms, then the laws must be revised or new laws must be promulgated – see Xu Hong, International Treaties as Applied in Hong Kong (Chinese), Chinese Yearbook of International Law (1997), pp. 354–355. 71 Art. 19 of the Vienna Convention on the law of treaties: Unless a different intention appears from the treaty or is otherwise established, a treaty is binding upon each party in respect of its entire territory. 72 See A.H.Y. Chen, The Legal System, in: Cheng, J.Y.S. (ed.), Hong Kong in Transition, 1986, pp. 88 ff.; Wesley-Smith (note 25). 73 See Art. 1 of the Convention for the Unification of certain Rules for International Carriage by Air (Montreal, May 1999), Article 56: States with more than one System of Law. 74 Art. 2 supra.

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ing to the Hong Kong SAR (Art. 13, para. 1, Basic Law). The courts of the Hong Kong SAR shall have jurisdiction over all cases in the Region, except that the restrictions on their jurisdiction imposed by the legal system and principles previously in force in Hong Kong shall be maintained (Art. 19, para. 2, Basic Law). Otherwise, the CPG shall be responsible for the defence of the Hong Kong SAR (Art. 14, para. 1, Basic Law), appoint the Chief Executive and the principal officials of the executive authorities of the Hong Kong SAR (Art. 15 Basic Law). Although Hong Kong has a status similar to other Chinese cities directly under the Central Government, 75 Hong Kong is more similar to China’s first group of special economic zones including Shenzheng, Zhuhai, Shantou, and Xiamen. As the first SAR of China, Hong Kong marked the beginning of a new administrative system of Chinese territories. Among the SARs, Hong Kong enjoys an incomparably high degree of autonomy. However, Hong Kong’s lacks a fundamental premise for its autonomous status. There is no clear and definite distinction between the competence of CPG and the Hong Kong SAR. 76 Some scholars point out that the Basic Law pays more attention to measures that prevent The Hong Kong SAR from exceeding its accorded autonomy than it does to measures that prevent the CPG from reducing The Hong Kong SAR’s degree of autonomy. 77

2. The Status as a Subject of International Law and the Treaty-Making Competence As previously discussed, the status as a legal subject is regulated by relevant provisions. Qualification as a legal subject of international law allows a subject to take part in international legal relations and to become bound by rights and obligations. The capacity to act can be derived from the capacity of right, but it is not solely derived from this right. The lack of capacity to act doesn’t influence the continual existence of the capacity of right. The capacity for treatymaking is the most important part of a subject’s capacity to act. At present, the Hong Kong SAR enjoys a derivative, partial, and special status of an international legal subject, which is same as its status in the period under British reign. Based on an authorization by the NPC, Hong Kong enjoys a high degree of autonomy, executive power, legislative power, independent judicial power, and power of final adjudication according to Art. 2 Basic Law. Furthermore, Hong ___________ 75

They are Peking, Shanghai, Tianjing and Chongqing after 14 March 1997. Horlemann, R., Die Rückgabe Hongkongs und seine neue Verfassung, 1999, p. 106 f. 77 Ibid. 76

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Kong enjoys extensive treaty-making competence. By contrast, entities such as the states of the United States of America, Canada, India, and other special regions do not enjoy this competence. Normally, colonial rule ends with freedom and independence. Hong Kong, however, is an exception. As some scholars point out, the destiny of Hong Kong’s six to seven million residents was determined without their participation. Neither the British nor the Chinese government took the residents desires into consideration. 78 The author does not agree with this statement and believes that the Chinese government, at least, made a great effort to accommodate the desires of Hong Kong’s residents. 79 However, the right of self determination is another topic altogether. 80 Besides, the autonomous status of the Hong Kong SAR is authorized by the NPC, ensured by the 1982 Constitution of China, the Joint Declaration, and the Basic Law. Since Hong Kong’s autonomous status derives from power authorized by the NPC, the degree of autonomy also depends on the voluntary self-restriction of China’s leading party not to interfere with the internal affairs of The Hong Kong SAR. China’s government has honoured this promise since 1997. Where the high degree of autonomy is strictly defined by relevant laws, the national interests of China as a whole are higher than any other interests. Therefore, the national interest of China is a gauge to judge the degree of autonomy and other relevant competence of the Hong Kong SAR, while different expressions in legal provisions are not enough to exert decisive influence. 81 The provision that preserves Hong Kong’s capitalist system and way of life for fifty years 82 corresponds with China’s interests. China regained sovereignty of Hong Kong on 1 July 1997. As a matter of fact, Hong Kong neither joined voluntarily China nor did it have the possibility to break away from China. 83 Even before regaining sovereignty over Hong Kong, China controlled Hong Kong’s water supply lifeline. China granted Hong Kong special status com___________ 78 There exists similar situations: For example, the negotiation between UK and Spain about the future of British region Gibraltar gave rise to anger of the local residents. 79 See Ge (note 32), p. 361–366. 80 On the question of whether Hong Kong has national decision-making power, see Wang Chen, The exercise of international law during the return of Hongkong (Chinese), Contemporary Law Review, vol. 7, 2003, pp. 136–137. 81 According to Art. 2 Basic Law, the National People’s Congress authorizes the Hong Kong SAR to exercise a high degree of autonomy “in accordance with the provisions of this Law”. However, the Joint Declaration doesn’t have any restrictive rules for the Hong Kong SAR’s autonomy except on diplomacy and defence. See Art. 2, para. 2, and Art. 3 of the Joint Declaration. 82 Art. 5 Basic Law. 83 Horlemann (note 76), p. 106.

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pared with other regions within China in consideration of its own interest. The establishment of the Hong Kong SAR should prove that the “One country, Two systems” policy is effective and successful. If the Hong Kong SAR was the same as other provinces, autonomous regions, and municipalities directly under the Central Government, there would have been no need to have signed the Joint Declaration and promulgate the Basic Law. The “One country, Two systems” policy emphasized by the leaders of the Chinese government will be implemented firmly, unshakably, and successfully. 84

3. The Influence of Hong Kong’s International Legal Status on its Treaty-Making Competence The Chinese government and many Chinese scholars try to avoid discussions on Hong Kong’s legal status as a subject of international law. They prefer to discuss, instead, whether Hong Kong’s autonomy is likely to have come from the concern that Hong Kong’s legal status as a partial subject of international law might possibly have destroyed the sovereignty of China as a whole. Such concern is entirely groundless both in legal theory and practice. Legal status only indicates a capacity for enjoying rights, assuming obligations, and becoming subject to rights and obligations. Moreover, as a symbol of sovereignty, the CPG controls Hong Kong’s diplomacy and defence. In fact, whether or not Hong Kong’s status as a subject of international law is recognized, the Hong Kong SAR has still made international treaties in various fields based on authorization of the Basic Law. In fact, The Hong Kong SAR’s widely acknowledged legal status based on its special status as an SAR will exert positive and important effects on parties contracting with Hong Kong because these parties will see stability in Hong Kong’s law and consequently validation for the contract. Furthermore, concern and participation in Hong Kong’s development by the international community are governed by international law in view of Hong Kong’s status as a subject of international law. Hong Kong’s definite status as a subject of international law will also reduce conflicts that could influence the international image and reputation of China and Hong Kong. If so, Hong Kong’s treaty making and active capacity in international law should be better protected and developed.

___________ 84 See Report from the Commission to the Council and the European Parliament – Hong Kong Special Administrative Region: Fourth Annual Report – 2001, EC Doc. COM/2002/0450 final, p. 3.

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V. Conclusion The Hong Kong SAR enjoys a high degree of autonomy and a treaty-making competence like no other political entity in the world. Until 1842 Hong Kong had been part of the Qing empire. At that time Hong Kong was not an independent subject of international law. Under British reign, Hong Kong possessed derivative, partial, and individual status as the subject of international law. Since 1997, Hong Kong has continued to possess such status as a SAR of China. This status has been substantially protected by Chinese law and expanded in scope. By defining Hong Kong’s international legal status and treaty-making competence, Hong Kong’s capacity to act in the context of international law has been clarified. From the special provisions for the Hong Kong SAR (1997) and the Macau SAR (1999), the international community can clearly recognize the basic significance and main target of the “One country, Two systems” policy, which is to achieve economic prosperity and the reunion with Taiwan. Moreover, in view of the promises of the “One country, Two systems” and the “high degree of autonomy” policies emphasized by the leaders of the Chinese government, the international community can be confident these leaders will seriously respect international law and well as the constitution. This confidence on the part of the international community will help China to continue becoming a country ruled by law.

Verfassungsrechtliche Grundlagen der Wirtschaftsordnung in Chile Teodoro Ribera Neumann

I. Einführung Chile unterscheidet sich von den anderen iberoamerikanischen Ländern durch seine starke und stabile Wirtschaft. Die Folge ist eine ständige Verringerung der Armut und der Zahl der Randgruppen. In der Verfassung der Republik Chile von 1980 1 sind die juristischen Grundlagen dieses erfolgreichen Wirtschaftsmodells verankert. Insbesondere die Ausübung persönlicher Freiheit und die staatliche Subsidiarität werden als Grundpfeiler der öffentlichen Wirtschaftsordnung gesehen. Die wirtschaftlichen und politischen Ideologien des 20. Jahrhunderts waren der chilenischen verfassungsrechtlichen Entwicklung nicht fremd, so dass eine immer stärkere Tendenz hin zu staatlicher Intervention entstand.2 In den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts griff der Staat immer tiefer in wirtschaftliche Bereiche ein und verstärkte die Kontrolle jeder Betriebshandlung durch beschränkende oder gar verbietende Normen. Später, in den sechziger und siebziger Jahren, wurde der Schutz des privaten Eigentums geschwächt, nicht nur durch die Enteignung ländlicher und städtischer Grundbesitztümer, sondern auch durch die Nationalisierung der großen Kupferminen. 3 Die Regierung der „Unidad Popular“ (1970–1973) verursachte eine tiefe Spaltung und Polarisierung der Bevölkerung, hervorgerufen durch gegensätzliche politische und wirtschaftliche Zukunftserwartungen. Das demokratisch___________ 1 Über die chilenische Verfassung von 1980 in ihrer ursprünglichen Fassung, siehe Blumenwitz, D., Die neue chilenische Verfassung der Republik Chile, in: JÖR 1981, S. 617 ff., wie auch Wühler, N. / Mayorga, R., Die neue chilenische Verfassung von 1980, in: ZaöRV, Bd. 41 (1981), S. 837 ff. 2 Diesbezüglich siehe: Barahona Urzúa, P., Desarrollo y estabilidad. Una interpretación histórica, in: Centro de Estudios Públicos. Revista Estudios Públicos, Bd. 53 (1994), S. 39 ff. 3 In Bezug auf das Eigentum und seiner Entwicklung: Eyzaguirre, J. M., El derecho de propiedad privada, in: Vial, G. (Hrsg.), Análisis crítico del Régimen Militar, Serie: Universidad Finis Terrae, S. 101 ff.

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liberale System wie auch die damals noch existieriende soziale Marktwirtschaft wurden, besonders von den linken Kräften, stark in Frage gestellt. 4 Indessen verstärkte der Staat seine Interventionen in Wirtschaftsangelegenheiten durch den Erlass von Gesetzen und Verordnungen, später aber auch durch de-factoMaßnahmen. Im Jahr 1973 war die chilenische Wirtschaft zum großen Teil verstaatlicht: der Staat war Eigentümer der großen Kupferminen, in über 500 Betrieben wurde interveniert, sie wurden durch staatlich ernannte Vertreter verwaltet. Auch wurden beachtliche Teile der landwirtschaftlichen Güter enteignet und über 1.500 Ländereien von den Bauernkomitees besetzt. Gleichzeitig griff der Staat in das Finanzsystem ein, indem er starken Druck auf die Aktienbesitzer ausübte, damit diese ihm ihre Anteile verkauften. Die Inflation stieg auf 106 % im Jahr, obwohl der Staat für etwa 3.000 Produkte unterschiedlicher Art (von der Busfahrkarte bis zum Würstchen) den Verkaufspreis festlegte. Der Versuch, die nationale Industrie und die wirtschaftliche Autarkie zu fördern, trieb den durchschnittlichen Zoll auf 94 %. Die Einfuhr vieler Produkte war verboten, für andere Produkte galt eine Einfuhrsteuer von über 200 % oder die Hinterlegung einer Garantie im Wert bis zu 10.000 % des tatsächlichen Preises. Im Jahr 1973 lag das Staatsdefizit bei 25 % des geographischen Bruttosozialprodukts und die Inflation erreichte im selben Jahr 606 %. Vor diesem Hintergrund und gleich nach dem institutionellen Zusammenbruch im Jahre 1973 begannen die Diskussionen um die Formulierung einer neuen Verfassung und insbesondere um die Frage der Gestaltung der künftigen Wirtschaftsordnung. 5 Der Verfassunggeber 1980 löste sich von der bis damals existierenden freiheitshindernden staatszentrierten Tendenz, die sich unter der Verfassung von 1925 entwickelt hatte, und zwar zu einer Zeit, zu der die Sympathien für staatliche Wirtschaftsintervention weltweit die Überhand nahmen. Die chilenische Wirtschaft zu analysieren, ohne ihre Verfassungsgrundlagen zu berücksichtigen, ergäbe nur ein unvollständiges Bild. Zweifelsohne kann die Existenz einer Wirtschaftsverfassung, die auf den Prinzipien der persönlichen Freiheit und der staatlichen Subsidiarität aufgebaut ist, nicht unberücksichtigt bleiben, wenn man das chilenische Wirtschaftsmodell verstehen will, das mehrere wirtschaftliche Krisen und Regierungen unterschiedlicher Ausrichtung ___________ 4 Darüber Back, K.-H., Die Sozialistische Partei Chiles 1933–1973. Geschichte, Programme, Sozialstruktur, 1977; Debray, R. / Allende, S., Der chilenische Weg, 1972; Garcés, R., Salvador Allende. Chiles Weg zum Sozialismus, 1972; Staatsverlag der Deutschen Demokratischen Republik (Hrsg.), Chile – Volkskampf gegen Reaktion und Imperialismus. Aus Reden des Präsidenten der Republik Chile Salvador Allende Gossens, 1973. 5 Meller, P., Análisis Crítico de la Economía durante el Gobierno Militar; Barahona, P., La Política Económica durante el Gobierno Militar, in: Análisis Crítico del Régimen Militar (Fn. 3).

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überlebt hat. Das erklärt auch, dass trotz der 20 Verfassungsänderungen seit 1980 das in der Verfassung verankerte Wirtschaftsmodell unberührt blieb. 6

II. Staat und Markt in der Verfassung von 1980 1. Allgemeine Verfassungsgrundlagen Während die Verfassung von 1925 weder ausdrückliche Prinzipien noch spezifische Normen zur öffentlichen Wirtschaftsordnung enthielt, gab die Verfassung von 1980 diese Neutralität auf. Die jetzige Grundordnung enthält wesentliche Prinzipien und Wertbestimmungen einer juristisch naturalistischen Weltanschauung und konstituiert eine politische und wirtschaftliche Ordnung, mit der die wirtschaftliche Freiheit garantiert wird. Art. 1 Chil. Verf. bestimmt, dass die Menschen frei geboren werden und an Würde und Rechten gleich sind, dass der Staat die intermediären Gruppen, durch die sich die Gesellschaft strukturiert und organisiert, anerkennt und schützt und ihnen die zur Erlangung ihrer Ziele angemessene Autonomie garantiert. Damit wird in der Verfassung das Subsidiaritätsprinzip verankert. Derselbe Artikel erwähnt auch, dass der Staat zum Dienst am Menschen geschaffen wurde und sein Ziel die Förderung des Gemeinwohls ist, so dass er dazu beitragen muss, die gesellschaftlichen Voraussetzungen zu schaffen, die allen und jedem Einzelnen der Mitglieder der nationalen Gemeinschaft erlauben, die größtmögliche geistige und materielle Selbstverwirklichung zu erreichen, und zwar unter voller Beachtung der Rechte und Garantien, die in der Verfassung vorgesehen sind. Art. 5 Abs. 2 Chil. Verf. stellt weiter fest, dass die Ausübung der Souveranität ihre Grenzen in der Achtung der wesentlichen Rechte findet, die sich aus der Natur des Menschen ergeben, und dass es Pflicht des Staates ist, diese Rechte zu achten und zu fördern (Art. 5 Abs. 2 Chil. Verf.). Das Verfassungsgericht erkannte hierzu, dass die Verfassung auf bestimmten Grundprinzipien und Werten beruht 7 und stellte fest, dass diese Verfassungsvorschriften keineswegs rein deklarative Normen, sondern als explizite Vorschriften zu betrachten seien, die sowohl die Regierenden als auch die Bevölkerung verpflichteten. Als wesentliche und richtungsweisende Normen er___________ 6

Die Verfassungsreform von 2005 bekräftigte u. a. die Zuständigkeiten des Verfassungsgerichts wie auch die Untersuchungskompetenz der Abgeordnetenkammer. Dagegen wurde die hütende Rolle des Militärs, welche die Verfassung in ihrer ursprünglichen Fassung anerkannte, abgeschafft. Die in diesem Absatz zitierten Artikel und deren Nummerierung beziehen sich daher auf die chilenische Verfassung in ihrer neuen Fassung, in der Präsidentialverordnung Nr. 100 vom 17.09.2005 festgelegt. 7 Verfassungsgericht Chile, Urteil Nr. 46, Entscheidungsgrund Nr. 19 (wird zitiert als: VerfGE 46/19).

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möglichten diese Artikel die Auslegung im Sinn und Geist aller anderen Verfassungsnormen. 8 Aus der chilenischen Verfassungsstruktur lässt sich schließen, dass dem Staat die Erstellung oder Vermittlung einer bestimmten „geistigen und materiellen Selbstverwirklichung“ nicht zusteht, sondern dass er nur die Voraussetzungen schaffen soll, damit jede Person oder Gruppe seine eigene Selbstverwirklichung suchen und verwirklichen kann. Aus diesem Grunde ist die geistige und materielle Selbstverwirklichung Sache der jeweiligen Personen oder Gruppen, wobei es allein Aufgabe des Staates ist, die sozialen Voraussetzungen zu diesem Zweck zu schaffen und prinzipiell Freiheit und Chancengleichheit zu garantieren.

2. Richtungsweisende Prinzipien der öffentlichen Wirtschaftsordnung Auf der Grundlage der politischen und wirtschaftlichen Wirklichkeit Anfang der siebziger Jahre wurde den Mitgliedern der von der Militärregierung zur Erarbeitung einer Verfassung ernannten Kommission sehr bald die Notwendigkeit bewusst, eine Verfassungsordnung zu schaffen, die die Entfaltung einer freien Gesellschaft garantiert. 9 Bei den ersten Sitzungen im Jahre 1973 war die große Mehrheit der Kommissionsmitglieder noch von dem Konzept einer stark vom Staat geregelten Wirtschaft überzeugt, 10 in der private und auch staatliche wirtschaftliche Unternehmenstätigkeit nebeneinander bestehen und in der bestimmte ökonomische Bereiche für den Staat reserviert bleiben sollten. Dem Staat wurde damals noch eine wichtige planende und leitende Rolle zuerkannt. Erst nachdem die Militärregierung die Wirtschaft Mitte der siebziger Jahre liberalisierte, änderte die Kommission ihre Einstellung und befürwortete sowohl ___________ 8 VerfGE 46/21. Hierzu siehe: Ribera Neumann, T., El Tribunal Constitucional y su aporte al desarrollo del Derecho, in: Revista de Estudios Públicos, Bd. 34 (1988), S. 213 ff. 9 Diese Notwendigkeit beruht auf der Tatsache, dass die Verfassung 1925 im Grunde neutral in Bezug auf Wirtschaftsprinzipien war, was eine trügerische Interpretation und Anwendung der Verfassung ermöglichte. Hierzu: Cea Egaña, J. L., Tratado de la Constitución 1980. Características generales y garantías constitucionales, 1998, S. 156. 10 In den offiziellen Sitzungsakten der Verfassungskommission tauchten Hinweise auf einen Verfassungsentwurf auf, der im Oktober 1971 im Nationalkongress eingereicht wurde, der den Namen „Die drei Bereiche der Ökonomie” erhielt. Hierin wurde die Existenz von einem staatlichen, einem gemischten und einem privaten Bereich anerkannt. Bemerkenswert an diesem Entwurf ist, dass der Schutz, den die Verfassung dem von seinem Eigentümer bewohnten Haus sowie den Kleinbauern erteilte, sich auch auf die kleinen und mittleren Unternehmer erstrecken sollte, so dass auch sie im Falle einer Enteignung die Entschädigungssumme in bar und im Voraus erhalten sollten.

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eine klare staatliche Subsidiarität als auch den Schutz privater Initiative im Wirtschaftsbereich. Die Verfassungskommission diskutierte im Jahre 1978 den Vorschlag, ein Sonderkapitel in die Verfassung mit den Grundprinzipien der öffentlichen Wirtschaftsordnung einzufügen, was später aber abgelehnt wurde. Man beschloss stattdessen auf der Grundlage der Verankerung verschiedener Regelungen eine Art „Verfassungsdoktrin“ vorzusehen, 11 aus der sich die öffentliche Wirtschaftsordnung ableiten lassen solle. Im Jahr 1978, und zwar auf der 384. Sitzung, an der auch das Wirtschaftsteam der Militärregierung teilnahm, 12 schlug die Kommission vor, in der Verfassung folgende Prinzipien zu verankern: – Die Wirtschaftsfreiheit, womit die Freiheit der Arbeit oder Berufstätigkeit, der Produktion und des Handels verfassungsmäEig verankert würde. Jede Beschränkung irgendwelcher Produktions- oder Berufstätigkeit dürfe nur gesetzlich bestimmt werden, wobei es sich dabei um objektive Polizeiverordnungen handeln müsse. Der Eintritt in eine Gewerkschaft oder Berufsvereinigung wurde zum freiwilligen Akt erhoben. – Die Erweiterung des Eigentumsrechts über alle Produktions- oder Konsummittel, so dass Enteignungen nur durch Gesetz bestimmt werden könnten und auch nur aus Gründen, die in der Verfassung selbst erwähnt würden. Eine gerechte Entschädigung, die dem tatsächlichen Kaufpreis entspricht, solle in bar bezahlt werden. Jedes andere System zur Enteignung oder Beschlagnahme, wie auch die Enteignungssteuer, solle verboten werden. – Der Gleichheitsgrundsatz in Wirtschaftsangelegenheiten, welcher ein freies Wirtschaftsystem ermöglichen und somit verhindern solle, dass durch willkürliche Amtsentscheidungen den Grundrechtsadressaten Schaden oder Nutzen zugefügt werden könne. – Die Staatssubsidiarität, aus der sich ergibt, dass nur auf Grund einer expliziten Ermächtigung im Gesetz der Staat öffentliche Betriebe oder staatliche Unternehmen gründen dürfe. Das solle auch für jede staatliche Beteiligung am Besitz oder in der Verwaltung solcher Unternehmen gelten, gleichgültig ob es sich dabei um einen Minderheits- oder Mehrheitsanteil handele. – Die Kontrolle der Staatsausgaben, da bestimmt werden solle, dass alle staatlichen Einnahmen, sei es durch Steuern, Zölle oder Kreditaufnahme, gesetzlich gestattet werden müssten. ___________ 11 Comision de Estudio de la Nueva Constitución Polìtica de la República. Actas Oficiales de la Comisión (1982), Sitzung Nr. 588, S. 2907. 12 Eine geschichtliche Analyse zu dieser Thematik ist zu finden in: Guerrero del Río, R. / Navarro Beltrán, E., Algunos antecedentes sobre la historia fidedigna de las normas de orden público económico establecidas en la Constitución de 1980, in: Revista de Derecho de la Universidad Finis Terrae, Jahr 1, Bd. 1 (1997), S. 117 ff.

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– Eine unabhängige Währungs- und Finanzbehörde, deren höhere Beamte die Währungs- und Finanzpolitik leiten müssten und während ihrer Amtszeit nicht abrufbar sein sollen. Dieser Instanz solle verboten werden, dem Staat oder seinen Institutionen mittelbar oder unmittelbar Darlehen zu erteilen, um somit erhöhten Geldauflagen vorzubeugen, die die Stabilität der Landeswährung gefährden könnten.

III. Konkretisierung der richtungsweisenden Prinzipien in der Verfassung 1. Wirtschaftsfreiheit als Erweiterung der persönlichen Freiheit Die Wirtschaftsfreiheit, die als Erweiterung der persönlichen Freiheit zu verstehen ist, wird im weitesten Sinne in der Verfassung von 1980 verankert. Die Verfassung baute eine juristische Struktur auf, in der die Menschen frei und gleichberechtigt an Würde und Rechten geboren werden und in der der Staat eine dienende Rolle erhält „als Mittel oder Instrument im Zeitgeschehen, zum Dienst am Menschen und zu seiner Fort- und Weiterbildung. Dieses Dienen wird durch Fördern und Erlangen des Gemeinwohls der Gesellschaft verwirklicht.“ 13 Freiheitlichkeit der Verfassung äußert sich auch in der Freiheit der Selbstentscheidung bei der Auswahl zwischen dem öffentlichen und den unterschiedlichen privaten Gesundheitssystemen (Art. 19 Nr. 9, letzter Absatz Chil. Verf.), der sozialen Sicherheit (Art. 19 Nr. 18 Chil. Verf.), der Erziehung und Ausbildung (Art. 19 Nr. 10 und 11 Verf) sowie der Freiheit, freiwillig einer oder keiner der verschiedenen Berufskammern und Gewerkschaften anzugehören (Art. 19 Nr. 15 und 19 Chil. Verf.). Das Recht, jedwede wirtschaftliche Tätigkeit auszuüben erkennt die Verfassung ganz spezifisch in Art. 19 Nr. 21 an: „Artikel 19. Die Verfassung sichert allen Personen zu: 21. Das Recht, unter Beachtung der jeweiligen gültigen gesetzlichen Normen jede wirtschaftliche Tätigkeit auszuüben, soweit dies nicht gegen die Moral, die öffentliche Ordnung oder die nationale Sicherheit verstöEt. Der Staat, kann nur dann unternehmerische Aktivitäten entwickeln oder an ihnen teilnehmen, wenn ein Gesetz mit qualifizierter Mehrheit dies authorisiert. Und auch dann sind diese Tätigkeiten den allgemeinen Gesetzen, die auf Einzelpersonen anwendbar sind, unterworfen, unbeschadet der Ausnahmen, die aus berechtigten Grün-

___________ 13 Soto Kloss, E., La Actualidad Económica en la Constitución Política de la República de Chile, in: Escuela de Derecho, Universidad Santo Tomás (ed.), Revista Ius Publicum, Bd. 2 (1999), S. 119.

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den durch Gesetz, das mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden muss, bestimmt werden.“ 14

Das Recht, eine private Wirtschaftstätigkeit auszuüben, wird also in der Verfassung großzügig anerkannt. Sie erfasst „jedwede wirtschaftliche Tätigkeit“, und wird nur beschränkt, „soweit diese unter Beachtung der gesetzlichen Normen nicht gegen die Moral, öffentliche Ordnung oder die nationale Sicherheit verstößt.“ Die Verfassung legt damit abschließend die einzigen Verbote fest, die für die Ausübung der Wirtschaftsfreiheit gelten, so dass vom Gesetzgeber und von der Verwaltung keine anderen bestimmt werden können. Ferner soll die unternehmerische Tätigkeit nur „unter Beachtung der gesetzlichen Normen, die sie regeln“, durchgeführt werden. Dies bedeutet, dass Beschränkungen nur durch gesetzliche Normen bestimmt werden dürfen und nicht durch eine Verwaltungsvorschrift. Der Gesetzgeber hat somit eine begrenzte Kompetenz, denn er darf eine Tätigkeit und ihre Ausübung zwar regeln, aber keineswegs ihre freie Ausübung verhindern oder willkürlich beschränken, denn sonst würde er der allgemeinen Garantie, die die freie Ausübung der Grundrechte und auch den Rechtskern schützt (Art. 19 Nr. 26 Chil. Verf.), widersprechen. Art. 19 Nr. 21 Abs. 2 Chil. Verf. beschränkt die unternehmerische Tätigkeit des Staates, um auf diese Weise auch die private wirtschaftliche Tätigkeit zu fördern. Das Verfassungsgericht erklärte hierzu: „Eine Tätigkeit einer Regelung unterwerfen heißt, die Form oder Norm festlegen, die bestimmt, wie sie auszuführen ist, aber in keinem Falle darf es vorkommen, dass unter dem Vorwand der Regelung die Ausführung einer Tätigkeit unterbunden wird.“ 15 Das Verfassungsgericht stellte auch fest, dass das Recht zur Ausübung privater Wirtschaftstätigkeit „Ausdruck des philosophisch-juristischen Inhalts des Kapitels I der politischen Verfassung und eine der Folgen des Subsidiaritätsgrundsatzes ist, so wie auch der Verpflichtung des Staates, zu Schutz und Wahrung des Rechts der Einzelpersonen, gleichberechtigt am Leben der Nation teilzunehmen“, beizutragen. 16 Das Verfassungsgericht brachte auch zum Ausdruck, dass das Recht, irgendeine Wirtschaftstätigkeit auszuüben, „von grundlegender individueller Bedeutung ist, denn es ermöglicht die Entfaltung der Initiative sowie die Entwicklung der schöpferischen Subjektivität jeder einzelnen Person.“ 17 Die Verfassung verankert nicht nur das Recht der einzelnen Personen zur Ausübung irgendeiner ökonomischen Tätigkeit, sondern erweitert auch die Ent___________ 14 Einen Bericht, der den Ursprung der Norm analysiert, wie auch die Einschränkungen des erwähnten Rechts, findet man in: Bulnes Aldunate, L., El derecho a desarrollar cualquier actividad económica, in: Revista de Derecho Público de la Facultad de Derecho de la Universidad de Chile, Bd. 37–38 (1985), S. 149 ff. 15 VerfGE 146/9. 16 VerfGE 146/8. 17 VerfGE 226/41 ff.

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scheidungsfreiheit in verschiedenen anderen Bereichen. So bestimmt Art. 19 Nr. 15 Chil. Verf., dass niemand verpflichtet werden kann, einer Vereinigung anzugehören, womit einerseits die individuelle Freiheit gefestigt wird und andererseits die Bildung einer Vereinigung jeder Art immer und tatsächlich freiwillig erfolgen kann. Ebenso ist die Mitgliedschaft in Gewerkschaften oder Berufsvereinigungen freiwillig. Kein Gesetz und keine Verordnung kann die Mitgliedschaft in einer Organisation als Vorbedingung für die Erlaubnis, eine bestimmte Arbeit auszuüben, vorschreiben. Auch die Abmeldung aus einer Organisation oder die Vereinigung darf keine Bedingung zur Erhaltung des Arbeitsplatzes sein (Art. 19 Nr. 19 Chil. Verf.). In der Praxis hat diese Bestimmung die Macht der Gewerkschaften und Berufsverbände über diejenigen, die die entsprechende Arbeit ausüben, verringert. Die Freiheit, jemanden anzustellen oder einen Beruf auszusuchen, ist ebenfalls breit angelegt. Art. 19 Nr. 16 Chil. Verf. bestimmt: „Keine Art von Arbeit oder Gewerbe darf verboten werden, außer wenn es der Moral, der öffentlichen Sicherheit und Gesundheit entgegensteht oder wenn es das nationale Interesse erfordert und dies durch ein Gesetz erklärt wird.“ Als Letztes muss noch erwähnt werden, dass die Verfassung auch andere Freiheiten anerkennt wie das Recht, zwischen privaten und öffentlichen Gesundheitsinstitutionen zu wählen (Art. 19 Nr. 9 Chil. Verf.) oder das Recht, Lehranstalten zu öffnen, zu organisieren und zu unterhalten (Art. 19 Nr. 11 Chil. Verf.).

2. Verstärkung des Eigentumsrechts Unter Geltung der Verfassung von 1925 erlitt die Eigentumsgarantie immer mehr Kürzungen, denn um die sozialen Forderungen zu befriedigen, entschloss man sich damals zu einer Verteilungspolitik, zu der auch Enteignungen und Nationalisierungen gehörten. Im Jahr 1963 wurde die Verfassung geändert, um die Enteignung bestimmter Ländereien zu ermöglichen, und zwar mit einer zehnprozentigen Anzahlung der Entschädigung und Auszahlung des Rests mit einer Frist bis zu 15 Jahren.18 Um eine tiefer greifende Agrarreform in Bewegung zu setzen, erfolgte 1967 eine weitere Verfassungsänderung. Für die Enteignungen ländlicher Grundstücke gestattete diese Reform, dass Bedingungen und Form der Entschädigungszahlung nicht auf Verfassungsebene geregelt werden müssen, sondern gesetzlich bestimmt werden dürfen. Ein Teil sollte in ___________ 18

Gesetz Nr. 15.295 vom 08.10.1963. Diese Reform ermöglichte die Enteignung von Agrarland, das unbewohnt, verlassen, sichtbar schlecht oder gar nicht bearbeitet war, gemessen an den in der Region üblichen Charakteristiken.

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bar bezahlt werden und der Rest konnte bis auf 30 Jahre vertagt werden. 19 Im Jahr 1971 wurde eine Verfassungsänderung mit der Absicht vorgenommen, die großen Kupferminen zu nationalisieren. Diesmal wurde die Zahlung einer „angemessenen Entschädigung“ bestimmt mit der Möglichkeit, eine „zu hohe Rentabilität“ davon abzuziehen. Dadurch wurde den ausländischen Unternehmen das Eigentum an den Kupferbergwerken ohne Entschädigung entzogen. 20 Im Gegensatz zur Entwicklung der Eigentumsgarantie in Chile unter der Geltung der Verfassung von 1925 verankert die Verfassung von 1980 einerseits die Anerkennung und den Schutz des Rechts auf Eigentum, d. h. das Recht Eigentum zu erwerben sowie das Recht auf Erhalt des Eigentums, andererseits beschränkt sie die Enteignungsmacht des Staates. Der Verfassunggeber erkannte die bedeutende Rolle des Eigentums in einem auf der Grundlage der persönlichen Freiheit aufgebauten Wirtschaftssystem, denn die Ausübung dieser Freiheit wäre sinnlos, wenn die in Ausübung dieser Freiheit aufgebrachten Mühen und Risiken sich nicht in der Anschaffung von Eigentum auswirken dürften und selbstverständlich auch in dem Recht, mit dem Eigentum nach Belieben zu verfahren und andere von jeder Einwirkung auszuschließen. a) Recht auf Eigentum Gerade weil die Verfassung von 1925 dem Staat die exklusive Herrschaft über Naturvorkommen, Produktionsgüter und andere Besitztümer, die von eminenter Bedeutung für das wirtschaftliche, soziale oder kulturelle Leben des Staates sind, gesetzlich einräumte, bestimmte die Verfassung von 1980 in Art. 19 Nr. 23 Folgendes: „Artikel 19. Die Verfassung sichert allen Personen zu: 23. Die Freiheit, die Herrschaft über jede Art von Vermögen zu erlangen, ausgenommen der Güter, die die Natur für alle Menschen gemeinsam geschaffen hat, oder die der gesamten Nation gehören müssen und das Gesetz dieses erklärt. Dies gilt unbeschadet der Bestimmungen in anderen Teilen dieser Verfassung. Ein Gesetz mit qualifizierter Mehrheit kann Schranken oder Voraussetzungen des Eigentumserwerbs festlegen, sofern dies im nationalen Interesse liegt.“

___________ 19 Gesetz Nr. 16.615 vom 29.01.1967. In wesentlichen Aspekten verlor das Eigentum den Verfassungsschutz, da die besondere Regelung einfach gestrichen wurde. Erwähnt wurde dagegen das Recht des Staates, sich durch Gesetz die exklusive Herrschaft über Naturressourcen und Produktionsgüter anzueignen und auch über jene Güter, die für das wirtschaftliche, soziale oder kulturelle Leben des Landes von präeminenter Bedeutung erklärt wurden. Für die landwirtschaftlichen Güter durfte die Enteignungssumme mit einer Frist bis von dreißig Jahren bezahlt werden. 20 Eine interessante Analyse über das Eigentum und seine Entwicklung ist zu finden in: Eyzaguirre (Fn. 3), S. 101 ff. Siehe auch: La controversia política y el desarrollo de la propiedad, in: Revista Temas de Derecho, Jahr III, Bd. 2 (1998). Eine Analyse der letzten Änderungen der Verfassung 1925 ist in: Evans de la Cuadra, E., Chile hacia una Constitución Contemporánea, 1973.

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Zweck dieser Norm ist es, jeder Person das Recht zu sichern, bewegliche oder unbewegliche Sachen, dingliche oder undingliche Rechte zu erwerben. Laut Verfassungsgericht ist der Sinn dieser Norm „das Eigentumsrecht einer größten Anzahl von Personen zugänglich zu machen.“ 21 Im Allgemeinen sind alle jene Sachen und Rechte betroffen, die im Privatbesitz sein können. Hierdurch sollen die Personen vor Handlungen der Gesetzgebung oder der Behörden, die den freien Zugang zu irgendeiner Vermögenskategorie verhindern könnten, geschützt werden. 22 In einer auf der Grundlage der Freiheit verankerten Wirtschaft spielte daher die Anschaffungsfreiheit jedweder Güter und deren Nutzung eine wichtige Rolle. Die Verfassung schließt von der privaten Anschaffung nur solche Dinge aus, die der Natur nach allen Menschen gemeinsam sind, wie etwa der Mond, die Luft, die Atmosphäre, die hohe See, oder die der gesamten Nation gehören müssen und das Gesetz es so bestimmt hat (also gemeinnützliche Güter wie etwa Straßen, Marktplätze oder Parkanlagen, das Küstenmeer) und schließlich all das, was die Verfassung als solches dem Staatsbesitz vorbehalten hat, wie etwa Minen (Art. 19 Nr. 24 Abs. 7 ff.). Der Nutzung einiger Güter können Beschränkungen wie auch Bedingungen auferlegt werden, wenn es das nationale Interesse so verlangt und ein Gesetz mit Zustimmung der qualifizierten Mehrheit der Abgeordnetenkammer und des Senats dies genehmigt. 23 Die Einschränkungen können sich auf bestimmte Güter beziehen, aber auch auf das Zubehör, das zur Aneignung eines Besitzes erforderlich ist. Art. 19 Nr. 23 letzter Absatz Chil. Verf. besagt, dass die Einschränkungen nur „einige“ Güter betreffen dürfen, womit bestätigt wird, dass es dem Staat absolut verboten ist, für sich selbst eine ganze Kategorie von Gütern zu reservieren. Folglich ist es dem Staat auch untersagt, natürlichen Personen und Personen des Privatrechts die Aneignung ganzer Kategorien von Gütern zu verweigern, es sei denn, es handelt sich um Güter, die das eben erwähnte Recht nicht miteinbezieht.

b) Das Eigentumsrecht Art. 19 Nr. 24 Abs. 1 bis 5 Chil. Verf., der dem Eigentumsrecht einen großzügigen Schutz erteilt, 24 lautet: ___________ 21

VerfGE 260/13. Verdugo Marinkovic, M., Manual de Derecho Constitucional, Bd. I, 1997, S. 302. 23 Das ist, z. B. der Fall, wenn Ausländer an der Landesgrenze Grundbesitz kaufen. Hier können Beschränkungen auferlegt werden, die auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit beruhen. 24 Art. 19, Nr. 24, Abs. 6 ff. Chil. Verf. betrifft das Recht auf den Besitz von Bergwerken. Seine besondere Rolle wird verständlich, wenn man die große Bedeutung der Minen in Chile bedenkt. 22

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„Artikel 19. Die Verfassung sichert allen Personen zu: 24. Das Eigentumsrecht in seinen diversen Ausformungen hinsichtlich jeder Art dinglichen oder sonstigen Vermögens. Nur das Gesetz kann die Art und Weise des Eigentumserwerbs vorschreiben und vorschreiben, wie das Eigentum genutzt und wie darüber verfügt werden darf, sowie die Beschränkungen und Verpflichtungen, die sich aus seiner sozialen Funktion ergeben, bestimmen. Diese umfassen, soweit es die allgemeinen Interessen der Nation erfordern, die nationale Sicherheit, das Gemeinwohl, das öffentliche Gesundheitswesen und die Erhaltung der Umwelt. Keinesfalls darf jemandem das ihm zufallende Eigentumsrecht oder irgendeines der Attribute oder wesentlichen Nutzungsmöglichkeiten der Herrschaftsrechte genommen werden, es sei denn aufgrund eines allgemeinen oder besonderen Gesetzes, das die Enteignung aus Gründen des Gemeinwohls oder des sozialen oder nationalen Interesses, das durch den Gesetzgeber festgelegt ist, gestattet. Der Enteignete kann die Rechtmäßigkeit des Enteignungsaktes vor den ordentlichen Gerichten anfechten und hat immer Anspruch auf eine Entschädigung für den effektiv verursachten Vermögensschaden, der einvernehmlich oder durch rechtmäßiges Urteil besagter Gerichte bestimmt wird. Mangels Einvernehmens ist die Entschädigungssumme in bar und in einem Gesamtbetrag auszuzahlen. Die tatsächliche Inbesitznahme des enteigneten Vermögensgegenstandes findet unter der Voraussetzung der Zahlung des Gesamtbetrags der Entschädigung statt. Diese Beträge werden mangels Einigung vorläufig durch Sachverständige in der gesetzlich vorgeschriebenen Form festgesetzt. Im Falle des Bestreitens der Zulässigkeit der Enteignung kann der Richter aufgrund der geltend gemachten Umstände die Inbesitznahme aussetzen.“

Die Verfassung erkennt somit großzügig das Eigentumsrecht an und stellt die wesentlichen Attribute unter Schutz. Sie weist ausdrücklich darauf hin, dass diese Garantie „das Eigentum in seinen diversen Ausformungen hinsichtlich jeder Art dinglichen oder sonstigen Vermögens“ erfasst. Es handelt sich um ein unverletzliches Recht, denn nur in der gesetzlich vorgeschriebenen Form können wesentliche Attribute oder Nutzungsmöglichkeiten des Eigentums entzogen werden. Der zweite Absatz besagt, dass nur das Gesetz Folgendes bestimmen kann: die Art und Weise, wie man das Eigentum erwerben und nach Belieben damit verfahren darf, und auch die Eigentumsbeschränkungen und Pflichten, die sich aus der sozialen Funktion des Eigentums ergeben; damit ist explizit verboten, das Eigentum durch Verordnungen zu regeln. Damit der Gesetzgeber den Begriff der sozialen Funktion des Eigentums nicht nach Belieben festlegen kann, wurde dieser in der jetzigen Verfassung folgendermaßen definiert und somit auch beschränkt: „Dieser umfasst, soweit es die allgemeinen Interessen der Nation erfordern, nur die nationale Sicherheit, das Gemeinwohl, das öffentliche Gesundheitswesen und die Erhaltung der Umwelt“ (Art. 19 Nr. 24 Abs. 2 Chil. Verf.). Das Verfassungsgericht erklärte hierzu: „Die Verfassung von 1980 verkleinert den Spielraum, in welchem durch Gesetze Beschränkungen und Pflichten auferlegt werden dürfen. Das kommt nur dann in Frage, wenn die zu

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regelnde Situation allgemeine Interessen der Nation, die nationale Sicherheit, das Gemeinwohl, die öffentliche Gesundheit und die Erhaltung der Umwelt gefährdet. Alle anderen Rechtsgüter, seien sie auch noch so bedeutend oder transzendent, (...) sind sehr wertvoll und können durch Gesetze geschützt werden, die staatlichen Institutionen Aufsichts- und Sanktionsbefugnisse übertragen. Aber die Verfassung hat die Zulässigkeit von Beschränkungen oder Verpflichtungen für ganz bestimmte Aspekte der sozialen Funktion des Eigentumsrechts vorgesehen. Jede andere Beschränkung ist verfassungswidrig.“ 25 Art. 19 Nr. 24 Abs. 3 Chil. Verf. garantiert dem Eigentum einen großzügigen Schutz, denn er bezieht sich nicht nur auf die Rechte, die das Eigentum betreffen, sondern auch auf seine Attribute oder Nutzungsmöglichkeiten. Die Verfassung lässt erkennen, dass der Entzug irgendeines dieser Merkmale eine verfassungswidrige Verletzung des Eigentumsrechtes bedeutet. 26 Jede Handlung, die dem Eigentumsrecht wesentliche Nutzungsmöglichkeiten vollständig oder teilweise entzieht, verletzt diese Verfassungsgarantie, auch wenn diese durch ein gemäß der Verfassung erlaubtes Enteignungsverfahren erfolgt. Nach dem Verfassungsgericht „liegt nicht nur dann Eigentumsentzug vor, wenn man einem Besitzer sein Eigentum oder eines der Attribute oder Nutzungsmöglichkeiten vollständig entzieht, sondern auch, wenn dies nur teilweise geschieht oder in Anwendung von Regelungen, die ihn daran hindern, seine Rechte oder eines der erwähnten Nutzungsmöglichkeiten frei auszuüben“. 27 Dagegen sind Eigentumsbeschränkungen aufgrund der sozialen Funktion des Eigentums zulässig, soweit die wesentlichen Merkmale des Eigentums bestehen bleiben. Doch diese Einschränkungen müssen entschädigt werden, wenn sie Schaden erzeugen, 28 und können nur auf der Grundlage eines Gesetzes durchgeführt werden und nicht mittels Verordnungen. 29 Die Verfassung achtet ganz besonders darauf, das Enteignungsverfahren sowie auch seine Ausführungsform klar zu regeln, um eine willkürliche Anwendung, wie sie unter der Verfassung von 1925 vorkam, zu verhindern. ___________ 25

VerfGE 334/23. Das Verfassungsgericht erklärte präzise: „Das Konzept der Allgemeininteressen der Nation darf sich nicht in einen bodenlosen Brunnen verwandeln, in den alle Beschränkungen und Einschränkungen hineinpassen, die die Behörde dem Eigentum auferlegen möchte. Die ‚allgemeinen Interessen der Nation‘ nennen ein juristisches Gut, das in direkter Beziehung zur gesamten Nation steht und niemals nur zu einem Sektor, sei dieser auch noch so wichtig. Es bezieht sich grundsätzlich auf ein höheres Wohl der politischen Gesellschaft, global als Ganzheit betrachtet und ohne irgendwelche Referenz auf Kategorien, oder auf Gruppen sozialer, ökonomischer oder irgendeiner anderen Einteilungsart.“ 26 Corte Suprema (Oberster Gerichtshof), Urteil vom 13.11.1989, Revista de Derecho y Jurisprudencia, Bd. 86, Sektion 5, S. 222. 27 VerfGE 334/19. 28 VerfGE 245/22 und 39. 29 VerfGE 146/17 ff.

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Damit eine Enteignung zulässig ist, muss sie aufgrund eines allgemeinen oder besonderen Gesetzes erfolgen, das die Enteignung aus Gründen des Gemeinwohls oder des sozialen oder nationalen Interesses, das durch den Gesetzgeber festgelegt ist, gestattet. Diese Qualifikation ist gerichtlich anfechtbar, denn die Verfassung verlangt vom Enteignungsgesetz nicht nur eine schlichte Existenzbehauptung vorhandener Gründe und deren Erfordernisse, sondern auch ihre strenge Erfüllung sowie eine formelle Erklärung darüber. 30 Tatsachen, Gründe, Zweck, angestrebtes Ziel und alles, was als Grundlage dient, um eine Enteignung zu empfehlen, gelten als Voraussetzungen und müssen im Augenblick des Enteignungsaktes vollständig erfüllt sein. Spätere Tatsachen oder Folgen stellen ihre Gesetzlichkeit nicht in Frage. 31 Die Verfassung erkennt dem Enteigneten zwei besondere Rechte zu: Erstens das Recht, bei den ordentlichen Gerichten die Rechtmäßigkeit der Enteignung anzufechten, also die Gültigkeit des Enteignungsbeschlusses in Frage zu stellen. Auf diese Weise kann er die Verordnung, die die Verwaltung aufgrund des Gesetzes erteilt hat, anfechten und ihre vermeintlichen Voraussetzungen in Frage stellen. Zweitens das Recht auf Entschädigung für den effektiv verursachten Vermögensschaden. Dieser Verlust muss tatsächlich durch die Enteignung verursacht und direkte und sofortige Folge der Enteignung sein. Dadurch ist die Wiedergutmachung jedes möglichen moralischen Schadens ausgeschlossen. In der Verfassung wird der Ausdruck „effektiv“ benutzt, um zu akzentuieren, dass damit keinerlei andere eventuelle Schäden mit inbegriffen sind. Die Verfassung bestimmt außerdem, dass, wenn es kein Einvernehmen in Bezug auf die Höhe der Entschädigungssumme gibt, ein Gericht und nicht die Verwaltungsbehörde darüber entscheidet. Die Entschädigungssumme muss in bar und in einem einzigen Gesamtbetrag ausgezahlt werden, um zu verhindern, dass der Staat langfristige Teilzahlungen vornimmt oder mit Staatsgutscheinen zahlt, wie es unter der Geltung der Verfassung von 1925 der Fall war. Das Gleiche gilt in Bezug auf die tatsächliche Inbesitznahme des enteigneten Vermögensgegenstandes. Besteht Einvernehmen zwischen den Beteiligten, so findet die Inbesitznahme unter der Voraussetzung der Zahlung des Gesamtbetrages der Entschädigung statt. Kommt es jedoch zu keinem Einvernehmen, ist also eine Anfechtung noch ungelöst, so wird der vorläufige Betrag durch Sachverständige in der gesetzlich vorgeschriebenen Form festgelegt. Diesen vollen Betrag muss die Behörde, die die Enteignung beschlossen hat, bevor die tatsächliche Inbesitznahme durchgeführt werden darf, deponieren. Sollte die Zulässigkeit der Enteignung angefochten werden, so kann der Richter aufgrund der geltend gemachten Umstände die Inbesitznahme aussetzen. ___________ 30 31

Corte Suprema, Urteil vom 08.11.1973, Revista Fallos del Mes, Nr. 187, S. 84. Corte Suprema, Urteil vom 14.12.1987, Gaceta Jurídica, Nr. 90, S. 17.

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3. Gleichberechtigung und das Verbot der willkürlichen wirtschaftlichen Diskriminierung Art. 1 Chil. Verf. mahnt den Staat, „das Recht der Menschen zu sichern, unter gleichen Voraussetzungen am Leben der Nation teilzunehmen.“ Art. 19 Nr. 22 Chil. Verf. bekräftigt die Idee, dass der Staat sowie seine Organisationen oder Behörden keinerlei willkürliche Diskriminierung auf wirtschaftlichem Gebiet ausüben dürfen, und bestimmt: „Artikel 19. Die Verfassung sichert allen Personen zu: Nr. 22. Keine willkürliche Diskriminierung durch den Staat und seine Organisationen auf wirtschaftlichem Gebiet. Nur aufgrund eines Gesetzes und nur, sofern sich daraus keine willkürliche Diskriminierung ergibt, können bestimmte direkte oder indirekte Vorteile zugunsten eines Sektors, einer Aktivität oder einer geographischen Zone bewilligt oder Belastungen, die den einen oder anderen betreffen, vorgesehen werden. Im Falle von Freistellungen oder indirekten Vorteilen muss jährlich eine Kostenübersicht dem Haushaltsgesetz beigefügt werden.“

Für das chilenische Verfassungsrecht ist diese Verfügung etwas Neues. Sie beabsichtigt, das „Gleichheitsprinzip“ des Art. 19 Nr. 2 Chil. Verf. in expliziter Form auch für den Wirtschaftsbereich zu garantieren, eingedenk der langjährigen willkürlichen Diskriminierungen durch den Staat. Denn davor hatte es diverse steuerliche Vorzüge für die einen Sektoren gegeben, steuerliche Belastungen für die anderen. Dies hing davon ab, ob der politische Druck, den sie ausüben konnten, schwach oder stark war. Also muss der Staat und seine Organe, d. h. die Legislative sowie die zentrale und dezentralisierte Verwaltung 32 , sämtlichen Personen des Privatrechts die Gleichheit auch im Wirtschaftsbereich garantieren. Hierzu erklärte das Verfassungsgericht: „Was die Verfassung ablehnt, sind willkürliche Diskriminierungen und dieses Gericht versteht darunter irrationale Unterscheidungen, die aus reiner Laune heraus entstehen und die sich dem Gemeinwohl widersetzen.“ 33 Art. 19 Nr. 22 Abs. 2 Chil. Verf. stellt die Möglichkeit dar, Ausnahmen zum erwähnten Gleichheitsprinzip zuzulassen. Direkte oder indirekte Vorteile oder besondere Belastungen für einen Sektor, Aktivitäten oder geographische Zonen können nur durch ein Gesetz bestimmt werden, vorausgesetzt, dass daraus keine willkürliche Diskriminierung entsteht. Somit wird ausgeschlossen, dass Befreiungen oder Belastungen durch reine Verwaltungsakte festgelegt werden. Mit der Absicht, diesen Vorgang transparenter zu gestalten, verlangt die Verfassung, dass bei Befreiung oder indirekten Vorteilen der Wert dieser Ausnahmen jährlich im Haushaltsgesetz geschätzt werden muss. ___________ 32 33

Verdugo (Fn. 22), S. 300. VerfGE 312/37.

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Da die Steuern ein effektives Mittel sind, mit denen der Staat willkürlich in die Gesellschaft eingreifen kann, beschränkt Art. 19 Nr. 20 Chil. Verf. die Steuerpolitik auf die gleiche Verteilung der Steuern proportional oder progressiv zu den Einkünften oder in der vom Gesetz festgelegten Form und ebenso auf die gleiche Verteilung der sonstigen öffentlichen Lasten. Steuern können nur mittels eines Gesetzes festgelegt werden, das ausschließlich vom Präsidenten der Republik dem Nationalkongress vorgeschlagen werden darf, wobei die Parlamentarier keinerlei Initiativrecht besitzen (Art. 65 Chil. Verf.). Obwohl das Verfassungsgebot proportionale oder progressive Steuern oder Steuern in der vom Gesetz festgelegten Form gestattet, erwähnt es auch, dass diese keinesfalls unverhältnismäßig oder ungerecht sein dürfen. Damit will das Gesetz Konfiskationen verhindern, die durch Steuergesetze verdeckt erfolgen könnten. 34 Die Verfassungsrechtsprechung erteilte allerdings dem Staat einen erweiterten Spielraum, um Steuern festzulegen. Das Gericht unterschied zwischen Steuern für notwendige Sachen und Aufwandsteuern und erklärte eine Sondersteuer in der Höhe von über 60,4 % für Tabak für zulässig. Das Verfassungsgericht erkannte allerdings, dass unter bestimmten Voraussetzungen eine Steuerlast verfassungswidrig sein kann, wenn seine Anwendung oder Steuerhöhe die freie Ausübung einer Wirtschaftstätigkeit unmöglich macht. 35

4. Staatliche Subsidiarität und die Begrenzung der unternehmerischen Tätigkeit des Staates Um der staatlichen Intervention im sozialen und wirtschaftlichen Bereich entgegentreten zu können, verankerte die Verfassung die individuelle Freiheit und die Achtung vor der Autonomie intermediärer Körperschaften. Art. 1 Abs. 1 Chil. Verf. begrenzt die Tätigkeit des Staates und bestimmt, dass sein Ziel hauptsächlich der Dienst am Menschen sei. Aufgabe des Staates sei es, das Gemeinwohl zu fördern, wofür er die gesellschaftlichen Voraussetzungen schaffen müsse, die allen und jedem Einzelnen der Mitglieder der nationalen Gemeinschaft ermöglichten, die größtmögliche geistige und materielle Selbstverwirklichung zu erreichen, und das unter voller Beachtung der Rechte und Garantien, die in der Verfassung erwähnt werden. Nach dieser Auffassung ist der Staat nicht mehr die Grundlage oder der Motor sozialer Entwicklung, sondern er wird durch Personen und mittelständische Körperschaften ersetzt. Folg___________ 34 Diesbezüglich siehe: Ribera Neumann, T., Tributos manifiestamente desproporcionados o injustos, in: Revista de Derecho de Facultad de Derecho de la Pontifícia Universidad Católica de Chile, Sondernummer 1998, S. 237 ff. 35 VerfGE 280/18.

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lich vertraut der Verfassunggeber den einzelnen Menschen die Suche nach persönlicher Entfaltung an. In der chilenischen Verfassungsordnung wird die wesentliche Freiheit des Menschen durch das Subsidiaritätsprinzip verstärkt. Dieses Prinzip begrenzt die Möglichkeit des Staates, in das soziale Leben einzugreifen und fördert dadurch die Willensfreiheit, die von Menschen, Familien und mittelständischen Gruppen ausgeübt wird. 36 Nach diesem Prinzip darf der Staat nur dann in Angelegenheiten untergeordneter Gesellschaften oder des Einzelnen eingreifen, wenn das Gemeinwohl es verlangt, aber nur soweit es unbedingt notwendig ist, um das erstrebte Ziel zu erreichen. Dabei soll darauf geachtet werden, die Interessen und Vorrechte der mittelständischen Körperschaften oder der einzelnen Personen nicht zu verletzen. Höhere Gesellschaften dürfen nur dann in untergeordnete helfend eingreifen, wenn es das Gemeinwohl verlangt. Subsidiarität ist Hilfe und Unterstützung. Doch der Staat darf niemals Privatpersonen oder private Betriebe verdrängen, ersetzen oder beseitigen, und schon gar nicht, wenn diese Privatunternehmen Tätigkeiten ausüben, die im Wesentlichen ihnen zustehen. Es darf nicht vergessen werden, dass der Staat kein eigenes Ziel hat, sondern dass seine Funktion der Dienst am Menschen und damit auch an den mittelständischen Körperschaften ist. 37 Das Verfassungsgericht hat hierzu festgestellt, dass „das Subsidiaritätsprinzip eines der richtungweisenden Grundprinzipien der Sozialordnung ist“ und dass „es dem Staat nicht zusteht, jene Tätigkeiten zu übernehmen, die von Privatpersonen in passender Weise, sei es als einzelne Privatperson oder in mittelständischen Körperschaften vereinigt, durchgeführt werden.“ 38 Das Subsidiaritätsprinzip achten heißt, das Recht Eigentum zu erwerben, das Eigentumsrecht und ganz speziell das Recht auf freie private Initiative im Wirtschaftsbereich zu respektieren. In der Verfassung 1980 wird dieses Grundrecht zum bedeutenden grundlegenden Fundament erhoben, denn es ermöglicht die Entfaltung der kreativen Schöpfungskraft des Individuums, was zur eigenen Würde und Entwicklung beiträgt und zu einem größeren Sozialwohlstand führt. Auch sichert es jedem Menschen das Recht auf Chancengleichheit im Leben der Nation. Somit wird jeder Einzelne zum Schöpfer seines eigenen Schicksals, seines Fortschritts sowie seiner persönlichen Fort- und Weiterbildung. Diesbezüglich hat das Verfassungsgericht Folgendes behauptet: „Die Verfassung weist darauf hin, dass die grundlegende gesetzgebende Aufgabe aus folgender Perspektive zu betrachten und auszuführen ist: dass die Rechte der Menschen ___________ 36 Kritisch zum Subsidiaritätsprinzip: Tapia Valdés, J., Estado mínimo o mínima Ética, in: Revista de Derecho de la Facultad de Ciencias Jurídicas y Sociales de la Universidad de Concepción, Nr. 202, S. 27 ff. 37 Siehe den Artikel von Soto Kloss, E. (Fn. 13), S. 119 ff. 38 VerfGE 352/4+5.

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über den Rechten des Staates stehen und dass der Staat diese Grundrechte, die in Art. 5 Abs. 2 garantiert werden, zu achten und zu fördern hat. Folglich ist jede Gesetzgebung fehlerhaft, die sich von diesem Prinzip entfernt oder das tatsächliche Ausüben dieser und anderer Freiheiten und Rechte gefährdet, die die Verfassung anerkennt oder sichert; sie wird somit aufgrund der Art. 6 und 7 Verfassung ungültig.“ 39 Die Einschränkungen zur unternehmerischen Tatigkeit des Staates, die in Art. 19 Nr. 21 Abs. 2 Chil. Verf. verankert werden, bedürfen einer besonderen Analyse. Dieser Absatz lautet: „Der Staat kann nur unternehmerische Aktivitäten entwickeln oder an ihnen teilnehmen, wenn ein Gesetz mit qualifizierter Mehrheit dies autorisiert. In diesem Fall sind diese Tätigkeiten den allgemeinen Gesetzen, die auf Einzelpersonen anwendbar sind, unterworfen, unbeschadet der Ausnahmen, die aus berechtigten Gründen durch Gesetz, das mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden muss, bestimmt werden.“ Art. 66 Abs. 3 Chil. Verf. verlangt dafür die Genehmigung durch ein Gesetz, dem die absolute Mehrheit aller Senatoren und Abgeordneten zugestimmt haben muss, d. h., es bedarf immer eines hohen Quorums des Parlaments. Die Bestimmung betrachtet somit die Möglichkeit des Staates, unternehmerische Tätigkeiten zu entwickeln oder an ihnen teilzunehmen, als Ausnahmefall. 40 Wenn der Staat unternehmerische Tätigkeiten ausübt, dann muss er sich immer nach der allgemeinen Gesetzgebung richten, die auch auf Einzelpersonen anwendbar ist, etwa dass ein mit absoluter Mehrheit abgestimmtes Gesetz die Ausnahmen bestimmt und außerordentliche Gründe vorliegen. Durch diese Verfassungsregelung unterstehen die wenigen noch im Besitz des Staates stehenden Unternehmen den allgemeinen Gesetzen und nur ausnahmsweise sind Sonderregelungen erlaubt. Die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips im Wirtschaftsbereich schützt auch die private Unternehmertätigkeit, die in Art. 19 Nr. 21 Abs. 1 Chil. Verf. beschrieben ist. Die Tendenz zur Verstaatlichung der Wirtschaft, die der Verfassung von 1925 eigen war, wird auf diese Weise verhindert. Um die Einhaltung dieser Vorschrift zu garantieren, gibt es ein besonderes Rechtsmittel, die „Beschwerde um ökonomischen Schutz“ genannt wird. Mit diesem Rechtsmittel kann jede Person innerhalb einer Frist von sechs Monaten sich an das zuständige Berufungsgericht wenden, um eine Klage gegen den Staat einzureichen, wenn dieser unternehmerische Tätigkeiten ausübt, die den genehmigten Gesetzesrahmen sprengen. Beispielsweise haben die Gerichtshöfe dem Geografischen Militärinstitut untersagt, geografische Materialien für Pri-

___________ 39

VerfGE 198/10. Die einzige Ausnahme zu dem, was in Art. 63 Nr. 7 und 8 Chil. Verf. bestimmt wird, ist zugunsten der Zentralbank verzeichnet. 40

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vatpersonen auszudrucken. 41 Der chilenischen Post, einer staatlichen Gesellschaft, wurde nicht gestattet, Dienstleistungen Dritten anzubieten, wie Briefe mechanisiert in Umschläge einzulegen, Konsumrechnungen einzukassieren oder als Zahlungsempfänger für Dritte zu arbeiten, weil diese Aufgaben zweckentfremdet seien. Ebenso erhielt die Untergrundbahn der Hauptstadt, eine staatliche Aktiengesellschaft, keine Genehmigung zu einer Zusammenarbeit mit dem internationalen Zeitungsverlag „Metro“, um an den Haltestellen Zeitungen auszuteilen. 42 In allen diesen Fällen wurde festgelegt, dass die ausgeübte unternehmerische Tätigkeit dem vom Gesetzgeber festgelegten Zweck nicht entspreche. Art. 63 Chil. Verf. verlangt, dass Gesetzesnormen die Form bestimmen, an der sich staatliche Unternehmen oder solche, an denen der Staat einen Anteil hat, orientieren müssen, um Anleihen aufnehmen zu können. Diese Kredite können niemals beim Staat selbst oder seinen Organen oder Unternehmen aufgenommen werden. Die Verordnung soll die unternehmerische Staatstätigkeit überschaubarer und transparenter gestalten. Dadurch will man verhindern, dass der Staat seine eigenen Unternehmen auf dem Wege der Verschuldung finanziert und somit den Art. 19 Nr. 21 Abs. 2 Chil. Verf. umgeht, worin bestimmt wird, dass auch staatliche Unternehmen sich an die allgemeine Gesetzgebung halten müssen.

5. Kontrolle der Staatsausgaben Die Kontrolle der Staatsausgaben schien der Verfassungskommission besonders wichtig zu sein, weil unter der Verfassung von 1925 und besonders unter der Volksfrontregierung das Staatsdefizit zu einer unkontrollierten Inflation führte. Gründe hierzu waren der politische Druck auf die Regierung sowie die Kontrolle, die diese auf die Zentralbank ausübte. Um dies zu verhindern, schuf die Verfassung von 1980 neue Kontrollinstrumente und errichtete eine autonome und technische Zentralbank.

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Corte de Apelaciones de Santiago, Urteil vom 05.12.1991, in: Revista Gaceta Jurídica Nr. 138, S. 59. 42 Navarro Beltrán, E., El Estado Empresario a la Luz de la Constitución de 1980, in: Revista de Derecho Público de la Facultad de Derecho de la Universidad de Chile, Bd. 62 (2000), S. 44.

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a) Ausschließliche Gesetzgebungsinitiative zur Finanz- und Haushaltsverwaltung des Präsidenten der Republik Gemäß Art. 65 Chil. Verf. hat der Präsident die ausschließliche Gesetzgebungsinitiative auf dem Gebiet der Finanz- und Haushaltsverwaltung des Staates. Diese umfasst beispielsweise Steuerfragen, die Schaffung und Streichung von Beamtenstellen aller Art, die Festsetzung und Änderungen von Renten für den aktiven wie passiven Sektor, die Verfahrensweisen zu Tarifverhandlungen und die soziale Sicherheit. Zu diesen Themen, die höhere öffentliche Ausgaben bedeuten, dürfen Abgeordnete und Senatoren nicht Gesetzesentwürfe vorlegen und der Kongress hat keinerlei Zuständigkeiten, um die vom Präsidenten der Republik vorgelegten Angelegenheiten zu erweitern, zu verändern oder gar abzuschaffen. Die ausschließliche Gesetzgebungsinitiative des Präsidenten der Republik ist weit ausgedehnt und umfasst die Unterzeichnung von Anleihen oder die Durchführung jeder anderen Art von Vorgängen, die den Kredit oder die finanzielle Verantwortung des Staates und der halbstaatlichen, autonomen oder kommunalen Körperschaften belasten könnten, sowie den Erlass, die Herabsetzung oder die Änderung von Verpflichtungen, Zinsen und andere finanzielle Verpflichtungen jeder Art zugunsten der Staatskasse oder der angeführten Organe und Körperschaften zu verfügen. Art. 63 Nr. 7 Chil. Verf. verlangt außerdem, dass die Gesetze, die dem Staat, seinen Untergliederungen und den Gemeinden erlauben, Anleihen aufzunehmen, nur solche Anleihen gestatten, die zur Finanzierung von spezifischen Projekten bestimmt sind. Damit will man verhindern, dass der Staat sich verschuldet, um für die Kosten aufzukommen, die durch normale Ausgaben oder durch übliche Amtsverrichtungen entstehen. Die Verfassung verbietet konsequent den Erlass von Gesetzen, die durch Allgemeinnormen dazu führen könnten, dass eine solche Art von Darlehen die explizite Gesetzgebung umgehen könnte.43 Jede einzelne Kreditaufnahme bedarf einer speziellen gesetzlichen Genehmigung, um somit zu jeder einzelnen Situation, die das Darlehen begründet, Stellung nehmen zu müssen. Die Aufnahme von Anleihen mit einer Laufzeit, die die Dauer der beteffenden Präsidentialamtszeit überschreitet, die nach Art. 25 Abs. 2 Chil. Verf. auf vier Jahre festgelegt ist, macht ein Gesetz mit der Zustimmung einer absoluten Mehrheit erforderlich, womit ebenfalls für eine Kontrolle der Staatsfinanzen gesorgt ist. Bemerkenswert ist auch, dass die den Präsidenten der Republik zustehenden Befugnisse sich nicht nur auf die zentralen öffentlichen Institutionen beziehen, sondern auch auf die 13 Regionen Chiles und die mehr als 350 Gemeinden, die ohne die vorherige Genehmigung des Finanzministeriums nicht einmal einen ___________ 43

Silva Bascuñán, A., Tratado de Derecho Constitucional, Bd. V (2000), S. 220.

