Islamismus in der Schule: Handlungsoptionen für Pädagoginnen und Pädagogen [1 ed.] 9783666702266, 9783525702260


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Islamismus in der Schule: Handlungsoptionen für Pädagoginnen und Pädagogen [1 ed.]
 9783666702266, 9783525702260

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Jan-Friedrich Bruckermann / Karsten Jung (Hg.) Dschihad

Prävention

Extremis Fanatism Jugendliche Toleranz Fundamentalismus Ideo Religionspädago Salafismu Schule Deradikalisierung Volksverhetzung Stra antidemokratisch

Pädagogik antisemitisch Gewaltbereitschaft Verständnis

Islamismus

Islamismus in der Schule Handlungsoptionen für Pädagoginnen und Pädagogen

V

Jan-Friedrich Bruckermann/Karsten Jung (Hg.)

Islamismus in der Schule Handlungsoptionen für Pädagoginnen und Pädagogen

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 2 Grafiken und einer Tabelle Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-666-70226-6 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Umschlagabbildung: © SchwabScantechnik, Göttingen © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Joachim K. Rennstich Islamismus als politisch-soziologisches Phänomen der Radikalisierung junger Menschen in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Samet Er Islamismus als religiöses Phänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Sabrina Worch Islamistischer Antisemitismus von Schülern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Stefan Piasecki Das Erkennen nationalistischer und panislamistischer Tendenzen bei ­türkischen und türkischstämmigen Schülern als Beitrag zur Wahrung des Schulfriedens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Felix Johne Dimensionen islamistischer Radikalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Jan-Friedrich Bruckermann Schulrechtliche Handlungsoptionen und strafrechtliche Grundlagen . . . . 79 Gregor Dietz/Klaus Bott Von Schülerworkshops bis Ausstiegsbegleitung – das Hessische Präventionsnetzwerk gegen Salafismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89

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Inhalt

Frank Buchheit Radikalisierung junger Menschen: Erkennen, verstehen, handeln! . . . . . . . 101 Sara Faix Pädagogisch-präventive Handlungsmöglichkeiten in der Schule umsetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 Karsten Jung Islamismus als religionspädagogische Herausforderung . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Karsten Jung Was ist Toleranz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Abdel-Hakim Ourghi Eine humanistische islamische Religionspädagogik im Westen . . . . . . . . . . 146 Götz Nordbruch Identität, Gemeinschaft und Protest – religiöse Zugänge in der Prävention von salafistischen Orientierungen in Unterricht und Schule . . . . . . . . . . . . . . 165

Vorwort

»Islamisten an meiner Schule, gar in meiner Klasse? Das müsste ich doch merken! Ich selbst jedenfalls habe es nicht gemerkt, bzw. erst dann, als sich ein Schüler aufmachte, um selbst in Dschihad zum Islamischen Staat zu ziehen. Und auch an meiner Schule ist es niemandem aufgefallen, obwohl es – wie in der kollegialen Rückschau ersichtlich wurde – durchaus Indizien gegeben hätte.«  Karsten Jung

Aber woran erkennt man Islamisten unter den Schülerinnen und Schülern? Wo ist die Trennlinie zwischen konservativem Islam und Islamismus? Und was kann man tun, um dem Islamismus zu begegnen? Das waren die Ausgangs­ fragen, die uns, einen Juristen und einen Religionspädagogen, bewogen haben, uns dem Thema zu widmen. Schnell wurde klar, dass es in dem Umfeld eine Fülle von Erscheinungen, Lösungswegen, aber auch offenen Fragen gibt, sodass nur in Frage kam, Fachleute und Praktiker mit mehreren Perspektiven einzubinden. Das Ergebnis liegt in diesem Buch vor: Eine Vielzahl von Blickwinkeln schärfen das Bild vom Islamismus an der Schule. Der Umstand, dass – je nach Profession – der Blickwinkel im Detail unterschiedlich ausfallen kann, trägt unserer Ansicht nach gerade auch zu dieser Schärfung bei. Dieses Buch trifft auf eine aufgeheizte gesellschaftliche Debatte, in der viele Begriffe durcheinandergehen und in der Emotionen hochschlagen. Wir möchten einen Beitrag zur Versachlichung und zur Differenzierung leisten. Dabei sollen Probleme weder geleugnet, noch herbeigeredet werden. Bei der Konzeption des Buchs haben wir uns von mehreren Prämissen leiten lassen:

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Vorwort

Die erste Prämisse ist, dass die Bekämpfung von Islamismus an Schulen ein Phänomen ist, bei dem viele Kräfte zusammenarbeiten müssen. Als Lehrer wünscht man sich oft, dass pädagogische Lösungen ausreichen, um ein Problem zu beseitigen. Beim Islamismus ist das weitgehend nicht der Fall: Fast immer ist die enge Zusammenarbeit mit Schulsozialarbeitern notwendig. Mitunter aber auch wird das Strafrecht berührt und der Kontakt mit der Polizei ist gefragt. Was früher einmal galt – nämlich, dass pädagogische Lösungen perdu sind, wenn man die Polizei erst einmal in der Schule hat, ist heute nicht mehr so. In vielen Bundesländern sind durch Innen- und Kultusministerien gemeinsame Stabsstellen eingerichtet, die pädagogische und polizeilich-juristische Kompetenz verbinden. Dieses Buch soll eine Ermutigung sein, die Perspektiven aller Beteiligten (Schulsozialarbeit, Lehrkräfte, Polizei) kennenzulernen und das Problem gemeinsam anzugehen. Die zweite Prämisse ist, dass unserer Auffassung nach Islamismus nicht allein ein soziales Problem darstellt. Zwar ist richtig, dass prekäre Verhältnisse und Ausgrenzungserfahrungen Radikalisierungsprozesse begünstigen können, aber das ist nicht alles: Islamisten berufen sich bei ihrem Handeln explizit auf eine Religion bzw. besser: auf ein bestimmtes Verständnis einer Religion. Die Debatte, ob dieses Verständnis sachgerecht ist, ist zwar theologisch interessant, löst aber das konkrete Problem an den Schulen nicht. Wenn es aber so ist, dass das Problem religiöse Komponenten hat, ist religionspädagogische Kompetenz notwendig, um zur Deradikalisierung beizutragen. Die dritte und letzte Prämisse ist das Bekenntnis zum freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat. Es muss möglich sein, das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Religionen unter den Regeln, die der Rechtsstaat vorsieht, zu organisieren. Danach ist jeder, egal ob Muslim, Christ, Atheist, Träger von Rechten und Pflichten. Rechte wie Religionsfreiheit, Gleichheit und Partizipation sind untrennbar verbunden mit Pflichten wie der Verpflichtung zu Pluralismus und Toleranz. Ob wir das bewährte und durch das Grundgesetz fein austarierte Verhältnis zwischen Rechten und Pflichten durch die Herausforderung des Islamismus angreifen lassen, hängt ganz maßgeblich von uns selbst und unserem Umgang mit dem Phänomen ab. Das Buch gliedert sich in drei Teile: Zunächst machen Joachim Rennstich und Samet Er notwendige Differenzierungen. Joachim Rennstich führt in die politischen Aspekte des Islamismus ein und beschreibt dabei auch seinen weltweiten Kontext sowie seine politischen Hintergründe. Samet Er differenziert zwischen Islam und Islamismus und versucht, Trennlinien herauszuarbeiten.

Vorwort

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Mit dem Islamismus verbunden sind zwei weitere Aspekte, denen sich S­ abrina Worch und Stefan Piasecki widmen: Sabrina Worch schreibt über islamistischen Antisemitismus und legt Handlungsoptionen dar, wie ihm begegnet werden kann. Dabei weist sie aber auch darauf hin, dass von jüdischen Schülerinnen und Schülern islamistischer Antisemitismus anders bewertet wird als von Lehrerinnen und Lehrern: Ein spannender Befund, über den sich nachzudenken lohnt. Stefan Piasecki bearbeitet einen in Deutschland oft, aber eben auch weitgehend von Lehrerinnen und Lehrern unbemerkt vorkommenden Fall: Das eigenartige Bündnis von äußerst konservativem Islam und türkischem Nationalismus, über das ethnische Konflikte in der Türkei religiös aufgeladen und in deutsche Klassenzimmer transportiert werden. Schließlich skizziert Felix Johne die strukturellen Bedingungen, innerhalb derer Islamismus entstehen kann. Der zweite Teil des Buchs ist den juristischen und politisch-sozialarbeiterischen Handlungsoptionen gewidmet: Was genau ist eigentlich eine erlaubte Meinungsäußerung und was Beleidigung oder gar Volksverhetzung? Diesen Fragen widmet sich Jan Bruckermann, der darlegt, was die strafrechtlichen Grundlagen sind und wie polizeiliches Vorfeldhandeln aussieht. Klaus Bott und Gregor Dietz stellen ganz praktisch dar, wie die Zusammenarbeit von verschiedenen Einrichtungen, also insbesondere Polizei und Schulen, beispielhaft in Hessen funktioniert. Der Beitrag von Klaus Bott und Gregor Dietz ist auch für Kolleginnen und Kollegen anderer Bundesländer instruktiv, denn es gibt in vielen Bundesländern solche Netzwerke, von denen man an den Schulen aber mitunter noch nichts mitbekommen hat. Auch bundesweite Netzwerke finden hier Erwähnung. Frank Buchheit legt dar, wie Radikalisierung geschieht – ein Prozess, der verstanden sein muss, wenn man rechtzeitig entgegensteuern will. Dabei setzt er bei den Bedürfnissen der Menschen an, die im Radikalisierungsprozess sind und entwickelt an dieser Stelle pädagogische Antworten. Den letzten Aufsatz des zweiten Teils bildet eine schulsozialarbeiterische Antwort: Sara Faix legt aus der Perspektive der langjährigen Praktikerin ganz konkrete Handlungsoptionen dar. Der dritte Teil steht unter der religionspädagogischen Fragestellung: Karsten Jung schärft den Toleranzbegriff anhand der Intentionen des Grundgesetzes im Hinblick auf religiöse Toleranz: Was muss toleriert werden, von wem, was nicht – und warum? Dass Islamismus auch ein religiöses Phänomen ist und folglich religionspädagogischer Antworten bedarf, diskutieren Karsten Jung und Abdel-Hakim ­Ourghi aus christlicher und islamischer Perspektive. Beide sehen in einer geeigneten islamischen Religionspädagogik einen entscheidenden Schritt zur Radikalismus-

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Vorwort

prävention. Dabei entwirft Ourghi ein Bild, wie eine solche Religionspädagogik aussehen könnte, und Jung, welchen Beitrag die christliche Religionspädagogik an Schulen leisten kann – zumindest solange, bis eine geeignete islamische Religionspädagogik flächendeckend vorliegt. Den Abschluss des Buches bildet mit einem Beitrag von Götz Nordbruch wieder eine Praxisperspektive. Götz Nordbruch und sein Verein UFUQ arbeiten mit Jugendlichen, um diese zu deradikalisieren bzw. es gar nicht erst zu einer Radikalisierung kommen zu lassen. Auch hier wird es konkret – und damit wird der Schlusspunkt gesetzt, um die unterschiedlichen Perspektiven in die Praxis umsetzen zu können.1 Dieses Buch hätte nicht gelingen können, wenn neben den Herausgebern nicht mehrere Personen mitgearbeitet hätten. Zunächst ist den Autorinnen und Autoren zu danken, dass sie ihre Mitarbeit zugesagt und instruktive Beiträge beigesteuert haben. Ein großer Dank geht an unsere studentische Mitarbeiterin, Lisa Johanna Malitte, die bei der technischen Erstellung des Manuskripts wertvolle Hilfe geleistet hat. Ebenso danken wir dem Verlag Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen, und insbesondere unserer Lektorin Elisabeth Schreiber für die professionelle und freundliche Betreuung. Schlussendlich hoffen wir, dass dieses Buch vielen am Schulleben Beteiligten – Lehrerinnen und Lehrern, Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeitern sowie Schulleitungen, eine Hilfe sein möge, um das Problem des Islamismus an ihrer Schule zu erkennen und anzugehen. Wir freuen uns über Rückmeldungen, Ergänzungen, Lob und Kritik an: [email protected] und [email protected].

Kassel, im Herbst 2016 Jan-Friedrich Bruckermann Karsten Jung

1 Wenn in den folgenden Beiträgen die maskuline Form wie z. B. »Schüler« verwendet wird, sind immer alle Gender gemeint. Diese Vereinfachung dient der besseren Lesbarkeit.

Islamismus als politisch-soziologisches Phänomen der Radikalisierung junger Menschen in Deutschland Joachim K. Rennstich

Gibt es einen Zusammenhang zwischen »Islam« und »Radikalisierung«? Diese Frage beschäftigt Sozialwissenschaftler seit geraumer Zeit und die Antworten sind vielschichtig. Dieser Beitrag hat nicht den Anspruch, die ganze Breite und Tiefe dieser Debatte widerzuspiegeln, sondern konzentriert sich auf den aktuellen Stand der Erkenntnisse bezüglich der folgenden Fragestellungen: (1) Was verstehen wir unter dem Begriff »Islamismus« heute? Ein kurzer historischer Diskurs und eine Definition des Begriffs geben Einblicke in die Komplexität dieser Fragestellung und zeigen, wie wichtig es ist, eine begriffliche Erklärung an den Anfang dieser Debatte zu stellen. Im nächsten Schritt beleuchtet der Beitrag (2) die Rolle der Religion im Kontext des Islamismus, also die Frage, inwiefern der Islam als kulturelles Bestimmungsprinzip und Legitimationsgrundlage soziales und politisches Handeln junger Menschen in Deutschland bestimmt. Die dritte Fragestellung richtet den Fokus auf den Prozess der (3) Radikalisierungsprozesse und insbesondere die Frage, wie Religiosität in radikalem Handeln münden kann. Zum Ende fasst der Beitrag noch einmal (4) die wesentlichen Punkte unter der Überschrift »Islamismus als Faktor in der Gefährdung Jugendlicher« zusammen.

Was ist Islamismus? Eine einheitliche anerkannte und genutzte Definition zu dem Begriff Islamismus ist in der Literatur nicht zu finden.1 Das Phänomen, das hier versucht wird mit einem Begriff zu fassen, ist nach gängiger Meinung in großen Teilen der Begegnung des Islam mit der Moderne (westlicher Prägung) geschuldet und 1

Vgl. Peters, »Islamismus bei Jugendlichen«, S. 9–32.

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somit stark mit den Entwicklungen des späten 19. und vor allem 20. Jahrhundert in der Islamischen Welt verbunden.2 Die einst weitgehend in einer Nische stattfindende akademische Behandlung der Thematik des »politischen Islam« ist durch viele differenzierende Begrifflichkeiten gekennzeichnet, um der Sensibilität der Vermengung von religiösen mit politisch-sozialen Fragen gerecht zu werden. Seit den 1980er Jahren hat sie sich stärker in das öffentliche Bewusstsein und eine damit verbundene breitere Diskussion geschoben, zunächst bedingt durch Entwicklungen im maßgeblich schiitisch dominierten Iran und später durch den Aufstieg der sunnitisch geprägten Formen des Islamismus. Die fehlende allgemein akzeptierte und genutzte Definition von »Islamismus« erschwert eine substanzielle, empirisch-gestützte Form der Erforschung von Islamismus und dessen Wirkung auf die Gruppe, die im Rahmen dieses Beitrags besonders im Blick ist: Jugendliche in Deutschland.3 Hilfreich erweist sich daher die relativ offene und dennoch fachdiskussionsgerechte Definition von Seidensticker4, der Islamismus als »Bestrebungen zur Umgestaltung von Gesellschaft, Kultur, Staat oder Politik anhand von Werten und Normen, die als islamisch angesehen werden« begreift. Mit »Bestrebungen zur Umgestaltung« umfasst diese Definition die große Bandbreite von aktivistischen Formen, in denen sich moderner Islamismus manifestiert. Diese reichen von religiösmotivierten, formellen und informellen Erziehungstätigkeiten, missionarischen Aktivitäten, politischem Aktivismus in Parteien und Bewegungen, bis hin zu revolutionären Plänen und Formen des Terrorismus. Peters stellt gleichermaßen fest, dass Islamismus demnach für ein »ganzheitliches Islamverständnis mit zwingenden Vorgaben für das individuelle bzw. kollektive Handeln in allen Gesellschaftsbereichen« steht.5 Die Legitimation dieser aktiven Umgestaltung hin zu einer islamisch-geprägten Gesellschaft in all ihren Manifestationen – in Kultur, sozialen Strukturen aber auch institutionell, wie etwa als »islamischer Staat« – beruht dabei auf »islamischen Werten und Normen«, die keineswegs als monolithischer Block und klar umschriebenes, religiös-basiertes und allgemein anerkanntes, theologisch legitimiertes Wertesystem verstanden werden dürfen.6 Islamismus so gefasst, charakterisiert sich empirisch als eine aktive Distanzierung von Teilen der religiös-politischen Geschichte des Islam. Allen islamistischen Strömungen gemein ist die Verabsolutierung des Islam 2 Vgl. etwa ebd.; siehe auch Neumann, »Die neuen Dschihadisten«, Kapitel 2. 3 Der Begriff »Jugendliche« ist bewusst offen gewählt und schließt heranwachsende Kinder und Teenager genau so ein wie junge Männer und Frauen bis 30. 4 Seidensticker, »Islamismus«, Kapitel I. 5 Peters, »Islamismus bei Jugendlichen«, S. 29. ­6 Vgl. auch ICG, »Understanding Islamism«.

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für die Gestaltung sowohl des individuellen, als auch des gesamtgesellschaftlichen und staatlichen Lebens, mit dem Ziel einer absoluten »Durchdringung der Gesellschaft«. Ein weiteres Merkmal ist die deutliche Forderung nach der »Souveränität Gottes« als zentrale soziale und politische Legitimation anstelle einer »Volkssouveränität« als Begründungsmuster für eine Sozialgemeinschaft.7 Eine Trennung von Religion und Staat ist hier schlichtweg unmöglich noch vorstellbar; gemeinsames Ziel der Islamisten ist die Negation des säkularen Rechtsstaats.8 Wie gezeigt, erheben islamistische Strömungen einen starken Anspruch, Einfluss auf das soziale Handeln von Menschen zu nehmen. Der Text wendet sich nun der Frage zu, inwieweit der Islam als kulturelles Bestimmungsprinzip und Legitimationsgrundlage soziales und politisches Handeln junger Menschen in Deutschland bestimmt.

Die Rolle der Religion im Kontext des Islamismus Religion wurde über Millennia als identitätsstiftendes Bindemittel zur Schaffung »moralischer Gemeinschaften« (moral communities) genutzt, die ein »Wir« mit einem starken Gruppenzusammenhalt auf Basis »heiliger Werte« erzeugen kann, losgelöst von anderen Bindungen (Familie, Clan, Ethnie).9 Dies gilt für die weitaus meisten Religionen, nicht nur den Islam. Die so erzeugte Gruppenidentität beeinflusst den Wertekatalog, der die Grundlage des rationalen Handelns einzelner Personen bildet. »Heilige Werte« können dafür genutzt werden, subjektiv betrachtet irrationales individuelles Verhalten als dennoch »sinnvoll« – also rational – zu begründen und bspw. persönliche Opfer für die Gruppe zu bringen – im Extremfall bis hin zur Bereitschaft, für diese das eigene Leben zu geben.10 Hinsichtlich unserer zugrunde liegenden Fragestellung der Verbindung   7 Siehe Seidensticker, »Islamismus«, Kapitel I.   8 Siehe Bielefeldt, »Muslime im säkularen Rechtsstaat«; vgl. auch Meier, »Der politische Auftrag des Islam«.   9 Vgl. Atran/Ginges, »Religious and Sacred Imperatives«. 10 Siehe Rapoport, »The four waves of modern terrorism«, S. 46–73. Hier stellt der Autor z. B. die Bedeutung von Religion als kultureller Wurzel der mittlerweile »vierten Welle« der modernen Form des Terrorismus heraus. Für eine Analyse der gestiegenen Bedeutung einer religionsbegründeten Gewaltbereitschaft: siehe bspw. Hegghammer, »The Rise of Muslim Foreign Fighters« mit weiteren ausführlichen Literaturhinweisen. Für einen alternativen Ansatz zur Begründung dieses Verhaltens: siehe Armbruster, »Zur Komplexität religiös-fundamentalistischer Selbstmordattentate«. Zum Konzept des Altruismus aus einem interdisziplinären (philosophisch, soziologisch, biologisch) und evolutionären Verständnis: siehe Wilson, »Does Altruism Exist?«.

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von Islamismus und Radikalisierung ist es also wichtig, die Rolle der Religion bezogen auf den Islamismus und die hierbei zugrunde gelegten Formen des Islam näher zu betrachten. Religiös begründete Neudefinition der Migranten als Gruppe Religion nimmt für Muslime in Deutschland über die Generationen hinweg eine gleichbleibend zentrale Rolle ein. Jüngere Muslime sind bezüglich der Kerndimensionen nicht mehr oder weniger religiös als ältere Glaubensgeschwister; sie unterscheiden sich jedoch hierin – wie Muslime in allen Altersgruppen – deutlich von der Gesamtgesellschaft, wo der Anteil insbesondere der Hoch-Religiösen signifikant geringer ist.11 Verglichen mit nicht-muslimischen Jugendlichen in Deutschland spielt für einen hohen Anteil an jungen Muslimen in Deutschland Religiosität insgesamt eine wichtige Rolle.12 Was auffällt, ist die insgesamt starke Ausprägung der »religiösen Ideologie« gerade junger Menschen islamischen Glaubens, die mit über 80 % einen doppelt so hohen Wert hat wie die für Deutschland insgesamt (41 %).13 Ein wesentlicher Grund für die ausgeprägte Glaubensstärke gerader junger Muslime ist deren religiöse Erziehung.14 Die »Andersartigkeit in religiöser Hinsicht« der in Deutschland seit den 1970er Jahren in größerer Zahl lebenden Menschen mit Migrationshintergrund ist erst seit den späten 1990er Jahren ins öffentliche Bewusstsein und den Fokus der Wissenschaft gerückt. Migrationssoziologen hatten das Thema Religionszugehörigkeit bei der von ihnen beforschten Gruppe der sog. »Gastarbeiter« und Flüchtlinge kaum im Blick.15 Einhergehend mit Änderungen im Einbürgerungsrecht erlangten immer mehr Menschen aus dieser Gruppe die deutsche Staatsangehörigkeit und konnten so nicht mehr nur als »Gäste auf Zeit« wahrgenommen werden.16 In der Folge dieser neuen Aufmerksamkeit wurde die durchaus heterogene Gruppe von Menschen aus verschiedenen islamischen Ländern in der soziologischen Betrachtung und öffentlichen und poli11 Mirbach, »Das religiöse Leben von Muslimen in Deutschland«, S. 30. 12 Vgl. die Analyse aus dem Internationalen Religionsmonitor in: ebd., S. 30; siehe auch Koopmans, »Religious Fundamentalism«. 13 Vgl. Mirbach, »Das religiöse Leben«, S. 34 f. Unter dem Begriff »Religiöse Ideologie« wird eine Ideologie mit transzendentem Bezug verstanden, die das Konzept einer Gesamtexistenz von Person und Gesellschaft beinhaltet und in bestimmten gesellschaftlichen Gruppen integrierend und bindend wirken kann, vgl. Eberhard, »Monarchie und Widerstand«; vgl. auch Kött, »Systemtheorie und Religion«. 14 Vgl. Hunner-Kreisel/Andresen, »Kindheit und Jugend«. 15 Siehe Spielhaus, »Vom Migranten zum Muslim«. 16 Vgl. auch Schiffauer, »Der unheimliche Muslim«.

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tischen Diskussion als eine »islamische Gemeinschaft« zusammengefasst.17 Diese Veränderung ist bedeutsam: Deutsche Nicht-Muslime haben ein signifikant negatives Bild von Muslimen in Deutschland im Unterschied zu anderen Religionsgruppen.18 Diese Haltung wirkt sich wiederum zunehmend auf die Eigenwahrnehmung und Gruppenidentifikation von jungen Menschen mit Migrationshintergrund aus. Zwei Effekte lassen sich hierbei beobachten. Häufig versuchen Eltern mit Migrationserfahrung, ihren Kindern die Verbindung zu ihrer eigenen Heimat, die sie als Migranten hinter sich gelassen haben, durch identitätsstiftende Kern­elemente weiterzuvermitteln. Eine wesentliche Rolle spielen hier die Heimatsprache und -kultur sowie die Religion. Dies erklärt, warum die religiöse Erziehung von Migrantenkindern an Bedeutung stark gewinnt. Drei Viertel der 18- bis 29-Jährigen geben an, in »einem religiösen Sinne erzogen« worden zu sein, obwohl deren (Groß-)Elterngeneration angibt, selber weniger religiös erzogen worden zu sein.19 Religion wird hier also Kulturbestandteil und als Gruppenamalgam genutzt und oft weniger als vorgelebte individuelle spirituelle Beziehung zu Gott.20 Dadurch bildet sich eine doppelte Referenzentwicklung heraus: Jugendliche mit familiärer Migrationserfahrung werden mit »dem Islam« als einer wichtigen Gruppenidentifikationsrolle sozialisiert; gleichzeitig verstärkt die oben beschriebene exogene »Islamisierung der Migranten« – also der Verschiebung weg von einer ethnisch/nationalen, hin zu einer religionsbedingten Gruppenidentifizierung von außen – diese Entwicklung in der allgemeinen Bevölkerung weiter. Religionsbasierte stereotype Gruppenidentifikationen werden somit sowohl von innen aus dem Familien- und engeren Sozialverband, als auch von außen gesamtgesellschaftlich an die Jugendlichen herangetragen. Die Folge: Junge Menschen mit familiärer Migrationserfahrung werden von der eigenen Familie und deren Umfeld sowie der Gesellschaft im Ganzen gleichermaßen durch ihre Religionszugehörigkeit als sie bestimmendes wesentliches Kulturelement definiert und übernehmen diese Klassifizierung in das eigene Selbstverständnis.21 17 Tezcan spricht daher von einer »Islamisierung der Migranten«, also der Neuausrichtung der Betrachtungsweise der Gruppe zugewanderter Menschen, die vormals als Gruppe anders wahrgenommen wurden und nicht der Islamisierung wie sie hier zuvor definiert wurde, die in ihrer Bedeutung als sozialem Tatbestand ernst zu nehmen, aber durchaus kritisch zu betrachten sei; vgl. Tezcan, »Spielarten der Kulturalisierung«, S. 359; siehe auch Pickel, »Religiöse Pluralisierung«, S. 19–55. 18 Teczan, »Spielarten der Kulturalisierung«, S. 359. 19 Mirbach, »Das religiöse Leben«, S. 32. 20 Vgl. Masrar, »Emanzipation im Islam«. 21 Gerlach, »Pop-Islam revisited«; vgl. auch Koopmans, »Religious Fundamentalism«.

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Welcher Islam? Bezüglich der Frage der religions-basierten Radikalisierung von jungen Menschen ist der Aspekt der zugrundeliegenden Form des Islam von zentraler Bedeutung. Ginges u. a.22 haben gezeigt, dass eben nicht der Glaube und Religiosität als solche eine treibende Kraft hinter der Bereitschaft zum »Martyrium« sind, sondern die gemeinschaftliche Praxis einer Religion innerhalb einer bestimmten Gruppe. Gleiches gilt auch für die Schaffung von Vertrauen innerhalb einer Gesellschaft, wenn bestimmte Formen von religiöser »Frömmigkeit« nach außen bekundet werden (Spenden, Essverhalten): Dieses Signal stärkt das Vertrauen unabhängig davon, ob man Teil der gleichen Glaubensgruppe ist oder nicht.23 Aus der Kombination einer religiösen Sozialisierung über ein Familienumfeld, das selber kaum über tiefergehende theologisch-hermeneutisch fundierte religiöse Erziehung verfügt, einem Islam, der stark von der Türkei oder alternativ wahhabitischen Einflüssen dominiert ist und einer äußeren gesamtgesellschaftlichen Klassifizierung, welche Jugendlichen deutlich ein »Anderssein« und latentes Misstrauen vermittelt, erwuchs eine Form des Islam, die Gerlach »popislamische Bewegung«24 nennt, in der Elemente der globalisierten Jugendkultur aufgenommen und diese mit einem islamischen Vorzeichen versehen werden. Die identitätsstiftende Rolle dieser Ausprägung des Islam hat auch über die Gruppe der jungen Menschen mit familiärer Migrationserfahrung hinaus eine zunehmend prägende Wirkung und Attraktivität für Jugendliche, die nach Halt und einem stabilen Referenzsystem suchen.25 Hieraus folgt allerdings kein kausaler und zwingender Zusammenhang zwischen verstärkter Religiosität bei islamischen Jugendlichen und Radikalisierung. Migrantengemeinden können bspw. ein zentraler Ort des Halts für Jugendliche werden und deren Integration in die deutsche Gesellschaft wesentlich unterstützen.26 Wichtig ist vielmehr die Erkenntnis, dass der Islam in bestimmter Ausprägung27 als Religion eben nicht losgelöst vom Islamismus steht, sondern

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Ginges/Hansen/Norenzayan, »Religion and Support for Suicide Attacks«. Hall u. a., »Costly Signaling«; vgl. auch die Ergebnisse von Preston/Ritter, »Different Effects«. Gerlach, »Pop-Islam revisited«, S. 111. Für eine anschauliche praxisorientierte Darstellung, siehe bspw. Mansour, »Generation A ­ llah«; vgl. auch Masrar, »Emanzipation im Islam«. 26 Siehe etwa die Beispiele in Nagel, »Religiöse Netzwerke«; vgl. auch Amirpur/Weiße, »Religionen«; Arens u. a., »Integration durch Religion?«. 27 Seidensticker stellt die historische und inhaltliche Entwicklung des Spektrums bspw. salafistischer Gruppen eindrücklich und anschaulich dar. Es reicht gegenwärtig von »apolitischer Introvertiertheit und Kritik an revolutionärer Gewalt über Aktivismus und politisches Enga-

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deren zentraler Bestandteil ist. Koopmans28 etwa stellt die Vermutung eines nur marginalen Fundamentalismus unter Muslimen, die im Westen leben, in Frage und zeigt in seiner Studie auf, dass fundamentalistische Haltungen zwar nicht universell, aber weiter verbreitet sind, als gemeinhin angenommen. Ferner zeigt die Studie, dass die höheren Anteile an Unterstützung für fundamentalistische Überzeugungen von bestimmten Muslimen nicht maßgeblich auf deren eigenen gesellschaftlichen Exklusionserfahrungen beruhen. Notwendig ist also eine religionsbezogene Debatte, statt den Islam in Fragen der Radikalisierung ausblenden zu wollen, wie das vielmals in der deutschen Debatte von Interessenvertretern gefordert wird.29 Kulturelle und soziale Folgen Integrationspolitik in Deutschland hat sich in den letzten Jahrzehnten wesentlich verändert und damit einhergehend auch ein verbreitertes wissenschaftliches Interesse an Integration.30 Umso erstaunlicher ist es, dass es bislang kaum wissenschaftliche Untersuchungen gibt, die eine Wirkung politischer Maßnahmen (policies) empirisch systematisch und komparativ untersuchen und einen Fokus auf die sozio-kulturelle Gesamtintegration von Migranten legen und nicht auf soziale oder kulturelle Teilaspekte, wie etwa die Arbeitsmarktintegration. Die wenigen Studien hierzu belegen, dass die verschiedenen politischen Integrationsansätze etwa in Frankreich, den Niederlanden und in Deutschland wenig unterschiedliche Ergebnisse erzielen. Vielmehr beeinflussen regionale Herkunft und der Zeitpunkt sowie die Art der Migration die sozio-kulturelle Integration von Migranten.31 Zahlreiche Studien belegen mittlerweile die signifikante Diskriminierung von Migranten aus muslimisch geprägten Herkunftsländern und deren

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gement wie bei den Salafistenparteien Ägyptens bis hin zu Militanz bei jihadistisch-salafistischen Gruppen wie al-Qaida«; vgl. Seidensticker, »Islamismus«, Kapitel II, Salafismus; siehe auch Ceylan/Kiefer, »Salafismus«. Siehe Koopmans, »Religious Fundamentalism and Hostility against Out-groups«. Mansour, »Generation Allah«. Für eine erweiterte Diskussion der Rolle des Islam bezogen auf den religiös begründeten Dschihad: siehe Esposito, »Islam and Political Violence«. Vgl. Heckmann/Wiest, »Research-Policy Dialogues«. Die Autoren attestieren in ihrem Beitrag zu Wissensproduktion über die Integration von Migranten einen »enormen Zuwachs an Forschung« über die relevanten Prozesse seit den 1980er Jahren und einen aktiven Austausch mit Entscheidungsträgern auf verschiedenen Ebenen und Foren. Vgl. etwa Ersanilli/Koopmans, »Do Immigrant Integration Policies Matter?«. Für eine andere Wahrnehmung der Forschungslandschaft: siehe Scholten u. a., »Integrating Immigrants in Europe«.

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Kindern in europäischen und anderen christlich geprägten Gesellschaften.32 Beide Gruppen, die aufnehmende Bevölkerung sowie Immigranten aus überwiegend muslimischen Ländern tragen eine gemeinsame Verantwortung für die erschwerte Integration in europäischen, historisch christlich-geprägten Gesellschaften. Die aufnehmende Bevölkerung diskriminiert Muslime selbst dann, wenn sie keine begründeten (»rationalen«) Ängste gegen sie hegt.33 Gleichzeitig bestärken Muslime durch ihr Verhalten »rationale Formen der Islamophobie«, also begründete Formen einer negativen Einschätzung von sozialer Interaktion von Muslimen und Nicht-Muslimen.34 Im Vergleich zu anderen Ländern herrscht in Deutschland zusätzlich ein stark negatives Bild vom Islam und den in Deutschland lebenden Muslimen vor.35 Die Unterschiede der Chancen, etwa im Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, hängen maßgeblich damit zusammen, wie stark eine Assimilation der Personengruppe stattgefunden hat.36 Diese Assimilations­bereitschaft ist in Europa bei Muslimen durch den Grad der Religiosität mitbestimmt – im Gegensatz etwa zu Muslimen in den USA . Die im Vorfeld beschriebene doppelte Referenzentwicklung trägt in der Folge dazu bei, diese religiös bedingte Gruppenausgrenzung zu verstärken. Der nächste Abschnitt wendet sich nun der Frage zu, ob der Islam Prozesse der Radikalisierung junger Menschen bestimmen kann, und zeigt, dass diese Radikalisierung nicht zwingend religiös begründeten Mustern folgt, sondern mehr allgemein aus Prozessen des Gruppenverhaltens heraus erklärt werden kann.

32 Vgl. Studien aus den letzten 20 Jahren, bspw. Goldberg/Mourinho/Kulke, »Arbeitsmarkt-Diskriminierung«; siehe auch Seibert/Solga, »Die Suche geht weiter …«; Kaas/Manger, »Ethnic Discrimination«; Koopmans, »Does assimilation work?«. In allen Texten wird ausführlich auf weitere Studien hingewiesen. Vgl. besonders auch Adida/Laitin/Valfort, »Why Muslim Integration Fails«, die eine allein religionsbasierte Diskriminierung nachgewiesen haben. Studien bezogen auf Deutschland haben diesen allgemeinen Effekt allein durch die Religionszugehörigkeit nicht bestätigt, jedoch wie viele andere Studien das in Deutschland negative Bild des Islam und den in Deutschland lebenden Muslimen aufgezeigt und nachgewiesen, dass insbesondere Religion und Gläubigkeit für Frauen mit wirtschaftlichen Folgen verbunden sind, vgl. Stichs/Müssig, »Muslime in Deutschland«. Insgesamt sind die Ergebnisse in den Untersuchungen in Halm/Meyer, »Islam und die deutsche Gesellschaft« durchweg kompatibel mit den Argumenten über Kausalzusammenhänge aus der Untersuchung von Adida/Laitin/­Valfort. 33 Vgl. bspw. Pollack u. a., »Grenzen der Toleranz«; Benz, »Die Feinde aus dem Morgenland«; Halm, »Zur Wahrnehmung des Islams«. 34 Siehe Adida/Laitin/Valfort, »Why Muslim Integration Fails«; vgl. auch Koopmans, »Religious Fundamentalism«. 35 Vgl. Pollack, »Öffentliche Wahrnehmung des Islam«; Pollack u. a., »Grenzen der Toleranz«. 36 Vgl. Koopmans, »Does assimilation work?«.

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Radikalisierungsprozesse Ähnlich wie im Falle des Begriffs »Islamismus« ist der Begriff »Radikalisierung« in der Sozialwissenschaft unscharf definiert und wird analytisch grob in »gewalttätige« und »nicht-gewalttätige« Radikalisierung unterschieden.37 Allgemein werden für die Erklärung von Radikalisierung von Menschen häufig Phasenmodelle herangezogen, die entweder einen abwärtsstrukturierten (topdown) Prozess mit einem »externen Radikalisierer« (einer Person oder Organisation) beschreiben, oder einen aufwärtsstrukturierten (bottom-up) Prozess, in dem Einzelne radikale Ideologien entdecken und dann immer mehr in diese eintauchen. Die methodischen Probleme, die hierbei auftauchen, machen deutlich, wie wichtig es ist, auf die Radikalisierungsgründe zu fokussieren statt maßgeblich auf deren Verlauf.38 Dies ist umso wichtiger, da der überwiegende Teil radikalisierter Menschen sich in ihrem psychologischen Grundprofil – etwa in Form mentaler oder psychopathologischer Verstörung – gerade nicht von anderen Menschen unterscheidet.39 Die Unterscheidung in die zuvor beschriebenen kontextuellen Faktoren und im Folgenden diskutierten individuellen Faktoren, die zur Radikalisierung führen können, ist ein erster Schritt für ein besseres Verständnis der Radikalisierungsprozesse.40 Individuelle Faktoren können grob gesprochen in zwei Gruppen eingeteilt werden: (1) Identitätsprobleme, die durch die Übernahme eines Sicherheit spendenden (nicht zwingend religiösen) Glaubenssystems gelöst werden sollen, und wo auch (aber wieder nicht zwingend) Gewalt in vielfältigen Formen als mögliches Lösungsmuster angeboten wird und (2) soziale Interaktionsdynamiken.41 Die Zusammenführung beider Faktorenebenen in ein Gesamtmodell ist aber unerlässlich, wenn man der Radikalisierung Einzelner begegnen und gegenwirken will. Wie Einzelne in diesem Kontext auf diese 37 Siehe etwa Loza, »The psychology of extremism« für einen Überblick über verschiedene Formen der und Gründe für Radikalisierung. Für einen Überblick der theoretischen Ansätze: siehe Borum, »Radicalization«; für eine Darstellung der verschiedenen Typen der Radikalisierungsprozesse basierend auf Identitätsproblemen und sozialen Interaktionsdynamiken: siehe Veldhuis/Staun, »Islamist radicalisation«, besonders 7.1–7.3. Vgl. auch Pisoiu, »Islamist Radicalisation«; Ahmed/Pisoiu, »Foreign fighters«. 38 Für eine umfassende Diskussion, siehe Veldhuis/Staun, »Islamist radicalisation«. 39 Siehe Reich, »Origins of Terrorism«, Part I, insbesondere auch Post, »Terrorist psycho-logic«; vgl. auch Crenshaw/Martha, »The Causes of Terrorism«, die feststellen, dass das klare gemeinsame Charakteristikum von Terroristen deren Normalität sei (S. 390). 40 Veldhuis/Staun, »Islamist radicalisation«. 41 Siehe Veldhuis/Staun, »Islamist radicalisation«, Kapitel 7; vgl. auch Schmitz, »Ich war ein Salafist«.

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Einflüsse und ihre persönlichen Erfahrungen reagieren, ist entscheidend für die weitere Entwicklung des individuellen Radikalisierungsprozesses.42 Religiös begründete Radikalisierung Empirische Studien43 belegen den hohen Preis, den tausende Menschen weltweit durch islamistisch-motivierte und -begründete Gewalt jeden Monat mit ihrem Leben bezahlen. Doch dies schreckt junge Menschen häufig nicht von Islamisierungsbestrebungen ab, sondern verstärkt vielmehr die Verbundenheit mit der Gruppe durch ein selbst empfundenes Leiden und ein Gefühl der Stärke, diesem Leid durch innen empfundene Solidarität und nach außen formulierte Unterstützung aktiv entgegenzuwirken.44 In einer Studie, die das Verhalten Einzelner bezogen auf ihre persönliche Glaubensbeziehung zu einer Gottheit im Unterschied zu dem Verhalten bezogen auf ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion untersuchte, zeigten die Autoren, dass die Bereitschaft, Mitgliedern außerhalb der eigenen Bezugsgruppe zu helfen, größer war, wenn das Bewusstsein ihrer individuellen Glaubensbeziehung zu Gott im Vordergrund stand. Wenn der Fokus auf Religion gelegt wurde, änderte sich das: Hier stand dann die Bereitschaft, der eigenen Gruppe zu helfen, stärker im Vordergrund.45 Die Vermischung von »heiligen Werten« (sacred values) und »Identitätsverschmelzung« (identity fusion) – also Personen, die ein tief empfundenes Gefühl der Einheit mit einer Gruppe verspüren – zeigt hier eine besondere Zugkraft und Motivationsgrundlage für Einzelne, selbst extreme Handlungen zum Wohle einer Gruppe zu begehen.46 Die Forschung spricht dann vom »ergebenen Akteur« (devoted actor). 42 Bspw. wird »Kultur« häufig als extern-kontextuelle, für Gruppenangehörige etwa einer Ethnie oder Religion gleichermaßen zu verstehende Größe und als ein Faktor in der Radikalisierung gesehen, gewissermaßen ein der Person von außen übergestülpter Orientierungsrahmen, sofern er diese Kulturorientierung akzeptiert. Tatsächlich entsteht Kultur jedoch als Orientierungs- und Handlungsrahmen immer im Zusammenspiel mit anderen Personen, Überzeugungen und Verhaltensweisen erst auf der individuellen Ebene, kann also auch innerhalb einer größeren kulturbezogen Gruppe (»Muslime«) nur über ein Verständnis des Kulturbezugs und -verständnisses einer einzelnen Person für deren Orientierungsrahmen greifbar werden; vgl. Atran/Medin, »The Native Mind«; Atran, »Theoretical Frames«; vgl. auch Axelrod, »The Complexity of Cooperation«. 43 Siehe Neumann, »The New Jihadism«. 44 Die Analyse von Winter, »The Virtual ›Caliphate‹« schlüsselt diese scheinbar widersprüchliche Attraktivität von Gewalt systematisch auf. 45 Preston/Ritter, »Different Effects«. 46 Siehe Atran/Sheikh/Gomez, »For cause and comrade«. Zum Konzept der »identity fusion«, siehe Swann u. a., »What makes a group«. Zum Konzept der »sacred values«, siehe Ginges u. a., »Sacred bounds«.

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Ferner kommt hinzu, dass beim Phänomen der Vermischung von heiligen Werten und Identitätsverschmelzung Menschen und Ereignisse selbst mit großem zeitlichen Abstand – in der Vergangenheit und in der Zukunft – von größerem Gewicht sind als Bezugspunkte wie das Hier und Jetzt. Zudem sind diese Personen oft geradezu immun gegen Versuche, sie durch soziale Einflüsse im Rahmen einer materiellen Güterabwägung zu beeinflussen. Diese Versuche zeigen oft eine gegenteilige Wirkung auf und bestärken sie darin, keine Kompromiss- und Verhandlungsbereitschaft zu zeigen.47 Aus ihrer Sicht wäre das ein Verrat an der religiös und/oder kulturell begründeten, zeitlich und örtlich unabhängigen »großen Familie«, deren Zugehörigkeitsmerkmal ein wesentliches Element der eigenen Identität darstellt und ausmacht. Die der Gruppe beigefügten Missstände und weniger das eigene erlebte Fehlverhalten oder »Leid« stehen im Vordergrund und werden als Herabwürdigung der eigenen Person empfunden.48 Khosrokhavar nennt dieses auf das Leiden mit der großen Gruppe fixierte und bezogene Verhalten »stellvertretende Demütigung« (humiliation by proxy).49 Dieser unabhängig vom Phänomen der durch Islamisierung erzeugten Radikalisierung festgestellte Prozess findet bei diesen volle Anwendung. Die große islamische Familie ist als »umma« in allen Islamisierungsströmungen ein zentrales Element und stellt einen geradezu idealtypischen Kontext für das Wirken der individuellen Faktoren. Der Islam als Teil einer neuen Jugend(-sub-)kultur Die gestiegene Bedeutung von Religion als identitätsstiftendem Faktor gerade für Jugendliche mit familiärer Migrationserfahrung in Deutschland wird von radikalen Gruppen für deren Zwecke bewusst genutzt.50 Die psychologischen – fehlendes Urvertrauen, Schamgefühl, das Über-Ich51 – und soziologischen Faktoren – Exklusivitätsanspruch auf »Wahrheit«, soziale Ungleichheit, Feindbilder52 –, die hier eine Rolle spielen, sind keinesfalls exklusiv auf die Frage des Islam als Religion zu beziehen. Die Kombination aus innerer und äußerer Gruppenidentifikation auf Basis eines »Pop-Islam« – der sich vermeintlich klar vom 47 Siehe Sheikh/Ginges/Atran, »Sacred values«. 48 Khosrokhavar, »Suicide Bombers«. 49 Khosrokhavar, »Suicide Bombers«; vgl. auch Jones, »Blood That Cries«, insbesondere Kapitel 2 und 5. 50 Siehe Mansour, »Generation Allah«, insbesondere Kapitel 2; vlg. auch Khosrokhavar, »Suicide Bombers«; Winter, »The Virtual ›Caliphate‹«.Vgl. auch Pisoiu, »Subcultural Theory Applied«. 51 Vgl. Conzen, »Fanatismus«; vgl. auch Atran, »Talking to the Enemy«. 52 Vgl. Mansour, »Generation Allah«, Kapitel 2; Khosrokhavar, »Suicide Bombers«.

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»Dschihadismus-Islam« abgrenzen möchte – ist ein idealer Nährboden, auf dem Fanatismus und Radikalismus gedeihen.53 Salafistische, aber auch andere islamistische Gruppen nutzen das Internet und Angebote vor Ort geschickt, um durch einen hohen individuellen Betreuungsaufwand Zugänge zu Einzelnen zu schaffen – mit klaren Antworten auf die Fragen von Jugendlichen auf der Suche nach Halt und Struktur, bei denen das religiöse Element gar nicht unbedingt im Zentrum steht.54 Die ausführliche Verfügbarkeit salafistischen Gedankenguts auch in deutscher Sprache unterstützt dessen Ausbreitung, welches sich einem breiteren Publikum in Deutschland als moralisch und intellektuell überlegene Variante des Islam präsentieren kann und in einer weltumspannenden, ent­ territorialisierten Gemeinde (umma) Halt bietet.55 Das Internet bietet die Möglichkeit, sich ohne große Mühe in allen Stufen, ob beim ersten Suchen nach Informationen oder der Aufrechterhaltung von bereits tief gewobenen Verbindungen, mit anderen »Glaubensgeschwistern« zu vernetzen. Junge Menschen nutzen diese Quellen gerade anfänglich gerne. Die besonders effektive und breite Nutzung sozialer Medien bezeugt ein hohes Propagandaeinsatzpotenzial und die Affinität zu westlichen Jugendwelten. Eine Schätzung56 weist auf über 70.000 Twitter- und Facebook-Accounts mit hunderttausenden Nutzern und 90.000 Textbotschaften täglich. YouTube-Videos und weitere Medienplattformen unterstützen diese individuelle mediale Interaktion von und mit Unterstützern weltweit. Pflicht gegenüber der Gruppe Das oben skizzierte Verständnis von Radikalisierung ist von zentraler Bedeutung – bezogen auf die Entwicklungen im globalen Dschihadismus, der eben keine »top-down« gesteuerte Bewegung ist, die gezielt Gruppen von Menschen verändern will, bis sie Teil einer gesteuerten Bewegung werden, sondern vielmehr ein flexibles und opportunistisches soziales Netzwerk, das unterschiedlichsten Gruppen Anknüpfungspunkte bietet und sie dann bewusst in ihren Bestrebungen unterstützt und diese verstärkt. Die aktiven und passiven Unterstützer, die sicheren Unterschlupf für andere Aktivisten gewähren oder logistische Unterstützung, wie die Beschaffung von Mobiltelefonen, leisten und somit weiter unten auf der Radikalisierungsleiter stehen, sind in solch einem Netzwerk 53 Gerlach, »Zwischen Pop und Dschihad«, S. 223. 54 Siehe etwa Neumann, »Die neuen Dschihadisten«. 55 Seidensticker, »Islamismus«, Kapitel II, Salafismus; für ein Fallbeispiel, siehe Schmitz, »Ich war ein Salafist«. 56 Fernandez, »Here to stay«.

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ebenso wertvoll wie die vermeintlich gut integrierte 16-Jährige aus Dinslaken mit familiärer Migrationserfahrung, die nach Syrien ausreist, oder der Selbsmord­ attentäter, der sich und viele andere in der U-Bahn in die Luft sprengt und tötet.57 Die Unterscheidung zwischen Unterstützung durch gewaltfreien und auch gewalttätigen Widerstand gegen die Außen-Gruppe und individueller Gewaltbereitschaft ist bedeutsam. Studien58 zeigen, dass der Schritt vom Sympathisanten zum aktionsbereiten Unterstützer häufig aus kleinen, »aktionsbasierten« Gruppen heraus entsteht: Freizeitaktivitäten, Lerngruppen, insbesondere Erlebnis- und Sportaktivitäten, die physisch stimulieren, aber gerade nicht per se gewalt-fokussierte Aktivitäten darstellen. Moscheen sind laut diesen Studien nicht unbedingt die »Brutstätten«, in denen diese Gruppen radikalisiert werden. Diese jungen Menschen mobilisieren sich selber auf Basis einer einfachen, oberflächlichen takfiri Botschaft (der Einstufung Dritter als »Ungläubiger«), um sich dann der »unreinen« normalen Gesellschaft zu entziehen und diese notfalls mit Gewalt zu »reinigen«. Häufig sind diese jungen Menschen »wiedererweckte Muslime« mit wenig Sachkenntnis über den Glauben jenseits oberflächlicher Kulturmarker (Kleidung, Ernährung) und Schlagworten (Scharia) und der Gewissheit, selbst ein »wahrer Muslim« zu sein, dessen Glaube die Basis der Verbrüderung mit der Kerngruppe und der erweiterten Gruppe der Muslime weltweit sei.59 Eine individuelle, spirituell-basierte Glaubensbeziehung besteht häufig nicht oder sehr oberflächlich und ritualisiert; doch selbst am Gebet – immerhin eine der fünf zentralen Säulen des Islam und damit absolute Basis jedes Muslims – scheitern manche schon.60 Radikalisierung auf der individuell-kognitiven Ebene kann somit als eine Verschiebung von moralischen Prioritäten verstanden werden, in der die Pflicht zu gewalttätiger politischer Aktion am Ende einer Leiter von wahrgenommenen Pflichten steht.61 Der Prozess der kognitiven Dissonanz erklärt, warum diese Entwicklung in Stufen geschieht: Einmal als »gut« angenommene Rahmen werden durch selektive Wahrnehmung bestätigt, bis es zu einem Bruch kommt, wenn die Wahrnehmungen, die ja auch durch ihre kulturelle Prägung beeinflusst werden, diese Bestätigungsselektion nicht mehr zulassen. Norma57 Vgl. Neumann, »Die neuen Dschihadisten«; Atran, »Talking to the enemy«; Stern/Berger, »ISIS«; Khosrokhavar, »Suicide Bombers«; Winter, »The Virtual ›Caliphate‹«. 58 Vgl. Atran, »Talking to the enemy«. 59 Vgl. Atran, »Theoretical Frames«; Mansour, »Generation Allah«. 60 Vgl. Atran, »Theoretical Frames«; Mansour, »Generation Allah«. 61 Die folgende Argumentation basiert in Teilen auf Atran, »Theoretical Frames«. Vgl. für alternative Modelle bspw. Pisoiu, »Subcultural Theory«.

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lerweise geschieht dies in der kognitiven Wahrnehmung des Einzelnen, kann aber auch durch indirekte Wahrnehmung, also den Erfahrungen Dritter, zeitlich und geografisch losgelöst von der eigenen individuellen Erfahrungswelt geschehen; so lässt sich das rationale Verhalten und Aufrechterhalten von Parallelwelten erklären.

Islamismus als Faktor in der Radikalisierung Jugendlicher Aktiv in der Präventionsarbeit tätige Psychologen und Sozialarbeiter beklagen, dass es eine fehlende öffentliche Wahrnehmung des tatsächlichen Ausmaßes des Phänomens der Radikalisierung und zu wenig Forschung im deutschen Kontext gibt, welche bspw. mit einer gemeinsamen Datenbasis eine empirisch begründete und wissenschaftlich gestützte bessere sozialarbeiterische und pädagogische Arbeit ermöglichen würde.62 Die Sozialisierung junger Menschen, die im Vergleich zur allgemeinen Bevölkerung selbstdefiniert »besonders religiös« sind, stellt die deutsche Gesellschaft und viele Pädagogen vor eine zunehmende Herausforderung. Die innere (endogene) und von außen angetragene (externe) Kategorisierung der Jugendlichen auf Basis ihrer Religionszugehörigkeit ist ein Faktor in der Debatte, der nicht außer Acht gelassen werden darf, wenn man dem Phänomen der Schaffung einer Unterstützungskultur durch den Islamismus entgegentreten möchte. Religion spielt zugleich eine aktive und passive Rolle, da sie einen Bezugspunkt für äußere Identifikation (über eine Gruppenzugehörigkeit und deren Einordnung) darstellt, genauso wie für die innere, eigene Identifikation von Menschen, in Teilen auch als Reaktion auf die externe Gruppendefinition. Im Vordergrund steht jedoch die religiöse Gruppenzugehörigkeit und meist eben gerade nicht die persönliche spirituelle individuelle Gott-Mensch-Beziehung. Diese wirkt oft im Gegenteil konträr zu der gruppenbezogenen Beziehung, welche ein geschlossenes Gruppendenken fördert und von bestimmten Interessengruppen gezielt dafür genutzt wird. Eine solche Unterscheidung zeigt sich auch aus empirischer Sicht als für die Handlungsweisen der Betroffenen wesentlicher Faktor. Religiosität führt nicht zwingend zu Radikalisierung; sie ist aber Nährboden für eine solche Radikalisierung und sie trägt in weitaus stärkerem Masse als bislang wahrgenommen wurde zu einer »Unterstützungskultur« bei, die eine intensivere Radikalisierung von Jugendlichen fördert, die aus verschiedenen Gründen und in unterschiedlichen Konstellationen und Kontexten erfolgt. 62 Siehe Mansour, »Generation Allah«, Kapitel 4.

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Dieser Umstand macht es so schwierig, dieser Entwicklung im Klassenraum oder anderen Begegnungsräumen entgegenzutreten. Jede Argumentation, die auf einer religiös begründeten Ebene erfolgt, ist selbst im Familienkontext bei Betroffenen kontraproduktiv. Islamisten sind starke »Kümmerer«, die jungen Menschen ein klares Orientierungsangebot und Wertesystem bieten, das sie aus einer (wahrgenommenen) Marginalisierungssituation in eine (globale) Mehrheit stellt, verbunden mit alleinigem Wahrheitsanspruch. Es gilt also hier in eine Debatte einzusteigen, die nicht den Glauben aus Sicht der Betroffenen als solchen in Frage stellt – ob nun begründet oder nicht aus externer Sicht –, sondern vielmehr versucht, die damit verbundenen normativen Grundannahmen und oft auch die schlicht empirisch begründete Faktengrundlage in der Diskussion aufzugreifen. Der Ansatz einer deutlicheren Auseinandersetzung mit der eigenen Religion gerade auch im Diskurs mit Anders- und Nichtgläubigen als Teil einer gemeinsamen Gesellschaft kann daher einen nicht unwesentlichen Beitrag leisten, der durch islamistische Bemühungen unterstützten Radikalisierung junger Menschen konstruktiv entgegenzutreten.

Prof. Dr. Joachim K. Rennstich, Professor für Internationale Soziale Arbeit an der CVJM-Hochschule Kassel, [email protected].

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Islamismus als religiöses Phänomen Samet Er

Der »Islamismus« als politischer Aktivismus Der Begriff »Islamismus« wird inflationär gebraucht. Jedes Medium verwendet ihn nach eigenem Interesse und Gutdünken. Im Grunde genommen kann der Islamismus als »Bestrebung[en] zur Umgestaltung von Gesellschaft, Kultur, Staat oder Politik anhand von Werten und Normen, die als islamisch angesehen werden«, verstanden werden.1 Die islamisch angesehenen Bemühungen werden von der Ideologie abgeleitet und mit Religion legitimiert. Da es somit keine Relation zum Islam gibt, bemüht man sich, den Begriff »Islamismus« durch die Bezeichnung »politischer Aktivismus« zu ersetzen.2 Denn es handelt sich nicht um religiöse Bestrebungen zur Umgestaltung, sondern um politisch-ideologische. Mit dem Begriff des »Islamismus« jedoch wird dies schlicht auf den Islam reduziert. Um Verwirrungen vorzubeugen, soll in diesem Artikel trotzdem weiterhin der Begriff »Islamismus« verwendet werden. Neben gewaltbereiten Islamisten gibt es auch jene, die Gewalt ablehnen, friedlich demonstrieren und den Kontakt zu Nichtmuslimen suchen. Die bekannteste Gruppierung innerhalb der islamistischen Szene sind die Salafisten, die ebenso in Gewalt ablehnende und befürwortende unterteilt werden können. Selbstmordattentäter bzw. Terroristen wiederum, die Mord als legitimes Mittel anwenden, werden selbst von Islamisten als Unmenschen bezeichnet.3 Gemeinsam haben aber alle, dass sie die Religion für ihre eigenen politischideologischen Zwecke instrumentalisieren. 1 Seidensticker 2014, S. 9 ff. 2 Hunt und Aslandogan 2002, S. 16 ff. 3 Vgl. Offener Brief an »Abū Bakr al-Baġdādī« und an die Kämpfer und Anhänger des selbsternannten »Islamischen Staates«, unterzeichnet von über 120 international anerkannten muslimischen Gelehrten, 2014.

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Bis in das 20. Jahrhundert wurde der Islam mit dem Islamismus gleichgesetzt. Vermutlich, weil die moderaten Muslime, wie auch Islamisten, unter anderem an den Einen Gott, an den Propheten Muhammad, an den Koran als Wort Gottes und an das Jenseits glauben.4 Dies kann tatsächlich einen Außenstehenden schnell zum Pauschalisieren verleiten und für Verwirrung sorgen. Erste Bemühungen um eine Differenzierung machte der französische Orientalist und Historiker Maxime Rodinson, der sich für die klare Differenzierung der beiden Begriffe aussprach. Rodinson kritisierte den Begriff Islamismus und setzte sich gegen das Pauschalisieren der Muslime als Islamisten ein. In Deutschland gab es noch bis in die letzten Jahre die Meinung, der Islam sei vom Islamismus nicht abzugrenzen, da der Islam als Religion die Absicht habe, einen Staat zu gründen, welches historisch auch zu begründen sei.5 Die »Islamisten« erhalten diesen Titel deshalb, weil sie nach der Errichtung eines Staats bzw. der Gesellschafts- und Staatsordnung streben, die unreflektiert auf den Lehren des »Islam« und vor allem auf der eigenen Ideologie basiert. Der Koran und die Sunna des Propheten Muhammad werden für sie als ein Gesetzbuch aufgefasst, das eindeutige Anweisungen für politische Zwecke vorgebe und das die besten Anweisungen für die perfekte Gesellschaftsordnung habe.6 Die sogenannte »Scharia« ist, ganz gleich in welchem Zeitalter oder Kontext, umzusetzen. Wenn das nicht möglich ist, müsse dies im Inneren wenigstens beabsichtigt werden. Für die Glückseligkeit im Diesseits und im Jenseits ist es die Pflicht eines jeden Muslims, die »islamische Gesellschaftsordnung« als oberste Agenda und erstrebenswerte höchste Priorität einzustufen. Da aber die Stimmen der Islamisten in den letzten Jahren von Medien und Kritikern Aufmerksamkeit erfuhren, haben Muslime, die den muslimischpolitischen Aktivismus, eine Islamisierung und die Gewalt strikt ablehnen, kein großes Gehör gefunden. Tatsächlich sehen mehr als 90 % der Muslime in Deutschland eine Kohärenz zwischen dem demokratischen Rechtsstaat und ihrer Religion und sind mit der Demokratie als Staatsform zufrieden.7 Für diese Mehrheit ist es wichtig, ganz gleich wo sie sich befindet, Freiheiten und Rechte zu genießen, um unter anderem den Gottesdienst, den Beruf und das Familien­leben friedlich und ungestört zu leben. Sie verstehen die »Scharia« nicht als einen Gesetzeskodex, der eine bestimmte unveränderliche Form der Regierung vorschreibt, sondern als eine heilige Schrift, die grundsätzliche Prinzipien aufstellt, die alle Aspekte des Lebens betreffen, um für ein glückliches Leben im 4 Vgl. Al-Munadschid 2006. 5 Vgl. Nagel 2005, S. 32 ff. 6 Vgl. Seidensticker 2014, S. 9 ff. 7 El-Menouar 2015.

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Diesseits und Jenseits zu sorgen. Diese Muslime unterstützen die Demokratie und interessieren sich nicht für die Person des Regierenden, sondern für seine Handlungen, Freiheiten und Rechte, die er ermöglicht.8

Was ist eigentlich die Scharia? Der Islamismus ist eine reaktionäre Bewegung. Die Islamisten betrachten den Westen und die Verbündeten im Nahen Osten, ganz besonders Israel, als Feinde und richten ihre Hasspolitik gern gegen diese Feindbilder. So ist die Entstehung des Islamismus im 19. Jahrhundert als Antwort auf die Überlegenheit des Westens bzw. die Abschaffung des Kalifats (ergo Zerstörung der Einheit der Muslime) zu verstehen. Das islamistische Gedankengut hat vor allem zu einer Zeit Einfluss gewonnen, in der Muslime unterdrückt oder die islamische Kultur und Zivilisation zerstört wurden. Die Angst, dass »ethische Grundlagen«9 des Islam durch »westliche Werte« aufgehoben werden, hat dazu geführt, »islamische Werte« mit politischen Mitteln umzusetzen. Die Gesellschaft sei von den Machenschaften des Westens zu reinigen, die Muslime zu befreien und die Unabhängigkeit sei anzustreben. Nur die »Scharia«, als »politisches System«, das bereits den Propheten und seinen Gefährten im 7. Jahrhundert aus der Krise geholfen und zu einem perfekten System verholfen habe, könne die muslimische Gesellschaft vom »Westen« erretten. Es handelt sich laut den Thesen der Befürworter um eine »Re-Islamisierung«,10 wobei es sich um eine politische Instrumentalisierung der Religion handelt. Prägende Exponenten wie Muhammad Abduh, Ĝamaddin Al-Afghani und Sayyid Qutb sind hier zu erwähnen.11 Bei den Islamisten wird die Scharia als ein von Gott bestimmtes, verbindliches und unwandelbares System, das alle Bereiche des menschlichen Lebens, insbesondere das der Politik abdeckt, verstanden. Alle anderen Staatsformen, wie die Demokratie, sind als Menschenwerk abzulehnen, da Gott bereits alles festgelegt hat. Die Scharia ist aber weit mehr als dieses »fragmentierte Verständnis«12 des politischen Systems. Für viele Muslime außerhalb des islamistischen Spektrums gibt der Islam weder eine bestimmte unveränderbare Regierungsform, noch Anweisungen für eine perfekte Regierung vor. Der Islam ist weder eine Mystik   8   9 10 11 12

Vgl. Hamidullah 2003, S. 837. Seidensticker 2014, S. 10. Bauer 2015, S. 52. Seidensticker 2014, S. 39 ff. Ramadan 2011, S. 70.

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oder Philosophie, noch sonst eine politische, gesellschaftliche oder wirtschaftliche Ideologie. Das Ziel dieser Religion ist lediglich, dem Menschen sowohl im Diesseits, als auch im Jenseits ein glückliches, friedliches und gerechtes Leben zu ermöglichen. Der Mensch steht mit seinen Grundrechten im Mittelpunkt – keine Ideologie oder ein Staat.13 Daher ist es schwer nachzuvollziehen, wenn Islamgegner Parolen wie z. B. »Wir wollen keine Scharia« verwenden und Muslime dem mit harten Gegenreaktionen Folge leisten. Denn die »Scharia« wird mit dem Handelsrecht, Familienrecht, Vertragsrecht, Eherecht und Freiheiten für den Gottesdienst in Deutschland bereits tagtäglich umgesetzt! Eine standesamtliche Ehe, die Sozial­ versicherung oder der uneingeschränkte Gottesdienst sind bspw. die Scharia. Um es simpler zu machen: Selbst das Weglegen eines Steines auf der Straße, mit dem Bewusstsein, es könnte jemandem schaden, ist das Ausleben der Scharia auf die beste Art und Weise. Lexikalisch bedeutet »Scharia« im arabischen »Weg der Tränke«, welche, im Sinne der Epoche des Sturm und Drang, als positive Assoziation aufgefasst wird. Die Araber verstanden diesen Begriff als einen Weg, der von der heißen arabischen Wüste zur Tränke führt. So wird das Diesseits übertragend als Wüste interpretiert, die zum Ziel des Gläubigen, zu Gott führe. Der Weg zur Tränke ist also gleichzusetzen mit dem Weg zu Gott. Was dieser Weg bedeutet, hat Goethe in seinem Preislied »Mahomets-Gesang« beschrieben: Hier zeichnete Goethe symbolisch einen Weg des Propheten Muhammad, der aufgrund seiner positiven Anziehung auf seinem Weg zum Ozean alle Quellen, Bäche und Flüsse mit sich nimmt. Der Ozean wird hier mit Gott, dem letzten zu erreichenden Ziel, gleichgesetzt.14 Die Scharia ist also kein von Gott bestimmtes, unwandelbares und verbindliches Gesetz, sondern eine Art und Weise, die Prinzipien bzw. Orientierungen vorgibt, um den Weg zum gesellschaftlichen Frieden und zu Gott zu finden – und zwar unter Berücksichtigung des sozialen, kulturellen, politischen und ökonomischen Kontextes.15 Die verschiedenen Umsetzungen der Scharia in der islamischen Geschichte zeigen, dass es möglich ist, »an zwei Orten zur gleichen Zeit hinsichtlich derselben Frage zwei unterschiedliche Gesetzgebungen zu entwickeln« und »in dersel13 Kara 2014, S. 234 ff. Mehr als 99 % der Schariatexte befassen sich mit individuellen Alltags­ themen wie Spenden, Fasten, Pilgern, Beten, Ehe, Arbeit, zwischenmenschliche Beziehung etc. und die restlichen 1 % sind Regierungsangelegenheiten wie Vertragsrecht und Strafrecht (Nursi 2011, S. 127). 14 Vgl. Mommsen 2001, S. 47 ff. 15 Ramadan 2011, S. 71.

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ben Region zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Regelungen« einzuführen, die »islamisch« sind.16 Um ein Beispiel zu nennen: Die große Autorität des islamischen Rechts, AsCh-Schafii (820), sprach als Jurist im Irak Urteile aus, die er nach seiner Versetzung nach Ägypten aufgrund der kontextuellen Gegebenheiten ablehnte bzw. verbesserte (»Qawl-i qadim wa qawl-i gˇadid«).17 Die Wissenschaft, die sich damit beschäftigt, wird Fiqh genannt, was übersetzt aus dem Arabischen »verstehen, begreifen« bedeutet. Sie steht im Gegensatz zum »unreflektierten copy-paste« der Salafisten.

Schreibt der Islam einen Staat vor? Ob der Islam einen Staat vorschreibt oder nicht, wird seit Jahrhunderten, vor allem seit Anfang des 20. Jahrhunderts, umfassend diskutiert. Die Meinungen unterscheiden sich sehr stark. Die eine Position stützt sich auf die ersten Wahlen nach dem Ableben des Propheten, die auf andere Art und Weise vollzogen wurden. Hier wird die Auffassung vertreten, dass die Regierungsart und die Regierungsform je nach Zeit und Umständen zu wählen sind. Das zeige, dass die Hauptquellen, der Koran und die Sunna, kein Wahlsystem vorgegeben hätten.18 Die Gesellschaft setzte sich diesen Quellen nach vielmehr aus Individuen zusammen, die einen freien Willen besitzen, verantwortungsbewusst und mündig seien. Die Verse »Diejenigen, die […] ihre Angelegenheiten in gegenseitiger Beratung regeln« (42/38), »Gott ändert den Zustand eines Volkes nicht, ehe es sich selbst hinsichtlich seiner Ansichten, Weltanschauung und Lebensweise nicht ändert« (13/11) und der Hadith (Prophetenausspruch) »Wie ihr seid, so werdet ihr regiert« weisen darauf hin, dass das Schicksal der Individuen in ihren eigenen Händen liegt. Demnach ist kein Staat vorgeschrieben, sondern lediglich grundlegende Prinzipien bzw. Orientierungen, die aus den beiden Hauptquellen des Islam, dem Koran und dem Leben des Propheten, abgeleitet, und je nach Zeit und Ort verstanden werden.19 Diese Prinzipien repräsentieren die heutigen universellen Werte, wie Meinungsfreiheit (siehe 4/135), Religionsfreiheit (siehe 109/1–5 und 2/256), Recht auf Leben (siehe 6/151 und 5/32), Handlungsfrei16 Ramadan 2011, S. 92. 17 Hier sei auf das Buch »Die Kultur der Ambiguität – Eine andere Geschichte des Islams« von Thomas Bauer hingewiesen, der das Ambiguitätsbewusstsein des islamischen Rechts in allen Lebensbereichen des vorkolonialen Nahen Ostens erforscht hat, Bauer 2015, S. 42 ff. 18 Vgl. Kara 2014, S. 235 ff. 19 Vgl. Ramadan 2011, S. 91.

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heit (siehe 90/8–10), Gleichheit (siehe 4/1 und 28/4), Diskriminierungsverbot (siehe 30/22) und auch die Gleichberechtigung (siehe 3/195 und 9/71). Diese und weitere Grundprinzipien zeigen, in welchem Spielraum die Regierenden sich bewegen können. Die Regierungsform und Staatsstruktur sind ergo den äußeren Rahmenbedingungen anzupassen, ohne dass diese Grundprinzipien verletzt werden. Ob dann die Regierungsform Demokratie, Monarchie, Sultanat oder Kalifat heißt, spielt keine Rolle.20 Die andere Position, in dem Falle die Behauptung der Islamisten, ist, dass »der Islam« die Gründung eines Staates als obligatorisch ansehe. Sie stützten sich hierbei unter anderem auf die umgehende Konstituierung eines »Staates« durch den Propheten Muhammad nach der Einwanderung nach Medina im Jahre 622. Der Prophet soll die damals sehr ethnisch und kulturell heterogene Stadt (4000 Juden, 4500 Polytheisten und 2000 Muslime)21 mit einem »Staatsvertrag« an sich gebunden22 und sich zum Staatsoberhaupt erklärt haben. Genauso wie viele islamische Aspekte politisiert werden, ist es auch mit diesem Ereignis. Islamisten ziehen diesen Vertrag als Verfassungsmodell für die Gründung eines »Staates« heran. Tatsächlich handelt es sich dabei vielmehr um eine Art »Gemeindeordnung«,23 die den Frieden zwischen einzelnen selbstständigen und zerstrittenen Stämmen im Fokus hat. In diesem Bündnisvertrag werden u. a. die Freiheit, die Gleichstellung und die Sicherung der Gesellschaft gewährt und vollzogen. Denn in der Folge dieses Bündnisvertrags schlossen seit Jahrhunderten zerstrittene Stämme Freundschaften und brachten den gesellschaftlichen Frieden.24 Selbst wenn der Vertrag von Medina als Grundlage für den Staat genommen wird, widersprechen ironischerweise viele Staaten, in denen die sogenannte »Scharia« als Verfassung gilt, dieser Gemeindeordnung. Sie verstoßen gegen Rechte wie Gleichstellung, Minderheitenrechte, Meinungs-, Glaubensund Religionsfreiheit, Rechtsautonomie und religiöse Selbstverwaltung sowie

20 Dem Koran geht es in erster Linie nicht um die Regierungsform, sondern um den Menschen, der das Recht hat, in Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden zu leben. Die Regierungsform, ganz gleich welche, soll dies im Vordergrund haben. Siehe hierzu die Prophetengeschichten im Koran 12/55, 2/247, 7/110–114, 28/19 und 27/29 (vgl. Hamidullah 1992, S. 877). 21 Vgl. Peygamber Yolu Dernegi 2016. 22 Wobei ausgehend von der umstrittenen Überlieferung Ibn Ishaqs (Rotter/Ibn Ishaq: Prophet, S. 169) hier die Rede von einer Vernichtung und Versklavung des jüdischen Stammes Banu Quraiza ist, abgesehen davon, ob es sich dabei um ein religiöses oder politisches Motiv handelt. 23 Wellhausen 1889, S. 65–83. 24 Vgl. Kardas 2015, S. 307.

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die Bemühung um die Errichtung interreligiöser Beziehungen. Hier ist also wiederum zu sehen, wie stark politisch-ideologisch die Islamisten vorgehen. Das Streben vieler Islamisten nach einem islamischen Staat hat die Begründung, dass das Leben als Muslim unter »westlicher« Herrschaft nicht erlaubt sei und daher die Absicht bestehen müsse, den Staat zu »islamisieren«. Doch ein Beispiel aus der Zeit des Propheten Muhammad zeigt uns, dass Muslime unter nichtmuslimischer Herrschaft gelebt, Gesetze befolgt und respektiert haben, ja sogar der Prophet den christlichen Herrscher empfohlen hat. Diese vom Propheten Muhammad entsandten Muslime befolgten und respektierten die Gesetze der christlichen Gesellschaft. Das machten sie nicht nach eigenem Gutdünken, sondern hielten sich an den Koran: »[…] und haltet das Versprechen ein; für das Versprechen wird gewiss Rechenschaft gefordert« (17/34).25 Dieser Vers sagt, dass die Muslime, falls sie dem Gesetz (im eigenen Land) nicht Treue leisten bzw. gesetzeswidrig handeln, am Tag des Jüngsten Gerichts von Gott dafür zur Rechenschaft gezogen werden. Dies ist jedoch nur dann gültig, wenn die Staatsstrukturen bzw. Regierungsformen sich auf die Grundprinzipien berufen, die oben bereits gezeigt wurden.

Der Salafismus, eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung Warum der Islamismus in der Vergangenheit die Oberhand gewonnen hat, mag viele Gründe haben. Es können hier unter anderem als entscheidend die Kolonisation, die Abschaffung des Kalifats und die mediale Darstellung des Islam erwähnt werden. Doch der Ursprung aller Gründe ist die Unwissenheit, die Armut, die Zwietracht und somit der Identitätsverlust der Muslime in den letzten Jahrhunderten.26 Nach jahrhundertelanger Blüte der islamischen Gesellschaft, Wissenschaft und Kultur kam es ab dem 18. Jahrhundert im Gegensatz zur Größe des Westens zu Identitätsverlust und Dekadenz, was Misstrauen und Ablehnung von Fremdem und Neuem mit sich brachte. Das Streben nach Identität bewegte viele Muslime, Parteien zu gründen, in deren Programmen die Rückbesinnung zum Koran und zum Leben des Propheten die oberste Priorität besaß – als die beste Alternative für eine Unabhängigkeit von westlichen Mächten. Mit dieser politischen Einstellung – wenn nicht komplett, dann zumindest davon beeinflusst – kamen die Muslime nach Europa. Zudem erfuhren/erfah25 Ünal 2015, S. 690. 26 Vgl. Nursi 1996, S. 49.

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ren sie zusätzlich noch die Hassparolen und Diskriminierungen der Rassisten in Europa, durch die sich die Muslime in ihren Vorurteilen bestätigt sahen/ sehen. Alltägliche negative Erfahrungen am Arbeitsplatz, in der Schule oder in der Öffentlichkeit werden nun pauschalisierend auf die Gesamtgesellschaft projiziert. Diese Zwietracht bzw. diesen Bruch mit der Gesellschaft sowie Armut und Unwissenheit nutzen Islamisten, in diesem Falle die Salafisten, aus, um Jugendliche zu rekrutieren und diesen ihre Ideologie einzupflanzen – mit Stützung auf Koran und Hadith. Die Feldforschungen auf diesem Gebiet zeigen übereinstimmend, dass es sich bei den meisten Anhängern des Salafismus um Jugendliche handelt, die entweder gewalttätig, vertrieben oder ausgeschlossen waren.27 Es sind zumeist viele schlechte Erfahrungen im Alltag, unter anderem mit Lehrern, die dann auf die Gesamtgesellschaft projiziert werden. Die Jugendlichen sind auf der Suche nach einer Identität. In Deutschland werden sie als »Türken«, »Araber« oder aber auch mit »ihr Muslime« ausgeschlossen, diskriminiert und benachteiligt. In der Türkei oder in den arabischen Staaten werden sie als »Almanci«, die Deutschländer, die nicht dazu gehören, beschimpft. Sie haben meist keinen Schulabschluss, eine abgebrochene Ausbildung oder familiäre Probleme. Das einzige, was sie haben, ist der Islam als »Rest-Identität«,28 den sie im Laufe ihres Lebens von ihren Eltern gesehen und tradiert bekommen haben, welcher aber unerklärt geblieben ist. Im Salafismus hingegen finden die Jugendlichen genau das Gegenteil: eine Community, die denselben biografischen Hintergrund aufweist und nun gemeinsam reaktionär entgegenwirkt und Aufmerksamkeit erregen will. In den salafistischen Predigten werden die negativen Alltagserfahrungen der Jugendlichen angesprochen, stark zugespitzt und mit Verschwörungstheorien ausgeschmückt, gegen die nur gemeinsam und zusammenhaltend mit den »wahren« Muslimen agiert werden kann. Die gesuchte Identität wird in dieser Gemeinde gefunden, in der sie allem voran wertgeschätzt und zur Selbstwirksamkeit motiviert werden, ihnen Respekt erwiesen wird und sie große Aufgaben erhalten. Mit der Bezeichnung »Achi« (Mein Bruder) oder »Uchti« (Meine Schwester) untereinander gehören sie somit auch noch zur großen Familie. Die Identität bietet damit Zuflucht für viele muslimische Jugendliche vor Diskriminierungen und Ausgrenzungen, die sie tagtäglich in den Medien, auf der Arbeit und in der Schule erleben. Je öfter die Diskriminierung und Ausgrenzung vorkommt,

27 Verfassungsschutz: http://t1p.de/z8cs (Zugriff am 08.11.2016). 28 Violence Prevention Network: http://t1p.de/b9w6 (Zugriff am 08.11.2016).

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desto stärker die Sakralisierung der eigenen Ideologie.29 Dieses Schema kann man schlicht auf einen Links- oder Rechtsradikalen übertragen; es wird keine Unterschiede geben.30 Die meisten Anhänger gewinnen die Salafisten über Freunde und vor allem über die sozialen Netzwerke. Die Arbeit, die darin geleistet wird, ist professionell und attraktiv. Dazu kommt noch die Rhetorik und Eloquenz der Redner und die emotionale Hintergrundmusik in den Videos. Der Islam wird nicht in komplexen Analysen, Theorien, Systemen und in langen Ausführungen erklärt, sondern in einfachen, kurzen und prägnanten Thesen: Es gibt nur Gut und Böse, islamisch und unislamisch oder halal und haram. In nur 30 Sekunden ist die Konversion zum Islam erledigt.31 Passend zur Erwartung: Als Jugendlicher möchte man leicht und schnell an Informationen gelangen. Dies ermöglichen die Salafisten bestens. Die Antworten, die die Eltern, Freunde, Nachbarn, der Imam oder Lehrer den Schülern nicht geben können, werden im Internet über »Imam Google« gesucht.32 Jugendliche schließen sich diesen salafistischen Szenen nicht an, weil sie religiös-attraktiv sind, sondern weil sie eine bessere alternative Lebensform anbieten und hierbei gute soziale Arbeit leisten, indem sie sie bspw. wertschätzen.33 Salafisten nutzen Schwächen der Jugendlichen und Lücken der Gesellschaft aus und geben den Jugendlichen das, was sie in ihrem üblichen Alltag bisher nicht erlebt haben – von einer einfachen Umarmung bis hin zu einem »bei uns bist du willkommen«. Aus meiner eigenen Erfahrung kann ich berichten, dass einem Aussteiger aus der salafistischen Szene eine einzige Umarmung ausgereicht hat, um in die Szene einzutreten. Der Aussteiger meinte, dass er in diesen Tagen, sowohl beruflich als auch familiär, am Tiefpunkt gewesen sei und gerade im richtigen Moment diese Umarmung bekommen habe. Das soll nicht heißen, dass ein Lehrer seinen Schüler umarmen soll. Das Entscheidende ist hier die Wertschätzung. Es ist also nicht nur ein religiöses oder theologisches Phänomen, um das es hierbei geht, sondern ein soziopsychologisches, das die Gesamtgesellschaft, in unserem Falle die Lehrerschaft, betrifft. Daher ist es wichtig, die Antwort nicht nur bei Imamen, muslimischen Verbänden und bei Theologen zu suchen, sondern auch und vor allem bei den ständigen Kontaktpersonen der Schüler: den Lehrern.

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Vgl. Müller 2010. Violence Prevention Network: http://t1p.de/b9w6 (Zugriff am 08.11.2016). Vogel, Pierre: Islam in 30 Sekunden, http://t1p.de/j0zj (Zugriff am 08.11.2016). Müller 2012. Violence Prevention Network: http://t1p.de/b9w6 (Zugriff am 08.11.2016).

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Auf diskrete Radikalisierung der Schülerinnen und Schüler kann eine einzige Kontaktperson aufmerksam werden. Zumindest den Vorwurf der Extremisten, die Mehrheitsgesellschaft stünde den Muslimen feindlich gegenüber, kann sie entkräften. Wichtig hierbei ist, die Person mit ihrem Kopftuch und Gebet zu respektieren und nicht gleich als radikal einzustufen.34 Hierzu sei verwiesen auf diverse bundesweit organisierte Islam-Seminare und Workshops an Schulen, in denen über den muslimischen Alltag, die islamische Praxis und einige andere wichtige Aspekte des Islam gesprochen wird. Diese Islam-Seminare und Workshops richten sich nicht nur an Lehrer, sie immunisieren die Schüler auch gegen Rekrutierung der Salafisten und klären über den »Anderen«, der ebenso Teil dieser Gesellschaft ist, auf.

Samet Er ist Student der Islamischen Theologie an der Universität Osnabrück. Er ist beruflich tätig als Deradikalisierungsberater in den niedersächsischen Justizvollzugsanstalten und als Koordinator des Imamweiterbildungsprojekts am Institut für islamische Theologie an der Universität Osnabrück. Zudem ist er Blogger und Botschafter des House of One für das Bundesland Niedersachsen, [email protected].

Literatur Bauer, Thomas: Die Kultur der Ambiguität – Eine andere Geschichte des Islams, 4. Aufl., Berlin: Verlag der Weltreligionen 2015. El-Menouar, Yasemin: Religionsmonitor – Muslime in Deutschland mit Staat und Gesellschaft eng verbunden, Januar 2015. Hamidullah, Muhammed: Islam Peygamberi,Istanbul: Irfan Yayincilik 1992. Hunt, Robert und Aslandogan, Yüksel: Unsere Mitbürger – Muslime in der Postmoderne, Frankfurt: Main-Donau Verlag 2002. Kara, İsmail: Türkiye’de İslamcılık Düşüncesi, Istanbul: Dergah Verlag 2014. Kardas, Arhan: Nachwort zum Buch »Muhammed – Der Herr der Herzen: Das Leben des Propheten«, Frankfurt: Define 2015. Khorchide, Mouhanad: Islam ist Barmherzigkeit: Grundzüge einer modernen Religion, Freiburg: Herder Verlag 2012. Mommsen, Katharina: Goethe und der Islam, Frankfurt: Insel Verlag 2001. Mücke, Thomas: Zum Hass verführt – Wie der Salafismus unsere Kinder bedroht und was wir dagegen tun können, Köln: Bastei Lübbe AG 2016. Nursi, Bediüzzaman: Eski Said Dönemi Eserleri (Werke aus der Zeit des ehemaligen Saids), Istanbul: Yeni Asya 2011. Nagel, Tilman: Islam oder Islamismus? Probleme einer Grenzziehung, in: Zehetmair, Hans (Hg.): Der Islam. Im Spannungsfeld von Konflikt und Dialog,Wiesbaden: VS Verlag 2005. Nursi, Said: The Damascus Sermon, Istanbul: Sözler Publications 1996. 34 Vgl. Schulz 2014, S. 45 ff.

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Ramadan, Tariq: Muslim sein in Europa – Untersuchung der Islamischen Quellen im Europäischen Kontext, Köln: MSV Verlag 2011. Schulz, Andy Abbas: Islam und Extremismus, Berlin: 2014. Seidensticker, Tilman: Islamismus – Geschichte, Vordenker, Organisationen, München: Beck 2014. Ünal, Ali: Der Koran und seine Übersetzung mit Kommentaren und Anmerkungen, Frankfurt: Main-Donau Verlag 2015. Wellhausen, Julius: Mohammeds Gemeindeordnung von Medina, Berlin: Reimer 1889.

Links al-Munadschid, Salih: Was ist Aqida?, 2006: http://t1p.de/rj1h (Zugriff am 08.11.2016). Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2014, Berlin 2015: http://t1p.de/yqkf (Zugriff am 08.11.2016). Bundeszentrale für politische Bildung: Politischer Islam im 20. Jahrhundert, 2003: http://t1p. de/9of2 (Zugriff am 08.11.2016). Müller, Jochen: Signale gegen Frust und Unverständnis, 2010: http://t1p.de/j9dy (Zugriff am 08.11.2016). Müller, Jochen: Was macht den Salafismus so attraktiv für Jugendliche?, 2012: http://t1p.de/dug9 (Zugriff am 08.11.2016). Ministerium für Inneres und Kommunales des Landes Nordrhein-Westfalen: Extremistischer Salafismus als Jugendkultur, 1. Aufl., August 2015: http://t1p.de/cdx8 (Zugriff am 08.11.2016). Offener Brief an »Abū Bakr al-Baġdādī« und an die Kämpfer und Anhänger des selbsternannten »Islamischen Staates«, unterzeichnet von über 120 international anerkannten muslimischen Gelehrten, 7. September 2014: http://t1p.de/c6rx (Zugriff am 08.11.2016). Violence Prevention Network: http://t1p.de/b9w6 (Zugriff am 08.11.2016). Vogel, Pierre: Islam erklärt in 30 Sekunden: http://t1p.de/secz (Zugriff am 08.11.2016). Peygamber Yolu Dernegi: Medine anlasmasi: http://t1p.de/zfv4 (Zugriff am 08.11.2016).

Islamistischer Antisemitismus von Schülern Sabrina Worch

Der Charakter des islamistischen Antisemitismus Islamistischer Antisemitismus, der sich in den letzten Jahren auch in Europa Bahn bricht, löst in den jüdischen Gemeinschaften auf der ganzen Welt Angst aus. Gerade besonders tragische Ereignisse wie der Anschlag eines islamistischen Attentäters auf eine jüdische Schule in Toulouse 2012 oder der Amoklauf in einem jüdischen Supermarkt in Paris 2015 brennen sich in das kollektive Gedächtnis ein. Doch auf alltäglicher Ebene ist islamistischer Antisemitismus ebenso ein Problem – auch in der Schule. Wenn jüdische Mitschüler aufgrund ihrer ethnisch-religiösen Zugehörigkeit diskriminiert werden, wenn »Jude« als Schimpfwort auf dem Schulhof verwendet wird, wenn Antisemitismus im Unterricht bei Themen wie Judentum, jüdischer Geschichte oder dem Staat Israel zutage tritt, ist pädagogische Intervention gefragt. Religiös begründete Judenfeindschaft im Islam Islamistische Judenfeindschaft erscheint oberflächlich häufig als religiöses Phänomen und wird von Islamisten auch so begründet. So stellte der »Islamische Staat« (IS) seinem über das Internet verbreiteten Bekennerschreiben zu den Anschlägen in Paris vom 13. November 2015 ein Koranzitat voran, in dem es um die Vertreibung eines jüdischen Stammes aus Medina im Jahr 627 geht (Sure 59,2). Zudem finden sich im Koran weitere Textpassagen, die sich gegen Juden richten. Daraus aber eine grundsätzliche islamische Judenfeindschaft herzuleiten, wäre übereilt. Die besagten Koranverse sind vielmehr in ihrem historischen Entstehungskontext zu betrachten. Als Muhammad 622 vor den Mekkanern nach Medina floh, traf er dort auf eine große jüdische Gemeinde mit immensem Einfluss. Nachdem Muhammad und seine Anhän-

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ger die ­Mekkaner aber besiegt hatten, kehrten sich auch in Medina die Machtverhältnisse um. Muhammad vertrieb die Juden aus Medina. Dahinter steckte aber nicht unbedingt Judenfeindschaft, sondern Furcht vor der Illoyalität der Nichtmuslime sowie politisches und wirtschaftliches Interesse. Rudi Paret betont, dass Muhammad die Juden nie wegen ihrer Religion verfolgte und er sich nie gegen Juden im Allgemeinen, sondern immer gegen konkrete jüdische Stämme wandte.1 Daher müssen judenfeindliche Koranpassagen immer kritisch hinterfragt und in ihrem Entstehungskontext betrachtet werden. Im Islam gelten Juden ebenso wie Christen traditionell als Ahl al-Kitab (»Schriftbesitzer«) und genießen einen Schutzstatus als Dhimmis. Dhimmis sind Muslimen zwar nicht gleichgestellt, genießen aber grundlegende Rechte und Freiheiten. Beispiele für ein friedliches Zusammenleben von Juden und Muslimen unter islamischer Herrschaft finden sich in der Geschichte immer wieder – bis ins 20. Jahrhundert hinein. Von Islamisten heute häufig verwendete antisemitische Argumentationsmuster waren im arabischen bzw. muslimischen Raum bis in die Frühe Neuzeit unbekannt. Islamistischer Antisemitismus als antimodernistisches Phänomen2 Der heutige Antisemitismus im arabischen bzw. muslimischen Umfeld beruht nicht auf religiösen Texten und Traditionen. Er ist als fertige Ideologie aus Europa importiert, für die jeweiligen örtlichen Verhältnisse adaptiert und antimodernistisch orientiert. Er beruht auf der idealisierten Vorstellung einer vormodernen heilen Welt. Die Moderne und ihre Entwicklungen erscheinen als Zerstörer dieses idealen vormodernen Lebens. Dabei werden viele moderne Entwicklungen als Folge eines jüdischen Einflusses auf die Welt betrachtet. Eine zentrale Rolle dabei spielen Nationalismus, Kolonisierung, Entkolonisierung, die Modernisierung der arabischen bzw. islamischen Welt und der Nahostkonflikt. Nationalismus bringt die Tendenz mit sich, sich von anderen abzugrenzen und kann so leicht ein Feindbild schaffen. Die Veränderungen, die sich durch die Kolonisierung, Entkolonisierung und Modernisierung ergaben, schufen 1 Paret, Rudi: Mohammed und der Koran. Geschichte und Verkündung des arabischen Propheten, 9. Aufl., Stuttgart 2001, S. 123. 2 Zu diesem Abschnitt s. Holz, Klaus und Kiefer, Michael: Islamistischer Antisemitismus. Phänomen und Forschungstand, in: Stender, Wolfram, Follert, Guido und Özdogan, Mihri (Hg.): Konstellationen des Antisemitismus. Antisemitismusforschung und sozialpädagogische Praxis, Wiesbaden 2010, S. 109–137.

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einen Bedarf an einer welterklärenden Ideologie, die sich den jeweiligen Gegebenheiten anpassen lässt. Zwischen den verschiedenen Ursachen lassen sich leicht Bezüge herstellen. Die Kolonialmacht England erlaubte Juden die verstärkte Ansiedlung auf ihrem damaligen Mandatsgebiet Palästina. Somit kann man einen Bezug zwischen Kolonialismus und verstärkter jüdischer Ansiedlung herstellen. Durch Sympathisantentum und Kooperation mit den Nationalsozialisten sickerte auch nationalsozialistisches antisemitisches Gedankengut in die arabische bzw. muslimische Welt ein. Amin al-Husaini, der Mufti von Jerusalem, der seinerzeit eine zentrale Stellung in der palästinensischen Nationalbewegung einnahm, strebte bspw. eine Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten an. Selbst die Quellen, die er zur Begründung seines Antisemitismus benutzte, waren europäischen Ursprungs und dieselben, die auch von den Nationalsozialisten verwendet wurden (z. B. »Die Protokolle der Weisen von Zion«). Der Mufti ging 1941 ins deutsche Exil und war Teil der muslimischen 13. SS-Gebirgsdivision, die sich an der Ermordung der jugoslawischen Juden beteiligte. Unter dem Eindruck der 1930er und 1940er Jahre wurde die Deutung des jüdisch-arabischen Konflikts nach der Gründung des Staates Israel 1948 in bestimmte Bahnen gelenkt. Mit der aus Europa übernommenen antisemitischen Ideologie ließen sich die Auseinandersetzungen als übergeordnete und existenzielle Konfrontation mit den Juden deuten. Die aus Europa übernommenen Vorurteile und Ressentiments lassen sich in verschiedene Ideologien integrieren. Daher konnte nach dem Ende des Nationalsozialismus der Antisemitismus von seiner sozialistisch-stalinistischen Spielart abgelöst werden, die sich jedoch nicht wesentlich unterschied. Der heutige Antisemitismus ist antizionistisch und vermutet sogar eine jüdische Weltverschwörung hinter dem Zweiten Weltkrieg, in dem Juden angeblich von Handel und Kriegsgütern profitierten und danach die Gründung ihres Staates durchsetzen konnten. Mit dieser Deutung geht eine Relativierung der Schoah einher und der Staat Israel wird nicht als Staat der Überlebenden, sondern als Resultat einer zionistischen Weltverschwörung gesehen. Bis in die späten 1970er/frühen 1980er Jahre betrachteten sich Islamisten häufig als Befreiungskämpfer, die sich nach innen richteten und versuchten, ihre vermeintlich durch den Westen korrumpierten Regierungen (z. B. das Schah-Regime im Iran) zu stürzen. Dies sollte durch eine Rückbesinnung auf ihre islamischen Wurzeln erreicht werden. Mit dem Friedensabkommen von Camp David 1976, der Islamischen Revolution 1979 und dem Libanonkrieg

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1982 rückten dann Israel und die angeblich von Zionisten beherrschten USA als Hauptfeinde in den Fokus. Diese Entwicklung schlägt sich auch in den Medien nieder. In islamistisch geprägten Fernsehsendern (z. B. Al-Manar) gehört Antisemitismus zum Standardrepertoire. Al-Manar strahlte bspw. die Fernsehserie Asch-Schatat (»Die Diaspora«) aus, die auf den »Protokollen der Weisen von Zion« basiert und in drastischen Bildern Juden als brutale Bestien darstellt. Dabei bedient sich die Serie klassischer europäischer Vorurteile wie der Ritualmordlegende. Der iranische Sender Sahar TV 1 produzierte 2004 in Reaktion auf die Intifada die Serie »Zahras blaue Augen«, die auch in diversen arabischen bzw. muslimischen Staaten ausgestrahlt wurde. In der Serie geht es um das palästinensische Mädchen Zahra, das von Israelis entführt wird, um ihm seine Augen zu entnehmen und dem blinden Sohn eines israelischen Generals einzupflanzen. Die Israelis werden dabei nicht nur als unendlich grausam dargestellt, sondern auch als hab- und machtgierig sowie als Parasiten, die auf Kosten rechtschaffener Menschen leben – europäische antisemitische Vorurteile.

Islamistischer Antisemitismus unter Schülern Islamistischer Antisemitismus von Jugendlichen in Deutschland entfacht vor allem dann Diskussionen in der Öffentlichkeit, wenn er in die Schlagzeilen gerät, wie bspw. durch den Angriff einiger vermutlich arabischstämmiger Jugendlicher auf einen Rabbiner in Berlin 2012. Aus den Schulklassen und von den Schulhöfen der Republik dringt hingegen selten etwas nach außen. Das, was man durch Äußerungen von betroffenen Schülern, von Lehrern, Schulsozialarbeitern usw. erfährt, bleibt meist anekdotenhaft und von der Deutung der jeweiligen Person abhängig. Guido Follert und Wolfram Stender interviewten 2008 kleine Gruppen von jüdischen, russischstämmigen und muslimischen Schülern sowie Lehrkräfte und Schulsozialarbeiter. Wegen der geringen Anzahl der Befragten kann dieser Teil der Studie allein zwar nicht als repräsentativ gelten, aber er macht doch auf einige wichtige Aspekte aufmerksam. Die Gruppe von Schülern, deren Familien aus verschiedenen Teilen der ehemaligen Sowjetunion stammen, äußerte sich sehr viel stärker offen antisemitisch als ihre muslimischen Mitschüler. Die Gruppe von jüdischen Jugendlichen berichtete zwar von antisemitischer Diskriminierung, diese gehe jedoch selten von ihren muslimischen Mitschülern aus. Sie nahmen die Muslime aufgrund gemeinsamer Ausgrenzungserfahrungen eher als »Verbündete« wahr. Befragte Lehrkräfte und Schulsozialarbeiter hingegen

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sahen meist muslimische Schüler als besonders antisemitisch an – und offenbarten in den Interviews mitunter eigene Ressentiments gegenüber Muslimen.3 Bei aller Thematisierung von islamistischem Antisemitismus in sozialen Medien, im Klassenzimmer und anderswo, ist die empirische Beweislage bis jetzt dünn. Eine Umfrage zu »negativen Ansichten zu Juden«, die 2006 vom Washingtoner Pew Research Center durchgeführt wurde, kam zu dem Ergebnis, dass Muslime in Deutschland mit 44 % doppelt so antisemitisch seien wie Nicht-Muslime. Sina Arnold interviewte für ihre Studie zur »Wahrnehmung des Nahostkonflikts bei Jugendlichen mit palästinensischem bzw. libanesischem Hintergrund und ihr[em] Zusammenhang mit Identitätskonstruktionen« zwischen 2004 und 2007 muslimische Jugendliche palästinensischer und libanesischer Herkunft. Die befragten Jugendlichen gaben als Informationsquellen über den Nahostkonflikt besonders ihre Familien, ihren Freundeskreis, die Schule, ihre Religion und das Fernsehen (besonders Sender aus arabischen Ländern) an. Sie zeigten verschiedene antisemitische Vorurteile und Ressentiments. »Juden« waren bei ihnen stark negativ konnotiert, sie benutzten »Jude« als Schimpfwort und drückten Sympathie für die Nationalsozialisten aus. Nach ihrer Identität befragt, gaben die Jugendlichen überwiegend ein Selbstverständnis als »Araber« an. Sie sahen sich selbst nicht als durch Juden »bedroht« an, wohl aber ein Kollektiv »der Araber« oder »der Muslime«.4 Günther Jikeli, der türkischstämmige muslimische Jugendliche befragte, fand auch bei diesen antisemitische Ressentiments. Der Nahostkonflikt wurde von diesen jedoch als weniger emotional aufgeladen betrachtet. Die meisten der befragten Jugendlichen empfanden eine diffuse Ablehnung gegenüber Juden, manche assoziierten Juden mit Geld, Macht und einer Weltverschwörung.5 Antisemitismus tritt bei muslimischen Jugendlichen häufig dann zutage, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlen. In der Regel liegt den antisemitischen Äußerungen kein umfassendes antisemitisches Weltbild zugrunde, in bestimmten Situationen wird auf bestimmtes antisemitisches Gedankengut zurückgegriffen. »Die Juden« erscheinen dabei als Sündenböcke für vielerlei Probleme, auf persönlicher wie auf gesellschaftlicher Ebene. »Juden« sind dabei immer »die 3 Follert, Guido und Stender, Wolfram: »das kommt jetzt wirklich nur aus der muslimischen Welt«. Antisemitismus bei Schülern in der Wahrnehmung von Lehrern und Sozialarbeitern – Zwischenergebnisse aus einem Forschungsprojekt, in: Stender, Wolfram, Follert, Guido und Özdogan, Mihri (Hg.): Konstellationen des Antisemitismus. Antisemitismusforschung und sozialpädagogische Praxis, Wiesbaden 2010, S. 199–223. 4 Arnold, Sina: Die Wahrnehmung des Nahostkonflikts bei Jugendlichen mit palästinensischem bzw. libanesischem Hintergrund und ihr Zusammenhang mit Identitätskonstruktionen, http://t1p.de/wyki (Zugriff am 08.11.2016). 5 Vgl. die Darstellung bei Arnold, S. 18.

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anderen«. Gerade in Deutschland kann nach außen gezeigter Antisemitismus auch als Provokation von Lehrern und Betreuern durch die Jugendlichen dienen. Antisemitische Vorurteile und Ressentiments stehen häufig im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt. Jugendliche arabischer und/oder muslimischer Herkunft können sich besonders mit den Palästinensern identifizieren, die ihnen im Nahostkonflikt als Opfer erscheinen.6 Umfassende Studien zu Antisemitismus bei Muslimen in Deutschland stehen noch aus. Bei allen Parallelen, die die bisher in Studien befragten Muslime unterschiedlicher Herkunftsmilieus aufwiesen, wäre eine stärkere Differenzierung nach den Herkunftsmilieus, aber auch nach soziokulturellen Kriterien wünschenswert, um die Vorstellung von einem monolithischen »muslimischen« Block zu hinterfragen.

Ansätze zur pädagogischen Bekämpfung von islamistischem Antisemitismus unter Schülern Die Frage nach der Bekämpfung von Antisemitismus ist häufig mit der Diskussion verbunden, ob Antisemitismus nur eine Spielart von Rassismus sei und somit mit den Mitteln der pädagogischen Rassismusbekämpfung angegangen werden könne oder ob Antisemitismus so spezifisch sei, dass eine eigene AntiAntisemitismuspädagogik notwendig sei. Mirko Niehoff erkennt in der Unterscheidung zwischen einem »Wir« und den »Anderen« zwar eine Gemeinsamkeit zwischen Antisemitismus und Rassismus, sieht den Antisemitismus in seiner Form als ideologisches Welterklärungsmodell aber als besonders an, weswegen Antisemitismus nicht allein mithilfe der gängigen Anti-Rassismus-Pädagogik bekämpft werden könne. Vielmehr sei eine speziell auf Antisemitismus zugeschnittene pädagogische Erweiterung notwendig.7 Jochen Müller misst der Thematisierung des Nahostkonflikts bei der Bekämpfung von islamistischem Antisemitismus eine besondere Bedeutung bei.8 Für ihn beruht pädagogische Intervention gegen islamistischen Antisemitismus auf 6 Müller, Jochen: »Warum ist alles so ungerecht?« Antisemitismus und Israelhass bei Jugendlichen. Die Rolle des Nahostkonflikts und Optionen der pädagogischen Intervention, in: Holz, Klaus, Kauffmann, Heiko und Paul, Jobst (Hg.): Die Verneinung des Judentums. Antisemitismus als religiöse und säkulare Waffe, Münster 2009, S. 155–165. 7 Niehoff, Mirko: Handlungsbedingungen einer Pädagogik gegen Antisemitismus im globalisierten Klassenzimmer, in: Stender, Wolfram, Follert, Guido und Özdogan, Mihri (Hg.): Konstellationen des Antisemitismus. Antisemitismusforschung und sozialpädagogische Praxis, Wiesbaden 2010, S. 243–264. 8 Müller, S. 155–165.

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dem Dialog mit den Jugendlichen. Dabei kommt schon der Art der Kommunikation eine besondere Rolle zu. Jochen Müller betont in seinem »10 × Päda­ gogik gegen Israelhass und Antisemitismus«, dass dieser Dialog initiiert und aufrechterhalten werden müsse. Daher sind Moralisierung und emotionale Aufladung zu vermeiden. Damit befindet er sich im Einklang mit dem Beutelsbacher Konsens9, der ein Überwältigungsverbot verhängt. Im Dialog mit den Schülern lässt sich Marshall B. Rosenbergs Konzept der »Gewaltfreien Kommunikation« anwenden. Es beruht auf vier Schritten: 1. die Pädagogen beobachten die Situation zunächst nur statt sie gleich zu bewerten und zu interpretieren, 2. die Pädagogen nehmen ihre Gefühle wahr und benennen sie (in Ich-Botschaften), 3. die Pädagogen nehmen ihre eigenen Bedürfnisse wahr und ernst, 4. auf Grundlage der Bedürfnisse äußern sie klare und erfüllbare Bitten.10 Hilfreich ist auch der ursprünglich aus der Beratung und Psychotherapie stammende »Klientenzentrierte Ansatz« von Carl Rogers. Laut Rogers sollte man seinem Gegenüber mit Wertschätzung begegnen – egal wie problematisch man die Einstellungen und Verhaltensweisen des anderen findet. Ferner sollte man Empathie für den anderen aufbringen, ohne allerdings alles, was das Gegenüber mitteilt, gutzuheißen.11 Müller rät dazu, die Erzählungen von Jugendlichen aufzugreifen und anzuerkennen. Ferner sollen die Jugendlichen dazu angeregt werden, die Geschichte ihrer eigenen Familie und deren Erfahrungen zu erforschen, um mit diesem Wissen einer Mythen- und Ideologiebildung vorzubeugen. Dieses Vorgehen bietet auch die Chance, sich aus der Opferrolle zu lösen und die Geschichte neu zu erzählen. Pädagogen müssen versuchen, die »authentischen« Erfahrungen der Jugendlichen anzuerkennen, dürfen verzerrende Darstellungen aber nicht unkommentiert stehen lassen. Das Geschehen in Nahost muss aus vielen verschiedenen Perspektiven beleuchtet werden – sowohl arabischen als auch israelischen. Auf diese Weise wird deutlich, dass sich »die Araber« und »die Israelis« oder »die Juden« nicht als monolithische Blöcke gegenüberstehen. Sinnvoll ist es laut Müller auch, Antisemitismus nicht einzeln als Diskriminierungsform zu thematisieren, sondern als eine von verschiedenen Formen, zu denen auch Islamophobie und antimuslimischer Rassismus gehören, von dem die muslimischen Jugendlichen möglicherweise selbst betroffen sind. ­  9 Bundeszentrale für politische Bildung: »Beutelsbacher Konsens«: http://t1p.de/f1wd (Zugriff am 08.11.2016). 10 Zu Rosenbergs Konzept der Gewaltfreien Kommunikation: s. Rosenberg, Marshall B.: Gewaltfreie Kommunikation. Eine Sprache des Lebens, 11. Aufl., Paderborn 2013. 11 Zu Carl Rogers »Klientenzentriertem Ansatz«: s. Rogers, Carl R.: Die klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie, 19. Aufl., Frankfurt am Main 2012.

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Die Schüler müssen darüber hinaus lernen, sich mit dem Nahostkonflikt rational auseinanderzusetzen, sowie Medien und tradierte Narrative kritisch zu hinterfragen. Müller schlägt vor, sich auch mit muslimischen religiösen Schriften zu beschäftigen und dadurch die Vorstellung der Schüler von einer natürlichen religiösen Feindschaft zwischen Juden und Muslimen zu widerlegen. Schließlich fordert Müller auch von Pädagogen eine kritische Reflexion ihres Standpunkts. Die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA) bietet Unterrichtsmaterialien, Fortbildungen, Workshops, Methodentrainings u. a. für Jugendliche und Erwachsene an.12 Die KIgA setzt dabei auf Prävention und stellt ebenfalls den Nahostkonflikt in den Mittelpunkt ihrer Arbeit. Ziele sind u. a. ein rationaler Blick auf den Nahostkonflikt, die Befreiung aus Täter-Opfer-Schemata und die Problematisierung von Kollektivierungen und Identitätskonstruktionen, was zu einem reflektierten Umgang mit dem Thema führen soll. Großer Beliebtheit erfreuen sich auch Begegnungen zwischen Juden und Nichtjuden. Weil Juden in Deutschland eine verschwindend kleine Minderheit sind, haben viele Nichtjuden noch nie bewusst einen Juden getroffen. Hier sollen Konzepte der Begegnung Juden von etwas Abstraktem zu etwas Konkretem werden lassen und auf diese Weise Vorurteile abbauen. Man muss sich jedoch darüber im Klaren sein, dass Begegnungen Vorurteile und Ressentiments verstärken können – für den Fall, dass das Gegenüber einem Klischee entspricht oder unsympathisch wirkt. Evaluationen von Begegnungen zwischen Juden und Nichtjuden im Hinblick auf den Abbau von Antisemitismus liegen noch nicht vor. In jedem Fall gilt es, eine solche Begegnung gut vorzubereiten.13 Neben selbständig organisierten Begegnungen ist in den letzten Jahren eine Reihe von Konzepten entstanden. Dazu gehört das maßgeblich von der Pädagogischen Hochschule Heidelberg entwickelte Konzept des »Interreligiösen Begegnungslernens« für Schüler des jüdischen, katholischen, evangelischen und islamischen Religionsunterrichts sowie des Ethikunterrichts. Das »Interreligiöse Begegnungslernen« möchte die eigene (religiöse) Identität der Kinder und Jugendlichen stärken und gleichzeitig einen Austausch auf Augenhöhe anstoßen. Dazu einigen sich die Lehrkräfte der beteiligten Fächer auf ein Thema, das für alle gleichermaßen relevant ist, und bereiten es mit ihren Schülern aus Perspektive ihres Faches vor. In einer anschließenden Forumsphase treffen sich alle Fachgruppen und präsentieren 12 http://www.kiga-berlin.org (Zugriff am 08.11.2016), vgl. auch: Niehoff. 13 Kümper, Michal und Harms, Susanna: Chancen und Grenzen von jüdisch-nichtjüdischen Begegnungen als pädagogischer Ansatz gegen Antisemitismus, in: Stender, Wolfram, Follert, Guido und Özdogan, Mihri (Hg.): Konstellationen des Antisemitismus. Antisemitismusforschung und sozialpädagogische Praxis, Wiesbaden 2010, S. 265–286.

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sich gegenseitig ihre Ergebnisse. Über die Ergebnispräsentation hinaus bekommen die Kinder und Jugendlichen die Möglichkeit, die jeweils anderen kennenzulernen. Bei diesem Ansatz werden besonders Gemeinsamkeiten der Religionen und der Philosophie/Ethik hervorgehoben. Auf diese Weise können auch muslimische und jüdische Schüler die Gemeinsamkeiten ihrer Religionen entdecken.14 Ein von jüdischer Seite initiiertes – derzeit aber nicht aktives – Projekt zur Begegnung von Juden und Nichtjuden ist »Likrat« (hebr. »aufeinander zu«). »Likrat« vermittelt(e) jüdische Jugendliche, die vorher speziell für die Begegnung mit Nichtjuden und das Auftreten vor Gruppen geschult wurden, in Zweiergruppen an Schulen oder andere Einrichtungen.15 In Mannheim und Ludwigshafen findet das Konzept des »Abraham-Pokals« Anwendung. Der »Abraham-Pokal« ist ein von der Künstlerin Waltraud Suckow angefertigter Pokal, der jährlich an eine andere Schule weitergegeben wird. Aufgabe der jeweiligen Schule ist es dann, ein eigenes Konzept für interreligiöse Zusammenarbeit (zwischen Juden, Christen und Muslimen) zu entwickeln und in diesem Jahr umzusetzen.16 Ahmad Mansour fordert eine stärkere innerislamische Auseinandersetzung mit Antisemitismus sowie neue pädagogische Konzepte, die Lehrern die Angst vor der Diskussion mit ihren Schülern nehmen, den Jugendlichen auf Augenhöhe begegnen und ihnen Fakten zur Geschichte des Nahostkonflikts anstatt tradierte Narrative vermitteln, aber auch die Eltern in die Verantwortung nehmen.17 Ob pädagogische Konzepte bei der Bekämpfung von islamistischem Antisemitismus erfolgreich sein werden, wird sich in der Zukunft erweisen müssen.

Sabrina Worch hat Latein, Geschichte und Hebräisch für das Lehramt an G ­ ym­nasien studiert. Derzeit bereitet sie sich auf die Erweiterungsprüfung in Jüdischer Religionslehre vor und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Jüdische Religionslehre, -pädagogik und -didaktik an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg, [email protected]. 14 Vgl. Begegnen – lernen – interreligiös. Theologische, didaktische und spirituelle Impulse. Informationen und Material für den katholischen Religionsunterricht an Grund-, Sonder-, Haupt-/Werkreal-, Real- und Gemeinschaftsschulen Sek. I, Institut für Religionspädagogik der Erzdiözese Freiburg, Heft 1/2015, darin besonders S. 6–11; 36–51. http://t1p.de/86mo (Informationsseite der PH Heidelberg) (Zugriff am 08.11.2016). http://t1p.de/9upv (Film über ein interreligiöses Begegnungslernen in Mannheim) (Zugriff am 08.11.2016). 15 http://www.likrat.de/ (Zugriff am 08.11.2016). 16 Deutscher Koordinierungsrat: http://t1p.de/qdnm (Zugriff am 08.11.2016). 17 Bundesministerium für politische Bildung: Antisemitismus unter muslimischen Jugendlichen: http://t1p.de/am3f (Zugriff am 08.11.2016).