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Leasingvertrag oder andere Verpflichtungen übernehmen können, die die Wirtschaftsverwaltung des Staates belasten. Art. 63 Nr. 8 Chil. Verf. verlangt, dass jede Vertragsunterzeichnung, die direkt oder indirekt den Kredit oder die finanzielle Verantwortung des Staates, seiner Organe oder Gemeinden erfordert, durch ein Gesetz gestattet werden muss. Die Verfassungsvorschrift gilt also für jeden Vorgang oder jede finanzielle Verpflichtung, sei es direkt als Schuldner oder indirekt als Zahlungsgarant oder durch sonstige Schuldverhältnisse. 44

b) Recht des Präsidenten der Republik, die Staatseinnahmen zu schätzen Art. 67 Abs. 3 ff. Chil. Verf. bestimmt, dass die Schätzung der vom Haushaltsgesetz veranschlagten Mittel und der neuen Mittel, die irgendeine andere Gesetzesinitiative verursacht, ausschließlich dem Präsidenten der Republik zusteht, nachdem die zuständigen technischen untergeordneten Behörden ihre Stellungnahme abgegeben haben. Somit ist es verboten, dass der Kongress die zukünftigen Einnahmen erhöht, was später zu einem Staatsdefizit führen könnte. Außerdem kann der Kongress gar keine neue Ausgabe zu Lasten der allgemeinen Staatseinnahmen verabschieden, ohne gleichzeitig die präzise Quelle der zur Deckung besagter Ausgaben notwendigen Mitteln anzugeben. Art. 67 letzter Absatz Chil. Verf. verankert eine absolute Neuigkeit. Sollten die vom Kongress bewilligten Mittel zur Finanzierung einer neuen vorhergesehenen Ausgabe nicht ausreichen und haben die technisch zuständigen Behörden das Defizit bestätigt, dann muss der Präsident der Republik aufgrund des Verfassungsmandats alle Ausgaben proportional kürzen, gleichgültig welcher Art sie sind, um das finanzielle staatliche Gleichgewicht zu bewahren. Diese außerordentliche Befugnis führt in der Praxis zu einer teilweisen Änderung des Gesetzes. Dem Kongress wird kein Recht eingeräumt, gegen den Präsidenten der Republik seine Meinung durchzusetzen. Es handelt sich hierbei nicht um eine der üblichen Präsidentialbefugnisse, die er von sich aus freiwillig ausüben könnte, sondern um eine von der Verfassung auferlegte unumgehbare Pflicht. 45

___________ 44

Silva Bascuñan (Fn. 43), S. 222. Bulnes Aldunate, L., Vision Académica de la Constitución Económica de 1980, in: Revista de Derecho Público de la Facultad de Derecho de la Universidad de Chile, Bd. 62 (2000), S. 92 ff. Siehe auch: Comisión de Estudio (Fn. 11), Sitzung Nr. 394, S. 5023 ff. 45

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6. Zentralbank als technisches und autonomes Organ Die chilenische Zentralbank, die im Jahr 1925 gegründet wurde, war als Aktiengesellschaft organisiert und hatte eine juristische Struktur, die nicht vermeiden konnte, dass die Regierung, sowie auch die Privatinstitutionen, die deren Vorstand bildeten, davon Nutzen zogen. Vor der Verfassung von 1980 war es der Zentralbank erlaubt, Kredite an die Regierung, an Privatbanken, Aktienbesitzer, Unternehmer und Einzelpersonen zu erteilen. In der Tat übte die Regierung die Kontrolle der Zentralbank aus, so dass sie die Bank auch politisch lenkte. Über die Zentralbank konnte so die Regierung erhöhte Geldmengen in Umlauf setzen, schwerwiegende willkürliche Diskriminierungen im nationalen Finanzsystem verwirklichen, die Einfuhr und Ausfuhr von Waren kontrollieren, den Währungswechsel festlegen. Diese Politik führte zu einer galoppierenden Inflation und zu einer schweren Verzerrung der ökonomischen Entwicklung. Art. 108 Chil. Verf. sieht eine autonome und technische Zentralbank mit Rechtsfähigkeit und eigenem Vermögen vor, welche durch ein Verfassungsorgangesetz, dem mindestens Viersiebtel der amtsansässigen Senatoren und Abgeordneten zugestimmt haben, geregelt werden muss. 46 Die Zentralbank bildet heute eine der stützenden Säulen der chilenischen Wirtschaftsordnung und wurde nach den Vorbildern der Zentralbanken von Deutschland, der Schweiz und den Vereinigten Staaten von Amerika entworfen. Die Autonomie der Zentralbank wird u. a. dadurch gewährt, dass ihre fünf Ratsmitglieder vom Präsidenten der Republik mit Einverständnis des Senats für eine zehnjährige Amtszeit ernannt werden. 47 Sie können vom Präsidenten nur dann vom Amt entfernt werden, wenn es qualifizierte Gründe dafür gibt und nur mit dem Einverständnis des Senats. Bis jetzt sind anerkannte Akademiker mit unterschiedlicher Weltanschauung gewählt und ernannt worden. Eine wichtige Rechtfertigung für dieses technisch-wissenschaftliche Grundprinzip liegt wohl auch in den stark spezialisierten Kenntnissen, die die Durchführung einer Wirtschaftspolitik verlangt. Dank dieser Autonomie und des hohen Ansehens ihrer Ratsmitglieder hat sich die Zentralbank nach technischen Kriterien gerichtet und den konjunkturellen politischen Einflüssen entzogen. Diese vorbeugenden Maßnahmen haben vermieden, dass ein politischer oder wirtschaftlicher Druck auf sie wirksam ausgeübt wurde, der zu inorganischen Geldemissionen führen konnte. 48 Besonders wichtig ist diese Autonomie, wenn man die Finanzbehörde vor den ___________ 46

Gesetz Nr. 18.840 vom 10.10.1989. Diesbezüglich siehe Cea Egaña, J. L., Autonomía Constitucional del Banco Central, in: Revista de Derecho Público, Bd. 63 (2000), S. 66 ff. 48 Verdugo (Fn. 12), S. 329. 47

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zyklischen politischen Schwankungen schützen will. Oft suchen die Regierungen kurzfristige Lösungen zur Verringerung der Arbeitslosigkeit, z. B. durch eine expansive Finanzpolitik, was jedoch von kurzer Dauer ist und schließlich die Inflation beschleunigt.49 Art. 109 Chil. Verf. bestimmt, dass die Zentralbank nur mit öffentlichen oder privaten Finanzinstituten finanzoperativ tätig werden darf, und dass sie unter keinen Umständen für diese Institutionen bürgen darf und keine vom Staat, seinen Organen oder Unternehmen erlassene Wertpapiere erwerben kann. Um die öffentlichen Ausgaben überschaubarer und transparenter zu machen, kann, abgesehen von einem Kriegsfall oder einer drohenden Kriegsgefahr, keine staatliche Ausgabe oder Anleihe direkt oder indirekt durch Kredite der Zentralbank finanziert werden (Art. 109 Abs. 2 Chil. Verf.). Diese Tatsache verhindert, dass die Regierung mittels fiktiver Kreditaufnahme bei der Zentralbank einen erhöhten Geldumlauf erzeugt. Da die Zentralbank in der Vergangenheit oft mit Willkür gehandelt hatte, wird die allgemeine Verfassungsnorm der wirtschaftlichen Gleichberechtigung von Art. 19 Nr. 22 im letzten Absatz noch einmal wiederholt: „Die Zentralbank kann keinen Beschluss fassen, der auf direkte oder indirekte Weise Normen oder Formalitäten etabliert, die sich in Bezug auf Personen, Institutionen oder Körperschaften, die gleichgeartete Handlungen durchführen, unterscheidend oder diskriminierend auswirken.“ Die Verfassung beschreibt nicht die Funktion der Zentralbank selbst, sondern überträgt diese Aufgabe seinem Verfassungsorgangesetz. Art. 3 des entsprechenden Gesetzes bestimmt, in Anlehnung an das deutsche Modell, dass die Zentralbank die Währung stabil halten und anderseits für den normalen Verlauf interner und externer Zahlungen sorgen soll. Um das zu erreichen, diktiert sie Normen, die die Wirtschafts-, Währungs-, Kredit- und Finanzpolitik regeln sollen. Geld spielt eine grundlegende Rolle für die geeignete Entwicklung jeder Ökonomie. Um diese bedeutende Rolle aufrecht zu erhalten, muss die Geldpolitik der Zentralbank den Wert der eigenen Währung wahren. Sie muss versuchen, die Inflation so gering und stabil wie möglich zu halten, um die Ökonomie auf den Weg eines nachhaltigen Wachstums zu bringen, der zu voller Arbeitsbeschäftigung für alle und allgemein zu Fortschritt und Wohlstand führt. Die Zentralbank hat die finanzielle Stabilität des Landes und der Währung gewahrt und die Inflation wesentlich herabgesetzt. Auch wenn bereits in der Verfassung 1980 die Zentralbank als autonome Organisation erwähnt wurde, verkündete doch die Militärregierung erst im Oktober 1989, wenige Monate ___________ 49 Corbo, V. / Hernández, L., Ochenta años de historia del Banco Central de Chile, in: Revista Económica Chilena del Banco Central, Bd. 8, Nr. 3 (2005), S. 20.

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vor dem Regierungswechsel, das entsprechende Verfassungsorgangesetz der Zentralbank. Danach wurden Personen der Regierung wie auch der Opposition in den Zentralbankrat ernannt. Von diesem Augenblick an wurde die Inflation, die damals über 30 % jährlich lag, alljährlich niedriger. In der Periode zwischen 1991 bis 1995 war der Jahresdurchschnitt der Inflation 12,1 % und zwischen 1996 bis 2000 nur noch 2,2 %. Seit 1999 strebte die Zentralbank in ihrer Währungspolitik eine jährliche Inflation von 2 bis 4 % an, was sie tatsächlich erreicht hat.

IV. Nachwort Die Verfassung von 1980 griff bewusst schmerzliche Erfahrungen der chilenischen Verfassungsgeschichte im Wirtschaftsbereich auf, war man doch geprägt von einem Staat, der die Privatinitiative erstickte, schwerwiegende willkürliche Diskriminierungen vornahm, Eingriffe in wirtschaftliche Aktivitäten vollführte, manchmal auch direkt durch die Gründung von sonderbefugten Unternehmen oder indirekt durch diskriminierende Gesetzgebungen und Verordnungen. Die Verfassung verankerte mehrere Vorschriften, die dem Staat genaue Anweisungen in Bezug auf die Wirtschaftsfreiheit geben. Daraus lässt sich die Existenz einer verfassungsrechtlichen Wirtschaftsordnung erkennen, die die unternehmerische Tätigkeit des Staates stark begrenzt und ein ökonomisches System staatlicher Planung und Intervention vermeiden will. Die jetzigen Verfassungsbestimmungen gehen von der Vorherrschaft des Menschen und seiner Freiheit aus. Sie beschränken die staatliche Tätigkeit auf eine subsidiäre Rolle für den Fall, dass die Einzelpersonen oder die mittelständischen Gesellschaften nicht handeln können oder wollen. Die neue chilenische Wirtschaftsordnug hat dem Land und seinen Einwohnern große Vorteile gebracht. Der Prozentsatz der armen und notleidenden Bevölkerung konnte stark verringert werden. Von 1987 bis 2003 sank die Zahl der Armen von 44 % auf 18,8 % und die der Notleidenden von 17,1 % auf 4,7 %. 50 Chile gehört damit heute zu den Ländern Lateinamerikas mit einem geringen Anteil an armer Bevölkerung. 51 Leider bestehen heute noch große Unterschiede im Einkommensniveau der Einzelpersonen, was auch dem unterschiedlichen Bildungsniveau zuzuschreiben ist. ___________ 50

Ministerio de Planificación (Ministerium für Planung), Umfrage „Casén“. Nach der Forschungsarbeit von Feres, J. C., La pobreza en Chile en el año 2000, Comisión Económica Para América Latina (Wirtschaftskommission für Lateinamerika), der Organisation der Vereinten Nationen (Hrsg), Serie Estudios Estratégicos y Prospectivas, Nr. 4, Juli 2001, S. 11. 51

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Diese Verbesserung des Lebensstandards, der eine größere Achtung vor der Würde des Menschen und eine bessere Ausübung der Grundrechte mit sich bringt, wurde durch das finanzielle Wachstum von 8,2 % zwischen 1991 und 1997 ermöglicht. Dieses wiederum gestattete die Anwendung einer Sozialpolitik, die neue Möglichkeiten für die ärmere Bevölkerung schafft und ihr einen Mindeststandard garantiert. Chile ist ein Beleg dafür, dass eine verfassungsverankerte Wirtschaftsordnung, deren Säulen Privatinitiative und staatliche Subsidiarität sind, in Verbindung mit einer autonomen Zentralbank und wirtschaftlicher Stabilität zur Festigung der individuellen Rechte und zu einer ausgedehnten Ausübung der sozialen Rechte führt.

VIII. Rechtsgeschichte und juristische Zeitgeschichte

Die Kontinuität des Johanniterordens Christian Raap „Die Nächstenliebe, die zuallererst Sorge um die Gerechtigkeit ist, ist der Prüfstein des Glaubens und der Gottesliebe.“ Papst Benedikt XVI. (Predigt am 10.09.2006 in München)

I. Einleitung Dieter Blumenwitz bediente sich als Staats- und Völkerrechtler souverän der Erkenntnisse anderer wissenschaftlicher Disziplinen – dabei galt der Geschichte sein besonderes Interesse. 1 Deshalb soll seiner auch mit einer historischen Reflexion gedacht werden. Der vorliegende Beitrag umfasst die Zeit vom 11. Jahrhundert bis in das 21. Jahrhundert. Der heute in fünf, rechtlich getrennte Teile verzweigte ritterliche Orden des Hl. Johannes vom Spital zu Jerusalem besteht seit über 900 Jahren. Er ist nach seinem Ursprung der älteste geistliche Ritterorden. 2 Seine ihn kennzeichnende Doppelaufgabe liegt im Eintreten für den christlichen Glauben und im Einsatz für den Nächsten. Dies bringt der alte Wahlspruch „Tuitio fidei et obsequium pauperum“ („Bezeugung des Glaubens und Hilfe den Bedürftigen“) zeitlos zum Ausdruck. Patron des Ordens und seiner fünf Teile ist der Hl. Johannes der Täufer.

___________ 1 Siehe etwa seinen prägnanten Abriss der deutschen Geschichte in: Denk ich an Deutschland. Antworten auf die Deutsche Frage, Bd. 1, 1989, S. 20-53. 2 Die zum Teil untergegangenen Orden des Mittelalters behandelt Demurger, A., Die Ritter des Herren. Geschichte der geistlichen Ritterorden, 2003. Mit den noch heute bestehenden Gemeinschaften befasst sich Klimek, St. J., Im Zeichen des Kreuzes. Die anerkannten geistlichen Ritterorden, 2. Aufl. 1998.

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Die fünf Ordensteile sind: (Sitzangabe in Klammern; Einzelheiten siehe unter V.)  der „Souveräne Ritter- und Hospitalorden vom Hl. Johannes zu Jerusalem, genannt von Rhodos, genannt von Malta“ 3 (Rom) als Ordensstamm,  die „Balley Brandenburg des Ritterlichen Ordens St. Johannis vom Spital zu Jerusalem, genannt der Johanniterorden“ (Berlin) als sein Ast,  die beiden Johanniterorden in den Niederlanden (Den Haag) und in Schweden (Stockholm) 4 als Zweige des vorgenannten Ordens sowie  der britische „Order of St. John“ 5 (London) als Neugründung des 19. Jahrhunderts. Zeichen aller fünf Ordensteile ist ein weißes achtspitziges Kreuz, das man üblicherweise als Johanniter- oder Malteserkreuz bezeichnet. 6 Nach einem historischen Überblick (II.) befasst sich dieser Beitrag mit der Frage, ob der Ordensast „Johanniterorden“ ununterbrochen seit seinen Anfängen besteht oder aber im 19. Jahrhundert untergegangen war und in der Folge neugegründet wurde (III. und IV.). Für die Antwort lassen sich die Erkenntnisse der Rechtslehre nicht nutzbar machen. Nur das Völkerrecht 7 und das Staatsrecht 8 haben Regeln für den Fortbestand von Rechtssubjekten, die tiefgreifenden Veränderungen ausgesetzt sind, entwickelt. Demgegenüber gibt es in anderen Rechtsgebieten für die Kontinuität von Rechtssubjekten keine allgemeine rechtliche Dogmatik. 9 . Zum Abschluss (V.) behandelt der Beitrag kurz Aufgaben und Struktur der heutigen fünf Ordensteile.

___________ 3

Im offiziellen Sprachgebrauch finden sich auch die kürzeren Bezeichnungen „Souveräner Malteser-Ritterorden“ und „Malteserorden“. 4 Amtlich: „Johanniter Orde in Nederland“; „Johanniterorden i Sverige“. 5 Amtlich: „The Most Venerable Order of St. John of Jerusalem“. 6 Siehe Raap, C., Das Ordenskreuz der Johanniter und Malteser, 2006, S. 10 ff.; zum (marken-)rechtlichen Schutz des achtspitzigen Kreuzes siehe jüngst BGH, Beschluss vom 11.05.2006 – I ZB 28/04, GRUR 2006, 859. 7 Eingehend Fiedler, W., Das Kontinuitätsproblem im Völkerrecht. Zum funktionalen Zusammenhang zwischen Völkerrecht, Staatsrecht und Politik, 1979. 8 Dietlein, J., Nachfolge im öffentlichen Recht. Staats- und verwaltungsrechtliche Grundfragen, 1999, S. 431 ff. 9 Vgl. Leisner, A., Kontinuität als Verfassungsprinzip unter Berücksichtigung des Steuerrechts, 2002, S. 2; Schwerpunkt ihrer Arbeit ist das Problem des Vertrauens in den Fortbestand von Rechtslagen.

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II. Allgemeine Ordensgeschichte bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts 1. Anfänge im Heiligen Land Der mittelalterliche Orden 10 geht auf eine Spitalbruderschaft zurück. Zwischen 1048 und 1071 gründeten Kaufleute aus Amalfi (bei Neapel) in Jerusalem ein Hospital für Pilger, Arme und Kranke, das von einer Laienbruderschaft geleitet wurde. Nach Eroberung der Stadt durch die Kreuzfahrer im Jahre 1099 schlossen sich der Bruderschaft christliche Ritter an. 1113 erteilte der Papst dieser Spitalgemeinschaft ein Schutzprivileg, das die freie Wahl des Leiters gewährt und bereits sieben Filialhäuser in Europa nennt. Von 1120 bis 1160 vollzog sich schrittweise der Wandel von der Spitalbruderschaft zum geistlichen Ritterorden, indem die Gemeinschaft ihre kirchliche Rechtsstellung ausbaute (vor allem durch unmittelbare Unterstellung unter den Papst), 1153 eine eigene Regel erhielt und zusätzlich zu den karitativen Tätigkeiten militärische Aufgaben 11 zum Schutz der Christen übernahm. Mit einem Brückenschlag zwischen Mönchtum und Rittertum hatte der hl. Bernhard von Clairvaux (1091–1153) die theoretische Grundlage für die geistlichen Ritterorden (insbesondere in seiner Schrift „De laude novae militiae“) geliefert. Die Angehörigen des Ordens im Heiligen Land nannte man auch Hospitaliter. Bis 1187 residierte der Orden in Jerusalem, von 1187 bis 1285 auf der Burg Margat (im heutigen Syrien) und von 1285 bis 1291 in Akkon (nördlich Haifa/Israel).

2. Organisation Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts blieb die Organisation 12 strukturell unverändert: Als nationale Zusammenschlüsse innerhalb dieser ersten multinationalen Gemeinschaft der europäischen Geschichte bestanden so genannte Zungen oder Ordensnationen (Provence, Auvergne, Frankreich, Italien, Aragon, England, Deutschland und Kastilien). Die Zungen waren in (Groß-)Priorate, diese wiederum in Balleien (oder Balleyen) und Kommenden unterteilt; eine ___________ 10 Der nachfolgende Überblick beruht auf den neueren Darstellungen von Böcher, O. (Zur Geschichte des Johanniter-Ordens, 2002), Riley-Smith, J. (Hospitallers. The History of the Order of St John, 1999) und Rödel, W. G. (Der Ritterliche Orden St. Johannis vom Spital zu Jerusalem, 3. Aufl. 1996). 11 Zur Wehrgeschichte des Ordens siehe Raap, C., Der Johanniter-/Malteserorden als multinationale Gemeinschaft unter besonderer Berücksichtigung militärischer Aspekte, in: Ipsen, K. et al. (Hrsg.), Wehrrecht und Friedenssicherung. Festschrift für Klaus Dau, 1999, S. 205 ff. 12 Die Organisation und die Mitgliederstruktur behandelt Waldstein-Wartenberg, B., Rechtsgeschichte des Malteserordens, 1969, S. 42 ff., 97 ff., 149 ff.

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Ballei fasste mehrere Kommenden innerhalb eines (Groß-)Priorats zusammen. Die Kommenden verwalteten den durch Schenkungen, Stiftungen und Vermächtnisse erworbenen beträchtlichen Besitz; einen Teil ihrer Überschüsse (so genannte Responsionen) mussten sie abführen, um die Aufgaben am Hauptsitz des Ordens zu finanzieren. Die Reformation führte zum Verlust von Besitzungen, vorwiegend in England und Skandinavien; die protestantisch gewordene nordostdeutsche Ballei Brandenburg (zu ihr siehe unten III.) verblieb im Orden. Durch den Türkeneinfall gingen ebenfalls im 16. Jahrhundert die Güter des Großpriorats Ungarn verloren. Ein auf Lebenszeit gewählter Meister (seit Mitte des 15. Jahrhunderts mit dem Titel Großmeister, ab 1607 mit dem Rang eines Fürsten des Heiligen Römischen Reichs und seit 1630 mit Kardinalswürde) regierte den Orden. Als engstes Gremium stand ihm der Ordensrat zur Seite, dem u. a. die Konventualbaillis (die Vorsteher der Zungen, auch Piliers genannt) angehörten. Die Bildung verschiedener abgegrenzter Ressorts (z. B. Hospitalwesen, Auswärtiges, Marine, Befestigungswesen, Finanzen) war Grundlage einer effektiven Regierung und Verwaltung. Die Ressorts waren fest mit den einzelnen Zungen verbunden, so dass die Konventualbaillis zugleich die hohen Regierungsämter bekleideten. Legislative Funktionen erfüllte das bei Bedarf einberufene Generalkapitel. Die Ordensmitglieder, die aus allen abendländischen Völkern stammten, waren in drei Klassen – Ritter, Priester, dienende Brüder – eingeteilt; daneben gab es auch Ordensfrauen.

3. Spätes Mittelalter und frühe Neuzeit Nach dem Verlust des Heiligen Landes für die Kreuzfahrer (1291) hatte der Orden vorübergehend seinen Sitz auf Zypern und seit 1309 auf Rhodos (daher die damalige Bezeichnung „Rhodiser“). Er verfügte jetzt erstmals über ein eigenes unabhängiges Territorium. Der Orden konnte seine Herrschaft auf weitere Inseln des Dodekanes und bis auf das kleinasiatische Festland ausdehnen. Rhodos war ein militärischer Vorposten des Abendlandes und kultureller Mittelpunkt der Region. Der Orden konnte zwar mehrere osmanische Angriffe erfolgreich abwehren. 1522 musste er aber Rhodos nach langer Belagerung aufgeben. 1530 belehnte Kaiser Karl V. als König beider Sizilien den Orden mit Malta (sowie den benachbarten kleinen Inseln Gozo und Comino). Seit dem MaltaAufenthalt bürgerte sich langsam die Kurzbezeichnung „Malteserorden“ ein. Die große Belagerung der Insel im Jahre 1565 durch zahlenmäßig weit überlegene türkische Streitkräfte entschied der Orden für sich; so verhinderte er das Vordringen des Osmanischen Reiches in den westlichen Mittelmeerraum und nach Südeuropa. Im 17. und 18. Jahrhundert trat an die Stelle der Ordensfunk-

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tion eines Schildes Europas gegen die Türken die Rolle als Polizei des Mittelmeers gegen moslemische Piraten. Innerlich stagnierte der Orden jedoch. In der Amtszeit des einzigen deutschen Großmeisters Ferdinand Frhr. v. Hompesch besetzten 1798 französische Truppen Malta kampflos; gleichzeitig endeten die militärischen Ordensaufgaben. Zwei Jahre später nahm Großbritannien die Insel ein. Obwohl der Orden nach dem Friedensvertrag von Amiens (1802) Malta zurückerlangen sollte, blieb es nach dem Ersten Pariser Frieden von 1814 bis zur Unabhängigkeit der Republik Malta (1964) britisch. 1834 nahm der Orden seinen Sitz in Rom. Waren der Französischen Revolution schon die Zungen Provence, Auvergne und Frankreich zum Opfer gefallen, gingen in der napoleonischen Zeit fast alle übrigen Besitztümer verloren. 1806 erlosch auch das Großpriorat Deutschland. 13 Es hatte seinen Sitz in Heitersheim (Breisgau); sein Großprior („Johanniter-Meister“) war seit 1548 Reichsfürst mit Sitz und (Viril-)Stimme im Reichstag.

4. Ordenshospitalität Die Hospitalität ist bis heute die zentrale Ordensaufgabe geblieben. Ein Generalkapitel umschrieb sie um 1200 mit den Worten: „Hospitalität nimmt den ersten Rang unter allen Werken der Frömmigkeit und Menschlichkeit ein. Alle christlichen Völker stimmen darin überein, weil sie alle anderen Tugenden darin einschließt. Sie muss von allen Menschen guten Willens geübt und geachtet werden – ganz besonders von denen, die den ehrenvollen Namen eines Hospitalritters führen.“ Bereits die erste Ordensregel von 1153 sprach von den „Herren Kranken“, deren Diener die Ordensmitglieder zu sein hätten. 14 Das Hospital in Jerusalem versorgte Kranke und Bedürftige stationär und ambulant, betreute gebärende Frauen, nahm sich Findel- und Waisenkindern an und versorgte aus der Sklaverei freigekaufte Christen mit dem Nötigsten. Am Ende des 12. Jahrhunderts soll sich die Zahl der täglich versorgten Patienten auf rund 2.000 belaufen haben. Diese umfangreichen Aufgaben ließen sich nur bewältigen, wenn möglichst viele Ordensmitglieder mithalfen. So haben auch alle Or___________ 13 Zum Großpriorat Deutschland und seinen Kommenden sowie zum Fürstentum Heitersheim siehe Staehle, E., Die Johanniter und Malteser der deutschen und bayerischen Zunge, 2002, S. 17 ff. Eine Karte mit allen Kommenden des Großpriorats Deutschland nebst Legende sowie Angaben zum Personalbestand finden sich bei Rödel, W. G., Der Johanniterorden, in: Jürgensmeier, F. / Schwerdtfeger, R. E. (Hrsg.), Orden und Klöster im Zeitalter von Reformation und katholischer Reform, 2005, S. 141 ff. 14 Siehe Lagleder, G. T., Die Ordensregel der Johanniter/Malteser. Die geistlichen Grundlagen des Johanniter-/Malteserordens mit einer Edition der drei ältesten Regelhandschriften, 1983, S. 65, 76 ff.

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densmitglieder einschließlich des Großmeisters bis zum Ende des 18. Jahrhunderts Pflegedienste am Hauptsitz des Ordens verrichtet. Das Geheimnis der hervorragenden medizinischen Versorgung bestand in der persönlichen und religiösen Zuwendung zu den Kranken. Die Johanniter hatten den engen Zusammenhang zwischen seelischer und körperlicher Gesundung erkannt und praktizierten daher schon im Mittelalter eine ganzheitliche Medizin. Der Orden scheute sich nicht, die Erkenntnisse der seinerzeit wesentlich fortgeschritteneren arabischen Medizin und den hohen Stand der griechisch-byzantinischen Heilkunst zu nutzen. Besonderes Aufsehen erregte überall die Hilfsbereitschaft und Großzügigkeit, mit der sich der Orden aller Hilfsbedürftigen und Kranken ohne Ansehen des Standes, der Volkszugehörigkeit und der Religion annahm. Auf Rhodos errichtete der Orden sofort ein neues Hospital. Ein weiterer Hospitalbau mit Isolationsräumen wurde 1478 fertig gestellt. Die Patienten waren nach Krankheiten getrennt, was damals eine Neuheit war. Das auf Malta in La Valetta 1582 eingeweihte Hospital mit 550 Betten galt als das größte und beste Europas. Während der medizinische Nachwuchs zunächst auf Ordenskosten in Italien ausgebildet worden war, wurde 1676 eine eigene medizinische Hochschule errichtet, die bald großes Ansehen genoss. Auch auf vielen Kommenden widmete sich der Orden der Krankenpflege.

III. Entwicklung im nordöstlichen Deutschland Im 14. Jahrhundert entstand die Ballei Brandenburg. Sie fasste die nordostdeutschen Kommenden zusammen und hatte ihren Sitz seit 1426 in Sonnenburg bei Küstrin in der Neumark. Die Ballei hatte schon im Mittelalter eine Sonderstellung innerhalb des Großpriorats Deutschland und des Gesamtordens. Denn durch den 1382 mit dem deutschen Großprior geschlossenen und vom Generalkapitel gebilligten „Vergleich von Heimbach“ 15 errang die Ballei Brandenburg eine weitgehende Eigenständigkeit. Nach diesem Vertrag wählten ihre Kommendatoren das Oberhaupt der Ballei, den Herrenmeister; die getroffene Wahl bedurfte allerdings der Bestätigung durch den deutschen Großprior. Von der mit der Reformation häufig verbundenen Einziehung kirchlichen Vermögens durch die Landesherren (so genannte Säkularisation) 16 blieben die Besitzungen der Ballei im Kurfürstentum Brandenburg verschont. Nachdem Kurfürst Joachim II. von Brandenburg (1535–1571) im Jahre 1538 das lutheri___________ 15 Text der neuhochdeutschen Übertragung des Vertrages: Wienand, A. (Hrsg.), Der Johanniterorden. Der Malteserorden. Der ritterliche Orden des hl. Johannes vom Spital zu Jerusalem. Seine Geschichte, seine Aufgaben, 3. Aufl. 1988, S. 643 ff. Der Ort Heimbach liegt in der Pfalz. 16 Hierzu Hammer, F., Artikel „Säkularisation“, in: Heun, W. et al. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, Neuausgabe 2006, Sp. 2069 ff.

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sche Bekenntnis angenommen hatte, traten die Ritter der Ballei nach und nach zur neuen Lehre über und heirateten. Neu investierte Ritter legten nicht mehr das im übrigen Orden weiterhin verlangte dreifache Gelübde der Armut, des Gehorsams und der ehelosen Keuschheit ab. 17 Das Gelübde lautete in der frühen Neuzeit: „Ich, N., gelobe und verheisse Gott dem Allmächtigen, der Heil.[igen] Jungfrau und Muttergottes Mariae und dem H.[eiligen] Johannes dem Täufer, daß ich mit Gottes Hülffe will beständigen Gehorsam leisten meinen Obern wie mir solcher von Gott und meiner Obrigkeit wird gegeben werden, ohne Eigentum leben und Keuschheit halten.“ 18

In nachreformatorischer Zeit legten die Ritter der Ballei Brandenburg folgenden Eid ab: „Ich schwöre, dem Ritterlichen Johanniter-Orden getreu, gewärtig und gehorsam zu seyn, dessen Ehr, Nutz und Bestes zu wissen, zu schaffen und zu befördern und dargegen Schaden und Nachtheil möglichstes Fleisses zu verhüten und zu wenden und dabei und überwissentlich nicht zu seyn, da etwas wider solches Ordens Ehre, Würden und Stand gehandelt wird, auch nicht darein zu willigen und mich sonsten allenthalben als einem Christlichen und Ehrliebenden Ritters Bruder zu thun gebühret verhalten will, so wahr mir Gott helfe um Christi willen.“19

Diese Praxis nahm der Gesamtorden duldend hin. 20 Infolge ihrer Autonomie blieb die Ballei bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, wenn auch nur lose eingebunden, im Gesamtverband des Ordens. 21 Die protestantischen Ritter galten weiterhin als Vollmitglieder des Ordens. 22 So entstand im 16. Jahrhundert ein ___________ 17 Das protestantische Kirchenrecht sieht die Ordensgelübde als unwirksam an und kennt daher keine Orden im katholischen Sinn (Heilfron, E., Lehrbuch des Kirchenrechts, 2. Aufl. 1914, § 14 II); zum Ordensstand nach katholischem Kirchenrecht siehe Erler, A., Kirchenrecht, 5. Aufl. 1983, Kap. 49. 18 Wiedergegeben z. B. bei Gude, H. L., Staat des Malteser oder Johanniter-Ordens, 1708 (Neudruck 1999), S. 24. 19 Text bei Dithmar, J. C., Geschichte des Ritterlichen Johanniter-Orden und dessen Herren-Meisterthums in der Marck, Sachsen, Pommern und Wendland, 1728, S. 15. 20 Siehe Opgenoorth, E., Die Ballei Brandenburg des Johanniterordens im Zeitalter der Reformation und Gegenreformation, 1963, S. 101 ff.; Rödel, W. G., Protestanten und Katholiken im Johanniterorden. Gewissensentscheid und Versorgungsdenken in der Reformationszeit, 1995, S. 21 ff. 21 Unstreitig; siehe etwa Christoph, J. E., Der Johanniterorden und die evangelische Kirche, in: ZevKR 33 (1988), S. 270 ff. (274); Floto, H., Der Rechtsstatus des Johanniterordens. Eine rechtsgeschichtliche und rechtsdogmatische Untersuchung zum Rechtsstatus der Balley Brandenburg des ritterlichen Ordens St. Johannis vom Spital zu Jerusalem, 2003, S. 68; Waldstein-Wartenberg (Fn. 12), S. 192. 22 Waldstein-Wartenberg (Fn. 12), S. 184. Nach Demel, B. (Ökumene im Deutschen Orden – eine singuläre Erscheinung?, in: Der Johanniterorden in Baden-Württemberg 98 [1998], S. 4 ff. [5]) bestand zwischen den katholischen und den lutherischen Rittern keine Gleichheit in der Mitgliedschaft, da nur die katholischen Ritter die Gelübde ablegten.

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protestantischer Ordensast mit einer autonomen Ritterschaft, 23 die man wie bisher „Johanniterorden“ nannte. Demgegenüber wurde für den katholischen Ordensstamm – wegen des damaligen Hauptsitzes auf Malta – allmählich die Bezeichnung „Malteserorden“ üblich. Im Bereich der Ballei gab es zwar kein Ordenskrankenhaus; die Ritter hatten aber die Pflicht, Armen, Witwen und Waisen zu helfen. 24 Der Selbstständigkeit im Orden stand eine enge Verbindung der Ballei mit den Kurfürsten von Brandenburg und späteren Königen von Preußen gegenüber. Der Westfälische Frieden sprach 1648 in Art. XII § 3 des Instrumentum Pacis Osnabrugense 25 das Patronatsrecht des Kurfürsten von Brandenburg an. Das Patronatsrecht ist ein Rechtsinstitut des Kirchenrechts, das neben Pflichten (z. B. Kirchenbaulast, Einkommensergänzung kirchlicher Amtsträger) insbesondere ein Vorschlagsrecht zur Besetzung eines kirchlichen Amtes (Präsentationsrecht) umfasst. 26 Die lutherischen Landeskirchen rezipierten das von der mittelalterlichen Kanonistik entwickelte Rechtsinstitut. 27 Die Landesherren Brandenburgs hatten von Anfang an besondere Rechte gegenüber der Ballei beansprucht. Schon im 1318 geschlossenen „Vertrag von Cremmen“ 28 gewährte der Markgraf von Brandenburg seinen besonderen landesherrlichen Schutz („sunderliken Bescirminge“). Nachdem Kaiser Sigismund 1415 den Grafen Friedrich von Hohenzollern mit dem Kurfürstentum Brandenburg belehnt hatte, wies er den Herrenmeister an, dem neuen Landesherren zu huldigen. 29 Aus dem Patronatsrecht folgte das Präsentationsrecht der Kurfürsten von Brandenburg für die Person des Herrenmeisters. So war die Wahl des Herrenmeisters kaum mehr als ein formaler Akt. Das landesherrliche Patronatsrecht erkannte ___________ 23 Dienemann, J. G., Nachrichten vom Johanniterorden, insbesondere von dessen Herrenmeisterthum in der Marck, Sachsen, Pommern und Wendland, 1767, S. 115 ff.; Wiese, G., Grundsätze des gemeinen in Teutschland üblichen Kirchenrechts, 3. Aufl. 1805, § 404. 24 Dithmar (Fn. 19), S. 20. 25 Text: Buschmann, A. (Hrsg.), Kaiser und Reich. Klassische Texte zur Verfassungsgeschichte des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation vom Beginn des 12. Jahrhunderts bis zum Jahre 1806, Teil II, 2. Aufl. 1994, S. 15 ff. (81 f.). Obwohl die Norm das Patronat nur beiläufig erwähnt, wurde dieser Norm später eine übermäßig hohe Bedeutung beigemessen. 26 Mörsdorf, K., Lehrbuch des Kirchenrechts auf Grund des Codex Iuris Canonici, II. Band, 12. Aufl. 1967, § 198. 27 Böttcher, H., Artikel „Patronat“, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 6, 4. Aufl. 2003, Sp. 1019 (1020). 28 Text: Wienand (Fn. 15), S. 640 f. Der Ort liegt im jetzigen Land Brandenburg und schreibt sich heute „Kremmen“. 29 Text des Schreibens bei Winterfeld, A. W. E. v., Geschichte der Ballei Brandenburg oder des Herrenmeisterthums Sonnenburg des Ritterlichen Ordens St. Johannis vom Spital zu Jerusalem, 1993 (Teilneudruck der Ausgabe von 1859), S. 687.

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der katholische Ordensstamm zwar nie förmlich an, nahm es aber letztlich hin. 30 Die Ballei war bis Anfang des 19. Jahrhunderts ein Verwaltungsbezirk des Gesamtordens. Von der Ballei mit ihren Kommenden ist der Johanniterorden mit seinen Amtsträgern (Herrenmeister, Kommendatoren) rechtlich zu trennen. 31 Ihr Verhältnis zueinander bestimmte sich auch in nachreformatorischer Zeit nach kanonistischen Rechtsgrundsätzen. 32 Ballei und Kommenden waren so genannte Pfründe (beneficia). 33 Die Erträgnisse aus den beträchtlichen Ordensbesitzungen 34 dienten dem Lebensunterhalt von Herrenmeister und Kommendatoren. Wer Herrenmeister oder Kommendator war, bekleidete kirchenrechtlich ein so genanntes bepfründetes Amt (officium beneficiale). 35 Derjenige, der ein solches Amt innehat, besitzt das Nutzungsrecht an der Pfründe. Rechtspersönlichkeit hat nicht die Pfründe für sich, sondern das Amt mit der Pfründe, die so genannte Benezifiziumsstiftung. Der Protestantismus übernahm das Pfründenwesen. 36

IV. Säkularisation und Reorganisation 1. Säkularisation Im Gegensatz zu vielen anderen deutschen Staaten, die aufgrund von § 35 des Reichsdeputationshauptschlusses von 1803 37 die Säkularisation radikal vorgenommen hatten, 38 säkularisierte Preußen die geistlichen Güter und damit auch die des Johanniterordens erst 1810/11. Hintergrund der Säkularisation war ___________ 30 Liermann, H., Ist die Balley Brandenburg des Ritterlichen Ordens St. Johannis vom Spital zu Jerusalem – genannt der Johanniterorden – eine Körperschaft des öffentlichen Rechts? [Unveröffentlichtes] Rechtsgutachten, 1964, S. 9. 31 Liermann (Fn. 30), S. 16. 32 Im protestantischen Bereich galt das kanonische Recht subsidiär und insoweit fort, als es nicht dem Sola-Scriptura-Prinzip und den Bekenntnisschriften widersprach. Anwendbar war insbesondere das kanonische Vermögensrecht (Heilfron [Fn. 17], § 27b.2). 33 Siehe auch Dienemann (Fn. 23), S. 150 ff. 34 Dem Herrenmeister waren sechs Ordensämter unmittelbar zugeordnet. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts bestanden noch acht Kommenden; siehe Winterfeld (Fn. 29), S. 778 ff. 35 Zu diesem kirchenrechtlichen Rechtsinstitut siehe Mörsdorf (Fn. 26), § 194 I 1. 36 Lindner, Th., Artikel „Pfründe“, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 6, 4. Aufl. 2003, Sp. 1250. 37 Text: Buschmann (Fn. 25), S. 319 ff. (348). 38 Überblick bei Willoweit, D., Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Frankenreich bis zur Wiedervereinigung Deutschlands, 5. Aufl. 2005, § 27 II 2.

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die durch den Zusammenbruch 1806 entstandene Notlage. Diese erforderte es, die letzten finanziellen Reserven auszuschöpfen. 39 Es stellt sich die Frage, ob die Säkularisation das Ende des Johanniterordens zur Folge hatte. Die Antwort muss sich am Wortlaut der Rechtsakte orientieren. Rechtsgrundlage der Säkularisation in Preußen war ein Edikt König Friedrich Wilhelms III. (1797–1840) vom 30.Oktober 1810. 40 In diesem heißt es u. a.: „§ 1. Alle Klöster, Dom- und andere Stifter, Balleien und Commenden, mögen sie zur katholischen oder protestantischen Kirche gehören, werden von jetzt an als Staatsgüter betrachtet. § 2. Alle Klöster, Dom- und andere Stifter, Balleien und Commenden sollen nach und nach eingezogen werden, und für Entschädigung der Benutzer und Berechtigten soll gesorgt werden. § 3. Vom Tage dieses Edikts an dürfen a. keine Anwartschaften erteilt, keine Novizen aufgenommen, und Niemand in den Besitz einer Stelle gesetzt werden [...].“

In dem Edikt ist von einer Auflösung des Johanniterordens keine Rede. Der Orden war jedoch zum langsamen Aussterben verurteilt, weil er gemäß § 3 Buchstabe a) des Edikts von Nachwuchs ausgeschlossen war. In Preußen dauerten Korporationen, deren Rechte u.a. der Johanniterorden nach II 11 § 1070 des Allgemeinen Landrechts (ALR) genoss, fort, wenn auch nur noch ein Mitglied vorhanden war, II 6 § 177 ALR. Der Johanniterorden erfuhr bei der Säkularisation seiner Güter eine Sonderbehandlung. Am 31. Dezember 1810 schlossen Beauftragte (Commissarien) des Herrenmeisters und des Königs einen Rezess, den der König am 23. Januar 1811 mit einem Spezial-Edikt genehmigte: 41 „§ 1. Seine Königl. Majestät von Preußen genehmigen die von des Herrn Herrenmeisters des St.-Johanniter-Ordens, Prinzen Ferdinand von Preußen K.[önigliche] H.[oheit], gewünschte Auflösung der Ballei Brandenburg, es sollen jedoch die Ehrenzeichen des Ritterlichen Ordens, so lange noch ein berechtigtes Mitglied desselben am Leben ist, in der Monarchie von den wirklich eingekleideten Rittern getragen, auch den mit Anwartschaften versehenen Mitgliedern des Ordens verstattet werden, diese Ehrenzeichen anzulegen, wenn sie nachher die Erlaubniß dazu bei Sr. Majestät nachgesucht und erhalten haben.“

Die Übertragung der Ordensgüter auf den Staat vollzog sich durch die Auflösung der Ballei und ihren Kommenden als den Trägern des Ordensvermö___________ 39 In protestantischen Territorien wurden die Landesherren für berechtigt gehalten, Kirchengüter im Notfall zum Besten des Staates zu verwenden; siehe Wiese (Fn. 23), § 468. 40 Text: Winterfeld (Fn. 29), S. 764 f. 41 Text: Winterfeld (Fn. 29), S. 766 ff.

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gens; die Ordensgüter fielen dem Fiskus zu. Die Auflösung der Ballei mit ihren Kommenden und die Einziehung des Ordensvermögens hatten auf den Bestand des Johanniterordens keinen Einfluss. Denn Ballei und Kommenden waren – wie dargestellt – vom Orden rechtlich getrennt. Nach der Säkularisation bestand der Johanniterorden in Preußen mithin als vermögensloser Personenverband fort. 42 Durch die Auflösung der Ballei Brandenburg durchschnitt der preußische Staat allerdings endgültig das lockere Band, das den protestantischen Ast über mehr als 250 Jahre mit dem katholischen Ordensstamm verbunden hatte. 43 Bereits am 23. Mai 1812 errichtete Friedrich Wilhelm III. den „Königlichen Preußischen St.-Johanniter-Orden“. 44 Dieser Orden war ein staatlicher Verdienstorden. Großmeister wurde der bisherige Herrenmeister (Abschnitt VI des Stiftungserlasses). „Geborene“ Mitglieder dieses Orden waren nach Abschnitt VIII des Stiftungserlasses die vorhandenen Johanniterritter: „Ernennen Wir hiermit zu Rittern dieses Ordens alle Diejenigen, welche als wirklich eingekleidete Ritter des Johanniter-Ordens der aufgelösten Ballei Brandenburg, zur Tragung der Ehrenzeichen des obengedachten alten Ordens vorhin berechtigt waren.“ Der Erlass bestätigte deklaratorisch die Auflösung der Ballei. Der Stiftungserlass stellt in seinem Abschnitt XIV klar, dass die „bisherigen Ritter [...] die alten Insignien“ behalten. So ging die Johanniterritterschaft in einem lockeren Zusammenschluss ähnlichen Namens auf. Bei dem Verdienstorden handelte es sich nicht um etwas völlig Neues, sondern um eine bewusste Erneuerung einer Institution in zeitgemäßen Formen, die der aufgeklärten Staatsräson des damaligen absoluten preußischen Staates entsprachen. 45 „Gekorene“ Mitglieder waren, wie es in Abschnitt X des Stiftungserlasses heißt, „solche Personen, die sich um Uns [i.e. den König von Preußen], um Unser Königliches Haus, und um Unsere Monarchie verdient gemacht haben“.

2. Reorganisation Mit Kabinettsorder vom 15. Oktober 1852 46 setzte König Friedrich Wilhelm IV. (1840–1861) Folgendes fest: ___________ 42

Liermann (Fn. 30), S. 16. Staehle (Fn. 13), S. 198. Die Aufhebung von Provinzen eines kirchlichen Ordens steht allein dem Apostolischen Stuhl zu; siehe Mörsdorf, K., Lehrbuch des Kirchenrechts auf Grund des Codex Iuris Canonici, I. Bd., 11. Aufl. 1964, § 86 II. 44 Text des Stiftungserlasses: Winterfeld (Fn. 29), S. 766 ff. 45 Liermann (Fn. 30), S. 19. 46 Text: Winterfeld (Fn. 29), S. 813 f. 43

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„1. Die Ballei Brandenburg des evangelischen St. Johanniter-Ordens ist, unbeschadet der durch das Edikt vom 30. Oktober 1810 erfolgten Einziehung der Güter derselben als Staatsgüter, wieder hergestellt. [...] 3. Die gegenwärtig noch am Leben befindlichen Ritter, welche vor der Säcularisation den Orden erhalten haben, sollen [...] wirkliche Mitglieder dieses Ordens sein. [...] 4. Die Ritter [...] des Königlich-Preußischen St. Johanniter-Ordens [...] sollen die Bezeichnung ,Ehrenritter’ führen.“

Häufig als „Romantiker auf dem Thron“ bezeichnet, wollte Friedrich Wilhelm IV. Altes, was in der Aufklärung und in den Wirren der Napoleonischen Kriege verloren gegangen war, wiederherstellen. Zum Wesen der Romantik gehört die Restauration. 47 Neben seiner Vorliebe für die Tradition verschloss sich der König nicht den Erfordernissen der Zeit. 48 Bei der Wiederherstellung handelte es sich nach dem klaren Wortlaut der Kabinettsorder nicht um eine Neugründung des Johanniterordens. Wiederhergestellt wurde lediglich die Ballei. Allein sie war auf Grund des Säkularisationsedikts vom 31. Oktober 1810 und des Spezialedikts vom 23. Januar 1811 aufgelöst worden. Diese Auflösung bestätigte deklaratorisch der Stiftungserlass vom 23. Mai 1812. In Vollzug der Kabinettsorder erlangte der Orden seine Handlungsfähigkeit zurück. Die Wiederherstellung war somit die Belebung des dahinkümmernden, aber noch nicht untergegangenen alten Ordens. 49 Der Orden brauchte auch gar nicht neugegründet zu werden, da er – wie dargelegt – noch existierte. Im Ergebnis besteht daher der Johanniterorden seit seinen Anfängen ungebrochen fort. Der Reorganisationsprozess vollzog sich zügig: 50 Ernennung der acht, noch vor der Säkularisation investierten Ritter zu Kommendatoren, Wahl des Prinzen Karl von Preußen zum Herrenmeister, Investitur des neuen Herrenmeisters und erste Ritterschläge, Beschluss neuer Ordensstatuten durch das Kapitel und Bildung von landsmannschaftlichen Genossenschaften zunächst in den Provinzen des Königreichs Preußen und später darüber hinaus. ___________ 47

Liermann (Fn. 30), S. 4. Rödel (Fn. 10), S. 56. 49 Campenhausen, A. Frhr. v., Der Rechtsstatus des Johanniter-Ordens, in: ZRG. Kan. Abt. 69 (1983), S. 325 ff. (331); Raap, C., Rechtsgeschichte und Rechtsstatus des Johanniterordens, in: NVwZ 1994, S. 565; ähnlich im Ergebnis Barz, W.-D., Die Satzung des Johanniterordens, in: JöR N. F. 39 (1990), S. 125 ff. (134). Eine abweichende Ansicht vertritt (wohl) nur Floto (Fn. 21), S. 93 ff., da er nicht zwischen dem Orden und der Ballei mit ihren Kommenden unterscheidet. 50 Zur Geschichte von 1852 bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts Herrlich, C., Die Balley Brandenburg des Johanniter-Ordens von ihrem Entstehen bis zur Gegenwart und in ihren jetzigen Einrichtungen, 4. Aufl. 1904, S. 68 ff. 48

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Gleich nach seiner Wiederherstellung begann der Orden, in kleinen Städten und auf dem flachen Land Krankenhäuser zu errichten. An der Gründung des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (1863) war er maßgeblich beteiligt. Die Kriege von 1864, 1866, 1870/71 und 1914/18 gaben dem Johanniterorden Anlass für eine umfangreiche Sanitätstätigkeit. 1885 rief der Orden eine Johanniter-Schwesternschaft ins Leben. Während des „Dritten Reiches“ sahen sich die Johanniter den Anfeindungen des NS-Regimes ausgesetzt. Ihre Beteiligung am Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944 bezahlten elf Johanniter (und zwei Malteser) mit dem Tode. 51

V. Gegenwart Nach dieser historischen Reflexion sollen kurz die heutigen Ordensteile behandelt werden.

1. Katholischer Ordensstamm Der römisch-katholische Malteserorden 52 hat eine Doppelnatur als Völkerrechtssubjekt 53 und als kirchlicher Orden – eine Stellung, die er neutral und unpolitisch für seine besonderen Aufgaben nutzt. Zu 96 Staaten unterhält der Orden diplomatische Beziehungen und hat Beobachterstatus bei den Vereinten Nationen. Seinem Gründungsauftrag entsprechend, wirkt der Malteserorden in rund 120 Staaten karitativ. Er unterhält u. a. Krankenhäuser, Hospize für Sterbende, Alten-, Kinder- und Behindertenheime sowie Einrichtungen für Drogensüchtige und für Flüchtlinge. Der Orden trägt Hilfsorganisationen in vielen Staaten (in Deutschland seit 1953 den Malteser-Hilfsdienst e. V.). Nach der 1997 revidierten Verfassung 54 übt der Großmeister als Ordensoberhaupt die höchste Amtsgewalt aus, verleiht Ämter sowie Funktionen und leitet die Regierungsgeschäfte; 78. Großmeister ist seit 1988 der Schotte Fra’ Andrew Bertie. Der Souveräne Rat unterstützt den Großmeister bei der Regierung des Ordens. Ihm gehören u. a. der Großmeister und die Hohen Ämter ___________ 51 Preußen, W.-K., Prinz v. / Freytag v. Loringhoven, B. Baron, Johanniter und der 20. Juli 1944, 1985, S. 34 ff. 52 Internet: www.orderofmalta.org. 53 In neuerer Zeit Köck, H. F., Der Souveräne Malteser-Ritter-Orden als Völkerrechtssubjekt, in: Steeb, C. / Strimitzer, B. (Hrsg.), Der Souveräne Malteser-RitterOrden in Österreich, 1999, S. 282 ff. (286 ff.). 54 Text: JöR n. F. 48 (2000), S. 334 ff.; hierzu Palanti Pelletier de Berminy, P., Das neue Verfassungssystem des Souveränen Malteserordens, in: JöR n. F. 48 (2000), S. 325 ff.

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(Großkomtur, Großkanzler, Großhospitalier, Rezeptor des Gemeinsamen Schatzamtes) an. Beratungsfunktionen erfüllen der Regierungsbeirat und der Juridische Beirat. Oberste Ordensversammlung ist das Generalkapitel, das in der Regel alle fünf Jahre einberufen wird. Das Generalkapitel wählt u. a. den Souveränen Rat, kann mit Zweidrittelmehrheit die Verfassung ändern und behandelt die wichtigsten Probleme des Ordens. Der Große Staatsrat, im Wesentlichen wie das Generalkapitel zusammengesetzt, wählt auf Lebenszeit den Großmeister (oder einen Statthalter). Für (weltliche) Rechtsfälle verfügt der Orden über eine Gerichtsbarkeit. Weltweit bestehen sechs Großpriorate und 47 nationale Assoziationen. In Deutschland wurden 1859 die „Genossenschaft Rheinisch-Westfälischer Malteser Devotionsritter“ und 1867 der „Verein Schlesischer Malteserritter“ gegründet; 55 beide schlossen sich 1993 zur Deutschen Assoziation (mit etwa 600 Mitgliedern) zusammen. Die rund 12.500 Ordensmitglieder gliedern sich in drei so genannte Stände, diese wiederum in verschiedene Kategorien. Die Angehörigen des ersten Standes (Ritter und Priester) legen das dreifache Gelübde der Armut, der Keuschheit und des Gehorsams, die des zweiten Standes (Ritter und Damen in Obödienz) ein kirchenrechtlich bindendes Gehorsamsversprechen (so genannte Promess) ab. Die Angehörigen des dritten Standes (Ritter, Damen und Priester) verpflichten sich ohne kirchenrechtliche Bindung zur Mitarbeit im Orden und zu einem vorbildlichen christlichen Leben.

2. Nichtkatholische Ordensteile Der protestantisch geprägte 56 Johanniterorden hat in 18 deutschen und fünf ausländischen Genossenschaften bzw. Kommenden (Finnland, Frankreich, Österreich, Schweiz, Ungarn) zurzeit rund 3.800 Mitglieder (Ritter). 57 Die niederländischen und schwedischen Ritter trennten sich 1946 vom Johanniterorden und gehören selbständigen Ordenszweigen an. 58 Die britischen Ordensmitglie___________ 55 Siehe Buhlmann, U., Malteserkreuz und Preußenadler. Ein Beitrag zur Gründungsgeschichte der Genossenschaft der Rheinisch-Westfälischen-Malteser-Devotionsritter, 1999, S. 32 ff. 56 Zum Verhältnis des Johanniterordens zu den evangelischen Landeskirchen und den sonstigen aus der Reformation hervorgegangenen kirchlichen Gemeinschaften siehe Christoph (Fn. 21), S. 280 ff.; siehe auch Block-Schlesier, A. v., / Lüder, S. R., Zur staatskirchenrechtlichen Stellung des Johanniterordens und der Johanniter-Unfall-Hilfe unter Berücksichtigung des europäischen Einigungsprozesses, in: ZevKR 46 (2001), S. 195 ff. (198 ff.). 57 Im Internet: www.johanniter.de/orden. 58 Im Internet: www.johanniterorde.nl/orde; www.Johanniterorde.se; zur Geschichte dieser beiden Ordenszweige s. Klimek (Fn. 2), S. 41, 47.

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der (Ritter und Damen) sind im Order of St. John 59 zusammengeschlossen; dieser Orden wurde im Jahre 1888 neu gegründet und sieht sich in der Tradition der im 16. Jahrhundert aufgelösten Englischen Zunge. An der Spitze des Johanniterordens steht der Herrenmeister. Seit 1693 wurden ohne Unterbrechung Angehörige des Hauses Hohenzollern in dieses Amt gewählt; 60 37. Herrenmeister ist seit 1999 Oskar Prinz von Preußen, Sohn des langjährigen Herrenmeisters Prinz Wilhelm-Karl, unter dem der Orden seit 1958 einen gewaltigem Aufschwung genommen hatte. Der Ordensstatthalter vertritt den Herrenmeister. Die Geschäfte führt die Ordensregierung unter Leitung des Ordenskanzlers. Oberstes Organ ist das Ordenskapitel. Ihm gehören u. a. der Herrenmeister, der Ordensstatthalter und die Kommendatoren (Leiter der Genossenschaften bzw. Kommenden) an. Für besondere Zwecke (z. B. Wahl des Herrenmeisters, Satzungsänderungen) kann das Kapitel erweitert werden (so genanntes Erweitertes Kapitel). Die Ordensmitglieder wissen sich an die christliche, ritterliche Ordenstradition gebunden und sind gewillt, ihr Leben nach der Ordensregel zu führen. Geeignete Personen werden in den Orden als Ehrenritter aufgenommen und können nach besonderer Bewährung zu Rechtsrittern ernannt werden. Der Johanniterorden trägt u. a. Krankenhäuser und Altenheime. Als Ordenswerke bestehen die Johanniter-Unfall-Hilfe e. V. (seit 1952), die JohanniterSchwesternschaft e. V. (seit 1958 selbstständig) und die Johanniter-Hilfsgemeinschaften (seit 1952). Hinzu kommen zahlreiche weitere Aktivitäten, wie z. B. die Osthilfe in den früheren deutschen Ostgebieten. 3. Kooperation der fünf Ordensteile 1961 schlossen sich die vier nichtkatholischen Orden in einer Allianz zusammen, um ihre internationalen Aktivitäten abzustimmen („Allianz von Nieder-Weisel“). 61 Im Jahre 2001 wurde unter der Bezeichnung „Johanniter International (JOIN)“ ein Zusammenschluss der Werke der vier Allianzorden in der EU mit Sitz in Brüssel gebildet. 62 2004 haben die fünf Ordensteile eine umfassende Kooperation vereinbart. 63 Als erstes gemeinsames (und erfolgreiches) Werk betreiben der Johanniter- und ___________ 59

Im Internet: www.orderofstjohn.org; zur Geschichte s. Klimek (Fn. 2), S. 53. Lebensbilder bei Stribrny, W., Der Johanniter-Orden und das Haus Hohenzollern, 2004, S. 8 ff. 61 Siehe www.allianceofstjohn.org. 62 Siehe www.johanniter.org. 63 Siehe Zeitschrift „Johanniterorden“ Heft 1/2005, S. 2 ff. Zu einer „Wiedervereinigung“ zwischen dem reorganisierten Johanniterorden und dem Malteserorden kam es 60

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der Malteserorden bereits seit mehreren Jahren das Malteser-Johanniter-Johanneshaus GmbH mit Wohnheimen für psychisch Behinderte im Rhein-SiegKreis.

VI. Schluss Für den ritterlichen Orden des Hl. Johannes vom Spital zu Jerusalem mit seinen fünf Teilen haben sich viele Bedingungen im Lauf von über 900 Jahren verändert. Gleich geblieben sind die Zuwendung zu den Kranken und Bedürftigen aus christlicher Nächstenliebe und das Bekenntnis zum christlichen Glauben. Lebensbedrohende Infragestellungen im Mittelalter, in der Reformation, in der napoleonischen Zeit und im 20. Jahrhundert hat er überstanden und ist zu neuer Blüte gelangt. Eine christliche Ordensgemeinschaft ist zum klaren Zeugnis für ihren Glauben an Jesus Christus verpflichtet. Gerade die geistliche Dimension war und ist die Kraftquelle des Ordens. Arbeitserfolg und Existenzberechtigung des Ordens hängen auch heute davon ab, dass er beide Teile seiner Doppelaufgabe gleichgewichtig erfüllt.

___________ nach 1852 nicht (mehr); siehe Barz, W.-D., Das Schreiben des Ordensstatthalters Philipp Graf v. Colloredo-Mels. Ein rechtserhebliches Dokument johannitisch-melitensischer Einheit?, in: Der Johanniterorden in Baden-Württemberg 108 (2003), S. 12 ff. (15).

Menschenrechte und Unrechtsetzung – der Code Noir von 1685 und das europäische Sklavenrecht Oliver Remien Ausländisches Recht, Rechtsvergleichung und Internationales Privatrecht waren unter den Interessengebieten von Dieter Blumenwitz, hervorstechen aber sein Einsatz für die kollektiven und individuellen Rechte der Menschen in Europa – und seine Freundlichkeit als Fakultätskollege. Lange bevor ich einen Ruf nach Würzburg erhielt, war mir ersteres schon bekannt, letzteres durfte ich mehrere Jahre lang erleben. Im Bereich der Rechtsvergleichung hat Blumenwitz unter anderem früh eine in mehreren Auflagen erschienene Einführung in das anglo-amerikanische Recht vorgelegt. 1 Die Rechtsvergleichung verfolgt in der Regel einen optimistischen Ansatz: verglichen werden die vielleicht suboptimalen, aber akzeptablen, guten, besseren, eventuell optimalen Lösungen verschiedener Rechtsordnungen und ermittelt werden soll die „beste Lösung“. 2 All dies mag dann vielleicht eines Tages zu einem optimalen droit commun de l’humanité beitragen. Diese Zielsetzung zu verfolgen ist – auch wenn nicht alles vereinheitlicht werden kann und sollte –gut. Sie führt zu einem zwar ungeheuer arbeitsreichen, aber hehren Programm. Sie ist wichtig für die Fortbildung des globalen Rechtsgesprächs und des Internationalen Handelsrechts. Man kann nichts wünschen als ihren Erfolg. Manchmal begegnet der Rechtsvergleicher aber auch dunklen Kapiteln nicht nur eigener, sondern auch ausländischer Gesetzgebung.

I. Menschenrechte und Sklavereigesetzgebung Menschenrechte können durch nackte Gewaltakte, aber auch durch Setzung von Unrecht verletzt werden. Ein Beispiel dafür ist das alte koloniale Sklavenrecht einiger europäischer Staaten, für welches der französische Code Noir von ___________ 1

Blumenwitz, D., Einführung in das anglo-amerikanische Recht, Rechtsquellenlehre, Methode der Rechtsfindung, Arbeiten mit praktischen Fällen, 1. Aufl. 1971, 7. Aufl. 2003. 2 Vgl. Zweigert, K. / Kötz, H., Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiete des Privatrechts, 3. Aufl. 1996, S. 46 f., beachte allerdings auch S. 39.

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1685 modellhaft steht. Er hat nach der nur vorübergehenden Abschaffung der Sklaverei durch die Revolution 3 und deren Wiedereinführung unter Napoleon Bonaparte am 20. Mai 1802 (30. floréal an X) 4 mit dem Code civil bis zur Abschaffung der Sklaverei durch die neue Zweite Republik im Jahre 1848 koexistiert. 5 Haiti (Santo Domingo) befreite sich von Fremdherrschaft, Sklaverei und Code Noir durch den erfolgreichen Aufstand und die Unabhängigkeit ab dem 1. Januar 1804, musste aber Entschädigung zahlen. 6 In den englischen Kolonien hatte das Sklavenrecht von Barbados Vorbildwirkung und bereits 1661 zu einem Slave Code geführt, der auch in Nordamerika Bedeutung erlangte 7 . Einige (wenige) Rechtsvergleicher haben sich mit diesen europäischen und amerikanischen Sklavenrechten beschäftigt; der Satz, dass Gesetzgeber voneinander lernen, Erfahrungen austauschen und Regelungen übernehmen – dass es also legal transplants gibt – ist auch an diesem Gegenstand dargelegt worden. 8 Sogar schon im 18. Jahrhundert scheint das Sklavenrecht der „Neuen Welt“ vergleichend betrachtet worden zu sein. 9 Der Unrechtscharakter der Sklaverei ist heute in Art. 4 Abs. 1 EMRK, Art. 5 Abs. 1 der europäischen Grundrechte-Charta, Art. II-65 Abs. 1 des Entwurfs des Europäischen Verfassungsvertrages festgehalten, ferner schon in den inter___________ 3 Dekret vom 04.02.1794 (16 pluviôse an II), abgedruckt als Text 4 in: Codes Noirs, De l’esclavage aux abolitions, Introduction de Christiane Taubira, Textes présentés par André Castaldo, 2006. 4 Loi relative à la traite des noirs et au régime des colonies du 20 mai 1802 (30 floréal an X), abgedruckt als Text 5 in: Codes Noirs (Fn. 3). 5 Carbonnier, J., L’esclavage sous le régime du Code civil, in: Annales de la Faculté de Droit de Liège 1957, S. 53, 56. Castaldo, in: Codes Noirs (Fn. 3), S. 26, sagt sogar: „Autrement dit, le Code noir est supérieur au Code civil.“ Das Décret de l’abolition de l’esclavage du 27 avril 1848 ist auch als Text 10 abgedruckt in: Codes Noirs (Fn. 3). 6 Siehe Ordonnance royale de Charles X du 17 avril 1825, abgedruckt als Text 8 in: Codes Noirs (Fn. 3). Dazu Castaldo (Fn. 5), S. 24. 7 Näher Nicholson, B. J., Legal Borrowing and the Origins of Slave Law in the British Colonies, in: American Journal of Legal History 38 (1994) 38 (49, 52 f.). Zu den dänischen Zuckerinseln siehe Winkle, S., „Firma Schimmelmann und Sohn“, Der dänische Sklavenhandel, in: Hamburger Ärzteblatt 2003, S. 530-537, http://www.aerztekammer-hamburg.de/funktionen/aebonline/pdfs/1074677101.pdf (27.02.2007). 8 Watson, A., The Origins of the Code Noir Revisited, in: Tulane Law Review 71 (1997), S. 1041 ff., in Fortführung von Watson, Slave Law in the Americas (1989). Siehe auch Nicholson (Fn. 7). 9 Zu Petit, E., Traité sur le gouvernement des esclaves, 2 Bde., 1777, insbesondere Bd. 2, siehe Ghachem, M., The Age of the Code Noir in French Political Economy, http://dams.stanford.edu/depts/hasrg/frnit/pdfs_gimon/ghachemfinal.pdf (24.02.2007), S. 7 f., dort S. 9: „Petit juxtaposed the various Slave codes of the New World in the hope that such an exercise would prove to be 'useful' to both planters and colonial administrators.“

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nationalen Sklaverei-Übereinkommen 10 sowie Art. 4 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. 11 Im Rahmen der Arbeiten über die GrundrechteCharta wurde an der Notwendigkeit dieser ausdrücklichen Norm auch für die Zukunft des 21. Jahrhunderts gezweifelt, doch wurde auch auf Formen der „Neuen Sklaverei“ hingewiesen. 12 Die Bestimmung der EMRK wurde also in Grundrechte-Charta und Entwurf des Verfassungsvertrages übernommen. In Frankreich ist aber überdies im Jahre 2001 ein Gesetz ergangen, welches den Unrechtscharakter der alten Sklaverei formell anerkennt. Es ist eines der Erinnerungsgesetze, der lois mémorielles der französischen Gesetzgebung; das Gesetz soll hier kurz vorgestellt werden und dann skizzenhaft betrachtet werden, welche Gesetzesregeln dem alten Unrecht Gestalt gegeben hatten. 13 So mögen im Kontrast einige Grundlagen einer freiheitlichen Rechtsordnung und deren Wertbezogenheit klarer hervortreten. Reine Rechtstechnik und purer Positivismus könnten allenfalls Detailkritik an dieser oder jener Regel üben. Aber man ist sich heute glücklicherweise einig, dass es sich um Unrecht handelt.