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Literatur Abraham Pokal: http://rhein-neckar.deutscher-koordinierungsrat.de (Zugriff am 08.11.2016). Arnold, Sina. Die Wahrnehmung des Nahostkonflikts bei Jugendlichen mit palästinensischem bzw. libanesischem Hintergrund und ihr Zusammenhang mit Identitätskonstruktionen. http://t1p.de/wyki (Zugriff am 08.11.2016). Begegnen – lernen – interreligiös. Theologische, didaktische und spirituelle Impulse. Informationen und Material für den katholischen Religionsunterricht an Grund-, Sonder-, Haupt-/ Werkreal-, Real- und Gemeinschaftsschulen Sek. I, Institut für Religionspädagogik der Erzdiözese Freiburg, Heft 1/2015. Follert, Guido und Stender, Wolfram: »das kommt jetzt wirklich nur aus der muslimischen Welt«. Antisemitismus bei Schülern in der Wahrnehmung von Lehrern und Sozialarbeitern – Zwischenergebnisse aus einem Forschungsprojekt, in: Stender, Wolfram, Follert, Guido und Özdogan, Mihri (Hg.): Konstellationen des Antisemitismus. Antisemitismusforschung und sozialpädagogische Praxis, 1. Aufl., Wiesbaden: VS-Verlag 2010, S. 199–223. Holz, Klaus und Kiefer, Michael: Islamistischer Antisemitismus. Phänomen und Forschungstand, in: Stender, Wolfram, Follert, Guido und Özdogan, Mihri (Hg.): Konstellationen des Antisemitismus. Antisemitismusforschung und sozialpädagogische Praxis, 1. Aufl., Wiesbaden: VS-Verlag 2010, S. 109–137.

Interreligiöses Begegnungslernen Informationsseite der PH Heidelberg: http://t1p.de/86mo (Zugriff am 08.11.2016). Film zur interreligiösen Begegnung in Mannheim: http://t1p.de/9upv (Zugriff am 08.11.2016). Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA): http://www.kiga-berlin.org (Zugriff am 08.11.2016). Kümper, Michal und Harms, Susanna: Chancen und Grenzen von jüdisch-nichtjüdischen Begegnungen als pädagogischer Ansatz gegen Antisemitismus, in: Stender, Wolfram, Follert, Guido und Özdogan, Mihri (Hg.): Konstellationen des Antisemitismus. Antisemitismusforschung und sozialpädagogische Praxis, 1. Aufl., Wiesbaden: VS-Verlag 2010, S. 265–286. Likrat: http://www.likrat.de/ (Zugriff am 08.11.2016). Mansour, Ahmad: Antisemitismus unter muslimischen Jugendlichen: http://t1p.de/am3f (Zugriff am 08.11.2016). Müller, Jochen: »Warum ist alles so ungerecht?« Antisemitismus und Israelhass bei Jugendlichen. Die Rolle des Nahostkonflikts und Optionen der pädagogischen Intervention, in: Holz, Klaus, Kauffmann, Heiko und Paul, Jobst (Hg.): Die Verneinung des Judentums. Antisemitismus als religiöse und säkulare Waffe, 1. Aufl., Münster: Unrast-Verlag 2009, S. 155–165. Niehoff, Mirko: Handlungsbedingungen einer Pädagogik gegen Antisemitismus im globalisierten Klassenzimmer, in: Stender, Wolfram, Follert, Guido und Özdogan, Mihri (Hg.): Konstellationen des Antisemitismus. Antisemitismusforschung und sozialpädagogische Praxis, 1. Aufl., Wiesbaden: VS-Verlag 2010, S. 243–264. Paret, Rudi: Mohammed und der Koran. Geschichte und Verkündung des arabischen Propheten, 9. Aufl., Stuttgart: Kohlhammer 2001, S. 123. Rogers, Carl R.: Die klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie, 19. Aufl., Frankfurt am Main: Fischer 2012. Rosenberg, Marshall B.: Gewaltfreie Kommunikation. Eine Sprache des Lebens, 11. Aufl., Paderborn: Junfermann 2013.

Das Erkennen nationalistischer und panislamistischer Tendenzen bei türkischen und türkischstämmigen Schülern als Beitrag zur Wahrung des Schulfriedens Stefan Piasecki

Einleitung An deutschen Schulen lernen immer mehr Kinder mit ausländischen Wurzeln. Die zu betrachtenden Zahlen sind beeinflusst von doppelter Staatsbürgerschaft und Zählverfahren1, welche den Ausländeranteil zunächst optisch verringern, gleichwohl Schülerinnen und Schüler mit nichtdeutschen Eltern an vielen Schulen in Ballungsgebieten bereits die Mehrheit stellen. Um Integrationsphänomenen angemessen begegnen zu können, haben Bezirksregierungen ein großes Interesse daran, vermehrt Lehrkräfte mit ausländischen Wurzeln einzustellen und von ihrer interkulturellen Kompetenz zu profitieren. Ihre Aufgabe ist nicht alleine die reine Stoffvermittlung, sondern auch die soziale, kulturelle und auch ethnische Gewährleistung des Schulfriedens, denn nicht nur seit kurzem eingewanderte Schülerinnen und Schüler führen häufig gesellschaftliche, religiöse und ethnische Konflikte aus ihren Heimatkulturen in Deutschland fort, auch solche, die in Deutschland geboren und/ oder sozialisiert wurden, sind in dieser Hinsicht oft auffällig. Sie werden häufig beeinflusst von ausländischen Medien und Organisationen, denen weniger an einer Integration in die deutsche Aufnahmegesellschaft als vielmehr an der Instrumentalisierung für ihre eigenen Zwecke gelegen ist. Die von Arslan als »Transnationalität« umschriebene »Interaktion zwischen dem Ursprungsland und dem aktuellen Standort«2 wird so politisch konnotiert. Arslans Begriff dieses »transnationalen Raumes« wird hier im Übrigen gegenüber dem der »Dias­ pora« geteilt, der eher das »Fremdbleibende« eines anderen Raumes betont. 1 Statistisches Bundesamt: Schulen auf einen Blick. Ausgabe 2016, Wiesbaden 2016, S. 18. 2 Arslan, Emre: Der Mythos der Nation im transnationalen Raum. Türkische Graue Wölfe in Deutschland, Wiesbaden 2009, S. 43.

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Die ersten öffentlichen Wahlkampfauftritte des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan in Köln vor nahezu zehn Jahren, seine unverhohlene Einflussnahme auf die deutsche Innenpolitik und die unmissverständliche Instrumentalisierung von Türken in Deutschland damals3 und seitdem zeigen angesichts der jüngsten Massenaufmärsche türkischer Nationalisten in Deutschland Ende Juli 2016 die Verwundbarkeit der deutschen Innenpolitik. 30.000 Demonstranten allein in Köln regen die Frage an, wie viele Massenaufmärsche auf einen Impuls aus der Türkei hin gleichzeitig möglich wären? Wie würden deutsche Sicherheitskräfte reagieren, wenn das zwischenzeitlich erwogene Verbot der Demonstration seitens einer solchen Zahl von Demonstranten nicht beachtet worden wäre? Wäre man auf die absehbaren internationalen diplomatischen Spannungen vorbereitet gewesen? Welche Auswirkungen hätte ein Generalstreik unzufriedener türkischstämmiger Mitarbeiter in öffentlichen Verwaltungen und Nahverkehrsbetrieben, um nur einige Beispiele zu nennen? Was wäre die Position deutscher Gewerkschaften? Nationalismus ist ein Mittel der Politik – und ist es immer gewesen; dies aus mitteleuropäischer Sicht zu negieren ist bequem, löst Nationalismus jedoch nicht auf. Insbesondere Schulen und Lehrerkollegien sehen sich mit Ethnisierungsphänomenen und Diskriminierungsmustern konfrontiert, die schwer greifbar erscheinen. Im Folgenden soll es um türkischen Nationalismus gehen, wie er von nationalistischen oder rechtsextremen Organisationen (MHP/Graue Wölfe) vertreten wird.4 Deren Argumentation ist geeignet, auch nichtradikale türkischstämmige Schülerinnen und Schüler zu erreichen und so das Verhältnis zu anderen Mitschülern zu belasten. Die MHP ist eine türkische politische Partei, die »Grauen Wölfe« gelten als ihr paramilitärischer Arm.5 In Deutschland wird ihr Gedankengut von der »Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Deutschland e. V.«, ADÜTDF, vertreten, die personelle und inhaltliche Kontinuitäten zur MHP aufweist6 und Teil der 1978 gegründeten europäischen ADÜDTF ist, die wiederum als Dachverband der MHP in Europa bezeichnet wird.7 Die auch von türkischen innenpolitischen Kommentatoren 3 Luft, Stefan: »Einmal Türke, immer Türke? Anmerkungen aus Anlass der Kölner Rede Recep Tayyip Erdogans«, in: Politische Studien, München 2008, S. 69. 4 Im Überblick siehe: Thoma, Sebastian: Graue Wölfe, in: Benz, Wolfgang (Hg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Band 5: Organisationen, Institutionen, Bewegungen, Berlin/Boston 2012, S. 291 ff. 5 Bozay, Kemal, Rammerstorfer, Thomas, Schmidinger, Thomas und Schörkhuber, Christian: Grauer Wolf im Schafspelz. Rechtsextremismus in der Einwanderungsgesellschaft, Grünbach 2012, S. 11. 6 Bozay, Kemal: »… ich bin stolz, Türke zu sein!«, Schwalbach 2005, S. 182 ff. 7 Bozay, Rammerstorfer u. a. 2012, S. 59.

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als »faschistisch« oder »ultranationalistisch« bezeichnete Partei MHP8 verfügt neben Strukturen in Deutschland auch über eine große Zahl von Anhängern. Arslan unterstützte noch 2009 die von Heitmeyer et al. 1997 ermittelte Zahl von 20 % türkischer Jugendlicher, »die sich mit der Organisation und Partei der Grauen Wölfe identifizierten«9. Sie nennen sich selbst »Ülkücü«.10 Bozay sieht »ausreichende Indizien dafür, dass sie eng an die Politik und Ideologie der MHP gebunden ist bzw. auch von ihr gesteuert wird«.11 Der Verfassungsschutz spricht der von der ADÜTDF vertretenen »Ülkücü«-Bewegung ein mehrdimensionales Gefährdungspotenzial zu.12 Vieles des hier Aufgeführten träfe im Übrigen auch auf Jugendliche zu, die aus der ehemaligen Sowjetunion stammen; auch deren inhärente Nationali­ tätenkonflikte finden sich an deutschen Schulen. Nationalismus trägt zur Abgrenzung bei, zur Unterscheidung von »die« und »wir«. Dabei bedarf er nicht nur der aktiven Zustimmung oder Beteiligung, ebenso gefährlich sind Mitläufereffekte oder stillschweigende Zustimmung. Bozay hält Nationalismus für eine »Mobilisierungsressource«, für ein sozial und politisch generiertes Ideologem, das explizit oder implizit für ein Individuum oder eine Gruppe kennzeichnend ist und die Auswahl der Mittel und Zwecke des ›eigenen Handelns‹ massiv beeinflusst. Als Mobilisierungsressource beeinflussen ethnisch-nationalistische Einstellungsmuster die komplexe Wahrnehmung als ein kulturell, politisch und sozial geprägtes Ordnungskonzept, das personen- und gesellschaftsrelevante Handlungsmuster selektiv organisiert und akzentuiert sowie das eigentliche soziale, politische Handeln reguliert.13 Die Nationalisierung türkischstämmiger Menschen in Deutschland wird begünstigt durch die Entwicklung der Türkei nach dem Amtsantritt der AKP-Regierung unter Ministerpräsident Erdogan 2002/2003, dessen innenpolitische Politik der Renationalisierung und Reislamisierung durch türkische Medien, Auslandsorganisationen und Religionsgemeinden in der Folge im Ausland Verbreitung fand. Arslan spricht hier trotz der Erwartungen einer politischen Mäßigung durch einen prospektierten EU-Beitritt von »Zeichen einer ultranationalisti  8   9 10 11 12 13

Hierzu: Arslan 2009, S. 52 f. Arslan 2009, S. 14. Arslan 2009, S. 13. Bozay 2005, S. 186. Bundesministerium des Innern (Hg.): Verfassungsschutzbericht 2014, Berlin 2015, S. 135 f. Bozay 2005, S. 133.

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schen Welle in der Türkei«14. Nationale türkische Politik hat direkte Auswirkungen auf die deutsche Innenpolitik, nicht zuletzt durch die Vielzahl von Organisationen und Vereinen, die über Mutterorganisationen in der Türkei verfügen oder von dort gesteuert werden. Von diesen Organisationen kommt der Türkisch-Islamischen Union des türkisch-staatlichen Amtes für Religion (DITIB) die größte Bedeutung zu.15 DITIB kontrolliert etwa die Hälfte der bekannten Moscheen in Deutschland und organisiert in einigen Bundesländern den islamischen Religionsunterricht an deutschen Schulen mit. Dieser staatlich-türkische Einfluss auf nationale innenpolitische und bildungspolitische Prozesse in Deutschland bildet türkische nationale Regierungspolitik ab. Hierdurch und durch andere Auslandsorganisationen dringen auch nationale Auffassungen hinsichtlich problematischer Themen wie des osmanischen Völkermordes an Armeniern und des Umgangs mit ethnischen und religiösen Minderheiten in der Türkei wie Kurden, Armeniern, Aleviten16, Christen und anderen an deutsche Schulen und beeinflussen dort das Zusammenleben – mit deutschen Schülern, aber auch mit solchen, die ihrerseits als Angehörige von Minderheiten in der Türkei von dort geflohen sind. Organisationen, Vereine, oft euphemistisch als »Integrations-« oder »Freundschaftsvereine« bzw. »Folklorevereine« bezeichnet, bieten sich vordergründig als Heimstatt an, um sich gegen Ausgrenzung und Diskriminierung in die »Blase der eigenen Kultur« zu flüchten und dort die »Wiederentdeckung der eigenen Ethni­zität« zu erleben.17 Interessierte können sich hier in einem ethnisch-nationalistischen Umfeld in ihrer Identität wahrgenommen und bestätigt fühlen. Bozay spricht jedoch zu Recht von »Kolonieorganisationen«, die ein Faktor politischer Instrumentalisierung seien18 – deutsche Behörden übersehen diese Eigenschaft oft und gewähren großzügig Zuschüsse zu Vereinsaktivitäten oder verschenken wie die Gemeinde Monheim mitunter Grundstücke aus dem Gedanken heraus, dies sei der Integration dienlich.19 Die Bedeutung und Rolle von DITIB als staatlicher türkischer Organisation, die an der Organisation von schulischem Islamunterricht beteiligt ist, sichert 14 Arslan, Emre: Der Mythos der Nation im transnationalen Raum. Türkische Graue Wölfe in Deutschland, Wiesbaden 2009, S. 13. 15 Sen, Faruk: Der Islam in Deutschland – Herausforderung für die Integrationspolitik, in: MeierWalser, Reinhard C. und Glagow, Rainer: Die islamische Herausforderung – Illusionen und Realitäten, München 2002, S. 29 f. 16 Dazu: Gümüs, Burak: Die Wiederkehr des Alevitentums in der Türkei und in Deutschland, Konstanz 2007, S. 83 ff. 17 Hall, Stuart: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften, Hamburg 1994, S. 61. 18 Bozay 2005, S. 350. 19 RP online: Monheim verschenkt Geld für Moscheen, http://t1p.de/jm1n (Zugriff am 08.11.2016).

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ihr direkten Einfluss in die Schulen hinein sowie auf Lehrbücher und -inhalte. Werden Wertegefüge allerdings als starr und unabänderlich verfügt, richten sie »In-« und »Outgroup«-Trennlinien auf, die weder flexibel auf Veränderungen reagieren können, noch einer Integration dienlich sind. Arslan nimmt anhand der ideologischen Schwerpunkte eine Differenzierung von MHP/Grauen Wölfen und Milli Görüs vor. Ultranationalismus der einen träfe auf den Islamismus der anderen. Sie handelten dennoch in einem gemeinsamen Ideologiebereich. Die Vorstellung einer Türkei als überlegener Nation, die somit als Verbreiter und Vertreter des Islam fungiert, ist in beiden Bewegungen zu beobachten.20 Der Frage, ob Organisationen von Rechtsextremisten wie MHP, Islamisten wie Milli Görüs und von regierungsgelenkten türkischen Auslandsorganisationen wie DITIB in einem Atemzug genannt werden sollten, kann im Rahmen dieses kurzen Artikels nicht nachgegangen werden. Khalfallah-Wöhler tut jedenfalls genau dies.21 Kleinere Bewegungen, deren Ziel die Aufhebung der Trennung von Religion und Staat sei, die eine unreformierte, schariabasierte Gesetz­gebung für in Deutschland lebende Muslime und einen fundamentalistischen Islamunterricht für in Deutschland lebende muslimische Kinder forderten, würden sich hinter den vier großen Muslimverbänden, dem Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland, DITIB, dem Verband der Islamischen Kulturzentren und dem Zentralrat der Muslime in Deutschland verbergen. Von der staatlich gelenkten DITIB sagt sie sogar, dass von ihren Mitgliedern »zumindest ein Teil fundamentalistischen oder gar faschistischen Anschauungen« anhänge.22 Die Trennlinien zwischen Nationalbewusstsein, Nationalismus und Rassismus werden diffus, wenn auch amtierende türkische Politiker dort wie anderswo sich der diffamierenden Wortwahl von Extremisten bedienen und sie somit öffentlich Maßstäbe für den innen- und außenpolitischen Umgang setzen. Die Frage, die sich im Rahmen dieser kurzen Betrachtung stellt, ist, was türkisch-nationalistische Politik für den Schulfrieden bedeutet und wie Lehrer auf Symbole und Stichwörter reagieren können.

20 Arslan 2009, S. 51. 21 Khalfallah-Wöhler, Katja Khadija: Islamischer Fundamentalismus. Von der Urgemeinde bis zur Deutschen Islamkonferenz, Berlin 2009, S. 246 f. 22 Khalfallah-Wöhler 2009, S. 246 f.

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Türkischer Nationalismus und Chauvinismus in historischer und aktueller Perspektive Das Problem türkischen Nationalismus’ und Rassismus’ unter Jugendlichen gehört zu den weniger erforschten Phänomenen in der deutschen Politik- und Sozialwissenschaft, obwohl es sich seit längerem als innenpolitisches Problem darstellt und auch zunehmend den Schulfrieden in Deutschland zu stören geeignet ist. Ähnlich wie bei türkischen Ausfällen und Drohgebärden auf außenpolitischem Gebiet zeigen Beobachter sich zunächst zwar erschrocken, um dann jedoch schnell wieder zum Alltag zurückzukehren, damit der »Gesprächsfaden« nicht abreiße und »keine verhärteten Fronten« entstünden. Dementsprechend ist die Literaturlage im Vergleich zu anderen Extremismus­ phänomenen äußerst überschaubar. Zu den Arbeiten, die sich im Schwerpunkt mit türkischem Nationalchauvinismus und Rassismus als deutschem innenpolitischem Problem beschäftigen, gehören insbesondere »… ich bin stolz, Türke zu sein!« von Kemal Bozay und »Der Mythos der Nation im transnationalen Raum. Türkische Graue Wölfe in Deutschland« von Emre Arslan. Bozay zeichnet hier den Prozess der Renationalisierung und Reislamisierung der Türkei auf innenpolitischem und kulturellem Gebiet nach und dokumentiert den »Export« dieser Ideologie in das von türkischen Politikern fiktiv-argumentativ konstruierte »europäische Türkentum«23. Dieses definiere einen ethnischen Turkismus unter Negierung von individuellen Persönlichkeitsmerkmalen und ethnischen, religiösen oder sonstigen Unterschieden. Völkischer Nationalismus und islamischer Fundamentalismus wirkten hier gemeinsam. Zurückgeführt wird dieser auf die Gründungszeit der modernen Türkei 1923. Um die Einheit des Staates nach dem Ende des Osmanischen Reiches zu gewährleisten, griff Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk auf Politikverständnisse und Wertvorstellungen zurück, die nicht aus dem Volk heraus gefordert wurden, sondern die diesem, ähnlich einer Staatsideologie, »›von oben‹ diktiert« wurden.24 Für die türkische Republik wurde proklamiert, dass jeder auf dessen Staatsgebiet Türke sei ohne Rücksicht auf Rasse, Sprache, Religion und ethnischen Ursprung.25 Was hingegen in der labilen Frühzeit eines jungen Staates zu innenpolitischer Versöhnung und Stabilisierung beitragen kann, ist aus Sicht von Nationalisten indes dergestalt zu instrumentalisieren, dass so auch die Existenz von Minder23 Bozay 2005, S. 163 ff. 24 Kesen, Nebi: Die Kurdenfrage im Kontext zum Beitritt der Türkei zur Europäischen Union, Baden-Baden 2009, S. 126 f. 25 Bozay 2005, S. 167.

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heiten (in der Türkei bspw. Kurden, Aleviten etc.) geleugnet und diese damit implizit wie auch explizit diskriminiert werden können. Tatsächlich hält die Türkei seit 1923 lediglich die Minderheitenstatuten des Lausanner Vertrags aufrecht, die allein einige nicht-muslimische Minderheiten anerkennen (und daher bspw. nicht die Aleviten26) und keine weiteren Volksgruppen (wie die Kurden).27 Eine Abkehr von einem so historisch einmal definierten »Türkentum« und einer Staatsideologie, »deren Ziel seit der Gründung der Türkei in der Assimilation anderer Volksgruppen besteht«28, bedeutete mithin eine Schwächung oder einen Angriff auf dieses. Das Verständnis von der Heterogenität29 der »türkischen Nation« ist somit eine Grundbedingung, exkludierende Tendenzen zu erkennen. Als weiteren Motor der »Reislamisierung«30, also der Abkehr vom Grundsatz eines Staates, der zwischen weltlichen und geistlichen Angelegenheiten trennt, zeichnet Bozay die Geschichte des »Präsidiums für religiöse Angelegenheiten« (Diyanet Isleri Baskanligi – DIB; in Deutschland: Diyanet Isleri Türk Islam B ­ irligi, DITIB) nach: Die Existenz einer staatlichen Religionsbehörde mit staatlich finanzierten Religionsvertretern (»Religionsdiener (Din Hizmetleri)«)31 sei eben kein Merkmal eines laizistischen Staates, sondern erhebe den Islam »de facto wieder zur Staatsreligion«32. Bei Nationalismus als Begleiterscheinung von Identitätsfindungsprozessen könne ein solcher der »Gewinner« oder »Verlierer« sein. Bozay sieht die Türkei als für beides empfänglich,33 denn sie sei an der Schnittstelle zwischen Ost und West, als NATO-Mitglied, Teil der Auseinandersetzungen des Kalten Krieges gewesen, changierte zwischen demokratischen und Militärregierungen und erlebte wirtschaftlich innerhalb weniger Jahrzehnte den Wandel von einer agrarisch geprägten Gesellschaft zu einem bedeutenden wirtschaftlichen und touristischen Standort an den Grenzen Europas. Sowohl die europäische Auto- wie auch Unterhaltungstechnologieindustrie produzieren dort, ein großer Teil der in Europa abgesetzten »weißen Ware« (z. B. Waschmaschinen) wird dort produziert.

26 Zum Verhältnis von Alevitentum und Islam siehe: Gorzewski, Andreas: Das Alevitentum in seinen divergierenden Verhältnisbestimmungen zum Islam, Berlin 2010. 27 Kesen 2009, S. 129 ff. 28 Kesen 2009, S. 130. 29 Arslan 2009, S. 26 f. 30 Bozay 2005, S. 163. 31 Bozay 2005, S. 165. 32 Bozay 2005, S. 165. 33 Bozay 2005, S. 163.

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Neben der bereits erwähnten positiven Wirtschaftsentwicklung der Türkei seit den 1990er Jahren erschien der Aufstieg türkischer Fußballvereine als Kristallisationsfläche sowohl für Stolz und Identifikation, wie auch für chauvinistische Einstellungen ebenso von Auslandstürken.34 Das Ende des Kalten Krieges hatte auf die Türkei und nationalistische Strömungen dort einen ebenfalls prägenden Einfluss. Die Bundesrepublik Deutschland, die sich während des Ost-West-Konfliktes noch als »Schutzmacht« deutscher Minderheiten in Osteuropa sah, machte sich nach 1990 weniger für die Wahrung von deren Interessen vor Ort als vielmehr für ihre Übersiedelung nach Deutschland stark und sah deutsche Außenpolitik im Rahmen europäischer Politik aufgehen. Die Turkvölkerstaaten der ehemaligen Sowjetunion wurden demgegenüber nun durch offene Grenzen erreichbar und zum Einflussbereich der Türkei, die dort Lokalbüros der Religionsbehörde einrichtete und Millionen von Koranen verteilen ließ.35 Der türkische Rechtsnationalismus, der als »Symbol der kulturellen Einheit aller türkischen Völker« »das große Vaterland aller Türken, das in der Vergangenheit Wirklichkeit war und in der Zukunft wieder wirklich werden kann«36 an panturkistische und turanische historische Traditionen anknüpft37, sieht die Türkei als Modellland für die türkischstämmigen Staaten Mittelasiens und in der Pflicht, eine Regionalmacht mit Hilfs- und Schutzpflichten38 für die türkischen Völker dort zu sein. Mittlerweile werden die so zunächst nach Asien gerichteten hegemonialen Ansprüche auf Europa ausgedehnt (»Europäisches Türkentum«39). Das politische und wirtschaftliche Regionalmachtstreben der Türkei fasziniert neben Nationalisten auch Islamisten – beide erkennen am jeweils anderen Gewährsleute und Helfer –, ihr gemeinsamer Identifikationspunkt ist die Glorifizierung der osmanischen Zeit.40 Zusätzliche Impulse erhielten türkische Nationalisten aus den kurdischen Freiheitsbestrebungen seit den 1980er und besonders in den 1990er Jahren.41 Bereits dieser Konflikt fand immer wieder auch auf deutschem Boden statt und verschärfte sich in Deutschland bis 1993 im Zuge der Debatten um das Verbot

34 Bozay 2005, S. 164. 35 Bozay 2005, S. 165 f. 36 Lewy, Guenter: Der armenische Fall. Die Polarisierung von Geschichte. Was geschah, wie es geschah und warum es geschah, Klagenfurt 2009, S. 63. 37 Bozay 2005, S. 139. 38 Bozay 2005, S. 164. 39 Bozay 2005, S. 171. 40 Bozay 2005, S. 162. 41 Bozay 2005, S. 163 f.

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der »Arbeiterpartei Kurdistans« (PKK), welche von türkischer staatlicher Seite aus intensiv begleitet, kommentiert und beeinflusst wurden. Außenpolitische Erfolge von Kurden, ab 2003 im Irak und seit 2014 gegen den Islamischen Staat dort und in Syrien, machten türkische Versuche, die Volksgruppe in der Türkei zu marginalisieren, weniger effektiv. Gerade der kurdische Kampf gegen den »Islamischen Staat« führte in Deutschland sogar zu einer Diskussion um eine Aufhebung des Verbots, vornehmlich propagiert von Linken und SPD.42 Die von Kurden selbstverwaltete »Autonome Region Kurdistan« im Irak gilt als stabil, sicher und wirtschaftlich prosperierend. Die Einsätze kurdischer Männer und Frauen gegen den IS haben Menschen gerettet und Regionen befreit, als der Westen noch darüber nachdachte, ob er überhaupt handeln solle, und die Türkei offenbar selbst wirtschaftliche und andere Interessen in dem Konflikt verfolgte. Aus dem Kurdenkonflikt als innenpolitischem Problem wurde immer stärker ein außenpolitisches, das in den »Kampf gegen den Terror« einzubeziehen war. Von nicht minderer Bedeutung für das Gefühl einer türkischen Schutzpflicht gelten auch der Jugoslawienkrieg und das lange westliche Zögern, dort aktiv einzugreifen. Nationalisten sehen darin eine geduldete oder sogar geförderte Opferung von bosnischen Muslimen, an die es zu erinnern und deren Wiederholung es zu verhindern gelte. Bozay verweist darauf und merkt an, dass auch die fremdenfeindlichen Anschläge von Mölln und Solingen propagandistisch als allein antitürkisch genutzt wurden, indem einseitig Türken ein singulärer Opfer­ status zugesprochen wurde43: Türken würden so exklusiv zur bedrohten Minderheit, deren Schutz nur durch entsprechende Organisationen zu vermitteln sei. Dass die erst seit wenigen Jahrzehnten nach Deutschland und Europa im Zuge von Arbeitsmigration eingewanderten Türken nun seitens türkischer Rechtspopulisten und Nationalisten durch den Sammelbegriff »Europäisches Türkentum« bezeichnet44 und für sie explizit Minderheitenrechte eingefordert werden, bleibt aus Deutschland und Europa weitgehend unwidersprochen. Die Frage der Positionen von Minderheiten gegenüber Mehrheiten ist für den Westen eine relativ neue Diskussion. Da westliche Gesellschaften die Rechte und Möglichkeiten von Individuen (»Zivilgesellschaft«) kennen und anerkennen, ist die Forderung von Rechten für Kollektive von Minderheiten, wie sie Einwandererorganisationen und ausländische Organisationen in Deutschland stellen, eine Neuerung. Bassam Tibi wies bereits 1994 darauf hin, dass kollektives Recht 42 O.V., taz: Aus einer anderen Zeit, http://t1p.de/la5h (Zugriff am 08.11.2016). 43 Bozay 2005, S. 169. 44 Bozay 2005, S. 171.

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für Minderheitenbevölkerungen den europäischen Traditionen entgegenlaufe. Auch in den USA, die mehr als jedes andere Land von Migration profitiert hätten, stehe das Individuum im Zentrum der Bewertung und weniger das Kollektiv.45 Minderheitenrechte als Kollektivrechte, wie es sie in Südschleswig für Angehörige der dänischen Minderheit oder der Sorben in der sächsischen Oberlausitz gibt oder sie für Deutsche in Oberschlesien immer wieder eingefordert werden müssen, sind als Sonderrechte für autochthone, d. h. ursprünglich in einem Gebiet ansässige Volksgruppen, bekannt. Als eingeforderte Sonderrechte für jüngst im Zuge von Arbeitsmigration eingewanderte Kollektive sind sie ungewöhnlich und kaum dazu geeignet, integrativ zu wirken. In Deutschland selbst agieren nationalistische Vereinigungen getarnt als oder im Umfeld von Selbsthilfeorganisationen oder Interessensvertretungen und Integrationsvereinen. Von besonderem Gewicht in der öffentlichen Auseinandersetzung ist für sie die Frage des türkischen Völkermordes an osmanischen Armeniern.46 Hierbei üben sie auch Druck auf Ausländer- oder Integrationsbeiräte aus und gestalten so die deutsche Innenpolitik mit.47 Nach Ansicht von Bozay sind sie dabei häufig Zweigstellen nationalistischer oder rechtsex­ tremer Organisationen aus dem türkischen Mutterland.48 Deutsche Stellen zeigen sich hier oft unkritisch49 oder gar ahnungslos50 – leider auch Universitäten, die diesbezüglich, wie die Universität Duisburg-Essen, bereits mehrfach aufgefallen sind.51 Dies ist übrigens kein neues Phänomen. Seit Jahrzehnten beklagen Kritiker Desinteresse und Uninformiertheit deutscher Dienststellen52 oder sogar (unfreiwillige) Beihilfe zu Aktivitäten türkischer Extremisten.53 So können türkische Nationalisten nach wie vor häufig begünstigt, begleitet oder sogar gefördert von deutschen Stellen Lobbyarbeit betreiben54, den ArmenierGenozid leugnen oder Minderheiten in der Türkei diskriminieren und sozialen

45 Tibi, Bassam: Im Banne des Multikulturalismus, FAZ 11.01.1994. 46 Hierzu: Lewy 2009, S. 296 ff. 47 O.V., Focus: Integrationsrat leugnet Völkermord an Armeniern, http://t1p.de/z4oy (Zugriff am 08.11.2016). 48 Bozay 2005, S. 176. 49 Schwarzer, Alice (Hg.): Die Gotteskrieger und die falsche Toleranz, Köln 2003, S. 16. 50 Bozay 2005, S. 204 f. 51 O.V., Focus: Ausschreitungen von Genozidleugnern und Rechten: AStA über Skandalveranstaltung an der Uni Duisburg, http://t1p.de/a61s (Zugriff am 08.11.2016). 52 Hoffmann, Barbara, Opperskalski, Michael und Solmaz, Erden: Graue Wölfe, Koranschulen, Idealistenvereine. Türkische Faschisten in der Bundesrepublik, Köln 1981, S. 86 f. 53 Z. B. der Fall »Kesim«: Hoffmann, Opperskalski u.a 1981, S. 101 ff. 54 Stoldt, Till-R.: So sorgt Erdogan für Gewalt in Deutschland, http://t1p.de/4ldg (Zugriff am 08.11.2016).

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und gesellschaftlichen Druck im Sinne der Türkei ausüben.55 An eine Integration wird hierbei nicht gedacht, vielmehr wird der deutsche Pass als Eintrittskarte für gesellschaftliche und politische Ämter oder den Staatsdienst betrachtet, mittels derer weiter und verstärkt für türkische Interessen gearbeitet werden kann.56 Politisiert und für türkisch-rechtsextreme Organisationsstrukturen mobilisiert werden sollen besonders türkischsprachige Jugendliche der zweiten und dritten Generation.57

Ausdrucksformen von persönlichen Einstellungen Verhaltens- und Überzeugungsmuster von Menschen mit rechtsextremen und nationalistischen Einstellungen äußern sich bei türkischstämmigen Jugendlichen, Eltern oder sogar Lehrern nicht anders als bei deutschen auch. Gemein sind ihnen häufig offen thematisierte Eigendiskriminierungen bei gleichzeitiger Geringschätzung von anderen. Der sich von Überfremdungsängsten oder Marginalisierung bedroht fühlende Deutsche trifft sich auf dieser Ebene mit dem von Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen betroffenen Türken.58 Tatsächlich waren in der Vergangenheit häufig Stigmatisierungen dafür verantwortlich, dass Betroffene sich in ihre ethnischen Enklaven zurückzogen oder diese erst bildeten.59 Dieses Erklärungsmuster erscheint heute jedoch nicht mehr komplex genug, denn es trägt der Tatsache nicht Rechnung, dass gerade in Ballungsgebieten türkische Schüler nicht mehr die Minderheit darstellen. Sie sind also nicht auf schützende oder stabilisierende ethnische Enklaven angewiesen, sondern bilden sogar die Mehrheit oder zumindest einen großen Teil der Schülerschaft. So überrascht es wenig, dass die Schule als wichtiges Rekrutierungsfeld für die Grauen Wölfe dient:

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Bozay 2005, S. 172 f. Bozay 2005, S. 172 f. Bozay, Rammerstorfer u. a. 2012, S. 62 f. Zum Komplex ethnischer Gruppenbeziehungen aufschlussreich: Sutterlüty, Ferdinand, N ­ eckel, Sighard und Walter, Ina: Klassifikationen im Kampf um Abgrenzung und Zugehörigkeit, in: Neckel, Sighard und Soeffner, Hans-Georg (Hg.): Mittendrin im Abseits. Ethnische Gruppenbeziehungen im lokalen Kontext, Wiesbaden 2008, S. 27–90. 59 Keskin, Nilüfer: Probleme der Integration türkischer Migranten der zweiten und dritten Generation, Marburg 2010, S. 47 ff.

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Sie tragen demonstrativ Abzeichen, zum Beispiel Halsketten, mit eindeutigen Symbolen, zum Beispiel drei Halbmonde oder einen heulenden Wolf, sie malen diese Zeichen an die Schulwände und schreiben dazu türkischnationalistische Sprüche.60 Hinzu kommen eine Propagierung von Türkentum und eine Bedeutung von Volk und Nation in türkischen Medien und Moscheevereinen, die keine Entsprechung in der deutschen Gesellschaft mehr haben. Nationalismus und Nationalstolz besitzen in der Türkei einen ganz anderen Stellenwert als in Deutschland. Die Präsenz der Nationalflagge in der Türkei schon vor, aber ganz besonders nach dem gescheiterten Militärputsch Mitte Juli 2016, die großflächig ganze Hausfassaden öffentlicher und privater Gebäude verhüllt, die sich wie selbstverständlich auf T-Shirts und Schulmäppchen findet und sich auf deutschen Straßen in Form von Fahnenmeeren bei politischen Demonstrationen wie auch bei privaten Hochzeiten zeigt, steht für ein starkes und solides Nationalgefühl, von dem aus die Geringschätzung anderer Nationalitäten nur ein kleiner Schritt ist. Diese Identifizierung mit Werten der eigenen, freilich oft verzerrt und/oder verklärt wahrgenommenen ›Nation Türkei‹, ihrer Geschichte und Tradition, Kultur und Sprache wird immer dann problematisch, wenn sich diese ›nationalen Identitätsmuster‹ in eine nationalistische Ideologie verwandeln, die mit der ausschließlichen Hochschätzung der eigenen Nation und mit der Geringschätzung, der Verachtung anderer Nationen, ethnischer Gruppen bzw. gesellschaftlicher Minderheiten einhergeht.61 Türkische nationalistische Organisationen und Rechtsextreme verstärken diese Emotionen gezielt und können sich von türkischen Offiziellen bestätigt sehen.62 In Schulen und Universitäten gehen heute antisemitische und rassistische Übergriffe oft nicht mehr von deutschen Jugendlichen aus, sondern häufig gerade von muslimischen.63 Türkischer Rechtsextremismus kommt in offiziellen Extremis­ musprogrammen dennoch nicht vor, diese richten sich implizit und explizit stets an deutsche und deutschsprachige/deutsch-kulturelle Schüler, deren Zahl 60 61 62 63

Bozay, Rammerstorfer 2012, S. 63. Bozay 2005, S. 132. Siehe Arslan 2009, S. 13. Hierzu bspw.: Wetzel, Juliane: Neuer Antisemitismus oder Aktualisierung eines alten Phänomens?, in: Schmidt, Hansjörg und Frede-Wenger, Britta (Hg.): Neuer Antisemitismus? Eine Herausforderung für den interreligiösen Dialog, Berlin 2006, S. 18 ff., insbes. S. 21; oder dies.: Moderner Antisemitismus unter Muslimen in Deutschland, Wiesbaden 2014, S. 13 ff.

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jedoch an immer mehr Schulen abnimmt. Dabei gibt es durchaus Berührungspunkte und sogar Kooperationen zwischen deutschen und türkischen Nationalisten.64 Antirassismusprogramme verfehlen damit zunehmend ihr Ziel und werden von türkisch-nationalistischen Schülern nicht auf sich bezogen und verstanden, sondern sie verstärken gerade noch deren Gefühl, sie seien von permanenter Ausgrenzung betroffen und müssten sich wehren – denn eben dies suggerieren offizielle Programme ja. Für deutsche Lehrkräfte ist es nicht schwierig, mit etwas Hintergrundwissen und zielgerichtetem Interesse ethnisch-nationalistische Tendenzen zu erkennen und ihnen entgegenzutreten: ȤȤ Die Selbstetikettierung als Ülkücü und ein verbal in entsprechenden Überlegenheitsansprüchen und der (Über-)Betonung einer ethnischen Identität geäußerter »Stolz, Türke zu sein« führt bei deutschen Jugendlichen mit Sicherheit zu Nachfragen und sollte auch hier offensiv thematisiert werden. ȤȤ Werte, Rituale und Identitätsmuster der Aufnahmegesellschaft werden demonstrativ abgelehnt, Türken in Deutschland erkennen Präsident ­Erdogan als »ihren Präsidenten« an und nicht den deutschen Bundespräsidenten Gauck65, die eigenen tatsächlichen oder bloß kolportierten Diskriminierungserfahrungen werden überbetont. ȤȤ Themen mit Gewicht für die türkische innenpolitische Diskussion werden offensiv nationalistisch vertreten; gerade hierbei kommt es zur Leugnung des Völkermordes an Armeniern, politischen Verschwörungstheorien unter Beteiligung der USA und Israels und selbstverständlich zur Ausgrenzung von kurdischen und anderen Mitschülern mit Wurzeln im türkischen Staatsgebiet. ȤȤ Türkische gesellschaftliche und politische Themen dominieren die Gespräche und Realitätswahrnehmung und erzeugen ein klares Freund-Feind-Denken, auch anderen Nationen gegenüber. ȤȤ Geschichtsklitterung ist ein wesentliches Thema: Deutschland sei erst von Türken wieder aufgebaut worden66, analog zum mythischen Großreich Turan seien die türkischen Länder zu vereinigen67 und so weiter. Gerade hier erleben Lehrer handfeste Diskussionen bis zur Leugnung von Fakten und der Anerkennung von historischen Realitäten. Darauf vorbereitet zu sein bedarf

64 Bozay, Rammerstorfer u. a. 2012, S. 61 (Abbildung S. 65 f.). 65 Spahn, Jens: Unser Präsident heißt Gauck, nicht Erdogan, http://t1p.de/ty7 l (Zugriff am 08.11.2016). 66 Luft 2008, S. 64. 67 Bozay 2005, S. 138 ff.

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Mühe – einer Mühe, die wenigstens im Hinblick auf rechtsextreme deutsche Schüler mit einer Vielfalt von Schriften68 oder Webseiten69 unterstützt wird. Das Wissen um entsprechende Kollektivsymbole türkischer Nationalisten oder Rechtsextremer, wie den heulenden Wolf oder die drei Halbmonde der nationalistischen MHP oder der islamistischen BHP, trägt dazu bei, Tischoder Heftkritzeleien und am Körper getragene Symbole zu erkennen.70 Der Gruß der den »Grauen Wölfen« nahestehenden Nationalisten, die erhobene rechte Hand, wobei Ring- und Mittelfinger zum Daumen geführt werden, ist identisch zum »stillen Fuchs«, mit dem Grundschüler zum Schweigen gebracht werden sollen.71 Verständlich wird daran, dass auch Kinder einer bedrohten Minderheit aus der Türkei sich durch solche Symbole, von deutschen Erziehern vollzogen, diskriminiert fühlen können. Der Gruß der ägyptischen »Muslimbruderschaft« besteht aus dem Zeigen der vier Finger einer Hand bei eingeklapptem Daumen (»Rabaa-Zeichen«). Dieser diente Demonstranten als Zeichen des Protests und Erkennungszeichen. Er richtete sich gegen das Vorgehen des ägyptischen Militärs gegen die islamistische Regierung des ehemaligen Präsidenten Mursi72. Auch der türkische Präsident Erdogan soll die Geste immer wieder nutzen, wie zuletzt nach dem Militärputsch im Juli 2016.73 Signalwörter für den inner-türkischen kulturellen Konflikt sind »Terrorist«, »Jude«, »Kurde«, »Armenier« oder »Ungläubiger« und bisweilen »Kommunist«.

Auf die Relevanz ausländischer Einflussnahme durch politische und religiöse Instanzen auf die Integrationsmöglichkeiten von Zuwanderern haben zuvor u. a. schon Tibi74 und Luft75 hingewiesen. Gerade bei Einwanderern ist die Identi68 Bergsdorf, Harald: Fakten statt Fälschungen. Argumente gegen rechtsextreme Parolen, München 2010. 69 Bundesministerium für politische Bildung: Argumente gegen rechte Vorurteile, http://t1p.de/ novh (Zugriff am 08.11.2016). 70 Aslan, Fikret und Bozay, Kemal: Graue Wölfe heulen wieder. Türkische Faschisten und ihre Vernetzung in Deutschland, 3. Auflage, Münster 2012, S. 74. 71 Aslan, Bozay 2012, Covermotiv. 72 O.V., ›Rabaa sign‹ becomes the symbol of massacre in Egypt, http://t1p.de/awsp (Zugriff am 08.11.2016). 73 Ehrich, Issio: Wie nah ist Ankara radikalen Islamisten?, http://t1p.de/8tmw (Zugriff am 08.11.2016). 74 Tibi, Bassam: Islamischer Konservatismus der AKP als Tarnung für den politischen Islam? Die Türkei zwischen Europa und dem Islamismus, in: Besier, Gerhard und Lübbe, Hermann: Politische Religion und Religionspolitik, Göttingen 2005, S. 236. 75 Luft 2008, S. 69.

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fizierung mit (oder Ablehnung von) Deutschland in andere als die bekannten und gewohnten kollektiven Teilidentitäten eingebettet.76 Hinzu kommt angesichts einer vernetzten Welt mit ihren entschränkten Reise- und Kommunikationsmöglichkeiten die Aufrechterhaltung auch propagandistischer und politisch-extremistischer Beziehungen über Kontinente hinweg.

Praktische Handlungsansätze Die geschilderten tatsächlichen und möglichen Konflikte sind für Außenstehende und hinsichtlich der Besonderheiten der türkischen Innenpolitik Unkundige schwer zu durchblicken. Sprachliche Barrieren kommen hinzu, wenn Beleidigungen und Schmähungen durch Schüler (und auch Lehrer!) nicht erkannt werden.77 Diese zeigen sich zudem häufig subtil, wenn bspw. kurdischstämmigen Schülern ihre Identität abgesprochen oder sie demonstrativ als Türken angesprochen werden. Im Kollegium wie auch bei der Schulleitung ist falsch verstandene Zurückhaltung fehl am Platz. Ebenso wie bei anderen Formen des Rechtsextremismus ist es hier notwendig, zügig zu handeln, das Gespräch zu suchen und vor allem vorbereitet zu sein, damit die gängigen Argumentationsmuster und ideologischen Phrasen umgehend gekontert werden können. Allerdings gehört Standfestigkeit dazu! Denn selbstverständlich wissen ethnisch-orientierte Extremisten, wie leicht deutsche Kritiker mit Rassismus­ vorwürfen zum Schweigen gebracht werden können. Im Zweifel äußern diese sich daher häufig nicht. Hierdurch wird jedoch das Gegenteil dessen erreicht, was bezweckt werden soll. Diskriminierungen und Gewalt nehmen zu, ein Klima der Einschüchterung verunsichert kurdische, armenische oder afrikanische Schüler, Konflikte mit anderen dominanten Gruppen bleiben vor diesem Hintergrund unbemerkt. Ethnisch-nationalistischen Identifikationsmustern bei nicht-deutschen Jugendlichen wäre dagegen auch sehr gut mit Mitteln und Argumenten des »Kampfes gegen Rechts« beizukommen. Neben Akutberatung für Betroffene und »Gefährder« erscheinen auch Elterngespräche hilfreich, wenn sprachlich 76 Honolka, Harro und Götz, Irene: Deutsche Identität und das Zusammenleben mit Fremden, Opladen/Wiesbaden 1999, S. 115. 77 Wichtige Innenansichten von Konfliktmotivation und -lösung zeigt Yazici auf: Yazici, Oguzhan: Jung, männlich, türkisch – gewalttätig? Eine Studie über gewalttätige Männlichkeitsinszenierungen türkischstämmiger Jugendlicher im Kontext von Ausgrenzung und Kriminalisierung, Freiburg 2011, S. 166 ff.

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möglich. Kontakte zum polizeilichen Staatsschutz helfen, kurzfristig Beobachtungen zu evaluieren. Beratungs- und Unterstützungsleistungen mit vorbeugendem Charakter sind daneben von Bedeutung. Gleichzeitig sind in Programme wie »Schule gegen Rassismus« auch nicht-deutsche Nationalismus- und Rassismusphänomene einzubeziehen und die bekannten Argumente öffentlich zu thematisieren und zu dekonstruieren. Bullying- und Mobbingprogramme sind um diese Erkenntnisse zu erweitern und Beauftragte dafür zu sensibilisieren. Übergriffe auf dem Schulhof oder dem Nachhauseweg können neben anderen eben auch ethnisch-nationalistische oder rassendiskriminierende Hintergründe haben. Die politische und pädagogische Bildungsarbeit ist ebenfalls aufgerufen, Konzepte zu entwickeln und entsprechende Phänomene zu thematisieren. Sie sollte sich vornehmlich an Pädagogen/Erzieher, Lehrer und Sozialarbeiter wenden und u. U. mit einem Informations- und Hintergrundangebot den jeweiligen Stand von gesellschaftlichen Diskussionen in den Herkunftsländern und -milieus und der deutschen Gesellschaft aktuell nachzeichnen. Nur so werden sie Schülern gegenüber sprachfähig, die ideologisiert sind, aber jenseits einer eingeübten Argumentationshülle von nationalistischen Multiplikatoren oder Medien wenig Substanz vorzuweisen haben. Wenn als »Zeitzeugen« oder Gesprächspartner im Unterricht ganz selbstverständlich auch Vertreter kurdischer und alevitischer Vereine oder sogar des Zentralrates der Ex-Muslime eingeladen werden, erhalten auch bedrängte Minderheiten Artikulationsmöglichkeiten – und es wird schnell ersichtlich, wer innerhalb eines Klassenverbandes vonseiten der Schüler oder Lehrer und Eltern vehement dagegen protestiert. Klar sein muss auch, dass es neben »harten« Rechtsextremisten eine zunehmende Zahl von Anhängern und Wortführern der sich radikalisierenden türkischen Regierungspartei AKP gibt. Diese können sich häufig tatsächlich auf aktuelle türkische Regierungspolitik berufen, was aber die Diskriminierungserfahrungen von als »Terroristen« bezeichneten kurdischen Mitschülern nicht schmälert. Dass hier türkische Außenpolitik direkt und gefährdend in die deutsche Innenpolitik einwirkt, ist vielen anscheinend noch nicht deutlich genug präsent, birgt aber massive Probleme für die Zukunft. Türkische Rechtsextreme sind keine zu bemitleidenden Opfer einer diskriminierenden Gesellschaft. Sie sind teilweise selbst an einer Stigmatisierung und Abgrenzung nach außen interessiert und empfinden sich als Teil einer kommenden Elite, die sich in einer feindlichen Umgebung aufhält. Dies ist angesichts der Integrationsleistung der deutschen Gesellschaft seit den 1970er ­Jahren ebenso

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unhaltbar wie nicht nachvollziehbar, wird aber zu einem Mythos gerinnen, wenn sich kein Widerspruch regt. Es genügt nicht, wie Lang richtig anmerkt, die Programmpunkte islamistischer und nationalistisch-islamistischer Parteien und Vereine in die Köpfe von Jugendlichen hineinzudeuten. Notwendig ist der eher offene Ansatz, der die eigenständige produktive Tätigkeit der Jugendlichen innerhalb des islamistischen Diskurses sowie sein ganzes gesellschaftliches Ausmaß mit seiner produktiven Dynamik herauszuarbeiten vermag.78 Doch auch wenn man sicherlich auf das eigene Urteilsvermögen von Mitgliedern türkischer Auslandsorganisationen in Deutschland vertrauen darf79, sind Sprachund Konfliktfähigkeit von großer Bedeutung. Nicht, um in jedem Gespräch »Sieger« zu sein, sondern um an einem Diskurs überhaupt teilnehmen und auch die ungeteilte fremde Meinung respektieren zu können. Wird das Problem jedoch erkannt und ernst genommen, kann im Rahmen von moderierter Gruppenarbeit daran gearbeitet werden, auch sensible Themen wie das schwierige innenpolitische türkische Nationalitätenverhältnis oder den Umgang in Deutschland miteinander so zu bearbeiten, dass Verständnis entsteht und die neuen Erkenntnisse deradikalisierend in die Familien und Moscheegemeinden zurückwirken. Nur so würde betroffenen Jugendlichen möglicherweise auch erst bewusst, dass sie Meinungen vertreten, die eben nicht historisch wahr, sondern einseitig ideologisch determiniert sind, die delegitimieren und diskriminieren und dass auch Medien politische Ziele verfolgen oder sich diesen ergeben zeigen, wenn sie verallgemeinernd Kurden als Terroristen bezeichnen oder behaupten, türkische Gastarbeiter hätten Deutschland allein wieder aufgebaut. Erst dann würde vielen vielleicht erst bewusst, dass sie instrumentalisiert werden sollen. Ein Dialog zwischen Kulturen umfasst nicht allein die deutsche und jeweilige Einwandererkultur, sondern nicht zuletzt auch einen türkischkulturellen Binnendialog mit bspw. Aleviten und Kurden. Hieran ließe sich die so oft beschworene Dialogbereitschaft erst tatsächlich erkennen. Der Politik obliegt jedoch die nicht minder komplizierte Aufgabe, innenwie außenpolitisch unerwünschte Inhalte und Verhaltensweisen zu unterbinden und gleichzeitig die an Schulen Beschäftigten zu unterstützen. 78 Lang, Susanne: Zur Konstruktion des Feindbildes »Islam« in der Bielefelder Studie »Verlockender Fundamentalismus«, in: Bukow, Wolf-Dietrich und Ottersbach, Markus (Hg.): Der Fundamentalismusverdacht. Plädoyer für eine Neuorientierung der Forschung im Umgang mit allochthonen Jugendlichen, Wiesbaden 1999, S. 158. 79 Lang 1999, S. 152.

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Danksagung Zu danken ist Fr. Emine Isik für die Sensibilisierung gegenüber diesem wichtigen Thema sowie für wertvolle Hinweise und Impulse bei der Erarbeitung dieses Artikels.

Dr. Stefan Piasecki ist Professor für Soziale Arbeit an der CVJM-Hochschule in Kassel. Er habilitierte an der Universität Kassel in Religionspädagogik mit einer explorativen Studie zur Religion in Computer- und Videospielen (2015). In seiner Dissertation an der Universität Duisburg-Essen befasste er sich mit der öffentlichen Rezeption des Karikaturenstreits in Deutschland und den Reaktionen islamischer Gesellschaften (2008). Er publiziert zu gesellschaftlichen und medienpolitischen Themen und ist hier zudem als Vortragender national und international tätig. Seine Lehrveranstaltungen umfassen die Bereiche Handlungsfelder der Sozialen Arbeit, Politik- und Sozialwissenschaften und Medienpädagogik.

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Stefan Piasecki

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Dimensionen islamistischer Radikalisierung Felix Johne

Die Studie »Muslime in Deutschland«1 kam zu dem Ergebnis, dass 10 % der Befragten eine ausgeprägte Distanz zu Demokratie und Rechtsstaat aufweisen. 6 % akzeptierten auch politisch-religiös motivierte Gewalt. Bei einer Gesamtzahl von ca. 5 Millionen Muslimen in Deutschland entspräche dies 500.000, welche Demokratie ablehnen, und 300.000 Gewaltbereiten. Unter den jungen Muslimen (9. und 10. Klasse) war es mehr als ein Viertel der Befragten (29,2 %), welche politisch-religiöse Gewalt befürworteten. Woher kommt dieses hohe Potenzial an Extremismus und Radikalität? In der religiösen Dimension sind es drei Faktoren, die im Zusammenspiel radikalisierend wirken können: Die Schriftauslegung, das Gottesbild und das Bild der Ungläubigen.

Religiöse Dimension Die hanbalitisch-verbalinspirierte Schriftauslegung, auf welche sich ideologische Vordenker heutiger jihadistischer Salafisten beriefen, geht davon aus, dass der Koran unerschaffen sei. Dadurch werde die Schrift gottgleich, womit sich jegliche Interpretation oder metaphorische Deutung verbiete. Weiterhin sei es das unpersönliche und unberechenbare Gottesbild, welches auf der Annahme beruht, dass man sich Allah nicht vorstellen und nicht nach dem »Wie« fragen dürfe (bil-la kayf). Unberechenbar sei Allah deshalb, weil der Mensch durch seine Taten keinen direkten Einfluss auf das Jenseits habe, da dies schon von Allah festgelegt sei (Al-qadar). Ähnlich der calvinistischen Prädestinationslehre 1 Vgl. Schirrmacher, Christine: Muslime in Deutschland. Eine Studie des Bundesinnenministeriums zu: Integration, Integrationsbarrieren, Religion und Einstellungen zu Demokratie, Rechtsstaat und politisch-religiös motivierter Gewalt, Hamburg 2007.

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führt dies zu einem strengen Einhalten der Gebote und Anweisungen in Koran und Sunna, da die Hoffnung auf das Paradies darin begründet liege.2 So stimmten 44 % aller befragten Muslime der Aussage eher oder völlig zu, dass Muslime, die im bewaffneten Kampf für den Glauben sterben, ins Paradies kommen, also von Gott belohnt werden.3 Problematisch ist darüber hinaus das Bild der Ungläubigen (kuffar) in Verbindung mit den entsprechenden, expliziten Suren in Koran und Sunna. Ungläubige sind, nach hanbalitischer Lehre, all jene, welche von der Unerschaffenheit des Korans abweichen oder die vorgegebenen Riten nicht einhalten (fünfmaliges Gebet, Reinheitsgebote).4 In Verbindung mit einem hanbalitischen Textverständnis ist es möglich, dass diese Ungläubigen mit Tieren gleichgesetzt werden.5

Soziale Dimension Durch Einflüsse in der sozialen Dimension können radikalisierende Tendenzen noch verstärkt werden. Das multifaktorielle Modell geht davon aus, dass das Zusammenspiel diverser Determinanten im Leben eines Menschen deviantes und radikalisierendes Verhalten begünstigen kann. Laut Rommelspacher sind dies Persönlichkeitsfaktoren, Sozialisationseffekte und Gelegenheitsstrukturen.6

Persönlichkeitsfaktoren Nach den Persönlichkeitstheorien von Freud und Adler sind Verhaltensmuster heranwachsender Personen zu großen Teilen abhängig von deren Kindheitserfahrungen. Darüber hinaus seien Gefühle die Triebkraft der Persönlichkeitsentwicklung.7 Laut Mansour beginne der Prozess der Radikalisierung häufig mit einem Gefühl der Entfremdung, was ein psychischer Zustand sei. 2 Vgl. Schneiders, Thorsten: Ahmad Ibn Hanbal – sein Leben, sein Ruhm, seine Lehre, in: Schneiders, Thorsten: Salafismus in Deutschland. Ursprünge und Gefahren einer islamischfundamentalistischen Bewegung, Bielefeld 2014. S. 48 ff. 3 Vgl. Schirrmacher 2007. 4 Vgl. Bilal, Ghiath: Die Spaltung des Jihad-Salafismus in Syrien, in: Dossier Islamismus, Bonn 2007–2011, S. 54. 5 Vgl. Quran Übersetzung – Suren. Sure 5,60: al-Maida (Der Tisch), http://t1p.de/5d1 t (Zugriff am 08.11.2016). 6 Vgl. Rommelspacher, Birgit: Der Hass hat uns geeint. Junge Rechtsextreme und ihr Ausstieg aus der Szene, Frankfurt am Main, New York 2006. 7 Vgl. Seibt, Friedrich: Psychoanalytische Charakterlehre, München 1977.

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Die Jugendlichen wären oft unzufrieden mit ihrem Leben, hätten nur wenige soziale Kontakte und kein starkes soziales Umfeld. Generell sei es das Gefühl, nicht dazuzugehören, kombiniert mit instabilen Persönlichkeitsstrukturen. Träfen diese beiden Faktoren aufeinander, so öffne sich ein Zeitfenster von ein bis zwei Jahren, in welchem die Person für Radikalisierungen besonders anfällig sei. Häufig sei dies der Fall bei Jugendlichen, denen eine Vaterfigur fehlt. Diese Lücke füllten Salafisten mit ihrer patriarchalischen Ideologie und einem strafenden Gottesbild.8 Besonders anfällig seien ungefestigte Individuen, welche sich auf der Suche nach Orientierung, Lebenssinn und Sicherheit befänden.9 Laut Abou-Taam weisen die Biografien deutscher IS-Aktivisten in Bezug auf Sozialisation und Persönlichkeitsfaktoren Ähnlichkeiten auf. So handle es sich oft um Jugendliche mit Identitätsproblemen auf der Suche nach Lebenssinn und Gruppenerfahrungen.10 Uneindeutige Identitäten scheinen innerhalb der Persönlichkeitsfaktoren eine Schlüsselrolle für Radikalisierungsprozesse zu spielen. Hierbei ist es interessant, die Sozialisation näher zu betrachten, um deren Effekte analysieren zu können.

Sozialisationseffekte Waldmann beschreibt das Phänomen der kulturellen Hybridität, das auf Nachfolgegenerationen von Diasporagesellschaften radikalisierend wirken kann. Der Begriff Diaspora impliziere offenkundige, kulturelle Spannungen und den Wunsch nach einer zukünftigen Rückkehr in die Heimatregion bei gleichzeitigem, dauerhaftem Aufenthalt in einem anderen Land. Ihre Mitglieder seien Angehörige zweier oder mehrerer Staaten. Einerseits seien sie, aufgrund des gemeinsamen ethnischen oder religiösen Ursprungs, von ihrem früheren, entfernten Heimatland angezogen, andererseits müssten sie mit den Bedingungen und Erwartungen fertig werden, welche das Aufnahmeland an sie stelle. Die erste Generation bleibe stark in den kulturellen und religiösen Traditionen ihres Heimatlandes verhaftet. Dadurch sähen sich deren Nachkommen mit zwei verschiedenen Welten konfrontiert. Die eine idealisierte Welt, welche den Jugendlichen nur aus Erzählungen der Eltern und Großeltern bekannt sei, ­  8 Vgl. Mansour, Ahmad: Salafistische Radikalisierung – und was man dagegen tun kann, in: Dossier Islamismus 2007–2011, S. 170 f.   9 Mansour, Ahmad: Generation Allah. Warum wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen, Frankfurt am Main 2015, S. 29 f. 10 Vgl. Abou-Taam, Marwan: Syrien-Ausreisende und -Rückkehrer. Ein Überblick, in: Dossier Islamismus 2007–2011, S. 67.

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und die andere, mit welcher sie sich täglich auseinandersetzten müssen. Diese doppelte Beziehung lasse die Entwicklung einer eindeutigen Identität nicht zu. So versuchten einige der Menschen mit Migrationshintergrund in zweiter oder dritter Generation, sich bestmöglich an die Aufnahmegesellschaft anzupassen und in beiden Gesellschaften zu leben. Andere wiederum fühlten sich durch ihren Diaspora-Status unterprivilegiert, unsicher und erniedrigt: Diese Menschen hegen keinen Optimismus, keine Hoffnung für ihre persönliche Zukunft, sondern nur Frustration, Resignation und manchmal Feindseligkeit und Zorn.11 Dies könne zu einem »Neo-Traditionalismus« oder Fundamentalismus führen, welcher das Aufnahmeland und dessen Kultur ablehne und stattdessen die Ursprungskultur idealisiere. Durch eine fundamentalistische Bekehrung erscheine das eigene Leben erst bedeutsam und könne eine Orientierung für die Zukunft bieten.12 Freise und Khorchide kommen zu dem Schluss, dass es die Herausforderung der doppelseitigen Anerkennung sei, welche die Bildung von sogenannten Schalenidentitäten fördere. So wäre es im Elternhaus der Vorwurf der Verwestlichung und in der deutschen Gesellschaft der der fehlenden Integration. Dies führe zu ausgehöhlten Identitäten religiöser oder nationaler Art. So geben diese Individuen auf Nachfrage an, stolze Muslime und Angehörige ihrer Herkunftsländer zu sein, jedoch behandle man sie in ihren »Heimatländern« aufgrund ihrer (nicht akzentfreien) Sprache und ihrer Erscheinung (Verhalten, Kleidung) oft als Ausländer. Daher sei es die Religion, in welcher sie ein sicheres »Wir-Gefühl« suchen. Um so eine kollektive Identität zu konstruieren, bedienten sie sich eines entkernten Islam ohne Inhalt, welcher als Bindeglied zu anderen Migranten diene und ein Gefühl von Schutz, Stärke und Sicherheit aufbaue. Grund für die Hinwendung zum Islam sei also weniger die Suche nach Spiritualität oder Gotteserfahrung, sondern vielmehr die Suche nach einem Identitätsmerkmal.13 Mücke schreibt dazu, dass das Fehlen eigenständiger Identitäten zu einer Radikalisierung von Restidentitäten führen kann. ­Hierbei greifen die Jugendlichen zumeist ohne religiöse Bildung auf 11 Waldmann, Peter: Entfremdet und Gewaltbereit. Wie sich Muslime in der Diaspora radikalisieren, in: Schneiders 2014, S. 338. 12 Vgl. Waldmann, Peter, in: Schneiders 2014, S. 335 ff. 13 Vgl. Freise und Khorchide: Herausforderungen und Perspektiven für die interkulturelle und interreligiöse Praxis in Bildung, Sozialer Arbeit und Seelsorge, in: Freise und Khorchide: Interreligiosität und Interkulturalität. Herausforderungen für Bildung, Seelsorge und Soziale Arbeit im christlich-muslimischen Kontext, Münster 2011, S. 198 ff.

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ihre religiösen Wurzeln zurück. Dies könne dazu führen, dass junge Menschen sich extremistische, hypermaskuline, fundamentalistische oder traditionalistische Merkmale zu eigen machen und dadurch demokratiedistanzierte und gewaltaffine Einstellungen entwickeln. Das wiederum führe dazu, dass sie in Radikalisierungs- und Gewaltspiralen geraten.14 Die Zugehörigkeit zum Islam sei der Hauptbestandteil der Identität, da man nicht mehr ganz Türke oder Araber, aber auch noch nicht Deutscher sei. Verunsicherte Identitäten gingen in der dynamischen, salafistischen Gruppenidentität mit ihren Traditionen und soziokulturellen, totalitären Werten vollständig auf. Dabei werde Kontakt nach außen radikal sanktioniert. Die Migration in die Gruppe isoliere den Einzelnen so psychisch und oft auch physisch von seiner sonstigen Umgebung.15 Es ist deshalb wichtig zu schauen, bei welchen Gelegenheiten religiös und sozial vorgeprägte Jugendliche mit den salafistischen Radikalisierungskatalysatoren in Kontakt kommen.

Gelegenheitsstrukturen Der Kontakt mit salafistischen Radikalisierungskatalysatoren geschehe zum einen durch aufsuchende Missionsarbeit (Da‘wa) vonseiten der Neo-Sala­fisten. So seien die Angebote, insbesondere auch für Kinder, ausgeweitet worden, um potenzielle Anhänger in immer jüngerem Alter anzusprechen. Darüber hinaus wären Jugendvollzugsanstalten beliebte Rekrutierungsorte, da viele Häftlinge ein geringes Selbstwertgefühl sowie geringe soziale Resonanz aufweisen. Sie seien auf der Suche nach Autoritäten und offen für Komplexitätsreduktionen.16 Puristisch-salafistische Gruppierungen dienten dabei als Inkubatoren für militante Jihadisten, welche in diesen Rekrutierungsversuche vornehmen. Hierfür nutzten sie gezielt Islamseminare und andere Treffpunkte nicht militanter Salafisten, um insbesondere Jugendliche für den Jihad anzuwerben. Die Gefährder seien für die Jugendlichen oft nicht erkennbar, da die Übergänge innerhalb der verschiedenen Strömungen fließend seien und nur wenige Anhaltspunkte zur Unterscheidung von militanten und gewaltfreien Gruppen existierten. Dadurch rutschten junge Menschen in die militante

14 Vgl. Mücke, Thomas, in: FES 2015, S. 172. 15 Vgl. Abou-Taam, Marwan: Syrien-Ausreisende und -Rückkehrer. Ein Überblick, in: Dossier Islamismus 2007–2011, S. 67. 16 Vgl. Abou-Taam 2007–2011, S. 67.

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Szene hinein. Jihadistische Salafisten nutzten so die friedlichen Milieus um Jugendliche weiter zu radikalisieren.17 Zum anderen spielen soziale Medien wie YouTube, Facebook und Twitter bei der Radikalisierung eine immer größer werdende Rolle. Stefan Piasecki schreibt, dass von den medialen Inhalten eine starke Prägewirkung ausgehe und sich somit auf die Identitätskonstruktion und -rekonstruktion von Jugendlichen auswirke. Medien trügen zur Selbstsozialisation bei, da sie Weltanschauung und Weltwahrnehmung determinieren: Gefühle von Hass und Marginalisierung müssen nicht selbst erlebt werden, sondern lassen sich auch medial vermitteln bzw. einflüstern und nachempfinden durch aufwühlende Videobotschaften sowie durch tatsächliche oder vermeintliche Tatsachenberichte von Augenzeugen.18 Dies wirkt besonders dann radikalisierend, wenn die Jugendlichen sich in ihrer Selbstwahrnehmung als Teil der weltweiten Umma (internationale islamische Gemeinde) sehen, welche von den westlichen Ländern auf grausame Weise verfolgt werde. Dieses Selbstverständnis und die damit verbundene Viktimisierung der weltweiten muslimischen Gemeinde sei es, was auch gebildete Muslime aus mittleren Schichten in Radikalisierungsprozesse führe. Laut der Studie des Bundesinnenministeriums sei es bei einem Großteil der Muslime weniger die Erfahrung einer persönlichen Ausgrenzung, welche zur Radikalisierung führt. Vielmehr wäre es das Empfinden, Opfer einer globalen Unterdrückung zu sein und sein Bezugssystem außerhalb der westlichen Gesellschaft zu finden. Ein ganz erheblicher Teil der in Deutschland lebenden Muslime, Schüler wie auch die muslimische Allgemeinbevölkerung, sei davon überzeugt, dass die Gemeinschaft der Muslime in globaler Hinsicht benachteiligt und schlecht behandelt werde.19 Diese Gefühle werden von sogenannten »Online-Jihadisten« gezielt angesprochen und gefördert. Laut Dirk Baehr seien seit 2006 vermehrt deutschsprachige Online-Blogs aktiv, in denen Texte und Videos der offiziellen Internetseiten von radikalen Terrororganisationen übersetzt und verbreitet werden. In den vergangenen Jahren seien größere virtuelle Netzwerke gebildet worden, welche jihadistisch-salafistische Inhalte auf Deutsch propagieren. So riefen die Betreiber der Website aazara.net dazu auf, sich des Taghut (Götzen) und 17 Vgl. Baehr, Dirk: Der deutsche Salafismus. Vom puristisch-salafistischen Denken eines Hasan Dabbaghs bis zum jihadistischen Salafismus von Eric Breininger, Norderstedt 2011, S. 36. 18 Vgl. Piasecki, Stefan: Medien und Fundamentalismus – eine Herausforderung für die Jugendarbeit, in: Eppler 2015, S. 252. 19 Vgl. Schirrmacher 2007.

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seiner Religion zu entledigen, womit das politische System der Kuffar (Ungläubige), also die Demokratie und deren verbündete Staaten, gemeint seien. Dabei solle man vor deren Machthabern nicht zurückschrecken. Die radikal-islamistischen Foren dienten als Sammelbecken unterschiedlichster, terroristischer Gruppierungen und als Treffpunkt von virtuellen sowie von realen Jihadisten. Ziel der Betreiber sei es, Sympathisanten Gründe für terroristische Aktionen militanter Salafisten zu liefern, damit diese verstünden, warum Jihadisten einen Krieg gegen Menschen im Westen führten20. Baehr warnt: Die drastische Zunahme von deutschsprachiger Propaganda wird langfristig die Gefahr der Selbstradikalisierung von jugendlichen Sympathisanten vergrößern. Es ist heute schon festzustellen, dass der Empfängerkreis der jihadistischen Propaganda stetig steigt. Zudem besteht die Gefahr, dass sich »jihadi pundits« in Deutschland entfalten und eine spezifisch deutsche Ideologie hervorbringen werden, die noch mehr junge Menschen in ihren Bann ziehen wird.21 Die skizzierten Dimensionen islamistischer Radikalität können helfen, Gegenmaßnahmen im präventiven als auch im interventiven Bereich der Deradikalisierungsarbeit zu konzipieren. Dabei ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit von sozialarbeiterischer, medienpädagogischer, psychologischer und theologischer Professionen erforderlich. Konkrete Handlungsvorschläge und -möglichkeiten wurden in diesem Zusammenhang von Karsten Jung, Abdel-Hakim Ouhrghi und Stefan Piasecki veröffentlicht.

Felix Johne, Studierender des Studiengangs Religions- und G ­ emeindepädagogik und Soziale Arbeit integrativ B.A. an der CVJM-Hochschule Kassel, [email protected].

20 Vgl. Baehr 2011, S. 32 ff. 21 Baehr 2011, S. 35.

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Literatur Baehr, Dirk: Der deutsche Salafismus. Vom puristisch-salafistischen Denken eines Hasan ­Dabbaghs bis zum jihadistischen Salafismus von Eric Breininger, Norderstedt: GRIN Verlag 2011. Eppler, Wilhelm: Fundamentalismus als religionspädagogische Herausforderung, Göttingen: V&R unipress 2015. Freise, Josef und Khorchide, Mouchanad: Interreligiosität und Interkulturalität. Herausforderungen für Bildung, Seelsorge und Soziale Arbeit im christlich-muslimischen Kontext, Münster: Waxmann Verlag 2011. Friedrich Ebert Stiftung: Handlungsempfehlungen zur Auseinandersetzung mit islamistischen Extremismus und Islamfeindlichkeit, Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung Forum Berlin 2015. Mansour, Ahmad: Generation Allah. Warum wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen, Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag GmbH 2015. O.V., Dossier: Islamismus, Bonn: BpB Bundeszentrale für politische Bildung 2007–2011. Rommelspacher, Birgit: Der Hass hat uns geeint. Junge Rechtsextreme und ihr Ausstieg aus der Szene, Frankfurt am Main/New York: Campus Verlag 2006. Seibt, Friedrich: Psychoanalytische Charakterlehre, München: Ernst Reinhardt Verlag 1977. Schneiders, Thorsten: Salafismus in Deutschland. Ursprünge und Gefahren einer islamisch-fundamentalistischen Bewegung, Bielefeld: transcript Verlag 2014. Schirrmacher, Christine: Muslime in Deutschland. Eine Studie des Bundesinnenministeriums zu: Integration, Integrationsbarrieren, Religion und Einstellungen zu Demokratie, Rechtsstaat und politisch-religiös motivierter Gewalt, Hamburg: Institut für Islamfragen e. V. 2007.

Schulrechtliche Handlungsoptionen und strafrechtliche Grundlagen Jan-Friedrich Bruckermann

Einleitung Die Herausgeber möchten anhand der in diesem Buch vorgestellten Aufsätze eine Hilfestellung zum Verhalten bei dem Verdacht von Extremismus im Unterricht leisten. Die jeweiligen Blickwinkel der verschiedenen Autoren sollen dem Leser helfen, entsprechende Entwicklungen zu erkennen und darauf adäquat zu reagieren. Aufgrund der aktuell hohen Zahl von religiös und politisch extremistisch motivierten Anschlägen sowie dem Zulauf Jugendlicher zum Islamischen Staat (IS) im Bürgerkrieg in Syrien stellt sich die Frage nach einer Feststellung der Anhaltspunkte für eine Radikalisierung von Schülern und die mögliche Reaktion darauf. Im Folgenden soll daher eine Hilfe zur Auswahl von Handlungsmöglichkeiten für Unterrichtende gegeben werden, die sich aus der Strafprozessordnung sowie dem Polizei- und Schulrecht ergeben. Zum Verständnis und zur Bestimmung möglicher eigener juristischer Reaktionen nach dem Erkennen von Radikalisierungstendenzen ist zunächst die Kenntnis der drei typischen Methoden staatlichen Handelns im Bereich Justiz und Polizei essenziell: 1. Gefahrenabwehr als klassisches Polizeirecht 2. Rechtlich vor der Gefahrenabwehr liegende sogenannte »Vorfeldermittlungen« 3. Strafverfolgung nach dem Aufdecken von Straftaten 4. Sowie speziell für den Unterrichtsbereich: Schulverwaltungsrechtliche Maßnahmen Auch wenn der Inhalt der drei Begriffe weitestgehend allgemein bekannt ist, werden diese zum Verständnis in der gebotenen Kürze dargestellt:

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Darstellung der drei klassischen staatlichen Handlungsoptionen 1. Gefahrenabwehr Der Bereich der Gefahrenabwehr ist der klassische Bereich der in den jeweiligen Länderpolizeigesetzen verankerten Kernaufgaben der Polizei: Sofern eine Beeinträchtigung rechtlich geschützter Interessen unmittelbar bevorsteht – so definiert sich der polizeirechtliche Gefahrenbegriff –, besteht ein Entschließungsermessen, mithin eine Freiheit zum Handlungsentschluss selbst und ein Auswahlermessen bei der Wahl der zur Beseitigung der Gefahr erforderlichen Mittel. Eine Eingriffspflicht ergibt sich allein für den Fall des Vorliegens von Straftaten, mithin bei der repressiven Reaktion und damit der Strafverfolgung, nicht jedoch im Bereich der Gefahrenabwehr. Bei dem Verdacht des Vorliegens extremistischer Aktivitäten kommen nach dem Polizeirecht zur Gefahrenabwehr direkte Maßnahmen nur in Frage gegen ȤȤ »Zustandsstörer«, mithin gegen die Person, die für eine gefahrbegründende Tatsachenlage verantwortlich ist. ȤȤ »Handlungsstörer«, der für sein eigenes gefahrbegründendes Verhalten verantwortlich ist. ȤȤ »Notstandspflichtige« und somit »nicht störende« Personen. Praktisch relevanteste Frage bleibt die nach der notwendigen Konkretisierung einer »Gefahr« und damit nach der Art der Tatsachen, die ein Ergreifen polizeilicher Maßnahmen begründen könnte. Vor einer entsprechenden Kontaktaufnahme mit der Polizei ist daher das Überschreiten einer bestimmten Erheblichkeitsschwelle durch den Schüler erforderlich. Diese ist erreicht, sofern eine an Anknüp­ fungspunkte darstellbare Billigung von Gewalt gegen Dritte erkennbar wird. Wann ist das in der schulischen Praxis erkennbar der Fall? Nach der Auswertung der bisher öffentlich zugänglichen Quellen ist ein genaues Erkennen von gewaltbereiten Extremisten aufgrund der Vielfalt der Erscheinungsformen nicht dezidiert anhand bestimmter Einzelmerkmale möglich1 und soll hier nur soweit dargestellt werden, dass für Ermittlungen ausreichende Anhaltspunkte erkannt werden. Kumulativ und alternativ sind die nachstehenden, nicht immer klar zu trennenden Aspekte vor einer möglichen Information der Behörden bei einem Extremismusverdacht mit möglicher Gewaltbereitschaft zu bewerten2: 1 Katharina Senge: Radikalisierung durch Religion? Die politische Meinung 2012, S. 25 (26). 2 Merkmale entnommen aus: Extremistischer Salafismus als Jugendkultur. Informationsblatt des MiK NRW 2016, Bl. 85.

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ȤȤ ȤȤ ȤȤ ȤȤ ȤȤ

Entsprechende Änderung des äußeren Erscheinungsbildes Überbetonung der Einhaltung religiöser Normen und Riten Missionierungsansätze im Verwandten- und Bekanntenkreis Bruch mit altem Freundeskreis religiös-politische Äußerungen ohne erkennbare Bereitschaft einer Einlassung auf andere Argumente ȤȤ Abschottungstendenzen gegenüber Dritten bzw. aus subjektiver Sicht »Un­gläubigen« Eine stille und nur nach innen gerichtete Radikalisierung ist zwar möglich3, sie überschreitet jedoch keine für die Anwendung von Polizeirecht notwendige Gewalt- oder Gefahrenschwelle und ist daher hier nicht näher zu erläutern. Insofern ist im Rahmen dieser Entwicklung zu beachten, dass innerhalb ihres Verlaufs die Hemmschwelle für Gewaltbilligung grundsätzlich herabgesetzt wird4. Durch eine Gruppendynamik innerhalb einer abgegrenzten Gemeinschaft kann diese sich zu Gewaltbereitschaft hin entwickeln5 und zu einer selektiven Inhaltswahrnehmung und Etablierung sozialer Beziehungen führen. Zu beobachten ist, dass diese sich immer mehr über das Internet mit extremistischen Seiten steuern. Sollten Kenntnisse über eine einschlägige Internetnutzung vorliegen, müssen diese entsprechend mitgeteilt werden. Alle vorgenannten Aspekte sind selbstverständlich nicht jeweils als Alleinstellungsmerkmal, sondern immer im Kontext mit anderen Aktivitäten zu bewerten. Daher ist zur Einleitung eines polizeirechtlichen Verfahrens eine chronologische Darstellung dessen erforderlich, wie sich eine auffällige Verhaltensänderung eines Schülers entwickelt hat. Für die Einleitung von offiziellen Maßnahmen ist eine solche konkretisierende Darstellung ausreichend! In der Regel werden, wie exemplarisch die §§ 16 ff. PolG NRW bestimmen, »Besondere Mittel der Datenerhebung«, d. h. längerfristige Observationen, Bildund Videoaufzeichnungen sowie Kommunikationsmitschnitte eingesetzt. Informationen über Ermittlungsaufnahme und den aktuellen Sachstand an Anzeigenerstatter erfolgen grundsätzlich nicht.

3 O.V., »Karlsruher News: Religion radikal« in Karlsruhe: Wenn der Dschihad cool wird …, http://t1p.de/mdjo (Zugriff am 08.11.2016). 4 Senge 2012, S. 25 (26). 5 Senge 2012, S. 25 (27).

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2. Vorfeldermittlungen Diese Möglichkeit der Ermittlungsmaßnahmen wird der Vollständigkeit halber hier zur Kenntnis gebracht, damit die ermittlungstaktischen Wahlmöglichkeiten der Polizei und Staatsanwaltschaft verständlicher werden. Unter diesen Maßnahmen sind verdachtslose Ermittlungsmaßnahmen zu verstehen, die etwa nur orts- oder zeitbezogen erfolgen. Beispielhaft wären etwa Personenkontrollen entlang der Bundesgrenze oder auf Fernstraßen zu nennen. 3. Strafprozessuale Maßnahmen: Repressives staatliches Handeln Öffentlich besser bekannt ist die Strafverfolgung bei Tatverdacht einer möglicherweise bereits verwirklichten Straftat gem. § 152 II StPO. Ziel ist die strafrechtliche Ahndung einer Handlung nach Feststellung aller Tatsachen, ggf. durch eine prozessuale Beweisaufnahme mit einem Urteil oder alternativ eine Einstellung oder ein Freispruch. Die Vorgabe des Verdachtsmomentes für die Aufnahme von Ermittlungen verbietet verdachtslose Ermittlungen »in das Blaue« hinein. Jedoch ist die Schwelle zur Annahme eines Verdachts, der »zureichende tatsächliche Anhaltspunkte« erfordert, sehr niedrig angesetzt! Es reichen dazu bereits geringfügige Tatsachen aus. Im Einzelnen veranschaulichen diesen Ansatz die folgenden Praxisbeispiele.

Praxis I. Strafrecht: Gefahrenabwehr und Strafverfolgung Gegenstand der hiesigen Abhandlung sind die vier nachstehenden, weil für die Symptomatik beginnenden Extremismus typischen Straftatbestände. 1. Abgrenzung der Tatbestände »Beleidigung § 185 StGB« – »üble Nachrede § 186 StGB« – »Verleumdung § 187 StGB« zur zulässigen Meinungsäußerung Zum Verständnis sind zwei Schritte notwendig: a) Zuerst ist die Art und der Umfang einer straffreien Meinungsäußerung, die per se eine Strafbarkeit ausschließen, zu bestimmen und b) dann sind die drei Tatbestände voneinander abzugrenzen.

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a) Wann und wie ist eine Aussage oder Handlung als strafrechtlich relevant zu qualifizieren? Es gibt keine feste Definition, sondern es ist eine Abwägung vorzunehmen! Dazu ist bewusste Herabsetzung einer Person von nicht strafbaren Werturteilen abzugrenzen. Maßstab dazu ist das Grundrecht der Meinungsfreiheit. Dieses gibt jedem das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten. Meinungen kennzeichnen sich durch die subjektive Einstellung des sich Äußernden und enthalten ein Urteil über Sachverhalte, Ideen oder auch Personen.6 Das für die Meinung charakteristische Merkmal der Stellungnahme und des Dafürhaltens grenzt die »Meinung« von der »Tatsachenbehauptung« als bloße Faktenwiedergabe ab.7 Nicht geschützt und damit strafbar ist eine sog. »Schmähkritik«: Definiert wird diese als herabsetzende Äußerung zur persönlichen Kränkung. Eine Auseinandersetzung in der Sache – jenseits von polemischer und überspitzter Kritik8 – darf nicht vorhanden sein, sondern nur noch die Diffamierung der Person im Vordergrund stehen und ggf. sachliche Anliegen völlig in den Hintergrund gedrängt werden.9 Dazu sind etwa ein sachlicher Anlass und der Kontext der Äußerung zu berücksichtigen.10 Nur eine herabsetzende Wirkung einer Äußerung reicht zur Einordnung einer Schmähung nicht, selbst wenn es sich um eine überzogene oder ausfällige Kritik handelt. Wichtig für dieses Verständnis ist die Kenntnis von der Auffassung in der Rechtsprechung, dass auch polemische, drastische und ehrverletzende Formulierungen einer Meinungsäußerung in den Schutzbereich des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG fallen können und damit zulässig sind. Werturteile sind von Art 5 Abs. 1 S. 1 GG geschützt, ohne dass es darauf ankommt, ob die Äußerung »wertvoll« oder »wertlos«, »richtig« oder »falsch«, emotional oder rational begründet ist.11 Dass eine Aussage polemisch oder verletzend formuliert ist, macht sie nicht sofort zur Straftat.12 Eine isolierte Betrachtung eines einzelnen Begriffs kann allenfalls ausnahmsweise dann die Annahme einer der Abwägung entzogenen Schmähung tragen, wenn dessen diffamierender Gehalt so erheblich ist, dass der Ausdruck in   6   7   8   9 10 11 12

BVerfGE 33,1; 93, 266. BVerfGE 7,198; 61,1; 85,1; 90, 241. BVerfG Urteil vom 12.05.2009–1 BvR 2272/04 BVerfGE 93, 266; BVerfG, NJW 2005, S. 3274. BVerfG, Beschluss vom 5. März 1992, NJW 1992, 2815, Az.: 1 BvR 1770/91. OLG Hamm, Beschl. v. 14.08.2014, 2 RVs 28/14. BVerfGE 54, 129; 61,1; 93, 266; BVerfGE 8, 89.

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jedem denkbaren Sachzusammenhang als bloße Herabsetzung des Betroffenen erscheint und daher unabhängig von seinem konkreten Kontext stets als persönlich diffamierende Schmähung aufgefasst werden muss, wie dies möglicherweise bei Verwendung besonders schwerwiegender Schimpfwörter – etwa aus der Fäkalsprache – der Fall sein kann.13 b) Die weite Fassung der »Beleidigung« in § 185 StGB bezieht sich zunächst auf die Strafbarkeit verbaler Äußerungen, etwa dem »klassischen« Mensch-TierVergleich. Jegliche Form der Kundgabe einer Nicht-, Gering- oder Missachtung des sittlichen, personalen oder sozialen Geltungswerts des Gegenübers durch Zuschreiben negativer Qualitäten ihm direkt oder Dritten gegenüber soll daher mit dieser Bestimmung unter Strafe gestellt werden. Darüber hinaus wird auch die nonverbale Kommunikation erfasst, so z. B. Tätlichkeiten wie Anspucken oder Gesten, etwa dem Stinkefinger. Eine Kollektivbeleidigung einer Personengemeinschaft ist unter der Voraussetzung möglich, dass nicht nur das Kollektiv als Gesamterscheinung, sondern alle darin erfassten Individuen gemeint sind.14 Weiterhin Voraussetzung ist, dass sich die Personengruppe mit allen Angehörigen klar umgrenzt und auch zahlenmäßig überschaubar ist, sodass die Zuordnung des Einzelnen zu ihr nicht zweifelhaft ist.15 Ist der Kreis so groß, dass sich die Äußerung in der Masse verliert, ist keine Kollektivbeleidigung gegeben.16 Nicht betroffen vom Tatbestand der Beleidigung – aber ggf. von der Volksverhetzung – wären etwa »die Christen«, »die Juden«, »die Akademiker«, »die Polizei«. Sofern eine speziellere Eingrenzung erfolgt wie etwa »deutsche Juden« oder »Christen in Köln«, ebenso wie etwa »Lehrer der ErichKästner-Schule« ist die zahlenmäßig notwendige Eingrenzung erfolgt und eine Beleidigungsfähigkeit grundsätzlich gegeben. Verbände mit einer einheitlichen Willensbildung sind daher mit erfasst, so z. B. Institutionen und Personengemeinschaften wie Gewerkschaften, Rotes Kreuz und kirchliche Hilfswerke. Der Begriff der »Familie« als solcher ist nicht als beleidigungsfähig angesehen, da er nur als interner, nicht nach außen hin handelnder korporativer Verband angesehen wird.17 Abzugrenzen zur »Üblen Nachrede« nach § 186 StGB ist die Beleidigung dahingehend, dass etwa die Weiterverbreitung von – auch unerkannt – falschen

13 14 15 16 17

BVerfG, NJW 2009, S. 749. BVerfGE 93, 299. KG JR 78,422, Bay NJW 1990, 1742. BGH 36, 87. BGH JZ 51, 520.

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Tatsachen strafbar ist. Etwa ist die SMS-Weiterleitung von Schülern mit einer inhaltlich objektiv nicht zutreffenden Behauptung über andere Schüler strafbar. Davon wiederum ist die bewusste und vorsätzliche Falschbehauptung von Tatsachen über Dritte nach § 187 StGB als »Verleumdung« strafbar. 2. Volksverhetzung § 130 StGB Die Volksverhetzung stellt bestimmte Äußerungen und Handlungsweisen, deren offenes Zeigen geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, unter Strafbann. Genau wie bei der Beleidigung ist auch hier eine Abgrenzung zur zulässigen Meinungsäußerung vorzunehmen. Als relevant speziell im Schulbereich sind zu nennen die Verbreitung von Schriftwerken sowie mündliche Behauptungen mit einem Inhalt, der zur »Aufstachelung« und Herabsetzung von natürlichen Personen geeignet ist. Exemplarisch wird der Volksverhetzungstatbestand zum Antisemitismus in einem Strafurteil zu einer öffentlichen Rede illustriert: […] Der Wortlaut der Rede, ihr objektiver Sinngehalt und die Wortwahl des Angeklagten sprechen in besonderem Maße dafür, dass der Angeklagte die Rede aus judenfeindlicher Gesinnung hielt und den Zweck verfolgte, gegen die Mitbürger jüdischen Glaubens Stimmung zu machen, zum Hass gegen sie aufzustacheln, sie in ihrer Menschenwürde herabzusetzen, sie als unwürdig auszugrenzen und sie zu beschimpfen. Denn der Angeklagte bedient sich im Verlauf seiner Rede mehrfach des nationalsozialistischen antijüdischen Propagandajargons. So verwendet er die Anrede ›deutsche Volksgenossinnen, deutsche Volksgenossen‹ Im Weiteren bezeichnet er die jüdischen Mitbürger als ›Gutmenschen‹ – wobei im Kontext klar wird, dass der Angeklagte sie keinesfalls als gute Menschen ansieht –, als ›Langnasen‹ und als das ›auserwählte Volk‹ bzw. ›Völkchen‹. Weiter spricht der Angeklagte den jüdischen Bevölkerungsteilen einen ›unbedingten Herrschaftsanspruch‹ und ›rassliche Geschlossenheit‹ zu und redet davon, dass sich die Regeln und Gesetze des Staates Israel an den ›Nürnberger Rassegesetzen‹ orientieren würden. Mit den Worten ›Herrschaften in der Finanzwelt nasenmäßig sich Bescheid geben und das Sagen haben‹ und des bereits erwähnten Ausdrucks ›Langnasen‹ bedient er sich eines Vokabulars, mit dem er auf äußerliche Rassemerkmale nach Maßgabe der nationalsozialistischen Ideologie abhebt. Danach sollten Juden am Äußeren, an ihrer großen Hakennase und an ihren Augen und abstehenden Ohren erkennbar sein. Zugleich lässt er die damit verbundene Vorstellung

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vom gerissenen und hinterlistigen Juden, der nur auf seinen wirtschaftlichen Vorteil bedacht ist, wieder aufleben. Durch die wiederholte und dadurch betonte Bezeichnung des jüdischen Bevölkerungsanteils als einer verschwindenden bzw. kleinen Minderheit der ewigen Sieger und ständig Unschuldigen einerseits und ›des deutschen Volkes‹ als die Besiegten andererseits in Verbindung mit dem nationalsozialistischen Propagandajargon äußert der Angeklagte nicht nur das Werturteil, dass die Mitbürger jüdischen Glaubens unwürdig seien, Steuergelder zu erhalten, sondern wertet sie darüber hinaus pauschal ab. Insoweit klingt in der Rede des Angeklagten durch den Gebrauch dieser nationalsozialistisch geprägten Begriffe seine Identifizierung mit der nationalsozialistischen Rassenideologie an. Zugleich ist dies verbunden mit einem deutlichen Anklang an die in der Zeit des Nationalsozialismus erfolgte menschenverachtende Stigmatisierung von Juden als Juden und legt die Verwendung dieser Begriffe die Absicht des Angeklagten nahe, die Juden zu diskriminieren und zu schikanieren. […]18 Diese auszugsweise dargelegten Ausführungen legen exemplarisch die Anforderungen an den Bewertungsumfang für eine Bejahung einer Strafbarkeit dar. Daher muss sich aus Zusammenhang und Beweggrund der Äußerungen ein Vorsatz zur Diffamierung ableiten lassen. Idealerweise sollten die Zusammenhänge von getätigten Aussagen dargestellt werden können. Sowohl mögliche Zeugen als auch schriftliche Notizen mit Datum, Uhrzeit und Anlass eines jeden Vorfalls sind dazu dienlich. Der Erfahrung nach begründet jede detaillierte Beschreibung einschlägiger Vorfälle bessere Ermittlungsansätze.

II. Reaktionsmodalitäten Das Schulrecht der Bundesländer sieht bei Verstößen durch Schüler Sanktionen vor. Exemplarisch wird auf die Anordnung in § 53 SchulG NRW hingewiesen: Erziehungsmaßnahmen vor Ordnungsmaßnahmen. Ähnliche Formulierungen finden sich in den Schulgesetzen der anderen Bundesländer. Im Sinne des Eingriffs mit dem mildesten adäquat zu Gebote stehenden Mittel sollten vor einer strafrechtlichen Ahndung zunächst immer schul- oder jugendrechtliche Maßnahmen den Vorrang einnehmen. 18 LG Bochum, Urteil vom 09.09.2005, Az.: 1 KLs 33 Js 248/04.

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Die vorrangige Einschaltung der Eltern und erst dann des Jugendamtes nach etwa § 31 BayEUG vor einer Strafanzeige ist explizit vorgesehen und in den SchulG der anderen Bundesländer impliziert. Dazu ist der Einhaltung des Dienstweges, exemplarisch in § 104 II LBG NRW normiert, oberste Priorität zuzumessen. Insoweit sollte bei entstehender Problematik regelmäßig nach einer ggf. fruchtlosen Besprechung mit dem betreffenden Schüler und/oder den Eltern der Dienstvorgesetzte, hier der Direktor der Schule, kontaktiert werden. Schulrechtlich gibt es außerhalb des Bereichs der Nichtanzeige von geplanten Straftaten nach § 138 StGB – der für jedermann gilt – keine spezielle gesetzliche Pflicht zur Meldung eines Verdachtes auf Extremismus. Damit drohen disziplinarrechtlich keine Sanktionen, sofern nicht jeder Verdacht sofort gemeldet wird. Erst mit dem Überschreiten der Schwelle der in § 138  StGB genannten Straftaten ergibt sich eine Handlungspflicht, deren Unterlassen strafbewehrt ist! Die Auswahl möglicher rechtlicher Schritte sollte vor dem Hintergrund der Einschätzung folgender Fragestellungen getroffen werden: 1. Ist noch die Möglichkeit einer Kommunikation und eine Einflussnahme auf den Schüler möglich? 2. Ist bereits die Schwelle der Unmöglichkeit des Erreichens des Schülers eingetreten? Im ersten Fall bietet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge19 die Möglichkeit der Kontaktvermittlung zu in den Bundesländern befindlichen örtlichen Ansprechpartnern. Regelmäßig handelt es sich dabei um anerkannte private oder öffentliche Träger, die sich auf die Beratung im Extremismusbereich spezialisiert haben. Dagegen ist im zweiten Fall nur noch die Kontaktierung von Polizei und Staatsanwaltschaft möglich. Für den Fall, dass die Aufrechterhaltung von Vertraulichkeit gewünscht wird, besteht in einigen Bundesländern, so etwa NRW, auch die Möglichkeit, den Verfassungsschutz zu kontaktieren.

Prof. Dr. jur. Jan-Friedrich Bruckermann ist Rechtsanwalt und Professor für soziale und diakonische Handlungsfelder an der CVJM Hochschule in ­Kassel. Gleichzeitig ist er Praxisanleiter und Praxisbegleitdozent für Studenten der s­ ozialen Arbeit im Praxissemester, [email protected]. 19 Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Beratung bei Radikalisierung, http://t1p.de/c1gw und auch http://t1p.de/i4z6 (Zugriff am 08.11.2016).

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Literatur Senge, Katharina: Radikalisierung durch Religion? Die politische Meinung, Zeitschrift für Politik Religion Gesellschaft und Kultur, Konrad-Adenauer-Stiftung, Ausgabe 509 / 2012. Extremistischer Salafismus als Jugendkultur, Informationsblatt des Ministeriums für Kultur, Nordrhein-Westfalen, 2016. Bundestelle für Migration und Flüchtlinge: Beratung Radikalisierung, http://t1p.de/c1gw und auch http://t1p.de/i4z6 (Zugriff am 08.11.2016). O.V., Karlsruher News: »Religion radikal« in Karlsruhe: Wenn der Dschihad cool wird …, http:// t1p.de/mdjo (Zugriff am 08.11.2016).

Von Schülerworkshops bis Ausstiegsbegleitung – das Hessische Präventionsnetzwerk gegen Salafismus Gregor Dietz/Klaus Bott

Einschätzungen und Erfahrungen aus Sicht der Sicherheitsbehörden Die Sicherheitsbehörden verstehen unter Islamismus alle Erscheinungsformen des islamischen Extremismus – d. h. politisch-totalitäre Ideologien, die den Islam als ein alle Bereiche des privaten und öffentlichen Lebens umfassendes System verstehen, die die Trennung von Staat und Religion ablehnen und das gesamte sowohl politische als auch gesellschaftliche Leben religiös begründeten Normen unterwerfen wollen.1 Der Salafismus gilt als eine dynamische und schnell wachsende islamistische Bewegung. Anfang 2016 wurde in Hessen von etwa 1650 Aktivisten ausgegangen, bundesweit von etwa 8350. Der Begriff leitet sich aus der arabischen Bezeichnung für »die frommen Altvorderen« ab und stilisiert die ersten drei Generationen von Muslimen im 7. bis 9. Jahrhundert zur Reinform des Islam, die es aus Sicht der Salafisten wiederherzustellen gilt. Die dafür eingesetzten Methoden sind überwiegend gewaltfrei (etwa die zwischenzeitlich verbotene salafistische Koranverteil­aktion »LIES!«), aber nicht harmlos. So stellen gerade diese Koranverteilungen in vielen Fällen einen Einstiegskontakt in das salafistische Gedankengut dar. Ein Teil der salafistischen Akteure befürwortet den Einsatz religiös legitimierter Gewalt zur Zielerreichung. Wenngleich es sich beim Begriff »Salafismus« wiederum um einen Sammelbegriff handelt, der etwa quietistisch-puristische, politische und jihadistische

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Hessisches Ministerium des Innern und für Sport, 2015: Verfassungsschutz in Hessen – ­Bericht 2014, S. 79.

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Salafisten umfasst,2 konstatiert der Islamwissenschaftler Olaf Farschid, dass das Verhältnis von Salafisten zum militanten Jihad trotz Ambivalenzen durch eine klare Befürwortung gekennzeichnet sei. »Bereits im Spektrum des politischen Salafismus wird der Jihad damit gerechtfertigt, dass Muslime weltweit in einer Verteidigungssituation seien, die diesen zumindest im Mittleren Osten erforderlich mache.«3 Allein aus Hessen sind in der Vergangenheit mehr als 130 Personen – zumeist aus dem salafistischen Spektrum – in Richtung Syrien bzw. Irak als derzeitig aktuellem Jihad-Schauplatz ausgereist. Etwa ein Viertel dieser Personen befand sich im Mai 2016 wieder in Hessen – sie stellen eine potenzielle Gefahr für die innere Sicherheit dar, da sie sich weiter radikalisiert haben könnten und die Motivlage ihrer Rückkehr unklar ist.

Die Arbeit der Sicherheitsbehörden Seitens der hessischen Polizei erfolgt in der Befassung mit der islamistischen bzw. salafistischen Szene ein konsequenter Ermittlungs- und Fahndungsdruck. Das Hessische Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (HSOG) bietet hierfür die notwendigen rechtlichen Grundlagen. Nach § 1 Abs. 4 HSOG ist die Verhütung von Straftaten Aufgabe der Polizeibehörden. Zur Erfüllung dieser Aufgaben stehen ihnen zahlreiche Befugnisse zur Verfügung, wie z. B. die Datenerhebung nach § 13 Abs. 2 Nr. 1, die Observation nach § 15 Abs. 2 Nr. 2, die gezielte Kontrolle nach § 17 oder die sogenannte Schleierfahndung nach § 18 Abs. 2 Nr. 6 HSOG. Die Polizei hat zudem ein Warnsystem initiiert, um frühzeitig Ein- und Ausreisen potenzieller Gefährder zu erkennen, zu verhindern oder ggf. durch geeignete Mittel zu überwachen. Der operativen Informationsgewinnung und der Nutzung der Verfassungsschutzerkenntnisse kommt dabei große Bedeutung zu. Daneben bilden die präventiven Maßnahmen gegen Salafismus und Islamismus einen Schwerpunkt der Präventionsarbeit des Landesamts für Verfassungsschutz (LfV) Hessen. Seit dem Jahr 2008 ist das LfV als Anbieter von Fortbildungen für hessische Lehrkräfte akkreditiert. Seither wurden zahlreiche Lehrkräfte für Problemstellungen sensibilisiert, die durch Islamismus und Salafismus entstehen. Dabei werden die Pädagogen über Erkennungsmerkmale von 2 Eine gelungene Darstellung unterschiedlicher Strömungen innerhalb des salafistischen Spektrums und ihres Verhältnisses zum militanten Jihad findet sich bei Farschid: Salafismus als politische Ideologie, 2014, S. 161 ff. 3 Farschid 2014, S. 184 f.

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Radikalisierungsprozessen informiert und mögliche Gegenmaßnahmen aufgezeigt. Auf Anfrage führen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des LfV auch Informationsveranstaltungen an hessischen Schulen durch und arbeiten unmittelbar und vertrauensvoll mit staatlichen und nichtstaatlichen Stellen zusammen, um diese in ihrem Engagement gegen salafistische Bestrebungen zu unterstützen und zu beraten. Mit dem Hauptsachgebiet »Beratende Prävention« wurde zudem ein neuer Strang der Extremismus-Prävention im LfV geschaffen. Die Experten sind auf dieser Basis verstärkt als Berater und Präventionspartner für Kommunen, soziale Einrichtungen und die hessischen Flüchtlingserstaufnahme-Einrichtungen tätig. Die hessischen Sicherheitsbehörden schöpfen die präventiven und repressiven Möglichkeiten und Maßnahmen aus, um so einen hohen Fahndungsdruck auf die salafistische Szene zu erreichen und vor den Gefahren des Extremismus zu warnen. Dennoch wird sich das Problem trotz aller Anstrengungen etwa im Hinblick auf Ausreiseverhinderung, Verbote von salafistischen Organisationen und Vereinen, Strafverfahren nach § 89a StGB (Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat) nicht allein durch das Handeln der Sicherheitsbehörden lösen lassen. Aus diesem Grund hat die Landesregierung das Hessische Präventionsnetzwerk gegen Salafismus eingerichtet.

Das Hessische Präventionsnetzwerk gegen Salafismus Das Konzept des Hessischen Präventionsnetzwerks gegen Salafismus wurde vom Hessischen Informations- und Kompetenzzentrum gegen Extremismus (HKE) im Hessischen Innenministerium entwickelt und ging im Juli 2014 in die Umsetzung. Das Hessische Modell ist Grundlage der Rahmenkonzeption zur Einrichtung eines länderübergreifenden Präventionsnetzwerkes gegen Salafismus, welches im Rahmen der Befassung der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder (IMK) beschlossen wurde. Im Vorfeld hatte das HKE Gespräche u. a. mit Vertreterinnen und Vertretern migrantischer Organisationen, des »beratungsNetzwerks hessen«, freien Trägern im Bereich der Extremismusprävention, hessischen Ministerien, der Stadt Frankfurt am Main (Amt für multikulturelle Angelegenheiten) sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern geführt, um Möglichkeiten für die erfolgreiche Einrichtung eines ganzheitlichen Präventionsnetzwerks gegen Salafismus in Hessen auszuloten. In diese Überlegungen wurden auch Konzepte aus ande-

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ren Bundesländern bzw. von Bund-Länder-Arbeitsgruppen, Sachstandsberichte z. B. des Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrums (GTAZ) und Erkenntnisse aus anderen europäischen Staaten einbezogen. Die Maßnahmen zur Prävention und Intervention bzw. zur Verhinderung von Radikalisierung basieren zudem auf Analysen der Sicherheitsbehörden. Informationen zu Radikalisierungshintergründen von Syrien- und Irakreisenden sowie Rückkehrern wurden in mehreren Analysen ausgewertet: 2013 legte das HKE eine Auswertung zu 23 Ausreisenden aus dem RheinMain-Gebiet vor.4 In den Folgejahren wurde eine vergleichbare Analyse zu den bundesweit in Richtung Syrien bzw. Irak ausgereisten Personen durch das Bundeskriminalamt, das Bundesamt für Verfassungsschutz und das HKE durchgeführt.5 Die Ergebnisse und die sich im chronologischen Vergleich der Analysen abzeichnenden Entwicklungen – z. B. der größer werdende Anteil von Frauen unter den Ausreisenden oder die steigende Relevanz des Internets für die Radikalisierung – fließen unmittelbar in die Modifizierung der Maßnahmen ein.

Ziele Die Einrichtung des Hessischen Präventionsnetzwerks gegen Salafismus im Jahr 2014 verfolgte folgende Ziele, die nach wie vor gültig sind: Im Bereich der Präventionsmaßnahmen sollen im Sinne einer allgemeinen Prävention Toleranz-, Empathie-, Diskurs- und Demokratiefähigkeit bspw. durch interreligiöse Projekte gefördert werden. Eine spezifische Prävention soll durch Informations-, Sensibilisierungs- und Fortbildungsveranstaltungen z. B. für Multiplikatoren erfolgen. Die vorgesehenen Interventionsmaßnahmen werden in der Regel im Sinne von Beratungsangeboten verstanden, die sich zum einen an die Angehörigen und das soziale Umfeld von Radikalisierten richten, um diese Personen im Umgang mit der für sie schwierigen Lebenslage zu stärken und Handlungsoptionen aufzuzeigen. Zum anderen richten sich die Angebote an Radikalisierungsgefähr4

HKE: Radikalisierungshintergründe und -verläufe von 23 Syrien-Ausreisenden aus dem RheinMain-Gebiet, Wiesbaden 2013. 5 BKA, BfV, HKE: Analyse (2014) der den deutschen Sicherheitsbehörden vorliegenden Informationen über die Radikalisierungshintergründe und -verläufe der Personen, die aus islamistischer Motivation aus Deutschland in Richtung Syrien ausgereist sind; BKA, BfV, HKE: Analyse (2015) der den deutschen Sicherheitsbehörden vorliegenden Informationen über die Radikalisierungshintergründe und -verläufe der Personen, die aus islamistischer Motivation aus Deutschland in Richtung Syrien oder Irak ausgereist sind.

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dete bzw. Radikalisierte in einem eher frühen Stadium der Radikalisierung, in dem die Chancen auf eine Abkehr von extremistischem Gedankengut noch am größten sind, sowie an Radikalisierte, die bereits in der Szene verankert sind und die beim Ausstieg begleitet und unterstützt werden. Die Deradikalisierungsarbeit umfasst explizit auch Rückkehrer aus dem syrisch/irakischen Krisengebiet, die inhaftiert sind.

Struktur und Inhalte des Präventionsnetzwerks Zentrale Elemente des Hessischen Präventionsnetzwerks gegen Salafismus sind die Landeskoordinierungsstelle, die »Beratungsstelle Hessen – Religiöse Toleranz statt Extremismus«, der Fachbeirat sowie die Einbindung der bundesweiten Hotline der »Beratungsstelle Radikalisierung« des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Landeskoordinierungsstelle Diese Aufgabe wird durch das HKE wahrgenommen. Die Landeskoordinierungsstelle ist zuständig für die zentrale Steuerung und Koordinierung der Maßnahmen der Prävention und Intervention und gewährleistet zudem den notwendigen Informationsfluss zwischen der zentralen Beratungsstelle und den Sicherheitsbehörden. Zudem koordiniert sie die Zusammenarbeit mit weiteren Akteuren im Handlungsfeld Extremismus. Beratungsstelle Hessen – religiöse Toleranz statt Extremismus Die Beratungsstelle hat ihren Sitz in Frankfurt am Main, ist aber hessenweit tätig. Sie wurde bei dem Verein Violence Prevention Network (VPN) angebunden und ist unter der Telefonnummer 069/27299997 sowie über das Internet (http://www.beratungsstelle-hessen.de) erreichbar. Die Angebote der Beratungsstelle sind für alle Menschen gedacht, die Beratung oder Unterstützung in der Auseinandersetzung mit dem religiös begründeten Extremismus benötigen: Die Präventionsarbeit findet in der Regel in Form von Workshops statt, die keinem vorgefertigten Konzept folgen, sondern auf Grundlage eines Sondierungsgesprächs mit der Einrichtung, z. B. der Schule, entworfen und mit dieser abgestimmt werden. Bis Mai 2016 wurden seitens der Beratungsstelle bereits 86 solcher Workshops durchgeführt. In den Workshops können Themen wie Identität, gemeinsame Wertebasis, Grenzen von Toleranz, Medienkompetenz,

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Interreligiosität behandelt und für Rekrutierungsstrategien von Extremisten etc. sensibilisiert sowie Handlungsstrategien aufgezeigt werden.6 Die Beratungsstelle Hessen bietet für interessierte Institutionen, ebenfalls im Rahmen der Präventionsarbeit, Informations- und Sensibilisierungsveranstaltungen zum Thema religiös begründeter Extremismus bzw. Salafismus an. Zur Zielgruppe gehören u. a. Lehrerinnen und Lehrer, Pädagoginnen und Pädagogen, Jugendhilfemitarbeiterinnen und -mitarbeiter, Bewährungshelferinnen und -helfer, der Strafvollzug sowie Moscheegemeinden. Ziele sind zum einen das frühzeitige Erkennen von Radikalisierung sowie die Stärkung der Handlungskompetenz und der Selbstsicherheit im Umgang mit Radikalisierungs­gefährdeten. Angeboten werden auch sogenannte Multiplikatoren-Fortbildungen zum Umgang mit Radikalisierung im Kontext Schule und Jugendhilfe. Diskutiert werden können dabei z. B. Fragen nach der Entwicklung von Dialogbeziehungen zu Jugendlichen mit menschenverachtenden Einstellungen oder der Gestaltung von Diskussionen über menschenverachtende Positionen und dem Herbeiführen von Verunsicherungen bezüglich dieser Positionen auch an Praxisbeispielen. Speziell für Lehrkräfte bietet die Beratungsstelle Hessen in Kooperation mit dem Landesschulamt und der Lehrkräfteakademie des Staatlichen ­Schulamtes Frankfurt am Main und dem Projekt des Hessischen Kultusministeriums »Gewaltprävention und Demokratielernen (GuD)« eine Fortbildungsveranstaltung mit dem Titel »Salafismus: Prävention und Intervention in der Schule – Ursachen der Radikalisierung von Jugendlichen« an. Im Bereich der Intervention bietet die Beratungsstelle bspw. ein Anti-Gewaltund Kompetenz-Training im Strafvollzug an, das mehrere Monate dauert und das die Teilnehmer dazu befähigen soll, auf vorurteilsmotivierte oder ideologisierte Begründungszusammenhänge zu verzichten und sich von entsprechenden Subkulturen zu distanzieren. Die Beratungsstelle arbeitet in vergleichbarer Weise auch mit Jugendlichen außerhalb des Strafvollzugs mit dem Ziel, Distanzierungsprozesse sowie Neugierde auf andere Sichtweisen auszulösen. Eine weitere wichtige Säule ist die Initiierung von Ausstiegsprozessen sowie die Begleitung dieses Prozesses durch Ansprache vor Ort. Erstes Ziel ist dabei der Aufbau einer Arbeitsbeziehung. Nicht der »Ausstieg« aus dem Islam ist dabei das Fernziel, sondern die Abkehr von radikalen und menschenverachtenden Sichtweisen und der damit einhergehenden Bereitschaft zur Anwendung von Gewalt. Bis Mai 2016 wurden hessenweit 87 Gefährdete bzw. Radikalisierte 6 Eine detaillierte Darstellung der möglichen Themencluster der Workshops sowie weitere Informationen sind der Broschüre der »Beratungsstelle Hessen – Religiöse Toleranz statt Ex­ tremismus – Prävention, Intervention, Ausstiegsbegleitung« zu entnehmen, die auf der Internetseite http://www.beratungsstelle-hessen.de abrufbar ist.