II. Anerkennung des Unrechts: Gesetz Nr. 2001-43 vom 21. Mai 2001 Nicht immer, vielleicht nicht einmal oft, kommt es vor, dass später von den Nachkommen der Urheber ausdrücklich eingeräumt wird, dass schreiendes Unrecht begangen worden ist. Dieser noble, wenngleich eher symbolische Akt wird im internationalen Rechtsgespräch wohl bisher wenig gewürdigt. Ein Beispiel aber ist das französische Gesetz über die Anerkennung des Menschenhandels und der Sklaverei als Verbrechen gegen die Menschlichkeit vom 21. Mai 2001 – die loi no. 2001–43 du 21 mai 2001 tendant à la reconnais___________ 10 Übereinkommen über die Sklaverei vom 25.09.1926, RGBl. 1929 II, S. 63; Zusatzabkommen über die Abschaffung der Sklaverei, des Sklavenhandels und sklavereiähnlicher Einrichtungen und Praktiken vom 07.09.1956, BGBl. 1958 II, S. 203; Protokoll (vom 07.12.1953) zur Änderung des am 25.09.1926 in Genf unterzeichneten Übereinkommens über die Sklaverei, BGBl. 1972 II, S. 1070 und Anhang dazu ebd. 1073. 11 BGBl. 1973 II, S. 431. 12 Borowsky, M., in: Meyer, J. (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Aufl. 2006, Art. 5 Rn. 6 f., 26. Zu „Neuer Sklaverei“ und Internationalem Privatrecht siehe neuestens Cour de cassation (1re civ.) 10.05.2006 (Époux Moukarim c. Demoiselle Isopehi), in: Revue critique de droit international privé 95 (2006), S. 856 m. Anm. Pataut / Hammje. 13 Eine tiefer gehende Untersuchung ist im Rahmen dieses Beitrages leider nicht möglich. Die eingehendste neuere Untersuchung ist wohl Sala-Molins, L., Le Code noir ou le calvaire de Canaan, 4. Aufl. 2006 (édition Quadrige), 1. Aufl. 1987. Dort werden neben umfangreichen Ausführungen zum historischen, religiösen und philosophischen Kontext auch alle Artikel des Code Noir einzeln kommentiert. „Le calvaire de Canaan“ nimmt auf die Verfluchung Kanaans durch Noah Bezug – in: Genesis 9, 20 ff.

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sance de la traite et l’esclavage en tant que crime contre l’humanité. 14 Es wird nach der Initiatorin des maßgebenden Gesetzentwurfs und Berichterstatterin in der Nationalversammlung Christiane Taubira-Delannon, Abgeordnete aus Cayenne in Französisch-Guayana, loi Taubira genannt. 15 Das Gesetz enthält nur fünf Artikel: Nach Art. 1 erkennt die Französische Republik an, dass der transatlantische negride Menschenhandel sowie der Menschenhandel im Indischen Ozean einerseits und die Sklaverei andererseits, die ab dem 15. Jahrhundert in den Amerikas, der Karibik, im Indischen Ozean und in Europa gegenüber afrikanischen, amerikanisch-indianischen, madagassischen und indischen Volksgruppen begangen wurden, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen. Nach Art. 2 sollen die schulischen sowie historischen und geisteswissenschaftlichen Forschungsprogramme ihr den gebührenden Platz einräumen; die Zusammenarbeit ist zu fördern. Ferner sollen europäische und internationale Organisationen befasst werden, über einen Gedenktag und Gedenkstätten werden Bestimmungen getroffen und eine weitere Rechtsvorschrift ergänzt. Die Frage möglicher Entschädigungen wird nicht angesprochen. 16 Das Unrecht wird hier nicht nur von den Opfern und deren Nachkommen oder dritten, sondern von der Französischen Republik als Repräsentantin (auch) von Nachkommen von Tätern anerkannt, auch wenn die Verantwortlichen nicht ausdrücklich benannt werden. Als Gedenktag ist entsprechend dem Vorschlag des Komitees für das Gedenken der Sklaverei, 17 aber nach einigen Debatten, der 10. Mai als Tag der Verabschiedung des Gesetzes im Senat bestimmt worden, einzelne Inseln haben aber besondere regionale Gedenktage. Am 10. Mai 2006 ist der Gedenktag zum ersten Mal begangen worden. Staatspräsident Chirac hob gelegentlich hervor, dass Frankreich das erste und einzige Land mit einem derartigen Gesetz sei. 18 ___________ 14

Journal Officiel de la République Française 2001, 8175 vom 23.05.2001; auch abgedruckt als Text 11 in: Codes Noirs (Fn. 3). 15 Siehe insbesondere den Rapport No. 1378 vom 16.02.1999. 16 Kritisch Sala-Molins (Fn. 13), S. XIII (préface à l’édition Quadrige) mit Hinweis auf Art. 5 des Gesetzentwurfs. 17 Comité pour le mémoire de l’esclavage, siehe dazu http://www.comité-memoireesclavage.fr. 18 Ansprache zum 10.05.2006, siehe Allocution du Président de la République, à l’occasion de la première journée commémorative en métropole du souvenir de l’esclavage et de son abolition, http://www.elysee.fr/elysee/elysee.fr/francais/ interventions/ discours_et_declarations/ 2006/ mai/ allocution_du_president_de_la_republique_ lors_de_la_ premiere_ journee_ commemorative_du_souvenir_de_l_esclavage_et_de_ son_abolition.48795.html (24.02.2007), mit Videoaufzeichnung: „la France a ouvert la voie aux autres nations“, „la France a été aux rendez-vous, la première“. Am 24.02.2007 hat das Parlament von Virginia in einer Entschließung sein tiefes Bedauern über die Sklaverei ausgedrückt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26.02.2007, Nr. 48, S. 1.

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III. Unrechtsetzung: Code Noir Rechtliche Verkörperung des Unrechts ist der im März 1685 von Ludwig XIV. für die Antillen erlassene Code Noir. 19 Ab 1625 hatte Frankreich in den Antillen koloniale Besitzungen erworben. 20 Die französischen Plantagen bedienten sich der Sklavenarbeit. Der Sklavenhandel hatte unter Richelieu begonnen und wurde unter Colbert entwickelt und gefördert, auch durch Geldprämien für Händler und Kapitän nach einer Ordonnance vom 13. Januar 1672. 21 Am Ende des 18. Jahrhunderts sollen je nach Insel sechs bis acht Sklaven auf einen Weißen gekommen sein. 22 Die Geburten reichten zur zahlenmäßigen Erhaltung der Sklavenbevölkerung nicht aus. 23 Der Code Noir hat die Sklaverei nicht neu eingeführt, aber kodifizierend geregelt. Er wird sogar als eine Art früher moderner politischer Ökonomie gesehen. 24 Manche haben im Code Noir ein Anknüpfen an das römische Sklavenrecht gesehen 25 und ihn dem (zunächst) unkodifizierten englischen Sklavenrecht gegenüber gestellt. Neuere Forschung unter Auswertung der Kodifizierungsvorarbeiten betont hingegen die Rolle der damals bereits fünfzigjährigen französischen Sklavereierfahrung in den Antillen und den Einfluss lokaler Beamter und Plantagenbesitzer. 26 Aber soweit römisches Sklavenrecht bekannt war, wird doch zum Teil ___________ 19 Siehe Text 1 in: Codes Noirs (Fn. 3) oder Code Noir ou Recueil d’Édits, Déclarations et Arrets Concernant Les Esclaves Négres de l’Amérique Avec Un Recueil de Réglements, concernant la police des Isles Françoises de l’Amérique et les Engagés, Paris 1743, Text verfügbar unter http://fr.wikisource.org/wiki/Code_noir (24.02.2007) oder http://www.tlfq.ulaval.ca/axl/amsudant/guyanefr1685.htm (24.02.2007). 20 Näher Girault, A., Principes de colonisation et de législation coloniale, tome I: Généralités, in: Notions historiques (1927) I , S. 136 f. Nr. 43. 21 Dazu Girault (Fn. 20), S. 221 Nr. 77. Kurz Sala-Molins (Fn. 13) S. XI. 22 Girault (Fn. 20), S. 221 Nr. 77. Castaldo in: Codes Noirs (Fn. 3), S. 2, nennt für Saint Domingue (Haiti) 450.000 Sklaven, 40.000 Weiße und 30.000 freie Farbige. Wesentlich geringere Sklavenanteile bestanden anscheinend auf den niederländischen Antillen und in Suriname, siehe Kunst, A. J. M., Van zaak tot persoon. De handel in slaven en de slavernij op de Nederlandse Antillen, in: Verzekeringen van vriendschap, Rechtsgeleerde opstellen aangeboden aan Prof. Mr. T. J. Dorhout Mees, Deventer 1974, S. 49–60, 59. 23 Ebd. 24 Ghachem (Fn. 9), v. a. S. 4 ff. 25 Oppenheim, L., The Law of Slaves. – A Comparative Study of the Roman and Louisiana Systems, in: Tulane Law Review 14 (1940), S. 384–406; Baade, H. W., The Law of Slavery in Spanish Lusiana 1769–1803, in: Louisiana’s Legal Heritage, ed. by Haas, Edward F., Pensacola, Fla. 1983, S. 43–86, 50, 53; Schafer, J. K., Slavery, the Civil Law, and the Supreme Court of Louisiana, Baton Rouge und London, 1994, S. 2; Jaubert, P., Le Code noir et le droit romain, in: Histoire du droit social, Mélanges en hommage à Jean Imbert, 1989, S. 321–331; zur Rechts- bzw. Geschäftsunfähigkeit Girault (Fn. 20), S. 222 Nr. 78. 26 Eingehend Palmer, V. V., The Authors and Origins of the Code Noir, The roots of French slave law in the Carribean and Louisiana, in: The Louisiana Civilian Experience,

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dessen Einfluss auf die Gesetzgebung in Paris nach wie vor betont. 27 Vermutlich flossen lokale Sklavereipraxis und römisches Rechtserbe, zu dem klare Parallelen bestehen, 28 ineinander. Der Code Noir galt zunächst für die Antillen, später für Guayana und mit Verschärfungen – Edikt vom Dezember 1723 – für die damals Ile Bourbon genannte Insel Réunion und das Isle de France genannte Mauritius. 29 Im Jahr 1724 wurde der Code Noir mit einigen Änderungen auch in Louisiana eingeführt. 30 Mischehen wurden nun verboten, Freilassungen erschwert. Der Code Noir war ein maßgebender Bestandteil des europäischen Sklavenrechts – vielleicht lockerer als das britische, aber rigider als das spanische, in jedem Fall ein unrühmlicher Bestandteil des europäischen Rechtserbes.

IV. Regelungsbereiche Der Code Noir behandelt in 60 Artikeln verschiedene Aspekte. Der lokale Vorentwurf war in sieben Titel gegliedert gewesen: 31 Religion, Ernährung und Kleidung, Polizei, Verbrechen und Strafen, Geschäftsunfähigkeit, Pfändung von Sklaven und ihr Status als bewegliche Sachen, Freilassung. Die Titelüberschriften wurden schließlich weggelassen, die Vorschriften durchlaufend nummeriert. 32 Man mag diese Struktur noch im endgültigen Code Noir gut erkennen können. 33 Für die Betrachtung hier empfehlen sich dennoch einige Abweichungen. Die grundlegenden Fragen des Status des versklavten Menschen und damit doch des Sklavenrechts nämlich stehen im Code Noir keineswegs unbe___________ Critiques of Codification in a Mixed Jurisdiction, 2005, S. 101–134; zuvor veröffentlicht in: Revue internationale de droit compare 1998, S. 112 ff., und Louisiana Law Review 56 (1995), S. 1 ff. 27 Watson (Fn. 8), S. 1051: „Roman law where it existed and was known was inserted in large measure by the Parisian draftsmen who were remote from local conditions in the Antilles.“, S. 1054: „Once again, when there were Roman rules and they were known, they formed the basis of the law in the C o d e N o i r .“ und S. 1055: „Yet, when all is said and done, I stand by my main thesis: that when relevant Roman law existed and was known, it was the main basis for slave law in the C o d e N o i r .“ 28 Vergleich bei Jaubert (Fn. 25). Übersicht zum römischen Sklavenrecht etwa bei Kaser, M. / Knütel, R., Römisches Privatrecht, 18. Aufl. 2005, S. 85 ff. 29 Zur Kolonialgeschichte Girault (Fn. 20), S. 149 f. Nr. 48 (zu Réunion) und Castaldo, in: Codes Noirs (Fn. 3), S. 11, dort als Text 2 auf S. 59 ff. das Edikt vom Dezember 1723. 30 Dazu etwa Oppenheim (Fn. 25), S. 396 f.; Baade (Fn. 25), S. 49; Schafer (Fn. 25), S. 1. Zum spanischen und französischen Sklavenrecht in Louisiana eingehend Baade ebd. 31 Nach Palmer (Fn. 26) ebd. 32 Palmer (Fn. 26), S. 122. 33 Vgl. Palmer (Fn. 26), S. 122.

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dingt am Anfang oder auch nur vorne. Verschiedene Aspekte werden vermischt. 1. Religion Die ersten Bestimmungen des Code Noir betreffen Fragen der Religion – und keineswegs nur die Sklaven. Wenn dies den heutigen Leser erstaunt, ist doch zu bedenken, dass Religion und Sklaverei offensichtlich spannungsreiche Fragen aufwerfen und im übrigen um 1685 Religionskämpfe stattfanden, insbesondere später im Jahr 1685 das Edikt von Nantes, das den Protestanten Toleranz gewährt hatte, widerrufen wurde.

a) Judenvertreibung Art. 1 ist auf die Entfernung der Juden von den Inseln gerichtet: innerhalb von drei Monaten sollten sie die Inseln verlassen. Der Vorentwurf hatte dies noch nicht vorgesehen. 34 Protestanten wurde in Art. 5 lediglich die Störung katholischer Religionsausübung – selbst durch deren Sklaven – untersagt.

b) Kirche, Taufe, Sonntagsruhe Verschiedene weitere Bestimmungen, vor allem die Art. 2–7, zielen auf die Durchsetzung der römisch-katholischen Religion (réligion catholique, apostolique et romaine). Die Sklaven sind römisch-katholisch zu taufen und zu unterrichten (Art. 2). Nach dem Kauf neuangekommener „Neger“ (nègres) sind die Behörden innerhalb einer Woche zu unterrichten, damit die entsprechenden Maßnahmen getroffen werden können (Art. 2 Satz 2). Religiös wird der Sklave also im Code Noir als Person anerkannt, oder es zeigen sich Elemente einer Art der Persönlichkeit 35 , aber zivilrechtlich ist der Sklave – wie nachher noch zu sehen – keine Person. 36 Die Christianisierung findet aber – allenfalls – erst auf den Antillen, noch nicht in Afrika statt. 37 Andere als römisch-katholische öffentliche Religionsausübung ist verboten (Art. 3), auch dürfen „Neger“ nur dem Kommando von Katholiken unterstellt werden (Art. 4). Sonn- und Feiertage sind von allen zu achten (Art. 6 Satz 1). Arbeit, auch der Sklaven, an diesen Tagen im Ackerbau, in der Zuckerherstellung und anderen Tätigkeiten ist ___________ 34 35 36 37

Vgl. Palmer (Fn. 26), S. 124. Carbonnier (Fn. 5), S. 59. Ebd. Sala-Molins (Fn. 13), S. 63.

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verboten (Art. 6 Satz 2). An Sonn- und Feiertagen dürfen auch keine Sklavenoder andere Warenmärkte stattfinden (Art. 7). Die Ehe steht künftig nur noch Katholiken offen, andere Verbindungen sind Konkubinate und daraus geborene Kinder Bastarde (Art. 8). Getaufte Sklaven sind auf einem Friedhof beizusetzen (Art. 14 Satz 1). 38 Ohne Taufe gestorbene Sklaven sind nachts auf einem Feld in der Nähe ihres Todesortes beizusetzen (Art. 14 Satz 2).

2. Sklavenstand und Ehe Der Sklave wird vorausgesetzt. Wieso der eine frei, der andere Sklave ist, wird nicht gesagt, 39 auch nicht, wie der gekaufte neu angekommene „Neger“ des Art. 2 Satz 2 Sklave geworden ist. Es gibt eben „Sklaven“. 40 Die neuen kamen im Wege des Dreieckshandels aus Afrika. Die Sklaveneigenschaft wird vererbt. An die Hautfarbe oder Rasse wird im Code Noir (hier und zunächst) nicht ausdrücklich angeknüpft, 41 aber die antillische Sklaverei war rassistisch. 42 Wie man durch Geburt Sklave wird und man sich zu ihm verhält, wird nämlich geregelt, wie die Betrachtung der Artikel 9 und 12 zeigt. Freie, die mit einer Sklavin ein oder mehrere Kinder haben, werden bestraft (Art. 9 Satz 1); sind sie deren Herr, so verlieren sie Sklavin und Kinder an das Hospital – ohne dass diese jemals freigelassen werden könnten (ebd.). Heiratet aber der noch unverheiratete Freie die Sklavin, so gibt es keine Strafe, die Sklavin wird frei und die Kinder legitim (Art. 9 Satz 2). Insoweit ist die Ehe zwischen Weißen und Schwarzen nach dem Code Noir also zunächst durchaus möglich – jedenfalls theoretisch. Die Eheschließungsregeln gelten für Freie wie Sklaven, doch bedarf der Sklave zur Heirat nicht der Erlaubnis von Vater und Mutter, sondern seines Herrn (Art. 10, Art. 11 Satz 1). Es soll aber kein Zwang zur Heirat wider Willen ausgeübt werden (Art. 11 Satz 2). Indes waren die Kontaktmöglichkeiten außerhalb der Plantage gering und soll die Zahl der Eheschließungen von Sklaven minimal gewesen sein. 43 Die Kinder aus der Sklavenehe sind Sklaven und gehören dem Herrn der Mutter, nicht dem Herren des Mannes (Art. 12). Ist die Mutter frei, so sind auch die Kinder frei – unabhängig von ihrem Geschlecht und trotz der Sklaveneigenschaft des Ehemannes; ist die Mutter Sklavin, so ___________ 38

Sala-Molins (Fn. 13), S. 118, nimmt an, dass besondere Friedhöfe für Sklaven bestanden. 39 Vgl. auch Sala-Molins (Fn. 13), S. 7. 40 Über rassebezogene Vermutungen der Sklaveneigenschaft in verschiedenen Staaten des USA vgl. Schafer (Fn. 25), S. 20. 41 Dies betont Watson (Fn. 8), S. 1054 f. 42 Ebd. 43 Näher Sala-Molins (Fn. 13), S. 184 f.

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sind die Kinder Sklaven (Art. 13). 44 Ob Mischlinge frei oder Sklave sind, richtet sich also danach, ob Mutter oder Vater frei oder Sklave sind. 45 Der bereits betrachtete Art. 9 modifiziert dies jedoch offenbar, der zweite Teil von Art. 13 scheint zu ihm nicht recht zu passen.

3. Der Sklave als bewegliche Sache Der Sklave ist nach dem Code Noir nicht ganz der unbegrenzten Willkür seines „Eigentümers“ ausgeliefert, es gilt immerhin ein Tötungsverbot (Art. 43), 46 das aber wenig streng formuliert ist und dessen Verletzung wohl kaum sanktioniert wurde. 47 Auch barbarische und unmenschliche Behandlung sind verboten (Art. 26 Satz 2). Aber weitere Bestimmungen des Code Noir organisieren, wie gesagt worden ist, das Eigentum des Herrn am Sklaven. 48 Sklaven werden im Code Noir ausdrücklich zu beweglichen Sachen erklärt, in Art. 44: „Déclarons les esclaves être meubles et comme tels …“. Damit fallen sie in die Gütergemeinschaft, können nicht hypothekarisch verfolgt werden, werden zu gleichen Teilen vererbt usw. usw. Sie können jedoch zum persönlichen Eigentum erklärt werden (Art. 45). Anders war die Einordnung später in Louisiana: 49 unbewegliche Sache. Auf die Spitze getrieben wird die „Sacheigenschaft“ der Sklaven durch die Pfändungsvorschriften. Als Vermögen ihres Herrn unterliegen auch Sklaven der Pfändung. Sie werden gepfändet wie bewegliche Sachen (Art. 46). Allerdings gibt es einen gewissen familiären Pfandverwertungsschutz: Ehemann, Frau und nicht geschlechtsreife Kinder sind nicht getrennt zu pfänden und zu verkaufen (Art. 47 Satz 1). Andernfalls tritt Nichtigkeit ein (Art. 47 Satz 2). Dasselbe soll für den freien Verkauf gelten (Art. 47 Satz 3). Nichteheliche Kinder konnten aber wohl verkauft werden. 50 Auch hinsichtlich Sklaven, die auf Zuckerplantagen etc. tätig sind und zwischen vierzehn und sechzig Jahren alt sind, gibt es einen Pfandverwertungsschutz (Art. 48), allerdings nicht bezüglich ihres Kaufpreises oder bei der Immobiliarvollstreckung in die Zuckerplantage etc. Der Sklave wird hier als Fortsetzung des Grundstücks behandelt. 51 Wird das Pfandgut gerichtlich verpach___________ 44

Jaubert (Fn. 25), S. 323, und Castaldo, in: Codes Noirs (Fn. 3), S. 9, ziehen dazu das Rechtssprichwort „Partus sequitur ventrem“ heran. Zu favor libertatis und maßgeblichem Zeitpunkt bei Statuswechsel der Mutter: Jaubert, ebd. 45 Kritisch Girault (Fn. 20), S. 224 Nr. 79. 46 Römischrechtliche Ursprünge sieht Jaubert (Fn. 25), S. 324. 47 Vgl. Sala-Molins (Fn. 13), S. 176 f., auch S. 175 zum Fall Lejeune. 48 Girault (Fn. 20), S. 223 Nr. 78. 49 Oppenheim (Fn. 25), S. 399; Schafer (Fn. 25), S. 8. 50 Sala-Molins (Fn. 13), S. 115. 51 Jaubert (Fn. 25), S. 325 f.

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tet, so hat der Pächter den Pachtzins voll zu zahlen ohne dass ihm während der Pacht geborene Kinder als Früchte zustünden (Art. 49). Vielmehr gehören Kinder dem Schuldner bzw. Erwerber (Art. 50). Bei der Erlösverteilung soll einheitlich vorgegangen werden, ohne dass zwischen dem für den Grund und jenem für die Sklaven erlösten unterschieden wird (Art. 51), Feudalabgaben sind hingegen nur für den Preis des Grundes zu zahlen (Art. 52). Grund und Sklaven werden in gewisser Hinsicht als Einheit betrachtet (Art. 53). Pfleger und andere haben die Sorgfalt eines guten Familienvaters anzuwenden, haften nur für Fehlverhalten und dürfen während der Verwaltung geborene Kinder nicht als Früchte behalten (Art. 54). Die Vorschriften zeigen deutlich, dass der Sklave als Wirtschaftsgut betrachtet wird, und zwar nach Art. 48 als für die Zuckerproduktion wichtiges Wirtschaftsgut.

4. Fernhalten vom Wirtschaftsverkehr Diverse Bestimmungen halten die Sklaven vom Wirtschaftsverkehr fern. Sie dürfen aus keinerlei Grund oder zu keinerlei Anlass Rohrzucker verkaufen, nicht einmal mit Erlaubnis ihres Herren (Art. 18). Auch dürfen sie keine Nahrungsmittel, nicht einmal Früchte, Gemüse, Brennholz, Getreide als Viehfutter oder ihre Handarbeiten ohne ausdrückliche Erlaubnis ihres Herren zum Verkauf anbieten (Art. 19). Bei Märkten sollen zwei Personen entsprechende Aufsicht führen (Art. 20), die bei Sklaven angetroffenen Sachen sollen ihnen abgenommen werden (Art. 21). Eigenen Besitz sollen die Sklaven nicht haben (Art. 28 Satz 1). Was sie erarbeiten, geschenkt oder sonst erhalten, gehört ihren Herren, vererben oder verschenken können sie nichts (Art. 28 Satz 2). 52 Derartige Verfügungen, Versprechen und Verträge sind nichtig, da durch rechtsoder geschäftsunfähige gemacht – „gens incapables de disposer et contracter“ (Art. 28 Satz 3). Haben die Sklaven allerdings im Auftrag ihres Herren gehandelt, auch in Geschäften oder einem ihnen von ihrem Herren aufgetragenen besonderen Handelsgewerbe, so haften die Herren; fehlt es an einem Auftrag, so haften die Herren nur bis zur Höhe ihres Gewinns; fehlt es am Gewinn, so wird das etwaige peculium, der dem Sklaven belassene Besitz, herangezogen, aber nach vorherigem Abzug des dem Herrn geschuldeten – es sei denn, das peculium bestehe in Waren für einen Sonderhandel des Sklaven (Art. 29). Art. 29 macht mit dem peculium Anleihen beim römischen Recht. 53 Amtsinhaber, Vertreter für andere als ihre Herren, Schiedsrichter, Sachverständige, Zeugen usw. können Sklaven nicht sein (Art. 30). Die Zeugenregelung wurde in der folgen___________ 52

Bezug zum römischen Recht bei Jaubert (Fn. 25), S. 326. Watson (Fn. 8), S. 1050; auch Girault (Fn. 20), S. 222 Nr. 78: „Les articles 28 et suiv., sur la capacité de l’esclave, rappellent les règles du droit romain en cette matière.“ 53

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den Zeit erleichtert. 54 Sklaven haben keine Parteifähigkeit im Zivilrecht (Art. 31).

5. Kontrolle Der Code Noir regelt wie schon der Entwurf auch die Polizei, d. h. die Kontrolle der Sklaven. Das Tragen von Waffen und großen Stöcken ist den Sklaven unter Strafe verboten – wenn sie nicht von ihren Herren auf die Jagd geschickt und entsprechend ausgewiesen oder gekennzeichnet sind (Art. 15). Sklaven verschiedener Herren dürfen sich nicht versammeln – unter dem Vorwand von Hochzeitsfeiern oder anders, bei schwersten Strafen (Art. 16). Dulden Herren solche Versammlungen, so haften sie ihren Nachbarn auf Schadensersatz und schulden eine Geldstrafe (Art. 17). 6. Essen und Kleidung Der Code Noir enthält auch Regeln über Ernährung und Kleidung des Sklaven. Die wöchentliche Essensstellung wird genau vorgeschrieben (Art. 22). Rum oder Zuckerrohrdestillat (guildive) darf nicht als Ersatz gegeben werden (Art. 23). Verboten wird den Herren auch, statt der Essensstellung den Sklaven einen Tag zur Eigenarbeit zu gewähren (Art. 24). Auch die Stellung von Kleidung wird vorgeschrieben (Art. 25). Über die Verletzung dieser Vorschriften können die Sklaven den Behörden Mitteilung machen (Art. 26) – aber mit welchem Risiko? 55 Alte, kranke, behinderte Sklaven sind durch ihre Herren zu ernähren und unterhalten, ggf. muss der bisherige Herr dem Hospital einen bestimmten Betrag zahlen (Art. 27). 56 Ob die Einhaltung dieser Bestimmungen gewährleistet war, mag man sich mit Fug und Recht fragen. 57

7. Strafe Der Code Noir enthält umfangreiche Strafvorschriften. Die Sklaven – zivilrechtlich zwar nicht parteifähig, Art. 31 – können strafrechtlich verfolgt werden (Art. 32). Die allgemeinen Verfahrensvorschriften finden Anwendung (Art. 32 Satz 2). Einzelne Delikte mit drakonischen Strafen werden festgelegt, ___________ 54

Sala-Molins (Fn. 13), S. 150 f. Vgl. Sala-Molins (Fn. 13), S. 145. 56 Nach Jaubert (Fn. 25), S. 329, liegt darin keine Freilassung, anders wohl SalaMolins (Fn. 13), S. 144. 57 Ghachem (Fn. 9), S. 13 f. 55

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die Todesstrafe ist in erheblichem Umfang möglich, 58 auch gibt es die Brandmarkung mit der Lilie (Art. 33 ff.). Unter anderem geht es um die wiederholte Flucht des Sklaven (Art. 38). 59 Da der Herr des zum Tode verurteilen Sklaven einen wertvollen Vermögensbestandteil verlor, wurde zu seiner Entschädigung offenbar sogar eine Ausgleichskasse eingerichtet, die „caisse des nègres suppliciés“. 60 Einziehungen und Geldstrafen gehen an den Staat, ein Drittel an das Hospital (Art. 60). 8. Freilassung Der Code Noir kennt auch die Freilassung des Sklaven und ist insoweit, verglichen mit anderen Sklavenrechten, vielleicht sogar relativ liberal 61 . Der Herr muss dafür zwanzig Jahre alt sein, bedarf aber auch, wenn noch unter fünfundzwanzig Jahren alt, nicht der Stellungnahme seiner Eltern. Die Freilassung ist unter Lebenden und von Todes wegen möglich und bedarf keiner Begründung (Art. 55). Hat der Herr seinen Sklaven zum Universalerben, Testamentsvollstrecker oder Vormund seiner Kinder eingesetzt, so gilt der Sklave als freigelassen (Art. 56) 62 – aber vielleicht war das irreal. 63 Durch die Freilassung auf den Inseln erhalten Sklaven einen dortigen Geburtsort und werden Franzosen, auch wenn sie im Ausland geboren sind (Art. 57). 64 Der Freigelassene schuldet seinem ehemaligen Herrn einen besonderen Respekt (Art. 58). Im Übrigen hat der Freigelassene dieselben Rechte wie die Freigeborenen (Art. 59). Bei den Regeln über die Freilassung spricht wohl viel für einen Einfluss des römischen Rechts. 65 Später wurde die Freiheit der Freilassung eingeschränkt. 66 Manche stellen lateinische Freiheit zur Freilassung anglo-amerikanischer Rigidität gegenüber. 67 Ein Selbstfreikauf durch den Sklaven, wie er ___________ 58 Girault (Fn. 20), S. 222 Nr. 78: „Il faut toutefois remarquer la fréquence de la peine de mort: on l’inflige à l’esclave qui se livre à des voies de fait sur un homme libre ou qui vole.“ Auf S. 223 meint Girault allerdings, die Grausamkeit des Code Noir sei etwas übertrieben worden. 59 Dazu Sala-Molins (Fn. 13), S. 166 ff.: „maronnage“. 60 Girault (Fn. 20), S. 222 Nr. 78; Sala-Molins (Fn. 13), S. 170 f. 61 Vgl. Palmer (Fn. 26), S. 130 ff.; vgl. zum römischen Recht Jaubert (Fn. 25), S. 329. 62 Vergleich zum römischen Recht bei Jaubert (Fn. 25), S. 329. 63 Dazu Sala-Molins (Fn. 13), S. 194 f.; der Code Noir von 1724 schränkte die Regel ein. 64 Nach Sala-Molins (Fn. 13), S. 169 f. wurde dies bald eingeschränkt, ab 1773 wurde auch die Führung „weißer“ Namen beschränkt.. 65 Watson (Fn. 8), S. 1053; Sala-Molins (Fn. 13) 192; Vergleich bei Jaubert (Fn. 25), S. 329 f. 66 Näher Girault (Fn. 20), S. 223 Fn. 1 Nr. 78; Baade (Fn. 25), S. 49. Zu Louisiana in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert siehe Oppenheim (Fn. 25) S. 384-406, 404 f. 67 Näher mit Nachw. Baade (Fn. 25), S. 45.

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sich in Kuba entwickelte 68 – coartación –, war im Code Noir allerdings nicht ausdrücklich vorgesehen. Dies wird häufig betont. 69

V. Schluss Der Blick auf den Code Noir zeigt wie manches andere, was Menschen nicht nur an Unrechtstaten, sondern auch an Unrechtsgesetzgebung möglich ist. Religiös wird der Sklave im Code Noir zwar immerhin als zu unterweisender und zu taufender, als Mensch mit Seele betrachtet. Religiöse Toleranz wird auch gegenüber Juden und zum Teil Protestanten nicht geübt. Zivilrechtlich aber betrachtet der Code Noir den Sklaven als bewegliche Sache, als Gegenstand des Eigentums, der Zwangsvollstreckung, und der Fruchterwerb an von Sklavinnen geborenen Kindern wird geregelt wie bei Vieh (Art. 49, 50, 54). Der Sklave ist rechts- bzw. geschäftsunfähig (insbesondere Art. 28 Satz 3) – er ist nur Objekt, nicht Subjekt des Rechts- und Wirtschaftsverkehrs. Abgesehen von einem möglichen peculium kann er auch nichts erwerben (vgl. Art. 28). Wenn „Privatrecht ... Ausdruck der Persönlichkeit als Rechtsinstitution“ ist, 70 so fehlt es für die Sklaven im Code Noir daran. Unter den Sklaven gibt es auch kein Erbrecht, allerdings ist Freilassung durch Einsetzung zum Erben, Testamentsvollstrecker, Vormund und durch Verfügung von Todes wegen wie unter Lebenden möglich. Einzig die katholische Eheschließung lässt Sklavin und Sklaven als für sich selbst rechtlich handelnde Subjekte erkennen – allerdings abhängig von der Erlaubnis der Herren, und zivilrechtlich mit der Wirkung eines gewissen Pfändungsschutzes nach Art. 47 Satz 1. 71 Von Privatautonomie findet sich für den Sklaven sonst keine Spur. Immerhin ist der Code Noir zunächst bei der Freilassung relativ großzügig – auch wenn er den eigenen Freikauf des Sklaven nicht kennt, so lässt er doch eine mögliche Freiheitsperspektive. Dass der entrechtete Sklave der Kontrolle unterliegt und keine Versammlungsfreiheit genießt, kann kaum mehr überraschen. Hinsichtlich Ernährung, Kleidung und Pflege der Sklaven gibt es zwar Vorschriften, aber die Normen zur Bestrafung von Taten der Sklaven treten eher hervor. Wer wollte sich über welche Taten der Sklaven auch immer heute wundern ... Nach den Maßstäben heutiger europäischer wie internationaler Menschenrechtsnormen springen zahlreiche Men___________ 68

Dazu Baade (Fn. 25), S. 46, 53. Etwa Schafer (Fn. 25), S. 2 f. 70 Hallstein, W., Wiederherstellung des Privatrechts, SJZ 1946, S. 1, 3; siehe dazu auch Remien, O., Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrages, 2003, S. 229 ff. 71 s. a. Jaubert (Fn. 25), S. 323: „conséquences essentiellement négatives“. Nach Sala-Molins (Fn. 13), S. 184 f. war Art. 47 mangels regulärer Eheschließungen ohnedies vergeblich. 69

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schenrechtsverletzungen ins Auge. Ihre wirtschaftsrechtliche Inspiration als Regelwerk zur Förderung der karibischen Zuckerwirtschaft macht sie nicht besser. Der französische Staatspräsident Chirac hat den Dreieckshandel als entreprise de déshumanisation, also Unternehmen der Entmenschlichung, bezeichnet.72 Wer wird dem widersprechen wollen. Für damalige Gesetzgebung und Praxis einiger anderer westeuropäischer Staaten in ihren antillischen und einigen anderen Kolonien gilt allerdings nichts anderes. Zum europäischen Rechtserbe gehören nicht nur die zu recht gefeierten Menschenrechte von EMRK, Grundrechte-Charta und Entwurf des Verfassungsvertrages, sondern leider auch diese und andere unmenschliche Unrechtsgesetzgebung. Das französische Gesetz vom 21. Mai 2001 erkennt dies für den Code Noir an. Wird nicht das europäische Zeugnis für die Menschenrechte in der Welt umso überzeugender ausfallen, je mehr die beteiligten Nationen und Europa sich auch hierzu bekennen. Und mahnt diese Erfahrung nicht, auch bei ökonomischen oder anderen vermeintlichen Sachzwängen die Menschenrechte hochzuhalten, damit Gesetzgebung nicht zu Unrechtsetzung wird?

___________ 72

Ansprache zum 10.05.2006 (Fn. 18).

Napoléon III était-il confédéré? Fritz Sturm

I. La menace d’invasion 1. De son quartier général établi à Lyon, le Lieutenant-Général Aymard adresse à ses soldats, le 25 septembre 1838, l’ordre du jour suivant: «Le lieutenant-général s’empresse de faire connaître aux différents corps de troupes sous ses ordres, que le Roi vient de lui confier le commandement supérieur de la Division de Rassemblement qui s’organise dans les départements frontières de la Suisse.» 1 2. Trente mille hommes se mettent ainsi en marche et s’approchent des frontières suisses. On les dispose de manière à pouvoir, le premier jour des hostilités, occuper les défilés du Jura, envahir le canton de Vaud et encercler la ville de Genève, que l’on compte couper du reste de la Suisse, et conquérir en quelques heures. 2 3. La réaction des Confédérés? Du côté fédéral, c’est d’abord l’immobilisme le plus total, la désunion la plus choquante. Seuls les cantons limitrophes sont conscients du danger. On réagit rapidement et prend les mesures de défense qui s’imposent. En moins de quinze jours, la ville de Genève se trouve en état de résister à une éventuelle attaque. Le Canton de Vaud se met sur pied de guerre en mobilisant 12 575 hommes d’élite et de réserve. Les Cantons de Fribourg, de Berne, d’Argovie, de Bâle-Campagne et de Saint-Gall mettent de piquet leurs contingents et leurs réserves. Berne appelle même un bataillon sous les drapeaux. Des foules de volontaires s’annoncent un peu partout. Le 6 octobre enfin, alors qu’on entrevoit déjà un dénouement pacifique de la crise, la Diète fédérale décide d’organiser la défense. 3 ___________

Texte remanié et augmenté d’une conférence que l’auteur a donnée à Paris, à Bâle et à Lausanne. 1 Leemann, H., Souvenirs des évènements de 1838, 1840, p. 39; van Muyden, B., La Suisse sous le pacte de 1815, 2e série, 1892, p. 516 ss. 2 Leemann (note 1), p. 92 ss. 3 Leemann (note 1), p. 44 ss, 59 ss, 78 ss; van Muyden (note 1), p. 518 ss.

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II. L’origine du conflit 1. Tout débute par les démarches confidentielles de l’ambassadeur de France, Napoléon Lannes, duc de Montebello. En février 1838, celui-ci s’efforce de convaincre le Directoire fédéral, les cantons de Berne et de Thurgovie d’éloigner du territoire de la Confédération le prince Louis-Napoléon Bonaparte. Le fils de Louis Bonaparte, roi de Hollande, et d’Hortense de Beauharnais, fille du premier lit de l’impératrice Joséphine, s’était installée en 1825 à Arenenberg en Thurgovie. Mais Arenenberg n’est pas seulement un château où, en toute tranquillité, le prince parfait sa formation. 4 Arenenberg est aussi un lieu de rencontres de nostalgiques et de conspirateurs. On y prépare en effet le complot de Strasbourg qui finit par la déportation du prince aux Etats-Unis. 2. A vrai dire, le déporté n’est pas resté aux Etats-Unis. Il est revenu à Arenenberg en août 1837 déjà. Il avait en effet appris que les jours de sa mère étaient comptés et désirait l’entourer de son affection durant ses derniers moments. Le 1er août 1838, le duc de Montbello remet une note au président de la Diète, l’avoyer Kopp de Lucerne. D’un ton comminatoire et de manière péremptoire, l’ambassadeur de France exige l’expulsion du prince Louis-Napoléon Bonaparte, fauteur de troubles, qui ne cesserait d’afficher ses prétentions insensées au trône. 5 3. Le 6 août, la note française est communiquée à la Diète. Le député thurgovien, Johann Konrad Kern, un vieil ami du prince, prend tout de suite la parole. Louis Napoléon est citoyen thurgovien. 6 Exiger l’éloignement d’un citoyen est une arrogance. La Suisse n’est pas une province française. Les députés des Cantons de Vaud et de Genève, le professeur Monnard et le syndic Rigaud, abondent dans le sens de Kern et désirent également voir repoussée la demande française. Les députés d’autres cantons se montrent en revanche hésitants. C’est la députation du Canton de Neuchâtel qui s’exprime de la manière la plus tranchante: c’est d’ailleurs la seule monarchie au sein de la Confédération, monarchie liée par une union personnelle au roi de Prusse. La députation neuchâteloise conteste l’acquisition régulière par le prince de la bourgeoisie thurgovienne. Louis-Napoléon a-t-il, comme l’exige la constitution de ce can___________ 4 Un ancien officier de l’artillerie napoléonienne, le Français Narcisse Vieillard, l’initie même aux secrets de la balistique. En 1836, Louis-Napoléon publie à Zurich, à l’usage des officiers de la République helvétique, un excellent manuel et montre ainsi qu’il connaît à fond la technique de cette arme. En tirant d’Arenenberg sur l’île de Reichenau, il avait d’ailleurs expérimenté des canons à rayures en acier fabriqués selon ses plans, à Constance; cf. Kanonenkugeln über den See in Richtung Reichenau, Seemagazin 2000 n°7, p. 7. 5 Leemann (note 1), p. 1275, reproduit le texte de cette note. 6 Le canton de Thurgovie avait conféré la bourgeoisie d’honneur le 30 avril 1832; cf. pour les détails III.

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ton, 7 renoncé formellement à la nationalité française? Le gouvernement thurgovien doit être invité à répondre à cette question sans ambage. 8 La Diète ne repousse pas la demande française. Elle préfère ajourner sa réponse. La note française est officiellement communiquée au gouvernement thurgovien. 4. Les thurgoviens ne se laissent cependant pas intimider. Sur la demande de Kern, le Grand Conseil du Canton se rassemble le 22 août et repousse, dans un vote unanime, la demande de la France. Deux points sont soulignés: (1) C’est au Canton de Thurgovie, et à lui seul, qu’appartient le droit et le devoir de veiller à ce que la sûreté d’autres Etats ne soit pas troublée. (2) Louis-Napoléon Bonaparte a été reçu citoyen du Canton de Thurgovie. En vertu de cette naturalisation, il n’est, et ne peut être, que citoyen de ce canton. Sur ce point, la constitution thurgovienne et la législation française concordent. Dans une lettre du 20 août, 9 le prince avait d’ailleurs lui-même déclaré, qu’en exilé et proscrit, il n’avait qu’une bourgeoisie, celle du Canton de Thurgovie. 10 5. La décision thurgovienne est saluée dans tout le pays où les essais d’intimidation de la France provoquent une véritable vague d’indignation et de patriotisme. Celle-ci ne déferle cependant pas sur le membres de la commission ___________ 7 Art. 25 Cst. thurgovienne du 14 avril 1831, confirmé lors de la révision du 10 novembre 1837. 8 Kaiser, J. / Fetscherin, W. (éd.), Amtliche Sammlung der neuen eidgenössischen Abschiede, Repertorium der eidgenössischen Tagsatzungen 1814–1848, II, 1876, p. 50 ss; Leemann (note 1), p. 7 ss; Baumgartner, G. J., Die Schweiz in ihren Kämpfen und Umgestaltungen von 1830 bis 1850, II, 1868, p. 287 ss; van Muyden (note 1), p. 487 ss.; Meyer, J., Königin Hortense und Prinz Ludwig Napoleon, dans: Schriften der Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung 35 (1906) 123 ss (252 ss); Dierauer, J., Geschichte der Schweizerischen Eidgenossenschaft V 2 (1814–1848), 1922 (réimpression 1967), p. 635 ss; Schlatter, A. H., J. C. Kern, Sein Wirken in der Schweiz (1832–1856), dans: Thurgauische Beiträge zur vaterländischen Geschichte 75 (1938) 1 ss (30 ss); Schoop, A., Johann Konrad Kern, 1968, p. 122 ss. 9 Lettre conservée au Staatsarchiv de Frauenfeld, reproduite par van Muyden (note 1), p. 439 s. Traduction allemande dans Kühn, J., Napoleon III. Ein Selbstbildnis in ungedruckten und zerstreuten Briefen und Aufzeichnungen, 1993, p. 194 s. 10 Il ne se prévaut pas de l’art. 17 C. civ. prévoyant la perte automatique de la nationalité française par une naturalisation acquise à l’étranger. L’acquisition du droit de bourgeoisie dans une ville étrangère suffisait d’ailleurs lorsque, par cet acte ou par la suite, le bénéficiaire était admis au droit de cité proprement dit; cf. Weiss, A., Traité théorique et pratique de droit international privé I, 2e éd., 1907, p. 514. Une abdication était donc totalement inutile; cf. Ullmer, R. E., Die staatsrechtliche Praxis der schweizerischen Bundesbehörden (1848–1863) II, 1866, n° 825 p. 121 s.

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qu’avait formée la Diète. Au contraire, ceux-ci donnent la piètre impression de s’être laissés gagner par la peur, les scrupules et la discorde. La majorité subordonne le rejet de la demande française à la déclaration expresse du prince de renoncer, sans réserve, à la qualité de citoyen français. Selon la minorité romande formée par les députés vaudois et genevois, LouisNapoléon Bonaparte jouit des droits de citoyens thurgovien et ne saurait donc être expulsé. 6. La Diète se réunit le 3 septembre, mais aucune décision n’est prise. Seuls les députés de cinq cantons 11 sont autorisés par leur gouvernement à trancher définitivement le problème et à repousser la demande d’expulsion formée par la France. L’immense majorité hésite, tergiverse, atermoie. En fin de compte, on opte pour le renvoi de l’affaire à une séance ultérieure.

III. Le problème juridique 1. Emotions et troubles empêchent les responsables d’analyser avec sangfroid et calme le problème juridique qui est à la base du conflit: LouisNapoléon Bonaparte est-il suisse ou français? Ou possède-t-il les deux nationalités? 2. L’article 4 de la fameuse loi d’amnistie du 12 janvier 1815 bannit les Napoléonides. Les ascendants et descendants de Napoléon Bonaparte, ses oncles et ses tantes, ses neveux et nièces, ses frères, leurs femmes et leurs descendants, ses sœurs et leurs maris, lit-on dans cet article, sont exclus du royaume à perpétuité et sont tenus d’en sortir dans le délai d’un mois. Ils ne pourront y jouir d’aucun droit civil, n’y posséder aucun bien. 12 Tout en supprimant la sanction prévue en 1816, soit la peine de mort, la loi du 10 avril 1832 relative à Charles X et à sa famille, maintient ce bannissement. 13 3. Le neveu de l’Empereur, Louis-Napoléon Bonaparte, a-t-il ainsi été déchu de sa nationalité? Le prince semble l’admettre. En effet, dans la lettre qu’il adresse au Grand Conseil du Canton de Thurgovie le 20 août 1838, 14 il ne souligne pas seule___________ 11 12 13 14

Bâle-Campagne, Genève, Saint-Gall, Thurgovie et Vaud. Carette, A.-A., Lois annotées 1789–1830, 1854, p. 933. Carette, A.-A. / Devilleneuve, L.-M., Lois annotées 1831–1848, 1854, 102 s. Nous y avons fait allusion (note 9).

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ment que la bourgeoisie thurgovienne est la seule qu’il possède. Il insiste aussi sur son bannissement provoquant sa mort civile et la perte de tous les droits qui reviennent au citoyen français. Or la conclusion que Louis-Napoléon Bonaparte tire du fait de son bannissement est inexacte. Dans la période allant de 1816 à 1836, le bannissement n’entraînait ni perte de la nationalité 15 ni mort civile. 16 Dans la doctrine, il a été même controversé si le mort civilement est déchu de la qualité de Français. 17 En tout cas, dans son arrêt du 20 février 1821, 18 la Cour de cassation refuse ___________ 15 L’art. 17, al. 1er, C. civ. énumère d’une manière exhaustive les causes de perte de la qualité de Français. Le bannissement n’y est pas mentionné. 16 L’ancien droit faisait emporter mort civile, à la condamnation à la mort naturelle, à la condamnation à la mutilation d’un membre, à la condamnation aux galères à perpétuité, au bannissement perpétuel lors du Royaume, à la prononciation de vœux monastique. Cf. Dictionnaire civile et canonique, Paris 1588, p. 599; Maleville, J., Analyse raisonnée de la discussion du code civil I, 2e éd. 1807, p. 40 ss; Toullier, Ch.-B.-M., Le droit civil français I, 1821, n° 272 p. 244. Le droit intermédiaire va encore plus loin: il frappe de cette déchéance les émigrés et les déportés (lois du 28 mars 1793 et du 17 septembre 1793) ; cf. Carette, A.-A. / Devilleneuve, L.-M., Lois annotées 1789-1830, 1854, p. 223 ss, 260. Les dispositions combinées des art. 23, 24 C. civ., 18 C. pén. prévoient la mort civile dans trois cas: la condamnation à la mort naturelle, la condamnation aux travaux forcés à perpétuité, la condamnation à la déportation. A ces hypothèses le décret du 6 avril 1809 assimile expressément le cas de l’insoumission à un ordre de rappel, le décret du 26 août 1811 le cas de la naturalisation à l’étranger obtenue sans l’autorisation du Gouvernement français. Ailleurs il n’est pas question de mort civile, institution qui est considérée comme exorbitante et est dès lors interprétée au sens le plus restrictif possible. 17 Dans son Répertoire universel et raisonné de jurisprudence VIII, 4e éd. 1813, p. 402, VII, 5e éd. 1827, p. 20, Ph.-A. Merlin soutient que le mort civilement n’est ni étranger ni français. Il n’appartient à aucune nation. Il ne conserve que les droits de la nature. Et, toujours selon Merlin, le mort civilement est absolument retranché de la société. En perdant les droits civils, il perd aussi la qualité de Français. En revanche, Maleville (note 16), p. 23 s., fait observer qu’un homme ne cesse pas d’être Français d’origine, parce qu’il est mort civilement; sa mort politique, image de la naturelle, ne doit pas avoir plus d’influence que celle-ci sur l’état de ses enfants, et rien n’empêche que l’enfant d’un condamné ne soit Français, ne demeure ou ne devienne Français. Dans le même sens se prononce Charles Demolombe, Cours de Code civil I, 1845, n° 209 p. 237 s.: «La loi ne dit nulle part que le mort civilement perdrait sa nationalité; et même la section 1ère de notre chapitre étant intitulée: ‘De la privation des droits civils par la perte de la qualité de Français’, suppose la conservation de cette qualité dans la section 2e, intitulée: ‘De la privation des droits civils par suite de condamnations judiciaires’. On ne peut donc pas dire que le mort civilement soit un étranger, ni dès lors exiger de lui la caution ‚judicatum solvi‘.» Considéré comme débris de la barbarie des temps antiques, notre institution, nous l’avons dit (note précédente), a été interprétée restrictivement. Le mort civilement conservait donc tous les droits civils qui ne lui étaient pas enlevés par l’art. 25 C. civ. (cf. Accollas, E., Manuel de droit civil I, 1874, p. 54), l’art. 22 C. civ. ayant précisé que ne sont concernés que les droits civils, ci-après exprimés. 18 Devilleneuve, L.-M. / Carette, A.-A., Recueil général des lois et des arrêts, 1ère série (1791–1830), 6e vol. (1819-1821), Paris s.a., p. 384.

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d’appliquer les règles sur la mort civile aux bannis de la loi du 12 janvier 1816 et reconnaît la capacité de succéder à un régicide. 4. Le Prince a-t-il alors perdu la nationalité française en vertu de l’article 21, alinéa 1er, C. civ.? Dans la rédaction de l’époque, cet article est ainsi conçu: Le Français qui, sans autorisation du roi, prendrait du service militaire chez l’étranger, ou s’affilierait à une corporation militaire étrangère, perdra sa qualité de Français.

En été 1830, dans sa vingt-deuxième année, Louis-Napoléon Bonaparte s’inscrit comme volontaire à l’école d’application de Thoune, école de recrues et d’aspirants d’artillerie et du génie de la Confédération.19 Cette école est dirigée par un ancien officier de l’armée napoléonienne, le colonel genevois Henri Dufour, qui aura encore un avenir glorieux: il commandera comme général l’armée suisse lors de la guerre du Sonderbund en 1847 et, une seconde fois dix ans après, en 1857, lors des tensions entre la Suisse et la Prusse au sujet de la Principauté de Neuchâtel.20 Dès la participation à ce cours, où Louis-Napoléon Bonaparte fait preuve de très grandes qualités de soldat et de camarade, où tout le monde admire son courage, son endurance et son entregent, les deux hommes restent liés d’une amitié profonde et durable.21 En 1834, le Prince participe aux manœuvres de Thoune comme officier d’artillerie du contingent bernois. Il en avait lui-même fait la demande. Le gouvernement cantonal s’en félicite et adresse à Arenenberg le brevet de capitaine.22 Ce n’est pas tout. En 1835, Louis-Napoléon Bonaparte devient membre du comité de la société de tir du Canton de Thurgovie. A l’occasion de la deuxième fête de tir, il offre à cette société, l’année suivante, le drapeau brodé par sa mère Hortense. Il portait la devise du roi Louis de Hollande: Eendragt maakt magt (Concorde rend fort).23 En 1838, Louis-Napoléon préside la fête thurgovienne de tir à Diessenhofen et participe, avec les camarades de son canton, au grand concours fédéral à Saint___________ 19

Meyer (note 8), p. 234. Bucher, E., Dufour général lors de la guerre du Sonderbund, et Beck, R., L’affaire de Neuchâtel et le général Dufour, dans: Durand, R. / Aquillon, D. (éd.), GuillaumeHenri Dufour dans son temps 1787–1875, 1991, p. 303 ss et 349 ss. 21 Pedrazzini, D., Dufour et les Bonaparte, dans: Durand / Aquillon (note 20) p. 63 ss (66 ss); Reverdin, O., Le Bonapartisme, dans: G. H. Dufour, L’homme, l’œuvre, la légende, Genève, Maison Tavel; le portrait topographique de la Suisse, Carouge, Musée (catalogue d’expositions en 1987 et 1988), Genève s. a., p 43 ss. 22 Bloesch, E., Prinz Louis Napoleon in Bern, 1881, p. 222 ss. Il démissionnait en 1836 lorsque la Suisse était menacée par la France. Motif: ne pas s’exposer à porter les armes contre son pays; cf. van Muyden (note 1), p. 476. 23 Meyer, J., Die früheren Besitzer von Arenenberg: Königin Hortense und Prinz Ludwig Napoleon, 4. Aufl. 1920, p. 318. 20

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Gall. 24 Depuis le Moyen-Age où la Confédération helvétique était la plus grande puissance militaire du monde, les sociétés de tir suisses ont toujours rempli trois fonctions primordiales: – former et entraîner des tireurs d’élite, – cultiver l’esprit patriotique et de défense, – constituer une réserve de volontaires toujours prêts à intervenir pour défendre canton, ville ou village. 25 Que faut-il tirer de là? En devenant recrue suisse et membre de la société thurgovienne de tir, en acceptant le brevet de capitaine d’artillerie et en organisant des grands exercices de tir hors service, Louis-Napoléon Bonaparte a fait du service militaire à l’étranger et s’est affilié à une corporation militaire. Il ne pouvait donc avoir conservé la nationalité française. Devenant soldat suisse en 1830, il avait, sans s’en rendre compte, abdiqué sa patrie et perdu la qualité de Français. 26 Dorénavant, Louis-Napoléon Bonaparte est vraiment apatride. 5. Est-il devenu citoyen suisse par la suite? En guise de reconnaissance des bienfaits que sa mère Hortense a prodigué pendant des années aux habitants de la commune dans laquelle est sis le château d’Arenenberg, la commune de Salenstein accorde, à titre gratuit, la bourgeoisie au prince. A l’unanimité des voix exprimées, le Grand Conseil ratifie cette décision. Deux semaines plus tard, le Petit Conseil – c’est ainsi que s’appelle à l’époque le gouvernement cantonal – adresse au Prince l’acte de naturalisation. 27 Cet acte précise qu’il s’agit d’une ___________ 24

Meyer (note précédente), p. 318, note 3. Merz, H., Das Schiesswesen in der Schweiz, dans: Schweizer Kriegsgeschichte, Heft 11, 1917, p. 35 ss; Michel, Th., Schützenbräuche in der Schweiz, 1983, p. 10 s. 26 Sa démission de l’artillerie bernoise (supra note 22) ne pouvait pas la rétablir. 27 Voici une traduction de cet acte du 30 avril 1832 conservé aux archives du château d’Arenenberg et reproduit par Meyer (note 8), p. 293: «Nous, Président et Petit Conseil du Canton de Thurgovie – la Commune de Salenstein ayant offert le droit de bourgeoisie communale au prince Louis-Napoléon en reconnaissance des nombreux bienfaits qu’elle a reçu de la famille de la duchesse de Saint-Leu depuis son établissement à Arenenberg, et le Grand Conseil ayant ensuite, par son décret unanime du 14 avril, sanctionné ce don et décerné au prince le droit de bourgeoisie d’honneur du Canton pour prouver combien il honore l’esprit de générosité de cette famille et combien il apprécie son attachement au canton – nous déclarons que le prince Louis-Napoléon (fils du duc et de la duchesse de SaintLeu), à Arenenberg, est reconnu dès maintenant citoyen du Canton de Thurgovie.» La lettre de remerciements du 16 mai 1832, conservée aux archives du Canton de Thurgovie et reproduite par Meyer (note 8), p. 294, est ainsi conçue: «C’est avec un grand plaisir que j’ai reçu le droit de bourgeoisie que vous avez bien voulu m’offrir; je suis heureux que de nouveaux liens m’attachent à un pays qui depuis seize ans nous a donné une hospitalité si bienveillante. 25

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bourgeoisie d’honneur. 28 Par là-même, Louis-Napoléon Bonaparte est aussi devenu citoyen suisse. En effet, selon l’arrêté fédéral du 13 juillet 1819, est Confédéré quiconque s’est vu conférer le droit de bourgeoisie d’un canton. 29 6. Au XIXe siècle, la bourgeoisie d’honneur ne confère pas seulement un titre honorifique. En règle, elle fait du gratifié un citoyen à part entière.30 A cette époque, la différence entre la bourgeoisie d’honneur et la bourgeoisie ordinaire est ailleurs: – la bourgeoisie d’honneur est un don, elle ne s’acquiert pas sur demande et moyennant finance de naturalisation. – le bourgeois d’honneur bénéficie de toutes les prérogatives qui reviennent au vrai bourgeois, mais, dans beaucoup de communes, il n’est pas tenu, comme les autres naturalisés, d’accepter les charges et les devoirs qui le grèvent.31 7. En Thurgovie, on considérait Louis-Napoléon Bonaparte comme citoyen à part entière. Ainsi sa commune le choisissait en 1838 par tirage au sort comme garde forestier (Holzmeier). 32 Ainsi les cercles de Diessenhofen, de Bussnang et de Steckborn l’élisent député au Grand Conseil où LouisNapoléon refuse cependant de siéger. 33 ___________ Ma position d’exilé de ma patrie me rend plus sensible à cette marque d’intérêt de votre part; croyez que, dans toutes les circonstances de ma vie, comme Français et Bonaparte, je serai fier d’être citoyen d’un état libre.» Selon Giraudeau, F., Napoléon III intime, 5e éd. 1895, p. 50, le Prince aurait écrit dans une lettre adressée en avril 1834 à son ancien maître Narcisse Vieillard: «Je ne veux pas courir toute l’Europe en vendant ma vie au plus offrant. J’ai déjà servi l’Italie, la Suisse; et pourtant je ne suis que Français; je veux vivre et mourir tel.» 28 Selon des rumeurs qui ne sont pourtant pas confirmées, c’est le Prince lui-même qui aurait insisté à voir apparaître dans cet acte l’expression bourgeoisie d’honneur; cf. Meyer (note 8), p. 239 s. 29 La Commune zurichoise d’Oberstrass désirait également conférer sa bourgeoisie au Prince, mais cette donation n’a pas été ratifiée par le Conseil d’Etat de ce canton; cf. Jucker, H., Die Bürgerrechtsschenkung der Gemeinde Oberstraß an den Prinzen Louis Napoleon Bonaparte, Zürcher Taschenbuch 1880, p. 204 ss. 30 L’art. 19 de la loi thurgovienne du 8 mai 1806 sur l’acquisition du droit de cité cantonal et communal autorise expressément le Grand Conseil à récompenser, par l’octroi gratuit de la bourgeoisie, Confédérés et étrangers qui ont bien mérité du Canton. Une disposition analogue s’applique à Zurich; cf. Stahel, A., Gemeindebürgerrecht und Landrecht im Kanton Zürich, thèse, 1941, p. 238 s.; Mettler, M., Das Zürcher Gemeindegesetz, 3e éd., 1976, p. 34. L’assimilation de la bourgeoisie d’honneur au droit de cité ressort du droit cantonal; cf. Burckhardt, W., Le droit fédéral suisse I, 1930, n° 333 p. 668. 31 Ce n’était pas le cas à Salenstein. C’est pourquoi le Prince était corvéable; v. plus loin III, 7. 32 Meyer (note 8), p. 268. 33 Meyer (note 8), p. 255.

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IV. L’heureux dénouement du conflit 1. Quelle décision prendra la Diète fédérale lorsqu’elle se réunira le 1er octobre 1838? Continuera-t-elle à exiger du Prince à renoncer à des droits qu’il ne possède plus? Va-t-elle jusqu’à expulser un propre citoyen? 2. La Diète fédérale n’a à prendre aucune décision. En effet, le 20 septembre 1838, Louis-Napoléon Bonaparte informe le Petit Conseil du Canton de Thurgovie qu’il est décidé à quitter la Suisse pour épargner à sa terre d’asile les malheurs d’une guerre.34 Le 14 octobre 1838, lorsqu’il est en possession du passeport anglais et des visas badois, prussiens et hollandais, Louis-Napoléon prend effectivement congé des châteaux d’Arenenberg et de Gottlieben.35 3. Quels étaient ses vrais mobiles? Sentiments de gratitude? Noblesse de caractère? Peur d’être sacrifié par les Confédérés et livré au Roi de France qui le déporterait sur une île lointaine? Intention de dissimuler sa nouvelle nationalité ou désir d’éviter une déclaration d’abdication formelle aux prétentions à la couronne impériale? Ne tentons pas de lever le voile de l’histoire, rendons plutôt hommage à une personnalité qui a certainement exercé une influence bienfaisante, mais souvent oubliée, sur le Prince. C’est le chanoine Ignaz Heinrich Freiherr von Wessenberg (1774–1860), ancien vicaire général de l’évêché dissout de Constance. Sur son lit de mort, Hortense l’avait prié d’entourer de ses conseils le fils comme il ___________ 34 Meyer (note 8), p. 263 s. L’auteur ignore que le 16 septembre le prince avait rédigé une lettre beaucoup plus tranchante susceptible de désavouer le Canton de Thurgovie à la Diète. On l’avait donc prié de la modifier; cf. van Muyden, B., Histoire de la nation suisse III, p. 324, et Schoop (note 8), p. 132, qui reproduit les deux lettres. Les voici: Lettre du 16 septembre: La Suisse a montré depuis un mois par ses protestations énergiques et maintenant par les décisions des Grands Conseils, qui se sont assemblés, qu’elle était prête à faire les plus grands sacrifices pour maintenir son honneur et son droit. Elle a su faire son devoir comme nation indépendante, je saurai remplir le mien comme citoyen d'une république et comme français; car quoique la loi qui me bannit du pays ou je suis né, ne me laisse pas le droit de bourgeoisie qu’en Suisse, ma qualité de français est indestructible; je n’y renoncerai jamais! on peut me persécuter mais jamais m’avilir! Lettre du 20 septembre: La Suisse a montré depuis un mois par ses protestations énergiques et maintenant par les décisions des Grands Conseils, qui se sont assemblés, jusqu’ici qu’elle était prête à faire les plus grands sacrifices pour maintenir sa dignité et son droit. Elle a su faire son devoir comme nation indépendante, je saurai remplir le mien et rester fidèle à la voix de l’honneur. On peut me persécuter mais jamais m’avilir! 35 Meyer (note 8), p. 267.

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avait conseillé la mère. C’est pourquoi l’ancien coadjuteur et administrateur de l’évêché se rend personnellement chez Bonaparte résidant dans le château de Gottlieben et fait appel à sa conscience.36

___________ 36 Meyer (note 8), p. 263; Wiesenthäler, F. (Baier, F.), Wessenberg und Napoleon III., Die Brücke, n° 52 du 28 décembre 1934, p. 205 ss.