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betreut, darunter sechs Rückkehrer aus Syrien oder dem Irak. Etwa die Hälfte dieser Personen wurde im Gefängnis betreut. Vier Personen befanden sich zu diesem Zeitpunkt in Ausstiegsbegleitung. Dass diese Beratungen langfristig angelegt sind, zeigt sich auch daran, dass von allen Beratungsfällen bzw. Ausstiegsbegleitungen bei Radikalisierten/Gefährdeten bis Mai 2016 lediglich acht abgeschlossen wurden, davon wurden drei durch die Probanden abgebrochen. VPN arbeitet zudem auch mit Ausreisegefährdeten. Zu den Aufgaben der Beratungsstelle gehört ferner die Beratung von Angehörigen und dem sozialen Umfeld. Im weiteren Sinne können Hilfesuchende auch Lehrerinnen und Lehrer, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter oder Freunde der Radikalisierten sein. Bis Mai 2016 wurden hessenweit über 100 Angehörige bzw. Personen aus dem sozialen Umfeld beraten. Die Beratungsstelle wurde bewusst nicht bei den Sicherheitsbehörden angesiedelt, um für Betroffene Hemmschwellen zur Kontaktaufnahme zu senken. Sie priorisiert die an sie herangetragenen Einzelfälle, stellt bei konkreten Interventionsmaßnahmen ggf. Beraterteams zusammen, leitet »Begleitmaßnahmen« ein (z. B. Einbindung in Vereine, Kontakte zu Moscheegemeinden etc.), bindet muslimische Verbände oder Vereine mit ein und aktiviert kommunale Ansprechpartner. Diese stehen vor allem in den Städten zur Verfügung, um den Beratern vor Ort Kontakte z. B. zum Jobcenter, zu Vereinen oder zum Jugendamt zu vermitteln. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stehen in engem Dialog mit anderen Präventions- und Interventionsakteuren in Hessen, bspw. im Rahmen einer Konzeptwerkstatt, die vom Demokratiezentrum an der Universität Marburg durchgeführt wird. Die Konzeptwerkstatt führt die relevanten Akteure – etwa die Bildungsstätte Anne Frank oder das Amt für multikulturelle Angelegenheiten der Stadt Frankfurt am Main – mit dem Ziel der Vernetzung und der Optimierung der Maßnahmen zusammen. Das Konzept und die Ausrichtung der Beratungsstelle Hessen sind nicht »in Stein gemeißelt«, sondern passen sich neuen Entwicklungen an. So wurden 2016 bspw. vermehrt Mitarbeiterinnen eingestellt, wodurch auf die gestiegene Zahl weiblicher Gefährdeter reagiert wurde. Außerdem wurde seitens VPN auf die größer werdende Bedeutung des Internets mit einem Projekt reagiert, das Jugendliche im Internet zu erreichen versucht. Die Beratungsstelle wird im Rahmen des Landesprogramms »Hessen – aktiv für Demokratie und gegen Extremismus« im Jahr 2016 mit 1,2 Millionen € gefördert. Fachbeirat Dieses Gremium begleitet, berät und unterstützt die Beratungsstelle in ihrer strategischen Ausrichtung und Arbeit. Der Fachbeirat setzt sich u. a. aus Ver-

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treterinnen und Vertretern des Hessischen Ministeriums des Innern und für Sport, des Hessischen Ministeriums der Justiz, des Hessischen Kultusministeriums, des Hessischen Ministeriums für Soziales und Integration, des Hessischen Städte- und Gemeindebundes, des Hessischen Städtetages, des Hessischen Landkreistages, der Landeszentrale für politische Bildung, des Landesamts für Verfassungsschutz Hessen, des Hessischen Landeskriminalamts, der Sport­ jugend Hessen, dem Landesjugendring, der Goethe-Universität Frankfurt am Main, der Justus-Liebig-Universität Gießen sowie Vertreterinnen und Vertretern der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, dem Kommissariat der Katholischen Bischöfe Hessen, dem Landesverband der Jüdischen Gemeinden in Hessen, der Türkischen Gemeinde Hessen, dem DITIB Landesverband Hessen, der Arbeitsgemeinschaft der türkischen Moscheevereine in Frankfurt am Main und weiteren Verbänden und Organisationen zusammen. Er trägt somit dem Umstand Rechnung, dass Extremismusprävention eine gesamtgesellschaftliche Aufgabenstellung darstellt. Bundesweite Hotline Ausstiegswillige Personen, aber auch Angehörige oder Personen aus dem sozialen Umfeld, können über eine Hotline (069/26918597), die beim BAMF angesiedelt ist, ersten Kontakt aufnehmen und von dort an die Beratungsstelle Hessen vermittelt werden. Im BAMF arbeiten seit Jahren sehr erfahrene Expertinnen und Experten, die Anfragen (Beratungsfälle) entsprechend weiterleiten. In Fällen außerhalb Hessens wird seitens der Beratungsstelle des BAMF an geeignete Partner vor Ort vermittelt. Angehörige in Krisensituationen können sich unmittelbar an diese Hotline wenden.

Einbettung in die Präventionslandschaft Im Rahmen des Landesprogramms »Hessen – aktiv für Demokratie und gegen Extremismus« werden neben dem Hessischen Präventionsnetzwerk gegen Salafismus zahlreiche weitere Maßnahmen zur Stärkung der Demokratiefähigkeit und gegen Extremismus gefördert bzw. ko-finanziert. Eine Auswahl wird im Folgenden kurz vorgestellt.7

7 Weitere Informationen sind auf der Internetseite des Hessischen Informations- und Kompetenzzentrums gegen Extremismus abrufbar, http://www.hessen-gegen-extremismus.de.

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Partnerschaften für Demokratie Gefördert aus dem Bundesprogramm »Demokratie leben!« und ko-finanziert aus dem hessischen Landesprogramm kommen die Verantwortlichen aus der kommunalen Politik und Verwaltung sowie Aktive aus der Zivilgesellschaft, z. B. aus Vereinen und Verbänden, in »Partnerschaften für Demokratie (PfD)« zusammen. Anhand der lokalen Gegebenheiten und Problemlagen entwickeln sie gemeinsam eine auf die konkrete Situation vor Ort abgestimmte Strategie und führen Projekte und Maßnahmen durch. Derzeit werden hessenweit 23 PfD gefördert.

Präventionsarbeit im Kontext Flüchtlinge Im Rahmen des Landesprogramms »Extremismusprävention Flüchtlinge« des HKE (seit 2015) werden für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Erstaufnahmeeinrichtungen inkl. Ehrenamtlichen und Wachdienst der Erstaufnahmeeinrichtungen Informationsveranstaltungen zu den Themen Salafismus, »Islamischer Staat«, Radikalisierungsprozesse, Erkennbarkeit von Radikalisierung, Gegenmaßnahmen, Beratungs- und Hilfsangebote, Informationen zu regionalen Vorkommnissen etc. angeboten (durch das LfV Hessen, auch der Staatsschutz des jeweils zuständigen Polizeipräsidiums ist vertreten). Zudem werden für die dort untergebrachten Flüchtlinge Informationsveranstaltungen in den Herkunftssprachen angeboten. Dabei wird gemeinsam mit Fachkräften von hessischen Bildungsstätten u. a. auf die Rolle der Polizei im demokratischen Rechtsstaat, Normen und Werte sowie die Gefahr durch Islamismus/Salafismus eingegangen.

Medienpaket zur Extremismusprävention Das Projekt wurde seitens des Hessischen Innenministeriums in Kooperation mit dem Hessischen Kultusministerium und der Landesanstalt für privaten Rundfunk und neue Medien unter Einbeziehung zahlreicher Experten aus den Bereichen Polizei, Verfassungsschutz, zivilgesellschaftliche und staatliche Prävention, Islamwissenschaft, Medienkompetenz und politische Bildung verwirklicht. Der Film »Radikal« inkl. des dazugehörigen Arbeits- und Begleitmaterials ist für die Präventionsarbeit mit jungen Menschen (etwa ab 14 Jahren) geeignet und spricht sie auf Augenhöhe an. Er zeichnet Radikalisierungsprozesse in den

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Phänomenbereichen »Linksextremismus«, »Rechtsextremismus« und »Islamismus/Salafismus« nach und bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte, die zu einem besseren Verständnis von Radikalisierungsprozessen beitragen sowie die eigenständige Meinungsbildung und Argumentationsfähigkeit fördern.

Förderung von Modellprojekten Aus dem Bundesprogramm »Demokratie leben!« und dem Landesprogramm »Hessen – aktiv für Demokratie und gegen Extremismus« werden mehrere Modellprojekte in Hessen gefördert.8 Eines dieser Projekte trägt den Titel: »Die Zukunft miteinander gestalten: Hessische Muslime für Demokratie und Vielfalt! Prävention. Partizipation. Teilhabe«. Hauptinhalt des Projekts der GoetheUniversität Frankfurt am Main ist es, in muslimischen Communities die theoretische und praktische Vereinbarkeit von Islam, Menschenrechten, Vielfalt und Demokratie erfahrbar zu machen und peerbasierte Alternativen zu menschenfeindlichen und gewaltbereiten Narrativen und Netzwerken zu bieten.

Fazit »Terrorismus ist wie Atomkraft. Das Restrisiko ist nicht kontrollierbar.« – Mit diesem Vergleich verdeutlicht Thomas Mücke, Geschäftsführer von VPN und Projektleiter der Beratungsstelle Hessen in einem Gespräch mit der Zeitung Der Tagesspiegel9 die Brisanz von Deradikalisierungsarbeit.10 Auch aus diesem Grunde ist eine gute Zusammenarbeit zwischen Staat und Zivilgesellschaft – unter Wahrung der Datenschutzbestimmungen und der Verschwiegenheitspflichten sowie unter gegenseitiger Akzeptanz der unterschiedlichen Rollen – von wesentlicher Bedeutung. Aus Sicht der hessischen Sicherheitsbehörden ist die Arbeitsteilung zwischen staatlichen Institutionen und zivilgesellschaftlichen Akteuren eine für alle Beteiligten vorteilhafte Situation, insbesondere auch für die Betroffenen, seien es radikalisierungsgefährdete Jugendliche persönlich, ihre Eltern, ihre Lehrerinnen und Lehrer oder andere. Für viele Problemlagen bietet die hessische Präventions- und Interventionslandschaft geeignete Hilfestellungen an. Die   8 Zu den Projektbeschreibungen siehe http:// www.demokratie-leben.de.   9 Der Tagesspiegel vom 06.05.2016: »Extrem dicht dran«. 10 Vgl. weiterführend Mücke 2016.

Von Schülerworkshops bis Ausstiegsbegleitung

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bisherigen Erfahrungen zeigen, dass diese Hilfestellungen seitens der Betroffenen angefragt und angenommen werden. Eine Evaluation der Maßnahmen wird durchgeführt. Dass sich die Akteure innerhalb der Zivilgesellschaft, aber auch in der Partnerschaft zwischen staatlichen und zivilgesellschaftlichen Stellen gelegentlich aneinander reiben und Meinungsverschiedenheiten offen diskutieren, ist dem Ziel nicht abträglich, für die Menschen in Hessen eine sinnvolle, zielführende und effektive Unterstützung anzubieten, sodass die hier lebenden Jugendlichen nicht durch extremistische Propaganda in ideologische Sackgassen oder in einen fatalistischen Kampf für eine destruktive Ideologie geraten. Die salafistische Propaganda, auch und gerade im Internet, erweist sich als sehr anpassungsfähig und innovativ. Sie zwingt sowohl die Zivilgesellschaft als auch die staatlichen Stellen, entsprechende Präventions- und Interventionsmaßnahmen kontinuierlich weiterzuentwickeln. In einigen Bundesländern gibt es, ebenso wie in Hessen, bereits ausgereifte ressortübergreifende Ansätze für landesweite Netzwerke sowie Ideen, wie Alternativen zu den salafistischen Angeboten aussehen und umgesetzt werden könnten.11 Auch eine intensivere bundesweite Vernetzung sowohl der staatlichen wie auch der zivilgesellschaftlichen Akteure nimmt zunehmend Gestalt an. Dass dieser Weg dennoch auch künftig ein schwerer sein wird und die Lösung des Problems nur gelingen kann, wenn Jugendlichen subjektiv sinnvolle Alternativen zum Salafismus zur Verfügung stehen bzw. sie sich diese erarbeiten können, versteht sich von selbst.

Gregor Dietz, Leiter des Hessischen Informations- und Kompetenzzentrums gegen Extremismus im Hessischen Ministerium des Innern und für Sport. Dr. Klaus Bott, stellv. Leiter des Hessischen Informations- und Kompetenzzen­ trums gegen Extremismus im Hessischen Ministerium des Innern und für Sport.

11 Vgl. weiterführend Danschke, Claudia: »Da hab ich etwas gesehen, was mir einen Sinn gibt« – Was macht Salafismus attraktiv und wie kann man diesem entgegenwirken?, in: Said, Behman T. und Fouad, Hazim (Hg.): Salafismus. Auf der Suche nach dem wahren Islam, Freiburg im Breisgau 2014, S. 501 f.

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Literatur Bundeskriminalamt, Bundesamt für Verfassungsschutz und Hessisches Informations- und Kompetenzzentrum gegen Extremismus: Analyse der den deutschen Sicherheitsbehörden vorliegenden Informationen über die Radikalisierungshintergründe und -verläufe der Personen, die aus islamistischer Motivation aus Deutschland in Richtung Syrien ausgereist sind, 2014: http://t1p.de/x0fr (Zugriff am 08.11.2016). Bundeskriminalamt, Bundesamt für Verfassungsschutz und Hessisches Informations- und Kompetenzzentrum gegen Extremismus: Analyse der Radikalisierungshintergründe und -verläufe der Personen, die aus islamistischer Motivation aus Deutschland in Richtung Syrien oder Irak ausgereist sind. Fortschreibung 2015: http://t1p.de/rrb2 (Zugriff am 08.11.2016). Danschke, Claudia: »Da hab ich etwas gesehen, was mir einen Sinn gibt« – Was macht Salafismus attraktiv und wie kann man diesem entgegenwirken?, in: Said, Behman T. und Fouad, Hazim (Hg.): Salafismus. Auf der Suche nach dem wahren Islam, Freiburg im Breisgau: Herder 2014. Der Tagesspiegel: Extrem dicht dran, Ausgabe vom 06.05.2016. Farschid, Olaf: Salafismus als politische Idee, in: Said, Behman T. und Fouad, Hazim (Hg.): Salafismus. Auf der Suche nach dem wahren Islam, Freiburg im Breisgau: Herder 2014. Hessisches Ministerium des Innern und für Sport (Hg.): Verfassungsschutz in Hessen – Bericht 2014, Wiesbaden 2015, S. 79. Hessisches Informations- und Kompetenzentrum gegen Extremismus (Hg.): Radikalisierungshintergründe und -verläufe von 23 Syrien-Ausreisenden aus dem Rhein-Main-Gebiet, Wiesbaden 2013: http://t1p.de/57ph (Zugriff am 08.11.2016). Mücke, Thomas: Zum Hass verführt – Wie der Salafismus unsere Kinder bedroht und was wir dagegen tun können, Frankfurt am Main: Eichborn 2016.

Radikalisierung junger Menschen: Erkennen, verstehen, handeln! Frank Buchheit

Was treibt eine 15-Jährige an, mit dem Ziel, sich dem sogenannten »Islamischen Staat« anzuschließen, in die Türkei auszureisen und nach der durch die Mutter erzwungenen Rückkehr mit einem Messer auf einen Polizisten einzustechen, der das Attentat nur knapp überlebt?1 Nach dem Bericht in den Medien bleibt man fassungslos, da das Handeln der jungen Frau im Gegensatz zu ziemlich allen gesellschaftlichen Regeln und deren Grundlagen steht und schnell als »böse« bewertet wird. Gleichzeitig ergibt sich eine gewisse Hilflosigkeit: Man wünscht sich, dass etwas identifizierbar wäre, das uns das Nicht-Nachvollziehbare erklären könnte. An welcher Stelle des Prozesses der Radikalisierung hätte man (als Eltern, Schule, Gesellschaft) vielleicht noch intervenieren können? Seit einigen Jahren sind ähnliche Geschichten von Radikalisierungen keine Einzelfälle mehr. Immer wieder fühlen sich junge Menschen durch eine extremistische Auslegung des Islam2 angezogen. Es stellt sich die Frage, wie Pädagoginnen und Pädagogen sinnvoll agieren können, um das Risiko einer entsprechenden Versuchung zu minimieren und ihren Beitrag zu leisten, Radikalisierungen zu verhindern und ihnen entgegenzuwirken.

Radikalisierung und »Islamismus« »Radikalisierung« ist ein Sozialisationsprozess in ein radikales Ideen- und Wertesystem, das vom gesellschaftlichen Konsens abweicht. Eine radikale Weltanschauung ergibt sich, wenn einerseits eine andere Wahrheit gegen die 1 2

Vgl. Diehl, Gude und Schmidt: Radikalisierung im Stillen, S. 48 ff. Vgl. zur Differenzierung den ersten Teil des Bandes. Für diesen Beitrag werden die Begriffe Islamismus/Salafismus als moderne, extremistische Phänomene weitgehend synonym verwandt.

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herrschende Ordnung gestellt wird und andererseits die kompromisslose Veränderung an den Wurzeln einer gesellschaftlichen Ordnung angestrebt wird.3 Die Spannung zwischen dem verfolgten Ideal und der wahrgenommenen Realität kann Radikalisierte dazu bringen, das eigene Leben zur Erreichung des Ziels einzusetzen – in dem Sinne, sich für eine Sache aufzuopfern oder auch unter Zuhilfenahme von Gewalt als Mittel zur Durchsetzung des Ziels: »Radikalismus bedeutet Vernichtung der gegebenen Wirklichkeit zuliebe einer Idee, die […] unendlich ist.«4 Die Beschreibung des Prozesses kann kaum losgelöst vom Ziel behandelt werden, was gesellschaftliche Debatten berührt, die hier nicht ausgeführt werden sollen (bspw. wie sich Extremismus definiert). Aktuell steht ein religiös motivierter, auf eine buchstabengetreue Auslegung des Islam5 gerichteter Extre­ mismus im Fokus der Aufmerksamkeit (und dieses Beitrags), wobei dabei manchmal auch andere für junge Menschen attraktive »Extremismen« erwähnt werden, bei denen sich ähnliche Prozesse feststellen lassen.6 Im gültigen gesellschaftlichen Konsens, der Grundordnung Deutschlands, sind unter dem Stichwort »Radikalisierung« insbesondere Bewegungen angesprochen, die sich von den Idealen der Freiheitlichkeit, der Menschenrechte und der Demokratie abwenden.7 Radikalisierungsfaktoren Mit der Erklärung der Radikalisierung als »Sozialisationsprozess« sind einerseits Sozialisationsinstanzen angesprochen, also Familie, Gleichaltrigengruppe, Schule, soziale Bezüge zu gesellschaftlichen Gruppen etc., die einen (positiven wie negativen) Beitrag leisten können. Andererseits spielen auch gesellschaftliche Rahmenbedingungen, einschlägige Gelegenheitsstrukturen und die individuelle Disposition eine Rolle, in welche Richtung sich die Sozialisation entwickelt. Es ergibt sich ein komplexes Gefüge möglicher Einflussfaktoren, die (in noch nicht verlässlich geklärter Weise) zusammenspielen. Für die Hinwendung zu radikalisierten und gewaltbereiten Weltanschauungen scheinen insbesondere Diskriminierungs- und Frustrationserlebnisse von 3 4 5 6 7

Vgl. die Darstellung von Schaub, die Radikalisierung als eine unbedingte Selbstermächtigung einer Person oder Gruppe ansieht, die eigene Existenz an eine Wahrheit zu binden. Vgl. Plessner: Grenzen der Gemeinschaft, S. 17. Zur notwendigen Unterscheidung vgl. Halm: Der Islam bzw. Seidensticker: Islamismus. Vgl. z. B. Deutsches Jugendinstitut: Jung und radikal. Die Darstellung könnte vertieft werden (gibt es auch einen radikalen Humanismus?) was hier ausgeklammert bleibt.

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Bedeutung, die durch die radikale Ideologie umgedeutet werden. Wer sich vorher als bedeutungslos wahrnahm, bekommt über die Zugehörigkeit zur Gruppe eine Alternative der Homogenität und Geborgenheit präsentiert, die junge Menschen8 trotz strenger Werte und Normen entlastet. Die Probleme des Alltags (Konflikte im Elternhaus, Kriminalität, Drogen etc.), aber auch die Suche nach Orientierung scheinen gelöst. Auch wenn man zuvor nur wenig zu bieten, respektive zu verlieren hatte, ist man im Kreis der »Brüder und Schwestern« willkommen – solange man sich an die zunehmend rigiden Regeln hält. Man ist nicht mehr »der Loser«, sondern »kampfbereiter Löwe«,9 was als heroische Selbststilisierung eine schmeichelnde Darstellung und Verortung bietet. In einer komplexen Welt werden hier schwarz-weiß gefärbte klare Botschaften gesandt und Wertungen vertreten (erlaubt vs. nicht-erlaubt), die Sicherheit, Halt und Sinn versprechen. Zudem wohnt der auch nach außen getragenen neuen Orientierung ein maximales Provokationspotenzial gegenüber dem Umfeld inne.10 Nach der Gewöhnung und Einübung einiger in islamistischen Kreisen üblicher »Narrative«11 gewinnt der sich Radikalisierende die Fähigkeit, zu immer mehr Fragen des Alltags eine religiös/politisch fundierte Meinung wiederzugeben – oder diesen Eindruck zumindest durch eingestreute arabische religiöse Begriffe und Formeln zu vermitteln. Die Lücken in der geschlossenen Weltanschauung lassen sich in (realen oder virtuellen) Kontexten schließen, in denen diese Ausrichtung bestätigt wird und andere Kontexte delegitimiert werden, da sie das noch wackelige Konstrukt gefährden könnten (bzw. es wird dort gelernt, wie man sich vor den »Ungläubigen« verstellt12). In diesen Gruppen wird die »authentische Gemeinschaft« emotional spürbar, über die interne Kommunikation werden Argumente aufge  8 Der Begriff »junge Menschen« als »Unter-27-Jährige«bezieht sich auf den § 7 des Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII, vgl. http://bit.ly/2956KdZ) und umfasst auch die Wege zur individuellen, gesellschaftlichen und gemeinschaftlichen Integration, die meist bis in die Phase der Postadoleszenz reicht.   9 Für einen spezifischeren Blick auf weibliche Rollenmodelle vgl. Saltman und Smith: ›Till Martyrdom Do Us Part‹. 10 Eine ausführlichere Zusammenfassung von Motivationen und Karrieren leistet der HSFK Report 3/2016: Wege in die Gewalt. 11 Mit »Narrativen« sind Argumentationsbausteine (islamistischer/salafistischer) Ideologie gemeint, die in unterschiedlichen Kontexten zu einer scheinbar stichhaltigen Argumentation kombiniert werden können und den Anschein einer theologischen Ableitung ergeben. Vgl. hierzu allgemein HSFK Report 4/2016: Dschihadistische Rechtfertigungsnarrative (…) bzw. konkreter: Berlin: Zerrbilder von Islam und Demokratie. 12 Das Prinzip der »Taqiya« bezeichnet v. a. im schiitischen, aber auch in einigen Ausprägungen des sunnitischen Islam die Option, in Gefahrensituationen seinen Glauben zu verheimlichen. Zur »Enttarnung« vgl. die Broschüren des Verfassungsschutz NRW bzw. BW.

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nommen, wobei einseitige »Echoräume«13 gewünschte Auffassungen verstärken und abweichende sanktionieren. In »Schweigespiralen«14 werden Argumente, die der eigenen Aufwertung und der Abwertung anderer dienen, verbreitet und verdichten sich zu Stereotypen – bis hin zu Hass, Gewaltlegitimation und schließlich auch Gewaltbereitschaft. Die Darstellung von Einflüssen mit ausschließlicher Konzentration auf Risikofaktoren bleibt aber einseitig, wenn nicht ebenso Schutzfaktoren angesprochen werden, die durch Erziehung und Prävention entwickelt werden können, sodass sich eine Widerstandsfähigkeit (Resilienz) gegenüber islamistischen Eindeutigkeitsangeboten ergibt. Die (bislang noch zu wenig erforschten) Resilienzfaktoren verhindern, dass all diejenigen, bei denen sich Risikofaktoren häufen, sich radikalen Gruppierungen anschließen, was erfreulicherweise meistens der Fall ist (die Prognose in Radikalisierungsfällen aber zusätzlich unsicher macht). Radikalisierungsmodelle Zusätzlich zu widerstreitenden Risiko- und Schutzfaktoren erschweren dynamische Entwicklungen, wie lange Moratorien bzw. sprunghafte Schübe, die Vorhersehbarkeit einer individuellen Radikalisierung. Aber wie sollte man relevante bzw. gefährdete Personen erkennen, wenn man kein Modell der Radikalisierung vor Augen hat, anhand dessen man Einzelfälle im Vergleich mit anderen einschätzen kann? Während weiterhin einige Forscher bestreiten, dass es so etwas wie ein sinnvolles Modell der Radikalisierung überhaupt gibt, da die Fälle zu unterschiedlich seien und sich über eine Vereinheitlichung nur blinde Flecke ergäben, sind mittlerweile eine Vielzahl von Ansätzen veröffentlicht. Das bekannteste dürfte das Modell des New York Police Department sein, das vier Stufen (Pre-Radicalization, Self-Identification, Indoctrination, Jihadization) beschreibt.15 Köh13 Mit Echoräumen ist eine Strategie der Auflösung des Spannungszustandes (Dissonanz) angesichts zur eigenen Position widersprüchlicher Kognitionen (wie z. B. Gedanken und Einstellungen) durch die selektive Suche nach Bestätigung beschrieben. Die Tendenz ist in die Algorithmen Sozialer Medien eingewoben, die darauf abzielen, Kontakte zu Gleichdenkenden herzustellen. So können diese zu virtuellen Echoräumen auch radikaler Auffassungen werden. 14 Der Begriff der Schweigespirale beschreibt das Phänomen, dass in moralisch aufgeladenen (öffentlichen) Debatten sich Vertreter der Mindermeinung immer seltener äußern, um sich nicht noch weiter zu isolieren. Hierdurch setzt sich eine herrschende Meinung durch, die legitime und nicht-legitime Auffassungen definieren kann. 15 Vgl. Silber und Bhatt: Radicalization in the West: The Homegrown Threat.

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ler stellte bspw. unlängst16 einen Überblick über mehrere Modelle17 zusammen, bevor er seinen Ansatz der Radikalisierung als Depluralisierung andeutet.18 Einen anderen Ansatz verfolgen Frindte et al.,19 die vorhersagende (Prädiktoren), vermittelnde Bedingungen (Mediatoren) und Wirkungen in einem Faktorenmodell abbilden: Gruppenbezogene Diskriminierung

Negative ­Emotionen gegenüber dem »Westen«

Respekt vor familiären Sitten und Gebräuchen Dominante und ausschließliche Identifikation mit der Gemeinschaft der Muslime

Islamistischfundamentalistische Überzeugungen

Akzeptanz ideologisch fundierter Gruppengewalt

Religiosität

Vorurteile gegenüber dem »Westen«

Autoritäre Überzeugungen

Vorurteile gegenüber den »Deutschen«

Grafik 1: Radikalisierungspfade nach Frindte et al.20

16 Vgl. Köhler: Die Dynamik der gewalttätigen Radikalisierung. 17 Daneben werden Sagemanns Vier-Stufen-Modell, Taarnbys Acht-Stufen-Rekrutierungsmodell, Gills Pfadmodell, Wiktorowskis »al-Muhajiroun«-Modell, Moghaddams Treppenmodell sowie McCauleys und Moskalenkos 12 Mechanismen der politischen Radikalisierung vorgestellt. 18 Er beschreibt Radikalisierung als den »Prozess der individuellen Depluralisierung von politischen Konzepten und Werten (z. B. Gerechtigkeit, Freiheit, Ehre, Gewalt, Demokratie, usw.)«, wobei dies auf der Ungleichwertigkeit von Gruppenmitgliedern und anderen basiere und inkompatibel zu der sie umgebenden politischen Kultur sei. Dabei konzentriere sich die individuelle Ausrichtung immer auf eine Problemdefinition, der eine angebotene Lösung mit einer daraus resultierenden Zukunftsvision gegenüber stehe. Bis zu einem spezifischen Punkt zeige der Betroffene Verhaltens- und Erscheinungsänderungen, insbesondere aber wahrnehmbare Unruheerscheinungen. Sobald die ideologisch fundierte Dringlichkeit der Problemauflösung alternative Konzepte ausschließt und damit auch Gewalt legitimiert, ändere sich dies zugunsten einer ruhigeren Vorbereitungs- und Planungsphase. 19 Vgl. HSFK-Report 3/2016: Wege in die Gewalt. 20 Vgl. ebd., S. 16. Vereinfachte Darstellung der Befunde. Gestrichelte Pfeile verweisen auf geringere Signifikanzniveaus.

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Ein abschließendes Modell zur Abbildung von Radikalisierungsprozessen existiert derzeit nicht. Zu den angedeuteten sollten aber auf jeden Fall Differenzierungen hinzugefügt werden: Es ist offensichtlich, dass sich für Frauen und Männer unterschiedliche Pfade ergeben bzw. Faktoren unterschiedlich akzentuiert werden sollten. Ebenso erscheint deutlich, dass unterschiedliche Migrationsgeschichten und Zugänge zum Islam (z. B. Übertritt: Konversion vs. Intensivierung kaum praktizierter familiärer Zugehörigkeit: Reversion) unterschiedliche Wege ergeben. Ein durch diese Modelle nahegelegter Automatismus bzw. eine stetige Progression21 bis zu einem definierten Endpunkt erscheint eher die Ausnahme als die Regel. Vieles spricht dafür, dass es (wie in rechtsradikal motivierten Radikalisierungsprozessen) Phasen der Affinisierung, Konsolidierung, Fundamentalisierung, aber auch der Distanzierung gibt.22 Sozialisationsprozesse dürften in den wenigsten Fällen geradlinig verlaufen; Versuche, Rückkopplungen von Bezugspersonen23, Verzögerungen, Beschleunigungen und Abbrüche sind die Regel. Für die praktische Orientierung bieten sich heuristische Modelle entlang angesprochener Faktoren an – die einen gewissen (ggf. unpräzisen) Überblick gewähren, aber nicht mit Sicherheit individuelle Radikalisierungsprozesse prognostizieren können. Radikalisierungsprozesse: Zahlen, Daten, Fakten Trotz eines anzunehmenden großen Dunkelfelds lässt sich das Phänomen mit einigen Daten umreißen:24 Nach staatlichen Quellen sind bis Ende Juni 2016 insgesamt 784 Personen mit einer islamistischen Motivation nach Syrien bzw. in den Irak ausgereist. Das Alter zu Beginn der Radikalisierung liegt zwischen 13 und 62 Jahren (Mittelwert: 22 Jahre), nahezu jede zweite Person (46 %) reiste innerhalb des ersten Jahres nach Radikalisierungsbeginn aus. Das Durchschnittsalter bei der Ausreise hat abgenommen (23,5 Jahre) und es befindet sich eine steigende Anzahl von Minderjährigen (16 %) und Frauen (27 %) unter den Ausgereisten. Etwa die Hälfte der Ausgereisten stammt aus nur 13 Städten, die mehr als zehn Ausreisefälle aufwiesen. 61 % der Ausgereisten wurden in Deutschland geboren, 62 % haben einen deutschen Pass. Etwa zwei Drittel der Ausgereisten war vorher bereits polizeibekannt. Zum Stichtag befanden sich 37 % der Ausgereisten noch im Kriegsgebiet, 35 % hielten sich wieder in Deutschland auf und 16 % wurden als (vermutlich) verstorben registriert. Der Verfassungs21 22 23 24

Vgl. Neumann: Radikalisierung, Deradikalisierung und Extremismus, S. 3 ff. Vgl. Möller und Schuhmacher: Rechte Glatzen. Vgl. hierzu. HSFK-Report 3/2016: Wege in die Gewalt, S. 25 ff. Vgl. BKA, BfV und HKE: Analyse der Radikalisierungshintergründe und -verläufe (…).

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schutzbericht erfasst den Zeitraum bis Ende 2015 und berichtet von mehr als 780 Ausgereisten.25 Während 2012 bis 2014 die Ausreise eine zählbare Größe zur Erfassung von Radikalisierungsprozessen darstellte, werden seitdem tendenziell zurückgehende Zahlen berichtet – was jedoch nichts über Radikalisierungen in Deutschland mit dem Ziel, sich hier terroristisch zu betätigen aussagt. Neben dem angedeuteten Dunkelfeld sollten weitere Unschärfen und die Relationen der Zahlen bedacht werden: Die Daten entstammen einer sicherheitsbehördlichen Statistik, die auf Definitionen der Polizei und des Verfassungsschutzes aufbaut. Nachdem das Bekenntnis zum Islam in Deutschland nicht durchgängig erfasst wird, kann nur geschätzt werden, dass ca. 4 bis 5 Millionen Muslime in Deutschland leben. Im aktuellen Verfassungsschutzbericht (2015) wird ein salafistisches Personenspektrum von ca. 8300 Personen angegeben (zzgl. mindestens weiteren 5770 Personen, die beobachteten Organisationen nahe stehen). Bringt man die Zahlen in ein Verhältnis, wird deutlich, dass nur ein Bruchteil der in Deutschland lebenden Muslime mit extremistischen Organisationen sympathisiert und nur ein Teil der hierunter einschlägig Registrierten ausgereist ist. Die Darstellung würde noch etwas komplexer, wenn man hinterfragt, wie sich »Salafismus« definiert.26 Man könnte unterscheiden zwischen: ȤȤ (nicht verfassungsschutz-beobachteten) Puristen, die ihren fundamentalen Glauben gewaltfrei leben (Quietisten), ȤȤ jenen, die ihre Weltsicht über andere erheben und alle anderen Muslime zu Ungläubigen erklären (Takfir-Salafisten27), ȤȤ gewaltablehnenden politisch Aktiven (Aktivisten/Politicos) und ȤȤ gewaltbejahenden Salafisten (Revolutionäre/»Dschihadisten«28). Die Bereiche sind allerdings weder analytisch noch in Wirklichkeit trennscharf, insbesondere, wenn man nationale und internationale Verknüpfungen beachtet.29 25 Vgl. BMI: Verfassungsschutzbericht 2015, S. 161. 26 Vgl. hierzu HSFK-Report 1/2016: Herausforderungen der Forschung zu Salafismus. 27 Der Begriff »Takfir« bezeichnet eine Praxis in Teilen islamischer Theologie und Rechtsprechung, eine Person oder Gruppe anderer Muslime des Abfalls vom Glauben (Apostasie) zu bezichtigen (vgl. hierzu Rohe: Das islamische Recht). Als »Takfirismus« wird eine ideologische Komponente des Wahabismus und Salafismus bezeichnet (vgl. hierzu Seidensticker: ­Islamismus). 28 Der Begriff »Dschihad« bezeichnet ein religiöses Konzept im Islam, der Anstrengung auf dem Wege Gottes. Die Auslegungen liegen weit auseinander: Von der Pflicht zum bewaffneten Kampf gegen Ungläubige bis zur Überwindung der inneren Widerstände bei der Befolgung religiöser Gebote (regelmäßige Gebete, Fasten etc.). Vgl. hierzu Seidensticker, ebd., S. 104 ff.). 29 Vgl. hierzu HSFK-Report 5/2016: »Transnationale Aspekte (…)«.

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Die auf den Islamismus bezogene Radikalisierung ist (sozialwissenschaftlich) noch ein eher junges Phänomen.30 Aber auch mit Fortschritt der Forschung lassen sich manche Bestimmungsprobleme wohl nicht lösen: Wo genau endet beim Einzelnen das z. B. humanitär motivierte Engagement für die eigene ethnische oder religiöse Gruppe? Wo genau beginnen »radikale« Gedanken? Ab wann sollte man von Fundamentalismus oder Extremismus sprechen? Zumal es sich um meist unstete, ergebnisoffene und dynamische Prozesse handelt. Im pädagogischen Bereich steht die Frage im Vordergrund, wie über Erziehung und Bildung einer Radikalisierung entgegengewirkt werden kann; wie bei sich abzeichnenden Gefährdungen vorgebeugt und bei bereits auftretenden problematischen Entwicklungen interveniert, d. h. Distanzierung und Repluralisierung gefördert werden kann.

Radikalisierung als Scheinlösung von Entwicklungsaufgaben Viele der bislang genannten Begriffe wie Radikalismus, Extremismus, Islamismus/Salafismus etc. sind für die analytische Betrachtung zweckmäßig, für die pädagogische Befassung mit Entwicklungs- und Enkulturationsprozessen, die per se kontingent (es könnte auch anders sein), also noch ergebnisoffen sind, zu statisch. Diese Begriffe sind häufig uneindeutig, in ihrer Anwendung auf Einzelne womöglich stigmatisierend und damit pädagogische Anschlussoptionen reduzierend. Der Alltag der allermeisten Pädagoginnen und Pädagogen dürfte sich diesseits der Grenze der eindeutigen Zuordnung abspielen, nach der dann auch andere, bspw. Sicherheitsbehörden, zuständig bzw. zu involvieren sind. Aus pädagogischer Sicht spricht einiges dafür, bei den Bedürfnissen junger Menschen anzusetzen, die »Angebotsstruktur« der »Gegenseite« zu untersuchen, um dann Angebote zu entwickeln, die als »funktionale Äquivalente« für junge Menschen zweckmäßig sind, aber weniger »Nebenwirkungen« haben als fundamentalistische Verlockungen. Analog zu Hentigs Diktum »die Dinge klären,

30 In Deutschland wurde beispielsweise vor 2001 meist über die Kriminalität von Ausländern debattiert – ab dem 11.09. wurde die religiöse Dimension in den Vordergrund gestellt. Die neuere Zeitrechnung des »Islamismus« (vgl. hierzu Seidensticker, Islamismus, S. 15 ff.) beginnt im Jahre 1979 (Iranische Revolution, russische Besetzung Afghanistans), wichtige Vordenker lebten Anfang des 20., die Grundlagen (z. B. des »Wahabismus«) stammen aus dem 18./19. Jahrhundert.

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die Menschen stärken«, ist politische und religiöse Bildung31 vonnöten, aber genauso noch weiter reichende Ansätze. Bedürfnisse junger Menschen In der Entwicklungspsychologie wird die Lebensphase der Adoleszenz mit der Lösung von spezifischen Entwicklungsaufgaben beschrieben. Junge Menschen müssen dabei Entscheidungen für das weitere Leben treffen, was mit dem Risiko von Fehlern oder des Scheiterns verbunden ist. Radikale Lösungen haben hier eine gewisse Attraktivität, da sie mehrere Fragen auf einmal lösen und damit entlasten. Junge Menschen sind, um die WWGGG-Merkformel32 zu zitieren, dabei auf der Suche nach Wissen (auch was Fragen des Glaubens angeht). Über »Scheich Google« geraten sie dabei aber häufig auf salafistische Webseiten und Darstellungen. Sie haben ein Bedürfnis nach Wahrheit, die dem Leben Orientierung und damit auch Sinn gibt – insbesondere, wenn man über eine Migrationsgeschichte verfügt und einer Minderheitenreligion angehört, keine leichte Aufgabe. Ggf. schwer nachvollziehbar ist die Suche nach Gehorsamkeitsbeziehungen, bei denen Autoritäten bestimmen, was man tun soll. Der Verzicht auf den Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen (Kant), entlastet aber vor den An-/Überforderungen einer komplexen Welt. Vertrauteres Terrain dürfte der Wunsch nach Gemeinschaft sein, der einerseits Anerkennung der eigenen Person und Bedeutung für andere verspricht, aber auch zur Abgrenzung von anderen funktional sein kann. Aktuell dürfte kaum eine Jugendkultur mehr (negative – aber immerhin) Aufmerksamkeit erwecken als ein jugendspezifischer Salafismus! Schließlich ist es ein Bedürfnis, sich für eine gute Sache, für Gerechtigkeit einzubringen. Der altruistische Einsatz für die eigene Gruppe, die als benachteiligt und verfolgt wahrgenommen wird, ist dabei allerdings anschlussfähig an islamistische Narrative – bis hin zum (humanitären) Einsatz für das »Kalifat«. Angebote des »Islamismus« Demgegenüber steht das (laut der Merkformel AAA) Angebot islamistischer/ salafistischer Kreise, mit einer Rückbesinnung auf Autoritäten – den »Stars der Szene«, die in populistischer, charismatischer Manier auf Tournee gehen und 31 Ceylan verweist in »Jugendarbeit in Moscheen« auf die Notwendigkeit religiöse Bildung mit und nicht über Muslime zu betreiben und plädiert für Kooperationen mit Muslimen. 32 Vgl. Müller, Nordbruch und Ünlü: »Wie oft betest Du?«, S. 4 ff.

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als »Underdogs« im Herrschaftsbereich der »bösen Ungläubigen« ein »RobinHood-Image« kultivieren bis hin zu den als religiöse Autoritäten angesehenen Führern des »Kalifats«. Letztgenannte liefern die scheinbar eindeutige Ableitung von Regeln zur Alltagsbewältigung aus nicht kritisierbaren Quellen und schaffen damit eine Kontingenzauflösung – oder als Angebot formuliert: Eindeutigkeitsangebote. Wer dieser Autorität folgt, ist Teil einer Avantgarde, einer Elite, die sich über andere erhebt. Durch die Abwertung anderer, »ungläubiger« Lebens- und Denkweisen soll eine Selbstwertsteigerung erreicht werden. Über das Pauschalisieren werden Abwertungskonstruktionen in Narrative umgeformt: »der Westen« ist schuld, »die Juden«, »die Demokratie« etc. In einem Klima, in dem auch in Europa Populisten immer mehr Resonanz finden, ist die Ablehnung demokratischer Strukturen, Prozesse und Inhalte ein weiteres Deutungs- und Sinnangebot, das für einige junge Menschen attraktiv sein kann. In Ergänzung sollte man sich eingestehen, dass aktuell insbesondere Salafisten das Abholen der Zielgruppe mit fein dosierten Angeboten gut organisieren: Sie thematisieren bestehende Ressentiments gegenüber Muslimen und knüpfen damit an Opfer- und Ausgrenzungserfahrungen an. Ein (in ihrem Sinne) gutes Marketing bietet für die Phasen des Engagements und der Selbstverpflichtung Treffen, Schulungen, Gesprächskreise, Koran-Verteilaktionen, missionierende Tätigkeiten etc. an. Über die direkte (persuasive) Ansprache oder über soziale Netzwerke wird ein niedrigschwelliges Angebot präsentiert, das über mahnende Worte, die innere Mission und den Verweis auf die nahe Endzeit auch Zwangsaspekte beinhaltet.

Pädagogische Antworten Es ist eine pädagogische Herausforderung, zwischen den Bedürfnissen junger Menschen und extremistischen Angeboten Unterstützung bei der Suche von Lebensgestaltungsoptionen zu leisten. Um eine weitere Merkformel zu zitieren, sollten diese Angebote KISSeS33 beinhalten: ȤȤ Sie sollten junge Menschen unterstützen, die Kontrolle in ihrem Leben übernehmen zu können, was u. a. Orientierung und Selbstwirksamkeitserfahrungen voraussetzt.

33 Vgl. Möller, et al.: »Die kann ich nicht ab!«, S. 105 ff. Der Ansatz bezieht sich nicht explizit auf jugendtypischen Islamismus/Salafismus, hat sich aber in ähnlichen Feldern bewährt.

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ȤȤ Sie sollten auf mehreren Ebenen die (System-, gemeinschaftliche, gesellschaftliche) Integration unterstützen, um Zugehörigkeit, Teilhabe und Anerkennung zu ermöglichen. ȤȤ Es gilt, Beschränkungen des Sinnlichen Erlebens anzugehen, bspw. über körperliche und psychische Erlebensmöglichkeiten jenseits hypermännlicher Vorstellungen. ȤȤ Zentral dürfte die (pluralisierende) Unterstützung bei der Suche nach Sinnerfahrungen und -zuschreibungen sein, um schablonenhafte, fundamentalistische Angebote zu entlarven und zu kontrastieren. ȤȤ Dabei sollten vorhandene Deutungsangebote (von medialen Angeboten, über Sprache bis hin zu Kleidungsgewohnheiten etc.) thematisiert und ggf. dekonstruiert werden, da sie eine erfahrungsstrukturierende Wirkung haben können. ȤȤ Schließlich gilt es, Selbst- und Sozialkompetenzen zu fördern, die auch jenseits der hier angesprochenen Herausforderung einen Schutzfaktor gegenüber vielen weiteren problematischen Entwicklungen darstellen. In dieser Fassung handelt es sich nicht nur um »funktionale Äquivalente« gegen fundamentalistische Scheinangebote, sondern allgemein um Erziehung und Bildung. Diese (möglicherweise überraschende) Wendung greift nicht nur Adornos fundamentale Forderung an die »Erziehung nach Auschwitz« auf – dass die Möglichkeit der Barbarei verhindert werden muss –,34 sondern hilft Pädagogen womöglich dabei, angesichts des Schreckens und des hohen Risikos, die »Handlungsverlegenheit« abzulegen und sich innerhalb ihrer Kompetenz und mit ihren Fähigkeiten einzubringen. Aber braucht es aufgrund des hochkomplexen Themas und der schwierigen sprachlichen und religiösen Zugänge nicht eine besondere Expertise, um die Probleme zu lösen? Natürlich! Die Grenze eigener Fähigkeiten zu den Handlungsfeldern der Experten sollte einerseits definiert sein, andererseits ist es von Vorteil, sich bereits im Vorfeld und bei Unsicherheiten anzunähern und zu kooperieren (es gilt, die wertvolle Zeit zu nutzen, bevor sich eine Selbstoder Fremdgefährdung manifestiert). Andererseits können auch Experten nicht gewährleisten, dass es keine Misserfolge gibt.35 »Zu Null«-Zielvorstellungen sind im Bereich des Fundamentalismus unrealistisch – ebenso wie es selbst im Falle optimaler Erziehungs- und Bildungsangebote Menschen geben dürfte, die ihre Grundrechte dazu nutzen, sich gegen sie zu entscheiden. 34 Wörtlich: »Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung.« Adorno: Erziehung nach Auschwitz. 35 Kaddor berichtet in »Zum Töten bereit« über einige ihrer Schüler, die sich dem sogenannten »Islamischen Staat« anschlossen.

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Also ist die »Radikalisierung« schon wieder ein neues Thema für Schulen? Im Kern: Nein! Der schulische Erziehungs- und Bildungsauftrag sieht die Befähigung von Schülerinnen und Schülern vor, innerhalb der freiheitlich demokratischen Grundordnung und im Geist der Menschlichkeit ihren staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten nachkommen zu können. Dies setzt eine notwendige Urteils- und Entscheidungsfähigkeit voraus sowie Toleranz, Solidarität und die Achtung vor der Überzeugung des anderen – um nur einige Facetten aufzuführen,36 die relevant scheinen. Eine »Radikalisierung« ist eine Entwicklung, der Schule vorbeugen und bis zu einem gewissen Punkt auch dagegen anarbeiten sollte. Auf sich abzeichnende Radikalisierung auch disziplinarisch zu reagieren, ist eine Möglichkeit, andere Schülerinnen und Schüler zu schützen und eine Grenze zu markieren. Im Alltag diesseits der Grenze können Pädagoginnen und Pädagogen viel Förderliches im Aufbau von Resilienz, in der Prävention und der Intervention leisten. Sie sollten sich aber davor hüten, die alleinige Verantwortung zu übernehmen, sondern sollten als Teamplayer auftreten – mit spezifischen Fähigkeiten, aber auch mit Grenzen. Zusammen mit anderen kann man besser, leichter und entlastender erkennen, verstehen und handeln!

Frank Buchheit (Dipl.-Päd., M.Eval.), Mitarbeiter im Referat Prävention des LKA BW und freier Evaluator, [email protected].

Literatur Adorno, Theodor W.: Erziehung nach Auschwitz, [1966], http://bit.ly/292afg5 (Zugriff am 08.11.2016). Berlin (Innensenator): Zerrbilder von Islam und Demokratie. Argumente gegen extremistische Interpretationen von Islam und Demokratie, 2011, http://bit.ly/29fc2nq (Zugriff am 08.11.2016). BKA, BfV und HKE: Analyse der Radikalisierungshintergründe und -verläufe der Personen, die aus islamistischer Motivation aus Deutschland in Richtung Syrien oder Irak ausgereist sind. Fortschreibung 2016: http://bit.ly/2hw100A (Zugriff am 28.12.2016). BMI (Bundesministerium des Inneren): Verfassungsschutzbericht 2015, 2016, http://bit.ly/29cke54 (Zugriff am 08.11.2016). Ceylan, Rauf: Jugendarbeit in Moscheen. Möglichkeiten einer Präventionsarbeit gegen neo-salafistische Strömungen, in: deutsche jugend. Heft 4–2016, S. 161 ff. Deutsches Jugendinstitut (Hg.): Jung und radikal. Politische Gewalt im Jugendalter. Magazin »DJIImpulse«, Bd. 1/2015, http://bit.ly/292jL6 m (Zugriff am 08.11.2016).

36 Die Stichworte sind aus den Schulgesetzen Baden-Württembergs (http://bit.ly/28ZDQvj), Hessens (http://bit.ly/29aSA8B) und Nordrhein-Westfalens (http://bit.ly/1JYJBFs) entnommen.

Radikalisierung junger Menschen: Erkennen, verstehen, handeln!

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Diehl, Jörg, Gude, Hubert und Schmid, Fidelius: Radikalisierung im Stillen, in: SPIEGEL, 25/2016, S. 48 ff. bzw. http://bit.ly/29ewFgS (Zugriff am 08.11.2016). Halm, Heinz: Der Islam. Geschichte und Gegenwart, 9. aktualisierte Aufl., München: C.H. Beck 2014. HSFK-Reportreihe »Salafismus in Deutschland«, hrsg. von Biene, Janusz, Daase, Christopher, Gertheiss, Svenja, Junk, Julian und Müller, Harald: http://bit.ly/295gbZz, 201637 (Zugriff am 08.11.2016): Band 1: Herausforderungen der empirischen Forschung zu Salafismus. Band 2: Organisation und Anwerbungspraxis der salafistischen Bewegung. Band 3: Wege in die Gewalt. Motivationen und Karrieren salafistischer Jihadisten. Band 4: Dschihadistische Rechtfertigungsnarrative und mögliche Gegennarrative. Band 5: Transnationale Aspekte von Salafismus und Dschihadismus. Band 6: Ansätze und Erfahrungen der Präventions- und Deradikalisierungsarbeit. Kaddor, Lamya: Zum Töten bereit. Warum deutsche Jugendliche in den Dschihad ziehen, München: Pieper Verlag 2015. Köhler, Daniel: Die Dynamik der gewalttätigen Radikalisierung. Ein theoretisches Modell für Praktiker, in: kriminalistik. Heft 2/2016, S. 136 ff. Möller, Kurt, Grote, Janne, Nolde, Kai und Schuhmacher, Nils: »Die kann ich nicht ab!« – Ablehnung, Diskriminierung und Gewalt bei Jugendlichen in der (Post-)Migrationsgesellschaft. Wiesbaden: Springer VS 2016. Möller, Kurt und Schuhmacher, Nils: Rechte Glatzen. Rechtsextreme Orientierungs- und Szenezusammenhänge – Einstiegs-, Verbleibs- und Ausstiegsprozesse von Skinheads, Wiesbaden: Springer VS 2007. Müller, Jochen, Nordbruch, Götz und Ünlü, Deniz: »Wie oft betest Du?« Erfahrungen aus der Islamismusprävention mit Jugendlichen und Multiplikatoren, http://bit.ly/28Zy1ZY (Zugriff am 08.11.2016). Neumann, Peter: Radikalisierung, Deradikalisierung und Extremismus. In: BpB (Hg.): Deradikalisierung (Aus Politik und Zeitgeschichte), Bd. 29–31/2013, http://bit.ly/2952mMl (Zugriff am 08.11.2016). Plessner, Helmuth: Grenzen der Gemeinschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002 [1924]. Rohe, Mathias: Das islamische Recht. Eine Einführung. München: C.H. Beck 2013. Saltman, Erin M. und Smith, Melanie: ›Till Martyrdom Do Us Part‹. Gender and the ISIS Phenomenon, 2015, http://bit.ly/1TrVKT3 (Zugriff am 08.11.2016). Schaub, Mirjam: Radikalität oder die Kunst des unbedingten Selbstgebrauchs in der europäischen Kulturgeschichte, 2015, http://bit.ly/28YN7kB (Zugriff am 08.11.2016). Seidensticker, Tilman: Islamismus. Geschichte, Vordenker, Organisationen. München: C.H. Beck 2014. Silber, Mitchell D. / Bhatt, Arvin. Radicalization in the West: The Homegrown Threat, 2007, http:// bit.ly/1MSeHkH (Zugriff am 08.11.2016). Verfassungsschutz BW: Extremismus erkennen. Handreichung für Betreiber von Flüchtlings­ unterkünften, 2016 http://bit.ly/296OgGN (Zugriff am 08.11.2016). Verfassungsschutz NRW: Extremistischer Salafismus als Jugendkultur. Sprache, Symbole und Style, 2016, http://bit.ly/1VdARAo (Zugriff am 08.11.2016).

37 Hinweis: Zu den Themen sind kurze Videospots unter http://bit.ly/1qoD4f3 verfügbar.

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Was für eine Rolle kann die Schule bei der Deradikalisierung von jungen Menschen spielen? Und welche Handlungsmöglichkeiten habe ich als Lehrkraft? Kann meine Beziehung zu einer Schülerin oder einem Schüler einen Unterschied in deren oder dessen Biografie ausmachen? Deradikalisierung beginnt nicht erst dort, wo wir auf radikale Schülerinnen und Schüler stoßen, sondern in der Präventionsarbeit. Um Jugendliche mit radikalen Tendenzen zu erreichen und sie unterstützen zu können, müssen wir zuerst für die Problemlagen sensibilisiert werden. Eine vertrauensvolle Beziehung zu einer Schülerin oder einem Schüler ermöglicht dann pädagogisch-präventives Handeln und Intervention auf der Grundlage von Grundrechten und des Erziehungsauftrages.

Differenzierung verschiedener Islamverständnisse Im Umgang mit den unterschiedlichen Islamverständnissen und deren mannigfaltigen Ausprägungen gibt es große Unsicherheiten, nicht nur in der Schule bei Lehrkräften, sondern auch in der Bevölkerung. Wann ist eine Schülerin oder ein Schüler »nur« gläubig und ab wann sind religiöse Äußerungen und Handlungen als radikal einzustufen? Wo ist die Grenze zwischen »Islam« und »Islamismus«? Wann muss ich intervenieren? Geäußerte Sorgen seitens der Lehrkräfte, bei Auseinandersetzungen zu Themen rund um Islam, Migration und Flucht als intolerant oder gar islamfeindlich verstanden zu werden, führen zu Hemmungen, aktuelle politische und religiöse Themen aufzugreifen und eine Debatte darüber im Unterricht zuzulassen. Bedenken, dass man radikalen Aussagen von Schülerinnen und Schülern im Klassenverband nicht angemessen begegnen kann, tragen dazu bei, die Diskussion im Keim zu ersticken. Auch Selbstzweifel wie »Da weiß ich selbst nicht genug Bescheid und müsste mich erst informieren« und Fragen wie »Sind das kulturelle Auswüchse oder bereits

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islamistische Tendenzen?« führen zur Vermeidung brisanter Auseinandersetzungen im Schulalltag. Aus eigener Unsicherheit heraus bedenkliche Äußerungen zu verbieten oder zu bestrafen, kann jedoch keine befriedigende Lösung darstellen, da hierbei die Chance vertan wird, das Gedankengut der Schülerin und des Schülers zu hinterfragen und alternative Denk- und Handlungsmodelle anzubieten. Die öffentliche Debatte über die Religion Islam ist müßig und endet oft in Polarisierungen. Konservativ-muslimische Gläubige sprechen den Islam frei von radikalem Potenzial, liberale Muslime plädieren für eine Anpassung des Islam ins 21. Jahrhundert und Islamkritiker sehen bereits in der religiösen Praxis des Propheten Muhammad1 den Grundstein für einen antidemokratischen Islam angelegt. Dazu kommen noch unterschiedliche islamistische Gruppierungen, welche die Religion Islam für ihre Ideologien beanspruchen. Und gerade hier ist es unausweichlich zu konstatieren, dass jedes Selbstverständnis eines Gläubigen oder einer Gruppierung ernst genommen werden muss. Allein aus dem Umstand heraus, dass diese innerhalb unserer Gesellschaft praktiziert und ausgelebt werden. Es gibt nicht »den« Islam, sondern vielfältige islamische Lebensweisen und unterschiedliche Auslegungen der islamischen Schriften. Die eine Position gegen die andere auszuspielen ist naiv und gefährlich zugleich. Denn entweder wird dadurch der Religion Islam pauschal eine potenzielle Gefahr abgesprochen oder man nimmt Muslime generell in Sippenhaft und schürt Islamophobie. Deshalb ist es wichtig zu differenzieren und die diversen Ausprägungen muslimischen Lebens nebeneinander stehenzulassen, um im zweiten Schritt angemessen und individuell jeweilig darauf reagieren zu können.