The Administrative (Authoritarian) Monarchy A Paradigm for the Constitutional Realism in Modern Romania? Manuel GuĠan

I. The Failure of the “Shapes without Substance” Experiment It is troubling and at the same time inevitable the verdict given by a recent German researcher of Romanian parliamentarism to an approach which was conferred, at a given moment, cosmogonic values: “We must underline again that in Romania, this process of recovery, to build and extend by institutional measures and social reforms those social, mental and political structures grown onto those places has failed (our highlight)” 1 . Expressed within the analysis of the socio-political and legal context that led to the instauration of the dictatorship of the king Carol II (1938–1940) the author’s thesis announces, in other words, the failure of a mega-experiment, the lamentable failure of the “shapes without substance” 2 in the Romanian society. This remark must draw our attention to the fact that, at least from the point of view of a lawyer, the process of modernization of Romanian political and legal institutions by means of massive legal transplant, more or less conscious, during the reign of prince Al. I. Cuza 3 represented a bet of the Romanian political and legal elite with the Romanian society of the time, bet which had awaited for an end. The meeting of the imported forms (“shells”) with the Romanian “substance” 4 was going to be ___________ 1

Maner, H.-Chr., Parlamentarismul în România 1930–1940, 2004, p. 403. Theory that was developed in the second half of the 19th century, by a part of the conservatory Romanian intellectuals, who considered that the imports made in the mid century, in all fields of the spiritual matters, especially in the legal field, produced only formal transformations in the Romanian society, without leading to substantial changes. At the opposite pole were the liberal intellectuals, who thought that the import of forms will inevitably lead to a positive transformation of the substance. 3 Alexandru Ioan Cuza reigned between 1859 and 1866. He established the foundations of the Romanian modern unitary state, by unifying the two historical Romanian states, Moldova and Valachia. To him we owe the modernization of the State, of the law, of the overall Romanian society, by means of institutional imports massively made from the Western European French-speaking space. 4 In this context, one should reevaluate the famous expression of “empty shells” (in Romanian “forme fără fond”). The import of Western European institutions was not ac2

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evaluated, after years, from within the political and legal life, in order to discover one of the possible reactions: the adaptation of the imported institutions to the existing input or the rejection (compromise) the transplanted institutions. Under these circumstances, what matters is less the legitimacy of the recourse to legal import or to discover its rational or irrational character 5 in the context of the reform of the Romanian state in the 19th century. From this point of view, the theory of “shapes without substance” should not be, for the legal historian, a doctrinal fortress that must be defended or destroyed, but the conceptualised expression of a natural dynamics of the legal construction, particularly constitutional, in the age of modern Romania, which should be correctly evaluated in its complex phenomenology. Such an analysis highlights the fact that a political and legal reform based on an institutional import cannot find its final legitimation in the mere formalconstitutional consecration or in the conscience or good intentions (which are still compulsory) of the political and legal elite, but in the positive diagnosis, given by time-lapse, regarding the functionality of the imported institutions. The 1930s unfortunately offered a negative diagnosis on the Romanian constitutional reform: after decades of experiments, the intention of the Romanian political-legal elite to give the political life fundamental democratic values of the modern constitutionalism, like separation of powers, political governmental responsibility before the Parliament, free elections, fair competition for power between political parties etc, failed. There must be something clear in this respect. This failure was due neither to some momentary unfavourable factors, specific to the interwar period, nor only to an abusive political will which “beheaded” a previously positive evolution. 6 On the contrary, the failure was the expression of the perpetual incapacity of the Romanian political class to confer the political-legal institutions a local content, which could have directed them within the accepted limits of the democratic exercise in the period between the end of the 19th century and the ___________ complished by emptying the Romanian society of the 19th century of its own substance. On the contrary, these shells (forms) inevitably met the Romanian substance of the time. An expression like “shapes with a different substance” (“forme pe un alt fond”) would be more logical and would describe more clearly the complex processes that took place in the Romanian society. 5 For a detailed analysis of the casuistry of the legal import, see GuĠan, M., Romanian Tradition in Legal Import: Between Necessity and Weakness, in: Impérialisme et chauvinisme juridiques. Rapports présentés au colloque à l’occasion du 20e anniversaire de l’Institut suisse de droit comparé, Lausanne, 3–4 oct. 2002, vol. 48, 2004, pp. 65–79. 6 In this context, it is interesting H.-Chr. Maner’s idea that the instauration of the dictatorship of Carol II can only partially be explained by his power ambitions. According to the author, the instauration of the authoritarian regime is due to a complex of factors at the top of which stays the moral decay of the Romanian political class (corruption, bribery). See op. cit., p. 403–404.

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beginning of the 20th. Beyond the nationalist rhetoric and the exacerbations of the legal xenophobia, characteristic, in that period, for many Romanian intellectuals, beyond the scientific or pseudo-scientific theories that denied or justified the utility of the constitutional import, the rejection of the parliamentary/democratic system was more an organic reaction of the Romanian society, incapable to adapt to its requirements. It is interesting that, alongside with the claim of failure of the Romanian parliamentary democracy, the argumentative historical discourse, past or present, makes an exposure of what one could call constitutional counter-reform in the Romanian society of the time. This is sadly the constitutional life of modern Romania. In the centre of an approach, which permanently highlights the huge discrepancy between the constitutional institutions and the way they were applied, stays the appetite of the Romanian political class for authoritarianism, institutionally expressed within what professor Paul Negulescu called “administrative monarchy” 7 . Under this expression can be concentrated, from my point of view, the mechanisms and the concrete control manifestations of the State institutions, belonging naturally to the prince / king in such a political regime, as well as the manifestations of some Romanian prime-ministers who, by their remarkable influence on the crown, managed to perpetuate an overwhelming control and authority of the executive over the legislative power. From this perspective, I will try to highlight, in this study, the way in which the birth of the parliamentary democracy in modern Romania was marked, under multiple forms, by the presence of an undemocratic authority of the executive over the legislative power, authority which will have turned, unfortunately, into a paradigm of the modern Romanian constitutionalism, until the instauration of the communist regime (1945).

II. The Paris Convention 8 – a Technical – Legal Moderate Expression of the Romanian Princes’ Authoritarianism Under the Organic Regulations Meant to confer a new political and administrative organization to the Danube principalities, the legal – constitutional act from 1858 was, unfortunately, not a complete redesign of the constitutional architecture under the Organic ___________ 7 See Negulescu, P., Principiile fundamentale ale ConstituĠiei din 27 februarie 1938, 1939, p. 26. 8 The Paris Convention was signed by the Great European Powers on 7/19 August 1858, and was meant to regulate the international status and the internal organization of the Romanian Principalities Moldova and Valachia, in the context of the new European order after the Crimean war.

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Regulations. 9 By ignoring most of the anti-Regulations proposals of the ad hoc Councils from 1857, the European powers revalued, by the Convention signed in Paris, a good part of the Organic regulations dispositions regarding the organization and exercise of the State power. By designing a relatively superficial revision of the institutional foundations and of the principles of the former “neo-absolutist” constitution 10 , the Convention marked the Romanian constitutional space more from formal-legal positions. Under these circumstances, the presence, in the Convention, of some principles of modern constitutionalism like: constitutional monarchy, representative governance, separation of powers (especially of the administrative of the judicial power), ministerial responsibility, stipulation of a “minimum package” of civil rights and freedoms, represented a mere formal landmark, which lacked a fair functional impact, in a machinery of the relationships executive-legislative deprived of its compulsory balance mechanism. Thus, the tendency to irreversibly anchor the institutional-State building onto the specific structure of the parliamentary regime, faintly remarked in the constitutional life under the Regulations 11 and claimed firmly by the Moldavian reformists from the Iassy ad hoc Council 12 , was suffocated by the interest of the Great Powers to design a prince (hospodar) under the Convention alike the one under the Regulations. The recovery of a series of features of the new-absolute reign from under the Regulations determined the failure of the chance to postulate a “face to face” between the executive and the legislative powers, where the two powers should be endowed with mutual means of action to allow each of them to question the existence of the other. 13 ___________ 9

The Organic Regulations were elaborated by virtue of the Treaty of Adrianopol signed at 2/14 September 1829, by Russia and the Ottoman Empire, as regards the organization of the Romanian Principalities. They were drafted by committees of Romanian noblemen, one for each Principality, then modified and approved by Russia and recognized by Turkey. In the period 1831–1858, they functioned as legal acts with a constitutional nature for Moldova and Valachia. 10 The fact that the drafters of the Convention had as a starting point the texts of the Organic regulations came out from the dispositions of Article XXIII, 2 of the Directives of the Vienna Congress for the Special Committee for the Principalities, from 2 April 1856, as well as from the discussions of the Paris Peace Conferences dedicated to the organization of the Principalities and held between 22 May and 19 August 1858. See Petrescu, G. / Sturdza, D. A. / Sturdza, D. C., Acte úi documente relative la istoria renascerei României, 1892, pp. 270–271. 11 See Drăganu, T., Drept constituĠional úi instituĠii politice. Tratat elementar, volum. I, 1998, p. 360. 12 See GuĠan, M., ConvenĠia de la Paris din 1958 úi debuturile executivului modern în România, in: Acta Universitatis Lucian Blaga. Seria Jurisprudentia, nr. 1-2/2004, p. 106–108. 13 Favoreu, L. / Gaia, P. / Ghevontian, R. / Mestre, J.-L. / Pfersmann, O. / Roux, A. / Scoffoni, G., Droit constitutionnel, 1999, p. 362–365.

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Consequently, the perception into the Convention’s text of elements specific to the parliamentary regime, like: the right of the prince to dissolve the legislative, the obligation of ministers to countersign the prince’s acts, the possibility that the ministers be recruited from the members of the Parliament, the legal ministerial responsibility cannot shadow the evidence of the constitutional perpetuation of an authoritarian regime of the prince. And this happened because the Convention omitted to regulate the prince’s inviolability/irresponsibility. The idea of the monarch’s inviolability implied, according to the doctrine of the time 14 , his withdrawal from under the legal and political responsibility, which meant, according to the adage “the king reigns but does not govern”, his withdrawal from the actual sphere of governance. Making the prince inviolable meant, within the logic of the same doctrine 15 , making the Government legally and politically responsible before the legislative. The absence of this fundamental principle from the perfectly balanced equation of the parliamentary regime inevitably brought the prince in the centre of the political and State construction envisaged by the Convention, being endowed with exorbitant attributions compared to the legislative and the executive powers. Being co-holder of the legislative power, the prince kept the single right to legislative initiative as regards laws of special interest, the right to sanction laws (absolute veto) / a reminiscence of the absolute monarchic power 16 – revisited from a doctrinal point of view 17 , but regulated against the Moldavian ad hoc Council to confer the monarch only a limited right of veto – as well as the right to dissolve the unicameral parliament. As sole holder of the executive power, the prince remained an active element in the governance and administration of the Principality. The singleheaded executive allowed him to manifest as the essential element in the determination of the internal and external policy. Appointed by the prince, without the approval of the Elective Assembly (the parliament), but compatible with the status of members of the legislative, the ministers were selected on criteria proper to the sovereign and therefore politically responsible before him. In the absence of the prince’s inviolability/irresponsibility, it was obvious that the ___________ 14

141. 15

See Bluntschli, M., Le droit public général, Librairie Guillaumin et Cie, pp. 133–

See Dissescu, C. G., Cursul de drept public român, Vol. 2: Drept constituĠional, Stabilimentul grafic I. V. Socec, Bucureúti, 1890, pp. 733–746; See also Ducrocq, Th., Cours de droit administratif, Tome premier, 1897, p. 72. 16 See Negulescu, P., Curs de drept constituĠional, 1927, p. 395. 17 In the doctrine of the time, the right of veto of the monarch, expressed by the right to sanction or not the laws adopted by the legislative was seen as a means of balancing the powers, hindering the abuses of the legislative and allowing the monarch to stop the application of laws he did not agree with. See Bluntschli, M., op.cit., pp. 75–76; Ducroq, Th., op.cit., pp. 19–20.

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ministers’ obligation to countersign the monarch’s acts had a mere technicallegal function, of authentication of these acts 18 , without implying any joint political responsibility before the legislative. However, as a result of insistent demands of the ad hoc Councils, the ministers were supposed to engage, following their countersign, an individual legal ministerial responsibility for lawfulness reasons – violation of laws – and for some opportunity reasons – like waste of public money. The Convention did not properly regulate a ministerial organ of a collective nature, similar to the one consecrated by the Organic Regulations, neither was there a reason to such an organ, as long as, with a prince actively involved in the governing process, in the absence of the political governmental solidarity and of the political responsibility before the legislative, the Council of ministers, mentioned fugitively, had the same role of mere auxiliary to the holder of the executive power. All these demonstrate the monarch’s very important power. As the sole holder of the legislative initiative in the field of special legislation, he could promote any bill he wanted. The bills voted by the Assembly were sanctioned or not, at his own will, depriving them of legal force in the case of nonsanctioning. When the Assembly opposed the policy of the prince, he could dissolve it, and the call for a new Assembly was compulsory only after three months. Even the newly created Central Committee’s control activity was subordinated to the prince’s right of veto. 19 As the sole and active holder of the executive power, the prince was the chief of the executive as well as of the administrative apparatus. As chief of executive, the prince had only the ministers under his political control and as chief of the administration, he could control the entire apparatus of public officers. Although he was a central and active element of governance, the prince was subjected neither to the political respon-

___________ 18

See Dictionnaire de la culture juridique, 2003, p. 285. The Convention provided that the monarch had the right to refuse the sanctioning of the laws without any condition (art. 14, al. 1). The right of the Central committee to decide on the constitutionality of the laws adopted by the Assembly (art. 37) was merely a compulsory phase, prior to the sanction, but which had no relevance for the prince’s act. The prince was not bound to sanction a law according the Committee’s diagnosis. Corroborated, the two articles can lead to the idea that the Committee’s act was a mere advisory opinion for the prince. The wording of article 37 par. 1 was quite ambiguous. Comparatively, the Statute Developing the Paris Convention, which conferred the “Moderating Body” the power of judicial review, made a clear distinction between the procedure of the constitutional review and the discretionary right of absolute veto of the prince, resulting that there were to be subjected to the prince’s sanction only the laws which the Moderating Body considered to be constitutional. Even in this case, the prince was not compelled to sanction a law, even constitutional. 19

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sibility, nor to the legal one 20 . That is why the attitude of the Great Powers towards the problem of princehood was quite odd. Despite the fact that they were conscious about the considerable abuses of the neo-absolutism under the Regulations 21 , the European diplomats did not appeal neither to the possibility of making the prince inviolable and thus removing him from the scene of the executive, nor to the postulation of a responsibility of the prince, like the 1848 revolutionaries claimed. 22 Beyond possible interpretations and under the circumstances of a terminology, institutional and structural confusion, the Convention reintroduced, formally, into the Romanian constitutional life, a prince with considerable powers, and who, depending on the socio-political and ideological context of the Principalities at 1859, could transform or not into an authoritarian monarch. The explanation of the continuity of the monarchic authoritarianism in the Convention can be found, eventually, in a simple way, in the inspiring source of the constitutional text. Bearing in mind that the representatives of France had a decisive role in the European drafting committee, the constitutional act meant for the Romanians reminds, almost faithfully, the principles of the French Constitution of 14 January 1852 23 , in the field of the relationships be___________ 20 I consider obvious the distinction between the irresponsibility of the monarch as active holder of an absolute or quasi-absolute power and the irresponsibility of an inactive constitutional monarch, withdrawn from the actual sphere of government. 21 As a member of the European Commission for the Principalities, the baron de Talleyrand-Périgord explained to Count Walewski, through a telegram from 19 April 1858, the negative role played in the political evolution of the Principalities by the excessive power which the Organic Regulations gave to the prince. From his point of view, the prince’s powers had to be reduced and balancecd by a strong legislative. See Petrescu, G. / Sturdza, D. A. / Sturdza, D. C., op.cit., pp.139–141; 147–148. 22 In ProclamaĠia de la Islaz [The Islaz Declaration] of June 1848, pt. 5, as well as in Adresa LocotenenĠei Domneúti către Sultan privind prezentarea ConstituĠiei [Address of the Princes Lieutenancy to the Sultan about Presenting the constitution] of August 1848, pt. 5, the Valachian revolutionaries were for a politically and legally responsible head of State (prince). See Ionescu, C., Dezvoltarea constituĠională a României. Acte úi documente 1741–1991, 1998, p. 158, 167. 23 Al. Tilman-Timon, by taking the ideas of A. Rădulescu, was fundamentally wrong when he established as a fundamental source of inspiration for the Convention, the Belgian Constitution of 1831. Browsing the pages dedicated to the Convention (295301) from the book Les influences étrangères sur le droit constitutionnel roumain. Librarie du Recueil Sirey, 1946, one who also has at hand the text of the Belgian Constitution, is under the impression that the author has read neither of them. Besides the fact that he erroneously establishes the correspondent of the Convention’s articles in the Belgian constitution, the cited author did not notice that the Belgian constitutional text consecrates the inviolability of the monarch (which gives the Belgian constitutional architecture a completely different shape) and the Convention doesn’t. At the confused remark of Tilman-Timon that, although the representatives of France had a major influence, the text of the Convention is fundamentally Belgian (p. 301), the answer is very simple: the influence of the Belgian Constitution did not exist, except for a very small part.

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tween the executive and the legislative powers. Inevitably, the constitutional structure meant to legitimise, afterwards, the authoritarianism of the Second French Empire, found an almost faithful mirror in the Paris Convention. Most of the excessive authority of the Prince finds, as a consequence, its correspondent in the French Constitution: holding the entire executive function and the active role in the governing process; the lack of the inviolability of the head of State; the lack of governmental solidarity and of the political responsibility of the Government before the legislative; the existence of a mere legal ministerial responsibility; the dependence of the ministers exclusively of the head of State, as simple instruments; the right to make all public offices’ appointments and to make administrative regulations; the (almost) exclusive right to legislative initiative; the right of absolute veto; the right to dissolve the legislative 24 . The possible authoritarianism of the Romanian prince was alleviated, in the text of the Convention, by the fact that it conferred to the Central Commission of Focúani (created on the model of the French Senate), as well as to the Assembly, a greater independence towards the monarch, as regards the recruiting of their members and presidents. As it was observed in the constitutional life, the electoral law adopted under the Convention limited the possibility of refreshing, legally, the parliamentary body in the interest of the prince, hence the uselessness of dissolving the legislative. Overall, the Paris Convention was thus a moderate transposition of the French Constitution of 1852, apparently adapted not to Romanian realities and needs, but to a particular context of international politics. It rearranged the ingredients of a “forte” recipe of the French authoritarian regime into an institutional group meant to guide the Romanian constitutional life to direction imposed from abroad. Was this “temptation” of the Romanian leaders with an authoritarian regime (very similar to the one which they had just got rid of, the Regulations’ regime) and who ardently wished to free themselves, a mere exercise of legal imperialism? Or was it the manifestation of a Western realism, which considered that a recovery of an authoritarian regime in the Principalities was the best solution for the internal development at al levels?

___________ 24

257.

See Morabito, M., Histoire constitutionnelle de la France (1789–1958), p. 253–

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III. The Statute Developing the Paris Convention – A Constitutional Recipe of the Prince’s Authoritarianism, Necessary to the Building of the National Unitary State In the abovementioned institutional context, it appears extraordinary the fact that Al. I. Cuza tried, during most of his reign (1859–1864), to guide the constitutional life of the two Romanian Principalities and then of the Romanian unitary State (from 1862) on the coordinates of the parliamentary regime. The personal political vision of the prince but also a strong ideological movement in favour of this political regime, cultivated, starting with 1848, within the Romanian political elite, avoided a solution of perpetuation, even in more alleviated shapes, of the neo-absolutist regime from under the Regulations. Important politicians like M. Kogălniceanu 25 , V. Boerescu 26 , I. C. Brătianu 27 interpreted the Convention’s dispositions in the light of the parliamentary regime, ignoring, unlike others, the authoritarian dimensions of the constitutional text. The appearance of the double-headed executive (prince and government), with an irresponsible (but not inactive) prince and Governments that assumed the political responsibility before the legislative – constant elements of the Romanian constitutional life between 1859 and 1864 – was, as a consequence, the result of stating an ideological continuity at the level of the thinking of the Romanian political class and the application of the completed fact also as regards to the relationship between the executive and the legislative power. This practice was encouraged also by a series of dispositions of the Convention which drew a part of the political-legal equation of the parliamentary regime: the fact that the ministers could be parliamentarians, their legal responsibility before the legislative, as well as the right to interpellate the government, which the Assembly assumed by its own internal set of rules. Consequently, Cuza was less involved in the concrete internal administration act, preferring to leave this task to his governments. The customary application of the principle “the prince reigns but does not rule”, the loss of the government’s quality of mere agent of the prince’s orders and its attraction in the sphere of the political decision, gave birth, in the political-administrative life of the State to a distinction between governance and administration. The ministers and the government, generally, are now factors of political decision and of ar___________ 25

See Collective work, Istoria parlamentului úi a vieĠii parlamentare din România până la 1918, 1983, p. 105. 26 See the study of V. Boerescu entitled “ConvenĠiunea relativă la organizarea Principatelor”, in: Petrescu, G. / Sturdza, D. A. / Sturdza, D. C., op.cit., pp. 421–424. 27 See Stanomir, I., Naúterea ConstituĠiei. Limbaj úi drept în Principate până la 1866, 2004, p. 312.

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rangement of the internal policies, which the actual administration was supposed to apply in practice. Unfortunately, the respect of some of the principles of the parliamentary regime led to the blockage of the liberal reforms by an Assembly permanently dominated by the conservative aristocrats. Into the era of modernization and democratisation, the political life of Romania started to experience the “delights” of a multiparty political game, but which started very early to go on the coordinates of the political clique and less on those of the fight for the national interest. The political instability created in this context was also due to the fact that the prince, ignoring the principle according to which the government should be (also) an reflection of the parliament, very rarely elected his ministers from the parliamentary majority. A natural result of such an attitude was the repeated fall of minority governments, because of parliamentary political pressures. 28 One must still notice that, far from becoming a solid constitutional custom, the political responsibility of the government before the legislative was engaged only when Cuza wanted it to. In the same time, although it manifested discretionary, based on his right of absolute veto, not sanctioning the bills adopted by the Assembly against his views, the Conventional dispositions hindered him from actively controlling the legislative decision. As Cuza had hardly appealed to the right to dissolve the parliament, this threw the executive and the legislative in a functional parallelism. The crisis could not continue and it had to be “extirpated” from its constitutional roots, by a radical reform of the Convention’s dispositions, in order to allow the prince to limit and effectively control the Assembly. Cuza discovered the alternative in the instauration of an authoritarian regime, which allowed him to take over the full control of power. The correct evaluation of the needs of the Romanian State and society from the perspective of the emergency of the modernization, irrevocably led to the uselessness and the lack of realism of a dry exercise of the parliamentary regime, however democratic would have been its perspective. In this context, logic of the purpose that excuses the means gained place in the Romanian political discourse, which subordinated the long-awaited parliamentary monarchy to the idea of national interest. If the reform could be done only in the circumstances of an authoritarian monarchy, it was senseless to perpetuate and eventually to await the correction of the parliamentary regime. In order to give his project a constitutional legitimacy, Cuza did not keep the limits of the Convention, although this conferred him, as we have seen, enough mechanisms to launch a personal regime. Yet, the constitutional life had shown ___________ 28 See ChiriĠă, G., Organizarea instituĠiilor moderne ale statului român (1856–1866), 1999, p. 79.

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that the constitutional act from 1858 conferred the legislative a too high autonomy (if not authority) for Cuza’s new political views. Hence, the Convention’s text had to be left aside. However, Cuza did not use his own constitutional construction. The solution was discovered in an authoritarianism institutionally taken from the Second French Empire. Eventually, from the technical-legal point of view, this approach was the easiest: inspired by the French Constitution of 1852, the Convention could be changed, in the sense of highlighting the prince’s authority, by a complete transplant of the dispositions of the French fundamental act. What had already been predicted in Cuza’s Project of Constitution from 1863 29 , eventually happened. By recreating the process of instauration of the French authoritarianism: coup d’etat – conferring a constitution – plebiscite for the constitution, Cuza launched, in spring 1864, his authoritarian personal regime. The relationships between the executive and legislative powers were now established by the Statute Developing the Paris Convention, which, formally and substantially, was a mere modification of the Convention, the latter keeping its quality of “fundamental law of Romania”. As an additional act for the Convention, the Statute implicitly abrogated its articles contrary to its provisions. By maintaining from the original text only the provisions that already conferred to the single-headed executive an important ascendant over the legislative, the Statute perfected the prince’s authoritarianism by a complete limitation of the role of the legislative in the State. From the substantial point of view, this resulted from the fact that the Statute dealt only with the legislative and the legislative power, avoiding coming back to the organization of the executive. Technically, the same limitation was achieved by an “institutional surgery”, which faithfully transplanted the institutions of the French Constitution of 1852 instead of the Convention’s ones, more moderate as regards the powers and little modified as regards the form of organization. In the framework of this constitutional architecture, which kept, residually, the purely formal separation of powers, the authority of the prince over the parliament was at its peak. In this context, the arbitrariness of the prince could be manifest at any time and in any form, in order to protect his personal power. 30 ___________ 29 The project drew an institutional structure more faithful to the French model than the Statute. On the other hand, in comparison to the reformatory intentions declared in June 1863 to the Ottoman Empire, where he proposed the replacement, for 5 years, of the Elective Assembly established by the Convention with an Administrative Council appointed by the prince, the provisions of the Constitutional project and of the Statute seemed to be truly democratic. See Giurescu, C., ViaĠa úi opera lui Cuza Vodă, 2000, p. 149. 30 This arbitrariness manifested in the episode of determining the resignation of the Kogalniceanu government, in 1865. “upset” by the raising authority of the primeminister, the prince took advantage of an incident from the Assembly in order to determine the resignation of his former collaborator. One must notice here that Kogal-

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A true institutional apparatus, faithfully taken from the French Constitution, ensured the mechanisms of control and pressure over the legislative. Only the dimension of its powers in the legislative process constitutionally consecrated the State Council, successor of the former Central Commission. After its French model, the institution became the main and privileged laboratory for bills, even to the detriment of the Elective Assembly. By Cuza’s power to preside the Council, to appoint and recall its members (according to its organization law), the institution was completely under the prince’s control. Cuza also had the exclusive right to initiate. Inaugurating the Romanian bicameralism, the Moderating Body became, after the French model, the “Trojan horse” of the prince inside the legislative. By this legislative chamber, completely under the prince’s control by means of recruiting mechanisms, a limitation/moderation from the inside of the elective Assembly was envisaged.31 The moderation was done through an a priori constitutional review. To conclude: the prince could exclusively initiate any bill he wanted, he closely followed its drafting as the president of the State Council, could block the bill in the legislative, on unconstitutionality grounds, and, if needed, could refuse its sanctioning by virtue of his absolute right of veto. The final blow given to the legislative was the right assumed by the government to adopt decree-laws until the new Assembly was called, as well as the right to adopt laws in case of emergency, when the parliament’s chambers were not in session. By fully reaching his goals, Cuza’s authoritarian regime can be described as an endeavour of rational legal import, by correctly combining the process of awareness of a political-legal internal need with the recourse to legal transplant achieved in such a way as to efficiently meet this need. In other words, it is an example of realistic and effective combining of the substance with the shape.

___________ niceanu’s resignation was not due to a political responsibility before the legislative, but to the political responsibility before the prince. As a consequence, there was no issue of customarily perpetuating the parliamentary regime. See C-tin Giurescu, C., op. cit., p. 266–271. 31 As regards the members of the Moderating Body, appointed by the prince from the Departmental Counsellors, recruited at the level of the departments, and even as regards the members of the Assembly, Cuza’s governments used the political pressures exercised, by means of the prefects, over the electorate, in order to ensure to the prince Cuza a crushing parliamentary majority. This was, actually, the age when it was inaugurated, in Romania, the custom of election control by the government, with a view to obtain a parliamentary majority. See Guan, M., Istoria administraiei publice locale în statul român modern, 2005, p. 126–127.

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IV. Conclusions It is interesting that the instauration of the modern constitutionalism in Romania was achieved under the sign of a paradox. When the great European Powers introduced in Romania (by means of the Paris Convention) a constitutional regime with an important authoritarian potential, conferring the prince extraordinary powers, the Romanian political class sincerely fought for a parliamentary democracy. Yet, when there was a chance of achieving the most wanted parliamentary regime, an authoritarian regime was put into place by the Statute Developing the Convention. In 1864, the interest of the national building was endangered by the parliamentary democracy and that the only chance for Romania was the prince’s authoritarianism. It probably matters less that this organic political development was institutionally expressed by legal import. What matters is the fact that the authoritarian monarchy revealed as an efficient solution for the socio-political and economical construction in an underdeveloped Romania, lacking a true political class and still threatened by the external dangers. It is not by chance that Cuza’s admirers and detractors together state that the most important reforms of the 19th century were performed during his reign. Unfortunately, this view was far from corresponding to the European democratic standards on State political construction. Realizing this led to the reopening of the Romanian parliamentary democracy agenda, starting with 1866, and expressed by the Constitution adopted the same year. Obviously, in the absence of its own traditions in this field, the building of the democratic constitutionalism had been achieved, again, by means of legal import. This time, though, the authoritarian French experiments were replaced with the more liberal institutions of the Belgian Constitution of 1831. This irrational import – one of the main sources of the scandal of the “shapes without substance” – highlighted the fact that the adaptation of the imported shape to the importing substance can lead to acute forms of inadaptation. The evolution of the constitutional life after 1866 precisely highlights the fact that the “Cuza ruling model” was no accident, but a necessity. Carol I of Hohenzollern-Sigmaringen, prince, then king of Romania (1866–1917) ruled after the same realistic principle of the monarchic authoritarianism launched by Cuza. The Romanian political life of the time demonstrated that the principles of the parliamentary regime were difficult to apply and that the democratic imported shape was almost incompatible with the Romanian substance.

Besatzungsrecht und Kollaboration Überlegungen zum Baltikum im Zweiten Weltkrieg 1 Dietmar Willoweit

I. Das moralische Problem und die wissenschaftliche Aufgabe Forschungen zur Kollaboration während des Zweiten Weltkrieges lassen sich meist von der selbstkritischen Frage leiten, ob Angehörige eines besetzten Landes an den Verbrechen des Hitler-Regimes mitgewirkt haben. Auch wenn wir die völkerrechtsgeschichtliche Ebene des Besatzungsrechts in unsere Fragestellung einbeziehen, hat das angekündigte Thema zunächst mit einem moralischen Problem zu tun. Solange Zeitgenossen, Täter und Betroffene, selbst deren Gesprächspartner, also Angehörige der nächsten Generation, leben, ist Geschichte noch persönliche Vergangenheit, die Anklagen und Entschuldigungen herausfordert. Diesem Dialog sollte man nicht ausweichen wollen, auch wenn er schmerzlich und schwierig ist. Die Erfahrungen in Deutschland zeigen, dass die moralische Last des Geschehenen zu charakteristischen, rückblickend schwer verständlichen Reaktionen sowohl der Beteiligten wie auch der Zeitgenossen und Nachgeborenen geführt hat und dies in dreifacher Hinsicht: Nur ganz selten war ein Täter in den zahlreichen wegen nationalsozialistischer Verbrechen durchgeführten Prozessen bereit, die Verwerflichkeit seines Handelns zuzugeben; man berief sich fast immer auf höheren Befehl. Ferner nahm die seit 1950 für die Verfolgung nationalsozialistischer Verbrechen zuständige deutsche Justiz diese Aufgabe zunächst nur mit wenig Engagement in Angriff, wofür es ganz verschiedene Gründe gegeben hat. Im kalten Krieg galt die Sowjetunion, nicht das Regime von Gestern als der wahre Feind; die Alliierten hatten zahlreiche, von ihnen nach 1945 verurteilte NS-Verbrecher amnestiert; nicht wenige Richter waren selbst Nationalsozialisten gewesen. Schließlich wollten viele Menschen von der Vergangenheit nichts mehr hören, vermutlich gerade jene, die fühlten, selbst mitverantwortlich für das Hitler-Regime gewe___________ 1 Erweiterter Text eines Vortrages im Rahmen der IV. Conference on Baltic Studies in Europe, die vom 27. bis 30.06.2001 in der Universität Tartu durchgeführt wurde. Estnische Fassung: Okupatsiooniӥigus ja Kollaboratsioon, in: Ajalooline Ajakiri 2007, 2 (120), 137–162, mit engl. Abstract. Der Verfasser gedenkt in Dankbarkeit der Gespräche, die er während der Vorbereitung mit Dieter Blumenwitz führen konnte.

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sen zu sein; immer wieder wurde die Forderung nach einem „Schluss-Strich“ erhoben. Andererseits haben vor allem Angehörige der jüngeren Generationen bis heute nicht aufgehört danach zu fragen, wie die Verbrechen des Nationalsozialismus möglich waren und warum sie nicht gründlicher geahndet worden sind. Dabei wird zunehmend jeder, der dem Hitler-Regime diente, wie die Angehörigen der deutschen Wehrmacht, pauschal unter den Verdacht gestellt, Verbrechen begangen oder diese doch geduldet zu haben. Der gesellschaftliche Diskurs über diese Fragen ist bis heute nicht abgeschlossen. 2 Von der angedeuteten moralischen Problematik ist die wissenschaftliche Aufgabe zu unterscheiden, die Wirkungsmechanismen des Hitler-Regimes und die Gründe und historischen Bedingungen der Kollaboration in Deutschland selbst und in den besetzten Ländern zu erklären. 3 Für diesen Zweck ist es notwendig, einen Blick auch auf das politische Umfeld in Europa seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu werfen und an die seitdem zu beobachtenden sozialen Bewegungen und Ideologien zu erinnern. Nach dem Untergang der alteuropäischen Welt im Zeitalter der Aufklärung waren die Völker auf der Suche nach neuen Formen der Staats- und Gesellschaftsorganisation, ein Prozess, der durch die gewaltige Dynamik der sozialen Entwicklung des 19. Jahrhunderts beschleunigt wurde. Das Prinzip des Nationalstaates – oft verbunden mit imperialistischen Zügen – versuchte eine Antwort zu geben, dann der Sozialismus und das aus ihm hervorgehende Sowjetsystem, schließlich der in unterschiedlichem Maße antisemitisch geprägte Faschismus. Vor dem Zweiten Weltkrieg galt die Überlebenschance der parlamentarischen Demokratie als fragwürdig. Die mit ihr notwendigerweise verbundene Toleranz gegenüber verschiedenen politischen Überzeugungen erschien als gesellschaftliches Ord___________ 2 Steinbach, P., Nationalsozialistische Gewaltverbrechen. Die Diskussion in der deutschen Öffentlichkeit nach 1945, 1981; Lübbe, H., Der Nationalsozialismus im deutschen Nachkriegsbewußtsein, in: Historische Zeitschrift (HZ) 236 (1983), S. 579 ff.; Rückerl, A., NS-Verbrechen vor Gericht, 2. Aufl. 1984; Weber, J. / Steinbach, P. (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung durch Strafverfahren? NS-Prozesse in der Bundesrepublik Deutschland, 1984; Götz, A., Bilanz der Verfolgung von NS-Straftaten, 1986; Blankenagel, A., Verfassungsgerichtliche Vergangenheitsbewältigung, in: ZNR 13 (1991), S. 67 ff.; Graf Kielmansegg, P., Lange Schatten. Vom Umgang der Deutschen mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, 1989; Hoffmann, Ch., Stunden Null? Vergangenheitsbewältigung in Deutschland 1945 und 1989, 1992; Frei, N., Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, 1996. 3 Willoweit, D., Rechtsanwendung durch Historiker? Thesen zum normativen Denken in den historischen Wissenschaften, in: Historisches Jahrbuch 122 (2002), S. 347 ff. Vgl. auch in Hinblick auf die DDR ders., Unrechtsstaat, Rechtsstaat – eine richtige Alternative?, in: Hockerts, H.-G. (Hrsg.), Koordinaten deutscher Geschichte in der Epoche des Ost-West-Konflikts, 2004 (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 55), S. 245 ff.

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nungssystem schwach im Vergleich mit dem Wahrheitsanspruch der totalitären Ideologien. 4

II. Das Recht und der „Doppelstaat“ Die große Schwierigkeit aller historischen Forschung, die Mentalität und das Verhalten der Zeitgenossen im Horizont ihres Denkens adäquat zu verstehen, obwohl sich der Forscher niemals ganz von seinem Vorverständnis und seinen Vorurteilen befreien kann, zwingt dazu, besonders auch das Recht der untersuchten Epoche einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. Es gibt zwar keine Möglichkeit, dem angedeuteten Problem des hermeneutischen Zirkels zu entkommen. 5 Wenn aber das Ziel historischer Forschung ist, sich einer vergangenen Epoche möglichst weitgehend anzunähern, dann kommt der damaligen Rechtslage und den Rechtsvorstellungen der Beteiligten eine zentrale Bedeutung zu. Die Wissenschaft von der Geschichte des Rechts behandelt nicht irgendeinen Aspekt historischer Prozesse, sondern einen ganz zentralen: Sie fragt nach den für das Handeln der Zeitgenossen maßgebenden Normen, gleichgültig, ob diese schriftlich fixiert oder mündlich überliefert, ob sie vertraglich vereinbart oder von einer Obrigkeit befohlen sind. 6 Aus der gesellschaftlichen Erfahrung unserer Gegenwart dürfen wir die allgemeine Schlussfolgerung entnehmen, dass sich menschliches Handeln grundsätzlich an rechtlichen und sozialethischen Normen orientiert; nur so kann das soziale Zusammenwirken der Menschen funktionieren. Es führt daher auch für unser Thema kein Weg an der Frage vorbei, was im Zweiten Weltkrieg das Kriegsvölkerrecht einer Besatzungsmacht erlaubte und was nicht. Damit hängt die weitere Frage zusammen, welche Pflichten das Kriegsvölkerrecht den besetzten Völkern auferlegte und welche Verhaltensweisen es ihnen gestattete. Denn schon in älteren Zeiten, besonders aber seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts, war das ius in bello sowohl Gegenstand einer Reihe ___________ 4 Zur Dynamik der totalitären Ideologien in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen vgl. Arendt, H., The Origins of Totalitarism, 1951, dt.: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 2. Aufl. 1962; Nolte, E., Der Faschismus in seiner Epoche, 1963, 5. Aufl. 2000; Dupeux, L., „Nationalbolchevisme“ en Allemagne sous la Republique de Weimar 1919–1933, 1976, dt.: „Nationalbolschewismus“ in Deutschland 1919–1933, 1985; Breuer, St., Anatomie der konservativen Revolution, 2. Aufl. 1995; Maier, H., Politische Religionen, 1995; Söllner, A. / Walkenhaus, R. / Wieland, K. (Hrsg.), Totalitarismus. Eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, 1997. 5 Heidegger, M., Sein und Zeit, 1957; Gadamer, H.-G., Wahrheit und Methode, 1960, Bd. 1, 6. Aufl. 1990, Bd. 2, 2. Aufl. 1993; Betti, E., Die Hermeneutik als allgemeine Methodik der Geisteswissenschaften, 1962. 6 Wieacker, F., Methode der Rechtsgeschichte, in: Handbuch Rechtsgeschichte (HRG), Bd. 3, 1984, Sp. 518 m. w. N.

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internationaler Abkommen wie auch Gegenstand wissenschaftlicher Darstellungen und Diskussion in vielen Staaten. Diese Rechtsregeln und Rechtslehren sind vorab zur Kenntnis zu nehmen, ehe pauschal der Vorwurf der Kollaboration erhoben wird. 7 Die Frage nach den Grundlagen und Grenzen des Besatzungsrechts ist auch nicht deshalb überflüssig, weil Hitler einen Angriffskrieg begann und am 22. Juni 1941 die Sowjetunion ohne Kriegserklärung angriff. Die Verletzung des ius ad bellum konnte nach damals herrschender Rechtsüberzeugung in dem einmal begonnenen Krieg das Kriegsvölkerrecht schon deshalb nicht außer Kraft setzen, weil dieses Regeln zum Schutz der Zivilbevölkerung gerade auch in den besetzten Ländern enthielt. Es wäre daher abwegig, mit der moralischen Verurteilung Hitlers auch die Frage nach dem Besatzungsrecht für irrelevant erklären zu wollen, weil ja doch alles Unrecht gewesen sei. Nachdem der Krieg einmal begonnen hatte, unterlag er als Faktum den Regeln des Kriegsvölkerrechts. Diese waren kurz nach Kriegsbeginn auch in der deutschen Wehrmacht verbreitet und den Soldaten bekannt gemacht worden. 8 Nur vor diesem Hintergrund lassen sich daher die Normverletzungen und Abnormitäten der deutschen Besatzungspolitik zuverlässig beurteilen. In diesem Zusammenhang ist an die von dem deutschen Emigranten Ernst Fraenkel schon während des Zweiten Weltkrieges aufgestellte These vom Dritten Reich als „Doppelstaat“ zu erinnern. 9 Nachdem Hitler mit brutalen Methoden seine Macht gesichert hatte, bediente er sich bewusst des vorhandenen Staatsapparates und damit der an gesetzmäßiges Handeln gewohnten Bürokratie, um sein Regime als eine Manifestation deutscher Ordnung erscheinen zu lassen. Die meisten alltäglichen Lebensvorgänge nahmen ihren Lauf nach ___________ 7 Wehberg, H., Krieg und Eroberung im Wandel des Völkerrechts, 1953. Von den zahlreichen völkerrechtsgeschichtlichen und völkerrechtlichen Darstellungen, die auch Abschnitte zum Kriegsrecht enthalten, sei hier nur erwähnt: Nussbaum, A., A Concise History of the Law of Nations, 2. Aufl. 1954, dt.: Geschichte des Völkerrechts in gedrängter Darstellung, 1960. Einen knappen historischen Überblick zu unserer Problematik bietet der schweizerische Autor Uhler, O. M., Der völkerrechtliche Schutz der Bevölkerung eines besetzten Gebiets gegen Maßnahmen der Okkupationsmacht, 1950, S. 1 ff., 14 ff. 8 Caspar, G.-A., Ethische, politische und militärische Grundlagen der Wehrmacht, in: Poeppel, H. / Preußen, W.-K. Prinz v. / Hase, K. G. v. (Hrsg.), Die Soldaten der Wehrmacht, 4. Aufl. 1999, S. 23 ff., 29 f., 56; Vagts, D. F., International Law in the Third Reich, in: American Journal of International Law (AJIL), vol 84 (1990), S. 661 ff., 696 ff. 9 Fraenkel, E., The Dual State, 1940, dt.: Der Doppelstaat, 2. Aufl., hrsg. u. eingeleitet von A. von Brünneck, 2001. Dazu passen die nach Kriegsbeginn verbreiteten Gesetzessammlungen, z. B. Giese, F. / Menzel, E. (Hrsg.), Deutsches Kriegführungsrecht. Sammlung der für die deutsche Kriegführung geltenden Rechtsvorschriften, 1940; Röder, H. F. (Hrsg.), Kriegsvölkerrecht. Textsammlung der internationalen Vorschriften über die Kriegführung, 1940.

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gewohnten Regeln. Hinter dieser Legalitätsfassade des Gesetzesstaates aber begann sich ein willkürlich handelnder „Maßnahmestaat“ auszubreiten, der ohne jede Rücksicht auf Gesetze über Leben, Freiheit und Eigentum seiner Bürger verfügte. Diese Entwicklung zur Willkürherrschaft blieb zwar keineswegs verborgen, zumal sie gelegentlich – wie etwa im sog. Röhm-Putsch 1934 und im Pogrom vom November 1938 – spektakuläre Züge annahm. Im Prinzip aber blieben die doppelstaatlichen Strukturen auch im Krieg bestehen. So gab es „normale“ Justiz und polizeiliche Einlieferungen in die Konzentrationslager nebeneinander. Es gab soziale Fürsorge, aber auch Mord an Kranken. Und es gab ausreichend versorgte Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter in bäuerlichen oder kleingewerblichen Betrieben und solche, die verhungerten oder liquidiert wurden. Auch für das deutsche Besatzungsregime gilt, dass es ein Instrument des „Doppelstaates“ und damit einer totalitären Diktatur gewesen ist. Allein diese Tatsache musste das deutsche Besatzungsregime im Zweiten Weltkrieg vom kriegsrechtlichen „Normalfall“ unterscheiden.

III. Das Besatzungsrecht der Haager Landkriegsordnung Für das Besatzungsrecht als Teil des ius in bello war das IV. Haager Abkommen „Betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs“ vom 18. Oktober 1907 maßgebend. 10 Die für unser Thema einschlägigen Vorschriften finden sich in den Art. 42 – 56 der dem Abkommen beigefügten Haager Landkriegsordnung unter dem Rubrum „Militärische Gewalt auf besetztem feindlichem Gebiete“. Da die Einigung über den Vertragstext insgesamt große Schwierigkeiten bereitete, beschloss man im Bewusstsein, ein lückenhaftes Werk erstellt zu haben, den folgenden Passus in die Präambel einzufügen: „Solange, bis ein vollständigeres Kriegsgesetzbuch festgestellt werden kann, halten es die hohen vertragschließenden Teile für zweckmäßig, festzusetzen, dass in den Fällen, die in den Bestimmungen der von ihnen angenommenen Ordnung nicht einbegriffen sind, die Bevölkerung und die Kriegführenden unter dem Schutze und der Herrschaft der Grundsätze des Völkerrechts bleiben, wie sie sich ergeben aus den unter gesitteten Völkern feststehenden Gebräuchen, aus den Gesetzen der Menschlichkeit und aus den Forderungen des öffentlichen Gewissens.“ 11

___________ 10 „Convention concernant les lois et coutumes de la guerre sur terre“ du 18 Octobre 1907, in: The Consolidated Treaty Series, ed. and annotated by C. Parry, vol. 205 (1907), Dobbs Ferry, 1980, S. 277 ff., 295 ff.; Haager Landkriegsordnung (Anlage zum IV. Haager Abkommen betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs) vom 18.10.1907, RGBl. 1910, S. 132 ff.; vgl. a. Graber, D. A., The Development of the Law of belligerent Occupation 1863–1914. A historical Survey, 1949. 11 So genannte „Martens’sche Klausel“: „... sous la sauvegarde et sous l’empire des principes du droit des gens, tels qu’ils résultent des usages établis entre nations civilisée, des lois de l’humanité et des exigences de la conscience publique.“ – Über die dem Vertragswerk vorausgehenden Verhandlungen vgl. Dülffer, J., Regeln gegen den Krieg?

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Ergänzend heranzuziehen waren also gewohnheitsrechtliche Sätze des Völkerrechts. Als dieser Vertrag geschlossen wurde, hatte man die Erfahrung des Ersten Weltkriegs noch nicht gemacht. Die Diplomaten, die in Den Haag verhandelten, hatten einerseits relativ kurze Kriege wie den russisch-japanischen Krieg von 1904/05 und den deutsch-französischen Krieg von 1870/71, andererseits den Burenkrieg vor Augen, der seit 1899 für mehrere Jahre die Zivilbevölkerung stark in Mitleidenschaft gezogen hatte. 12 Diese zu schützen, war daher ein Anliegen der besatzungsrechtlichen Vorschriften der Haager Landkriegsordnung. Aber die Probleme, die mit der jahrelangen Besetzung eines fremden Landes entstehen mussten – und dies unter den Bedingungen der Kriegführung hochindustrialisierter Staaten –, diese Dimensionen lagen noch außerhalb des Vorstellungsvermögens. Es kann daher nicht überraschen, dass eine Besatzungsmacht den Text des IV. Haager Abkommens so auslegte, wie es ihr unter den gegebenen Umständen richtig erschien. Zweifellos gab es schon im Ersten Weltkrieg Vorgänge, die mit dem Vertragstext nicht zu vereinbaren waren. Sicher ist aber auch, dass das Eingeständnis der Präambel über die Lückenhaftigkeit des Textes zu Interpretationen ermutigte, die den Interessen der Besatzungsmacht dienten. Um einen Maßstab für die Beurteilung der deutschen Besatzungspolitik im Zweiten Weltkrieg zu gewinnen, seien die wichtigsten Regeln der Haager Landkriegsordnung hier kurz referiert: a) Mit der kriegerischen Besetzung eines Gebietes geht die Ausübung der Staatsgewalt auf die Besatzungsmacht über. Art. 43 verpflichtet diese daher, alle „Vorkehrungen zu treffen, um nach Möglichkeit die öffentliche Ordnung und das öffentliche Leben wiederherzustellen und aufrechtzuerhalten, und zwar, soweit kein zwingendes Hindernis besteht, unter Beachtung der Landesgesetze“. Diese Regelung setzt voraus, dass die Bevölkerung des besetzten Gebietes der Besatzungsmacht gehorsam ist. Art. 45 verbietet jedoch, „die Bevölkerung eines besetzten Gebiets zu zwingen, der feindlichen Macht den Treueid zu leisten“. b) Ehre, Familie, Leben, Privateigentum, religiöse Überzeugungen und gottesdienstliche Handlungen sind gemäß Art. 46 von der Besatzungsmacht zu respektieren. Nach derselben Vorschrift darf das Privateigentum nicht eingezogen werden, Plünderungen sind gemäß Art. 47 untersagt. Wie das Privateigentum sind dem Zugriff der Besatzungsmacht gemäß Art. 56 auch entzogen „das ___________ Die Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 in der internationalen Politik, 1981, S. 300 ff.; ferner Schircks, R., Die Martens’sche Klausel. Rezeption und Rechtsqualität, 2002, S. 17 ff. 12 Zu diesen Erfahrungen vgl. etwa Löning, E., Die Verwaltung des General-Gouvernements im Elsaß, 1874.

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Eigentum der Gemeinden und der dem Gottesdienste, der Wohltätigkeit, dem Unterrichte, der Kunst und der Wissenschaft gewidmeten Anstalten“. c) Jedoch können von den Bürgern des besetzten Landes gemäß Art. 52 „Naturalleistungen und Dienstleistungen … gefordert werden“, allerdings „nur für die Bedürfnisse des Besetzungsheers“. Diese Requisitionen „müssen im Verhältnisse zu den Hilfsquellen des Landes stehen und solcher Art sein, dass sie nicht für die Bevölkerung die Verpflichtung enthalten, an Kriegsunternehmungen gegen ihr Vaterland teilzunehmen“; außerdem sind sie zu bezahlen. Daneben kennt die Haager Landkriegsordnung die seit alters her üblichen Kontributionen, das waren im herkömmlichen Sinne Geldzahlungen der Bevölkerung des besetzten Landes zur Deckung der Bedürfnisse des Besatzungsheers. Die Haager Landkriegsordnung hat indessen – offenbar im Interesse der Zahlungspflichtigen – einen etwas anderen Ansatz gewählt. Sie geht in Art. 48 davon aus, dass die Besatzungsmacht in erster Linie die ohnehin schon „zugunsten des Staates bestehenden Abgaben, Zölle und Gebühren“ weiter erhebt, und zwar möglichst nach Maßgabe der bisher geltenden Vorschriften. Weitere Geldforderungen dürfen nur auferlegt werden entweder gemäß Art. 49 „zur Deckung der Bedürfnisse des Heeres oder der Verwaltung dieses Gebiets“ oder gemäß den Artikeln 50 und 51 als Strafkontributionen, um Angriffe auf das Besatzungsheer zu ahnden. Derartige Vergeltungsmaßnahmen wegen Handlungen einzelner sind aber unzulässig, wenn „die Bevölkerung nicht als mitverantwortlich angesehen werden kann“. d) Beschlagnahmt werden darf gemäß Art. 53 das Staatseigentum. Doch billigt Art. 55 dem besetzenden Staat nur das Recht des ususfructus – zu deutsch Nießbrauch – zu. Die Nutznießung der Liegenschaften hat also deren Substanz zu schonen. 13 Aus den Regelungen der Haager Landkriegsordnung ergibt sich die Notwendigkeit, methodisch zwischen Kooperation mit der Besatzungsmacht, wie sie Art. 43 vorschreibt, und Kollaboration, die nach Art. 45 nicht verlangt werden darf, zu unterscheiden. Unter Kooperation verstehe ich jene Zusammenarbeit mit der Besatzungsmacht, die im Interesse der öffentlichen Ordnung und des Schutzes der Zivilbevölkerung und der Aufrechterhaltung der militärischen Disziplin erforderlich ist. 14 Kollaboration aber im Sinne eines unerlaubten ___________ 13

Vgl. die Quellenhinweise in Fn. 10. Vgl. dazu aus der deutschen Literatur vor dem Ersten Weltkrieg insbes. Meurer, Ch., Die Haager Friedenskonferenz, Bd. I–II, 1905–1907, Bd. II: Das Kriegsrecht der Haager Konferenz, S. 206 ff.; Strupp, K., Das internationale Landkriegsrecht, 1914, S. 93 ff. mit ausführlichen Hinweisen auch zur einschlägigen Literatur aus anderen europäischen Ländern; ferner Sichel, J., Die kriegerische Besetzung feindlichen Staatsgebietes nach den Bestimmungen der Haager Friedenskonferenz, Jur. Diss. 1905; Tjaden, H., Die kriegerische Besetzung feindlichen Staatsgebietes, Jur. Diss. 1910; Kaut, J., Die Haager Landkriegskonvention vom Jahre 1907 und das deutsche Militärrecht, 14

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Verhaltens meint Aktivitäten solcher Personen, die – in der Sprache der Haager Landkriegsordnung – der Besatzungsmacht den „Treueid“ leisten, indem sie die politischen Ziele des besetzenden Staates unterstützen. Die Unterscheidung zwischen Kooperation und Kollaboration ist gewiss schon unter einfacheren Verhältnissen, als sie im Zweiten Weltkrieg gegeben waren, schwierig. Die Besatzungsmacht darf gemäß Art. 43 der Haager Landkriegsordnung selbst gesetzgebend tätig werden und jedenfalls in Hinblick auf den Zweck des Krieges in die gesellschaftlichen Verhältnisse des besetzten Landes eingreifen. Daraus können leicht Loyalitätskonflikte für die ausführenden Organe und Beamten des besetzten Landes entstehen. Aber an dem Grundsatz, dass es eine völkerrechtlich legitime und im Interesse des besetzten Landes auch dringend notwendige Zusammenarbeit mit einer Besatzungsmacht geben muss, ist nicht zu zweifeln. Für die Beurteilung von Kooperation und Kollaboration ist ferner von Bedeutung, die Perspektive der Besatzungsmacht und die Perspektive der Bevölkerung des besetzten Landes zu unterscheiden. Das galt schon unter den Verhältnissen des Ersten Weltkrieges, als z. B. in Deutschland aufkommende Annexionspläne für Flandern und das Baltikum 15 den kooperationsbereiten Beamten der besetzten Länder nicht unbedingt bekannt sein mussten. Selbst für Kollaborateure ist jeweils zu fragen, inwieweit sie die politischen Zielvorstellungen der Besatzungsmacht wirklich erkannten oder ob sie nicht eher eigenen Wunschvorstellungen anhingen.

IV. Deutsche Besatzungspraxis im Ersten Weltkrieg Das deutsche Besatzungsregime im Zweiten Weltkrieg ist ohne die Entwicklung der Besatzungspraxis im Ersten Weltkrieg nicht zu verstehen. Die Militärverwaltung des Landes „Ober Ost“ – für Kurland, Litauen und Teile Weißrusslands – betrieb eine intensive Wirtschaftspolitik und erzielte Überschüsse, die ___________ Jur. Diss. 1912, insbes. S. 37 ff. Zusammenfassend zur französischen Völkerrechtslehre vor dem Kriege Arav, A., Die occupatio bellica (im Landkrieg) mit besonderer Berücksichtigung der französischen Doktrin, Jur. Diss. 1916. 15 Fischer, F., Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18, 1961. Vgl. ferner die Beiträge desselben Autors einerseits sowie G. Ritters und E. Zechlins andererseits in: Schieder, W. (Hrsg.), Erster Weltkrieg. Ursachen, Entstehung und Kriegsziele, 1969; Mommsen, W. J., Die deutsche Kriegszielpolitik 1914–1918, in: Laqueur, W. / Mosse, G. L. (Hrsg.), Kriegsausbruch 1914, 1967, S. 60 ff. – Hinsichtlich des Baltikums erscheint es unnötig, an die zahlreichen Erlebnisberichte und Flugschriften aus dem Ersten Weltkrieg zu erinnern, in denen der Verbleib der eroberten Gebiete in deutscher Hand mehr oder weniger offen gefordert wurde. Vgl. a. die folgende Fn.

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ins Reich abgeführt wurden. 16 In Polen und Belgien regierten Generalgouverneure, zu deren Aufgaben gleichfalls die wirtschaftliche Nutzung der besetzten Länder für Zwecke des Deutschen Reiches gehörte. 17 Die wirtschaftlichen Ressourcen der besetzten Länder wurden nicht nur für die Bedürfnisse der gerade dort stationierten deutschen Truppen, sondern für die deutsche Wirtschaft überhaupt genutzt, die freilich eine Kriegswirtschaft gewesen ist. In der deutschen Jurisprudenz ist während des Ersten Weltkrieges deutlich das Bestreben erkennbar, die der Okkupationsmacht von der Haager Landkriegsordnung gewährten Befugnisse extensiv zu interpretieren. Der Kriegsherr könne die Steuerkraft des besetzten Landes „für seine Kriegsinteressen in Anspruch nehmen“ und „dieser Beitrag der Bevölkerung kann auch in Diensten bestehen, denn auch diese beruhen auf der Kriegsherrschaft“, so dass „Zwang berechtigt“ sei. 18 Das Deutsche Reich arbeite „mitten im Kriege an der Weiterbildung des Völkerrechts“. 19 Zwischen der Versorgung des Besatzungsheeres und dem Bedarf der Kriegsindustrie wie auch der deutschen Bevölkerung wurde kein Unterschied gemacht. Gerechtfertigt haben deutsche Völkerrechtler dieses Vorgehen mit dem kriegsrechtlichen Notstand, der durch den von England inszenierten „Wirtschaftskrieg“ ausgelöst worden sei, insbesondere durch die totale, ___________ 16

Linde, G., Die deutsche Politik in Litauen im Ersten Weltkrieg, 1965, S. 28 ff., 52 ff.; Strazhas, A., Deutsche Ostpolitik im Ersten Weltkrieg. Der Fall Ober Ost 1915– 1917, 1993, S. 38 ff.; auch das im Auftrage des Oberbefehlshabers Ost herausgegebene Werk: Das Land Ober Ost. Deutsche Arbeit in den Verwaltungsgebieten Kurland, Litauen und Bialystok-Grodno, 1917, insbes. S. 305 ff., verhehlt die Funktion der besetzten Länder als Nahrungsmittellieferanten nicht. 17 Fenske, H., Die Verwaltung der besetzten Gebiete, in: Jeserich, K. G. A. / Pohl, H. / von Unruh, G.-Ch. (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 3, 1984, S. 899 ff., 904 ff. Aus noch zeitgenössischer deutscher Sicht: Winterfeldt, H. v., Die deutsche Verwaltung des Generalgouvernements in Belgien 1914–1918, in: Schwarte, M. (Hrsg.), Der große Krieg 1914–1918, Bd. 10: Die Organisation der Kriegführung (Dritter Teil), 1923, S. 1 ff. 18 Kohler, J., Grundlagen des Völkerrechts. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, 1918, S. 210. – Die ersten, nach 1914 erschienenen deutschen Abhandlungen zu unserem Thema hatten die veränderte Rechtswirklichkeit noch kaum wahrgenommen, vgl. etwa Meurer, Ch., Die völkerrechtliche Stellung der vom Feind besetzten Gebiete, in: AöR 33 (1915), S. 353 ff.; Beckmann, A., Die kriegerische Besetzung feindlichen Staatsgebietes in ihrer völkerrechtlichen Wirkung auf das besetzte Gebiet und dessen Bewohner, Jur. Diss. 1916. 19 Liszt, F. von, Wie Deutschland im Kriege am Völkerrecht baut, in: Frankfurter Zeitung vom 29.10.1916. Vgl. a. Eltzbacher, P., Totes und lebendes Völkerrecht, 1916, und dazu Jastrow, J., Völkerrecht und Wirtschaftskrieg, 1917 (Zs. f. Völkerrecht, Bd. 10, Erg.-H. 1). – Dass die westalliierte Sicht eine andere gewesen ist, überrascht nicht, vgl. etwa Ferrand, G. R. M., De Réquisitions en Matière de Droit International Public, 1917; Bertrand, L., L’Occupation Allemande en Belgique 1914–1918, Tom. I–II, 1919; Mérignhac, A. / Lémonon, E., Le Droit des Gens et la Guerre de 1914–1918, 1921, S. 351 ff. Zum Einfluss des Krieges auf völkerrechtliche Fragen der Besatzung vgl. a. Oppenheim, L., The Legal Relations between an Occupying Power and the Inhabitants, in: The Law Quarterly Review, vol. 33 (1917), S. 363 ff.

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auch neutrale Schiffe erfassende Seeblockade. Diese Maßnahmen erachtete man in Deutschland für grob völkerrechtswidrig, so dass die faktische Integration der Ökonomie besetzter Länder in das deutsche Wirtschaftssystem als rechtmäßig angesehen wurde. 20 Dem Wortlaut und Sinn der Haager Landkriegsordnung entsprach das nicht. Besonders gilt das für die – damals erstmals auftretende – Rekrutierung von Zwangsarbeitern in Belgien, gegen die sich der dort regierende deutsche Generalgouverneur zunächst heftig wehrte. Sie wurde so begründet: Infolge des Krieges herrschte Massenarbeitslosigkeit unter den Belgiern, die der Besatzungsmacht als Fürsorgeempfänger zur Last fielen, während in Deutschland wegen des Kriegsdienstes der Männer Arbeitskräfte fehlten. Also hielt sich das Deutsche Reich für berechtigt, den Unterhalt der Belgier durch ihren Arbeitseinsatz in der deutschen Wirtschaft sicherzustellen. 21 Die in der Literatur erörterten „Notwendigkeiten des Krieges“ hatten angesichts der Härte und Dauer des Ersten Weltkrieges zu Verhaltensweisen geführt, die jede Seite der anderen als völkerrechtswidrig vorwarf. Daher kann man auch nicht behaupten, der Erste Weltkrieg habe zu einer gewohnheitsrechtlichen Weiterentwicklung des Besatzungsrechts der Haager Landkriegsordnung geführt. Die völkerrechtlichen Lehrbücher der Zwischenkriegszeit wiederholen und bekräftigen im Wesentlichen die Grundsätze der Haager Landkriegsordnung 22 , obwohl sich deren Regelung der Requisitionen und Kontributionen während des Ersten Weltkrieges als illusionär erwiesen hatte.

___________ 20 Scholz, F., Privateigentum im besetzten und unbesetzten Feindesland, unter besonderer Berücksichtigung der Praxis des Weltkrieges, 1919, S. III, 161 ff.; Heyland, C., Occupatio bellica, in: Strupp, K. (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts und der Diplomatie, Bd. 2, 1925, S. 154 ff., 167; Fleischmann, M., L’Obligation imposée à l’Allemagne de réparer les Conséquences des Mesures prises par elle en Territoire ennemi occupé, 1922, S. 14 ff. 21 Bell, J. (Hrsg.), Völkerrecht im Weltkrieg, Bd. 1, 1927 (Das Werk des Untersuchungsausschusses der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung und des Deutschen Reichstages 1919–1928, Dritte Reihe), S. 187 ff. 22 Die umfangreiche, internationale Literatur des Völkerrechts kann hier nur exemplarisch Erwähnung finden, vgl. Rolin, A., Le Droit moderne de la Guerre, Tom. I, 1920, S. 419 ff.; Fauchille, P., Traité de Droit international public, Tom. II, 1921, S. 213 ff.; Hall, W. E., A Treatise on International Law, 8. Ed., 1924, S. 553 ff.; Strupp, K.,Theorie und Praxis des Völkerrechts, 1925, S. 160 ff.; Heyland (Fn. 20), S. 154 ff.; Brugger, Ph., Besetzung fremden Staatsgebiets, in: Sacher, H. (Hrsg.), Staatslexikon, Bd. 1, 1926, Sp. 845 ff.; Hershey, A. S., The Essentials of International Public Law and Organization, 1927, S. 612 ff.; Vanselow, E., Völkerrecht, 1931, S. 236 ff.; Wolgast, E., Völkerrecht, 1934, S. 949 f.; Kunz, J. L., Kriegsrecht und Neutralitätsrecht, 1935, S. 75 ff.; Wilson, G. G., Handbook of international Law, 3. Aufl. 1939, S. 297 ff.

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V. Hitlers Kriegsziele Im Zweiten Weltkrieg wurden die deutschen Kriegsziele im Wesentlichen von Hitler selbst bestimmt. Zwar haben andere Personen und Institutionen modifizierend Einfluss zu nehmen versucht, etwa der Reichsminister für die besetzten Ostgebiete Alfred Rosenberg oder Kommandostellen der Wehrmacht. Abgesehen von den Angehörigen des Widerstandes akzeptierten aber alle den Primat der Politik, die von Hitler bestimmt und über seine engsten Vertrauensleute Himmler und Bormann sowie seine verschiedenen Adjutanten vermittelt wurde. Für die Beurteilung der Kollaboration, d. h. die Unterstützung der deutschen Politik, ist nun von wesentlicher Bedeutung, dass sich nach Hitlers eigenen Vorstellungen jedenfalls drei verschiedene, wenn auch eng miteinander zusammenhängende Kriegsziele unterscheiden lassen. 23 Erstens der so genannte Kampf um „Lebensraum“. Dieses gigantische Vorhaben beruhte nicht nur auf der fixen Idee, das dem deutschen Volk zur Verfügung stehende Territorium reiche für seine Existenz nicht aus, sondern hatte außerdem zur Voraussetzung den Glauben an die Überlegenheit der nordischen Rasse, die daher ein Recht auf Eroberung und Unterwerfung angeblich minderwertiger Völker und ihrer Länder für sich in Anspruch nahm. Von dieser bekannten sozialdarwinistischen Ideologie ist das weitere Kampfziel, den angeblich jüdischen Bolschewismus zu vernichten, zu unterscheiden. Hitler selbst sprach von einem „Fingerzeig“ des „Schicksals“, dass gerade dort, wo genügend „Grund und Boden“ für den deutschen Bauern zur Verfügung stehe, der „russische Bolschewismus“ entstanden sei, für Hitler gleichbedeutend mit dem „Versuch des Judentums ... sich die Weltherrschaft anzueignen“. Als drittes, gleichrangiges Kriegsziel hatte Hitler aber stets die deutsche Weltmachtstellung im Blick. Ein nackter Imperialismus, dem die vor 1914 bestehenden Grenzen ganz zufällig und ungenügend erscheinen und dem Annexionen in Ost und West selbstverständlich sind, tritt uns in den Texten Hitlers entgegen. Er scheute sich nicht, die geringe Größe des deutschen Reiches mit den von den großen Kolonialmächten England und Frankreich beherrschten Flächen, mit Russland, China und den USA zu vergleichen. Unendlich oft ist bei Hitler vom Schwert und vom Kampf die Rede und von der schwächlichen deutschen Politik, die zu der Niederlage von 1918 geführt habe. 24 ___________ 23

Jacobsen, H.-A., Nationalsozialistische Außenpolitik 1933–1938, 1968, S. 1 ff., 445 ff.; Hildebrand, K., Hitlers „Programm“ und seine Realisierung 1939–1942, in: Funke, M. (Hrsg.), Hitler, Deutschland und die Mächte. Materialien zur Außenpolitik des Dritten Reiches, 1978, S. 63 ff.; Hillgruber, A., Der Hitler-Stalin-Pakt und die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges – Situationsanalyse und Machtkalkül der beiden Pakt-Partner, in: HZ 230 (1980), S. 339 ff., 345 u. passim. 24 Hitler, A., Mein Kampf, Bd. 1–2 (1925–1927), benutzt: Bd. 2, 1933, S. 726 ff., 742 ff., 750 ff.