Das Grundgesetz als Leitlinie im Umgang mit religiösen Ausprägungen Da eine Unterscheidung und Einschätzung der unterschiedlichen islamischen Glaubensvorstellungen und -praktiken (von liberal-säkular über traditionellorientiert2, konservativ-praktizierend, salafistisch und islamistisch etc.) für 1

Die islamischen Primärquellen gehen auf den Propheten Muhammad zurück. Die erste ist der Qur’an, welcher nach muslimischem Selbstverständnis Muhammed als Gottes unmittelbares Wort offenbart wurde. Die zweite Quelle bilden die Lebensgewohnheiten (sunna) und Aussprüche des Propheten (ahadith). 2 »Traditionell orientierte Muslime« (mit Migrationshintergrund): Der Glaube beruht hauptsächlich auf mündlichen Überlieferungen und ist stark mit den islamischen Traditionen der Herkunftsländer verbunden. Vgl. Menekşe, S. 51. Er ist an einem patriarchalischen Gesellschaftsbild ausgerichtet.

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einen Nichtexperten schwierig ist und die Grenzen fließend sein können, ist es wichtig, nach der verbindlichen Richtschnur für das eigene Handeln und Argumentieren im Umgang mit Religionen zu fragen. Dadurch läuft man nicht Gefahr, alle Menschen einer Religionszugehörigkeit zu verurteilen, und kann eigenen Sorgen und Ängsten adäquat begegnen und widerstehen. Diese Richtschnur kann im deutschen Kontext nur das Grundgesetz3 sein, sprich die Umsetzung der Grundrechte4. Sie sind das Fundament unserer Werteordnung, sie anzuerkennen und zu verstehen ist unbedingt notwendig. Eine Auseinandersetzung mit Schülerinnen und Schülern kann gut gelingen, wenn man nicht aus eigenen Befindlichkeiten heraus argumentiert, sondern sich klar an den Grundrechten als Argumentationslinie richtet. Hier geht es nicht um die persönliche Meinung oder eigene Wert- und Normvorstellungen und somit eine Beurteilung des anderen, sondern um das Verstehen der Grundrechte als verbindlicher und nicht verhandelbarer Leitlinie eines jeden Bürgers und einer jeden Bürgerin. Die Grundrechte einzufordern ist keine Abwertung von religiösen oder kulturellen Praktiken, sondern bietet den verbindlichen Rahmen, innerhalb dessen Frieden und Freiheit eines jeden gewährleistet bleiben sollen.5 Das betrifft insbesondere den Artikel 4 des Grundgesetzes, der das Recht der Glaubens- und Gewissensfreiheit6 beschreibt und die positive Religionsfreiheit (die Freiheit zum Bekenntnis einer Religion7) sowie die negative Religionsfreiheit (die Freiheit, einen religiösen Glauben nicht zu bekennen und zu praktizieren8) gewährleistet. Der Staat ist »Heimstatt«9 aller Bürger und Bürgerinnen und unterliegt der Neutralitätspflicht. Doch die Religionsfreiheit kann durch den Gesetzgeber eingeschränkt werden. Dies geschieht, wenn Grundrechte und Freiheitsrechte in Frage gestellt werden. Was dem Grundgesetz widerspricht, darf nicht unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit toleriert werden. Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, sagte 2004 in einer Rede zum Verhältnis zwischen Politik und Religion: 3 Prinzipien von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, sozialen Bürgerrechten, gegenseitiger Toleranz und Freiheitsliebe. 4 Grundrechte sind u. a.: Art. 1 Menschenwürde, Art. 2 Freiheit der Person, Art. 3 Gleichheit vor dem Gesetz/Gleichberechtigung von Mann und Frau/Diskriminierungsverbot, Art. 4 Glaubensfreiheit, Art. 5 Meinungsfreiheit, Vgl. Grundgesetz, S. 13 f. 5 Vgl. Grundgesetz, S. 13. 6 »(1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. (2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.« Grundgesetz, S. 13. 7 Vgl. Günzel, Angelika: Die Religionsfreiheit, S. 13. 8 »Recht an kultischen Handlungen nicht teilzunehmen (z. B. Schulgebet)«, ebd. 9 Bundeszentrale für politische Bildung: Grenzen der Religionsfreiheit.

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[…] Vielfach wird dieses Recht heute dazu benutzt, politische Herrschaftsansprüche zu begründen und andere Menschen in ihren Grundrechten zu verletzen. Wir sollten daher ein Bewusstsein und eine Praxis der Grenzziehungen entwickeln.10 Hier erfordert es die Weitsicht und auch die Feinfühligkeit der Lehrkraft, religiöses Verhalten von Schülerinnen und Schülern anzuerkennen, zu tolerieren und wertzuschätzen, aber Verhaltensweisen, die mit Bezug auf die Religion den Grundwerten widersprechen, klar in ihre Schranken zu weisen und nicht zu dulden, denn diese können bereits ein Merkmal für die Anfälligkeit radikaler Tendenzen sein.

Mögliche Verhaltensweisen von Schülerinnen und Schülern, die islamistische Tendenzen entwickeln Es gibt eine Reihe von möglichen Symptomen, die man bei einer Schülerin oder einem Schüler beobachten kann, die auf eine Radikalisierung hinweisen können, insbesondere wenn mehrere Merkmale gleichzeitig auftreten: ȤȤ Abgrenzung und ablehnende Haltung gegenüber offensichtlich westlichlebenden Mitschülern, demonstrative Zurschaustellung einer moralischen Erhabenheit ȤȤ Widerwilligkeit oder gar Vermeidung in der Auseinandersetzung mit anderen Religionen und Weltanschauungen: Kritische und herabsetzende Haltung ȤȤ Missbilligung von Homo- und Transsexualität sowie frei gelebter selbstbestimmter Sexualität von Mädchen und Frauen (abfällige Beschimpfungen, sexualisierte verbale Gewalt u. Ä.) ȤȤ strikte Geschlechtertrennung: Der Umgang mit dem anderen Geschlecht wird plötzlich zum Problem, Distanzierung vom anderen Geschlecht, Respekt nur gegenüber »anständigen« verschleierten Mädchen/Frauen ȤȤ starkes Schwarz-Weiß-Denken: Keine Differenzierung und Reflexion der eigenen Gedankenwelt und Argumentation ȤȤ starke Hierarchisierung der Beziehungen nach Alter und Geschlecht, orientiert an Ehre und Scham ȤȤ hoher Rede- und Diskussionsbedarf mit Mitschülern, aber auch Lehrkräften über religiöse und politische Inhalte und Themen, Abgrenzung zum 10 Krüger, Thomas: Die Grenzen der Religionsfreiheit.

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westlichen Weltbild, Bezug auf Verschwörungstheorien, Beschönigung des Dritten Reiches (Antisemitismus), dies kann einhergehen mit druckvoller Überzeugungsarbeit der eigenen Vorstellungen den Mitmenschen gegenüber Veränderung im Umgang mit Lehrkräften: Plötzliches Vermeiden und Verwehren von Blickkontakt und Handschlag religiöse Kleidung: Verneinung des westlichen Kleidungsstils wie zum Beispiel keine kurzen Hosen/Röcke/T-Shirts, Kopfbedeckung, traditioneller Bart (kein modischer), konservative Verschleierung Verneinung und Vermeidung des westlichen Lebensstils: Musik, Fast Food, Getränke (z. B. Coca Cola, Alkohol) plötzliches Lernen der arabischen Sprache (bei deutschen Islamkonvertiten) Ablehnung diverser Grundrechte wie Gleichberechtigung (selbstbestimmtes alleiniges Ausgehen von Frauen, sexuelle Selbstbestimmung von Frauen), Absprechen der Menschenwürde und Verachtung gegenüber bestimmten Menschengruppen (Drogensüchtige, Obdachlose, Prostituierte, sexuell freizügige Mädchen und Frauen), Religionsfreiheit: Abfallen vom Islam und Wechsel der Religion Kontrolle und Bestrafung weiblicher Familienmitglieder bei Nichteinhaltung moralischer Erwartungen (insbesondere sexueller Keuschheit) Abwertung gegenüber islamisch religiösen Minderheiten wie Schiiten, Aleviten, Ahmadiyya und/oder Absprechen der Rechtgläubigkeit (richtiger Muslim, richtige Muslima zu sein) von liberalen oder nicht streng praktizierenden Muslimen und Musliminnen Affinität zu gewalttätigen Medien wie Videoclips, die kriegerische Gewaltverbrechen zeigen, islamistische Propaganda und/oder Videoclips, die Selbstverletzungen und Todessehnsucht darstellen hoher Konsum von Gewaltspielen, insbesondere Egoshooter-Spielen

Die genannten Verhaltensweisen sollen und dürfen keinen Katalog darstellen, den man innerlich im Umgang mit Schülerinnen und Schülern abarbeitet. Sie sollen aber der Sensibilisierung dienen und die Achtsamkeit fördern. Die ganzheitliche Betrachtung einer jeden Schülerin und eines jeden Schülers sowie ein wohlwollender Beziehungsaufbau müssen immer im Vordergrund stehen. Alarmierend kann es sein, wenn gleichzeitig mehrere Symptome auftreten. Ein wichtiges Merkmal ist eine plötzliche Veränderung einer Schülerin oder eines Schülers. Einzelne und mehrere Verhaltensweisen können auch von konservativ-praktizierenden und traditionell-orientierten Gläubigen vertreten und gelebt werden. Hier stellt sich die Frage, ob das den Grundrechten widerspricht und auch hier Handlungsbedarf besteht. Inwieweit diese Verhaltensweisen ein

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Vorläufer von Radikalisierungstendenzen sein können oder gar im Kontext der jeweiligen Schülerin oder des jeweiligen Schülers als harmlos zu bewerten sind, muss immer im Einzelfall abgeschätzt werden.

Herausforderung des Erziehungs- und Bildungsauftrags Durch die Kulturhoheit der Länder hinsichtlich der Bildungspolitik unterscheidet sich der Erziehungs-und Bildungsauftrag von Bundesland zu Bundesland. Doch er fußt immer auf den Grundrechten des Grundgesetzes und hat zum Ziel, dass Schülerinnen und Schüler ihre staatsbürgerliche Verantwortung übernehmen, ihre eigenen Rechte kennen, sich mit ihnen auseinandersetzen und ihren Mitmenschen diese zugestehen.11 Das Berliner Schulgesetz formuliert den Auftrag der Schule in § 1 wie folgt: Ziel muss die Heranbildung von Persönlichkeiten sein, welche fähig sind, der Ideologie des Nationalsozialismus und allen anderen zur Gewaltherrschaft strebenden politischen Lehren entschieden entgegenzutreten […].12 Im Schulgesetzbuch von Baden-Württemberg heißt es in § 1: Über die Vermittlung von Wissen […] hinaus ist die Schule insbesondere gehalten, die Schüler […] zur Menschlichkeit und Friedensliebe […], zur Achtung der Würde […], Eigenverantwortung sowie zu sozialer Bewährung zu erziehen und in der Entfaltung ihrer Persönlichkeit und Begabung zu fördern […].13 Lehrkräfte haben somit einen dreifachen Auftrag an der Schülerin und dem Schüler: Erstens, das Herausbilden einer politisch-demokratischen Grundhaltung mit dem Einstehen für Rechte und Pflichten, zweitens, die Förderung der Schülerinnen und Schüler in ihrer Persönlichkeit und ihren Begabungen (wie Werteerziehung, soziale Kompetenzen) und drittens, die kompetenzorientierte Wissensvermittlung in der Schulstunde. Inwieweit die Umsetzung unter den hiesigen Bedingungen realistisch ist, sei dahingestellt, doch eines ist klar: Diesen Dreifachauftrag umzusetzen ist eine enorme Verantwortung und jede Lehrkraft muss sich prüfen, inwieweit sie diesen wahrnimmt. Das Herausfordernde 11 Vgl. Schulgesetz Hessen. 12 Schulgesetz Berlin. 13 Schulgesetz Baden-Württemberg.

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bei diesen Zielen ist, dass es nicht darum geht, sie in einem Unterrichtsfach wie Gemeinschaftskunde, Ethik, Religion/Religionspädagogik, Lebenskunde, Geschichte oder eventuell noch Deutsch »unterzubringen«, sondern dass es um eine Ganzheitlichkeit dieser Ziele geht, die durch die Lehrerpersönlichkeit und deren Handeln Ausdruck im Schulalltag findet.

Die Lehrerpersönlichkeit als Schlüssel präventiven Handelns Wenn eine Schülerin oder ein Schüler Gefahr läuft, sich Ideologien zuzuwenden, liegen unterschiedliche Risikofaktoren vor. Gründe können sein, dass er oder sie sich nicht mit der Mehrheitsgesellschaft identifizieren kann, über kaum soziale Teilhabe verfügt und ihm oder ihr alternative Perspektiven für die Zukunft fehlen. Auch das Erleben von Ablehnung und Misstrauen seitens des Lebensumfelds der Schülerin oder des Schülers in Bezug auf gelebte Religio­ sität kann zu einer verstärkten Bezugnahme und Identifikation mit religiösen Gruppierungen und/oder Ideologien beitragen. Viele der gefährdeten jungen Menschen haben Beziehungsabbrüche erlebt und suchen stabile und verlässliche Bezugspersonen, die ihnen Halt und Sicherheit geben. Hier kann die Schule ein Ort der Prävention sein. Die Schule als Sprungbrett für das Leben in unsere Gesellschaft schafft nicht nur durch Bildungsabschlüsse oder Berufsabschlüsse berufliche Perspektiven (strukturelle Integration)14, vielmehr kann durch den alltäglichen verpflichtenden Schulbesuch Beziehungsaufbau zwischen Lehrkraft und Schülerin oder Schüler stattfinden, welcher Annahme und Orientierung vermittelt. Herbert Stadler empfiehlt: Was wir Lehrerinnen und Lehrer tagtäglich tun können, sind tragfähige und belastbare Lehrer-Schüler-Beziehungen zu schaffen, oder zumindest das Beziehungsangebot an unsere Schüler im Allgemeinen und an die Lernund Verhaltensschwierigen im Besonderen zu richten.15 Entwurzelte Schülerinnen und Schüler, die sich nach Zugehörigkeit sehnen, brauchen Lehrkräfte, die ihnen eine verlässliche Beziehung anbieten und sich auch bei Schwierigkeiten nicht von ihnen abwenden. Das klare Struktur- und Regelwerk der Schule und die damit einhergehende verbindliche Gemeinschaft können das Potenzial bieten, Schülerinnen und Schüler aufzufangen und sie 14 Vgl. Esser, Hartmut: Integration und ethnische Schichtung, S. 3. 15 Stadler, Herbert: Beziehung ist nicht alles in der Schule, S. 2.

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zu unterstützen. Für die Lehrkraft ist es eine große Herausforderung, den Spagat zwischen Fachunterricht in einer Klasse von bis zu 30 Schülerinnen und Schülern und einem vertieften Beziehungsangebot zum Einzelnen und eventuell zu dessen Begleitung zu meistern. Ziel soll und kann daher nicht sein, mit jeder Schülerin und jedem Schüler eine tiefere Beziehung anzuregen, vielmehr soll eine Sensibilisierung für ihre Bedürfnisse in schweren Lebenslagen und eine Haltung der Achtsamkeit entstehen, diese zu bemerken. Im zweiten Schritt können angemessene Begleitung und Hilfestellungen folgen. Dabei geht es nicht um ein Gefühl der Überverantwortlichkeit seitens der Lehrkraft und eine Überschreitung der Lehrerkompetenzen, sondern um die Chance, Schülerinnen und Schüler in ihren jeweiligen Lebensumständen wahrzunehmen und bei Bedarf unterstützend zu agieren. Hier kann unterschieden werden zwischen: ȤȤ Handlungsmöglichkeiten, welche die Lehrkraft selbst wahrnimmt und verantwortet (z. B. pädagogische Maßnahmen wie Einzelgespräche, Elterngespräche, Hilfestellungen wie Vereinbarungen treffen) ȤȤ Handlungsmöglichkeiten, die delegiert werden an zuständige Kollegen (z. B. Klassenlehrer, Beratungslehrer, Schulpsychologe, Schulsozialarbeiter, ggf. Islambeauftragter der Schule, Schulleiter: Durchsetzen von Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen) ȤȤ Handlungsmöglichkeiten, die durch Vernetzung und Zusammenarbeit mit externen Experten umgesetzt werden, die die Schülerin, den Schüler kurz-, mittel- oder langfristig professionell weiterbetreuen (z. B. Jugendamt, Polizei, freie Jugendhilfeträger, Arbeitsagentur, Beratungsstellen, Bundesamt für Verfassungsschutz: Aussteigerprogramme, Staatsschutz) Eine vertrauensvolle Zusammenarbeit innerhalb der Schule und im Sozialraum des Schulstandortes entlastet die einzelne Lehrkraft. Durch ein Netzwerk von Kollegen und Experten werden Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten geklärt.16 Hier kann die Schulsozialarbeit eine wichtige Weiche stellen, indem sie Netzwerke zu Partnern im Bereich der Deradikalisierung aufbaut und für die Schülerinnen und Schüler eine Brückenfunktion darstellt.

16 Unterstützung erhält man in Form von Informationen, Aufklärung, Material und Fortbildungen u. v. m. von der Bundeszentrale für politische Bildung (auch Unterrichtsmaterialien), den Landeszentralen für politische Bildung und den Demokratiezentren der jeweiligen Bundesländer.

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Eigenschaften der pädagogischen Grundhaltung als Fundament gelingender Beziehungsarbeit Im Mittelpunkt pädagogischer Überlegungen wird zukünftig, durch die Entwicklung weg vom Frontal- und wissensgeleitenden Unterricht hin zu kompetenzorientiertem Unterricht, immer mehr die permanente Beziehungsarbeit von Lehrern und Schülern stehen und eine bedeutende Rolle einnehmen.17 Der Grundstein für das sozio-emotionale Lernen ist in der vertrauensvollen Schüler-Lehrer-Beziehung verankert.18 Auch die Studie von Hattie stellt die Wichtigkeit der Lehrerpersönlichkeit und die emotionale Seite des Lernens als unabdingbar heraus: »Ohne […] Wertschätzung, Achtung, Fürsorge und Vertrauen könne Unterricht nicht gelingen!«19 So bildet die pädagogische Grundhaltung der Lehrkraft das Fundament der Beziehungsgestaltung zu der Schülerin und dem Schüler und der Umsetzung des Erziehungs- und Bildungsauftrags:20

ansprechbar sein Interesse zeigen

Setzen von Grenzen und konsequente Durchsetzung

Wahrnehmen der Gefühls- und Lebenslage

Pädagogische Grundhaltung

klare Wertvorstellungen vertreten

auch absurde Gedankenkonstrukte20 ernst nehmen

Annahme der Person, aber Ablehnung falscher Verhaltens­ weisen

Grafik 2: Pädagogische Grundhaltung, Zusammenstellung von Sara Faix 17 Vgl. Stadler, Herbert: Beziehung ist nicht alles in der Schule, aber ohne Beziehung ist alles nichts, S. 3. 18 Ebd., S. 3. 19 Ebd., S. 4. 20 Gedankenkonstrukte können der Lehrkraft absurd erscheinen, da sie auf Vorstellungen wie beispielsweise Himmel (Belohnung) und Hölle (Bestrafung) sowie Verschwörungstheorien fußen.

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Bis zu dem Moment, in dem eine Schülerin oder ein Schüler die Schulpflicht nicht mehr wahrnimmt und von der »Bildfläche verschwindet«, haben die Klassenund Fachlehrkräfte Möglichkeiten, (negative) Veränderungen und Verhaltensauffälligkeiten zu beobachten und zu handeln. Durch die Schulpflicht ist in der Regel eine kontinuierliche Beobachtung der Schülerin und des Schülers sowie eine regelmäßige Begleitung möglich. Durch den Blick ins Klassenbuch, in dem die Fehlzeiten jeder Stunde aufgelistet sind, wird schnell offenbar, welche Schülerin und welcher Schüler sich aus dem Schulleben langsam verabschiedet. Selbst wenn bis dahin keine Auffälligkeiten bekannt waren, greift spätestens bei zu hohen Fehlzeiten der jeweilige Paragraph des Schulgesetztes, der die Erziehungsund Ordnungsmaßnahmen behandelt, und eine Intervention wird eingeleitet.

Intervention durch Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen21 Schnelles Intervenieren bei Grenzüberschreitungen22 ist im Schulalltag wichtig, um bei Schülerinnen und Schülern Lernprozesse in Gang zu setzen. Ob die Maßnahmen der Intervention jedoch erfolgreich sind, hängt von der Art und Weise der Umsetzung ab. Eine mechanische Umsetzung der Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen mag kurzfristig und formal ihren Zweck erfüllen, aber ob bei der Schülerin und dem Schüler eine echte Auseinandersetzung mit dem Fehlverhalten stattgefunden hat, bleibt fraglich. Pädagogische Erziehungsmaßnahmen wie der Klassenbucheintrag, das »Hinausstellen des Schülers« oder »Putzarbeiten« und Ordnungsmaßnahmen wie »Nachsitzen«, »Versetzung in die Parallelklasse« und »Schulverweise«23 maßregeln die Schülerin und den Schüler und sind für die Lehrkraft ohne viel Zusatzarbeit umzusetzen, aber sie ziehen keine ausreichende Reflexion des eigenen Handelns und Denkens der Schülerin und des Schülers nach sich, insbesondere dann, wenn radikale Äußerungen und Verhaltensweisen zugrunde liegen. Hier ist es zwingend erforderlich, sich mit der Lebenswirklichkeit der Schülerin und des Schülers und ihren Auffassungen auseinanderzusetzen. Die Frage, welchen Einflüssen die Schülerin oder der Schüler ausgesetzt ist (Freunde, Gruppierungen, Medien, Familie) und inwiefern sie oder er von einem kulturellen Kontext geprägt wird oder wurde, muss beantwortet werden. Das Verstehen und Nachvollziehen von Vorstellun21 Vgl. Schulgesetz Baden-Württemberg § 90. 22 Beispiele siehe Punkt 3 in diesem Beitrag: Mögliche Verhaltensweisen von Schülern, die islamistische Tendenzen entwickeln. 23 Schulgesetz Baden-Württemberg § 90.

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gen kollektivistischen Denkens24, patriarchaler Muster, geschlechtsspezifischer Erwartungen und der Bedeutung der Rolle von Autoritäten sind notwendig, um einen Perspektivwechsel vollziehen zu können und um den Schüler oder die Schülerin besser zu erreichen. Gerade in Bezug auf das Wahrnehmen von Autoritäten ist es für gefährdete Schüler und Schülerinnen wichtig, schnelle und deutliche Grenzen zu spüren, die konsequent durchgesetzt werden. Eine zu »lasche« Maßnahme kann das oft genannte Vorurteil der »verweichlichten deutschen Pädagogen« bestätigen und wird schlichtweg nicht ernst genommen. Es gilt hier also, den schmalen Grat zu finden zwischen autoritärem Durchgreifen (jedoch ohne Bloßstellung, Ablehnung und Herabsetzung) und autoritativem Verhalten (Wertschätzung, Annahme, Zuwendung). Pädagogische Erziehungsmaßnahmen, wie »soziale Dienste«, »Zusatzarbeiten« und »Vereinbarungen«25 können diesbezüglich mehr erreichen, indem eine Auseinandersetzung mit Inhalten zu dem Themengebiet, in dem die Schülerin oder der Schüler Auffälligkeiten gezeigt hat, stattfindet. Sie sind aber für die Lehrkraft mit mehr Organisation, Vorbereitung und persönlichem Einsatz verbunden. Eine Zusammenarbeit mit der Schulsozialarbeit und Partnern außerhalb der Schule kann hier eine Möglichkeit sein, Erziehungsmaßnahmen kreativ und individuell zu gestalten. Um die einleitenden Fragen zu beantworten: Die Schule kann nicht nur eine Rolle bei der Deradikalisierung von jungen Menschen spielen, sondern sie muss diese Rolle einnehmen! Der Staat überträgt der Lehrkraft stellvertretend seine Aufgabe. Somit ist der Beamte ein Teil der exekutiven Staatsgewalt und hat die Autorität, Handlungsmöglichkeiten durchzusetzen und bei Bedarf zu intervenieren und das in enger Zusammenarbeit mit Schulsozialarbeit und einem Netzwerk an externen Experten. Durch den Erziehungs- und Bildungsauftrag und die Beziehungsarbeit zu der Schülerin und dem Schüler macht die Institution Schule Prävention tagtäglich möglich.

24 Nach den Vorstellungen des Islam ist das Individuum als gesellschaftliches Wesen und Bürger zwar frei, aber das Individuum ist den Bedürfnissen der gesamten Gesellschaft unterzuordnen. Dem Islam und selbst »aufgeschlossenen Rechtsgelehrten [ist] die Idee des Individuums, welches frei und eigenverantwortlich nur für sich selbst entscheidet, fremd.« (Laudowicz, Edith: Frauen im Islam, S. 31). Der Wert jedes Einzelnen richtet sich nicht nach seinen individuellen Kenntnissen und Erfolgen, sondern ist in erster Linie auf seine Rolle innerhalb des Familienverbandes oder der religiösen Gemeinschaft bezogen. 25 Schulgesetz Baden-Württemberg § 90.

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Sara Faix ist Erziehungs- und Religionswissenschaftlerin. Jahrelang arbeitete sie als Streetworkerin und Projektleiterin in einer Berliner Migrantenorganisation mit muslimisch geprägten Jugendlichen. Heute unterrichtet sie an einem Berufsschulzentrum angehende ErzieherInnen/KinderpflegerInnen sowie Flüchtlinge in VABO-Klassen, [email protected].

Literatur Deutscher Lehrerpreis. Allensbach-Umfrage 2011, http://t1p.de/x128 (Zugriff am 08.11.2016). Esser, Hartmut: Integration und ethnische Schichtung, http://t1p.de/6yf3 (Zugriff am 08.11.2016). Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, hrsg. von der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2015. Günzel, Angelika: Die Religionsfreiheit nach Art. 4 GG, SS2012/13, S. 4., http://t1p.de/m0lb (Zugriff am 08.11.2016). Hessisches Schulgesetz in der Fassung vom 14. Juni 2005, vgl. http://t1p.de/hhoa (Zugriff am 08.11.2016). IfD Allensbach: Hohes Ansehen für Ärzte und Lehrer. Reputation von Hochschulprofessoren und Rechtsanwälten rückläufig, 2013, http://t1p.de/pqb6 (Zugriff am 08.11.2016). Krüger, Thomas: Die Grenzen der Religionsfreiheit, Rede vom 15.02.2004 im Rahmen der Veranstaltung »Constitutions and Confessions« in Potsdam, http://t1p.de/cmew (Zugriff am 08.11.2016). Kultur des Willkommens. Grundrechte in der Bundesrepublik Deutschland. Grundgesetz: Artikel 1–20, http://t1p.de/xknd (Zugriff am 08.11.2016). Laudowicz, Edith: Frauen im Islam. Ein Überblick, in: Laudowicz (Hg.): Fatimas Töchter. Frauen im Islam, Dresden 1992. Marquardt, Anika: Interkulturelle Kompetenz, FU Berlin: Arbeitsbereich Interkulturelle Erziehungswissenschaft. Ein Projekt von Studierenden der Erziehungswissenschaft unter der Leitung von Schondelmayer, Anne-Christin, Berlin 2010. Menekşe, Çagliyan.: Sexuelle Normenvorstellungen und Erziehungspraxis von türkischen Eltern der ersten und zweiten Generation in der Türkei und in Deutschland, Berlin u. a. 2006. Schulgesetz Baden-Württemberg, http://t1p.de/hhoa (Zugriff am 08.11.2016). Schulgesetz Berlin, http://t1p.de/sqs0 (Zugriff am 08.11.2016). Schulgesetz Hessen, http://t1p.de/vzt6 (Zugriff am 08.11.2016). Stadler, Herbert: »Beziehung ist nicht alles in der Schule, aber ohne Beziehung ist alles nichts!« Über die Wichtigkeit von Lehrer-Schüler-Beziehungen unabhängig von Schulreformen und Schultypen. Vortag zur Jahreshauptversammlung 2014 des VCL NÖ, http://t1p.de/wxnv (Zugriff am 08.11.2016). von Wensierski, Hans-Jürgen und Lübcke, Claudia: Junge Muslime in Deutschland. Lebenslagen, Aufwachsprozesse und Jugendkulturen, Opladen 2007, S. 173–195.

Islamismus als religionspädagogische Herausforderung Karsten Jung

Ein Berufliches Gymnasium in Süddeutschland. Ich unterrichte evangelische Religion in der Jahrgangsstufe 11. Unter den Schülern sind, wie jedes Jahr, Muslime. Nadim gibt sich von vornherein als gläubiger Muslim zu erkennen. Interessiert nimmt er am Unterricht in der Oberstufe teil, stellt vielfach Rückfragen. Er ist freundlich, spricht akzentfrei Deutsch, ist gut gekleidet, gebildet, kann gute Schulleistungen vorweisen, kommt aus gut integriertem Elternhaus, der Vater ist Akademiker. Eines Tages ist Nadim verschwunden: Erst wird gemunkelt, dann kommt heraus, dass er sich als Kämpfer für den IS verdingt hat. Mich als seinen Religionslehrer trifft dies wie ein Schlag: Ich habe, genauso wie die Kolleginnen und Kollegen, nichts von Nadims Radikalisierung mitbekommen. Auch pädagogisch ist das eine Erfahrung des Scheiterns: Schließlich bemühe ich mich, gegenüber Muslimen im Unterricht ein Klima des Dialogs zu schaffen und das Verbindende von Islam und Christentum zu betonen. Offensichtlich hat das nicht gefruchtet. Und ebenso offensichtlich ist, dass die Lage an der Schule einer umfassenden Fehleinschätzung unterlag. Der folgende Aufsatz soll daher eruieren, welche Merkmale radikaler Islam hat und wo religionspädagogische Handlungsoptionen liegen.

Merkmale des radikalen Islam Radikaler Islam hat im Detail viele Spielarten, strukturell (nicht inhaltlich) vergleichbar fundamentalistischen Strömungen des Christentums. Es existiert eine kaum überschaubare Zahl von kleinen, teilweise nur wenige Personen zählenden Gruppen, von denen jene, die dem Neo-Salafismus zugeordnet werden können, die größte Untergruppe bilden.

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Der Osnabrücker Islamwissenschaftler Michael Kiefer hat in mehreren Studien Strukturelemente des Neo-Salafismus herausgearbeitet.1 Im Anschluss an Peter Sloterdijk stellt er als zentrales Merkmal das »Pathos der strikten Einwertigkeit« heraus.2 Gemeint ist, dass der gesamte Alltag bipolar konstruiert wird: Jedes auch noch so kleine Detail des Lebens lässt sich in das Schema »erlaubtverboten« (halal-haram) einsortieren. Jeder Muslim habe, so wird unter Verweis auf Sure 3,104 ff. argumentiert, die Pflicht, das Gute zu ge- und das Böse zu verbieten.3 Gerade die jegliche Differenzierung verbietende Klarheit ist es, die für Jugendliche besonders eindrücklich sein kann. Daneben nennt Kiefer unter anderem folgende Merkmale: ȤȤ Starke Jenseitsorientierung mit reichhaltigen Ausmalungen des Paradieses, der Hölle und des Jüngsten Gerichts, ȤȤ Desinteresse am religiösen Dialog (denn die absolute Wahrheit ist ja bereits bekannt und muss nicht diskutiert werden), ȤȤ strikte Geschlechtertrennung unter Ablehnung des physischen Kontakts zwischen Männern und Frauen ȤȤ und schlussendlich eine »dekulturierte und denationalisierte Religionsauffassung«, also eine solche, in der die Religion als frei von historischen/kulturellen Einflüssen angesehen wird und in der das Mitglied unabhängig von seinem nationalen oder sozialen Hintergrund Aufnahme und gleichberechtigte Teilhabe finden kann.4 In älteren Veröffentlichungen werden für die Identifizierung eines für radikales Gedankengut gefährdeten Schülers oft Äußerlichkeiten genannt: Schwarze Kleidung, lange Gewänder, zunehmende Verschleierung von Frauen, weiße Kopfbedeckungen bei Männern, die Nichtbenutzung von Zahnbürsten etc. Zwar können dies durchaus Indizien einer Radikalisierung sein, vor allem wenn sie bspw. neu auftreten und mit dem Bruch des früheren Freundeskreises einhergehen. Allerdings sind diese Indizien weder hinreichend, noch notwendig,

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Kiefer, Michael: »Neosalafismus und Prävention«, Jugendsozialarbeit aktuell 129 (2014), S. 1–4. Kiefers Beschreibung der Strukturelemente weist große Ähnlichkeiten zur breiten Erforschung der Strukturmerkmale des christlichen Fundamentalismus auf, vgl. Eppler, Wilhelm (Hg.): Fundamentalismus als religionspädagogische Herausforderung, Göttingen 2015. 2 Sloterdijk, Peter: Gottes Eifer: Vom Kampf der drei Monotheismen, 2. Aufl., Frankfurt am Main 2007, S. 157. 3 Kiefer: »Neosalafismus und Prävention«, S. 2. 4 Ebd.

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da radikale Muslime sich der Nachteile allzu offensichtlicher Erkennbarkeit bewusst sein können.5 Aufmerksamkeit ist daher insbesondere bei Veränderungen angebracht, die inhaltlich in die von Kiefer skizzierte Richtung gehen: Interessiert sich ein Schüler besonders für Verbote/Gebote; klassifiziert er Mitschülerinnen und -schüler danach; wähnt er sich endlich angekommen in einer Gruppe, in der sein Hintergrund irrelevant ist; lehnt er hierzulande üblichen Körperkontakt wie das Händeschütteln ab; äußert er sich in inakzeptabler Weise über Frauen oder Ungläubige; spricht er vermehrt von Hölle und Paradies etc.

Soziologie des Islamismus Die öffentliche Debatte wird vor allem von einem Erklärungsmuster beherrscht, das man als »soziale Erklärung« bezeichnen kann. Nach diesem Muster, das unreflektiert in nahezu jeder Talkshow vertreten wird und in die Fachdiskussion wiederholt und vehement unter anderem von Lamya Kaddor eingebracht wurde, liege der Anlass für Radikalisierung in der Regel in sozialer Ausgrenzung, die sich in einer prekären materiellen Situation oder in Erfahrungen sozialer Diskriminierung äußern kann.6 Mit dem Islam habe der Islamismus, so behauptete der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime, Aiman Mazyek, wiederholt öffentlich, rein gar nichts zu tun.7 Die islamischen Gemeinden werden von Mazyek dadurch für nicht zuständig erklärt, zur Problemlösung beizutragen. Stimmt die Analyse beider, wäre das Islamismusproblem mit der Bereitstellung von mehr Mitteln für Soziale Arbeit etc. leicht zu bewältigen. Die Bekämpfung von Islamismus wäre dann vor allem eine politisch-soziale Aufgabe, nicht aber eine religiöse.

5 Indes ist Vorsicht angebracht: Das Prinzip der Taqqiya, also der bewussten Lüge über seinen Glauben zur Täuschung der Ungläubigen, ist nur im schiitischen Islam verbreitet; radikaler Islam zeigt sich in Deutschland derzeit allerdings fast ausschließlich im sunnitischen Kontext. 6 Vgl. Kaddor, Lamya: Zum Töten bereit: Warum deutsche Jugendliche in den Dschihad ziehen, München 2015. 7 So Mazyek vielfach in Fernsehsendungen und öffentlichen Erklärungen. Interessanterweise verbindet Mazyek Distanzierungen von Terroranschlägen mit der Androhung, Gott werde das von den Terroristen verübte Unrecht sühnen, womit er sich letztlich der Logik anschließt, die auch für Islamisten zentral ist, nämlich dass das Recht durch Gott gesetzt werde und dieser auch die Zuständigkeit für die Anwendung habe, vgl. beispielsweise zentralrat.de/ZMD Pressemitteilungen/28.06.2016 ZMD zu den Terror-Anschlägen in Istanbul mit 41 Toten und über 240 Verletzen, http://www.zentralrat.de/27687.php (Zugriff am 08.11.2016).

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Zwar sollen die Notwendigkeit sowie der positive Effekt von wertegebundener Sozialer Arbeit nicht bestritten werden, doch muss konstatiert werden, dass das Problem komplexer ist, als die Reduktion auf die »soziale Erklärung« suggeriert. Zunächst spricht die Soziologie der Islamisten dagegen. Dies betrifft nicht nur Nadim, der aus einem finanziell gut situierten Akademikerhaushalt kam. Mittlerweile liegen Untersuchungen vor: Selbst in Frankreich, dessen Banlieues immer wieder als Beleg für die »soziale Erklärung« genommen werden, entstammen 84 % der Dschihadisten der Mittel- bzw. Oberschicht; in Deutschland und Großbritannien ist der Anteil sogar noch größer.8 Und analog dazu haben die islamistischen Bewegungen in den Arabischen Ländern starken Zulauf aus der akademischen Mittel- und Oberschicht.9 Neben dem nüchternen empirischen Befund spricht auch die weltweite Realität dagegen: Gäbe es eine statistisch belegbare Korrelation zwischen Armut, Ausgrenzung und Gewaltbereitschaft, müsste es auf der Welt weitaus mehr Terroristen geben. Ein weiterer Aspekt: Entgegen dem Vorurteil ist islamistischer Radikalismus nicht nur eine Sache junger Männer. Zunehmend lassen sich auch Frauen für islamistische Ideale gewinnen, sodass ihr Anteil mittlerweile bei über einem Drittel liegt.10 Es ist daher festzuhalten, dass man als Lehrkraft damit rechnen muss, dass für Radikalisierung gefährdete Schülerinnen und Schüler vor allem aus sozialen Kontexten kommen, die diese Radikalisierung nach dem gängigen Vorurteil nicht vermuten lassen. Die einseitige Ausrichtung des Unterrichtsmodells auf die Integration der vermeintlich Deklassierten mag unter sozialpolitischen Gesichtspunkten löblich sein, hinsichtlich der Islamismus-Prävention verfehlt sie indes die Zielgruppe und damit ihre Wirkung.

Der unterstützende Hintergrund Islamismus tritt zwar gelegentlich auch bei »einsamen Wölfen«, also allein handelnden Menschen auf, er hat aber in der Regel unterstützende Strukturen. Offensichtlich ist, dass bspw. eine größere arabischsprechende Community,   8 Geiger, Klaus: Paris: Warum Ärzte und Ingenieure in den Dschihad ziehen – DIE WELT, http:// t1p.de/woxh (Zugriff am 08.11.2016).   9 Vgl. Kieserling, André: Radikale Bewegungen: Der Frust des Akademikers, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.07.2016, http://t1p.de/5d47 (Zugriff am 08.11.2016). 10 Geiger: Paris: Warum Ärzte und Ingenieure in den Dschihad ziehen – DIE WELT.

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wie sie in Deutschland im Gegensatz zu Frankreich und Belgien noch die Ausnahme ist, geeignet ist, Netzwerke zu bieten, in denen Islamisten untertauchen und Gewalttaten planen können. Der Berliner Migrationswissenschaftler Ruud Koopmans hat die Zusammenhänge zwischen islamischen Glaubensvorstellungen und Intoleranz anhand diverser Parameter untersucht und kommt zu dem paradigmatischen Schluss, dass eine Revolution in der islamischen Welt nötig sei: Eine islamische Reformation, wenn man so will. Und die wird es so lange nicht geben, wie die Verneinungsthese des »Es hat mit dem Islam nichts zu tun« und die Kultivierung der muslimischen Opferrolle die Debatte über Radikalisierung, Verfolgung und Gewalt dominieren.11 Das Problem des Islamismus beginnt, folgt man den oben genannten Kriterien, nicht erst mit der Gewaltbereitschaft, sondern bereits mit auf den ersten Blick harmlosen Denkmustern wie der »strikten Einwertigkeit«, also der fortwährenden Unterscheidung zwischen halal und haram; der Nichttrennung von Staat und Religion, gipfelnd in dem Wunsch, das säkulare Recht durch die Sharia zu ersetzen; der theologischen Unterscheidung zwischen einer absoluten Wahrheit (in deren Besitz man freilich sich selbst wähnt) und der Ketzerei, als die alles Andere gebrandmarkt wird12; schlussendlich der mangelnde Wille, die eigene Tradition/den Koran in seinen historischen Zusammenhang zu stellen und aus diesem heraus historisch-kritisch zu verstehen.13 Folgt man Koopmans, reicht eine bloße Distanzierung von Gewalt nicht aus, um sich glaubwürdig vom Islamismus zu distanzieren. Zu fragen ist vielmehr nach theologischen Hintergrundstrukturen, die den Nährboden bilden, auf dem aus Islam als subjektivem Glauben Islamismus werden kann. Man tut also gut daran, die Unterstützer- bzw. Nährbodenstrukturen zu identifizieren. Diese sind deutlich alltäglicher vorhanden, als man auf den ersten Blick meinen möchte – es sind nicht allein radikale Gruppen im Internet, die 11 Koopmans, Ruud: Hass in der muslimischen Welt: Der Terror hat sehr viel mit dem Islam zu tun, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.07.2016, http://t1p.de/xsck (Zugriff am 08.11.2016). 12 Vgl. Assmann, Jan: Die Mosaische Unterscheidung: oder der Preis des Monotheismus, München 2010. Man muss der Schärfe der These Assmanns keineswegs folgen. Gleichwohl hat Assmann eine wesentliche Struktur aufgedeckt: Mit der Unterscheidung von Wahr und Falsch ist monotheistischen Religionen durchaus ein Gewaltpotenzial inhärent, das der Bändigung bedarf, beispielsweise durch eine »Reformation« in dem Sinne, wie Koopmans das Wort gebraucht. 13 Ausgesprochen instruktiv zu diesem Problem: Ourghi, Abdel-Hakim: »Aufklärung« des Islams?! (2016).

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kaum greifbar sind. Indizien für die Allgegenwart islamistischer Denkstrukturen geben einige jüngst erschienene Studien islamischer Religionspädagogen, bspw. von Ednan Aslan oder Abdel-Hakim Ourghi. Aslan hat in einer umfangreichen Studie 150 islamische Kindergärten in Wien untersucht. Er kommt zu dem Schluss, dass in einem erheblichen Teil bewusst keine Erziehung zur Pluralitätsfähigkeit geboten werde, sondern genau die strikte Einwertigkeit gelehrt werde: »Kinder werden mit einem veralteten Sündenverständnis eingeschüchtert und ihnen wird ihre Entwicklung zur Mündigkeit genommen.«14 Zu einem vergleichbaren Urteil kommt Abdel-Hakim Ourghi, der in einem Gutachten den Hessischen Lehrplan für den Islamischen Religionsunterricht untersucht hat. Er stellt fest, dass in diesem eine Auseinandersetzung mit problematischen Koranstellen nicht stattfinde.15 Ourghi macht die Religionsorganisation DITIB, eine der größeren Moscheebetreiberinnen in Deutschland, die an der Entstehung des Hessischen Lehrplans mitbeteiligt war, und die hinter DITIB stehende türkische Regierung verantwortlich, die Emanzipation der Muslime in die westliche aufgeklärte Welt faktisch zu behindern.16 An dieser Stelle ist es nicht möglich, die Rolle islamischer Verbände im Detail zu diskutieren, wenngleich Ourghi zuzustimmen ist, dass nur ein – vermutlich kleiner – Teil von diesen als Partner für eine pluralitätsfähige islamische Religionspädagogik in Frage kommt. Aus der Perspektive der Arbeit mit Schülerinnen und Schülern ist jedoch relevant, zu erkennen, dass die Radikalisierung begünstigende Strukturen in vielen Bereichen auftreten können – und dass die Frage, ob die örtliche Moscheegemeinde als Bildungs- und ggf. Deradikalisierungspartner fungieren kann, nur im Einzelfall zu entscheiden und in vielen Fällen negativ zu beantworten ist.

14 Aslan, Ednan: Projektbericht: Evaluierung ausgewählter Islamischer Kindergärten und -gruppen in Wien, Wien 2016, http://t1p.de/d10x (Zugriff am 08.11.2016). 15 Peters, Freia: Niemand weiß, was im Islamunterricht passiert, http://t1p.de/qqhb (Zugriff am 08.11.2016). 16 Ebd. Problematisch erscheint zudem, dass die Imame der Moscheen von DITIB in der Regel von der türkischen Regierung bezahlte Staatsangestellte sind, aus der Türkei kommen und nach wenigen Jahren in diese zurückbeordert werden und daher vielfach nur geringes Interesse an Integration haben. Darüber hinaus sind diese Strukturen nicht geeignet, eine nachhaltige Unabhängigkeit von den Interessen einer jeweiligen türkischen Regierung zu gewährleisten. Gleichwohl gibt es auch positive Beispiele der Zusammenarbeit mit DITIB, vgl. Mouhanad Khorchide im Gespräch: »Mit Mahnwachen bekämpft man den Islamismus nicht«, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.01.2015, http://t1p.de/6utc (Zugriff am 08.11.2016).

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Religion und Religionspädagogik als Schlüssel zum Problem Wenn oben die »soziale Erklärung« der Radikalisierung zurückgewiesen wurde, ist zu fragen, welche anderen Erklärungsmodelle tauglich sein könnten. Oder, anders gefragt, was den Islamismus attraktiv für junge Menschen macht. Zu fragen ist zweierlei: 1. Warum schließen diese sich einer radikalen Form des Islam, also einer Religion, an und nicht etwa einer politisch radikalen Gruppe? 2. Warum ist die radikale Variante des Islam attraktiv und nicht etwa eine gemäßigte? Zu Frage 1: In der evangelischen Religionspädagogik hat sich seit mehreren Jahrzehnten ein Ansatz etabliert, der einen weiten Religionsbegriff zugrunde legt. Gegenwärtig wird dieser Ansatz prominent bspw. von Wilhelm Gräb vertreten.17 Gräb zufolge muss zwischen zwei Formen der Religion unterschieden werden: Einerseits dem, was man landläufig unter »Religion« versteht, also den großen dogmatischen Systemen des Christentums, des Islam usw. und andererseits der persönlichen Religiosität, dem subjektiven Glauben, der sich in der Postmoderne der Vorstellungen der Religionen nach subjektiven Kriterien bedient oder auch nicht. Die meisten Menschen haben ein eher loses Verhältnis zu den Dogmen und Überlieferungen »ihrer« Religion18: Der Mitgliederrückgang der christlichen Kirchen belegt eindrücklich, dass vorgefertigte Dogmensysteme immer weniger anschlussfähig und glaubwürdig sind. Analoges gilt im Islam: Mouhanad Khorchide hat in einer soziologischen Untersuchung herausgefunden, dass das Wissen um Dogmen und Traditionen des Islam gerade auch bei radikalen jungen Muslimen eher gering ist, sondern diese sich einer subjektiven Auswahl bedienen.19 Khorchide spricht hier von »Schalen-Muslimen«, also solchen, die eine sehr subjektive Religiosität in eine islamische Schale bringen, die sich traditionell gibt, tatsächlich aber vielfach auf einem Sammelsurium von Überzeugungen beruht. Mit diesen Überzeugungen seien die Neo-Salafisten paradoxerweise, so Rauf Ceylan, ein Produkt der Moderne, welches die Tradition und Pluralität der bestehenden Moscheegemeinden in Deutschland ablehnt.20 17 Gräb, Wilhelm: Religion als Deutung des Lebens: Perspektiven einer Praktischen Theologie gelebter Religion, Gütersloh 2006, insbesondere S. 52 ff. und 167 ff. 18 Gemeint ist: Der postmoderne Mensch wählt aus dem religiösen Angebot von Religionsgemeinschaften das für ihn lebensdienliche aus. Beispielsweise befolgt kaum ein Katholik die Sexualethik der katholischen Kirche usw. 19 Khorchide, Mouhanad: Islamischer Fundamentalismus in Deutschland: Ein soziales Phänomen?, in: Eppler, Wilhelm (Hg.): Fundamentalismus als religionspädagogische Herausforderung, Göttingen 2015, S. 85–104. 20 Ceylan, Rauf: Jugendarbeit in Moscheen. Möglichkeiten einer Präventionsarbeit gegen neosalafistische Strömungen, deutsche jugend 64/4 (2016), S. 164. Ceylan bezeichnet dies als ein Produkt der Säkularisierung, weil erst diese Religion und Kultur getrennt habe.

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Gräbs und Khorchides Untersuchungen stimmen in einem wesentlichen Punkt überein: Viel wichtiger als die tatsächlichen dogmatischen Systeme ist für Menschen in der Postmoderne die persönliche Gewinnung von Lebenssinn und Halt. Gräb schlägt vor, diese Form der Religiosität vor allem als Sinnsuche zu beschreiben: Jeder Mensch benötigt Sinn und muss ihn immer wieder neu finden, wenn negative Lebenserfahrungen die bisherige Sinnfindung zunichtegemacht haben. Sinn aber hat etwas mit Religion zu tun: Soziale Beziehungen (wie z. B. Partnerschaft) allein können nicht vollumfänglich Sinn geben, weil sie brüchig sind: Absoluten Sinn kann nur das Absolute (Gott) garantieren.21 Wendet man diese Einsichten auf jugendliche Islamisten an, dann muss man konstatieren, dass der Islamismus offenbar zur Generierung von Lebenssinn beiträgt. Islamismus ist eine Art »Sinnmaschine«, deren Produkt Abnehmer findet. Ja, Islamismus hat etwas mit dem Islam zu tun, denn er funktioniert, weil er religiösen Sinn unter mehr oder minder profunder Berufung auf die gleichen Quellen wie der gemäßigte Islam generiert. Hierin liegt der Grund, warum sich gerade Menschen aus der Mittel- und Oberschicht für den Islamismus begeistern: Gegen eine als sinnentleert, in ihrer Pluralität uneindeutig, als oberflächlich-hedonistisch, vielleicht auch dekadent empfundenen Umwelt wird ein Angebot gestellt, das durch Eindeutigkeit und durchaus intellektuelle und religiöse Tiefe besticht: Nicht selten hört man in der öffentlichen Diskussion die Auffassung, religiöser Extremismus biete »einfache Lösungen« für Menschen, die mit unserer »komplexen Welt überfordert« seien. Diese Behauptung ist schwerlich haltbar: Denn es handelt sich ja gerade nicht um das Bildungsproletariat, das sich für den Islamismus begeistert, dessen Lösungen durchaus einen hohen Komplexitätsgrad aufweisen. Zudem ist höchst fraglich, ob es pädagogisch geschickt ist, die Menschen, die man für sich gewinnen möchte, pauschal als »überfordert« o. Ä. zu stigmatisieren. Zur 2. Frage: Offen ist noch die zweite Frage, warum bspw. Neo-Salafisten oder andere islamistische Gruppen eine höhere Anziehungskraft haben als andere. Hierzu liegen noch keine fundierten Ergebnisse vor, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit lassen sich die Ergebnisse der Jugendstudien aus dem christlichen Umfeld in einem gewissen Maß übertragen: »Klassische« Gemeinden werden als überaltert empfunden, ihre Botschaft als selbstgefällig, ihre Werte als nicht lebensdienlich. Hinzu kommt das ethnische Problem: Moscheegemeinden in Deutschland sind nicht selten von einer Ethnie dominiert (bspw. Türken). Diese Gemeinden sind für Jugendliche anderer Ethnien oder für solche, die die Ethnizität ihrer Großelterngeneration längst hinter sich gelassen haben, 21 Gräb, Wilhelm: Religion als Deutung des Lebens, S. 52 f.

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uninteressant. Das Angebot islamistischer Gruppen, das bewusst überkulturell und überethnisch gestaltet ist, stößt hier in eine Marktlücke.22

Zur Bedeutung islamischer Religionspädagogik Wenn es die Sinnsuche ist, die Jugendliche bewegt, sich islamistischen Gruppierungen anzuschließen, dann liegt der Schlüssel für die Lösung des Problems in einer geeigneten islamischen Religionspädagogik. Die Pointe ist, dass eine islamische Religionspädagogik sowohl tragfähige Sinnangebote machen, gleichzeitig diese aber abseits einer »halal-haram-Logik« elaborieren muss.23 Dabei wird von entscheidender Bedeutung sein, ob es gelingt, Religion als Teil der Kultur anzusehen und die daraus fließenden Konsequenzen zu beachten: Dass religiöse Überzeugungen nur in einem bestimmten kulturellen Kontext entstehen, der reflektiert werden muss, wenn man die religiöse Überzeugung verstehen will (in der Exegese heiliger Schriften z. B. mittels der historisch-kritischen Forschung). Da, wie oben angedeutet, in Moscheegemeinden derzeit eine solche Pädagogik vielfach nicht erwartet werden kann, kann ein Erfolg nur in einem wissenschaftlich begründeten und aus der Verantwortung ungeeigneter Islamverbände entzogenen islamischen Religionsunterricht geschehen – einen geeigneten Vorschlag dazu macht Abdel-Hakim Ourghi in diesem Band. Im Hintergrund muss eine islamische Theologie stehen, die in der Lage ist, das enge Verhältnis von Religion und Kultur im Angesicht der Pluralität der Moderne zu erfassen und dabei zur Sinnfindung beizutragen. Mit Recht spricht Mouhanad Khorchide davon, dass es darum gehe, »entkernte Identitäten mit sinnvollem Gehalt zu füllen«, wobei das Adjektiv »sinnvoll« hier wörtlich zu verstehen ist.24 Für Khorchide ist hierfür die Gottesbeziehung zentral. So argumentiert er, dass eine neue »dialogische Theologie« geschaffen werden müsse, eine, in der die Beziehung zwischen Gott und Mensch nicht ausschließlich unter der Prämisse von Gesetz/Wort Gottes einerseits und Gehorsam andererseits gedacht werde.25 22 Vgl. dazu Ceylan: Jugendarbeit in Moscheen. Möglichkeiten einer Präventionsarbeit gegen neo-salafistische Strömungen. 23 Prinzipiell gilt das auch für die christliche Religionspädagogik – auch konservative Christen tun sich zuweilen schwer, Religion als anthropologische Selbstdeutung in einem jeweiligen kulturellen Kontext und damit als plural aufzufassen, sondern setzen dem einen, teilweise vormodern begründeten Verkündigungs-und Wahrheitsanspruch entgegen. 24 Khorchide: Islamischer Fundamentalismus in Deutschland: Ein soziales Phänomen?, S. 97. 25 Ebd., S. 98.

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Die entscheidenden Kriterien für eine pluralitätsfähige islamische Theologie sind oben benannt, sollen hier aber noch einmal aufgezeigt werden – denn sie bilden auch im Umgang mit Schülerinnen und Schülern eine gewisse Messlatte, anhand derer Äußerungen besser eingeschätzt werden können. Relevant ist die Anerkennung ȤȤ des staatlichen Rechts, insbesondere der Menschenrechte, ȤȤ der Trennung von Religion und Staat, ȤȤ der kulturellen Gebundenheit und historischen Gewachsenheit von Religion ȤȤ sowie die Durchbrechung der halal-haram-Logik und damit verbunden die Durchdenkung eines anderen Verhältnisses Gott-Mensch. Wie im Rahmen dieser Grenzen eine neue islamische Theologie konkret aussehen könnte, dafür verbieten sich Ratschläge von christlicher Seite; gleichwohl ist hier ein lohnendes Feld für den interreligiösen Dialog gegeben. Zu konzedieren ist: Das nachaufklärerische Christentum hat sich mit dieser Frage ähnlich schwergetan, wie die islamische Theologie derzeit. Der Prozess hin zu einer pluralitätsfähigen Theologie hat im Christentum von den ersten Ansätzen bei Spalding oder Schleiermacher im 18. Jahrhundert rund 100 Jahre gedauert, bis der sogenannte Kulturprotestantismus die maßgeblichen Lösungen entwickelte und mehrheitsfähig machte. Der Dialog über Fragen des Verhältnisses von Religion und Kultur im Angesicht der Aufklärung dürfte allemal ergiebiger und auch deutlich interessanter sein, als der derzeit stattfindende Dialog über Riten, Bräuche oder bestimmte ethische Regelungen in Bibel und Koran, zumal letzterer auch einer theologisch für die Gegenwart unbrauchbaren Prämisse, nämlich dem Sünde/haram-Gebot/ halal-Denken unterliegt.