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Es gibt Gründe zu vermuten, dass diese drei Kriegsziele schon bei den Deutschen, erst recht aber im besetzten Ausland, auf eine sehr unterschiedliche Resonanz trafen. Man darf daran zweifeln, ob der ebenso unklare wie phantastische Plan, die Weiten Russlands mit deutschen Siedlern zu füllen, die es gar nicht gab, die Deutschen zu der Kraftanstrengung des Zweiten Weltkrieges hätte veranlassen können. Ein viel stärkeres Motiv war mit Sicherheit das Streben nach einer Revision des Friedens von Versailles und das Bedürfnis, Revanche für die Niederlage zu üben. Damit verband sich der Wunsch, für Deutschland eine Weltmachtstellung zu erringen, die man glaubte beanspruchen zu können. Mindestens ebenso große Unterstützung fand in Deutschland aber der Kampf gegen den russischen Kommunismus. Denn diesen hassten und fürchteten nicht nur Nationalsozialisten und völkische Kreise, sondern auch Nazigegner, altkonservative Monarchisten, die Kirchen und die längst zum Schweigen gebrachten Demokraten. Mit diesem verbreiteten Antibolschewismus aber verband sich vielfach ein latenter oder offener und aggressiver Antisemitismus – ganz ausgeprägt und geradezu krankhaft bei Hitler und daher auch im nationalsozialistischen Führungszirkel, nicht selten wohl aber auch bei Menschen, die dem Diktator und seiner Ideologie innerlich fernstanden. 25 Die pauschale Diffamierung der Juden als Kommunisten dürfte die Judenverfolgung überall im besetzten Europa und schließlich die so genannte „Endlösung“ erleichtert haben. Also gerade der Kampf gegen den Kommunismus, jenes der drei hier unterschiedenen Kriegsziele, das mit der größten Zustimmung in der Bevölkerung rechnen durfte, war in der obskuren Vorstellungswelt Hitlers untrennbar mit der Vernichtungspolitik gegenüber den Juden verbunden. Es ist kaum ein Zufall, dass die ersten Massenexekutionen an Juden unmittelbar nach dem Beginn des Einmarsches in den russischen Machtbereich begannen und die definitive Entscheidung für die so genannte „Endlösung“ nach heutigem Forschungsstand mit großer Wahrscheinlichkeit gerade in jenen Dezembertagen des Jahres 1941 getroffen wurde, als der deutsche Angriff auf Moskau scheiterte. 26 Nun wusste niemand mehr, wie der Krieg gegen die Sowjetunion gewonnen werden sollte. Dafür richtete sich der Vernichtungswille Hitlers jetzt gegen die Juden in seinem Machtbereich. ___________ 25 Weinzierl, E., Moderner Antisemitismus von der Aufklärung bis zum Nationalsozialismus, in: Kotowski, E.-V. / Schoeps, J. H. / Wallenborn, H. (Hrsg.), Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa, Bd. 1–2, 2001, Bd. 2, S. 379 ff. m. w. N., S. 483 ff. 26 Gerlach, Ch., Die Wannsee-Konferenz, das Schicksal der deutschen Juden und Hitlers politische Grundsatzentscheidung, alle Juden Europas zu ermorden, in: ders., Krieg, Ernährung, Völkermord, 1998, S. 85 ff., 117 ff., und zu kritischen Einwänden S. 264 ff. Andere Autoren gehen von einer derartigen Entscheidung schon im Oktober 1941 aus, vgl. etwa Burrin, Ph., Hitler und die Juden. Die Entscheidung für den Völkermord, 1993, S. 133 ff., und zum Diskussionsstand die Beiträge in: Herbert, U. (Hrsg.), Nationalsozialistische Vernichtungspolitik 1939–1945. Neue Forschungen und Kontroversen, 1998; jetzt Friedländer, S., Das Dritte Reich und die Juden, Bd. 2: Die Jahre der Vernichtung 1939–1945, 2006.

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VI. Deutsche Besatzungspraxis im Zweiten Weltkrieg Die organisatorischen Strukturen des deutschen Besatzungsregimes im Zweiten Weltkrieg hatten nur zum geringsten Teil Ähnlichkeit mit dem Modell, das der Haager Landkriegsordnung zugrunde lag. 27 Diese ging davon aus, dass die Behörden des besetzten Landes unter der Besatzungsmacht weiterarbeiteten, soweit nicht aus militärischen Gründen Änderungen erforderlich waren. Anders hatte man sich bei den Verhandlungen in Den Haag die Organisation der Besatzungsherrschaft auch nicht vorstellen können, weil die Besatzungsmacht ja nur durch ihr Militär präsent sein sollte, das gewöhnlich über wenig Personal für Verwaltungsaufgaben verfügt. Nach der Erfahrung des Ersten Weltkrieges und in Hinblick auf Hitlers maßlose Kriegsziele gab es auf deutscher Seite wohl von vorneherein keinerlei Bedenken, die besetzten Länder in den Dienst der deutschen Kriegswirtschaft zu stellen. Das aber ließ sich mit Zivilverwaltungen besser bewerkstelligen als mit Militärs, die wenig oder keine Verwaltungserfahrung besaßen. Es kommt hinzu, dass sich nach den ersten militärischen Erfolgen bei Hitler und im Oberkommando der Wehrmacht – das ist das ehemalige, seit 1938 Hitler persönlich zugeordnete Reichskriegsministerium – eine solche Siegesgewissheit verbreitete, dass eine bloße Militärverwaltung überflüssig erschien und die sofortige Einrichtung einer deutschen Zivilverwaltung in Angriff genommen wurde. Hitlers Herrschaftsinstrument war dabei der „Reichskommissar“. Solche Beauftragten Hitlers, die nur ihm persönlich untergeordnet waren, gab es in Norwegen, in den Niederlanden, in der Ukraine und im so genannten „Ostland“, das Estland, Lettland, Litauen und Teile Weißrusslands umfasste. Unter Zivilverwaltung stand auch das Generalgouvernement Polen, das als ein Nebenland des Reiches galt, in dem die gesamte polnische Rechtsordnung aufgehoben worden war und sich eine Flut neuer deutscher Verordnungen über die Bevölkerung ergoss. Eine deutsche Militärverwaltung gab es nur in Nordfrankreich und Belgien, in Jugoslawien und Griechenland. Einen Sonderfall bildet bis zum Sommer 1943 Dänemark, das seine eigene Regierung behalten durfte und nur einem Reichsbevollmächtigten unterstand. 28 Nicht zu vergessen ist, dass eine Reihe kleinerer Gebiete bereits annektiert worden war oder einer Verwaltung zwecks Vorbereitung der Annexion unterstand. Im Osten waren dies der aus westpolnischen Gebieten gebilde___________ 27 Lemkin, R., Axis Rule in occupied Europe, 1944; Kroener, B. R. / Müller, R.-D. / Umbreit, H., Kriegsverwaltung, Wirtschaft und personelle Ressourcen 1939–1941 (Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. V,1–2: Organisation und Mobilisierung des deutschen Machtbereichs), 1988/1999. 28 Vgl. dazu Kroener / Müller / Umbreit (Fn. 27), Bd. V,1 S. 12 ff., Bd. V,2 S. 4 ff., und die umfassende Dokumentensammlung mit ausführlichen Einleitungen: Europa unterm Hakenkreuz. Die Okkupationspolitik des deutschen Faschismus (1938–1945), Bd. 3–7, 1990–1992; aus der älteren Literatur vgl. insbesondere Dallin, A., Deutsche Herrschaft in Rußland 1941–1945, 1958.

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te „Warthegau“ und der Bezirk Bialystok, im Westen Eupen-Malmedy, ElsassLothringen und Luxemburg, im Süden die Untersteiermark und SüdkärntenKrain. Nun hat das deutsche Besatzungsregime nirgendwo auf die Mitarbeit einheimischer Beamter verzichten können. 29 Für die Gebiete mit Militärverwaltung war dies von vorneherein klar. Aber auch in den Reichskommissariaten gab es einen einheimischen Verwaltungsunterbau, selbst in der Ukraine und im Generalgouvernement Polen, wenn auch in diesen Ländern nur auf kommunaler Ebene. In einem entscheidenden Punkt aber bestand zwischen den Gebieten mit deutscher Zivilverwaltungsspitze und den Gebieten unter Militärverwaltung ein wesentlicher Unterschied. Wo unter einem Reichskommissar eine deutsche Zivilverwaltung eingerichtet worden war, also in den Reichskommissariaten und im Generalgouvernement Polen, lag die Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung in den Händen der deutschen Polizei, die längst zusammen mit der SS unter dem einheitlichen Befehl Himmlers stand. In allen Reichskommissariaten und im Generalgouvernement Polen waren „höhere SSund Polizeiführer“ eingesetzt worden. Wo das Heer dagegen die Besatzungsherrschaft ausübte, bediente es sich seiner eigenen Feldpolizei, so dass hier der SS-Apparat Himmlers nicht sofort Fuß fassen konnte und sich in Frankreich der Unterstützung der französischen Polizei bediente. Überall jedoch erstreckte sich das Besatzungsregime auf die restlose Nutzung der Wirtschaft und möglichst auch des Arbeitskräftepotentials, im „Ostland“ durch den Wirtschaftsführungsstab Ost, in Frankreich durch die dem Oberkommando der Wehrmacht unterstehende „Deutsche Waffenstillstandskommission für Wirtschaft“, dazu durch den Generalbevollmächtigten für den Arbeitskräfteeinsatz, den Reichsminister für Rüstung und Kriegsproduktion usw. 30 Auch wenn man in Hinblick auf die Bedürfnisse der Kriegswirtschaft die Haager Landkriegsordnung extensiv zu Gunsten Deutschlands auslegt und von organisierten Mordaktionen einmal absieht, entsprechen die organisatorischen Formen des deutschen Besatzungsregimes keinesfalls dem Völkerrecht. Unzulässig waren die faktischen Annexionen vor Friedensschluss. Unzulässig waren die begonnenen Vertreibungen und Bevölkerungsverschiebungen. Unzulässig ___________ 29 Zum Begriff der Kollaboration gerade in Hinblick auf den Zweiten Weltkrieg sind differenzierende Perspektiven entwickelt worden, vgl. schon den Systematisierungsversuch von Rings, W., Kollaboration und Widerstand. – Europa im Krieg 1939–1945, 1979, S. 101 ff.; jetzt die Beiträge von Umbreit, H., Madajczyk, C. und Röhr, W. in: Röhr, W. (Hrsg.), Okkupation und Kollaboration (1938–1945), 1994 (Europa unterm Hakenkreuz. Die Okkupationspolitik des deutschen Faschismus, hrsg. v. Bundesarchiv, Erg.-Bd. 1), S. 33 ff., 45 ff., 59 ff. 30 Vgl. Eichholtz, D., Wirtschaftskollaboration und „Ostgesellschaften“ in NS-besetzten Ländern, in: Röhr (Fn. 29), S. 433 ff., sowie dazu passim in den anderen Beiträgen dieses Bandes; Kroener / Müller / Umbreit (Fn. 27), Bd. V,1 S. 210 ff., Bd. V,2 S. 124 ff.

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war die Ausdehnung der innerdeutschen Polizeihoheit auf die den Reichskommissaren unterstellten Besatzungsgebiete. Diese Maßnahme hatte die Missachtung des Rechts der besetzten Länder durch Ausdehnung des deutschen totalitären Systems in Europa zur Folge. Soweit man die Regelungen der Haager Landkriegsordnung für unzureichend angesichts der Dimensionen des fast ganz Europa erfassenden Krieges hielt, hätten die Kriterien der Präambel dieses Vertragswerkes weiterhelfen können: die „unter gesitteten Völkern feststehenden Gebräuche“, die „Gesetze der Menschlichkeit“ und die „Forderungen des öffentlichen Gewissens“. Auch wenn es zum Massenmord an den Juden nicht gekommen wäre, hätte das deutsche Besatzungsregime gegen die Normen des Völkerrechts verstoßen, weil es schon vor Friedensschluss die Realisierung seiner – extremen – Kriegsziele einleitete. 31

VII. Kooperation und Kollaboration Die Zusammenarbeit von Angehörigen der besetzten Länder mit der deutschen Besatzungsmacht hatte ganz überwiegend den Charakter der im Rahmen der Haager Landkriegsordnung vorgesehenen Kooperation, und zwar einer Kooperation, die oft unter schwierigsten Bedingungen zu leisten war. Trotz beständiger und zunehmender deutscher Forderungen an die Ökonomie der Besatzungsgebiete war deren Versorgung sicherzustellen und ihre Infrastruktur aufrechtzuerhalten. Das war nur in dauerndem Kontakt mit der fremden Ordnungsmacht möglich. An deren Regeln suchte man sich anzupassen, um vielleicht Schlimmeres zu verhüten. Mancher wollte wohl auch nicht wissen, dass sich mit dem Besatzungsregime zugleich eine Willkürherrschaft etabliert hatte. Die Kollaboration im Sinne der Unterstützung deutscher Kriegsziele konnte sich in den Besatzungsgebieten naturgemäß weder für Hitlers Lebensraumpolitik noch für die deutsche Weltmachtstellung interessieren und engagieren. Diese Kriegsziele hätten im Wesentlichen nur Deutschland Nutzen bringen können. Den Kampf gegen den stets so genannten „Bolschewismus“ dagegen verstand die deutsche Propaganda nicht ohne Erfolg als eine internationale, der europäischen Zivilisation dienende Aufgabe darzustellen. Die Anwerbung von SS-Legionären in den besetzten nord- und westeuropäischen Ländern stellte ausschließlich auf diesen Gesichtspunkt ab. 32 Hier findet sich ein Motiv der ___________ 31

Das gilt auch für das Baltikum, vgl. Myllyniemi, S., Die Neuordnung der baltischen Länder 1941–1944. Zum nationalsozialistischen Inhalt der deutschen Besatzungspolitik, 1973. – Auch im Zweiten Weltkrieg versuchten deutsche Völkerrechtler, die – nun viel radikalere – Politik ihrer Regierung zu rechtfertigen, vgl. etwa FreytaghLoringhoven, A. Frh. v., Völkerrechtliche Neubildungen im Kriege, 1941; Spanner, H., Fragen der Verwaltung besetzter Gebiete, in: AöR, Bd. 73 (1944), S. 96 ff. 32 Wegner, B., Hitlers politische Soldaten: Die Waffen-SS 1933–1945, 4. Aufl. 1990, S. 291 ff., 310 ff.

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Kollaboration. Dabei ist freilich auch zu berücksichtigen, dass die faschistische Bewegung vor dem Kriege in vielen Ländern Europas Anhänger gefunden und politischen Einfluss erlangt hatte. Ein autoritäres Staatsverständnis, das Führerprinzip, die völkische Ideologie und die Militarisierung der Gesellschaft durch Parteiarmeen und paramilitärische Jugendorganisationen gehörten dazu. 33 Es gab daher eine Kollaborationsbereitschaft aus ideologischen Gründen, wenn auch in sehr unterschiedlichem Maße. In den meisten besetzten Ländern bildeten diese Anhänger einer faschistischen Staats- und Gesellschaftskonzeption nur Splittergruppen – mit der gewichtigen Ausnahme von Frankreich, wo sich schon vor dem Kriege eine ähnliche Konfrontation zwischen Anhängern einer sozialistischen und einer nationalistischen Politik entwickelt hatte wie in der Weimarer Republik. 34 Ein zweites Motiv der Kollaboration war der in Europa verbreitete Antisemitismus nicht nur des kleinbürgerlichen Milieus, sondern auch hochintellektueller Köpfe. Für aggressive Antisemiten – in Frankreich zum Beispiel der nicht unbedeutende Dichter Céline oder in Lettland der Dichter Konstantin Raudive – war Hitler der geborene Führer Europas. 35 Vor dem Einmarsch in die Sowjetunion erwartete und wünschte die nationalsozialistische Führung, dass sich die einheimische Bevölkerung sogleich nach dem Erscheinen der Deutschen selbst und spontan an den Juden als „Bolschewisten“ mit umfassenden Pogromen rächen werde. Diese Hoffnung wurde zwar enttäuscht. Aber die Ausdehnung des totalitären Regimes Hitlers aktivierte einheimische faschistische und antisemitische Kräfte in verschiedenen Ländern Europas. Es ist fraglich, ob den Deutschen, die in ihrer Mehrzahl die fortschreitende Judenverfolgung zu verdrängen oder zu bagatellisieren versuchten, bewusst war, wie ihr Staat im Ausland eingeschätzt wurde: als ein Land, in dem der Hass auf die Juden zum Gesetz erhoben worden war. Aus der Perspektive der Moral erscheint die Unterscheidung von Kooperation und Kollaboration nicht akzeptabel. Moralisch gesehen kann man leicht jede Unterstützung des deutschen Machtapparates für verwerflich erklären, verfolgte dieser doch nicht nur „normale“ politische Ziele, sondern zumindest auch solche verbrecherischer Art. Moralische Gebote sind zeitlos gültig. Zu ihnen darf sich jeder berufen fühlen, auch der Angehörige einer nachgeborenen Generation, die selbst eine moralische Entscheidung unter den Bedingungen des nationalsozialistischen Regimes nicht zu treffen braucht. Das moralische ___________ 33

Nolte (Fn. 4). Vgl. dazu die Beiträge in: Hirschfeld, G. / Marsh, P. (Hrsg.), Kollaboration in Frankreich (engl. 1989), dt. 1991. – Einen Überblick über prominente Kollaborateure in Europa bieten die Kurzbiographien von Seidler, F. W., Die Kollaboration 1939–1945, 1995. 35 Nettelbeck, C., Céline, in: Hirschfeld/Marsh (Fn. 34), S. 198 ff. 34

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Urteil über jene Epoche der deutschen Geschichte fällt eindeutig aus, womit zugleich jeder Deutsche, der nicht insgeheim Widerstand leistete, protestierte, sabotierte oder desertierte, als mitschuldig gilt. Dies ist die Überzeugung einer breiten Öffentlichkeit in Deutschland. Erst recht muss dann auch jeder „Kooperateur“ in den besetzten Staaten als Helfer des Nationalsozialismus moralisch verurteilt werden. Historiker und Juristen allerdings sollten sich fragen, ob mit der berechtigten moralischen Verurteilung des Hitler-Regimes nicht die Entscheidungssituation der Zeitgenossen verfehlt wird. Denn diese sahen sich im Alltag eher mit der legalistischen Seite des Normenstaates konfrontiert als mit der gesetzlosen Gewalt des Maßnahmestaates, die nicht zufällig bestimmten Funktionären und Organisationen anvertraut war. In Hinblick auf das deutsche Besatzungsregime wäre also die Frage zu prüfen, ob und inwiefern Ernst Fraenkels These vom Doppelstaat dazu beitragen kann, die Zusammenarbeit mit der Besatzungsmacht besser zu verstehen und unter den Handlungsbedingungen jener Zeit angemessener zu beurteilen. Zwar hat Fraenkel selbst betont, dass der Normenstaat des Dritten Reiches stets unter dem Vorbehalt politischer Zweckmäßigkeit stand, also jederzeit vom Maßnahmestaat eingeschränkt werden konnte. 36 Damit aber wird die methodische Bedeutung dieser Differenzierung nicht in Frage gestellt. Und sie wird sich möglicherweise gerade für das Verständnis des deutschen Besatzungsregimes als sinnvoll erweisen. Denn dieses konnte sich, wie schon erwähnt, zunächst auf gewisse Normen des Völkerrechts stützen, so dass in den besetzten Ländern Gehorsam gegenüber der Besatzungsmacht nicht nur ein Gebot der Vernunft gewesen ist, sondern auch als legal betrachtet werden musste.

VIII. Von der politischen Kooperation zur Kollaboration Die Situation in den baltischen Staaten seit dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 unterschied sich allerdings grundlegend von allen anderen deutschen Besatzungsgebieten. Nach der zweifellos völkerrechtswidrigen Besetzung Estlands, Lettlands und Litauens durch die Sowjetunion im Jahre 1940 waren sowohl im Exil wie auch im Untergrund der baltischen Länder Organisationen entstanden, die für die Wiederherstellung der politischen Freiheit kämpften und spätestens zum Zeitpunkt des deutschen Einmarsches als Partisanengruppen aktiv wurden. 37 In Unkenntnis des Geheimabkommens zum ___________ 36

Fraenkel (Fn. 9), S. 120 ff. Stang, K., Kollaboration und Massenmord. Die litauische Hilfspolizei, das Rollkommando Hamann und die Ermordung der litauischen Juden, 1996, S. 49 ff.; Friedman, K. E., German-Lithuanian Collaboration in the final solution 1941–1944, Phil. Diss. 1994, S. 146 ff.; Eidintas, A., Jews, Lithuanians and the Holocaust, 2003. Isberg, A., Zu den Bedingungen des Befreiers. Kollaboration und Freiheitsstreben in dem von 37

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Hitler-Stalin-Pakt und der wirklichen Kriegsziele Hitlers erwarteten die baltischen Völker von der deutschen Politik die Wiederherstellung ihrer staatlichen Unabhängigkeit, die scheinbar nur durch einen deutschen Sieg über die Sowjetunion gesichert werden konnte. Mit der Unterstützung der deutschen Kriegsführung haben Angehörige der baltischen Völker also ein eigenes Kriegsziel verfolgt; insofern kann man nicht von Kollaboration sprechen. Dasselbe gilt auch für jenes politische Ziel, das die baltischen Partisanengruppen in erster Linie im Auge hatten – die Verfolgung der kommunistischen Kollaborateure oder wen man dafür hielt. Für diese Aktionen sind die dem deutschen Angriff vorangegangenen Liquidierungen und Deportationen von „Klassenfeinden“ durch die Sowjets mitverantwortlich. 38 Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass die von den Partisanen angewandten Methoden vielfach denen der Kommunisten ähnelten oder sie an Grausamkeit noch übertrafen. Im Kampf der Weltanschauungen auf dem europäischen Kontinent war auch im Baltikum ein faschistisches Potential entstanden, das sich totalitärer Praktiken bediente. Zwar entsprach deren Vorgehen gegen Parteigänger des „Bolschewismus“ deutschen Zielen und Wünschen, so dass eine zeitweilige Parallelität der politischen Interessen gegeben war. Aber diese konnten sich niemals vollständig decken, bildet doch ein extremer Nationalismus den Kern aller faschistischen Ideologie. Es ging diesen Gegnern des Sowjetregimes fast immer um ihr eigenes Land, nicht um die Macht des Deutschen Reiches. Daher handelt es sich bei der Verfolgung von Sowjetfunktionären und kommunistischen Sympathisanten wohl überwiegend um selbst zu verantwortende Maßnahmen einheimischer Gruppen. Mit Kollaboration hat das wenig oder nichts zu tun. Der Begriff sollte hier weder dazu dienen, etwas zu entschuldigen noch den Vorwurf kriminellen Verhaltens durch den Tatbestand nationalen Verrats zu erweitern. Es geht um Ursachenzusammenhänge, die in erster Linie in vorhergehenden Entwicklungen innerhalb der baltischen Staaten aufzufinden sind. Anders verhält es sich bei der Judenverfolgung in den baltischen Staaten seit dem 22. Juni 1941. Zwar hat es auch dafür nationale Rahmenbedingungen gegeben: den Antisemitismus als ein europäisches Erbe des 19. Jahrhunderts mit noch älteren Wurzeln; die teilweise emanzipatorische Politik der sowjetischen Besatzungsmacht gegenüber den Juden seit 1940 mit ihren negativen Rückwirkungen in der nichtjüdischen Gesellschaft; der oberflächliche Eindruck angesichts einiger jüdischer Sowjetfunktionäre, es sei der verhasste „Bolschewismus“ überhaupt eine Erfindung der Juden. All dies hat dazu beigetragen, dass die Juden generell der Zusammenarbeit mit dem Sowjetkommunismus verdäch___________ Deutschland besetzten Estland 1941–1944, 1992, S. 20 ff., 29 ff.; jetzt Birn, R. B., Die Sicherheitspolizei in Estland 1941–1944, 2006, S. 73 ff. 38 Friedman (Fn. 37), S. 124, 132; Isberg (Fn. 36), S. 31 u. passim.

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tigt wurden. 39 Aber der systematisch organisierte Mord an den Juden begann exakt mit dem deutschen Einmarsch in Litauen. Für die Problematik der Kollaboration ist von Bedeutung vor allem die Frage, wie und warum es der berüchtigten Einsatzgruppe A so rasch gelingen konnte, einheimische Helfer für die Durchführung der Massenerschießungen zu finden. 40 Aus verschiedenen Ländern Europas ist bezeugt, dass zeitgleich mit dem Einmarsch der Wehrmacht antisemitische Ausschreitungen oder Pogrome stattfanden, an denen maßgeblich die einheimische Bevölkerung beteiligt war. 41 Die Vorgänge in Kaunas sind bekannt, das Pogrom im ostpolnischen Jedwabne wird seit einigen Jahren diskutiert. 42 Auch in Frankreich dauerte es nicht lange bis zum Beginn der organisierten Beteiligung französischer Antisemiten an judenfeindlichen Maßnahmen und selbst Pogromen. 43 Antisemiten fühlten sich im Schatten der deutschen Großmacht ermutigt, ihrem Hass freien Lauf zu lassen. In der latenten Aggressivität gegen die Juden, die in einem geordneten Staatswesen noch eingedämmt werden konnte, liegt sicher eine der Bedingungen für die Kollaboration. Der entscheidende Schritt vom Gedanken zur Tat aber konnte erst getan werden, als die Besatzungsmacht, also die nach dem Völkerrecht nunmehr legale Staatsgewalt, die Tötung dieser Menschen anordnete. Was bisher ein Verbrechen war, galt nun als politisch richtig, was bisher strafbares Unrecht gewesen war, wurde nun als Recht verkündet und durchgesetzt. Diese Aufhebung der elementarsten Regel jeder Sozialethik, nämlich des Tötungsverbots, wurde von deutschen wie nichtdeutschen Tätern akzeptiert. Während die Deutschen sich aber vormachen konnten, eine so genannte „Sekundärtugend“ zu erfüllen, nämlich „pflichtgemäß“ Befehle zu befolgen, muss angenommen werden, dass sich der baltische Kollaborateur für die ihm angebotene furchtbare Aufgabe grundsätzlich frei entschieden hat. Die Frage, wie Menschen plötzlich etwas tun konnten, was sie bis dahin als Verbrechen verabscheuten, stellt sich für die Kollaborateure also in besonders extremer Weise. Auf diese Frage ist ___________ 39

Ausführlich dazu Friedman (Fn. 37), S. 81 ff.; Eidintas (Fn. 37), S.133 ff., 196 ff. Wilhelm, H.-H., Die Einsatzgruppe A der Sicherheitspolizei und des SD 1941/42, in: Krausnick, H. / Wilhelm, H.-H., Die Truppe des Weltanschauungskrieges, 1981, S. 281 ff. 41 Kaufmann, M., Churbn Lettland. Die Vernichtung der Juden Lettlands, 1947, S. 45 ff., 50 ff.; Friedman (Fn. 37), S. 178 ff.; Stang (Fn. 37), S. 73 ff., 76 ff.; Aring, P. G., „Wenn dich deine Kinder fragen ...“. Impressionen zur Geschichte und Gegenwart jüdischen Lebens in Litauen, 1998 (Galut Nordost. Zs. f. jüdisch-baltische Kultur und Geschichte, Sonderheft 3), S. 28, 38, 44 u. passim mit Erinnerungen aus vielen litauischen Orten. 42 Vgl. a. Friedrich, K.-P., Kollaboration und Antisemitismus in Polen unter deutscher Besatzung (1939–1944/45), in: Zs. f. Geschichtswiss. 1997, S. 818 ff. 43 Pryce-Jones, D., Paris unter der deutschen Besatzung, in: Hirschfeld/Marsh (Fn. 34), S. 23 ff., 29, 32 ff. 40

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nur eine Antwort möglich: Sie töteten Menschen, weil die neue Staatsgewalt dies zum Gesetz erhoben hatte. In den Augen der Bürger ist es in der Mitte des 20. Jahrhunderts offenbar der Staat, der über das Recht und zugleich über die Moral entscheidet.

IX. Versuch einer Erklärung: Die Staatsgewalt als moralische Instanz In einem letzten Schritt dieser Überlegungen ist daher darüber nachzudenken, wie es dazu gekommen ist, dass dem Staat eine höchste moralische Kompetenz zugebilligt werden konnte. Ich glaube, dass eine ausreichende Erklärung nur möglich ist, wenn wir viel grundsätzlichere Faktoren berücksichtigen und viel weiter in die Geschichte zurückgehen, als dies zu unserem Thema gemeinhin üblich ist. Es ist danach zu fragen, welche Eigenschaften, Qualitäten und Kompetenzen der Staatsgewalt in jener Epoche zugebilligt wurden. Das Zeitalter, in dem auch das Dritte Reich entstehen konnte, begann in der Aufklärung, und diese setzt die Entstehung des frühmodernen Staates voraus. Denn: nun wurde „das Recht des Rechts“ durch „das Recht des Staates“ ersetzt, wie Hasso Hofmann einmal formulierte. 44 Anders ausgedrückt: Im Übergang vom Spätmittelalter zur frühen Neuzeit werden die traditionalen Rechtsgewohnheiten der mittelalterlichen Welt allmählich durch das vom Staat gesetzte Recht verdrängt. Die Qualität dieses Rechts war aber nicht beliebig, sondern durch den politischen Leitgedanken des Gemeinwohles bestimmt. Was darunter zu verstehen war, entnahmen die Zeitgenossen seit der Aristotelesrezeption des 13. Jahrhunderts der „Politeia“ des griechischen Philosophen. Aufgabe des Staates ist danach die Sicherung der wirtschaftlichen Existenz und die sittliche Vervollkommnung der Bürger. Es gibt also seit den Anfängen der europäischen Staatsbildung im Spätmittelalter bis zur Vollendung der Aufklärung im liberalen Denken eine Kompetenz des Staates für die Moral seiner Bürger. 45 Diese ist allerdings lange Zeit durch die christliche Tradition und noch im 18. Jahrhundert durch das rationale Naturrecht inhaltlich bestimmt und gebunden. Erst mit dem Liberalismus des 19. Jahrhunderts wird der Bürger der Idee nach aus der Fürsorge der „guten Policey“ des Staates entlassen und ermächtigt, seine Lebensziele selbst zu wählen und zu realisieren. 46 ___________ 44 Hofmann, H., Das Recht des Rechts und das Recht der Herrschaft, in: Willoweit, D. (Hrsg.), Die Begründung des Rechts als historisches Problem, 2000 (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 45), S. 247 ff. 45 Zusammenfassend Maier, H., Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, 2. Aufl. 1980; Stolleis, M., Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1, 1988, S. 80 ff.; Willoweit, D., Deutsche Verfassungsgeschichte, 5. Aufl. 2005, S. 118 f., 198 ff. m. w. N. 46 Preu, P., Polizeibegriff und Staatszwecklehre, 1983, S. 224 ff.

Besatzungsrecht und Kollaboration

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Aber hat der Staat deshalb tatsächlich darauf verzichtet, über Gut und Böse in der Gesellschaft zu bestimmen? Schon die intensiven Bemühungen um Reformen des Strafrechts im 19. Jahrhundert wecken erhebliche Zweifel. Was Unrecht und strafbar ist, bestimmt die Staatsgewalt. Sie legt damit zugleich fest, was moralisch besonders verwerflich ist, während umgekehrt das nicht strafbare Verhalten zwar gelegentlich gesetzwidrig sein und strengen ethischen Maßstäben nicht genügen mag. Doch außerhalb des von staatlichen Strafdrohungen beherrschten Handlungsraumes fühlt sich der Bürger grundsätzlich frei. An modernen Beispielen, etwa der Sexualmoral oder des Umweltverhaltens, ließe sich zeigen, dass die Aufhebung wie auch die Ausweitung staatlicher Strafdrohungen das Handeln der Menschen beeinflusst. Den politischen Anspruch des Staates, durch seine Gesetzgebung ein unverzichtbares moralisches Minimum festzulegen, hat die Gesellschaft jedenfalls bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts kaum in Frage gestellt. Die Bürger waren in autokratisch wie auch in demokratisch regierten Staaten Europas gewohnt, der Obrigkeit zu gehorchen und nicht nur der einfache Mann, auch die akademisch Gebildeten lebten in ihrem durch viele Gesetze geordneten Gemeinwesen mit der Überzeugung, dass die Regierenden viel besser wissen mussten, was richtig und falsch war. Daher bedurfte es in den neu etablierten totalitären Staaten nicht geringer moralischer Kraft, den seit Menschengedenken eingeübten Respekt vor der Staatsgewalt dieser zu verweigern und sie als verbrecherisch zu identifizieren. Der vorliegende Versuch eines Rechtshistorikers, für unverständlich erscheinende Vorgänge der Vergangenheit Gründe zu benennen, darf nicht als Versuch missverstanden werden, Verbrechen zu rechtfertigen oder Täter zu entschuldigen. Wer die Fakten zur Kenntnis genommen hat, kann auf einen solchen Gedanken nicht kommen. Aber man muss andererseits davor warnen, jenes entwickelte Bewusstsein von der Unverletzbarkeit elementarer Menschenrechte, das seit 1945 im Zentrum unserer Sozialethik steht, den vorangegangenen Generationen als Maßstab zu präsentieren. Sie hatten vielfach und unter Beihilfe der Gebildeten ihrer Zeit ein anderes Wertesystem erlernt: den Vorrang der Nation, die Distanzierung von „Fremdvölkischen“ und von angeblich „rassisch“ nicht dazugehörenden Menschen, die Notwendigkeit des Krieges als Mittel der Politik. Dass wir anders denken, haben uns die vielen Opfer jener Zeit gelehrt.

Eigenschaftsirrtum und culpa in contrahendo unter dem Zivilgesetzbuch der DDR Jan Dirk Harke

I. Die gesetzliche Grundlage Mit der Ablösung des BGB durch das Zivilgesetzbuch (ZGB) der DDR gab es nicht nur eine gesetzliche Grundlage für die Haftung wegen einer vorvertraglichen Pflicht, auf deren Einhaltung der Vertragspartner vertrauen durfte (§ 92 ZGB). Auch das Recht der Anfechtung erhielt eine neue Gestalt: Die Bestimmungen über die Anfechtung wegen Irrtums, Drohung und Täuschung wurden in § 70 ZGB zusammengefasst und zum Teil der allgemeinen Regeln über Verträge. Die Bestimmungen über die Ausübung des Anfechtungsrechts und seine Rechtsfolgen wurden synchronisiert: Anders als nach BGB galt gemäß § 70 Abs. 2 ZGB für alle Anfechtungsgründe gleichermaßen, dass die Anfechtung unverzüglich, spätestens innerhalb von vier Jahren nach Vertragsschluss, zu erklären ist. Widersprach der Vertragspartner, musste die Anfechtung innerhalb von zwei Monaten gerichtlich geltend gemacht werden. Ihre Rechtsfolgen sind nach § 70 Abs. 3 ZGB die Vertragsnichtigkeit sowie ein Aufwendungsersatzanspruch des Kontrahenten, der den Anfechtungsgrund weder kannte noch kennen musste. Auch das System der Anfechtungsgründe veränderte sich: Anders als im BGB berechtigt nach § 70 Abs. 1 S. 2 ZGB die arglistige Täuschung ebenso wie die widerrechtliche Drohung stets und ohne Rücksicht auf die Person des Täuschenden und die Kenntnis des Erklärungsgegners zur Anfechtung. Bei der Irrtumsanfechtung wurde zum einen das aus objektiven und subjektiven Merkmalen zusammengesetzte Kausalitätskriterium ersetzt, das § 119 Abs. 1 BGB in die Frage kleidet, ob die Erklärung bei Kenntnis der Sachlage und verständiger Würdigung des Falles nicht abgegeben worden wäre. An ihre Stelle trat in § 70 Abs. 1 S. 1 ZGB die rein subjektive Voraussetzung, dass der Vertragspartner seine Erklärung in Kenntnis der Sachlage und unter Berücksichtigung aller Umstände nicht abgegeben hätte. Zum anderen finden weder der Erklärungsirrtum des § 119 Abs. 1 BGB noch der in § 119 Abs. 2 BGB genannte Irrtum über verkehrswesentliche Eigenschaften der Person oder Sache Erwähnung. § 70 Abs. 1 S. 1 ZGB beschränkt die Anfechtungsgründe auf die Fehlvorstellung über den Inhalt der Erklärung und deren fehlerhafte Über-

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mittlung. Während man sich den Erklärungsirrtum, also einen mechanischen Fehler in der Äußerung der rechtsgeschäftlichen Vorstellung, ohne weiteres im weiteren Begriff des Inhaltsirrtums enthalten denken kann, lässt die Regelung des ZGB für die Vertragsanfechtung wegen eines Eigenschaftsirrtums, wie sie nach herkömmlicher Ansicht zum BGB möglich war und ist, keinen Raum. Auf den Irrtum über den Erklärungsinhalt und einen Übermittlungsfehler war schon die Regelung des § 176 im Entwurf des ZGB vom 15. Oktober 1965 beschränkt. 1 Die als Vorlage für die Beratung der ZGB-Ministerratskommission beigefügte Begründung widmete sich aber vor allem den geplanten Vorschriften über die Ausübung des Anfechtungsrechts, die einer beschleunigten Entscheidung über Geltung oder Unwirksamkeit des Vertrags dienen sollten. Zu den Anfechtungsgründen enthielt die Begründung nur die lapidare Aussage, dass allein „wesentliche Umstände“ berücksichtigt würden. 2 Zum Verzicht auf die Erwähnung des Eigenschaftsirrtums mag die nicht unberechtigte Kritik beigetragen haben, welche die sozialistische Rechtslehre zuvor am herkömmlichen Begriff der wesentlichen Eigenschaft geübt hatte. Im Zivilrechtslehrbuch des Deutschen Instituts für Rechtswissenschaft von 1955 wurde ihm nicht nur vorgehalten, zu unbestimmt und damit sogar zugänglich für die faschistische Ideologie zu sein. 3 Im Bezug der wesentlichen Eigenschaften auf die Wertschätzung eines Objekts, wie ihn die herrschende Meinung zum BGB herstellte, erkannte man vor allem die Interessen „bestimmter Kräftegruppen der Bourgeoisie“, die sich an der „Erzeugung von Mehrwert und seiner Aneignung in Form von Profit, Zins und Rente“ orientierte. 4 Darin liegt ein im Kern richtiger Vorwurf an das herkömmliche Verständnis der wesentlichen Eigenschaft im Sinne des BGB. Ist dieser nicht Irrtum über die Sollbeschaffenheit des Geschäftsobjekts und statt auf den Geschäftsinhalt auf den tatsächlichen Zustand eines Gegenstands bezogen, bedarf es zur Ausfüllung des Merkmals der Verkehrswesentlichkeit allgemeingültiger Maßstäbe. Die lassen sich, wenn auch nicht völlig willkürlich, so doch allenfalls durch Orientierung am Normalfall und dann mit Hilfe der Unterstellung gewinnen, dass ein Rechtsgeschäft der Gewinnerzielung oder Kostenminimierung gilt. Die Stilisierung dieses Erfahrungssatzes zum Prinzip für alle Rechtsgeschäfte ist in der Tat nicht frei von Willkür, einer Aussage der allgemeinen Rechtsgeschäftslehre jedenfalls unangemessen.

___________ 1

Vgl. Eckert, J. / Hattenhauer, H. (Hrsg.), Das Zivilgesetzbuch der DDR, 1995, S. 367. 2 Vgl. Eckert / Hattenhauer (Hrsg.) (Fn. 1), S. 641. 3 Dornberger / Kleine / Klinger / Posch, Das Zivilrecht, Allg. Teil, 1955, S. 319. 4 A. a .O. (Fn. 3).

Eigenschaftsirrtum und culpa in contrahendo

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Lag der Irrtumsregelung des ZGB diese Erkenntnis zugrunde, hätte der Eigenschaftsirrtum in Praxis und Dogmatik des neuen Vertragsrechts eigentlich nur noch als Irrtum über den normativen Vertragsinhalt, also als Fehlvorstellung über die Sollbeschaffenheit des Geschäftsgegenstands, begegnen dürfen. Diese auch für das BGB richtige Auffassung hätte in der Konzentration auf den Irrtum über Geschäftsinhalt auch adäquaten Ausdruck gefunden. 5 Tatsächlich haben Rechtsprechung und Lehre zum ZGB aber den hergebrachten Begriff des Eigenschaftsirrtums als Fehlvorstellung über die tatsächliche Beschaffenheit des Vertragsgegenstands fortgeführt und diese Irrtumsart, verknüpft mit der Verletzung vorvertraglicher Pflichten, nachgerade contra legem als Anwendungsfall der gesetzliche Anfechtungsregelung ausgegeben.

II. Judikatur und Lehre 1. Anfängliche Kontinuität beim Übergang von BGB zu ZGB Schon in einem Einführungsaufsatz über das „sozialistische Kaufrecht“ des ZGB von 1976 forderte Kreutzer, dem Irrtum über den Inhalt der Erklärung den Irrtum über Eigenschaften gleichzusetzen, wenn sie für den Erklärenden so bedeutungsvoll sind, dass er den Vertrag bei Kenntnis der Sachlage nicht abgeschlossen hätte. 6 Grund für die Erstreckung des Anwendungsbereichs von § 70 ZGB sollte sein, dass die Anfechtung für einen Käufer der leichtere Weg zur Preisrückzahlung war. Zu diesem Ziel gelangte er auch über die kaufrechtlichen Garantieansprüche, die der Käufer einer mangelhaften Sache gegen den Verkäufer hatte. Dieser Weg war aber umständlicher, weil die Rückabwicklung des Kaufs gemäß § 153 ZGB ein Fehlschlagen der Nacherfüllung voraussetzt. Konstruktiv wollte Kreutzer die Einbeziehung des Eigenschaftsirrtums nicht im Wege der Analogie, sondern durch ein weites Verständnis des Begriffs: „Irrtum über den Inhalt der Erklärung“ erreichen. Dessen umfassende Bedeutung sollte sich gerade daraus ergeben, dass der Irrtum über wesentliche Eigenschaften im ZGB keine Erwähnung mehr findet. 7 Dem so etablierten Eigenschaftsirrtum ordnete Kreutzer sogar den Fall einer fehlerhaften Preisvereinbarung zu. § 62 Abs. 1 ZGB band Verträge an die gesetzlichen Preisvorschriften. Nach §§ 62 Abs. 2, 68 Abs. 2 S. 2 ZGB kam ein ___________ 5 Die Ansicht von Westen, K. / Schleider, J., Zivilrecht im Systemvergleich, 1984, S. 237 f., das ZGB wolle alle dem BGB bekannten Irrtumsformen erfassen, ist daher zumindest bei einem herkömmlichen Verständnis des Begriffs der verkehrswesentlichen Eigenschaft unrichtig. Vorsichtiger als Westen und Schleider äußert sich Drobnig, U., in: Zieger, G. / Westen, K. (Hrsg.), Das Zivilrecht in beiden deutschen Staaten, 1990, S. 49. 6 Kreutzer, C. J., Sozialistisches Kaufrecht, in: Neue Justiz (NJ) 1976, S. 296 (297). 7 Kreutzer (Fn. 6), S. 297.

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Vertrag stets nur zu dem Preis zustande, der in den gesetzlichen Preisvorschriften bestimmt war. Hatten sich die Parteien auf einen höheren Preis geeinigt, erlaubten §§ 68 Abs. 2, 69 Abs. 1 ZGB die Rückforderung des überschießenden Teils. Der umgekehrte Fall, in dem ein zu niedriger Preis vereinbart wurde, war im ZGB nicht geregelt. Bei der Entscheidung darüber, ob der Verkäufer zur Nachforderung berechtigt war, sollte nach Kreutzers Ansicht eine Abwägung zwischen den Interessen der beiden Vertragsparteien stattfinden. Besonders ins Gewicht fallen sollte hier, dass beim Kauf der Preis wesentliche Eigenschaft der Ware und daher tauglicher Gegenstand eines erheblichen Irrtums nach § 70 Abs. 1 ZGB sei. 8 Mit seiner Forderung nach Kontinuität in der Anerkennung des Eigenschaftsirrtums teilte Kreutzer die Haltung der Gerichte. Deutlich wird dies an einem Urteil des Stadtgerichts Berlin vom 21. Dezember 1976. 9 Es gilt dem Streit über einen Wohnungstauschvertrag, bei dem die Parteien jeweils in das Wohnraummietverhältnis ihres Vertragspartners eintraten (§ 126 Abs. 3 ZGB). Dieser Vertrag litt im Streitfall nach Ansicht des auf Erfüllung in Anspruch genommenen Ehepaars nicht nur unter einem Verstoß gegen das Schriftformgebot des § 126 Abs. 2 S. 1 ZGB, sondern auch an einem Willensmangel. Zur Begründung der deshalb erklärten Anfechtung beriefen sich die Beklagten auf einen übereilten Vertragsschluss. Ihn ließ das Stadtgericht jedoch nicht als Anfechtungsgrund gelten, weil die bloße Übereilung keinen Widerspruch zwischen Willen und Erklärung bewirke. Das Gericht beschäftigt sich jedoch auch mit dem weiteren Vorbringen der Beklagten, die eingetauschte Wohnung der Kläger liege in der Einflugschneise eines Flughafens und zu weit von der Arbeitsstelle eines der beiden Beklagten entfernt. Diesen Umständen versagte das Stadtgericht die Anerkennung als Anfechtungsgrund nicht schon deshalb, weil sie nicht die Erklärung selbst oder ihren Inhalt, sondern allenfalls die tatsächliche Beschaffenheit eines der Geschäftsgegenstände beträfen. Stattdessen hielt das Gericht für entscheidend, dass die von den Beklagten behaupteten Nachteile „in der einen oder anderen Weise mit vielen Wohnungen verbunden sein können“. Mit anderen Worten: Die Anfechtung war nicht deshalb erfolglos, weil sie auf einen Eigenschaftsirrtum gestützt war, sondern weil die maßgebliche Eigenschaft üblich und damit nicht wesentlich war.

___________ 8 9

Kreutzer (Fn. 6), S. 299 f. Stadtgericht Berlin vom 21.12.1976, NJ 1977, 249.

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2. Die Ausgangsentscheidung des Bezirksgerichts Gera von 1976 Bedeutender als die Entscheidung des Stadtgerichts war ein nur wenige Tage zuvor, am 9. Dezember 1976, ergangener Beschluss des Bezirksgerichts (BG) Gera. 10 Er sollte die Entwicklung des Irrtumsrechts nachhaltig prägen. Denn in ihm wurde die Anfechtung wegen Eigenschaftsirrtums nicht nur zugelassen, sondern auch mit einem Grund versehen, der aus den Eigenheiten des ZGB gewonnen war. Gegenstand der Entscheidung war ein Kaufvertrag zwischen einem Handelsbetrieb und einem Kunden über ein Kassettentonbandgerät, das auf die Betätigung der Pausentaste (Schnellstopp) nur mit einer Verzögerung von einer Sekunde reagierte. Ob hierin ein Mangel der Kaufsache zu sehen war, ließ das Bezirksgericht offen. Dem Antrag des Kunden auf Rückzahlung des Kaufpreises gegen Rückgabe des Tonbandgeräts gab es wegen eines Anspruchs aus ungerechtfertigter Bereicherung nach § 69 Abs. 1 ZGB und deshalb statt, weil der Vertrag durch die Anfechtung des Kunden rückwirkend nichtig geworden sei. Anfechtungsgrund sei ein Irrtum des Kunden über den Inhalt seiner Erklärung gewesen, den das Gericht in der Fehlvorstellung über die beanstandete Eigenschaft des gekauften Geräts erkannte. Dass dieser Eigenschaftsirrtum beachtlich war, hielt das Bezirksgericht überhaupt nur insoweit für begründungsbedürftig, als es nach dem Grund der Fehlvorstellung suchte: Das Recht zur Anfechtung bestand nach Ansicht des Gerichts „deshalb“, weil der Handelsbetrieb im Streitfall die ihm obliegende Informationsund Beratungspflicht verletzt hatte. Nach § 137 Abs. 1 ZGB muss der Verkäufer den Käufer vor Vertragsschluss sachkundig über Gebrauch, Bedienung und Behandlung der Kaufsache unterrichten und diese, wenn sie ein technisches Konsumgut ist, soweit wie möglich vorführen. Weil der Handelsbetrieb den Kunden in diesem Fall nicht über das Verzögerungsverhalten des Geräts unterrichtet hatte, hielt das Bezirksgericht die Beratung durch den Verkäufer wenn auch nicht für falsch oder sachwidrig, so doch für unvollständig. Außerdem habe der Verkäufer seine Vorführpflicht verletzt, indem er es unterlassen habe, bei der Demonstration des Geräts auch die verzögerte Pausenfunktion zu betätigen. Diese Pflichtverletzungen trugen nach Ansicht des Bezirksgerichts die erfolgreiche Anfechtung des Kaufvertrags durch den Kunden.

3. Der Eigenschaftsirrtum über den Preis Weniger ausführlich, aber von derselben ratio getragen ist ein Urteil des Bezirksgerichts Suhl vom 31. Dezember 1978. 11 Im zugrunde liegenden Fall hatten die Parteien beim Kauf einer Schlafzimmereinrichtung einen Preis verein___________ 10 11

BG Gera vom 09.12.1976, NJ 1977, 313. BG Suhl vom 31.03.1978, NJ 1978, 505.

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bart, der unter dem gesetzlichen lag. Das Gericht hielt den vom klagenden Verkäufer erhobenen Nachforderungsanspruch für begründet. Der vom beklagten Käufer erklärten Anfechtung sprach es die Wirkung allerdings nur wegen Versäumung der Anfechtungsfrist ab. Dass ein Anfechtungsgrund vorlag, stand für das Bezirksgericht außer Frage. Zum einen falle dem klagenden Verkäufer nämlich eine vorvertragliche Pflichtverletzung zur Last, weil er den Preis falsch berechnet habe. Zum anderen sei der Preis eine wesentliche Eigenschaft des Schlafzimmers, der Käufer bei hinreichender Kenntnis der Sach- und Rechtslage nicht zu dessen Kauf bereit gewesen. 12

4. Die Entwicklung zum Grundsatz Dass die Verletzung einer vorvertraglichen Informations- und Beratungspflicht ein Anfechtungsrecht des Kontrahenten nach § 70 Abs. 1 ZGB zeitigt, wurde in der Folgezeit zum festen Bestandteil wissenschaftlicher oder richterlicher Ausführungen. 1981 erschien die Aussage in der Stellungnahme eines Abteilungsleiters im Ministerium für Handel und Versorgung, 13 1982 im Bericht zweier VEB-Justiziare über die Rechtspflicht des Einzelhandels zur Kundeninformation und -beratung. 14 Das Bezirksgericht Leipzig sprach in einem Urteil vom 26. März 1987 15 unter Hinweis auf die Entscheidung des Bezirksgerichts Gera schon von dem „Grundsatz, daß mangelhafte Information und Beratung durch den Verkäufer, die beim Käufer zu einem Irrtum über die Eigenschaften der von ihm gekauften Ware führt, die begründete Anfechtung des Kaufvertrags nach sich zieht“.

Dem erstinstanzlich zuständigen Kreisgericht bescheinigt das Bezirksgericht Leipzig daher eine richtige Konzentration der Sachverhaltsaufklärung auf die „Prüfung der Verletzung kaufrechtlicher Pflichten, die zur Anfechtung eines Kaufvertrags gemäß § 70 Abs. 1 ZGB berechtigen“ könne. Diese Prüfung fiel im konkreten Fall positiv aus, weil das beklagte Warenhaus den klagenden Kunden nicht darüber unterrichtet hatte, dass die verkauften Dreiwegboxen nicht zu dem auf Zweiwegboxen angelegten HiFi-Steuergerät des Kunden passten. Ob diese Boxen einen Sachmangel hatten, ließ das Gericht ausdrücklich dahinstehen. Da der Käufer Boxen verlangt habe, die sei___________ 12

Ebenso für die fehlerhafte Berechnung von Preisen bei nicht mehr rückgängig zu machenden Leistungen: John, W., Preisnachforderung bei nicht materialisierbaren Leistungen, in: NJ 1984, S. 278. 13 Teige, H.-W., Anforderungen an die Information und Beratung der Käufer, in: NJ 1981, S. 470. 14 Fahlen, B. / Jaap, H., Information und Beratung des Kunden – Rechtspflicht des Einzelhandels, in: NJ 1982, S. 557. 15 BG Leipzig vom 26.03.1987, NJ 1988, 472.

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nem Steuergerät entsprachen, habe die Verkäuferin pflichtwidrig nicht dem Wunsch auf Komplettierung seiner vorhandenen Anlage entsprochen. Dass dieser Wunsch mangels Vorrätigkeit von Zweiwegboxen zeitweise unerfüllbar war, spielte für das Bezirksgericht keine Rolle. Nach seiner Ansicht war die Informations- und Beratungspflicht nicht nur darauf ausgerichtet, den Käufer bei der richtigen Wahl des Kaufgegenstands zu unterstützen, sondern zielte auch darauf ab, ihm eine Abstandnahme von dem geplanten Geschäft zu ermöglichen. Zur Vervollständigung der Anfechtungsvoraussetzungen genügte dem Bezirksgericht nur noch die Feststellung, der klagende Kunde hätte in Kenntnis der Sachlage und unter Berücksichtigung aller Umstände den streitgegenständlichen Kaufvertrag nicht abgeschlossen.

5. Kritik und Antikritik Kritisiert wurde der Schluss von der Verletzung vorvertraglicher Pflichten auf die Zuständigkeit der Anfechtung lediglich in einem Aufsatz von Klinkert aus dem Jahre 1984. 16 Darin findet sich die interessante Feststellung, dass eine vorvertragliche Pflichtverletzung allein eine Schadensersatzverpflichtung wegen culpa in contrahendo nach § 92 Abs. 2 ZGB, für sich genommen, aber kein Anfechtungsrecht begründen könne. Auch der Umstand, dass ein Kontrahent den Vertrag bei Kenntnis der Sachlage und Berücksichtigung aller Umstände nicht abgeschlossen hätte, war nach Klinkerts Ansicht kein selbständiger Anfechtungsgrund, sondern nur ein zusätzliches Tatbestandselement, das zu den beiden anerkannten Irrtumsformen: Erklärungs- und Inhaltsirrtum, hinzukommen müsse. Diese bemerkenswerten Erwägungen versteckte Klinkert freilich in einer Auseinandersetzung mit dem Grundsatz ‚lex specialis derogat legi generali’ Diesen hält Klinkert in den Fällen für einschlägig, in denen einem Käufer sowohl Garantieansprüche wegen Sachmangels als auch das Anfechtungsrecht zustehen können. Die gesetzlichen Bestimmungen für Qualitätsverletzungen bildeten ein in sich geschlossenes System, das insbesondere, was die zeitlichen Grenzen der Rechtsverfolgung angehe, nicht über das Irrtumsrecht korrigiert werden könne, falls nicht eine arglistige Täuschung vorgekommen sei. Da eine solche im Ausgangsfall des Bezirksgerichts Gera nicht feststellt wurde, sei auch dessen Entscheidung falsch. Dass Klinkerts Erkenntnis des mangelnden Zusammenhangs von vorvertraglicher Pflichtverletzung und Anfechtung kein Erfolg beschieden war, vom Bezirksgericht Leipzig in der Entscheidung aus dem Jahre 1988 sogar völlig igno___________ 16 Klinkert, J., Das Verhältnis der Regelungen über die Vertragsanfechtung zu denen über Garantieansprüche im ZGB, in: NJ 1984, S. 150.

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riert wurde, liegt nicht nur an der Einbettung in die Darstellung der Spezialitätsfrage. Klinkerts Auffassung erfuhr auch umgehend Widerspruch in einem Aufsatz von Kurzhals und Marko, 17 die zu Recht auf einen Fehler in Klinkerts Wahrnehmung der Entscheidung des Bezirksgerichts Gera aufmerksam machten: Anders als Klinkert annahm, war dieses Gericht gar nicht von einem Sachmangel des verkauften Tonbandgeräts ausgegangen. Kurzhals und Marko warnten nun ganz generell vor einer Überforderung des Gewährleistungsrechts und mahnten zur Zurückhaltung bei der Annahme von Sachmängeln, weil das Warenangebot nicht nur im Preis, sondern auch in der korrespondierenden Qualität differenziert sei. Gerade hierauf richte sich die Informations- und Beratungspflicht des Verkäufers. Werde nur sie verletzt, ohne dass ein Sachmangel vorliege, sei die „notwendige und richtige Position“, dass dem Käufer das Anfechtungsrecht zustehe.

6. Die Haltung des Obersten Gerichts Von Klinkerts Thesen konnte sich in der Folgezeit denn auch nur der auch von Kurzhals und Marko nicht angegriffene 18 Satz von der Spezialität der kaufrechtlichen Garantieansprüche durchsetzen. Er wurde 1987 zur tragenden Erwägung einer Entscheidung des Obersten Gerichts der DDR. Dieses hatte schon 1980 den Irrtum über einen zu niedrig angegebenen Preis als Anfechtungsgrund anerkannt, sich einer Einordnung dieser Fehlvorstellung aber enthalten. 19 1983 hatte es den Irrtum über eine Eigenschaft des Geschäftsgegenstands, die für den Vertragszweck wesentlich ist, als Irrtum über den Erklärungsinhalt gewertet und so die Anfechtung eines Tauschvertrags über zwei Pkw anerkannt, deren einer nur aus gebrauchten statt, wie angenommen, aus neuen Teilen bestanden hatte. 20 Das Oberste Gericht hatte sich hierbei mit einem Hinweis auf das von Göhring und Posch 1981 herausgegebene Zivilrechtslehrbuch begnügt. Darin fand sich der vom Obersten Gericht übernommene Satz über die Beachtlichkeit des Eigenschaftsirrtums und zu seinem Beleg ein Verweis auf die beiden Entscheidungen der Bezirksgerichte Gera und Suhl von 1976 und 1978. 21 Die Einschränkung, dass ein Irrtum über wesentliche Eigenschaften des Geschäftsgegenstands keineswegs stets zur Anfechtung ___________ 17 Zum Verhältnis von Garantieanspruch und Vertragsanfechtung beim Kauf: Kurzhals, P. / Marko, A., Zum Verhältnis von Garantieanspruch und Vertragsanfechtung beim Kauf, in: NJ 1985, S. 69. 18 Vgl. Kurzhals/Marko (Fn. 17); Eckert / Hattenhauer (Hrsg.) (Fn. 1). 19 Urteil vom 24.06.1980 – 2 OZK 14/80. 20 Urteil vom 15.04.1983 – 2 OZK 8/83. 21 Göhring, J. / Posch, M. (Hrsg.), Zivilrecht. Lehrbuch. Teil 1, 1981, S. 217 und Fn. 47.

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berechtige, machte das Oberste Gericht in einem Urteil vom 15. Oktober 1987. 22 Darin setzte es sich mit der Anfechtungserklärung auseinander, die der Käufer eines mangelhaften Sportbootes abgab. Hätte sie Wirksamkeit erlangt, wäre im konkreten Fall eine Rückabwicklung des Kaufvertrags möglich geworden, die mithilfe der kaufrechtlichen Garantieansprüche wegen Fristversäumnis nicht mehr hätte erreicht werden können. Das Oberste Gericht wollte der Anfechtungsregelung eine so weitreichende Wirkung nicht zukommen lassen und übernahm Klinkerts Ansicht, die Rechtsfolgen nicht qualitätsgerechter Leistungen hätten in den Bestimmungen über die kaufrechtlichen Garantierechte eine umfassende und abschließende Regelung erfahren. Eine Anfechtung wegen arglistiger Täuschung hielt das Oberste Gericht dagegen neben den Garantieansprüchen für zulässig. Auf die Frage, wie sich vorvertragliche Pflichtverletzung und Anfechtung zueinander verhalten, musste das Gericht nicht eingehen.

III. Deutungsversuch 1. Tradition des BGB oder Anlehnung an das GIW? Sucht man nach dem Grund für die gesetzwidrige Verknüpfung von vorvertraglichem Pflichtverstoß und Anfechtungsrecht wegen Eigenschaftsirrtums, bieten sich zunächst zwei Erklärungsmodelle an: Die Beibehaltung des Eigenschaftsirrtums als Anfechtungsgrund könnte einerseits der Verbundenheit zur Rechtslage vor Inkrafttreten des ZGB geschuldet sein, als der Irrtum über verkehrswesentliche Eigenschaften ohne Weiteres zur Rückabwicklung führte und auch die Wandelung noch nicht von einem Fehlschlagen der Nacherfüllung abhängig war. In diese Richtung weisen die zitierten Bemerkungen Kreutzers in seinem Einführungsaufsatz zum Kaufrecht des ZGB. 23 Andererseits könnte die Entwicklung in Rechtsprechung und Lehre zum ZGB ein Vorbild in den Anfechtungsvorschriften des Gesetzes über internationale Wirtschaftsverträge (GIW) haben, das nur unwesentlich jünger als das ZGB war. Anders als das für die Beziehungen zwischen Betrieben der DDR zuständige Vertragsgesetz 24 kennt das GIW eine Anfechtung wegen Irrtums und lässt diese sogar in größerem Umfang zu als das ZGB: Nach § 13 Abs. 1 bis 3 GIW berechtigte außer dem Irrtum über den Inhalt der Erklärung und einem Übermittlungsfehler jede „Unkenntnis der Sachlage“, und zwar insbeson___________ 22

Az. 1 OZK 5/87. s. oben unter II.1. 24 Vgl. Walter, G. (Hrsg.), Kommentar zum VertragsG, 2. Aufl. 1989, § 28 Anm. 1, S. 105. 23

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dere eine fehlerhafte Vorstellung von „wesentlichen Eigenschaften von Personen oder Sachen“ zur Anfechtung. Zwar war diese nach dem Gesetzeswortlaut stets davon abhängig, dass der Erklärende bei der Abgabe seiner Erklärung die handelsübliche Sorgfalt eingehalten hat. Diese Voraussetzung sollte nach Ansicht der Rechtslehre jedoch schon dann erfüllt sein, wenn im betroffenen Betrieb die in vergleichbaren Einrichtungen üblichen Vorkehrungen gegen einen Irrtum getroffen worden waren. 25 Beide Deutungen: die Erklärung aus der Tradition des BGB und die Ableitung aus dem Vorbild des GIW, werden dem beobachteten Phänomen in der Handhabung des ZGB nicht völlig gerecht. Sie vermögen zwar verständlich zu machen, warum dem Wortlaut des ZGB zuwider der Eigenschaftsirrtum, und zwar als Irrtum über die tatsächlichen Eigenschaften des Geschäftsgegenstands, beibehalten wurde. Sie lassen aber unerklärt, wieso die Anerkennung dieses Irrtums mit einer vorvertraglichen Pflichtverletzung des Vertragspartners verknüpft wurde. Diese war und ist nicht nur nach dem Recht des BGB unerheblich. Auch für die Anfechtung nach dem GIW spielte sie keine Rolle. Für die Verbindung von vorvertraglicher Pflichtverletzung und Anfechtung gibt es allerdings eine systemimmanente Erklärung aus den Grundmustern des sozialistischen Zivilrechts. Diese sind in beiden Anwendungsfällen der Kombination von Pflichtverletzung und Anfechtung wirksam, sowohl bei der fehlerhaften Preisberechnung als auch bei Abweichungen der Kaufsache von den Erwartungen des Käufers.

2. Der vorgegebene Preis Dass der Preis einer Sache nicht zum Gegenstand eines regelrechten Irrtums über den Inhalt der Erklärung im Sinne von § 70 Abs. 1 S. 1 ZGB taugt, liegt am zwingenden Charakter der Preisvorschriften. Kommt ein Vertrag nicht zu dem von den Parteien vereinbarten, sondern gemäß § 62 ZGB zu dem festgesetzten Preis zustande, kann dieser auch kein Element der Willenserklärung sein. Diese beschränkt sich auf die Auswahl eines Geschäftsgegenstands, mit dessen Bestimmung auch der Preis vorgegeben ist. Er kann daher, wie von Rechtsprechung und Lehre zum ZGB richtig erkannt, allenfalls eine Eigenschaft der vereinbarten Gegenleistung und auch bloß als solche Gegenstand eines relevanten Irrtums sein. Soll diese Eigenschaft nicht schon für sich, sondern nur in Verbindung mit einer Pflichtverletzung des Kontrahenten Gegenstand eines wesentlichen Irr___________ 25 Vgl. Maskow, D. / Wagner, H. (Hrsg.), Kommentar zum GIW, 2. Aufl. 1983, § 13 Anm. 5, S. 96.

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tums sein, hat dies den einfachen Zweck, einen offenen Konflikt von Preisvorgabe und Privatautonomie zu vermeiden. Der Anwender des ZGB, der seine Entscheidung auf die Pflichtverletzung des Vertragspartners stützt, umgeht die problematische Aussage, dass der staatlich festgesetzte Preis ungewollt ist. Indem er zum ausschlaggebenden Moment für die Anfechtung des Vertrags die fehlerhafte Preisberechnung durch die andere Seite macht, lässt er einerseits eine Rückabwicklung wegen fehlerhafter Preisvorstellung zu, entzieht die staatliche Preisvorgabe aber andererseits der Selbstbestimmung, die auch im sozialistischen Zivilrecht und gerade durch die Anfechtungsregelung zur Geltung gelangen sollte.

3. Die Instrumentalisierung des Sachmängelrechts für die „Standardisierung“ Auf die richtige Spur für die Deutung der übrigen Entscheidungen führt der zitierte Aufsatz von Kurzhals und Marko. 26 Grundlage ihrer Kritik an Klinkert, der die gesetzliche Rollenverteilung zwischen vorvertraglicher Pflichtverletzung und Irrtumsanfechtung klar erkannt hatte, war die Einsicht in die beschränkte Zuständigkeit des Sachmängelrechts. Kurzhals und Marko machen nicht nur darauf aufmerksam, dass im Fall des Bezirksgerichts Gera kein Sachmangel festgestellt wurde. Sie wollen in der Anerkennung von Garantieansprüchen des Käufers aufgrund von Sachmängeln generell Zurückhaltung üben. Diese Zurückhaltung ist bei einem genauen Blick auf die einschlägigen Vorschriften auch durchaus angebracht: § 61 Abs. 1 ZGB macht zum Maßstab der Qualität einer Leistung die staatlichen Gütevorschriften und erklärt sie und die staatlichen Sicherheits- und Schutzvorschriften auch dann zum Vertragsinhalt, wenn ihre Geltung nicht vereinbart wurde. Abs. 2 derselben Vorschrift verlangt sogar eine besondere Parteivereinbarung für den Fall, dass die Leistung ausnahmsweise von den staatlichen Gütevorschriften abweichen soll. Die Orientierung an den offiziellen Standards prägt auch die Bestimmungen über Garantieansprüche des Käufers bei Sachmängeln: Nach § 148 Abs. 1 S. 2 ZGB erstreckt sich die vom Verkäufer zu übernehmende Garantie in erster Linie auf die Einhaltung der staatlichen Güte-, Sicherheits- und Schutzvorschriften sowie auf die vom Hersteller zugesicherte oder die Beschaffenheit, die für den vorgesehenen Verwendungszweck vorgesehen ist. Dass damit nicht die von den Parteien, sondern eine der Kaufsache allgemein bestimmte Verwendung gemeint ist, zeigt ein Blick auf Abs. 2 der Vorschrift, wo als Gegenstände der Garantie auch die vom Verkäufer zugesicherten Eigenschaften und die Tauglichkeit für den ver___________ 26

s. oben unter II.5.

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Jan Dirk Harke

einbarten, besonderen Verwendungszweck genannt werden. Diese Umstände, die nach früherer westdeutscher Terminologie dem Modell des „subjektiven Fehlerbegriffs“ zuzuordnen sind, treten nach dem Gesetzesaufbau des ZGB eindeutig hinter die „objektiven“, nämlich allgemeingültigen Qualitätsmaßstäbe zurück. Diese gesetzliche Aussage ist nicht zufällig, jedenfalls nicht als solche verstanden worden. Die Vorschriften über die Leistungsqualität verstand das Schrifttum zum ZGB vielmehr als „Glied in der Kette der Verantwortung der Wirtschaftseinheiten für die Versorgung der Bevölkerung“ 27 und als Unterstützung für die „allgemeine Orientierung auf die Herstellung und den Verkauf von qualitätsgerechten Waren“ 28 . Da die Produktion und der Vertrieb einer Sache minderer Qualität angeblich eine Vergeudung von gesellschaftlichem Arbeitsvermögen bedeutete, wurden Störungen in der Qualität einer Kaufsache als „Störungen im Prozess der Steigerung des Lebensniveaus und darüber hinaus in der Entwicklung der sozialistischen Lebensweise“ verstanden. 29 Die Rechte des Vertragspartners wegen nicht qualitätsgerechter Leistung erschienen folgerichtig als Instrument im öffentlichen Interesse an einer hochwertigen Produktion. 30 Diese Aufgabe können sie aber nur erfüllen, wenn ihre Maßstäbe dieselben wie die der Produktionsvorgaben sind. Deren Standards müssen denn auch das entscheidende Kriterium sein, das über die Zuständigkeit vertraglicher Rechtsbehelfe entscheidet. 31 Sind die vertraglichen Qualitätsanforderungen mit den staatlichen für die Produktion einmal synchronisiert, tut sich der Rechtsanwender mit der Feststellung eines Mangels schwer. Sein Urteil hat nicht nur stets das Potenzial, zu einem solchen über die gesamte Produktion zu werden. Auch die Berücksichtigung eines individuellen Erwartungshorizonts des Vertragspartners fällt bei der Konzentration auf allgemein gültige Standards nicht leicht. Viel einfacher als durch die Anwendung des Sachmängelrechts lässt sich den Erwartungen des einzelnen Käufers durch die Feststellung eines Informations- und Beratungsfehlers Rechnung tragen, dessen Annahme die umfangreichen vorvertraglichen Unterrichtungs- und Betreuungspflichten des ZGB erleichtern. Um zu dem bei Sachmängeln üblichen Ergebnis einer Rückabwicklung des Vertrags zu kommen, muss man dann nur noch den Tatbestand der vorvertraglichen Pflichtverletzung mit der Rechtsfolge der Anfechtung verbinden. Anlass ___________ 27

Göhring / Posch (Hrsg.) (Fn. 21), S. 224. Göhring / Posch (Hrsg.) (Fn. 21), S. 379. 29 Göhring / Posch (Hrsg.) (Fn. 21), S. 378. 30 So konsequent Göhring / Posch (Fn. 21) S. 224. 31 Göhring / Posch (Hrsg.) (Fn. 21), S. 379, ferner Schulze, H.-D., Die Wirkung von Standards bei der Organisation von Rechtsbeziehungen in der Volkswirtschaft, in: NJ 1981, S. 300. 28

Eigenschaftsirrtum und culpa in contrahendo

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und oberflächliche Rechtfertigung hierfür bietet die beiden Instituten gemeinsame Frage, ob der irrende oder in die Irre geführte Kontrahent den Vertrag auch dann abgeschlossen hätte, wenn er über die Sachlage in vollem Umfang unterrichtet gewesen wäre. Das Resultat entspricht dem der Wandlung aufgrund eines Sachmangels, kommt aber ohne dessen Feststellung und die Entscheidung darüber aus, ob die staatlichen Standards für die Produktion, die auch das Zivilrecht prägen sollen, im Einzelfall wirklich maßgeblich und eingehalten sind. Die Kombination von vorvertraglicher Pflichtverletzung und Irrtumsanfechtung übernimmt die Funktion, die im Recht des BGB der Sachmängelhaftung aufgrund des subjektiven Fehlerbegriffs zukam und zukommt.

IV. Ergebnis Die Irrtumsregelung des ZGB, entstanden aus der Einsicht in die Unzulänglichkeiten der Vorschriften des BGB, ist in Rechtsprechung und Lehre verkehrt worden, um nicht in Konflikt mit Prinzipien des sozialistischen Zivilrechts zu geraten. Der Verzicht auf die Kodifikation des Eigenschaftsirrtums entsprang der Einsicht, dass die „wesentliche Eigenschaft“ kein sachgerechtes Kriterium für die Bestimmung eines relevanten Irrtums abgibt. Dass Judikatur und Wissenschaft zum ZGB die wesentliche Eigenschaft in Kombination mit einer vorvertraglichen Pflichtverletzung des Kontrahenten dennoch als Anfechtungsgrund anerkannt haben, beruht weder auf der Tradition des BGB noch auf einer Anlehnung an die Irrtumsregelung im GIW. Entscheidend sind zwei unterschiedliche Prinzipien des sozialistischen Zivilrechts, denen sich der Rechtsanwender in den beiden maßgeblichen Anwendungsfällen der Irrtumsanfechtung wegen Eigenschaftsirrtums gegenüber sieht: Lässt er die Anfechtung wegen unrichtiger Preisberechnung zu, misst er der Fehlvorstellung über den vorgegebenen Preis vertragshindernde Wirkung zu, vermeidet wegen der Anknüpfung an die Pflichtverletzung des Kontrahenten aber gerade die Aussage, der staatlich festgesetzte Preis sei ungewollt. Gestattet er dem Käufer einer nicht erwartungsgerechten Sache die Anfechtung, weil der Verkäufer ihn nicht ausreichend informiert und beraten hat, stellt er die Rechtsfolgen der Wandelung aufgrund eines Sachmangels her, ohne die Frage nach Geltung und Einhaltung der allgemein gültigen Standards stellen zu müssen, die Leitbild für das in den Dienst des Produktionsfortschritts gestellte Sachmängelrecht sind.

Grundlagenvertragsurteil – Revisited Eckart Klein

I. Erinnerung Das am 31. Juli 1973 verkündete einstimmige Urteil des Zweiten Senats 1 ist ein Produkt der rechtlichen und politischen Auseinandersetzungen um die mit Antritt der Regierung Brandt/Scheel ins Werk gesetzte „neue Ostpolitik“, die angesichts der gegebenen Verhältnisse notwendigerweise auch die Bestimmung des Verhältnisses der Bundesrepublik Deutschland zur DDR mit einschloss. 2 Bevor allerdings in dieser Richtung Ergebnisse zu erzielen waren, musste der Weg – soweit wie möglich – durch eine Verbesserung der Beziehungen der Bundesrepublik zur Sowjetunion (Moskauer Vertrag vom 12. August 1970) 3 und zur Volksrepublik Polen (Warschauer Vertrag vom 7. Dezember 1970) 4 geebnet werden, vor allem aber musste eine tragfähige Lösung des Problems gefunden sein, das einerseits die beiden deutschen Staaten unmittelbar betraf und das zugleich der wohl neuralgischste und gefährlichste Punkt in den Ost-West-Beziehungen war, nämlich die Berlin-Frage. 5 Wie schon die offizielle Bezeichnung des zu diesem Zweck am 3. September 1971 geschlossenen Abkommens – „Quadripartite Agreement“ – zeigt, waren die beiden deutschen Staaten hier nicht beteiligt, Deutsch war nicht einmal eine der offiziellen Vertragssprachen, sondern es lagen nur zwei teilweise nicht unproblematisch voneinander abweichende deutsche Übersetzungen vor. In Ausführung des Vier-Mächte-Abkommens hatten die zwei deutschen Staaten allerdings ein Abkommen über den Transitverkehr zwischen der Bundesrepublik Deutschland ___________ 1

BVerfGE 36, 1. Vgl. hierzu bereits die Regierungserklärung von Bundeskanzler Brandt am 28.10.1969: „Eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR durch die Bundesregierung kann nicht in Betracht kommen. Auch wenn zwei Staaten in Deutschland existieren, sind sie doch füreinander nicht Ausland; ihre Beziehungen zueinander können nur von besonderer Art sein“; Verhandlungen des Deutschen Bundestags, 6. WP, 28.10.1969, S. 21. 3 BGBl. 1972 II, S. 353. 4 BGBl. 1972 II, S. 361. 5 Vierseitiges Abkommen vom 03.09.1971; abgedruckt etwa in: Rauschning, D. (Hrsg.), Rechtsstellung Deutschlands, 1985, S. 83. 2

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Eckart Klein

und Berlin (West) auszuhandeln, das zusammen mit dem Vier-MächteAbkommen selbst in Kraft trat. 6 Wie sehr alle diese Verträge politisch zusammenhingen, macht das gemeinsame Datum ihres Inkrafttretens (3. Juni 1972) deutlich. Die Ostpolitik der Bundesregierung blieb eingebettet in die Weltpolitik. 7 Erst nach dem Inkrafttreten dieser das Verhältnis von Bundesrepublik Deutschland und DDR wesentlich mitbestimmenden Verträge konnten beide Staaten eine die Grundlagen ihrer Beziehungen betreffende vertragliche Regelung ernsthaft ins Auge fassen. 8 Der „Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik“ wurde am 21. Dezember 1972 unterzeichnet, das (bundesdeutsche) Vertragsgesetz wurde am 6. Juni 1973 vom Bundespräsidenten ausgefertigt und verkündet. 9 Schon am 29. Mai 1973 hatte die Bayerische Staatsregierung den Antrag gestellt, im Wege der abstrakten Normenkontrolle das Vertragsgesetz für mit dem Grundgesetz nicht vereinbar und daher für nichtig zu erklären. 10 Damit stand der Grundlagenvertrag als erstes wichtiges Teilstück der neuen Ostpolitik auf dem verfassungsrechtlichen Prüfstand, die Prüfung der so genannten Ostverträge (Moskau, Warschau, Prag) wurde im Verfassungsbeschwerdeverfahren erst später beantragt. 11 Das Verfahren trug bizarre Züge. Nicht nur wurde im zweiten Anlauf ein Richter des zuständigen Zweiten Senats wegen Besorgnis der Befangenheit von der weiteren Mitwirkung am Verfahren dispensiert 12 und damit die Zahl der ___________ 6 Abkommen zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik über den Transitverkehr von zivilen Personen und Gütern zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Berlin (West) vom 17.12.1971, Beilage zum BAnz Nr. 174 vom 15.09.1972, S. 7. 7 Link, W., in: Bracher, K. D. et al. (Hrsg.), Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Republik im Wandel 1969–1974. Die Ära Brandt, 1986, S. 198 ff., 219 f., 224 (233). Zur Einordnung des Grundlagenvertrags in die „neue Ostpolitik“ auch Ress, G., Die Rechtslage Deutschlands nach dem Grundlagenvertrag vom 21.12.1972, 1978, S. 1 ff. 8 Vorausgegangen war, gleichsam als Fingerübung und Beweis dafür, dass die neue deutschlandpolitische Akzentsetzung auch menschliche Erleichterungen herbeiführen könne, der Abschluss des Vertrags zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über Fragen des Verkehrs (Verkehrsvertrag) vom 26.05.1972 (in Kraft seit 17.10.1972); BGBl. 1972 II, S. 1450 ff. 9 BGBl. 1973 II, S. 423. 10 Abgedruckt in: Cieslar, E. / Hampel, J. / Zeitler, F.-Ch. (Hrsg.), Der Streit um den Grundvertrag. Eine Dokumentation, 1973, S. 110 ff.; Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hrsg.), Der Grundlagenvertrag vor dem Bundesverfassungsgericht, 1975, S. 74 ff. 11 Zum Moskauer und Warschauer Vertrag vgl. BVerfGE 40, 141; zum Vertrag mit der Tschechoslowakei (Prager Vertrag) vom 11.12.1973 vgl. BVerfGE 43, 203. 12 BVerfGE 35, 171 (Beschl. vom 29.05.1973); 35, 246 (Beschl. vom 16.06.1973).

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entscheidenden Richter reduziert. Vor allem setzte der politische Wille der Bundesregierung, den Vertrag so schnell wie möglich in Kraft treten zu lassen, das Bundesverfassungsgericht unter einen gänzlich inakzeptablen Zeitdruck. Schon zwei Tage nach der auf den 19. Juni 1973 festgesetzten mündlichen Verhandlung wurde der Vertrag durch Austausch der Ratifikationsurkunden in Kraft gesetzt. Das am 31. Juli 1973 verkündete Urteil traf somit auf eine bereits verfestigte völkerrechtliche Situation, welche die Bundesrepublik Deutschland, wäre das Bundesverfassungsgericht dem bayerischen Antrag gefolgt, in eine rechtlich höchst schwierige Lage gebracht hätte. Die offenkundige Verletzung der Pflicht zu einem die jeweilige Funktion respektierenden Umgang der Verfassungsorgane miteinander ist in der Literatur wohl ganz einhellig gerügt worden. 13 Auch das Bundesverfassungsgericht selbst hat dieses Verhalten deutlich kritisiert, 14 aber sich mit wenig überzeugenden Gründen nicht dazu verstehen können, den Anträgen der Bayerischen Staatsregierung vom 2. Mai und 13. Juni 1973 auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Ziel der Aussetzung des für das Inkrafttreten des Vertrags notwendigen Notenaustauschs zu entsprechen. 15 Es ist nahezu auszuschließen, dass eine um wenige Wochen verzögerte Ratifikation den außenpolitischen Schaden herbeigeführt hätte, den die Bundesregierung dem Gericht vor Augen stellte. Der Vorgang zeigt aber die strukturelle Schwäche der Verfassungsgerichtsbarkeit in außenpolitischen Fragen. Das Urteil vom 31. Juli 1973 erklärte das Gesetz zum Grundlagenvertrag in der sich aus den Entscheidungsgründen ergebenden Auslegung als mit dem Grundgesetz vereinbar. Die Prozessvertreter der Bundesregierung konnten aufatmen. „Mit dem Karlsruher Urteil läßt sich leben“ hieß es, 16 und ein Sprecher der Bundesregierung meinte, das Kabinett habe das Urteil „mit Genugtuung zur Kenntnis genommen“. 17 Noch fünf Jahre später meinte Kai Bahlmann, ein anderer damaliger Prozessvertreter der Bundesregierung, zufrieden, das Urteil habe die unveränderte Weitergeltung der Grundlage unseres Staatsverständnisses deutlich gemacht und damit zur Befriedung wesentlich beigetragen. 18 ___________ 13 Etwa Friesenhahn, E., Hüter der Verfassung?, in: ZRP 1973, S. 188 ff.; Mahnke, H. H., Der Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR, in: DA 1973, S. 1163 ff. (1165 ff.); Zippelius, K., Verfassungsgericht und Politik, in: JR 1973, S. 406 f. 14 BVerfGE 36, 1 (14 f.). 15 BVerfGE 35, 193; 35, 257. 16 Kriele, M., in: Die Zeit, Nr. 33 vom 10.08.1973, S. 4. 17 Die Äußerung R. v. Wechmars wird zitiert nach Blumenwitz, D., Fünf Jahre Grundvertragsurteil des Bundesverfassungsgerichts, in: Zieger, G. (Hrsg.), Fünf Jahre Grundvertragsurteil des Bundesverfassungsgerichts, 1979, S. 7. 18 Bahlmann, K., Fünf Jahre Grundvertragsurteil des Bundesverfassungsgerichts, in: Zieger (Fn. 17), S. 23 (26).

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Allerdings wurde aus dem Regierungslager auch schnell Missstimmung deutlich. Im sozialdemokratischen „Vorwärts“ vom 9. August 1973 – genüsslich zitiert vom „Neuen Deutschland“ am 16. August 1973 – hieß es: „Das politische Deutschlandbild, das dem Karlsruher Urteil als eine Art Raster zugrunde liegt, scheint vor allem durch zweierlei, was eng miteinander zusammenhängt, charakterisiert: erstens durch eine gewisse richterliche Weltfremdheit, an der ein Vierteljahrhundert ‚perniziöser Anämie‘ Deutschlands und des faktischen Verfalls des ‚Reiches‘ vorübergegangen zu sein scheint, als handle es sich bloß um einen temporären Feuilletonismus der Weltgeschichte und nicht um den bittersten, unwiderruflichen Kern; zweitens durch das Nachleben des BismarckDeutschlands im Selbstverständnis der Richter – ein Nachleben, das aller Ehren wert ist, aber mit der Zerstörung jener einstigen Realität durch den Nationalsozialismus ... in hoffnungslosem Widerspruch steht.“ 19 Dieser Kommentar einerseits, die Feststellung des Prozessvertreters Bahlmann andererseits – „Das Grundlagenvertragsurteil deckt sich in allen wesentlichen Beziehungen mit der Auffassung der Bundesregierung zur Zeit der Vertragsverhandlungen“ 20 – lassen ahnen, dass der Bundesregierung klar war, auf welch schmalem Grat sie ihre Politik gestaltete und dass sie in ihrer verfassungsrechtlichen Argumentation hinter ihren eigentlichen politischen Zielen zurückblieb. Das Festgenageltwerden der Bundesregierung auf die eigenen, zur Verteidigung der Ostpolitik vorgebrachten Verfassungsargumente konnten von der Bayerischen Staatsregierung und ihrem Prozessvertreter Dieter Blumenwitz durchaus als Sieg in der Sache angesehen werden, 21 und in dieser Richtung äußerte sich Blumenwitz auch fünf und zehn Jahre später. 22 In der Tat wurden die maßgeblichen deutschlandrechtlichen Erwägungen des Urteils in den Beschlüssen des Ersten Senats zu den Ostverträgen (1975) 23 und – mehr als ein Jahrzehnt später (1987) – im Beschluss des Zweiten Senats zu Fragen der gesamtdeutschen Staatsangehörigkeit wieder aufgegriffen und vor allem in der zuletzt genannten Entscheidung vertieft. 24 Die Erinnerung an den „Streit um den Grundvertrag“ und das ihn beendende Urteil mag in einer Schrift angemessen sein, die dem Gedächtnis an Dieter Blumenwitz gewidmet ist, dem der Verfasser über viele Jahre hinweg in dem gemeinsamen Bemühen um die Aufrechterhaltung deutschlandrechtlicher und ___________ 19

„Vorwärts“ vom 09.08.1973, S. 2. Bahlmann (Fn. 18), S. 36. 21 Erste Stellungnahme von Prof. Dr. Blumenwitz zum Urteil vom 31.07.1973 in: Der Streit um den Grundvertrag (Fn. 10), S. 309 ff. 22 Blumenwitz (Fn. 17), S. 7 ff.; Blumenwitz, D., Zehn Jahre Grundvertragsurteil des Bundesverfassungsgerichts, in: Zeitbühne, 1983, S. 32 f. 23 BVerfGE 40, 141 (157 ff.). 24 BVerfGE 77, 137 (149 ff.). 20

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-politischer Positionen verbunden war. 25 Dies gilt umso mehr, als das Urteil überwiegend – und zwar nicht nur erwartetermaßen in der DDR, 26 sondern auch in der bundesdeutschen Literatur – gerade seiner Grundaussagen wegen „unverhüllte Kritik“ erfahren hat. 27 Im Folgenden soll geprüft werden, ob und in welchem Umfang die geäußerte Kritik dieser Aussagen zum Fortbestand des Deutschen Reiches, zur Bedeutung des Wiedervereinigungsgebots und zu den sich hieraus ergebenden Konsequenzen für das Verhältnis zur DDR aus damaliger Sicht berechtigt war.

II. Rechtlicher Fortbestand des Reiches 1. Die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts und ihre Kritiker Wie aus dem Duktus seiner Argumentation klar erkennbar ist, legte das Bundesverfassungsgericht entscheidenden Wert darauf, dass das Grundgesetz davon ausgehe, dass das Deutsche Reich fortexistiert, nach wie vor Rechtsfähigkeit besitzt, allerdings als Gesamtstaat mangels Organisation, insbesondere mangels institutionalisierter Organe selbst nicht handlungsfähig ist. Im Grundgesetz sei „die Auffassung vom gesamtdeutschen Staatsvolk und der gesamtdeutschen Staatsgewalt ‚verankert‘“. 28 Offenbar waren für das Bundesverfassungsgericht zwei Argumente entscheidend dafür, dass es dem Grundgesetz dieses Vor- und Selbstverständnis abgewinnen konnte. Dies war zum einen die Vorstellung, dass die Bundesrepublik Deutschland als Rechtssubjekt, nicht in ihrer territorialen Dimension (insoweit gebe es nur Teilidentität), mit dem Deutschen Reich identisch, also eben gerade nicht (Rechts-)Nachfolger sei; denn mit der Errichtung der Bundesrepublik sei kein neuer Staat gegründet, sondern nur ein Teil Deutschlands neu organisiert worden. Aber auch die DDR gehöre zu Deutschland und könne daher im Verhältnis zur Bundesrepublik nicht als Ausland angesehen werden. 29 Zum anderen wurde die Verantwortung der vier Mächte für „Deutschland als Ganzes“ als Beleg für den Fortbestand des Reiches angeführt. 30 ___________ 25 Vor allem angesprochen ist die Zusammenarbeit in der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht der Kulturstiftung der Deutschen Vertriebenen. 26 Einen Überblick gibt Völkel, W., Zur Reaktion der DDR auf das Karlsruher Urteil zum Grundlagenvertrag, in: DA 1974, S. 140 ff. 27 Tomuschat, Ch., Auswärtige Gewalt und verfassungsgerichtliche Kontrolle, in: DÖV 1973, S. 801. 28 BVerfGE 36, 1 (15 f.). 29 BVerfGE 36, 1 (16 f.). 30 BVerfGE 36, 1 (16) mit zweifelhafter Anknüpfung an BVerfGE 1, 351 (362 f., 367).

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Beide Begründungen sind für sich und in ihrer Gesamtschau heftig kritisiert worden. Angesichts der Realität zweier deutscher Staaten sei es eine gefährliche Illusion zu glauben, „die kunstvoll mumifizierte Rechtsperson ‚Gesamtdeutschland‘ (Deutsches Reich) vermöge ihre schneewittchengleiche Existenz auch künftig fortzusetzen“; hierin liege eine „Flucht vor Geschichte und Wirklichkeit“. 31 Was nun das „Vier-Mächte-Argument“ angeht, wurden im Wesentlichen folgende Einwände erhoben. Die starke Abstützung der Deutschlandpolitik auf die Vier-Mächte-Rechte und -Verantwortlichkeiten werte diese in einer gefährlichen Weise auf, lasse sie zu bloßen Interventionsrechten werden, 32 ohne dass sie zugleich ihre Stützfunktion für den Fortbestand des Reiches erfüllen könnten; 33 denn das Objekt der Vier-Mächte-Rechte habe sich verunklart, gar verflüchtet, sich jedenfalls auf Berlin reduziert. Die in den Ostverträgen und auch in den Grundlagenvertrag eingebrachten Hinweise auf den Fortbestand der Vier-Mächte-Rechte seien nur insoweit von Belang, als aus der Situation nach Ende des Zweiten Weltkriegs folgende Fragen noch nicht einvernehmlich, also auch mit Zustimmung der Vier Mächte, geregelt worden seien. Mit Ausnahme der fortbestehenden Differenz über den Status von Berlin seien aber alle Fragen, einschließlich der deutschen Ostgrenzen, nunmehr durch die Verträge geregelt. 34 Im Übrigen könne „eine real nicht mehr vorhandene Rechtsperson“ ohnehin nicht mehr von den Vier-Mächte-Rechten am Leben gehalten werden. 35 Erheblicher Kritik war auch das Verständnis des Bundesverfassungsgerichts von der Identität der Bundesrepublik Deutschland mit dem Deutschen Reich ausgesetzt. Es widerspreche jeder Logik, dass ein Staat mit einem anderen so___________ 31 Tomuschat (Fn. 27), S. 804; ähnlich Lewald, W., Die verfassungsrechtliche Lage Deutschlands, in: NJW 1973, S. 2265 ff. (2266). In Anlehnung an den Sprachgebrauch der Sowjetunion – vgl. Völkel (Fn. 26), S. 146 – meinte Eisner, E., Zur rechtlichen und politischen Bedeutung des Karlsruher Urteils zum Grundlagen-Vertrag, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 1973, S. 947 ff., dass „alle ‚gesamtdeutschen Rechtstitel‘ Müll geworden“ seien. 32 Diese Gefahr ist von vielen Autoren angesichts der „neuen Ostpolitik“ gesehen worden; vgl. etwa Steinberger, H., Ostverträge und Vier-Mächte-Status Deutschlands, in: Beiträge zur Ostpolitik, 1971, S. 66 ff.; Ress (Fn. 7), S. 27 ff., 223 ff.; Schiedermair, H., Der völkerrechtliche Status Berlins nach dem Viermächte-Abkommen vom 3. September 1971, 1975, S. 5 ff., 195 ff.; Blumenwitz, D., Der Grundvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, in: Politische Studien 1973, S. 3 ff. (9 f.). 33 Tomuschat, Ch., Die völkerrechtliche Bedeutung der Vier-Mächte-Verantwortung, in: Zieger (Fn. 17), S. 71 ff. (78 f.); Simma, B., Der Grundvertrag und das Recht der völkerrechtlichen Verträge, in: AöR 100 (1975), S. 4 ff. (11): „völkerrechtlich nicht mehr vertretbar“. 34 Tomuschat (Fn. 33), S. 93. 35 Tomuschat (Fn. 33), S. 79.

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wohl identisch als auch (nur) teilidentisch sei. 36 Im Übrigen habe das Bundesverfassungsgericht durch die Vermischung von Elementen der Identitätslehre mit solchen der Teilordnungslehre (wonach beide deutschen Staaten unter dem gemeinsamen Dach oder auf dem gemeinsamen Boden des Reiches stehen) eine schwer fassliche begriffliche Verwirrung, 37 einen „unbekömmlichen begrifflichen Brei“ angerichtet, 38 der ohne wirklichen Erklärungswert sei. Abgesehen davon könne die DDR nicht gegen ihren Willen unter das Reichsdach (als dessen Mitstütze) gezwungen werden. Identität der Bundesrepublik mit dem Deutschen Reich könne zwar geltend gemacht werden, aber diese Selbstsicht bleibe strikt auf die Bundesrepublik selbst beschränkt, berühre die DDR als selbstständigen Staat nicht. 39 Konsequenzen für das Verhältnis zur DDR ergäben sich jedenfalls aus diesem Verständnis von Identität (so genannte Schrumpfstaatslehre) und dem Fortbestand des Reiches in Gestalt der Bundesrepublik Deutschland nicht. Tatsächlich aber ziehe das Bundesverfassungsgericht Konsequenzen, die weder mit der Dachtheorie noch der Schrumpfstaatstheorie vereinbar, sondern nur auf dem Boden einer strikten Identitätsthese verständlich seien, wonach – wegen der Identität der Bundesrepublik Deutschland mit dem Deutschen Reich – das Staatsgebiet der Bundesrepublik über den Geltungsbereich des Grundgesetzes hinausreiche und jedenfalls die DDR somit auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland liege, Bundesorgane lediglich aus tatsächlichen Gründen dort keine Hoheitsgewalt ausüben könnten. 40 Dem widersprächen allerdings wieder die Aussagen des Bundesverfassungsgerichts, dass die Bundesrepublik, was ihr Staatsvolk und Staatsgebiet angehe, nicht das ganze Deutschland umfasse, „unbeschadet dessen, daß sie ein einheitliches Staatsvolk des Völkerrechtssubjekts ‚Deutschland‘ (Deutsches Reich), zu dem die eigene Bevölkerung als untrennbarer Teil gehört, und ein einheitliches Staatsgebiet ‚Deutschland‘ (Deutsches Reich), zu dem ihr eigenes Staatsgebiet als ebenfalls nicht abtrennbarer Teil gehört, anerkennt.“ 41

___________ 36

Kewenig, W., Auf der Suche nach einer neuen Deutschlandtheorie, in: DÖV 1973, S. 797 ff. (798 f.); ders., Deutschlands Rechtslage heute, in: EA 1974, S. 71 ff. (80 ff.); Lewald (Fn. 31), S. 2266. 37 Kewenig (Fn. 36), DÖV 1973, S. 799. 38 Scheuner, U., Die staatsrechtliche Stellung der Bundesrepublik, in: DÖV 1973, S. 581 ff. (583); ähnlich Ipsen, H. P., Über das Grundgesetz – nach 25 Jahren, in: DÖV 1974, S. 289 ff. (301); Mahnke (Fn. 13), S. 1171. 39 Energisch im Sinne dieser so genannten Schrumpfstaatsthese vor allem Kewenig (Fn. 36), DÖV 1973, S. 801 und EA 1974, S. 77 ff. Positiv auch Oppermann, Th., Urteilsanmerkung, in: JZ 1973, S. 594 ff. (596). 40 Kewenig (Fn. 36), DÖV 1973, S. 797 f.; ähnlich Niclauß, K., Kontroverse Deutschlandpolitik, 1977, S. 108, 112. 41 BVerfGE 36, 1 (16).

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2. Bewertung Es ist nicht zu übersehen, dass sich die komplexe Rechtslage Deutschlands nur schwer deuten ließ, und es wäre ungerecht, in die Bewertung der damaligen Diskussion die Erkenntnisse von 1989/90 hineinzunehmen. Die Situation wurde zusätzlich dadurch erschwert, dass die Bundesregierung in der Verfolgung ihrer Ostpolitik zur innenpolitischen und verfassungsrechtlichen Verteidigung Argumente verwendete, die gerade den Befürwortern dieser Politik erhebliches Unbehagen bereitete. Die meisten Kritiker der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einigte einerseits die Überzeugung, man müsse endlich von Illusionen Abschied nehmen, Realist sein, andererseits die Ansicht, es müsse gelingen, ein die Realität erfassendes widerspruchsfreies Modell der deutschlandrechtlichen Fragen zu finden. Nur so erklären sich die kritischen Erörterungen über die Vermengung von Elementen vorab definierter, z. T. – jedenfalls vom Bundesverfassungsgericht – so nie vertretener Theorien zu Deutschlands Rechtslage, 42 als ob die komplexe Wirklichkeit sich einer vorab gefertigten Theorie zu beugen habe. So konnte zwar die von vielen Kritikern des Bundesverfassungsgerichts favorisierte „Schrumpfstaatsthese“ in sich schlüssig und auch in Fortsetzung der Drittstaaten gegenüber stets angeführten Identitätspolitik (etwa grundsätzliche Anerkennung der Vorkriegsschulden, Wiederanwendung von Vorkriegsverträgen) als die richtige Deutschlandstheorie vertreten werden, aber doch nur unter Missachtung der „Deutschland als Ganzes“ umfassenden Vier-MächteRechte, 43 denen gerade die Bundesregierung selbst rechtswahrenden Charakter zuerkannte. Warum sollte die Bundesrepublik Deutschland die ganze Identitätslast auf sich nehmen, ohne die Vorteile eines rechtlichen Offenbleibens der deutschen Frage festzuhalten, Vorteile, die insbesondere den Deutschen in der DDR zugute kommen sollten? Die Schrumpfstaatsthese war weder rechtlich haltbar noch politisch akzeptabel. Eine mögliche Erklärung der Situation konnte sein, 44 dass das Reichsdach beide Staaten als Teilordnungen erfasste, wobei die eine, die Bundesrepublik Deutschland, ihrer verfassungsrechtlichen Identitätsverpflichtung folgte, die – weil Drittstaaten gegenüber ständig geübt – auch völkerrechtliche Relevanz hatte (estoppel), während die andere, die DDR, jede auf die Erhaltung des ___________ 42 Dies gilt etwa von der so genannten „Kernstaatsthese“, vgl. Kewenig (Fn. 36), DÖV 1973, S. 797, die sich das BVerfG in dieser Form aber nie zu eigen gemacht hatte. 43 Zutreffend gegen den „Objektverlust“ der Vier-Mächte-Rechte die Diskussionsbeiträge von Hacker / Ress / Mampel / Meissner, in: Zieger (Fn. 17), S. 117 ff., 122 ff., 125 f., 126. 44 Näher Klein, E., Zur Rechtslage Deutschlands und der Deutschen nach dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts zu den Ostverträgen, in: Jahrbuch der AlbertusUniversität zu Königsberg/Pr., Bd. XXV (1975), S. 23 ff.

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gemeinsamen Reichsdachs bezogene Identitätsverpflichtung ablehnte und demgegenüber ihre rechtliche und politische Verselbständigung betrieb. Für den Fortbestand des Reichsdachs aber konnte diese Haltung der DDR solange rechtlich belanglos, dem Bundesverfassungsgericht darum keine Fehldeutung vorzuwerfen sein, als auch der DDR gegenüber wirksame – also nicht nur dem Grundgesetz entnommene – Rechtsargumente gegen ihre (vollständige) Separation vom Reichsverband vorgebracht werden konnten. Das erste dahingehende Rechtsargument waren tatsächlich die Vier-MächteRechte. Zwar mochte man sich in der Tat darüber wundern, dass diese „von der Fessel der unmittelbaren Nachkriegszeit zur offensichtlich süßen Last der Gegenwart“ avanciert waren, 45 aber das lag nicht an diesen Rechten selbst, sondern an der Art und Weise, wie sie von der neuen Ostpolitik als ein zentrales Argument der Noch-nicht-Abgeschlossenheit der deutschen Frage eingesetzt worden waren, aus der bloßen „Hinnahme“ der Rechte eine offenbare „Anerkennung“ geworden war. Diese über Fremdbindung hinausgehenden Haltung war aus deutscher Sicht in der Tat alles andere als ungefährlich, 46 auch wenn es der Bundesrepublik Deutschland im Deutschlandvertrag, der viel zu wenig in der damaligen Debatte vorkam, 47 jedenfalls den drei Westmächten gegenüber gelungen war, die Ausübung dieser Rechte und Verantwortlichkeiten auf die Herstellung der staatlichen Einheit zu orientieren. 48 Nur deshalb konnte die Bundesregierung diesen starken Rekurs auf die Vier-Mächte-Rechte, die erneut bei der bundesverfassungsgerichtlichen Beurteilung der Ostverträge zum Tragen kamen, 49 riskieren. Im Grunde warfen die Kritiker der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts diesem vor, Äußerungen der Bundesregierung vor und bei Vertragsabschluss, obgleich angeblich weitgehend substanzlos, zu ernst genommen zu haben. Eine solche Haltung ist zumindest im Hinblick auf die Vertragsinterpretation nicht unproblematisch. 50 Das Bundesverfassungsgericht hat übrigens 1987 im Teso-Beschluss nochmals ausführlich seine Auffassung vom Fortbestand des Reiches erläutert, auch unter Einbeziehung des Identitäts- und des Vier-Mächte-Rechte-Arguments; wegen des fortbestehenden Vier-Mächte-Status sei eine Sezession der DDR aus dem deutschen Reichsverband ausgeschlossen. 51 Zusätzlich wurde aber – und ___________ 45

Simma (Fn. 33), S. 10 Fn. 23. Vgl. oben Fn. 32. 47 Der Vertrag über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Drei Mächten vom 26.05.1952/23.10.1954 (BGBl. 1955 II, S. 301) wird aber immerhin an zwei Stellen im Urteil vom 31.07.1973 erwähnt, BVerfGE 36, 1 (22, 25). 48 Näher Klein, E., Aktuelle Bedeutung des Deutschland-Vertrags, in: Außenpolitik 31 (1980), S. 394 ff. 49 BVerfGE 40, 141 (172 ff.). 50 Vgl. auch BVerfGE 77, 137 (167). 51 BVerfGE 77, 137 (160). 46

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das war ein bei den früheren Entscheidungen nicht ausreichend berücksichtigter Gesichtspunkt 52 – hervorgehoben, „daß die Spaltung Deutschlands nicht vom Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes gedeckt ist“. 53 Solange das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes, was die Deutschen in der DDR natürlich einschloss, nicht frei ausgeübt war, konnte die Spaltung nicht als rechtlich verfestigt angesehen werden. Letztlich waren die Aussagen des Bundesverfassungsgerichts zum Fortbestand des Deutschen Reiches, zur Identität der Bundesrepublik Deutschland mit diesem (im Sinne einer verfassungsrechtlichen Identitätsverpflichtung) und der fortdauernden objektiven Zugehörigkeit der DDR zu Deutschland, ungeachtet ihres fehlenden Willens, aus völkerrechtlichen Gründen nicht zu erschüttern. 54

III. Wiedervereinigungsgebot 1. Die Auffassung des BVerfG und ihre Kritiker Im Urteil vom 31. Juli 1973 hat das Bundesverfassungsgericht nicht nur an seiner Rechtsauffassung festgehalten, dass das in der Präambel des Grundgesetzes enthaltene Wiedervereinigungsgebot ein verfassungsrechtliches Gebot ist, das freilich den politischen Organen einen breiten Raum politischen Ermessens einräumt, 55 sondern hat dieses Gebot vor allem dahin präzisiert, dass alle Verfassungsorgane verpflichtet seien, auf die Wiederherstellung der staatlichen Einheit hinzuwirken und alles zu unterlassen, was die Wiedervereinigung vereiteln würde. So verbiete es die Verfassung, dass die Bundesrepublik auf einen Rechtstitel (Rechtsposition) verzichte, mit dessen Hilfe sie in Richtung auf Verwirklichung der Wiedervereinigung und der Selbstbestimmung wirken könne, oder einen Rechtstitel schaffe oder sich an der Begründung eines Rechtstitels beteilige, der ihrem Streben nach dem Ziel der Wiedervereinigung entgegengesetzt werden könne. 56

___________ 52 BVerfGE 36, 1 (17, 18) erwähnt im Zusammenhang mit dem Wiedervereinigungsgebot zwar das Selbstbestimmungsrecht, würdigt es aber nicht völkerrechtlich. Auch der Ostvertragsbeschluss (BVerfGE 40, 141) zieht das Selbstbestimmungsrecht argumentativ nicht heran. 53 BVerfGE 77, 137 (161). 54 Wenn aber keine zwingenden völkerrechtlichen Gründe gegen diese Lösung sprachen, war es aus der der Bundesrepublik Deutschland aufgetragenen Verantwortung für das ganze Deutschland (Präambel, Art. 23, Art. 146 jeweils a. F. GG) – vgl. auch BVerfGE 36, 1 (16) – verfassungsrechtlich geboten, diese Lösung zu vertreten. 55 So bereits BVerfGE 5, 85 (126 ff.); 12, 45 (51 f.). 56 BVerfGE 36, 1 (17 ff.).

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Außer dem zuvor schon geäußerten grundsätzlichen Bedenken, dem Vorspruch der Verfassung eine normative Verpflichtung zu entnehmen,57 wurde auf der Grundlage der neuen Ostpolitik und der mit dem Grundlagenvertrag rechtlich vertieften Zweiteilung Deutschlands gefragt, ob das Wiedervereinigungsgebot damit noch vereinbar sei, ob es nicht in Widerspruch zu Souveränität und Selbstbestimmungsrecht der DDR stehe. 58 Im Wiedervereinigungsgebot komme der Annexionswille der Bundesrepublik Deutschland zum Ausdruck. 59 Angesichts der neuen Lage sei das Wiedervereinigungsgebot „normativ obsolet“ geworden. 60 Der Hinweis darauf sei „substanzlos“, allenfalls als „innerdeutsche Pflichtübung“ zu verstehen. 61 Es gelte, so wurde gemahnt, einen Verfassungswandel anzuerkennen, zumindest müsse man sich der steigenden Spannung zwischen Rechtsbehauptung und Realität bewusst sein, die ihren Preis habe. 62

2. Bewertung Gewiss konnte man die frühe prinzipielle Weichenstellung des Bundesverfassungsgerichts bestreiten, der Präambel eine normative Verfassungspflicht zu entnehmen, 63 aber es gab keinen tragfähigen Grund, eine solche Interpretation als rechtlich unzulässig, gar unmöglich anzusehen. Verfassungspolitisch war die Haltung des Bundesverfassungsgerichts schon deshalb nachvollziehbar, weil die Selbstvergewisserung der Bundesrepublik Deutschland in der besonderen Situation, in der sie sich konstituierte und in der sie nicht zuletzt aufgrund der Vier-Mächte-Rechte verblieb, 64 durchaus für eine verfassungsrechtliche Verankerung sprach, die auch nicht einfach einem Verfassungswandel und Obsoletwerdungsprozess anheimzugeben war. 65 Allerdings war das Wie___________ 57 Nachweise etwa bei Mangoldt, H. v. / Klein, F. / Starck, Ch. (Hrsg.), Das Bonner Grundgesetz, 4. Aufl., Präambel, Rn. 30. 58 Niclauß (Fn. 40), S. 107. 59 Eisner (Fn. 31), S. 955. 60 Ipsen (Fn. 38), S. 302. 61 So die von Völkel (Fn. 26), S. 143, wiedergegebene Äußerung des Außenministers der DDR Otto Winzer in: Neues Deutschland vom 14.06.1973. 62 Scheuner (Fn. 38), S. 582. 63 Vgl. etwa die Überlegungen von Doehring, K., Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl. 1984, S. 119 f. Dazu auch Ress, G., Das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes, in: Zieger (Fn. 17), S. 265 ff. (270 ff.). 64 Auf die die Vier-Mächte-Recht in Bezug nehmenden Begleitdokumente der verschiedenen Ostverträge, insbesondere das Schreiben der Vier Mächte zur Aufnahme der beiden deutschen Staaten in die Vereinten Nationen (BT-Drs. 7/154, S. 46), ist zusätzlich zum bereits Ausgeführten nachdrücklich hinzuweisen. 65 So aber Rottmann, J., Über das Obsolet-Werden von Verfassungsnormen, in: Fürst, W. / Herzog, R. / Umbach, D. (Hrsg.), Festschrift für Wolfgang Zeidler, Bd. 2,

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dervereinigungsgebot nicht verfassungsänderungsfest, 66 sondern bedurfte zu seiner Abschaffung notwendig einer Verfassungsänderung als Ausdruck bewusster politischer Entscheidung. 67 Während alle zur Zielerreichung eingesetzten Maßnahmen (Vollendung der staatlichen Einheit) angesichts des eingeräumten politischen Ermessensspielraums bis zur Grenze evidenter Verletzung am Maßstab des Wiedervereinigungsgebots kaum zu kontrollieren waren, konnte sich die verfassungsgerichtliche Kontrolle eher entfalten, soweit es darum ging zu beurteilen, ob durch vertragliche oder einseitige Maßnahmen Rechtspositionen, von denen aus auf die Wiedervereinigung hingewirkt werden konnte, aufgegeben oder geschwächt wurden (Wahrung der staatlichen Einheit). 68 Obgleich das Bundesverfassungsgericht schon im Grundlagenvertragsurteil Wiedervereinigungsgebot und Selbstbestimmungsrecht des Deutschen Volkes zutreffend zusammengelesen hatte, 69 ist die dadurch eingetretene Funktionalisierung des Wiedervereinigungsgebots in der damaligen Debatte zunächst kaum erkannt worden. Nicht nur nämlich in der erreichten staatlichen Vereinigung konnte dem Selbstbestimmungsrecht Genüge getan sein, sondern auch die freie Ablehnung der Wiederherstellung der staatlichen Einheit wäre Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts gewesen, der vom Grundgesetz hätte akzeptiert werden müssen. 70 Wiedervereinigungsgebot und Selbstbestimmungsrecht waren so die verfassungsrechtliche und völkerrechtliche Seite derselben Medaille. 71 Das Wiedervereinigungsgebot verpflichtete die Verfassungsorgane der Bundesrepublik, auf die freie Ausübung des Selbstbestimmungsrechts des Deutschen Volkes hinzuwirken, bis dahin aber alles festzuhalten, was die freie Entscheidung des ___________ 1987, S. 1097 ff. (1106); dagegen Klein, H. H., „... die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden“ – Geltung und Bestand des Wiedervereinigungsgebots –, in: Kirchhof, P. / Träger, E. (Hrsg.), Verantwortlichkeit und Freiheit. Festschrift für Willi Geiger, 1989, S. 132 ff. (134). 66 Ress (Fn. 63), S. 292. In der Tat ist das Grundgesetz in dieser Hinsicht ja später durch das Inkrafttreten des Vertrags zur Deutschen Einheit vom 31.08.1990 (BGBl. II, S. 889) geändert worden. 67 Ebenso Tomuschat (Fn. 27), S. 805. 68 Ein Widerspruch zwischen Wahrungs- und Vollendungsgebot lag nur scheinbar vor; näher Ress (Fn. 63), S. 276 f. Das zu Wahrende konnte nur das Fortbestehen des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937 sein; den nötigen Spielraum gab die Möglichkeit zur Verfassungsänderung. Zum Ganzen auch Klein, E., Die territoriale Reichweite des Wiedervereinigungsgebots, in: ders., Bundesverfassungsgericht und Ostverträge, 2. Aufl. 1985, S. 46 ff. 69 BVerfGE 36, 1 (17 und 18). 70 Wengler, W., Das Offenhalten der deutschen Frage, in: Zieger (Fn. 17), S. 323 ff. (328). 71 Was aber nicht bedeutet, dass das Wiedervereinigungsgebot ausschließlich auf das Selbstbestimmungsrecht reduziert werden konnte; näher Klein, E., Das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die deutsche Frage, 1990, S. 92 f.

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Deutschen Volkes für die Wiederherstellung der staatlichen Einheit möglich machen und erleichtern würde. Diesen Anspruch galt es, „im Innern wachzuhalten und nach außen beharrlich zu vertreten.“ 72 Hierin konnte weder ein Annexionsgelüst noch eine sonstige Souveränitätsverletzung der DDR gesehen werden, vielmehr ging es um die Aufrechterhaltung und Geltendmachung des völkerrechtlich begründeten Rechts auf Selbstbestimmung des Deutschen Volkes, das gerade wegen seiner fehlenden Zustimmung zur Zweistaatlichkeit und wegen der Vier-Mächte-Rechte immer noch Träger des Selbstbestimmungsrechts war. 73 Mit dem Wahrungsgebot war das Gebot für die Organe der Bundesrepublik verbunden, sich für das ganze Deutschland verantwortlich zu fühlen, seine „Stütze“ zu sein. 74 Gegen diese Interpretation konnten weder völkerrechtliche noch verfassungsrechtliche Gründe überzeugend ins Feld geführt werden.

IV. Konsequenzen für das Verhältnis zur DDR 1. Bundesverfassungsgericht und Kritik Aus seinen Prämissen leitete das Bundesverfassungsgericht für den Rechtsstatus der DDR ab, dass diese zu Deutschland gehöre und für die Bundesrepublik Deutschland daher nicht Ausland sein könne. 75 Andererseits sei sie im Sinne des Völkerrechts ein Staat und als solcher Völkerrechtssubjekt. 76 Die Besonderheit der Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten komme in der fehlenden förmlichen völkerrechtlichen Anerkennung, die ersetzt sei durch „eine faktische Anerkennung besonderer Art“, zum Ausdruck, 77 vor allem auch in der besonderen Natur des Grundlagenvertrages. Ihm wurde ein Doppelcharakter zuerkannt: „seiner Art nach ein völkerrechtlicher Vertrag, seinem spezifischen Inhalt nach ein Vertrag, der vor allem inter-se-Beziehungen regelt“. 78 Entsprechend wurde die Staatsgrenze zwischen den beiden Staaten als „staatsrechtliche Grenze zwischen zwei Staaten“ definiert, deren „Besonderheit“ es sei, „daß sie auf dem Fundament des noch existierenden Staates ‚Deutschland als Ganzes‘ existieren, daß es sich also um eine staatsrechtliche Grenze handelt ähnlich denen, die zwischen den Ländern der Bundesrepublik ___________ 72

BVerfGE 36, 1 (18). Klein (Fn. 71), S. 67 ff. 74 BVerfGE 36, 1 (16). Zum Zusammenhang von Wiedervereinigungsgebot und Fortbestand des Deutschen Reiches auch Ress (Fn. 63), S. 277 f. 75 BVerfGE 36, 1 (17). 76 BVerfGE 36, 1 (22). 77 BVerfGE 36, 1 (23). 78 BVerfGE 36, 1 (24). 73

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Deutschland verlaufen.“ 79 Auch in Ansehung der Staatsangehörigkeit sei die DDR für die Bundesrepublik Deutschland nicht Ausland, die „deutsche Staatsangehörigkeit“ (Art. 116 Abs. 1 GG) sei nicht nur die Staatsangehörigkeit der Bundesrepublik Deutschland. Jeder Bürger der DDR, der in den Schutzbereich der Bundesrepublik und ihrer Verfassung gerate, müsse gemäß Art. 116 Abs. 1 und 16 GG als Deutscher wie jeder Bürger der Bundesrepublik behandelt werden. 80 Offenkundig erwiesen sich nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts alle konkreten Folgerungen als Funktionen der unabgeschlossenen deutschen Frage. Wer vom Untergang des Deutschen Reiches oder der Schrumpfstaatstheorie ausging, konnte dem mixtum compositum aus Völkerrecht und Staatsrecht wenig abgewinnen, in dem das Verhältnis der Bundesrepublik zur DDR angesiedelt wurde. Die insoweit geäußerte Kritik galt insbesondere den Ausführungen zum Doppelcharakter des Vertrags und der rechtlichen Beurteilung der Grenze zwischen beiden deutschen Staaten. 81 Am wenigsten Anstoß genommen wurde an der Verpflichtung, die Bürger der DDR, wenn sie in den Schutzbereich der Bundesrepublik gerieten, als deutsche Staatsangehörige zu behandeln; hier setzte sich das Wort von der „offenen Tür“ schnell fest. 82 2. Bewertung Die Kritik an der rechtlichen Charakterisierung des Vertrags und der Grenze war insoweit verständlich, als die verfassungsgerichtlichen Ausführungen in der Tat dieses rechtliche Zwischenreich zwischen Staats- und Völkerrecht reflektierten, in dem sich Bundesrepublik und Deutsche Demokratische Republik in ihren Beziehungen zueinander bewegten, dieses Zwischenreich oder diese „Gemengelage“ sich aber klarer rechtlicher Zuordnung naturgemäß entzog. 83 Aber sie spiegelte perfekt – geht man vom völkerrechtlich nicht zu beanstandenden Ausgangspunkt des Bundesverfassungsgerichts aus – den Versuch der DDR, sich von Gesamtdeutschland zu lösen, was ihr zwar prinzipiell nicht ge___________ 79

BVerfGE 36, 1 (26). BVerfGE 36, 1 (29 f.). 81 Etwa Bernhardt, R., Völkerrechtliche Bemerkungen zum Grundvertrags-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in: Delbrück, J. / Ipsen, K. / Rauschning, D. (Hrsg.), Recht im Dienst des Friedens. Festschrift für Eberhard Menzel, 1975, S. 109 ff. (116 f.); Ipsen (Fn. 38), S. 302; Kimminich, O., Das Urteil über die Grundlagen der staatsrechtlichen Konstruktion der Bundesrepublik Deutschland, in: DVBl. 1973, S. 657 ff. (661 f.); Scheuner (Fn. 38), S. 583; Simma (Fn. 33), S. 8 ff. 82 Scheuner (Fn. 38), S. 584. 83 Klassisch dazu Ress (Fn. 7), S. 154 ff., 192 ff. Diese besondere Aufeinanderbezogenheit der beiden deutschen Staaten mit ihrer sowohl staats- als auch völkerrechtlichen Dimension bedurfte nicht der Konsentierung dieser Staaten, sondern war objektive Vorgegebenheit. 80

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lingen konnte (Vier-Mächte-Rechte, Selbstbestimmungsrecht), ihr aber doch zu einer auch völkerrechtlich verfestigten Position verholfen hatte, die von der Bundesregierung nicht völlig zu negieren war. Alle Seiten der Beziehungen mussten daher stets genau darauf überprüft werden, ob im Einzelfall (noch) staatsrechtliche oder (schon) völkerrechtliche Normen einschlägig waren. Bei der Staatsangehörigkeit kam diese Problematik etwa im Hinblick auf die Ausübung des diplomatischen oder konsularischen Schutzes für DDR-Bürger durch die Bundesrepublik Deutschland zur Geltung, 84 bei der Grenze war zwischen der Geltung des völkerrechtlichen Gewaltverbots einerseits, dem Verbot zur Entwicklung einer Außenhandelsgrenze andererseits zu unterscheiden. 85 Wer akzeptierte – freilich war dies streitig – dass die Bundesrepublik Deutschland, wegen des Präambeldissenses über die nationale Frage und wegen Art. 9 GV, durch den Vertrag nicht daran gehindert war, von der Unabgeschlossenheit des Absonderungsprozesses der DDR auszugehen, konnte mit guten Gründen alle Einzelfragen im Verhältnis der beiden deutschen Staaten in diesem Zwielicht bewerten.

V. Der Kampf um das Recht Staaten verfolgen mit dem Abschluss von Verträgen ihre eigenen Interessen. 86 Diese Interessenverfolgung hört aber mit diesem Zeitpunkt nicht auf, sondern wird bei der Umsetzung, der Anwendung des Vertrages weitergeführt. Dabei darf allerdings keine Seite den Vertrag so auslegen, dass dies seinen Normen widerspricht. Dem Urteil vom 31. Juli 1973 wurde ganz überwiegend vorgehalten, es habe allein durch die Brille des Grundgesetzes auf den Vertrag geschaut, ihn als solchen gar nicht zur Kenntnis genommen, so dass es nicht einmal zu einer „verfassungskonformen Auslegung“ gekommen sei, sondern allein zu einer Auslegung des Grundgesetzes, dessen Gebote für die DDR keine Bedeutung haben konnten. 87 Es ist zutreffend, dass sich diese Kritik auf viele Urteilspassagen ___________ 84

Vgl. hierzu Blumenwitz, D., Die deutsche Staatsangehörigkeit und die Konsularverträge der DDR mit dritten Staaten, in: Politische Studien 1975, S. 283 ff. (290); Hailbronner, K., Deutsche Staatsangehörigkeit und diplomatischer Schutz durch die BRD, in: JZ 1975, S. 596 ff.; Ress (Fn. 7), S. 206 ff. 85 Näher Klein, E., Die rechtliche Qualifizierung der innerdeutschen Grenze, in: Zieger (Fn. 17), S. 95 ff., 101 f., 108 ff. 86 Grewe, W. G., Außenpolitik und Völkerrecht in der Praxis, in: AVR, Bd. 38 (1998), S. 1 ff. 87 Kritisch in dieser Hinsicht etwa Bernhardt (Fn. 81), S. 112 f.; Schröder, M., Zur verfassungskonformen Auslegung völkerrechtlicher Verträge, in: JR 1974, S. 182 ff.; Schweisfurth, Th., Die völkerrechtlichen Aussagen des Grundvertragsurteils, in: Zieger (Fn. 17), S. 241 ff. (246 f.); Simma (Fn. 33), S. 17 f.; Tomuschat (Fn. 27), S. 803 und

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stützen kann, auch wenn zu berücksichtigen ist, dass es dem Bundesverfassungsgericht in dem Verfahren der abstrakten Normenkontrolle darauf ankommen musste, den Verfassungsmaßstab herauszuarbeiten. Man darf aber nicht verkennen, dass das Bundesverfassungsgericht durchaus – wenngleich knapp – den Vertrag selbst interpretierte: Präambeldissens, Brief zur deutschen Einheit und Art. 9 GV wurden dahin ausgelegt, dass sie es der Bundesrepublik Deutschland ermöglichten, ihre verfassungsrechtlich gebotenen deutschlandrechtlichen Positionen dem Vertragspartner gegenüber weiterhin zu vertreten,88 der Vertrag also – auch und gerade aus sich selbst heraus – nicht als Teilungsvertrag, 89 nicht als Zementierung der Spaltung, wie es vielen Beobachtern erschien, 90 verstanden werden musste. Gleichwohl wäre es angemessen gewesen, zunächst die Einzelbestimmungen des Vertrags, wenngleich im Lichte des Dissenses in nationalen Fragen, zu würdigen und dieses Ergebnis dann am verfassungsrechtlichen Maßstab (mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland) zu messen. Das vom Bundesverfassungsgericht erzielte Ergebnis hätte durchaus auf dem methodisch richtigen Weg der völkerrechtlichen Vertragsinterpretation gewonnen werden können, wie etwa auch das Vorgehen im Beschluss über die Ostverträge belegt. 91 Bei der Ausfüllung des Vertrages, insbesondere beim Abschluss der Folgeverträge, erwies sich dieses Verständnis als für die Bundesregierung keineswegs störend, entgegen den von vielen Seiten geäußerten Befürchtungen. 92 Im Grunde war auch weniger die DDR das Problem. Problematisch-ambivalent war, wie schon das oben wiedergegebene „Vorwärts“-Zitat zeigt, 93 die Haltung der Protagonisten der Ostpolitik selbst. Der Schutzschild der regierungseigenen verfassungs- und völkerrechtlichen Argumentation, die sich das Bundesverfassungsgericht zu eigen gemacht hatte, erwies sich in der Tat als Barriere gegen Tendenzen, Forderungen der DDR (Stichwort: Geraer Forderungen Honeckers) 94 entgegenzukommen. So war der „Kampf um das Recht“ nicht nur mit der DDR auszufechten, sondern gerade auch innerhalb des politischen Kräftefeldes in der Bundesrepublik. Insoweit erwies sich die fortgesetzte Bereitschaft ___________ 805; Wilke, D. / Koch, G. H., Außenpolitik nach Anweisung des Bundesverfassungsgerichts?, in: JZ 1975, S. 233 ff. (238). 88 BVerfGE 36, 1 (24 f.). 89 BVerfGE 36, 1 (25). 90 Etwa Simma (Fn. 33), S. 18 und 28. 91 BVerfGE 40, 141 (157 ff.). 92 Niclauß (Fn. 40), S. 113; Scheuner (Fn. 38), S. 583 f.; Schuppert, G. F., Verfassungsgerichtsbarkeit und Politik, in: ZRP 1973, S. 257 ff.; Tomuschat (Fn. 27), S. 804. Auch Blumenwitz (Fn. 17), S. 15 f., äußerte sich in diese Richtung. 93 Siehe oben Fn. 19. 94 Dazu Below, A. v., Geraer Forderungen, in: Eppelmann, R. et al. (Hrsg.), Lexikon des DDR-Sozialismus, 1996, S. 237 f.

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des Gerichts, diese Rechtspositionen festzuhalten, von entscheidender Bedeutung – das Urteil zum Grundlagenvertrag hatte eine wichtige Marke gesetzt, aber es musste in der Folgezeit immer wieder darum gekämpft werden.95 Rückblickend erweist es sich als richtig, dass die entscheidenden Rechtspositionen nicht weggegeben worden sind. Vernünftige Beziehungen ließen sich auch auf dieser Basis begründen. Am meisten erstaunen die Kleingläubigkeit, die Bereitschaft, das Gesetz, nach dem diese Bundesrepublik angetreten war – Verantwortung für alle Deutschen96 –, so schnell vermeintlichen Realitäten zu opfern, das kurzatmige Anlegen der Elle der Verjährungsvorschriften des BGB an welthistorische Entwicklungen.97 Gewiss, die Abwehr dieser Haltung durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat die Wiedervereinigung nicht selbst herbeigeführt, aber es dürfte kein Zweifel sein, dass der Verzicht auf die gesamtdeutschen Positionen durch die Bundesrepublik Deutschland die Wiederherstellung der staatlichen Einheit, als dazu Gelegenheit bestand, politisch und rechtlich jedenfalls außerordentlich erschwert hätte. So erwies sich das Urteil, das Blumenwitz erstritten hatte, alles andere als eine „leere Deklamation“;98 vielmehr war es in seiner „Bedeutung kaum zu überschätzen“.99 Es hielt den Weg offen für die Nutzung des Kairos, als er sich so einstellte, wie von Dieter Blumenwitz für einzig möglich gehalten: „Die deutsche Frage wird nur im Rahmen eines globalen Akkords lösbar, einer Neugruppierung der Mächteschwerpunkte und damit auch der Interessenfelder.“100

___________ 95 Blumenwitz, D., Die Rolle des Grundvertragsurteils für die deutsche Wiedervereinigung, in: Eibicht, R.-J. (Hrsg.), Hellmut Diwald. Sein Vermächtnis für Deutschland. Sein Mut zur Geschichte, 1994, S. 346 ff. (352). 96 Vgl. dazu die Debatten im Parlamentarischen Rat, in: JöR, NF Bd. 1 (1951), S. 14 ff., und Kimminich (Fn. 81), S. 659. 97 Vgl. Quaritsch, H., Diskussionsbeitrag, in: VVDStRL 38 (1980), S. 130. 98 Friesenhahn (Fn. 13), S. 193. 99 Oppermann (Fn. 39), S. 594. 100 Blumenwitz (Fn. 17), S. 22.

Die Stationen auf dem Weg zur Deutschen Einheit * Theodor Waigel Im Jahre 1988 fand in den Kammerspielen in München eine Vortragsreihe „Reden über unser Land – Deutschland“ statt. Die ganz überwiegende Mehrheit der damaligen Referenten hielt die Wiedervereinigung des durch Mauer und Stacheldraht geteilten Deutschland für Illusion. Mit der Vortragsreihe „Reden an die deutsche Nation“ knüpft die neue Veranstaltungsreihe in der Frankfurter Paulskirche für ein geeintes Deutschland an jene in den Münchner Kammerspielen an. Frankfurt scheint für dieses Thema geradezu prädestiniert. Die Paulskirche ist in historischer Betrachtung das Symbol für die Einheit der Nation, für Freiheit und Demokratie. Die am 18. Mai 1848 eröffnete Nationalversammlung wollte eine Verfassung, die den Ideen nationaler Einheit und liberaler Freiheit gerecht wird. Vielleicht wollten die 1848 hier versammelten Abgeordneten zuviel auf einmal – eine freiheitliche Demokratie auf konstitutioneller Grundlage und eine großdeutsche Lösung. Sie scheiterten, weil andere historische Kräfte stärker waren. Am Ende eines verhängnisvollen Jahrhunderts können wir mit Genugtuung auf die Bestrebungen von 1848/49 zurückblicken. Deutschlands zweite Demokratie hat sich als stabil erwiesen. Die Wiedervereinigung wurde erreicht. Das geeinte Deutschland ist fest in die Europäische Union und die Gemeinschaft der westlichen Demokratien eingebettet. Bis in die 80er Jahre galt es als wirklichkeitsfremd, ja als reaktionär, über das Recht der Deutschen auf nationale Selbstbestimmung zu reflektieren. Das Festhalten am Ziel der nationalen Einheit wurde vom damaligen Zeitgeist als „Lebenslüge“ 1 abqualifiziert. Wer Deutschlands Wiedervereinigung fordere – ___________ * Der Beitrag gibt den Text eines Vortrages wieder, den der Verfasser im Herbst 2002 im Rahmen der Vortragsreihe „Reden an die deutsche Nation“ in der Frankfurter Paulskirche gehalten hat. 1 Sogar Willy Brandt hatte noch 1988 die Wiedervereinigung als die „Lebenslüge der 2. Deutschen Republik“ bezeichnet, korrigierte sich am 26.02.1990 auf dem Augustus-Platz in Leipzig jedoch selbst mit den Worten: „Die Wiedervereinigung war eine Lebenslüge, Neuvereinigung ist die Parole.“

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so die damalige Argumentation –, der stelle die Grenzen und damit den Frieden in Europa in Frage. Einer der Wenigen, der sich dem damaligen Zeitgeist entgegenstellte, war der Schriftsteller Martin Walser. 2 In seinem Vortrag in den Münchner Kammerspielen im Jahre 1988 hielt er fest: „Aus meinem historischen Bewusstsein ist Deutschland nicht zu tilgen. Sie können neue Landkarten drucken, aber sie können mein Bewusstsein nicht neu herstellen. Ich weigere mich, an der Liquidierung von Geschichte teilzunehmen“. Die Herausbildung des Nationalstaats vollzog sich zunächst in Frankreich und England. Andere Völker wie die Italiener und Deutschen waren Nachzügler, was zum Begriff der „verspäteten Nation“ 3 führte. Es war schließlich Otto von Bismarck, der vor etwa 130 Jahren – auf der Grundlage einer Politik von „Blut und Eisen“ – im Spiegelsaal von Versailles Deutschlands Einheit besiegelte. 4 Sie stand, wie wir heute wissen, auf einem wackligen Fundament. Die Stationen vom Ersten Weltkrieg über die Weimarer „Demokratie ohne Demokraten“ und das unselige Nazi-Regime sind bekannt. Am Ende des Zweiten Weltkrieges war Deutschland auf dem Tiefpunkt seiner Geschichte angelangt. Es wurde von den Siegermächten mit dem System von Jalta geteilt. 5 Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg gab es noch vereinzelte Versuche zur Wiederherstellung der Einheit, wie z. B. die Ministerpräsidenten-Konferenz in München. 6 Doch am Ende war die Teilung nicht mehr aufzuhalten. Mauer und Stacheldraht in Deutschland, ein Eiserner Vorhang quer durch Europa und ein rüstungspolitischer und ökonomischer Wettlauf zwischen Ost und West wurden zu Symbolen der Jahre des Kalten Krieges. Dieser Wettlauf der Systeme ist beendet. Das Streben der Völker nach Selbstbestimmung, Demokratie und Freiheit war stärker. Die Marktwirtschaft ___________ 2

Walser, M., Über Deutschland reden, 1988, S. 89. Plessner, H., Die verspätete Nation, 1974. 4 Dort wurde am 18.01.1871 das Deutsche Kaiserreich gegründet, dessen erster Reichskanzler und Außenminister Otto von Bismarck wurde. Gleichzeitig hatte er das Amt des preußischen Ministerpräsidenten inne. Dieses Reich brach 1918 nach dem Ersten Weltkrieg und den Novemberrevolutionen zusammen. 5 In der Konferenz von Jalta vom 04. bis 11.02.1945 beschlossen die alliierten Regierungschefs Churchill, Stalin und Roosevelt die Teilung Europas nach dem bevorstehenden Ende des Zweiten Weltkrieges. 6 Dieser erste Versuch einer gemeinsamen Konferenz der Regierungschefs der Länder am 06./07.06.1947 scheiterte bereits nach knapp drei Stunden, als die fünf Regierungschefs der sowjetischen Besatzungszone die Konferenz wegen unüberbrückbarer Interessenkonflikten mit ihren westlichen Kollegen verließen. Siehe hierzu: Blumenwitz, D., Bayerns Beiträge zur Deutschlandpolitik, in: Carstens, K. et al. (Hrsg.), Franz-Josef Strauss, 1985, S. 197 f. 3

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hat sich gegenüber der Planwirtschaft als überlegen erwiesen. Die freiheitliche Demokratie befindet sich weltweit auf dem Vormarsch. Das Recht auf nationale Selbstbestimmung gehört zum anerkannten Völkerrecht. 7 Deutschlands Teilung war auf Dauer nicht haltbar. Auch wenn dem Zeitgeist des Öfteren widersprechend, haben meine politischen Freunde und ich am Ziel der Wiedervereinigung festgehalten. Die Teilung des Vaterlandes konnte nicht das letzte Wort der Geschichte sein. Es ist ein weltweites historisches Faktum, dass sich Menschen eines überschaubaren Raums, einer Stadt oder eines Landes, eines eigenen Stamms oder einer eigenen Religion besonders verbunden fühlen. Aus dieser Grundlage heraus kam es zur Bildung staatlicher Gebilde und zuletzt zur Bildung des Nationalstaats. Ob er in seiner heutigen Form im Zeitalter der Globalisierung Bestand haben wird, scheint fraglich. Die heutige Industriegesellschaft westlichen Typs ist geprägt durch eine Individualisierung der Lebensverhältnisse, durch einen vor Jahrzehnten noch unvorstellbaren Werte-Pluralismus und durch ein bis heute anhaltendes Nachlassen religiöser Bindungswirkungen. In diesen Gesellschaften stellt sich die Frage: Was hält das Ganze zusammen? Was bildet das einigende Band? Ich glaube nicht, dass es primär universalistische Wertvorstellungen sind. Die Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen, aber dennoch abstrakten Rechts- und Wertegemeinschaft ist wichtig. Doch die entscheidende Bindungswirkung kommt nach wie vor aus dem nationalen Zusammengehörigkeitsgefühl. Dieses Gefühl bestand in Deutschland auch nach 1945 weiter. Zugegeben: Bis weit in die 80er Jahre hinein bestanden nur wenig konkrete Hoffnungen für die Wiedererlangung der Einheit. Für Konrad Adenauer hatte in den 50er Jahren aus wohlerwogenen Gründen die Westbindung der jungen Bundesrepublik oberste Priorität. 8 Ob die Stalin-Note damals ernst gemeint war, ist umstritten. 9 ___________ 7 Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist Teil des Völkergewohnheitsrechts und in zahlreichen verbindlichen Rechtstexten verankert – vgl. nur Art. 1 Nr. 2, 55, 73 lit. b, 76 lit. b UN-Charta, Art. 1 Abs. 1 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte und Art. 1 Abs. 1 Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. 8 Die Westintegration bedeutete die Einbindung der Bundesrepublik Deutschland in die westliche Staatengemeinschaft unter Konrad Adenauer und umfasste z. B. den Beitritt zur Montanunion (1952), zur WEU (1955), zur NATO (1955), zur EWG und Euratom (1957) und den deutsch-französischen Freundschaftsvertrag (1963). 9 Am 10.03.1952 bot Stalin den Westmächten Frankreich, Großbritannien und den Vereinigten Staaten von Amerika in einer Note Verhandlungen über die Wiedervereinigung und Neutralisierung Deutschlands an. Dies führte zum Austausch von Noten zwischen der UdSSR und den Westmächten während des Sommers 1952. Im September 1952 wurde dieser Notenwechsel jedoch ergebnislos abgebrochen. Es bestehen Anhalts-

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Mit Willy Brandts neuer Ostpolitik schien sich eine Alternative aufzutun. Das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht gab den Verfechtern des Festhaltens am Wiedervereinigungsziel Recht. 10 Die sozialdemokratischen Initiativen im Rahmen der KSZE waren anfänglich umstritten, aber sie ermutigten viele Ostdeutsche, konkret Freiheit und Demokratie einzufordern. Dennoch lässt sich der Zeitpunkt des Falls der Mauer nur aus der historisch-politischen Ausgangslage heraus verstehen. Im Verlaufe der 80er Jahre kam es im gesamten Bereich des Ostblocks zu einer spürbaren Verschlechterung der Wirtschaftslage. Die im Osten erhoffte wirtschaftliche Aufholjagd drohte auf dem Niveau der Länder der dritten Welt zu enden. Der „Kapitalismus“ erwies sich als wesentlich reformfreudiger, innovativer und leistungsstärker im Vergleich zu dem, was Karl Marx und seine Nachfolger prognostiziert hatten. Nachdem die Bemühungen des Kremls, Europa von den USA abzukoppeln und ein Rüstungsübergewicht festzuschreiben, gescheitert waren, kam die Stunde von Michael Gorbatschow. Er erkannte richtig: Das System der sozialistischen Planwirtschaft war ohne Reformen nicht mehr haltbar. Während er selbst am Sozialismus festhielt und auf systemimmanente Reformen setzte, löste er mit diesem Prozess eine grundlegende ökonomische und politische Umwälzung aus. 11 An deren Ende standen der Zusammenbruch der Sowjetunion, der Verfall des russischen Imperiums und die friedlichen Revolutionen in den Staaten Osteuropas. Über das politische Scheitern des DDR-Experiments ist viel geschrieben worden. Es gelang dem Sozialismus im Osten Deutschlands während seiner ganzen 40-jährigen Herrschaft nie, eine nationale oder gesellschaftliche Identität herauszubilden. Reisefreiheit konnte die SED ihren Bürgern nicht gewähren, da die Gefahr der Umwandlung von Westreisen in Ausreisen zu groß war. Die innere Repression durch Überwachung der Bevölkerung und Schießbefehl an den Grenzen tat ein Übriges. Die überwiegende Mehrheit der Menschen im Osten vermochte sich nicht mit dem System zu identifizieren. Auch das Ver___________ punkte dafür, dass das Angebot der UdSSR zu keinem Zeitpunkt ernst gemeint war, sondern als reines Ablenkungsmanöver diente, um eine weitere Westintegration Westdeutschlands zu verhindern oder zumindest zu behindern. 10 Das Bundesverfassungsgericht stellte in seinem Urteil zum Grundlagenvertrag – BVerfGE 36, 1 (17 f.) = NJW 1973, 1539 – fest, dass die Wiedervereinigung ein verfassungsrechtliches Gebot darstellt, ein Ziel, das von keinem Verfassungsorgan der Bundesrepublik aufgegeben werden darf. Das Verfahren ist dokumentiert bei Cieslar, E. / Hampel, J. / Zeitler, F.-Chr., Der Streit um den Grundvertrag: eine Dokumentation, 1970. Vgl. hierzu auch Blumenwitz, D. (Fn. 6), S. 198 ff. 11 Gorbatschow versuchte den Verfall des Kommunismus durch die Einführung von Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umstrukturierung) aufzuhalten.