Die Aufgabe christlicher Religionspädagogik Es wäre aus mehreren Gründen jedoch zu kurz gedacht, die schwierige Herausforderung des Islamismus allein der islamischen Religionspädagogik zu überlassen. Bis ein islamischer Religionsunterricht, der hinsichtlich der Lehrplanausgestaltung und des Personals den oben skizzierten Anforderungen genügt, flächendeckend eingerichtet sein wird, werden noch viele Jahre vergehen. Erschwerend kommt hinzu, dass diejenigen islamischen Theologen, die sich mit Nachdruck für einen pluralitätsfähigen Islam einsetzen, innerhalb der islamischen Community weitgehend isoliert sind: Im Hinblick auf die außereuropäische Welt sowieso, aber auch in Deutschland. Mouhanad Khorchide beklagt,

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dass von islamischen Gemeinden die wissenschaftliche Arbeit offen behindert werde; er und andere werden aufgrund ihrer Thesen sogar von Gewalt bedroht und stehen unter Polizeischutz.26 Bis auf weiteres werden sehr regelmäßig muslimische Schülerinnen und Schüler den christlichen Religionsunterricht besuchen, sodass nicht nur Dialog auf der akademischen Ebene notwendig ist, sondern auch ganz konkret christliche Religionslehrinnen und -lehrer gefordert sind. Bereits unabhängig von der Islamismus-Debatte wird seit etwa zwei Jahrzehnten aus der Perspektive der christlichen Religionspädagogik betont, dass der Religionsunterricht sich aus der Engführung einer reinen religiösen Wissensvermittlung, wie sie immer noch Grundlage vor allem für die Lehrpläne der Sekundarstufe II ist, befreien müsse. Wilhelm Gräb äußert sich programmatisch: Ein Ort der offenen Kommunikation über religiöse und ethische Fragen soll [der Religionsunterricht] sein, ein Ort vor allem, an dem die eigene Subjektivität zu ihrem Recht kommt, unverstellt, unbelastet durch die vermeintlich immer schon fertigen Antworten, die die christliche Tradition bereitstellt. […] Der Religionsunterricht will als ein Ort für die problemoffene Selbstreflexion des eigenen Lebens erfahren werden, ein Ort, an dem diese Selbstreflexion religiös vertieft werden kann.27 Was Gräb fordert, gilt für den Religionsunterricht, der der Herausforderung durch den Islamismus begegnen will, erst recht, denn oben konnte ja die Sinnproduktion als maßgeblicher Erfolgsfaktor des Islamismus herausgestellt werden. Religionsunterricht muss sich wieder trauen, sinngenerativ konzeptioniert und durchgeführt zu werden. Dabei braucht sich christlicher Religionsunterricht nicht zu verstecken: Christliche Inhalte bieten in ihrem symbolischen Gehalt die Chance zur Sinngebung, wenn sie biografisch-lebensweltlich anschlussfähig an die Schülerinnen und Schüler bleiben – das allerdings ist der Kernpunkt, denn ein Rückfall in die Betrachtung des Religionsunterrichts als Verkündigung, wie sie beispielweise in den 1950er Jahren vertreten wurde, verliert seine Anschlussfähigkeit vollständig. Die Orientierung an der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler bietet die Option zur interreligiösen Offenheit und zur konfessions- und religionsübergreifenden Kommunikation: An die Stelle der Unterrichtslogik »Das Christentum sagt dies, der Islam das Gleiche/etwas Anderes« ist die Prämisse zu setzen, 26 »Mouhanad Khorchide im Gespräch«. 27 Gräb: Religion als Deutung des Lebens, S. 173 und 175.

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dass es im Mittelpunkt um die Schülerinnen und Schüler geht – die Frage, ob und welcher Religionsgemeinschaft sie sich zugehörig fühlen, wird dann sekundär. Für den Religionsunterricht, ob christlich oder islamisch, ist die Denkweise zu überwinden, nach der Christentum oder Islam bestimmbare Größen seien, die objektiv andoziert oder verglichen werden könnten. Der Zugang zur Religion erfolgt über das menschliche Subjekt. Religion ist nichts, was vom menschlichen Subjekt unabhängig wäre. Daher führen sämtliche »objektivistischen« Ansätze, die auf ein »X (z. B. ein Terroranschlag) hat mit dem Islam/dem Christentum nichts zu tun« bzw. »Christentum/Islam ist Y (z. B. Friede/Nächstenliebe/Barmherzigkeit usw.)« bzw. »in der Bibel/im Koran steht Z« hinauslaufen, sowohl theologisch wie auch religionspädagogisch in die Irre: Sie geben das eigene, subjektive Verständnis des Islam/des Christentums als objektiv aus und verkennen dabei bereits im Ansatz sowohl die eigene Subjektivität wie auch die grundsätzliche Berechtigung anderer Zugänge. Im Zentrum des Religionsunterrichts muss Religion stehen: die subjektive, lebensrelevante, biografische Sinndeutung im Angesicht des Absoluten. Im Zentrum des Religionsunterrichts müssen der Mensch und sein unendlicher Wert stehen. Im Zentrum des Religionsunterrichts müssen die Sinnfindung und die Kommunikation darüber stehen. Ein Religionsunterricht, der im Wortsinne Religions-Unterricht ist, ist geeignet, Prävention gegen jede Art des religiösen Fundamentalismus zu sein.

Dr. theol. Karsten Jung, Leiter der Forschungsstelle Religionspädagogik an der CVJM-Hochschule Kassel und Studienrat für Ev. Religion und Geschichte an einer Beruflichen Schule, [email protected].

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Was ist Toleranz? Karsten Jung

Toleranz ist als Leitbegriff aus dem schulischen Handeln nicht mehr wegzudenken. In unzähligen Leitbildern aller Schularten steht die Verpflichtung zu Toleranz und Respekt. Toleranz gilt als Tugend schlechthin. Dennoch nötigt das Erscheinen extremistischer Äußerungen bzw. sogar Gewaltakte, den Toleranzbegriff zu schärfen. Die vielzitierte Formel »keine Toleranz der Intoleranz« greift zu kurz, weil sie sich des Toleranzbegriffs bedient, ihn aber nicht hinreichend bestimmt. Die folgenden Ausführungen sollen den Toleranzbegriff präzisieren und für Lehrende alltagstauglich umsetzbar machen.

Toleranz und Akzeptanz Der Begriff Toleranz kommt vom lateinischen Verb »tolerare«, deutsch: erdulden, ertragen. Im Kern geht es also zunächst einmal nur darum, zu dulden, was anders ist als man selbst. Diese Haltung ist aber nicht unproblematisch, denn beim Geduldeten kann die bloße Duldung ein schales Gefühl hinterlassen. Jemanden nur zu dulden, kann bedeuten, ihn letztlich aufgrund der nur geduldeten Überzeugung/Eigenschaft abzulehnen, ihn nicht zu akzeptieren und nicht »mitmachen« zu lassen: »Du bist hier nur geduldet, nicht mehr!« Bereits Goethe formulierte daher: »Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein; sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.«1 Es spricht also einiges dafür, den Toleranzbegriff dahingehend auszuweiten, den Anderen nicht nur zu dulden, sondern ihn insofern zu akzeptieren, als dass man versucht, die Welt aus seiner Perspektive zu sehen und dabei auch bereit ist, den eigenen Blickwinkel kritisch zu hinterfragen. Um dieser Haltung 1

Goethe, Johann Wolfgang von: Maximen und Reflexionen, Wiesbaden 2012, S. 151.

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Ausdruck zu verleihen, wird in der Diskussion häufig neben dem Begriff der Toleranz der Begriff Akzeptanz genannt. Die Haltung der Akzeptanz ermöglicht überhaupt erst einen sinnvollen Dialog von Menschen, die unterschiedliche Vorstellungen haben. Dialog ist sinnlos, wenn die Beteiligten entweder gar kein Interesse am Anderen haben oder aber keine Bereitschaft, die Argumente des Anderen anzuhören und seine eigenen Argumente zu überprüfen. Toleranz bzw. Akzeptanz zu üben heißt nicht, auf einen eigenen Standpunkt zu verzichten. Wolfgang Huber, der ehemalige Ratsvorsitzende der EKD, beschreibt dies in einem Modell der »überzeugten Toleranz«: Toleranz setzt vielmehr voraus, dass Menschen zu dem stehen, was ihnen wichtig ist, und deshalb achtungsvoll mit dem umgehen, was anderen wichtig ist. Man kann diese Vorstellung als »überzeugte Toleranz« bezeichnen. Huber fährt mit einer wesentlichen Einsicht fort: Solche »überzeugte Toleranz« kann freilich nur gelingen, wenn die Achtung vor der Integrität des andern und die Bereitschaft, konkurrierende Wahrheitsansprüche achtungsvoll auszutragen, leitend sind. Religiöse Haltungen, in denen die Durchsetzung von Wahrheitsansprüchen mit Gewalt für möglich gehalten wird, sind zur Toleranz nicht im Stande und verdienen auch ihrerseits keine Toleranz.2

Toleranz und Religionsfreiheit In Deutschland gilt nach Art. 4 GG Religionsfreiheit, wobei der Staat sich nach Art. 4 II GG verpflichtet, die ungestörte Religionsausübung zu gewährleisten. Zudem ist Religion nach Art. 7 III GG in den Schulen or­dentliches Lehrfach, wird also nach einem verbindlichen, konfessionell gebundenen Lehrplan von mehrheitlich staatlich besoldeten Lehrkräften und mit Versetzungsrelevanz unterrichtet.3 Die Religionsfreiheit und der schulische Religionsunterricht haben somit den Status von Grundrechten.

2 Huber, Wolfgang, EKD-Kirchenamt: Stabsstelle: »Toleranz ist nicht Beliebigkeit. Zum Dialog der Religionen.«, 08.02.2008, http://t1p.de/fzb9 (Zugriff am 08.11.2016). 3 Sonderregelungen existieren in Berlin, Brandenburg und Bremen sowie in Hamburg, wo in evangelischer Verantwortung ein »Religionsunterricht für alle«, also unter Verzicht auf die Konfessionalität, erteilt wird.

Was ist Toleranz?

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Zunächst ist festzuhalten, dass die Grundrechte Ansprüche der Menschen gegenüber dem Staat regeln, nicht aber von Privatleuten untereinander. Religionsfreiheit heißt bspw., dass der Staat keinen Schüler zwingen kann, am Religionsunterricht einer anderen Religion teilzunehmen. Oder aber auch, dass der Staat den Bau einer Moschee nicht prinzipiell verbieten darf, sondern dafür Sorge tragen muss, dass alle Religionsgemeinschaften ihre Versammlungsräume nach den gleichen Regeln errichten dürfen. Der Staat selbst – und damit die Schule – muss gegenüber den Religionsgemeinschaften Neutralität bewahren und alle nach dem gleichen Recht behandeln. Religion hat allerdings aus der Perspektive des Gläubigen einen Wahrheitsanspruch: Der Bezugspunkt der Religion ist das Absolute, egal ob man dieses als Gottesvorstellung denkt oder, wie z. B. in den östlichen Religionen, als absolut geltende Prinzipien. Wo aber das Absolute der Bezugspunkt ist, kann nicht alles relativ sein; kann nicht alles gleich wahr sein. Schülerinnen und Schüler dürfen diesen Wahrheitsanspruch auch artikulieren – alles andere wäre ein schwerer Eingriff in ihre Religionsfreiheit. Es kann also an der Schule nicht darum gehen, Streit um die Wahrheitsfrage auszublenden, sondern darum, ihn achtungsvoll auszutragen – und dazu gehört konstitutiv der Verzicht auf Gewalt, der gegenüber es keine Toleranz zu geben braucht. Für den schulischen Kontext bedeutet das: Während für Lehrerinnen und Lehrer als Vertreter des Staates besondere Neutralitätspflichten gelten, haben Schülerinnen und Schüler weitergehende Rechte, ihre Überzeugungen auch mit der Formulierung absoluter Wahrheitsansprüche zu artikulieren, sofern sie dabei den Grundsatz der Gewaltfreiheit einhalten, keine Straftatbestände verwirklichen und im Unterricht das lernförderliche Klima nicht gefährden. Beispielhaft: Eine Schülerin darf die Überzeugung haben und äußern, dass Andersgläubigen schwerste Höllenstrafen drohen, dass nur ihr Gott der wahre Gott sei, dass vorehelicher Geschlechtsverkehr oder der Genuss bestimmter Speisen aus religiösen Gründen abzulehnen seien usw. – eine Lehrerin darf diese Überzeugung aber weder im Rahmen ihres Bildungsauftrags äußern, noch Schüler in irgendeiner Form benachteiligen. Für die Lehrerin gilt, dass sie sehr weitreichende Akzeptanz üben muss.

Professioneller Umgang mit religiösen Überzeugungen Während das Toleranz- bzw. Akzeptanzgebot für Lehrerinnen und Lehrer oben als sehr weitreichend beschrieben werden konnte, fällt jedoch nicht jede religiös begründete Äußerung oder Tat unter die Duldungspflicht.

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Es ist hilfreich, jeweils zwei Ebenen der Toleranz zu unterscheiden4: Zum einen die Ebenen der beteiligten Menschen – das pädagogische Personal auf der einen Seite, also Lehrerinnen, Schulsozialarbeiter sowie Schulleitungspersonal und die Schülerinnen und Schüler auf der anderen Seite. Neben diesen »menschlichen« Ebenen gibt es eine strukturelle Ebene: Oben wurde zwischen Toleranz und Akzeptanz unterschieden. In der folgenden Tabelle sind in den Zeilen die Ebenen des Leitungspersonals bzw. der Teilnehmenden dargestellt, in den Spalten die beiden Begriffe der Toleranz und Akzeptanz. Die Tabelle soll in den folgenden Abschnitten erläutert werden. Ebenen

Toleranz

Akzeptanz

Personalebene

Alle religiösen Überzeugungen werden vom Lehrpersonal geduldet. Die Religionsfreiheit der Schülerinnen und Schüler wird gewahrt. Grenze: Achtung der Menschenwürde/Straftatbestände.

Alle religiösen Überzeugungen werden vom Lehrpersonal wertgeschätzt; auch solche, die man selbst gar nicht teilt. Grenze: Wahrung des Schulfriedens.

Schüler­ ebene

Schülerinnen und Schüler dulden andere religiöse Überzeugungen. Sie enthalten sich strafbarer Handlungen wie Beleidigungen oder Gewalt.

Die Haltung der Akzeptanz kann nicht eingefordert werden – wäre ­respektlos gegenüber den religiösen Überzeugungen der Teilnehmenden. Gleichzeitig leisten die Schülerinnen und Schüler ihren Beitrag zur Wahrung des Schulfriedens.

Ebenen der Toleranz und Akzeptanz

Grenzen von Toleranz und Akzeptanz Aus der Tabelle ist zweierlei ersichtlich: Erstens, dass von Schüler- und Lehrerseite ein unterschiedliches Maß an Toleranz einzufordern ist und zweitens, dass Toleranz und Akzeptanz Grenzen haben. Oben wurde hinsichtlich des ersten Punktes bereits dargestellt, dass für Schülerinnen und Schüler eine deutlich größere Freiheit gilt als für Lehrende. Von Schülerinnen und Schülern offen oder implizit im Sinne einer »hidden agenda« zu verlangen, den Wahrheitsanspruch ihrer Religion vollständig aufzugeben, hieße, ihnen die Religionsfreiheit zu nehmen. Zu der von der Lehrerseite notwendigen Akzeptanz gehört auch das Akzeptieren des Umstands, dass es sich hier um eine Einbahnstraße handeln kann. Ich muss als Lehrer damit leben, wenn eine Schülerin mich für ungläubig, sündig, 4

Vgl. hierzu auch Jung, Karsten: Interreligiöse Jugendarbeit als missionarische Gelegenheit, in: Karcher, Florian: Handbuch missionarische Jugendarbeit, Neukirchen-Vlyn 2016, S. 293–311.

Was ist Toleranz?

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kafir etc. hält, außerhalb des Unterrichts meine Gesellschaft meidet, pädagogische Unterstützung ablehnt und das auch äußert. Gleichwohl bedeutet das keinen Freibrief für religiös begründete Äußerungen oder Handlungen aller Art. Was von einem Schüler hingegen verlangt werden kann, ist, dass er strafbare Handlungen aller Art unterlässt, hierzu gehören bspw. Beleidigungstatbestände, Volksverhetzung, aber auch jegliche Form von Gewalt usw. – auch dann, wenn diese religiös begründet werden. Die individuelle Religionsfreiheit findet ihre Grenze grundgesetzlich in der Menschenwürde, die ein Lehrer als Vertreter des Staates durchsetzen muss.5 Ein Schüler, der Straftatbestände verwirklicht, kann nicht darauf hoffen, dass ihm dies – vermeintlich tolerant – verziehen wird. Deutlich komplizierter, weil weniger eindeutig, verhält es sich für Lehrkräfte mit den Grenzen der Akzeptanz. Denn die Grenze der Akzeptanz ist nicht wie die Grenze der Toleranz durch Grundgesetz und Strafgesetze bewehrt, sondern deutlich abstrakter und weniger eindeutig. Zu den pädagogischen Aufgaben der Lehrkraft gehört, a) im Klassenraum eine lernförderliche Atmosphäre herzustellen und b) an der gesamten Schule den Schulfrieden zu wahren. Zwischen beiden ist zu unterscheiden. a) Die Herstellung einer lernförderlichen Atmosphäre bedeutet, dass im Klassenraum eine solche Atmosphäre zu herrschen hat, dass alle Schülerinnen und Schüler gleichermaßen die Chance haben, Kompetenzen zu erwerben. Störungen dieser Atmosphäre müssen unterbunden werden. Die Schulgesetze der Bundesländer sehen hierfür eine breite Palette an Maßnahmen vor, die eine Lehrkraft einsetzen kann: Von der Ermahnung über die Beauftragung mit zusätzlichen Aufgaben bis hin zum zeitweiligen Unterrichtsausschluss.6 Diese Maßnahmen können und müssen auch dann eingesetzt werden, wenn eine Schülerin die lernförderliche Atmosphäre durch religiöse Handlungen beeinträchtigt. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Handlungen außerhalb des Unterrichts unter die Religionsfreiheit fallen würden: Relevant ist, ob sie den Unterrichtsablauf in erheblichem Maß stören. Bspw. kann sich ein muslimischer Schüler, der während des Unterrichts einen Gebetsteppich ausbreitet und laut betet, nicht auf seine Religionsfreiheit berufen, da seine Handlung der lernförderlichen Atmosphäre abträglich ist.   Gleichzeitig sollte an der Schule, wenn das Bedürfnis nach regelmäßigem Gebet besteht, eine zeitliche und räumliche Möglichkeit dazu geschaffen wer5 Vgl. dazu den Aufsatz von Jan Bruckermann in diesem Band. 6 Freilich sind die genauen Maßnahmemöglichkeiten und das formale Prozedere in den einzelnen Bundeländern unterschiedlich.

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den, bspw. in Form eines als überreligiös eingerichteten Gebetsraums in einem Klassenzimmer, der während einer Pause zum Gebet zur Verfügung steht. b) Die Wahrung des Schulfriedens ist ähnlich unkonkret. Störungen des Schulfriedens können innerhalb wie außerhalb des Schulgeländes geschehen. So stellt bspw. Mobbing einer Schülerin oder die Beleidigung eines Lehrers auf Facebook eine außerhalb des Schulgeländes verübte Beeinträchtigung des Schulfriedens dar, was die Schule zum Eingreifen ermächtigt; Vergleichbares gilt für Handlungen außerhalb des Klassenzimmers, also auf dem Schulweg, dem Pausenhof, den Sportanlagen usw.   Auch hier gilt: Störungen des Schulfriedens können nicht durch Berufung auf die eigene Religion bzw. die Religionsfreiheit legitimiert werden. So wären überzogene Missionierungsversuche (bspw. das Verteilen von Traktaten durch Zeugen Jehovas) ebenso geeignet, den Schulfrieden zu stören, wie die Praktizierung bestimmter religiöser Rituale (z. B. kann das Anzünden von Kerzen oder Räucherstäbchen den Brandschutz beeinträchtigen).7   Für den Bereich muslimischer Schülerinnen und Schüler wäre vor allem an zwei vergleichsweise alltägliche Störungen des Schulfriedens zu denken: zum einen antisemitische Äußerungen/Taten8, zum anderen frauenfeindliche Äußerungen und Handlungen. Bei beidem muss es gar nicht einmal so weit gehen, dass sich jüdische Schülerinnen und Schüler nicht mehr an die Schule bzw. Kolleginnen nicht mehr in eine bestimmte Klasse trauen: Der Schulfrieden wird bereits auf einer weitaus geringeren Stufe gestört. Der Punkt, an dem ein Eingreifen notwendig ist und die Schwelle des zu Akzeptierenden überschritten wird, ist bereits erreicht, wenn antisemitische Vorurteile geäußert oder Lehrerinnen wegen ihres Geschlechts herabgestuft werden, ihnen der Handschlag verweigert wird etc. Die Sicherstellung von lernförderlicher Atmosphäre und Wahrung des Schulfriedens ist stets eine Gratwanderung, da wir uns hier unterhalb der Schwelle der Strafbarkeit befinden. Die gleiche Handlung, die außerhalb der Schule legal bzw. sogar legitim sein mag, kann im bestimmten Setting der Schule eine päda­ gogische bzw. eine Ordnungsmaßnahme notwendig machen und die Grenze der Akzeptanz überschreiten. Hier besteht in vielen Fällen ein pädagogischer Ermessensspielraum: Berechtigte Interessen (wie das Gebet) bedürfen eines Interessenausgleichs, Konflikte möglicherweise zunächst eines pädagogisch 7 Hinsichtlich christlicher Rituale kann allerdings konzediert werden, dass die Schulgesetze mehrerer Bundesländer das Christentum insofern bevorzugen, als dass bestimmte Rituale der christlichen Leitkultur als legitim eingestuft werden, so bspw. Weihnachtsfeiern. 8 Vgl. den Aufsatz von Sabrina Worch in diesem Band.

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verantworteten Lösungsversuchs, Provokationen Pubertierender (auch solche, die sich ein religiöses Gewand geben) einer guten pädagogischen Reaktion. Umgekehrt sind bestimmte Handlungen, wie antisemitische oder frauenfeindliche Handlungen, nicht zu dulden, zumal sie in vielen Fällen auch zumindest in die Nähe der Grenze der Strafbarkeit kommen.

Was eine Schule tun kann Eine Schule kann präventiv vorgehen, um gleichzeitig das Grundrecht auf Religionsfreiheit zu wahren und die Grundrechte anderer wie auch den Bildungsauftrag der Schule zu berücksichtigen. Ein erster möglicher Schritt ist die Klärung der Begriffe des Leitbildes der Schule: Es bietet sich an, Grenzen der Toleranz begriffsscharf in das Leitbild einzuarbeiten, denn das Leitbild verpflichtet alle Schulangehörigen gleichermaßen. Dabei sind lokale Gegebenheiten zu berücksichtigen: Vielleicht tauchen bestimmte Probleme hier verstärkt auf, andere aber gar nicht? Daneben tritt ein interner Klärungsprozess: Die Beseitigung von Missständen gelingt dann am besten, wenn Einigkeit darüber besteht, welche Missstände grundsätzlich geahndet werden sollen und welche in den Ermessensspielraum fallen. Jede Lehrperson kann darüber hinaus für sich selbst anhand des oben aufgezeigten Schemas von Toleranz und Akzeptanz klären, was konkret er oder sie von sich selbst und von den Schülerinnen und Schülern erwartet. Jegliche Prävention religiös begründeter Missstände wird indes nur unter Einbezug von Fachleuten der jeweils betroffenen Religion gelingen, d. h. im Kontext des Islam unter Einbezug von islamischen Religionslehrerinnen und -lehrern bzw. ggf. Imamen. Dr. theol. Karsten Jung, Leiter der Forschungsstelle Religionspädagogik an der CVJM-Hochschule Kassel und Studienrat für Evangelische Religion und Geschichte, [email protected].

Literatur Goethe, Johann Wolfgang von: Maximen und Reflexionen, 1. Aufl., S. l, Wiesbaden: marix Verlag ein Imprint von Verlagshaus Römerweg 2012. Huber, Wolfgang, EKD-Kirchenamt: Stabsstelle: »Toleranz ist nicht Beliebigkeit. Zum Dialog der Religionen.«, 08.02.2008, http://t1p.de/fzb9 (Zugriff am 08.11.2016). Karcher, Florian: Handbuch missionarische Jugendarbeit, 1. Aufl., Neukirchen-Vlyn: Neukirchener Aussaat 2016.

Eine humanistische islamische Religionspädagogik im Westen Abdel-Hakim Ourghi

Einführung Der Islam ist die drittgrößte Glaubensgemeinschaft in Deutschland. Im Jahre 2009 sprach man von einer Zahl zwischen 3,8 und 4,3 Millionen Muslimen mit Migrationshintergrund, die hierzulande leben. Das entspricht einem Bevölkerungsanteil von rund 5 %.1 Allerdings wird die Zahl der deutschen Einheimischen ohne Migrationshintergrund, die aus verschiedenen Gründen zum Islam konvertiert sind, in den amtlichen Statistiken nicht berücksichtigt.2 Diese ist selbstverständlich relevant, um die aktuellen Entwicklungen zu begreifen. Bereits im Jahre 1999 sprach man in diesem Zusammenhang schätzungsweise von 100.000 bis 120.000 deutschen Muslimen.3 Die Dunkelziffer liegt allerdings weitaus höher, da viele unter ihnen entweder in Moscheen ohne Registrierung konvertieren oder als Kinder von Muslimen ohne Migrationshintergrund geboren sind. Ganz zu schweigen von den neuen Konvertiten, die außerhalb der Moscheen zum Islam übertreten. Somit muss man heute mit weitaus höheren Zahlen rechnen. Denn das Interesse am Islam ist trotz der ständigen negativen Schlagzeilen immer noch groß. Auch durch die Flüchtlingswelle des Jahres 2015 aus den Kriegsgebieten der islamischen Welt hat sich die islamische Gemeinschaft in Deutschland verändert. In diesem Jahr sind mehr als anderthalb Millionen Flüchtlinge überwiegend aus Syrien, dem Irak und Afghanistan ins Land gekommen. Der Politik1 Vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Hg.): Muslimisches Leben in Deutschland, Nürnberg 2009. 2 Wohlrab-Sahr, Monika: Konversion zum Islam in Deutschland und den USA, Frankfurt a. M. 1999, S. 383 ff. 3 Dietrich, Myrian: Islamischer Religionsunterricht. Rechtliche Perspektiven, Frankfurt a. M 2006, S. 67.

Eine humanistische islamische Religionspädagogik im Westen

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wissenschaftler Tibi spricht von etwa 6,5 Millionen Muslimen, die inzwischen in Deutschland leben.4 Wegen der instabilen politischen und wirtschaftlichen Lage in einigen muslimischen Ländern ist die Tendenz weiterhin ansteigend. Es ist jedoch zu bemerken, dass es keine genauen und verlässlichen Angaben gibt. Es wird allein mit Schätzungen gearbeitet, die bis in den Bereich der Spekulationen reichen. Der türkische Islam, der in Deutschland bislang die Mehrheit der Muslime stellt und das Bild des Islam Jahrzehnte lang geprägt hat, wird nicht nur Konkurrenz durch den arabischen Islam bekommen, sondern von diesem wahrscheinlich an Mitgliedern übertroffen werden. Dies würde auch bedeuten, dass der arabische Islam mit seinen zahlreichen Facetten mit dem türkischen Islam in Deutschland konkurrieren wird. Trotz der ethnischen Unterschiede zwischen den Muslimen und ihren unterschiedlichen Zugehörigkeiten zu verschiedenen islamischen Rechtsschulen oder Glaubensgemeinschaften fühlen sie sich als Angehörige der religiösen Glaubensgemeinschaft aller Muslime (umma), in die sie als Kinder von Muslimen automatisch hineingeboren werden oder in die sie konvertieren. Das wird unter anderem durch das intensive Glauben an die fünf Säulen des Islam verdeutlicht. Jedoch verfügt die umma über keinerlei feste Strukturen, sondern kann lediglich als ideale Größe verstanden werden. Die Mehrheit der hier lebenden Muslime sind mit etwa 80 % Sunniten und damit Angehörige der weltweit größten Glaubensrichtung des Islam. Die Mehrheit unter ihnen waren bis 2015 die Türken, die schätzungsweise zwei Drittel dieser Gruppe stellten. Sie gehören der h.anafitischen Rechtsschule an. Zu den Sunniten zählen auch die Nordafrikaner, Ägypter und Iraker, die der mālikitischen oder šafi‘itischen Rechtsschule folgen. Die Schiiten, die aus dem Iran, dem Irak und dem Libanon stammen, werden auf 7,1 % eingeschätzt5 und sind Anhänger der Zwölfer-Schia.6 Neben diesen beiden Glaubensgemeinschaften sind auch die Aleviten und die Ahmadiyya präsent. Jedoch werden diese von den Sunniten und den Schiiten nicht als Muslime anerkannt und deshalb zum Teil in ihren Herkunftsländern massiv verfolgt. Innerhalb der Glaubensrichtungen sind weitere theologische und dogmatische Unterschiede auszumachen, die die Sunniten und Schiiten voneinander trennen. Dies bedeutet, dass auch in Deutschland ein einheitliches Islamverständnis unter den Muslimen überhaupt nicht vorhanden ist, nicht einmal unter den Sunniten. Erwähnenswert ist hier, dass die Muslime arabischer Herkunft jegliche Repräsentanz durch die türkischen Dachverbände ablehnen, 4 Tibi, Bassam: Warum ich kapituliere, in: Cicero 6 (2016), S. 115–119, hier S. 115 ff. 5 Dietrich: Islamischer Religionsunterricht, S. 138. 6 Ende, Werner: Der schiitische Islam, in: Ders. und Steinbach, Udo: Der Islam in der Gegenwart, 4. Aufl., München 1996, S. 70–89, hier S. 70 ff.

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da diese die in der Türkei übliche h.anafitische Rechtsschule in Deutschland durchsetzen wollen. Und somit kann festgestellt werden, dass auch im Westen eine islamische Identität im pluralistischen Sinn mit innerislamischen Differenzen die Landschaft des Islam prägt. Genauer gesagt: Der Islam als Singular existiert nicht, sondern nur Islam im Plural. Und »tatsächlich stellt der Islam eine vielgestaltige Religionsgemeinschaft dar, die nicht nur selbst verschiedene Ausprägungen aufweist, sondern auch in unterschiedlichen gesellschaftlichen und kulturellen Umgebungen existiert.«7 Der Islam ist auch in Deutschland vielfältig. »Eine unübersehbare Fülle von Vereinen, Zusammenschlüssen von Vereinen oder Verbänden als Träger von lokalen Moscheegemeinden prägt sein äußeres Erscheinungsbild.«8 Ein konstruktiver Dialog mit dem Islam setzt jedoch die Anerkennung der Muslime als Teil der religiösen und sozialen Identität Deutschlands voraus. Jedoch scheint aus der Sicht des Deutschen Staatskirchenrechts diese Diversität des Islam ein befremdlicher Zustand. Denn die islamische Religion kennt keine einheitliche Glaubensgemeinschaft, die als Ansprechpartner in Form einer Körperschaft des öffentlichen Rechts bei der Gestaltung des islamischen Religionsunterrichts fungieren könnte. Aufgrund der vorher erwähnten Statistiken scheint es nicht mehr berechtigt bzw. objektiv zu sein, Fragen zu stellen wie z. B.: Gehört der Islam zu Deutschland? Oder sind die Muslime nur vorübergehend ein Teil der Bevölkerung Deutschlands? Allerdings sind solche Fragen selbstverständlich, wenn man an Parallelgemeinden9 denkt, die mit dem Rechtsstaat konkurrieren, oder an die Furcht vor einer »Islamisierung« Europas durch salafistische Bestrebungen. Genauer gesagt: Ein »konservativer Orient« versus »okzidentale Moderne«, die zu einer »offenen Gesellschaft und ihren Feinde[n]«10 führt. Hierbei wird durch die gegenwärtig allzu hoch im Kurs stehende Diskussion einiger Apologeten nicht wahrgenommen, dass die Salafisten nur eine sehr geringe Zahl und nicht die Mehrheit der Muslime darstellen. Auch die Meinung von Ludwig Hagemann, dass die Geschichte von Christentum und Islam als »Geschichte

  7 Müller, Peter: Religionspädagogische Prolegomena für die Entwicklung eines Curriculums Islamischer Religionsunterricht, in: Bock, Wolfgang: Islamischer Religionsunterricht? Tübingen 2006, S. 213–230, hier S. 220 f.   8 Lemmen, Thomas: Muslimische Organisationen in Deutschland: Ansprechpartner für einen islamischen Religionsunterricht?, in: Bock, Wolfgang: Islamischer Religionsunterricht?, S. 151–172, hier S. 151.   9 Müller, Herbert L.: Islamische »Gegenwelten« – Versuch einer kritischen Annäherung, in: Bock, Wolfgang: Islamischer Religionsunterricht?, S. 173–195, hier S. 74 f. 10 Popper, Karl R.: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 8. Aufl., Tübingen 2003, S. 75 ff.

Eine humanistische islamische Religionspädagogik im Westen

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gescheiterter Beziehungen« anzusehen sei, ist eher historisch zu betrachten.11 Denn hierbei handelt es sich in erster Linie um die Geschichte der islamischen Expansion nach dem Tod des Propheten ab dem Jahre 632, die Kreuzzüge und den Kolonialismus. Die Einführung des Islamunterrichts an deutschen Schulen lässt Abschied nehmen von der Auffassung, dass der Islam bzw. die Muslime eine Bedrohung oder eine vorübergehende Erscheinung sind. Die in den letzten Jahren in einigen Bundesländern initiierte Implementierung eines bekenntnisorientierten islamischen Religionsunterrichts als ordentliches Schulfach hat bestätigt, dass der Islam und die Muslime ein unwiderruflicher Bestandteil der religiösen Landschaft Deutschlands sind. Die Einrichtung des islamischen Religionsunterrichts in den Bundesländern ist in mehrfacher Hinsicht ein wichtiger Schritt in der Präsenzgeschichte der Muslime in der Bundesrepublik Deutschland. Nicht nur aus demografischen Gründen wurde die islamische Religionspädagogik in den Hochschulen implementiert, sondern auch aus politischen. Hierbei wird an die Integration der muslimischen Kinder durch den islamischen Religionsunterricht in die Gesellschaft gedacht. Dabei spielt auch die Radikalisierung einiger muslimischer Jugendlicher eine Rolle. Spätestens nach 9/11 kamen konstruktive Signale, dass die Integrierung des islamischen Religionsunterrichts im Schulwesen die Gefahren des politischen Islam eindämmen solle. Man hofft sehr auf die Etablierung eines modernen und aufgeklärten Islam im westlichen Kontext. Nun, wie soll eine humanistisch-islamische Religionspädagogik im Rahmen eines Aufklärungsprogramms aussehen?

Die Religionspädagogik der Unterwerfung Die Grundprämisse des vorliegenden Beitrags ist der Versuch, eine islamischaufklärerische Religionspädagogik in einem westlichen Kontext zu etablieren. Deshalb wird der klassische islamische Religionsunterricht als eine »Religionspädagogik der Unterwerfung« analysiert. Der islamische Religionsunterricht in seiner traditionellen Form in den muslimischen Gemeinden möchte bewusst die Kinder von ihrer Gesellschaft aussondern, da es ihm in erster Linie um ihre Anpassung an die eigene, traditionelle religiöse Identität geht. Es mag sein, dass sich eine solche Anpassung in einer Diaspora flexibel vollzieht und überlebens11 Hagemann, Ludwig: Christentum contra Islam. Eine Geschichte gescheiterter Beziehungen, Darmstadt 1999, S. 12 ff. und S. 19 ff. Siehe auch Müller, Peter: Religionspädagogische Prolegomena für die Entwicklung eines Curriculums Islamischer Religionsunterricht, in: Bock, Wolfgang: Islamischer Religionsunterricht?, S. 213–230, hier S. 218 f.

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fähig ist, jedoch ist sie ein kontinuierliches Hindernis für Kreativität und Selbstentwicklung der Kinder und Jugendlichen. Kinder haben selbstverständlich ein Recht auf religiöse Erziehung, denn diese kann als eine Begleitung der religiösen Entwicklung der Kinder während ihres persönlichen Entwicklungsprozesses angesehen werden. Ihre Identitätsbildung basiert wesentlich auf der Beschäftigung mit Existenziellem. Auch der islamische Glaube kann nicht nur innerhalb der Familie vermittelt werden, sondern auch in den Moscheen der Gemeinden. Besonders die Moscheen wollen die Eltern bei der religiösen Sozialisation unterstützen und auch die Eltern betrachten die Moscheen als Erziehungspartner. So lautet zumindest die Antwort der Lehrenden bei der Frage nach den Aufgaben des islamischen Religionsunterrichts in den Moscheen. Beide Orte, Moscheen wie Familien, können gewiss eine essenzielle Rolle bei der religiösen und erzieherischen Bildung der Kinder spielen, denn religiöse Erfahrungen benötigen Ausdrucksformen und symbolische Handlungen im Alltag, wie Beten, Fasten, Feste gemeinsam feiern. Diese bestärken die praxisorientierte Fähigkeit der Kinder bei der religiösen Kommunikation und stiften einen Teil ihrer kulturellen Identität. Viele der muslimischen Eltern haben Furcht vor dem Verlust der religiösen Identität ihrer Kinder und schicken sie deshalb in die sogenannten »Hinterhofmoscheen«. Für die muslimischen Eltern bleibt der Moscheebesuch ihrer Kinder am Wochenende ein integraler Bestandteil der islamischen Unterweisung. Darüber hinaus werden nur die wenigsten Kinder von ihren Eltern selbst religiös erzogen, da die meisten Eltern sich für diese Aufgabe nicht als genügend kompetent erachten.12 Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass auch die muslimische Familie im Westen, abgesehen von dem Bildungsniveau der Eltern, »als die primäre Sozialisationsinstanz und Ausgangspunkt der persönlichen Identitätsbildung, der entscheidende Faktor«13 in der religiösen Erziehung der Kinder gilt. Der Terminus Moschee (ğāmi‘), der kein koranischer Begriff ist, wird von dem Verbstamm sammeln (ğama‘a) abgleitet und bedeutet »die Versammelnde«. Ein Synonym im Arabischen für diesen Fachterminus ist masğid und bedeutet »der Ort der Niederwerfung«, womit die Moschee deutlich als der Ort der Versammlung zum kollektiven Ritualgebet und zur Predigt, wie etwa beim Freitagsgebet, bestimmt wird. Der Terminus masğid taucht im gesamten Korantext 29 Mal auf. Und es wird darauf hingewiesen, dass die Moscheen als Gebetsstätten 12 Ceylan: Islamische Religionspädagogik in Moscheen und Schulen, S. 61. 13 Alacacioğlu, Hasan: Außerschulischer Religionsunterricht für muslimische Kinder und Jugendliche türkischer Nationalität in NRW. Eine empirische Studie zu Koranschulen in türkisch-islamischen Gemeinden, Münster 1999, S. 78.

Eine humanistische islamische Religionspädagogik im Westen

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für gottesdienstliche Handlungen dienen (Koran 2:29; 22:40). In jeder Moschee in Deutschland, die bei der religiösen Unterweisung als Freizeiteinrichtung und als Ort der Kinderbeaufsichtigung funktioniert, wird am Wochenende auch der Koranunterricht angeboten. »Die Koranschulen der örtlichen Moscheegemeinden sorgen in allen Bundesländern für die religiöse Unterweisung der muslimischen Kinder. Das geschieht in eigener Verantwortung als Form der Religionsausübung nach Art. 4 Abs. 2 GG.«14 Solch ein islamischer Religionsunterricht ist selbstverständlich nicht mit dem Schulsystem zu vergleichen. Neben den gottesdienstlichen Handlungen übernimmt die Moschee besonders im Westen erzieherische Aufgaben der Kinder und soziale Aktivitäten wie das Treffen der Gemeindemitglieder am Wochenende und an Feiertagen. Die sogenannten »Importimame« der Moscheen­gemeinden gelten dabei als Schlüsselfiguren hinsichtlich der religiösen Sozialisation der muslimischen Kinder und Jugendlichen. Abgeschirmt von fremden Einflüssen ist man in erster Linie unter sich. Die Emanzipation der muslimischen Kinder in Europa ist den Eltern und den Gemeinden ein Dorn im Auge. Denn viele der Eltern fühlen sich durch die Herausforderungen des modernen Lebens in ihrem Glauben verunsichert und bedrängt. Deshalb ist die religiöse Erziehung in den Moscheen mehr denn je gefragt, die als vermeintlich sichere Zufluchtsstätte vor der Entfremdung durch die Normen der westlichen Kultur erscheinen. Die Eltern wollen absolute Gewissheit und unbezweifelbare religiöse Orientierung. Vor allem in der christlich geprägten, säkular orientierten Gesellschaft Deutschlands werden sie [die Koranschulen] von vielen türkischen Eltern als Institution wahrgenommen, die sie bei der religiösen Unterweisung und der Wahrung der türkisch-islamischen kulturellen Identität ihrer Kinder unterstützt. Sie verbinden die Teilnahme ihrer Kinder an den in den Moscheen und Gemeindezentren […] abgehaltenen Korankursen mit der Hoffnung, dass diese dort im Sinne traditioneller türkischer und islamischer und religiöser Werte und Normen erzogen und vor dem Einfluss der fremden Kultur und Religion ihres Umfeldes bewahrt werde.15

14 Heckel, Martin: Religionsunterricht für Muslime? Kulturelle Integration und Wahrung der religiösen Identität. Ein Beispiel für die komplementäre Natur der Religion, in: Baumann, Urs: Islamischer Religionsunterricht. Grundlagen, Begründungen, Berichte, Projekte, Dokumentationen, Frankfurt a. M. 2001, S. 77–129, hier S. 82. 15 Alacacioğlu: Außerschulischer Religionsunterricht für muslimische Kinder und Jugendliche türkischer Nationalität in NRW, S. 84.

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Der klassische Islamunterricht kann als Katechese aufgefasst werden. In den meisten Fällen sind die Adressaten des Koranunterrichts Kinder ab dem fünften Lebensjahr, wobei die Geschlechter in verschiedenen Räumen streng voneinander getrennt unterrichtet werden. Der Koranunterricht findet im Gebetsraum statt und wird immer wieder von Männern gestört, die in der Moschee beten und den Koran rezitieren wollen. In anderen Moscheen findet der Unterricht in einem Nebenraum statt und wird auch von Jugendlichen abgehalten. Die Kinder sitzen auf dem Boden im Kreis, da keine Stühle und Tische verwendet werden. Nicht nur die religiösen Inhalte, sondern auch Arabisch und Türkisch werden gelehrt. Auch die fünf Säulen des Islam und dessen Glaubenslehre werden den Kindern vermittelt. Rauf Ceylan spricht über andere Inhalte, die den Kindern von den »Importimamen« in den türkischen Moscheen vermittelt werden. Die Kinder lernen erstens die »Ethik und Morallehre des Islam und der türkischen Kultur«. Den Kindern werden das »heimatliche Kulturgut und traditionelle Verhaltensmuster« vermittelt. Die Kinder lernen auch die »Ideologie des türkischen Nationalstaates«.16 Ein weiterer Wissenschaftler spricht sogar von »der türkischen Geschichte«.17 Die Unterweisung in politischen und geschichtlichen Themen der Türkei ist ein deutliches Indiz dafür, dass der Koranunterricht keine klaren Linien zwischen dem religiösen Bewusstsein und der nationalen und politischen Erziehung zieht. Anscheinend ist der Koranunterricht nicht nur religiös gestaltet, sondern dient auch politisch-ideologischen Zwecken, deshalb bleibt es merkwürdig, wenn der Soziologe Ceylan die Moscheen als »Orte der islamischen Religionspädagogik« charakterisiert.18 Denn in den türkischen Moscheen geht es nicht um eine islamische Religionspädagogik, die die Kinder durch das Reflektieren der religiösen Inhalte auf Grundlage ihrer Lebenswelt zu mündigen Menschen macht, sondern um ihre politische Indoktrination, die sie von dem westlichen Kontext abnabelt und ihre Integration in die deutsche Gesellschaft behindert. Abgesondert von jeglichem Einfluss durch die Außenwelt haben die Medien keinen Zugang zu solch einem subkulturellen Religionsunterricht. In diesem Zusammenhang kann man von einem »gläubigen Ghetto« in der sogenannten Diaspora sprechen, das zur Ausgrenzung der hier geborenen Kinder mit Folgewirkungen bis hin zur Marginalisierung führen könnte. Eine meiner Befragungen einiger Grundschülerinnen und -schüler mit arabischem und türkischem Migrationshintergrund, darunter sowohl Sunniten als 16 Ceylan, Rauf: Islamische Religionspädagogik in Moscheen und Schulen, S. 61 f. 17 Alacacioğlu: Außerschulischer Religionsunterricht für muslimische Kinder und Jugendliche türkischer Nationalität in NRW, S. 87 f. 18 Ceylan: Islamische Religionspädagogik in Moscheen und Schulen, S. 56.

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auch Schiiten, kam zu dem Ergebnis, dass sie ungern am Wochenende in die Moschee gehen. Dort lernen sie Arabisch, Türkisch und einige kurze Koransuren auswendig, wobei die memorisierende Didaktik die Lust zum Fragen sehr stark beeinträchtigt. In ihnen wird fremdes Wissen deponiert, obwohl sie nicht mal wissen, worum es geht. Der Unterricht ist in arabischer und türkischer Sprache und immer unverständlich. Er wird als langweilig und nicht mal fröhlich empfunden. Geredet wird überwiegend von der Strafe Gottes, der Hölle mit ihrem ewigen Feuer und dem Satan als Verführer. Immer wieder die gleiche Monotonie. Genauer gesagt: Die muslimischen Kinder kann man als »die Generation bzw. die Kinder der Koranwochenenden« bezeichnen. Dramatisch scheint in den Koranschulen die angewendete Gewalt gegen die Schülerinnen und Schüler. In vielen dieser Koranschulen herrscht ein streng autoritäres Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden. Die Kinder werden durch Stockschläge bestraft. Eine weitere drakonische Strafe ist das Stehenbleiben über eine halbe Stunde auf einem Bein mit dem Gesicht gegen die Wand.19 Die Importimame aus dem Ausland können mit der Sozialisation der hier lebenden Kinder nichts anfangen. Sie leben immer noch in der Sprache ihrer Heimat und führen ein anderes Leben. Und somit wird eine Gemeindepädagogik, die an der Lebenswelt der Kinder partizipiert, lernfähig und selbstkritisch ist, schlicht vermisst. Deshalb ist es heutzutage nicht mehr vermeidbar, dass die islamische Religionspädagogik im schulischen Religionsunterricht einen Platz findet. Freilich möchten diese Kinder über Gott und ihren Glauben auf ihre Weise, in ihrer Sprachkonzeption offen reden. Denn die Kinder mit religiöser Sozialisation möchten gern die Nähe Gottes haben, einem liebenden, verzeihenden und barmherzigen Gott begegnen. Im Namen Gottes möchten sie auch das Gute erleben und stärken und das Böse überwinden. Und wahrlich möchten die Schülerinnen und Schüler heutzutage Spiritualität mit Innovationen und Erneuerungen. Der Koranunterricht hingegen verlangt von den Kindern eine willige Annahme der Lehren und Weisungen, die ihnen die Koranlehrenden in verschiedenen Formen geben. Ihnen müssen sie religiösen Gehorsam des Willens und des Verstandes leisten. Kritik der Inhalte und der Autorität des Lehrenden wird nicht zugelassen. Darüber hinaus sind die Lehrer dem Druck der muslimischen Gemeinde ausgesetzt, denn die Autorität des Vorstandes der Gemeinde und die gelegentlich erlassenen Anordnungen bzw. Vorschriften sind zu beachten. Sonst riskiert der Lehrer seine Arbeit. Dieser blinde Gehorsam seitens der 19 Vgl. Alacacioğlu: Außerschulischer Religionsunterricht für muslimische Kinder und Jugendliche türkischer Nationalität in NRW, S. 88.

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Lernenden und der Lehrenden setzt die beiden nicht in die eigene Freiheit und Mündigkeit ein. Und somit kann gesagt werden, dass der klassische Islamunterricht in den Moscheen im Westen keine religiöse Erziehung zur Mündigkeit verkörpert und nicht dazu beiträgt, die Lernenden aus fragwürdiger Bevormundung und aus kindlichem Abhängigkeitsempfinden zu befreien, welche in patriarchal-hierarchisch strukturierten Gesellschaften vorherrschen. Deshalb ist der Koranunterricht in seinen archaischen Lernformen nicht in der Lage, die Kindern zu einem kritisch durchdachten, eigenverantworteten und reifen Islamglauben zu führen. Nach meinen Gesprächen mit zahlreichen Kindern in einigen arabischen und türkischen Moscheen fühlen diese sich von den Lerninhalten in der Form, wie sie gelehrt und dargeboten werden, nicht angesprochen. Die religiöse Sprache ist vielfach eine Muttersprache der sogenannten »Importimame«, die die Kinder häufig nicht verstehen. Die vermittelten religiösen Inhalte erscheinen für viele bedeutungslos und nichtssagend. Einige Prophetengeschichten klingen wie Märchen aus längst vergangenen Epochen, die neugierigen und reflektierenden Fragen nicht standhalten können. Interessanterweise scheint eine derartige Sondersprache ein gut geebneter Weg ins Ghetto und den Rückzug in die eigene Gemeinde abseits der westlichen Gesellschaft zu sein. Genauer gesagt: Solche Koranschulen führen gewiss zur Abgrenzung der Kinder und sind ein deutliches Hindernis für Integration. Gewiss hat die Mehrheit der muslimischen Kinder aus der dritten und vierten Generation kaum Verbindung zu ihren Herkunftsländern und erst recht nicht zu der Religion ihrer Eltern. Deshalb glauben die Eltern, dass die muslimischen Ortsgemeinden die Familien bei der religiösen Erziehung unterstützen können. Jedoch wird in vielen muslimischen Gemeinden kein liberaler und moderner Islam gefördert. In vielen Gotteshäusern wird durch die sogenannten Importimame ein starr konservativer Islam gepredigt. Deshalb kann ein islamischer Religionsunterricht dem Chaos gegenwärtiger islamischer Unterrichtsformen in Deutschland ein Ende bereiten. […] Ein offener und liberaler islamischer Religionsunterricht könnte auch die fatalen Auswirkungen von Koran-Unterricht und den Koran-Schulen auf manche islamische Jugendliche beenden.20 20 Mokrosch, Reinhold: Islamischer Religionsunterricht neben evangelischem und katholischem Religionsunterricht: Mischmasch, Mulitkulti oder Profilschärfung, in: Lech, Karl Josef und Spiegel, Egon (Hg.): Religionspädagogische Perspektiven. Kirche, Theologie, Religionsunterricht im 21. Jahrhundert. Festschrift für Ralph Sauer zum 75. Geburtstag, Kevelaer 2004, S. 25–31, hier S. 28 f.

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Man kann in diesem Kontext von einer »Verleugnung des Kindes« sprechen.21 Denn der klassische Islamunterricht bewegt sich zwischen der Idealisierung der alten Tradition und der Ignoranz der Lebenssituation der Kinder. Deshalb werden die Schülerinnen und Schüler zum passiven Zuschauer und nicht zum aktiven Neuschöpfer. Dadurch werden sowohl die Kreativität der Lernenden als auch der Lehrenden lahm- bzw. stillgelegt. Die Kinder werden im islamischen Katechismus als »Behälter« betrachtet, welche von nicht religionspädagogisch oder didaktisch gebildeten Lehrkräften mit unreflektierten Inhalten gefüllt werden. Es scheint legitim, den klassischen Islamunterricht mit dem Terminus der »Stopf-Pädagogik« von Paulo Freire22 zu beschreiben. Im klassischen Islamunterricht machen die Imame durch unreflektierte Inhalte Einlagen in die Köpfe der Schülerinnen und Schüler23, die mit der realen Welt der Kinder nichts zu tun haben. Und die Lehrenden prüfen von Zeit zu Zeit nach, ob sich die Anlagen durch das Auswendiglernen vermehrt haben. Der Lehrer glaubt dadurch, dass er lehrt, jedoch wird dabei der Lernende auch belehrt. Denn die Lehrer als eine vermeintliche Autorität im traditionellen Islamunterricht wissen alles und besser, während die Kinder keine Ahnung haben. Darüber hinaus sind die Lehrenden diejenigen, die während des ganzen Unterrichts über die Inhalte sprechen. Die Kinder hören ganz brav zu. Der Ablauf des Unterrichts darf nicht einmal durch Fragen gestört werden. Die Lehrkraft ist diejenige Autorität, welche die religiösen Lerninhalte als Lernplan bestimmt. Deshalb bleibt den Kindern keine andere Wahl, als ihnen zu folgen. Ihre Wünsche werden bei der Wahl der Lerninhalte schlicht nicht beachtet und sie müssen sich anpassen. Ein Bildungsplan für den Koranunterricht am Wochenende liegt nicht vor, deshalb unterliegen die Kompetenzen und die Lernziele der Willkür der Lehrenden. Hierbei etabliert sich auch eine Debatte der Schwarz-Weiß-Pädagogik im Westen als Diskurs des unkritischen Führens in die islamische Tradition. Das Kind wird schlicht als manipulierbares Objekte des Belehrens betrachtet, wobei die Stärkung seiner Persönlichkeitsentfaltung keine besondere Rolle spielt. Es muss nicht mehr in der Lage sein, ein kritisches Bewusstsein für sich selbst, die eigene Religionsidentität und für seine Umwelt zu entwickeln. 21 Vgl. Loch, Werner: Die Verleugnung des Kindes in der evangelischen Pädagogik, Essen 1964, S. 7 ff. 22 Stauffer, Martin: Pädagogik zwischen Idealisierung und Ignoranz. Eine Kritik der Theorie, Praxis und Rezeption Paulo Freires, Frankfurt a. M. 2007, S. 34 ff.; Jacob, Susanne: Bildung als Bewusstwerdung. Die Pädagogik Paulo Freires, Oldenburg 2008, S. 31 ff.; vgl. Funke, Kira: Paulo Freire. Werk, Wirkung und Aktualität, Münster/New York/München/Berlin 2010, S. 134 ff. 23 Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten, Hamburg 1998, S. 57 ff.

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Hierbei handelt es sich in erster Linie um die Stabilisierung der Kultur des Schweigens durch die grenzenlose Unterwerfung der Kinder, denn diese gelten als beeinflussbare Menschen. Auch solch eine domestizierende Religionsunterweisung ist eine deutliche Barriere für die Emanzipation der Kinder in der Gesellschaft, in der sie leben, und schafft Hindernisse für die Integration. Solch eine klassische Religionsunterweisung führt gewiss zum Entfremdungsgefühl der Kinder der Gesellschaft gegenüber und ebnet den Weg zur Ausgrenzung der muslimischen Kinder als »Ich« von der Mehrheitsgesellschaft als »die Anderen«.24

Islamische Reformpädagogik als Aufklärungsprozess Die islamische Religionspädagogik ist genau wie die katholische und evangelische Religionspädagogik eine Theorie der theologischen Bildung und eine Theo­ rie religiöser Erziehungspraxis im schulischen Alltag. Denn der Religionsunterricht als verbindende Brücke zwischen den Lernenden und den Lehrenden bedeutet heutzutage nicht mehr, schlicht Herkömmliches und Feststehendes aus der islamischen Wissenstradition unbedacht und unreflektiert zu vermitteln. Ihre praxisorientierten Ansätze haben die Aufgabe, die Erziehung diskursiv zu formulieren, theologische Bildungsinhalte differenzierter wahrzunehmen und zu analysieren. Die islamische Religionspädagogik ist eine autonome theologische Wissensdisziplin, die den Charakter einer Integrationswissenschaft hat. Die Islamische Reformpädagogik als Aufklärungsprozess ist ein Prozess von Schülerinnen und Schülern als Individuen. Sie entspricht der humanistischen und dialogischen Tradition der westlichen Kultur und fühlt sich den demokratischen und freiheitlichen Prinzipien eng verbunden. Ihr Klärens- und Aufklärensprogramm liegt unter anderem darin, die »Kultur des Schweigens« und des Schönredens der klassischen Islamerziehung zu durchbrechen und zu einer »Kultur des Dialogs« unter den hier lebenden Muslimen und mit den Nicht-Muslimen anzuregen. Sie bedeutet auch, dass die Schüler mit den Anderen und der Umwelt eine Beziehung pflegen und ihnen durch die Sozialisation eng verbunden sind. Hierbei handelt es sich um eine islamische Religionspädagogik der Kommunikation, der Verständigung unter den Beteiligten, die zu einem reflektierenden Verstehenszugang und dem Aufbau des Bewusstseins führen kann. Und eine humanistische islamische Religionspädagogik ist nur dann möglich, wenn die 24 Vgl. Meinberg, Eckard: Das Menschenbild der modernen Erziehungswissenschaft, Darmstadt 1988, S. 3 ff.