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trauen der benachbarten Nationen in den zweiten Staat auf deutschem Boden hielt sich in sehr engen Grenzen. Die ökonomische Schlussbilanz der DDR ist bekannt. 12 Ob und inwieweit westliche Kredite tatsächlich zu einer Stabilisierung der DDR-Wirtschaft beigetragen haben, wage ich angesichts der Höhe der Summen zu bezweifeln. Tatsache ist: Nach Öffnung der Mauer war von blühenden ökonomischen Landschaften nichts zu sehen. Die Umweltbelastung war fatal, die Infrastruktur auf dem Stand der 50er Jahre. Die Produktivität erreichte weniger als 30 % des Westniveaus. Wer in den ersten Wochen nach Öffnung der Mauer in den Osten fuhr, der war geneigt, Bechers Hymnus abzuwandeln: „Versunken in Ruinen“. 13 Nach dem 9. November 1989 blieben die politischen Handlungsmöglichkeiten der DDR-Führung gering. Die Aufrechterhaltung eines eigenständigen Staates aus eigener Kraft war utopisch. Die in einigen Kreisen erhoffte Stabilisierung durch Mittelzuflüsse von außen war ebenfalls nicht mehr als ein leerer Traum. Ein nüchterner und unvoreingenommener Rückblick zeigt: Im Prinzip gab es zu einer Wiedervereinigung keine realistische Alternative. Strittig erschien allenfalls das Tempo der Einigung. Helmut Kohl begann die Diskussion mit seinem Zehn-Punkte-Programm, das in eine Konföderation münden sollte. 14 Die politische Eigendynamik, die sich zunächst als Unübersichtlichkeit darstellte, erwies sich als stärker. Die Entwicklung von Egon Krenz zum Runden Tisch, von der SED zur „Allianz für Deutschland“ verlief schneller, als wir alle erwarteten. Die Ergebnisse der Volkskammer- und Kommunalwahlen 15 unterstrichen: Der Souverän hatte die Entscheidungen in die eigenen Hände genommen. Die Parole „Wir sind ein Volk“ signalisierte den weiteren Weg, ehe in der Volkskammer am 17. Juni 1990 der Antrag auf Beitritt der DDR zur Bundesrepublik eingebracht wurde. Die politische Entwicklung wurde vor allem durch ökonomische Faktoren vorangetrieben. Die anhaltende Ausreise-Welle – zuerst über die deutschen Botschaften in Prag und Budapest, dann durch die offenen Grenzen – verdeut___________ 12 Hierzu und zu Folgendem siehe: Großner, D., Das Wagnis der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, 1998. 13 Johannes R. Becher (1891–1958) ist der Textautor der Nationalhymne der DDR „Auferstanden aus Ruinen“. 14 In einer Rede vor dem Deutschen Bundestag am 28.11.1989 formulierte der damalige Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl seine Vorstellungen, die vor allem auf eine baldige Vereinigung Deutschlands und Europas hinarbeiteten. Die zehn Punkte sollten unter anderem von Sofortmaßnahmen humanitärer Art und umfassender Wirtschaftshilfe über eine Vertragsgemeinschaft und Abrüstung hin zur Deutschen Einheit führen. 15 Die ersten freien Volkskammerwahlen vom 18.03.1990 hatten folgendes Ergebnis: CDU 40,9 %; SPD 21,8 %; PDS (SED) 16,3 %; DSU 6,3 %; Liberale 5,2 %; Bündnis 90 2,9 %.

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lichte das Ausmaß des Willens nach Freiheit. Die persönliche Bekanntschaft mit dem „real existierenden Kapitalismus“ brachte das Fass zum Überlaufen: „Kommt die D-Mark, bleiben wir – kommt sie nicht, gehen wir zu ihr“. Der von mir auf den Weg gebrachte Staatsvertrag zur Währungsunion brachte den Menschen Hoffnung. 16 Er war zunächst ein „Signal zum Bleiben“ und bedeutete in seiner Auswirkung den unumkehrbaren Schritt zur staatlichen Einheit. Der Währungsunion folgte die Herstellung der staatlichen Einheit. Der damalige Innenminister Wolfgang Schäuble leitete die Verhandlungen zum Vertrag über die staatliche Wiedervereinigung. Die außen- und sicherheitspolitischen Belange, die an den Deutschlandvertrag anknüpften, mündeten in den Zwei-plus-Vier-Vertrag. 17 Am Rande bemerkt: Dieser Vertrag bildet die herausragende historische Leistung von Helmut Kohl, dem es gelang, die Westbindung des geeinten Deutschlands völkerrechtlich zu fundieren. Gleichzeitig wurden die rechtlichen Grundlagen geschaffen, dass der letzte sowjetische Soldat 50 Jahre nach dem Einmarsch der Roten Armee deutschen Boden verließ. Deutschlands Wiedervereinigung ist und bleibt das Symbol des Endes der europäischen Nachkriegsgeschichte. Entscheidend war auf der einen Seite die Zustimmung der westlichen Siegermächte, insbesondere die aktive Unterstützung durch George Bush, während die Vorbehalte anderer westlicher Partner aus Memoiren bekannt sind. Entscheidend war andererseits die Zustimmung der Sowjetunion, die heute angesichts der großen Zahl der Nachfolgestaaten der Sowjetunion nicht mehr sicher wäre. Sicher ist aber: Mit der Bereitstellung von 15 Mrd. DM wäre der Abzug der russischen Truppen aus Ostdeutschland heute nicht mehr zu haben. Aus zeitgeschichtlicher Sicht heraus ist gewiss die Person Gorbatschows von entscheidender Bedeutung gewesen und dessen gutes Verhältnis zu Helmut Kohl. Aber ebenso unbestritten war es, wie der Politologe Kurt Sontheimer festgestellt hat, das Verdienst der damaligen Regierung, „die historische Chance entschlossen und mit großem diplomatischen Geschick ergriffen zu ha___________ 16 Am 01.07.1990 wurde die Mark der DDR von der Deutschen Mark als offizielles Zahlungsmittel in der DDR abgelöst. Preise und Löhne wurden im Verhältnis 1:1, Sparguthaben bis 4000 Mark (bzw. 6000 Mark ab dem 60. Lebensjahr) im Verhältnis 1:1, darüber hinaus im Verhältnis 1:2 in DM umgetauscht. 17 Bezeichnung für den am 12.09.1990 zwischen den beiden deutschen Staaten (Bundesrepublik und DDR) und den vier Siegermächten (USA, UdSSR, GB, F) geschlossenen „Vertrag über die abschließenden Regelungen in bezug auf Deutschland“, in dem die innere und äußere Souveränität des vereinten Deutschlands hergestellt und dessen Staatsgebiet endgültig festgelegt wurde; abgedruckt in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 14.09.1990, Nr. 109, S. 1153–1156. Vgl. hierzu Blumenwitz, D., Der Vertrag vom 12.09.1990 über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland, in: NJW 1990, S. 3041.

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ben“. 18 Die politische Eigendynamik und der Mut der Ungarn, Tschechen und Polen sind ebenfalls nicht zu unterschätzen. Doch letztlich ist Deutschlands Wiedervereinigung ein Werk der Deutschen – der Ostdeutschen, die auf die Straße gingen und das Risiko eines vollständigen politischen und ökonomischen Umbruchs auf sich nahmen, und der Westdeutschen, die mit der Währungsunion und der erforderlichen nationalen Solidarität in Form von Transferzahlungen in Milliardenhöhe den Startschuss zur ökonomischen Wiedervereinigung gaben. Die bis heute anhaltende Kritik am Vollzug der Wiedervereinigung steht auf tönernen Füßen: – Die Stabilisierung einer selbständigen DDR durch finanzielle Hilfen von außen erscheint heute vor dem Hintergrund der Umwälzungen im gesamten Osteuropa als absurd. Ohne die Perspektive einer Wiedervereinigung hätte sich die Welle der Übersiedler verstärkt. – Ein angebliches Legitimationsdefizit 19 bei der Wiedervereinigung vermag ich nicht zu erkennen. Anlass für eine Total-Revision unseres Grundgesetzes war nicht gegeben. Den ostdeutschen Landsleuten ging es mit großer Mehrheit nicht um einen utopischen dritten Weg, sondern schlicht um die Gewinnung von Lebensverhältnissen, wie sie im Westen bestanden. – Der Vorwurf des „D-Mark-Nationalismus“ 20 der Ostdeutschen geht genauso fehl wie die These, der Westen habe die Gunst der Stunde zum „Aufkauf der DDR“ genutzt. Wer sich an die Demonstrationen in Ostberlin, Leipzig und Dresden erinnert, der weiß, welchen Stellenwert das Streben nach Freiheit beim damaligen Umbruch eingenommen hat. – Die Kritik am Vollzug des Übergangs von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft, wie sie in der zweiten Hälfte der 90er Jahre vorgetragen wurde, kam weitgehend von „Ex-Post Besserwissern“. Weise Ratschläge, auch seitens der Wissenschaft, waren in den Monaten nach der Maueröffnung weitgehend Mangelware. – Die Ängste bezüglich der Währungsunion waren unbegründet. Es kam zu keiner inflatorischen Aufblähung der Geldmenge. Das Problem waren nicht die gestaffelten Umtauschkurse, sondern die extreme, von der Produktivitätsentwicklung völlig losgelöste Forderung der Lohnanpassung und das unerwartete Wegbrechen der Ostmärkte. ___________ 18 Sontheimer, K., So war Deutschland nie – Anmerkungen zur politischen Kultur der Bundesrepublik, 1999, S. 203. 19 Vgl. Kempen, B., Grundgesetz oder neue deutsche Verfassung?, in: NJW 1991, S. 964 (966); Klein, E., An der Schwelle zur Wiedervereinigung Deutschlands. – Anmerkungen zu Deutschlands Rechtslage im Jahr 1990, in: NJW 1990, S. 1065 (1069). 20 Habermas, J., Nochmal: Zur Identität der Deutschen, in: ders., „Die nachholende Revolution“, 1990, S. 205 ff.

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– Die Treuhand, 21 keine Erfindung der Bundesregierung, wurde später zum Sündenbock gestempelt. Meines Erachtens zu Unrecht. Insgesamt mussten über 40.000 Vertragsabschlüsse getätigt werden. Wo es finanziell vertretbar war, wurde saniert, nur bei völliger Aussichtslosigkeit wurde stillgelegt. – Der Westen hat Solidarität unter Beweis gestellt. Der gewählte Finanzierungsweg über eine Mischung aus Ausgabenkürzungen, Steuererhöhungen und begrenzter Anhebung der Neuverschuldung wird heute auch von der Wissenschaft als richtig eingestuft. 22 Zu den anfangs befürchteten gesamtwirtschaftlichen Verwerfungen ist es nicht gekommen. Die Dämme haben gehalten. Die makroökonomische Entwicklung in den 90er Jahren verlief im geeinten Deutschland günstiger als in den meisten anderen Mitgliedsstaaten der EU. Wer den Erfolg der Wiedervereinigung in Frage zu stellen versucht, der hat den Kontakt mit den Realitäten verloren. Die Angleichung der Einkommensund Lebensverhältnisse in Deutschland ist in zwölf Jahren spürbar vorangekommen. Wer heute den Mangel an blühenden Landschaften beklagt, der verschweigt bewusst, wie die Situation nach Öffnung der Mauer ausgesehen hat. Allerdings lässt sich innerhalb von zwölf Jahren nicht das Desaster einer vierzigjährigen Misswirtschaft beseitigen. Die Wiedervereinigung und die Europäische Einigung sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Durch die Beseitigung des Eisernen Vorhangs erhält Europa eine neue Friedensarchitektur. Die osteuropäischen Reformstaaten kehren in die westliche Wertegemeinschaft zurück. Maastricht bildet die Geschäftsgrundlage für eine irreversible politische Union mit einem einheitlichen Wirtschaftsraum und einer gemeinsamen Währung. Der Euro wird sich mit Sicherheit zu einem Katalysator für eine Vertiefung der politischen Zusammenarbeit erweisen. Ohne die Währungsunion hätten wir heute weder die Verträge von Amsterdam und Nizza noch die Grundrechte-Charta und den Verfassungskonvent. Deutschland muss dabei seiner historischen Verantwortung gerecht werden. Nach der Wiedervereinigung sind wir das größte Volk und die stärkste Wirtschaftsmacht in Europa. Es gilt, die Lehren aus der Geschichte zu ziehen. Jahrzehntelang hatten unsere Nachbarn Angst vor der militärischen Stärke eines geeinten Deutschlands. Jahrzehntelang hatten die Deutschen Angst vor einer militärischen Einkreisung. Diese Ängste können und müssen überwunden werden, indem wir uns zu einem gemeinsamen Haus in Europa bekennen – mit einer alle bindenden Hausordnung und einer friedlichen Konfliktlösung unter den Bewohnern. ___________ 21

Aufgabe der Treuhandanstalt war es, die volkseigenen Betriebe der DDR nach den Grundsätzen der Marktwirtschaft zu privatisieren oder stillzulegen und die „Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen zu sichern“ (§ 8 TreuhandG). 22 Heilemann, U., Zur Finanzierung der deutschen Einigung, in: Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Heft 119, 1999, S. 373 ff.

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Die von einigen Intellektuellen gehegten Befürchtungen über ein Wiederaufflammen des Nationalismus, über hegemoniale Bestrebungen des geeinten Deutschlands, ja über ein „Viertes Reich“ wurden von den politischen Realitäten widerlegt. Deutschland hat den Weg zur Normalität beschritten, ohne dabei seine besondere historische Verantwortung über Bord zu werfen. Es hat die Einheit wiedererlangt und gleichzeitig an der Vorreiterrolle in Europa festgehalten. Es wäre fatal, würde Deutschland den europäischen Weg in Frage stellen und im Alleingang „deutsche Wege“ beschreiten. Die nächsten Schritte auf dem Weg der europäischen Einigung müssen darin bestehen, die Kompetenzen zwischen der Ebene Europas und der Staaten und ihrer Regionen abzugrenzen. Dabei wird die Nation keineswegs auf dem „Altar der europäischen Einigung“ geopfert. Auch wenn die Nationalstaaten Teile ihrer Souveränität abgeben, wird das Projekt Europa nur dann gelingen, wenn es auf den einzelnen Nationen aufbaut, also zu einem Europa der Vaterländer führt. Dies wird nur möglich sein, wenn der Föderalismus die Konstruktion Europas bestimmt. Die Wiedervereinigung schafft auch die Grundlage dafür, dass die Deutschen ungeachtet ihrer historischen Verantwortung wieder ein normales, ein geläutertes Nationalbewusstsein demonstrieren können. Wir sind ein Mitglied der westlichen Völkerfamilie mit allen Rechten und Pflichten. Nicht mehr und nicht weniger erwarten unsere Freunde und Nachbarn. Ich freue mich noch heute, dass es mir persönlich gegönnt war, am politischen Gelingen der Wiedervereinigung mitgewirkt zu haben. Für mich und meine politischen Wegbegleiter ging ein Traum in Erfüllung. Was hätten nicht die Gründer der Bundesrepublik gegeben, wenn es ihnen gelungen wäre, das deutsche Vaterland zu einen.

Schriftenverzeichnis Dieter Blumenwitz I. Selbstständige Veröffentlichungen 1. Die Grundlagen eines Friedensvertrages mit Deutschland. Ein völkerrechtlicher Beitrag zur künftigen Deutschlandpolitik (Schriften zum öffentlichen Recht, Bd. 27), Duncker & Humblot Berlin 1966, 208 Seiten (Dissertation). 2. Einführung in das anglo-amerikanische Recht. Rechtsquellenlehre – Methode der Rechtsfindung – Arbeiten mit praktischen Fällen (JuS-Schriftenreihe, Bd. 2), Verlag C.H. Beck München 1971, 121 Seiten; 7. neubearbeitete Aufl. 2003, 177 Seiten. 3. Feindstaatenklauseln, Langen-Müller-Verlag München 1972, 144 Seiten. 4. Der Schutz innerstaatlicher Rechtsgemeinschaften beim Abschluß völkerrechtlicher Verträge. Ein Beitrag zur Dezentralisierung der auswärtigen Gewalt in den föderalen Staatsordnungen der Gegenwart (Münchener Universitätsschriften, Reihe der Juristischen Fakultät, Bd. 20), Verlag C. H. Beck, München 1972, 371 Seiten (Habilitationsschrift). 5. Untersteht das Transitabkommen nicht dem Grundgesetz? Zur Anwendung des Grundvertragsurteils in der politischen Praxis, in: Beiträge zur Deutschen Politik, München 1974, 19 Seiten; 2. Aufl. 1976, 19 Seiten. 6. Das Staatsangehörigkeitsrecht der Vereinigten Staaten von Nordamerika, Bd. 7 der Sammlung geltender Staatsangehörigkeitsgesetze (Neubearbeitung), Alfred Metzner Verlag Frankfurt a. M. 1975, 231 Seiten. 7. Die Errichtung Ständiger Vertretungen im Lichte des Staats- und Völkerrechts. – Eine Stellungnahme zu den völker- und verfassungsrechtlichen Problemen, Nomos Verlagsgesellschaft Baden-Baden 1975, 136 Seiten. 8. Wehrpflicht und Ersatzdienst. Die Auseinandersetzung vor dem Bundesverfassungsgericht, Olzog Verlag München/Wien 1978, 352 Seiten. 9. Die Darstellung der Grenzen Deutschlands in kartographischen Werken, Troisdorf 1980, 150 Seiten. 10. Die deutsch-polnischen Städtepartnerschaften im Lichte des Staats- und Völkerrechts, Bonn 1980, 130 Seiten. 11. La Constitucion de 1980. Su Legitimidad, Santiago 1981, 93 Seiten (zusammen mit Sergio Gaete Rojas). 12. Was ist Deutschland? Materialien zur Behandlung der deutschen Frage im Unterricht in den bayerischen Schulen, hrsg. v. Staatsinstitut für Schulpädagogik, München 1981, 459 Seiten. 13. Was ist Deutschland? Die staats- und völkerrechtlichen Grundsätze. Eine Einführung und Dokumentation für Lehrer. Didaktische Informationen zur Behandlung

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Schriftenverzeichnis der deutschen Frage im Unterricht, Bd. 2, hrsg. v. Senator für Schulwesen, Berufsbildung und Sport, Berlin 1982, 373 Seiten; 2. Aufl. Berlin 1986, 373 Seiten.

14. Die Ostverträge im Lichte des internationalen Vertragsrechts, Bonn 1982, 119 Seiten. 15. Was ist Deutschland? Staats- und völkerrechtliche Grundsätze zur deutschen Frage und ihre Konsequenzen für die deutsche Ostpolitik, Bonn 1982, 175 Seiten; 3. Aufl. Bonn 1989, 244 Seiten. 16. La Nueva Constitucion de la Republica de Chile, 1983, 96 Seiten. 17. Die neue chilenische Verfassung unter besonderer Berücksichtigung der chilenischen Entwicklung (Studien zur Soziologie, Bd. 2), Nymphenburger Verlag München 1983, 162 Seiten. 18. Der Prager Vertrag. Eine Einführung und Dokumentation zum Vertrag vom 11. Dezember 1973 unter besonderer Berücksichtigung des Münchner Abkommens und seiner Auswirkungen auf Deutschland als Ganzes, Bonn 1985, 173 Seiten. 19. Denk ich an Deutschland. Antworten auf die Deutsche Frage, Bayerische Landeszentrale für Politische Bildungsarbeit München 1989, 240 Seiten. 20. Denk ich an Deutschland. Dokumenten-Band, Bayerische Landeszentrale für Politische Bildungsarbeit München 1989, 196 Seiten. 21. What is Germany? Exploring Germany’s Status after World War II, Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen Bonn 1989, 144 Seiten. 22. Die Überwindung der deutschen Teilung und die Vier Mächte (Forschungsergebnisse der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 3), Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen Bonn 1990, 161 Seiten. 23. Staatennachfolge und die Einigung Deutschlands. Teil I: Völkerrechtliche Verträge (Forschungsergebnisse der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 10), Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, Bonn 1992, 232 Seiten. 24. Das Offenhalten der Vermögensfrage in den deutsch-polnischen Beziehungen (Forschungsergebnisse der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 13), Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, Bonn 1992, 158 Seiten. 25. Minderheiten- und Volksgruppenrecht. Aktuelle Entwicklung (Forschungsergebnisse der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 15), Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, Bonn 1992, 192 Seiten. 26. This is Germany – Germany’s Legal Status after Unification, Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, Bonn 1994, 100 Seiten. 27. Volksgruppen und Minderheiten. Politische Vertretung und Kulturautonomie (Forschungsergebnisse der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 20, Geb. Mann Verlag Berlin 1995, 198 Seiten. 28. The Legal Status of the Divided Nations. Research Institute of Law and Administration, Seoul, Korea, 1996, 231 Seiten. 29. Stabilitätspakt für Europa. Die Sicherstellung mitgliedstaatlicher Haushaltsdisziplin in Europa- und Völkerrecht (Schriften zum Staats- und Völkerrecht, Bd. 71), Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main u. a. 1997, 125 Seiten (zusammen mit Burkhard Schöbener).

Schriftenverzeichnis

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30. Internationale Schutzmechanismen zur Durchsetzung von Minderheiten- und Volksgruppenrechten (Forschungsergebnisse der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 24), Verlag Wissenschaft und Politik, Köln 1997, 229 Seiten. 31. Interessenausgleich zwischen Deutschland und den östlichen Nachbarn. Die deutsch-tschechische Erklärung vom 21. Januar 1997 und die Ansprüche der deutschen Heimatvertriebenen (Forschungsergebnisse der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 27), Verlag Wissenschaft und Politik, Köln 1998, 168 Seiten. 32. Wahlrecht für Deutsche in Polen? Zur Möglichkeit einer Beteiligung der deutschen Bevölkerungsgruppe in Polen an den Wahlen zum Deutschen Bundestag (Mittel- und Osteuropawissenschaften, Reihe Recht, Bd. 3), Verlag Wissenschaft und Politik, Köln 1999, 136 Seiten. 33. Positionen der katholischen Kirche zum Schutz von Minderheiten und Volksgruppen in einer internationalen Friedensordnung (Forschungsergebnisse der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 32), Verlag Wissenschaft und Politik, Köln 2000, 175 Seiten. 34. Vorschlag einer Minderheitenschutzbestimmung in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, INTEREG, München 2001, 144 Seiten. 35. Fälle und Lösungen zum Völkerrecht. Übungsklausuren mit gutachterlichen Lösungen und Erläuterungen, Richard Boorberg Verlag Stuttgart 2001, 195 Seiten; 2. Aufl. 2005 245 Seiten (zusammen mit Marten Breuer). 36. Rechtsgutachten über die Verbrechen an den Deutschen in Jugoslawien 1944– 1948, hrsg. Vorstand der Donauschwäbischen Kulturstiftung, Sonderausgabe Juristische Studien, München 2002, 64 Seiten. 37. Okkupation und Revolution in Slowenien (1941–46). Eine völkerrechtliche Untersuchung. Böhlau Verlag Wien 2005, 162 Seiten. – slowenisch unter dem Titel Okupacija in revolucija v Sloveniji (1941–1946). Mednarodnopravna študija, Ljubljana 2005, 186 Seiten.

II. Herausgeberschaften 1. Schriftenreihe Schriften zum Staats- und Völkerrecht, Verlag Peter Lang, Frankfurt am Main, Bern, New York, Paris, Bd. 1 bis Bd. 121. 2. Zeitschriften 1. Recht in Ost und West. – Zeitschrift für Rechtsvergleichung und innerdeutsche Rechtsprobleme, Berlin; zusammen mit Arwed Blomeyer, Georg Brunner, Ulrich Drobnig u. a. (1986 ff.). 2. Zeitschrift für Politik, Köln, Berlin; zusammen mit Rupert Hofmann, Franz Knöpfle, Nikolaus Lobkowicz, Hans Maier u. a. (1991 ff.). 3. Schriften 1. Festschrift für Friedrich Berber zum 75. Geburtstag, Verlag C. H. Beck 1973 (zusammen mit Albrecht Randelzhofer), 577 Seiten.

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2. Konrad Adenauer und seine Zeit. Politik und Persönlichkeit des ersten Bundeskanzlers. Bd. 1: Beiträge von Weg- und Zeitgenossen. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1976, 771 Seiten (zusammen mit Klaus Gotto, Hans Maier, Konrad Repgen und Hans-Peter Schwarz). 3. Konrad Adenauer und seine Zeit. Politik und Persönlichkeit des ersten Bundeskanzlers. Bd. 2: Beiträge der Wissenschaft, Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1976 (zusammen mit Klaus Gotto, Hans Maier, Konrad Repgen und Hans-Peter Schwarz), 714 Seiten. 4. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die deutsche Frage. Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 2, Verlag Wissenschaft und Politik, Köln 1984, 166 Seiten (zusammen mit Boris Meissner). 5. Staatliche und nationale Einheit Deutschlands – ihre Effektivität. Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 3, Verlag Wissenschaft und Politik, Köln 1984, 167 Seiten (zusammen mit Boris Meissner). 6. Deutschland als Ganzes. Rechtliche und historische Überlegungen. Festschrift anläßlich des 70. Geburtstages von Herbert Czaja, Verlag Wissenschaft und Politik, Köln 1985, 342 Seiten (zusammen mit Gottfried Zieger und Boris Meissner). 7. Die Überwindung der deutschen Teilung und die deutsche Frage. Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 4, Verlag Wissenschaft und Politik, Köln 1986, 144 Seiten (zusammen mit Boris Meissner). 8. Flucht und Vertreibung, Vorträge eines Symposions, veranstaltet vom Institut für Völkerrecht der Universität Würzburg, 19.–22. November 1985, Carl Heymanns Verlag KG, Köln/Berlin, 1987, 738 Seiten. 9. Menschenrechte und wirtschaftliche Gegenleistungen. Aspekte ihrer völkerrechtlichen Verknüpfungen. Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 5, Verlag Wissenschaft und Politik, Köln 1987, 104 Seiten (zusammen mit Gottfried Zieger). 10. Das deutsche Volk und seine staatliche Gestalt. Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 6, Verlag Wissenschaft und Politik, Köln 1988, 142 Seiten (zusammen mit Gottfried Zieger). 11. Die deutsche Frage im Spiegel der Parteien. Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 7, Verlag Wissenschaft und Politik, Köln 1989, 192 Seiten (zusammen mit Gottfried Zieger). 12. 40 Jahre Bundesrepublik Deutschland. Verantwortung für Deutschland. Staatsund völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 8, Verlag Wissenschaft und Politik, Köln 1989, 99 Seiten (zusammen mit Gottfried Zieger). 13. Rumänien. – Marxismus-Leninismus in Theorie und Praxis. Ehrengabe für Dionisie Ghermani zum 65. Geburtstag. Beiträge zur Kenntnis Südosteuropas und des Nahen Orients. Verlag Dr. Dr. Rudolf Trofenik, München 1990 (zusammen mit Horst Glassl und Edgar Hösch). 14. Menschenrechtsverpflichtungen und ihre Verwirklichung im Alltag. Auswirkungen für die Deutschen. Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studien-

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gruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 9, Verlag Wissenschaft und Politik, Köln 1990, 126 Seiten (zusammen mit Hans von Mangoldt). 15. Neubestätigung und Weiterentwicklung von Menschenrechten und Volksgruppenrechten in Mitteleuropa. Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 10, Verlag Wissenschaft und Politik, Köln 1991, 120 Seiten (zusammen mit Hans von Mangoldt). 16. Fortentwicklung des Minderheitenschutzes und der Volksgruppenrechte in Europa. Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 11, Verlag Wissenschaft und Politik, Köln 1992, 152 Seiten (zusammen mit Hans von Mangoldt). 17. Minderheiten- und Volksgruppenrechte in Theorie und Praxis. Wege in eine gemeinsame Zukunft mit östlichen Nachbarn. Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 12, Verlag Wissenschaft und Politik, Köln 1993, 112 Seiten (zusammen mit Gilbert Gornig). 18. Aktuelle rechtliche und praktische Fragen des Volksgruppen- und Minderheitenrechtschutzes. Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 13, Verlag Wissenschaft und Politik, Köln 1994, 153 Seiten (zusammen mit Murswiek, Dietrich). 19. Recht auf die Heimat im zusammenwachsenden Europa. Ein Grundrecht für nationale Minderheiten und Volksgruppen. Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main 1995, 123 Seiten. 20. Rechtliche und politische Perspektiven deutscher Minderheiten und Volksgruppen. Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 14, Verlag Wissenschaft und Politik, Köln 1995, 164 Seiten (zusammen mit Gilbert Gornig). 21. Das Potsdamer Abkommen. III. Teil: Rückblick nach 50 Jahren, Verlag Wilhelm Braumüller, Wien 1996, 243 Seiten (zusammen mit Boris Meissner und Gilbert Gornig). 22. Der Schutz von Minderheiten- und Volksgruppenrechten durch die Europäische Union. Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 15, Verlag Wissenschaft und Politik, Köln 1996, 190 Seiten (zusammen mit Gilbert Gornig). 23. Russlands Reform auf dem Prüfstand, Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, Bonn 1997, 145 Seiten (zusammen mit Silke Spieler). 24. Der Beitritt der Staaten Ostmitteleuropas zur Europäischen Union und die Rechte der deutschen Volksgruppen und Minderheiten sowie der Vertriebenen. Staatsund völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 16, Verlag Wissenschaft und Politik, Köln 1997, 196 Seiten (zusammen mit Gilbert Gornig und Dietrich Murswiek). 25. Rechtsanspruch und Rechtswirklichkeit des europäischen Minderheitenschutzes. Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 17, Verlag Wissenschaft und Politik, Köln 1998, 176 Seiten (zusammen mit Gilbert Gornig und Dietrich Murswiek). 26. Fortschritte im Beitrittsprozeß der Staaten Ostmittel-, Ost- und Südosteuropas zur Europäischen Union. Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 18, Verlag Wissenschaft und Politik, Köln 1999, 171 Seiten (zusammen mit Gilbert Gornig und Dietrich Murswiek).

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27. Ein Jahrhundert Minderheiten- und Volksgruppenschutz. Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 19, Verlag Wissenschaft und Politik, Köln 2001, 200 Seiten (zusammen mit Gilbert Gornig und Dietrich Murswiek). 28. Minderheitenschutz und Demokratie. Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 20, Duncker & Humblot, Berlin 2004, 204 Seiten (zusammen mit Gilbert Gornig und Dietrich Murswiek). 29. Die Europäische Union als Wertegemeinschaft. Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 22, Duncker & Humblot, Berlin 2005, 312 Seiten (zusammen mit Gilbert Gornig und Dietrich Murswiek). 30. Minderheitenschutz und Menschenrechte. Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 21, Duncker & Humblot, Berlin 2006, 241 Seiten (zusammen mit Gilbert Gornig und Dietrich Murswiek).

III. Beiträge in wissenschaftlichen Fachzeitschriften und Sammelwerken 1. Die Fortentwicklung des Staatsangehörigkeitsrechtes der Vereinigten Staaten von Amerika durch die Rechtsprechung des Supreme Court unter besonderer Berücksichtigung der Ausbürgerungstatbestände, in: StAZ 1967, S. 61–67. 2. Das neue Staatsbürgerschaftsgesetz der DDR, in: JOR, Bd. 8, 1967, S. 175–209. 3. Was ist Deutschland? – Kritische Anmerkung zur gleichnamigen Denkschrift von Wilhelm Wolfgang Schütz, in: Zeitschrift für Politik, Bd. 15, 1968, S. 453–463. 4. Zum Kollisionsrecht der notariellen Urkunde, in: Deutsche Notar-Zeitschrift, 1968, S. 712–750. 5. Das Sezessionsrecht innerstaatlicher Rechtsgemeinschaften, in: Verfassung und Recht in Übersee, 1970, S. 429–443. 6. Typische Konflikte zwischen Verwaltungsträgern und ihre Regelung im deutschen Verwaltungsrecht, in: AöR, Bd. 96, 1971, S. 161–202 (Ausarbeitung des Habilitationsvortrages). 7. Rechtliche Probleme bei der Abgrenzung der beiden deutschen Staaten, in: JOR, Bd. 12, 1971, S. 7–38. 8. Die Beteiligung des Bundesrates beim Abschluß politischer Verträge. Ein Beitrag zur Auslegung des Art. 59 Abs. 2 S.1 GG, in: BayVBl. 1972, S. 29–37. 9. Ostverträge – Modus vivendi oder friedensvertragliche Regelung?, in: Beiträge zur Ostpolitik, hrsg. v. der Hanns-Seidel-Stiftung e. V., München 1972, S. 30–37. 10. Die vermögensrechtlichen Folgen der Ostverträge, in: JOR, Bd. 13, 1972, S. 179–251. 11. Der Grundvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR. – Eine völker- und verfassungsrechtliche Würdigung, in: Politische Studien, Heft 207, 1973, S. 3–10.

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12. Zur Frage der Einheit der deutschen Nation, ihrer rechtlichen Bedeutung und ihre Absicherung im Grundvertrag, in: Politische Studien, Heft 209, 1973, S. 225–242. 13. Die Unberührtheitsklausel in der Deutschlandpolitik, in: Blumenwitz, Dieter / Randelzhofer, Albrecht (Hrsg.), Festschrift für Friedrich Berber, 1973, S. 83–108. 14. Die Grundlagen eines Friedens für den Nahen Osten. – Festvortrag zur Woche der Brüderlichkeit, hrsg. v. der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit e. V., München 1974; auszugsweise in: Die neue Stadt, Heft 8/9, 1974, S. 1–15. 15. Selbstbestimmung und Menschenrechte im geteilten Deutschland, in: 1. Conférence Européenne pour les droits de l’homme et l’autodétermination, Résumé 1974, S. 67 ff. = JIR, Bd. 17, 1974, S. 11–35. 16. Die Grundlagen einer Deutschlandpolitik nach dem Grundvertragsurteil, in: „Informationen zur Deutschlandpolitik“, Heft 3, 1974, S. 15–23. 17. Staatsbegriff und Deutschlandpolitik, in: Was wir wünschen. – Junge Bundesbürger über die Zukunft ihres Staates, 1974, S. 55–81. 18. Die Auswirkungen des Karlsruher Urteils auf die verfassungs- und völkerrechtliche Situation der Bundesrepublik, in: Deutschland nach den Verträgen, CC-Schrift Nr. 24, 1974, S. 35–51. 19. Völkerrechtliches Gutachten vom 6. März 1974 zum Fall Rudolf Heß, Sonderdruck aus: Heß. – Weder Recht noch Menschlichkeit, 1974, S. 129–191. 20. Zur Nichtigkeit des Münchner Abkommens vom 29. September 1938. – Einige Bemerkungen zum Vertrag über die gegenseitigen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik vom 11. Dezember 1973: Erster Teil: Die völkerrechtliche und politische Ausgangslage beim Vertragsschluß, in: JOR, Bd. 15, 1974, S. 77–95. 21. Zur Nichtigkeit des Münchner Abkommens vom 29. September 1938. – Einige Bemerkungen zum Vertrag über die gegenseitigen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik vom 11. Dezember 1973: Zweiter Teil: Die Analyse der deutsch-tschechoslowakischen Kompromißformel und ihre rechtlichen Auswirkungen, in: JOR, Bd. 16, 1975, S. 181–261. 22. Die deutsche Staatsangehörigkeit und die Konsularverträge der DDR mit dritten Staaten, in: Politische Studien, Heft 221, 1975, S. 283–292. 23. Bayern und Deutschland. – Einige Bemerkungen zur verfassungsrechtlichen und politischen Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Huber, Ludwig (Hrsg.), „Bayern – Deutschland – Europa“. Festschrift für Alfons Goppel, 1975, S. 41–62. 24. Wesenskern kommunaler Selbstverwaltung, Referat, gehalten auf der Landesversammlung der Kommunalpolitischen Vereinigung am 21.06.1975 in Ansbach, hektographiert, 22 Seiten. 25. Grenzen der Verantwortlichkeit Großbritanniens für das Alliierte Militärgefängnis in Berlin-Spandau. Die Entscheidung der Europäischen Kommission für Menschenrechte im Heß-Fall, in: EuGRZ 1975, S. 482–485. 26. Anmerkung zu dieser Entscheidung, in: EuGRZ 1975, S. 497–498. 27. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Ostverträge, in: EuGRZ 1975, S. 556–560.

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28. Die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und die Auswirkung ihrer grenzbezogenen Regelungen auf die Bundesrepublik Deutschland, in: Partnerschaft mit dem Osten. – 10 Beiträge zur Lage Deutschlands nach den Verträgen, 1976, S. 217–255. 29. Der Adenauer-Bulganin-Brief und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion. – Einige Bemerkungen zur fortwirkenden Bedeutung der Adenauerschen Ostpolitik, in: Blumenwitz, Dieter u. a. (Hrsg.), Konrad Adenauer und seine Zeit, Politik und Persönlichkeit des ersten Bundeskanzlers, Bd. 2: Beiträge der Wissenschaft, 1976, S. 160–191. 30. Verfassungsbeschwerde und politischer Vertrag. – Zum Problem der Schranken der Verfassungsrechtsprechung im Bereich der auswärtigen Gewalt des Bundes, in: BayVBl. 1976 (Doppelheft aus Anlaß des 75. Geburtstages von Theodor Maunz), S. 520–527. 31. Judicial self-restraint und die verfassungsgerichtliche Überprüfung von Akten der Auswärtigen Gewalt. – Zur Rezeption eines amerikanischen Rechtsbegriffs durch das Bundesverfassungsgericht, in: DVBl. 1976, S. 464–469. 32. Die verfassungsrechtliche Problematik der Verfassungstreue im öffentlichen Dienst. – Vortrag gehalten anläßlich der Landestagung des Arbeitskreises der Juristen am 17. Juli 1976 im Bayerischen Landtag, fotomechanisch vervielfältigt, 1976, 25 Seiten. 33. Einführung zu Otto Kimminich, Entwicklungstendenzen des Völkerrechts, „Themen-Reihe“ der Carl-Friedrich-von-Siemens–Stiftung, Bd. 24, 1976. 34. Die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes der Vereinigten Staaten zur Todesstrafe (Gregg v. Georgia, Proffitt v. Florida, Jurek v. Texas, Woodson v. North Carolina, Roberts v. Lousiana), in: EuGRZ 1976, S. 411–416 und S. 418–420. 35. Die Zukunft der Atlantischen Gemeinschaft, in: Weltmacht USA (Sieben Augsburger Universitätsvorträge). Schriften des Philosophischen Fachbereichs der Universität Augsburg, Nr. 10, 1977, S. 121–140. 36. Der Fall Abu Daud (Entscheidungen des Cour d’Appel, Paris, vom 11.01.1977 mit Kommentar und Kritik), in: EuGRZ 1977, S. 102–104 und S. 114–118. 37. Die beiden deutschen Staaten in den Vereinten Nationen, in: Zeitschrift für Politik, 1977, S. 101–121. 38. Das deutsch-polnische Ausreiseprotokoll vom 9. Oktober 1975. Ein Beitrag zur Abgrenzung von vertraglichen und nichtvertraglichen Verpflichtungen in der neueren Staatenpraxis, in: Kipp, Heinrich / Hayer, Franz / Steinkamm, Armin (Hrsg.), Um Recht und Freiheit. Festschrift für Friedrich August Freiherr von der Heydte zur Vollendung des 70. Lebensjahres, 1977, S. 47–83. 39. Die beiden deutschen Staaten in der UNO, in: Politik und Kultur, 1977, S. 54–64. 40. Die „Briefe zur deutschen Einheit“ der Bundesregierung – Alibis oder präsentable Elemente eines Selbstbestimmungsanspruchs? in: Münch, Ingo von / Oppermann, Thomas / Stödter, Rolf (Hrsg.), Finis Germaniae? – Zur Lage Deutschlands nach den Ostverträgen und Helsinki. Symposium anläßlich des 70. Geburtstages von Herbert Krüger, 1977, S. 47–57. 41. Die Atlantische Gemeinschaft im Zeitalter der Entspannung, in: Domes, Alfred (Hrsg.), Entspannung – Krise und Hoffnung, 1977, S. 22–41.

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42. Beschränkung des Brief- , Post- und Fernmeldegeheimnisses (Abhörgesetz) / Fall Klass, in: EuGRZ 1977, S. 419–422. 43. Helsinki und die Menschenrechte, in: Europäische Konferenz für Menschenrechte und Selbstbestimmung, Luzern, i. V. m. der Hanns-Seidel-Stiftung e. V. (Hrsg.), Helsinki – Menschenrechte – Entspannungspolitik, 1977, S. 54–82. 44. Die völkerrechtlichen Aspekte der KSZE-Schlußakte, in: Göttinger Arbeitskreis (Hrsg.), Die KSZE und die Menschenrechte. – Politische und rechtliche Überlegungen zur zweiten Etappe (Studien zur Deutschlandfrage, Bd. 2), 1977, S. 53–71. 45. Die beiden Croissant-Entscheidungen des Appellationsgerichtshofs, Paris, in: EuGRZ 1978, S. 48–50. 46. Völkerrecht und Rechtsvergleichung (Projektgruppe für Internationales und Vergleichendes Sozialrecht), in: Zacher, Hans F. (Hrsg.), Sozialrechtsvergleich im Bezugsrahmen internationalen und supranationalen Rechts, 1978, S. 75–90. 47. Die deutsche Staatsangehörigkeit und die Schutzpflicht der Bundesrepublik Deutschland, in: Heldrich, Andreas v. / Henrich, Dieter / Sonnenberger, HansJürgen (Hrsg.), Konflikt und Ordnung. Festschrift für Murad Ferid zum 70. Geburtstag, 1978, S. 439–449. 48. Die Informationsfreiheit aus der Sicht des Völkerrechts, in: Hanns-Seidel-Stiftung e. V. (Hrsg.), Informationsfreiheit – ein Menschenrecht, 1978, S. 18–46. 49. Deutschland nach den Verträgen. – Die staats- und verfassungsrechtlichen Probleme des Selbstverständnisses der Bundesrepublik Deutschland, in: Geißler, Heiner (Hrsg.), Perspektiven der Rechtspolitik der Bundesrepublik Deutschland, 1978, S. 73 ff. 50. Der Warschauer Vertrag, in: Deutsches Forum Berlin, 1978, S. 18–28. 51. Wehrpflicht und Kriegsdienstverweigerung im Verfassungssystem der Bundesrepublik Deutschland, in: Politische Studien, Sonderheft 2: Verteidigungsbereitschaft als Aufgabe politischer Bildung, 1978, S. 21–34. 52. Die mögliche Gestaltung der Beziehung der Bundesrepublik Deutschland zum Internationalen Gerichtshof, in: JIR, Bd. 21, 1978, S. 207–251. 53. Zwischenstaatliche Zusammenarbeit und einzelstaatliche Souveränität. Tagungsbericht eines Symposiums der Alexander-von-Humboldt-Stiftung, in: Neue Entwicklung im öffentlichen Recht, 1979, S. 3–9. 54. Fünf Jahre Grundvertragsurteil des Bundesverfassungsgerichts, in: Schriften zur Rechtslage Deutschlands, Bd. 1, 1979, S. 7–22. 55. „Der Besiegte in einem gerechten Krieg“, in: Carl-Friedrich-v.-Siemens-Stiftung (Hrsg.), Die deutsche Neurose – Sondervortragsreihe, 1979, S. 103–129. 56. Die Darstellung der Grenzen Deutschlands in Schulatlanten, in: Informationen über Bildungsmedien in der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 8, 1979, S. 26–50; 2. Aufl. 1980, S. 26–51. 57. Verfassungsentwicklung in der Dritten Welt unter besonderer Berücksichtigung der chilenischen Entwicklung, in: Bossle, Lothar / Goldberg, Gerhard W. (Hrsg.), Gegenwartsprobleme der Demokratieforschung, 1979, S. 13–32. 58. Zur Rechtsproblematik von Städtepartnerschaftsabkommen: Rechtliche Grundlagen, in: BayVBl. 1980, S. 193–201.

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59. Zur Rechtsproblematik von Städtepartnerschaftsabkommen: Verfassungsrechtliche Fragen, in: BayVBl. 1980, S. 230–237. 60. Staatlicher Dirigismus mit dem KVKG blockiert gesamten Wettbewerb, in: Zahnärztliche Mitteilungen, 1980, S. 625 ff. 61. Die Krise der Weltwirtschaftsordnung, in: Epoche, Heft 10, 1980, S. 52–55. 62. Der deutsche Inlandsbegriff im Lichte des Staats- und Völkerrechts, in: Münch, Ingo von (Hrsg.), Staatsrecht – Völkerrecht – Europarecht. Festschrift für HansJürgen Schlochauer, 1980, S. 25–43. 63. Soziale Marktwirtschaft und internationale Ordnung, in: Die Anwendbarkeit der sozialen Marktwirtschaft in Industriestaaten und Entwicklungsländern, in: Würzburger Studien zur Soziologie, Bd. 5, 1980, S. 73–83. 64. Gott im Bonner Grundgesetz, in: Zur Debatte. Themen der Katholischen Akademie in Bayern, 1980, S. 12 f. 65. Grundvertrag und Verfassungsklage, in: Zimmermann, Friedrich (Hrsg.), Anspruch und Leistung. Widmungen für Franz Josef Strauß (65. Geburtstag), 1980, S. 151–171. 66. Die Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen und das Selbstbestimmungsrecht der Völker, in: Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen (Hrsg.), Menschenrechte und Selbstbestimmung, 1980, S. 21–36. 67. Völkerrecht und Regionalismus. – Forschungskolloquium im Wintersemester 1980/81. 68. Gutachten Rudolf Heß vom 28. Juli 1980, in: Der Fall Rudolf Heß und die Feindstaatenartikel der Satzung der Vereinten Nationen, 1980. 69. Was ist Deutschland? Die staats- und völkerrechtlichen Grundsätze, in: Zur Behandlung Deutschlands im Unterricht, 2. Arbeitstagung, hrsg. v. Verband. Deutscher Schulgeographen e. V., 1981, S. 54–71. 70. Der Inlandsbegriff in der Gesetzgebung der Bundesrepublik Deutschland, in: Kulturstiftung der Deutschen Vertriebenen (Hrsg.), Reden zur Zeit 1980, 1981, S. 143. 71. Notstand, Widerstandsrecht, Bürgerrechte, in: Epoche 1981, Heft 10, S. 60. 72. Die Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen und das Selbstbestimmungsrecht der Völker, in: Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen (Hrsg.), Menschenrechte und Selbstbestimmung, 1981, S. 21–37. 73. Anmerkungen zu Ludwik Gelberg. – Partnerschaften zwischen polnischen und bundesdeutschen Städten, in: Osteuropa Recht, Heft 1, 1981, S. 47. 74. Konsequenzen der Wahlniederlage der Unionsparteien: Kurskorrektur in der Ostpolitik, in: Zeitbühne (vereinigt mit der Zeitschrift Europa), März 1981, S. 24–27. 75. Verfassungsnorm und Demonstrationsrecht – Versammlungsfreiheit und polizeiliche Gefahrenabwehr bei Demonstrationen, in: Loccumer Protokolle 23/1981, S. 113 ff. 76. Staats- und völkerrechtliche Probleme von Städtepartnerschaften im Rahmen der Ost-West-Beziehungen, in: Loccumer Protokolle 24/1981, S. 30 ff. 77. Chiles Weg zur Präsidialdemokratie, in: Zeitbühne (vereinigt mit der Zeitschrift Europa), Juli/August 1981, S. 31–34.

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78. Abrüstung und Machtpolitik, in: Zeitbühne (vereinigt mit der Zeitschrift Europa), Oktober 1981, S. 28 ff. 79. Friede – Abrüstung – Sicherheit. Die völkerrechtlichen Grundlagen, in: Zeitbühne (vereinigt mit der Zeitschrift Europa), Oktober 1981, S. 31 ff. 80. Zur Vereinbarkeit der Todesschußapparate und des Schießbefehls der DDR an der deutsch-deutschen Grenze mit der KSZE-Schlußakte von Helsinki, in: Politische Studien, Heft 257, 1981, S. 305 ff. 81. Die deutsche Frage in den Vereinten Nationen seit dem Beitritt von Bundesrepublik Deutschland und DDR, in: Deutschland und die Vereinten Nationen – Symposium 2.–3. Oktober 1981, S. 35–52. 82. Was ist Deutschland, in: Was ist Deutschland? Materialien zur Behandlung der deutschen Frage im Unterricht in den bayerischen Schulen, Staatsinstitut für Schulpädagogik, 1981, S. 93–171. 83. Versammlungsfreiheit und polizeiliche Gefahrenabwehr bei Demonstrationen, in: Schreiber, Manfred (Hrsg.), Polizeilicher Eingriff und Grundrechte. Festschrift für Rudolph Samper, 1982, S. 131–152. 84. Kurskorrektur in der Ostpolitik der Unionsparteien? Beitrag zur Festschrift der Hochschulunion, 1982. 85. Wehrpflicht und Kriegsdienstverweigerung im Verfassungssystem der Bundesrepublik Deutschland, in: Barth, Peter (Hrsg.), Bundeswehr in Staat und Gesellschaft. Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, 1. Aufl. 1982, S. 59–76. 86. Das Völkerrecht im Falkland-Konflikt, in: Zeitbühne (vereinigt mit der Zeitschrift Europa), Juli/August 1982, S. 25–28. 87. Europäische Gemeinschaft und Rechte der Länder, in: Bieber, Roland / Bleckmann, Albert / Capotorti, Francesco (Hrsg.), Das Europa der zweiten Generation. Gedächtnisschrift für Christoph Sasse, 1982, S. 277–297. 88. Kommunale Außenpolitik, in: Mutius, Albert von (Hrsg.), Selbstverwaltung im Staat der Industriegesellschaft. Festschrift für Georg-Chr. von Unruh, 1982, S. 326–335. 89. Der demokratische Rechtsstaat und die Regelung des Notstandes, in: Freiheit und Autorität als Grundlage der modernen Demokratie, in: Würzburger Studien zur Soziologie, Bd. 7, 1982, S. 103–114. 90. Beschwerde Nr. 8766/79 – Entscheidung vom 10. Juli 1981 – Rudolf Heß gegen Frankreich und das Vereinigte Königreich, in: EuGRZ 1982, S. 15–16. 91. Landnahme zur See. – Einige Bemerkungen zu den bisherigen Ergebnissen der Dritten UN-Seerechtskonferenz, in: Zeitbühne (vereinigt mit der Zeitschrift Europa), März 1982, S. 23–25. 92. Falkland oder Malvinas?, in: Zeitschrift für Politik, 1982, S. 318–330. 93. Rechtsfragen des amerikanischen Gas-Röhren-Embargos, in: Epoche, 1982, S. 28–38. 94. Kontinuität und Wandel in der chilenischen Verfassungsentwicklung, in: Vorträge 1980/81 – Ibero-Club Bonn e. V., 1982, S. 133–152.

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95. Die verfassungsrechtliche Bedeutung des „invocatio dei“ im Bonner Grundgesetz, in: Würzburger Studien zur Soziologie, Bd. 7, 1982, S. 85–102. 96. Der demokratische Rechtsstaat und die Regelung des Notstandes, in: Würzburger Studien zur Soziologie, Bd. 7, 1982, S. 103–114. 97. Keine neuen Argumente bei Gelberg, in: Osteuropa, Bd. 3/4, 1982, S. 247–248. 98. Der Begriff der Kriegsgefangenschaft. – Zur Verweisung des Sozialrechts der Bundesrepublik Deutschland auf einschlägige Normen des Kriegsvölkerrechts, in: GYIL, vol. 25, 1982, S. 528–538. 99. Die Offenhaltung der deutschen Frage, in: Kulturstiftung der Vertriebenen (Hrsg.), Materialien zu Deutschlandfragen. – Politiker und Wissenschaftler nehmen Stellung, 1981/82, 1983, S. 219–220. 100. Die Rechtlichkeit von Sanktionen, in: Zeitbühne (vereinigt mit der Zeitschrift Europa), Januar 1983, S. 22–26. 101. Der verfassungsrechtliche Weg zu den vorgezogenen Wahlen am 6. März 1983, in: Zeitbühne (vereinigt mit der Zeitschrift Europa), März/April 1983, S. 30–32. 102. Der Regierungswechsel in Bonn und der verfassungsrechtliche Weg zu den vorgezogenen Wahlen am 06.03.1983, in: „Information“ der Bayerischen Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Heft 3/17, 1983, S. 8–10. 103. Nachruf Ernst-Werner Fuß, in: AöR, Bd. 107, 1983, S. 635–636. 104. Länder- und Regionalinteressen bei der europäischen Integration und den Maßnahmen der Europäischen Gemeinschaft, in: Internationales Institut für Nationalitätenrecht und Regionalismus München (Hrsg.), Regionalismus in Europa (Bericht über die 2. wissenschaftliche Tagung in Dülmen vom 3. bis 6. April 1981), Bd. 3, 1983, S. 70–76. 105. Demonstrationsrecht ist kein Blockaderecht, Briefdienst 6/83 des Arbeitskreises „Sicherung des Friedens“. 106. Die Grünen im 10. Deutschen Bundestag – offene Verfassungsrechtsfragen, in: Zeitbühne (vereinigt mit der Zeitschrift Europa), Juni 1983, S. 26–29. 107. Die Verschiebung der Volkszählung, in: Zeitbühne (vereinigt mit der Zeitschrift Europa), Juni 1983, S. 34. 108. Deutschlands Souveränitätsdefekt. – Bieten die UNO-Feindstaatenklauseln den Sowjets Möglichkeiten der Intervention?, in: Epoche, Juni 1983, S. 14–18. 109. Die Erklärung von Städten und Gemeinden zu „atomwaffenfreien Zonen“, in: Zeitbühne (vereinigt mit der Zeitschrift Europa), Juli/August 1983, S. 36–37. 110. Staats- und völkerrechtliche Grundsätze der „Deutschen Frage“, in: Studienreisen in die DDR, 1983, S. 43–46. 111. Lex rei sitae und occupatio bellica, in: Ress, Georg / Will, Michael R. (Hrsg.), Vorträge, Reden und Berichte aus dem Europa Institut Nr. 12 anläßlich der Gedächtnisfeier für Léontin-Jean Constantinesco, 1983, S. 406–415. 112. Inhalt und völkerrechtliche Grenzen der „Rechte und Verantwortlichkeiten“ der Vier Mächte, in: Meissner, Boris / Zieger, Gottfried (Hrsg.), Staatliche Kontinuität unter besonderer Berücksichtigung der Rechtslage Deutschlands. Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 1, 1983, S. 47–59.

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113. Aktuelle Probleme der Deutschen Frage, in: Die Deutsche Frage. Grundsätzliche Probleme und aktuelle Aspekte, 1983, S. 27–38. 114. Zehn Jahre Grundvertragsurteil des Bundesverfassungsgerichts, in: Zeitbühne (vereinigt mit der Zeitschrift Europa), Dezember 1983, S. 15–22. 115. Demonstrationsrecht ist kein Blockaderecht, in: Information für die Truppe, Heft 9, 1983, S. 15–22. 116. 100 Jahre Krankenversicherung, in: 100 Jahre Krankenversicherung, hrsg. vom Forschungsinstitut für zahnärztliche Versorgung (FZV), Bd. 5, 1983, S. 103–107. 117. Deutschlandfrage und Selbstbestimmungsrecht, in: Blumenwitz, Dieter / Boris Meissner (Hrsg.), Das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die deutsche Frage. Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 2, 1984, S. 139–149. 118. Der Begriff der „Bindungen zwischen den Westsektoren Berlins und der Bundesrepublik Deutschland“. Eine Untersuchung anläßlich des 10-jährigen Jubiläums des Vier-Mächte-Abkommens vom 03.09.1971, in: Zieger, Gottfried (Hrsg.), Schriften zur Rechtslage Deutschlands, Bd. 5: Zehn Jahre Berlin-Abkommen 1971–1981 – Versuch einer Bilanz, 1984, S. 77–102. 119. Die Verfassungsentwicklung der Dritten Welt, unter besonderer Berücksichtigung der chilenischen Entwicklung, in: Studien zur Soziologie, Bd. 2, 1984, S. 7–68. 120. Staats- und völkerrechtliche Folgen des Nachrüstungsbeschlusses in der Bundesrepublik Deutschland, in: Zeitbühne (vereinigt mit der Zeitschrift Europa), März 1984, S. 28–31. 121. Die Rolle des Rechts und rechtlicher Institutionen bei der Europäischen Einigung, in: Zeitbühne (vereinigt mit der Zeitschrift Europa), April 1984, S. 22–24. 122. Länder- und Regionalinteressen bei der Europäischen Einigung, in: Weiß-Blaue Rundschau, Mai 1984, S. 3–6, Fortsetzung S. 12–13. 123. Staatsangehörigkeit, in: Bergmann, Alexander / Ferid, Murad (Hrsg.), Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, 80. Lieferung, abgeschlossen am 31.03.1984. 124. Die Grenzsicherungsanlagen der DDR im Lichte des Staats- und Völkerrechts, in: Zieger, Gottfried (Hrsg.), Recht, Wirtschaft, Politik im geteilten Deutschland. Festschrift für Siegfried Mampel zum 70. Geburtstag, 1984, S. 93–101. 125. Grenada: Kanonenpolitik oder humanitäre Intervention?, in: Zeitbühne (vereinigt mit der Zeitschrift Europa), November 1984, S. 33–35. 126. Völkerrecht und Regionalismus, in: Lipp, Wolfgang (Hrsg.), Industriegesellschaft und Regionalkultur, Schriftenreihe der Hochschule für Politik München, Bd. 6, 1984, S. 89–104. 127. „Ex factis ius oritur“. –„Ex iniuria ius non oritur“, in: Blumenwitz, Dieter / Meissner Boris (Hrsg.), Staatliche und nationale Einheit Deutschlands – ihre Effektivität. Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 3, 1984, S. 43–56. 128. Kompetenzen im Bereich der Außenpolitik, in: Verband. für politische Wissenschaften der SR Serbien und dem Institut für politische Studien Belgrad, Kulturund Informationszentrum der BRD in Belgrad (Hrsg.), Probleme des Föderalismus, 1985, S. 1–16.

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Schriftenverzeichnis

129. An der Grenze des Völkermordes. – Die Vertreibung der Deutschen in völkerrechtlicher Sicht, in: Deutscher Ostdienst, Informationen des Bundes der Vertriebenen, Vereinigte Landsmannschaften und Landesverbände, Sonderausgabe 1, 1985, S. 10–12. 130. Die staatsangehörigkeitsrechtlichen Folgen der Teilung Deutschlands, in: Henrich, Dieter / Hoffmann, Bernd von (Hrsg.), Festschrift für Karl Firsching zum 70. Geburtstag, 1985, S. 27–39. 131. „Jeu au comptant“. – „Jeu sur parole“. – Rechtsvergleichende und internationalprivatrechtliche Anmerkungen zum Glücksspiel nach dem Code civil, in: Barfuß, Werner / Dutoit, Bernard / Forkel, Hans / Immenga, Ulrich / Majoros, Ferenc (Hrsg.), Festschrift für Karl H. Neumayer zum 65. Geburtstag, 1985, S. 79–93. 132. Bayerns Beiträge zur Deutschlandpolitik, in: Carstens, Karl / Goppel, Alfons / Kissinger, Henry / Mann, Golo (Hrsg.), Franz Josef Strauß – Erkenntnisse, Standpunkte, Ausblicke. Festschrift zum 70. Geburtstag, 1985, S. 197–208. 133. Rechtsfragen der kartographischen Darstellung der Grenzen Deutschlands in den Sendungen deutscher Fernsehanstalten; in: Zieger, Gottfried / Meissner, Boris / Blumenwitz, Dieter (Hrsg.), Deutschland als Ganzes. Rechtliche und historische Überlegungen. Festschrift anläßlich des 70. Geburtstages von Herbert Czaja, 1985, S. 103–117. 134. Die territorialen Folgen des Zweiten Weltkrieges für Deutschland, in: AVR, Bd. 23, 1985, S. 1–30. 135. Die Nicaragua-Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs, in: Zeitbühne (vereinigt mit der Zeitschrift Europa), Juni 1985, S. 22–24. 136. Genießt der Vorsitzende des Staatsrates der DDR in der Bundesrepublik Immunität nach den allgemeinen Regeln des Völkerrechts?, in: JZ 1985, S. 614–618. 137. Die deutsche Souveränität und ihre Begrenzung durch die alliierten Vorbehaltsrechte, Grenzen und Möglichkeiten der Bonner Außenpolitik, in: Deutschland in Geschichte und Gegenwart, 1985, Nr. 2, S. 5–9. 138. Der Nationenbegriff und die deutsche Frage, in: Zeitschrift für Politik, 1985, S. 268–278. 139. Deutsche Frage, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, 7. Aufl., Bd. 1, 1985, S. 1263–1274. 140. Der Abschluß von völkerrechtlichen Verträgen mit der DDR über Gegenstände der Ländergesetzgebung und -verwaltung nach dem Grundgesetz, in: ROW 1985, S. 190–198. 141. Rechtsfragen der kartographischen Darstellung der Grenzen Deutschlands in den Sendungen deutscher Fernsehanstalten, in: Zieger, Gottfried / Meissner, Boris / Blumenwitz, Dieter (Hrsg.), Deutschland als Ganzes. Rechtliche und historische Überlegungen, 1985, S. 103–117. 142. Feindstaatenklauseln, in: Arndt, Hans-Joachim / Blumenwitz, Dieter / Diwald, Hellmut / Maschke, Günter / Seiffert, Wolfgang / Willms, Bernard (Hrsg.), Inferiorität als Staatsräson, Bd. 9, 1985, S. 119–134. 143. Ist die deutsche Frage aktuell? in: Picaper, Jean-Paul / Oeltze v. Lobenthal, Günter (Hrsg.), Ist die deutsche Frage aktuell?, 1985, S. 128–140. 144. Deutschland-Vertrag 1955–1985. Zur Souveränität der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Beschränkung im Wandel dreier Jahrzehnte, in: ROW 1985, S. 317– 323.