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Schülerinnen und Schüler durch den islamischen Religionsunterricht in den Räumlichkeiten der Schule zur Reflexion ermutigt werden. Denn letztendlich liegt das Ziel darin, die Autonomie des Kindes als mündigem Mensch in seiner Religion zu akzentuieren. Tatsächlich kann die islamische Religionspädagogik auf Grundlage der didaktischen Aspekte als Gespräch und Geschehen zwischen den Pädagogen und den Schülerinnen und Schülern in den Räumen der Schule betrachtet werden, deren Ziel die Etablierung einer humanistischen und modernen Kulturidentität im Westen ist. Nicht nur die Befreiung, sondern auch die Entfaltung der Kinder kann durch die handelnde Kommunikation in den religiösen Themen befördert werden. Als Beispiel dafür kann uns die Beziehung zwischen den Menschen und Gott als kommunikatives Grundverhältnis dienen. Denn der Mensch ist darum bemüht, die Nähe Gottes durch das Beten zu suchen. Die islamische Reformpädagogik als ein Aufklärungsprozess betont die jeweilige Situation der Kinder in ihrer Lebenswelt, welche ihre Denk- und Handlungsstrukturen in ihrem schulischen Alltag definieren. Der islamische Religionsunterricht ist zum Scheitern verurteilt, wenn inhaltliche Metaphern vermittelt werden, wie etwa der strafende Gott oder die Bilder der Hölle, die nur Angst und Furcht unter den Kindern schüren. Solche Inhalte kennzeichnen den klassischen Islamunterricht in den Moscheen und den Gemeinden, die als Ansammlungen von fertigen Antworten und veralteten Lernmethoden gelten und deren Ziel die Klassifikation des Handelns der Kinder in Gut und Böse ist. Eine Aufklärungspädagogik, die sich als eine reformatorische Erziehung im westlichen Kontext betrachtet, unterscheidet gründlich zwischen den beiden historischen Entstehungskontexten des mekkanischen und des medinensischen Korantextes. Nur der in Mekka offenbarte Koran (610–622) gilt als zeitlos, weil er universal sinnstiftende Lehren im ethischen Sinne beinhaltet. Dagegen hat Muhammad als Staatsmann einer irdischen Gemeinde in Medina (622–632) situationsbedingte Koranstellen verkündet, die in ihrem historischen Wirkungskontext zu begreifen sind. Diese koranischen Verordnungen der zweiten Epoche besitzen als historisch-politisches Modell nur eine begrenzte, temporäre Gültigkeit für das siebte Jahrhundert.25 Die Lehrerinnen und Lehrer haben auch die Aufgabe, unangenehme Themen, wie die Gewalt im Namen des Islam und die Unterdrückung der Frauen in den islamischen patriarchalischen Gemeinden, offen mit den Schülern zu erörtern. Deshalb darf die Bedeutung der Debatte über solche Themen für das kulturell-kollektive Gedächtnis nicht nur einseitig auf die Hervorhebung von 25 Bürgel, Johann Christoph: Allmacht und Mächtigkeit. Religion und Welt im Islam, München 1991, S. 355 ff.

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»Liebe, Toleranz und Barmherzigkeit« in der islamischen Ethik reduziert werden. Solch eine Vorgehensweise ist hochgradig selektiv, denn dadurch wird die Entstehung des Islam verklärt und idealisiert. Die Muslime sind auch das, was sie bewusst vergessen wollen. Selbstverständlich darf man solche Themen nicht nur theologisieren, denn es spielen unter anderem auch soziale, wirtschaftliche, politische, psychologische und anthropologische Gründe dafür eine essenzielle Rolle. Jedoch darf ihre historische Genese in den Anfängen des Islam seitens der Mehrheit der in Europa lebenden Muslime nicht verschwiegen werden, und besonders nicht im islamischen Religionsunterricht. Die islamische Religionspädagogik hat die Aufgabe des Interpreten der theologischen Texte. Dadurch entsteht ein hermeneutisches Strukturmoment zwischen dem Horizont der Texte und dem Horizont des Lesers in seiner jeweiligen Situation. Denn die Auslegung der religiösen Lerninhalte ist nicht ein bloßes Instrument zur Vermittlung der ursprünglichen Sinngehalte der kanonischen Quellen in ihrer historischen Situation. Die Interpretation besitzt auch eine eigene Authentizität, wenn der Horizont der Gegenwart der Adressaten, sowohl der Lehrenden als auch der Lernenden, in Betracht gezogen wird. Nur durch die Relevanz der situativen Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler können die theologischen Inhalte einen eigenen Status besitzen. Dadurch erlangen die theologischen Inhalte Selbstpräsenz, wenn sie mit dem Geist der Gegenwart im westlichen Kontext vereinbar sind. Daher hat die islamische Religionspädagogik als wissenschaftliche Instanz die Aufgabe, den Klang der Wirklichkeit nicht aus den Augen zu verlieren.26 Sowohl muslimische Lehrende als auch muslimische Schüler sind durch eine aufklärerische islamische Religionspädagogik aufgefordert, sich von der traditionellen Islambildung mit ihren archaischen Lernmethoden freizumachen, um ein Muslim in westlichem Kontext sein zu können. Hierbei handelt es sich um ein angemesseneres Selbstverständnis des Muslimseins anstelle einer klassischen, importierten Wissenstradition, die eher in einem anderen muslimischen Kontext mit anderer Kindersozialisation verortet ist. Die islamische Religionspäda­gogik mit einem Aufklärungsprogramm des Islam bezieht sich vor allem auf die hiesigen religiösen und gesellschaftlichen Differenzierungsprozesse. Damit ist auch die hermeneutische Situation gemeint, die sich im Rahmen der Individualisierung dieses Wissensfaches und der Pluralisierung mit anderen Religionspädagogien betont. Man kann in diesem Zusammenhang deutlich unterscheiden zwischen dem gewonnenen »Verstehen auf Abstand« der historisch ausgeprägten islamischen Theologie und dem »Verstehen der Zeitigkeit« der islamischen 26 Vgl. Gadamer: Gesammelte Werke 2. Hermeneutik II. Wahrheit und Methode, S. 352 ff.

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kanonischen Quellen, deren politische Inhalte nicht zu dem westlichen Kontext passen, sowie zeitlosen ethischen Inhalten, die auch in anderen monotheistischen Religionen zu finden sind. Darauf zielt diese Kritik an der historischen Theologie, dass sie die Geschichtlichkeit der Lerninhalte nicht ernst nimmt und dabei das Zeitgemäße des muslimischen Daseins ignoriert. Der islamische Religionsunterricht kann auch im Rahmen eines thematischproblemorientierten Ansatzes gemäß der Aktualität entwickelt werden. Eine Aufklärungspädagogik des Islam hat Mut zur Wahrheit und legt den Finger in die Wunden des historischen Verdrängens. Gefragt sind humanistische Lehrerinnen und Lehrer, die klären, aufklären und unangenehme historische Wahrheiten aussprechen. Sie müssen endlich ohne Angst über unseren Tellerrand hinausschauen. Genauer gesagt: Der Kultur des Schweigens über unangenehme Wahrheiten in den kanonischen Quellen und in der Geschichte des Islam kann durch eine humanistische Religionspädagogik der Aufklärung ein Ende gesetzt werden. Denn eine Religion, die sich als die einzige wahre betrachtet, stiftet auch eine Kultur des Anti-Dialogs. Freilich muss betont werden, dass die islamische Aufklärungspädagogik eine lebendige und alltagsorientierte Beziehung zwischen den Lehrerinnen und Lehrern und Schülerinnen und Schülern voraussetzt, die sich interaktiv und kommunikativ im Sinne des Kindes und seiner Lebenswelt gestaltet. Das Gespräch steht zwischen den beiden Beteiligten im Zentrum der religiösen Bildung, wodurch sie sich miteinander verständigen können. Besonders die Schülerinnen und Schüler dürfen nicht auf die Rolle des passiven Beobachters und Zuhörers festgelegt werden. Dabei bestünde die Gefahr, von ihren schöpferischen Kräften entleert und entwurzelt zu werden. Im Verlauf des dialogischen Religionsunterrichts vermindert sich die Distanz von Lehrer und Schüler im Wissen, Können und Handeln hinsichtlich der erörterten Themen und Fragestellungen. Dadurch unterscheidet sich eine islamische Religionspädagogik von klassischen Erziehungspraktiken, die die Kinder zu Objekten und Trainingseinheiten machen. Die muslimischen Lehrerinnen und Lehrer sowie Schülerinnen und Schüler müssen Mut zu einer aufgeklärten Erziehung im Rahmen eines reformierbaren Islam in einem westlichen Kontext haben. Hierbei kann man von einer Befreiungspädagogik von der kollektiven Identitätslast des unaufgeklärten Islam und den archaischen Lernmethoden sprechen, die zur existenziellen Autonomie bei der Entdeckung der eigenen Religion durch die Selbstreflexion führen kann. Der Terminus Befreiungspädagogik von der Pädagogik der blinden Unterwerfung hat nicht nur eine theologische Dimension, sondern auch eine anthropologische, denn das Kind steht im Mittelpunkt der religiösen Bildung, die zum Gebrauch von Vernunft befähigt. Eine aufgeklärte islamische Religionspädagogik hat nicht

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nur die Aufgabe, das tradierte Wissen weiterzugeben, sondern auch ein kritisches Bewusstsein bei den Schülerinnen und Schülern zu fördern. Und somit kann der islamische Religionsunterricht zur Etablierung einer praxisorientierten Wirklichkeit führen, die die Schülerinnen und Schüler zum mutigen Handeln bei der Reflexion der eigenen kulturellen Identität bewegt. Denn das Ziel der islamischen Aufklärungspädagogik ist die Selbstständigkeit der Schülerinnen und Schüler bei der Entdeckung ihrer eigenen Religion durch den Gebrauch der Vernunft, die letztendlich die Freiheit des Individuums betont. Bei der Etablierung einer aufklärerisch-islamischen Religionspädagogik kann der Erziehungsdiskurs von Marin Buber, der auf der dialogischen Philosophie basiert, einen hervorragenden Beitrag leisten. In seiner Rede »Über das Erzieherische« entwirft er ein Konzept über die erzieherische Beziehung zwischen dem Lernenden und Lehrenden auf der Grundlage der interaktiven Begegnung. Nicht das Ziel des Wachsenlassens ist der zentrale Aspekt der Erziehung, sondern die Zwiesprache zwischen dem Lernenden und dem Lehrer, welche »die Erfahrung der Gegenseite« in Betracht zieht.27 Auch im islamischen Religionsunterricht kann das erzieherische Verhältnis auf einer dialogischen Basis gründen, welche das Vertrauensverhältnis zwischen dem Lehrer und dem Schüler bestärkt. Denn die beiden leben in demselben westlichen Kontext und sind durch die eigene Religion miteinander verbunden. Selbstverständlich besitzt die Lehrkraft mehr Wissen über die Religion und die Pädagogik des islamischen Religionsunterrichts, jedoch darf dies nicht bedeuten, dass hierbei ihre Überlegenheit als Wissensautorität vorherrscht. Nicht nur das Interesse der Lernenden muss vertreten werden, sondern auch ihre unterschiedlichen Persönlichkeiten in ihrer jeweiligen Situation müssen beachtet werden. Ein zentrales Anliegen, das ich in diesem Kontext aufgreifen möchte, ist die »islamische Religionspädagogik der Autonomie«.28 Hierbei geht es um die Freiheit der Wahl. Diese Autonomie liegt darin, dass die Lehrenden die verschiedenen Diskursfelder der Rezeption der kanonischen Schriften und die historische Wissenstradition darstellen, ohne den Lernenden irgendwelche Sichtweisen aufzuzwingen. Die Pluralität des Islam ist auch eine Wirklichkeit im westlichen Kontext, denn der Islam in einer Singularform existiert nicht. Bei den religiösen Lernprozessen handelt es sich nicht um die Adaption der eigenen Identitätsreligion und die Rezeption der klassischen Wissenstradition, sondern primär um ihre Auslegung gemäß der jeweiligen Situation im westlichen Kontext. Ohne solch einen zentralen Aspekt wird sich der islamische Religionsunterricht in 27 Buber, Martin: Reden über die Erziehung, 10. Aufl., Gerlingen 2000, S. 11 ff. 28 Vgl. Freire, Paulo: Pädagogik der Autonomie, Münster 2007, S. 128 ff.

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seiner traditionellen Form reproduzieren und wirkt dadurch entfremdend und domestizierend. Genauer gesagt: Die islamische Religionspädagogik muss die Autonomie der Lernenden mit Nachdruck betonen dadurch, dass die Lehrenden als eine moralische Instanz nicht eine Stufe höher als die Lernenden stehen. Auch eine deduktive Lehr- und Lernlogik kann nur Nöte und Schwierigkeiten verursachen. Solch eine Methode entspricht nicht der realen Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler. Die Lernenden mit ihren eigenen persönlichen Interessen wollen weder moralisch belehrt noch dogmatisch angepredigt werden. Stattdessen wollen sie in ihrem religiösen Selbstausdruck, ihren religiösen Symbolisierungen und Suchbewegungen unterstützt und an religiösen Vollzügen beteiligt werden.29 Eine neutrale islamische Religionspädagogik, die im Interesse des Kindes handelt, akzentuiert die Redlichkeit der Wissenschaft und die Freiheit des Individuums als höchstes Gut. Jenseits des Unbehagens dem politischen Islam gegenüber kann die islamische Religionspädagogik Erfolg haben, wenn sie ideologiekritisch, therapeutisch, problemorientiert und schülerorientiert funktioniert. Nicht nur die islamische Theologie, sondern auch die islamische Religionspädagogik müssen den Aufklärungsprozess in der Ideengeschichte des Islam und der klassischen Wissenstradition verinnerlichen. Deshalb ist auch die historisch-kritische Interpretation der islamischen kanonischen Quellen im westlichen Kontext unverzichtbar. Der Werthorizont des islamischen Religionsunterrichts kann mit Unterstützung der islamischen Religionspädagogik in der islamischen Theologie reflektiert werden. Hierbei muss die religiöse Pluralität des Islam nicht nur als eine historisch äußere Erscheinung bekräftigt werden, sondern als eine innere Tatsächlichkeit. Ein Beispiel sei in diesem Zusammenhang erwähnt: Eine gegenseitige Anerkennung zwischen Sunniten, Schiiten und weiteren muslimischen Glaubensgemeinschaften ist der konstruktive Weg zum Selbstrespekt und zum Respekt des Anderen innerhalb oder außerhalb der eigenen Religion. Und diese Evidenz gilt nicht nur in der islamischen Welt, sondern auch unter verschiedenen Glaubensgemeinschaften im westlichen Kontext. Allerdings muss die religiöse Pluralität des Islam nicht nur als eine historisch äußere Erscheinung bekräftigt werden, sondern auch als eine innere Tatsächlichkeit, die der eigenen Pri29 Joachim Kunstmann: Theologie des religiösen Lernens. Die religiöse Bildung des Menschen als eine zentrale Aufgabe der Theologie, in: Rothgangel, Martin und Thaidigsmann, Edgar (Hg.): Religionspädagogik als Mitte der Theologie, S. 13–26, hier S. 13 f.

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vatsphäre angehören soll. Zunächst muss eine Basis für eine post-moderne Erkenntnistheorie radikaler Relativierung jeglicher Rede von Wahrheitsbesitz geschaffen werden. Der konfessionelle Anspruch auf die Aufhebung anderer muslimischer Glaubensgemeinschaften im Sinne einer Abrogation muss unter den Muslimen revidiert werden, denn keine einzige Glaubensgemeinschaft ist im Besitz der exklusiven Wahrheit. Nur dadurch sind die Muslime in der Lage, einen interreligiösen und interkulturellen Dialog mit anderen zu führen, sowohl mit religiösen als auch mit nicht-religiösen Menschen.

Schlussfolgerung Gewiss wird der islamische Religionsunterricht als Schulfach das Antlitz des Islam im westlichen Kontext verändern wie auch die hiesige religiöse Landschaft. Denn es geht nicht nur um die bewusste Etablierung einer europäischen islamischen Identität, sondern auch um neue Konzeptionen für die friedliche Koexistenz der monotheistischen Religionen und anderer Weltanschauungen. Im Jahre 2008 verwies Ceylan auf den Bedarf einer islamischen Religionspädagogik mit besonderer Berücksichtigung des türkischen Islam.30 Solch eine Forderung läuft heutzutage an der Realität des pluralen Islam in Deutschland vorbei. Die islamische Aufklärungspädagogik möchte bewusst theologische und religionspädagogische Inhalte vermitteln, die Lehrerinnen und Lehrern sowie Schülerinnen und Schülern in der Schule und außerhalb der Schule zum Leben in der Verständigungsgemeinschaft mit der eigenen Religionsidentität oder mit dem Anderen führt. Sie ist selbstverständlich darauf bedacht, die Erkenntnisse über die islamische Religion aus der Wirklichkeitssituation zu rekonstruieren und dabei einen erheblichen Beitrag bei der Selbstreflexion zu leisten. Sie ist eine modern-humanistische Alternative im westlichen Kontext im Vergleich zum Import von fertiggestellten Lernkonzepten für Kinder mit hiesiger Sozialisation. Hierbei werden einige konstruktive religionspädagogische Inhalte skizziert, wie sie in erster Linie die Mündigkeit und die Kritikfähigkeit der muslimischen Kinder fördern. Sie setzt den Akzent darauf, dass die religiösen Inhalte stets von der Wirklichkeit und der Lebenssituation der Kinder ausgehen. Das islamisch-religiöse Lehren und Lernen muss im westlichen Kontext auf Kommunikation gegründet werden. Diese geschehen im Dialog zwischen den 30 Ceylan, Rauf: Islamische Religionspädagogik in Moscheen und Schulen. Ein sozialwissenschaftlicher Vergleich der Ausgangslage, Lehre und Ziele unter besonderer Berücksichtigung der Auswirkungen auf die Integrationsprozesse der muslimischen Kinder und Jugendlichen in Deutschland, Hamburg 2008, S. 41.

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Lehrenden und Lernenden und somit auch in interaktiver Korrelation nicht nur zwischen der islamischen Theologie und der islamischen Religionspädagogik, sondern auch mit der Lebenswelt der beiden. Der islamische Religionsunterricht ist ebenso in der Lage, sinnstiftende Lerngehalte zwischen der Geschichte des Islam und seiner jetzigen Situation historisch-kritisch zu vermitteln. Darüber hinaus könnten auch theologische Sachverhalte mit modernen religionspädagogischen und didaktischen Methoden transportiert werden. Dies ereignet sich auf der Grundlage der Reflexion der kanonischen Quellen – Korantext und die Tradition des Propheten (sunna) – gemäß der jetzigen kontextuellen Situation. Solch eine Sichtweise weist darauf hin, dass die islamische Religionspädagogik keine elitäre Wissenschaft ist, die als Erziehungs- und Bildungsfach aus dem Elfenbeinturm heraus argumentiert. Sie ist praxisorientiert und beteiligt sich bewusst an den religiösen Diskursfeldern der Lehrenden und Lernenden bei ihrer Auseinandersetzung mit wichtigen Fragen des Lebens, wie etwa der Selbstfindung, der Suche nach dem Sinn des Daseins, den Grenzsituationen ihres Lebens, der möglichen Selbstentfremdung und Selbstverwirklichung sowie Radikalisierung und Deradikalisierung. Zum Vorteil gereicht es der islamischen Religionspädagogik, wenn sie am historischen Entwicklungsprozess der westlichen Religionspädagogik als akademische Spezialisierung teilnehmen will. Schließlich handelt es sich um europäische Schülerinnen und Schüler, die den monotheistischen Religionen angehören. Deshalb kann die islamische Religionspädagogik die inhaltlichen Fragestellungen und die methodischen Ansätze der westlichen Religionspädagogik und Theologie in die eigene religionspädagogische und didaktische Forschung integrieren. Davon kann der islamische Religionsunterricht im schulischen Alltag nur Nutzen und erfahrungsbasierte Denkanstöße erhalten. Der Grund dafür ist, dass die islamische Religionspädagogik immer noch in den Kinderschuhen steckt. Darüber hinaus kann betont werden, dass eine Religionspädagogik im Singular nicht zeitgemäß ist. Das Ziel des Werkes ist nicht die Unterordnung bzw. die Unterwerfung der islamischen Religionspädagogik unter die islamische Theologie und auch nicht die der Theologie unter die Religionspädagogik. Es geht in erster Linie um die islamische Religionspädagogik als eine selbstbewusste Disziplin im westlichen Kontext, welche einen bedeutenden Beitrag bei dem Aufklärungsprozess des Islam und bei der Akzentuierung seiner Reformierbarkeit leisten kann. Dr. Abdel-Hakim Ourghi ist Leiter des Fachbereichs Islamische Theologie und Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Freiburg, abdelhakim. [email protected]. Er gilt als Vertreter des humanistisch-modernen Islam im Westen.

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Literatur Alacacioğlu, Hasan: Außerschulischer Religionsunterricht für muslimische Kinder und Jugendliche türkischer Nationalität in NRW. Eine empirische Studie zu Koranschulen in türkischislamischen Gemeinden, Münster 1999. Buber, Martin: Reden über die Erziehung, Gerlingen 2000. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Hg.): Muslimisches Leben in Deutschland, Nürnberg 2009. Bürgel, Johann Christoph: Allmacht und Mächtigkeit. Religion und Welt im Islam, München 1991. Ceylan, Rauf: Islamische Religionspädagogik in Moscheen und Schulen. Ein sozialwissenschaftlicher Vergleich der Ausgangslage, Lehre und Ziele unter besonderer Berücksichtigung der Auswirkungen auf die Integrationsprozesse der muslimischen Kinder und Jugendlichen in Deutschland, Hamburg 2008. Dietrich, Myrian: Islamischer Religionsunterricht. Rechtliche Perspektiven, Frankfurt a. M. 2006. Ende, Werner: Der schiitische Islam, in: Ders. und Steinbach, Udo: Der Islam in der Gegenwart, München 1996, S. 70–89. Freire, Paulo: Pädagogik der Autonomie, Münster 2007. Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten, Hamburg 1998. Funke, Kira: Paulo Freire. Werk, Wirkung und Aktualität, Münster/New York/München/Berlin 2010. Gadamer, Hans Georg: Gesammelte Werke 2. Hermeneutik II. Wahrheit und Methode, Tübingen 1993. Hagemann, Ludwig: Christentum contra Islam. Eine Geschichte gescheiterter Beziehungen, Darmstadt 1999, S. 12 ff. u. S. 19 ff. Siehe auch Müller, Peter: Religionspädagogische Prolegomena für die Entwicklung eines Curriculums Islamischer Religionsunterricht, in: Bock, Wolfgang (Hg.): Islamischer Religionsunterricht?, Tübingen 2006, S. 213–230. Heckel, Martin: Religionsunterricht für Muslime? Kulturelle Integration und Wahrung der religiösen Identität. Ein Beispiel für die komplementäre Natur der Religion, in: Baumann, Urs: Islamischer Religionsunterricht. Grundlagen, Begründungen, Berichte, Projekte, Dokumentationen, Frankfurt a. M. 2001, S. 77–129. Jacob, Susanne: Bildung als Bewusstwerdung. Die Pädagogik Paulo Freires, Oldenburg 2008. Kunstmann, Joachim: Theologie des religiösen Lernens. Die religiöse Bildung des Menschen als eine zentrale Aufgabe der Theologie, in: Rothgangel, Martin und Thaidigsmann, Edgar (Hg.): Religionspädagogik als Mitte der Theologie, S. 13–26. Lemmen, Thomas: Muslimische Organisationen in Deutschland: Ansprechpartner für einen islamischen Religionsunterricht?, in: Bock, Wolfgang (Hg.): Islamischer Religionsunterricht?, Tübingen 2006, S. 151–172. Loch, Werner: Die Verleugnung des Kindes in der evangelischen Pädagogik, Essen 1964. Meinberg, Eckard: Das Menschenbild der modernen Erziehungswissenschaft, Darmstadt 1988. Mokrosch, Reinhold: Islamischer Religionsunterricht neben evangelischem und katholischem Religionsunterricht: Mischmasch, Mulitkulti oder Profilschärfung, in: Lech, Karl Josef und Spiegel, Egon (Hg.): Religionspädagogische Perspektiven. Kirche, Theologie, Religionsunterricht im 21. Jahrhundert. Festschrift für Ralph Sauer zum 75. Geburtstag, Kevelaer 2004, S. 25–31. Müller, Herbert L.: Islamische »Gegenwelten« – Versuch einer kritischen Annäherung, in: Bock, Wolfgang: Islamischer Religionsunterricht?, Tübingen 2006, S. 173–195. Müller, Peter: Religionspädagogische Prolegomena für die Entwicklung eines Curriculums Islamischer Religionsunterricht, in: Wolfgang Bock: Islamischer Religionsunterricht? Tübingen 2006, S. 213–230. Popper, Karl R.: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Tübingen 2003. Stauffer, Martin: Pädagogik zwischen Idealisierung und Ignoranz. Eine Kritik der Theorie, Praxis und Rezeption Paulo Freires, Frankfurt a. M. 2007. Tibi, Bassam: Warum ich kapituliere, in Cicero Nr. 6, Juni 2016, S. 115–119. Wohlrab-Sahr, Monika: Konversion zum Islam in Deutschland und den USA, Frankfurt a. M. 1999.

Identität, Gemeinschaft und Protest – religiöse Zugänge in der Prävention von salafistischen Orientierungen in Unterricht und Schule Götz Nordbruch

Wie islamisch ist der »Islamische Staat«? Diese Frage steht im Mittelpunkt der Kontroverse, die sich in den vergangenen Jahren um die Hintergründe und Motive dschihadistischer Gewalt entwickelt hat. Die Antwort auf diese Frage ist auch für den pädagogischen Umgang mit salafistischen Vorstellungen und Handlungsmustern in Unterricht und Schule relevant. An ihr messen sich die Möglichkeiten und Grenzen religiöser Zugänge, um salafistischen Einstellungen und Orientierungen vorzubeugen und entgegenzuwirken. In seinen Beiträgen zur Debatte über die Ursachen religiös begründeter Radikalisierungen wendet sich der französische Nahostwissenschaftler Olivier Roy ausdrücklich gegen das Bild einer »Radikalisierung des Islam«, die in einer wachsenden Gewaltbereitschaft einer Minderheit der Muslime in Europa zum Ausdruck komme.1 Aus seiner Sicht liegt der Ursprung dieses Phänomens nicht im Religiösen, sondern in generationellen Konflikten und jugendlicher Radikalität, die in den europäischen Gesellschaften heute vielfach religiöse Ausdrucksformen finde (»Islamisierung der Radikalität«). Dschihadistische Gewalt stünde danach nicht für eine Radikalisierung religiöser Traditionslinien, sondern gerade für einen Bruch mit etablierten gesellschaftlichen und religiösen Konventionen. Zugleich verweisen aktuelle Studien auf weitere Hintergründe von Radikalisierungsprozessen, die im äußersten Fall – aber nicht immer – auch in die Bereitschaft zur Gewalt münden können. Neben individual-psychologischen, sozialen und politischen Faktoren spielt danach auch die salafistische Ideologie in ihren unterschiedlichen Ausprägungen eine zentrale Rolle. Als Deutungs-, Identitäts- und Gemeinschaftsangebot erscheint sie gerade in biografischen

1

Vgl. dazu Dakhli: Islamwissenschaften.

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Krisen und Phasen der Sinnsuche und Orientierungslosigkeit attraktiv – und bedient dabei auch religiöse Interessen und Bedürfnisse. Der Salafismus ist danach ein ebenso radikales wie eigenständiges Deutungsangebot, das weder mit »dem« Islam identisch noch gänzlich unabhängig von islamischen Traditionen, Praktiken und Glaubensvorstellungen zu verstehen ist. Im Folgenden werden drei Dimensionen des Salafismus beschrieben, die diesen gerade für Jugendliche und junge Erwachsene attraktiv machen – und die sich zugleich im Unterricht und Schulalltag aufgreifen lassen, um alternative Angebote zu entwickeln und Jugendliche in der Begegnung mit salafistischen Ansprachen zu stärken. Im letzten Abschnitt werden hierzu verschiedene Ansätze beschrieben, in denen religiöse Interessen und Erfahrungen von Muslimen aufgegriffen werden.

Religiosität als Identitätsstiftung Der Bezug zum Islam spielt im Selbstverständnis vieler Muslime eine wesentliche und vielfach wachsende Rolle. Gerade für Jugendliche und junge Erwachsene dient das Bekenntnis zum Islam auch der Identitätsstiftung und ermöglicht ein Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft. Auffallend ist in diesem Zusammenhang das Zusammenfallen islamfeindlicher und rassistischer gesellschaftlicher Diskurse auf der einen Seite und dem Bedeutungsgewinn des Islam als wichtigem Bezugspunkt für Menschen mit Migrationsbiografien (»Ich bin Muslim!« als Reaktion auf »Je suis Charlie!«). So ließ sich bspw. im Kontext der Diskussionen um die Thesen von Thilo Sarrazin ein deutlicher Rückgang positiver Bezugnahmen auf die Gesellschaft unter Muslimen ausmachen – während zugleich der Islam als persönlicher Bezugspunkt an Bedeutung gewann.2 Die Betonung des Islam wäre insofern auch eine Reaktion auf Anfeindungen, die Muslime als Muslime in Deutschland erleben. Im Alltag steht das Bekenntnis zum Islam für die Mehrheit der Muslime in keinerlei Widerspruch zur Zugehörigkeit zur Gesellschaft. Sie sehen sich als deutsche Muslime, die beide Aspekte ihrer Identität widerspruchslos miteinander verbinden. So stehen verschiedene Initiativen junger Muslime, die in den vergangenen Jahren entstanden sind, für den Anspruch, die Gesellschaft als religiöse Muslime mitzugestalten.3 2 Frindte, Boehnke, Kreikenbom und Wagner: Lebenswelten junger Muslime in Deutschland, S. 592. 3 Nordbruch: Identität und Zugehörigkeit, S. 9–12.

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Der Bezug auf den Islam bedient dabei verschiedene Interessen und Erwartungen, die junge Muslime in der Begegnung mit der Gesellschaft entwickeln. Viele Jugendliche finden im Islam eine Gemeinschaft unter »Geschwistern«, die mit starken emotionalen Bindungen und dem Gefühl von Zugehörigkeit und Anerkennung sowie verbindlichen Werten und Normen verbunden ist. Darin ähnelt dieses Gemeinschaftsangebot anderen religiösen und nichtreligiösen jugendkulturellen Strömungen, die Jugendliche über gemeinsame Orientierungen an sich binden und zugleich einen Ausgangspunkt für selbstbewusste und reflektierte Identitätsbildungsprozesse bilden können. Das Gefühl der Zugehörigkeit bietet die Chance, eigene Perspektiven und Gewissheiten zu hinterfragen und sich für den Austausch mit anderen zu öffnen. Im Gegensatz zum Bemühen dieser Initiativen, die Zugehörigkeit der Muslime und des Islam zur deutschen Gesellschaft herauszustellen, steht die salafistische Strömung für eine ausdrückliche Abgrenzung von der nichtmuslimischen Umwelt. Ihr Ziel ist nicht die Anerkennung und Teilhabe als Muslime und Bürger, sondern der Rückzug auf eine klar umrissene Gemeinschaft der Muslime, die als alleiniger Bezugspunkt zu gelten habe. Für Jugendliche ist hier vor allem die Eindeutigkeit des Identitätsangebots attraktiv. Mit dem Rückzug auf die Umma, die weltweite Gemeinschaft der Muslime, treten andere Facetten der Identität in den Hintergrund, die im Alltag von Jugendlichen zu Konflikten führen können. In diesem Verständnis geht es bspw. nicht darum, als muslimischer Schüler Zwiespälte, die sich aus Konflikten zwischen Glaubenspraxis und dem Wunsch nach Erfolg in der Schule ergeben können (z. B. bezüglich der Frage nach dem Fasten in der Prüfungszeit), durch Kompromisse und Interessensabwägungen zu lösen. Maßgeblich ist allein das Verständnis als Muslim, an dem sich alles Handeln zu messen habe. Statt »Muslim« und »Schüler« ist hier allein das Verständnis als »Muslim« entscheidend. Mit dem Bekenntnis zum Islam, wie er von Salafisten vertreten wird, erübrigen sich daher Fragen nach der Vereinbarkeit von religiösen Werten und Praktiken mit den Orientierungen und Erwartungen, die die deutsche Gesellschaft ansonsten prägen. Zugleich bietet das salafistische Selbstverständnis als vermeintlich authentische Gemeinschaft in der Tradition des Propheten eine überhistorische Erklärung für die Erfahrungen mit Ressentiments und Diskriminierungen, mit denen viele Jugendliche im Alltag konfrontiert sind. In diesem Zusammenhang wird häufig auf eine Überlieferung aus der Frühzeit des Islam verwiesen, in der Mohammed selbst Anfeindungen und Entfremdungserfahrungen ausgesetzt war. Entfremdung und Fremdsein sind danach kein Makel, sondern ein Beleg dafür, dass man sich wie Mohammed auf dem richtigen Weg befinde. »Ich bin nicht hier, um der Gesellschaft zu gefallen. Ich bin hier, um Gott zu gefallen.

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Ich werde nicht tun, was die Gesellschaft will – ich habe mich entschieden, eine Fremde zu sein!« heißt es in einem Facebook-Eintrag einer jungen Muslimin, der diesen Gedanken zusammenfasst. Das Gefühl des Fremdseins, das durch antimuslimischen Rassismus befördert wird, ist insofern nicht Anlass, sich umso stärker für gleiche Rechte und die Anerkennung eigener Interessen auch als Muslim zu engagieren, sondern dient als weiteres Argument für eine Abgrenzung von der nichtmuslimischen Gesellschaft.

Religion als Orientierungsangebot Dabei bietet der Islam ähnlich wie andere Religionen die Grundlage für die Entwicklung von Werten und Normen, die Orientierung im Alltag bieten. Am Beispiel des Salafismus wird allerdings die Problematik einer ausschließlichen Orientierung am Islam sichtbar, in der der Glaube nicht mehr als eine Quelle für eigene Orientierungen erscheint, sondern ausschließlich gesetzt wird. So beschränkt sich die salafistische Weltsicht nicht auf das Angebot einer gemeinsamen Identität und gemeinsamer Werte, sondern beinhaltet zugleich den Wunsch nach einer Normierung vermeintlich verbindlicher Orientierungen und das Ziel einer Dominanz und Deutungshoheit in der Gesellschaft (»Höre und gehorche!«). Der Bezug auf den Islam ist hier nicht Ausgangspunkt für eine konstruktive Auseinandersetzung mit anderen Werten, Lebenswelten und Glaubenspraktiken, sondern Anlass für eine Abwertung alternativer Sichtweisen und eine Abgrenzung von der Umwelt. Die dadurch vermittelte Klarheit und Eindeutigkeit der Orientierung erleichtert es, bspw. in Fragen von Geschlechterrollen oder Sexualität, Antworten und Umgangsweisen zu finden, die nicht selbst begründet und verantwortet werden müssen. »Kultur ist kompliziert, der Islam ist einfach« lautet eine Botschaft, die in salafistischen Medien verbreitet wird. An die Stelle eigener und selbstverantwortlicher Entscheidungen treten hier vermeintlich eindeutige Antworten, die unhinterfragt zu übernehmen sind. Die schwierige Entscheidung einer Frau, wie sie sich kleiden möchte – ob mit Minirock, Jeans, Kopftuch oder Vollverschleierung – erübrigt sich, denn »der« Islam, wie er von Salafisten vertreten wird, macht klare Vorgaben und liefert zugleich religiöse Argumente, mit denen bspw. die Entscheidung für den Niqab gegenüber Lehrern oder Eltern begründet werden kann. Die Entscheidung ist nicht individuell und persönlich, sondern gottgegeben. Auffallend ist in diesem Zusammenhang auch die wachsende Bedeutung religiöser Antworten auf gesellschaftliche Konflikte, die zunächst unabhängig

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von religiösen Fragen existieren. In salafistischen Darstellungen erscheinen diese Konflikte nicht als weltliche Interessenskonflikte, die für moderne Gesellschaften charakteristisch sind, sondern als Konflikte, in denen sich »Gut« und »Böse«, Moral und Unmoral gegenüberstehen. »Die Krise heißt Kapitalismus! Systemwechsel« heißt es bspw. in einem Eintrag, der von der islamistischen Initiative Islamisches Erwachen auf Facebook gepostet wurde. Die oft diffuse Kritik an gesellschaftlichen Zuständen – z. B. Verteilungsungerechtigkeit oder die Finanz- und Eurokrisen –, die viele Menschen unabhängig von Religionszugehörigkeit und Herkunft empfinden, wird hier aufgegriffen und mit dem Verweis auf »den« Islam beantwortet. »Der Islam ist die Lösung!« lautet das mehr oder weniger explizit formulierte Angebot. Diese Argumentation spiegelt sich auch in einer Kritik an Demokratie und gesellschaftlichem Pluralismus. »Demokratie – nein danke!« heißt es dazu in einem Eintrag der salafistischen Facebook-Seite des AbuZ-Projekts. Illustriert wurde der Eintrag mit Bildern, die die Hochzeit eines homosexuellen Paares, Jugendliche beim Alkoholkonsum und Straßenszenen in einem Rotlichtviertel zeigen. Der Begriff der Demokratie steht hier für eine pluralistische Gesellschaft, die unweigerlich von Konflikten über unterschiedliche Lebensweisen und Orientierungen geprägt ist – und bei vielen Menschen auf Unbehagen stößt. Gesellschaftliche Vielfalt gilt dabei nicht als wünschenswert, sondern als grundsätzliches Übel, dem allein durch Vereinheitlichung und Normierung zu begegnen sei. Auch hier steht »der« Islam für die Lösung, die allein Klarheit und Orientierung in einer zunehmend komplizierten und von Interessen- und Wertkonflikten geprägten Gesellschaft bieten könne. Die Auswahl der Bilder, mit denen die Ablehnung der Demokratie verbunden wird, beschränkt sich nicht auf explizit religiöse Themen, sondern beinhaltet Fragen, die in der breiteren Öffentlichkeit kontrovers diskutiert werden. Das Unbehagen, das hier angesprochen wird, findet sich in ähnlicher Weise in rechtspopulistischen Strömungen wie der AfD oder der PEGIDA-Bewegung. Die Angebote, die von salafistischer Seite formuliert werden (z. B. zum Thema gleichgeschlechtlicher Eheschließungen), beschränken sich insofern nicht allein auf religiöse Bedürfnisse, sondern reagieren auf allgemeine gesellschaftliche Fragen, die die Gesellschaft unabhängig von religiösen Überzeugungen polarisieren. Der Islam, wie er von Salafisten vertreten wird, ist damit ein Deutungsund Orientierungsangebot, das, ähnlich wie rechtspopulistische und rechtsextreme Ideologien, Sicherheit und Stabilität bietet.

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Salafismus als Protest und Jugendkultur? Olivier Roys Beschreibung des Salafismus als Jugendkultur steht nicht im Widerspruch zur Bedeutung, die der Religion im Selbstverständnis salafistisch-orientierter Jugendlicher zukommt. Tatsächlich steht die salafistische Szene für einen ausdrücklichen Protest, der sich zugleich gegen die Gesellschaft und die Elterngeneration richtet. Darin trifft sich der Salafismus mit anderen jugendkulturellen Szenen, die sich über ihre Werte, Lebensstile und Orientierungen von gesellschaftlichen Konventionen abgrenzen. Roy beobachtet dabei insbesondere unter Migranten der zweiten Generation eine wachsende Verunsicherung, die in Unzufriedenheit mit den gesellschaftlichen Angeboten, aber auch mit den Angeboten der Eltern zum Ausdruck kommt.4 Nicht zufällig inszenieren sich gerade Vertreter salafistischer Strömungen als Avantgarde einer Gegenkultur, die sich durch einen ebenso frommen wie konsequenten Lebensstil auszeichnet. Dies beinhaltet auch eine explizite Kritik der religiösen Orientierungen und Praktiken, wie sie von Migranten der ersten Generation gelebt werden. Die Lebenswege der Eltern stehen hier nicht für pragmatische Arrangements von Religiosität und gesellschaftlichen Werten und Normen, sondern für einen »Verrat« am »wahren« Glauben. Befördert wird die Attraktivität einer solchen Gegenkultur auch durch gesellschaftliche Debatten, in denen Migrationsbiografien in der Regel vor allem mit gesellschaftlichen Problemen und Konflikten in Verbindung gebracht werden. Diese Darstellungen, die sich bis heute auch in Schulbüchern finden, erschweren Jugendlichen mit Migrationsgeschichten die Identifikation mit den Eltern und deren Lebensleistungen – und machen die Suche nach alternativen Erzählungen über die eigene Person umso attraktiver. Das demonstrative Bekenntnis zum Islam und die Zugehörigkeit zur Umma steht hier nicht selten auch für einen Bruch mit den Traditionen und Orientierungen der Eltern, die als unauthentisch und »verwestlicht« wahrgenommen werden. Gerade im dschihadistischen Spektrum, also jenem Teil der salafistischen Strömung, der sich auch für den Einsatz von Gewalt ausspricht, spielt dieses Motiv eines Bruchs mit der Gesellschaft und den Eltern, aber auch mit der eigenen Biografie, eine zentrale Rolle. Exemplarisch hierfür steht die Inszenierung des ehemaligen Berliner Gangsta-Rappers Deso Dogg, der in den vergangenen Jahren zu einem Protagonisten der deutschsprachigen Propaganda des »Islamischen Staates« wurde. Seine Hinwendung zum Dschihadismus und seine Unterstützung des »Islamischen Staates« wird von ihm ausdrücklich als 4 Vgl. Roy: »Hier revoltiert die Jugend«.

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Bruch mit seinem zerrütteten Elternhaus und seiner eigenen kleinkriminellen Vergangenheit dargestellt. Das Selbstverständnis als Mudschahid, als Kämpfer für den Islam, ist für ihn gleichbedeutend mit einem Neuanfang, der mit einer radikalen Abkehr vom westlichen Lebensstil und der Orientierung an einem vermeintlich authentischen Islam verbunden ist. Die Beschreibung dieses Phänomens als »Pop-Dschihad« verweist zugleich auf die explizit jugendkulturelle Prägung dieser Szene.5 Trotz des Bruchs mit der Gesellschaft bedient sich diese Szene in Kleidung, Habitus und Auftritt jugendkultureller Trends, die auch im Gangsta-Rap oder in der ComputerspielCommunity zu beobachten sind. Auch hier spielen religiöse Inhalte eine wichtige Rolle – auch wenn sich die Faszination für diese Szene nicht auf religiöse Motive und Bedürfnisse beschränken lässt.

Alternativen sichtbar machen: Prävention im Unterricht Im Unterricht bieten sich zahlreiche Möglichkeiten, diese Hintergründe salafistischer Orientierungen und Verhaltensweisen aufzugreifen und Jugendliche dazu anzuregen, alternative Zugänge zu Fragen von Religion, Identität und Gemeinschaft zu entwickeln. Dies gilt gerade für den islamischen Religionsunterricht. Die explizite Betonung innerislamischer und gesellschaftlicher Vielfalt und die Bindung der Unterrichtsinhalte an die Lebenswirklichkeiten der Schüler in Deutschland bieten die Chance, Jugendliche für religiöse und gesellschaftliche Unterschiede zu sensibilisieren und die Akzeptanz entsprechender Unterschiede zu fördern. Ebenso vielfältig sind allerdings die Möglichkeiten, Jugendliche in anderen Unterrichtskontexten gegen salafistische Ansprachen zu stärken und reflektierte Auseinandersetzungen mit religiösen Glaubenslehren und -praktiken zu fördern. Dazu gehört insbesondere die Anerkennung von Muslimen als selbstverständlichem Teil des gesellschaftlichen Diskurses. Dies ist im Unterrichtsalltag oft keineswegs selbstverständlich. Studien über Darstellungen des Islam in Schulbüchern zeigen, dass dieser auch heute noch oft als fremd und rückständig beschrieben wird. Dies spiegelt sich u. a. auch in einer Gegenüberstellung von »Deutschsein« und »Muslimischsein«, mit der eine grundsätzliche Unvereinbarkeit von deutscher Nationalität und muslimischer Religionszugehörigkeit suggeriert wird: Man ist »deutsch« oder »muslimisch«, aber nicht deutsch-musli-

5 Dantschke: Salafismus in Deutschland, S. 182–186.

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misch.6 Umso wichtiger ist es, die Lebenswelten und Biografien von Muslimen auch im Unterricht als »normalen« Teil der Gesellschaft abzubilden.7 Dabei geht es nicht zuletzt auch darum, die Biografien und Lebensleistungen der ersten Generation der Arbeitsmigranten anzuerkennen und Jugendlichen damit die Identifikation mit ihren Eltern zu erleichtern. Dieser Ansatz beschränkt sich nicht darauf, Muslime und Schüler mit Migrationsgeschichten zu einer Reflexion über ihr Selbstverständnis anzuregen, sondern beinhaltet ausdrücklich auch den Anspruch, den gesellschaftlichen Diskurs über das »Wir« und das »Deutschsein« zu hinterfragen: Eine Identifikation mit der Gesellschaft ist Muslimen nur dann möglich, wenn das Selbstbild der Gesellschaft auch für muslimische Erfahrungen und Perspektiven offen ist. In diesem Zusammenhang ist es hilfreich, immer wieder auch im Unterricht die Vielschichtigkeit von Identitäten und Selbstbildern herauszustellen. Exemplarisch dafür steht eine Aussage des Publizisten Navid Kermani, die sich im Gespräch mit Schülern unterschiedlicher Religionszugehörigkeit aufgreifen lässt: Ich sage von mir: Ich bin Muslim. Der Satz ist wahr, und zugleich blende ich damit tausend andere Dinge aus, die ich auch bin und die meiner Religionszugehörigkeit widersprechen können – ich schreibe zum Beispiel freizügige Bücher über die körperliche Liebe oder bejahe die Freiheit zur Homosexualität.8 Mittlerweile gibt es zahlreiche deutsch-muslimische Prominente, anhand derer sich auch im Unterricht Denkprozesse über die Frage anstoßen lassen, in welchen Situationen welche Facetten meiner Identität von Bedeutung sind – und in welcher sie eventuell keine Rolle spielen. Im salafistischen Weltbild ist es zweitrangig, was mich neben meiner Religion ausmacht: »Ich bin Muslim!« – alles andere ist zweitrangig. Gerade für Jugendliche, die aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit Anfeindungen und Diskriminierungen erleben, kann ein so zur Schau getragenes Selbstbewusstsein attraktiv sein. Daher ist es wichtig, auch im Unterricht Erfahrungen mit Ressentiments und Diskriminierungen ernst zunehmen und als tatsächliches gesell6 Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration: Schulbuchstudie Migration und Integration, S. 67. 7 In diesem Sinne bietet bspw. das Projekt »Zwischentöne – Materialien für Vielfalt im Klassenzimmer« (www.zwischentoene.info) Unterrichtsmaterialien, in denen gesellschaftliche Themen auch unter religiösen Blickwinkeln behandelt werden. Hilfreich sind auch die Unterrichtskonzepte des Vereins KIgA für die Sekundarstufe I und II, siehe KIgA, ZusammenDenken. 8 Kermani: Wer ist wir?, S. 17.

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schaftliches Problem anzuerkennen. Das betrifft individuelle Erfahrungen einzelner Schüler (z. B. Anfeindungen in der U-Bahn oder Benachteiligungen bei Bewerbungsgesprächen) genauso wie allgemeinere Formen rassistischer Diskriminierungen und Gewalt (z. B. Racial Profiling durch die Polizei oder die Zunahme von Übergriffen und Anschlägen auf Unterkünfte von Geflüchteten und Moscheen). Die Bereitschaft von Lehrern, sich im Unterricht mit diesen Realitäten auseinanderzusetzen, wirkt der Opferideologie, wie sie von Salafisten vertreten wird, entgegen. Dabei spielt auch der Gedanke des Empowerments eine wichtige Rolle, um dem Gefühl von Ohnmacht und Willkür entgegenzuwirken. So ist es gerade auch im schulischen Rahmen wichtig, Jugendliche mit konkreten Hilfestellungen (z. B. über den Verweis an Antidiskriminierungsstellen) zu unterstützen und ihnen Möglichkeiten aufzuzeigen, sich gegen Diskriminierungen zur Wehr zu setzen und eigenen Interessen Gehör zu verschaffen.9 Die Auseinandersetzung mit religiösen Interessen und Bedürfnissen spielt nicht nur im Zusammenhang mit Fragen von Identität, Zugehörigkeit und Teilhabe eine Rolle. Gerade in religiös und kulturell heterogenen Klassen ist es unabhängig vom religiösen Fachunterricht möglich, Gespräche über religiöse Fragen und Perspektiven anzustoßen, um Reflexionsprozesse über religiöse Lehren, Werte und Praktiken anzuregen und damit rigiden und manichäischen religiösen Orientierungen vorzubeugen. Anders als im bekenntnisorientierten Religionsunterricht geht es dabei nicht um die Vermittlung religiöser Inhalte, sondern um politische Bildung im weiteren Sinne: Es werden religiöse Fragen, die sich muslimischen Jugendlichen im Alltag stellen, die aber zugleich auch für nichtmuslimische Jugendliche relevant sind und sich mit allgemeinen gesellschaftlichen und politischen Themen verknüpfen lassen, aufgegriffen. Der Ansatz, der im Projekt Maxime Wedding des Violence Prevention Network verfolgt wird, steht exemplarisch für interreligiöse und interkulturelle Zugänge zu religiösen Themen im Ethik- und Gemeinschaftsunterricht, die sich im eigenen Unterricht aufgreifen lassen. Die Workshops, die von praktizierenden Muslimen, Christen und Juden durchgeführt werden, behandeln u. a. die Glaubensgrundlagen und religiösen Rituale der monotheistischen Religionen und machen »emphatisch das Gemeinsame und alle Menschen Verbindende« sichtbar.10 Dabei werden explizit auch Konflikte und religiös begründete Res  9 Eine aktive Antidiskriminierungspolitik auch in der Schule ist schon aus Gründen der Chancengleichheit notwendig; das Ziel der Prävention religiös begründeter Radikalisierung ist nur ein zusätzliches Argument, Initiativen wie die Einrichtung der Anlauf- und Beratungsstelle für Diskriminierungsschutz an Schulen in Berlin-Neukölln zu unterstützen. 10 http://www.violence-prevention-network.de (Zugriff am 11.08.2016).

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sentiments angesprochen, wobei die Trainer-Tandems mit ihren unterschiedlichen religiösen Hintergründen als »authentische Vorbilder« für eine interreligiöse Verständigung auftreten. Gerade mit Blick auf Konflikte in Schulklassen oder Jugendgruppen, die sich an religiösen oder konfessionellen Unterschieden festmachen – und die durch den Israel-Palästina-Konflikt oder den Bürgerkrieg in Syrien und im Irak bestärkt werden –, ermöglicht es dieser Ansatz, die Normalität religiöser Vielfalt herauszustellen und konstruktive Umgangsformen mit religiösen Unterschieden aufzuzeigen. Religiöse Fragen sind auch Ausgangspunkt der Workshops, die vom Verein ufuq.de in Schulen und Jugendeinrichtungen angeboten werden.11 Anlass sind dabei nicht selten bestehende Spannungen zwischen Jugendlichen unterschiedlicher Religionszugehörigkeit, aber auch ein allgemeines Interesse am Islam und religiösen Alltag, das von Jugendlichen formuliert wird. Religiöse Fragen und Erfahrungen der muslimischen Schülerinnen und Schüler bilden hier einen lebensweltbezogenen Einstieg in politisch-bildnerische Gespräche, bei denen das Verhältnis von Islam und Demokratie, Islam und Gewalt, innerislamische Vielfalt, aber auch Erfahrungen mit antimuslimischen Ressentiments und Alltagsrassismus im Mittelpunkt stehen. Gleichwohl geht es in den Workshops, die von jeweils zwei (in der Regel muslimischen) Teamern moderiert werden, nicht darum, theologische Antworten im Sinne eines vermeintlich »richtigen« oder »guten« Religionsverständnisses zu geben. Religiöse Fragen dienen vielmehr als Anstoß für Gespräche über die Hintergründe von Werten, Ritualen und Normen, bei denen ausdrücklich auch nicht religiöse Perspektiven (z. B. zu den Themen Gerechtigkeit, Gleichheit oder Freiheit) sichtbar werden. Mit der Leitfrage »Wie wollen wir leben?« werden religiöse Themen in allgemein ethische und gesellschaftliche Fragen übersetzt, die letztlich für alle Schülerinnen und Schüler – unabhängig von Herkunft oder Religionszugehörigkeit – von Bedeutung sind. Dabei kann es um demokratische Werte gehen oder um das Problem der Ausgrenzung und Abwertung »anderer«. Ziel ist es, ein Bewusstsein für unterschiedliche religiöse und nicht religiöse Zugänge zu Werten, Glauben und Identität zu fördern und die Handlungskompetenzen im Umgang mit gesellschaftlichen Unterschieden zu stärken. Ergänzend zu diesen unterrichtspraktischen Ansätzen wurden in den vergangenen Jahren Unterrichtsmaterialien entwickelt, die eine Auseinandersetzung mit präventionsrelevanten Themen erleichtern sollen.12 Auch hier wird die Breite 11 http://www.ufuq.de (Zugriff am 11.08.2016). 12 Besand, Grüne und Lutz: Was glaubst Du denn?, 2015, Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg/ufuq.de: »Wie wollen wir leben?«, 2014, Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage: Islam und ich, 2014, Bundeszentrale für politische Bildung: Salafismus in der

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des Themenspektrums sichtbar. Neben Fragen zum religiösen Selbstverständnis und zum Umgang mit religiösen Lehren und Traditionen werden z. B. auch Geschlechterrollen und das Verhältnis von Islam und Demokratie bearbeitet. Hier werden die Überschneidungen deutlich, die sich zwischen präventiven Ansätzen zu religiös begründeten Extremismen und Ansätzen der DiversityPädagogik ergeben. Zielgruppe sind hier nicht ausschließlich junge Musliminnen und Muslime oder Migrantinnen und Migranten, sondern alle Jugendliche unabhängig von Herkunft und Religionszugehörigkeit. Im Mittelpunkt steht dabei nicht die Dekonstruktion von demokratie- und freiheitsfeindlichen Einstellungen, sondern ein Empowerment von Jugendlichen im Umgang mit kulturellen und religiösen Unterschieden. Die Auseinandersetzung mit und Anerkennung von unterschiedlichen Formen von Religiosität spielt dabei ebenso eine Rolle wie die Wahrnehmung unterschiedlicher Identitätskonstruktionen und biografischer Erfahrungen.

Dr. Götz Nordbruch ist Islam- und Sozialwissenschaftler und Co-Geschäfts­führer des Vereins ufuq.de, [email protected].

Demokratie, 2012. Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die YouTube-Filme aus den Projekten »Begriffswelten Islam« der Bundeszentrale für politische Bildung sowie »Alternativen aufzeigen« der Hochschule für Angewandte Wissenschaften und ufuq.de. Diese Filme sind auch für die Nutzung im Unterricht konzipiert.

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Literatur Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration: Schulbuchstudie Migration und Integration, Berlin 2015. Besand, Anja, Grüne, Petra und Lutz, Petra (Hg.). Was glaubst Du denn? Muslime in Deutschland. Das Buch zur Ausstellung, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2015. Bundeszentrale für politische Bildung: Salafismus in der Demokratie (Entscheidung im Unterricht 2/2012), Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2012. Dakhli, Leyla: Islamwissenschaften als Kampfsport: Eine französische Debatte über die Ursachen dschihadistischer Gewalt, 24. Juni 2016, http://www.ufuq.de/islamwissenschaften-alskampfsport/ (Zugriff am 08.11.2016). Dantschke, Claudia: »Lasst Euch nicht radikalisieren!« – Salafismus in Deutschland, in: Schneiders, Thorsten Gerald (Hg.): Salafismus in Deutschland. Ursprünge und Gefahren einer islamischfundamentalistischen Bewegung, Bielefeld: transcipt Verlag 2014, S. 171–186. Frindte, Wolfgang, Boehnke, Klaus, Kreikenbom, Henry und Wagner, Wolfgang: Lebenswelten junger Muslime in Deutschland, Berlin: Bundesministerium für Frauen, Senioren, Familie und Jugend 2012. Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg/ufuq.de (Hg.): Wie wollen wir leben? Filme und Methoden für die pädagogische Praxis zu Islam, Islamfeindlichkeit, Islamismus und Demokratie, Hamburg 2014. Kermani, Navid: Wer ist wir? Deutschland und seine Muslime, München: C.H. Beck 2009. Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (Hg.): ZusammenDenken. Reflexionen, Thesen und Konzepte zu politischer Bildung im Kontext von Demokratie, Islam, Rassismus und Islamismus – ein Projekthandbuch, Berlin 2013. Nordbruch, Götz: Identität und Zugehörigkeit – Jenseits von Eindeutigkeiten. Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus, Berlin: KIgA e.V 2014. Roy, Olivier: Interview »Hier revoltiert die Jugend, nicht der Islam«, FR-Online, 21. November 2015. Schule ohne Rassismus  – Schule mit Courage (Hg.): Islam und Schule. Ein Handbuch für Pädagoginnen und Pädagogen, Berlin 2014. Ufuq.de: Protest, Provokation oder Propaganda? Handreichung zur Prävention salafistischer Ideologisierung in Schule und Jugendarbeit, Berlin 2015.