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145. Eine Verfassung für Europa. – Bemerkungen zum Vertragsentwurf des Europäischen Parlaments zur Gründung einer Europäischen Union aus deutscher Sicht, in: Zeitbühne (vereinigt mit der Zeitschrift Europa), Januar/Februar 1986, S. 20–23. 146. Die Überwindung der europäischen Teilung und die deutsche Frage, in: Blumenwitz, Dieter / Meissner, Boris (Hrsg.), Die Überwindung der europäischen Teilung und die deutsche Frage. Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 4, 1985, S. 9–12. 147. Die Offenheit der deutschen Frage als Problem des Völkerrechts, in: Weigelt, Klaus (Hrsg.), Deutsche Frage und Westbindung, Forschungsbericht 53 der Konrad-Adenauer-Stiftung, 1986, S. 17–26. 148. Die Frage der deutschen Grenzen, in: Willms, Bernard (Hrsg.), Handbuch zur Deutschen Nation, Bd. 1: Geistiger Bestand und politische Lage, 1986, S. 263–304. 149. Die völkerrechtliche Lage Deutschlands, in: Albrecht, Ulrich / Altvater, Elmar / Krippendorff, Ekkehart (Hrsg.), Zusammenbruch oder Befreiung? – Zur Aktualität des 8. Mai 1945, 1986, S. 192–216. 150. Minderheiten in Oberschlesien nach dem 1. Weltkrieg, in: Bossle, Lothar / Keil, Gundolf / Menzel, Josef J. (Hrsg.), Schlesien als Aufgabe interdisziplinärer Forschung, 1986, S. 123–134. 151. Die völkerrechtlichen Grundlagen der Südtirol-Frage. – Die Entwicklung eines europäischen Minderheitenproblems in sieben Jahrzehnten, in: Die Friedenswarte, Bd. 66, Heft 1–2, 1986, S. 91 ff. 152. Die Verrechtlichung der Außenpolitik, in: Mohler, Armin (Hrsg.), Wirklichkeit als Tabu, Bd. 11, 1986. 153. Meinungs- und Informationsfreiheit in den Staaten des Warschauer Paktes, in: Menschenrechte in den Staaten des Warschauer Paktes. Bericht der Unabhängigen Wissenschaftlerkommission, Deutscher Bundestag, 11. Wahlperiode, BT-Drs. 11/1344, 1987, S. 66 ff. 154. Minderheitenschutz in den Staaten des Warschauer Paktes, in: Menschenrechte in den Staaten des Warschauer Paktes. Bericht der Unabhängigen Wissenschaftlerkommission, Deutscher Bundestag, 11. Wahlperiode, BT-Drs. 11/1344, 1987, S. 168–195. 155. Die offene deutsche Frage, in: Habsburg, Walburga von / Posselt, Bernd (Hrsg.), Einigen – nicht trennen –. Festschrift für Otto von Habsburg, 1987, S. 104–108. 156. Zur Bedeutung des Reichskonkordats für die Neuregelung der Diözesen in den Oder-Neiße-Gebieten durch den Hl. Stuhl, in: Just, Manfred / Wollenschläger, Michael / Eggers, Philipp (Hrsg.), Recht und Rechtsbesinnung. Gedächtnisschrift für Günther Küchenhoff, 1987, S. 185–193. 157. Deutschland und Europa. – Deutschlandpolitische und deutschlandrechtliche Aspekte des Vertragsentwurfs des Europäischen Parlaments zur Gründung einer Europäischen Union, in: Politik und Kultur, 1987, S. 36–45. 158. Gefährliche Brücken zu einem neuen Verständnis der Ostverträge, in: Materialien zur Deutschlandpolitik, April 1987. 159. Das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes im Wandel der Zeit. – Ein Beitrag zum Verfassungstag, in: Materialien zur Deutschlandpolitik, Mai 1987.

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160. Grenzen der Bundesgesetzgebungs- und Vertragskompetenz, in: Internationale Steuerauskunft und deutsches Verfassungsrecht, Münchener Schriften zum Internationalen Steuerrecht, Heft 12, Oktober 1987. 161. Der Bundesrat, in: Kommentar zum Bonner Grundgesetz (Bonner Kommentar), Abschnitt IV, Heitmann Verlag, 1987. 162. Völkerrechtliche Probleme der deutsch-deutschen Grenze, in: Bayerisches Staatsministerium für Wirtschaft und Verkehr (Hrsg.), Wirtschaft, Wissenschaft und Politik im Grenzland, Symposion vom 05. bis 07.11.1986 in Kloster Banz, 1987, S. 111–125. 163. Vorwort, in: Mechthild Steffens, Der Beitritt der DDR zu multilateralen Verträgen, Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, 1987, S. 9. 164. Minderheitenregelungen einst und jetzt, in: Duchhardt, Heinz (Hrsg.), In Europas Mitte – Deutschland und seine Nachbarn, 1988, S. 173–178. 165. Der nach außen wirkende Einsatz deutscher Streitkräfte nach Staats- und Völkerrecht, in: NZWehr, Heft 8, 1988, S. 133–145. 166. Die Strafvollstreckung gegen Rudolf Heß als Problem des Völker- und Staatsrechts, in: Eisenmann, Peter / Kral, Gerhard (Hrsg.), Mensch – Gesellschaft – Politische Ordnung. Festschrift für Gabriel M. Ott zum 60. Geburtstag, 1988, S. 191–205. 167. Das Vergeltungsrecht nach der Streichung von Art. 31 EGBGB a. F., in: Heldrich, Andreas / Henrich, Dieter / Sonnenberger, Hans Jürgen (Hrsg.), Festschrift für Murad Ferid, 1988, S. 39–48. 168. Die Meinungs- und Informationsfreiheit nach Art. 19 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte, in: Nowak, Manfred / Steurer, Dorothea / Tretter, Hanns / Adamovich, Ludwig / Berchtold, Klaus / Blaustein, Albert P. (Hrsg.), Fortschritt im Bewußtsein der Grund- und Menschenrechte. Progress in the Spirit of Human Rights. Festschrift für Felix Ermacora, 1988, S. 67–78. 169. Die deutsche Staatsangehörigkeit und der deutsche Staat. – BVerfG, NJW 1988, 1313, in: JuS 1988, S. 607–613. 170. Der praktische Fall – öffentliches Recht: Keine Rente für Spione, in: JuS 1988, S. 887–892. 171. Die staatliche Gestalt Deutschlands. – Möglichkeiten einer Reorganisation, in: Blumenwitz, Dieter / Zieger, Gottfried (Hrsg.), Das deutsche Volk und seine staatliche Gestalt. Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 6, 1988, S. 113–127. 172. Ist die Bundesrepublik Deutschland wirklich souverän? Eine Untersuchung unserer vertraglichen sowie außervertraglichen außen- und sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen, in: Mailinger, Ludwig (Hrsg.), Die deutsche Frage im Spannungsfeld von Sicherheits- und Außenpolitik in Europa, Hanns-Seidel-Stiftung e. V., 1988, S. 101–130. 173. Meinungs- und Informationsfreiheit, in: Menschenrechte in den Staaten des Warschauer Paktes. – Bericht der unabhängigen Wissenschaftlerkommission, Bundesanzeiger, 1988, S. 66–97. 174. Minderheitenschutz, in: Menschenrechte in den Staaten des Warschauer Paktes. – Bericht der unabhängigen Wissenschaftlerkommission, Bundesanzeiger, 1988, S. 296–341.

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175. Die Rechtslage Deutschlands und der Deutschen nach Völkerrecht und nach Verfassungsrecht, in: Fortbildung Aktuell. Informationen für die Fortbildung im Bundesgrenzschutz, 1989, S. 3–9. 176. Das Recht der Gemeinden zur Aufnahme kommunaler Auslandsbeziehungen und die Schranken kommunaler „Außenpolitik“, in: Deutsches Institut für Urbanistik (Hrsg.), Kommunale „Außenpolitik“. Zur Auslandsarbeit der Gemeinden und zu den innerdeutschen Städtepartnerschaften, Materialien 2, 1989, S. 47–51. 177. Das Deutsche Reich und die Bundesrepublik Deutschland im Streit um den Mundatwald? – Zu den Bemühungen um die Bereinigung letzter Kriegsfolgen zwischen Deutschland und Frankreich, in: AVR, Bd. 27, 1989, S. 63–80. 178. Rechtsprobleme im Zusammenhang mit der Angleichung von Rechtsvorschriften auf dem Gebiet des Niederlassungsrechts der freien Berufe, in: NJW 1989, S. 621–627. 179. Die Deutsche Frage im Spiegel der Parteien. Ein Schlußwort zu den verfassungsrechtlichen Grenzen der Deutschlandpolitik der Parteien, in: Blumenwitz, Dieter / Zieger, Gottfried (Hrsg.), Die deutsche Frage im Spiegel der Parteien. Staats- und völkerrechtliche Abhandlung der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 7, 1989, S. 173–178. 180. Europäische Einigung und Wiedervereinigung Deutschlands. – Ein Konzept im Widerspruch?, in: Politische Studien, Heft 304, 1989, S. 126–137. 181. Die Rechtslage Deutschlands (anhand der Karte „A“ zum Londoner Protokoll von 1944), in: Deutschland 1949–1989, Sonderdruck der Texte zum Kalender 1989 des Gesamtdeutschen Instituts, S. 49–55. 182. Deutschland in seinen Grenzen vom 31. Dezember 1937 im Lichte der Ostvertragspolitik, in: Ratza, Odo (Hrsg.), Antworten zu Deutschland-Fragen, Kulturstiftung der Deutschen Vertriebenen, 1989, S. 9–33. 183. Minderheitenschutz, in: Brunner, Georg (Hrsg.), Menschenrechte in der DDR, 1989, S. 241–256. 184. Deutsche Wiedervereinigung und europäische Integration, in: PANEUROPA Deutschland, Nr. 2, 1989, S. 18–20. 185. Fall Soering gegen Vereinigtes Königreich, Europäischer Gerichtshof für Menschenrecht (EGMR), Straßburg, Urteil vom 7. Juli 1989, Bearbeitung und Übersetzung, Anmerkung, in: EuGRZ 1989, S. 314–328. 186. Das Weltflüchtlingsproblem und die Menschenrechte, in: WAR-Bulletin, Bd. 27, Nr. 2–3, 1989, S. 77–88. 187. Ostdeutsche Patenschaften im Spannungsfeld neuer Städtepartnerschaften mit dem östlichen Ausland und der DDR, in: Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hrsg.), In der Obhut Bayerns. Sudeten- und ostdeutsche Patenschaften im Freistaat Bayern, 1989, S. 22–25. 188. Zusammenfassung, in: Blumenwitz, Dieter / Zieger, Gottfried (Hrsg.), 40 Jahre Bundesrepublik Deutschland – Verantwortung für Deutschland. Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 8, 1989, S. 89–94. 189. Die deutsche Staatsangehörigkeit und der deutsche Staat, in: Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen (Hrsg.), Materialien zu Deutschlandfragen 1988/89, 1989, S. 406–418.

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190. Verzicht auf den Rechtsanspruch?, in: Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, (Hrsg.), Materialien zu Deutschlandfragen 1988/89, 1989, S. 452–455. 191. Zauberwort KSZE. Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze widerspricht dem Deutschlandvertrag, in: Deutscher Ostdienst, Nr. 51, 1989, S. 3–5. 192. Griechenland und Europa, in: Philia. Zeitschrift für wissenschaftliche, ökumenische und kulturelle Zusammenarbeit der Griechisch-deutschen Initiative, 1/1989, S. 6–11. 193. Europäische Integration und deutsche Wiedervereinigung. Aktuelle Fragen nach dem Zehn-Punkte-Programm und dem Straßburger Gipfel, in: Europa als Auftrag. Schriftenreihe der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament und der CDU/CSUFraktion im Deutschen Bundestag, Heft 1, 1990, S. 3–32. 194. Europäische Integration und deutsche Wiedervereinigung. Aktuelle Fragen nach dem Zehn-Punkte-Programm und dem Straßburger Gipfel, in: Zeitschrift für Politik 1990, S. 1–116. 195. Interrogantes actuales sobre – La integracion europea y la reunificacion de alemania, in: Veintiuno, Nr. 4, 1990 (Spanien), S. 67–84. 196. Deutsche Einheit und Europäische Integration heute, in: Deutschland und seine Nachbarn. Forum für Kultur und Politik. Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, Heft 2, 1990, S. 4–18. 197. Die staatliche Reorganisation Deutschlands und das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes, in: MUT – Forum für Kultur, Politik und Geschichte, Nr. 275, 1990, S. 10–20. 198. Dionisie Ghermani und seine Bemühungen um den Schutz von Minderheiten, in: Glassl, Horst / Hösch, Edgar (Hrsg.), Rumänien – Marxismus – Leninismus in Theorie und Praxis. Ehrengabe für Dionisie Ghermani zum 65. Geburtstag, 1990. 199. Das Verbrechen gegen den Frieden aus völkerrechtlicher Sicht, in: Schlüchter, Ellen / Laubenthal, Klaus (Hrsg.), Recht und Kriminalität. Festschrift für FriedrichWilhelm Krause zum 70. Geburtstag, 1990, S. 79–92. 200. Bitterer Preis. Die Oder-Neiße-Linie nach der Parlamentsentschließung, in: Loyal. Das deutsche Wehrmagazin, Nr. 8, 1990, S. 20–23. 201. Der staatsrechtliche Weg zur Einigung Deutschlands, in: Europa (Zeitbühne), Nr. 7/8, 1990, S. 52–54. 202. Die Rolle von Nicht-Rechtsverträgen und weichem Recht in den deutsch-deutschen Beziehungen, in: Zur Rechtslage Deutschlands – innerstaatlich und international –. Berichte und Studien der Hanns-Seidel-Stiftung e. V., Bd. 47, 1990, S. 69–78. 203. Das staatliche geeinte Deutschland in der Europäischen Gemeinschaft, in: Europa (Zeitbühne), Nr. 10, 1990, S. 54–56. 204. Staats- und völkerrechtliche Überlegungen zur Regelung der deutsch-polnischen Grenze, in: Deutschland und seine Nachbarn. Forum für Kultur und Politik. Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, Heft 3, 1990, S. 4–9. 205. Grundbegriffe der Demokratie. – Die Gewaltenteilung, in: Guten Tag, Nr. 8, 1990, S. 12–13 (Zeitschrift in russischer Sprache). 206. Die staats- und völkerrechtliche Lage der Ostgebiete, in: Deutschland in Geschichte und Gegenwart. Zeitschrift für Kultur, Geschichte und Politik, Nr. 3, 1990, S. 1–5.

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207. Der Vertrag vom 12.09.1990 über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland, in: NJW 1990, S. 3041–3048. 208. Die Rechtslage Deutschlands, in: Jähning, Bernhart / Biewer, Ludwig (Hrsg.), Kleiner Atlas zur deutschen Territorialgeschichte, 1990, S. 165–169. 209. Question Allemande et Intégration Européenne, in: Constantopoulos, Dimitri S. (Hrsg.), Nomos. Acta legalia quotannis edita a schola iurisprudentiae. Pax – ius – libertas 1990, S. 249–268. 210. Freedom of Expression and Information, in: Brunner, Georg (Hrsg.), Before Reforms, Human Rights in the Warsaw Pact States 1971–1988, 1990, S. 67–106. 211. Protection of Minorities, in: Brunner, Georg (Hrsg.), Before Reforms, Human Rights in the Warsaw Pact States 1971–1988, 1990, S. 355–402. 212. Deutsche Einheit und Europäische Integration heute, in: Blumenwitz, Dieter / Mangoldt, Hans von (Hrsg.), Menschenrechtsverpflichtungen und ihre Verwirklichung im Alltag. – Auswirkungen für die Deutschen, Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 9, 1990, S. 11–32. 213. Die Rolle von Nicht-Rechtsverträgen und weichem Recht in den deutsch-deutschen Beziehungen, in: Eisenmann, Peter / Zieger, Gottfried (Hrsg.), Zur Rechtslage Deutschlands – innerstaatlich und international, 1990, S. 69–78. 214. Die Wiedererlangung der deutschen Souveränität durch die Bundesrepublik Deutschland und ihre Begrenzung durch die alliierten Vorbehaltsrechte, in: Göttinger Arbeitskreis (Hrsg.), Studien zur Deutschlandfrage, Bd. 10: Die Deutschlandfrage vom 17. Juni 1953 bis zu den Genfer Viermächtekonferenzen von 1955, 1990, S. 133–146. 215. Feindstaatenklauseln, in: Wolfrum, Rüdiger (Hrsg.), Handbuch Vereinte Nationen, 2. Aufl. 1991, S. 143–148. 216. Friedenssicherung, in: Wolfrum, Rüdiger (Hrsg.), Handbuch Vereinte Nationen, 2. Aufl. 1991, S. 175–180 217. „Die Grenze, die die beiden Völker nicht trennen, sondern einigen soll ...“. – Zur abschießenden Bestätigung der Oder-Neiße-Linie aus völkerrechtlicher Sicht, in: Politische Studien, Heft 319, 1991, S. 455–468. 218. Neuere Entwicklungen des Minderheitenschutzes und des Volksgruppenrechts und ihre Relevanz für die künftigen deutsch-polnischen Beziehungen, in: Deutschland und seine Nachbarn. Forum für Kultur und Politik. Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, Heft 3, 1990, S. 10–20 (auszugsweise auch in Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen [Hrsg.], Materialien zu Deutschlandfragen – Politiker und Wissenschaftler nehmen Stellung – 1989–91, 1991, S. 409–419. 219. Selbstbestimmungsrecht und Volksgruppenrecht. – Eine rechtliche Analyse der Entwicklung der Südtirol– und der deutschen Frage, in: JOR, Bd. XXXII, 1. Halbband, 1991, S. 9–25. 220. Constitutional Development in South Africa. – Mastering the Crisis, in: Lange, Klaus (Hrsg.), Perspektiven für Südafrika. Beiträge zur II. deutsch-sowjetischen Tagung über Probleme des südlichen Afrika, 1991, S. 32–44. 221. Das vereinte Deutschland und die europäische Friedensordnung, in: Blumenwitz, Dieter / Mangoldt, Hans von (Hrsg.), Neubestätigung und Weiterentwicklung von Menschenrechten und Volksgruppenrechten in Mitteleuropa. Staats- und völker-

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Schriftenverzeichnis rechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 10, Verlag Wissenschaft und Politik 1991, S. 17–30.

222. Deutschland seit 1945, in: Seidl-Hohenveldern, Ignaz (Hrsg.), Ergänzbares Lexikon des Rechts, 2. Bearbeitung, 1991, 4/160, S. 1–12; 3. Bearbeitung, Dezember 1997, 4/160, S. 1–14; Separatausgabe, 3. Aufl. 2001, S. 58–64. 223. Kriegsende, in: Seidl-Hohenveldern, Ignaz (Hrsg.), Ergänzbares Lexikon des Rechts, 2. Bearbeitung, Juli 1991, 4/610, S. 1–4; 3. Bearbeitung, Dezember 1997, 4/160, S. 1–6; Separatausgabe, 3. Aufl. 2001, S. 241–245. 224. Vertragsabschlußkompetenz, in: Seidl-Hohenveldern, Ignaz (Hrsg.), Ergänzbares Lexikon des Rechts, 2. Bearbeitung, Juli 1991, 4/1150, S. 1–9; 3. Bearbeitung, Dezember 1997, 4/1150, S. 1–12; Separatausgabe, 3. Aufl. 2001, S. 481–491. 225. Die gegenwärtigen Grenzen Deutschlands aus völkerrechtlicher Sicht, in: Jähning, Bernhart / Biewer, Ludwig (Hrsg.), Kleiner Atlas zur deutschen Territorialgeschichte, 2. Aufl. 1991, S. 171–173. 226. Oder-Neiße-Linie, in: Weidenfeld, Werner / Korte, Karl-Rudolf (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Einheit, Bundeszentrale für politische Bildung 1991, S. 517–527; 1992, S. 517–527; auch: Oder-Neiße-Linie, in: Weidenfeld, Werner / Korte, Karl-Rudolf (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Einheit, CampusVerlag 1991, S. 517–527. 227. Wie offen ist die Verfassungsfrage nach der Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B. 49/91, 29. November 1991, S. 3–11. 228. Braucht Deutschland ein neues Grundgesetz? Verfassungsgebende und verfassungsändernde Gewalt nach dem Einigungsvertrag, in: Zeitschrift für Politik, 1992, S. 1–23. 229. Zahnärzte und Europa. Die geschichtliche Entwicklung. Organe und Funktionen der Europäischen Gemeinschaft unter besonderer Berücksichtigung des zahnärztlichen Berufs, in: ADZ speziell, März 1992, S. 8–16. 230. Kann das, was früher Recht war, heute Unrecht sein? Zur strafrechtlichen Verfolgung von SED-Unrecht, in: MUT – Forum für Kultur, Politik und Geschichte, Nr. 297, Mai 1992, S. 18–25. 231. Die juristische Problematik strafrechtlicher Verfolgung von DDR-Regierungskriminalität. – Konsequenzen für den inneren Frieden des deutschen Volkes, in: Reihe Bautzen Forum Nr. 3 der Friedrich-Ebert-Stiftung, 1992, S. 65–72. 232. Wie offen ist die Verfassungsfrage?, in: Verfassungsdiskussion in Deutschland. Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, 1992, S. 43–62. 233. Zur strafrechtlichen Verfolgung Erich Honeckers. Staats- und völkerrechtliche Fragen, in: Deutschland Archiv. Zeitschrift für das vereinigte Deutschland, 1992, S. 567–579. 234. Poder constituyente originario y poder constituyente derivado, in: Politica, Santiago (Chile), Nr. 29, 1992, S. 211–221. 235. Das Offenhalten der Vermögensfrage in den deutsch-polnischen und deutschtschechoslowakischen Beziehungen, in: Blumenwitz, Dieter / Mangoldt, Hans von (Hrsg.), Fortentwicklung des Minderheitenschutzes und der Volksgruppenrechte in Europa, Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 11, 1992, S. 115–129.

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236. Verfassungslegitimation nur durch Volksabstimmung? Eine rechtlich wie historisch falsche Behauptung, in: Eichholz Brief. – Zeitschrift für politische Bildung 4/1992, S. 101–105. 237. Summum Jus – Summa Injuria? Das Grundrecht auf Asyl in der Bundesrepublik Deutschland, in: MUT – Forum für Kultur, Politik und Geschichte, Nr. 305, Januar 1993, S. 34–47. 238. Die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland, in: Badura, Peter / Scholz, Rupert (Hrsg.), Wege und Verfahren des Verfassungslebens. Festschrift für Peter Lerche zum 65. Geburtstag, 1993, S. 385–400. 239. Mehr Demokratie durch Plebiszit?, in: Europa – Magazin für Wirtschaft, Politik & Kultur, Nr. 1, 2, 1993, S. 61–62. 240. Die Beneš-Dekrete aus dem Jahre 1945 unter dem Gesichtspunkt des Völkerrechts, in: Deutschland und seine Nachbarn. Forum für Kultur und Politik, Heft 6, Februar 1993, S. 5–19; auch: Erzieherbrief, Organ der Arbeitsgemeinschaft Sudetendeutscher Lehrer und Erzieher e. V., 1995, S. 43–57. 241. Humanitäre Intervention bei Minderheiten-Konflikten, in: Politische Studien, Sonderheft 6: Selbstbestimmungsrecht und Frieden, 1993, S. 52–66. 242. Verteidigungs- und Sicherheitspolitik. – Ein Streitfall für das Verfassungsgericht?, in: Politische Studien, Sonderheft 9: Strategien für die Zukunft, 1993, S. 34–50. 243. Zu den völkerrechtlichen Schranken einer Restitutions- oder Ausgleichsregelung in der Bundesrepublik Deutschland, in: DtZ, 1993, S. 258–261. 244. Rechtliche und politische Fragen der Souveränität Deutschlands, in: Schwarz, Jürgen H. / Steinkamm, Armin A. (Hrsg.), Rechtliche und politische Probleme des Einsatzes der Bundeswehr „out of area“, 1993, S. 144–162. 245. Die besatzungshoheitlichen Konfiskationen in der SBZ. Zu den völkerrechtlichen Schranken künftiger Restitutions- und Ausgleichsregelungen in der Bundesrepublik Deutschland, in: BayVBl. 1993, S. 705–715. 246. Territorialitätsprinzip und Mehrstaatigkeit, in: ZAR. Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik, 4/1993, S. 151–156. 247. Humanitäre Intervention bei schweren Verletzungen von Volksgruppenrechten, in: Blumenwitz, Dieter / Gornig, Gilbert (Hrsg.), Minderheiten- und Volksgruppenrechte in Theorie und Praxis. Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 12, 1993, S. 61–74. 248. Der Streit um die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Einsatzes der Bundeswehr im Ausland, in: Bossle, Lothar (Hrsg.), Deutschland als Kulturstaat. Festschrift für Hans Filbinger zum 80. Geburtstag, 1993, S. 141–147. 249. Der Streit um den Grundvertrag. Gedanken zum Verfassungsprozeß nach der Erlangung der staatlichen Einheit Deutschlands, in: Beismann, Volker / Klein, Markus J. (Hrsg.), Politische Lageanalyse. Festschrift für Hans-Joachim Arndt zum 70. Geburtstag am 15. Januar 1993, 1993, S. 23–38. 250. Die Beneš-Dekrete aus dem Jahre 1945 unter dem Gesichtspunkt des Völkerrechts, in: Hlawitschka, Eduard (Hrsg.), Die Politik von Edvard Beneš und Mitteleuropa, Sudetendeutsche Akademie der Wissenschaften und Künste, 1993/94, S. 71–84. 251. Die Rolle des Grundvertragsurteils für die deutsche Wiedervereinigung, in: Eibicht, Rolf-Josef (Hrsg.), Hellmut Diwald. – Sein Vermächtnis für Deutschland. – Sein Mut zur Geschichte, 1994, S. 346–364.

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252. Die humanitäre Intervention. Wandel und Neubewertung eines Instituts des klassischen Völkerrechts, in: Brieskorn, Norbert / Mikat, Paul / Müller, Daniela / Willoweit, Dietmar (Hrsg.), Vom mittelalterlichen Recht zur neuzeitlichen Rechtswissenschaft. Bedingungen, Wege und Probleme der europäischen Rechtsgeschichte, 1994, S. 453–466. 253. Die Probleme doppelter Staatsangehörigkeit, in: Müller, Harald (Hrsg.), Hoffnung und Verantwortung in unserer Zeit. Festschrift für Lothar Bossle zum 65. Geburtstag, 1994, S. 429–436. 254. Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge unter besonderer Berücksichtigung von Doppelbesteuerungsabkommen, in: Becker, Jürgen / Lerche, Peter / Mestmäcker, Ernst-Joachim (Hrsg.), Wanderer zwischen Musik, Politik und Recht. Festschrift für Reinhold Kreile zu seinem 65. Geburtstag, 1994, S. 73–87. 255. Blaue Helme und Rote Roben. Verteidigungs- und Sicherheitspolitik. – Ein Streitfall für das Bundesverfassungsgericht?, in: Europäische Sicherheit, Heft 2, 1994, S. 75–77. 256. Die Reform des Grundgesetzes und die bundesstaatliche Ordnung im vereinten Deutschland, in: Weiß-Blaue Rundschau, Nr. 3/4, 1994, S. 4–6. 257. Nachruf für Friedrich August Freiherr von der Heydte, in: NJW 1994, S. 2600. 258. Abstammungsgrundsatz und Territorialitätsprinzip. Zur Frage der Hinnahme doppelter Staatsangehörigkeit in Deutschland, in: Zeitschrift für Politik, 1994, S. 246–260. 259. Die Republik China und die Vereinten Nationen, in: Freies Asien, Nr. 18/19, 1994, 10. Oktober 1994, 36, S. 1. 260. Der Einsatz deutscher Streitkräfte nach der Entscheidung des BVerfG vom 12. Juli 1994. Teil 1, in: BayVBl. 1994, S. 641–646. 261. Der Einsatz deutscher Streitkräfte nach der Entscheidung des BVerfG vom 12. Juli 1994. Teil 2. in: BayVBl. 1994, S. 678–683. 262. Lokale grenzüberschreitende Zusammenarbeit auf der Grundlage des deutschpolnischen Vertragswerks, in: Deutschland und seine Nachbarn. Forum für Kultur und Politik. Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, Heft 11, November 1994, S. 1–56. 263. Die humanitäre Intervention, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament. B 47/94, 25. November 1994, S. 3–10. 264. Möglichkeiten des Umgangs mit der Geschichte. Zur Eröffnung des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn, in: Zeitschrift für Politik, 1994, S. 435–437. 265. German Unity and European Integration, in: East-West Relations (Legal, economic, political etc. Aspects), Thesaurus Acroasium, vol. XXI, 1994, S. 179–211. 266. Inhalt und Umfang der Verpflichtungen gemäß Art. 20 Abs. 2 des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrages vom 17. Juni 1991 im Hinblick auf den internationalen Standard für Minderheiten, in: Blumenwitz, Dieter / Murswiek, Dietrich (Hrsg.), Aktuelle rechtliche und praktische Fragen des Volksgruppen- und Minderheitenschutzrechts. Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 13, 1994, S. 63–73. 267. Das Recht auf die Heimat. Teil I: Die völkerrechtliche Grundlage; Teil II: Aktuelle Rechtsfragen, in: Blumenwitz, Dieter (Hrsg.), Recht auf die Heimat im zusam-

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menwachsenden Europa. Ein Grundrecht für nationale Minderheiten und Volksgruppen, 1995, S. 41–64. 268. Enemy states clauses, in: Wolfrum, Rüdiger (Hrsg.), United Nations: Law, Policies and Practice, 1995, S. 470–475. 269. Maintenance of Peace and Security, in: Wolfrum, Rüdiger (Hrsg.), United Nations: Law, Policies and Practice, 1995, S. 865–870. 270. Enemy State Clause in the United Nations Charter, in: Bernhardt, Rudolph (ed.), Encyclopedia of Public International Law, vol. II, 1995, S. 459–461. 271. Grundlegung der Menschenrechte in der westlichen Kultur, in: Politische Studien, Sonderheft 1: Die universale Geltung der Menschenrechte, 1995, S. 5–13. 272. 50 Jahre nach Flucht und Vertreibung. – Zur Aktualität des Rechts auf die Heimat, in: Bund der Vertriebenen (Hrsg.), 1945–1995. 50 Jahre Flucht, Deportation, Vertreibung. Unrecht bleibt Unrecht. Dokumentation der Gedenkstunde in der Paulskirche zu Franfurt am 28. Mai 1995, S. 12–19. 273. Verteidigungs- und Sicherheitspolitik. – Ein Streitfall für das BVerfG?, in: Piazolo, Michael (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht. Ein Gericht im Schnittpunkt von Recht und Politik. Tutzinger Schriften zur Politik, Bd. 3, 1995, S. 87–106. 274. South Africa. – A Model for Peaceful Change, in: Hirscher, Gerhard / Lange, Klaus (Hrsg.), The New South Africa. Hopes and Challenges, IAIS Studien, 1995, S. 83–90. 275. Sicherheit und Gerechtigkeit. – Das Dilemma der Nuklearpolitik 50 Jahre nach dem Einsatz der ersten Atombombe, in: MUT – Forum für Kultur, Politik und Geschichte, Nr. 336, August 1995, S. 6–18. 276. Die New Yorker Überprüfungs- und Verlängerungskonferenz des Atomwaffensperrvertrags, in: Zeitschrift für Politik, 1995, S. 316–321. 277. Das Recht auf die Heimat. – Bilanz nach 50 Jahren, in: Blumenwitz, Dieter / Gornig, Gilbert (Hrsg.), Rechtliche und politische Perspektiven deutscher Minderheiten und Volksgruppen. Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 14, 1995, S. 13–24. 278. Die Christlich-Soziale Union und die deutsche Frage, in: Hanns-Seidel-Stiftung e. V. (Hrsg.), Geschichte einer Volkspartei. 50 Jahre CSU 1945–1995, 1995, S. 333–365. 279. Die Vereinten Nationen als Friedensstifter und Friedenswahrer, in: BayVBl. 1995, S. 705–710. 280. Das Subsidiaritätsprinzip und die Stellung der Länder und Regionen in der Europäischen Union, in: Randelzhofer, Albrecht / Scholz, Rupert / Wilke, Dieter (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Eberhard Grabitz, 1995, S. 1–15. 281. Das Parlamentsheer nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juli 1994. Rechtliche Vorgaben für ein künftiges „Entsendegesetz“, in: Majoros, Ferenc / Steinkamm, Armin A. / Krack, Bernhard W. (Hrsg.), Politik – Geschichte, Recht und Sicherheit. Festschrift für Gerhard Ritter, 1995, S. 311–323. 282. Christian Meurer (1856–1935), Jurist, in: Lebensbilder bedeutender Würzburger Professoren, Quellen und Beiträge zur Geschichte der Universität Würzburg, Bd. 8, 1995, S. 217–229.

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283. Die Vertreibung der Deutschen ist weiter eine ungelöste Frage des Völkerrechts, in: Schnürch, Roland / Thomas, Harald (Hrsg.), Von Prag nach Sarajewo. – Vertreibung und Wiedergutmachung, 1996, S. 52–57. 284. Das Recht auf Gebrauch der Minderheitensprache. Gegenwärtiger Stand und Entwicklungstendenzen im europäischen Völkerrecht, in: Bott-Bodenhausen, Karin (Hrsg.), Unterdrückte Sprachen. Sprachverbote und das Recht auf Gebrauch der Minderheitensprachen, 1996, S. 159–203. 285. Anmerkung zum BVerwG, Beschl. vom 23.01.1996 – 7 B 4/96. – Keine Nichtigkeitsfeststellungsklage bei auf Vorschriften des DDR-Verteidigungsgesetzes gestützten Enteignungsakten, in: Deutsch-Deutsche Rechtszeitschrift 1996, S. 156–157. 286. Potsdam und die russisch-japanische Grenzregelung, in: Meissner, Boris / Blumenwitz, Dieter / Gornig, Gilbert (Hrsg.), Das Potsdamer Abkommen, III. Teil: Rückblick nach 50 Jahren. Völkerrechtliche Abhandlungen, Bd. 4, III. Teil, 1996, S. 91–102. 287. Kontrolle der auswärtigen Gewalt, in: BayVBl. 1996, S. 577–581. 288. Die Vereinten Nationen als Friedensstifter und Friedenswahrer, in: Einheit und Vielfalt der Rechtsordnung. Festschrift zum 30-jährigen Bestehen der Münchener Juristischen Gesellschaft, 1996, S. 289–300. 289. Kasernenliegenschaften als Gegenstand der Auseinandersetzung zwischen dem Bund und den Garnisonsstädten. – Zugleich ein Beitrag zur zivilrechtlichen Ersitzung von besatzungshoheitlich beschlagnahmtem Kasernengelände, in: Merten, Detlef / Schmidt, Reiner / Stettner, Rupert (Hrsg.), Der Verwaltungsstaat im Wandel. Festschrift für Franz Knöpfle zum 70. Geburtstag, 1996, S. 33–56. 290. Grundlagenvertrag, in: Eppelmann, Rainer / Möller, Horst / Nooke, Günter / Wilms, Dorothee (Hrsg.), Lexikon des DDR-Sozialismus, 1996, S. 264–268; 2. Aufl., S. 353–358. 291. Oder-Neiße-Grenze, in: Eppelmann, Rainer / Möller, Horst / Nooke, Günter / Wilms, Dorothee (Hrsg.), Lexikon des DDR-Sozialismus, 1996, S. 438–443; 2. Aufl., S. 595–601. 292. Deutsche Staatsangehörigkeit, in: Eppelmann, Rainer / Möller, Horst / Nooke, Günter / Wilms, Dorothee (Hrsg.), Lexikon des DDR-Sozialismus, 1996, S. 584–585; 2. Aufl., S. 791–794. 293. Oder-Neiße-Linie (überarbeitet), in: Weidenfeld, Werner / Korte, Karl-Rudolf (Hrsg.), Handbuch zur deutschen Einheit 1949 – 1989 – 1999, Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 363, Neuausgabe 1996, S. 515–525; Neuausgabe 1999, S. 586–596. 294. Der Freistaat Bayern. Seine politische Entwicklung und seine Stellung in Deutschland und Europa, in: Dinglreiter, Adolf / Weiß, Dieter J. (Hrsg.), An der Schwelle zum dritten Jahrtausend – der Freistaat zwischen Tradition und Fortschritt, 1996. 295. „Schlußstrich-Erklärung“ und Beneš-Dekrete. – Die deutsch-tschechischen Beziehungen im Vorfeld der Osterweiterung der EU aus staats- und völkerrechtlicher Sicht, in: Politische Studien, Heft 350, 1996, S. 21–48. 296. Der Rechtswissenschaftler und sein Einfluß als Gutachter auf die Interpretation und Gestaltung der Verfassung, in: Eimeren, W. van (Hrsg.), Die Tür zum elfenbeinernen Turm. Reflexionen über das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft, GSF-Bericht 11/96, S. 53–58.

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297. Das Mauergrundstücksgesetz vom 15. Juli 1996, in: NJW 1996, S. 3118–3122. 298. The Political and Legal Process of German Unification and its Implications for Korea, in: Jung, Ku-Hyun / Kim, Dalchoong / Gumpel, Werner / Kindermann, Gottfried-Karl (Hrsg.), German Unification and its Lessons for Korea, East and West Studies series 38, 1996, S. 49–72. 299. Überlegungen zu Ansprüchen Vertriebener im Kontext der Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Union, in: Blumenwitz, Dieter / Gornig, Gilbert (Hrsg.), Der Schutz von Minderheiten- und Volksgruppenrechten durch die Europäische Union. Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 15, 1996, S. 31–54. 300. Die Mauergrundstücke im interlokalen und intertemporalen Konflikt – staats- und völkerrechtliche Anmerkungen zum Gesetz vom 15. Juli 1996, in: Deutschland Archiv, Zeitschrift für das vereinigte Deutschland, Heft 1, Januar/Februar 1997, S. 62–78. 301. Der völkerrechtliche Schutz der Botschaftskonten – im Spannungsverhältnis zwischen Schutzbedürfnis und Mißbrauchsgefahr –, in: Weber, Albrecht (Hrsg.), Währung und Wirtschaft. – Das Geld im Recht. Festschrift für Prof. Dr. Hugo J. Hahn zum 70. Geburtstag, 1997, S. 307–318. 302. Zur strafrechtlichen Verantwortung ehemaliger Mitglieder des SED-Politbüros für die Todesschüsse an der Mauer unter besonderer Berücksichtigung der staats- und völkerrechtlichen Fragen, in: Ziemske, Burkhardt / Langheid, Theo / Wilms, Heinrich / Haverkate, Görg (Hrsg.), Staatsphilosophie und Rechtspolitik. Festschrift für Martin Kriele zum 65. Geburtstag, 1997, S. 713–732. 303. FRM-II und das Völkerrecht der Non-Proliferation, hrsg. v. Technische Universität München, „Neue Forschungs-Neutronenquelle Garching“, 1997, S. 3–10. 304. FRM II and the International Law of Non-Proliferation, hrsg. v. Technical University of Munich, New Neutron Source FRM-II, Public Relations, Garching. 305. FRM II und das Völkerrecht der Non-Proliferation, in: Thüringer Verwaltungsblätter 1997, Heft 4, S. 81–83. 306. Die deutsch-tschechische Erklärung vom 21. Januar 1997, in: BayVBl. 1997, S. 161–165. 307. Der russische Einfluß auf den Wirtschaftsraum Kaspisches Meer, in: Blumenwitz, Dieter / Spieler, Silke (Hrsg.), Russlands Reform auf dem Prüfstand, 1997, S. 123–137. 308. Braucht Bayern den Senat?, in: Weiß-Blaue Rundschau. Bayerische Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und Kultur, Nr. 5/6, 1997, S. 6–8. 309. Die Strafe im Völkerrecht, in: Zeitschrift für Politik, 1997, S. 324–350. 310. The Legal Status of Greek Cypriots and Turkish Cypriots as Parties of a Future Agreement for Cyprus, in: Ertekün, Münir (Hrsg.), The Status of the Two Peoples in Cyprus – Legal Opinions, 2. Aufl. 1997, S. 85–96. 311. Die deutsch-tschechische Erklärung und ihre eigentumsrechtliche Relevanz, in: Blumenwitz, Dieter / Gornig, Gilbert / Murswiek, Dietrich (Hrsg.), Der Beitritt der Staaten Ostmitteleuropas zur Europäischen Union und die Rechte der deutschen Volksgruppen und Minderheiten sowie der Vertriebenen. Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 16, 1997, S. 39–58.

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312. Intertemporales und interlokales Verfassungskollisionsrecht, in: Isensee, Josef / Kirchhof, Paul (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX, 1997, S. 454–520. 313. Konsens und Konkurrenz beim Ausbau föderaler Strukturen, in: Weiß-Blaue Rundschau Nr. 1–2, 1998, S. 7–9. 314. Die deutsch-tschechische Erklärung vom 21. Januar 1997, in: AVR, Bd. 36, Heft 1, 1998, S. 19–43. 315. Die tschechisch-liechtensteinischen Beziehungen. Ein anhaltender Konflikt in Mitteleuropa, in: Kick, Karl G. / Weingarz, Stephan / Bartosch, Ulrich (Hrsg.), Wandel durch Beständigkeit. Studien zur deutschen und internationalen Politik. Jens Hacker zum 65. Geburtstag. Beiträge zur Politischen Wissenschaft, Bd. 102, 1998, S. 347–362. 316. Die Offenheit der Vermögensfrage in den Beziehungen zwischen Deutschland und seinen östlichen Nachbarn im Lichte der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Reparationsenteignung, in: Blumenwitz, Dieter / Gornig, Gilbert / Murswiek, Dietrich (Hrsg.), Rechtsanspruch und Rechtswirklichkeit des europäischen Minderheitenschutzes. Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 17, 1998, S. 153–166. 317. Rede des Trägers des Europäischen Karlspreises, in: Sudetendeutsche Landsmannschaft (Hrsg.), Mitteilungsblatt 8/1998, S. 227–231. 318. Heimatrecht, Volksgruppenrecht und Eigentum. – Die rechtliche Situation der sudetendeutschen Volksgruppe, in: Sudetendeutsche Landsmannschaft (Hrsg.), Mitteilungsblatt 9/1998, S. 233–252. 319. Das Friedensabkommen von Dayton und die völkerrechtliche Verantwortung fluchtverursachender Staaten, in: AWR-Bulletin, No. 4/1998, S. 138–149. 320. Deutsche Souveränität im Wandel (1949 – 1999), in: Die Tagespost – Forum 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland – Nr. 61, 1999, S. 18–19. 321. Deutsche Souveränität im Wandel; in: Zeitschrift für Politik. Themenheft: 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland 1949–1999, Heft 2, 1999, S. 195–215. 322. Föderalismus und Rückverlagerung von Kompetenzen. Anmerkungen zum Länderfinanzausgleich und zur Föderalisierung der Sozialversicherung, in: MeierWalser, Reinhard C. / Hirscher, Gerhard (Hrsg.), Krise und Reform des Föderalismus, 1999, S. 36–49. 323. Souveränität – Gewaltverbot – Menschenrechte. Eine völkerrechtliche Bestandsaufnahme nach Abschluß des nicht mandatierten NATO-Einsatzes in ExJugoslawien, in: Politische Studien, Sonderheft 4: Die Kosovo-Krise – eine vorläufige Bilanz, 1999, S. 19–40. 324. Die minderheitenschutzrechtlichen Anforderungen der EU hinsichtlich des Beitritts der ost- und ostmitteleuropäischen Staaten, in: Blumenwitz, Dieter / Gornig, Gilbert / Murswiek, Dietrich (Hrsg.), Fortschritte im Beitrittsprozeß der Staaten Ostmittel-, Ost- und Südosteuropas zur Europäischen Union. Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 18, 1999, S. 25–36. 325. Der grenzüberschreitende Regionalismus als mögliches Instrument der Konfliktentschärfung, in: Flämig, Christian (Hrsg.), Wissenschaftsrecht, Beiheft 13: Vielfalt des Wissenschaftsrechts. Gedächtnisschrift für Otto Kimminich, 1999, S. 1–12.

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326. Versteckte Kollisionsnormen in völkerrechtlichen Verträgen? – Der liechtensteinische Bilderstreit in Deutschland, in: Gerkens, Jean-F. / Peter, Hansjorg / TrenkHinterberger, Peter / Vigneron, Roger (Hrsg.), Mélanges Fritz Sturm, 1999, S. 1385–1398. 327. Deutsche Souveränität im Wandel (1949–1999), in: Ipsen, Knut / Raap, Christian / Stein, Torsten (Hrsg.), Wehrrecht und Friedenssicherung. Festschrift für Klaus Dau, 1999, S. 1–12. 328. Das Recht von Flüchtlingen und Vertriebenen auf Rückkehr in ihre Wohnstätten und zu ihrem Besitz. Entwicklungen im modernen Völkerrecht, in: Isensee, Josef / Lecheler, Helmut (Hrsg.), Freiheit und Eigentum. Festschrift für Walter Leisner. Schriften zum Öffentlichen Recht, Bd. 800, 1999, S. 75–89. 329. Der Status der nationalen Minderheiten in der Bundesrepublik Deutschland, in: Russisches Lehrbuch, Moskau 1999, Kapitel 4.4, S. 177–195. 330. Das Bundesverfassungsgericht als Hüter der föderalen Ordnung in Deutschland, in: Russisches Lehrbuch, Moskau 1999, Kapitel 6.1, S. 232–257. 331. Die Zukunft der föderalen Ordnung in Deutschland, in: Russisches Lehrbuch, Moskau 1999, Kapitel 7.1, S. 288–302. 332. Die Zukunft der föderalen Ordnung in Europa, in: Russisches Lehrbuch, Moskau 1999, Kapitel 7.7, S. 303–317. 333. Die historische Entwicklung der Menschenrechte im Vergleich unterschiedlicher Weltanschauungen und Kulturen, in: Kroker, Eduard J. M. / Dechamps, Bruno (Hrsg.), Das Menschenbild der freien Gesellschaft. Globalisierung und Europäische Integration, 2000, S. 14–29. 334. Treaties of Friendship, Commerce and Navigation, in: Bernhardt, Rudolph (ed.), Encyclopedia of Public International Law, vol. IV, 2000, S. 953–959. 335. Die Vertreibung der Deutschen aus der Sicht des Völkerrechts und der Menschenrechte, in: Mitteilungen des Oberösterreichischen Landesarchivs (19), Nationale Frage und Vertreibung der Deutschen in der Tschechoslowakei, Linz 2000, S. 77–98. 336. Der völkerrechtliche Schutz des Eigentums, in: Hanns-Seidel-Stiftung e. V. (Hrsg.), Politische Studien, Sonderheft 1: Das Grundrecht des Eigentums – Grundsätze und aktuelle Probleme, 2000, S. 100–114. 337. Der Beitrag der CSU zur staatlichen Einheit Deutschlands, in: Hanns-SeidelStiftung (Hrsg.), Zehn Jahre Deutsche Einheit. – Zentrale Aspekte der Entwicklung in den neuen Bundesländern. Politische Studien, Sonderheft 5: Zehn Jahre Deutsche Einheit, 2000, S. 55–67. 338. Die Neubestätigung und Weiterentwicklung der Rechte vertriebener Volksgruppen im Zypernkonflikt, in: AWR-Bulletin, Nr. 3, 2000, S. 163–170. 339. Ansätze zur Lösung des Zypernproblems in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, in: Philia, Eine Zeitschrift für Europa, I, 2000. 340. Die Menschenrechte im Vergleich unterschiedlicher Weltanschauungen und Kulturen an der Wende zum Dritten Jahrtausend, in: Ukrainische Freie Universität (Hrsg.), Studien zu deutsch-ukrainischen Beziehungen, Nr. 4, 2000, S. 5–19. 341. Der Fall Loizidou. – Das Zypernproblem und das Recht auf Heimat, in: Rill, Bernd (Hrsg.), Gegen Völkermord und Vertreibung. – Die Überwindung des 20.

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Schriftenverzeichnis Jahrhunderts. Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen 28, Akademie für Politik und Zeitgeschehen der Hanns–Seidel-Stiftung e. V., 2001, S. 75–86.

342. „Compassionate Conservatism“ – ein Modell für Europa?, in: Hanns-Seidel-Stiftung e. V. (Hrsg.), Politische Studien, Heft 378, 2001, S. 94–96. 343. Der Schutz des Eigentums vertriebener Volksgruppen. Zur Loizidou-Entscheidung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs, in: Hofmann, Mahulena / Küpper, Herbert (Hrsg.), Kontinuität und Neubeginn. Staat und Recht in Europa zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Festschrift für Georg Brunner, 2001, S. 572–582. 344. Volksgruppen- und Minderheitenrechte in der Praxis, in: Arbeitskreis Sudetendeutscher Akademiker, Literaturspiegel, Nr. 44, 2001, S. 5–21. 345. Souveränität – Gewaltverbot – Menschenrechte: Eine völkerrechtliche Bestandsaufnahme, in: Oberreuter, Heinrich / Piazolo, Michael (Hrsg.), Global denken. Die Rolle des Staates in der internationalen Politik zwischen Kontinuität und Wandel. Akademiebeiträge zur politischen Bildung, Bd. 33, 2001, S. 48–72. 346. Minderheitenschutz nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Ein Rechtsvergleich unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Minderheit in Polen, in: Blumenwitz, Dieter / Gornig, Gilbert / Murswiek, Dietrich (Hrsg.), Ein Jahrhundert Minderheiten- und Volksgruppenschutz. Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 19, 2001, S. 49–62. 347. Standards for the political Handling of Dealings Concerning Property after World War II, in: Austrian Review of International and European Law 6, 2001, S. 183–204. 348. Die Lösung der in der Nachkriegszeit offenen Vermögensfragen unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsansprüche deutscher Heimatvertriebener, in: Vorstand des PAC (Hrsg.), PAC-Korrespondenz. Die deutschen Vertriebenen – Herkunft, Erbe und Integration in alte und neue Bundesländer, Zeitschrift des PolitischAkademischen Clubs e. V., Neue Folge Nr. 9 (69) 2002, S. 34–65. 349. Die Fragen der deutschen Reparationen, in: Cremer, Hans-Joachim / Giegerich, Thomas / Richter, Dagmar / Zimmermann, Andreas (Hrsg.), Tradition und Weltoffenheit des Rechts. Festschrift für Helmut Steinberger, Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht 152, Springer Berlin 2002, S. 63–81. 350. Die Lösung der in der Nachkriegszeit offen gebliebenen Vermögensfragen unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsansprüche deutscher Heimatvertriebener, in: Grille, Dietrich / Wagner, Ekkehard (Hrsg.), Ganz Deutschland. – Unser Vaterland. Anmerkungen zum Lebensmotto der deutschen Vertriebenen. Festschrift für Sieghard Rost, 2002, S. 20–41. 351. Uti possidetis iuris – uti possidetis de facto. Die Grenze des modernen Völkerrechts, in: Dreier, Horst / Forkel, Hans / Laubenthal, Klaus (Hrsg.), Raum und Recht. Festschrift 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät, 2002, S. 377–389. 352. Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr im Kampf gegen den Terrorismus, in: Zeitschrift für Rechtspolitik, Heft 3, März 2002, S. 102–106. 353. Fortgeltung der Beneš-Dekrete. Überlegungen zur Osterweiterung der EU, in: DOD Deutscher Ostdienst, Nr. 15, 2002, S. 16–17. 354. Die Liechtenstein-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, in: AVR, Bd. 40, 2002, S. 215–242.

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355. The Settlement of International disputes Relating to the Environment. – The International Court of Justice and International Arbitration, in: World Ecological Constitution, 2002, S. 138–156. 356. Mit den Beneš-Dekreten nach Europa?, in: Politische Studien, Heft 385, 2002, S. 71–81. 357. „Czechoslovak Presidential Decrees of 1940–1945“. – Ausführungen des tschechischen Außenministeriums zu den Beneš-Dekreten. Gutachtliche Stellungnahme, in: Europa Ethnica, Sonderheft 2002, S. 31–58. 358. Wer gibt die Verfassung Europas?, in: Politische Studien, Sonderheft 1: Der Europäische Verfassungskonvent – Strategien und Argumente, 2003, S. 44–52. 359. Die völkerrechtlichen Aspekte des Irak-Konflikts, in: Zeitschrift für Politik 2003, S. 301–334. 360. Der Präventivkrieg und das Völkerrecht, in: Politische Studien, Heft 391, 2003, S. 21–32. 361. Legal Dimensions of Globalization and their Effects on Security Strategies, in: The Turkish General Staff Military History and Strategic Studies Directorate Publications. The Proceedings of the first International Symposium on “Globalization and International Security”, 2003, S. 37–43. 362. Artikel 6 n. F.: (Ordre public), in: J. v. Staudingers Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, EGBGB, 10./11./12./13. und 14. Aufl., 2003, S. 792–1069. 363. Die Beneš-Dekrete – eine Bestandsaufnahme im Lichte der tschechischen Beitrittsverhandlungen zur EU, in: Goll, Thomas / Leuerer, Thomas / Mayer, Tilman / Merz, Hans-Georg (Hrsg.), Staat und Politik. Festschrift für Paul-Ludwig Weinacht, 2003, S. 258–267. 364. Artikel 5 n. F.: (Personalstatut), in: J. v. Staudingers Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, EGBGB, 10./11./12./13. und 14. Aufl. 2003, S. 792–1069. 365. Die Universalität der Menschenrechte, in: Katholische Sozialwissenschaftliche Zentralstelle Mönchengladbach (Hrsg.), Kirche und Gesellschaft, Nr. 307, 2004, S. 3–16. 366. Der Streit um die Rückgabe der rechtswidrig nach Deutschland verbrachten zypriotischen Kunstwerke, in: Philia. Eine Zeitschrift für Europa, Bd. 1, 2004, S. 5–14. 367. Die Zukunft der Weltordnung. Zu den völkerrechtlichen Implikationen des IrakKrieges, in: Varia N. 49, Ukrainische Freie Universität, München 2004. 368. Die Zukunft des Völkerrechts und der UNO nach dem Irakkrieg, in: Schriftenreihe der Förderstiftung Konservative Bildung und Forschung, Heft 4, 2004, S. 1–13. 369. Der Europäische Verfassungsvertrag. – Die Chancen und Gefahren des Entwurfs für das Gelingen von Erweiterung und Vertiefung der Europäischen Union, in: Zeitschrift für Politik, 2004, S. 115–134. 370. Wer gibt die Verfassung Europas? Zur verfassungsgebenden Gewalt (pouvoir constituant) in der Europäischen Union, in: Castellano, Danilo (Hrsg.), Quale Costituzione per quale Europa?, 2004, S. 31–54. 371. Die Ukraine und Europa. – Rechtsfragen der Osterweiterung der Europäischen Union, in: Junge Diplomatie, Lemberg (Ukraine), No. 1 (28), 2004, S. 30–32.

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372. Die amerikanische Präventionsstrategie im Lichte des Völkerrechts, in: Fischer, Horst / Froissart, Ulrike / Heintschel von Heinegg, Wolff / Raap, Christian (Hrsg.), Krisensicherung und Humanitärer Schutz. Festschrift für Dieter Fleck, 2004, S. 23–36. 373. Rechtliche Schwierigkeiten bei der Rückgabe rechtswidrig nach Deutschland verbrachter Kunstschätze an die Herkunftsstaaten und künftige Lösungsansätze, in: Bröhmer, Jürgen / Bieber, Roland / Calliess, Christian / Langenfeld, Christine / Weber, Stefan / Wolf, Joachim (Hrsg.), Internationale Gemeinschaft und Menschenrechte. Festschrift für Georg Ress, 2005, S. 3–14. 374. Zum Verhältnis der Menschenrechte zum Völkerrecht und zum internationalen Vertragsrecht, in: Die Universalität der Menschenrechte. Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen, Bd. 44, 2005, S. 73–78. 375. Völkerrechtliche Artikel in der Brockhaus Enzyklopädie, 21. Aufl. 2005 ff. 376. Die Beneš-Dekrete. Eine Bestandsaufnahme im Lichte der tschechischen Beitrittsverhandlungen zur EU, in: Blumenwitz, Dieter / Gornig, Gilbert / Murswiek, Dietrich (Hrsg.), Die Europäische Union als Wertegemeinschaft. Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 22, 2005, S. 169–181. Dazu kommen ungezählte Buchbesprechungen und Beiträge in Zeitungen.

Autorenverzeichnis Ahrens, Claus Professor Dr. Claus Ahrens ist Inhaber des Lehrstuhls für Privatrecht, insbesondere Wirtschaftsprivatrecht am Fachbereich Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Bergischen Universität Wuppertal. Alsen, Katrin Mag. iur. Katrin Alsen ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Hamburg. Arnim, Dorothee von Dr. Dorothee von Arnim ist Rechtsreferentin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Arsava, Füsun A. Professor Dr. A. Füsun Arsava ist Inhaberin des Lehrstuhls für Völkerrecht und Europarecht an der Fakultät für politische Wissenschaften der Universität Ankara. Baier, Helmut Dr. Helmut Baier ist Privatdozent am Institut für Strafrecht und Kriminologie der Julius-Maximilians-Universität Würzburg und lehrt Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie. Bausback, Winfried Professor Dr. Winfried Bausback ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, insbesondere europäisches und internationales Wirtschaftsrecht der Bergischen Universität Wuppertal. Breuer, Marten Dr. Marten Breuer ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Staats-, Völker- und Europarecht der Universität Potsdam. Bruha, Thomas Professor Dr. Thomas Bruha ist ordentlicher Professor für Öffentliches Recht, insbesondere Völkerrecht und Europarecht an der Universität Hamburg. Dehner, Friedrich Dr. Friedrich Dehner ist Vorsitzender Richter am Bayerischen Verwaltungsgericht Würzburg. Fleck, Dieter Ministerialrat a. D. Dr. Dieter Fleck war Leiter des Referats für internationale Verteidigungsangelegenheiten im Bundesministerium der Verteidigung sowie Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Wehrrecht und Humanitäres Völkerrecht.

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Ge, Yongping Professor Dr. Yongping Ge, LL.M., ist Professor an der Juristischen Fakultät der Universität Harbin, Direktor des Instituts für Deutsches Recht und Vizedirektor der Abteilung für Völkerrecht an der School of Law des Harbin Institute of Technology, China. Gornig, Gilbert H. Professor Dr. Dr. h. c. Gilbert Gornig ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Völkerrecht und Europarecht an der Philipps-Universität Marburg sowie Richter am Hessischen Verwaltungsgerichtshof a. D. Gramlich, Ludwig Professor Dr. Ludwig Gramlich ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht an der Technischen Universität Chemnitz. GuĠan, Manuel Professor Dr. Manuel GuĠan ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Geschichte des Rumänischen Rechts, Geschichte der Öffentlichen Verwaltung und Römisches Recht an der Lucian Blaga Universität Sibiu, Rumänien. Häberle, Peter Professor Dr. Dr. h. c. mult. Peter Häberle war Inhaber des Lehrstuhls für öffentliches Recht, Rechtsphilosophie und Kirchenrecht an der Universität Bayreuth. Häde, Ulrich Professor Dr. Ulrich Häde ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, insbesondere Verwaltungsrecht, Finanzrecht und Währungsrecht an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder. Hakenberg, Michael Professor Dr. Michael Hakenberg, LL.M., ist Professor für Deutsches und Internationales Wirtschaftsrecht an der Fachhochschule Trier. Harke, Jan Dirk Professor Dr. Jan Dirk Harke ist Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Römisches Recht und Historische Rechtsvergleichung an der Julius-MaximiliansUniversität Würzburg. Hilgendorf, Eric Professor Dr. Dr. Eric Hilgendorf ist Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtstheorie, Informationsrecht und Rechtsinformatik an der JuliusMaximilians-Universität Würzburg. Hillgruber, Christian Professor Dr. Christian Hillgruber ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Huber, Peter M. Professor Dr. Peter M. Huber ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Staatsphilosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Hummer, Waldemar Professor Dr. Dr. Dr. Waldemar Hummer ist Ordinarius für Völkerrecht und Europarecht am Institut für Europarecht und Völkerrecht der Universität Innsbruck.

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Irmscher, Tobias H. Dr. Tobias H. Irmscher, LL.M. (LSE), ist Justiziar beim Europäischen Patentamt, München. Isensee, Josef Professor Dr. Dr. h. c. Josef Isensee war Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Jahn, Ralf Professor Dr. Ralf Jahn ist Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer Würzburg-Schweinfurt und Honorarprofessor für Verwaltungsrecht und öffentliches Wirtschaftsrecht an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Kiss, László Professor Dr. László Kiss ist Richter am Verfassungsgericht der Republik Ungarn, Inhaber des Lehrstuhls für Verwaltungsrecht und Finanzrecht an der Universität Pécs, Ungarn. Klass, Nadine Dr. Nadine Klass, LL.M. (Wellington), ist Wissenschaftliche Referentin am MaxPlanck-Institut für Geistiges Eigentum, Wettbewerbs- und Steuerrecht, München. Klein, Eckart Professor Dr. Eckart Klein ist Inhaber des Lehrstuhls für Staatsrecht, Völkerrecht und Europarecht an der Universität Potsdam sowie Mitglied des Staatsgerichtshofs der Freien Hansestadt Bremen. Knemeyer, Franz-Ludwig Professor Dr. Franz-Ludwig Knemeyer war Inhaber des Lehrstuhls für Staats- und Verwaltungsrecht an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Kotzur, Markus Professor Dr. Markus Kotzur, LL.M. (Duke Univ.), ist Inhaber des Lehrstuhls für Europarecht, Völkerrecht, Öffentliches Recht an der Universität Leipzig. Kuchinke, Kurt Professor Dr. Kurt Kuchinke war Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht und Zivilprozessrecht an der Julius-Maximilians-Universität in Würzburg. Laubenthal, Klaus Professor Dr. Klaus Laubenthal ist Inhaber des Lehrstuhls für Kriminologie und Strafrecht an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg sowie Richter am Oberlandesgericht Bamberg. Leisner, Walter Professor Dr. mult. Dr. h. c. Walter Leisner war Ordinarius für Staats- und Verwaltungsrecht an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Malzahn, Christian Dr. Christian Malzahn ist Rechtsanwalt, derzeit tätig in der Bayerischen Landesbank München. Mayr-Singer, Jelka Dr. Jelka Mayr-Singer ist Vertragsassistentin am Institut für Europarecht und Völkerrecht der Universität Innsbruck.

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Murswiek, Dietrich Professor Dr. Dietrich Murswiek ist Inhaber des Lehrstuhls für Staats- und Verwaltungsrecht sowie Deutsches und Internationales Umweltrecht an der Albert-LudwigsUniversität Freiburg. Nusser, Karl-Heinz Professor Dr. Karl-Heinz Nusser war Professor an der Philosophisch-Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Augsburg. Pallek, Markus Assessor Dr. iur. Markus Pallek, LL.M. (NYU), MPA (ENA), Attorney-at-Law (New York/D.C.), ist Legal Officer im Office of the Legal Counsel im Sekretariat der Vereinten Nationen in New York. Pan, Christoph Professor Dr. Christoph Pan ist Professor am Institut für Öffentliches Recht, Staatsund Verwaltungslehre an der Universität Innsbruck. Petrétei, József Professor Dr. Dr. h. c. József Petrétei war Minister für Justiz und Polizeiwesen, Lehrstuhl für Verfassungsrecht an der Universität Pécs, Ungarn. Poplutz, Christian Assessor iur. Christian Poplutz ist Referent für Gesellschaftspolitische Grundsatzfragen in der Abteilung Planung, Controlling und Verwaltungsreform der Hessischen Staatskanzlei, Wiesbaden. Raap, Christian Dr. Christian Raap ist Regierungsdirektor im Bundesministerium der Verteidigung und Rechtsritter des Johanniterordens. Remien, Oliver Professor Dr. Oliver Remien ist Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Europäisches Wirtschaftsrecht, Internationales Privat- und Prozessrecht sowie Rechtsvergleichung an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Ribera Neumann, Teodoro Professor Dr. Teodoro Ribera Neumann ist Inhaber der Professur für Verfassungsrecht an der Universidad Autónoma de Chile und an der Universidad de Chile und Rektor der Universidad Autónoma de Chile sowie Ersatzrichter beim Verfassungsgericht Chiles; er war Abgeordneter des Nationalkongresses und Vizepräsident der Abgeordnetenkammer. Riedel, Norbert Professor Dr. Norbert Riedel ist Vortragender Legationsrat Erster Klasse im Auswärtigen Amt und Honorarprofessor für Europarecht an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Scherer, Inge Professor Dr. Inge Scherer ist Inhaberin der Professur für Bürgerliches Recht und Zivilprozessrecht an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Schöbener, Burkhard Professor Dr. Burkhard Schöbener ist Inhaber der Professur für Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht an der Universität zu Köln.

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Scholler, Heinrich Professor Dr. Dr. h. c. Heinrich Scholler war Inhaber der Professur für Politik und Öffentliches Recht an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Scholz, Rupert Professor Dr. Rupert Scholz, Bundesminister a. D., war Inhaber des Lehrstuhls für Staats- und Verwaltungsrecht, Verwaltungslehre und Finanzrecht an der LudwigMaximilians-Universität München. Selejan-GuĠan, Bianca Professor Dr. Bianca Selejan-GuĠan ist Inhaberin der Professur für Verfassungsrecht und Menschenrechte an der Lucian Blaga-Universität Sibiu, Rumänien. Silagi, Michael Professor Dr. Dr. Michael Silagi ist Mitarbeiter am Institut für Völkerrecht und Europarecht der Georg-August-Universität Göttingen. Sosnitza, Olaf Professor Dr. Olaf Sosnitza ist Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Handelsrecht, Gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht an der Julius-MaximiliansUniversität Würzburg sowie Richter im Nebenamt am Oberlandesgericht Nürnberg. Spendel, Günter Professor Dr. Günter Spendel war Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht und Strafprozessrecht und Mitvorstand des Instituts für Strafrecht, Strafprozessrecht und strafrechtliche Hilfswissenschaften an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Stettner, Rupert Professor Dr. Rupert Stettner ist Inhaber der Professur für Öffentliches Recht an der Universität der Bundeswehr in München. Streinz, Rudolf Professor Dr. Rudolf Streinz ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Europarecht an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sturm, Fritz Professor Dr. Dr. h. c. Fritz Sturm war Inhaber des Lehrstuhls für Römisches Recht, Deutsches Zivilrecht, Rechtsvergleichung und Internationales Prozessrecht an der Universität Lausanne. Sun, Jun Professor Dr. Jun Sun, LL.M., ist Professorin an der Juristischen Fakultät der Universität Harbin, Geschäftsführende Direktorin des Instituts für Deutsches Recht und Vizedirektorin des Instituts für Menschenrechte an der School of Law des Harbin Institute of Technology, China. Vlad, Monica Professor Dr. Monica Vlad, Ph.D., LL.M., ist Inhaberin der Professur für Öffentliches internationales Recht und Verfassungsrecht an der Deutsch-Rumänischen Universität Sibiu, Rumänien. Waigel, Theodor Dr. Theodor Waigel war Mitglied des Deutschen Bundestags (1972 bis 2002) und von 1989 bis 1998 Bundesfinanzminister in der Regierung von Bundeskanzler Helmut Kohl.

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Wehr, Matthias Dr. Matthias Wehr ist Privatdozent für öffentliches Recht an der Julius-MaximiliansUniversität Würzburg. Weinacht, Paul-Ludwig Professor Dr. Paul-Ludwig Weinacht war Inhaber des Lehrstuhls für die Didaktik der Sozialkunde und für Politische Wissenschaft an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Willoweit, Dietmar Professor Dr. Dietmar Willoweit war Inhaber des Lehrstuhls für Deutsche Rechtsgeschichte, Bürgerliches Recht und Kirchenrecht an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg und ist Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Wittreck, Fabian Professor Dr. Fabian Wittreck ist Inhaber der Professur für Öffentliches Recht an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Zayas, Alfred de Professor Dr. Dr. Alfred de Zayas arbeitete als Jurist am Zentrum für Menschenrechte der Vereinten Nationen in Genf und im Büro des UN-Hochkommissars für Menschenrechte, war Sekretär des UN-Menschenrechtsausschusses und Chef der Beschwerde-Abteilung im Büro des UN-Hochkommissars für Menschenrechte. Zehetmair, Hans Dr. h. c. mult. Hans Zehetmair, Staatsminister a. D., ist Vorsitzender der HannsSeidel-Stiftung. Zeitler, Franz-Christoph Professor Dr. Franz-Christoph Zeitler ist Vize-Präsident der Deutschen Bundesbank und Vertreter des Präsidenten im EZB-Rat. Zieschang, Frank Professor Dr. Frank Zieschang ist Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg.