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German Pages 406 Year 2014
Christoph Kleinschmidt Intermaterialität
Lettre
Christoph Kleinschmidt (Dr. phil.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Deutsche Literatur und ihre Didaktik der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen das Verhältnis von Literatur und Materialien, Literatur und Wahrnehmung, Narration und Gewalt sowie Theorien und Funktionen von Grenzen.
Christoph Kleinschmidt
Intermaterialität Zum Verhältnis von Schrift, Bild, Film und Bühne im Expressionismus
Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein und der Ludwig Sievers Stiftung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Vorwort | 9 I.
Einleitung | 11 Intermateriale Szenarien | 11 Auf dem Weg zum Material. Der Expressionismus und die Kunst der Moderne | 16 Methodik und Aufbau | 19
II.
Theorie und Ästhetik der Intermaterialität | 23 Der Anfang der Intermedialität als Begründungszusammenhang der Intermaterialität | 23 Intermaterialität im Kontext bestehender ‚Inter-Modelle‘ | 30 Exkurs: Intermedium. Revision einer Begriffsgeschichte | 36 Medium ▪ Material ▪ Materialität | 38 Zur Materialität von Kunst | 40 Intermaterialität. Definition und Differenzierung | 43 An den Grenzen der Künste | 45 Für eine intermateriale Ästhetik | 52 Bedingungen intermaterialer Analysen | 53
III.
Die Konvergenz der Künste. Intermateriale Programmatik im Expressionismus | 57
Zwischen Immaterialität und Materialität | 57 Die Wissenschaft der Übertragung. Oskar Walzel und die wechselseitige Erhellung der Künste | 60 Abstrakte Wende ▪ Seelische Vibrationen. Wassily Kandinsky und der Zusammenklang der Künste | 69 „Der Blaue Reiter“ und die Verbindung von Text, Bild und Partitur | 85 Unio mystica artium. Lothar Schreyer und die Vision des Bühnenkunstwerks als intermateriales Monomedium | 92 Bühnenreform und Anthropozentrismus bei William Wauer und Rolf Lauckner | 109 Die Demokratisierung des Materials. Kurt Schwitters’ Merzkunst | 118
Das Erbe des intermaterialen Expressionismus am Bauhaus. Einheitswerk und Theatervision bei Walter Gropius und Oskar Schlemmer | 133 Zusammenfassung | 141 IV.
Zwischen Text und Bild | 145
Apräsenz ▪ Kopräsenz ▪ Fusion. Formen intermaterialer Text-Bild-Bezüge im Expressionismus | 145 Bildgedichte. Kasimir Edschmids „Bilder. Lyrische Projektionen“ | 150 Ekphrasis als Erlebnis. Johannes Ittens „Analysen Alter Meister“ | 158 Illustration. Ernst Ludwig Kirchners Bearbeitung von Georg Heyms „Alle Landschaften haben“ in „Umbra Vitae“ | 172 Schriftbild. Paul Klees „Einst dem Grau der Nacht enttaucht“ | 177 Initialen. Franc Marc, Hans Arp, Karl Schmidt-Rottluff, Ernst Ludwig Kirchner, Max Pechstein und die bildnerische Kunst des Textanfangs | 186 Assemblage. Kurt Schwitters’ „Das Undbild“ | 194 Zusammenfassung | 200 V.
Zwischen Schrift und Film | 203
1. Literarische Aneignung eines neuen Mediums | 203 Filmisches Schreiben. Kurt Pinthus’ „Kinobuch“ und die Emanzipation des Filmskripts von Drama, Roman und Theater | 205 Kinostück I. ‚Vereinigung der altmodischen Poesie mit der modernen Technik‘. Kurt Pinthus’ „Die verrückte Lokomotive oder Abenteuer einer Hochzeitsfahrt. Ein großer Film“ | 210 Kinostück II. Die Entfesselung der Schrift im Film. Richard A. Bermanns „Leier und Schreibmaschine“ | 214 Kinostück III. Die Wirksamkeit der Literatur. Max Brods „Ein Tag aus dem Leben Kühnebecks, des jungen Idealisten“ | 218 Zwischen Mythos und Realität. Yvan Golls literarische Filmästhetik | 221 Poetik des Lichtspiels. Kinolyrik von Jakob von Hoddis bis Claire Goll | 227 Zusammenfassung | 243
2. Der Stummfilm und die Schrift | 245 Fragile Schriftzeichen und die Autorität der Bücher. Robert Wienes „Das Cabinet des Dr. Caligari“ | 250 Schrifttradition vs. (Un-)Kultur des Kinos. Paul Wegeners „Der Golem, wie er in die Welt kam“ | 259 Die ‚Wahrheit‘ der Schrift als Bild. Friedrich Wilhelm Murnaus „Nosferatu. Eine Symphonie des Grauens“ | 269 Zusammenfassung | 277 VI.
B ÜHNENKOMPOSITIONEN | 279
Zwischen paralleler und kontrastiver Intermaterialität | 279 Von Wagner zu Reinhardt. Kurze Vorgeschichte des intermaterialen Theaterexpressionismus | 281 Aufwertung und Akzidenz des inszenatorischen Materials. Oskar Kokoschkas „Mörder Hoffnung der Frauen“ | 288 Perpetua Materia. Arnold Schönbergs „Die glückliche Hand. Drama mit Musik. Op. 18“ | 294 Die Notwendigkeit des Zuschauers. Wassily Kandinskys „Der gelbe Klang“ | 308 Sakraler Spielgang. Lothar Schreyers „Kreuzigung“ | 324 Synästhesie im Nichts oder Ethik der Intermaterialität. Alfred Brusts „Das Spiel Jenseits“ | 332 Ironischer Abgesang auf das Theater der Abstraktion. Kurt Schwitters’ „Zusammenstoß. Groteske Oper in 10 Bildern“ | 339 Zusammenfassung | 347 VII.
Schluss | 349
VIII.
Abbildungsverzeichnis | 355
IX.
Literatur- und Filmverzeichnis | 359
X.
Personen- und Titelregister | 391
Vorwort
Dieses Buch ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Dezember 2010 von der Philosophischen Fakultät der Universität Münster angenommen wurde. Ohne die Unterstützung und Förderung von vielen Seiten wäre sie nicht zustande gekommen. An erster Stelle möchte ich ganz herzlich meinem Erstbetreuer Moritz Baßler danken, der das Interesse für den Expressionismus und die ästhetische Moderne teilt und durch seinen engagierten Einsatz eine Betreuungssituation geschaffen hat, die man sich besser nicht wünschen kann. Seine fachkundigen Ratschläge haben der Arbeit ihre entscheidende Wendung gegeben. Mein Dank gilt zudem Martina Wagner-Egelhaaf, die mir als Zweitbetreuerin mit ihren Kenntnissen über die Materialitätsforschung wichtige Hinweise geliefert hat. Renate Werner und Tanja Nusser bin ich für ihre Kritik und strukturellen Anregungen dankbar. Für ihren Rückhalt danke ich meinen Eltern, Freunden und besonders Anika Söltenfuß, die diesseits und jenseits der Wissenschaft stets eine Stütze war. Darüber hinaus danke ich dem gesamten Germanistischen Institut der Universität Münster, das den Freiraum bereitgestellt hat, dieses Projekt abzuschließen. Vor allen gilt mein Dank Detlef Kremer, der die Arbeit in ihren Anfängen gefördert und begleitet hat, ihre Fertigstellung aber nicht mehr miterleben konnte. Ihm ist diese Studie gewidmet.
I. Einleitung
I NTERMATERIALE S ZENARIEN Im Jahr 1914 fasst Hugo Ball den Plan zu einem radikalen Umbau des Münchener Künstlertheaters. Unter Mithilfe von Wladimir Bechtejeff, Franz Marc, Erich Mendelsohn, Wassily Kandinsky, Paul Klee, Alexander von Salzmann und Arnold Schönberg soll die Bühne von Grund auf reformiert und eine „Neue Form des ganzen dramatisch-szenischen, des theatralischen Ausdrucks“ gefunden werden: Es handelte sich darum, ein Repertoir aufzustellen, das zugleich in die Zukunft und die Vergangenheit wies, Stücke zu finden, die nicht nur ‚Dramen‘ wären, sondern den G e b u r t s g r u n d alles dramatischen Lebens darstellten und sich so aus der Wurzel heraus zugleich in Tanz, Farbe, Mimus, Musik und Wort entlüden. Den Schwerpunkt legte man dabei auf das Wort ‚Entladung‘, womit sich die Herkunft der Idee aus den Kreisen des Expressionismus signiert.1
Zur Umsetzung des Vorhabens ist es nie gekommen, doch bezeugen die Bemühungen Balls das Spektrum expressionistischer Kunstkonvergenz. Im Modus des Erneuerungspathos geht es um die Begründung einer „Weltanschauung“2, die nicht nur ‚Ismus‘, sondern überzeitliche Konstante sein will, und dieser allumfassende Anspruch impliziert auch die Künste in ihren verschiedenen Ausprägungen. In Übereinstimmung mit Wassily Kandinsky, Lothar Schreyer und vielen anderen Apologeten des Expressionismus geht Ball von einer ‚Wesenseinheit‘ der historisch bedingten, ‚unnatürlich‘ getrennten Kunstarten aus, deren Wiedervereinigung durch eine Verbindung ihrer äußeren Materialien erreicht werden soll. Gerade das Theater eröffnet die Möglichkeit, solche Einheitsvorstellungen in die gesamtkünstlerische Tat umzusetzen. Im Unterschied zum „Theater der Neuen Kunst“ sind andere Ver-
1
BALL 1914: 73. [Herv. i.O.]
2
PICARD 1919: 569.
12 | I NTERMATERIALITÄT
suche im Umfeld des Expressionismus denn auch erfolgreich: Die Sturmbühne in Hamburg unter der Leitung Lothar Schreyers inszeniert kultartige Mysterienspiele, bei denen Intonation, Ganzkörpermasken und Bewegungsabläufe exakt aufeinander abgestimmt sind, die Bauhausbühne Oskar Schlemmers experimentiert mit Raum, Tanz und abstrakten Bühnenmitteln, und Oskar Kokoschkas Aufführungen sorgen in ihrer Farb- und Lichtregie für einen bildartigen Eindruck. Das intensive Zusammenspiel der Künste beschränkt sich im Expressionismus nicht auf das Theater. In der Zeit von ca. 1910 bis 1925 lässt sich ein enormes Interesse an der Exploration von Techniken und Materialien anderer Künste beobachten, das nicht selten durch das Feindbild eines konservativen Medienpurismus angetrieben wird. So überträgt beispielsweise Yvan Goll die Hoffnung auf das Gesamtkunstwerk in einer Zeit auf den Film, in der viele dem neuen Medium den Kunstcharakter gänzlich absprechen: Die höchsten Forderungen der Kunst: die S y n t h e s e und das S p i e l d e r G e g e n s ä t z e , werden durch die Technik erst ermöglicht und erleichtert. […] So werden im K i n o d r a m alle Künste mitwirken: es wird nicht nur Dichtung sein, sondern Malerei, Musik, Plastik, Tanz. 3
Wenige Jahre zuvor postulieren bereits Kurt Pinthus das Kinostück und Alfred Döblin den „Kinostil“4 für die Literatur. Unter dem Eindruck der flimmernden Bilder entstehen im literarischen Expressionismus gattungsübergreifende Versuche filmischer Schreibweisen. Während sich die Zahl dieser Texte eher gering ausnimmt, zeugt die Verbindung von Literatur und Malerei von einer enormen intermaterialen Anstrengung. Etwa 300 Maler und Graphiker gestalten Einbände oder Umschläge von Büchern, porträtieren ihre Autorenkollegen und illustrieren deren Gedichte, Erzählungen oder Essays. Unter den Illustratoren befinden sich nicht nur so bekannte Namen wie Max Ernst, George Grosz, John Heartfield, Ernst Ludwig Kirchner, Max Pechstein oder Alfred Kubin, sondern auch heute weniger bekannte wie Conrad Felixmüller oder Rudolf Grossmann und gänzlich in Vergessenheit geratene wie Ottomar Starke oder Margarete Wels. Alle diese Graphikerinnen und Graphiker haben ihren Anteil an einer umfassenden expressionistischen Buchkunst, bei der etwa 1500 Bücher entstehen, die mithilfe unterschiedlicher Techniken – Radierungen, Vignetten, Zeichnungen, Lithographien etc. – eine Engführung von Malerei und Literatur bezeugen.5 Der Expressionismus ist ohne Zweifel eine Zeit der künstlerischen Zusammenschlüsse. Seinen soziokulturellen Ausdruck findet diese Tendenz in zahlreichen 3
GOLL 1920: 137f. [Herv. i.O.]
4
DÖBLIN 1913: 121.
5
Vgl. RAABE 1985: 815-834.
E INLEITUNG
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„Medienverbünden“6, wobei vor allem die Zeitschriften einen wichtigen Stellenwert einnehmen. Vor allem Herwarth Waldens Der Sturm (1910-1932) als wichtigstes Publikationsorgan der Avantgarde macht es sich zur Aufgabe, die Innovationsbestrebungen der Neuen Kunst in Malerei, Architektur, Literatur, Musik und Tanz gleichermaßen auszuweisen. Hinzu kommen neben Franz Pfemferts Die Aktion (1911-1932) etliche Zeitschriften geringerer Auflage wie Kündung, Das neue Pathos, Die rote Erde, Der Weg, Neue Blätter für Kunst und Dichtung und viele mehr, die sich als Organe gesamtkünstlerischer Interessen präsentieren und Graphik und Text gleichwertig in ihre Ausgaben einbeziehen.7 Hervorzuheben sind zudem die eigeninitiativen Zusammenschlüsse wie die Dresdener Brücke (1905-1913), der Neue Club (1909-1914) in Berlin oder aus dem Zufall geborene Kooperationen wie das bereits erwähnte Kinobuch (1913/14) von Kurt Pinthus in Leipzig. Die Art der Bündnisse variiert dabei von losen, projektbezogenen Verbünden wie dem Münchener Blauen Reiter (1912) bis hin zur Institutionalisierung im Weimarer Bauhaus (1919-1923). Eine wichtige Funktion in der medialen Präsenz des Expressionismus nimmt zudem die Verlagskultur ein. In jungen Verlegern – etwa Kurt Wolff, Erich Reiß oder Ernst Rowohlt – findet die expressionistische Generation Gleichgesinnte, die die intermaterialen Bestrebungen durch bibliophile Sammlerstücke unterstützen und sogar editorisches Neuland betreten, wie mit der ersten Anthologie zur Filmliteratur. Auch die so genannten Doppel- bzw. Mehrfachbegabungen spielen eine wichtige Rolle und sind „konstitutiver Bestandteil des ästhetischen Programms der Bewegung“8. So schreibt der Maler Ernst Barlach Theaterstücke, genauso wie Kandinsky, der sich zudem als Lyriker versucht; Schönberg erfindet nicht nur die Neue Musik, sondern malt abstrakte Bilder und konzipiert synästhetische Bühnenstücke; Ludwig Meidner verfasst als Maler einen Dichtergruß – „Ihr Dichter seid gegrüßt! Der Maler grüßt Euch.“9 – und Else Lasker-Schüler versieht ihre Gedichtbände mit eigenen Zeichnungen. Alle diese Künstler, Verleger und Vereinigungen prägen die Kunstszene einer Zeit, in der das Experimentieren mit verschiedenen Gattungen und Künsten die Regel darstellt. Die Forschung hat diese Tendenz zur Annäherung der Künste dokumentiert10 und zugleich immer wieder auf einen Mangel ihrer Erkundung hingewiesen. In seiner Bestandsaufnahme der wissenschaftlichen Publikationen zum Expressionismus nennt Richard Brinkmann 1980 die „Verbindung der Künste untereinander“ als
6
HAEFS 2000: 437.
7
Vgl. LANG 1993: 69-79.
8
BOGNER 2005: 61.
9
MEIDNER 1918: 75.
10
Vgl. RAABE/GREVE 1960; ANZ/STARK 1982: 543-559.
14 | I NTERMATERIALITÄT
einen der drei „große[n] Aufgabenbereiche“ 11 zukünftiger Expressionismusforschung. Dieses Urteil wurde in der Folge von Jan Knopf 1983, Hermann Korte 1994, Walter Fähnders 1998 sowie Thomas Anz 2002 und 2010 bekräftigt und hat seine Gültigkeit bis heute nicht verloren.12 Auch wenn in der Zwischenzeit einzelne Arbeiten – etwa zum Verhältnis von Literatur und Musik13 – erschienen sind und zuletzt eine größere Ausstellung dem „Gesamtkunstwerk Expressionismus“14 gewidmet wurde, steht eine umfassende Untersuchung der Bezüge zwischen den Künsten im Expressionismus immer noch aus. Vor allem das Verhältnis von Literatur und Film fristet ein Schattendasein, aber auch im Hinblick auf den erschlossen geglaubten Theaterexpressionismus lassen sich mit Alfred Brusts Das Spiel Jenseits (1920) und Lothar Schreyers Kreuzigung (1920) noch Bühnenstücke finden, die – im Gegensatz zu Kandinskys Der gelbe Klang (1912) oder Kokoschkas Mörder Hoffnung der Frauen (1907/10) – weitgehend unerforscht sind. In Ansätzen aufgearbeitet hat die interdisziplinäre Expressionismusforschung die Text-Bild-Bezüge, besonders im Hinblick auf die so genannten Doppelbegabungen (Alfred Kubin, Oskar Kokoschka, Else Lasker-Schüler) und direkten Vergleiche von Schriftstellern und Malern (Georg Trakl/Franz Marc).15 Abgesehen von der verdienstvollen Gesamtdarstellung Lothar Langs zur expressionistischen Buchkunst16 sind die Ausgangspunkte derartiger Einzelanalysen jedoch motivische, stilistische Äquivalenzen. Ihr Ziel ist die Darlegung der Homogenität einer Bewegung über verschiedene Kunstformen hinweg, wozu formale Aspekte wie Fragmentierung, Farbintensität oder -metaphorik ebenso zählen wie thematische Entsprechungen im Hinblick auf Großstadtwahrnehmung, Krieg, Wahnsinn oder andere charakteristische Sujets des Expressionismus.
11 12
BRINKMANN 1980: 15. Vgl. KNOPF 1983: 44; KORTE 1994: 239f. Fähnders benennt „den interdisziplinären Blick auf andere Kunstsparten“ als ein Kennzeichen des Expressionismus, das wichtige „Forschungsschwerpunkte, auch -desiderate“ bilde. FÄHNDERS 1998: 161. Ähnlich äußert sich Anz. In seiner instruktiven Überblicksdarstellung über den literarischen Expressionismus widmet er der Synästhetik ein eigenes Kapitel und stellt darin fest, dass der Expressionismus „unter Aspekten, Begriffen und Theorien neuerer Intermedialitätsforschung […] bislang noch nicht systematisch und umfassend analysiert worden“ sei. ANZ 2002: 150; 2010: 152.
13
Vgl. KRAUSE 2006.
14
Vgl. BEIL/DILLMANN 2010.
15
Vgl. SCHNEIDER 1967; SALTER 1972; LISCHKA 1972; MÖNIG 1996; SIMONIS 2002.
16
Vgl. LANG 1993.
E INLEITUNG
| 15
Mit dieser Analyse von „motivischen und formalen Analogien“17, deren Nachweis auch umfangreichere komparatistische Publikationen leiten,18 ist ein Ansatz benannt, dem diese Untersuchung explizit nicht folgt. In der vorliegenden Studie geht es um keinen inhaltlichen Vergleich und auch nicht um den Nachweis formaler Äquivalenzen, sondern um die Erforschung konkreter materialer Verbindungen, d.h. um eine Konvergenz im Material der Künste. Für die Analyse ausgewählt sind nur solche Texte, Bilder, Filme oder Bühnenstücke, die mindestens eine andere Kunst in das eigene Material integrieren, mehrere Materialien miteinander kombinieren oder auf die Materialität einer anderen Kunst rekurrieren. Diese Einschränkung wirft natürlich einige Probleme auf. Wenn man mit Adorno Material definiert als das, „womit die Künstler schalten: was an Worten, Farben, Klängen bis hinauf zu Verbindungen jeglicher Art [...] sich darbietet [...]; also alles ihnen Gegenübertretende, worüber sie zu entscheiden haben“19, dann lassen sich mit Wörtern, Formen, Farben und Flächen die Materialien für Literatur und bildende Kunst recht genau angeben sowie das integrale Neben- und Miteinander von Materialien wie Klang, Körper und Farbe als charakteristisch für die Bühne beschreiben. Der Film erweist sich dagegen als materialästhetischer Problemfall, weil mit dem Kino und seinen Vorführbedingungen eine materiale Voraussetzung vorliegt, die sich der Entscheidungskompetenz des Regisseurs (zumeist) entzieht. Der hier zugrunde gelegte Materialbegriff20 impliziert jedoch sowohl die projektierten Bewegungsbilder als auch die Leinwand und die Apparatur, ja sogar die institutionellen Rahmenbedingungen wie Zuschauerraum, Ansager und Begleitmusik. Damit erweitert sich auch das materiale Spektrum für die traditionellen Künste um Werkzeuge wie Stift und Schreibmaschine oder Rahmen und Pinsel als Gegenstände intermaterialer Reflexion. Dieser weite Materialitätsbegriff ergibt sich nicht zuletzt aus den kreativen Bezügen, die die Expressionisten selbst herstellen, angefangen von der Verarbeitung des Flimmerns der Filmbilder und der Kinosaal-Atmosphäre in den Gedichten Jakob von Hoddis’ oder Claire Golls bis hin zum Liniensystemen in den Schriftbildern Paul Klees. In diesen intermaterialen Konstellationen kommt ein Interesse an anderen Künsten zum Ausdruck, das sich nicht in einer kommensurablen Topik erschöpft, sondern auf die materialen, technischen Bedingungen abzielt und damit die Grundvoraussetzungen ästhetischer Verfahren in den Blick nimmt. Die enorme Menge an solchen Sondierungen ästhetischer Verbindungen im Expressionismus macht eine Einschränkung nicht nur der Untersuchungsperspektive, 17
MÖNIG 1996: 31.
18
Vgl. BAUER PICKAR/WEBB 1979; CHIARINI/GARGANO/VLAD 1986.
19
ADORNO 1970: 222.
20
Zur Definition des Materialbegriffs in Relation zum Medienbegriff vgl. das Kapitel ‚Medium ▪ Material ▪ Materialität‘.
16 | I NTERMATERIALITÄT
sondern auch des Untersuchungsgegenstands nötig. Neben der Materialität liegt daher das Augenmerk auf dem Bezug zur Schrift bzw. Sprache. Sie soll in ihrem Verhältnis zu den primär visuellen Medien Bild und Film sowie in ihrem Zusammenspiel mit Musik, Tanz, Farbe, Form und Raum in den expressionistischen Bühnenkompositionen untersucht werden. Diese Gewichtung trägt zum einen der Provenienz dieser Studie aus dem Umfeld einer interdisziplinär ausgerichteten Literaturwissenschaft Rechnung, zum anderen dem Umstand, dass gerade diese Bezüge weitgehend unerforscht sind. Vor dem Hintergrund dieser Fokussierung kann daher auch nicht der Anspruch erhoben werden, den diagnostizierten Mangel an einer Erforschung der Interdependenz der Künste im Expressionismus umfassend beheben zu wollen. Vielmehr geht es in dieser Studie darum, mit den intermaterialen Kunstproduktionen einen bestimmten Typ intermedialer Relationen zu erschließen, und zwar einerseits historisch – im Hinblick auf sein Vorkommen in der literarischen bzw. ästhetischen Moderne – und andererseits systematisch, indem die Intermedialitätsforschung um die Kategorie der Intermaterialität erweitert und differenziert werden soll.
A UF DEM W EG ZUM M ATERIAL . D ER E XPRESSIONISMUS UND DIE K UNST
DER
M ODERNE
Die Annäherung der Künste ist keine ‚Erfindung‘ des Expressionismus. Sie lässt sich schlaglichtartig im Jugendstil um 1900, dem Musikdrama bei Richard Wagner, dem Ideal des Gesamtkunstwerks in der Romantik, dem Paragonestreit der Renaissance bis zur Begründung der Ekphrasis in der Antike zurückverfolgen. Für diese Konjunkturwellen gibt es unterschiedliche Gründe. Abgesehen von der Emanzipation und der Konkurrenz der Künste in der Frühen Neuzeit ist deren Verbindung meist Folge einer Verabsolutierung des Ästhetischen und der damit einhergehenden Wirkungsabsicht einer maximalen Erlebnisintensität. Im Expressionismus kommt noch eine weitere Ursache hinzu, die originär das 20. Jahrhundert auszeichnet: die Wende zur Abstraktion. Mit der Absage an Referenz und Abbildfunktion geht eine Konzentration auf die eigenen technischen, materialen Bedingtheiten der Künste einher, die wiederum Voraussetzung ist für das Experimentieren mit den Materialien anderer Kunstformen. Diese Entwicklung nimmt ihren Anfang in der Malerei (Wassily Kandinsky), lässt sich aber in allen Künsten beobachten: der Musik (Arnold Schönberg), dem Tanz (Clotilde von Derp), der Literatur (August Stramm), dem Theater (Oskar Schlemmer) und dem Film (Hans Richter). Seine programmatische Begründung findet dieser Prozess in Kandinskys einflussreicher Schrift Über das Geistige in der Kunst von 1912:
E INLEITUNG
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So stellen sich allmählich verschiedene Künste auf den Weg, das zu sagen, was sie am besten sagen können, und durch die Mittel, die jede von ihnen ausschließlich besitzt. […] Bewußt oder unbewußt wenden sich allmählich die Künstler hauptsächlich zu ihrem Material, prüfen dasselbe, legen auf die geistige Waage den inneren Wert der Elemente, aus welchen zu schaffen ihre Kunst geeignet ist. Und aus diesem Streben kommt von selbst die natürliche Folge – das Vergleichen der eigenen Elemente mit denen einer anderen Kunst.21
Verbunden mit dieser Hinwendung zum Material sind bei Kandinsky und vielen anderen expressionistischen Theoretikern ins Mystische gesteigerte Wesensvorstellungen der Kunst. „Expressionismus ist Ausdruck des Geistigen durch Form“22, schreibt etwa Oswald Herzog 1919 im Sturm und Kurt Heynicke betont zwei Jahre zuvor im Kunstblatt: „Die Bewegung des Alls fängt der Geist auf und gestaltet sie sichtbar durch den Ausdruck der Kraft, die Rhythmus ist, wie das strömende All“23. Der Expressionismus präsentiert sich in diesen Positionen als eine Bewegung, in der sich ein materialer Reduktionismus mit einem esoterischen Hang zur Vergeistigung kreuzt. Aus dieser Spannung ergibt sich das spezifische Profil der Intermaterialität im Expressionismus, das einerseits durch eine vorher nicht gekannte Erforschung der materialen Beschaffenheit der Künste und andererseits durch eine supramateriale Tendenz zum Metaphysischen gekennzeichnet ist.24 Wenn beispielsweise Lothar Schreyer Gesetze der Kunst (1925/26) aufstellt und zugleich jedem Kunstgebilde einen kosmischen Rhythmus zuspricht oder Johannes Itten die Maßverhältnisse eines Bildes berechnet und gleichermaßen die graphische Visualisierung eines sprachlichen Ausdrucks als rituelle Handlung begreift, dann fusionieren zwei sich scheinbar ausschließende Anforderungen an die Kunst in einem materialästhetischen Spiritualismus. Neben dieser esoterischen Begründung der Intermaterialität im Expressionismus gibt es zwei weitere. Bei ihnen geht es darum, Künste und Materialien spielerisch oder provokativ in Verbindung zu bringen sowie die Gesetze intermaterialer Kombinationsmöglichkeiten rational zu erfassen. Das Experimentieren expressionistischer Autoren mit dem Film resultiert beispielsweise aus einer Faszination für die schnellen Bildfolgen und ist zugleich Ausdruck einer antibürgerlichen Haltung. Gegen den Kulturkonservatismus soll mit den Kinostücken ein Genre begründet 21
KANDINSKY 1912a: 54. [Herv. i.O.]
22
HERZOG 1919/20: 567.
23
HEYNICKE 1917: 104.
24
Diese Spannung äußert sich in den expressionistischen Programmschriften expressis verbis darin, dass mit den Forderungen nach einer geistigen Revolution die materialistische Kultur des Positivismus radikal verworfen, zugleich aber mit der abstrakten Kunst für eine Erforschung und Aufwertung des Materials plädiert wird.
18 | I NTERMATERIALITÄT
werden, das bewusst den trivialen Charakter des zeitgenössischen Films auf die Literatur überträgt. Noch gewagter als die filmischen Schreibstrategien zeigt sich Kurt Schwitters’ Ausdehnung des künstlerischen Materials auf potentiell alle Gegenstände bis hin zum Müll. Diese Expansion geht jedoch einher mit einem strengen Kompositionsprinzip, das eine Verbindung der gesammelten Dinge im und durch das Kunstgebilde herstellen soll. Einer solchen Formstrenge verpflichtet sich auch Oskar Schlemmer, der für eine Rationalisierung im intermaterialen Expressionismus einsteht. Ziel seiner Theaterarbeiten am Bauhaus ist es, eine ‚Grammatik der Bühnenmaterialien‘ aufzustellen, um die Gesetzmäßigkeiten in der räumlich wie zeitlich integralen Verwendung von Materialien exakt zu bestimmen. Dass die Verbindungen der Künste im Expressionismus einen Rahmen vom spielerischen Umgang mit Materialien bis zum emphatischen Ernst spannen, zeigt die Heterogenität einer Strömung, deren Epochenprofil häufig Gegenstand der Forschungsdiskussion war.25 Dass sich gerade der Expressionismus als wenig einheitlich erweist, ja bereits Zeitgenossen kritisch über seine Kohärenz und Bezeichnung räsonierten, darauf wurde vielfach hingewiesen.26 Auch bedarf es kaum noch des Hinweises auf die Problematik von Epocheneinteilungen, die dort Zäsuren vornehmen, wo sich Einflüsse, Übergänge und Parallelentwicklungen zeigen. So können die Verbindungen der Künste im Expressionismus sicherlich nicht losgelöst gedacht werden vom kubistischen Aufbruch der Formen, insbesondere von den frühen Montagen Pablo Picassos und Georges Braques.27 Zudem haben gerade die abstrakten Bühnenkompositionen einen langen theaterreformatorischen Vorlauf angefangen vom Gesamtkunstwerk Richard Wagners über Edward Gordon Craigs Konzeption der Über-Marionette bis hin zur experimentellen Moskauer Bühne Wsewolod Meyerholds. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen soll hier ein dynamisches Epochenmodell zugrunde gelegt werden, das sich offen zeigt gegenüber Veränderungen und bei dem sich der Expressionismus als eine Strömung darstellt, die neben anderen auf dem Weg ist zum Material der Kunst. Ästhetikgeschichtlich ist das Material – wenn auch zumeist als eine zu überwindende Größe – bereits im 19. Jahrhundert relevant, seine theoretische und praktische Aufwertung erfährt es jedoch erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts.28 So entwickeln sich fast parallel zu den Abstraktionstendenzen der Expressionisten auch in anderen Ländern 25
Vgl. VIETTA/KEMPER 1975: 11-20; STARK 1982: 23-37; HÜPPAUF 1983b; PAULSEN
26
Vgl. PÖRTNER 1960: 5; ARNOLD 1966: 15; SOKEL 1970: 7-11; WEISSTEIN 1973: 7; ANZ
27
Vgl. JÜRGENS-KIRCHHOFF 1984: 32-54.
28
Vgl. BANDMANN 1971; DRECHSLER/WEIBEL 1991; WAGNER 2001a; KLEINSCHMIDT
1983: 18-29; GEHRKE 1990. 2002: 2-10; KLEINSCHMIDT 2010.
2011.
E INLEITUNG
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Bewegungen – neben dem Kubismus in Frankreich etwa der Futurismus in Italien mit seiner Maschinenästhetik oder die russische Avantgarde mit ihrer Materialkultur um Wladimir Tatlin –, die um eine Aufwertung des Materials bemüht sind. Das Zusammenspiel der Materialien in seiner programmatischen und praktischen Dimension im Expressionismus muss daher als Teil einer umfangreicheren materialästhetischen Tendenz der Moderne begriffen werden.
M ETHODIK
UND
A UFBAU
Ebenso wie sich der Expressionismus als historische Bewegung nicht isoliert betrachten lässt, kann auch das Plädoyer für eine Ästhetik der Intermaterialität nicht losgelöst vom Stand der theoretischen Diskussion erfolgen. Vor der Analyse der intermaterialen Verbindung der Künste im Expressionismus setzt diese Studie daher im zweiten Kapitel mit einem kurzen Überblick über verschiedene ‚Anfangsszenarien‘ der Intermedialitätsforschung ein, als deren Teil sie sich versteht. Obwohl der Begriff des Intermediums schon im Expressionismus nachweisbar ist – das ist ein Ergebnis dieser Studie29 – und als Schlagwort der Kunstszene der 1950er und 60er Jahre auf die Fusion von Kunst und Leben abzielt, beginnt die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Phänomen erst in den 1980er Jahren. Die Anfänge der Erforschung orientieren sich stark am Russischen Formalismus und versuchen Intermedialität auf der Basis semiotischer Modelle zu erklären. Obwohl gerade für das Zeichen eine materiale Qualität konstitutiv ist, wird dabei häufig die spezifische Materialität von Künsten und Medien übersehen. Dagegen soll in der Einführung der Intermaterialitätskategorie ausdrücklich die materiale Eigenschaft von Zeichen berücksichtigt werden. Dies ist methodisch deshalb wichtig, weil nicht alle intermaterialen Kunstgebilde als Verbindung von Dingmaterialien funktionieren, sondern der Bezug auf die Materialität auch mithilfe von Zeichenkomplexen erzeugt wird. Die Notwendigkeit, mit der Intermaterialität überhaupt ein neues Modell in die Forschung einzuführen, ergibt sich aus dem Grund, dass durch zahlreiche neuere Publikationen der Intermedialitätsbegriff eine derartige Ausweitung erfahren hat – auch bloße Filmtitelnennungen in einem literarischen Text werden beispielsweise unter diesem Begriff rubriziert –, dass er sich für die Untersuchung der Kunstkonvergenzen im Expressionismus als zu heterogen und zu weit gefasst erweist. Vor diesem Hintergrund soll in dieser Studie für eine Materialästhetik argumentiert werden, die Kunst als spezifische Verwendungsweise von Materialien begreift, und hieraus der Intermaterialitätsbegriff als spezifischer Typ der Intermedialität abgeleitet werden. Von Intermaterialität ist dann zu sprechen, so meine grundlegende The29
Vgl. das Kapitel ‚Intermedium. Revision einer Begriffsgeschichte‘.
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se, wenn direkt oder indirekt auf die materialen Bedingungen einer anderen Kunst oder eines anderen Kunstgebildes Bezug genommen wird. Mit dieser Definition verbunden ist die Abkehr von einem monadischen Medienverständnis. Viele Positionen in der Intermedialitätsforschung gehen von einer Distinktion der Medien aus als Prämisse für deren vielfältigen Verbindungen. In Anlehnung an Überlegungen Michel Foucaults, Jacques Derridas und Theodor W. Adornos und in Rückgriff auf Ansätze zur Konvergenz der Künste in den Ästhetiken des 18. und 19. Jahrhunderts sollen dagegen die Grenzen der Medien und Künste nicht als scharfe Trennlinien, sondern als Grenzräume verstanden werden, die Berührungspunkte und Transgressionen aufweisen. Intermaterialität ist demnach nicht etwas, das Grenzen überschreitet oder vorher Getrenntes verknüpft, sondern sie stellt einen Ansatz dar, der demonstriert, dass es diese festen Grenzen nicht gibt. Dass derartige Überlegungen zu Fragen der Kunstgrenzen bereits einen wichtigen Bestandteil der intermaterialen Diskussionen im Expressionismus darstellen, wird in der programmatischen Zusammenschau des dritten Kapitels deutlich. Zwar beschränkt sich das Intermaterialitätskonzept nicht auf ihn, der Expressionismus entwirft jedoch neben der tatsächlichen Verbindung von Künsten eine große Menge an theoretischen Schriften über die materialen Voraussetzungen derartiger Vereinigungsbestrebungen. Die Programmatiken zur Konvergenz der Künste haben dabei unterschiedliche Herkunft: Sie sind aus wissenschaftlicher (Oskar Walzel), spiritualistischer (Wassily Kandinsky, Lothar Schreyer), regiepragmatischer (William Wauer), Handwerk und Kunst zusammenführender (Walter Gropius) oder die Grenzen von Kunst und Leben überschreitender (Kurt Schwitters) Sicht geschrieben. Allen gemeinsam ist jedoch das Bemühen um eine Verbindung materialer Konstituenten zu einer ästhetischen Einheit. In den folgenden drei Kapiteln IV, V und VI werden die praktischen Umsetzungen des intermaterialen Expressionismus anhand der Verbindungen von Text und Bild, Schrift und Film sowie der Bühnenkompositionen analysiert. Die Reihenfolge der Kapitel ergibt sich aus der aufsteigenden Anzahl der interagierenden Materialien. Während in den Text-Bild- und den Schrift-Film-Relationen zwei Materialien in Beziehung treten, stellt die Bühne eine Vielzahl von Materialien und Verknüpfungsmöglichkeiten bereit. Da die Bühnenkompositionen zumeist von jenen Künstlern konzipiert werden, die umfassende Theorien zur Kunstkonvergenz formulieren, spannt dieses Kapitel zugleich den Bogen zur intermaterialen Programmatik zurück. Jedes der drei Analysekapitel schließt zudem mit einer Zusammenfassung, die aus den jeweiligen Unterkapiteln allgemeine Schlussfolgerungen für die Kategorie der Intermaterialität zieht. Dem Verhältnis von Literatur und Malerei wird im vierten Kapitel durch exemplarische Analysen der vielfältigen Buch- und Zeitschriftengestaltungen und der Integration von Schriftzeichen in Bilder nachgegangen. Die Auswahl der inter-
E INLEITUNG
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materialen Kunstgebilde erfolgt unter dem Vorsatz, den materialästhetischen Variantenreichtum der Text-Bild-Beziehungen anhand der intermaterialen Relationstypen von Apräsenz, Kopräsenz und Fusion aufzuzeigen. Neben ‚klassischen‘ Illustrationsarbeiten (Ernst Ludwig Kirchner) werden daher auch Bildgedichte (Kasimir Edschmid), Ekphraseis (Johannes Itten), Schriftbilder (Paul Klee), Initialen (Franz Marc u.a.) und Assemblagen (Kurt Schwitters) untersucht. Alle diese Text-BildTypen spielen mit dem ‚Ort‘ zwischen den Materialien und machen sich teils die Bildlichkeit der Schrift, teils die Prozessualität der Bildwahrnehmung zunutze, um eine materiale Annäherung zu erreichen. An diesen Versuchen zeigt sich die Variabilität der Grenze zwischen Schrift und Bild, die sich nicht allgemein festlegen lässt, sondern die jedes intermateriale Kunstgebilde neu arretiert. Auch im fünften Kapitel wird die Materialbeziehung aus zwei Richtungen in den Blick genommen. Zum einen aus Sicht der literarischen Verarbeitung des kinematographischen Erlebens anhand von Gedichten und Kinostücken, zum anderen in der Verwendung von Schrift im Stummfilm. Im Hinblick auf Pinthus’ Kinobuch (1913/14) werden in diesem Zusammenhang erstmals einzelne Stücke – von Max Brod, Kurt Pinthus und Richard A. Bermann – einer Interpretation unterzogen. Gleiches gilt für die filmische Lyrik des Expressionismus, bei deren umfassender Aufarbeitung auch Gedichte berücksichtigt werden, die im weiteren Sinne intermediale Bezüge zum Kino herstellen. Beim expressionistischen Film, dem eine weitaus größere Forschungsbasis zugrunde liegt, lassen sich ein kreativer Umgang mit der Schrift und eine Verpflichtung auf die Buchkultur nachweisen. Die phantastischen Filme Robert Wienes Das Cabinet des Dr. Caligari (1919/20), Paul Wegeners Der Golem, wie er in die Welt kam (1920) und Friedrich Wilhelm Murnaus Nosferatu (1921/22) beziehen ihre Authentizität und narrative Auflösung aus einem intermaterialen Rückgriff auf die Literatur. Diese zentrale Bedeutung der Literatur für den expressionistischen Film kann – ähnlich wie bei den Text-Bild-Bezügen – durch eine Differenzierung intermaterialer Relationstypen nachgewiesen werden. So ist zwischen Schrift in ihrer Inventarfunktion (diegetische Intermaterialität), Schrift in Gestalt von Zwischentiteln (konnektierende Intermaterialität) und Schrift als Teil der Mise en Scène (fusionierende Intermaterialität) zu unterscheiden. Kennzeichnend für die Bühnenkompositionen des Expressionismus, die im sechsten Kapitel analysiert werden, ist der Gebrauch der Künste in ihrem zunehmend abstrakten Materialwert. Leitend bei der Analyse ist die Frage, wie die Aufwertung des Bühnenmaterials im Verhältnis der Künste zueinander und in Bezug auf die Handlungsführung umgesetzt ist. In chronologischer Reihenfolge werden Oskar Kokoschkas Mörder Hoffnung der Frauen (1907/10), Arnold Schönbergs Die Glückliche Hand. Drama mit Musik (1911), Wassily Kandinskys Der gelbe Klang (1912), Lothar Schreyers Kreuzigung (1920), Alfred Brusts Das Spiel Jenseits (1920) und Kurt Schwitters Zusammenstoß. Groteske Oper in 10 Bildern
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(1927) untersucht und in ihrem Intermaterialitätsgrad bestimmt. Aufgrund der räumlich wie zeitlich äußerst komplexen Materialarrangements zeigen sich dabei alternierende Formen der Materialverwendung, die in ihren Extremen als parallele und kontrastive Intermaterialität beschrieben werden können. Der Schluss fasst die verschiedenen programmatischen und praktischen Kunstkonvergenzen des Expressionismus zusammen und präzisiert das Profil der Intermaterialität als einer neuen wissenschaftlichen Kategorie. Zugleich soll ein Ausblick auf Parallel- und Weiterentwicklungen zur Interdependenz der Künste im Umfeld von Futurismus, Dadaismus und zeitgenössischer Kunst gegeben werden, um das Forschungspotential der Intermaterialität über den Zeitraum dieser Studie hinaus anzudeuten.
II. Theorie und Ästhetik der Intermaterialität
D ER A NFANG DER I NTERMEDIALITÄT ALS B EGRÜNDUNGSZUSAMMENHANG DER I NTERMATERIALITÄT Mit der Einführung eines neuen Paradigmas wie der Intermaterialität stellt sich stets die Frage nach dem Begründungszusammenhang. Als radikale Form der Intermedialität steht die Intermaterialität in einer relativ jungen Forschungstradition, die sich einer umso längeren Geschichte medialer Wechselbeziehungen gegenübersieht. Obwohl es auf der Hand liegt, dass sich durch Technisierungsschübe wie Buchdruck, Radio, Kino und Computer gerade in der neueren und zeitgenössischen Kultur Fragen nach Mediatisierungsprozessen und -relationen aufdrängen, wäre es schlichtweg falsch, die Konvergenz der Künste und Medien mit der Moderne (ihrer Technisierung und Elektrifizierung) zu identifizieren sowie Intermedialität in ästhetischer Hinsicht etwa mit der romantischen Idee des Gesamtkunstwerks beginnen zu lassen. Die Ursprünge liegen viel weiter zurück und können als Parallelgeschichte zur Theoriebildung der Einzelkunstästhetiken geschrieben werden oder sind als kognitive Phänomene erklärbar. Bei Inblicknahme der Umstände, wann, wo und wie sich der Anfang der Intermedialität situiert, lassen sich insgesamt vier Perspektiven unterscheiden: eine historische, technische, sensualistische und – unter vorläufiger Verwendung des von Jens Schröter eingeführten Begriffs1 – ontologische. Eine fünfte begriffsgeschichtliche wird in einem Exkurs zum Ausdruck Intermedium aufgearbeitet und dank einer Entdeckung im Expressionismus korrigiert.2 Auf phänomengeschichtlicher Ebene hat Jürgen Müller erste Anstöße gegeben.3 Die Erforschung des intermaterialen Expressionismus in dieser Studie trägt gewissermaßen der von ihm geforderten Rekonstruktion einer Geschichte intermedialer 1
Vgl. SCHRÖTER 1998: 148-150.
2
Vgl. das Kapitel ‚Intermedium. Revision einer Begriffsgeschichte‘, in dem die Verwendung des Intermediumbegriffs bei Lothar Schreyer nachgewiesen wird.
3
MÜLLER 1996.
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Konvergenzen Rechnung. In einem Längsschnitt durch die Mediengeschichte zeigt Müller beispielhaft, wie Dispositive des Medialen in Kontexten von Kommunikation, Handlung und Technik immer schon einen multi- oder intermedialen Rahmen bereitstellen. Im Zuge dieser Neuperspektivierung rücken nicht nur jene Komplexe in den Vordergrund, deren mediale Zusammenspiele offensichtlich sind wie die Integration von Bildelementen in Schriftmedien etwa im mittelalterlichen Buchschmuck oder der barocken Emblematik. Unter dem Signum einer integrierten4 bzw. integralen5 Mediengeschichte werden nunmehr Überblicksdarstellungen oder historisch begrenzte Untersuchungen vorgenommen, die einem isolierten Medienverständnis generell eine Absage erteilen und den Potentialen oder Aktualisierungen interagierender Medienprozesse zu ihrem Recht verhelfen. Ebenso wie bei Historisierungen so genannter Einzelmedientheorien ist der Einsatzpunkt derartiger Untersuchungen jener der technischen Innovationen – etwa von (Hieroglyphen-) Schrift, Buchdruck oder Kinematoskop. Im Unterschied zu diesen werden die Techniken oder Apparaturen jedoch nicht mehr als Bürgen der Spezifizierung gedeutet, sondern gerade auf ihre intermedialen Anlagen und Potentiale hin betrachtet. So kann etwa das Druckbild der Typographie ebenso in den Fokus rücken wie die ‚Schreibarbeit‘ der Filmprojektion auf der Kinoleinwand. Neben dieser entgrenzenden Perspektive eröffnen gerade technische Phänomene das Potential für eine Präzisierung der Intermedialität. Techniken – zumal unter ästhetischer Perspektive6 – implizieren (Bearbeitungen) konkrete(r) Materialien, die selbst Bezugspunkt intermedialer Relationen sein können. Besonders deutlich zeigt dies etwa die literarische Verarbeitung des Kinos im Expressionismus, bei der das ‚Flirren‘ der Bilder, die Leinwand oder der Projektor thematisiert sind. Solche Bezugnahmen auf die technischen und materialen Bedingungen eines Mediums radikalisieren den Grad des Intermedialen und sind somit adäquater als Intermaterialität zu beschreiben. Anstatt derartigen Rekursen bei der Entstehung neuer Medien durch eine Ausdifferenzierung der Intermedialität gerecht zu werden, versucht sich allerdings eine Begriffsbildung zu etablieren, die wenig hilfreich, ja sogar irreführend ist. So hat Rainer Leschke den Terminus der „primären Intermedialität“ in die Forschungsdiskussion eingebracht und damit rein terminologisch eine grundsätzliche, vorherge-
4
Vgl. ALBERSMEIER 1992: 1.
5
Vgl. SCHANZE 2001b.
6
Vgl. hierzu Adornos relationale Bestimmung von Material und Technik in seiner Ästhetischen Theorie: „Sie [die Materialien] sind von den Veränderungen der Technik nicht weniger abhängig als diese von den Materialien, die sie jeweils bearbeitet“. ADORNO 1970: 223. Zu einer prozessorientierten, Technik und Material engführenden Theorie der Kunst vgl. auch HOFMANN 2000.
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hende Relation von Medien suggeriert.7 Im Zuge seines Modells beschreibt die Kategorie jedoch schlicht jenen Medienvergleich, der statthat, wenn sich ein neues (Massen-)Medium im bestehenden System verortet. Konträr zur gängigen Auffassung meint „primäre Intermedialität“ bei Leschke also den Prozess der Isolierung und Abgrenzung, das heißt die Diskussion um das Identifizierbare eines Mediums. Problematisch ist dabei weniger die Kategorisierung dieses Prozesses als vielmehr die Schlussfolgerung, wonach Intermedialität eine klare Unterscheidbarkeit von Medien gewährleiste. Denn anstatt das Korrelative in der Herausbildung des Neuen als konstitutiv und damit dauerhaft relevant zu bestimmen, entwirft er es als temporär und geht hiernach in einem weiteren Schritt seines Stufenmodells von Einzelmedien aus, die mit ihrer Etablierung ihren Vergleichsstatus überwunden hätten. Auch die im Anschluss an die „primäre Intermedialität“ als deren Kehrseite formulierte „sekundäre Intermedialität“ steht bei Leschke unter den pessimistischen Vorzeichen eines bloßen Übergangsphänomens. Obwohl deren Fokus treffend als „Ort zwischen den Medien“8 beschrieben ist, schätzt Leschke sie eher als strategische Erweiterung des medienwissenschaftlichen Gegenstandsbereichs ein, denn als innere Notwendigkeit des Systems selbst – wie es etwa Adorno im Hinblick auf die Verfransung der Künste getan hat –, und sieht deren restrukturierendes Potential eher begrenzt: Intermedialität reagiert […] auf eine Mediensituation, die gleichzeitig durch die Dialektik von medialer Vielfalt und Konformität sowie durch einen eminenten Verbrauch von Stoffen gekennzeichnet ist. Allerdings reagiert der Intermedialitätsdiskurs eben auch nur: Es gelingt ihm weder das Mediensystem noch die involvierten Einzelmedien neu zu begründen, sondern er bleibt wesentlich additiv und damit wie schon die primäre Intermedialität ein Phänomen des Übergangs. Es wird ein Bedarf und eine Problematik signalisiert und benannt; die Integration in ein umfassendes medienwissenschaftliches Konzept bleibt hingegen aus.9
Es ist mehr als fraglich, ob die Auswirkungen intermedialer Forschungen tatsächlich so gering ausfallen werden, auch wenn die nur allzu breite Aufnahme dieses Paradigmas den Vorwurf des Modischen nicht ganz ausräumen kann.10 Die relativistische Metaposition Leschkes kann hier nicht geteilt werden. Im Gegenteil: Intermedialität und mit ihr die Intermaterialität stellt die Korrektur jener Tradition des Monadischen dar, der auch er verpflichtet zu sein scheint und die jenen Diskurs 7
Vgl. LESCHKE 2001.
8
Ebd.: 309.
9
Ebd.: 318.
10
Vgl. zu diesem Vorwurf auch PAECH 1998: 14, der mit seiner Einschätzung, Intermedialität sei „in“, die Erneuerung einer in die Jahre gekommenen Philologie diagnostiziert.
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wirkungsmächtig etabliert hat, vor dessen Hintergrund der derzeitige Perspektivwechsel als bloß temporär erscheinen mag. Aber: „Die Geschichte der klassischen und modernen Medien zeichnet sich seit den Anfängen der Schrift durch mediale Transformationen, Fusionen, Brüche und Interaktionen aus, welche die postulierte ‚Reinheit‘ der Medien als Fiktion entlarven.“11 Dies gilt auch und nicht zuletzt für die Kunst, also die ästhetische Verwendung technischer Innovationen und Materialien. In Bezug auf ihre Interaktion hat Müller gezeigt, dass die Geschichte etliche Wechselbeziehungen kennt und dies in den Ästhetiken als theoretische Begleitung der Kunstpraxis impliziert, reflektiert und mitunter sogar normiert wurde. Angefangen bei der selbstverständlichen Gleichstellung von Musik und Dichtung bei Aristoteles lässt sich ein variabler Grenzverlauf in der Kunst nachzeichnen, der zu einer historischen Erforschung der jeweiligen Relationen im Kunstsystem nachdrücklich auffordert.12 In Anbetracht der radikalen Programmatiken und praktischen Experimente der Expressionisten zur materialen Konvergenz der Künste, wie sie in dieser Studie sichtbar werden, scheint ein monomediales Verständnis der Kunst- und Kulturgeschichte geradezu absurd. Selbst wenn bis zur Happening-Kunst der 1960er Jahre bei keiner der betreffenden Zusammenspiele der Begriff Intermedialität seine heute gängige Verwendung findet – und das gilt auch mit der Ausnahme bei Lothar Schreyer für die diesbezüglichen Programmatiken des Expressionismus13 – ist es keineswegs damit getan, derartige Begründungszusammenhänge als bloße Rückergänzungen abzuqualifizieren.14 Vielmehr gilt es ihre Einsatzpunkte hervorzuheben, um daraus Grundstrukturen für das intermediale Profil einer Zeit sowie Präzisierungen der Intermedialität als theoretischer Kategorie abzuleiten. Die Initiierung eines neuen Mediums produziert Vernetzungspotentiale, die in Formierungen und das heißt Materialisierungen des Mediums zu konkreten Gebilden realisiert werden können. Noch bevor sich ein Medium materialisiert, hat die Konvergenz zwischen den Medien also begonnen. Im Gegensatz zu dieser historisch-technischen Perspektive, die den Anfang des Intermedialen als punktuell und konstitutiv sowie als datierbar und verallgemeiner11
MÜLLER 1996: 16.
12
Vgl. ebd.: Kap. 2.
13
Lothar Schreyer verwendet den Begriff ‚Intermedium‘ im Zusammenhang seiner Erneuerungsbestrebung des Theaters und meint damit das Zwischenspiel zwischen zwei Akten, wie es die italienische Komödie der Renaissance hervorgebracht hat, und zugleich das Zusammenspiel zwischen den Bühnenmaterialien. Vgl. hierzu ausführlicher den Exkurs ‚Intermedium. Revision einer Begriffsgeschichte‘.
14
Wie Leschke es in Bezug auf die Schriftkritik in Platons Phaidros und deren viel zitiertem Initiationsstatus für die Medientheorie unterstellt, um allerdings noch in der Kritik der Metaperspektive daran zu partizipieren. Vgl. LESCHKE 2001: 33f.
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bar gleichermaßen entwirft, versuchen sensualistische Konzepte zu klären, welche Auswirkungen intermediale Überlegungen auf den Komplex von Wahrnehmung und Kommunikation haben und betreffen daher unsere grundsätzliche Verfasstheit im Hinblick auf Intersubjektivität und Weltbezug. Neben der horizontalen Achse des Medienvergleichs wird hier eine vertikale Achse eröffnet, die auf das Verhältnis von Bewusstsein und Gegenständlichem abzielt. Derzeit kursieren zwei Positionen, die sich in ihren Thesen zwar konträr verhalten, beide aber auf die vorrangige Stellung des Intermedialen hinauslaufen. So hat einerseits Bernd Scheffer das Erfassen (inter-)medialer Komplexe als Übersetzungsvorgang charakterisiert, 15 der zwar scheinbar ein Vorher-Nachher-Verhältnis von Medienprodukt und Perzeption suggeriert, mit der Verpflichtung auf konstruktivistische und systemtheoretische Prämissen diese Relation aber wieder verkehrt. „Medienangebote sind selbst nur VorFormatierungen dessen, was sich restlos erst im Bewusstsein zeigt, und dort findet sich nichts Monomediales mehr.“ 16 Seine Argumentation folgt einer Logik der Projektion, die davon ausgeht, dass das Bewusstsein jeder Aneignung vorausgeht und als ein stets ganzheitlich prozessierendes alles den Bedingungen der Wahrnehmung unterzieht. Wie Scheffer betont, nimmt das Bewusstsein also weniger die Medien selbst, als vielmehr deren Effekte auf das Bewusstsein wahr oder – so könnte man es radikalisieren – sich selbst in der Wahrnehmung.17 Problematisch an dieser verabsolutierenden Rezeptionsästhetik ist jedoch, dass sie unterschiedslos alles ins Intermediale auflöst und nicht nur den Materialcharakter im wahrsten Sinne des Wortes übersieht, sondern letztlich auch jede Analyse diesbezüglicher Kunst obsolet macht. Das implizite Medienkonzept ist hier nicht von Materialität(en) abgeleitet, sondern mit Sinnen gleichgesetzt, obwohl Scheffer Mediatisierung zwischen Bewusstsein und Kommunikation verortet und damit Ersteres kategorial davon unterscheidet. Ratsamer wäre es deshalb, sein Modell ‚Multi‘- oder ‚Intersensualismus‘ zu nennen, das im Hinblick auf die hier diskutierte Frage nach dem Anfangen immerhin vor jeder technischen Manifestation Parameter nichtisolierter Wahrnehmungsweisen anzeigt. Ähnliches gilt auch für Wilhelm Füger, der allerdings weniger dogmatisch nach den Einsatzpunkten der Intermedialität fragt und mit Marshall McLuhan kritisch darauf hinweist, dass „Medien ja erst die Extension naturgegebener Fähigkeiten sind, nicht schon diese selbst“18. Um zu einer Klärung dessen beizutragen, wo das 15
„Medien-Kommunikationen können […] vom Bewusstsein grundsätzlich gar nicht direkt übernommen werden, sondern werden in ‚eigenwillige‘ Bewusstseinsprozesse übersetzt.“ SCHEFFER 2004: 107f.
16
Ebd.: 111.
17
Vgl. ebd.: 116.
18
FÜGER 1998: 42.
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Anfangen statthat, rekurriert er auf das Prämediale und identifiziert es mit dem Bewusstsein. Entgegen der Modellbildung bei Scheffer versteht er ein Medium nicht als etwas, das über die Sinne dorthin übersetzt wird (und sich dann als Projektion erweist), sondern geht von der entgegengesetzten Richtung aus und entwirft Medien als Resultate von Bewusstseinsvorgängen. „Was nämlich vor jedem Medienwechsel zunächst einmal in ein Medium umgesetzt wird, sind letztendlich (selbsterfahrene, vermutete oder unterstellte) Bewusstseinsinhalte, -akte und -prozesse.“19 Diese Sichtweise entbehrt nicht einer gewissen Problematik, da sie ein Behälterdenken suggeriert, das in der Kommunikationstheorie als überwunden gilt. Unberücksichtigt bleibt zudem die Reflexion darüber, dass Medien nicht nur Ausdrucksformen sind, sondern ganz wesentlich die Möglichkeiten des Ausdrückens bereitstellen und damit auf Bewusstseinsprozesse zurückwirken. Ungeachtet dieser Kritik an Füger geht es ihm darum, dass konkret sichtbare, hörbare oder wie auch immer wahrnehmbare Medienprodukte bereits einen Prozess der Intermedialität durchlaufen haben, weil sie aus einem Vorgang des Übertragens hervorgehen, nämlich jenem elementaren von Sinneseindruck und -äußerung.20 Auch hier zielt die Darlegung also darauf ab zu zeigen, dass sich ein Medium nicht als isoliert betrachten lässt, sondern auf Vorgänge verweist, die diesem vorausgehen und es intermedial öffnen. Dass es für diese Annahme keiner sensualistischen Rückbindung bedarf, beweist schließlich ein so genannter ontologischer Ansatz, wobei sich hier Argumentation und Wortgebrauch nicht reibungslos zueinander verhalten. So orientiert sich Jens Schröter, auf den dieser Entwurf zurückgeht, an der Dekonstruktion Jacques Derridas, die sich zur Ontologie alles andere als kongruent verhält.21 Dennoch überzeugt seine Darlegung und steht den von mir im Kapitel ‚An den Grenzen der Künste‘ entwickelten Überlegungen nahe, weil sie die Bestimmung eines Mediums an die notwendige Voraussetzung des Ausgeschlossenen koppelt:
19
Ebd.: 43.
20
Über den Medienwechsel hinaus als vornehmliche Realisierungsform der Intermedialität stellt er daher zwei weitere Formen (des Anfangens) zur Diskussion: eine bewusstseinsexterne einerseits, wonach sich Sinneseindrücke in einer Art ‚Reden über‘ verbal externalisieren, und eine bewusstseinsinterne, die Intermedialität noch davor zwischen Filterung und Informationsverarbeitung verortet. Vgl. ebd.: 41f.
21
Die Begriffsverwendung führt der Intermedialität missverständlich selbst einen ontologischen Status zu, den sie per se nicht beanspruchen kann. Da sie die gemeinhin verdrängte Prämisse für Mediendefinitionen darstellt, wäre sie in diesem Kontext eher als negative Ontologie zu beschreiben.
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Dies [die Subdifferenzierung der Photographie, C.K.] zeigt, daß das, was an einem gegebenen Medium als spezifisch erscheint, abhängig ist von den ‚umlagernden Bezugspunkten‘ (Saussure), d.h. den (impliziten) Definitionen anderer Medien, die als Kontrast herangezogen werden müssen. Dies ist die zweite Bedeutung von Kittlers These, demzufolge neue Medien alte nicht obsolet machen, sondern ihnen andere Systemplätze zuweisen […]. Das wiederum bedeutet, daß die Bestimmung des ‚Eigenen‘ eines Mediums die differentielle Abgrenzung von anderen Medien voraussetzt, die (Begriffe der) anderen Medien sind also paradoxerweise für jede ‚puristische‘ und ‚essentialistische‘ Definition absolut notwendig: darin als Spur (anwesend). So betrachtet muß jedes mediale ‚Wesen‘, sobald es ‚auf der Szene der Anwesenheit erscheint, sich auf etwas anderes als sich selbst beziehe[en]‘ [Zitat Derrida, C.K.]. Diese ‚ontologische‘ Intermedialität wäre also nicht eine, die der Spezifik gegebener, bereits bestimmter Medien als bspw. ihre Synthese nachfolgt, sondern umgekehrt, diesen vorausgeht.22
Vor dem Hintergrund der von Schröter zitierten Wissenschaftstradition lässt sich dessen ontologisches Intermedialitätskonzept im eigentlichen Sinne als strukturalistisches bzw. semiotisches charakterisieren. Dem von Ferdinand de Saussure eingeführten und später von Jacques Derrida radikalisierten sprachtheoretischen Ansatz zufolge ergibt sich die Bedeutung einzelner Zeichen im Sprachsystem nur aus der Differenz zu anderen Zeichen. Die Bedeutung des Einzelnen ist also nie aus sich selbst heraus begründet und mit sich identisch, sondern immer schon verschoben und trägt die Spuren des Anderen in sich. Übertragen auf die Frage nach der Abgrenzung von Medien heißt dies, dass sich deren ‚singuläre‘ Bedeutung ebenfalls aus dem Verhältnis zu anderen ableitet und daher den so genannten Einzelmedien immer eine Relation von Medien vorausgeht. Wie auch bei den drei bereits skizzierten ‚Anfangsszenarien‘ der Intermedialität – dem technischen, historischen und sensualistischen – zeigt das semiotische Modell, dass die Vorstellung eines Mediums als abgeschlossene Größe nicht aufrecht erhalten werden kann und wir es vielmehr mit einer grundlegende Priorität des Intermedialen zu tun haben. Um aus diesen Überlegungen nun ein operationables Konzept für die Analyse abzuleiten, ist es sinnvoll, konkrete intermediale Erscheinungen als graduelle Phänomene zu verstehen. Intermedialität in Kunstgebilden oder technischen Apparaturen – so ließe sich an dieser Stelle formulieren – zeigt sich in einem Mehr oder Weniger der Wahrnehmbarkeit dieser elementaren und vorgängigen Vernetzungen von Medien. Vor diesem Hintergrund besteht die Aufgabe einer Rekonstruktion der Intermedialitätsgeschichte darin, den Grad dieses Mehr oder Weniger im einzelnen Medienverbund zu bestimmen und im Vergleich mit anderen Medienverbünden aus derselben Zeit das intermediale Profil einer Epoche zu erfassen. Wenn sich dabei 22
SCHRÖTER 1998: 147.
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wie im Expressionismus mit der materialen Verbindung von Künsten ein besonderer Typus als dominant erweist, können daraus kategoriale Neuprägungen für die Intermedialitätsforschung resultieren, wie der in dieser Studie entwickelte Begriff der Intermaterialität zeigt.
I NTERMATERIALITÄT ‚I NTER -M ODELLE ‘
IM
K ONTEXT
BESTEHENDER
Will man die Intermaterialität auf theoretischer Ebene begründen, so ist es unabdingbar, sie in den Kontext bestehender ‚Inter-Modelle‘ einzuordnen. Neben der Intermedialität betrifft dies vor allem die Intertextualität, wobei sich die Einführung der Intermedialität selbst als eine Präzisierung des weiten Intertextualitätsbegriffs darstellt.23 Als Julia Kristeva Ende der 1960er Jahre im Anschluss an die Überlegungen Michael Bachtins zum Dialogizitätsprinzip des Romans24 den Begriff der Intertextualität prägte, war damit eine Leitkategorie entwickelt, die nicht nur die poststrukturalistischen Textbegriffe Roland Barthes’, Jacques Derridas und anderer in der Metapher des Textes als „Mosaik aus Zitaten“25 synthetisiert, sondern die auch – unter Einengung des Begriffs auf der einen26 und der Übertragung auf eine Kultursemiotik auf der anderen Seite27 – vielfach Forschungsrichtungen angestoßen hat. Wurde Intertextualität seit den 1970er Jahren zunächst zu einem festen Terminus literaturwissenschaftlicher Forschung, so hat er in der Ausweitung auf andere Zeichensysteme auch interdisziplinär vielfach Verwendung gefunden. Mit dieser Extension verbunden war jedoch zugleich das Problem der Verstellung spezifischer medialer Ausdrucksformen, so dass es neben der emphatischen Aufnahme zu einer scharfen Ablehnung der Projektion des Textbegriffs auf andere Medien gekommen ist.28 Die Kategorie der Intermedialität hat dieses Defizit behoben, insbesondere weil sie begrifflich die philologische Dominanz durch einen in dieser Hinsicht ‚neutralen‘ Medienbegriff ersetzt und mit der metasprachlichen Gleichwertigkeit medialer Korrelationen Perspektiven verschiedenster Disziplinen erlaubt. Die In-
23
Dennoch muss die Vorstellung korrigiert werden, der Intermedialitätsbegriff sei explizit von Julia Kristevas Konzept abgeleitet worden. Dies geschieht erst in den 1990er Jahren. So bei MÜLLER 1996: 93-103; vgl. auch KLOEPFER 1999.
24
Vgl. BACHTIN 1979.
25
KRISTEVA 1972: 348.
26
Vgl. BROICH/PFISTER 1985.
27
Vgl. BASSLER 2001; CSÁKY/REICHENSPERGER 1999.
28
Vgl. GILMANS 1989.
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termaterialität stellt nun ihrerseits eine Präzisierung des Intermedialitätsbegriffs dar, weil sie auf Medienrelationen, -kombinationen oder -hybridbildungen reagiert, die den wechselseitigen Rekurs radikalisieren, indem diese auf die Materialität der Medien anspielen. Zugleich präzisiert die Intermaterialität auch solche Formen der Intertextualität, die auf die materiale Eigenschaft von Zeichen abzielen. Wie Karlheinz Barck in Anlehnung an Oswald Ducrot und Tzvetan Todorov gezeigt hat, basiert der poststrukturalistische Intertextualitätsbegriff ohnehin auf einer materialistischen Textsemiotik, weil gegenüber der hermeneutischen Vorstellung, Bedeutung ginge mit einer Loslösung vom materialen Textträger einher, eine Verschiebung von Sinn und damit eine dauerhafte Bindung an die Signifikantenkette geltend gemacht wird.29 Mit der Etablierung eines engen Intertextualitätsbegriffs stellt sich indes immer wieder neu die Frage danach, auf welcher Ebene der Bezug zwischen Texten funktioniert. Hier beschreibt der Intermaterialitätsbegriff solche intertextuellen Bezüge, die gezielt die Materialität des Zeichenträgers anvisieren, ebenso wie dies bei der intermaterialen Fokussierung auf die technisch-materialen Bedingungen von Medien geschieht. Bereits an dieser Stelle wird das Potential der Intermaterialität deutlich, Aspekte von Intermedialität und Intertextualität zu vermitteln. Verfolgt man zunächst die Diskussion um die Herausbildung der Intermedialität in Abgrenzung zur Intertextualität, so zeigt sich eine heterogene Forschungslage. Obwohl die Einführung des Terminus als heuristische Kategorie den Konnex von Intermedialität und Intertextualität im Titel führt – Aage Hansen-Löve verwendet ihn erstmals in seinem 1983 publizierten Aufsatz Intermedialität und Intertextualität. Probleme der Korrelation von Wort- und Bildkunst. Am Beispiel der russischen Moderne –, bezieht sich Hansen-Löve nicht auf die französischen Strukturalisten, sondern mit den russischen Formalisten auf deren Wegbereiter. Seinem Ansatz implizit ist ein Verständnis von Kunst, bei dem Kunstform, künstlerisches Medium und Zeichensystem in einer engen Verbindung stehen. Jede Kunst – sei es Literatur, Malerei, Musik – lässt sich hinsichtlich ihres je eigenen semiotischen Systems, das sowohl (medien-)intern als auch (medien-)extern Verbindungen eingehen kann, definieren und abgrenzen. Hinsichtlich dieser Prämisse können Intertextualität und Intermedialität zunächst sehr eindeutig voneinander unterschieden werden: Erstere bezieht sich auf die Text-Korrelationen innerhalb einer Kunstform – und verhält sich darin zur Intramedialität synonym –, während letztere all jene Korrelationen bezeichnet, die sich zwischen Medien verschiedener Kunstarten vollziehen.30 Auf den zweiten Blick eröffnen sich jedoch einige Schwierigkeiten, da Hansen-Löve 29
BARCK 1988: 131f.
30
Der Medienbegriff dient Hansen-Löve auch zur Präzisierung der Kunstformen. So unterscheidet er zwischen monomedialen (Tafelbild, Stummfilm, literarischer Text) und integralen Medien (Theater, Oper, Film, Performance). Vgl. HANSEN-LÖVE 1983: 291f.
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den Begriff des Textes nicht nur der Literatur vorbehält, sondern ihn – gemäß seinem semiotischen Ansatz – zur Beschreibung von Zeichengebilden generell verwendet. Auch Bilder sind für ihn Texte, und daher stellen ihre möglichen Rekurse auf ikonische Inventare ebenfalls Verfahren der Intertextualität dar. Da vor diesem Hintergrund der Begriff differenzlos zu werden droht, erweist sich die Einführung der Intermedialität als ein Versuch der Subkategorisierung. Bei ihr handelt es sich demnach um eine Form der Intertextualität, die die Beziehung zwischen Texten verschiedener künstlerischer Medien beschreibt.31 Um dies terminologisch präziser zu fassen, adaptiert Hansen-Löve den von Roman Jakobson geprägten Begriff der „intersemiotische[n] Beziehung“32, der anzeigt, dass es sich bei Intermedialität um Verbindungen verschiedener Zeichensysteme handelt, während Intertextualität Bezüge innerhalb des gleichen Zeichensystems, d.h. intrasemiotische Erscheinungsformen beschreibt. Neuere Theoriemodelle variieren allerdings diese Begriffspräzisierung und verkomplizieren somit den Sachverhalt. So geht etwa Werner Wolf von einem engen Intertextualitätsbegriff aus, dem er mit intermusikalischen oder interfilmischen weitere kunstartinterne Relationen an die Seite stellt und als intramediale Beziehungen qualifiziert. Anders als bei Hansen-Löve bilden nach Wolf auch diese Relationen intersemiotische Konnexe.33 Als Hyperonym für inter- und intramediale Beziehungen fungiert Intersemiotik bei ihm somit zur Beschreibung von Erscheinungsformen zwischen Zeichengebilden bzw. -komplexen generell, während HansenLöve dagegen von einem spezifischen „Semiose-Typ“34 einer jeweiligen Kunstform spricht. Darin folgen ihm auch Leo Hoek und Claus Clüver. In seiner Studie zu Text-Bild-Relationen erarbeitet Hoek verschiedene „types de relations intersémiotiques“35, und auch Clüver knüpft die Verwendung der Attribution ‚intersemiotisch‘ an die „Teilhabe verschiedener Zeichensysteme“36. Diese Ambiguität des Begriffs Intersemiotik mag ein Grund dafür sein, dass er sich in der Forschung bisher wenig 31
Ganz ähnlich definiert Thomas Eicher intermediale Korrelationen als „Beziehungen
32
HANSEN-LÖVE 1983: 299. Vgl. JAKOBSON 1959: 483. Jakobson führt den Terminus
zwischen Zeichenkomplexen[, die] Mediengrenzen überschreiten“. EICHER 1994: 18. Intersemiotik im Zusammenhang seiner Theorie der Übersetzung ein. „[D]ie intersemiotische Übersetzung oder Transmutation ist eine Wiedergabe sprachlicher Zeichen durch Zeichen nicht-sprachlicher Zeichensysteme.“ Was bei Jakobson unter dem Aspekt der Diachronie entwickelt wurde, bezieht Hansen-Löve auf die synchrone Verbindung verschiedener Medien in einem Kunstgebilde. Vgl. auch CLÜVER 1989. 33
WOLF 2002: 167; vgl. auch WOLF 1999: 35f.
34
HANSEN-LÖVE 1983: 306.
35
HOECK 1995: 77.
36
CLÜVER 2000/01: 32. [Herv. C.K.]
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durchgesetzt hat, zumal der Terminus Intermedialität ein größeres Integrationspotential aufweist, da er auch für nicht-semiotische Ansätze offen bleibt. Andererseits wird Intersemiotik gerade deshalb verteidigt, weil nicht „jedes Zeichensystem auch notwendigerweise ein Medium“ sei.37 Clüver lässt hier indes unberücksichtigt, dass jede Konkretion von Zeichen auf eine Materialebene angewiesen bleibt, die selbst Voraussetzung jeder Mediatisierung ist. Während diese intersemiotischen Ansätze um eine grundlegende Erfassung künstlerischer Wechselbeziehungen bemüht sind, stellen die im Anschluss an Hansen-Löve vorgenommenen Untersuchungen zum Verhältnis von Intermedialität und Intertextualität Mitte und Ende der 1980er Jahre eine Reduktion auf den spezifischen Typ der intermedialen Transformation bzw. des Medienwechsel dar. In Bezug auf den russischen Symbolismus und seine vielfältigen Text-Bild-Relationen konnte Hansen-Löve drei Typen der Transformation (vom Text zum Bild) unterscheiden, die er an die Peirce’sche Trias von Symbol, Icon und Index anbindet. Von der Transposition über die Transfiguration bis zur Projektion stellen sie Steigerungsformen dar, die von stofflichen Adaptionen bis zur analogen Verwendung semiotischer Verfahren reichen. Die im Kontext der Intertextualitätsforschung um eine heuristische Einschränkung des Kristeva’schen Modells bemühten Versuche restringieren den Medienwechsel dagegen auf den Fall der Realisierung eines (zumeist literarischen) Textes in einem anderen Medium. Der von Horst Zander 1985 entwickelten und von Ernest Hess-Lüttich 1987 ähnlich übernommenen Theoriebildung liegt ein Intertextualitätsbegriff zugrunde, der von der Rekursivität eines Posttextes auf einen oder mehrere Prätexte ausgeht. Verfilmungen, Bühneninszenierungen oder Vertonungen werden daher als medienspezifische Aktualisierungen einer Vorlage betrachtet, die mit dem Prätext in einen Dialog treten und daher eine ganze „Kette von Textverarbeitungsprozessen“38 generieren. Auch hier findet demzufolge ein medienübergreifender Textbegriff Verwendung, der Kunst- als Zeichengebilde versteht. Zander verzichtet sogar explizit auf den Intermedialitätsbegriff, um seine Überlegungen stärker an Phänomenen innerliterarischer Intertextualität ausrichten und davon abgrenzen zu können.39 Für beide Engführungen von Intermedialität und Intertextualität gilt indes: Voraussetzung ist die Mediendifferenz und die Relation der Nachzeitigkeit. Im Gegensatz zu Hybridbildungen oder Medienkombinationen wie etwa bei Buchillustrationen stehen die Texte oder Medien beim Medienwechsel in einem Vorher-Nachher-Verhältnis, das über den Rezipienten dialogisch vermit37
Ebd.: 26.
38
HESS-LÜTTICH 1987: 15.
39
Vgl. ZANDER 1985: 178, Anm. 1. Auch an Hess-Lüttichs Konzeptualisierung der Intermedialität als einem Prozess von Texttransfers zeigt sich, wie stark er einem semiotischen Ansatz verpflichtet ist.
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telt ist. Mit Hilfe der Temporalität lassen sich damit grundsätzlich zwei Formen der Intermedialität unterscheiden, und im Kontext formalistischer bzw. strukturalistischer Theoriebildung liegt es nahe, ihnen die Kategorien der Paradigmatik und der Syntagmatik zuzuordnen. Syntagmatisch kann intermediale Kunst dann heißen, wenn synchrone Medienverbünde nur aus ihrem syntaktischen, materialen Nebeneinander verstanden werden können; paradigmatisch weniger im Sinne einer Statteinanderbeziehung, sondern eines aktuellen Bezugs, bei dem nur eines der Medien in seiner Materialität präsent ist. Insgesamt basiert die frühe Intermedialitätsforschung auf einer semiotischen Auffassung von Kunst und Medien, die sich die Differenz- und Referenzfunktion von Zeichen zunutze macht und ihre Modelle implizit oder explizit an einem Intertextualitätskonzept ausrichtet. Es lässt sich daher verallgemeinern, dass für einen semiotischen Ansatz von Intermedialität grundsätzlich gilt: Insofern Kunstwerke als Zeichengebilde betrachtet werden, ist Intermedialität immer auch eine Form von Intertextualität. Diese Substituierung kennzeichnet ebenfalls Definitionsversuche der 1990er Jahre, die in Fortführung semiotischer Ansätze und parallel zu anderen Konzeptualisierungen verlaufen. So spricht Arno Heller von Intermedialität als „intertextuality between different media“40 und Peter Wagner beantwortet die Frage nach der Intermedialität: „A short answer would be: a sadly neglected but vastly important subdivision of intertextuality.“41 Von einer Vernachlässigung der Intermedialität kann mittlerweile sicher nicht mehr gesprochen werden,42 eher schon von einer Vernachlässigung des Begründungszusammenhangs solch semiotisch verpflichteter Ansätze. Selbst Darstellungen wichtiger Forschungszweige zur Interme40
HELLER 1993: 655.
41
WAGNER 1996: 17. Vgl. auch PLETT 1991: 20, der unter der Überschrift ‚Medial Substitution‘ sechs Typen des Zeichentransfers entwirft, denen die Paradigmen der Akustik, des Visuellen und des Sprachlichen (linguistics) zugrunde liegen und die Plett kreuztabellarisch miteinander in Beziehung setzt. Einschränkend führt er allerdings an: „Usually it is not single signifiers which are exchanged for other signifiers but themes, motifs, scenes or even moods of a pretext which take shape in a different medium. Thus it seems justifiable to call this kind of intertextuality intermediality“. Kritisch muss darauf hingewiesen werden, dass Pletts Kategorien nicht die klare Trennschärfe aufweisen, die er ihnen zuschreibt. So bildet das linguistische Zeichen eine Synthese der anderen beiden, da es sich im Verbalen akustisch und im Skripturalen visuell darstellt.
42
In den vergangenen Jahren zeugt die Publikation zahlreicher Tagungsbände von einer außerordentlichen Konjunktur der Intermedialitätsforschung. Vgl. MOOG-GRÜNWALD/RODIEK
1989; PAECH 1994a; SCHNITZLER/SPAUDE 1994;
OCHSNER/GRIVEL
2001; LIEBRAND/SCHNEIDER 2002; EMING/LEHMANN/MAASSEN 2002; BÖHN 2003; LÜDEKE/GREBER 2004; PAECH/SCHRÖTER 2008; SIMONIS 2009; DEGNER/WOLF 2010.
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dialität klammern deren Initiation bei Hansen-Löve und die Anbindung an intertextuelle Grundlegungen aus oder verweisen auf deren konzeptuell nicht mehr unifizierbare Ausdehnung.43 Diese Aussparung ist jedoch insofern problematisch, als eine semiotische Konzeptualisierung von Intermedialität bis heute eine Konstante der Forschung darstellt und jeden diesbezüglichen Ansatz darauf verpflichtet, sich der eigenen Provenienz zu versichern. Als vermeintlich universalistische Theorie vermag sie strukturelle Analogien medienübergreifend aufzudecken, läuft andererseits aber Gefahr, die spezifische Materialität von Künsten und Medien zu übersehen. Dabei schließen sich semiotische und materialästhetische Ansätze gar nicht aus, denn dort, wo sich Zeichen konkretisieren, materialisieren sie sich auch. Zeichen sind durch eine grundlegende Duplizität gekennzeichnet, deren eine Seite die „sinnliche Präsenz“44 bzw. „sinnliche ‚Trägermaterie‘“45 darstellt. Ein semiotisches Kunstverständnis kann somit nie ohne eine materiale Perspektive auskommen. Genau an dieser Stelle setzt das Konzept der Intermaterialität ein. Es stellt gewissermaßen eine Verbindung zwischen den intersemiotischen, intertextuellen und intermedialen Ansätzen dar, weil es mit der Materialität einen Aspekt hervorhebt, der allen drei Typen zukommt. Zeichen und Medien sind durch eine materiale Basis als Bedingung ihrer Möglichkeit gekennzeichnet, die als solche Zielpunkt intermedialer oder intertextueller Bezüge sein kann. Zwar ist diese materiale Bedingung zwangsläufig immer mit gemeint, wenn sich Texte, Medien oder Künste aufeinander beziehen, aber dort, wo sie explizit gemacht wird, zeigt sich eine Intensivierung des Bezugs und damit die Notwendigkeit, diesen mit einer eigenständigen Terminologie zu fassen. Intermaterialität stellt vor diesem Hintergrund eine Präzisierung in der Reihe Intersemiotik/Intertextualität/Intermedialität dar, erweitert sie aber darüber hinaus, weil die Intermaterialität neben der materialen Seite von Zeichen und der material-technischen Basis von Medien auch die für die Avantgarde und den Expressionismus wichtigen Dingmaterialien berücksichtigt. Damit erübrigt sich für die Intermaterialität die Diskussion um die Frage danach, ob die Relation zwischen Zeichen- bzw. Medienkomplexen oder Zeichen- bzw. Mediensystemen stattfindet. Ihr Kriterium ist das des materialen Bezugs in seiner ganzen Fülle von Erscheinungsformen. Wie sich später zeigen wird, geht diese weite Perspektive auf die Materialität sogar mit einer Auflösung der Grenzen des Kunstsystems und der Einzelkünste einher.
43
Vgl. SCHRÖTER 2010: 1.
44
MERSCH 2002: 153.
45
ASSMANN 1988: 143.
36 | I NTERMATERIALITÄT
E XKURS : I NTERMEDIUM . R EVISION EINER B EGRIFFSGESCHICHTE Bei aller Heterogenität, die die Intermedialitätsforschung im Hinblick auf Tragweite und Zuständigkeitsbereich ihres Konzeptes mittlerweile aufweist, herrscht weitgehend Einigkeit über die Begriffsgeschichte. Ausgehend von einem Hinweis des Konzeptkünstlers Dick Higgins, der den Begriff Intermedia in den 1960er Jahren zur Beschreibung der Fluxuskunst verwendet,46 hat Jürgen Müller dessen erstmaliges Vorkommen in den Schriften des englischen Philosophen und Dichters Samuel Taylor Coleridge rekonstruiert. Innerhalb eines nur fragmentarisch erhaltenen Vortrags über Edmund Spenser und William Shakespeare von 1818 wird der Begriff Intermedium zur Darlegung eines narrativen Allegorieverständnisses eingeführt und ist damit ursprünglich in einen spezifisch literarischen Kontext eingebunden: „Narrative allegory is distinguished from mythology as reality from symbol; it is, in short, the proper intermedium between person and personification.“47 Intermedium meint in diesem Sinne keinen substantiellen Begriff, wie es Higgins fälschlicherweise annimmt, 48 sondern einen prozessualen. Er beschreibt das Verfahren der Herstellung von Personifikation, nicht dessen Ergebnis und ist damit als produktions- und rezeptionsästhetische Kategorie konzeptualisiert, die an die sukzessive Entfaltung eines semiotischen Komplexes gebunden ist. Diese zeitliche Dimension der Allegorie, die sie von bildlichen Darstellungen unterscheidet, ist der Grund, warum Coleridge sie nicht einfach mit Personifikation oder symbolischer Bedeutung gleichsetzt, sondern im Zwischen von Individuellem und Allgemeinem als Intermedium verortet. Noch deutlicher wird dies, wenn man eine andere Stelle hinzuzieht, in der Coleridge den Begriff Intermedium adjektivisch verwendet und von einem „intermediate step“ spricht, der von der Person zur Personifikation vollzogen werden müsse.49 Dem Intermedium kommt nach Coleridge demnach keine eigenständige Qualität zu, sondern es bezeichnet einen Transformationsprozess. Neben dieser poetologischen Herkunft der Kategorie hat Yvonne Spielmann auf den „theatralen Gattungsbegriff“ des Intermediums hingewiesen.50 Hiernach handelt es sich bei den Intermedien, ähnlich den Intermezzi, um „Einschübe und Zwischenspiele im Theater vom fünfzehnten bis zum siebzehnten Jahrhundert, die zwischen 46
HIGGINS 1984: 23.
47
COLERIDGE 1936: 33.
48
Higgins ist der Ansicht, Coleridge gebrauche den Begriff „in exactly its contemporary sense – to define works which fall conceptually between media that are already known“. HIGGINS 1984: 23. [Herv. C.K.]
49
Vgl. COLERIDGE 1936: 31.
50
SPIELMANN 1998: 89.
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den einzelnen Akten stehen“51 . Als häufigste Präsentationsformen gelten dabei Musikeinlagen, Pantomimen, Possenspiele oder akrobatische Darbietungen, die vor allem in der italienischen Komödie zum Einsatz kamen und sich – in zunehmender Distanzierung zum eigentlichen Schauspiel – zum „Genre szenischer Intermedien“52 ausprägten. An diese Tradition schließt ein Gebrauch des Begriffs im Expressionismus an, der bisher von der Forschung übersehen wurde und eine Lücke zwischen der Prägung im 19. Jahrhundert bei Coleridge, der konzeptuellen Ausrichtung bei Higgins in den 1980er Jahren und dem heute gängigen Verständnis schließen kann. Er findet sich in einem Artikel des Theaterregisseurs Lothar Schreyer für die Xenien von 1912, in dem Schreyer für eine radikale Erneuerung des Schauspiels plädiert. Als Kontrastbild zu den eigenen Bühnenvorstellungen, die zu diesem Zeitpunkt noch einem Medienpurismus verpflichtet sind und einzig Stimme und Gebärde als Inszenierungsmittel zulassen, führt er die Komödie der italienischen Renaissance mit ihrem ‚überladenen‘ Medieneinsatz auf, wie er sich vor allem in den Intermedien zeige: Es war damals auch eine Blütezeit der Pantomime, meist mit Tänzen verbunden. Sie wurden selbständig oder auch als Einlagen in den Dramen gespielt. Bei der Hochzeit des Prinzen Alfons von Ferrara mit Lukrezia Borgia wurden als Intermedien der plautinischen Komödien z.B. Kämpfe römischer Krieger aufgeführt, die nach dem Takt der Musik kämpften. Mohren bewegten sich im Fackeltanz. Als Ballett für eine Pantomime, deren Inhalt die Rettung eines Mädchens aus der Gewalt des Drachen darstellte, traten wilde Männer auf mit Füllhörnern, aus denen Feuer spritzte.53
Was auf den ersten Blick als bloße Kenntnis des theatergeschichtlichen Terminus wirkt, erweist sich beim genaueren Lesen als der erste substantielle Gebrauch des Intermedienbegriffs. So zielt Schreyers Kritik an der „verschwenderische[n] Verwendung aller Künste“54 nicht nur auf eine für ihn unzulässige Unterbrechung des eigentlichen Dramas ab, sondern auch auf die spezifische Art der Intermedien. Das Abstimmen von Bewegung, Musik und Lichteffekten, wie sie Schreyer in dem zitierten Passus beschreibt, also die Gleichbehandlung und Annäherung verschiedener Bühnenmaterialien, Künste und Sinneseindrücke, benennt genau jene Phänomene, die heute unter dem Schlagwort Intermedialität gefasst werden. Für eine Revision der Begriffsgeschichte heißt dies, dass bereits im Expressionismus der 51
Ebd.
52
Ebd.
53
SCHREYER 1912a: 5. [Herv. C.K.]
54
Ebd.
38 | I NTERMATERIALITÄT
Begriff nicht mehr nur als Gattungsmerkmal fungiert, sondern bereits das Interdependenzverhältnis von Medien beschreibt. Zur ästhetischen Maxime konzeptualisiert sind Intermedien indes vollständig erst in der Fluxus-Bewegung der 1960er Jahre.
M EDIUM ▪ M ATERIAL ▪ M ATERIALITÄT Die Distinktion von Intermaterialität gegenüber Intermedialität setzt eine Unterscheidung ihrer beiden basalen Kategorien Medium und Material zwingend voraus. Eine derartige Differenzierung erweist sich jedoch alles andere als einfach. Während bereits in der Medienwissenschaft unzählige Theorien kursieren, wird auch in der relativ jungen Materialitätsforschung eine „begriffliche Unschärfe“55 des eigenen Terminus beklagt. Vor diesem Hintergrund kann es in den folgenden Erläuterungen nicht darum gehen, sämtliche Medien- und Materialbegriffe aufzuarbeiten, vielmehr sollen beide Termini relational bestimmt werden. Hierzu ist es zunächst sinnvoll selbst auf einen relationalen Medienbegriff zurückzugreifen, wie ihn Niklas Luhmann eingeführt hat. Dieser unterscheidet bekanntlich zwischen Medium und Form und ordnet ihnen die Kategorien der Latenz, Stabilität und Invarianz auf der einen Seite (Medien) und Sichtbarkeit, Instabilität und Variabilität auf der anderen Seite (Formen) zu.56 Medien als „lose Kopplung von Elementen“57 sind nach Luhmann also nur über ihre konkreten Formierungen wahrnehmbar, entziehen sich selbst aber jeder Fixierung. Mit diesem antiessentialistischen Medienverständnis, vor allem aber mit dem Konzept der Form liefert Luhmann eine Vorlage für die Bestimmung des Materialbegriffs. Denn das, was er als Formierung beschreibt, ist nichts anderes als die Materialisierung des Mediums im Sinne seiner konkreten sinnlichen Erscheinung. Medium und Material lassen sich somit in einem asymmetrischen Bedingungsverhältnis fassen: jedes Medium impliziert immer auch eine Materialität, durch die das Medium zur Erscheinung kommt, aber nicht jedem konkreten Material kommt eine Medialitätsfunktion zu. Anders formuliert: Materialien finden als Formierungen von Medien Verwendung, sind selbst aber nicht mit diesen zu verwechseln.58 Materialien sind für sich betrachtet sogar ein „Nichtmediatisierbares“59, weil sie die Vermittlungsfunktion, die jeder Mediatisierung eigen ist, durch ihre Präsenz und ihren Selbstbezug verweigern. Das mag paradox erscheinen, 55
BARCK 1988: 121.
56
Vgl. LUHMANN 1995: 165-173; vgl auch KREMER 2004: 17f.
57
LUHMANN 1995: 168.
58
Wie dies in der synonymen Verwendung bei BLASCHKE 2000 geschieht.
59
MERSCH 2002: 17.
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weil Materialien die Voraussetzung von Mediatisierungsprozessen bilden, aber in der heuristischen Trennung von Medium und Material bleiben sie selbst der positive Rest eines auf Ablösung zielenden medialen Darstellungsverfahrens. Gleiches kann eine semiotische Perspektive auf die Materialität erhellen. So liegt mit der Saussure’schen Unterscheidung von langue und parole eine ähnliche Differenz vor wie bei Luhmann mit Medium und Form. Auch sie werden nach den Kriterien von Latenz, Konstanz, Potentialität (langue) und variabler, konkreter Erscheinung (parole) unterschieden. In seiner Aktualisierung besitzt jedes Zeichen dabei eine material wahrnehmbare Basis, aber nicht jedes Material erfüllt per se eine Zeichenfunktion. Mit Jerzy Faryno ist die materiale Oberfläche grundsätzlich als ein „asemiotisches Phänomen“60 zu verstehen. Dass Materialien indes zu Zeichen werden können bis hin zu komplexen kulturellen Codes, haben kulturwissenschaftliche und gendertheoretische Untersuchungen gezeigt.61 Dennoch gilt auch hier: das Material für sich betrachtet, entzieht sich in dem Maße dem semiotischen Verweisungsvorgang wie es dessen Prämisse darstellt. Im Hinblick auf Zeichen, insbesondere ihre bipolare Anlage, zeigt sich darüber hinaus eine doppelte Materialität: die des Signifikanten selbst – beim schriftlichen Zeichen seine Bildhaftigkeit – und die des materialen Trägers, vor dessen Hintergrund sich das Zeichen als Signifikant manifestiert – etwa Papier oder Stein.62 Diese doppelte Materialität spiegelt sich in der Materialitätsforschung in einer komplementären Begriffsbestimmung wider. So verstehen viele Positionen unter Materialität eine „konkrete Stofflichkeit“63 , „Dinglichkeit und Körperlichkeit“64 . Andere sprechen hingegen von der „Gegenwärtigkeit von Dingen“65, begreifen Materialität also gerade nicht als ein „vordergründig Stoffliches“, sondern als ein „Erscheinen“, „absolute Präsenz“, „Augenblick“, „Widerstand“ und „Beharren“66. Der in dieser Studie zugrunde gelegte Materialitätsbegriff umfasst beides: Material als Widerständigkeit im Zeichenprozess und seine manifeste Stofflichkeit und Gegenständlichkeit als Träger- und Dingmaterial, technische Apparatur oder Bearbeitungswerkzeug. Damit einher geht eine Abgrenzung von der in der philosophischen Tradition ausgeprägten und seit einigen Jahren wieder diskutierten Materie-Form-
60
FARYNO 1988: 656.
61
Einen Überblick hierzu geben KÖHLER/WAGNER-EGELHAAF 2004. Zur Geschichtlichkeit des Materials vgl. auch ADORNO 1970: 223.
62
Vgl. ASSMANN 1988: 143.
63
STRÄSSLE/TORRA-MATTENKLOTT 2005: 9.
64
GREBER/EHLICH/MÜLLER 2002: 9.
65
PFEIFFER 1988: 27.
66
MERSCH 2002: 134.
40 | I NTERMATERIALITÄT
Dichotomie,67 bei der die Materie als Potentialität gedacht wird, die in der Form ihre Gestalt findet. Wie bei der Unterscheidung von Medium und Form bei Luhmann oder der von langue und parole bei Saussure ist es auch in diesem Falle der zweite Begriff, der den Umfang dessen beschreibt, was in dieser Arbeit unter Material verstanden wird. Es geht nicht um die Materie als eine gedachte Größe, sondern um die „Wirklichkeit des Materials“68 in seinem vielfältigen Vorkommen und seiner Fülle an Erscheinungsweisen, besonders aber in seiner konstitutiven Funktion von Kunst und seiner radikalen wechselseitigen Bezugnahme: der Intermaterialität.
Z UR M ATERIALITÄT
VON
K UNST
Die Betrachtung von Kunst in ihrer Materialität erschließt die konstitutiven Bedingungen artifizieller Verfasstheit und erhellt daher auch die Bedeutung von Kunst, wenn sie intermaterial auftritt. Ästhetische Differenz wird durch die spezifische Verwendungs- und Darbietungsweise von Materialien wie etwa Tönen, Farben oder Körpern erzeugt. Diese Materialien sind keine Exklusivitäten der Kunst, sondern stehen als potentielle Kommunikate oder Gebrauchsformen auch anderen Verwendungsweisen zur Verfügung, verweisen dort aber in erster Linie auf einen Bereich außerhalb ihrer selbst. Die doppelte Eigenschaft des Materials – die Mediatisierung zu begründen und sich zugleich gegen sie behaupten zu können – wird in der Unterscheidung von Kunst und Nicht-Kunst sichtbar. Während die Funktion von Materialien in nicht-künstlerischen Kontexten vor allem in einer Bereitstellung von Verweisungspotentialen beruht, zeigt sich Kunst wesentlich selbstreferentiell, da das zur Aussage Gebrachte nicht von seinem Material zu trennen ist und somit auf dieses zurückweist. Das Mediatisierte des Materials der Kunst stellt gewissermaßen das Material selbst dar. Kunst ist darüber hinaus in dem Sinne Selbstzweck, als dass die Verwendung des Materials nur auf die im Kunstobjekt vollzogene Weise wirksam ist und nicht gegen eine andere ausgetauscht werden kann.69 Die Satzstellung in einer Bedienungsanleitung kann verschieden variiert werden, solange sie den Zweck erfüllt, das betreffende Gerät in Funktion zu bringen. In der Literatur kommt 67
Vgl. NUSSBAUM/RORTY 1992.
68
DIDI-HUBERMANN 1999: 16.
69
Dies gilt auch noch dort, wo Kunst sich zweckgerichtet situiert – etwa in politischer oder moralisch-didaktischer Hinsicht. Denn das Kunstsein bemisst sich nicht an der Botschaft, sondern an der Art und Weise, wie diese zur Aussage gebracht wird. Auf der anderen Seite können alltägliche Materialien gerade aus ihren Kontexten heraus in den Raum der Kunst gestellt werden, wobei auch hier gilt: in dem Maße, wie sie zum Selbstzweck werden und sich in ihrer Darstellung präsentieren, werden sie Kunst.
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es dagegen gerade auf das spezifische Arrangement des Materials, also der (geschriebenen oder gesprochenen) Wörter, an. Ähnlich verhält es sich mit anderen Materialien und Künsten. So ist im Tanztheater die spezifische Bewegung von Bedeutung, also die Art und Weise, wie das Material – der Körper – verwendet und zur Darstellung gebracht wird. Während dies beim Tanz besonders sinnfällig erscheint, weil es der Körpergestus selbst ist, der bezeichnet wird, mag es bei jenen Kunstformen weniger einsichtig sein, die in einer Ähnlichkeitsbeziehung zum Dargestellten stehen können – wie dies etwa bei der Photographie, der Malerei, aber auch dem Film der Fall ist oder sein kann. Doch auch hier bemisst sich das Ästhetische an der Art und Weise der Darstellung, so etwa an der Wahl von Einstellungsgröße, Kameraperspektive oder Pinselstrich. Der Unterschied zu einem nichtkünstlerischen Gebrauch von Materialien begründet sich demnach über das Wie der Verwendung und die selbstreferentielle Rückkopplung des Dargestellten an die Konstituenten der Darstellung. Für die Literatur hat dies bereits Hans-Georg Gadamer mit seiner Bestimmung des eminenten Textes formuliert,70 für die Kunst allgemein zuletzt Martin Seel in seiner Ästhetik des Erscheinens sowie Dieter Mersch in seiner Schrift Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis. 71 Gadamers hermeneutischer Ansatz sieht eine Differenzqualität literarischer bzw. im engeren Sinne dichterischer Texte vor, die sich an der Sichtbarkeit des Materials ausrichtet. Wo in einer schriftlichen oder mündlichen Verständigungssituation die Sprache in ihrer Materialität verschwinde, wenn der Sinn übermittelt sei,72 werde das Verstehen bei der Literatur immer wieder auf den Text in seiner Materialität zurückgeworfen. Dichterische Texte verlangen nach Gadamer in ihrer sprachlichen Präsenz eine ständige Relektüre, weil es für sie konstitutiv sei, dass sie das, was sie sagen, mit dem Wie des Sagens verknüpfen. Diese Bedingung von Literarizität hat Seel auf die Kunst im Allgemeinen übertragen, wobei er das Material als notwendiges, aber nicht hinreichendes Argument bestimmt: „Keine Kunstform freilich ist allein von ihrem Material her zu verstehen. Die Kontur bestimmter Gattungen ergibt sich erst durch die Arten der Verwendung der basalen Materialien.“73 Es wäre zu präzisieren: Erst wenn die Verwendung von Materialien selbst im Fokus der Darstellung steht, haben wir es mit Kunst zu tun. „Auf dieses Sich-Präsentieren kommt es an. Künstlerische Objekte stellen sich in 70
Vgl. GADAMER 1993.
71
Vgl. SEEL 2000: 172-179; MERSCH 2002: 75-99.
72
„Das Verständnis eines Textes tendiert daher dazu, den Leser für das einzunehmen, was der Text sagt, der eben damit selber verschwindet.“ GADAMER 1984: 46. Vgl. auch GADAMER 1993: 288: „Wenn er [der Leser, C.K.] verstanden hat, ist der Text durchsichtig geworden.“
73
SEEL 2000: 174.
42 | I NTERMATERIALITÄT
der genauen Organisation ihres Materials aus, um auf diese Weise etwas zur Darbietung zu bringen.“74 In einem vorgeschalteten Schritt der Argumentation bestimmt Seel diese Verwendungsweisen im Sinne eines differenzlogischen Ansatzes, den er an den relationalen Medienbegriff Luhmanns anknüpft. Seel überträgt dessen Bipolarität auf die so genannte Grundoperation von Kunst und bestimmt die Verwendung von Materialien als einen Akt der Differenz – so etwa die Schaffung von Innen und Außen in der Architektur oder von Bildfläche und Dargestelltem in der Malerei75 –, der als das „primäre Medium einer künstlerischen Gestaltung“76 zu verstehen sei. Material und Medium sind in ihrer Relevanz für die Kunst demnach zu unterscheiden. Auf einer ersten Stufe bestimmt sich die mediale Verfasstheit durch die Differenz von Material und Verwendung. Auf einer zweiten Stufe sorgt der spezifische Gebrauch von Materialien dafür, dass sie als Kunst wahrgenommen werden. Kunst ist also die ästhetische Verwendung von Materialien, die darin das Prinzip der Medialität – die Differenz von Verwendung und Material – auf sich selbst anwendet und im Sich-selber-meinen zur Erscheinung tritt.77 In die gleiche Richtung zielen die Überlegungen Dieter Merschs zur Präsenz und Ereignishaftigkeit des Materiellen in der Kunst, die er in Anlehnung an die Ästhetische Theorie Adornos anstellt. Dessen berühmtes Verdikt von der Rätselhaftigkeit des Kunstwerks interpretiert Mersch als „Ekstatik eines Sichzeigens“: Es [das Rätsel der Kunst, C.K.] zeigt sich, und zwar vermöge der Präsenz seiner kompositorischen Gestalt, seiner ‚ästhetischen Form‘. Präsenz aber meint stets zugleich ein Materielles, weniger im Sinne kruder Stofflichkeit, als vielmehr der spezifischen Weise ihrer Evokation, wodurch sich eine Wirksamkeit allererst kund gibt: Intensität der Blöße, durch die es erscheint. Ein ganzes Konzert von Bedingungen gehört dazu: Farbe, die Wahl des Materials, Hängung, Medium, Werkzeug, Wiedergabequalität, Rahmung, Formate, Grundierung, Ausstellungsort usw. […] Maßgeblich bleibt damit, daß Kunst ihr Symbolisches dadurch ausdrückt, daß sie sich sinnlich verkörpern muß, so daß von ihr das Materielle, durch die sich ihre Signifikanz allererst ausstellt, nicht subtrahiert werden kann.78
74 75
Ebd.: 176. Siehe hierzu auch BOEHM 1994: 29-36, wo der Terminus der „ikonischen Differenz“ eingeführt wird.
76
SEEL 2000: 175. [Herv. i.O.] Vgl. auch SEEL 1998.
77
In die gleiche Richtung zielt Luhmanns Formel von Kunst als Medium zweiter Ordnung, der die Potenzierung der Medium-Form-Differenz eingeschrieben ist. Insofern bei Kunst die Verwendung des Materials Differenzen schafft bzw. die Differenz zur Erscheinung bringt, lässt sie sich grundsätzlich und dauerhaft differentiell bestimmen. Vgl. LUHMANN 1986.
78
MERSCH 2002: 83.
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Was Mersch hier das Symbolische der Kunst nennt, meint die Bedeutung, die durch die Verwendung von Materialien zum Ausdruck kommt, zugleich aber nicht von diesen zu lösen ist. Gerade darin zeigt sich das Spezifische der Kunst, dass sie den Mediatisierungsprozess als Ablösung vom und Verschwinden des Material(s) verweigert und auf ihre materiale Persistenz insistiert. Übertragung von Sinn als Bedingung von Kommunikation wird in der Situation der Kunst also nicht komplett verunmöglicht, sondern selbstreferentiell zurückgebunden. In dieser selbstbezüglichen Verwendung und Rückkopplung bekommt das Material seine ästhetische Relevanz.
I NTERMATERIALITÄT . D EFINITION
UND
D IFFERENZIERUNG
Diese materialästhetische Definition von Kunst erfährt nun dort eine Potenzierung, wo wir es mit Kunstgebilden zu tun haben, die sich auf andere Kunstarten beziehen oder mehrere in sich kombinieren. Über die formale Differenz hinaus – wie sie im letzten Kapitel mit Material und Verwendung beschrieben wurde – präsentiert sich die Konstitution von Kunst in diesen Fällen selbst als Inhalt der Darstellung. Wenn in Bildern Schriftzüge auftauchen oder im Theater Videoprojektionen eingesetzt sind, dann richtet sich die Wahrnehmung des Betrachters vor allem auf die Unterschiede in der Darstellungsweise, die damit auf die je spezifischen Materialien einer Kunst selbst verweisen. Aufgrund dieser Gerichtetheit auf das Material ergibt sich für die Intermaterialität im Zusammenhang ihrer ästhetischen Funktion die folgende Definition: Von Intermaterialität ist dann zu sprechen, wenn auf die Materialität einer anderen Kunst oder eines anderen Kunstgebildes Bezug genommen wird. Für eine allgemeine Definition von Intermaterialität lässt sich abstrahieren und zugleich präzisieren: Intermaterialität beschreibt die direkte oder indirekte Relation zweier oder mehrerer Artefakte, Zeichengebilde, Künste, Medien oder Dingmaterialien, wenn sie auf materialer Ebene interagieren. Eine direkte Intermaterialität liegt vor, wenn mindestens zwei Materialien präsent sind, während bei der indirekten Intermaterialität nur ein Material vorhanden ist und auf ein anderes verweist. Letzteres gilt vor allem für sprachlich-literarische Rekurse, deren intermaterialer Grad zwar geringer als konkrete Materialverbindungen ausfällt, im Verhältnis zur Intermedialität aber immer noch eine Radikalisierung darstellt. Während beispielsweise die Nennung eines Filmtitels in einem literarischen Text einen intermedialen Bezug erzeugt, intensiviert ein Roman wie Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz (1929) mit der Schilderung des Kinogangs von Franz Biberkopf den Rekurs dadurch, dass die materialen Eigenschaften des Mediums Film rhetorisch-formal aufgegriffen
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sind.79 Als ästhetisches Verfahren vermag Intermaterialität somit eine besondere Aufmerksamkeit für die grundsätzliche Konstitution artifizieller Verfasstheit zu schaffen. Dies ist natürlich vor allem dann der Fall, wenn es sich um eine direkte Form der Intermaterialität handelt. Aber auch der bloße indirekte Bezug auf eine ‚andere‘ Kunstart kann deren ästhetische Bedingung fokussieren, wenn die Materialität sprachlich anvisiert oder durch Adaptionen in den eigenen semiotischen Komplex übertragen wird. Die Möglichkeiten sind hier vielfältig und graduell stark divergierend. Grundsätzlich gilt: Wenn Künste in Verbindung treten, dann verweisen sie auf die Form und die Verfahren ihres Gemachtseins. Machen sie dies explizit, indem ein Material bedeutungskonstitutiv auf das Material eines anderen hin verwendet wird, dann handelt es sich im eigentlichen Sinne um Intermaterialität. Die im Akt der Kunst ohnehin schon stattfindende Schaffung von Differenz wird dabei noch einmal potenziert, weil das zur Darstellung Gebrachte eine andere Kunstform impliziert, die ja wiederum selbst differentiell konstituiert ist. Semiotisch formuliert haben wir es bei der Intermaterialität mit einer Verdoppelung der bipolaren Zeichenkonstitution zu tun, wobei das Signifikat des ersten mit dem Signifikanten des zweiten ästhetischen Komplexes faktisch (direkte Intermaterialität) und/oder semantisch (indirekte Intermaterialität) identisch ist.80 Konsequenz dieser Verdoppelung ist eine ästhetische Dichte und Intensivierung der Wahrnehmung von Kunst, weil sie sich in ihrer Materialität in exponierter Weise ausstellt. In dem Maße wie bei intermaterialen Erscheinungsformen die beteiligten Materialien wechselseitig aufeinander verweisen, rekurrieren sie auf sich selbst in der Bedingung ihrer Möglichkeit und machen dies explizit zum Thema. Sie drängen sich gewissermaßen dem Betrachter auf und demonstrieren darin eine Verbindung der Künste, deren Möglichkeit die Frage aufwirft, ob überhaupt die Auffassung von einer grundsätzlichen Trennung innerhalb des Systems Kunst im Sinne einer monadischen Abgegrenztheit aufrechterhalten werden kann. Wenn eine materialästhetische Perspektive bereits die differentielle Verfasstheit ‚einzelner‘ Kunstformen veranschaulicht und sich dieser Umstand in der Konvergenz von Künsten noch einmal verschärft, dann scheint eine Bestimmung der Grenzen kaum möglich zu sein. Gleichzeitig liegt deren Notwendigkeit klar auf der Hand, da ein Verständnis von Kunst, das Musik, Malerei, Literatur etc. als ununterscheidbar begreift, wenig plausibel erscheint. Von zentraler Bedeutung ist die Beantwortung der Frage schließlich deshalb, weil sie die Perspektive strukturiert, die bei jeder konkreten Analyse intermaterialer Kunst wirksam ist. Wo also verlaufen die Grenzen der Künste? 79
Vgl. DÖBLIN 1929: 32.
80
Diese Beschreibung ist angelehnt an Roland Barthes’ Erläuterungen zur Relation von Sprache und Mythos in den Mythen des Alltags (1957). Vgl. BARTHES 2010: 259.
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K ÜNSTE
Der Blick auf die Materialität von Kunst scheint vordergründig eine klare Unterscheidung der Kunstarten zu gewährleisten. Die Malerei ließe sich etwa in ihrer Verwendung von Farben, Formen und Fläche bestimmen, die sich von der Literatur dahingehend abgrenzt, dass diese es mit dem Material der Sprache, genauer mit dem geschriebenen Wort zu tun hat. Die Musik erzeugt mit Instrumenten Töne und verbindet sie zu rhythmischen Ensembles; das Tanztheater verfährt ähnlich in der Verwendung des Körpers und des szenischen Raums. Der Film setzt spezifisch arrangierte Szenarien als Photographien zu einer sukzessiven Folge zusammen und ist gleichermaßen angewiesen auf eine abzufilmende Gegenständlichkeit, das Equipment am Filmset wie Kameras, Scheinwerfer oder Mikrofone sowie die technischen Bedingungen seiner Post- und Reproduktion wie Filmstreifen, Leinwand und Projektor. Als Addition mehrerer Materialien lässt sich auch das Theater beschreiben, das mit dem gesprochenen Wort, Mimik und Gestik als Verwendungsformen des Körpers sowie der Kulisse operiert. Auch bei den so genannten kombinierten Künsten scheint daher zu gelten, dass sie sich unter der Prämisse ihrer Ausdrucksweisen zurückverfolgen lassen auf die die jeweiligen Einzelkünste determinierenden Materialien. Allerdings lässt bereits die analoge Beschreibung der Verfahren von Musik und Tanz als Kunstarten sukzessiver Folge erahnen, dass Künste vielfach Bezüge zueinander aufweisen. Folgt man der Argumentation, die Medien als Verwendungsweisen von Materialien begreift, so lässt sich zeigen, dass scheinbar kunstartspezifische Materialien auf andere Künste hin ausgerichtet werden und somit die Teilhabe an gemeinsamen Prinzipien offen legen können. So schafft etwa die konkrete Poesie durch die Anordnung von Wörtern nicht nur ein Kunstgebilde, das zwischen Schrift und Bild changiert, sondern fördert auch die grundsätzliche Bildhaftigkeit von Schrift zutage, deren Differenz zum Weiß des Papiers oder zu einem anderen Untergrund die grundlegende Voraussetzung für den kognitiven Verarbeitungsprozess der Lektüre darstellt. Beim Lesen eines Textes sieht man gewissermaßen über seine Bildlichkeit hinweg, dennoch ist sie Bedingung der Möglichkeit des Lesens.81 Andersherum kann auch ein Bild Literatur darstellen und auf eine strukturierte Lektüre seiner selbst hinwirken. Paul Klees Bildgedicht Einst dem Grau der Nacht enttaucht von 1918 (vgl. Abb. 13) zeigt beispielsweise, wie die Zwischenräumlichkeit der Schrift farblich aufgefüllt und damit in eine syntaktische Dichte überführt wird,82 81
Die Bildlichkeit der Schrift wird quasi in dem Moment unsichtbar, wo das zur Aussage
82
Gemeinhin gilt der Faktor der syntaktischen Dichte als Indikator für bildliche Darstel-
Gebrachte als Vorstellung erscheint. Vgl. KRÄMER 2006. lung. Vgl. GOODMAN 1995: 183, 232.
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gleichzeitig aber die Zeichen dem Bild eine lineare Form verleihen, die das räumliche Nebeneinander durch ein lesbares Nacheinander ergänzt. Die durch die basalen Kategorien von Raum und Zeit getrennten Kunstformen können also in einer Anordnung kombiniert werden – was nicht zuletzt das Medium des Films als ein per se integrales dokumentiert. Die Begriffe der Raum- und Zeitkunst müssen daher als relationale verstanden werden, die nur tendenziell als Demarkationslinie innerhalb der Kunst fungieren können. Dies wird dadurch evident, dass Raumkunst immer auch einer zeitlichen Komponente unterliegt (weil Wahrnehmung sukzessiv erfolgt), ebenso wie Zeitkunst auf den Raum angewiesen ist (wie das Beispiel der Schrift verdeutlicht).83 Wichtig im Hinblick auf die hier formulierte differenzlogische Intermaterialitätstheorie ist aber vor allem, dass die Beispiele zeigen, wie die Medialität von Kunst, also die künstlerische Verwendung von Materialien, ihre eigene intermateriale Verfasstheit begründet et vice versa. Materialien mögen Künste unterscheidbar machen, ihre Verwendung kann diese Unterscheidung wieder aufheben. McLuhans These, nach der ein Medium immer ein anderes Medium zum Inhalt hat, 84 scheint sich darin zu bestätigen, dass die Möglichkeit intermaterialer Kunst eine inhärente Beziehung der Künste zueinander notwendig voraussetzt. Diese Relation wird allerdings nicht immer realisiert.85 Das heißt, dass die Grenzen, die die Künste voneinander trennen, keine Konstanten sind, sondern stets im und durch ein Kunstgebilde neu arretierte Randzonen bedeuten, die das Kunstgebilde aus einer Verbundenheit lösen oder diese demonstrieren können. Nicht eine vorher festgelegte Struktur des Liminalen, die sich immer als Normierung entpuppen muss, ist dafür verantwortlich, sondern es ist der Akt der Verwendung, der darüber entscheidet, wo die Grenzen der Kunst verortet werden. Konträr zu dieser Auffassung gehen viele Theorien in der Intermedialitätsforschung von einer klaren Differenz der Künste aus. Als Prämisse jedweder analytischen Annäherung formulieren sie eindeutige Distinktionskriterien: Um Intermedialität als Form der Grenzüberschreitung und Transformation wahrnehmen zu können, bedarf es – so die überwiegende Meinung – der Grenzziehung, d.h. eines Wissens 83
Vgl. hierzu auch Oskar Walzel, der die wechselseitige Überführbarkeit von Sukzessivität und Simultaneität von Kunst mit einer diesbezüglichen Rezeptionskompetenz begründet: „Wir können ein Musikstück oder eine Dichtung unter Umständen wie ein Gemälde vor uns ausgebreitet sehen; umgekehrt erleben wir auch Bilder, Plastiken und Bauwerke, als wären sie Werke transitorischer Kunst, genießen sie in einem Nacheinander von Eindrücken.“ WALZEL 1917a: 15.
84
Vgl. MCLUHAN 1995: 38.
85
Vgl. SEEL 2000: 179. „In jeder Kunstart […] bestehen vielfache inhärente Beziehungen zu anderen Künsten, obwohl nicht jede Kunst sie zu anderen unterhält.“
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um die festen Grenzen eines Mediums.86 Hintergrund hierfür mag die Ästhetiktradition sein, in der die Grenzen der Künste – gerade unter Rückgriff auf das Material – zumeist sehr strikt gezogen wurden. So begründet bekanntermaßen Lessing in seinem Laokoon (1766) die Grenzen zwischen Malerei und Poesie mithilfe eines semiotisch-mimetischen Materialdeterminismus, wonach „neben einander folgende Zeichen, auch nur Gegenstände, die neben einander, [...] auf einander folgende Zeichen aber, auch nur Gegenstände ausdrücken [können], die auf einander [...] folgen“87. Auch Goethe verpflichtet den Künstler auf die „Materie [...][,] in welcher er zu arbeiten hat“88 und sieht in der „Vermischung der verschiedenen Arten“ ein „Kennzeichen des Verfalls der Kunst“89. Neben diesem Argument einer Materialadäquatheit, das im Verlauf des 19. Jahrhunderts besonders von Gottfried Semper und Alois Riegl vertreten wird und in der Materialitätsforschung unter dem Begriff der Materialgerechtheit bzw. des Materialstils kursiert,90 entwirft vor allem Hegel in seinen Vorlesungen über die Ästhetik (1817-1829) eine strikte Trennung der Künste auf der Grundlage ihres jeweiligen Materialcharakters. So ergibt sich eine Unterscheidung der Künste Architektur, Skulptur, Malerei, Musik und Poesie nach einem zunehmenden Grad der Entmaterialisierung und dem Geist als Zielpunkt der Hegel’schen Ästhetik.91 Entgegen diesen Forderungen nach einer klaren Trennung existieren jedoch auch Positionen, die die Grenzen der Künste ambivalenter einschätzen bzw. gar für ihre Überwindung eintreten. Neben den Gesamtkunstwerktendenzen der Romantik finden sich derartige Überlegungen in Schillers Ästhetischer Erziehung des Menschen (1795/1801), in der er es als eine „nothwendige und natürlich Folge ihrer Vollendung“ ansieht, dass „die verschiedenen Künste in ihrer Wirkung auf das Gemüt einander immer ähnlicher werden.“92 Und auch bei den 86
Vgl. SPIELMANN 2004: 79: „Im medienwissenschaftlichen Diskurs bezeichnet Intermedialität spezifische, und zwar strukturverändernde Formen der Vermischung zwischen unterschiedlichen Medien, wobei die Verschmelzung zu einer neuen Form das Vorkommen getrennter Medien voraussetzt. […] Intermedialität läßt sich demzufolge als ein dynamisches Modell der Medienrelation verstehen, welches in der spezifischen Interrelation unverzichtbar die Verschiedenartigkeit der Medien und den Vorgang der Transformation voraussetzt.“ [Herv. C.K.] WOLF 2002: 167: „Intermedialität bedeutet das Überschreiten von Grenzen zwischen konventionell als distinkt angesehenen Kommunikationsmedien […].“ Vgl. auch RAJEWSKY 2002: 12, et passim; EICHER 1994: 18.
87
LESSING 1766: 116.
88
GOETHE 1788: 168.
89
GOETHE 1798: 20.
90
Vgl. WAGNER 2001a: 873-875.
91
Vgl. HEGEL 1832-1845: 254-265.
92
SCHILLER 1795/1801: 640. [Herv. i.O.]
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bereits diskutierten Autoren finden sich Einschränkungen einer strikten Grenzziehung. So billigt Lessing Poesie und Malerei „auf den äußersten Grenzen eine wechselseitige Nachsicht“93 zu und Goethe gesteht ein, dass die Künste eine „gewisse Neigung, sich zu vereinigen“94 aufweisen. Zu einem wesentlichen Teil des Kunstsystems ausgearbeitet sind derartige Engführungen bei Schelling. In dessen Vorlesungen zur Philosophie der Kunst (1802/03) funktioniert die Einteilung nach einer Logik der Inversion, wonach sich die Differenz zweier Künste in die Indifferenz einer dritten Kunst auflöst. Ausgangspunkt für Schellings Überlegungen ist die Vorstellung einer „absolute[n] Materie“95, von der aus sich die unterschiedlichen Künste als Potenzen realisieren, über die sie in einem engen Verhältnis zueinander stehen. Als Ausdruck eines universalen Gesamtzusammenhangs sind die Grenzen bei Schelling daher Übergangszonen und die Künste selbst in einem dialektischen Verhältnis zueinander organisiert. Stärker noch berücksichtigt Friedrich Theodor Vischer die wechselseitigen Beziehungen der Künste zueinander. Zwar konstatiert er in seiner Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen (1846), dass jedes „Material [...] seine unübersteigliche Grenze“ habe, um jedoch sofort hinzuzufügen: „Diese Schranke ist aber in der Phantasie notwendig eins mit dem Drang ihrer Überwindung“96. Tatsächlich nähern sich die Künste für Vischer auf vielfältige Weise einander an, weshalb er für eine Berücksichtigung gewisser Mischgattungen plädiert, die auf „besondere[n] Wahlverwandtschaften zwischen einzelnen Künsten“97 beruhen. Diese inhärenten Beziehungen sind dabei nicht bloß in der Vorstellung präsent, sondern ergeben sich durch gewisse Materialaffinitäten wie beispielsweise der analogen zeitlichen Organisation poetischen und musikalischen Materials.98 Während sich somit bei genauerer Betrachtung die Ästhetiken des 18. und 19. Jahrhunderts durchaus differenziert mit den Grenzen der Künste auseinander setzen, wundert es, dass gerade vor dem Hintergrund der Aufwertung des Materials und seiner vielfältigen Kombinationsmöglichkeiten im 20. Jahrhundert die neuere Intermedialitätsforschung an der Vorstellung klarer Kunst- und Mediengrenzen festhält. Diese Betrachtungsweise entbehrt nicht einer gewissen Paradoxie, denn in dem Maße, wie sich die Intermedialitätsforschung ausbreitet und damit einer Verbindung und Grenzauflösung von Künsten Rechnung trägt, versucht sie dem Prozess mit einer umso strikteren Grenzziehung auf theoretischer Ebene zu begegnen. Dabei 93
LESSING 1766: 130.
94
GOETHE 1798: 20.
95
SCHELLING 1859: 14.
96
VISCHER 1846: 167.
97
Ebd.: 186.
98
Zur Rolle des Materials in der Diskussion um die Kunstgrenzen vgl. ausführlicher KLEINSCHMIDT 2011.
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berufen sich solche puristischen Positionen zumeist auf einen Begriff des Liminalen, der eine eindeutige Trennung und die Identifizierbarkeit des je Separierten behauptet. Ein solches Verständnis von Grenzen ist jedoch kaum mehr aufrechtzuerhalten. Grenze und Überschreitung stehen in einem komplexen Wechselverhältnis, das in der Ideengeschichte vielfach thematisiert und kritisch hinterfragt wurde.99 Am treffendsten hat deren Relation Michel Foucault auf den Punkt gebracht: „Grenze und Übertretung verdanken einander die Dichte ihres Seins“100. Obwohl diese Zuspitzung bereits das traditionelle Verständnis der Demarkation in Zweifel zieht, war es vor allem Jacques Derrida, der deren Eindeutigkeit radikal infrage gestellt hat: „No border is guaranteed, inside or out.“101 Derrida darf dabei nicht missverstanden werden. Ihm geht es nicht um eine völlige Verneinung einer Grenze, sondern um die Negierung eines bestimmten Denkens über das Liminale. Die Grenze ist kein exakter Schnitt, sondern ein Raum des Uneindeutigen, ein Ort des Übergangs; eine „Grenze, die gar keine ist“102. In der Derrida’schen Logik, bei der binäre Oppositionen inversiv verschränkt sind, setzt die Grenze vermeintlich Getrenntes gerade ins Verhältnis und lässt somit Polares sich wechselseitig konstituieren. Sie umfasst damit immer schon Berührungspunkte, Transgressionen und reziproke Strukturen und kann keineswegs eine sichere Basis verbürgen, von der aus ‚neue‘ ‚grenzüberschreitende‘ Mischformen beschreibbar wären, wie es Positionen der Intermedialitätstheorie suggerieren wollen. Die Idee eines isolierten Medienverständnisses wird nicht nur im Hinblick auf eine historische Befragung zweifelhaft – wie im Kapitel über die Anfangsszenarien der Intermedialität gezeigt wurde –, sondern vor allem aufgrund einer unzureichenden Reflexion darüber, was das Denken der Grenze bedeutet, wenn man es für das 99
Zu literaturwissenschaftlichen, philosophischen und kulturtheoretischen Konzepten der Grenze vgl. den historischen Abriss bei HOHNSTRÄTER 1999: 233-237; vgl. auch FABER/NAUMANN 1995 und KLEINSCHMIDT/HEWEL 2011.
100 FOUCAULT 1988: 73. 101 DERRIDA 1979: 78. 102 DERRIDA 1999: 18. Derridas Ausgangspunkt für die Infragestellung der Grenze ist primär ein philosophischer, da er den (zum Scheitern verurteilten) Versuch der philosophischen Tradition aufzeigt, die Grenzen des Denkbaren zu bestimmen und sich der eigenen Grenzen zu versichern. Zur Illustration verwendet er die Metapher der Ohrmembran, deren spiralförmige Ausrichtung eine Grenze demonstriert, die sich in ihrer Durchlässigkeit und spezifischen Form atypisch zur gängigen Vorstellung des Liminalen verhält. Vgl. hierzu auch Foucault, der in seiner Terminologie eine ähnliche Metaphorik bemüht: „Sie [die Übertretung, C.K.] ist an die Grenze gebunden in einer sich spiralig einrollenden Beziehung, die nicht einfach dadurch gelöst werden kann, daß man sie aufbricht.“ FOUCAULT 1988: 74.
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eigene Forschungsfeld adaptiert. Unter der Perspektive der Intermaterialität zeigt sich, dass die Künste ihre Grenzen nicht überschreiten. Sie demonstrieren vielmehr, dass es diese festen Grenzen gar nicht gibt. Im Intermaterialen findet ein Spiel mit der Randzone statt, des Uneindeutigen ebenso wie des Gemeinsamen, das produktiv die pluralen Möglichkeiten von Kunst auslotet und dabei eine prinzipielle Interdependenz offen legt. Bei dieser anderen Sichtweise kann es allerdings nicht darum gehen, alle Kunst im diffus Materialien aufzulösen, sondern den Blick zu schärfen für ein dynamisches Modell künstlerischer Interferenzen, das sich aus einer differenztheoretischen Perspektive ergibt und den Ort der Grenze als veränderbar, kontingent und dehnbar begreift, ohne ihn komplett in Abrede zu stellen. Selbst Adorno hält an einer Idee der Unterscheidbarkeit fest, und dies trotz einer unter dem Einfluss der Avantgarde beobachteten Verfransung der Künste103 und „Erweiterung der disponiblen Materialien, welche der alten Grenzen zwischen den Kunstgattungen spottet“104. Adornos Einschätzung fasst Peter Zima pointiert zusammen: „Die Einsicht in die Verwandtschaft verschiedener Kunstformen, die mit Recht ihre rigide Trennung in Frage stellt, sollte sich nicht über ihre Heterogenität hinwegsetzen und Nichtidentisches tilgen.“105 Zima selbst entwickelt im Kontext seiner Erörterungen über Möglichkeiten und Grenzen einer kunstübergreifenden Terminologie – und das heißt in Abgrenzung zum radikalen Partikularismus eines Benedetto Croce und in Fürsprache für Adornos negative Dialektik –, ein Dreiebenenmodell, das genau in diesem Sinne Künste füreinander durchlässig werden lässt, ohne ihren spezifischen Status zu verwischen. Grundsätzlich hält er eine Terminologie für möglich, „die einerseits so abstrakt ist, daß sie auf heterogene Kunstformen angewandt werden kann, andererseits aber so konkret ist, daß sie problemlos an die allgemeine Begrifflichkeit einzelner Disziplinen wie Literaturwissenschaft, Kunstsoziologie, Filmsemiotik und Musikwissenschaft angeschlossen werden kann“106 .
103 Vgl. ADORNO 1967: 185f. 104 ADORNO 1970: 223. 105 ZIMA 1995: 11. 106 Ebd.: 19. [Herv. i.O.] Um dies zu gewährleisten, bedürfe es einer ersten ‚komparatistischen‘ abstrakten Ebene, darunter einer Ebene der Konkretisierung in den jeweiligen Kunstformen, deren Funktion auch in der Vermittlung zur dritten bestehe, die wiederum ausschließlich einzeldisziplinär verankert sei. Obwohl Zima mithilfe semiotischer Anleihen einige Analysemöglichkeiten andeutet, bleibt er eine Anwendung seines transitorischen Modells schuldig. Fraglich bleibt ebenso, ob die Semiotik tatsächlich so neutral und damit kunstübergreifend funktionieren kann, denn wie das Beispiel der Intertextualität zeigt, entlehnt sie ihre Begriffe häufig dem Beschreibungsapparat sprachlicher Kunstformen.
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Abbildung 1: Wassily Kandinskys Bühnenbild Gnomus zu Bilder einer Ausstellung (1928)
Die Verneinung von klaren Grenzen im System Kunst bedeutet also nicht ein Verwischen jeglicher Unterschiede. Sie zeigt vielmehr, dass Künste sich dem Entweder-oder einer binäroppositionären Denkstruktur entziehen und basale Wechselbeziehungen aufweisen, obwohl wir es gewöhnt sind, Kunstarten herauszuheben und hinsichtlich bestimmter Charakteristiken zu benennen. Und gewiss ist es legitim, Literatur, Musik, Film oder Tanz voneinander zu unterscheiden, gleichzeitig gilt es aber zu berücksichtigen, dass die Berührungspunkte zu anderen Künsten bereits als Potentiale angelegt sind und intermateriale Kunstgebilde damit Realisierungsformen bestehender aliminaler Grundstrukturen darstellen. Ein Beispiel kann dies verdeutlichen: In seiner bildlichen Adaption der Bilder einer Ausstellung von Mussorgsky deckt Kandinsky die Nähe des Notationssystems der Musik zur Linearität skripturaler Verfahren auf und synthetisiert sie in einem bildhaften Bühnenentwurf, der gemäß seiner Theorie der Farbklänge wiederum in Bezug zur Musik steht (vgl. Abb. 1). Er benutzt damit Elemente der Zeitkunst zur Darstellung des Bühnenraums und lässt beide material konvergieren. Die zu Fluchtlinien angewachsene Notation erzeugt Dynamisierungseffekte der räumlichen Anordnung und strukturiert die Blickrichtung auf die Farbformen im Bildhintergrund, die keine Referenzfunktion mehr aufweisen, sondern nur noch in ihrer materialen Beschaffenheit sichtbar sind. Die genuinen Bildelemente sind auf die gleiche Weise formal reduziert wie die Notenlinien. Die Grenze zwischen den Künsten ist in Kandinskys Bühnenentwurf also in zweifacher Hinsicht überschritten und als variabel erkennbar: in der ZeitRaum-Dichotomie und in der materialen Distinktion.
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F ÜR
EINE INTERMATERIALE
Ä STHETIK
Will man aus diesen Ausführungen eine Ästhetik der Intermaterialität ableiten, so lässt sich eine Ordnung der Künste erstellen, die im Gegensatz zur gängigen Spezifizierung steht: Eine Ordnung der Künste, die mehr Verbindendes als Trennendes hat und im Sinne eines Überlappungsmodells das intermateriale Potential einer jeden Kunstform erkennbar macht. Nicht eine hierarchische Ordnung, sondern eine interagierende, die das Verhältnis der Künste neu arretiert, aber eben nicht auflöst.107 Dies gilt auch für das Begriffsinstrumentarium. So sollte mit der Fokussierung dessen, was der künstlerischen Verwendung eines Materials die Sicherheit seiner Identifizierung nimmt, nicht eine Verunsicherung dahingehend geschaffen werden, dass es zur Unmöglichkeit der Benennung kommt. Eine Alternative zur Sprachpraxis so genannter Einzelkünste scheint kaum durchführbar, selbst wenn sie eigentlich durch die Berücksichtigung dessen ersetzt werden müsste, was das Einzelne alles nicht ist. Versteht man jedoch von vornherein unter den Begriffen von Musik, Literatur, Film etc. keine isolierten Künste, sondern potentielle Verbindungen, dann erübrigt sich das Problem. Neben Gründen der Kommunizierbarkeit ist die Beibehaltung der etablierten Bezeichnungen zudem deshalb ratsam, weil es einen Unterschied in der Beschreibung dessen gibt und geben muss, was sich konkret als intermateriale Kunst präsentiert und was nur an sein intermateriales Potential rückgekoppelt werden kann. In diesem Zusammenhang gilt es, noch einmal auf die Rolle der Rezeption zurückzukommen. Es wurde vermehrt darauf hingewiesen, dass ihre Absolutsetzung deshalb unmöglich ist, weil sie die unterschiedlichen Grade in den Realisierungsformen des Intermaterialen verwischt. Dennoch spielt sie natürlich eine wesentliche Rolle, weil ohne sie die Bedeutsamkeit von Kunst ins Leere laufen würde. Dabei ist es sicherlich richtig, dass – wie Wolfgang Welsch ausführt – ein Kunstgebilde mehrere Sicht- und Wahrnehmungsweisen vereint, aber es ist eben nur eine, die dieses als Kunst identifiziert.108 Dies geschieht wiederum nur in Abhängigkeit vom Material, das sich auf eine selbstbezügliche Weise präsentiert und darin vom Rezipienten erkannt wird. Eine materialorientierte Ästhetik steht somit nicht im Gegen107 Vgl. hierzu auch SEEL 2000: 177f. 108 WELSCH 1996: 65f. Welschs deutliche Kritik an diesem singulären Begründungszusammenhang als einer „Schmalspur-Ästhetik“ ist nur dann berechtigt, wenn die anderen Diskurse ausgeschlossen werden. Es kann allerdings nicht um ein Entweder-oder gehen, sondern zu fragen ist danach, wie ein Kunstgebilde andere Sichtweisen – etwa historische, politische etc. – verhandelt und wie sich derartiges von nicht-künstlerischen Verwendungen unterscheidet. Eine Untersuchung muss also immer in Rückbindung an das Künstlerische geschehen, nicht in deren Kontrastierung oder Ersetzung.
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satz zu einer Rezeptionsästhetik, sondern setzt sie zwingend voraus – nur eben nicht im absoluten, sondern im moderaten, reziproken Sinne. Wie angedeutet ist eine derartige Anbindung auch deshalb nötig, weil eine intermateriale Ästhetik nicht nur das Zwischen von Künsten sondiert, sondern auch zwischen – wenn man so will – aktiver und passiver bzw. positiver und negativer Intermaterialität unterscheiden muss. Wird jede Kunst, die vermeintlich monomaterial auftritt, auf ihren negativen Begründungszusammenhang zurückgeworfen, so verhält es sich mit realisierter intermaterialer Kunst gerade andersherum: Sie erzeugt in der apräsenten, kopräsenten oder fusionierenden Verbindung von Künsten zugleich eine positive Kontrastierung, die das je Eigene zu bestimmen vermag – dies allerdings auch nur im Widerpart zum Performativen der Vermengung. Darin liegt das Paradoxe, das jedes intermateriale Kunstgebilde ausmacht: zugleich Identifizierbares zu verneinen und zu schaffen, zugleich zu entgrenzen und zu konturieren. Eine intermateriale Ästhetik muss diesen Doppelcharakter berücksichtigen, indem sie eine zweifache Perspektive eröffnet. Sie soll nicht nur die Transitorik in potentia beschreiben, sondern dem Ereignishaften in praesentia Rechnung tragen. Zudem muss sie offen sein für Verbindungen, die über den traditionellen ästhetischen Rahmen hinaus gebildet werden, aber derart präzise, dass sie nicht alles unter das Schlagwort des Intermaterialen subsumiert; sie muss die Bedingungen der Interaktion(en) klären und zugleich über die Konvergenzen selbst deren Möglichkeiten ableiten; sie muss dem Pluralen (nicht dem Beliebigen) Raum geben, ebenso aber die Vereindeutigungen im Konkreten aufzeigen; und sie darf den eigenen Status nur als relativen und temporären verstehen, der durch neue Interaktionen, Materialien oder Zeichen- und Medienverbünde immer wieder produktiv korrigiert, verändert und erweitert werden kann. Eine Ästhetik also, die, vom Material abgeleitet, auf das Material zurückkommt und sich wiederholt an ihm erweisen muss.
B EDINGUNGEN
INTERMATERIALER
A NALYSEN
Mit dem Plädoyer für eine intermateriale Ästhetik, die sich stets am konkreten Material zu orientieren hat, ist die Vorstellung von Intermaterialität als einer graduellen Kategorie verbunden. Die vielen Möglichkeiten der Materialbezüge und -kombinationen sowie die Fülle an verschiedenen Materialien selbst bedingen auch auf der Beschreibungsebene eine Reflexion auf unterschiedliche Intensitätsgrade. Dennoch lässt sich ein grobes Raster entwerfen, das strukturgebend für die Analyse intermaterialer Kunst sein kann und Orientierung hinsichtlich der in dieser Studie untersuchten Materialbezüge von Text und Bild, Schrift und Film sowie der Materialverbindungen innerhalb der Bühnenkompositionen bietet. Ausgehend von der Unterscheidung in eine direkte und eine indirekte Intermaterialität lassen sich in-
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termateriale Kunstgebilde zunächst hinsichtlich der An- oder Abwesenheit ihrer Materialien differenzieren. Bei der indirekten Intermaterialität ist das Bezugsmaterial apräsent109, wie bei dem rein sprachlichen Rekurs auf Bilder und Filme. Auch hierbei können die Intensitätsgrade höchst unterschiedlich ausfallen, weshalb bei der Analyse danach zu fragen ist, inwieweit der Bezug über das Sprachliche hinaus auch formal hergestellt wird. Bei der direkten Intermaterialität, also der gleichzeitigen Anwesenheit mindestens zweier Materialien, lässt sich ein Neben- oder Nacheinander (Kopräsenz) von einem Ineinander unterscheiden. Auch diese zwei Subkategorien sind als extreme Idealtypen zu verstehen, die im konkreten Fall keinesfalls so klar zu trennen sind. Die Übergänge sind hier fließend und Ausdruck vielfältiger, mit den Grenzen spielender Möglichkeiten intermaterialer Kunst. Ihr Vorkommen finden das Neben-, Nach- und Ineinander von Materialien etwa in der Kombination von Dingmaterialien wie bei Collagen, Montagen und Assemblagen, aber auch bei klassischen Text-Bild-Relationen wie der Illustration. Auch die Schrift im Film fällt unter den Typus der direkten Intermaterialität, wobei hier berücksichtigt werden muss, dass die Schrift bereits Bestandteil des Hybridmediums Film ist. Dass dessen Materialebene mit der Darstellung von Schrift nicht verlassen wird, stellt jedoch nur scheinbar ein Problem dar, da Schrift sich nicht notwendigerweise vor der Widerständigkeit des Papiers situieren muss, sondern auf verschiedenen Oberflächen realisiert werden kann. Mit Annette Simonis, die dies für die Intermedialität erörtert, wäre danach zu fragen, „wie sich ästhetisch wirksame intermediale Strukturen von einer immer schon vorhandenen intermedialen bzw. hybriden Grundstruktur des Films überhaupt abheben“110. Für eine intermateriale Perspektive bedeutet das zu untersuchen, auf welche Art und Weise ein Film die Schrift in ihrer Materialität inszeniert. Auch hierbei ergeben sich verschiedene Möglichkeiten. So kann Schrift auf einem Trägermaterial als Bestandteil der Handlung vorkommen, ebenso aber als Zwischentitel oder Teil der Mise en Scène erscheinen. Diese Beschreibungen beziehen sich indes immer nur auf einzelne Szenen. Als Ganzes betrachtet zeichnen sich Filme durch die Kombination verschiedener intermaterialer Verfahren aus. Gleiches gilt für die Bühnenkompositionen, in denen jeder Akt bzw. jedes Bild eine neue Relation von Materialien herstellen und zugleich Formen der indirekten und direkten Intermaterialität miteinander kombinieren kann. Das Theater birgt somit das Potential für die intensivsten Grade intermaterialer Kunst, und dies auch deshalb, weil durch die Anwesenheit des Zuschauers und den Einsatz ganz verschiedener Materialien wie Licht, Ton oder Nebel alle Sinne des Rezipienten angesprochen 109 Der Begriff Apräsenz wird hier gegenüber dem Terminus Absenz bevorzugt und ganz bewusst als ein Paradoxon verwendet, da durch den Rekurs auf das abwesende Material dieses aktualisiert und damit – zumindest in der Vorstellung – präsent ist. 110 SIMONIS 2010: 14.
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werden können. Bei der Analyse intermaterialer Bühnenstücke gilt es überdies zu berücksichtigen, dass wir es mit einer Prozessualität und Performanz des Materials zu tun haben. Dieses wird nicht nur in seiner Materialität ausgestellt, sondern zugleich als Ereignis inszeniert. Die Materialien unterstützen dabei nicht einfach die Handlung, sondern agieren selbst in Handlungsrollen. Für die intermaterialen Bezüge ergibt sich daraus die Frage nach ihrer qualitativen Relation. In ihren extremen Polen können Bühnenmaterialien parallel, also ergänzend, oder kontrastiv, d.h. gegeneinander, verwendet werden. Ob ihre Wirkung indes auch als solche wahrgenommen wird, ist abhängig von der Rezeptionskompetenz des Zuschauers und nicht rekonstruierbar. Das gilt freilich auch für die Text-Bild- und Schrift-FilmRelationen, allerdings muss sich die Untersuchung der Theaterstücke auf die konzeptuelle Anlage der Intermaterialität in den Bühnenkompositionen stützen. Ob jedoch faktische oder konzeptuelle Intermaterialität – bei allen drei künstlerischen Interaktionsbereichen, die in dieser Studie in den Blick genommen werden, kann die Kategorie der Intermaterialität zu einer fruchtbaren, differenzierten Betrachtung und Benennung beitragen, ebenso wie sie selbst durch die vielfältigen intermaterialen Kunstgebilde des Expressionismus an Profil gewinnt.
III. Die Konvergenz der Künste. Intermateriale Programmatik im Expressionismus
Z WISCHEN I MMATERIALITÄT
UND
M ATERIALITÄT
Die Forderungen nach einer Verbindung der Künste im Expressionismus unterscheiden sich von vorherigen Konvergenzbestrebungen etwa in der Romantik oder im Jugendstil in einem entscheidenden Punkt: Sie basieren auf der Entdeckung des Materials. Zwar entwickelt sich zwischen 1910 und 1925 ein epochen- und länderübergreifender Materialitätsdiskurs,1 für den Expressionismus charakteristisch ist jedoch die Forderung nach dem „Einsatz betont ‚roher‘ Materialien“2. Durch die Radikalisierung der je eigenen ästhetischen Verfahren (Farb- und Formintensivierung in der abstrakten Malerei, Sprachreduktionismus in der Literatur, Abkehr von der traditionellen mimetischen Bühnenkunst, Disharmonien in der Neuen Musik) sind es im Expressionismus die künstlerischen Materialien selbst, die aufeinander bezogen werden. Seine umfassende theoretische Erörterung erfährt dieses Zusammenwirken in den Programmatiken des Expressionismus, die zu regelrechten Postulaten der künstlerischen Verbindung verschiedenster Richtungen erhoben werden. In diesem Kapitel geht es darum, diese Schriften auf ihre materialästhetischen Begründungen hin zu untersuchen und die daraus abgeleiteten intermaterialen Konzepte aufzuzeigen. Der Fokus richtet sich demnach auf theoretische Texte, in denen Antworten auf Fragen gegeben werden wie: Was ist Kunst? Wo verlaufen die Grenzen der Künste? Welche Eigenschaften liegen den jeweiligen Künsten zugrunde und wie können diese materialiter verbunden werden? Im Expressionismus sind diese Problemkomplexe häufig in den größeren Kontext gesellschaftlicher oder religiöser Theorien eingebunden. Wie Yvan Goll schreibt, soll der Expressionismus nicht bloß Kunstform, sondern „Erlebnisform“3 sein. Vor diesem Hintergrund stellt sich 1
METZLER 2003: 68-88.
2
WAGNER 2001a: 875.
3
GOLL 1914: 9.
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die Frage, wie der im Expressionismus weit verbreitete Glaube an ein geistiges Empfangen der künstlerischen Idee mit dem Reduktionismus auf die Materialität einhergehen kann. Schlagworte wie „Geistige Wendung“ 4 , „Vergeistigung der Kunst“5 oder „geistige Revolution“6 scheinen ganz im Gegenteil auf eine Überwindung des Materiellen abzuzielen. Konform hierzu spricht die Forschung von einem „Primat des Geistigen gegenüber dem Materiellen“7 oder identifiziert den Expressionismus gar mit der geistigen Kunst.8 Das Geistige im Expressionismus verbindet dabei sowohl die politisch-vitalistischen Bestrebungen Heinrich Manns, Erich Mühsams, Kurt Hillers oder Ernst Blochs als auch die – für die Untersuchung der intermaterialen Bestrebungen zentralen – esoterisch-mystischen bei Franz Marc, Wassily Kandinsky, Lothar Schreyer oder Johannes Itten. Angeregt durch eine Rückbesinnung auf die mittelalterliche Mystik eines Jakob Böhme sowie zeitgenössische Bestrebungen der Theosophie Rudolf Steiners gilt diesen Autoren Kunst als spirituelles Erlebnis, in dem es auf den ersten Blick um eine Sublimierung des Materiellen zum Immateriellen geht. Dass das Material allerdings nicht bloß als Durchgangsstation fungieren kann, sondern notwendig Eigenwert gewinnt, ist den Expressionisten deutlich bewusst. Als zentrale Konfliktlage des Expressionismus beschreibt Eckart von Sydow daher diese Relation: „Expressionistische Kunst ist Ausdruck der problematischen Mischung des Hinstrebens zum Göttlichen, Begrifflichen und des Willens, neu gekräftigt wieder an das Tagewerk der Zeitlichkeit zu gehen.“9 Die hier als problematisch qualifizierte Beziehung zwischen dem Spirituellen und dem Realen wird indes von vielen Künstlern in den 1910er Jahren zur Tugend gemacht. In vielen Programmschriften finden sich Passagen, die das Verhältnis von Immateriellem/Geistigem und Materiellem/Wirklichem weniger hierarchisch als vielmehr in wechselseitiger Abhängigkeit konzipieren. „Weltfremdheit heißt aber auch nicht mehr Weltferne“, schreibt beispielsweise Ludwig Rubiner, „sondern äußerste Weltnähe; nämlich die Nähe des Schöpfers, des Menschen, zu seiner Schöpfung.“10 Auch wenn hier noch die der traditionellen Geist/Materie-Dichotomie zugrunde liegende Zuschreibung von aktiv und passiv virulent ist, zeigt sich doch eine Behandlung beider Konzepte im Sinne eines (paradoxen) Aufgehens ineinander. Ausdrücklich formuliert dies Kandinsky mit seiner Gleichung „Realistik = Abstraktion,
4
KANDINSKY 1912a: 34.
5
HERZOG 1919/20: 568.
6
SYDOW 1918/19: 243.
7
METZLER 2003: 71.
8
Vgl. ANZ 2002: 60.
9
SYDOW 1918/19: 245.
10
RUBINER 1917: 219.
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Abstraktion = Realistik“11 und der damit vollzogenen Engführung zweier extremer vom „Geiste aus der Vorratskammer der Materie herausgerissenen Verkörperungsformen“12 von Kunst. Noch deutlicher wird er in einer Fußnote seiner Schrift Über das Geistige in der Kunst. Dort heißt es: Es ist hier oft die Rede vom Materiellen und Nichtmateriellen und von den Zwischenzuständen, die ‚mehr oder weniger‘ materiell bezeichnet werden. Ist alles Materie? Ist alles Geist? Können die Unterschiede, die wir zwischen Materie und Geist legen, nicht nur Abstufungen nur der Materie sein oder nur des Geistes? [...] [E]s genügt, wenn keine zu scharfen Grenzen gezogen werden.13
Was Wassily Kandinsky an dieser Stelle andeutet, nämlich Geist und Material als identisch zu verstehen, darauf zielt explizit eine Differenzierung von Oswald Herzog. So unterscheidet dieser einen abstrakten von einem materiellen Expressionismus, der sich konkreter Gegenstände zur Gestaltung bedient, während bei ersterem Geist und Objekt in einem schöpferischen Akt zusammenfallen: „Er [der abstrakte Expressionismus, C.K.] gestaltet geistiges Geschehen körperlich, er schafft Objekte“14. Auch der abstrakte Expressionismus muss sich folglich in irgendeiner Weise materialisieren, um wahrnehmbar zu sein. Entscheidend ist dabei, dass er das Geistige selbst ausdrückt. Das Material fungiert nicht mehr als Abbildung äußerer Erscheinungen, sondern wird in seiner Materialität als Verkörperung des Geistigen wirksam. Mit der vorgenommenen Unterscheidung beschreibt Herzog zwei verschiedene Pole des materialen Umgangs im Expressionismus: eine Verwendung des Materials mit referentiellen Bezügen und ein rein abstrakter Gebrauch. Für beide gilt, dass die umfassende Erkundung des Materials im Expressionismus in keinem Widerspruch zur Forderung nach einer geistigen Wende steht, sondern ein wesentlicher Bestandteil der immateriellen Bestrebungen selbst ist. In dieser Spannungslage zwischen Immateriellem und Materiellem bewegen sich auch die Forderungen nach einer intermaterialen Konvergenz der Künste im Expressionismus. Bereits an dieser Stelle kann angedeutet werden, dass gerade die Vereinigung der Künste ein geeignetes Modell bereitstellt, dem Geistigen adäquat Ausdruck zu verleihen. Insofern das Geistige mit den Vorstellungen von Ganzheit und Totalität verknüpft ist, kann die Verwendung mehrerer Materialien diesem universalistischen Anspruch am stärksten gerecht werden. Neben diesen esoterisch inspirierten Vereinigungsbestrebungen gibt es indes noch weitere Motivationen zur 11
KANDINSKY 1912b: 156.
12
Ebd.: 147.
13
KANDINSKY 1912a: 34. [Herv. i.O.]
14
HERZOG 1919/20: 567. [Herv. i.O.]
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intermaterialen Verbindung. So werden die expressionistischen Kunstkonvergenzen begleitet von Forderungen nach einer wissenschaftlichen Erforschung der Wechselverhältnisse. Zum Spätexpressionismus verschieben sich die Interessen insgesamt hin zu einer rationalen Betrachtung der Künste – vor allem ihrer Gesetzmäßigkeiten und formalen Äquivalenzen – sowie einer provokativen Ausdehnung auf bis dato nicht-künstlerische Materialien. Dieser Prozess und die verschiedenen Begründungen von Kunst als materialbedingtes Interaktionssystem sollen im Folgenden aufgezeigt werden.
D IE W ISSENSCHAFT
DER Ü BERTRAGUNG . O SKAR W ALZEL UND DIE WECHSELSEITIGE E RHELLUNG DER K ÜNSTE Ich rufe nach einer Erhellung der Betrachtung von Poesie durch die Betrachtung der bildenden Kunst. OSKAR WALZEL
Als der Literaturwissenschaftler Oskar Walzel am 3. Januar 1917 seinen Vortrag über die Wechselseitige Erhellung der Künste vor der Berliner Abteilung der renommierten Kantgesellschaft hält, richten sich seine Ausführungen in erster Linie an ein wissenschaftliches Fachpublikum. Nicht eine Verbindung der Künste ist sein Ziel, sondern eine wechselseitige Anleihe bei den Disziplinen ihrer Erforschung. Die Beschäftigung mit seiner Abhandlung ist jedoch deshalb von Interesse, weil er für die Wissenschaft das in ähnlicher Weise formuliert, was ein Teil der Expressionisten für die Kunst programmatisch entwirft: eine wechselseitige Beeinflussung bzw. Betrachtung der Künste bei gleichzeitiger Behauptung ihrer Eigenständigkeit. Nachweislich setzt sich Walzel „damals aktuell mit den Problemen der expressionistischen Ästhetik auseinander[]“15 und würdigt dabei vor allem die Radikalisierung der Wortkunst sowie die Tendenz zur formalen Verknappung.16 Von dieser 15
ANZ/STARK 1982: 543.
16
Auseinandersetzungen mit dem Expressionismus als Gesamtbewegung dienen bei Walzel der apologetischen Herleitung einer Tradition, welche die eigenen Postulate historisch verbürgen soll. Vgl. WALZEL 1923: 270; WALZEL 1926: 112. Intensivere Beschäftigung erfährt die Lyrik des Expressionismus, im Speziellen Gedichte etwa von Franz Werfel, Georg Trakl, Georg Heym oder Albert Ehrenstein. Vgl. WALZEL 1916c; WALZEL 1917c. In seiner Literaturgeschichte Die deutsche Dichtung seit Goethes Tod untersucht Walzel zudem unter der Überschrift „Ausdruckskunst“ Dramen von Walter Hasenclever, Ernst Barlach, Paul Kornfeld, Georg Kaiser, Carl Sternheim, August
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formalistischen Perspektive her versteht sich auch sein eigener Ansatz zur wechselseitigen Erhellung der Künste. Wie bereits angedeutet, zielt die eingängige Formel von der wechselseitigen Erhellung der Künste nicht auf die Seite der Produktion, sondern soll für den Vorgang der wissenschaftlichen Rezeption konkreter Kunstprodukte einen Erkenntnisgewinn bringen, der mit den Mitteln der eigenen Disziplin nicht erreicht werden kann. Es geht also um die Frage, „ob der Erforscher einer Kunst fähig ist, von dem Erforscher einer anderen, einer Nachbarkunst die Augen zu leihen, um gewisse künstlerische Züge besser zu fassen, die ihm seine eigenen Betrachtungsweisen nicht hinreichend enthüllen.“17 Obwohl Walzel betont, damit einen neutralen Standpunkt einzunehmen, von dem aus eine Vergleichbarkeit erst möglich ist, geht es ihm um ein Verfahren, mit dessen Hilfe eine Kunstform weiter spezifiziert werden kann. 18 Die Bezugnahme auf eine andere Kunst dient also nur als Mittel und ist nicht selbst Zweck der Analyse. Zu Beginn seiner Studie macht er daher klar, dass es sich bei der Zuhilfenahme bestimmter Betrachtungs- und Erforschungsweisen anderer Disziplinen um einen ‚bloß‘ analogischen Transfer handelt, der im Moment der Erhellung zu verschwinden hat: Vielleicht kann man sich bei dem Bewußtsein beruhigen, daß alle diese Übertragungen mehr oder minder mit einem ‚Als ob‘ arbeiten. Sie schaffen Mittelbegriffe, Brücken, Leitern, Krücken und wie das alles heißt. Eine analogische oder symbolische Fiktion wird durch sie versucht. Sie sind ein brauchbares Mittel für die Forschung. Sie können verschwinden, wenn sie ihren Dienst geleistet haben. Dieser Dienst besteht in der Feststellung von Tatsachen, die auf anderem Wege schwer zu ergründen wären.19
Das Vokabular dieser Relativierung ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Zunächst resultiert es aus einer Rechtfertigungshaltung gegen Kunstpuristen, wie etwa den Experimentalpsychologen Ernst Meumann, der vor einer Vermischung ästhetischer Kategorien warnt und dessen Kritik mit der Einschränkung auf eine temporäre Stramm, Lothar Schreyer, Herwarth Walden u.a. Hier findet sich eine interessante Stelle, die Bezug nimmt auf zwei Einakter Oskar Kokoschkas: „Der Maler Oskar Kokoschka verrät in seinen Schauspielen ‚Der brennende Dornbusch‘ und ‚Mörder Hoffnung der Frauen‘, wie er sich die Zeichnung der starken Umrisse in dichterischer Formung denkt.“ WALZEL 1919: 311. Obwohl Walzel damit die Reduktion auf Handlungstypen meint, dokumentiert der Abschnitt wohl das einzige Mal eine in Ansätzen vorgenommene Bezugnahme der wechselseitigen Erhellung der Künste auf den Expressionismus. 17
WALZEL 1917a: 9.
18
Vgl. ebd: 74, 90.
19
Ebd.: 10.
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Übertragung die Stoßrichtung genommen werden soll.20 Darüber hinaus offenbart der formulierte Status des Fiktionalen, dass dem Konzept Walzels eine Trennung der Künste zugrunde liegt, die auch für neuere Theorien zur Intermedialität wie etwa Irina Rajewskys Darlegung intermedialer Bezüge grundlegend ist.21 Wo allerdings Rajewsky für die Künste Illusionsbildungen qua eigener Mittel unterstellt, sind es bei Walzel die Betrachtungsweisen einer anderen Disziplin, die herangezogen werden und somit indirekt die Fiktion einer Ähnlichkeit der Künste erzeugen. Für beide gilt aber, dass sie eine Rekursivität unterstellen, die die Annahme einer Spezifik von Künsten bestärkt. Zum Dritten beugt der Anspruch, zur Aufdeckung von Tatsachen beizutragen, einer Einordnung der eigenen Position in eine Praxis vor, die im Sinne subjektiver Einschätzungen zu „Stimmungsvergleichen“22 neigt. Gegen derartige pseudoästhetischen Urteile, die auf keinen wissenschaftlichen Kriterien beruhen würden, sondern allein aufgrund individueller Wahrnehmungserfahrungen geschähen, verpflichtet sich Walzel auf eine so genannte logische Vorgehensweise, wobei er darunter den Nachweis und die Prämisse formaler Adäquatheit meint. „Sachliche Übereinstimmung der Künste erlaubt allein, gleiche Mittel der Erforschung anzuwenden.“23 Hierbei zeichnet sich allerdings ein Widerspruch ab, der das ganze Modell durchzieht, nämlich auf der einen Seite eine formale Äquivalenz hinsichtlich bestimmter Aspekte der Künste zu behaupten, die einen Vergleich allererst möglich macht, und auf der anderen Seite nicht nur von einer ‚symbolischen Fiktion‘ zu sprechen, sondern mit diesem Vergleich sogar noch Typisches und Charakteristisches einer Kunstart aufdecken zu wollen. So spricht Walzel von dem „eigentümlichen Schönen der Dichtung“ und dem „Wesentliche[n] im Kunstwerk des Dichters“24, das er mithilfe begrifflicher Entwicklung in der bildenden Kunst erhellen möchte, betont aber an anderer Stelle eine „Art innere Gesetzlichkeit […], die für Werke verschiedenster Künste gilt“25. Wenn aber eine solche Gesetzmäßigkeit oder Formgleichheit besteht, dann fragt sich natürlich 1., warum überhaupt eine andere Kunst herangezogen werden muss, da die formale Auffälligkeit auch ohne einen Vergleichsakt zu entdecken wäre, und 2. konträr dazu, ob eine solche Annahme nicht eine klare Unterscheidbarkeit der Künste unterminiert. Nach Walzel ließe sich die erste Frage mit dem Verweis darauf beant20
Walzel bezieht sich auf Meumanns Habilitationsschrift Untersuchungen zur Psychologie und Ästhetik des Rhythmus aus dem Jahr 1894.
21
Rajewsky spricht von einem „‚Als-ob‘-Charakter“ intermedialer Bezüge, der aus der Differenz zum ‚imitierten‘ Medium resultiert. Vgl. RAJEWSKY 2002: 39.
22
WALZEL 1917a: 6, 57; vgl. auch WALZEL 1923: 267.
23
WALZEL 1917a: 57.
24
WALZEL 1923: 268, 273. [Herv. C.K.]
25
WALZEL 1917a: 74.
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worten, dass bestimmte Forschungszweige stets eine Vorreiterrolle in der Entwicklung präziser Beschreibungsverfahren spielen, die dann auch für andere Richtungen fruchtbar gemacht werden können und so die Übereinstimmungen allererst aufdecken; unbeantwortet bleibt allerdings, wie die Idee einer Entsprechung zusammengeht mit der vorausgesetzten Trennung von Kunstarten, die durch eine Rhetorik des Wesenhaften noch potenziert wird. Walzels Entwurf fehlt hier eine Scharnierstelle, die zwischen beiden Polen vermitteln könnte. Eine Erklärung für diesen Umstand mag aus dem zugrunde liegenden Kunstverständnis abgeleitet werden, das unter Berufung auf die formale Ästhetik Johann Friedrich Herbarts für eine Aufwertung der Form plädiert.26 Entgegen der durch Kant begründeten und durch Hegel forcierten Annahme, die Gestalt (Form) sei bloß Ausdruck des Gehalts (Inhalts) und somit nur als Vermittlungsinstanz relevant, spricht Walzel sich für eine heuristische Trennung beider aus und mahnt zu einer Rehabilitierung der Form. Seine Schriften sind in diesem Sinne als Entwurf und Demonstration einer Gestalt- und Materialästhetik zu lesen, die die Form als die „eigentliche künstlerische Leistung“ 27 anvisieren. Unter Gestalt versteht Walzel dabei dreierlei: die Bearbeitungsweise eines Materials, die Formwerdung einer künstlerischen Idee und die durch die Form bedingte Wirkungsweise auf die Sinne des Rezipienten. Walzel geht es demnach um die Erscheinung eines Kunstgebildes, das Arrangement seiner Einheiten zu einem Ganzen, die Art seiner Bauweise und Struktur, kurz: die künstlerische Verwendungsweise des Materials.28 Für die wechselseitige Erhellung der Künste ist entscheidend, dass diese Gestaltungsprinzipien, die eine Kunstform determinieren, zugleich mit anderen Künsten geteilt werden 26
Vgl. WALZEL 1915. Die Auseinandersetzung mit Herbart geschieht im Sinne einer kritischen Affirmation. Walzel adaptiert und bekräftigt dessen Formästhetik, macht aber auch klar, dass er die Einschränkung auf eine schöne Form, die Ausrichtung an Geschmacksurteilen und die Ablehnung einer Gattungstheorie nicht mitgeht und eine stärkere Konzentration auf die Verfasstheit des Kunstgebildes selbst anstrebt.
27
Ebd.: 97.
28
Wie Herta Schmid in ihrer fundierten Aufarbeitung der Ästhetik Walzels hervorhebt, spielt darüber hinaus der Begriff der inneren Form eine zentrale Rolle. Dieser unterscheidet sich von jenem der äußeren Form, der als Paradigma vorgegebener Gattungsund Ordnungsmuster konzeptualisiert ist. „Das eigentlich Spezifische, sowohl den Inhalt wie die äußere Form Spezifizierende und Individualisierende ist die innere Form. Für sie gibt es nichts Präexistierendes, sondern sie wird mit jedem Kunstwerk neu geschaffen.“ SCHMID 2004: 25. Schmid weist selbst an späterer Stelle darauf hin, dass bei Walzel bestimmte Muster, insbesondere Gattungsformen, strukturbildend für das jeweilige Kunstwerk sind, und sich so über den individuellen Stil als innere Formung ein übergreifender Stil legt, der die Charakteristik einer Epoche ausmache. Vgl. ebd.: 30f.
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können. Damit ist auch ein Erklärungsansatz für die oben festgestellte paradoxe Anlage gegeben: Insofern Walzel das Künstlerische in den Gestaltungsprinzipien ausmacht, also in der Verwendung von Materialien, ist eine Analogiebildung bei gleichzeitiger Behauptung der Eigenständigkeit möglich. Künste vermögen demnach bestimmte Prinzipien und Verfahren zu teilen – wie etwa die räumliche Anordnung von Teilen zu einem Ganzen in Architektur und Literatur –, ohne darin ihren autonomen Status zu verlieren, der ihnen durch ihr Material zukommt. Trotz der weiten Anlage seiner Parole der wechselseitigen Erhellung, die potentiell alle Forschungsfelder zu einer vergleichenden Betrachtung aufruft, stehen Walzels Exempla und Anwendungen unter dem Zeichen der eigenen Provenienz als Literaturwissenschaftler. Sein Hauptaugenmerk gilt daher der Erforschung der Dichtkunst vor allem durch Bezugnahmen auf die bildende Kunst, aber auch unter Zuhilfenahme der Musik.29 Neben Wilhelm Worringer, August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schiller rekurriert er insbesondere auf Heinrich Wölfflin und dessen Kunstgeschichtliche Grundbegriffe (1915), die als Grundlage der eigenen Ausführungen dienen.30 Wölfflin entwickelt darin eine Reihe von Gegensatzpaaren, mithilfe derer er die Gestaltungs- und Stilprinzipien der bildenden Kunst in der Renaissance und des Barocks unterscheidet. Es handelt sich um die Dualismen von Linearem und Malerischem, Flächenhaftem und Tiefenhaftem, geschlossener (Tektonik) und offener Form (Atektonik), Vielheit und Einheit sowie absoluter und relativer Klarheit des Gegenständlichen. Wo Wölfflin allerdings einen historischen Erklärungsansatz liefert, der insofern auf ein zyklisches Stilmodell abzielt, als er über Renaissance und Barock hinaus epochale Abläufe mithilfe einer sich abwechselnden Dominanz der entwickelten Gestaltungsreihen erklärt, geht es Walzel bei der wechselseitigen Erhellung der Künste um eine Übertragung und Verengung des
29
Aus der Musik überträgt Walzel die Leitmotivik auf die Dichtung. Vgl. WALZEL 1917b.
30
Obwohl Walzel von Worringers Formproblemen der Gotik (1911) stark beeinflusst ist und sich um den Nachweis einer darin wirksamen wechselseitigen Erhellung bemüht, belässt er es bei einem kurzen Rekurs – zu sehr gehen die eigene Gestaltästhetik und die bei Worringer betriebene Rückbindung der Form auf die seelische Konstitution der künstlerischen Persönlichkeit auseinander. Vgl. WALZEL 1917a: 25-29; WORRINGER 1911. Von Wilhelm Schlegel übernimmt und kritisiert Walzel den Gegensatz plastischer und pittoresker Gestaltungsprinzipien, der sich historisch in antiker und moderner Kunst manifestiere (vgl. WALZEL 1917a: 33-37), von Schiller denjenigen von musikalischer und plastischer Dichtung (vgl. ebd.: 74-77), wie dieser ihn in Über naive und sentimentalische Dichtung anhand der Gedichte Klopstocks einführt. Vgl. SCHLEGEL 1798-1803: 301, 476; SCHILLER 1795/96: 756f.
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historischen Modells auf den einzelnen, zumeist dramatischen Text.31 Obwohl sich die jeweiligen Elemente wechselseitig bedingen, könne es dabei nicht um den dogmatischen Nachweis jeweils aller Einheiten einer Stilreihe gehen, sondern um eine selektive Nutzbarmachung für die Beschreibung der ästhetischen Form eines literarischen Textes. In der Diskussion um die Übertragung der fünf Gegensatzpaare auf die Dichtkunst schließt Walzel mit Vielheit und Einheit sowie absoluter und relativer Klarheit des Gegenständlichen von vornherein zwei für eine nähere Betrachtung aus, da sie ohnehin „auf allen geistigen Gebieten anzutreffen“32 seien. Nach neuerer Terminologie der Intermedialitätsforschung handelt es sich also um transmediale Faktoren, die nicht an eine bestimmte Kunstform gebunden sind.33 Genau anders herum verhält es sich mit Flächenhaftem und Tiefenhaftem, die als perspektivische Qualitäten genuin der bildenden Kunst zuzuordnen seien. Ihre Übertragung auf die Zeitkunst Literatur wird von Walzel denn auch recht knapp betrieben, indem er die Möglichkeit andeutet, dass in der Unterscheidung von gleichwertigem Auftritt eines Figurenensembles (klassisches französisches Drama) und der Dominanz einiger weniger Figuren (Drama Shakespeares) eine Entsprechung für Wölfflins Dichotomie liegen könnte.34 Einen relativ breiten Raum in seinen Ausführungen nimmt die Diskussion um das Lineare und das Malerische ein. Voraussetzung für einen Transfer auf die Dichtkunst ist dabei, dass der betreffende Text einem mimetischen Kunstverständnis verpflichtet ist. „Lineare oder malerische Technik herrscht dann nur bei dem Dichter, der vor unser inneres Auge Gegenstände zaubern will.“ 35 Fallen aus dem Anwendungsspektrum damit all jene literarischen Texte heraus, die im weitesten Sinne eher abstrakt und selbstreflexiv verfahren, so stellt sich Walzel mit dem Anspruch des Visiblen in eine Traditionslinie, die in der antiken Engfüh31
Sieht man von der Engführung von Barockkunst und Impressionismus und den heute merkwürdig anmutenden Versuchen ab, Volksstile voneinander unterscheiden zu wollen, so präferiert Walzel eindeutig eine analytische, d.h. synchrone, auf das einzelne Kunstprodukt bezogene Literaturwissenschaft gegenüber einer synthetischen, d.h. diachronen und literaturgeschichtlichen Forschung. Vgl. SCHMID 2004: 22. Zur Unterscheidung von analytischer und synthetischer Literaturwissenschaft vgl. WALZEL 1910.
32
WALZEL 1917a: 58.
33
Unter Transmedialität ist die medienübergreifende Verwendung von Themen, Stoffen oder Motiven zu verstehen, die keinem spezifischen Medium zugeordnet werden können. Vgl. hierzu RAJEWSKY 2002: 13. Anders definiert Leo Hoek Transmedialität als Transposition eines semiotischen Komplexes in einen anderen. Diese Übertragung ist jedoch mittlerweile als Medienwechsel bestimmt. Vgl. HOEK 1995: 77.
34
WALZEL 1917a: 59.
35
Vgl. ebd.: 60.
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rung von Dichter und Seher ihren Ausgang nimmt und innerhalb der neueren Literaturgeschichte vor allem von E.T.A. Hoffmann aufgegriffen und im serapiontischen Prinzip zu einer Poetik der Anschauung verdichtet wird.36 Bei Walzel spielt das Konzept der Anschaulichkeit dahingehend eine dominante Rolle, dass es die Schnittstelle markiert, an der der literarische Text für die Bildhaftigkeit durchlässig wird. Die Engführung beider geschieht nicht über das Moment der Schriftbildlichkeit, sondern über die Charakteristik dessen, was im Akt der Lektüre vorgestellt wird. Erst das Imaginierte befähigt zu einem Vergleich der Künste, d.h. überall dort, wo Literatur in ihrer Darstellungsweise um eine Sichtbarkeit des Dargestellten bemüht ist, kann sie hinsichtlich der bildlichen Kriterien des Linearen als einer „Umrißtechnik“ und Malerischen als „Technik der Farben und des Lichts“ beurteilt werden.37 Walzel geht indes noch über das Paradigma der Anschaulichkeit hinaus und leitet aus den beiden Kriterien zwei generelle Tendenzen der Literatur ab: Eine Dichtkunst einerseits, die auf Reinheit und Strenge der Absonderung, auf Einfachheit ausgeht, die sich auf das Wesentliche beschränkt, die isoliert, die auf materielle Reize verzichtet. Und eine Dichtkunst andererseits, die es auf lebendigste Gegenwart anlegt, materielle Reize anstrebt, nicht rein und strenge absondert, sich nicht auf das Wesentliche einschränkt, die einzelnen Eindrücke zu einem bunten Reigen verknüpft.38
Mit den materiellen Reizen ist an dieser Stelle offenkundig nicht die Materialität der Schrift gemeint, sondern im metaphorischen Sinne das Materielle, das durch die Beschreibung visuell erzeugt wird. Allerdings bleibt dieses in der Argumentation notwendig an die literarische Form gebunden. Das Malerische und das Lineare als bildnerische Vorstellungen sind ausschließlich über eine angemessen Verwendung des sprachlichen Materials erzeugbar. Walzel unterschlägt in seiner Kategorisierung der Dichtkunst zudem den notwendigen und variablen Anteil einer Rezeptionskompetenz, die bei jeder Lektüre wirksam ist und seinen Anspruch eines logischen Vergleichs notwendig unterminiert. Nicht jeder formstrenge literarische Text verwehrt einem Leser eine anschauliche, imaginativ stimulierende Lektüre. Auch ist fraglich, ob sich Literatur immer klar in die hier dargestellten Pole scheiden lässt oder nicht vielmehr ein gradueller Ansatz produktiver ist. Der Hang zur Kontrastierung resultiert letztlich daraus, dass Walzel die Gestaltungsprinzipien Wölfflins auf die traditionelle Dreiteilung bildender Kunst – Skulptur, Malerei und Architektur – bezieht. Während die ersten beiden Gattungen als Vorlagen für die Zuordnung in 36
Vgl. KLEINSCHMIDT 2009. Zur Begriffs- und Konzeptgeschichte der Anschaulichkeit
37
WALZEL 1917a: 61.
38
Ebd.: 62.
vgl. WILLEMS 1989.
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eine klar konturierte Dichtkunst (linear) einerseits und eine karnevaleske, ‚unscharfe‘ (malerisch) andererseits fungieren, firmiert die letztere in der wohl wichtigsten Dichotomie von geschlossener und offener Form bzw. Tektonik und Atektonik. Von den fünf Gegensatzpaaren stellt sie das Einzige dar, das der Literaturwissenschaft, insbesondere der Dramentheorie, Impulse hat geben können, gleichwohl es nicht im Sinne Walzels weiterentwickelt wurde.39 Ihm zugrunde liegt eine wiederum auf Herbart zurückgehende Kritik an der von Lessing propagierten Trennung von Raum- und Zeitkunst. Danach müsse nicht nur ein Bauwerk hinsichtlich seiner sukzessiven Wahrnehmungsweise neu bewertet werden, sondern vor allem das literarische Kunstgebilde in der Anordnung seiner Teile zu seinem (räumlichen) Ganzen. In Abgrenzung und Fortführung der von Alois Riehl aufgestellten inhaltlichen Analogie von Elementen in einem Bauwerk und figuraler Anordnung im Drama geht es Walzel im Sinne seiner Gestaltästhetik um Äquivalenzen der formalen Struktur: Ich hingegen lege allen Wert auf die Funktion, die innerhalb des Dramas dem einzelnen Auftritt und dem einzelnen Aufzug zukommt. Das scheint mir wenigstens die eigentliche Bedeutung dichterischer ‚Komposition‘, also der Architektonik eines Dichtwerks zu sein. Natürlich kann auch in Riehls Sinne von Architektonik gesprochen werden. In meinem Sinne hingegen m u ß von Architektonik die Rede sein; denn da dreht es sich tatsächlich um das gleiche Geschäft, das dem Architekten zufällt, wenn er einen Bau einerseits zu einem äußeren Zweck errichtet, andererseits zu einer ästhetischen Leistung emporhebt.40
Wie Herta Schmid betont, fehlt Walzels Konzept eine zeichentheoretische Fundierung,41 dennoch weist sein Ansatz durchaus einige protostrukturalistische Akzente auf, da er einen Text als geschlossene Größe begreift, dessen Elemente im Sinne der strukturalistischen Tätigkeit Roland Barthes’ segmentiert und hinsichtlich ihres „Strukturzusammenhanges“42 bestimmt werden können. Wo Barthes allerdings mit dem Begriff des simulacrum operiert,43 sieht Walzel im Sinne seiner Verpflichtung auf eine wechselseitige Erhellung die simultane Formganzheit eines Textes nicht per se gegeben, sondern – nach Abschluss der Lektüre – als Erinnerungsbild vermittelt, das in seinem Grundriss aufgezeichnet und hinsichtlich ornamentaler und zweckhafter Elemente unterschieden werden könne. Bleibt er, trotz Ankündigung, eine solche zeichnerische Darstellung schuldig, so findet die architektonische Per39
Vgl. KLOTZ 1960.
40
WALZEL 1917a: 71. [Herv. i.O.]
41
Vgl. SCHMID 2004: 29.
42
WALZEL 1923: 281.
43
Vgl. BARTHES 1966: 217, et passim.
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spektive immerhin in der Untersuchung der Dramen Shakespeares ihre Anwendung.44 Ganz konkret geht es dabei um das Verhältnis von inhaltlicher Entwicklung und Akteinteilung sowie die Funktion der Einzelteile innerhalb des Gesamtaufbaus. Wie unter anderem anhand von Antonius und Cleopatra oder König Lear exemplifiziert, bestimmt Walzel Shakespeare als Dichter des Atektonischen, dem es – anders als die strenge, um eine Zentralachse formierte Gliederung des klassischen französischen Dramas von Racine oder Corneille – um ein dezentrales und dynamisches Arrangement der Einzelteile gehe. Obwohl gerade die Analysen zu Shakespeare an vielen Stellen holzschnittartig wirken, weil sie um den dogmatischen Nachweis einer Nähe zur Barockmalerei bemüht sind, bietet zweifellos die Anleihe bei den Raumkünsten für derartige Analysen wichtige Impulse. Allerdings ist fraglich, ob es tatsächlich der Zuhilfenahme der Architektur bedarf, um zu erkennen, dass sich aus der Relationssetzung einzelner Akte und Figurenauftritte eine je verschiedene Bedeutsamkeit des Ganzen ergibt. Walzel selbst schreibt in der Neubearbeitung seines Vortrags für das Handbuch der Literaturwissenschaft von 1923, dass man für den gleichen Sachverhalt auch den „bildlosen Begriff des Zusammenhangs und der wechselseitigen Bedingtheit, die zwischen einem Ganzen und dessen Teilen besteht“45, heranziehen könne. Gerade letzteres hat sich aber innerhalb der philologischen Tradition zum Modell des hermeneutischen Zirkels ausgeprägt, der jedoch bei Walzel – gewiss aufgrund seiner sukzessiven Anlage – keine Erwähnung findet. Walzels Entwurf ist insgesamt nicht ohne Kritik geblieben. Neben zeitgenössischen harschen Distanzierungen46 hält etwa Gerhard Kluge ihm vor, dass er Wölfflins stilgeschichtliche Ausrichtung auf eine terminologische Präzisierung hin verenge, ohne dies kenntlich zu machen.47 Darüber hinaus attestiert Peter Zima dem Kategorienkatalog, zu vage und unverbindlich zu sein, als dass er ernsthaft literaturwissenschaftlich nutzbar gemacht werden könne, weshalb sich Walzel im Zwischen der Künste verliere.48 Unter der Perspektive des Intermaterialitätskonzepts lässt sich schließlich ein weiterer Kritikpunkt formulieren, der ebenfalls das Ver44
WALZEL 1916a; WALZEL 1916b.
45
WALZEL 1923: 280. [Herv. C.K.]
46
So schreibt August Schmarsow, den Walzel eigentlich als einen Advokaten in eigener Sache bemüht, in einer Rezension der Zeitschrift für Ästhetik von 1920: „Leider muß ich, erst spät auf das Büchlein aufmerksam gemacht, sogleich anfangs erkennen, wie fern dem Literaturhistoriker diese anschaulichen Dinge liegen, nach denen er gierig greift. Und dabei laufen ihm Verwechslungen und Irrtümer an so ausschlaggebenden Stellen unter, daß ich Einspruch dagegen erhebe, solches Zeug überhaupt unter meinem Namen zu verbreiten“. SCHMARSOW 1920: 171.
47
Vgl. KLUGE 1977: 575f.
48
ZIMA 1995: 18f.
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hältnis der Künste betrifft. So argumentiert Walzel in Auseinandersetzung mit Schillers Konzept der musikalischen Dichtung, es sei für einen Vergleich von Literatur und Musik ratsam „alles Akustische der Dichtkunst ganz auszuschalten“ und spricht sogar davon, „[w]ie gefährlich es ist, das Akustisch-Musikalische der Dichtkunst heranzuziehen“49. Ganz offensichtlich sind ihm also jene faktischen Anteile in den Materialeigenschaften bewusst, die zu einer wirklichen Überwindung der Kunstgrenzen führen könnten, doch sie werden zugunsten einer vagen Vorstellung innerer Gesetzmäßigkeit übergangen – was umso erstaunlicher ist, da Walzel ja gerade für eine Gestaltästhetik einsteht. Mehr noch, die Loslösung von materialen Analogien geschieht in dem Verständnis, dass eine Übertragung ausschließlich dann stattfinden könne, wenn erstens auf jegliche materiale Überlappung der Künste selbst verzichtet wird und zweitens die Beschreibungsverfahren ausschließlich anderen Disziplinen entnommen sind. Die wechselseitige Erhellung der Künste, die meist unreflektiert im Sinne einer Verifizierung der Parole zitiert wird, kehrt sich so – um im Bilde zu bleiben – in eine bewusste Verdunklung tatsächlicher materialer Verwandtschaft. Während zwar die Gestaltung der Künste von Walzel in Analogie gedacht wird, sind deren intermaterialen Eigenschaften von der wissenschaftlichen Erforschung unberührt. Eine solche Annäherung bleibt den genuin künstlerischen Programmatiken des Expressionismus vorbehalten.
A BSTRAKTE W ENDE ▪ S EELISCHE V IBRATIONEN . W ASSILY K ANDINSKY UND DER Z USAMMENKLANG DER K ÜNSTE [N]ie standen in den letzten Zeiten die Künste, als solche, einander näher als in dieser letzten Stunde der geistigen Wendung. WASSILY KANDINSKY
Die kunsttheoretischen Schriften von Wassily Kandinsky gehören zu den einflussreichsten und komplexesten innerhalb der expressionistischen Bewegung – und dies nicht zuletzt im Hinblick auf die materialästhetische Begründung einer Vereinigung der Künste. Vor allem Über das Geistige in der Kunst (1912), aber auch seine Arbeit als Mitherausgeber des Blauen Reiters (1912) und etliche Artikel, die in Essays über Kunst und Künstler (1955) sowie jüngst in einem Kompendium bisher unver49
WALZEL 1917a: 75. Als gefährlich erachtet Walzel die Benennung intermaterialer Anlagen der Künste deshalb, weil sie zu einer internen Hierarchie führten, wonach eine eigentliche, d.h. reine Kunst von einer uneigentlichen getrennt würde. Vgl. ebd.: 66f.
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öffentlichter Texte zusammengefasst sind,50 zeugen von einer umfassenden ästhetischen Reflexion, die weit über die malerische Tätigkeit Kandinskys hinausgeht. Obwohl er selbst der Theorie eine bloß rückwendige Funktion in der Kennzeichnung dessen zuschreibt, was durch das Gefühl in der Kunst innovativ entworfen wird,51 liegt damit ein theoretisches Konvolut vor, das erst spät mit der umfangreichen Habilitation Reinhard Zimmermanns seine gründliche Erforschung erfahren hat52 und in der Kunstgeschichte in erster Linie in Bezug auf die Begründung der abstrakten Malerei wahrgenommen wird. Weniger wirkungsmächtig, aber innerhalb der Gesamtkonzeption Kandinskys nicht minder wichtig, ist ein daraus abgeleitetes Zusammenwirken der Künste, vor allem im so genannten ‚monumentalen Kunstwerk‘, das in einer Traditionslinie mit der Idee des Wagner’schen Gesamtkunstwerks steht, dieses aber in entscheidender Weise variiert. Praktisch haben sich die intermaterialen und synästhetischen Auffassungen Kandinskys in Bühnenkompositionen, wie Der gelbe Klang (1911), Schwarz und Weiß, Grüner Klang (beide 1909), Violett (1911-1914), oder lyrischen Versuchen, wie dem illustrierten Gedichtband Klänge (1913), niedergeschlagen und weisen weit über die expressionistische Phase hinaus. So führt Kandinsky 1928 in Dessau selbst Regie mit einer Inszenierung zu Mussorgskys Bilder einer Ausstellung, für die er auch die Bühnenbilder entwirft.53 All diese Experimente haben sich weit weniger als seine Bilder ins kulturelle Gedächtnis eingeschrieben, sie werden von der Forschung aber zunehmend als das „eigentlich Zukunftsweisende des Maler-Dichters“54 betrachtet. Die intermaterialen Bestrebungen Kandinskys, die zugleich ein Plädoyer für die materiale Dignität der Künste darstellen, sind nicht zu verstehen ohne den Hintergrund seiner Gesellschaftskonzeption und der darin zugewiesenen Funktion von Kunst. Dem Modell zufolge lässt sich der geistige Entwicklungsstand einer Gesellschaft als ein Dreieck allegorisieren, das aufgrund seiner spezifischen Binneneinteilung die jeweiligen Grade der Partizipation und die intellektuelle und emotionale Ausprägung sozialer Gruppen repräsentiert. Dieses durch die Theosophie Rudolf Steiners motivierte geistige Dreieck,55 dessen innere Abteilungen im Flächenmaß 50 51
KANDINSKY 2007. Vgl. KANDINSKY 1912a: 39. „Der in das Reich von morgen führende Geist kann nur durch Gefühl (wozu das Talent des Künstlers die Bahn ist) erkannt werden. Die Theorie ist die Laterne, die die kristallisierten Formen des Gestern und des vor dem Gestern Liegenden beleuchtet“. Vgl. zudem ebd.: 84.
52
ZIMMERMANN 2002.
53
Vgl. BONGNI 2000.
54
SCHOBER 1994: 100.
55
Kandinsky verweist in einer Fußnote von Über das Geistige in der Kunst explizit auf Rudolf Steiners Buch Theosophie (1904) und dessen Zeitschrift Lucifer-Gnosis (1904-
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nach oben hin proportional abnehmen, wird von Kandinsky dabei in steter Auf- und Vorwärtsbewegung gedacht, wobei die höheren Sektionen die unteren gewissermaßen nach oben ziehen und die eigene Entwicklungsstufe weitergeben: „[W]o ‚heute‘ die höchste Spitze war, ist ‚morgen‘ die nächste Abteilung, d.h. was heute nur der oberen Spitze verständlich ist, was dem ganzen übrigen Dreieck eine unverständliche Faselei ist, wird morgen zum sinn- und gefühlvollen Inhalt des Lebens der zweiten Abteilung.“56 In diesem Prozess wird die äußere und innere Struktur des Dreiecks nicht durchbrochen, sondern das Ganze ist derart konzipiert, dass ein Sektor die jeweiligen Prägungen des nächst höher liegenden immer wieder durchschreitet. Die Wahl der Pyramidengestalt in ihrer nach oben hin spitz zulaufenden Form bringt es darüber hinaus mit sich, dass den trägen Massen der unteren Ebenen wenige bis einzelne Auserwählte gegenübergestellt sind, die an der Spitze für die Entwicklung neuer Standards sorgen. In unverkennbarer Anlehnung an Nietzsche werden diese als Seher und Propheten beschrieben, die aufgrund ihrer Infragestellung gängiger Wissenskonzepte und der Bildung neuer Paradigmen von den Übrigen als wahnsinnig und unverständlich abgetan werden.57 Eine zentrale Rolle in der Aufwärtsbewegung des geistigen Dreiecks spielen Kunst und Künstler, wobei sie häufig, aber keineswegs ausschließlich an der Spitze verortet sind: „In allen Abteilungen des Dreiecks sind Künstler zu finden. Jeder von denselben, der über die Grenzen seiner Abteilung hinaufblicken kann, ist ein Prophet seiner Umgebung und hilft der Bewegung, der widerspenstigen Karre.“58 Obwohl Kandinsky das geistige Dreieck in konstanter linearer Progression denkt, gibt 1908). Vgl. KANDINSKY 1912a: 42. Zum Einfluss der theosophischen Bewegung auf die Theorie Kandinskys insgesamt vgl. die Darstellung bei RINGBOM 1970: 57-66, der zu der prägnanten Einschätzung gelangt: „Kandinsky’s knowledge of the theosophical literature was in any case considerable, and the quotation from Madame Blavatsky’s Key to Theosophy and the reference to the two works by Steiner in Über das Geistige reveal but the proverbial one-eighth of the iceberg.“ Ebd.: 61. 56
KANDINSKY 1912a: 29.
57
In Jenseits von Gut und Böse entwirft Nietzsche den „Philosophen der Zukunft“, der sich als ein „nothwendiger Mensch des Morgens und Übermorgens […] jederzeit mit seinem Heute in Widerspruch befunden hat und befinden musste: sein Feind war jedes Mal das Ideal von Heute.“ NIETZSCHE 1886: 145. Dieser Prophet ist zugleich Zarathustra, der den Übermenschen als „Wahnsinn“ predigt, jedoch verlacht wird und einsehen muss: „sie verstehen mich nicht“. NIETZSCHE 1883-85: 18. Und nicht zuletzt ist es der „tolle Mensch“ in der Fröhlichen Wissenschaft, dessen Zuhörer „befremdet auf ihn“ blicken und der einsieht: „Ich komme zu früh, […] ich bin noch nicht an der Zeit“. NIETZSCHE 1882: 481.
58
KANDINSKY 1912a: 30.
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es intern durchaus auch Phasen des Niedergangs, in denen Menschen in untere Abteilungen absteigen können und die vor allem dann statthaben, wenn Künstler ihrer Aufgabe als so genannte geistige Brotgeber nicht nachkommen. Ist die Konzeptualisierung des Dreiecks bereits durch ihre evolutionär-teleologische Grundlegung (d.h. die Idee einer Erkenntniszunahme) tendenziös,59 so markiert gerade die Funktionszuweisung der Kunst einen Punkt, an dem eindeutige Werturteile Einzug halten. Denn zu der Kritik an künstlerischer Degeneriertheit zählen nicht nur ökonomische Aspekte, sondern auch das Festhalten an konkreten Inhalten. Einer traditionellen Kunst, die sich in der Variation des Gegenständlichen erschöpft und für eine Verlangsamung des geistigen Dreiecks sorgt, ist daher eine ‚Zukunftskunst‘ gegenübergestellt, die in der Hinwendung auf die eigenen Techniken und der Exploration der eigenen Materialien eine Wende zur Abstraktion herbeiführen soll. Mit deren Hilfe könne das geistige Dreieck – so Kandinsky – schließlich „zum Himmel reichen“60. Die zeitgenössische Epoche erscheint dabei als Wendephase und Dämmerung eines „beginnenden geistigen Erwachens“61. Durch diese Verbindung eines theosophisch motivierten Gesellschaftsmodells mit der Legitimierung abstrakter Kunst begründet Kandinsky, was Moritz Baßler als „immaterielle Sinnlichkeit“62 beschreibt und andersherum als spiritualistische Materialästhetik charakterisiert werden kann. Die Inkommensurabilität der Vision, die die Obersten der
59
Vgl. KANDINSKY 1927: 90, wo er im Hinblick auf die Entwicklung in der Kunst von einem „Evolutionsvorgang“ spricht, sowie KANDINSKY 1912b: 132f., wo Evolution mit Erhöhung gleichgesetzt wird. Da der von Darwin geprägte Begriff aber eigentlich eine auf Kontext und Zufall basierende Artenvielfalt und -variation impliziert und somit gerade im Kontrast zu einem teleologischen Denken steht, muss bei dessen Adaption von einer Fehlinterpretation ausgegangen werden. Offenkundig geht Kandinsky von Kunst als einem zielgerichteten, determinierten Prozess aus, an dessen Ende die Abstraktion steht, weshalb die Anleihe wohl eher dort einen natürlichen Vorgang verbürgen soll, wo sich eigentlich nur eine weitere Kunstrichtung konstituiert.
60
KANDINSKY 1912a: 56.
61
Ebd.: 34. Es ist wichtig in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass es nicht darum geht, jegliche Inhalte aus der Kunst zu tilgen, vielmehr wird in der Abkehr vom Gegenständlichen das Geistige selbst als Gehalt verstanden, das sich im Abstrakten offenbart. In einem Beitrag für den Blauen Reiter mit dem Titel Über die Formfrage heißt es dazu: „Die Form ist der äußere Ausdruck des inneren Inhalts“. KANDINSKY 1912b: 137. In ästhetischer Hinsicht steht Kandinsky daher Hegel recht nahe, obwohl Kandinskys eigener theoretischer Anspruch, demzufolge man „aus der Form keine Gottheit machen“ sollte (ebd.), und die bildnerische Wirklichkeit weit auseinander gehen.
62
BASSLER 2002: 96.
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Pyramide „mediumistisch“63 vom Göttlichen empfangen und den Massen als unverständlich erscheinen muss, erlaubt keine konkreten Abbildungen mehr, sondern lässt sich nur noch in abstrakten, nicht-gegenständlichen Kunstgebilden ausdrücken. Wie in den Vorüberlegungen zu diesem Kapitel mit dem Verweis auf Oswald Herzog bereits angedeutet,64 wird das Material der Kunst bei Kandinsky (und später auch bei Lothar Schreyer) zum Ausdruckmedium des Geistigen par excellence. Neben der produktionsästhetischen Seite kommt bei der Begründung abstrakter Kunst und der damit einhergehenden Konzentration auf die Materialität auch der Rezeption eine gewichtige Bedeutung zu. Die Rolle des Rezipienten erweist sich jedoch nicht – wie in modernen Rezeptionsästhetiken – als Bedeutungsgenerator, sondern er ist vielmehr selbst ‚Betroffener‘ der Gerichtetheit von Kunst. „Jedes Werk und jedes einzelne Mittel des Werkes verursacht in jedem Menschen ohne Ausnahme eine Vibration […].“65 In diesem Zusammenhang ist Kandinskys Theorie des inneren Klangs relevant. Ihr zufolge weist jede Entität neben der physischen (äußerer Klang) eine psychische Qualität auf, die über die Reizwahrnehmung einen Effekt auf den spiritualen Zustand des Wahrnehmenden erzeugt. „Die Welt klingt. Sie ist ein Kosmos der geistig wirkenden Wesen.“66 Für die Kunst gilt das nicht minder, allerdings hat ihre mediale Differenz – von Darstellung und Dargestelltem – zur Folge, dass der eigentliche Klang des Materials durch das Dargestellte zumeist gedämpft ist. Davon gilt es sich nach Kandinsky zu befreien und das Material selbst zum Gegenstand der Darstellung zu machen, um den Betrachter, Zuhörer oder Leser idealiter einem reinen Klang der Kunst auszusetzen und ihn so stärker für das Kunstgebilde einzunehmen. Wie Zimmermann verdeutlicht, entzieht sich die Idee des inneren Klangs einer Rationalisierung und zielt weniger auf die spezifisch akustische Wahrnehmung selbst ab, denn insgesamt auf ein seelisches und geistiges Angesprochensein.67 Ist seiner Charakterisierung grundsätzlich zuzustimmen, da es Kandinsky zweifellos um Kunst als sensualistisches und mystisches Gesamterlebnis geht, so ist die Wahl des Klanglichen doch nicht zufällig. Sie resultiert aus seiner Überzeugung, Musik sei diejenige Disziplin, die gerade unmittelbar auf den Rezipienten einwirke: „Der musikalische Ton hat einen direkten Zugang zur Seele.“68 Das Prinzip der Musik, nämlich keinerlei Referentialisierungen vornehmen zu können, gerät zum Vorbild für die anderen Kunstarten, insbesondere die Literatur und Malerei, deren Materialien – Wörter, Formen und Farben – traditio63
Ebd.: 100.
64
Vgl. das Kapitel ‚Zwischen Immaterialität und Materialität‘.
65
KANDINSKY 1912c: 192.
66
KANDINSKY 1912b: 168. [Herv. i.O.]
67
Vgl. ZIMMERMANN 2002: 438.
68
KANDINSKY 1912a: 66.
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nellerweise in den Dienst des Abbildlichen gestellt wurden. Indem Kandinsky nun den Fokus auf deren so genannte reine Wirkung legt, d.h. etwa für die Malerei eine Farb- und Formenlehre als Wirkungslehre aufstellt,69 oder für die Literatur eine Wortlaut-Poetologie propagiert,70 soll ein direkter Kanal zum Betrachter geebnet werden, der eine ungetrübte Wahrnehmung der Materialien gewährleistet. Aufgrund der immer wieder hervorgehobenen Nähe von Musik und Malerei ist es Letztere, die für Kandinsky als erste den Weg der Dereferentialisierung einschlagen könne. Auch in Bezug auf die Farbe urteilt er, wenn auch im Modus des Potentialis: „Im allgemeinen ist […] die Farbe ein Mittel, einen direkten Einfluß auf die Seele auszuüben.“71 Hinzu kommt eine stark synästhetische Ausrichtung, die dem Einsatz einzelner Künste das Vermögen zuschreibt, nicht nur jene Sinne zu stimulieren, die originär für die Perzeption verantwortlich sind, sondern darüber hinaus den ganzen Sinnenapparat in ‚Schwingungen‘ zu versetzen.72 Da auch dies vornehmlich dann geschieht, wenn die Materialien ungetrübt dargeboten werden, ist der Theorie eine Zweckgerichtetheit eingeschrieben, und zwar nicht im Sinne einer politischen oder praktischen, sondern im Hinblick auf die adäquate Berührung des Rezipienten.73 Kandinsky versinnbildlicht dies für die Malerei in der (synästhetischen) Metapher des Klavierspielens: Die Farbe ist die Taste. Das Auge der Hammer. Die Seele ist das Klavier mit vielen Saiten. Der Künstler ist die Hand, die durch diese oder jene Taste zweckmäßig die menschliche Seele
69
Vgl. ebd.: 59-65.
70
Vgl. ebd.: 45f.
71
Ebd.: 64.
72
Vgl. ebd.: 61-63. Der Stellenwert der Synästhesie ist innerhalb der Kunsttheorie sicherlich beträchtlich, doch scheint es nicht unproblematisch, dass sich viele Forscher als Beleg hierfür auf einen Passus in Kandinskys autobiographischen Schriften beziehen. Vgl. KANDINSKY 1913: 33. So wird vielfach die Schilderung über eine Moskauer LohengrinAufführung, in der Kandinsky durch die Musik zur Wahrnehmung von Farben angeregt worden sei, als authentisches Zeugnis der synästhetischen Fähigkeiten des Malers und damit als Möglichkeit von Synästhesie überhaupt gewertet. Vgl. ZIMMERMANN 1987: 78f.; ELLER-RÜTER 1990: 26f. Demgegenüber ist jedoch kritisch anzumerken, dass der Passus eher als Strategie zu verstehen ist, bei der durch ein Initiationserlebnis verbürgt werden soll, was die theoretische Ebene unterstellt und einfordert. Vgl. auch JEWANSKI 2006: 203, der das geschilderte Erlebnis als assoziative „Pseudosynästhesie“ wertet.
73
Vor diesem Hintergrund gerät die l’art pour l’art zur verachteten Kontrastfolie: „Dieses Vernichten der innerlichen Klänge, die der Farben Leben ist, dieses Zerstreuen der Kräfte des Künstlers ins Leere ist ‚Kunst für Kunst‘“. KANDINSKY 1912a: 25. Selbstbewusst heißt es dagegen: „Die Kunst ist […] zweckgerichtet“. KANDINSKY 1912c: 192.
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in Vibration bringt. So ist es klar, daß die Farbenharmonie nur auf dem Prinzip der zweckmäßigen Berührung der menschlichen Seele ruhen muß. Diese Basis soll als Prinzip der inneren Notwendigkeit bezeichnet werden.74
Die Aufgabe eines Künstlers liegt also genau darin, so zu verfahren, dass die Behandlung der Materialien größtmögliche Wirkung erzielt. Da dies vor allem dann geschieht, wenn sie als solche zum Einsatz gebracht werden, begründet sich abstrakte Kunst bei Kandinsky in Abhängigkeit zum Wahrnehmenden: „Seele und Kunst stehen in einer Verbindung von wechselseitiger Wirkung und Vervollkommnung.“75 Das Prinzip der inneren Notwendigkeit dient nicht nur zur Kennzeichnung dieser Konstellation, sondern fungiert bei Kandinsky als Zentralkategorie, in der der Ausdruckswille, die Verabsolutierung des Materials und die wirkungsästhetische Funktion von Kunst zusammen gefasst sind.76 Das Geistige, das sich in der abstrakten Kunst ausdrückt und durch sie angesprochen wird, lässt sich zudem als das Innere im Äußeren beschreiben, wobei das Äußere in Gestalt des Materials als „Brücke zum Inneren“77 fungiert, und zwar in zwei Richtungen: einerseits zum mystischen Grund, welcher als innerer Klang der Materialität selbst innewohnt, und andererseits zur affektiven und mentalen Disposition des Wahrnehmenden. Diese Unterscheidung – Inneres und Äußeres sowie Geistiges und Materialität – gilt es sich zu vergegenwärtigen, wenn man die paradoxe Anlage im Verhältnis der Künste und die Begründung einer protointermaterialen Ästhetik bei Kandinsky verstehen will. Die Konzentration auf die jeweiligen künstlerischen Materialien und das Ausschöpfen der eigenen Möglichkeiten stellen nur einen Part dessen dar, was Kandinsky als Zukunftskunst projiziert. An sie gekoppelt ist ein notwendiger Vergleich der
74
KANDINSKY 1912a: 64. [Herv. i.O.]
75
Ebd.: 134.
76
Den Begriff der ‚inneren Notwendigkeit‘ beschränkt die Forschung zumeist auf jene drei Komponenten, die in Über das Geistige in der Kunst mit persönlichem Ausdruck, Zeitstil und ewig Künstlerischem angegeben sind. Vgl. KANDINSKY 1912a: 80f. Es wird dabei jedoch häufig übersehen, dass der Terminus zum einen auf die Dominanz des Letzteren hinausläuft und zum anderen an weiteren Stellen des Textes eine wesentliche Erweiterung seines Bedeutungsspektrums erfährt. Aus diesen Gründen ist die angegebene Trias hier im neutralen Begriff des Ausdruckswillens zusammengefasst und um die entsprechenden Hinzufügungen ergänzt. Zu weiteren Nuancen des Terminus, insbesondere zu dessen widersprüchlichen Implikationen vgl. BRUCHER 1999: 149-157. Zur Begriffsgeschichte vgl. ELLER-RÜTER 1990: 37.
77
KANDINSKY 1927: 90.
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Künste und eine materiale Engführung, die er als deren „natürliche Folge“78 erklärt. Sie ist der Spezifizierung von Kunstarten selbst dienlich, versucht im gleichen Maße aber gerade eine scharfe Trennung aufzuheben. Beides scheint sich eigentlich zu widersprechen, doch müssen die Überlegungen nicht nur als zwei Ebenen,79 sondern auch als zwei Phasen interpretiert werden, die es innerhalb des intermaterialen Modells zu unterscheiden gilt. Zunächst erfüllt der Blick auf die Verfahren und Verwendungsweisen anderer Künste die Funktion, sich der eigenen materialen Bedingungen bewusst zu werden: Dieses Vergleichen der Mittel verschiedenster Künste und dieses Ablernen einer Kunst von der anderen kann nur dann erfolg- und siegreich werden, wenn das Ablernen nicht äußerlich, sondern prinzipiell ist. D.h. eine Kunst muß bei der anderen lernen, wie sie mit ihren Mitteln umgeht, sie muß es lernen, um dann ihre eigenen Mittel prinzipiell gleich zu behandeln, d.h. in dem Prinzip, welches ihr allein eigen ist. Bei diesem Ablernen muß der Künstler nicht vergessen, daß jedes Mittel eine ihm geeignete Anwendung in sich birgt und daß diese An80
wendung herauszufinden ist.
Was Kandinsky mit dem äußeren Ablernen meint, das es zu vermeiden gilt, wird an mehreren Stellen in Über das Geistige in der Kunst klar, in denen er von dem „literarischen Klang“ oder dem „Märchenhaften“ in bestimmten Bildern oder Tanzstücken spricht, die als narrative Qualitäten dem originären Ausdruck von Form, Farbe und Bewegung hinderlich seien.81 Das prinzipielle Ablernen geschieht dagegen unter Ausschluss jeglicher Adaption und mit der Zielsetzung, eine Kunst ihrem eigentlichen Ausdrucksvermögen zuzuführen. Hierin unterscheidet sich Kandinsky stark von Walzel, der die Perspektive anderer Disziplinen nur unter der Voraussetzung vorhandener struktureller Analogien zulässt. Beide teilen jedoch die Annahme, mit der Engführung auf das je Spezifische einer Kunst abzuzielen. Während aber die methodische Grundlegung bei Kandinsky eine Gemeinsamkeit der Künste nicht nur aushält, sondern geradezu notwendig macht, fehlt Walzel hier eine vergleichbare Pointe. Aus dem zitierten Passus lässt sich darüber hinaus ein Adäquatheitsargument ablesen, das bereits im 19. Jahrhundert in den Schriften Goethes, Gottfried Sempers und Alois Riegls seine Begründung erfahren hat. Kern dieser Vorstellung sind die Abgrenzung der Künste nach ihren jeweiligen Materialien und die Norm, diese Materialien im Rahmen der Möglichkeiten zu bearbeiten, die von ihnen vorgegeben 78
KANDINSKY 1912a: 55.
79
Vgl. ZIMMERMANN 2002: 431.
80
KANDINSKY 1912a: 55. [Herv. i.O.]
81
Ebd.: 122, 120, 124f.
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werden. Auch für Kandinsky definieren sich Künste durch das ihnen jeweils eigene Material, allerdings soll jede einzelne im Vergleich mit anderen lernen, wie dieses am besten zur Darstellung gebracht werden kann. Anders als bei Goethe, Semper und Riegl schließen sich bei Kandinsky somit Materialadäquatheit und Intermaterialität nicht aus. Dabei handelt es sich um eine Form der Intermaterialität, die als Orientierung an den Materialien anderer Künste zu beschreiben wäre. Insofern dieser Prozess zum Zweck der eigenen Vervollkommnung geschieht, oszilliert die Gerichtetheit in diesem Falle – lässt man die Wirkungsästhetik außer Acht – zwischen Fremd- und Selbstbezug, um schließlich bei Letzterem zum Stillstand zu kommen. Innerhalb der Terminologie Kandinskys wird dies als analytisches Verfahren bezeichnet, das zuallererst die abstrakte Ausprägung der Künste als Spezifizierung gewährleisten soll. Demgegenüber steht ein synthetisches Verfahren, das die so separierten Künste in einem zweiten Schritt wieder zusammenführt – unter Beibehaltung der äußeren Trennung, d.h. einer durch die Materialien erkennbaren Distinktion, und eingedenk der inneren Notwendigkeit als vereinendes Moment: So grenzt die Vertiefung in sich eine Kunst von der anderen ab, so bringt sie die Vergleichung wieder zueinander im inneren Streben. So merkt man, daß jede Kunst ihre Kräfte hat, die durch die einer anderen nicht ersetzt werden können. So kommt man schließlich zur Vereinigung der eigenen Kräfte verschiedener Künste.82
Es ist in der Forschung kritisch darauf hingewiesen worden, dass hinsichtlich einer verneinten Substituierbarkeit und dem Vereinigungspostulat eine logische Schieflage entsteht.83 Und in der Tat spricht Kandinsky einerseits von der „Notwendigkeit der Verschiedenheit der Künste“ 84 und zugleich von ihrer „tiefgehende[n] Ver-
82
KANDINSKY 1912a: 56. [Herv. i.O.]
83
Vgl. ZIMMERMANN 2002: 431. Die sonst sehr präzise Darstellung Zimmermanns ist in diesem Zusammenhang nicht ganz zutreffend. Wenn er schreibt, Kandinskys Konzept gehe „zum einen von der Entsprechung der Künste und ihrer Mittel und andererseits von ihrer Differenz aus“, so ist dies insofern inkorrekt, als Kandinsky immer wieder die notwendige Verschiedenheit der Materialien betont. Es geht also nicht um ein doppeltes Sowohl-als-auch von Entsprechung und Differenz, sondern vielmehr um eine Verwandtschaft der Künste bei gleichzeitiger Verschiedenheit der Materialien. Darstellen ließe sich dies in einem dreiwertigen Kunstmodell: einer grundsätzlichen Entsprechung als Potentialität im Inneren, zweitens einer Verschiedenheit hinsichtlich der äußeren Materialien und drittens ein aufgrund der ersten Prämisse ermöglichtes Zusammenwirken im Betrachter.
84
KANDINSKY 1912a: 106.
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wandtschaft“85. Häufig veranschaulicht er dies in der Metapher einer Pflanze, deren Früchte (Einzelkünste und ihre Materialien) zwar unterschiedlich ausgeprägt, alle aber auf dasselbe Wurzelwerk (die Verwandtschaft) rückführbar seien.86 Als Vorbild für diese Metapher mag ein Vergleich von Helena Blavatsky – Gründerin der Theosophischen Gesellschaft – dienen, deren Buch Der Schlüssel zur Theosophie von 1889 Kandinsky in Über das Geistige in der Kunst explizit benennt.87 Demnach sei das Geistige als reines Weißlicht vorstellbar, das in viele verschiedene Farben (Religionen und Philosophien) aufgespalten sei, die es mithilfe der Theosophie wieder zu vereinigen gelte.88 Auch Kandinsky geht es um eine (Wieder-)Vereinigung der Künste, allerdings ist bei ihm das Beibehalten der äußeren materialen Verschiedenheit die eigentliche Bedingung für die innere geistige Einheit. Hiervon ausgehend lässt sich die Problemlage insofern auflösen, als die vorausgesetzte Verbindung jenem latenten Bereich zuzuordnen ist, der als mystischer Grund verklärt wird, während die durch ihre Materialien definierten Einzelkünste äußerlich divergieren (müssen). Gleiches gilt auch für die konkrete Realisation, also das von Kandinsky propagierte ‚monumentale Kunstwerk‘ als Zusammenführung jener zunächst unterschiedenen und in ihrer Materialität ausgeprägten Kunstformen. Unter strikter Einhaltung der äußeren Grenzen sollen diese sich zu einem symphonischen, die inneren Klänge vereinenden intermaterialen Ganzen verbinden und aufgrund beider Faktoren, der Verwandtschaft und der Verschiedenheit, über die Summierung der Einzelkünste hinaus eine intensivierte Wirkungskraft erzeugen. Bei der Attribution des Monumentalen handelt es sich um keine Größenkategorie, sondern im Sinne der rezeptionsästhetischen Grundlegung um eine „seelische Höhenlage“89, die mithilfe des Einsatzes mehrerer Künste beim Wahrnehmenden erreicht werden soll. Da „verschiedene Menschennaturen verschieden auf einzelne Mittel reagieren“90, garantiert die Zusammenstellung, dass jeder von derjenigen Kunst angesprochen wird, die ihn am stärksten einnimmt. Darüber hinaus erzeugt das monumentale Kunstwerk im Einzelnen einen gesteigerten sinnlichen Eindruck oder – in der Terminologie Kandinskys – eine potenzierte ‚seelische Vibration‘, da das ästhetische Erlebnis faktisch 85
KANDINSKY 1926: 137.
86
Vgl. die Belegstellen bei ZIMMERMANN 2002: 431. Ergänzend hierzu, in der Metaphorik jedoch etwas abweichend KANDINSKY 1927: 98. „Die Wurzeln der Einzelerscheinungen treffen sich in der Tiefe und der zukünftige Mensch wird vielleicht bald alle diese Wurzeln zu einer allgemeinen Wurzel zurückführen können.“
87
KANDINSKY 1912a: 42.
88
Vgl. hierzu RINGBOM 1970: 57.
89
GIEDION-WELCKER 1967: 1255.
90
KANDINSKY 1912a: 108. Vgl. hierzu auch KANDINSKY 1912c: 193.
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mehrere Sinne involviere. Widersprüche sind allerdings auch in diesem Zusammenhang zu finden. So behauptet Kandinsky, „derselbe innere Klang kann hier [im monumentalen Kunstwerk, C.K.] in demselben Augenblicke durch verschiedene Künste gebracht werden“91, um an anderer Stelle zu versichern: „Wie gesagt, ist eine genaue Wiederholung desselben Klanges durch verschiedene Künste unmöglich.“92 Auch in diesem Fall handelt es sich jedoch nur um eine scheinbare Paradoxie, denn Kandinsky ist zwar stets darum bemüht, Farben hinsichtlich ihrer musikalischen Wirkungen zu gruppieren, 93 ihm ist dabei jedoch klar, dass eine 1:1Entsprechung unmöglich ist, da das „Korrespondieren der farbigen und musik. Töne […] selbstverständlich nur relativ“94 ist. Dadurch dass die Klänge mithilfe verschiedener Materialien erzeugt werden, kann es gar keine identische Wiederholung geben, obwohl Ziel und Ursprung einander idealiter entsprechen: „[D]as letzte Ziel löscht die äußeren Verschiedenheiten und entblößt die innere Identität.“95 Was also im Inneren kongruiert, divergiert im Äußeren des Materials, um jedoch selbst wiederum im Wahrnehmenden zur Einheit zu kommen. Vielleicht ist dies der Grund dafür, dass Kandinsky neben Klängen auch von Kräften spricht, die in jeder Einzelkunst disponibel seien und im monumentalen Kunstwerk dasjenige Surplus darstellten, das je spezifisch dem Zusammenwirken beigesteuert werde. Für den Rezipienten bedeutet es auf jeden Fall, im positiven Sinne vor die doppelte Aufgabe gestellt zu sein, das Identische im Unterschiedlichen und das Unterschiedliche im Identischen wahrzunehmen. Aufgrund dieser Erweiterung des intermaterialen Modells um den Rezipienten wäre Kandinskys monumentales Kunstwerk nicht hinreichend als Hybridgebilde im Sinne einer neuen Medienmischform charakterisiert. Diese auf Yvonne Spielmann zurückgehende Definition von Intermedialität besagt, dass die jeweiligen Elemente derart zu einer Einheit verbunden sind, dass sie sich „nicht länger eindeutig den zugrunde liegenden Medienformen zuordnen lassen“96. Kandinskys Ansatz ist jedoch ein gegenteiliger: Es geht ihm darum, auf der Grundlage traditioneller Einzelkünste ein Zusammenspiel zu erproben, dessen Ziel die größtmögliche Involviertheit des Rezipienten ist. Zwar gibt es durch das Arrangement einen Mehrwert, der 91
KANDINSKY 1912a: 104.
92
Ebd.: 106.
93
Indem er etwa in einem unveröffentlichten Entwurf von 1908/09 die Farbe Violett dem Englischen Horn und Orange der Altgeige zuordnet (vgl. KANDINSKY 2007: 321) oder in Über das Geistige in der Kunst Hellblau mit der Flöte, Dunkelblau dagegen mit dem Cello in Verbindung bringt (vgl. KANDINSKY 1912a: 93).
94
KANDINSKY 2007: 321.
95
KANDINSKY 1912c: 190.
96
SPIELMANN 2004: 79.
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die reine Addition übersteigt, doch weist Kandinsky explizit darauf hin, dass jede Kunst für sich „auf eigene Faust isoliert“97 arbeitet und damit als solche identifizierbar bleibt. Insofern erweist sich auch die Beurteilung Ulrika-Maria Eller-Rüters, wonach „die künstlerischen Medien nicht mehr getrennt erfahrbar sind“98, als unzutreffend. Freilich hat sie darin Recht, dass Kandinsky „synästhetische Wahrnehmungsakte“99 intendiert und daher das, was bereits für eine Kunstform gilt – nämlich mehrere Sinne gleichzeitig anzusprechen –, in gesteigerter Weise auch für das monumentale Kunstwerk zutreffen muss. Bei der Fokussierung der sogar als Ziel ausgeflaggten „innere[n] Identität“100 darf aber nicht übersehen werden, dass die Separation der Materialien deren eigentliche Prämisse bildet. Kandinsky sollte hier in einem Sowohl-als-auch von Rezeptionsästhetik und Formalismus sowie von Wirkungsweise und Selbstbezüglichkeit des künstlerischen Materials verstanden werden, das ohne Zweifel eine hohe Kompetenz seitens des Rezipienten einfordert. Kandinskys projektierte Bühnensynthese soll zugleich grenzziehend und grenzauflösend sein, weshalb sich die Wissenschaft vor ein Dilemma gestellt sieht, sofern sie annimmt, das eine schlösse das andere aus. Beides aber trifft zu: Künste sollen in ihren Materialwerten einzeln wirken und zugleich derart zusammenklingen, dass sie sich als intermateriale Einheit ausnehmen. Verkomplizierend kommt hinzu, dass es Kandinsky in den eigenen Umsetzungen malerischer und monumentaler Kunstwerke nicht darum geht, einen Gleichklang der Materialien herzustellen, sondern er sich im Gegenteil der Kontradiktorik bedient. „Gegensätze und Widersprüche – das ist unsere Harmonie“101, heißt es in Über das Geistige in der Kunst, und im ersten, die Freundschaft initiierenden Brief an Arnold Schönberg vom 18. Januar 1911 schreibt er: „Ich finde eben, daß unsere heutige Harmonie nicht auf dem ‚geometrischen‘ Wege zu finden ist, sondern auf dem direkt antigeometrischen, antilogischen. Und dieser Weg ist der der ‚Dissonanzen in der Kunst‘ […].“102 Insgesamt sind vier Verfahren der klanglichen Verhältnissetzung zu unterscheiden: Mit-, Gegen- und alternierender Klang sowie ein voneinander unabhängiger Gebrauch der Materialien. Während Alexander Skrjabin mit seinem Prometheus (1910) von Kandinsky zum Schöpfer des Mitklangs (oder auch Parallelismus) erklärt wird,103 will er selbst für die Bühne den Gegenklang etablie97
KANDINSKY 1912a: 108.
98
ELLER-RÜTER 1990: 210.
99
Ebd.
100 KANDINSKY 1912a: 190. 101 Ebd.: 109. 102 SCHÖNBERG/KANDINSKY 1981: 19. [Brief vom 18. Januar 1911; Herv. i.O.] 103 „Der erste Versuch, zwei Künste organisch für ein Werk zu vereinigen, ist der ‚Prometheus‘ von Skrjabin – paralleles Laufen der musikalischen und der malerischen Elemen-
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ren. Dem Konzept liegt die Auffassung zugrunde, dass der innere Zusammenhang umso größer ist, je mehr der äußere divergiert. In Über Bühnenkomposition heißt es: „Es kommt von selbst das Gefühl der Notwendigkeit der inneren Einheitlichkeit, die durch äußere Uneinheitlichkeit unterstützt und sogar gebildet wird.“ 104 Vor diesem Hintergrund kritisiert Kandinsky die zeitgenössischen Formen von Drama, Oper und Ballett wie sie im 19. Jahrhundert ihre Ausprägung erfahren haben, weil sie erstens ihre Bestandteile (Handlung, Musik und Tanz) derart spezifizierten, dass sie in der Aufführung in einem bloß äußerlichen, d.h. illustrativen und untergeordneten Verhältnis zueinander stünden, und zweitens ihre Kombination auf einer „positive[n] Addierung“105 beruhe, statt dass ein Mittel zur Verstärkung eines anderen angewendet sei. Eine Ausnahme bildet die Opernästhetik Wagners, dessen Bemühungen um das musikalische Drama und Überlegungen zum Gesamtkunstwerk in Das Kunstwerk der Zukunft (1849), Die Kunst und die Revolution (1849) und Oper und Drama (1852) als kritisches Vorbild fungieren, die Kandinsky aber nicht radikal genug sind. Positiv an Wagner bewertet er den Versuch, die Mittel „organisch miteinander zu verbinden“106, sowie, wenn schon keine Enthierarchisierung, so doch eine alternierende Unterordnung der Künste erreicht zu haben. Allerdings vermisst er eine auf Abstraktion abzielende Verwendung der Materialien, die sich nicht im äußerlichen Zusammenhang erschöpft. Kritisch wird des Weiteren der instrumentelle Gebrauch von Musik beurteilt, wenn sie etwa leitmotivisch das Auftauchen einer Figur ankündigt und – so Kandinsky – darin auf das Ohr so abgeschmackt wirke wie „eine altbekannte Flaschenetikette auf das Auge“107 . Als Mangel an der Konzeption eines abstrakten intermaterialen Gesamtkunstwerks erscheint dem Maler auch der komplette Verzicht einer Aufbietung von Farb- und Lichteffekten, wie sie zur Komplettierung eines monumentalen Kunstwerks nötig wäre.108 te. Der Zweck ist die Verstärkung der Mittel zum Ausdruck.“ KANDINSKY 1927: 92. [Herv. i.O.] Vgl. auch Leonid Sabanejews’ Artikel im Blauen Reiter. SABANEJEW 1912. 104 KANDINSKY 1912c: 206. [Herv. i.O.] 105 Ebd.: 200. 106 Ebd.: 196. Es scheint widersprüchlich, dass Kandinsky Wagner das Gleiche attestiert, was er eigentlich Skrjabin zugedacht hatte (vgl. das Zitat in Fußnote 103). Allerdings ist hierbei der unterschiedliche Wortgebrauch zu beachten. So ist in Bezug auf Wagner von einer Verbindung die Rede, während es sich bei Skrjabin um eine höher einzuschätzende Vereinigung handelt. 107 Ebd.: 198. 108 Vgl. ebd.: 200. Zur Wagner-Kritik vgl. FORNOFF 2004: 337-339, der in Anschluss an KROPFINGER 1984 nachzuweisen versucht, dass Kandinskys Wagnerrezeption auf einer Fehldeutung basiert. So würden Text und Musik bei Wagner durchaus „gleichrangige ästhetische Funktionen“ aufweisen (FORNOFF 2004: 338), und auch das berühmte Leitmo-
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Letztlich gilt daher für Wagner, was grundsätzlich für die Bühnenkunst des 19. Jahrhunderts zutrifft: Alle die genannten Formen, die ich Substanzformen nenne (Drama – Wort, Oper – Klang, Ballett – Bewegung), und ebenso die Kombinationen der einzelnen Mittel, die ich Wirkungsmittel nenne, werden zu einer äußerlichen Einheit konstruiert. Da alle diese Formen aus dem Prinzip der äußeren Notwendigkeit entstanden. Daraus fließt als logisches Resultat die Begrenzung, die Einseitigkeit (= die Verarmung) der Formen und Mittel. Sie werden allmählich orthodox, und jede minutiöse Änderung erscheint revolutionär.109
Demgegenüber will Kandinsky in seiner Bühnensynthese eine radikale Umkehrung vornehmen. Hierzu zählt neben dem gleichwertigen Einsatz der so genannten Wirkungsmittel, ein daraus resultierender kompletter Verzicht auf die äußere Handlungsfolge, d.h. narratologisch formuliert: die Verabsolutierung des discours (der Materialebene) unter Ausschluss der histoire (der Ebene des Dargestellten). Als Bestandteile der Bühnensynthese benennt Kandinsky in Über das Geistige in der Kunst „1. musikalische Bewegung, 2. malerische Bewegung, 3. tanzkünstlerische Bewegung“110. Diese an Edward Gordon Craigs On the Art of the Theatre (1911) angelehnte Betonung der Bewegung zeigt,111 dass es um die Verlagerung, nicht aber das Entbehren der Sinnebene geht. Sie wird nicht mehr durch das Material ausgedrückt, sondern ist vielmehr in dessen Darbietung präsent. Da alle drei Komponenten der zeitlichen Dimension unterworfen sind, bedarf es gar keiner äußeren Handlungsfolge mehr, denn sowohl die Veränderung in den Bewegungsabläufen innerhalb einer Kunstform als auch ihr Verhältnis zueinander erzeugen Differenzen, die Voraussetzung für Sinnprozession sind. In der späteren Abhandlung Über die abstrakte Bühnensynthese (1923), die Kandinsky im Kontext seiner Lehrtätigkeit am Weimarer Bauhaus verfasst, bestätigt er die genannten Elemente, fügt der Trias aber noch die Bühne in ihrer architektonischen Gestaltungsmöglichkeit und damit als räumliche Qualität hinzu.112 Die in dem Artikel ergänzend aufgeführten Künste tiv sei differenzierter angelegt, als die Darstellung bei Kandinsky Glauben machen will. Einzig die Vernachlässigung der „visuell-bildnerischen Komponente“ sei ein von Kandinsky korrekt diagnostiziertes „schwerwiegendes Defizit“. Ebd.: 339. Anders dagegen das Urteil von Andreas Pütz, der bei Wagner – etwa im Aufscheinen des Rheingolds – „Lichtsynästhesien“ ausmacht, die freilich immer an die tonale und thematische Ebene geknüpft sind. Vgl. PÜTZ 1995: 78-81. 109 KANDINSKY 1912c: 202. [Herv. i.O.] 110 KANDINSKY 1912a: 125. 111 Vgl. FORNOFF 2004: 341f. 112 Vgl. KANDINSKY 1923: 71f.
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Plastik und Dichtung werden dagegen der Architektur einerseits und der Musik andererseits untergeordnet. Gerade in Bezug auf die Dichtkunst muss dies verwundern, da doch Wagner hinsichtlich der mangelnden Trennschärfe von Literatur und Musik kritisiert wurde. Die Engführung ist jedoch dem Umstand geschuldet, dass das Plädoyer für eine umfassende Abstraktion auf die Aufwertung der lautlichklanglichen Seite des sprachlichen Zeichens hinausläuft. Als Vorbemerkung zu seiner Bühnenkomposition Der gelbe Klang erklärt Kandinsky im Blauen Reiter: „Der Klang der menschlichen Stimme wurde auch rein angewendet, d.h. ohne Verdunkelung desselben durch das Wort, durch den Sinn des Wortes.“113 In Bezug auf die Bühnenkunst intendiert Kandinsky weitere Überwindungen bis dato geltender Normen. Deutlich demonstriert das der Artikel UND von 1927, dessen Titel bereits kritisch gegen konventionelle Disjunktionen gesetzt ist und gewiss nicht zufällig auf Kurt Schwitters’ Unbild von 1919 anspielt.114 Angelehnt an dessen universelle Auflösung der Kunstgrenzen radikalisiert Kandinsky mit seinem Text die in den 1910er Jahren begründete Bühnensynthese noch einmal: „So fallen Mauern zwischen Gebieten, die noch vor kurzem als vollkommen voneinander abgesondert und sogar teils feindlich zueinander stehende aufgefaßt wurden: Theater, Kammersaal, Zirkus.“115 In einer Fußnote fügt Kandinsky noch das Kino hinzu und weist diesem damit im Gegensatz zu vielen Zeitgenossen bereits einen Platz im System der Kunst zu. Zugleich stellt er damit dessen interne Grenzziehungen in Frage und erweitert die materiale Synthese in Richtung einer institutionellen. Im gleichen Aufsatz findet sich auch ein Rekurs, der dieses Postulat historisch anbindet und wohl am stärksten illustriert, wo Kandinskys Überlegungen zum monumentalen Kunstwerk ihren Ursprung und ihr Ziel haben: Man kann es für ziemlich bewiesen halten, daß in der alten russischen Kirche die sämtlichen Künste gleichmäßig und gleichberechtigt einem Zweck dienten – Architektur, Malerei, Plastik, Musik, Dichtung und Tanz (Bewegung der Geistlichen). Hier war die Absicht eine rein innere – Gebet.116
Kandinskys Überlegungen zielen eindeutig auf eine (Re-)Sakralisierung des Theaters ab und verbinden dies mit einem materialästhetischen Reduktionismus. Da es ihm um die Darbietung von Kunst(formen) als „Offenbarung des Geistes“117 geht, der als vereinendes Moment in der äußeren Zeremonie wirksam sei, intendiert die 113 KANDINSKY 1912c: 208 114 Vgl. das Kapitel ‚Assemblage. Kurt Schwitters ‚Das Undbild‘‘. 115 KANDINSKY 1927: 93f. 116 Ebd.: 91. [Herv. i.O.] 117 KANDINSKY 1912b: 137.
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Inszenierung selbst ein spirituelles Erlebnis, das an die Äußerlichkeit der Materialien gebunden ist. Mit dieser Verbindung bewegt sich Kandinsky im Einklang mit zahlreichen anderen Programmschriften expressionistischer Künstler. Ob das Totalitätskonzept Carl Einsteins oder die breit gestreute Rhetorik über das geistige Erleben bei Theodor Däubler, Paul Hatvani, Kurt Heynicke, Karl Otten und Oswald Herzog – bei allen findet sich die Verknüpfung einer spiritualistischen, visionären Empfängnis mit der materialen Gestaltwerdung im Kunstwerk.118 Für Kandinsky fungiert diese sakrale Rückbindung zugleich als Prämisse seiner protointermaterialen Ästhetik, die in ihren Kernpunkten noch einmal zusammengefasst sei. So handelt es sich beim synthetischen bzw. monumentalen Kunstgebilde zunächst äußerlich betrachtet um die Kombination von Materialien, deren Form zugleich das Dargestellte ist. Sie sollen abstrakt, also in ihrem materialen Eigenwert, präsentiert werden, um einen unmittelbaren Zugang des Rezipienten zu den in ihnen wirksamen ‚Kräften‘ zu gewährleisten. Andere Künste werden nicht referentialisiert, sondern juxtapositioniert, um aus einer übergeordneten Motivation heraus (Spiritualismus) einen Effekt zu erzeugen, der sie als Ganzheit begreifen lässt. Das intermateriale Verhältnis der beteiligten Künste ergibt sich demnach zum einen durch die gleiche Ausrichtung sowohl nach innen (geistiger Grund) als auch nach außen auf den Rezipienten (seelische Vibration). Die Relation der Künste findet zum anderen über das Paradigma der Disharmonie unmittelbar zwischen den verwendeten Materialien selbst statt. Sie sollen derart verbunden werden, dass sie einen Gegenklang erzeugen, eine intermateriale Kakophonie. Zwar ist das holistische Erlebnis beim Rezipienten der Gradmesser für ein gelungenes Zusammenspiel, als Anleitung zur kontradiktorischen Verwendungsweise kommt der Intermaterialität bei Kandinsky jedoch auch eine produktionsästhetische Funktion zu. Es wundert daher nicht, dass diese Überlegungen zum monumentalen Kunstwerk auf der Bühne als Ort größtmöglicher künstlerischer Integrationskraft ihre Umsetzung erfahren. In der Ausschöpfung ihrer räumlichen und technischen Möglichkeiten bringt Kandinsky mit seinen Bühnenkompositionen, wie Der gelbe Klang (1912), einige der bis dato wohl kühnsten Theater-Experimente hervor, wozu nicht zuletzt auch der behauptete Verzicht auf eine thematische Ausrichtung beiträgt. Im Gegensatz zur Avantgarde nur weniger Jahre später oder auch zur Fluxus-Bewegung der 1960er/70er Jahre, deren Künstler wie John Cage, Allan Kaprow oder Claes Oldenburg die Auffassung einer originären Verbundenheit der Künste teilen,119 geht Kandinsky jedoch nicht so weit, ein generelles Aufbrechen von Kunst und Leben einzufordern. Obwohl er in seinen späteren Schriften beeinflusst von seiner Tätigkeit am Bauhaus unter Walter 118 Vgl. hierzu die Zitatensammlung bei BASSLER 1994: 56f. 119 Zu den intermedialen Forderungen der Fluxuskünstler vgl. grundlegend KAPROW 1967; YALKUT 1973; KULTERMANN 1970; MOLES 1980; HIGGINS 1984; FRANK 1987.
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Gropius eine Einebnung der Grenzen zwischen Kunst, Wissenschaft und Technik attestiert,120 öffnet sich bei ihm Kunst weder aktiv politisch noch werden neue Darstellungsformen wie Collagen oder der Film (gleichwohl er dessen Einbezug fordert) erprobt. Auch eine Verwirklichung seiner Entwürfe im öffentlichen, nichtkünstlerischen Raum wagt Kandinsky nicht, vielmehr sollen seine Vorstellungen von der künstlerischen Vergeistigung des Menschen mithilfe der konventionellen Institutionen erreicht werden. Das Ergebnis ist eine protointermateriale Ästhetik, die sich von einer Tradition der Einzelkünste zu befreien sucht, ihr zugleich aber noch zutiefst verhaftet ist.
„D ER B LAUE R EITER “ UND T EXT , B ILD UND P ARTITUR
DIE
V ERBINDUNG
VON
So findet der Leser in unseren Heften Werke, die [...] in einer inneren Verwandtschaft miteinander stehen, wenn auch diese Werke äusserlich fremd zu einander erscheinen. KANDINSKY/MARC
Der Almanach Der Blaue Reiter stellt eines der wichtigsten Zeugnisse künstlerischer Kooperation zu Beginn des 20. Jahrhunderts dar. Im Gegensatz zu anderen Gruppierungen wie Die Brücke in Dresden oder Der Sturm in Berlin und trotz enger Freundschaften einzelner Beiträger beschränkt sich der Zusammenschluss zum Blauen Reiter ausschließlich auf den Konzeptions- und Publikationszeitraum des Almanachs. Franz Marc und Wassily Kandinsky als die beiden Herausgeber verstehen den 1912 veröffentlichten Band als „Brennpunkt“ 121 der geistig-kulturellen Atmosphäre ihrer Zeit, in dem nicht nur eine gesamteuropäische Entwicklung, sondern auch ein Parallelismus der Künste dokumentiert werden soll. Ziel des Almanachs ist es, den eigenen bildnerischen Kompositionsprinzipien eine breite Legitimationsbasis zu geben, indem Komponisten, Dichter und Maler zu Wort kommen und die Tendenzen zur Abstraktion für ihre Bereiche bestätigen. Der Blaue Reiter stellt sich so als ein Konglomerat von Programmschriften, Druckgraphiken, Partituren, Gedichten, Zitaten, Vignetten und Votivbildern dar, das in der Forschung zu-
120 KANDINSKY 1927: 94-96. 121 MARC 1912b: 35.
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recht als Gesamtkunstwerk bezeichnet wird.122 Dem romantischen Ideal Friedrich Schlegels, Novalis’ und Philipp Otto Runges entsprechend vereinigt es nicht nur verschiedene Gattungen (einschließlich theoretisch-wissenschaftlicher und literarisch-dramatischer Texte), sondern es bedient sich auch verschiedener Künste zur Darstellung seiner intermaterialen Interessen. Im Hinblick auf die Programmatik der Intermaterialität gilt es, im Blauen Reiter drei verschiedene Ebenen zu unterscheiden: 1. die explizite, schriftlich formulierte Forderung nach einer Kunstsynthese, 2. die Darstellung der Entwicklung innerhalb des eigenen Kunstfeldes, die zwar Analogieschlüsse und Vergleiche enthalten kann, die aber 3. erst durch die Form des Almanachs in eine Wechselwirkung mit den nicht-skripturalen Elementen tritt. Die Kunstsynthese in der Gestaltung der Buchpublikation ist damit in erster Linie ein redaktioneller Effekt und nicht unbedingt ein intendierter der Texte selbst. In den einzelnen Beiträgen finden sich eher wenige Aufrufe zu einer Konvergenz, teilweise lassen sich sogar kritische Töne ausmachen. Von den insgesamt 13 Artikeln propagieren explizit nur die zwei zur Bühne eine Vereinigung der Künste: Kandinskys Über Bühnenkomposition und Leonid Sabanejews ‚Prometheus‘ von Skrjabin. Daneben gibt es weitere Artikel, die zwar das Verhältnis von Malerei und Musik (Nikolai Kulbins Die freie Musik) oder Musik und Text/Dichtung (Arnold Schönbergs Das Verhältnis zum Text) thematisieren, vor allem aber um eine Begründung ihrer eigenen musiktheoretischen Vorstellungen bemüht sind. Auch das berühmte Goethe-Zitat – „in der Malerei fehle schon längst die Kenntnis des Generalbasses, es fehle an einer aufgestellten, approbierten Theorie, wie es in der Musik der Fall ist“123 – darf nicht als Suggestion zur Übertragung musikalischer Gesetze missverstanden werden, sondern als eine damals immer noch ungeklärte und damit dringliche Frage nach genuin malerischen Grundsätzen. Die Verbindung der Künste – so hat es Kandinsky in Über das Geistige in der Kunst dargelegt – kommt erst dadurch zustande, dass der Forderung nach Eigengesetzlichkeit zugleich die Vorstellung von einem gemeinsamen Ursprung zugrunde liegt. Diesem ambiguen Schema von Oberfläche (äußere, materiale Verschiedenheit) und Tiefenstruktur (innere Einheit) ver122 Vgl. HORSLEY 2006. Problematisch an der Grundlegung bei Jessica Horsley ist jedoch, dass der Almanach in seiner Buchform des Ereignishaften als eines wesentlichen Faktors im Konzept des Gesamtkunstwerks entbehrt. Schwach fällt bei ihr die Legitimation für ihren Untersuchungsansatz aus. So leitet sie den Gesamtkunstwerkcharakter einzig aus der vermischten Anordnung der unterschiedlichen Künste und Themen ab, die nicht – wie ursprünglich geplant – voneinander getrennt abgedruckt sind (also nach Malerei, Musik, Bühne und Chronik). Vgl. ebd.: 31, 351. Da Horsley auch nicht auf theoretische Differenzierungen innerhalb der Forschung zum Gesamtkunstwerk eingeht, bleibt ihr zentraler Begriff profillos. Vgl. MARQUARD 1983; BROCK 1983; FORNOFF 2004. 123 KANDINSKY/MARC 1912: 87.
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dankt der Blaue Reiter seine Entstehung, weil sich die Herausgeber die Aufgabe gestellt haben, die latente Anlage sichtbar und im Material erfahrbar zu machen. So heißt es in dem von Franz Marc verfassten Subskriptionsprospekt: „Aus dem Bewusstsein dieses geheimen Zusammenhangs der neuen künstlerischen Produktion wuchs die Idee des ‚Blauen Reiters‘“124. Noch deutlicher wird Marc, wenn er von „feinen Verbindungsfäden“ der Malerei mit der „modernsten musikalischen Bewegung in Europa und den neuen Bühnenideen unserer Zeit“125 spricht, die in den ursprünglichen Plänen des Almanachs auch zur Bildhauerei gezogen werden sollten. Vor diesem Hintergrund erklärt sich, dass zeitweise der Begriff „Kette“ als Titel für den Almanach kursiert,126 der nicht nur eine kultur-synchrone Verbindung, sondern auch einen diachronen Zusammenhang der modernen mit der traditionellen Malerei impliziert. Dieser Konnex ist im Blauen Reiter häufig durch direkte Gegenüberstellungen zweier Bilder erreicht, beispielsweise von Robert Delaunays Tour Eiffel (1911) und El Grecos St. Johannes (1600-1610).127 Seine im eigentlichen Sinne intermateriale Erscheinung erhält der Almanach durch die komplexen TextBild-Relationen128 sowie durch die Partituren Arnold Schönbergs, Anton Weberns und Alban Bergs, die den Almanach beschließen und nicht nur in einer intermaterialen Relation zum Rest des Blauen Reiters stehen, sondern als Vertonungen dreier Gedichte von Maurice Maeterlinck, Stefan George und Alfred Mombert auch auf andere literarische Texte und Kontexte verweisen. Obwohl die Musikstücke nur als Notationen präsent sind, enthalten sie doch die Möglichkeit, nachgespielt zu werden und damit die in Theorie und Malerei dargestellte Entwicklung auditiv nachzuvollziehen. Wie bereits angedeutet, bildet im Hinblick auf die programmatische Einforderung einer Kunstsynthese neben den Texten Kandinskys, die im vorherigen Kapitel ausführlich diskutiert wurden, Leonid Sabanejews Beitrag über die Farboper Prometheus von Skrjabin die wichtigste Quelle im Blauen Reiter. Bei der Interpretation der Oper von Skrjabin ist es für unseren Zusammenhang unerheblich, ob die Einschätzungen in allen Einzelheiten tatsächlich dessen Vorstellungen entsprechen 124 MARC 1912c: 318. 125 Ebd. 126 Vgl. LANKHEIT 1979: 259. 127 KANDINSKY/MARC 1912: 68f. 128 Den unterschiedlichen Graden, wie sie HORSLEY 2006: 352-360 aufstellt, müssen noch solche Text-Bild-Verbindungen hinzugefügt werden, in denen wir es mit einer Schriftintegration in das Material des Bildes zu tun haben oder in denen die Schriftbildlichkeit hervorgehoben ist. Vor allem die Votivbilder (vgl. KANDINSKY/MARC 1912: 133, 150153) sind hier zu nennen sowie die acht Vignetten, die von Marc, Kandinsky und Hans Arp gestaltet wurden (vgl. ebd.: 21, 24, 28, 88, 125, 132, 189, 243).
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oder Sabanejew sie für die eigenen Interessen nutzbar macht.129 Es geht nicht um die Verifizierung oder Falsifizierung der Thesen Sabanejews, sondern um ihre Einordnung innerhalb des Almanachs und die Konsequenzen der Schlussfolgerungen. Diese sehen eine zwingende Ausdehnung der musikalischen Grenzen über die Farbe hinaus – wie es im Prometheus der Fall ist – auf alle „Erregungsmittel, alle ‚Sinnenliebkosungen‘ (anfangend mit Musik bis zum Tanz – mit Lichtspielen und Symphonien von Düften)“130 vor. Als Vorbild für ein derartiges Kunstverständnis dient Sabanejew der Gottesdienst, in dessen Ritus alle Bestandteile zusammenwirken und einen gemeinsamen Zweck verfolgen würden: Dasselbe [den Gebrauch aller Mittel zur Wirkung auf die Psyche, C.K.] entdecken wir z.B. in unserm gegenwärtigen Gottesdienst – dem Sprößling der antiken mystischen Ritualvorgänge; hat sich in diesem Falle, wenn auch in kleinerem Maßstabe, die Idee der Vereinbarung der Künste in eins nicht konserviert, sehen wir hier nicht die Musik (Gesang, Glockenklänge), plastische Bewegungen (das Knien, das Ritual der priesterlichen Handlung), Spiel der Düfte (Weihrauch), Lichtspiel (Kerzen, die allgemeine Beleuchtung), Malerei? – Alle Künste haben sich hier vereinigt zu einem harmonischen Ganzen, zu einem Ziel – dem religiösen Aufschwung.131
Die Engführung von Gesamtkunstwerk und Liturgie geht ästhetikgeschichtlich auf Schelling zurück. Dieser entwirft zum Schluss seiner Philosophie der Kunst (1802/03) das Ideal einer „vollkommenste[n] Zusammensetzung aller Künste, die Vereinigung von Poesie und Musik durch Gesang, von Poesie und Malerei durch Tanz“, wie es bisher nur im Drama des Altertums verwirklicht gewesen sei. Weil sich für Schelling die zeitgenössische Oper nur noch als ein degeneriertes Relikt dieser ursprünglichen Einheit darstellt und das Drama zu seiner letzten Bestimmung die Öffentlichkeit, das ganze Volk als „politische oder sittliche Totalität“ benötigt, kommt für ihn nur der Gottesdienst als Ort des ‚idealen Dramas‘ infrage: „Dieses ideale Drama ist der Gottesdienst, die einzige Art w a h r h a f t öffentlicher Handlung“132. Bei Sabanejew zielt der Vergleich mit dem Gottesdienst einerseits darauf 129 Vgl. zur Kritik an Sabanejews Skrjabin-Rezeption HORSLEY 2006: 184. 130 SABANEJEW 1912: 107. 131 Ebd.: 110. 132 SCHELLING 1859: 380. [Herv. i.O.] Ähnliche Überlegungen dienen bei Wagner zur Grundlegung des Gesamtkunstwerks, ohne allerdings die christliche Messe als Vorbild zu übernehmen. Für Wagner supplementiert die Kunst die Religion, nicht umgekehrt. Seiner Einschätzung nach gilt für das antike Theater, dass es nicht nur die verschiedenen Künste vereint, sondern insofern als politisches fungiert, als es das Gemeinwesen in den Akt der Inszenierung involviert. In der Teilhabe am dramatischen Geschehen erkenne
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ab, der Kunst selbst einen religionsähnlichen Status zu verleihen, andererseits geht es um eine – für die Zeit typische – stärkere Involvierung des Zuschauers. Er soll ein Kunstgebilde nicht nur rational nachvollziehen, sondern auch emotional miterleben. Wie bei Lothar Schreyer kulminiert dieser Vorgang in der Absicht, mit der integralen Verwendung der Materialien eine mystische Schau des Göttlichen zu erzeugen. Es ist die Zeit der Wiedervereinigung dieser sämtlichen zerstreuten Künste gekommen. Diese Idee, die unklar schon von Wagner formuliert wurde, ist heute viel klarer von Skrjabin aufgefaßt. Alle Künste, von denen jede eine enorme Entwicklung erreicht hat, müssen, in einem Werk vereinigt, die Stimmung eines so titanischen Aufschwunges geben, daß ihm unbedingt eine richtige Ekstase, ein richtiges Sehen in höheren Plänen folgen muß.133
Sabanejews Artikel ist der emphatischste Beitrag zur Kunstsynthese im Almanach und zugleich der radikalste, weil er den Interaktionsrahmen auf die olfaktorische Wahrnehmung ausdehnt. Sein von Skrjabin adaptiertes Gesetz der harmonischen Entsprechung bildet innerhalb des Blauen Reiters allerdings einen markanten Gegensatz zu den Artikeln von Kandinsky und Schönberg, die für das Disharmonische als Leitkategorie der neuen Kunst eintreten. Während Kandinskys Zuordnungen von Farben und Musikinstrumenten dazu dienen, eine Entgegensetzung in der Inszenierung zu erreichen (den Gegenklang), dokumentiert die Farb-Ton-Tabelle zu Skrjabins Prometheus – wie sie in einer Fußnote aufgeführt ist134 – eine Verstärkungsbzw. Verdoppelungsstrategie. Sabanejew bestimmt darüber hinaus eine Hierarchie der Künste, indem er zwischen solchen Materialisationsformen unterscheidet, in denen sich ein unmittelbarer Willensausdruck manifestiere – Musik, Wort und plastische Bewegung – und jenen, die hiervon unabhängig seien – Licht und Duft. Aufgrund der ihnen attestierten Unselbständigkeit sind sie den ersteren untergeordnet und erfüllen die bloß sekundäre Funktion der „Resonanz, um den durch die Hauptkünste hervorgebrachten Eindruck zu verstärken“135 . Erstaunlich an dieser Rangordnung im Kontext des Blauen Reiters ist, dass Kandinsky in seiner WagnerRezeption eine derartige Ungleichgewichtung und wiederholende Relation kritisich die Allgemeinheit im Individuum (des Darstellers) und andersherum gehe das Individuum (der Zuschauer) in der Allgemeinheit auf. Vgl. WAGNER 1849a: 1031f. 133 SABANEJEW 1912: 110. 134 Die Zuordnung richtet sich nach dem Quintenzirkel und der Spektralordnung: C – Rot; G – Orange-Rosa; D – Gelb; A – Grün; E – Blau-weißlich; H – ähnlich dem E; Fis – Blau, grell; Des – Violett; As – Purpur-violett; Es/B – Strahlig mit Metallglanz; F – Rot, dunkel. Vgl. SABANEJEW 1912: 112. 135 Ebd.: 111.
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siert.136 Selbst wenn es in seinem Beitrag Über Bühnenkomposition nur um solche Materialien geht, die der Argumentation Sabanejews zufolge in unmittelbarer Abhängigkeit von den Willensimpulsen stehen, zeigt die gegensätzliche Position doch, wie heterogen der Almanach in seinen Forderungen nach einer intermaterialen Verbindung der Künste ist. Zu dieser Einschätzung trägt auch der Beitrag Arnold Schönbergs bei. Seiner Synkrisis von der inneren Einheit bei äußerer Divergenz im Verhältnis von Musik und Text geht das Bemühen voraus, Erstere von der Dichtung zu befreien und sie in ihrer „rein musikalischen Wirkung“137 zu etablieren. Vehement polemisiert Schönberg gegen die Programmmusik und geht Kritiker an, die eine Vertonung ausschließlich danach bemessen, ob in ihr die literarische ‚Vorlage‘ adäquat übersetzt sei. Einem solchen pseudo-mimetischen Verständnis unterstellt Schönberg die „allerbanalste[] Vorstellung […] von einem konventionellen Schema, wonach bestimmten Vorgängen in der Dichtung eine gewisse Tonstärke und Schnelligkeit in der Musik bei absolutem Parallelgehen entsprechen müsse“138. Ganz anders sieht das der russische Mediziner und Mäzen Nikolai Kulbin. ‚Der Vorzug der freien Musik‘ – so eine der Überschriften seines Artikels Die freie Musik, den er vor dem Blauen Reiter bereits 1910 im Sammelband Studio der Impressionisten veröffentlicht hat – besteht für Kulbin in der Annäherung an die Poesie, „weil die Musik hauptsächlich Lyrik ist“139. Was Schönberg radikal ablehnt, gerät bei Kulbin zum eigentlich Gewinn der um klassische Harmoniegesetze befreiten Musik: eine Erhöhung der Darstellungs- und Ausdrucksfähigkeit durch die Nachbildung akustischer Phänomene wie das „Säuseln der Blätter“ oder den „Gesang der
136 Vgl. KANDINSKY 1912c: 195-200. 137 SCHÖNBERG 1912: 63. 138 Ebd.: 64f. Die unterschiedlichen Bewertungen Schönbergs und Sabanejews lassen sich historisch damit erklären, dass die Verbindung von Musik und Dichtung eine lange Tradition aufweist, während Farb-Ton-Kompositionen ein relativ junges Genre darstellen und erst noch der Etablierung bedurften, bevor ihre Trennung oder kontradiktorische Verwendung gefordert werden konnte. Zwar datieren einschlägige Studien den Beginn bereits auf das dritte vorchristliche Jahrtausend und verfolgen die Anfänge in der chinesischen Kultur über die griechische Antike bei Ptolemaios und Aristoteles bis hin zum Paragonestreit der Renaissance unter Leonardo da Vinci und Giuseppe Arcimboldo. Zur eigentlichen Theorie einer Sinnentsprechung ausgearbeitet wurde die Farb-Ton-Relation aber erst im Barock von Athanasius Kircher und später von Isaac Newton. Ihren künstlerischen Durchbruch erhielt sie im 18. Jahrhundert durch die Erfindung des Farbenklaviers von Louis-Bertrand Castel. Vgl. KIENSCHERF 1996: 17-53; JEWANSKI 2006. 139 KULBIN 1912: 126.
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Nachtigall“140 . Mithilfe neuer dissonanter Klangfelder lassen sich für Kulbin Naturillusionen und Stimmungsbilder erzeugen, die den Zuhörer seelisch stärker vereinnahmen würden. Seine Kompositionsgesetze bringen die Musik aber nicht nur in die Nähe zur Lyrik, sondern auch zu Farbe und Licht. Verursacht werden sie über eine Analogie der Interferenzen. Durch eine Verringerung der Abstände in Gestalt von Viertel- und Achtel-Ton-Verbindungen entstehe ein Effekt, der jenem der Wellenbewegungen und Frequenzverhältnisse des Lichtes vergleichbar sei: Das Vibrieren der engen Vereinigungen, ihr Gang, ihr mannigfaltiges Spiel geben eine viel leichtere Möglichkeit, das Licht, die Farben und alles Lebende darzustellen, als die gewöhnliche Musik. […] Durch enge Vereinigungen schafft man auch musikalische Bilder, die aus besonderen Farbflächen bestehen, welche sich in laufende Harmonie verschmelzen, der neuen Malerei ähnlich.
141
Für Kulbin bestehen durch die neuen Kompositionsgesetze die zwei Möglichkeiten, einerseits Vorstellungsbilder und Naturnachahmungen zu erzeugen, andererseits die Materialwirkungen der Farben selbst zu imitieren. Diese beiden Optionen, die sich eigentlich ausschließen, verhalten sich konträr zur Doktrin des Blauen Reiters, auch wenn Kandinsky in seinem Beitrag Über die Formfrage die „große Abstraktion“ und „große Realistik“142 als die zwei Pole der zeitgenössischen Kunst darstellt. Während sie bei Kandinsky unter dem Primat des Geistigen ineinander aufgehen und einer gemeinsamen Zielvorstellung zugeführt werden, sucht man bei Kulbin eine derartige Ausrichtung vergeblich. Seine Schlüsse, die er aus den Möglichkeiten der neuen Musik zieht, stehen damit nicht nur im Widerspruch zur antinaturalistischen Maxime des Expressionismus, sondern sind auch in sich unstimmig. Fasst man die verstreuten Einlassungen für die Konvergenz der Künste zusammen, so ergibt sich insgesamt ein äußerst heterogenes Bild des Blauen Reiters. Während Sabanejew ein korrespondierendes Verhältnis von Materialien im Kunstgebilde bevorzugt, geht es Kandinsky um eine kontradiktorische Relation, die er im Übrigen durch die Gestaltung des Almanachs, insbesondere durch die Gegenüberstellung zeitgenössischer und mittelalterlicher Bilder erreicht. Ein ähnlicher Kontrast konnte bei den Beiträgen Schönbergs und Kulbins beobachtet werden. Wo der Komponist von einer inneren Einheit von Musik und Dichtung ausgeht, daran jedoch eine strikte äußere Trennung knüpft, sieht Kulbin in der atonalen Musik erweiterte naturalistische Darstellungsmöglichkeiten, die den musikalischen Ton – auch 140 Ebd.: 128. 141 Ebd.: 129. Ursprünglich waren diese Parallelen zu einem Konzept der ‚farbigen Musik‘ ausgebaut. 142 KANDINSKY 1912b: 147.
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äußerlich – an die Lyrik annähern. Diese divergierenden Positionen gehen konform mit Einschätzungen, wonach für den Almanach generell Widersprüche und Ungereimtheiten konstitutiv seien.143 Zurückzuführen ist dieser Umstand einerseits auf die große Freiheit, die die Herausgeber den Beiträgern gewähren, zum anderen darauf, dass die Entstehungszeit selbst keine einheitliche Stilrichtung bereitstellt, sondern als Umbruch- und Orientierungsphase zu bewerten ist, in der verschiedene Bewegungen gleichzeitig konkurrieren. In seiner intermaterialen Ausrichtung repräsentiert der Blaue Reiter damit weniger das Ergebnis, als vielmehr den Prozess und die Suche nach einer neuen Form künstlerischen Ausdrucks, der sich im Spannungsfeld einer vergleichenden und um Eigenständigkeit und Emanzipation bemühten Ästhetik bewegt.
U NIO MYSTICA ARTIUM . L OTHAR S CHREYER V ISION DES B ÜHNENKUNSTWERKS ALS INTERMATERIALES M ONOMEDIUM
UND DIE
Das neue Werk ist das Bühnenkunstwerk. Es ist die Einheit und die Gestalt der Kunstmittel Form und Farbe und Bewegung und Ton. LOTHAR SCHREYER
Wenn Wassily Kandinskys theosophische Ausrichtung eine Tendenz zum Religiösen aufweist, so stellen die kunsttheoretischen Schriften des Wortkünstlers, Malers und Theaterrevolutionärs Lothar Schreyer in nuce eine sakralistische Begründung von Kunst dar, aus der heraus die intermateriale Vereinigung verschiedener Künste resultiert. „Das künstlerische Erlebnis ist ein Vorgang wie das religiöse Erlebnis“144, heißt es etwa in einem Artikel für die Zeitschrift Deutsches Volkstum von 1919, und drei Jahre zuvor im Sturm wird die Funktion des Künstlers demonstrativ in Analogie zu derjenigen des Priesters gesetzt.145 Schreyers Schriften, deren kritische Edition und Auswertung immer noch ein Desiderat der ExpressionismusForschung darstellen,146 bilden keine homogene Einheit, sondern lassen sich grob in 143 Vgl. ZWEITE 1998. 144 SCHREYER 1919b: 49. 145 Vgl. SCHREYER 1916/17: 42. 146 Die mittlerweile auf 20 Bände angewachsene Ausgabe der gesammelten Schriften Schreyers hat der britische Literaturwissenschaftler Brian Keith-Smith besorgt. Ihm ist es zu verdanken, dass auch bisher unveröffentlichte Aufsätze aus dem Literaturarchiv
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drei Phasen unterscheiden, die durch die Aufnahme Schreyers in den Sturm-Kreis 1916 und den Ausschluss aus der Bauhausschule 1923 zäsuriert sind. Der ersten Periode von 1911-1916, die noch stark einem traditionellen Kunst- und Theaterverständnis verpflichtet ist, steht die zweite von 1916-1923 gegenüber, in der Schreyer seine wesentlichen Ideen zur Kunstmystik und intermaterialen Vereinigung der Künste entwickelt. Diese werden in der dritten Phase ab 1923 weiter ausdifferenziert und – unter dem Einfluss eines zunehmenden Katholizismus – um einige zentrale Aspekte korrigiert bzw. radikalisiert. Die beobachteten Veränderungen sind im Zusammenhang mit den praktischen Umsetzungen und künstlerischen Arbeiten Schreyers zu erklären. So liegen zwischen dem 1919 verfassten Artikel Die neue Kunst, an dessen Anfang das strategische Eingeständnis steht: „Ich kann nicht sagen, was Kunst ist“147 , und den 1925/26 geschriebenen Gesetzen der Kunst, in denen er dies im Gegenteil sehr genau formulieren kann, sechs Jahre, in denen er seine Ideen als Gründer der „Kampf-Bühne“ in Hamburg (1919-1921) und Leiter der Bühnenabteilung des Bauhauses (1921-1923) erprobt. Ihr Ende findet diese Zeitspanne mit der abrupten Kündigung seines Engagements in Weimar, das mit einer tiefen persönlichen Enttäuschung verbunden ist.148 Forderungen nach einer Abkehr Marbach der Forschung zugänglich gemacht wurden. Da die Edition vielfach Fehler aufweist, kann sie in Konzeption und Redaktion kaum den Ansprüchen einer kritischen Ausgabe genügen. Wenn sie dennoch zitiert wird, dann aus Gründen der Einheitlichkeit und der Möglichkeit, anhand der thematisch gut zusammengestellten Texte Entwicklungslinien aufzeigen zu können. 147 SCHREYER 1919a: 21. 148 Zu den genauen Umständen des Bruchs mit Walter Gropius und den Schauspielschülern anlässlich der Aufführung des Bühnenwerks Mondspiel vgl. VOGELSANG 1994: 327f. Zu Schreyers Bauhaustätigkeit allgemein KEITH-SMITH 2000: 293-300. Schreyer selbst beschreibt seinen Austritt aus dem Bauhaus später im Duktus seiner typischen Versöhnungsrhetorik als freiwilligen Akt: „So schied ich auf meinen Wunsch und in freundschaftlichem Einvernehmen aus dem Bauhaus aus.“ SCHREYER 1956: 129. Wie verfälschend die autobiographische Rückschau Schreyers ist, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass er seinen Weggang in unmittelbaren Zusammenhang mit dem Umzug des Bauhauses nach Dessau und der damit verbundenen industriellen Ausrichtung bringt, obwohl dieser erst ein Jahr später stattfindet. So kommt es erst durch die Änderung der politischen Verhältnisse in Weimar durch die Wahlen im Februar 1924 überhaupt zur Notwendigkeit, einen neuen Standort zu suchen. Im Sommer 1923 steht eine solche Überlegung gar nicht zur Disposition, vielmehr konzentriert sich alles auf die Bauhausausstellung, mit der zum ersten Mal der Öffentlichkeit Einblick in die Arbeiten der Bauhäusler gewährt werden soll. Dass Schreyer nur wenige Wochen davor – ob freiwillig oder unfreiwillig – Weimar verlässt, spricht für sich.
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von Kunsthandel, Kunstkritik, Kunstunterricht und Kunstschulen – eingeschlossen die Bauhäuser selbst –,149 werden vor diesem Hintergrund als radikale Lossagung vom Kunstbetrieb verständlich, an dem Schreyer scheitert und dessen Überwindung er schließlich in die Auffassung von Kunst selbst einschreibt. Will man dennoch den Versuch einer grundsätzlichen Ausrichtung unternehmen, so ist zu konstatieren, dass Schreyers Vorstellungen weit mehr sind als eine spezifische Kunsttheorie. Sie dokumentieren eine Heilslehre, die den Menschen Befreiung vom Leben verspricht, das als Leiden verstanden wird, und die Kunst als Mittel für eine so projektierte geistige Wiedergeburt in die Pflicht nimmt. „Die Kunst wird berufen sein, die große Erzieherin der Zukunft zu werden.“150 Kunsterfahrung – ob in Produktion oder Rezeption – ermöglicht Schreyer zufolge den Zugang zu einer höheren Wahrheit, die in ihrer lichtmetaphorischen Beschreibung unschwer als eschatologischchristliche zu erkennen ist, mit den Vorstellungen von Erleuchtung und Aufgehen in einer All-Einheit als höchstem Stadium der Initiation zugleich auf buddhistische Vorstellungen zurückgreift. Darüber hinaus ordnet Schreyer seine Thesen bewusst in die Traditionslinie der Mystik ein, deren volle Entfaltung seiner Ansicht nach unterdrückt worden sei und die es nun – unter anderen Vorzeichen – zu aktualisieren und zu verwirklichen gelte.151 So schreibt er über seine expressionistische Generation, sie sei „wieder einer Vision fähig“152 , und meint damit das umfassende Erneuerungspathos, das in Texten von Erich Mühsam, Ernst Bloch, Robert Müller und vielen anderen seinen Ausdruck findet.153 ‚Wieder‘ bedeutet bei Schreyer im Speziellen einen Rückbezug auf die Mystik des Mittelalters, mit der ihn der Glaube an eine kontemplative Erkenntnismöglichkeit und insgesamt „ähnliche Weltanschauungsbilder“154 verbinden. Orientiert an den Schriften Meister Eckharts, Paracelsus’ und – weitaus stärker noch – Jakob Böhmes, dessen pathetischen Sprachduktus er adaptiert, entwirft Schreyer einen Expressionismus, der nicht nur Kunstbewegung sein will, sondern überzeitliche Wahrheiten und eine radikale Neuordnung der Welt verspricht.155 149 Vgl. SCHREYER 1925/26: 280-284. 150 SCHREYER 1912a: 5. 151 Zur Mystikrezeption bei Schreyer vgl. KEITH-SMITH 1990: 185-207; KEITH-SMITH 2000: 269-282. Zur Relevanz der Mystik für den Expressionismus insgesamt vgl. WAGNER-EGELHAAF
1987: 55-59.
152 SCHREYER 1919b: 49. 153 Vgl. ANZ/STARK 1982: 128-144. 154 SCHREYER 1925/26: 248. 155 Mit einigem zeitlichen Abstand relativiert sich diese Verabsolutierung der eigenen Kunst, obwohl noch einmal das ganze Pathos nachklingt. So heißt es in einem Beitrag Schreyers für das Hamburger Jahrbuch für Theater und Musik von 1947/48: „Wir wuss-
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Wie bereits angedeutet stehen Schreyers frühe Aufsätze noch ganz im Zeichen eines zeitgenössischen Kunstverständnisses, das die Künste und deren Relation medienpuristisch begreift. Neben Von der Wiedergeburt des Stils plädiert Schreyer vor allem in Von den Grenzen der Künste für deren strikte Einhaltung. In beiden 1912 in den Xenien publizierten Artikeln werden Kunstwerke zunächst dualistisch bestimmt: „Jedes Kunstwerk ist nach zwei Dimensionen bedingt: Form und Gehalt.“156 Während der Gehalt den subjektiven Stil eines Künstlers und seiner Epoche bezeichnet und somit einem steten Wandel unterliegt, verbindet Schreyer mit der Form eine begrenzte Anzahl von Ausdrucksmöglichkeiten, die der Kunst zur Verfügung steht. Sie bildet die objektive, konstante Grundlage einer jeden, unabhängig von ihrer Zeit getätigten künstlerischen Äußerung. Um welche Ausdrucksmöglichkeiten es sich dabei handelt, wird durch zwei weitere Kriterien bestimmt: Material und Technik. Die Materialien wie Farben, Töne oder Sprachlaute verbürgen demnach eine klare Trennung der Künste. Anders als es in dieser Studie im Hinblick auf die Definition von Intermaterialität gezeigt wurde, lässt Schreyer in der Verwendung keine Annäherung der Künste zu, denn auch die Technik ist für ihn im Sinne einer durch die Materialeigenschaften vorgegebenen Behandlung determiniert. Für Schreyer ist damit eine Statik des Kunstsystems zementiert, die wenig Spielraum für Experimente lässt: „Hierin – in diesen Grenzen der Künste zueinander – liegen die für alle Kunstepochen gegebenen gleichen Grundlagen.“157 Daran gekoppelt ist ein qualitatives Kriterium, das für eine strikte Beachtung der Grenzen eintritt. So heißt es emphatisch: „Es darf nie vergessen werden, daß die Reinhaltung der Grenzen der Künste jederzeit ein Merkmal hoher Kultur gewesen ist, und daß es die Aufgabe unserer Tage ist, die Keime des Aufstiegs zu pflegen und zu stützen.“158 Wenn Schreyer dann noch davor warnt, es handele sich um „Grenzen, die nicht ungestraft überschritten werden können“159 , dann liegt eine Konzeption vor, die ten uns in jenen Jahren in den Angelpunkt einer Kunstwende gestellt – in eine geschichtliche Stunde, in den Einbruch neuschöpferischer Kräfte zur Verwandlung der Menschheit, der allzu bald wieder vergessen […] werden würde.“ SCHREYER 1947/48: 276. Ganz ähnliche Äußerungen finden sich in anderen expressionistischen Kunstprogrammen etwa von René Schickele oder Kasimir Edschmid, die den Expressionismus zu einer überzeitlichen Angelegenheit stilisieren. Vgl. SCHICKELE 1916: 38; EDSCHMID 1918: 50, 54. Zur argumentativen Strategie und dialektischen Funktion dieser Rhetorik vgl. KLEINSCHMIDT 2010: 180-182. 156 SCHREYER 1912b: 6. 157 SCHREYER 1912a: 1. 158 SCHREYER 1912b: 7. 159 Ebd.: 11. Bei Schreyer resultiert diese Forderung zusätzlich aus seinem spirituellen Verständnis. So geht er davon aus, dass jeder, dem ein religiöses als künstlerisches Er-
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kaum geeignet scheint, im Zusammenhang mit einer intermaterialen Programmatik verhandelt zu werden. Wie beschrieben macht Schreyer im Kontext seiner Aufnahme in die Künstlervereinigung um Herwarth Walden eine radikale Kehrtwende. So übernimmt er in Das Bühnenkunstwerk (1916/17), einer sich über mehrere Ausgaben des Sturms erstreckenden Artikelfolge, zwar noch die Kunstmittel als Formen der Distinktion, allerdings werden diese im Prozess des künstlerischen Ereignisses letztlich überwunden. Schreyer kann daher in der für ihn typischen anaphorischen Manier beschwören: Es gibt keine Grenzen der Kunst. Es gibt keine Künste, sondern Kunstwerke. Es gibt keinen Materialstil. Es gibt keinen Kunststil, sondern Künstler. Der Machtwille zerreißt die Grenzen der Kunst, der Künste, des Materials durch das Kunstwerk des Künstlers zur Kunst.160
Anders als noch in den Xenien-Artikeln kommt den Materialien nun keine abgrenzende Funktion mehr zu, da der Künstler von der Aufgabe entbunden ist, ihnen ‚gerecht‘ zu werden. Die Absolutsetzung des Künstlers erlaubt einen radikalen Bruch mit dem ‚Materialstil‘, wie er im 19. Jahrhundert als dominantes materialästhetisches Paradigma entfaltet wird und noch bei Kandinsky wirksam ist. Der künstlerische Ausdruck ist bei Schreyer nicht mehr durch die Materialgerechtheit eingeschränkt, sondern es bleibt der Freiheit des Künstlers überlassen, Materialien so zu behandeln und zu kombinieren, dass das allumfassende Geistige „mediumistisch“161 empfangen werden kann. Die Rhetorik vom Willen zur Macht, die Bernd Vogelsang in Verbindung mit einer möglichen Nietzsche-Lektüre bringt,162 steht im Arlebnis widerfährt, über eine bestimmte (technische) Fähigkeit und Affinität zu einer Kunstform verfügt. Seine innere Vision kann er nur dann adäquat und authentisch entäußern, wenn er ausschließlich auf diese Komponenten zurückgreife. Erst die Einhaltung der Grenzen verbürgt also „ein künstlerisches Erlebenis [sic!] ehrlich auszudrücken“. SCHREYER 1912b: 7. 160 SCHREYER 1916/17: 49. 161 BASSLER 2002: 100. 162 Vgl. VOGELSANG 1994: 330. Einen Stellenbeleg fügt Vogelsang für seine Vermutung zwar nicht an, dennoch spricht die um 1915 einsetzende häufige Rede von der Macht und anderen durch Nietzsche geprägten Terminologien wie der „Umwertung der Werte“ (SCHREYER 1920b: 110) für seine These. Auch die Tatsache, dass Nietzsche in expressionistischen Kreisen zur Pflichtlektüre gehörte, erhärtet den Verdacht. Nicht zutreffend ist allerdings die suggerierte Engführung von Schreyers Konvergenz der Künste mit den Schriften des Philosophen. So sind es bekanntlich Wagner und davor die Romantiker, auf die derartige Konzepte zurückgehen. Als konkreten Einfluss kann in diesem Zusam-
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gumentationszusammenhang Schreyers genau für diese Wirkungskraft des Geistigen. So sind alle ‚realen‘ Erscheinungen – zu denen auch die Kunstgebilde in ihrer sinnlichen Wahrnehmbarkeit gehören – in ihrer Materialität als endlich und begrenzt qualifiziert (Reich der Natur), während der Zustand der kontemplativen Schau als unendlich und demzufolge entgrenzt gilt (Reich des Geistigen). Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum die strikte Einteilung der Künste einem Postulat der Grenzauflösung weicht, denn schließlich ist es gerade die Überwindung des Positivistischen, die Schreyer als Ziel anvisiert. Dass sich hierbei das Theater als Ort anbietet, an dem die Künste ohnehin bereits gemeinsam genutzt werden, ist evident. In starker Kritik an der unzulänglichen Ausschöpfung seiner Möglichkeiten hat Schreyer – ähnlich wie Kandinsky mit seinem monumentalen Theater – eine Variante des Bühnenschauspiels entwickelt, das er als so genanntes Einheitswerk versteht und sich am besten als intermateriales Monomedium beschreiben lässt. Die Bezeichnung fasst dabei drei verschiedene Komponenten zusammen: 1. die Verwendung abstrakter Materialien, 2. deren Zusammenspiel zu einem intermaterialen Ganzen, das 3. als Medium einer immateriellen Geistwelt fungiert. Mit dieser Grundlegung sind zwei Paradoxien in der Anlage verbunden. Zum einen die von der medialen Funktion der Künste und ihrem materialen Eigenwert, und zum anderen die plurale Erscheinung der verschiedenen Materialien, die zugleich als Einheit gedacht wird. Voraussetzung für diese Bühnenkonzeption bei Schreyer ist die Konvergenz von Kunst und Mystik, weshalb es vor der genaueren Inblicknahme der Theateraufsätze und der Auswertung ihrer intermaterialen Grundlegung zunächst deren Relation zu klären gilt. Zu diesem Zweck sollen seine über viele Artikel verstreuten Äußerungen mithilfe der Dreiteilung von Kunstproduktion, dem Kunstwerk selbst und schließlich dem Akt der Rezeption zusammengefasst werden. Bezüglich der Kunstproduktion ist erst einmal auffällig, dass Schreyers Verständnis eines Künstlers das genaue Gegenteil der elitären Vorstellungen Kandinskys darstellt, der die Bezeichnung bloß einigen wenigen Auserwählten vorbehält. Dagegen setzt Schreyer ein Credo, nach dem potentiell jeder ein Künstler ist,163 und entwirft die Utopie einer „Menschengemeinschaft, in der alle sich der künstlerischen Kräfte bewußt sind“164 . Künstlerische Kräfte, das sind für Schreyer schöpferische Kräfte, die in jedem Menschen vorhanden seien, nur eben nicht von jedem genutzt würden. In Das Gegenständliche in der Malerei – 1919 abgedruckt in Herwarth Waldens Expressionismus. Die Kunstwende – gibt er detailliert Auskunft über den Akt der Kunstprodukmenhang eindeutig Kandinsky angesehen werden, auf den Schreyer sich explizit bezieht. Vgl. SCHREYER 1948: 292. 163 Vgl. SCHREYER 1923b: 91; SCHREYER 1923c: 103; SCHREYER 1925/26: 282. 164 SCHREYER 1925/26: 282.
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tion. Schreyer unterscheidet darin drei Elemente: das innere Erlebnis, das ‚Gesicht‘ und die materiale Gestalt. Ersteres stellt ein unbewusstes, kontemplatives Moment der Entindividualisierung dar, was in der Terminologie der Mystik als eine „Auflösung der Persönlichkeit im Weltganzen“ 165 zu verstehen ist. In einem zweiten Schritt gelangt das zuvor Erfahrene – so Schreyer – in einer sinnlichen Vorstellung zu Bewusstsein und äußert sich als ein so genanntes ‚Gesicht‘. Diese Bezeichnung, die keineswegs bloß auf visuelle Vorstellungen beschränkt ist und sich auch bei anderen prominenten Expressionisten wie Kasimir Edschmid, Oskar Kokoschka oder Paul Klee als Schlagwort wiederfindet,166 meint eine Vision und innere Schau, die sich mit der Gestaltgebung als dritter Komponente schließlich nach außen kehrt und im Material manifestiert. Obwohl jeder Gesichte erfahren könne, werde nun ausschließlich derjenige zu einem Künstler, für den es eine „zwingende Notwendigkeit“167 darstelle, dem, was er schaut, eine äußere Form zu geben. Das „übersinnliche, ungreifbare Erlebnis“ werde so im manifesten Kunstgebilde mit „sinnlichen, greifbaren Mitteln“168 erfahrbar. Schreyer betont dabei wiederholt, dass es sich zwischen dem Immateriellen und dem Materiellen nicht um einen sukzessiven Vorgang, also ein Abbilden des zuvor Geschauten handelt. Vielmehr fänden Schaffen und Vision zeitgleich statt: „Der Künstler bildet schauend“169 und er verkünde – ein stark bemühter Begriff Schreyers – darin jene Teilhabe an einer geistigen Sphäre, deren Ausdruck das Kunstgebilde sei. In seinem 1919 im Sturm Verlag herausgegeben Buch Die neue Kunst erscheint der Künstler in diesem Prozess keineswegs selbst als Schöpfer, sondern er ist vielmehr das Medium, das „Werkzeug der Notwendigkeit, die durch ihn schafft“170 . In anderen Artikeln stehen als Substitute für
165 SCHREYER 1919c: 13. 166 Kasimir Edschmid schreibt etwa in Über den dichterischen Expressionismus in Bezug auf die Abgrenzungsstrategien der expressionistischen Generation: „Es kamen die Künstler der neuen Bewegung. […] Sie sahen nicht. Sie schauten. Sie photographierten nicht. Sie hatten Gesichte.“ Und einige Zeilen darauf: „So wird der ganze Raum des expressionistischen Künstlers Vision. Er sieht nicht, er schaut. Er schildert nicht, er sucht. Er gibt nicht wieder, er gestaltet.“ EDSCHMID 1918: 46. Vgl. auch Oskar Kokoschka, der vom „Bewusstsein der Gesichte“ als dem „Leben selber“ spricht. KOKOSCHKA 1956: 9. Moritz Baßler sieht in dieser Rhetorik des Visuellen „Variationen der bekannten ‚Schöpferischen Konfession‘ Paul Klees: ‚Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.‘“ BASSLER 1994: 57. Das Zitat findet sich bei KLEE 1920: 28. 167 SCHREYER 1919c: 13. 168 Ebd.: 12. 169 Ebd.: 14. 170 SCHREYER 1919a: 24.
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diese zwingende Notwendigkeit wahlweise der „Geist“171 selbst oder allgemein die „Gestaltungskraft“172, die jedoch beide die gleiche Stoßrichtung angeben: Die Kunstwerke werden nicht vom Künstler gewollt. Die schöpferische Kraft des Geistes ist es, die den Willen bewegt. Der menschliche Wille ist das Werkzeug dieser Kraft, die ihr Centrum in der inneren Welt hat. Das Bild dieser Kraft wird angeschaut mit dem inwendigen Auge, und der Wille bildet mit den körperlichen Mitteln ein Gleichnis: das Kunstwerk, die Kunde und Wirkung der schöpferischen Kraft.173
Was dem Künstler widerfährt, ist ein Aufgehen in den höchsten Zustand der als Stufenfolge gedachten Annäherung an die geistige Kraft: die so genannte Erleuchtung. Als „ekstatischer Mensch“174 erhält er damit Einblick in einen Bereich, den Else Lasker-Schüler bereits Anfang der 1910er Jahre zur Bedingung einer authentischen Schau erklärt hat. So heißt es in ihrem Essay Sterndeuterei, der in Karl Kraus’ Zeitschrift Die Fackel erschien: „Um wirkliche Visionen zu erleben, muß man noch in der ersten Leuchtkraft Gottes sein.“175 In der Argumentation Schreyers bedeutet dies eine Teilhabe am Göttlichen und zugleich eine Befreiung vom Leiden, wie es das Leben ohne Nutzung der schöpferischen Kräfte darstelle. Gegen das persönliche Profitstreben setzt Schreyer mit seiner Kunstreligion auf einen Verzicht individueller Selbstverwirklichung und fordert eine Gemeinschaft, die sich der Liebe als Umgangskriterium verpflichtet und in dem Bewusstsein einer All-Einheit, einer unio mystica aufgeht. Da Schreyer selbst noch die Erfahrung der Gesichte als Leiden begreift und erst die Umsetzung in ein Kunstgebilde Erlösung verspricht, markiert die Materialwerdung das strategische Scharnierstück, an dem Kunst und Religion konvergieren. Insgesamt ist Kunst so die Voraussetzung der Überwindung eines als defizitär bewerteten Lebens und wird damit – wie Jones treffend resümiert – „established as a necessity in human existence“176. Vor dem Hintergrund dieser Erlösungsvorstellung erweist sich das Kunstgebilde als doppeltes Mittel zum Zweck: „Das Kunstwerk hat nur einen Sinn: es ist Mittel, um die Anschauung der inneren Welt zu künden. Seine Wirkung ist: es ist ein Mittel, um zur Anschauung der inneren Welt zu gelangen.“177 Von Seiten der Produktion ist es demnach Kundgabe der Schau, von Seiten des Betrachters der erste Schritt 171 SCHREYER 1923b: 90. 172 SCHREYER 1923a: 87. 173 SCHREYER 1923b: 92. 174 SCHREYER 1918b: 86. 175 LASKER-SCHÜLER 1910/11: 165. 176 JONES 1972/73: 210. 177 SCHREYER 1923b: 94.
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im Initiationsprozess dorthin. Das Dilemma ist dabei nur, dass die materiale Beschaffenheit des Artefakts dieses zwangsläufig zu einem Gegenstand der Erscheinungswelt macht, die ja eigentlich überwunden werden soll und deren Überwindung es anzeigt. Um dieser Problematik zu entgehen, erhebt es Schreyer in den Status eines „Gleichnis[ses] der inneren Welt“178, das traditionellen Konzepten von Mimesis und Abbildlichkeit scharf entgegensteht. Zwar betont er, dass jedes „Kunstwerk […] ein höheres unsichtbares Vorbild“179 habe, was jedoch nicht bedeutet, dass dieses als platonische Idee, die den Realisationsformen nominalistisch vorstehen würde, zu begreifen ist. Es bleibt in diesem Zusammenhang unklar, wie sich das Verhältnis von Vision und Gestaltung genau ausnimmt, doch lässt sich aus den Andeutungen folgern, dass es keine 1:1-Entsprechung geben kann. Die Inkommensurabilität des Geistigen bringt es mit sich, dass zwischen dem Geschauten und seinem Produkt wenn überhaupt nur eine relative Ähnlichkeitsbeziehung besteht. Schreyer behilft sich daher mit der Rede von der „Entsprechung im anderen Bewusstseinszustand“180 und bedient sich eines semiotischen Erklärungsmodells: „Er [der Künstler, C.K.] bildet nicht die ungreifbare, unbegreifbare Vision. Er verkündet sie. Er verkündet sie mit Zeichen, denen die Macht eigen ist, Gefühle auszudrücken. Diese Zeichen sind die künstlerischen Mittel.“181 Schreyer macht sich an dieser Stelle die bipolare Funktion von Zeichen in ihrer arbiträren Verbindung zunutze und ordnet der materialen Seite die Künste und der Vorstellungsseite das Geistige/Visionäre zu. Damit sind beide unmittelbar aneinander gekoppelt, ohne dass es eine zwingende Ähnlichkeitsbeziehung geben müsste. Die Bestimmung des Kunstwerks erfährt bei Schreyer darüber hinaus eine starke Betonung der Geschlossenheit: „So ist jedes Kunstwerk die Welt und eine Welt für sich.“182 Als eigenständiger „Organismus“183 weise jedes Kunstgebilde eine eigene Ordnung auf, die durch einen spezifischen Rhythmus determiniert sei. Wie bei Kurt Schwitters markiert innerhalb der Kunsttheorie Schreyers die Idee des Rhythmus eine zentrale Kategorie, weil sie als Gegenpol zum verhassten Kausalitätsprinzip fungiert: „Der schaffende Künstler kennt die verstandesgemäße Logik nicht. In ihm gestaltet die künstlerische Logik. Die künstlerische Logik erscheint als Rhythmus.“184 Was Schreyer darunter genau versteht, lässt sich am besten mit dem Begriff der Bewegungsstruktur erklären. So meint der Rhythmus des Kunstgebildes das Verhältnis der Materia178 Ebd.: 91. 179 Ebd.: 90. 180 Ebd.: 94. 181 SCHREYER 1916/17: 37f. 182 SCHREYER 1923b: 91. 183 SCHREYER 1923a: 86. 184 SCHREYER 1919a: 28.
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lien zueinander gedacht als Bewegung. Ein Bauwerk beispielsweise sei nicht nur (statische) Einheit, sondern werde in die Dynamik der Beziehung der einzelnen Bestandteile zueinander überführt, die vertikal, horizontal oder diagonal, aber auch zentrifugal oder konzentrisch verlaufen könne. In der expressionistischen Wortkunst, deren wichtigster Vertreter Schreyer neben August Stramm und Rudolf Blümner war, gilt dies für den Rhythmus des Tonfalls und der Wortreihe, weshalb Schreyers Wortkunsttheorie auf eine Aufführung hin angelegt ist. Ihm kommt es dabei auf das spezifische Arrangement und widererkennbare Strukturen innerhalb der syntagmatischen Anordnung an: das so genannte rhythmische Gesetz. Dabei handelt es sich nicht um das Metrum oder gar die Grammatik, gegen die sich Schreyer – ähnlich wie bereits Marinetti mit seinem Technischen Manifest der futuristischen Literatur von 1912 – massiv als Fesseln der Sprache ausspricht,185 sondern in Bezug auf die Wortkunst um die spezifische Musikalität des Rezitativs und allgemein um die Dynamisierung auch jener Künste, die gemeinhin als simultan wahrgenommen würden. In einer Umkehrung des Schiller’schen Diktums vom Rhythmus als „das Beharrliche im Wechsel“186 geht es Schreyer also um den Wechsel im scheinbar Konstanten. Rhythmus meint darüber hinaus das Vergehen und Werden im Weltgeschehen, das über die Vision geahnt werde und dessen Teil jeder Mensch und eben auch die Kunst sei. Er stellt somit das Bindeglied zwischen Artefakt, menschlichem Seelenleben und Weltganzem dar,187 kurz: zwischen Materiellem und Immateriellem. Über allem steht der Machtwille des Geistigen, der sich in der Kunst im „Ordnen der Materie“188 ausdrücke, dabei aber keineswegs auf Harmonie abziele. Wie schon Kandinsky und Schönberg lehnt Schreyer im Gegenteil das Harmonische und die daraus abgeleiteten Kriterien von schön und hässlich als Relikte einer überkommenen Kunstepoche ab und erhebt das rhythmische Kunstwerk als aharmonisches zum neuen Ideal: „Das Kunstwerk ist in seiner Gesamtheit 185 Vgl. ebd.: 40-44; MARINETTI 1912: 24f. 186 So in einem Brief vom 10. Dezember 1795 an Wilhelm Schlegel. Zit. nach WALZEL 1917a: 14. 187 Eine dritte Komponente des Rhythmus, die in Kontrast zu den vorherigen steht, entwickelt Schreyer in Gesetze der Kunst. Hier entwirft er ein Modell verschiedener Bewusstseinsstadien in der Dichotomie von Körper- und Geistwelt, um die herum die Seele spiralförmig gespannt sei und im Moment visionärer Schau in rhythmische Regung versetzt werde. Gemäß seinem zu dieser Zeit stark ausgeprägten Katholizismus, nach dem ein dämonischer, chaotischer Zustand mit einem Harmonischen kontrastiert, soll es das Ziel der Kunst sein, die Seele in harmonische Schwingung zu versetzen. „Das eigene Ich richten, in Ordnung bringen, ist die Wirkung der Kunst auf den Künstler selbst.“ SCHREYER 1925/26: 274; vgl. ebd.: 276f. 188 SCHREYER 1923d: 115.
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kein harmonisches mehr, es ist keine gefesselte Kraft mehr, es ist keine vollendete Endlichkeit. Das Kunstwerk ist ein rhythmisches, es ist eine ungehemmte Kraft, es ist eine Unendlichkeit, eine Nievollendung.“189 Als Ausdruck und Niederschlag des Geistigen vermag das Kunstgebilde natürlich auch den umgekehrten Weg zu weisen. Nicht nur die Schöpfung selbst, sondern auch die Versenkung im Rezeptionsakt verspricht ‚Erlösung vom Leiden‘. In scharfer Ablehnung der Kunstkritik auf der einen sowie wissenschaftlicher und emotionaler Annäherung auf der anderen Seite polemisiert Schreyer gegen das ‚Zerdenken‘ und ‚Zerfühlen‘ von Kunstgebilden und stellt dagegen Intuition und Hingabe als Prämissen der Rezeption.190 Analog zum ersten Moment der Kunstproduktion bedürfe es auch hierbei einer kompletten Selbstaufgabe: Wer Kunstwerke empfangen will, muß auf seine Bildung verzichten. Der Ballast des Wissens, den wir alle noch mit uns herum schleppen, verhindert uns den Ausblick zu den Gesichten, die uns suchen. […] Denn nur, wer sich bedingungslos preisgibt, wer sich unbedingt dem Kunstwerk hingibt, empfängt den Preis, das Kunstwerk zu erleben.191
Dieses Erleben des Kunstgebildes vollzieht sich nach Schreyer als Initiationsritus in mehreren Stufen. In Die neue Kunst sind es zunächst deren drei, die anhand der Malerei exemplifiziert werden: Einer assoziativen Annäherung folgt das Einfühlen – gedacht als Mitschwingen mit dem Rhythmus des Bildes – und schließlich die Versenkung als Einswerden mit ihm. 192 Eine Ausdifferenzierung erfahren diese Stadien in Gesetze der Kunst, der Artikelfolge, in der Schreyer wohl am stärksten die Vorgänge im Einzelnen beschreibt und damit indirekt auch normiert. Analog zu den neun Kunstgesetzen193 gibt er insgesamt neun Stadien auf dem Weg zur Erleuchtung an. Die ersten fünf – Erhebung, Erschütterung, Zerstörung, Reinigung und Konzentration – zeigen die Überwindung des Körperlichen an, während die vier letzten – Selbstschau, Wiedergeburt des Geistes, All-Einheit und Erfahrung des Nichts – dementsprechend im geistigen Bewusstsein ablaufen. Am Ende dieses so vollzogenen Entmaterialisierungsprozesses steht dann die „Vereinigung mit dem 189 SCHREYER 1916/17: 47. 190 Vgl. SCHREYER 1923a: 88. 191 SCHREYER 1919a: 31. 192 Vgl. ebd.: 35f. 193 Die Festlegung auf die Zahlen 1 bis 9 leitet sich bei Schreyer aus der zahlenmystischen Vorstellung ab, dass sich aus deren Kombination alle anderen Zahlen bilden lassen und sich daher in ihnen im übertragenen Sinn alle Verschiedenheit auflöst. Als nicht weiter deduzierbare Einheiten formalisiere sich in den Grundzahlen die „sichtbare Ordnung der Vernunft“. SCHREYER 1925/26: 229.
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Geist, das Eingehen und Aufgenommenwerden im Urgrund des Schöpferischen“194 und als Krönung eine „geistliche Hochzeit“195 mit dem Göttlichen. Vor dem Hintergrund dieser Emphase ist die Einschätzung Brian Keith-Smiths, Schreyers Rezeptionsverständnis zeichne sich durch eine „Stilistik des vertiefenden Bewusstseins durch die Kunst“196 aus, sicherlich viel zu schwach. Gerade wenn er zuvor einen Auszug aus Schreyers Vorwort zu Ein Jahrtausend deutscher Kunst (1954) zitiert, in dem dieser den Rezeptionsakt als Neuschöpfung des Kunstgebildes charakterisiert,197 dann ist die Rezeption, ob nun simultan oder historisch vergleichend, viel mehr als eine bloße Vertiefung; sie ist eine Art kosmischer Zustand, die das dialogische Kunst-Betrachter-Verhältnis auf eine Erfahrung der allgemeinen Vereinigung hin transzendiert. Diese Vereinigung findet schließlich in der revolutionären Theaterkonzeption ihren Höhepunkt. Denn was in Bezug auf das Kunsterlebnis des Einzelnen gilt, intensiviert und potenziert sich in dem Moment, in dem es gemeinschaftlich und in der Wahrnehmung mehrerer Materialien erfahren wird. Schreyers Theatervorstellungen und die damit einhergehende intermateriale Programmatik stehen ganz im Zeichen einer radikalen Erneuerung, die zugleich für sich beansprucht, an die Wurzeln des Schauspiels zurückzukehren. Einhergehend mit einer scharfen Kritik an der Degeneration zur Bildungs- und Unterhaltungsanstalt, aber auch am so genannten expressionistischen Pseudotheater198 entwirft er die Bühne als Kultstätte, in der nicht Dramen, sondern „Mysterienspiele“199 zur Aufführung gebracht werden sollen. Schreyer knüpft damit an die abstrakt-symbo194 SCHREYER 1923b: 95. 195 SCHREYER 1925/26: 266. 196 KEITH-SMITH 1990: 184. Keith-Smith meint damit im Genaueren die kunstgeschichtlichen Arbeiten Schreyers, setzt sie selbst aber in den Kontext seiner grundlegenden rezeptionsästhetischen Auffassungen. 197 Vgl. SCHREYER 1954: 17. 198 Schreyer distanziert sich ausdrücklich von Dramatikern wie Franz Werfel, Ernst Toller oder Georg Kaiser, weil deren Stücke noch weitgehend konventionellen Inszenierungspraktiken verpflichtet seien. Auch das Aufbegehren gegen die Vätergeneration – ein zentrales Thema des literarischen Expressionismus – stößt bei Schreyer auf Ablehnung: „Der Expressionismus will aber gerade die Vereinigung mit dem Vater, die Vereinigung mit der Kraft, aus der wir kommen, nicht ihre Vernichtung.“ SCHREYER 1926: 194. Auch von der sozialistischen Ausrichtung der Literatur mancher Expressionisten distanziert er sich. So heißt es über Walter Hasenclever und Franz Werfel: „Ihre politische Revolution ist missverstandener Marx. Ihre künstlerische Revolution ist nicht vorhanden.“ SCHREYER
1919b: 51. Die Zitate dokumentieren hier einen tiefen Graben, der innerhalb der ex-
pressionistischen Bewegung verläuft. 199 SCHREYER 1948: 396.
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listischen Theaterarbeiten Maurice Maeterlincks und die Mysterienstücke Rudolf Steiners an und führt überdies die theaterreformatorischen Bestrebungen von Peter Behrens und Georg Fuchs weiter, die im Kontext der Münchener Sezession eine Kultbühne etablieren wollten. Kern dieser Bemühungen bildet eine stärkere Involvierung des Publikums, die auch für Schreyer von besonderer Bedeutung ist. So sehen die Statuten der „Sturm-Bühne“ von 1918 einen Ausschluss der Öffentlichkeit vor200 und postulieren stattdessen einen exklusiven Kreis derjenigen, die als Eingeweihte um die religiöse Funktion von Kunst wissen und mit den Schauspielern zusammen an der „gemeinsame[n] Schau“201 partizipieren. „Das Spiel des Bühnenwerks ist als Kunstwerk ein Gemeinschaftswerk.“ 202 Weitere Beteiligte dieses esoterischen Kreises seien Bühnenkünstler und Regisseur, deren Verhältnis Schreyer in Analogie zu Komponist und Kapellmeister stellt; aber auch Techniker, Musiker und bildende Künstler würden als „ausführende Organe“203 zur szenischen Ausgestaltung des Bühnenwerks beitragen. Zentrale Prämisse für die Umsetzung ist zudem die Neuausrichtung der Bühnenmaterialien, deren Indienstnahme für eine naturalistische Wirklichkeitsimitation – wie sie das 19. Jahrhundert ausprägt – Schreyer scharf ablehnt. Ihre Funktionszuweisung folgt konsistent derjenigen der so genannten Einzelkünste, wie sie bereits skizziert wurde, mit dem Unterschied, dass dem Vision empfangenen Bühnenkünstler nicht nur ein Material, sondern mit Form, Farbe und Ton gleich deren drei zur Verfügung stehen, die zudem in Bewegung versetzt werden können. Entscheidend ist hierbei nun, dass Schreyer das Bühnenwerk nicht als eine bloße Verbindung dieser Materialien versteht, sondern als „höhere Einheit“204. Während er 1912 noch vor einer „verschwenderischen Verwendung aller Künste“205 warnt, erscheint die Bühne 1916 als der Ort, an dem das Plurale der Materialien gefordert wird und zugleich Eigenständigkeit behauptet. Es [das Bühnenkunstwerk, C.K.] ist keine Nachschöpfung der Dichtung, kein Werk der bildenden Künste oder des Kunstgewerbes, keine Verbindung verschiedener in Raum und Zeit wirkender Künste. Das Bühnenkunstwerk ist eine künstlerische Einheit. Es sit [sic!] durch Intuition empfangen, in Konzentration gereift, als Organismus geboren. Es ist gebildet aus den künstlerischen Ausdrucksmitteln Form, Farbe, Bewegung und Ton. Es ist ein selb-
200 Vgl. SCHREYER 1918a: 84. 201 SCHREYER 1920a: 1. 202 SCHREYER 1921: 113. 203 SCHREYER 1916/17: 41. 204 SCHREYER 1947/48: 276. 205 SCHREYER 1912c: 5.
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ständiges Kunstwerk, wirkend in Raum und Zeit. Die Bühnenkunst ist eine selbständige Kunst.206
Aus dem zitierten Passus wird klar, dass es sich beim Bühnenkunstwerk weder um ein Gesamtkunstwerk Wagner’scher Provenienz handelt, von dessen bloßem Nebeneinander der Künste sich Schreyer explizit distanziert,207 noch um eine Synthese, wie es teilweise in der Forschung angenommen wird.208 Vielmehr stellt das Bühnenwerk ein Ereignis dar, bei dem der Autonomiestatus der Einzelkünste aufgehoben und in den der Gesamtgestalt überführt ist, ohne dabei jedoch die Distinktionskriterien zu verwischen. Da es hierfür bisher kaum adäquate Beschreibungsverfahren gibt, habe ich eingangs des Kapitels den Begriff eines intermaterialen Monomediums vorgeschlagen. Mit den Ausführungen zu Kunstproduktion, dem Kunstwerk selbst und dessen Rezeption lassen sich die einzelnen Bestandteile noch einmal genauer erläutern und zugleich auf die konkreten Theaterkonzeptionen Schreyers beziehen. So ist die Medienfunktion an die Schau des Göttlichen geknüpft, welche die Voraussetzung jedes künstlerischen Vorgangs ist, darüber hinaus im Kunstgebilde mediumistisch zum Ausdruck kommt und über dessen Wahrnehmung vom Zuschauer nachempfunden werden soll. Schreyer will zu diesem Zweck die Bühnenmaterialien zunächst in ihrem Eigenwert ausloten. So erachtet er es als notwendig, „alle Darstellungsmittel der Bühnenkunst von ihren Elementen aus neu zu finden“209. In der Rückführung auf Grundformen, Grundfarben, Grundbewegungen und Grundtöne sind es Körper und Fläche, die Farben schwarz, weiß, blau, grün, rot und gelb sowie waagerechte, senkrechte, diagonale, konzentrische und zentrifugale Bewegungen und schließlich Höhe, Stärke und Rhythmus der reinen Töne, die jeder Rezipient in ihrer sinnlichen Qualität „unmittelbar ergreifen“210 soll. Unmittelbar meint dabei äquivalent zu Kandinskys Rede vom ‚reinen‘ Gebrauch der Künste ihre Dereferentialisierung und abstrakte Verwendung. Es gelte also die „Formen als Formen, die Farben als Farben, die Bewegungen als Bewegungen, die Töne als Töne“211 zu erfahren, was allerdings nicht einen kompletten semantischen 206 SCHREYER 1916/17: 37. Vgl. ebenso SCHREYER 1919a: 45. Auch hier wird das Bühnenwerk als Hybridbildung im Sinne einer Zusammenstellung bereits bestehender Künste verneint: „Das Bühnenwerk ist Kunstwerk, also eine künstlerische Einheit. Es ist also weder ein Malwerk, noch ein Bildhauerwerk, noch ein Tonwerk, noch ein Wortwerk. Es ist auch nicht eine Mischung verschiedener solcher Werke.“ 207 Vgl. SCHREYER 1948: 292. 208 Vgl. VOGELSANG 1994: 327; WASSERKA 1965: 45. 209 SCHREYER 1956: 21. 210 SCHREYER 1916/1917: 50. 211 Ebd.: 51.
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Verzicht meint. Schreyer hat ebenso wie Kandinsky eine Bedeutungslehre aufgestellt, wonach jeder Materialverwendung eine bestimmte Wirkungsweise zugeordnet ist. Sie erfährt im Bühnenwerk eine Komplexitätssteigerung, indem dieses sich über die wechselseitige Bezugnahme der Materialien und ihre spezifische Relation zueinander definiert und damit die Wirkungsweisen aufeinander bezogen sind. „Die äußere Gestalt ist das Verhältnis der Kunstmittel zueinander.“ 212 Obwohl das Kunsterlebnis selbst irrational ist, kann das Ganze als ein System ausgemacht werden, das sich aus verschiedenen Gliedern, den Materialien, zusammensetzt. Entscheidend ist dabei die unterschiedliche Zugehörigkeit, denn im Bühnenwerk kontrastieren und konvergieren nach Schreyer das ‚Reich der Natur‘ und das ‚Reich des Geistes‘: „Die Teile der Einheit sind endlich, die Einheit ist endlos.“213 Für die intermateriale Perspektivierung, die einzig das sicht- und hörbare Äußere fokussieren kann, zeigt sich daher, dass das Verhältnis der Teile zueinander ein Ganzes bildet, das zwar über die Materialien definiert wird, nicht aber in ihrer Summierung aufgeht. Die Materialien bleiben zwar identifizierbar, voneinander zu trennen sind sie nicht. Schreyer spricht daher vom Fragmentcharakter, sobald ein Element aus dem Gesamtzusammenhang gelöst würde.214 Da sich die Vision des Bühnenkünstlers idealiter gleichzeitig niederschlage, könnten die Materialien auch nicht als präexistent begriffen werden – eine Vorstellung, die freilich nur in der Theorie funktioniert, denn de facto stand zu Beginn jedes Bühnenwerks bei Schreyer meist das Wortkunstwerk, nach dem dann die anderen Komponenten ausgerichtet wurden. Die höhere Einheit findet dabei nicht in der Verknüpfung von Sinnen statt, wie es die Synästhesie vorsieht, sondern – in der Transzendenz von Material und Empfindungsvermögen – im geistigen Bewusstsein. Im Bühnenwerk selbst ist es der Rhythmus, der letztlich alle Segmente verbindet. Zwar hat jedes künstlerische Material seinen eigenen, doch „[a]lle Teile werden von dem Grundrhythmus des Gesamtwerks zusammengehalten“215. Damit wird auch die basale Unterscheidung in Raum- und Zeitkunst aufgehoben. Für Schreyer ist das Bühnenwerk eine rhythmische Gesamtheit, eine intermateriale Einheit, die in beiden Dimensionen – der Zeit und dem Raum – wirkt. Aufgrund dieses Umstands muss das projektierte Bühnenkunstwerk vor allem in seinem Prozesscharakter verstanden werden. Die Aufführung stellt einen Initiationsvorgang dar, an dessen Ende die materiale Verschiedenheit (der äußeren Gestalt) der immateriellen Einheit (der inneren Gestalt) weicht.
212 Ebd.: 50. 213 Ebd.: 48. Schreyer verwendet für die Bezeichnung der Gesamtheit auch den Begriff des Organismus, um deren vitalistische Qualität anzuzeigen. 214 Vgl. SCHREYER 1915/16: 14. 215 SCHREYER 1916/1917: 40.
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Als ein „Gleichnis der großen Welt“216 spiegelt die Bühne für Schreyer die Pluralität der Erscheinungen wider, die letztlich auf eine (göttliche) Totalität zurückzuführen sei: „Jede Kunstgestalt kündet, daß das Viele der gegensätzlichen Kunstmittel eine Einheit finden kann, daß alle Gegensätzlichkeit zu lösen ist.“217 Hinter der äußeren Diversität offenbart sich die ersehnte unio mystica, weshalb Schreyer nicht zufällig einen Vergleich zu dem spätmittelalterlichen Kirchenphilosophen Nikolaus von Kues und dessen Rede vom Zusammenfall der Gegensätze bemüht.218 Es verwundert auch nicht, dass der Status des Theaters – in Abwandlung des Synonyms für die Kirche – als Menschenhaus beschrieben wird, in dem der Zuschauer (den esoterischen Vorstellungen nach) das Kultspiel als „Reinigungsakt“219 erlebe. Diese Umdeutung schlägt sich auch in der architektonischen Ausgestaltung nieder. In Schreyers „Kampf-Bühne“, bei der nichts Requisit, sondern alles Teil der inszenatorischen Wirksamkeit ist, wird die so genannte Guckkastenbühne von der Podestbühne abgelöst, um die herum die Zuschauer kreisförmig angeordnet sind.220 Das Arrangement folgt der Vorstellung, dass die Kreisform Unendlichkeit symbolisiere und damit nur in dieser Anordnung die Voraussetzung für die gemeinsame „Gottschau“221 gewährleistet sei. In der Mitte steht dabei der Mensch, der als Träger aller Materialien gewissermaßen das Zentrum des Zentrums bildet. Durch den Einsatz von Ganzkörpermasken – wie sie Schreyer ab 1920 verwendet – erscheint der Mensch jedoch bloß noch als plastisches Körpermaterial. Er soll keine Rolle mehr im Sinne einer psychologisch motivierten Person spielen, sondern das Menschsein in höherer Weise demonstrieren.222 In Mensch und Maske (1924) erklärt Schreyer, dass die Maske keine Verhüllung darstellt, sondern im Gegenteil „die Form, in der die innere Welt in der äußeren Welt erscheint“223. Als Träger der bewegten Farbformgestalt und Verkünder des Wortes bildet der maskierte Mensch das Konglomerat der Bühnenmittel, er ist gewissermaßen das personifizierte intermateriale Monomedium.
216 SCHREYER 1922/23: 135. 217 SCHREYER 1921: 117. 218 Vgl. SCHREYER 1948: 311. 219 SCHREYER 1922/23: 137. 220 Vgl. WASSERKA 1965: 62f. 221 SCHREYER 1920b: 110. 222 Die „Sturm-Bühne“ verzichtet für ihre Inszenierungen bewusst auf Berufsschauspieler und engagiert Laiendarsteller, die einzig über die Befähigung zur ‚gemeinsamen Hingabe‘ verfügen müssen. Zu weiteren Elementen der Inszenierungspraktiken vgl. WASSERKA
1965: 60-65.
223 SCHREYER 1924: 144.
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Schreyers Programmatik zur Verbindung der Künste ist häufig vorgeworfen worden, sie widerspreche den eigenen Postulaten. So dürfte vor allem sein virulenter Mystizismus, den Schreyer ausschließlich in der Erfahrung verortet wissen will, eigentlich nicht verbalisierbar sein und im Sinne einer argumentativen Beweisführung dargelegt werden, schließlich folgt deren Aufbau jenen Paradigmen der Logik, die das Kunsterlebnis überwinden soll. Kurz: Im Sinne der Fundamentalkritik am Kunstbetrieb müsste eigentlich auch die Theorie überflüssig sein. Deutlich bemängelt das Jones, der Schreyers ganzes theoretisches Gerüst als Versuch der Darstellung des Undarstellbaren begreift und ihm attestiert, an dieser Quadratur des Kreises gescheitert zu sein: „He fails to communicate a positive aspect through art’s function as a vehicle for metaphysical revelation, for as a non-rational concept this cannot be expressed in rational terms.“224 Man muss indes nicht so weit gehen und Schreyer komplettes Versagen unterstellen. Zwar hat Jones Recht, dass die interne Anlage eine Überwindung des rationalen Bewusstseins vorsieht und natürlich niemand theoretisch von etwas überzeugt werden kann, was die Theorie nur dem Kunsterlebnis zuschreibt. Schreyer war sich dessen aber durchaus bewusst. So heißt es in Die neue Kunst (1919), dass der Betrachter nur bis zu einem bestimmten Punkt geführt werden könne und dann sich selbst überlassen sei.225 Die Schriften sind daher eher als Selbstversicherungen zu lesen denn als appellative Sprechakte, zumal sie in jenen expressionistischen Sprachorganen publiziert sind, die größtenteils ohnehin nur von den ‚Eingeweihten‘ gelesen wurden. Hinzu kommt, dass Schreyer versucht, das, was er sagt, im ‚Wie‘ des Sagens umzusetzen. So entwickelt er einen reduktionistischen Sprachstil und einen iterativen, an der Klanglichkeit der Worte orientierten Satzbau. Auch die von Ingo Waßerka gewiss richtig diagnostizierte „Naivität der Darstellung und Begründung von Thesen, die häufig zu Tautologien und Paradoxien führt“226 , wird insofern verständlich, als Schreyers Texte eine performative Umzusetzen dessen versuchen, was sie an Aussagewert generieren. Schreyer erhebt im Übrigen auch gar nicht den Anspruch einer systemischen Begründung, sondern eröffnet hierzu explizit eine Alternative: „An Stelle der Ästhetik setzen wir eine Lehre der Kunstmittel“227 . Obwohl die Verneinung der Tradition des Kunstschönen bei gleichzeitiger vehement und emphatisch vorgetragener Fusion von Kunst und Religion durchaus irritieren mag, für den Kontext von Kunsttheorie und -praxis gilt: Das Erlebnis selbst mag nicht kommunizierbar sein, die Bedingungen seiner Erzeugung seitens des künstlerischen Arrangements sind es schon. Und diese sind bei Schreyer eindeutig intermaterial angelegt. Der spezifische Stellenwert 224 JONES 1972/73: 213f. 225 Vgl. SCHREYER 1919a: 35. 226 WASSERKA 1965: 51. 227 SCHREYER 1918b: 93.
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Schreyers für die expressionistische Programmatik liegt letztlich darin, dass der typisch materialen Reduktion und Überhöhung ins Totalitäre ein Mystizismus beigefügt ist. Aus dieser Zielsetzung resultiert der besondere Charakter des Bühnenwerks als einem intermaterialen Monomedium: Die geistige Unifizierung als kontemplatives Ziel der Kunstbetrachtung verlangt eine Verbindung der Materialien, die auf der Bühne als Ort des ‚Irdischen‘ zwar unterschieden sind, zugleich aber als Einheit und damit Zugang zur mystischen Sphäre wahrgenommen werden sollen.
B ÜHNENREFORM UND A NTHROPOZENTRISMUS W ILLIAM W AUER UND R OLF L AUCKNER
BEI
Die Darstellungskunst im Theater darf nichts wollen als die vollendete Formung ihrer Mittel, sie darf nichts wollen als ausdrucksvolle Gebärden, Töne, Farben, Linien, Gruppierungen, Helligkeiten und Dunkelheiten. WILLIAM WAUER Es gibt eine Geste des Zweifels und ein Licht der Zuversicht, eine Farbe der Schuld und einen Flecken der Neugier, die im Opernkunstwerk Rollen tragen, voll Leben sind und eigener Wirksamkeit. ROLF LAUCKNER
In seiner bis heute grundlegenden Aufarbeitung des dramatischen Expressionismus differenziert Paul Pörtner vier verschiedene Arten des Theaters: „1. die abstrakte Bühnensynthese (Kandinsky, ‚Sturmkreis‘, ‚Bauhaus‘), 2. die theatralische Satire (Sternheim, Kaiser, Goll, Kokoschka u.a.), 3. die Lyrodramatik (Sorge, Hasenclever, Kornfeld, Werfel, u.a.), 4. das politische (aktivistische) Theater (Toller, Brecht, Sternheim u.a.).“228 Ist dieser Einteilung grundsätzlich zuzustimmen, so muss sie doch um einen Typus erweitert werden, bei dem ein emphatisch vorgetragener Anthropozentrismus mit der Aufwertung der Bühnenmaterialien und deren intermaterialer Ausrichtung auf den Darsteller einhergeht. In der Terminologie Pörtners lässt sie sich als Verbindung von abstrakter Bühnensynthese und Lyrodramatik beschreiben. Eine derartige Ausprägung konnte bereits bei Schreyer beobachtet
228 PÖRTNER 1986: 401.
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werden, vor allem aber stehen für diese Richtung der Theater- und Stummfilmregisseur William Wauer und der Dramatiker Rolf Lauckner ein. Wauer, der für sich in Anspruch nimmt, gemeinsam mit Herwarth Walden Begründer des expressionistischen Theaters zu sein, veröffentlicht bereits 1898 eine theaterreformatorische Schrift mit dem Titel Der Kunst eine Gasse. Kritische Beiträge zur Theaterreform, die 1906 eine zweite Auflage findet und dann 1919 unter dem Titel Das Theater als Kunstwerk weitgehend identisch in den Sturm-Büchern wieder abgedruckt wird.229 1909 erscheint zudem mit Die Kunst im Theater. Bemerkungen und Gedanken eine Aphorismensammlung, die Anstöße für eine „zeitgemäße Bühnenästhetik“ 230 geben will. Zu den wichtigsten Bestandteilen der von Richard Wagner und Edward Gordon Craig inspirierten Neuerungsbestrebungen Wauers zählen die Abkehr von der Illusions- und Proszeniumsbühne, die Emanzipation der Inszenierung von der dichterischen Vorlage, die nicht-naturalistische Verwendung und intermateriale Ausrichtung der Darstellungsmaterialien, die stärkere Involvierung des Zuschauers sowie eine Neudefinition der Schauspielerfunktion und damit einhergehend die Bündelung der Gestaltungskompetenz im Regisseur. Wauer, der in Berlin am Deutschen Theater, am Hebbel-Theater und als Direktor am Kleinen Theater unter den Linden selbst Regie führt, ist emphatischer Befürworter des Regietheaters. Der Regisseur bildet für ihn die einzige Instanz, die das Schauspiel als Ganzes überblicken könne und daher verantwortlich sei für die als „Gesamtkunstwerk“ 231 verstandene Aufführung. Als ein „Allerweltskünstler“ 232 komme ihm die Aufgabe zu, den Text des Dichters in die Raumkunst der Bühne zu übersetzten, ihn unter Ausnutzung aller zur Verfügung stehenden Ausdrucksmittel zu inszenieren und die einzelnen Bestandteile zu einer Einheit zu organisieren. „Alle scenischen Mittel, den Darsteller inbegriffen, muß der Regisseur zu einem gemeinsamen organischen Leben verbinden.“233 Wauer wählt immer wieder diese Metaphorik des Organischen, das als Ganzes nur durch die Interaktion seiner Ein229 Eine markante Änderung betrifft die einleitenden Verweise auf Wagner und Craig, die im Wiederabdruck von 1919 getilgt wurden. Möglicherweise wollte Wauer seine Bühnenreform nicht dem Vorwurf des Eklektizismus aussetzen und als besonders innovativ darstellen. Der um Radikalität bemühte Stil seiner Thesen gibt jedenfalls zu dieser Vermutung Anlass. 230 WAUER 1909: 2. 231 Ebd.: 16. 232 WAUER 1919: 48. Die Bezeichnung ist positiv konnotiert. Sie verpflichtet den Regisseur zur kompetenten Beherrschung aller auf der Bühne eingesetzten Mittel. Wauer formuliert damit einen Anspruch, den er als Bildhauer, Maler und Graphiker in Personalunion selbst verkörpert. 233 WAUER 1909: 13.
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zelteile existieren kann.234 Unverkennbar erhalten die beteiligten Ausdrucksmöglichkeiten – Stimme, Gebärde, Linie, Form, Farbe und Bewegung235 – dadurch eine Aufwertung, werden jedoch zugleich in Abhängigkeit zum Gesamten definiert. „Für die einzelnen Inszenierungselemente gibt es außerhalb ihres gemeinsamen Lebens keinerlei Experimentieren, kein Entfalten irgendwelcher Virtuosität oder Wirkung um dieser selbst willen.“236 Im Gegensatz zu Wagner, der die Selbstverwirklichung der Künste mit dem Aufgehen im Ganzen verknüpft,237 und Kandinsky, der für die Eigenständigkeit der Materialien in der Inszenierung plädiert,238 bestimmt Wauer sie im Sinne einer Mixed-Media-Konzeption,239 wonach die Funktion der beteiligten Materialien nur im Zusammenhang besteht. Diese Einheit der Bühne wird garantiert durch die Vorstellung einer inneren Identität der Künste, die nur durch die Materialien ihrer Äußerung unterschieden sind. Die Schauspielkunst ist die Kunst des ‚menschlichen‘ Ausdrucks, wie die Malerei die Kunst des ‚farbigen‘, die Musik die Kunst des ‚klingenden‘, die Bildhauerei die Kunst der Ausdrucksfähigkeit der ‚Form‘ und die Dichtkunst die Kunst ausdrucksvoller ‚Worte‘ ist. Die Künste sind also wesentlich gleich, nur die Kunstmittel sind verschieden. Der ‚Mensch‘ ist das Kunstmittel dort, wie hier ‚Farbe‘, ‚Ton‘, ‚Masse‘, und ‚Wort‘.240
So unscheinbar sich der Satz von der Wesenseinheit innerhalb des Passus ausnimmt, so wirkungsmächtig ist er in Bezug auf die Bestimmung des Wauer’schen Theaterexpressionismus. Denn die Engführung bedeutet, die Bühne als den Ort auszuweisen, an dem sich Kunst in ihrer gesamten Ausdrucksmöglichkeit realisiert. Die unterschiedlichen Materialien drücken ein Gemeinsames aus und setzen somit ihre Wesenseinheit formal um. Die Erkenntnis von der inneren Einheit der Künste geht dabei mit der Entdeckung und Verwendung ihres abstrakten Materialwerts einher. Insbesondere die Tradition der Bühnenmalerei mit ihrer Imitationstechnik ist Wauer ein Ärgernis, das er durch die „Wirklichkeit des ‚Spiels‘“241 ersetzen möchte. Landschaftsdarstellungen oder aufgemalte Interieurs hält er für unsinnig und störend, da ohnehin jedem der Illusionscharakter der Dekoration klar sei. Farben 234 Vgl. ebd. Darin besteht eine wichtige Parallele zur Theaterkonzeption Schreyers. 235 WAUER 1919: 18f. 236 WAUER 1909: 30. 237 Vgl. WAGNER 1849b: 1218. „Nur die Kunstart, die das gemeinsame Kunstwerk will, erreicht […] die höchste Fülle ihres eigenen besonderen Wesens.“ 238 Vgl. KANDINSKY 1912a: 55. 239 Vgl. CLÜVER 2001: 25. 240 WAUER 1909: 15. [Herv. C.K.] 241 Ebd.: 5.
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sollen daher ausschließlich als Farben auftauchen und in die Organisation des Gesamtwerks eingebunden sein. Auch Requisiten sind für Wauer nur dann zulässig, wenn sie das, was sie darstellen, auch tatsächlich verkörpern. Damit vollzieht sich eine radikale Abkehr von der Referenzfunktion, die sich gleichermaßen in der Sprachverwendung niederschlägt. Wauer reduziert den Sinngehalt der Worte und wertet den Klang der Sprechweise auf. Wie es bereits Adolphe Appia in seiner 1899 erschienenen Theaterreformschrift Die Musik und die Inszenierung fordert,242 soll auch das Licht nicht mehr bloß hervorheben, sondern als Stimmungsinstrument seinen eigenen Beitrag zur Gesamtwirkung leisten. Indem diese Gesamtwirkung nun Gradmesser der Gestaltung ist, erfahren die auf ihre Materialien reduzierten Bühnenmittel eine intermateriale Ausrichtung: Ihre Verwendung zielt auf den Gesamtzweck aller zum Einsatz kommenden Künste. Movens aller Veränderungen ist die Absicht, den Zuschauer aus seiner passiven Rolle zu lösen und ihm einen direkten Zugang zu den Materialien des künstlerischen Ausdrucks bereitzustellen. Darin zeigen sich deutliche Parallelen zu den Ansätzen von Kandinsky und Schreyer. Allerdings sind die Bestrebungen Wauers nicht eingebunden in größere esoterische Weltdeutungen, sondern zielen im kleineren Maßstab auf eine anthropozentrische Erneuerung des Theaters. In der Raumgestaltung distanziert sich Wauer zudem von anderen zeitgenössischen Theaterreformatoren wie Georg Fuchs oder Erwin Piscator, die mit beweglichen Bühnensegmenten experimentieren. Für Wauer geht durch die Künstlichkeit der Drehbühne das semantische Potential der Tiefenebene verloren. Er ist zwar nicht grundsätzlich gegen deren Verwendung, will sich aber nicht unter das Diktat der Technik stellen, sondern befolgt den Grundsatz der inneren Notwendigkeit: Das, was ausgedrückt werden soll, gibt die Verwendung der Materialien vor, nicht umgekehrt. Im Sinne der organischen Verbindung sind für Wauer theoretisch alle Bühnenmaterialien gleichberechtigt, dennoch gibt es mit dem Darsteller eine Instanz, die eine Sonderstellung einnimmt: In der Schauspielkunst gipfelt nun alle Kunst ‚auszudrücken‘, denn alle Kunst will ‚Menschliches‘ ausdrücken. Der Schauspielkünstler verfügt aber als Mensch schon in sich und an sich selbst über ‚alle möglichen‘ Ausdrucksmittel; er macht sich auch die der anderen Künste dienstbar. Man kann deshalb mit Recht die Schauspielkunst als die Kunst des ‚Ausdrucks‘ schlechthin bezeichnen.243
Bei Wauer ist der Schauspieler einerseits ein Glied des Gesamten und somit ein Material des Regisseurs, das er innerhalb des Bühnenganzen nach seinen Vorstel242 APPIA 1899: 81-90. 243 WAUER 1909: 15.
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lungen arrangieren kann, andererseits kommt ihm ein besonderer Status zu, weil er die Bedingungen der Bühne en miniature verkörpert. Als ein Konglomerat aller Künste obliegt ihm die Aufgabe, nicht nur in seine Rolle zu schlüpfen, sondern das, was er spielt, auch tatsächlich zu erleben. Im Gegensatz zum Regisseur dürfe er deshalb keine Vorstellung vom Ganzen der Aufführung haben, weil seine Handlung situationsadäquat und ‚authentisch‘ sein soll. Ebenso wie die Bühnenelemente durch ihre Materialwerte wirken, muss auch er das Material seiner Kunst – also den Köper in Ton und Bewegung – so zum Einsatz bringen, dass dessen Inneres in Mimik und Gebärde an die Oberfläche dringt und vom Zuschauer unmittelbar wahrgenommen werden kann. „Der ‚Eindruck‘ durch den ‚Ausdruck‘ ist der künstlerische Endzweck“244 . Der Grad seiner Aktionen bemisst sich demnach nicht am Verhältnis zur literarischen Vorlage, sondern an der Funktion innerhalb der Gesamtinszenierung. In Klangfarbe und Intonation, in Auftritt und Tempo der Bewegung ist der Darsteller in ständigem intermaterialem Austausch mit den ihn umgebenen Bühnenmaterialien begriffen, deren Prinzipien er vereint. Wauers Ästhetik ist ein Plädoyer für das Gesamterlebnis Bühne. Er zelebriert ein Ideal des Theaters als Kult(ur)stätte, zeigt aber vor allen Dingen, dass eine Programmatik der Intermaterialität und eine anthropologische Grundlegung der Kunst sich nicht ausschließen müssen. Da das Material einerseits als Oberfläche und Ausdruck einer tieferen Seinssphäre begriffen wird, anderseits eine Aufwertung zum Abstrakten erlebt, entsteht eine intermateriale Verbindung der Künste, die belebt, existentiell durchdrungen und gleichzeitig rezeptionell wirksam ist. Dass Wauer bereits ab 1913 als Filmregisseur arbeitet, ist kein Eingeständnis eines Scheiterns dieser Konzeption, sondern beweist vielmehr sein Gespür für das künstlerische Potential der neuen Technik, mit der sich der menschliche Körper im Detail seines materialen Ausdrucks, d.h. der Mimik und Gestik, durch Kameraeinstellungen viel stärker inszenieren lässt.245 Es mag aber gewiss kein Zufall sein, dass sein erstes Filmprojekt mit dem Titel Richard Wagner von 1913 ausgerechnet eine Hommage an jenen Künstler darstellt, dessen Gesamtkunstwerkkonzeption den Ausgangspunkt der eigenen Reformbemühungen bildet. Die bühnenreformatorischen Bestrebungen des Dramatikers Rolf Lauckner sehen ebenfalls eine Zentralstellung des Menschen vor, auf den die in ihrer Ausdruckskraft voll ausgeschöpften Materialien hin ausgerichtet sein sollen. Lauckner, der zu den in Vergessenheit geratenen Autoren des Expressionismus gehört, ist in den 244 WAUER 1919: 17. 245 Vgl. hierzu auch Wauers Ausführungen zu den technischen Grundlagen des Films in dem gleichnamigen Artikel der Ersten internationalen Filmzeitung. Vgl. WAUER 1915: besonders 6.
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1920er Jahren ein viel gespielter Dramatiker, der neben Schauspielen auch Gedichte und später Drehbücher schreibt. Seine Stücke werden an den wichtigsten Bühnen der Zeit uraufgeführt wie etwa die Komödie Der Sturz des Apostel Paulus im Januar 1919 unter der Regie von Max Reinhardt am Deutschen Theater in Berlin oder Schrei aus der Straße 1923 unter der Beteiligung von Gustaf Gründgens im Berliner Theater in der Kommandantenstraße. Trotz dieser Bedeutung für den Theaterexpressionismus tauchen seine Stücke selbst in jenen Anthologien wie Schrei und Bekenntnis nicht auf, die sich explizit um eine Wiederentdeckung expressionistischer Bühnenautoren bemühen.246 Ein Grund hierfür mag sein, dass Lauckner von seinen Zeitgenossen in Konkurrenz zu seinem Stiefvater Hermann Sudermann gesehen wird, der mit Dramen wie Die Ehre (1889) oder Romanen wie Frau Sorge (1887) reüssiert und weitaus stärker im kulturellen Gedächtnis verankert ist. Im Verhältnis zu Sudermann haftet Lauckner bis heute der Stempel des Epigonentums an. Bleiben seine Schauspiele also einer Neulektüre überantwortet, die freilich an Kriterien der ästhetischen Qualität gemessen werden muss, so gilt es vor allem, die Forderungen nach einer Konvergenz der Künste für die Forschung neu zu entdecken. Obwohl sich seine Publikationen auf eine kleine Anzahl beschränken, nehmen sie in ihrem programmatischen Eintreten für die Synthese der Künste eine wichtige Stellung im Expressionismus ein. Zugänglich sind drei Aufsätze, von denen sich einer mit der Oper beschäftigt und dem 1918 im Reiss Verlag herausgegebenen Drama für Musik Frau im Stein beigefügt ist. Die beiden anderen Artikel – Der Weg zur expressiven Schauspielkunst und Der Aufbau des dramatischen Erlebnisses in der Gegenwart – sind in der Zeitschrift Das junge Deutschland ebenfalls 1918 publiziert und setzen sich unter ästhetischen, historischen wie politischen Gesichtspunkten mit der Situation des Theaters und der Schauspielkunst auseinander. Ausgangspunkt für Lauckners Erneuerungswillen ist wie bei so vielen Reformatoren des Theaters bzw. der Oper die Diagnose eines desaströsen zeitgenössischen Zustandes dieser Institutionen. Von „Geschmacklosigkeit“247 und „kunstfeindlichen Tendenzen“248 ist da die Rede, von einem „Wust von zusammengeschobenen Bühnenrequisiten“249 oder der „Seelenlosigkeit der szenischen Vorgänge“250. Anders aber als der typische Duktus, der den gesamten Kunst- und Kulturbetrieb diskreditiert, geschieht die Kritik bei Lauckner aufgrund einer beobachteten Rückständigkeit der Bühne gegenüber allen anderen Künsten. Während in der Musik, Literatur
246 Vgl. OTTEN 1959. 247 LAUCKNER 1918b: 76. 248 Ebd. 249 Ebd.: 75. 250 Ebd.
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oder Malerei Schlagworte wie „Synthese, Tendenz, Symbol, Abstraktion“251 die Runde machten, sei das Theater in seiner Abhängigkeit von öffentlichen Finanzquellen träge und einem konservativen Kunstverständnis verpflichtet. Dieser Umstand ist für Lauckner umso verhängnisvoller, als er die Bühne gerade als integrales Medium ansieht, dessen beteiligte Künste in eine harmonische Einheit gebracht werden sollen. Sein Artikel Von den Forderungen an eine neue Oper setzt dementsprechend bei einem Missverhältnis an, das bereits rund 70 Jahre zuvor von Wagner angeprangert wurde: nämlich dem Primat der Musik gegenüber der Dichtung und – über Wagner hinausgehend – der bildenden Kunst. Handlung, Stoff, Sprache, Gestaltung, Bild und jede dichterische Wahrhaftigkeit, das seelische Erleben, kurz alles, was in organischer Verbindung mit der Musik der Oper als Kunstwerk eine Berechtigung erobern konnte, hat man sich gewöhnt als unwesentlich zu betrachten und damit die künstlerischen Gleichgewichte des Ganzen, anstatt feinfühlig abtastend seine Schwerpunkte einzurichten, in eine heillose Verwirrung gebracht.252
Für Lauckner bleibt das Gesamtwerk Oper so lange Fragment wie es nicht zu einer organischen Einheit seiner Bestandteile gekommen ist, und hierzu sei vor allem eine Aufwertung der Malerei nötig, für deren Vernachlässigung er Wagner scharf kritisiert. Wie auch Kandinsky geht Lauckner allerdings fehl in der Annahme, dieser habe die bildende Kunst komplett außer Acht gelassen. Zwar erfahren Dicht-, Tonund Tanzkunst eine eindeutige Präferenz, doch die Malerei findet durchaus ihren Wert, indem sie bei Wagner als naturalistische Landschaftsmalerei der Gesamtwirkung zuträglich sein soll.253 Lauckner dagegen plädiert für einen Paradigmenwechsel in der Rangordnung der Oper. Für ihn bildet die Bühne als Ganze einen „Gemälderahmen“254, in dem sich die Handlung in Form von Bewegungsfolgen abspielt. Die malerische Gestaltung soll dabei „als Linienverbindung, als Ausschnitt, als Farbfolie und Lichtspiel“255 aktive Funktion gewinnen und mitspielen. Unter Einfluss des abstrakten Expressionismus gerät die Oper so zu einer zweidimensionalen Flächenkunst mit Reliefelementen. In dieser Aufwertung des Visuellen erweist sich das Verhältnis der Künste als ambivalent. Einerseits ermöglicht die gleichwertige Integration der Malerei eine 251 LAUCKNER 1918d: 253. 252 LAUCKNER 1918b: 75. 253 Vgl. WAGNER 1849b: 1273: „Die Landschaftsmalerei aber wird, als letzter und vollendeter Abschluß aller bildenden Kunst, […] uns […] lehren die Bühne für das dramatische Kunstwerk der Zukunft zu errichten.“ 254 LAUCKNER 1918b: 82. 255 Ebd.: 81.
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Entlastung von Sprache und Musik und damit deren stärkere Profilbildung, zum anderen aber setzt sie einen Prozess der wechselseitigen Durchdringung in Gang. Am Schluss des Aufsatzes Von den Forderungen an eine neue Oper steht denn auch der Aufruf an eine synästhetisch sensibilisierte Adressatenschaft, welche die „Musik des Bildes“, die „Farbe der Worte“, die „Linie des Tones“ und die „Sprache der Fläche“256 erfahren soll. Unverkennbar geht Lauckner von einem intermaterialen Potential der Künste aus, auch wenn er dies in anderer Hinsicht verneint. So heißt es in seinem Plädoyer für eine expressive Schauspielkunst: Man muß von der Trennung zwischen einer tonlichen, einer bildnerischen und einer die seelischen Konflikte betreffenden, dichterischen Fantasiefähigkeit ausgehen, um zu verstehen, daß z.B. Shakespeare nicht Maler, Beethoven nicht Dichter und Velasquez nicht Musiker werden konnte.257
Das Argument scheint der wechselseitigen Durchdringung zu widersprechen, doch gilt es, genau auf den Wortlaut zu achten. Lauckner geht es um die Unterscheidung der Fantasietätigkeit und nicht der Materialien ihres Ausdrucks. Einsichtig wird dies auch in der Sonderstellung des Schauspielers, in dem sich die drei Kunstarten verdichten und ihm gleichzeitig als Mittel der Projektion dienen. In der „Universalkunst der Darstellung“258 korreliere die äußere Vereinigung der Künste (Bühnenbild, Orchester, Sprache) mit der inneren des Darstellers (Gestik, Mimik, gesprochenes Wort, Bewegung), weshalb es das Ziel einer jeden Opern- oder Theateraufführung sein müsse, „die gegebenen Kunstkomponenten einheitlich in die Gestaltung des menschlichen Erlebnisses zu gipfeln“259. Wie bei Wagner und Wauer steht bei Lauckner der Mensch im Zentrum der vereinigten Bühnenmaterialien und bildet darüber hinaus eine Verbindung verschiedener Künstler- und Ausdruckstypen: „So wird er [der Schauspieler, C.K.] sich als Musiker die Liebe, als bildender Künstler das Interesse und als Dichter die Erschütterung seiner Umgebung erringen.“260 Das in den Artikeln vorgetragene Bemühen um ein Gesamtkunstwerk ist in Lauckners Schauspielen nur in Ansätzen erkennbar. Weil diese Stücke im Kapitel zur Bühnenkomposition nicht untersucht werden, soll an dieser Stelle kurz auf sie eingegangen werden. So findet sich in dem Drama mit Musik Frau im Stein, das den Mythos des Minotaurus aufgreift, zwar eine Verdichtung des Stoffes und eine Konvergenz von seelischer Verfasstheit der Figuren und räumlicher Konstruktion, 256 LAUCKNER 1918b: 90. 257 LAUCKNER 1918c: 75. 258 Ebd.: 78. 259 LAUCKNER 1918b: 78. 260 LAUCKNER 1918c: 76.
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in seinen Bühnenanweisungen ist das Zusammenspiel der Künste aber keineswegs so radikal erprobt, wie es programmatisch eingefordert wird. Nur in wenigen Passagen geben die Regieanweisungen Auskunft über die Art der Inszenierung, wie etwa im ersten Akt, in dem der Aufstieg von Ariadne und Theseus durch eine LichtMusik-Komposition begleitet wird.261 Auch das Kolorit der Figuren lässt Ansätze einer Farbordnung erkennen, doch insgesamt bleiben Forderungen nach einer zweidimensionalen Bildwirkung und abstrakten Farbgestaltung unerfüllt. Ähnliches trifft bei anderen für Musik geschriebenen Stücken wie Satuala (1926) oder Nadja (1929) zu, deren Thematik Priorität vor den Bedingungen ihrer Aufführungen zu haben scheint. Eine Ausnahme bildet dagegen eine unveröffentlichte Komödie mit dem bezeichnenden Titel Tannhäuser wird probiert, die dem Werkverzeichnis von Gunter Goebel zufolge Ende der 1940er Jahre entstanden sein muss262 und eine Parodie auf den Bayreuther Festspielbetrieb darstellt. Angefangen vom Dichter über den Regisseur bis hin zur Souffleuse, Garderoben- und Putzfrau lässt Lauckner hier alle Opern-Beteiligten auftreten, die Proben aber immer in einem heillosen Chaos enden. Der ironische Ton macht Tannhäuser wird probiert zu einer Ausnahme unter den häufig verkitschten Stücken Lauckners und kündigt zugleich die pessimistische Abkehr von der Gesamtkunstwerksidee an. Denn in der Diegese bleibt es zum Schluss offen, ob es überhaupt zur Uraufführung kommen kann. Lauckners Wunsch nach „staatlichen Experimentierbühnen“263, bei denen Künstler frei von wirtschaftlichen Einflüssen emphatisch an der Universalkunst des Theaters arbeiten können, scheint nur noch in der Parodie realisierbar: „So v i e l e Künste aneinanderhängen. / Und irgendwo klappt immer etwas nicht“, heißt es aus dem Mund des Dichters, dem der Intendant nur beipflichten kann: „Bravo! … Das ist besonders gut! Es sollte sogar heißen: Und nirgendwo klappt niemals nirgends nichts!“ 264
261 „Es wird für Augenblicke ganz still. Schneller wechseln Licht und Dunkelheit. Beide klimmen rechts im Bogen zur Höhe hinauf und die Musik geht leise ihr Fortschreiten mit. Oben in der Mitte erscheint zuerst Ariadne, für kurze Zeit grell beleuchtet. Die Musik steigert sich aufs neue in ihre Angst.“ LAUCKNER 1918a: 17. 262 Vgl. LAUCKNER 1963: 428. 263 LAUCKNER 1918d: 253. 264 LAUCKNER o.J.: 504. [Herv. i.O.]
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D IE D EMOKRATISIERUNG DES M ATERIALS . K URT S CHWITTERS ’ M ERZKUNST Mein letztes Streben ist die Vereinigung von Kunst und Nichtkunst zum Merz-Gesamtweltbilde. KURT SCHWITTERS
Dass ein Epochenschema zur Charakterisierung eines Künstlers oft nicht ausreicht, zeigt sich besonders eindrücklich an Kurt Schwitters. Die üblicherweise vorgenommene Unterteilung seines Schaffens in eine expressionistische Frühphase, eine dadaistische Hauptperiode und eine Wende zum Konstruktivismus mag für seine Bilder, Collagen, Assemblagen, Plastiken und Bauten zutreffen, hinsichtlich der kunsttheoretischen Schriften greift sie jedenfalls nicht. Hier zeigt sich vielmehr eine Durchmischung verschiedener Auffassungen zur Kunst, die quer zur zeitlichen Ismen-Folge liegt und immer wieder Positionen bekräftigt, die scheinbar als überwunden gelten. Seine Merz-Kunst, die zu Recht als eine „Ein-Mann-Bewegung“265 charakterisiert wird, bedient sich verschiedener, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kursierender Auffassungen, ohne sich eindeutig einer zuordnen zu lassen. Besonders das Verhältnis zum Dadaismus ist komplex und von einer affirmativen Distanz geprägt.266 Schwitters selbst hat durch verschiedene Aussagen einer Identifizierung ebenso Vorschub geleistet wie er sich immer wieder dagegen gewehrt hat.267 Der Widerspruch ist dabei von anderer Art als derjenige, der zur dadaistischen Rhetorik selbst dazugehört. Bei aller existentiellen Tragweite der Auseinandersetzung Schwitters’ mit dem Dadaismus sind die anlehnenden wie ablehnenden 265 ELDERFIELD 1987: 32. 266 Vgl. SCHMALENBACH 1967: 101-107; NÜNDEL 1981: 33-36; SHEPPARD 1982; WIESING 1991: 80-100. 267 Zwei exemplarisch herausgegriffene Zitate aus den Kommentaren Schwitters’ zum Dadaismus demonstrieren dies. So spricht er einerseits von seiner „dadaistischen Zeit“ (SCHWITTERS 1927b: 255) und betont andererseits: „ich […] gelte als Dadaist, ohne es zu sein“ (SCHWITTERS 1926a: 241). Erklären kann man die widersprüchlichen Aussagen dadurch, dass Schwitters die dadaistische Bewegung in Kern- und so genannte Huelsendadaisten unterteilte. Mit Vertretern der ersten Richtung wie Hans Arp oder Tristan Tzara verband ihn eine Freundschaft, während das Verhältnis zum Kreis um Richard Huelsenbeck durch gegenseitige Polemiken gekennzeichnet war. Elderfield bringt daher die Begriffsinnovation ‚Merz‘ in Zusammenhang mit der verweigerten Aufnahme Schwitters’ durch den Dadaistischen Zentralrat in Berlin. Demnach sei die Bezeichnung als eine Ausweichstrategie zu verstehen. Vgl. ELDERFIELD 1987: 39.
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Passagen in seinen Texten von einer Ironie und einem Hang zum Spielerischen getragen. Aufgrund dieses Gestus, der Schwitters’ Stil grundsätzlich zukommt268 und damit die teils utopischen Forderungen in der Art ihrer Darbietung relativiert, verwahrt Schwitters sich gegen den dadaistischen Ernst in der aggressiven Frontstellung zum Expressionismus, und erhebt die Toleranz gegenüber anderen künstlerischen Strömungen zur Maxime. Neben diesen Unterschieden gibt es auch Gemeinsamkeiten. Programmatisch teilt Merz mit Dada den Hang zum Absurden und die willkürliche Auswahl von Materialien, die aus ‚Wirklichkeitskontexten‘ entrissen und in Collagen zu irritierenden, nicht mehr kohärenten Einheiten zusammengefügt werden. Schwitters’ Merzkunst entbehrt allerdings der politischen Implikationen, die vor allem für den Berliner Dadaismus um Richard Huelsenbeck kennzeichnend sind. Für Schwitters geht es darum, die Autonomie der Kunst zu bewahren. In dieser Hinsicht steht er dem Expressionismus nahe, dem er durch die ihm zukommende Förderung von Herwarth Walden und seinem Sturm-Kreis verpflichtet ist. Wie Lambert Wiesing überzeugend darlegt, teilt Schwitters über dieses persönliche Verhältnis hinaus das Subjektivitätsideal des Expressionismus, wonach der Künstler als Schöpfer einer eigenen Welt fungiert.269 Daneben ließen sich mit der Auffassung von Kunst als einem „geformte[n] Ausdruck religiösen Erlebens“270 und dem „Gefühlswert“271 als Ziel der Kunst noch weitere Überschneidungen nachweisen, die den programmatischen Kernbereich des Expressionismus betreffen; entscheidend für die intermateriale Perspektive auf die Merzkunst ist aber, dass mit ihr die Ideen zur Kunstsynthese aufgegriffen und radikalisiert sind. Im Hinblick auf die Forderung nach einem integralen Kunstwerk, das alle Sparten gleichberechtigt vereint, steht Schwitters in unmittelbarer Nähe zu Gruppierungen wie dem Blauen Reiter oder den Sturm-Künstlern. Über deren Theorien hinaus radikalisiert Schwitters die materialästhetische Stoßrichtung, indem er sie in dadaistischer Manier auf nichtkünstlerische Materialien ausdehnt. In einem gewissen Sinn stellt Merz daher das Bindeglied zwischen Expressionismus und Dadaismus dar. Anders als etwa bei Kandinsky, Schönberg oder Schreyer, denen jeweils eine Kunstart als Hauptbetätigungsfeld zugeordnet werden kann – deren herausragende Beherrschung sich zumeist auch in den intermaterialen Versuchen zeigt –, ist Schwitters auf fast allen Kunstarten, seien sie bildnerischer, literarischer oder architektonischer Art, gleichermaßen versiert. Die intermateriale Überführung, d.h. das Verlangen, „die Grenzen der Kunstarten zu verwischen“272, ist ihm dabei so selbst268 Korrespondenz und Abgrenzung zur romantischen Ironie untersucht NOBIS 1993. 269 Vgl. WIESING 1991: 94f. 270 SCHWITTERS 1920a: 56. 271 SCHWITTERS 1938: 364. 272 SCHWITTERS 1920b: 79.
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verständlich, dass er die Begriffe Künstler und Gesamtkünstler synonym verwendet: Die Beschäftigung mit verschiedenen Kunstarten war mir ein künstlerisches Bedürfnis. Der Grund dafür war nicht etwa Trieb nach Erweiterung des Gebietes meiner Tätigkeit, sondern das Streben, nicht Spezialist einer Kunstart, sondern Künstler zu sein.273
Die Begründungsdokumente zur Merzkunst verfasst Schwitters wesentlich in den Jahren 1919 bis 1924, wobei sich ihre Wirkung an der enormen Verbreitung ablesen lässt, die sie durch den Wiederabdruck in diversen Zeitschriftenorganen erfahren. Zu unterscheiden ist zwischen jenen Artikeln, die eine spezielle Kunstart anvisieren – Die Merzmalerei (1919), Merzzeichnungen und i-Zeichnungen (1927), Merzdichtung (1927) –, und solchen, die im eigentlichen Sinne ein Gesamtkunstwerk propagieren wie An alle Bühnen der Welt (1919), Die Merzbühne (1919), Merz (1920), Aus der Welt: ‚Merz‘ (1923), [Die Bedeutung des Merzgedankens in der Welt] (1923), Merz (1924) und Das Ziel meiner Merzkunst (1938). Hinzu kommen weitere Artikel über die Bestimmung von Kunst, in denen bestimmte Aspekte des Merzgedankens diskutiert werden, sowie Sonderformen wie die so genannte i-Kunst – i (Ein Manifest) (1922) – oder die Konzeption der Normalbühne Merz – [Die normale Bühne Merz] (1924), Normalbühne Merz (1925), Normalbühne (1925). Als wichtigstes Kriterium von Merz, das seinen Namen laut Schwitters einem Zufall verdankt,274 kann die Demokratisierung des Materials verstanden werden. Hierfür sind vor allem drei Merkmale kennzeichnend: Erstens beschränkt sich die Auswahl des zur Verfügung stehenden Materials nicht mehr auf den Kanon der klassischen Künste, sondern prinzipiell alles kann zur Kunst gestaltet werden. Damit einhergehend erhalten alle verwendeten Materialien – sei es ein Geldschein oder eine weggeworfene Konservendose – den gleichen Stellenwert; welchen Status sie vor ihrer Vermerzung auch immer hatten, im Zuge ihrer Kunstwerdung wird er nivelliert. Dadurch folgt drittens eine Dehierarchisierung innerhalb des Kunstgebildes, weshalb nicht mehr eindeutig ein Basismaterial angegeben werden kann, mit dem andere Materialien interagieren. Schwitters plädiert für ein Gleichgewicht und ein genaues Austarieren der zum Einsatz kommenden Materialien, das als Kern der intermaterialen Ästhetik Schwitters’ an späterer Stelle genauer in den Blick genommen werden soll. Zunächst ist es wichtig, den innovativen Anspruch von Kunst als einer „soziale[n] Anschauung“ 275 vor dem Hintergrund seiner traditionellen 273 Ebd. 274 Der Begriff Merz stammt aus einer Anzeige der Kommerz- und Privatbank, die Schwitters für eine Collage, das Merzbild, verwendet. Vgl. SCHWITTERS 1927a: 252. 275 Ebd.
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Anbindung zu rekonstruieren, denn die demokratische Materialästhetik wird – wie bereits angedeutet – unter dem vorbelasteten Namen des Gesamtkunstwerks geführt. Ihre radikalste Formulierung erfährt sie im Aufruf An alle Bühnen der Welt (1919), der mit dem bekannten Postulat beginnt: Ich fordere die restlose Zusammenfassung aller künstlerischen Kräfte zur Erlangung des Gesamtkunstwerks. Ich fordere die prinzipielle Gleichberechtigung aller Materialien, Gleichberechtigung zwischen Vollmenschen, Idiot, pfeifendem Drahtnetz und Gedankenpumpe. Ich fordere die restlose Erfassung aller Materialien vom Doppelschienenschweißer bis zur Dreiviertelgeige. Ich fordere die gewissenhafteste Vergewaltigung der Technik bis zur vollständigen Durchführung der verschmelzenden Verschmelzungen.276
Schwitters übernimmt den von Wagner geprägten Begriff des Gesamtkunstwerks, ohne sich auf dessen Konzeption zu beziehen. Weder in diesem Artikel noch an einer anderen Stelle findet sich bei ihm eine kritische Auseinandersetzung mit Wagners Züricher Schriften, obwohl sich manche Passagen ganz ähnlich lesen: „Im Gegensatz zum Drama oder zur Oper“, heißt es etwa in Die Merzbühne aus dem gleichen Jahr, sind sämtliche Teile des Merzbühnenwerkes untrennbar mit einander verbunden; es kann nicht geschrieben, gelesen oder gehört, es kann nur im Theater erlebt werden. Bislang unterschied man zwischen Bühnenbild, Text und Partitur bei den Vorführungen im Theater. […] Die Merzbühne kennt nur die Verschmelzung aller Faktoren zum Gesamtwerk.277
Ungeachtet dieser Parallelen liegen die Differenzen auf der Hand. Wo es Wagner um eine Reform der Oper geht, sind bei Schwitters keine Insignien der klassischen Künste mehr enthalten, und während bei Wagner die Entwicklung vom utopischen Entwurf hin zur pragmatischen Umsetzung beobachtet werden kann, verhält es sich bei Schwitters genau anders herum. Von den Collagen, über die Bühnengestaltung und Vision einer einheitlichen Städtearchitektur bis hin zur Weltanschauung stellt Schwitters’ Merzkunst eine zunehmende Ausdehnung seines Zuständigkeitsbereichs dar, die dem Prinzip Merz in seiner Grenzüberschreitungsgeste gleichwohl selbst inhärent ist. Um Missverständnissen vorzubeugen, muss betont werden, dass Schwitters mit der Normalbühne Merz ab 1924 zwar eine Version der Merzbühne formuliert, die gerade auf ihre pragmatische Umsetzung hin ausgerichtet ist, sie hat mit der ursprünglichen Idee des Gesamtkunstwerks aber nichts mehr zu tun: „Die normale Bühne Merz ist einfach und zeitgemäß, billig, stört nicht die Handlung, ist 276 SCHWITTERS 1919b: 39. 277 SCHWITTERS 1919c: 42.
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leicht zu verändern, unterstützt die Handlung durch Unterstreichen der beabsichtigten Wirkung, kann mitspielen, sich bewegen, passt für jedes Stück.“278 Die Merzbühne in ihrem Entwurf von 1919 erschöpft sich nicht in einer Hintergrundfunktion, sondern verkörpert als ein bewegtes Bild das Geschehen selbst, das dem eigenen (ironischen) Anspruch zum Trotz keine Realisierung vorsieht. „[R]iesenhafte Flächen“, die „bis zur gedachten Unendlichkeit“ erfasst werden, „löchernde Teile des Nichts“, die „unendlich zusammen“ gekrümmt sind oder „Lokomotiven“, die man „gegeneinander fahren“279 lässt, eignen sich kaum für eine Inszenierung. Im parabolischen Gestus geht es Schwitters vielmehr darum, die Idee des Gesamtkunstwerks für das Theater vollständig auszureizen und sie zumindest in der Utopie der Dichtung zu verwirklichen.280 Bei aller Absurdität und Tendenz zur Auflösung syntaktischer und grammatischer Regeln folgt der Aufbau des Manifests aber doch einer gewissen Struktur. So ist dem einleitenden Aufruf ein Absatz nachgestellt, dem eine dreidimensionale Bildwirkung zugrunde liegt. Anhand von geometrischen Figuren, Flächen, Punkten, Linien sowie deren lebensweltliche Variationen in Form von Kisten und Netzen281 geht es zunächst um einen Aufbruch statischer Ordnung, der mithilfe des Einsatzes technischen und maschinellen Materials (Zahnräder, Nähmaschinen etc.) sowie von Alltagsgegenständen (Dampfkessel, Schuhe et.) erreicht werden soll. Während die Auswahl der Materialien des ersten Bereichs häufig als intertextuelle Anspielung auf das Futuristische Theater interpre278 Der einzige Grundsatz, den Schwitters von der Merzbühne übernimmt, ist das Gleichgewicht der Elemente. So unterteilt er die Komponenten der Normalbühne in normale (Sitz, Wand, Licht), typische (Volksmenge, Tasse) und individuelle Dinge (Held), die gegeneinander gewertet sein sollen, um so das „künstlerische Gleichgewicht“ zu erhalten. SCHWITTERS 1925a: 207. 279 SCHWITTERS 1919b: 40. 280 Vgl. hierzu STEINITZ 1963: 104; SCHEFFER 1978: 72. 281 Hierin eine direkte Anspielung auf Kandinskys Punkt und Linie zu Fläche (1926) zu sehen, wie Gabriele Grawe es tut, ist wenig überzeugend, schließlich erscheint dessen zweite große Schrift erst sieben Jahre nach Schwitters’ Text. Auch der Hinweis, sie sei durch Über das Geistige in der Kunst (1912) vorbereitet worden, rechtfertigt noch nicht die Diagnose einer parodistischen Allusion. Der auffällig häufige Gebrauch der Titel gebenden Termini Punkt, Linie und Fläche ist vielmehr als Strategie der Rückversicherung zu verstehen, mithilfe derer die Beliebigkeit des Materials an die Konstruktionselemente der Malerei gebunden bleiben soll. Dass Schwitters mit Kandinsky nicht respektlos umgeht, zeigt sich im Übrigen in dem Artikel Meine Ansicht zum Bauhaus-Buch 9 (1927), der sich tatsächlich auf Kandinskys Schrift von 1926 bezieht und dabei zwar nicht mit Kritik spart, zugleich aber auch dessen Verdienste herausstellt. Vgl. GRAWE 1993: 74; SCHWITTERS 1927c.
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tiert wird,282 hat die Auflistung des zweiten exemplarischen Charakter. Es geht darum zu zeigen, dass jeder noch so abwegige Gegenstand seine Berechtigung für das Gesamtkunstwerks hat, ja dass seine Absurdität ihn allererst dafür qualifiziert. Als letzte ‚Zutat‘ folgt schließlich der Mensch, der seine Wagner’sche Ausnahmestellung gänzlich verloren hat und zum bloßen Requisit degradiert ist, indem Schwitters anregt, er könne „auf die Kulissen gebunden werden“283 . Für ihn selbst ist der ungewöhnliche Umgang jedoch die konsequente Auslegung seines Anspruchs von der Gleichrangigkeit aller Materialien. Auf der Merzbühne bildet der Mensch nicht mehr das Zentrum, auf das Akte, Inventar, Musik und Licht bezogen wären, sondern es existiert überhaupt kein Mittelpunkt mehr. Die Bestandteile stehen sich vielmehr konfrontativ gegenüber. Kennzeichnend hierfür ist vor allem, dass die Zusammenstellung so absurd wie möglich zu sein hat, dass etwa ein „Lampenputzer […] in ein Verhältnis zu der Ehe zwischen Anna Blume und dem Kammerton a“284 gebracht werden soll. In dem anderen, bereits zitierten Artikel zur Merzbühne findet sich für die Art dieser Zusammenstellung eine Erläuterung, die sich auf eine bestimmte „Logik des Kunstwerks“ beruft: „Je intensiver das Kunstwerk die verstandesmäßige gegenständliche Logik zerstört, um so größer ist die Möglichkeit künstlerischen Aufbauens.“285 Zur Komplettierung des Gesamtkunstwerks im Aufruf An alle Bühnen der Welt kommen noch Akustik sowie die für das Theater zentralen Kategorien von Raum und Zeit hinzu. In Bezug auf Ersteres gibt Schwitters die Parole einer „musikalische[n] Durchtränkung“286 aus, womit er nicht nur genuin instrumentale Klänge meint, die sich mit den visuellen Komponenten intermaterial verbinden sollen, sondern Geräusche im Allgemeinen, seien sie nun von einer Geige oder einem tropfenden Wasserhahn erzeugt. Die im Hinblick auf Raum und Zeit propagierte Einheitlichkeit, mit der Schwitters’ Maßnahmenkatalog endet, mag auf den ersten Blick irritieren, besonders weil er eingangs mit der Kategorie der Unendlichkeit operiert. Die konforme Behandlung erschließt sich auch nur vordergründig als Parodie auf das aristotelische Theater, denn die Merzbühne sieht zwar eine Beliebigkeit des Materials, nicht aber der Komposition vor. Die Einheitlichkeit ist daher durchaus ernst gemeint, wenn man sie auf eine Relation der Materialien bezieht, die – wie gesehen – jenseits einer logischen Kohärenz liegt.
282 Vgl. GRAWE 1993: 75. Vgl. kritisch dazu SCHOBER 1994: 302, der darauf hinweist, dass die Theater-Manifeste des Futurismus um 1919 noch gar nicht übersetzt gewesen seien. Das widerlegt allerdings nicht eine grundsätzliche Bezugnahme auf dessen Prinzipien. 283 SCHWITTERS 1919b: 41. 284 Ebd. 285 SCHWITTERS 1919c: 42. 286 SCHWITTERS 1919b: 41.
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Aus dieser knappen Darstellung von Schwitters’ wohl bekanntestem Manifest lässt sich ein wichtiger Aspekt des Merzkunstwerks ableiten, der für den Grad seiner intermaterialen Anlage von Bedeutung ist. So hat sich gezeigt, dass es bei der Merzbühne zwar um den Einsatz beliebigen Materials geht, keineswegs aber um dessen willkürliche Zusammenstellung. Bereits bei der Auswahl der Objekte ist ein bestimmtes Kriterium wirksam, nämlich das des größtmöglichen Gegensatzes. Die Auswahl der Dinge geschieht unter der Voraussetzung eines Verhältnisses der Negation, demzufolge die Entscheidung für einen Gegenstand notwendig den Einsatz eines anderen, artfremden nach sich zieht. Dabei darf es sich jedoch nicht einfach um das Gegenteil handeln, denn das würde noch innerhalb einer sinnhaften Ordnung liegen, mit der Schwitters in seiner Vorliebe für den Unsinn gerade brechen will. Diese Prämisse macht es allerdings auch so schwierig, eine Anleitung für die Selektion zu geben. Obwohl sich der Aufruf zur Merzbühne wie eine „Gebrauchsanweisung“287 liest, kann es keine exakte Regel für die Auswahl des Materials geben. Anders verhält es sich mit der Art der Anordnung. „Der Künstler schafft durch Wahl, Verteilung und Entformung der Materialien“288, was einen ausdrücklichen Gestaltungswillen erkennen lässt. Schwitters’ Neologismus der Entformung bzw. des Entformelns meint hier die Bearbeitung als ein Verteilen einerseits und ein Zerteilen, Verbiegen, Überdecken und Übermalen andererseits, kurz: das Formen als Deformation.289 In diesem Prozess wird ein Gegenstand seines realen Kontextes enthoben, d.h. entwirklicht, und derart moduliert, dass er in die Gesamtkonzeption einer vorgestellten Assemblage passt: ein Dingmaterial wird im Zuge seiner Vermerzung zum Stoffmaterial.290 Diese Metamorphose geschieht allerdings nicht vollständig, sondern der ursprüngliche Bezugsrahmen ist natürlich stets präsent, worauf Ernst Nündel hinweist. So wird zwar ein „Wirklichkeitsstück zum Gestaltungselement um[ge]wertet, seine ursprüngliche Geltung [ist] jedoch augenzwinkernd mit[ge]meint“291. Dieser ironische Doppelwert wird dadurch erzeugt, dass die fragmentierten ‚Wirklichkeitsstücke‘ – wie etwa eine abgerissene Fahrkarte – nach einer Vervollständigung verlangen, die das Merzkunstwerk aber verweigert. Die 287 LACH 1971: 23. 288 SCHWITTERS 1919a: 37. 289 Dieser Vorgang wird auch als Akt der Verfremdung (vgl. SCHMALENBACH 1967: 120; NÜNDEL 1981: 25) oder als Änderung des Materialwertes von der Gebrauchs- zur Symbolfunktion (vgl. SCHLICHTUNG 1972: 30) beschrieben. Vgl. hierzu auch SCHEFFER 1978: 40, bei dem die Entmaterialisierung auf der Realitätsebene zugleich eine Materialisierung auf der Bildebene bedeutet. 290 Vgl. WIESING 1991: 105. 291 NÜNDEL 1981: 26. Vgl. auch HILZINGER 1992: 402, der von einer im Kunstgebilde wirksamen „widerständige[n] Realität“ des verwendeten Objekts ausgeht.
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Bezüge werden stattdessen gewissermaßen nach innen umgeleitet und gegeneinander gerichtet. Dem Entformeln als erstem Schritt folgt daher eine Verknüpfung der Materialien, was mit Schwitters Worten ein „Kopulieren“ und „Überschneiden“292 bedeutet. Allgemeiner ausgedrückt vollzieht sich die Verwendung der Materialien unter der Prämisse einer aggressiven Relationssetzung, weshalb der Grad der Intermaterialität im Merzkunstwerk besonders stark ausfällt. Dass der Nexus allein schon durch die ungewöhnliche Zusammenstellung gegeben ist, reicht für Schwitters bei weitem nicht aus. Er verfolgt hier das Ideal einer strikten Komposition und kritisiert aus diesem Grund die Collagen der Dadaisten, weil sie sich als „wahlloses Nebeneinanderstellen“ ausnähmen und überdies die „Zerstörung der Form“293 betrieben. Seine Merzkunst will er im Gegensatz dazu gerade als „konsequente[] Formung“294 verstanden wissen. Angesichts einer auf den ersten Blick chaotischen Ordnung der Merzkunst von Schwitters stellt sich allerdings die Frage, wie eine solche konsequente Formung erreicht werden kann. Konzeptionell bemüht Schwitters in diesem Zusammenhang eine bekannte Größe, die ihn einmal mehr in die Nähe Kandinskys und Schreyers rückt, nämlich diejenige des Rhythmus: „Die Beziehungen sämtlicher sinnlich erkennbaren Teile des Werkes untereinander sind der Rhythmus.“295 Die Kategorie impliziert eine ganze Reihe von Vorstellungen, die der scheinbar zügellosen Bewegung eines Merzkunstwerks – und damit sind auch Collagen und Assemblagen gemeint, die gemeinhin als statisch definiert werden – durch Takt und Maß eine Richtung geben sollen. So wird die Art der Bearbeitung und der Zusammenstellung bestimmt durch einen gedachten Ausgleich der Materialien, der den Schwerpunkt des Kunstgebildes in der Schwebe hält und für ein „absolute[s] Gleichgewicht“296 sorgen soll. Auf die Spitze getrieben ist dieser Grundsatz des Gleichgewichts in dem Plan eines Merzbaus, bei dem sich die Wände je nach Position der die Räume durchschreitenden Personen verschieben sollen, um die atmosphärischen Verände-
292 SCHWITTERS 1919b: 41. 293 SCHWITTERS 1923b: 149. 294 SCHWITTERS 1922a: 94. Die in der Forschung kontrovers diskutierte Äußerung, das „Material ist so unwesentlich, wie ich selbst. Wesentlich ist das Formen“ (SCHWITTERS 1920b: 76), wird vor diesem Hintergrund verständlich. Sie ließe sich aber auch noch anders erklären. Denn in ihrem Widerspruch gegen das zentrale ästhetische Prinzip Schwitters’ will sie eigentlich nur dessen Anspruch bestätigen: gerade weil es unwesentlich ist, ist das Material von Bedeutung. Vgl. SCHMALENBACH 1967: 96; WIESING 1991: 42. 295 SCHWITTERS 1922b: 99. Zum Begriff des Rhythmus in Schwitters’ Ästhetik sowie seiner Relevanz für die Dichtung der Moderne vgl. SCHMITZ-EMANS 2001: bes. 253-258. 296 SCHWITTERS 1923a: 135.
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rungen auszubalancieren.297 Aber auch für die Merzbühne gilt die Vorgabe zu einer Feinabstimmung der Materialien. So heißt es: „Man nehme Unterröcke und andere ähnliche Sachen, Schuhe und falsche Haare, auch Schlittschuhe und werfe sie an die richtige Stelle, wohin sie gehören, und zwar immer zur richtigen Zeit.“298 Eine derartige Norm innerhalb eines Aufrufs zur Grenzübertretung erklärt sich aus der eingangs beschriebenen Demokratisierung des Materials. Schwitters geht es penibel darum, dass es zu keinem Ungleichgewicht kommt und entwickelt daher für das Intermaterialitätsmodell Merz eine Art negativer Harmonie. Gerade weil die Materialien nichts miteinander zu tun haben (dürfen), bedarf es einer strikten Regelung ihres Einsatzes, ohne einander gegenseitig zu verstärken, sondern vielmehr zum Zweck der Entwertung: „Es ist im Kunstwerk nur wichtig, daß sich alle Teile aufeinander beziehen, gegeneinander gewertet sind.“ 299 Gegeneinander werten heißt dabei nicht nur, dass die unterscheidbaren Materialien sich wechselseitig in der Entfaltung von singulären Bedeutungshorizonten eindämmen, sondern auch und daraus folgend, dass sie in Größe, Position, Form, Farbe sowie Ausrichtung voneinander und der beabsichtigen Gesamtwirkung abhängig sind. Aus diesem Umstand heraus erklärt sich, warum Schwitters gegen eine Inanspruchnahme der Kunst für politische Zwecke argumentiert, denn die Vorstellung eines inneren Verweisungszusammenhangs kann nur dann greifen, wenn man das Kunstgebilde als eine geschlossene Größe versteht. Wiesing spricht daher auch von einem „traditionellen Kunstwerkbegriff“300 , dem Schwitters – zumindest zu Beginn der 1920er Jahre – verpflichtet sei. Und in der Tat: Dadurch, dass dem Einsatz beliebigen Materials ein striktes Kompositionsprinzip an die Seite gestellt ist, wird die scheinbar unkontrollierbare semiotische Komplexität des Arrangements, wenn nicht still gestellt, so doch immerhin eingefangen. Merz ist in diesem Sinne eine Kontrollinstanz, die mit „unbekannte[n] Größen“ hantiert und dennoch mittels ihres Gestaltungsprinzips zu dominieren weiß: „So beherrscht Merz, was man nicht beherrschen kann“301. Aus diesem Grund wäre die Merzkunst auch nicht korrekt als anarchistisches Prinzip beschrieben. Es geht Schwitters nicht um eine Zerstreuung der als Kräfte verstandenen Materialwerte,302 sondern um ihre intermateriale Gerichtetheit aufeinander.303 297 Vgl. ebd.: 134f. 298 SCHWITTERS 1919b: 40. [Herv. C.K.] 299 SCHWITTERS 1923a: 133. 300 WIESING 1991: 23. 301 SCHWITTERS 1923a: 133. Elderfield beschreibt diese Funktion treffend als „Zügelung der Objekte“. ELDERFIELD 1987: 127. 302 Vgl. SCHWITTERS 1923c: 157. 303 Trotz dieser Vorstellung vom Kunstgebilde als einem „begrenzten Raume“ (SCHWITTERS
1938: 363) und einer „in sich geschlossenen Einheit“ (SCHWITTERS 1940: 370) ist
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Die Merzidee hat – wie bereits angedeutet – eine Extension hin zur Utopie eines weltumspannenden Beziehungsgeflechts erfahren. Diese massive Ausdehnung erklärt sich aus der Logik der Materialverwendung selbst, denn wenn Stücke der Wirklichkeit in den Raum der Kunst hineingezogen werden, dann ist der Schritt nicht weit, diese Realität selbst als Kunst anzusehen und ihr das Merzprinzip aufzupfropfen. Schwitters’ Parole: „Merz bedeutet Beziehungen schaffen, am liebsten zwischen allen Dingen der Welt“304 weitet in diesem Sinne das Prinzip der Intermaterialität universell aus. Das an anderer Stelle formulierte Verlangen, „die ganze Welt zu einem gewaltigen Kunstwerk umzugestalten“305 ist demzufolge die konsequente Fortsetzung eines Stils, der bei der Verwischung der internen Kunstgrenzen seinen Anfang nimmt und über die Integration beliebigen Materials hinaus zu einer Weltanschauung expandiert. Neben der Merzprogrammatik enthalten Schwitters’ theoretische Schriften eine Auseinandersetzung über die verwandtschaftliche Beziehung der Kunstarten, insbesondere von Musik und Malerei, der von der Forschung bisher kaum Beachtung geschenkt wurde. Für die Aufarbeitung des intermaterialen Expressionismus sind diese Überlegungen von großem Interesse, weil sie eine radikale Trennung von Malerei und Musik über eine Materialdifferenz begründen und zugleich für eine Analogie der Künste aufgrund identischer Verwendungsweisen der Materialien plädieren. Bereits 1910 unternimmt Schwitters den Versuch, eine Theorie der abstrakten Malerei zu schreiben, die ihren Legitimationsanspruch maßgeblich aus der Verwendung musikalischen Vokabulars bezieht. Über einen bloßen Entwurf kommt er jedoch nicht hinaus.306 Erst 1927, unter dem Einfluss und in kritischer Auseinandersetzung mit Kandinskys Punkt und Linie zu Fläche (1926) nimmt er seinen Plan wieder auf und erarbeitet eine kleine Schrift mit dem Titel Elementarkenntnisse in der Malerei. Vergleich mit der Musik, die jedoch unveröffentlicht geblieben ist. Zentraler Kritikpunkt an Kandinskys Bauhausbuch ist nicht der Versuch der Formalisierung, sondern vor allem die Art und Weise der Übertragung von einer Kunst auf die andere und der daraus abgeleitete Anspruch, die Grundmodi der Malerei zu Merz nicht ausschließlich werkimmanent konstituiert. Gerade für das Theater sieht Schwitters mit dem Publikum eine Instanz vor, die unberechenbar sei, zugleich aber die Prämisse für die Vollendung darstelle. In einem fiktiven Dialog mit den Zuschauern eines Theaterstücks, den Schwitters gemeinsam mit Franz Rolan verfasst, heißt es zum Schluss: „Die letzte Entscheidung über den Wert des Gesamtkunstwerks liegt […] beim Publikum“. SCHWITTERS 1923c: 166. [Herv. i.O.] 304 SCHWITTERS 1924: 187. 305 SCHWITTERS 1923a: 133. 306 Vgl. SCHWITTERS 1910a; SCHWITTERS 1910b.
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bestimmen. Schwitters, der mit seiner allgemeinen Theorie ein ganz ähnliches Ziel verfolgt, geht es in erster Linie um jene Passagen, in denen es Kandinsky unternimmt, musikalische Phänomene anhand von Zeichnungen zu illustrieren: „Die Idee, das Herausgleiten der es und d auf Seite 37 durch Zeichnungsformen herauszustellen, oder die übergelagerte Melodie auf Seite 39 durch eine Schlangenlinie, finde ich ganz außerordentlich, aber das hindert nicht, daß es falsch dargestellt ist.“307 Ein derartiger intuitiver Transfer beruht wesentlich auf der Überzeugung, dass sich die Sukzessivität der Tonfolge graphisch umsetzen lässt. Kandinsky geht denn auch davon aus, dass die traditionelle Trennung in Raum- und Zeitkunst obsolet sei und die Malerei auch Zeitelemente beinhalte, von denen der Punkt die „knappste Form“308 darstelle. Schwitters widerspricht dem vehement und entwickelt dagegen eine Korrespondenztheorie, die sich gerade auf eine Basisdifferenz beruft: „Bei solcher Übersetzung muß meiner Ansicht nach Zeit durch Raum ersetzt werden, unbedingt, unwiderruflich“309. Dass er so stark auf diesen Unterschied insistiert, mag zunächst etwas irritieren, doch hat das eine ganze Reihe von Entsprechungen zur Folge, die sich ohne die vorausgesetzte Differenz nur schwer in sein Modell einfügen würden. Fasst man den Vergleich von Malerei und Musik in den beiden Artikeln von 1927 und in denen von 1910 zusammen, so ergibt sich eine Tabelle mit insgesamt 17 Begriffspaaren (vgl. Tab. 1). Gemeinsamer Nenner der beiden Künste Malerei und Musik ist für Schwitters deren material-physikalische Voraussetzung: „Farbe und Ton beruhen auf Schwingungen. Von der Geschwindigkeit der Schwingungen hängt die Verschiedenheit der Farben ebenso wie die Verschiedenheit der Töne ab. Ich behaupte also, dass Farbe und Ton miteinander verwandt sind.“310 Hiervon ausgehend und eingedenk der These, dass beide künstlerischen Verfahren als Bearbeitungen unterschiedlicher Materialien zu verstehen sind, lassen sich anhand der intermaterialen Verwendungsart der Basisgrößen zahlreiche Engführungen vornehmen. So entspricht Schwitters zufolge das Verhältnis von kurzem und gedehntem Ton der Relation von kleinem und großem Farbfleck, und im Falle der Ton- und Farbstärke verhielten sich laut und leise zueinander wie hell zu dunkel bzw. stark zu schwach. Für diese Analogien braucht es eigentlich noch nicht des Hinweises auf die Substitution von Raum durch Zeit, sie beruhen vielmehr auf der Analogie eines variablen Intensitätsgrades. Die beiden Dimensionen greifen erst im Hinblick auf die Anordnung, bei der sich Schwitters berechtigt sieht, zentrale Begriffe der Harmonielehre für die (abstrakte) Malerei zu übernehmen. 307 SCHWITTERS 1927c: 256f. 308 KANDINSKY 1926: 34. [Herv. i.O.] 309 SCHWITTERS 1927c: 257. 310 SCHWITTERS 1910a: 29.
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Tabelle 1: Übertragungsmodell musikalischer Begriffe auf die abstrakte Malerei nach Kurt Schwitters. Die mit * gekennzeichneten Begriffe zeigen grundlegende Differenzen beider Künste an. Musik
Malerei
Zeit*
Raum/Fläche*
Ton
Farbe
Komposition mit Tönen
Komposition mit Farben
Vermittlung durch das Ohr*
Vermittlung durch das Auge*
Zielrichtung*
Flächenrichtung*
kurzer Ton / gedehnter Ton
kleiner Farbfleck / großer Farbfleck
Tonstärke laut / leise
Farbstärke hell (stark) / dunkel (schwach)
nacheinander gleichzeitig
nebeneinander zusammen
Akkord
Mischfarbe
Melodie (Wechsel der Tonhöhe)
malerischer Eindruck (Wechsel der Farben)
Takt (Zeitmaß)
Quadrat (Raummaß)
Dur / Moll
Licht / Schatten Farbe / Komplementärfarbe
Pause
Schwarz
Rhythmus*
-/-
sieben Oktaven*
eine Oktave*
cd/ef/ga/hc
rot orange / gelb grün / blau indigo / violett rot
chromat. ganze Töne / Tonleiter c / d / e / fis / gis / ais
Farbskala rot / orange / gelb / grün / blau / violett
130 | I NTERMATERIALITÄT Wenn in Musik und Malerei Dinge einander entsprechen, und die Musik hat dafür allgemein verständliche Begriffe gefunden, so möchte ich es unternehmen, hier die musikalischen Begriffe zu übernehmen, indem ich damit gleichzeitig ein Kompliment an die sehr durchgearbeitete Theorie der Musik mache. Ich möchte also alles Nebeneinander von Farben (auch Mischfarben) die Melodie eines Bildes nennen, wenn ich die Mischfarben auf einem einzelnen begrenzten Farbfleck, der als Einheit gedacht werden soll, einen Akkord nenne. In einem Akkord sind verschiedene Farben in harmonischer Verbindung miteinander, sie können einen Wohlklang oder einen Mißklang bilden.311
Unter Berücksichtigung der temporalen und topographischen Verschiedenheit der beiden Künste korrespondiert das Nebeneinander der Farben mit dem Nacheinander der Töne, und was als gleichzeitiger Anschlag mindestens dreier Töne in der Musik als Akkord bezeichnet ist, soll nun auch das Zusammenspiel mehrerer Farben angeben. Dass nicht jede Tonfolge melodisch ist, scheint dabei ebenso wenig zu stören, wie die Tatsache, dass bei einer Mischfarbe die Komponenten zu einer neuen Farbe verschmelzen, während die Töne eines Akkordes erkennbar bleiben. Ungeachtet dieser Unstimmigkeit geht Schwitters sogar noch weiter und setzt eine Korrespondenz der Maßeinheiten voraus. Obwohl es legitim ist, dem Takt ein Äquivalent für die Raumordnung gegenüberzustellen, bleibt unklar, wieso gerade die geometrische Figur des Quadrats als kanonische Instanz fungiert. Liegt bereits in diesen Vergleichen eine gewisse Diskrepanz, so nicht zuletzt in der Übertragung der Tonarten Dur und Moll auf die Malerei. Entgegen seinem Anspruch beruft sich Schwitters hier nicht auf eine strukturelle Analogie, sondern auf die Konvention der Wirkungsweise: „Denn in dem Moll haben wir das Leidende, das von demselben Grundton ausgeht wie das Freudige des Dur, und das Licht hat immer einen erfreulichen Charakter im Gegensatz zum ernst-melancholischen des Schattens.“312 Auch die Parallele von der Pause als Abwesenheit des Tons zum Schwarz als Abwesenheit der Farbe ist nicht unproblematisch, weil sie nur unter physikalischer Betrachtungsweise funktioniert. Sobald das Schwarz aber in seiner materialen Präsenz betrachtet wird, geht der Vergleich nicht mehr auf. Die bisherige Darstellung macht den Eindruck, Schwitters wolle alle Strukturprinzipien in ein Korsett der Entsprechungen schnüren. Doch dieser Befund täuscht. Während er 1910 noch davon ausgeht, dass der Unterschied von Raum und Zeit die „einzige Unähnlichkeit“313 der beiden Künste sei, so sind in den späteren Aufzeich311 SCHWITTERS 1927d: 261. [Herv. i.O.] 312 SCHWITTERS 1910a: 30. 313 Im Schaubild ist neben der Kategorie des Raums auch die der Fläche angegeben, deren Verhältnis ambivalent ist. Eigentlich will Schwitters die Fläche durch den Raum ersetzt wissen, weil er ein Bild nicht bloß zweidimensional, sondern auch in seiner Relief- und
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nungen noch weitere Antagonismen hinzugekommen, die in der Tabelle mit einem Sternchen (*) gekennzeichnet sind.314 Neben der Abweichung von Ziel- und Flächenrichtung, also der linearen Ausdehnung der Klangfolge und der Zerstreuung der Farbwirkung auf der Bildfläche, stellt Schwitters vor allem den Rezeptionsvorgang heraus: während die Musik selbst in Bewegung sei und sich das Ohr reglos verhalte, sei es bei der Malerei das Sinnesorgan, das sich bewege, ihr Wahrnehmungsobjekt aber bleibe statisch. Einen Sonderfall der Korrespondenztheorie bildet die Parallelisierung von Tonleiter und Farbskala, weil sie nur über eine Analogie der Relationen funktioniert. Schwitters beruft sich zur Illustration wieder auf deren gemeinsame physikalische Voraussetzung, wonach eine Änderung der Wellenbewegung für eine Veränderung von Ton und Farbe verantwortlich zeichne. Zwar haben die Schwingungsverhältnisse in der Musik eine viel weitere Ausdehnung – sieben Oktaven stehen einer ‚Oktave‘ in der Malerei gegenüber – doch abgesehen von der Tonhöhe liegt für Schwitters eine Analogie der internen Abstufung auf der Hand. Weist er daher zunächst eine Entsprechung der einfachen Tonleiter c d e f g a h c mit den Spektralfarben rot, orange, gelb, grün, blau, indigo, violett, rot nach, so revidiert er dies später, weil sie den Grad der verschiedenen Abstände von Halb- und Ganztonschritten übergehe. Anders als beispielsweise bei Skrjabin, dessen Farb-Ton-Korrespondenz auf dem Quintenzirkel beruht,315 legt er sich daher auf die Ganztonschritte der chromatischen Tonleiter fest, weshalb nunmehr die Folge c d e fis gis ais den Farben rot, orange, gelb, grün, blau, violett gegenübergestellt ist. Innerhalb des Schemas hat der Rhythmus als einzige Kategorie keine Entsprechung in der Malerei, was angesichts der ihm im Zusammenhang mit Merz zugewiesenen Zentralstellung stark verwundert. Auch das von Schwitters in Betracht gezogene Äquivalent, die Symmetrie, stellt für ihn kein hinreichendes Surrogat dar, weil es zu wenig vorkomme, als dass es einen basalen Stellenwert in der bildenden Kunst einnähme.316 Der Rhythmus des Merzbildes, der die intermateriale BezogenTiefenwirkung versteht. Im Anschluss an eine ausführliche Begründung für die Substitution heißt es dann aber: „Nach diesen vorbereitenden Sätzen [...] halte ich es in der Theorie doch für besser, zunächst die Fläche zu betrachten und zur Grundlage für weitere Betrachtungen zu machen.“ Vgl. SCHWITTERS 1927d: 260. 314 Nicht immer sind die Unterschiede und Entsprechungen so eindeutig, wie sie in der Tabelle erscheinen. Beispielsweise lassen sich Flächen- und Zielrichtung auf die gemeinsame Basis genereller Gerichtetheit zurückführen und müssten somit eigentlich miteinander korrespondieren. Zuordnungskriterium ist die jeweilige Argumentation Schwitters, die mal zusammenführend, mal differenzierend sein kann. 315 Vgl. SABANEJEW 1912: 112. 316 Vgl. SCHWITTERS 1910a: 30.
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heit der heterogenen Elemente aufeinander verbürgt und von Schwitters erst Jahre später als Formprinzip konzipiert wird, scheint ein anderer zu sein als der Rhythmus der Musik, der nicht übertragbar ist.317 Für den Zusammenhang der Beziehung von Musik und (abstrakter) Malerei lässt sich hieraus ableiten, dass sich die Übertragung eines genuinen musikalischen Begriffs auf ein anderes Gebiet verbietet, wenn es hierfür keine strukturelle Korrespondenz gibt. Entsprechung heißt für Schwitters immer: Analogie im Modus des Anderen. Dies mag eine Erklärung sein, eine gewisse Unstimmigkeit in der theoretischen Anlage bleibt, insbesondere wenn man berücksichtigt, dass er mit Begriffen wie ‚Melodie‘ oder ‚Akkord‘ weniger Probleme hat und sogar Termini wie den des „Intervalls“318 (als Beschreibung für den Abstand der Farben) oder des „Tritonus“319 (zur Charakterisierung der Relationen innerhalb eines als Hexaeder vorgestellten Farbschemas) verwendet. Auffällig in der grundsätzlichen Ausrichtung seiner Korrespondenztheorie ist, dass sich Schwitters auf die klassische Sprache der Musik beruft und nicht neuere Entwicklungen zur Atonalität aufgreift, wie es bei Kandinsky und anderen zu beobachten ist. Seine Vorbilder sind nicht Schönberg oder Webern, sondern die Standardwerke der Kompositionslehre des 19. Jahrhunderts wie Anton Reichas Traité de haut composition musicale (1824-26), Adolf Bernhard Marx’ Die Lehre von der musikalischen Komposition (1837-47) oder Hugo Riemanns Katechismus der Kompositionslehre (1889).320 Trotz dieser klassischen Bezugsgrößen könnte Schwitters Farb-Ton-Analogie in ihrer Konsequenz nicht radikaler ausfallen, weil sie alle erdenklichen Korrespondenzen bis ins Detail durchspielt. Gerade weil er dabei nicht Malerei in Musik aufgehen lässt, kann er Aspekte beider Künste zusammenbringen, die sich sonst einer Konvergenz verbieten. Die Form der Intermaterialität ist damit grundverschieden von jener des Merzkunstwerks. Während es dort darum geht, die Materialien aggressiv miteinander zu verschränken, zu ‚vermerzen‘, sollen beim Vergleich von Musik und Malerei im Gegenteil die Künste strikt voneinander getrennt bleiben. Die intermateriale Korrespondenz ergibt sich ‚nur‘ aus einer Analogie der Verwendungsweisen. Töne sollen nicht in Farben umgesetzt, vielmehr eine Kompositionslehre abstrakter Malerei aus der Verwendungsweise des musikalischen Materials begründet werden. 317 Exemplarisch zitiert sei der Artikel Der Rhythmus im Kunstwerk von 1926, in dem es heißt: „Das Wichtige beim Bilde ist der Rhythmus, in Linien, Flächen, Hell und Dunkel, und Farben; kurz, der Rhythmus der Teile des Kunstwerks, des Materials.“ SCHWITTERS 1926b: 245. 318 SCHWITTERS 1927d: 265. 319 Ebd. 320 Schwitters notiert diese Titel als Literaturhinweise zu seinem Fragment gebliebenen Versuch über Das Problem der abstrakten Kunst. Vgl. SCHWITTERS 1981: 398.
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So verschieden die frühen Studien Schwitters’ über das Verhältnis der Künste und seine spätere radikale Merzkunst auch sind, gemeinsam ist ihnen, dass sie – im Unterschied zu den Intermaterialitätsmodellen Kandinskys, Schreyers und anderer Expressionisten – keine mystische Einheitsvorstellung zugrunde legen. Die Engführung der Künste erfolgt nicht aufgrund einer angenommenen supramaterialen geistigen Sphäre, sondern aus Interesse an den formalen Eigenschaften der Materialien (wie in den frühen Schriften) und im Sinne einer avantgardistischen Provokation, wonach die Grenze zwischen Kunst und Leben, zwischen künstlerischem und nichtkünstlerischem Material (im Merzwerk) überschritten werden soll.
D AS E RBE DES INTERMATERIALEN E XPRESSIONISMUS B AUHAUS . E INHEITSWERK UND T HEATERVISION BEI W ALTER G ROPIUS UND O SKAR S CHLEMMER
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Der beherrschende Gedanke des Bauhauses ist also die Idee der neuen Einheit, die Sammlung der vielen ‚Künste‘, ‚Richtungen‘ und Erscheinungen zu einem unteilbaren Ganzen, das im Menschen selbst verankert ist und erst durch das lebendige Leben Sinn und Bedeutung gewinnt. WALTER GROPIUS
In seinen Erinnerungen an Sturm und Bauhaus bezeichnet Lothar Schreyer das 1919 aus einem Zusammenschluss der Großherzoglichen Sächsischen Hochschule für bildende Kunst und der Kunstgewerbeschule hervorgehende Staatliche Bauhaus in Weimar als die „Hochburg des Expressionismus“321. Betrachtet man die Liste der Formmeister, die Walter Gropius als maßgeblicher Initiator nach Weimar holt, so liest sie sich tatsächlich wie ein who is who der expressionistischen KunstProminenz: Wassily Kandinsky als leitendes Mitglied der Wandmalerei und zugleich Entwickler der Vorlesungen zur Farben- und Formenlehre; Paul Klee, ebenfalls federführend an der bildnerischen Formlehre beteiligt und in der Buchbinderei aktiv; Johannes Itten als Begründer des obligatorischen Vorkurses sowie einflussreich vertreten in den Werkstätten für Metall, Glasmalerei, Bildhauerei, Weberei, Tischlerei und Wandmalerei; Georg Muche und Lyonel Feininger tätig in der Weberei und der graphischen Druckerei; und nicht zuletzt Lothar Schreyer selbst als Leiter der Bauhausbühne, die nach seinem Weggang Oskar Schlemmer – bis zu 321 SCHREYER 1956: 33.
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diesem Zeitpunkt der Werkstatt für Wandmalerei zugeordnet – übernimmt.322 Die Forschung ist dieser Ballung an Künstlern expressionistischer Provenienz mit einem Periodisierungsschema begegnet, nach welchem die Weimarer Jahre als Orientierungsphase und – zumindest in Teilen – als Experimentierfeld esoterischer Kunstund Weltanschauung gelten. Erst mit dem Umzug nach Dessau sowie unter Einfluss der Konstruktivisten – vor allem des Ungarn László Moholy-Nagy – wird eine stärkere Formstrenge konstatiert.323 Diese Einschätzung deckt sich mit jener der Bauhäusler. So charakterisiert Schlemmer die Stimmungslage der Gründungszeit mit Beschreibungen wie dem „Kult des Unbewußten“ oder dem „Hang zu Mystik“324 , weist aber auch auf eine wichtige politische Dimension der Präliminarien hin, die mit dem eskapistischen Kunstverständnis der Kernexpressionisten nicht unbedingt konform geht und die Spannungen der ersten Jahre erklärt: Das Staatliche Bauhaus, gegründet nach der Katastrophe des Krieges, im Chaos der Revolution und zur Zeit der Hochblüte einer gefühlgeladenen explosiven Kunst, wird zunächst zum Sammelpunkt derer, die zukunftsgläubig-himmelstürmend die Kathedrale des Sozialismus bauen wollen.325
Die griffige Formel Schlemmers von der Kathedrale des Sozialismus geht auf Bemühungen Walter Gropius’ zurück, den Bau als Kern des Bauhauses zu etablieren und nicht nur die beteiligten Künste gleichberechtigt zu integrieren, sondern auch eine gesellschaftliche Anbindung und Funktionalisierung zu erreichen. In seiner Programmschrift von 1923 mit dem Titel Idee und Aufbau des Staatlichen Bauhauses formuliert er eine Widerspiegelungstheorie, wonach der Zustand einer Gesellschaft an ihren Bauwerken abzulesen sei: Das Weltgefühl einer Zeit kristallisiert sich deutlich in ihren Bauwerken, denn ihre geistigen und materiellen Fähigkeiten finden in ihnen gleichzeitig sichtbaren Ausdruck und für ihre Einheit oder Zerrissenheit geben sie sichere Zeichen. Ein lebendiger Baugeist, der im ganzen Land eines Volkes wurzelt, umschließt alle Gebiete menschlicher Gestaltung, alle ‚Künste‘ und Techniken in seinem Bereich.326
322 Vgl. SIEBENBRODT 2000: 292f. 323 Vgl. WINGLER 1975: 16; DROSTE 1990: 21-51; HAHN 1994: 13; HAUS 1999: 19. Anders Andi Schoon, der auch noch in den späteren Phasen expressionistische Anteile ausmacht. Vgl. SCHOON 2006: 34. 324 SCHLEMMER 1923: 79. 325 Ebd. 326 GROPIUS 1923: 196.
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Die Gründung des Bauhauses wird darüber hinaus durch die Diagnose einer geistigen Atmosphäre legitimiert, die an Kandinskys Wendemetaphorik erinnert. So spricht Gropius von einer „neuaufdämmernde[n] Erkenntnis der Einheit aller Dinge und Erscheinungen“ sowie von einer „neue[n] Welteinheit, die den absoluten Ausgleich aller gegensätzlichen Spannungen in sich birgt“327. Ausgehend von diesem umfassenden Einheitsbestreben lassen sich drei spezifische Interaktionsebenen unterscheiden, die für Gropius Bestandteil der Bauhausstruktur sein sollen. An erster Stelle steht die Auflösung der Grenzen von Kunst und Handwerk. Zwar hält Gropius an einer exklusiven visionären Erfahrung fest,328 deren Umsetzung sieht er aber als Akt handwerklicher Tätigkeit, weshalb der Künstler nichts anderes als eine „Steigerung des Handwerkers“329 sei. Als zwangsläufige Folge dieses radikalen Gegenentwurfs zum l’art pour l’art-Prinzip ergeben sich für ihn eine konstruktive Zusammenarbeit mit der Industrie sowie das Erlernen elementarer Kenntnisse in Buchführung und Rechnungswesen. Die zweite Interaktionsebene betrifft die im engeren Sinne intermateriale „Wiedervereinigung aller werkkünstlerischen Disziplinen“330 bzw. das „Mit- und Ineinanderwirken“331 der bildnerischen Künste Bildhauerei, Malerei und Architektur mit dem Endziel des Einheitsbaus. Weil drittens die Verbindung vom Ganzen und seinen Teilen nur durch die gemeinsame integrale Arbeit am Bauwerk erreicht werden könne, bestehe geradezu die Pflicht zur wechselseitigen Durchdringung des Einzelnen mit dem Gesamten: „Soll aber jedes Teilwerk in Beziehung zu einer größeren Einheit stehen – und dieses muß das Ziel des neuen Bauwillens sein – so müssen die realen und geistigen Mittel zur räumlichen Gestaltung von allen am gemeinsamen Werk Vereinten gekannt und gewußt werden.“332 Aus dieser Prämisse ergeben sich die Grundlagen für eine breit gefächerte Materialkunde (Stein, Holz, Metall, Ton, Glas, Farbe und Gewebe), die das Curriculum des Bauhauses vorschreibt, bevor die Studenten sich spezialisieren. In einer ganzheitlichen handwerklichen Ausbildung soll die Kenntnis all jener Materialien, 327 Ebd. 328 Auch die innere Erfahrung bleibt bei Gropius an die Vorstellung von Kunst als Raumbildung gebunden. So ist sie eingegliedert in ein topologisches Ordnungssystem, das den stofflosen Raum (Vision, innere Schau, metaphysische Kraft) vom mathematischen (Zeichnung, graphische Darlegung der Vision) und stofflichen Raum (Umsetzung durch reale Gesetze der Mechanik) unterscheidet. Der künstlerische Raum schließlich stellt sich für Gropius als die Vereinigung aller drei Gesetzmäßigkeiten dar. Vgl. ebd.: 198f. Zum Raumbegriff bei Gropius vgl. MÜLLER 2004: 34-37. 329 GROPIUS 1919a: 39. 330 Ebd.: 40. 331 Ebd.: 39. 332 GROPIUS 1923: 198.
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die an der Herstellung des Baus beteiligt sind, ein unabdingbares Bewusstsein für das Gesamte schaffen und zugleich ein Wissen über ihre intermaterialen Kombinationsgesetze gewährleisten. Im Einheitsbau verdichtet sich das universelle Einheitsdenken zu einem paritätischen Ausgleich der beteiligten Künste und Materialien. Dem Bauhaus liegt aber nicht nur im Hinblick auf die technische Unterweisung das Prinzip des Gleichgewichts zugrunde, sondern auch in Bezug auf die pädagogische Ausbildung. Diese zielt auf eine Entfaltung der individuellen Fähigkeiten ebenso ab wie auf ein harmonisches Austarieren der gestalterischen Kräfte, weshalb Kandinsky sie treffend als „synthetische Bildung“ 333 beschreibt. Auf Anregung Johannes Ittens engagiert Gropius zu diesem Zweck die Musikpädagogin Gertrud Grunow, die für den Bauhausunterricht eine Harmonielehre konzipiert, deren Kern der synästhetische Zusammenhang von Farbe und Ton bildet. Beide werden dabei nicht einfach als äußere Qualitäten betrachtet, sondern in engen Zusammenhang mit bio-physischen Voraussetzungen im menschlichen Köper gebracht. So ist für Grunow die Farbe – verstanden als Licht – eine lebendige Kraft, weil sie jeder Organismus zum Leben benötige, während das Ohr als Resonanzraum seine Funktion als Gleichgewichtsorgan an das Ordnungssystem der Töne weitergebe. Aus dieser (nicht unproblematischen) Schlussfolgerung leitet Grunow einen weiteren Kausalzusammenhang zur Raum- und Formenwelt ab: „Da das Licht, die Farbe aufrichtet, so muß Statisches, Räumliches Farben entsprechen und in höchstem Gleichgewicht, in höchster Harmonie sich befinden, wenn sein Erscheinen aus der Einheit von Farbe – Ton hervorgeht.“334 Zur erzieherischen Methode wird die Vorstellung dadurch, dass Grunow von einer exakten Entsprechung eines jeden Farbwertes mit einem Ton ausgeht, die anders als etwa bei Schwitters nicht über die Analogie von Schwingungsverhältnissen funktioniert, sondern für jeden selbst unbewusst über seine Körperschwerpunkte erfahrbar sein soll. Im Unterricht Grunows geht es daher um eine meditative Reizstimulierung durch Licht und Ton zur Auffindung der Körpermitte und das heißt um die Erfahrung seiner selbst als einer Ganzheit in einem „universellen Synthetischen“335. Neben den anthroposophischen Erziehungsgrundlagen, die durch den am Bauhaus populären Religionskult ‚Mazdaznan‘ zeitweise zu sektiererischen Auswüchsen unter den Studenten führen,336 fungiert die Bühne als weiterer Fixpunkt einer den intermaterialen Zusammenhang der Künste betonenden Lehre. Obwohl die Bauhäusler erst in der Dessauer Zeit mit einer modernen Versuchsbühne ausgestattet sind, kommt der Bühne bereits in den Weimarer Jahren eine wichtige Bedeutung 333 KANDINSKY 1927: 96. 334 GRUNOW 1923: 83. 335 Ebd. Vgl. zu Ziel und Praxis des Unterrichts ARGAN 1983: 22; SCHOON 2006: 45f. 336 Vgl. SCHMITZ 1999a.
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zu, weil sie ähnlich dem Bau verschiedene Künste und Materialien vereint. Nicht zufällig findet sich bei Gropius die Einschätzung, dass das „Bühnenwerk […] als orchestrale Einheit dem Werk der Baukunst innerlich verwandt“337 sei. In seiner Einleitung für die englische Übersetzung der Bühne im Bauhaus reiht er das Theater überdies in die Liste visueller Künste ein und übergeht wohlweislich die auf das Wort gründenden Anfänge unter Lothar Schreyer.338 Ihr Verschweigen liegt vor allem daran, dass er seine Vorstellungen eines „großen Gesamtkunstwerk[s]“339 unter dem Primat der Architektur für die Bühne erst durch Oskar Schlemmer verwirklicht sieht. Dessen Bühnenexperimente unterscheiden sich trotz der ähnlichen Auffassung einer abstrakten Verwendung der inszenatorischen Materialien maßgeblich von denen seines Vorgängers. Mit der Übernahme der Bühnenwerkstatt durch Oskar Schlemmer im Frühjahr 1923 verschieben sich die Gewichte innerhalb der Theaterabteilung des Bauhauses von der Sprache hin zu Bewegung und Architektur. Nicht mehr spiritistischer Ritus und beschwörende Litaneien stehen im Vordergrund, sondern der menschliche Körper und dessen intermateriale Beziehung zu den übrigen Bühnenmaterialien und vor allem zum umgebenden Raum. Zu den Vorbildern Schlemmers, der im September 1922 mit der Aufführung seines Triadischen Balletts am Stuttgarter Landestheater für Aufsehen sorgt, zählen nicht die Mystiker der Mittelalters, sondern mit Philipp Otto Runge und Caspar David Friedrich Vertreter der Romantik, deren Bilder sich – so Schlemmer – durch die Vereinigung zweier elementarer Merkmale auszeichnen: Gefühl und Ordnung. In einem Vortrag Schlemmers von 1932 mit dem Titel Perspektiven finden sich Runges zehn „Erfordernisse eines Kunstwerks“ komplett zitiert, die die Vorstellung einer religiösen Kunst- als Einheitserfahrung mit strikten Kompositionsprinzipien verbinden.340 Die Thesen Runges, in dessen Briefen sich auch die wohl radikalste Forderung der Romantik nach einem Gesamtkunstwerk unter Einschluss der Architektur findet,341 geraten so zum Ideal eines Totalitätsdenkens, das Schlemmer für die Bühnenarbeit übernimmt und auf die harmonische Ordnung des Raumganzen im Verhältnis zu den Bewegungsfolgen der darin agie337 GROPIUS 1923: 207. 338 Vgl. GROPIUS 1979: 7. 339 GROPIUS 1919b: 46. 340 Vgl. SCHLEMMER 1932: 341. 341 „Meine vier Bilder, das ganz Große davon und was daraus entstehen kann: kurz, wenn sich das erst entwickelt, es wird eine abstracte mahlerische phantastisch=musikalische Dichtung mit Chören, eine Composition für alle drey Künste zusammen, wofür die Baukunst ein ganz eignes Gebäude aufführen – sollte.“ RUNGE 1965: 202. [Brief an den Bruder Daniel, 22. Februar 1803]
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renden Darsteller überträgt. In seinem Standardwerk über die Theatertheorie und -praxis Schlemmers hat Dirk Scheper die „Bindung des Metaphysischen, Religiösen, Transzendenten durch Form, Ordnung, Gesetz, Mathematik“ 342 als dessen Position innerhalb des zeitgenössischen Kunstfeldes treffend zusammengefasst und zugleich auf die Einflüsse der russischen Avantgarde (Kasimir Malewitsch und El Lissitzky) und des französischen Kubismus (Pablo Picasso, Georges Braque, Fernand Léger, Marcel Duchamp) hingewiesen. Zu den prägenden Faktoren zählen aber noch weitere Strömungen. Wie Johannes Itten und Willi Baumeister stammt Schlemmer aus der Schule um den Stuttgarter Kunstprofessor Adolf Hölzel, dessen früh-abstrakte Bilder eine wichtige Einflussgröße darstellen. Schlemmer ist zudem durch die von Gropius’ Bauhausmanifest initiierte intermateriale Öffnung der Kunst in Richtung Technik und Mechanik geprägt. Anlässlich der Ausstellung Herbstschau neuer Kunst in Stuttgart 1919, die Bilder von Klee und Kandinsky zeigt, charakterisiert Schlemmer in seiner Eröffnungsrede den „Wille[n] zur Verinnerlichung“ und den „Wille[n] zur Technik“343 als die zwei entscheidenden Richtungen innerhalb der deutschen Kunstavantgarde. Diese Einschätzung deutet das ambivalente Verhältnis Schlemmers zum Expressionismus an. Kritisch lehnt er 1920 die „Ekstase-Expressionisten“ 344 ab, gestaltet jedoch Bühnenbilder für Kokoschkas Mörder Hoffnung der Frauen (1921 am Landestheater Stuttgart) oder inszeniert Schönbergs Die glückliche Hand (1929 in der Krolloper Berlin) und zeigt damit sein Interesse für dessen Bestrebungen zur Kunstsynthese. Was ihn dabei mit dem intermaterialen Theaterexpressionismus verbindet, insbesondere mit Kandinsky, der von Schlemmer 1922 die Leitung der Wandmalereiwerkstatt am Bauhaus übernimmt, ist die Forderung nach Abstraktion sowie die Wiedervereinigung der als disparat empfundenen Bühnenmaterialien. Abstrakt meint bei Schlemmer jedoch nicht nur die Reduktion auf das reine Material, sondern auch das Auffinden seiner Gesetzmäßigkeit und das heißt einer „Grammatik der Bühnenelemente“345 . Mit seinem Formentanz (1927) oder der unbetitelten Demonstration der Bühnenelemente von 1927 an der späteren Studiobühne in Dessau sind Schlemmer eindrückliche Beispiele einer durch Maß und Zahl strukturierten intermaterialen Aufführungspraxis gelungen. Dem Bauhauscredo entsprechend und bedingt durch die verschiedenen Werkstätten kennzeichnet Schlemmer zudem eine grundsätzliche Offenheit für Industriestoffe sowie das Experimentieren mit technischen Neuerungen und die Affirmation des Mechanischen. Obwohl er selbst an einer Zentralstellung des Men342 SCHEPER 1988: 244f. Zur Einordnung Schlemmers in die Theater-Avantgarde vgl. auch KIRCHMANN 1994. 343 SCHLEMMER 1919: 335. [Herv. i.O.] 344 SCHLEMMER 1977: 42. [Brief an Otto Meyer, 7. August 1920] 345 SCHLEMMER 1925/26: 36.
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schen festhält, deutet das Figurale Kabinett I (1922) mit einem Automaten aus Körperteilen, Apparaturen und geometrischen Figuren auf eine proto-maschinelle Inszenierung hin. Als „kinetische[] Flächen-Collage“ 346 demonstriert das Stück darüber hinaus den Hang Schlemmers zur Ironie, der in krassem Gegensatz zum Pathos seines Vorgängers an der Bauhausbühne steht.347 Eine weitere gewichtige Differenz betrifft die Aufwertung der Architektur. Das Theater als eine Institution „gesamtkünstlerischer Möglichkeiten“348 soll Schlemmer zufolge unter das Primat der Baukunst gestellt werden, der er als „Ordnerin der zersplitterten Gebiete“349 eine Einheit stiftende Wirkung zuschreibt. Zwar fordert auch Schreyer einen adäquaten Theaterraum für seine Stücke, doch bildet er bei ihm nur den äußeren Rahmen und ist nicht – wie bei Schlemmer – Teil der Interaktion. Nicht nur aufgrund dieser Dominanz der Architektur, sondern auch im Hinblick auf die Funktion des Menschen stellt sich die Bühnentheorie Schlemmers als Gropius’ Bauhausvision en miniature dar.350 Den Menschen, den Kandinsky in seiner Darstellungsfunktion von der Bühne verbannt und den Schreyer hinter Ganzkörpermasken versteckt, holt Schlemmer wieder zurück auf die Bühne, und zwar in seiner Funktion als homo corporalis und als homo mechanicus. In seinem Aufsatz Mensch und Kunstfigur, abgedruckt in dem gemeinsam mit László Moholy-Nagy herausgegebenen Band Die Bühne im Bauhaus (1925), setzt Schlemmer diese zweifache Determination in Beziehung zur Raumwirkung. Der Mensch, der sowohl ein „Organismus aus Fleisch und Blut“ als auch der „Träger von Zahl und ‚Maß aller Dinge‘“ 351 ist, kann demzufolge einerseits in organischer und andererseits in mathematischer Relation zur Architektur stehen. Letzteres geschieht durch die Gesetze des kubischen Raums im Verhältnis zur „Geometrie der Leibesübungen, Rhythmik und Gymnastik“352 . Die organische Verbindung kehrt diese Ordnung um. Hier ist es 346 MAUR 1982: 200. 347 Der ironische Gestus zeigt sich auch in der postum veröffentlichten Satire auf das klassische Handlungstheater Meta oder die Pantomime der Örter (1924). Hierin werden Regieanweisungen wie „Auftritt“, „Pause“ oder „Höhepunkt“ in Form von Schriftbildern über die Bühne getragen und damit die Aufführung überreflektiert und sinnentleert. In einer knappen Besprechung der Weimarer Bühne in der Zeitschrift bauhaus 3 erklärt Schlemmer eine grundsätzliche Neigung der Bauhäusler zum Spieltrieb und zur Groteske. Seiner Ansicht nach ist dies auch der Grund für den Widerstand der Studentenschaft gegen die sakral aufgeladene Theaterpraxis Lothar Schreyers. Vgl. SCHLEMMER 1927: 1. 348 SCHLEMMER 1977: 60. [Tagebucheintrag, September 1922] 349 Ebd. 350 Vgl. ARNING 1983: 177. 351 SCHLEMMER 1925: 12. 352 Ebd.: 13.
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der Mensch, „dessen Bewegungen und Ausstrahlungen einen imaginären Raum schaffen. Der kubisch-abstrakte Raum ist dann nur das horizontal-vertikale Gerüst dieses Fluidums.“353 Beide Richtungen sind also möglich und werden von Schlemmer in vier Kostümentwürfen archetypisch ausgeformt, das Ideal aber ist deren Synthese im Tänzer. Im Sperrdruck hervorgehoben heißt es über ihn: „I n a l l e diese Gesetze unsichtbar verwoben ist der Tänzermensch. Er folgt sowohl dem Gesetz des Körpers als dem Gesetz des Raums; er folgt sowohl dem Gefühl seiner selbst wie dem Gefühl vom R a u m .“354 Im Tänzer wird der Raum anschaulich und verwandelt sich darüber hinaus in Zeit. Ähnlich wie der Darsteller in Adolphe Appias Die Musik und die Inszenierung (1899) die Einheit von Musik und Inszenierung verbürgt,355 stellt er bei Schlemmer den Kreuzungspunkt von Inszenierungsmaterialien und Bühnenarchitektur dar. Das Liniennetz der planimetrischen und stereometrischen Beziehungen tritt im Tänzer zutage und macht seinen Körper und dessen Bewegungen gemeinsam mit dem Ausdruck innerer Empfindungen zu einem Ort doppelter Sichtbarkeit. Aufgrund dieser Ambiguität spricht Karin von Maur von einer „Spannung zwischen einem nicht mehr ganz Humanen und einem noch nicht ganz Mechanischen“356 . Positiv formuliert versucht Schlemmer eine Synthese zwischen Ausdruckskraft und Bühnenumgebung herzustellen und den Tänzer als Schnittstelle innerhalb eines raum-zeitlichen Beziehungsgefüges und somit als intermateriales Zentrum der Bühnenkräfte zu bestimmen. Er ist Projektionsinstanz und Zielpunkt der als „Injektionen“357 verstandenen raumplastischen Wirkung. Fasst man die intermateriale Ausrichtung dieser Bühnenkonzeption Schlemmers zusammen, so zeigt sich, dass die Einbindung des Tänzer-Darstellers in die Gesetze des Raums die Voraussetzung dafür darstellt, dass das Verhältnis der Künste überhaupt als ein intermateriales bestimmt werden kann. In seinem Beitrag für die Zeitschrift bauhaus 3 von 1927, in der auch Auszüge aus Kandinskys Über die abstrakte Bühnensynthese sowie eine Teilübersetzung seines Bühnenstücks Violett abgedruckt sind, leitet Schlemmer alle Bühnenmittel explizit von den beiden Hauptfaktoren Raum und Mensch ab: „teil des raums ist die f o r m , die flächenform, die plastische form; teil der form ist die f a r b e und das l i c h t “358; „er [der Mensch] ist künder, ja schöpfer e i n e s gewichtigen elements der Bühne, vielleicht des wichtigs-
353 Ebd.: 14. 354 Ebd.: 15. [Herv. i.O.] 355 Vgl. APPIA 1899: 11-25. 356 MAUR 1982: 200. 357 SCHLEMMER 1930: 223. Zit. nach SCHEPER 1988: 273. 358 SCHLEMMER 1927: 1. [Herv. i.O.]
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ten: l a u t , w o r t , s p r a c h e “359. Aufgrund dieser engen Verflechtung verweigert Schlemmer eine symbolische Ausdeutung der Künste. Der Bezugspunkt bleibt in das Kräfteverhältnis der abstrakt verwendeten Bühnenmaterialien eingebunden. In einem weiteren Aufsatz von Ende der 1920er Jahre, Moderne Bühnenmittel (1929), fordert Schlemmer den Gebrauch der Mittel „‚an sich‘“, ihre „elementare[] Erscheinungsform“ und „materialgerechte[] Reinheit, Nacktheit und Sachlichkeit der Existenz“360. Unverkennbar übernimmt Schlemmer die Idee einer ‚reinen‘ Verwendung der künstlerischen Materialien von der expressionistischen Abstraktionstendenz. Dieses materialästhetische Programm schreibt er fort und dehnt es auf die Wechselwirkung von Raum und Bewegung des menschlichen Körpers, aber auch von Zuschauer- und Bühnenraum aus, die Schlemmer „zu einer wechselwirkenden Einheit […] verschmelzen“361 möchte. Wie bei Schwitters erfolgt die Verbindung der Materialien dabei aus keiner religiösen Motivation mehr heraus, sondern aus Interesse an deren mathematisch-physikalischen Gesetzmäßigkeiten. Die intermateriale Wechselwirkung der Künste ist somit zum Ende der Epoche entsakralisiert.
Z USAMMENFASSUNG In den wenigen Jahren seines Bestehens durchläuft das Bauhaus in Weimar eine Entwicklung, die für die intermaterialen Bestrebungen von 1910 bis 1925 insgesamt kennzeichnend ist: Von den theosophisch-mystischen Anfängen (Wassily Kandinsky, Lothar Schreyer) über die wissenschaftliche Erforschung (Oskar Walzel) und anthropozentrische Bühnenreform (William Wauer, Rolf Lauckner) bis zur provokativen Ausdehnung auf eine Dingästhetik (Kurt Schwitters) und Rationalisierung von Bühnenmaterial und -architektur (Oskar Schlemmer). Das Curriculum des Bauhauses in Form einer breiten Materialkunde bzw. „Materialmystik“362 und die unterschiedlichen künstlerischen Werkstätten repräsentieren dabei den gemeinsamen Fixpunkt der expressionistischen Forderungen nach einer intermaterialen Vereinigung der Künste. Verschieden in den Programmatiken sind hingegen die Vorstellungen von den Materialien selbst sowie ihren Verwendungsweisen und den Zielen ihres Einsatzes. So sieht die Gestaltästhetik Walzels ausschließlich eine Analogie in der künstlerischen Bearbeitung vor, nicht aber eine konkrete Verbindung des Materials. Auch Kandinsky fordert zunächst eine Erkundung der spezifischen Eigenschaften der künstlerischen Materialien, überführt diese jedoch in einen 359 Ebd.: 2. [Herv. i.O.] 360 SCHLEMMER 1929: 259. 361 Ebd.: 260. 362 BREUER 2010: 408.
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Vergleich, der auf die Vorstellung der inneren Wesenseinheit bei äußerer Verschiedenheit der am intermaterialen Kunstgebilde beteiligten Künste hinausläuft. Gleiches gilt für Schreyer, der allerdings ein Durchbrechen der materialen Grenzen vorsieht und die Ausdruckskraft des Künstlers verabsolutiert, um die Materialien beliebig bearbeiten und kombinieren zu können. Kandinsky und Schreyer gemeinsam sind das Festhalten an den traditionellen Materialien der Künste sowie die Zielvorstellung eines geistigen Erlebnisses. Das zu Beginn des Kapitels diskutierte Spannungsverhältnis von Immaterialität und Materialität konnte auf Basis dieser Beobachtung dahingehend erhellt werden, dass beide Vorstellungen in den Programmatiken eng miteinander verknüpft sind: Der abstrakte Materialgebrauch stellt kunst- und literaturgeschichtlich das Ergebnis eines Strebens nach immaterieller Erfahrung dar. Wie Kandinsky 1927 rückblickend schreibt, fallen mit dem Expressionismus die Mauern „zwischen zwei Gebieten, die vorher keine entfernteste Verwandtschaft kannten – das Gebiet der Materie und das des Geistes [...]“363 . Gerade die intermateriale Verbindung der Künste wie im monumentalen Kunstwerk Kandinskys oder im Bühnenwerk Schreyers entspricht dabei konzeptionell dem Absolutheitsanspruch des Geistigen und soll diesem angemessen Ausdruck verleihen. Medienfunktion und materialer Eigenwert konvergieren folglich in diesen esoterischen und mystischen Begründungen intermaterialer Kunst. Eine derartige Tendenz ist auch noch bei Wauer und Lauckner zu beobachten, allerdings konzentrieren sich deren Syntheseforderungen auf den Menschen als intermaterialem Mittelpunkt des Theatergeschehens und haben insofern eher einen ontologischen Status. Rationalisiert ist die Verbindung der Künste in der Grammatik der Bühnenmaterialien Schlemmers, der die Relation des Darstellers zu den Raumelementen erprobt, allerdings wirken auch hier noch die Vorstellungen von der Bühne als komprimiertem Kosmos nach. Während für viele Expressionisten das Theater somit zum Sinnbild intermaterialer Ansätze par excellence gerät, die indes durch die traditionellen Institutionen der Kunst beschränkt sind, erfährt die intermateriale Programmatik bei Schwitters und seiner Vermerzung der Welt eine radikale Ausdehnung. Durch die Verwendung konkreter Dingmaterialien werden mit der Merzkunst die herkömmlichen Grenzen zwischen Kunst und Wirklichkeit eingerissen und potentiell jedes Material zum Gegenstand der Kunst gemacht: Die Welt erscheint somit insgesamt als intermateriales Reservoir. Schwitters bleibt in diesem universellen Anspruch allerdings expressionistischen Kerngedanken treu, da er mit dem Rhythmus als Verbindungskriterium der Materialien an einer ästhetischen Einheit und Geschlossenheit des spezifischen intermaterialen Kunstgebildes festhält. Mit dem Bauhaus wird dieser provokative Materialgebrauch zwar wieder eingeschränkt, weil die Materialkunde sich auf Werkstoffe wie Glas, Holz oder Metall konzentriert, den363 KANDINSKY 1927: 96f.
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noch kann es als Höhepunkt der intermaterialen Entwicklung des Expressionismus betrachtet werden, da es viele seiner Hauptvertreter zusammenführt und ihre Visionen von einer künstlerischen Vereinigung in Walter Gropius’ Idee eines gemeinsamen Baus institutionalisiert. Dass es bei der Zusammenarbeit der Expressionisten in Weimar zu vielen Verwerfungen kommt, mag an den verschiedenen Charakteren liegen und die ironische Kehrseite einer um Einheit bemühten esoterischen Grundlegung von Kunst sein, dem Fortbestand intermaterialer Konzepte in der Dessauer Zeit und weit darüber hinaus tut dies jedoch keinen Abbruch. Aus ihrem historischkulturellen Kontext im Expressionismus wird die intermateriale Programmatik Ende der 1920er Jahre gelöst und in neue Begründungszusammenhänge eingeführt.
IV. Zwischen Text und Bild
A PRÄSENZ ▪ K OPRÄSENZ ▪ F USION . F ORMEN INTERMATERIALER T EXT -B ILD -B EZÜGE IM E XPRESSIONISMUS Die praktischen Bemühungen um eine Annäherung der Künste im Expressionismus zeigen sich in ihrem quantitativen Ausmaß an keiner Relation so stark wie am Verhältnis von Text und Bild. Vor allem in der illustrativen Bearbeitung von Büchern kommt es zu einer wahren Flut wechselseitiger Kooperationen von Malern und Autoren. Wie Ralph Jentsch konstatiert, gibt es im Expressionismus „kaum einen Künstler, der nicht in irgendeiner Form Illustrationen für Bücher, Zeitschriften oder Flugblätter geschaffen hätte“1. Diese Beobachtung lässt sich anhand eindrücklicher Zahlen belegen. So listet Lothar Lang in seinem Standardwerk Expressionismus und Buchkunst insgesamt 380 Bücher auf, bei denen eine oder mehrere Illustrationen eingefügt, Umschläge oder Titelzeichnungen angefertigt wurden.2 Auf eine noch größere Zahl kommt Paul Raabe in seinem umfangreichen bibliographischen Handbuch Die Autoren und Bücher des literarischen Expressionismus. Dort finden sich im Illustrationsverzeichnis 280 Künstler dokumentiert, die bei der Gestaltung von mehr als 650 Büchern beteiligt waren.3 Berücksichtigt man, dass beide Verzeichnisse nur die literarischen Texte und nicht die zahlreichen Zeitschriften des Expressionismus auswerten, so muss die Gesamtzahl der Text-Bild-Bezüge noch weitaus höher eingeschätzt werden. Typographische Voraussetzung für die expressionistischen Illustrationsarbeiten ist die Wiederentdeckung des Buchschmucks und die enge Verbindung von bildender Kunst und Literatur im Jugendstil. Neben zahlreichen ornamental verzierten Buchpublikationen prägen vor allem die von Otto Julius Bierbaum u.a. herausgege-
1
JENTSCH 1989: 12.
2
Vgl. LANG 1993: 208-232.
3
Vgl. RAABE 1985: 815-834.
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benen Zeitschriften Pan und Die Insel mit ihrem arabesken und floralen Dekor das illustrative Erscheinungsbild des Jugendstils. Demgegenüber zeichnet sich die Formsprache der Expressionisten durch harte Konturen und – so Lothar Lang – eine „barbarische[] Wildheit“4 aus. Diese stilistische Divergenz geht einher mit der Wahl unterschiedlicher Sujets. So beziehen sich die ersten expressionistischen Illustrationsarbeiten gezielt auf Texte, in denen es um das Ausleben von Gewalt- und Sexualtrieben geht. Als erste expressionistische Illustrationen gelten die Holzschnitte Erich Heckels zu Oskar Wildes Ballade vom Zuchthaus zu Reading aus dem Jahr 1907 sowie die Zeichnungen Oskar Kokoschkas zu seinem Drama Mörder Hoffnung der Frauen in verschiedenen Ausgaben des Sturm im Jahrgang 1910.5 Daneben sind zahlreiche andere herausragende Vertreter der expressionistischen Buchkunst zu nennen: Wassily Kandinsky mit seinem Gedichtband Klänge (1913), Conrad Felixmüllers Illustrationen zu Walter Rheiners Kokain (1917), Max Beckmanns Radierungen zu Kasimir Edschmids Die Fürstin (1918), Ludwig Meidners Septemberschrei (1920), Max Pechsteins Das Vater Unser (1921), Else Lasker-Schülers Theben (1923) und – neben vielen weiteren – als später Höhepunkt Ernst Ludwig Kirchners Bearbeitung von Georg Heyms Umbra Vitae (1924). Bereits an der knappen Auswahl lässt sich erkennen, dass sich die buchkünstlerische Gestaltung auf eigene wie auf Texte anderer bezieht. Eigenillustratoren wie Ernst Barlach oder Alfred Kubin, die als so genannte Doppelbegabungen in Erscheinung treten, stehen Künstlern gegenüber, die sich eigeninitiativ, auf Betreiben von Verlegern oder in Kooperation mit befreundeten Literaten an Illustrationen fremder Texte versuchen. Dabei sind die bildnerischen Bearbeitungen nicht nur auf die Literatur des Expressionismus beschränkt, sondern beziehen sich auch – wie im Falle von Kirchners Titelholzschnitt zu Adelbert von Chamissos Peter Schlemihl’s wundersame Geschichte (1915/16) oder Meidners Radierungen zum Faksimiledruck von Klopstocks Trauerspiel Der Tod Adams (1924) – auf Bücher früherer Epochen. Lothar Lang erkennt darin eine Ausdeutung und Überformung der literarischen Texte mit den eigenen Vorstellungen und damit eine Art ästhetische Einverleibung der Literatur durch die Expressionisten.6 Bei aller Heterogenität lässt sich als gemeinsamer Nenner der vielen Illustrationen ein Reduktionismus und eine „radika4
LANG 1993: 15.
5
Bei der Diskussion um Kokoschkas Arbeiten als Bühnendichter zeigt sich, dass die ‚Übergriffe‘ der Maler auf andere Künste im Expressionismus bereits selbstverständlich geworden sind. So fingiert Paul Kornfeld in einer Rezension zu dem Stück einen Disput, der auf die Frage, „Warum schreibt der Maler Kokoschka Dramen, statt nur Bilder zu malen?“, mit der Gegenfrage kontert: „Warum komponiert er nicht auch Symphonien, Opern, Lieder, warum ist er nicht auch Bildhauer?“ KORNFELD 1917: 685f.
6
Vgl. LANG 1993: 19f.
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le[] Vereinfachung von Form und Farbe“7 ausmachen. Die Darstellungen bedienen sich vielfach scharfer, kantiger Formen, die dem Textblatt einen aggressivekstatischen Ausdruck verleihen und zugleich die Graphik dem Schriftsatz annähern. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, dass neben Radierungen, Lithographien und Zeichnungen der Holzschnitt die am häufigsten verwendete Technik darstellt. Der Vorteil dieses Verfahrens besteht darin, dass es eine „größtmögliche Allianz zwischen Typographie und Bild“ 8 schafft und damit beide Künste intermaterial zusammenführt. Betrachtet man beispielsweise die Umschlagszeichnung Kirchners zu Alfred Döblins Das Stiftsfräulein und der Tod (vgl. Abb. 2), so wird deutlich, wie stark Graphik und Schrift ineinander greifen und interagieren. Diese Beobachtung bestätigt die These, dass es die materiale Engführung ist, die die Expressionisten interessiert und erklärt zugleich, warum die Illustrationen häufig vom Inhalt der Texte abstrahieren oder nur einzelne Motive aufgreifen und zur ganzseitigen Umschlagsgestaltung tendieren. Ziel ist es, eine typographische Einheit von Abbildung 2: Ernst Ludwig Kirchners Bild und Schrift herzustellen und erst in Titelholzschnitt zu Alfred Döblins Das zweiter Linie eine semantische Einheit mit Stiftsfräulein und der Tod (1913) der Literatur zu schaffen. Intermateriale Text-Bild-Bezüge werden auf vielfältige Weise hergestellt und beschränken sich im Expressionismus nicht nur auf die materiale Kopräsenz von Text und Bild in Illustrationen. Im Hinblick auf das Buch experimentieren viele Künstler ebenso mit Vignetten oder Initialen, in denen Schrift und bildliche Darstellung eine untrennbare intermateriale Einheit bilden. Eindrückliche Beispiele hierfür finden sich im Almanach Der Blaue Reiter oder in der Zeitschrift Kündung. Ein charakteristisches Merkmal sind auch die Signets der dem Expressionismus nahe stehenden Verlage wie diejenigen des S. Fischer Verlags, des Sturm Verlags oder des Verlags der Dichtung. Bei deren Gestaltung bediente man sich einer Eigenschaft der Schrift, die aus ihrer materialen Beschaffenheit resultiert: Die Buchstaben sind im Monogramm abstraktes Zeichen und Bild zugleich (vgl. Abb. 3-5). Daneben kann die Literatur oder der Akt des Lesens auch zum Gegenstand der Malerei 7
GRIESBACH 1986: 147.
8
LANG 1993: 21.
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oder Graphik werden; so beispielsweise in den Lithographien von Max Pechstein Die Leser (1917) und Adolf Hacker Der Dichter liest (1912). Seine intermateriale Verschärfung findet das Thema der Literatur dort, wo deren Material selbst in Form von Buchstaben oder schriftähnlichen Zeichen in Bilder integriert ist. Vor allem Paul Klee ist hier zu nennen, der in seiner expressionistischen Phase von 1916-1921 Schriftbilder anfertigt, in denen er Schriftzüge oder ganze Texte mit Farben und Formen zu einer Einheit verdichtet. Umgekehrt finden sich im Expressionismus – wie in Kasimir Edschmids Anthologie Bilder. Lyrische Projektionen von 1913 – auch Gedichte auf Bilder, die allerdings material apräsent sind und auf die daher rein sprachlich verwiesen wird. Während die Illustrationen des Expressionismus als gut dokumentiert gelten,9 sind die zuletzt aufgeführten Text-Bild-Bezüge weitgehend unbekannt. In den folgenden Einzelanalysen soll daher – mit Ausnahme der Illustrationen Kirchners zu Georg Heyms Umbra Vitae – bewusst der Fokus auf sie gelegt werden, um den Expressionismus in seiner intermaterialen Vielfalt zu erschließen. Anhand verschiedener Typen – Bildgedicht, Ekphrasis, Illustration, Schriftbild, Initiale und Assemblage – werden intermateriale Kunstgebilde auf das in ihnen virulente Verhältnis von Schrift und Bild hin untersucht. Die Reihenfolge der Analysen folgt bewusst keiner chronologischen Ordnung, sondern orientiert sich an einer zunehmenden intermaterialen Verdichtung der Text-Bild-Bezüge. So stehen am Beginn der Untersuchung Kasimir Edschmids Bildgedichte Bilder. Lyrische Projektionen (1913), bei denen nur die Texte in ihrer Materialität präsent sind. Die intermateriale Beziehung zu den Gemälde-‚Vorlagen‘ erfolgt über eine sprachliche Markierung sowie mithilfe visueller Motive und struktureller Annäherungen. Bei Johannes Ittens Analysen Alter Meister (1921) als dem zweiten untersuchten Text-Bild-
Abbildung 3: Signet des S. Fischer Verlags
9
Abbildung 4: Signet des Verlags der Dichtung
Abbildung 5: Signet des Sturm Verlags
Vgl. neben den bereits genannten Arbeiten von LANG 1993, JENTSCH 1989 und GRIESBACH
1986 auch HUBERT 1996.
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Komplex sind beide Materialien kopräsent, da die Abbildungen, auf die sich seine Ekphraseis beziehen, mit abgedruckt sind. Diese materiale Kopräsenz erfährt ihre Steigerung in Kirchners Illustration zu Georg Heyms Alle Landschaften haben (1924). In ihr verschränken sich Text- und Bildsegmente, fusionieren aber noch nicht miteinander. Ein solches intermateriales Hybridgebilde stellt Klees Schriftbild Einst dem Grau der Nacht enttaucht (1918) dar, das bewusst die Grenzen zwischen Schriftzeichen und Farbformen verwischt und beide Materialien zu einer untrennbaren Einheit verbindet. Ähnliches lässt sich an den Initialen beobachten, die von verschiedensten Künstlern des Expressionismus gestaltet werden. In komprimierter Form sind in ihnen Buchstaben mit ikonischen Darstellungen verbunden oder die Bildlichkeit des Schriftmaterials pointiert. Die radikalste Vereinigung von Schrift und Bild findet sich in Kurt Schwitters’ Assemblage Das Undbild (1924), das den Abschluss der Analysen bildet. In ihr sind Dingmaterialien und Schriftfragmente zu Bildbestandteilen gemacht und alle zuvor erschlossenen Funktionen intermaterialer Verbindungen gleichzeitig zu erkennen. Im Zuge dieser Analyse verschiedener Relationstypen von Schrift und Malerei sollen gemäß der theoretischen Begründung der Intermaterialität auch Erklärungsansätze aus der Zeichentheorie einbezogen werden. Da die meisten der diskutierten Text-Bild-Komplexe nicht rein abstrakt funktionieren, sondern als Zeichenkomplexe semantische Verbindungen herstellen, helfen sie, die ästhetischen Verdichtungen in ihren unterschiedlichen Verfahren zu beschreiben. Darüber hinaus versteht sich dieses Kapitel als Beitrag zur Text-Bild-Forschung, die in den vergangenen Jahren wichtige Ergebnisse im ästhetischen Grenzgebiet von Literatur und bildender Kunst erzielt hat, in der es aber immer noch um eine terminologische Präzisierung bei der Benennung der vielen unterschiedlichen Phänomene geht. Gerade in dieser Hinsicht vermag die Kategorie der Intermaterialität einen wichtigen Beitrag zu leisten, indem sie die verschiedenen Text-Bild-Verbindungen, wie sie etwa Ulrich Weisstein oder Gottfried Willems in einer Typologie der Wechselbeziehung angeben,10 mithilfe der skizzierten Intensitätsgrade der intermaterialen Apräsenz, Kopräsenz und Fusion adäquat und neu beschreiben kann.
10
Vgl. WEISSTEIN 1992b: 20-27; WILLEMS 1990: 414f. Eine Übersicht über verschiedene Ansätze zur Typologisierung von Text-Bild-Verbindungen gibt EICHER 1994: 18-25.
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B ILDGEDICHTE . K ASIMIR E DSCHMIDS „B ILDER . L YRISCHE P ROJEKTIONEN “ Kasimir Edschmid ist vor allem als Prosaautor bekannt. Mit seinem Roman Die achatnen Kugeln (1920), der von Max Beckmann illustrierten Erzählung Die Fürstin (1918) und der Abhandlung Über den Expressionismus in der Literatur und die neue Dichtung (1919) etabliert er sich als führender Erzähler und Theoretiker des Expressionismus. Dass Edschmid auch Gedichte verfasst, ist weit weniger bekannt und auch in der Forschung unterrepräsentiert.11 Zu Beginn seiner schriftstellerischen Tätigkeit veröffentlicht der „Bilderliebhaber“12, wie er sich selbst bezeichnet, unter dem Kürzel Ed Schmid zwei Lyrikbände, von denen für eine intermateriale Untersuchung vor allem der zweite, 1913 publizierte Band Bilder. Lyrische Projektionen von Bedeutung ist. Das Buch, das in einer Auflage von nur 210 Exemplaren im Hohmann Kunstverlag Darmstadt erscheint, enthält 25 Bildgedichte auf ebenso viele Gemälde von insgesamt 22 Malern. Die Spannbreite der kunstgeschichtlichen Provenienz reicht vom Spätmittelalter und der Frührenaissance über den Impressionismus, Jugendstil, Pointillismus bis hin zum Kubismus und zu Bildern des japanischen Künstlers Utagawa Kunisada. Zu den europäischen Malern gehören neben Pietro Perugino, Bernardino Pinturicchio oder Martin Schongauer auch Pablo Picasso, Claude Monet oder August Renoir. Die Bilder selbst sind in dem Band nicht mit abgedruckt, sondern in den Überschriften durch Nennung des Malers und des (nicht immer richtigen) Bildtitels zitiert. Zusätzlich ist die Gedichtsammlung mit sechs Holzschnitten von Hermann Georgi „begleitet“, wie es im Index heißt, und somit die intermateriale Beziehung zur bildenden Kunst potenziert. Die Gedichte müssen demnach in zwei Richtungen gelesen werden: einmal in Bezug auf ihre material apräsenten ‚Vorlagen‘ und dann im Hinblick auf die material kopräsenten Illustrationen, wobei diese weder an Zahl noch an Qualität mit den Gemälden vergleichbar sind. Sie fungieren vielmehr als Ordnungsmomente, indem sie erkennbar versuchen, aus den heterogenen Gedichten zusammenhängende Motive auszuwählen. Da Edschmids Lyrikband aber keinem kohärenten Auswahlkriterium folgt, 11
So tauchen beispielsweise Edschmids Lyrikanthologien in der umfangreichen Werkbiographie Hermann Schlössers nur in einer Randbemerkung auf. Vgl. SCHLÖSSER 2007: 26. Zur Ausblendung seiner frühen lyrischen Versuche hat Edschmid freilich selbst beigetragen. So schreibt er in seinem autobiographischen Epochenabriss Lebendiger Expressionismus: „Ich verachtete meine Lyrik“, um allerdings schnell hinzuzufügen: „Zu Unrecht vermute ich.“ EDSCHMID 1961: 87. Die Abwertung betrifft vor allem die erste Lyrikanthologie Verse, Hymnen, Gesänge von 1911, über die Bilder urteilt Edschmid rückblickend: „Ich halte sie heute noch für rund und eigenartig.“ EDSCHMID 1950: 56.
12
EDSCHMID 1961: 65.
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funktioniert dies nur bedingt. Aus diesem Umstand erklären sich auch der Reduktionismus und die Unbestimmtheit der Darstellungen Georgis, die im krassen Gegensatz zu den teils farbintensiven und detailreichen Bild‚Vorlagen‘ stehen. Immerhin lassen sich die Gedichte 1-5 dem Motivkomplex Mensch, Natur und Stadt, die Gedichte 6-8 dem Motiv der Frau und die Gedichte 9-13 dem Motiv des Paares zuordnen, die jeweils durch eine die Motive verarbeitende Vignette voneinander abgegrenzt sind. Ab dem 14. Gedichte vermischen sich die Themen und lassen keine zusammenführende Gestaltung in den Holzschnitten mehr zu. Im Gegensatz zu den konkreten Bild-Bezügen der Gedichte besitzen sie also keine singuläre Referenz. Sie entsprechen aber der Absicht Edschmids, dass die Gedichte nicht zwangsläufig auf die ‚Vorlagen‘ zuAbbildung 6: Hermann Georgis Titelrückbezogen werden sollen, sondern holzschnitt zu Kasimir Edschmids Bilder. Lyrische Projektionen (1913) als eigenständige Kunstgebilde selbst zu einer visuellen Umsetzung anregen mögen. Damit begründet Edschmid ein Text-Bild-Verhältnis der wechselseitigen Inspiration, bei dem Bilder zu Gedichten anregen und diese wiederum bildnerische Bearbeitungen nach sich ziehen. Die Motivation für seine Bildgedichte legt Edschmid in einem kurzen Vorwort dar, das aufgrund der schwer zugänglichen und bis heute nicht wieder reproduzierten Sammlung hier komplett wiedergegeben ist: Nicht um jenen Engländer nachzuahmen, Thomas Griffiths Wainewright, der vor hundert Jahren zuerst zeigte, wie Gemälde Antriebe seien für rhythmische, hastige Worte, rauschende Prosa . . . . weniger noch: mit der Auswahl der neueren Bildnisse in diesem Sinne ein Zeitdokument zu geben . . . . oder zu beweisen: dass vielleicht in Bildern mehr Inspiration sei, als in der eigenen Natur, da doch künstlerischer Wille und Instinkt schon grössere Dichtigkeit zusammengeraffter Reize in sie gelegt hat – Ganz allein der Zufälligkeit eines dahin gerichteten Gestaltungsdranges verdankt dieser Cyklus seine Entstehung in dem wachsenden Willen: den dekorativen, seelischen oder pigmentären Gehalt der Bilder auszuschöpfen und in die
152 | I NTERMATERIALITÄT neue Form zu fassen. Die Gedichte verlangen natürlich an sich . . . auch unabhängig von den Vorlagen . . . . als durchaus selbständige Gebilde angesehen zu werden, wie das bei Nachschaffungen der Natur zum Beispiel sich ja von selbst versteht. Der Gedanke, den darstellenden Künstler, ganz losgelöst von dem Wesen der Bilder und rein erregt durch den rhythmischen Reiz der Verse und die Ausstrahlung ihres suggestiven Erlebens, wieder nach linearen Formen suchen und also zum Bildlichen zurückführen zu lassen, ist . . . . wir betonen das . . . . ein erstmaliger und kühner Versuch. Dass für die Auswahl von Maler und Sujets grundsätzlich und allein nur die Laune des Autors massgebend gewesen ist, sei hinzugefügt . . . . . .13
Edschmids Einschätzung, die er in Bezug auf Thomas Wainewright äußert,14 lässt sich mit Blick auf die Entwicklung des Bildgedichts seit der Antike leicht widerlegen. So benennt Gisbert Kranz in seiner Genealogie der Gattung bereits die Homerische Ekphrasis des Achillesschildes und die Bildepigramme der Anthologica Graeca als wichtige Vorläufer und datiert mit Leonidas von Tarents Versen auf das Apellesgemälde der Anadyomene das erste Bildgedicht ins dritte vorchristliche Jahrhundert. Diesem folgen ab dem vierten nachchristlichen Jahrhundert die Tituli – Versdeutungen von Wandmalereien –, die Totentanz-Bilder-Zyklen des 14. und 15. Jahrhunderts sowie Porträt-Sonette Petrarcas oder Giambattista Marinos berühmtes Galleria von 1619.15 Als wichtige Ergänzungen hinzuzufügen sind August Wilhelm Schlegels fiktives Gespräch Die Gemählde (1799), an dessen Ende sich eine Reihe religiöser Bildgedichte findet, Oscar Wildes „impressionistische Wortgemälde“16 und Rilkes Chartres-Gedichte, in denen er auf die architektonischen Besonderheiten, Heiligenfiguren und Gemälde in der Kathedrale der nordfranzösischen Stadt Chartres rekurriert. Neben diesen Schlaglichtern der Gattungsentwicklung können mit Gisbert Kranz verschiedene Modi der Übertragung bei Bildgedichten angegeben werden: Transposition, Suppletion (Ergänzung), Assoziation, Interpretation, 13
EDSCHMID 1913: o.S. Die folgenden Zitate beziehen sich auf diese Ausgabe und werden aufgrund der fehlenden Seitenzählung nicht gesondert in Fußnoten belegt.
14
Die Anspielung auf Thomas Griffiths Wainewright (1794-1847) rekurriert auf dessen Artikel für das London Magazine, die er in den Jahren 1821-1823 verfasst und die sich als eine Mischung aus Kunstkritik, Essay und Literatur ausnehmen. Wainewright eignet sich darin zeitgenössische Kunstausstellungen literarisch an, indem er die betrachteten Gemälde mit eigenen Gedichten oder Versen berühmter Autoren wie Milton, John Keats oder Goethe in Verbindung bringt. Paradigmatisch für diese Verfahren Wainewrights steht das Credo aus einem Artikel vom Oktober 1821, das lautet: „I left the valley of **** to please the painters with my eulogies.“ WAINEWRIGHT 1880: 190.
15
Vgl. KRANZ 1992: 154f.
16
PLETT 1998: 221.
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Provokation und Spiel.17 Vor allem die Transposition, also die „Umsetzung formaler Strukturen aus einem Medium ins andere“18, findet sich in Edschmids Bildgedichten. Im Vorwort benennt er selbst die „dekorativen, seelischen oder pigmentären“ Gehalte von Bildern als die wesentlichen Kennzeichen, die er in seinen Gedichten aufgreifen und in die Literatur übersetzen will. Er eröffnet damit ein Spektrum der Text-Bild-Beziehung, das von einer emphatischen Identifikation des schreibenden mit dem malenden Künstler bis hin zu Versuchen einer materialästhetischen Annäherung reicht. Bildet sich das Seelische im Modus der subjektiven Rezeption ab, die sich durch eine Mischung aus romantischer, impressionistischer und expressiver Sprache in den Gedichten ausdrückt, so fixieren die anderen beiden ‚Gehalte‘ die Beschaffenheit der Bilder in ihrer genuin malerischen Gestaltung. Als analoges Begriffspaar für dekorativ und pigmentär geben Anordnung und Farbkomposition besser Auskunft über die Absichten Edschmids und zeigen, dass die Lyrischen Projektionen vor allem an der Transposition der Visualität ihrer ‚Vorlagen‘ interessiert sind. Konkrete Bezugnahmen auf das Material des Bildes finden sich bei zwei Gedichten – Gustav Klimt: Liebespaar und Pietro Perugino: Schlüsselübergabe –, auf die an späterer Stelle genauer eingegangen werden soll. Für alle Gedichte gilt aber, dass sie sich an der ‚Dichte‘ der Bilder, wie Edschmid im Vorwort schreibt, und am Maßstab der Bildlichkeit und Sichtbarkeit ausrichten, indem sie durch die Verwendung bestimmter sprachlicher Mittel auch jenen Lesern die Visualität ihres Dargestellten vor Augen führen sollen, die über keine Kenntnis des Bezugsbildes verfügen. In den Gedichten bemüht sich Edschmid also um eine „immanente Bildlichkeit“19, die Gottfried Willems als innere Beziehung der Literatur zur Malerei qualifiziert und zur Möglichkeitsbedingung der Annäherung beider Techniken erklärt. Edschmid erreicht den bildhaften Eindruck seiner Lyrik vor allem durch den Gebrauch von Farbwörtern und visuellem Vokabular, wie beispielhaft das einstrophige Gedicht Henry Edmond Cross: Canal Grande zeigt: „Güldenes Meer von getüpfelten Loggien und Blüten / spiegelt im wiedervergoldeten Meer des Canal. / Flimmernde Punkte durchstechen das Funkeln des müden / Himmels, dess Ruhe verstört wie ein gelles Signal.“ Darüber hinaus evoziert Edschmid die Visualität durch eine Vielzahl von Vergleichen (Honoré Daumier: Publikum: „Gesichte wie geschälte Apfelsinen“; Hanns von Marées: Der Raub des Ganymed: „Nun fiel die Ebne wie ein Lächeln milde / […] Nun scholl der Himmel schon wie eine Stadt“) sowie eine eigentümliche semantisch-motivische Konzentration. So fixiert er zumeist ein einzelnes Motiv und entfaltet um dieses herum einen Bezugsrahmen: Das 17
Vgl. KRANZ 1992: 155f.
18
Ebd.: 155.
19
WILLEMS 1990: 415.
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können die Boote in Claude Monet: Fischerbote in Etretat sein, die „von schleifenden Wolken bedroht“ werden, oder die Allee in Auguste Renoir: Paysage, die eine Gruppe von Frauen einschließt und den Blick auf das Meer öffnet, immer aber lässt sich ein zentrales Objekt (sei es gegenständlich oder figurativ) ausmachen, auf das alle anderen Bildbereiche bezogen sind. Die Lyrischen Projektionen evozieren darin unverkennbar räumliche Einheiten. Die Topographie des Dargestellten wechselt nicht, sondern wird wenn, dann nur über eine Veränderung innerhalb des dargestellten Ortes dynamisiert. Muss der erste Effekt – die Geschlossenheit des Raums – der Bezugnahme auf die Malerei zugerechnet werden, so ist der Aufbruch der Statik Wirkung der Literarisierung und funktioniert auf mindestens drei verschiedene Weisen. So kann ein Gedicht in Edschmids Lyrischen Projektionen erstens eine Rückübersetzung der auf den Bildern sichtbaren Vorgänge in eine lebendige Szenerie suggerieren. Die Bewegung, die vermeintlich der Maler einfriert, wird mithilfe der sprachlichen Techniken befreit, allerdings nicht um der Veränderung willen, sondern vielmehr im Sinne einer wiederum dauerhaften Bewegung. Ein Beispiel hierfür findet sich in dem Gedicht Ludwig von Hofmann: Extase: Die vier Frauen schreiten halb in Kreisen. Ihnen türmt zu sehr des Himmels grosses Blau. Auf dem hingepeitschten Grün der Wiesen gleissen rote Wunden Mohns und wie ein Tau liegt die Ewigkeit darauf. Die Winde reissen Falten um die Schlankheit jeder Frau;
Schon der Begriff ‚Ewigkeit‘ deutet an, dass der Vorgang trotz seiner inneren Bewegung auf Dauer gestellt ist, mehr noch zeigt aber ein Vers aus der dritten Strophe – „Niemals schließen sie des Reigens Kreise“ –, dass Edschmid, zumindest bei diesem Gedicht, nicht in die Darstellung des Gemalten eingreift. Dort, wo dies geschieht, schreibt er zweitens den Bildern eine Geschichte ein, indem er die Szene mithilfe adverbialer Bestimmungen der Zeit als Vorgang darstellt oder über die Herkunft, die Motivation und das Weiter der Figuren spekuliert, ohne aber den Ort des Geschehens zu verlassen. Beispiele hierfür sind der Anfang von Lorenzo di Credi: Verkündigung, wo es heißt: „Er kam nicht die Allee mit sanften Büschen / zu ihrer Halle hin. Denn die war ihm zu bang“, oder Gustav Moreau: Les Prétendants / Fragment: „Er war noch wirr . . . Nun riss er von den Lenden / das Kleid“. Als dritte Wirkung der Temporalisierung lässt sich erkennen, dass manche Gedichte den Beobachtungsvorgang imitieren, indem sie das Bild ‚abtasten‘ und durch das Nacheinander der Beschreibung Bezüge herstellen oder einen einzelnen Bildausschnitt fokussieren wie in Luca Signorelli: Die Verdammten: „Aus Blut und Kreis schwerer Miniaturen nur Weniges herausgerissen.“
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Edschmid versetzt die Bilder also in Bewegung, verleiht ihnen Dynamik, gleichzeitig bleibt der Eindruck einer Geschlossenheit, weil sich die Gedichte auf eine Kunst beziehen, die in erster Linie über Raumordnungen funktioniert. Die poetische Übertragung der Bilder gelingt jedoch gerade deshalb, weil sich Bilder nicht in ihrer Räumlichkeit erschöpfen, sondern ihnen das Potential zur Verzeitlichung inhärent ist. Jeder Wahrnehmungsvorgang ist bereits ein In-BewegungSetzen des Bildes, und vor diesem Hintergrund stellen Edschmids Lyrische Projektionen fixierte Wahrnehmungsakte ihrer Bezugsmaterialien dar. Dass Edschmids Gattungswahl auf die Lyrik fällt, ist dem Umstand geschuldet, dass die Poesie gerade jenes literarische Verfahren bereitstellt, das am stärksten zur Simultaneität tendiert. Durch die Anordnung von Wörtern zu Versen und Strophen erhält die Literatur im Modus der Lyrik selbst eine räumliche Form. Edschmids Gedichte weisen unterschiedliche Längen der Strophen auf – angefangen von einer bis hin zu sieben Strophen. Ein Ordnungskriterium lässt sich hierbei nicht beobachten, höchstens eine Tendenz angeben, wonach Gedichte auf figürliche Darstellungen extensiver ausfallen als jene, die ‚nur‘ auf Landschaften rekurrieren. Alle Gedichte sind zudem einem Reimschema verpflichtet, wobei das mit Abstand am häufigsten verwendete der Kreuzreim darstellt. Auffällig ist auch die Verwendung von Enjambements, die im Falle der Lyrischen Projektionen zwar die Kontinuität des Leseflusses irritieren, die einzelnen Verse aber zu einer Gesamtheit verbinden, die jene des Bildes zu imitieren scheint. Edschmid variiert darüber hinaus die Perspektive und besetzt das lyrische Ich in einigen Gedichten mit Figuren aus den Bildern wie in Schule des Sandro Botticelli: Allegorie der Fruchtbarkeit: „Einer muss sich gesellen / zu mir. Die Zeit ist reif“. Mit all diesen rhetorischen, stilistischen und poetischen Mitteln versucht Edschmid seinem Anspruch einer visuellen Entsprechung der Malerei gerecht zu werden. Wie bereits erwähnt, intensivieren zwei Gedichte diese Forderung, indem sie sich intermaterial auf die Beschaffenheit des Bildes beziehen. Eines davon ist das Gedicht auf das berühmte Bild Gustav Klimts Der Kuss von 1907, dessen Titel Edschmid fälschlicherweise mit Liebespaar angibt: Gustav Klimt: Liebespaar Denke ich so: In einem zerfallnen Palaste einsam zu sein mit der Lampe, vom Sturme unmessbar umzischt: O dann weiss ich, wie diese Beiden ragend gleich einem Maste endlos im Kusse standen auf ihrer Klippe aus Blumen und Licht. Ihre Gewande waren plastisch ineinander geschmolzen. Quadrate und Kreise brannten farbig auf dem Grund, der wie Marmor war.
156 | I NTERMATERIALITÄT Ich möchte nicht missen im Leben: Zu sehn ihre stolzen Schultern gewölbter als der Himmel und das ausgespannte Wanderjahr. Ihr verklärtes Gesicht hatte er waagerecht an seinen Hals gezogen. Seines schwebte darüber wie ein herrlicher dunkler Mond. Er hielt ihren Kopf wie ein Glas am Kinn und den Augenbogen und sein Haar war durch Efeu und ihres von Sternen bewohnt.
Zwar suggeriert Edschmid mit der Wahl des Tempus, die von Klimt dargestellte Szene habe es wirklich gegeben, doch weisen einige Marker deutlich auf die Rezeption eines Gemäldes hin. Zum einen die zu Beginn inszenierte Perspektivität und freie Gedankenassoziation („Denke ich so“), dann der Gebrauch des Adverbs „endlos“ und nicht zuletzt die Beschreibung der „plastisch ineinander geschmolzenen“ Gewänder, die sich auf den zweidimensionalen Charakter der Klimt’schen ‚Vorlage‘ bezieht. Gerade darin zeigt sich ein Bemühen Edschmids um die Erfassung der piktographischen Eigenarten des Bildes. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die im folgenden Vers benannten geometrischen Figuren „Quadrate und Kreise“, die „farbig auf dem Grund“ (der Leinwand) brennen. Unverkennbar versucht Edschmid beide Seiten der „ikonischen Differenz“20 einzufangen: das dargestellte Liebespaar und das materiale Verfahren der Darstellung. Damit ist die Voraussetzung geschaffen, dass das Bildgedicht in seinem intermaterialen Bezug erkannt werden kann. Die (räumliche) Dichte des Bildes wird nicht nur im Hinblick auf sein Dargestelltes aufgegriffen, sondern auch in der Präsenz seines Materials, also in Form und Farbe. Gleiches gilt für das Gedicht zu Pietro Peruginos Fresko Schlüsselübergabe an Petrus (1481/82), das dieser für die Sixtinische Kapelle anfertigte. Pietro Perugino: Schlüsselübergabe Vor dem verschlossenen Himmel mit Dunkel, Palästen und Pinien liegt eine Fläche mit grossen Quadraten besetzt. Wenige laufen auf ihr und in den verlorenen Linien haben von Säern sie wenig und mehr wie von Wahnsinn benetzt. Aber den vorderen Abschluss der vielen Parzellen und Spalten formen zwei Flügel von Menschen geflossen in eine Struktur, wo vor den Bürgern verleiht, von rötlicher Kette gehalten, der knieende Stolze den Schlüssel dem milden Comtur.
20
BOEHM 1994: 29.
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Auch hier bilden Darstellung und Dargestelltes gleichermaßen einen Bezugsrahmen, wobei Edschmid stärker noch die Organisation des Bildraums aufgreift. Neben dem planimetrischen Ordnungsraster („liegt eine Fläche mit grossen Quadraten besetzt. / Wenige laufen auf ihr und in den verlorenen Linien“) verweist Edschmid auch auf die Zentralperspektive des Bildes, indem das Gedicht in seiner konzentrischen Bewegung die Blickführung auf den Schlüssel imitiert. Edschmid erfasst sehr genau den über die einzelne Figur bzw. Bildeinheit entstehenden Zusammenhang zu einem komplexen symmetrischen Bildaufbau („formen zwei Flügel von Menschen geflossen in eine Struktur“). Im Gegensatz zur emphatischen Belebung der Klimt’schen ‚Vorlage‘ erweist sich das Gedicht zu Peruginos Fresko eher als nüchterne Bildbeschreibung, die einzig über den (mitunter bemühten) Reim ästhetische Form erlangt. Für beide Gedichte trifft aber zu, dass sie sich über indirekte Hinweise mittelbar auf das Bildmaterial beziehen. Anders als etwa bei Kirchners Bearbeitung von Heyms Alle Landschaften haben geschieht der Bezug bei Edschmid ausschließlich über sprachliche Mittel und den ‚rhythmischen Reiz‘, die Gedichte selbst werden in ihrem Material nicht bildlich hervorgehoben. Trotz dieser Einschränkungen können mithilfe der Lyrischen Projektionen Edschmids einige idealtypische Merkmale für das intermateriale Bildgedicht abgeleitet werden. Im Unterschied zu den von Kranz klassifizierten allokutiven, monologischen, dialogischen, apostrophierenden, epischen und meditativen Bildgedichten21 rekurriert das intermateriale Bildgedicht auf Material und Form des von ihm verbal evozierten Gemäldes. Es unterscheidet sich darin auch vom genetischen Bildgedicht, das auf die Entstehung eine Bildes Bezug nimmt, darin aber nicht zwangsläufig die handwerklichen Voraussetzungen beschreiben muss. Ein solcher Rekurs findet sich auf jeden Fall im intermaterialen Bildgedicht. Es bezieht sich auf das Dargestellte des Bildes und zugleich auf dessen Form und ‚Gemachtsein‘, reflektiert also beide Seiten der bildnerischen Differenz. Das Bezug gebende Bild ist apräsent, wird aber durch Textmarker benannt und durch Verweise auf Rahmen, Leinwand, Farbe, Bildordnungen, -formen oder -strukturen eindeutig indiziert. Durch die Sensibilität für die ästhetische Voraussetzung der Malerei geht beim Bildgedicht zumeist eine visuelle Bearbeitung der Sprache einher. Die Literatur ist zwar nicht in ihrem Material hervorgehoben – wie bei Gedichten der konkreten 21
Vgl. KRANZ 1992: 156f. Unter allokutiven Bildgedichten versteht Kranz eine „Anrede durch das Bild“, die monologisch oder dialogisch vermittelt sein kann. Apostrophische Bildgedichte präsentieren sich als „Rede des Autors“, der sich direkt an den Betrachter des Bildes wendet, und epische beziehen sich ausschließlich auf die dargestellte ‚Geschichte‘ des Bildes. Schließlich versteht Kranz unter meditativen Bildgedichten solche, bei denen das Bild Anlass zur allgemeinen „Betrachtung menschlicher Existenzfragen“ gibt und damit bloß eine lose Kopplung der Literatur zur Malerei besteht.
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Poesie –, aber durch rhetorische und poetische Verfahren derart intensiviert, dass eine erhöhte Anschaulichkeit den Eindruck visueller Unmittelbarkeit erzeugt, wie sie für Bilder charakteristisch ist. Der Grad der Anbindung an die Malerei ist demnach beim intermaterialen Bildgedicht höher als bei anderen Typen von Bildgedichten, weil die Darstellungen und ihre Inhalte nicht bloß Anlass einer freien Assoziation sind, sondern die Malerei in ihren künstlerischen Verfahren thematisiert wird. Für jene Text-Bild-Relationen, bei der beide Materialien nicht in ein gemeinsames Artefakt zusammengeführt werden, stellt das intermateriale Bildgedicht somit die größtmögliche Annäherung der Poesie an die Malerei dar.
E KPHRASIS ALS E RLEBNIS . J OHANNES I TTENS „A NALYSEN A LTER M EISTER “ Johannes Ittens Kunstauffassung lässt sich als der Versuch beschreiben, formalästhetische Gesetzmäßigkeiten mit einer größtmöglichen Erlebnisintensität zu verbinden. Beeinflusst durch seinen Lehrer Adolf Hölzel sowie die Bekanntschaft mit Alma Mahler und eigene Studien in Theosophie, Mystik sowie östlicher und indischer Philosophie entwickelt er eine Lehre, bei der Kunstschaffen, Weltschöpfung und Ich-Erfahrung ineinander greifen.22 Techniken des Schreibens und des Malens sind bei Itten demnach integrale Bestandteile eines übergeordneten esoterischen Konzepts der Ganzheit, durch das die „Zusammenhänge aller Künste als ein ursprünglich einheitlich Bedingtes“23 einsichtig werden. Daneben liegen auch in der materialen Beschaffenheit der Künste Gründe für eine Zusammenführung. Als Maler erkennt Itten die bildliche Potenz der Schrift ab Mitte 1918, wovon zahlreiche Passagen in seinen Tagebüchern und Briefen zeugen, die zu Kalligraphien und Zeichnungen ausgearbeitet sind.24 Darüber hinaus existieren einzelne Schriftbilder Ittens, die Sprüche beispielsweise von Jakob Böhme oder O.Z.A. Hanisch, dem Gründer des Mazdaznan-Kultes, zur Grundlage haben und diese zu perspektivisch eigenwilligen Farbformharmonien ausarbeiten. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang auch die Hafis-Lieder, eine persische Gedichtsammlung, die bereits Goethe zu seinem West-östlichen Divan inspiriert und Itten zu einem farbenprächti-
22
Zur Entwicklung der kunstphilosophischen Auffassung Ittens vgl. die kenntnisreiche Darstellung bei WAGNER 2005b; speziell zur Auseinandersetzung Ittens mit zeitgenössischer Literatur über Mystik und Theosophie vgl. den Kommentar von Eva Badura-Triska in ITTEN 1990b: 22-24.
23
ITTEN 1990a: 416. Zit. nach TAVEL 1994: 41.
24
Vgl. ITTEN 1990a: 298, et passim.
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gen Buch gestaltet.25 Zum Programm ausgearbeitet sind seine Ideen vor allem in den Analysen Alter Meister, wobei sich unter dieser Bezeichnung sowohl eine praktische Übung für Studierende im Vorkurs des Bauhauses verbirgt als auch ein kunstphilosophisches Programm bestehend aus zehn Lithographien und fünf Übertragungen von zumeist mittelalterlichen Gemälden in Schriftbilder. Das Manifest stellt gewissermaßen die graphisch fixierte Version der praktischen Schulung dar einschließlich des Versuchs, deren Performanz zu übertragen. Abgedruckt ist es in dem 1921 von Bruno Adler herausgegebenen Band Utopia. Dokumente der Wirklichkeit, einer Sammlung, die Gedichte, Bilder, Zitate, Psalmen und Auszüge philosophischer Abhandlungen aus der indischen, altägyptischen und chinesischen Kultur sowie dem Neuplatonismus (Plotin), Spätmittelalter (Nikolaus von Kues, Paracelsus), der Renaissance (Marsilio Ficino) und der Romantik (Philipp Otto Runge) vereint. Gemeinsam sind ihnen das Thema der Materialisierung des Geistes in den realen Gegenständen und die vorzügliche Rolle der Kunst in diesem Prozess. In seinem Vorwort benennt Adler die „Frage nach dem Sinn der Kunst vor dem Geist“ als den „Angelpunkt“26 der Sammlung, die durch ihre weite historische und kulturelle Spannbreite die Evidenz der eigenen Ideen beansprucht. Itten selbst steckt mit drei Zitaten – aus der Bibel, von Husain Al-Hallâdsch und Platon – auf der Titelseite seiner Analysen Alter Meister das Feld ab, innerhalb dessen er seine Ausführungen verstanden wissen will: Erkenntnis als Frömmigkeit, mystische Schau, Ideenlehre und Gott als Ursprung aller Dinge (vgl. Abb. 7). Viele Texte der Utopia-Anthologie beziehen sich auf die Malerei, da durch sie die wechselseitige Bedingtheit von Abbild (Materie) und Idee (Geist) besonders einsichtig wird. Aufschlussreich ist hier ein chinesischer Spruch, weil er einen Bezug zur Schrift herstellt, der auch für Itten paradigmatisch ist: Chinesische Überlieferungen sagen das Tiefste, was menschliche Weisheit über die Kunst der Menschen sagen kann. Wort und Bild sind ihnen die Zeichen des Geistes; nur in Worten und Bildern kann er sich offenbaren; sie sind aus gleichem Ursprung, sind verschwistert und eines Sinnes. ‚Schreiben und Malen sind nicht getrennte Künste‘, sagt Sung Lien, ‚ihr Anfang war ein und derselbe . . . sind Wege, die verschiedene Strecken gehen und doch zu demselben Ziele führen.‘27
25
Vgl. ITTEN 1972: 307, 310. WV 223-307, WV 249-252. [WV = Werkverzeichnis]
26
ADLER 1921: 9.
27
Ebd.: 17.
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Abbildung 7: Johannes Ittens Analysen Alter Meister, Blatt 1 (1921)
Ittens Analysen Alter Meister radikalisieren diese Vorstellung, indem sie versuchen, neben Ursprung und Ziel auch die ‚verschiedenen Strecken‘ zu einer einzigen zu verbinden. Innerhalb des Kompendiums nehmen seine Thesen eine besondere Stellung ein, weil sie das eigene ästhetische Programm zugleich typographisch umsetzen. In den zweifarbigen Druckbildern, die sich so verschiedener Gestaltungsformen wie Bögen, Punkte, Querbalken oder Textblöcke bedienen, konvergieren Theorie und Praxis als konsequente Folge eines Anspruchs, wonach Kunst nicht wissenschaftlich erklärbar, sondern nur persönlich erlebbar ist.28 Der Begriff der Analyse 28
„Das Wesentliche entzieht sich der begrifflichen Formulierung.“ ITTEN 1979: 7.
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ist dabei insofern irreführend, als er keine rationale, objektivierbare Zergliederung der Bildelemente meint, sondern eine intuitive und geistig empfundene Nachbildung ihrer vitalen Essenz: „Ein Kunstwerk erleben heißt, dieses wiedererleben, heißt, sein Wesentliches, sein Lebendiges, das in seiner Form ruht, zu persönlichem Leben erwecken.“29 Für Itten gibt es keinen qualitativen Unterschied zwischen dem künstlerischen Herstellungsakt und der Rezeption. Die Empfänglichkeit für das Künstlerische betrachtet er als „Gottesgabe“ und das Erlebnis selbst als einen Akt, bei dem der göttliche „Odem in des Menschen Seele“30 fließt. Kunst ist für ihn daher Ausdruck von Lebendigkeit, ein Bewegtsein, das er hinsichtlich dreier Vermögen unterscheidet: des physischen (äußerlich), des seelischen (innerlich) und des geistigen (äußerlich-innerlich). Die Verbindung der beiden ersten im Geistigen zeigt bereits an, dass es Itten um eine umfassende Synthese geht, die sich auf die Gegenständlichkeit des Kunstgebildes ausdehnt. Zwischen dessen Material und seiner Initiation besteht eine Kausalverbindung, die schon in den Programmatiken Kandinskys und Schreyers als Nexus zwischen Immaterialität und Materialität beobachtet werden konnte und bei Itten über eine ganze Reihe von Analogieschlüssen hergestellt ist. So gibt es „[o]hne Bewegung keine Wahrnehmung, ohne Wahrnehmung keine Form, ohne Form kein Stoff“31. Die Bewegung als Grunderfahrung des Seins ist weiter unterschieden nach Quantität, Qualität, Zeit und Raum – eine Aufschlüsselung, die für das Text-Bild-Verhältnis von Bedeutung ist, weil sie es ermöglicht, die Bewegungsgesetze hinter der vordergründigen Statik bildhafter Darstellungen mithilfe von Schriftlinien zu visualisieren. Seine Schlussfolgerungen veranschaulicht Itten in der achten Lithographie anhand der Darstellung einer Distel (vgl. Abb. 8). Die Abbildung vermittelt die Wahrnehmung einer Pflanze, die zum einen ins Bild und anschließend in Schrift übertragen wird. Der gesamten Darstellung liegt die Idee zugrunde, dass jede Wahrnehmung eine charakteristische Bewegung erzeugt, der wiederum ein spezifischer Formcharakter entspricht: „Es ist ohne weiteres verständlich, dass die gezeichnete Form einer Distel nur dann richtig sein kann, wenn die Bewegung meiner Hand, meiner Augen, meines Geistes genau der heftig spitzen, stechenden, schmerzenden Form der Distel entspricht.“32 Ittens semiotisches Verständnis ist unverkennbar von einem Entsprechungsverhältnis von Wirklichkeit und Kunst geprägt, das sich auch auf das intermateriale Verhältnis von Schrift und Bild überträgt: Als Icon-Zeichen 29
ITTEN 1921: 31.
30
Ebd.
31
Ebd.: 35.
32
ITTEN 1921: 45. In einem Tagebaucheintrag aus dem Jahr 1919 findet sich ein Vermerk, wonach Itten von seinen Schülern verlangt, sich vor dem Abzeichnen der Distel an ihr zu stechen, um das Schmerzhafte ihres ‚Wesens‘ zu empfinden. Vgl. ITTEN 1990a: 402.
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weist die dargestellte Distel eine Ähnlichkeitsbeziehung zu einer ‚realen‘ Distel auf, und auch im Schriftbild will Itten diese Analogiebeziehung umgesetzt wissen, um Bild und Schrift stärker einander annähern zu können. Im Sinne einer Nivellierung der semiotischen Differenz geht es darum, die Icon-Qualität der bildhaften Darstellung auf die Schrift zu übertragen, indem sie Züge visueller Poesie erlangt. Mit seiner spitz zulaufenden Form imitiert die Anordnung des Schriftzuges „Ich erlebe eine Distel“ den Stachelcharakter der abgebildeten Pflanze. Hier zeigt sich die
Abbildung 8: Johannes Ittens Analysen Alter Meister, Blatt 8 (1921)
intermateriale Anlage der Analysen. Sie erzeugen eine Kopräsenz von Text und Bild und intensivieren diese Beziehung, indem über die Bezeichnung „Distel“ hinaus
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auch die materiale Gestalt des Bezeichneten aufgegriffen wird. Wir haben es also nicht nur mit einer verbal evozierten Beziehung der Literatur zur Malerei zu tun, wie bei den Bildgedichten Edschmids, sondern das Material der Schrift bzw. die Schrift als Material wird derart bearbeitet, dass sie in Beziehung tritt zur graphischen Kontur der gemalten und ‚realen‘ Distel. Das mimetische Abbildungsverhältnis der Malerei wird so auf die Schrift übertragen. Besonders deutlich zeigt sich das am mittig positionierten Schriftzug „Vor mir steht eine Distel“33, der im Unterschied zur Druckschrift darunter mit jedem seiner geschwungen-gezackten Buchstaben die Gestalt der Graphik imitiert. Innerhalb der vertikalen Ordnung des Bildes fungiert der Schriftzug als Verbindungsglied, von dessen Materialität nicht abstrahiert werden kann: die Distel als Vorstellung bleibt zwingend an ihre Zeichen gebunden. In seiner Materialästhetik negiert Itten einen arbiträren Zeichencharakter und postuliert eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Vorstellung und Schriftbild. Er verneint zudem die semiotische Differenz skripturaler und ikonographischer Verfahren und sieht in einer wechselseitigen Durchdringung das Potential zur Verzeitlichung im Bild sowie zur Verräumlichung in der Schrift. Darin liegt die Möglichkeit, beide Techniken zusammenzuführen und intermaterial konvergieren zu lassen. Vor diesem Hintergrund erklärt sich das eigenwillige typographische Erscheinungsbild der übrigen Schrift-Bild-Blätter des Manifests, die zwar keine Gegenstände wie die Distel zur Vorlage haben, für deren vorausgehende Ideen und Emotionen Itten jedoch gleichermaßen einen passenden Ausdruck sucht. Zu diesem Zweck löst Itten den Text aus seinem konventionellen Blocksatz und erweitert ihn um die Möglichkeiten freier typographischer Gestaltung. Zur adäquaten Darstellung dessen, was das Programm entwirft, können Schriftzüge nicht nur horizontal im Liniensystem, sondern ebenso diagonal, vertikal, versetzt oder in Bogenlinien angeordnet sein. Ittens Analysen Alter Meister variieren zudem die Schrifttypen Fraktur und Antiqua sowie Normal- und Majuskelschrift – und das nicht nur zwischen Sätzen, sondern auch zwischen Wortgruppen bzw. sogar innerhalb einzelner Worte. Auch die Versalhöhen und Grundlinien können innerhalb einer Zeile voneinander abweichen. Darüber hinaus nutzt Itten weitere Möglichkeiten der Hervorhebung durch Unterstreichungen oder Gestaltungselemente wie Wellenlinien, Punkte oder Farbbalken. Letztere kommen nicht immer vollständig mit den Schriftzügen zur Deckung, wobei es hier keine Regel zu geben scheint. Mal bleiben etwa die Buchstabenzwischenräume teilweise oder ganz weiß, an anderer Stelle sind sie vollständig rot ausgefüllt. Die vorrangigen Formen, die durch Binnen-Blocksätze erzeugt werden, sind Rechtecke.34 Kennzeichnend für die Gesamterscheinung ist eine Mit33
ITTEN 1921: 43.
34
Durch das heterogene, aber begrenzte Formenrepertoire entsteht eine Dynamik der Bilder, die Itten als deren Rhythmus verstanden wissen will: „Wiederholungen, Gleich-
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telachsenzentrierung mit Tendenz zur Kreuzform, wodurch sich die einzelnen Schriftzeichen zu einem Symbol-Zeichen verbinden. Hierin eröffnet sich eine weitere intermateriale Qualität der Analysen Alter Meister. Schrift und Bild sind in diesen Fällen nicht kopräsent, sondern konvergieren in einem piktographischen Ganzen. Im Unterschied zur Distel-Abbildung findet das Kreuz keine semantische Entsprechung – es wird nicht benannt –, vielmehr schafft die Anordnung des Textes eine Sinndimension, die über die einzelne sprachliche Einheit hinausgeht. Trotz des Druckverfahrens erinnert eine derartige Gestaltung bei Itten an Beispiele früher visueller Poesie, die so genannten Technopägnien, in denen „eine strukturelle semiotische Synthese aus Wort und Bild vor[liegt], wobei das ikonische Zeichen aus der teils graphisch korrigierten Anordnung der Summe sprachlicher Zeichen hervorgeht“35. Ittens typographisch erzeugtes Symbolzeichen – das Kreuz – setzt sich dieser Beschreibung gemäß aus der Summe der einzelnen Schriftzeichen zusammen, deren semantische Referenz in der Wahrnehmung des ganzen Blattes zurücktritt, während gleichzeitig die Materialität der Zeichen in den Vordergrund rückt. Die Konvergenz von Schrift und Bild vereint die ‚Botschaft‘ des Textes, die materiale Präsenz seiner Zeichen sowie den über das Kreuz-Symbol assoziierten Vorstellungskomplex von Irdischem/Materiellem und Transzendentem/Geistigem (eine weitere Verdopplung der semiotischen Differenz von Schrift). Auch wenn jedes der zehn Regelwerke bereits für sich ein Kunstwerk darstellt, bilden sie innerhalb der Analysen Alter Meister nur die Präliminarien. Die finale Suggestion „Du erlebst das Kunstwerk[,] es wird in Dir wiedergeboren“36 bezieht sich auf die folgenden sechs Transpositionen, anhand derer die zuvor diskutierten Vorstellungen veranschaulicht werden. Als Bezugsbilder dienen Itten Die Erschaffung Evas – eine französische Miniatur aus dem 13. Jahrhundert –, Die Geburt Christi und Anbetung der Könige (beide um 1424) von Meister Francke, Arhat Vanavasi von Mu-chi (13. Jahrhundert) und Der Generalinquisitor des Königreiches (um 1600) von El Greco, bekannter unter dem Titel Porträt des Kardinalinquisitors Don Fernando Niño de Guevara. In einer freien Nachzeichnung sollen die Bewegungsgesetze und der spezifische Formencharakter dieser sechs Gemälde nachgebildet werden. Itten vollzieht in und mit ihnen eine Ekphrasis als Neuschöpfung. Die Bilder werden nicht einfach verbalisiert, sondern die Transkription geschieht mit dem Anspruch, die Empfindungen der Bildwahrnehmung selbst zu vermitteln. Die Analysen Alter Meister sind demnach nicht als einzig gültige Übertragungen zu verstehen, sondern als individuelle Akte, die in dieser Art weder wieklänge von Punkten, Linien, Flächen, Flecken, Körpern, Proportionen, Texturen und Farben sind rhythmische Themen.“ ITTEN 1963: 133. 35
DUBIEL 2004: 66.
36
ITTEN 1921: 47.
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derholbar noch dauerhaft gültig sind. Sie stellen als Ekphrasis einen unorthodoxen Typus dar, weil das Bezugsobjekt gleichzeitig präsent ist. Ziel der Ekphrasis – wie sie stilbildend in den Eikones des älteren Philostrat geprägt wurde37 – ist es eigentlich, die Absenz eines realen oder fiktiven Bildes durch die besondere Anschaulichkeit (energeia) der sprachlichen Darstellungen zu kompensieren bzw., positiv ausgedrückt, die Existenz eines bildlichen Gegenstandes zu imaginieren. Dass also dessen Präsenz/Absenz allererst evoziert wird, gehört ebenso zur Eigenart der Ekphrasis wie ihre zweifache Ausrichtung an Inhalt und Gestalt. „Gelingende Beschreibungen verstricken sich in eine doppelte Aufgabe: sie sagen, was ‚ist‘, sie sagen zugleich aber auch wie es ‚wirkt‘, sie rekurrieren auf Sachverhalte und auf die dem Bild eigentümliche Form des Vollzugs.“38 Diese (normative) Definition Gottfried Boehms trifft ohne Zweifel auf Ittens Analysen Alter Meister zu. In ihrem Fall ist die Form des Vollzugs jedoch nicht in die Verbalsprache übersetzt, sondern material nachgebildet. Nach Boehms Terminologie übernimmt Itten einen Teil der ‚ikonischen Differenz‘ – das Material – und ersetzt den anderen – den Bildinhalt – durch die Schrift und ihre Vorstellungsbilder.39 Die besonders stark ausgeprägte intermateriale Relation der Analysen Alter Meister resultiert aus dieser doppelten Inanspruchnahme der Schriftzeichen: Sie rekurrieren semantisch auf die Darstellung des Bildes und imitieren zugleich dessen Darstellungsmodus. Als drittes Element der Ekphrasis kommt schließlich das persönliche Erleben hinzu, das bewirkt, dass es trotz des Gesetzes einer Formentsprechung keine identische Nachahmung ein und desselben Bildes geben kann. Wie bereits betont, lehnt Itten eine oberflächliche Nachahmung vehement ab – „[l]eere, äußerliche Nachahmungen sollten wie unerwünschte Warzen beseitigt werden“40 –, stattdessen geht es ihm im Sinne Maria Moog-Grünewalds um „Mimo-logie“, die „Nachahmung des Seienden“41, und das impliziert bei Itten die persönliche Empfindung,42 es meint aber auch eine „Reflexion über den ontologischen Status der Poeisis respektive der Semiosis“43 bzw. eine Reflexion auf die Bedingungen intermaterialer Bezugnahmen. In der Ekphrasis aktualisiert sich demnach das semiotische Potential zur Imagination, bei Itten zudem das materiale Potential der Schrift zur bildhaften Gestaltung. 37
Vgl. ECKEL 1999: 90-95.
38
BOEHM 1995: 30.
39
Freilich werden nicht die Farb- und Formelemente des Bildes komplett übernommen,
40
ITTEN 1963: 182.
41
MOOG-GRÜNEWALD 2001: 3.
aber die Anordnung der Schriftzüge folgt seiner Gestalt.
42
Der Vorwurf einer willkürlichen Übertragung läuft daher ins Leere. Vgl. SCHMITZ 1999b: 240.
43
MOOG-GRÜNEWALD 2001: 3.
166 | I NTERMATERIALITÄT
Anhand der Adaption Die Geburt Christi (um 1424) von Meister Francke lässt sich dies besonders gut zeigen, weil es die Niederkunft als Wortschöpfung interpretiert (vgl. Abb. 9-11). Während über den Skizzen noch der Begriff „Geburt“ steht, ist es in der Transkription das „Wort“, das die exponierte Stelle einnimmt und damit nicht nur auf die Bibel rekurriert,44 sondern buchstäblich den Wechsel vom Bild zur Schrift markiert. Seine ikonographische Prägung bezieht Die Geburt Christi ohnehin aus der „geistigen Welt des Sprachhumanismus“45, indem das Gemälde in seiner Darstellung Geschichten verdichtet, die nach Verbalisierung verlangen. 46 Ittens Ekphrasis bedient sich allerdings nicht des klassischen Modus einer Narrativierung oder Schilderung, sondern versucht die Bildordnung an sich in Worte zu fassen. Mit der versetzten Anordnung der Begriffe erzeugt er eine pseudo-simultane Wirkung. Liest man die Transkription dennoch nach den Regeln okzidentaler Lektürepraxis, dann ergeben die Schriftzüge zusammen einen Text, der zwar keine Interpunktionszeichen aufweist, bei dem sich die Sinneinheiten aber zu einem kohärenten Ganzen verbinden. Geschrieben steht dort: Das Wort zur Erde geglitten auf der Bahn der goldenen Strahlen aus dem [sic!] Ewigkeit des Vaters / im Glorienduft Marias spiegelt sich der unendliche Strahl / ihr Herz [gezeichnet, C.K.] erbebt / der Hauch ihres Atems gebäret weiss emporschwingende Form / Engel umreigen die treuste Dienerin Gottes und alle hellen Sterne singen ihr heiliges Lied
Unverkennbar stellt der Text eine Aneinanderreihung von Eindrücken dar, bezieht sich darin aber vor allem auf den Formcharakter und das heißt die dominante Vertikalstruktur des Bildes. Was besonders im Hinblick auf die Text-Bild-Relation überrascht, ist, dass Itten das Spruchband „O dominus“ primär als Form betrachtet und sich nicht auf dessen Aufdruck bezieht. Auch auf der Skizze sind die Buchstaben nur lose angedeutet, die Bewegungsrichtung steht im Vordergrund. In der Transkription greift Itten den geschwungenen Charakter des Banners auf, indem das Wort „Hauch“ eine gebogene Aufwärtsbewegung vollzieht. Während er also den skripturalen Anteil in der Geburt Christi übergeht, richtet er umgekehrt die Schrift nach den Proportionen des Bildes aus. In seiner Erscheinungsweise ist der Schrifttyp insgesamt verschnörkelt-stilisiert und tendiert – anders als bei Kirchner oder Schmidt-Rottluff – nur teilweise zur eckigen Kontur. Als Betonungsmittel finden Zwei- oder Dreifachlinien, der Fettdruck einzelner Buchstaben sowie Unterstrei44
Joh. 1,1: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“
45
BOEHM 1995: 27.
46
Vgl. auch WEISSTEIN 1992b: 23, der diesem auf „literarische[n], religiöse[n] oder mythologische[n] Vorlagen“ beruhenden Bildtypus eine eigene Text-Bild-Kategorie zuweist, der zufolge die Versprachlichung in der Rezeption bereits im Bild angelegt sei.
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chungen Verwendung. Von den Bildelementen übernimmt Itten den Sternenhimmel sowie den göttlichen Leuchtkranz. Eigenständig und frei hinzugefügt sind das Herz, vor allem aber die Partitur und die ihr zugeordneten Symbole. Mithilfe der Notation öffnet Itten das Schriftbild intermaterial zur Musik47 und suggeriert eine Sphärenmelodie, die sich okkulter Chiffren bedient. Zurückzuführen ist dies darauf, dass er sich in seiner Zeit am Bauhaus vermehrt mit Geheimzeichen und Zahlenmystik beschäftigt. Besonders die Symbole der Freimaurer, deren Einfluss am (frühen) Bauhaus nicht gering ist,48 dienen als Bezugssystem. So erinnern die vier Hexagramme an das Symbol von Zirkel und Winkel, und das Dreieck ruft Assoziationen an das so genannte ‚Allsehende Auge Gottes‘ auf. Den gängigen Schemata zur christlichen Symbolik zufolge steht das erste Zeichen – der Kreis mit Punkt in der Mitte – für den göttlichen Ursprung und die Ganzheit des Universums, das zweite für die (Jung-)Frau, das dritte für die Trinität und das vierte verkörpert das Element Erde. Zusammengenommen komprimieren sie die von Meister Francke dargestellten Figurenkonstellation sowie die Vereinigung von Himmel und Erde. Anhand von Tagebucheintragungen Ittens können zudem weitere Bedeutungsebenen dekodiert werden, die Vermutungen darüber zulassen, welche Töne in der Miniaturpartitur mit ihrem eigenwilligen siebenlinigem Notensystem abgebildet sind. So ordnet er in einem Eintrag aus dem Jahr 1920 dem ersten Symbol die Farbe Orange, dem zweiten Blau und dem vierten Violett zu; ihnen korrespondieren die Töne c, a und d.49 Einzige Ausnahme bildet das Dreieck, für das es keine Analogie gibt, das einem Tagebuchblatt zum „Hexeneinmaleins“ zufolge jedoch die „drei Seiten unseres Wesens“50 – Spiritualität, Intellektualität und Materialität – verkörpern soll. Problematisch an der Farb-Ton-Zuordnung ist, dass Itten sie nicht einheitlich gebraucht, sondern in seinen Tagebüchern immer wieder variiert.51 Ob nun also c für ‚Christus‘ und d für ‚Dominus‘ steht oder die Tonfolge möglicherweise nur zusammen eine Botschaft enthält, lässt sich nicht eindeutig klären. Es scheint daher ratsam, sie als freie Komposition auf die Motive des Bildes zu deuten. Für die „Meta-Interpretation“52 von Ittens ekphrastischer Übertragung entscheidender ist ohnehin, dass dieser offensichtlich auf eine sprachmystische Tradition zurückgreift, wonach in der Schrift eine Kraft zur Weltschöpfung steckt. Mithilfe der imitatio in scriptura schließt sich der Kreis zur ‚Geschichte‘ des Bildes von Meister Francke, die von der göttlichen Schöpfungskraft erzählt. Indem Itten diese Potenz auf die 47
Zum engen Verhältnis von Malerei und Musik bei Itten vgl. TAVEL 1994: 42-44.
48
Vgl. JAEGGI 2005.
49
Vgl. die Faksimiledrucke in WAGNER 2005a: 265.
50
Ebd.: 264.
51
Vgl. etwa ITTEN 1990a: 358, wo für Orange cis und für Violett h angegeben ist.
52
SCHMITZ-EMANS 1999: 20.
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Kunst überträgt, genauer auf die Macht der Wortkunst, Bilder nicht nur zu beschreiben, sondern sie auch formal-material nachzubilden, hat er die intermaterialen Möglichkeiten der Ekphrasis nachdrücklich erweitert. Insgesamt liegt mit den Analysen eine Text-Bild-Relation vor, die eine Verdichtung der graphischen Zeichen zur bildhaften Darstellung und eine Übersetzung des Bildes in abstrakte Schrift vornimmt. Damit haben wir es mit einer Intermaterialität zu tun, die Schrift in ihrer Bildlichkeit hervorhebt und zugleich in der typographischen Kombinatorik Symbol-Zeichen (wie das Kreuz) erzeugt oder die formale Struktur der Bezugsbilder imitiert. Bei den Analysen im engeren Sinne, also den poetischen Kompositionsstudien der sechs Gemälde, findet der intermateriale Rekurs auf drei Ebenen statt: Zum Ersten sind durch den Abdruck die Gemälde und ihre poetische Darstellungsanalyse kopräsent. Zum Zweiten stellt die formale Analogie in Aufbau und Linienführung eine eindeutige Verbindung her, und zum Dritten bezieht sich der Text auf den Inhalt der bildlichen Darstellung. Aufgrund der ersten beiden Prämissen bedarf es bei der literarischen Analyse keiner Markierung oder Nennung des Titels mehr, der entscheidende intermateriale Bezug findet auf der Materialebene und nicht metaphorisch statt. Aufgrund dieser Ausrichtung am materialen Kompositionsprinzip erzeugen die Analysen Alter Meister einen besonders starken Grad von Intermaterialität, auch wenn Text und Bild nicht in einem Artefakt fusionieren.
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Abbildung 9: Meister Franckes Die Geburt Christi (um 1424)
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Abbildung 10: Johannes Ittens Die Geburt Christi, Kompositionsanalyse (1921)
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Abbildung 11: Johannes Ittens Die Geburt Christi, Spruch (1921)
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I LLUSTRATION . E RNST L UDWIG K IRCHNERS B EARBEITUNG VON G EORG H EYMS „A LLE L ANDSCHAFTEN HABEN “ IN „U MBRA V ITAE “ Unter einer Illustration wird in der Regel die nachträgliche bildnerische Bearbeitung eines (poetischen) Textes verstanden, die, angefangen vom Aufgreifen bestimmter Motive bis hin zur freien Variation, mehr oder weniger eng auf den Inhalt bezogen ist und sich typographisch zumeist klar vom Text abgrenzt. Nach Gottfried Willems stellt sich die Illustration als ein Typ der Text-Bild-Relation dar, bei dem sich Schrift und bildnerische Darstellung in einem Artefakt vereinen und auf drei miteinander verbundenen Ebenen in Beziehung treten: in der äußeren Faktur (dem Layout), dem Inhalt (Motivik) und der inneren Faktur, worunter Willems die „Gestaltung des Bilds mit Rücksicht auf das benachbarte Wort und die des Worts mit Rücksicht auf das benachbarte Bild“53 meint. Im Hinblick auf den Zusammenhang von Intermaterialität und Semiotik lassen sich Illustrationen als ein materiales Nebeneinander ikonischer und schriftsprachlicher Zeichen beschreiben, die durch ihre Anordnung aufeinander rekurrieren, durch die räumliche Trennung jedoch als distinkt wahrgenommen werden. Dies trifft auch auf Ernst Ludwig Kirchners Bearbeitung von Georg Heyms Gedichtsammlung Umbra Vitae zu, die als herausragendes Beispiel expressionistischer Buchkunst gilt und nach schwierigen Verhandlungen mit dem Verleger Kurt Wolff im Jahr 1924 in einer Auflage von 510 Exemplaren erscheint – mit Ausnahme eines einzelnen Holzschnitts: Alle Landschaften haben.54 Bei ihm sind Illustration und Schrift nicht räumlich getrennt, sondern konvergieren im Material (vgl. Abb. 12). Anders als bei den übrigen der insgesamt 47 Illustrationen benutzt Kirchner zur Bearbeitung des Gedichts keine Drucklettern, sondern schnitzt Buchstaben und bildliche Darstellung in denselben Holzstock. Damit schafft er eine gemeinsame technische und materiale Voraussetzung, die die Signifikanten beider semiotischen Komplexe (Text und Bild) in ihrer äußeren Faktur ästhetisch homogenisiert. Zugleich intensiviert die Unschärfe der illustrativen Ränder, also das partielle Ineinanderübergehen von ikonischen und schriftsprachlichen Zeichen, die Beziehung von Text- und Bildanteilen. Wie akribisch Kirchner in seiner Bearbeitung vorgeht, dokumentiert ein Brief an Kurt Wolff vom 14. Januar 1923, in dem er den Austausch der Schrifttype Antiqua durch die Groteskletter verlangt, weil diese „viel besser mit dem ganz in Holz geschnittenen Gedicht ‚Alle Landschaften haben‘ zusammen“55 gehe und sich darüber hinaus „wie organisch“56 53
WILLEMS 1990: 420.
54
HEYM 1924: 14.
55
ZELLER/OTTEN 1966: 425. [Ernst Ludwig Kirchner an Kurt Wolff, 14.1.1923]
56
Ebd.
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mit den Vignettenholzschnitten verbinde. Offenkundig geht es Kirchner darum, eine Einheit zu schaffen, die sich nicht nur in der Entsprechung der Motive und Inhalte, also der inneren Faktur, sondern auch in der Form und dem Material ausdrücken soll. „Die Stöcke sind in den Satz einzusetzen und gleichzeitig mit ihm zu drucken“, schreibt Kirchner im gleichen Brief mit Nachdruck, „[d]as ist sehr wichtig, da nur dadurch die Einheitlichkeit von Satz und Bild erreicht wird.“57
Abbildung 12: Ernst Ludwig Kirchners Illustration zu Georg Heyms Alle Landschaften haben (1924)
57
Ebd. [Herv. i.O.] Wie viel Kirchner an dieser Einrichtung gelegen war, dokumentiert seine Reaktion auf den Widerstand der Druckerei, den Druckrahmen diesen Vorgaben nach anzupassen. Kirchner lässt keine technischen Bedenken gelten und erklärt einzig die „Faulheit des engherzigen Handwerkers“ für das Problem verantwortlich: „Es ist geradezu lächerlich, daß die großen gut eingerichteten deutschen Druckereien das nicht können sollen, was jede kleine Quetsche in der Schweiz und in Belgien gekonnt haben.“ Vgl. ebd.: 430. [Ernst Ludwig Kirchner an den Kurt Wolff Verlag München, 9.3.1923]
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In der Forschung hat man diese Sorgfalt und Qualität der Holzschnitte Kirchners gerühmt und der Lyrik Heyms ebenbürtig eingeschätzt. Dichter und Graphiker begegneten sich „auf gleicher Ebene“58 und in Umbra Vitae ergebe sich eine „selten zu findende Wechselbeziehung, in der bildender Künstler und Lyriker gleichberechtigt nebeneinander stehen“59. In der Tat erweisen sich die Holzschnitte in Größe und Position exakt auf die Gedichte abgestimmt. Kirchner legte viel Wert darauf, dass die Passform der Gedichte Heyms jener der Originalausgabe von 1912 im Rowohlt Verlag entsprach, um seine Vignetten exakt mittig – zumeist zwischen Überschrift und Strophen – einzusetzen und somit eine Homogenität und Äquivalenz zwischen Text und Bild zu gewährleisten. Während man also für den Großteil der Ausgabe von einem bewahrenden Umgang gegenüber der ‚Vorlage‘ sprechen kann, greift Kirchner mit der Bearbeitung von Alle Landschaften haben gezielt in die originäre Textgestalt ein. In der Graphik werden Bild- und Schriftanteile nicht nur über den Satzspiegel angenähert, sondern komplett ineinander verschoben. Auf den ersten Blick stechen vor allem zwei markante intermateriale Verschränkung der äußeren Faktur ins Auge: 1. die Absonderung des ersten Verses von seiner Strophe und die dadurch erwirkte Umfunktionierung zur Überschrift und 2. die umschließende LForm der beiden Bildteile, die zu einer versetzten Position der ersten und der letzten beiden Strophen führt. Hierdurch entsteht der Eindruck, man habe es nicht mit einer Verbindung von Vignette und Gedicht zu tun, sondern mit der Kombination zweier Bild-Text-Einheiten. Diese Wirkung verstärkt sich insbesondere dadurch, dass sich die Wolkenschwaden zwischen die zweite und dritte Strophe schieben. Etwas subtiler zeigen sich derartige Engführungen dort, wo Vers-Leerräume mit Verzierungen ausgefüllt sind, die auch in den Vignetten auftauchen wie beispielsweise die Wolken in I.1, III.2 und IV.2 oder Bergkuppen bzw. Wellenkronen in II.2. Umgekehrt ragt der dritte Vers der dritten Strophe in die Darstellung der Tannen hinein und durchbricht so die Grenze zur Bildleiste. Für den Holzschnitt lässt sich insgesamt konstatieren, dass er die abstrakten Buchstaben und die sich zur bildlichen Darstellung formierenden Linien in ihrer Mischung aus gezackter und abgerundeter Form in einem einheitlichen Relief konvergieren lässt. Die äußere Faktur kennzeichnet eine Korrespondenz der Darstellungsverfahren, die auf dem gemeinsamen Material und dessen analoger Bearbeitungsweise beruht. Vor diesem Hintergrund lässt sich die intermateriale Qualität der Illustration nicht als ein Interagieren zweier Materialien beschreiben, sondern als die Interaktion zweier semiotischer Komplexe, die aus einem gemeinsamen Material generiert sind. Die Entfaltung von Bedeutung bleibt dabei an das Material der Hervorbringung gebunden. Dadurch erhöht sich die Inten-
58
LANG 1993: 42.
59
FREUND 1991: 271.
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sität der Bezugnahme, die im Gegensatz zu den anderen Illustrationen Kirchners nicht nur in einer Parallele des Sagens und Zeigens besteht. Warum aber wählt Kirchner gerade dieses Gedicht für eine derartige intermateriale Gestaltung aus und macht sich überdies die Mühe, eine bereits angefertigte Illustration zu verwerfen und eine neue herzustellen?60 Die Beantwortung bedarf einiger Umwege über die Entstehungsgeschichte der Anthologie, die Heym nicht selbst besorgt, sondern seine Freunde vom Neopathetischen Cabaret (darunter Jakob von Hoddis und Robert Jentzsch) auf Grundlage des Nachlasses zusammenstellen und sich dabei am morbiden Themenspektrum Heyms orientieren.61 In ihrer Ausrichtung an Krieg, Wahnsinn, Tod und Destruktion stellen die Gedichte „düstereruptive Visionen des Weltendes“62 dar, in die hinein Alle Landschaften haben freilich so gar nicht passen will. Die Heym-Forschung hat den Ausnahmecharakter des 1911 entstandenen Gedichts immer wieder konstatiert. Bereits Helmut Greulich bekundete 1931 sein Erstaunen über ein Gedicht mit so „zarter Stimmungsmalerei“ von einem Autor, dem eigentlich die „Natur vorwiegend düster und grau“63 gerät. Ähnlich äußert sich Peter Schünemann, für den Alle Landschaften haben „in der Reihe der Dichtungen überhaupt einzigartig dasteht“64 . Wie Karl Ludwig Schneider, Ronald Salter und Hermann Korte zeigen, lässt sich eine mit positiven Eindrücken besetzte Naturlyrik bei Heym jedoch zu Genüge finden, dies allerdings in der ‚Frühphase‘ und nicht für die Zeit der apokalyptischen Gedichte um 1910.65 Alle Landschaften haben, das im Manuskript den bezeichnenden Titel Träumerei in Hellblau trägt, ist für Heym also durchaus repräsentativ, wirkt aber im Kontext der Sammlung Umbra Vitae isoliert. Kirchner mag gerade dieser Ausnahmecharakter dazu anregen, dem Gedicht eine besondere Behandlung zukommen zu lassen. In der harmonischen Grundausrichtung findet er auf jeden Fall ein motivisches Äquivalent für die von ihm vehement eingeforderte „Einheitlichkeit von Satz und Bild“. In der Bearbeitung von Alle Landschaften haben greift Kirchner viele Strukturmerkmale auf und transponiert sie zu bildlichen Analogien. Vor allem an die für das Gedicht kennzeichnende perspektivische Verengung – von der Weite der Landschaften und der Himmelslinie reduziert es den Blick auf den Lichtschein einer Kerze – und die damit verbundene Abwärtsbewegung schließt Kirchner an und 60
Die ursprüngliche Illustration, die in der Modellausgabe unter dem Gedicht platziert ist, zeigt die abendliche Szenerie eines Bergdorfes mit Mond und Wolken. Vgl. GABLER 1988: 148.
61
Zur Editionsgeschichte vgl. JANSEN 1969.
62
TEBBEN 2004: 273.
63
GREULICH 1931: 63.
64
SCHÜNEMANN 1993: 85.
65
SCHNEIDER 1967: 100f.; SALTER 1972: 31-34; KORTE 1982: 33.
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verkehrt sie in der inneren Faktur der Illustration durch die Anordnung der Motive. So bezieht sich die obere Hälfte des Blattes mit dem schlafenden Paar und der Kerzenszene auf die Imaginationsebene der unteren beiden Strophen, während die Wellenberge bzw. die „Alpenlandschaft“66 der unteren Hälfte auf den Gedichtanfang rekurriert. Kirchner erreicht mithilfe dieser Darstellung eine gegenläufige Tendenz und wirkt der Abwärtsbewegung des Gedichtes entgegen. Das Bildinventar wird vorweggenommen und der Betrachter nach der Lektüre des Textes dazu animiert, an den Anfang zurückzukehren, wodurch im Text-Bild-Dialog eine Kreisstruktur entsteht. Dass Kirchner auf Darstellungen zurückgreift, die nicht explizit im Gedicht vorkommen, wie beispielsweise die Hütte, muss der Deutungsfreiheit zugeschrieben werden. Langs Einschätzung, die Illustrationen zu Umbra Vitae hielten sich „exakt an den Text“67, kann zumindest für diesen Holzschnitt nicht bestätigt werden. Ohnehin bleibt jede Illustration – sei sie noch so sehr an der ‚Vorlage‘ orientiert – eine Interpretation, und die scheint im Falle Kirchners die heimelige Atmosphäre zu bekräftigen. Zwar lässt sich etwa im Gesichtsausdruck des Mannes auf der linken Bildleiste auch eine Ahnung von Schwermut ausmachen, in seiner Darstellung von Behaglichkeit und Zuneigung unterscheidet sich der Holzschnitt jedoch deutlich von den teils aggressiv-düsteren Illustrationen zu den anderen Gedichten. Greift Kirchner auf der einen Seite auf die strukturellen wie imaginären Momente des Gedichts zurück, so bleiben manche Aspekte der Heym’schen Lyrik unberücksichtigt. Hierzu zählt zum einen der akustische Marker in Gestalt der Cymbeln, die in Umbra Vitae etwa auch in dem Gedicht Die Somnambulen vorkommen, dort aber deutlich pejorative Bedeutung besitzen.68 In Kirchners Bearbeitung des Gedichts fehlen Versuche, das Musikalische in die bildliche Darstellung zu übertragen. Gleiches gilt für die explizit benannten Farbwerte Blau und Weiß. Kirchner kompensiert den technisch bedingten Mangel an Kolorierung jedoch durch eine konkrete Visualisierung der bei Heym nur angedeuteten Szenen. Insbesondere die Darstellung des schlafenden Paares, bei dem der Mann den Arm um die Frau schlägt, stellt sich als Sinnbild für das Gestaltungsprinzip des Malers dar. Will man es emphatisch ausdrücken, so lässt sich sein Holzschnitt zu Alle Landschaften haben als eine Umarmung von Bild und Text charakterisieren, wozu nicht zuletzt die 66
GRIESBACH 1986: 195. Die Festlegung Griesbachs auf eine Bergregion resultiert aus einer biographistischen Herleitung, wonach die Alpenlandschaft Kirchner „vertraut“ gewesen sei. Die Darstellung lässt ebenso Assoziation zu einem Meer oder großen Fluss zu, was aufgrund der engen Anlehnung Kirchners an die evozierten Vorstellungen des Gedichts wahrscheinlich ist.
67
LANG 1993: 41.
68
Vgl. HEYM 1924: 11.
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Form der Vignetten beiträgt, die in ihrer verkehrt spiegelsymmetrischen Anordnung den Text einfassen. Auch die abwechselnde Verteilung von Schrift- und Bildanteilen sowohl an den vertikalen als auch horizontalen Außenkanten zeugt von einem Formwillen, der auf ein ausgewogenes Verhältnis skripturaler und pikturaler Elemente abzielt. Vor diesem Hintergrund scheint es fraglich, ob Alle Landschaften haben überhaupt als Illustration klassifiziert werden kann. Mit seinen Eingriffen in die Textgestalt des Gedichts geht Kirchner auf jeden Fall weit über herkömmliche Illustrationen hinaus und führt beide partizipierten künstlerischen Verfahren auf einen gemeinsamen Kern zurück. Qua Definition sind bei Illustrationen zwar immer Text und Bild in einem Artefakt vereint, selten aber einander so entsprechend und an den Rändern ineinander übergehend wie in Kirchners Bearbeitung. Mit der Gestaltung des Holzstocks zeigt der Maler, wie es möglich ist, ein Material derart zu bearbeiten, dass aus ihm zwei verschiedene semiotische Gebilde entstehen, die unterschiedlicher kognitiver Verarbeitungskompetenzen bedürfen, über das Material aber untrennbar miteinander verbunden bleiben. Bemüht man noch einmal die Relationstypologie von Willems, so erweist sich die intermateriale Beziehung zwischen Text und Bild in der äußeren Faktur der Illustration als konvergierend, in der inhaltlichen korrespondierend und in der inneren Faktur einander verstärkend. Wie bei Ittens Ekphrasis ist die erste Verbindung die Voraussetzung dafür, dass die Relation als intermateriale erkannt wird und die anderen beiden auf entsprechende Marker verzichten können. Dadurch, dass Kirchner jedoch sowohl motivisch wie auch strukturell Äquivalenzen gestaltet, intensiviert er die intermateriale Relation und erzeugt mit Alle Landschaften haben eine harmonische Erscheinung von Text und Bild als ein materiales, strukturelles und semantisches Ineinander.
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In Paul Klees künstlerischem Schaffen spielt die Integration von Schrift eine wichtige Rolle. Von 1912 an tauchen in seinen Bildern immer wieder Buchstaben, Wörter oder schriftähnliche Linienformen auf, die einerseits als Chiffren fungieren und den zumeist rätselhaften Ausdruck intensivieren, andererseits in ihrer materialen Präsenz verstanden werden sollen. Klee bedient sich dabei nicht nur des lateinischen Alphabets, sondern greift auch auf „arabische[] Schriftzeichen, die ägyptischen Hieroglyphen und urtümliche ‚runenhafte‘ Zeichen“69 zurück. In ihrer Studie
69
ZBIKOWSKI 1996: 118.
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zur Wort-Bild-Beziehung bei Klee versucht Marianne Vogel eine Kategorisierung der Bilder mit Schriftanteilen und klassifiziert sie nach den folgenden Kriterien: Buchstaben auf der Bildfläche, Kombination von Bild und Text, Illustrationen zu existierender Literatur, Schriftbilder, Bildtitel.70 Allein die Anzahl der ersten Kategorie beziffert Vogel auf 314 Bilder, und diejenigen Titel, die explizit Bezug auf das Material der Schrift nehmen, schätzt sie auf immerhin noch 250.71 Während sich vier der fünf Kategorien keiner bestimmten Periode zuordnen lassen, beschränkt sich die Herstellung der insgesamt zehn Schriftbilder auf den Zeitraum von 1916-1921. Da Klee in ihnen Schrift und Bild stark miteinander verschränkt, sind sie für eine intermateriale Studie von besonderem Interesse, zumal Klee in ihrer Entstehungsphase unter großem Einfluss des Kubismus und Expressionismus steht.72 Neben Alfred Kubin prägt Klee besonders der Kontakt zu Künstlern aus dem Umkreis des Blauen Reiters wie August Macke, Wassily Kandinsky und Franz Marc73, deren Synthesebestrebungen er teilt und bereits Jahre vor der Publikation des Almanachs artikuliert. In sein Tagebuch schreibt Klee 1905: „Immer mehr drängen sich mir Parallelen zwischen Musik und bildender Kunst auf. […] Sicher sind beide Künste zeitlich, das ließe sich leicht nachweisen.“74 Für die Verbindung von Malerei und Literatur lässt sich ein derartiges Zitat nicht nachweisen, das Bemühen Klees zu einer Konvergenz über die Dimension der Zeit ist jedoch – wie später zu zeigen sein wird – identisch. Charakteristisch für Klees Schriftbilder ist, dass sie zumeist komplette Texte verarbeiten und mithilfe von Farb- und Form-Elementen ausgestalten bzw. andersherum auf den gemalten Farbflächen Wortfolgen integrieren. Die Schriftzeichen sind dabei nicht nur vereinzelt gesetzt, sondern nehmen einen Großteil des Bildraums ein und verbinden sich mit den Formen und Farben des Bildes zu einem intermaterialen Hybridgebilde. Anders als bei den Bildgedichten Edschmids, bei denen die Bezugsbilder apräsent sind, und der kopräsenten, aber räumlich getrennten Verbindung von Bild und Ekphrasis Ittens, fusionieren bei Klee Schrift- und Bildmaterialien zu einem Artefakt und erhöhen somit den Grad ästhetischer Dichte. Zu den Schriftbildern aus der expressionistischen Phase Klees zählen sechs Bear70
Vgl. VOGEL 1992: 119. Bei Vogels Einteilung ist kritisch anzumerken, dass der Typus ‚Text und Bild‘ als Hyperonym eigentlich auf alle Kategorien zutrifft. Ihn auf die Entstehung eines Bildes aus einer schriftlich formulierten Idee einzuschränken, erweist sich als problematisch, weil derartige Bezüge nur schwer nachweisbar sind. Vgl. ebd. 145f.
71
Vgl. ebd.: 151; vgl. auch KRÖLL 1968: 31-36.
72
Vgl. SCHOLZ 2008: 275.
73
Literarisch schätzt Klee die komischen Gedichte Christian Morgensterns, deren satirischer Zug auch viele seiner eigenen Gedichte kennzeichnet.
74
KLEE 1960b: 130.
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beitungen chinesischer Gedichte – darunter Hoch und strahlend steht der Mond (1916) und Der Herbstwind weht, ha, die weissen Wolken fliegen (1916) –, zudem die Bilder Emilie (1917), Einst dem Grau der Nacht enttaucht (1918) und Aus dem hohen Lied (1921). Innerhalb der Schriftbilder nimmt Einst dem Grau der Nacht enttaucht (vgl. Abb. 13) eine besondere Stellung ein, weil das Gedicht aller Wahrscheinlichkeit nach von Klee selbst stammt75 und somit vermutlich für den Herstellungsvorgang bereits dessen Einbindung ins Bild eine Rolle spielt. Zwar macht es aus einer materialästhetischen Perspektive keinen Unterschied, ob die Komponenten in einem intermaterialen Kunstgebilde aus einer Hand stammen oder von unterschiedlichen Künstlern, die Analyse von Einst dem Grau der Nacht enttaucht wird aber zeigen, dass Klee mit dem Gedicht eine Allegorie auf sein eigenes Kunstverständnis schafft und hierfür Text und Bild exakt aufeinander abstimmt. In seiner formalen Erscheinungsweise kommt Einst dem Grau der Nacht enttaucht einem Vexierbild gleich, das den Rezipienten zu einem ständigen Wechsel von Betrachtung und Lektüre zwingt. Wie Dirk Linck und Stefanie Rentsch über Text-Bild-Hybride allgemein schreiben, haben wir es mit einer „dynamische[n] Verknüpfung von Schauen und Entziffern“76 zu tun. Aus der Perspektive des Betrachters erzeugt das Liniensystem eine strukturierte Anschauung, die sich aufgrund der vielen, heterogenen Farbeinheiten aber nicht wirklich einstellen will. Umgekehrt trifft die Lektüre auf vielfache Widerstände. Das „orthogonale Raster“ 77 erweckt zwar scheinbar eine klare Ordnung, diese wird aber durch die verschwommenen Ränder seiner Quadrate und das vielfache Verschmelzen von Buchstaben und Formen konterkariert. Dadurch, dass viele Buchstaben mit den Begrenzungslinien der Quadrate zu Ligaturen zusammengefasst sind, wird der Leser ganz bewusst an die Farbform gebunden. Seine Potenzierung erfährt dieser Effekt durch den ständigen Farbwechsel der Quadrate, der teilweise sogar innerhalb eines einzelnen Karrees stattfindet. Klee gelingt damit eine Verdichtung des Textes, die nach Nelson Goodman das basale Kennzeichen von Bildern darstellt:78 Während die Schrift für ihre semiotische Entfaltung auf Leerstellen und Lücken angewiesen ist, sind Bilder in dem Sinne syntaktisch dicht, dass sie die Leinwand ohne Zwischenräume ausfüllen und in Ähnlichkeitsbeziehung zu ihren Signifikaten stehen können. Klee 75
Diese Angabe stützt sich auf eine Aussage des Sohnes von Klee; sie ist bisher nicht verifiziert, aber auch nicht falsifiziert worden. Vgl. FELIX KLEE 1960: 100. Katja Schenker führt als Indiz für ihre Gültigkeit an, dass Klee seine Unterschrift derart unter das Schriftbild platziert habe, dass sie Bild und Gedicht gleichermaßen authentifiziere. Vgl. SCHENKER 1998: 142.
76
LINCK/RENTSCH 2007: 7.
77
SCHOLZ 2008: 275.
78
Vgl. GOODMAN 1995: 183, 232.
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macht sich dieses Prinzip zunutze, zeigt die Abhängigkeit der Schriftzeichen zur Differenz des Hintergrunds und unterläuft sie zugleich, indem er die Zwischenräume farblich ausfüllt, ohne den Text jedoch komplett unlesbar zu machen.79 Darüber hinaus lässt sich die Nivellierung eines weiteren semiotischen Unterschieds skripturaler und pikturaler Darstellungsverfahren beobachten, den Michael Titzmann in seinen Überlegungen zu einer Semiotik der Text-Bild-Relation betont: Wo die Materialität des Zeichenträgers, die Struktur des/der potentiellen Signifikanten, im sprachlichen Falle nur als Auslöser der Identifikationsoperation relevant ist und keine weitere Aufmerksamkeit erfordert, wird im bildlichen Falle die Aufmerksamkeit des wahrnehmenden Subjekts notwendig auf eben diese Materialität gelenkt, da erst anhand und aufgrund ihrer entschieden werden muß, ob der potentielle Signifikant auch ein faktischer ist.80
In Klees Einst dem Grau der Nacht enttaucht verschwindet die Materialität der Schrift beim Lektüreakt nicht, die material-bildliche Präsenz der Schriftzeichen tritt im Gegenteil nachdrücklich in Erscheinung. Zwar lässt sich das Gedicht mit Mühe entziffern, von seinem Material und der farblichen Unterlegung vollständig gelöst werden kann es nicht. Hierin zeigt sich die intermateriale Verdichtung des Schriftbildes, die dadurch potenziert wird, dass sich die Grenzen von Farbe, Form und Schrift auflösen und Klee die entworfenen Assoziationen an das Material zurückbindet. So korrespondieren die verbalisierten Farbwerte Grau und Blau mit ihren tatsächlichen ‚Hintergrundfarben‘. Auch die im oberen Blatt evozierten Sinneseindrücke von Schwere und Hitze – „Dann schwer und teuer / und stark vom Feuer“ – finden ihre Entsprechung in einer dominanten rötlichen und gelblichen Farbverwendung, während das untere Blatt gemäß der darin ausgedrückten Leichtigkeit und Kälte – „Nun ätherlings vom Blau umschauert / entschwebt über Firnen“ – überwiegend auf Blau- und Grüntöne zurückgreift. Neben Grau und Braun benutzt Klee vor allem die Komplementärfarben Blau/Orange, Gelb/Violett und Rot/Grün, die – K. Porter Aichele zufolge – zum Aufbau eines harmonischen Schemas dienen, das auch auf die Farb-Text-Beziehung zutreffe: „Klee extended the principle of pictorial harmony to establish a harmonious relationship between a poetic text and its visual setting.”81 Genauer müsste man sagen, dass die ‚harmonische Beziehung‘ zwischen Text und visueller Darstellung darin besteht, den jeweiligen Kontrast von oberer und unterer Blatthälfte zu verdoppeln. Das mit einem gräulichen Streifen getrennte Schriftbild weist einen internen Gegensatz auf, der dadurch erzeugt wird, dass sich Schrift und Farbe jeweils intermaterial verbinden und somit zwei Text-Bild79
Vgl. VOGEL 1992: 124.
80
TITZMANN 1990: 377.
81
AICHELE 2006: 47.
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Einheiten miteinander kontrastieren. Die ästhetische Dichte von Einst dem Grau der Nacht enttaucht resultiert aus dieser zweifachen Verschränkung bildlichen und schriftlichen Materials. In der Forschung wird darauf verwiesen, dass Klee sich nie explizit dazu geäußert hat, warum er Schriftsegmente in seine Bilder integriert.82 In einem später unter dem Titel Schöpferische Konfession berühmt gewordenen Beitrag für den von Kasimir Edschmid herausgegebenen Sammelband Tribüne der Kunst und Zeit (1920) findet sich aber eine kritische Replik auf Lessings Laokoon, die – zumindest indirekt – Aufschluss darüber geben kann. Dort heißt es: In Lessings ‚Laokoon‘, an dem wir einmal jugendliche Denkversuche verzettelten, wird viel Wesens aus dem Unterschied von zeitlicher zu räumlicher Kunst gemacht. Und bei genauerem Zusehen ist’s doch nur gelehrter Wahn. Denn auch der Raum ist ein zeitlicher Begriff. […] Die Genesis der ‚Schrift‘ ist ein sehr gutes Gleichnis der Bewegung. Auch das Kunstwerk ist in erster Linie Genesis, niemals wird es als Produkt erlebt. Ein gewisses Feuer, zu werden, lebt auf, leitet sich durch die Hand weiter, strömt auf die Tafel und auf der Tafel, springt als Funke, den Kreis schließend, woher es kam: zurück ins Auge und weiter. Auch des Beschauers wesentliche Tätigkeit ist zeitlich. Der bringt Teil für Teil in die Sehgrube, und um sich auf ein neues Stück einzustellen, muß er das alte verlassen.83
Was in diesem Passus ‚nur‘ ein Gleichnis ist, kommt in Einst dem Grau der Nacht enttaucht zur genauen Anwendung. Ziel seiner Gestaltung ist es, mithilfe der Schrift die Bewegung und Zeitlichkeit in der Wahrnehmung bildlicher Kunst zu demonstrieren und zugleich die räumliche Statik der Typographie kenntlich zu machen. Für Klee stellen Raum- und Zeitkunst keine Antagonismen dar: Ebenso wie die Sukzessivität in der Betrachtung von Bildern einbegriffen sei, kennzeichne die Linearität der Schrift eine (Zwischen-)Räumlichkeit. Nicht zufällig erinnern die Buchstaben in Einst dem Grau der Nacht enttaucht an Lettern im „Setzkasten einer Druckerei“84 und konterkarieren den Bewegungslauf der Lektüre durch ihre charakteristische Antidynamik. Der Lesefluss wird indes nicht vollständig angehalten, er verlangsamt sich nur und ermöglicht die parallele Flächenwahrnehmung der Farben. 82
Vgl. VOGEL 1992: 126.
83
KLEE 1920: 32-34. In seinem Artikel spielt Klee bewusst mit der Ambiguität der ‚Schrift‘ einerseits als Kulturtechnik und andererseits als Synonym für die Bibel, die ‚Heilige Schrift‘. In den verschiedenen Versionen des Aufsatzes wird der Begriff ‚Schrift‘ mal mit (vgl. KLEE 1920: 34; KLEE 1971: 78), mal ohne Anführungszeichen gedruckt (vgl. KLEE 1960b: 212). Insgesamt differieren die Wiederabdrucke teils beträchtlich von der Originalversion.
84
SCHOLZ 2008: 275.
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Genau in dieser materialen Kombination von bildlicher Raum- und poetischer Zeitkunst sowie der Bestimmung von Kunst als Genesis muss das Schriftbild verstanden werden. Lenkt man den Blick auf den Inhalt des Gedichts, so ruft es genau diese Assoziationen von Genese, Schöpfung und Vergehen auf, weshalb es nahe liegt, es als Allegorie auf die Hervorbringung von Kunst zu deuten: Einst dem Grau der Nacht enttaucht Dann schwer und teuer und stark vom Feuer Abends voll von Gott und gebeugt Nun ätherlings vom Blau umschauert, entschwebt über Firnen, zu klugen Gestirnen.
Formal irritiert das Gedicht durch eine Reihe unorthodoxer Stilelemente. Was neben dem arhythmischen Versmaß zunächst auffällt, ist das Fehlen eines Sprechers der ersten Person. Hier drückt sich kein empfindsames Subjekt aus, sondern die Evokation geschieht durch die Sprache selbst. Mit der Abwesenheit des Sprechers, die grammatisch durch Partizipialkonstruktionen erreicht wird, geht eine Unbestimmtheit des Textsubjekts einher. Die Frage danach, wer oder was da „[e]inst dem Grau der Nacht enttaucht“ ist und „[n]un ätherlings vom Blau umschauert“ wird, lässt das Gedicht unbeantwortet. Als Kandidat für die Leerstelle könnte die Sonne fungieren, wofür spricht, dass Klee über der handschriftlichen Version des Gedichts das Wort „Bahn“ vermerkt hat und somit möglicherweise auf den Sonnenverlauf verweisen will. Hierzu würde auch die Feuerassoziation im dritten Vers passen, allerdings widerspricht der Schluss dieser Interpretation. Eine Sonne, die als Stern selbst zu Gestirnen entschwebt, wirkt wenig plausibel. Anstatt weitere Spekulationen anzustellen, scheint es sinnvoll zunächst davon auszugehen, dass Klee das Sinnzentrum seines Gedichtes bewusst offen gelassen hat. Bestätigung erfährt diese Einschätzung dadurch, dass das Gedicht in zwei Hälften geteilt und in der Mitte mit einem grauen Farbbalken ausgestattet ist. Sowohl visuell als auch verbal bleibt der Kern des Gedichts undarstellbar. Will man sich ihm zumindest annähern, so gilt es zu klären, was das Gedicht über seine konkreten Bilder hinaus konnotiert, welche Isotopie es also aufbaut. Ausdrücke wie „einst“, „Nacht“, „abends“ und „nun“ als zeitliche Kategorien stehen hier Attributen der Bewegung wie „enttaucht“, „ätherlings“ oder „entschwebt“ und damit indirekten Ortsbestimmungen gegenüber. Einst dem Grau der Nacht enttaucht handelt vom Werden und Vergehen in Zeit und Raum. In dieser Ausrichtung erinnert es an Goethes Gedicht Ein Gleiches, vor allem an dessen Bewegungsstruktur, nimmt freilich aber den umgekehrten Weg:
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vom schweren Irdischen zum himmlisch Entkörperlichten. Anders als bei Goethe ist auch nicht ein menschliches ‚Du‘ angesprochen, sondern – berücksichtigt man die intermateriale Präsentation des Gedichts, bei der Inhalt und Darstellung nicht zu trennen sind – allegorisch die Kunst selbst (als Bild und Sprache), die in und durch ihre Wahrnehmung entsteht und vergeht. Das Gedicht erzählt von der Genesis, die Klee für die Kunst in Anschlag nimmt: „Kunst ist ein Schöpfungsgleichnis.“85 Es mag Zufall sein, dass in dem Gedicht vom Feuer die Rede ist, jenem Element, das im Beitrag Schöpferische Konfession als Metapher für die künstlerische Inspiration fungiert. Offenkundig aber suggeriert Klee die Entstehung des Gedichts aus der Farbe Grau („Einst dem Grau der Nacht enttaucht“), die in seinem Pigmentkreis den Kern aller Komplementärfarben bildet86 und in Gestalt des Streifens auch den Mittelpunkt des Schriftbildes. Das Zentrum des Gedichts ist also weniger eine Leerstelle, als vielmehr das Potential, aus dem heraus sich alle Farben, Formen und Deutungsmöglichkeit entwickeln. Die Funktion des Gedichts besteht darin, diese Idee auszudrücken und die Verflechtung zur Raumkunst Malerei zu artikulieren und intermaterial einzulösen.87 Klee geht es darum, Bild und Schrift intermaterial zusammenzufassen, um über die beiden erforderlichen Rezeptionsweisen des Entzifferns und Schauens das Ineinandergreifen der Dimensionen Raum und Zeit anschaulich zu machen. Diese Einsicht gerät auch zum Kern seiner späteren Lehrtätigkeit am Bauhaus, wovon zwei ausgewählte Titelbeispiele seiner Vorlesungsmanuskripte aus dem Jahr 1922 zeugen: „Das Nacheinander oder die zeitliche Funktion eines Bildwerkes“ sowie „Der Bewegungsorganismus und die Synthese der Verschiedenheiten zu einem bewegt ruhigen, ruhig bewegten Ganzen“88. Während Klee die Erkenntnis von der Bewegung des Bildes in der Arbeit am Bauhaus stark formalistisch ausführt, bindet er sie in der expressionistischen Phase noch an eine emphatische Vorstellung an. Der Inhalt des Gedichts im Schriftbild von 1918 ist diesem Umstand geschuldet, weil er den Gedanken von der Genesis des Kunstgebildes als einen religiösen Akt entwirft und mit Welt- und Naturschöpfung in eins setzt:
85
KLEE 1960b: 28.
86
Vgl. die Abbildung in KLEE 1971: 511; vgl. auch AICHELE 2006: 47.
87
In ihrer umfangreichen Analyse der „dynamischen Wechselbeziehung“ von Schrift und Bild in Klees Einst dem Grau der Nacht enttaucht argumentiert Katja Schenker ganz ähnlich mit einer angelegten Mehrdeutigkeit. Thema des Gedichts könne ein realer Gegenstand (die Sonne), der Rezeptionsvorgang oder der Entstehungsprozess sein. Vgl. SCHENKER 1998: 146-154.
88
Vgl. KLEE 1971: 369 [20. März 1922], 403 [3. April 1922].
184 | I NTERMATERIALITÄT Aus abstrakten Formelementen wird über ihre Vereinigung zu konkreten Wesen oder zu abstrakten Dingen wie Zahlen und Buchstaben hinaus zum Schluß ein formaler Kosmos geschaffen, der mit der großen Schöpfung solche Ähnlichkeit aufweist, daß ein Hauch genügt, den Ausdruck des Religiösen, die Religion zur Tat werden zu lassen.89
Über die äußerliche Formalisierung hinaus intendiert Klee „ein letztes Geheimnis“90, das weder rein visuell noch rein begrifflich zu fassen ist. In einem Gedicht aus dem Jahr 1914 hat er dies so ausgedrückt: „Die Schöpfung / lebt als Genesis / unter der sichtbaren Oberfläche / des Werkes. // Nach rückwärts / sehen das alle Geistigen, // nach vorwärts / – in die Zukunft – / nur die Schöpferischen.“91 Mit dieser Konzeption reiht sich Klee – zumindest Ende der 1910er Jahre – in den Kontext jener expressionistischen Apologeten ein, für die Kunst Ausdruck elementarer, religiöser Erfahrungen ist und das Kunstgebilde eine Offenbarung darstellt. Die intermateriale Verschränkung von Schrift und Bild erweist sich unter diesem Gesichtspunkt als Mittel zum Zweck, bei der die Aufwertung der Form zugleich auf eine Entmaterialisierung abzielt. Dass die Referenz freilich nicht zur Ablösung kommt, gehört zum wesentlichen Kennzeichen von Klees graphischer Gestaltung und entspricht der Verbindung von Geistigem und Materiellem wie sie von Kandinsky, Schreyer und Itten gefordert wird. Für Klee besteht gerade darin die Voraussetzung der Darstellung eines eigentlich Nicht-Darstellbaren. Die abstrakte Farbkomposition und die keilschriftartigen Zeichen führen beide Techniken auf einen ursprünglichen Gebrauch zurück, der für Klaus Dirscherl die Prämisse für einen „auratischen Akt- und Dingcharakter“92 moderner Text-Bild-Relationen im 20. Jahrhundert ist. Insofern stellt sich paradoxerweise gerade durch die Präsenz des abstrakten Materials jener „formale Kosmos“ ein, den Klee als das „letztes Geheimnis“ seiner Kunst beschreibt. Die Qualität der Beziehung zwischen Text und Bild ist dabei die einer untrennbaren Einheit. Ebenso wie die evozierten Vorstellungen des Gedichts nicht von ihren Signifikanten zu lösen sind, bleibt die Farbgestaltung an das einzelne Schriftzeichen und das Gedichtganze gebunden. In dem hybriden Konnex von Text- und Bildelementen schafft Einst dem Grau der Nacht enttaucht eine intermateriale wie semantische Einheit von abstrakter Farb-/Schriftoberfläche und Gedichtinhalt, die in nuce demonstriert, wie es möglich ist, Materialien in ihrer Verwendung derart aufeinander zu beziehen, dass ihre Grenzen zweifelhaft werden.
89
KLEE 1920: 36.
90
Ebd.
91
KLEE 1960b: 86.
92
DIRSCHERL 1993: 24.
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Abbildung 13: Paul Klees Einst dem Grau der Nacht enttaucht (1918)
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186 | I NTERMATERIALITÄT
I NITIALEN . F RANC M ARC , H ANS A RP , K ARL S CHMIDT R OTTLUFF , E RNST L UDWIG K IRCHNER , M AX P ECHSTEIN UND DIE BILDNERISCHE K UNST DES T EXTANFANGS Die Verzierung von Buchstaben, zumal jenen am Beginn eines Textes oder Kapitels, hat eine lange Tradition. In spätantiken Handschriften dient sie der Exposition eines Textbildes, das noch nicht durch einheitliche Wortzwischenräume gekennzeichnet ist und dementsprechend anderer Betonungs- und Gliederungsmittel bedarf. Der Beginn der Initiale wird auf das 5. Jahrhundert n. Chr. datiert und findet sich in einer Vergilhandschrift, die zwar den Anfangsbuchstaben klar vom Text absetzt, diesen aber noch nicht ornamental gestaltet.93 Eine solche Verbindung der formalen mit einer ästhetischen bzw. schmückenden Funktion beginnt erst in der christlich-mittelalterlichen Buchkunst, die in Codices, Bibelausgaben und Psaltern Initialen entwickelt, welche nach zoomorphen, kaleidoskopartigen, figurativen, historisierenden und bewohnten Initialen unterschieden werden.94 Von der eigentlichen textgliedernden Funktion entwickeln sich die Initialen im Laufe der Zeit zu eigenständigen Gestaltungsobjekten, die das Schriftblatt – neben anderen Formen des Buchschmucks – zu Kunstgebilden aufwerten. Auch im Expressionismus erlebt die Initiale eine starke Konjunktur, was zum einen an dem Anspruch auf Exklusivität liegt. Die zumeist in geringer Auflage gedruckten Bücher werden durch die Verzierungen zu bibliophilen Sammlerstücken. Zum anderen lässt sich im Hinblick auf die auflagenstarken Zeitschriften, Almanache und Flugschriften genau das Gegenteil beobachten: Deren bildliche Gestaltung erfolgt zu dem Zweck, den Grad an Aufmerksamkeit zu erhöhen, und muss daher als Strategie verstanden werden, die eigenen Forderungen im leichter zugänglichen Material der Zeichnung sinnfällig zu machen. Beiden buchkünstlerischen Motivationen gemeinsam ist die substantielle Zusammenführung der Künste. Beispiele, in denen die Bebilderungen in den Satzspiegel hineinreichen, sind zwar selten, aber gerade mithilfe der Initiale lässt sich eine scheinbare Marginalie gestalten, die sich auf der materialen Grenze von bildender und skripturaler Kunst bewegt. Entscheidend ist dabei, dass es sich um einen einzelnen Buchstaben handelt, der – anders als das Morphem – keine bedeutungstragende Funktion erfüllt. In seiner Hervorhebung wird das bildnerische Potential ausgeschöpft und die Materialität der Schrift sichtbar. Andersherum zeigt sich das Potential der bildnerischen Darstellung Schriftzeichen zu werden. Während Letzteres vielfach in der mittelal93
Vgl. VERGILIUS AUGUSTEUS, COD. VAT. LAT. 3256, fol. 4r. ROM, BIBLIOTHECA APOST.
94
Vgl. PÄCHT 2000: 45-95. Zur Entstehungsgeschichte der Initiale vgl. auch NORDENFALK
VATICANA. 1970 und JAKOBI-MIRWALD 2004: 171-178.
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terlichen Buchkunst zu beobachten ist – vor allem in der weit verbreiteten FischVogel-Ornamentik95 –, erweist sich die expressionistische Initiale als weit weniger prunkvoll ausgestattet und eher an einer expressiven Formung des abstrakten Schriftzeichens interessiert. Auch im Expressionismus gibt es jedoch Beispiele zoomorpher Initialen. Sie finden sich im Almanach Der Blaue Reiter, in Gestalt dreier der vier von Franz Marc bearbeiteten Anfangsbuchstaben. Besonders die Überschrift „Artikel“ für das Inhaltsverzeichnis kombiniert Schrift- und Bildzeichen, indem sich die Hörner eines Stiers zum Mittelbalken eines A formen (vgl. Abb. 14). Marc gelingt es hier nicht nur, der Initiale durch die Betonung der Rückenlinien von Reh, Pferd und Stier einen dynamischen und kraftvollen Ausdruck zu verleihen, sondern auch durch das Einfrieren eines natürlichen Bewegungsablaufs eine allzu künstliche Verbindung zwischen Tiergestalt und Zeichen zu vermeiden. Eine derartige Verknüpfung bleibt
Abbildung 14: Franz Marcs Initiale A (1912)
Abbildung 15: Franz Marcs Initiale E (1912)
Abbildung 16: Franz Marcs Initiale I (1912)
Abbildung 17: Franz Marcs Initiale Ü (1912)
allerdings die Ausnahme. So fällt es bei der Initiale E zu Marcs eigenem Artikel Geistige Güter überhaupt schwer, die Darstellung zu identifizieren. Einzig durch Kenntnis seines für die Zeit typischen Bildrepertoires lässt sie sich als eine Katze ausmachen, deren Schwanz sich zu einem altdeutschen E schlängelt (vgl. Abb. 15).
95
Vgl. PÄCHT 2000: 50.
188 | I NTERMATERIALITÄT
Weniger Schwierigkeiten bereitet das zum Schlafen eingerollte Tier zu Beginn von Marcs Beitrag über Die ‚Wilden‘ Deutschlands, allerdings ist das „i“ selbst nicht aus der Tierform erzeugt, sondern steht isoliert daneben und ist nur über die Formgebung sowie die Dicke des Schafts mit der Tiergestalt verbunden (vgl. Abb. 16). Vom Tierornament abweichend präsentiert sich das Ü im Titel des Aufsatzes Über Anarchie in der Musik vom Komponisten Thomas von Hartmann. Mit seiner kalligraphischen Typographie erinnert es eher an ein japanisches Schriftzeichen (vgl. Abb. 17). Unklar ist bei der Initiale ohnehin, ob sie nicht eigentlich von Kandinsky stammt.96 Bei den drei Initialen, die eindeutig Marc zugeordnet werden können, ergibt sich eine Beziehung zu den Bildern, die dieser in den 1910er Jahren anfertigt und von denen drei im Blauen Reiter abgebildet sind. Auch auf ihnen finden sich als beherrschende Motive Tiergestalten.97 Entscheidender jedoch als dieser Bezug ist die intermateriale Schrift-Bild-Verbindung der Initialen selbst, die in der Kombination abstrakter Buchstaben mit einer Tierornamentik das Zusammenspiel eines Organischen mit einem Anorganischen herstellen, das freilich beiderseits semiotisch funktioniert. Anders als die Tierdarstellungen, die als bildliche Zeichen in Ähnlichkeitsbeziehung zum Dargestellten stehen, entfaltet der einzelne Buchstabe jedoch keinen referentiellen Bezug. Der Buchstabe wird vielmehr in die Ähnlichkeitsbeziehung der Tierabbildung integriert. Zugleich bleibt die gesamte Darstellung in ihrer Materialität präsent, da der Buchstabe als distinkt wahrgenommen werden kann. Wir haben es bei den zoomorphen Initialen von Franz Marc also mit einer integralen Form der Intermaterialität zu tun, bei der die Schrift vom Bild material einverleibt wird. Nicht zu vergessen bleibt allerdings, dass die Initialen selbst nur den integralen Teil eines größeren Textkorpus bilden. Neben Franz Marc gestaltet auch Hans Arp drei Initialen für den Almanach, wobei diese sich eines ganz anderen graphischen Ausdrucks bedienen. In ihnen zeichnet sich bereits Arps Hang zur Komik ab, den er später in dadaistischen Krei-
Abbildung 18: Hans Arps
Abbildung 19: Hans Arps Initiale Z (1912)
Initiale D (1912)
96
Vgl. KANDINSKY/MARC 1912: 360.
97
Vgl. ebd.: 71, 73, 165. Die Titel lauten „Pferde“ (2x) und „Der Stier“.
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sen ausleben wird. Seine Initialen erwecken den Eindruck kindlicher Kritzeleien, besonders die figurale Initiale im Titel des Beitrags von Nikolai Kulbin Die freie Musik (vgl. Abb. 18). Der frei gezeichnete Buchstabe D fungiert hier als Einfassung, aus der heraus ein verschmitztes Gesicht blickt. Anders als bei Marc, bei dem – zumindest bei zwei Initialen – durch den gleichen Urheber eine Verbindung zwischen den Initialen und den Artikeln besteht, korrespondieren sie bei Arp nicht mit dem Text, den sie einleiten. Auch in ihrer Bildsprache entfalten sie besonders dort einen Kontrast, wo sie – wie im Falle des Eingangsbuchstabens Z zu Kandinskys Über die Formfrage (vgl. Abb. 19) – mit einem Votivbild kombiniert werden.98 Gerade diese Zusammenstellung ist jedoch von den Herausgebern des Almanachs beabsichtigt. Arp, der auch eine Federzeichnung beisteuert, trägt mit seinem humoristischen Stil also zu einem intendierten heterogenen Gesamtbild des Almanachs bei. Im Hinblick auf die Variation seiner Initialen lässt sich in ihrer Verteilung im Blauen Reiter eine Zunahme der graphischen Darstellung erkennen. Während das D zu Beginn des Artikels von Kulbin noch einen eindeutigen Rahmen markiert, zeigt die Initiale am Anfang von Kandinskys Über die Formfrage ein Tier (möglicherweise einen Dachs), das aus der figürlichen Darstellung ausbricht (vgl. Abb. 19). In dieser Initiale wird das spitzwinklige Z durch ein ungleichmäßiges Trapez eingefasst und damit die Funktion der Konturierung an eine geometrische Form abgegeben. Seine komplette Fusion mit der Graphik erlebt der Buchstabe im J zu Kandinskys Über Bühnenkomposition. Die Initiale stellt eine Kombination aus Strichanordnung, geschwungenen buchstabenähnlichen Formen und fratzenartigen GeAbbildung 20: Hans Arps sichtern dar, in der sich zwar noch ein Schriftzeichen Initiale J (1912) ausmachen lässt, dieses aber eher einem i als einem J ähnelt (vgl. Abb. 20). Es scheint, als habe Arp den geschwungenen Abschluss des J von seinem Buchstaben isoliert und in die Gestalt mehrerer b und d umgewandelt. In ihrer komplexen Dreiteilung lässt sich die Zeichnung nur noch schwer als Initiale identifizieren. Einzig ihre Platzierung an den Anfang des Textes konstituiert sie als solche. Mit den drei Initialen realisiert Arp unterschiedliche intermateriale Grade der Text-Bild-Beziehung: von einer Einfassung der bildlichen Darstellung in die Materialität des Buchstabens über ihren Ausbruch aus dessen Begrenzung und der damit verbundenen Aufwertung der bildlichen Darstellung bis hin zur intermaterialen Fusion.
98
Vgl. ebd.: 132, 133.
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Während sich Marc und Arp figurativer Initialen bedienen, zeigt sich der Brücke-Künstler Karl Schmidt-Rottluff an einer Schrifttype interessiert, deren expressiver Stil für Zeichnungen, Lithographien und Radierungen des Expressionismus generell charakteristisch ist. Seine 14 Initialen finden sich in den gemeinsam edierten Heften IV, V und VI der von Wilhelm Niemeyer und Rosa Schapire von Januar bis Dezember 1921 herausgegebenen Zeitschrift Kündung, für die Schmidt-Rottluff auch den Titelholzschnitt anfertigt. Über mehrere Artikel verteilt gestaltet SchmidtRottluff insgesamt 14 Wortanfänge mit den Buchstaben A, B, D, E, F, G, H, I, J, O, S, U, W, Z, die – das beobachtete bereits Lothar Lang – in eklatanter Diskrepanz zur „noble[n] Typographie (verwendet wurden Genzsch-Antiqua und LeibnizFraktur)“99 stehen. Mit ihren kantigen, gezackten Konturen und überdimensionalen Ausmaßen nehmen sich die Initialen im Druckbild wie Fremdkörper aus (vgl. Abb. 21). Anders als bei Arp sind die Buchstaben deutlich erkennbar, wirken aber perspektivisch verzerrt, disproportional und sind vielfach in einen Rahmen eingefasst,
Abbildung 21: Karl Schmidt-Rottluffs Initiale A (1921)
der durch eine ähnliche Gestaltung diesen Eindruck verstärkt. Im Unterschied zu den zoomorphen Initialen findet bei Schmidt-Rottluff auch keine Intermaterialität zwischen Bild- und Schriftzeichen statt, vielmehr wird das intermateriale Potential der Schrift zur bildlichen Darstellung hervorgehoben. Auffällig ist zudem, dass in den ersten Sätzen des zugehörigen Textes eine Häufung des Buchstaben A zu beobachten ist. Die Alliteration und Vokalanalogie des Textanfangs wird so durch die Initiale pointiert. Davon abgesehen behaupten die Initialen typographisch einen hohen Grad an Eigenständigkeit gegenüber ihren Bezugstexten und bilden in Stil und Größe eine artikelübergreifende Einheit.
99
LANG 1993: 77.
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Wie sich eine Initiale harmonisch ins Druckbild einfügen kann, dokumentiert das Programm der Brücke, das Ernst Ludwig Kirchner – wahrscheinlich unter Mitarbeit von Fritz Bleyl100 – 1906 anfertigt (vgl. Abb. 22). Das Programm, das eine „neue Generation der Schaffenden“ beschwört und für das inhaltlich neben Kirchner und Bleyl Erich Heckel und Schmidt-Rottluff verantwortlich sind, wirkt trotz seiner expressiven Schrifttype gleichmäßig und abgerundet. Diese Homogenität ist dem Umstand geschuldet, dass der Text – wie bei Heyms Alle Landschaften haben – in einen einzigen Holzstock geschnitzt ist und dadurch eine gleichmäßige Verteilung von HellDunkel-Flächen entsteht. Ähnlich wie bei Schmidt-Rottluffs Initialen für die Kündung erweist sich die materiale Voraussetzung der Schriftzeichen im BrückeProgramm als markant betont und das Abbildung 22: Ernst Ludwig Kirchners/ intermateriale Potential der Schrift zur Fritz Bleyls Brücke-Programm (1906) bildlichen Darstellung abgerufen. In der intermaterialen Bearbeitung des Textes entfalten Kirchner und Bleyl insgesamt eine erstaunliche Kreativität, was sich etwa an der Integration von Punkten in die Buchstabenzwischenräume bei Begriffen mit Umlauten zeigt. Beide Künstler fügen zudem in die Leerräume des vergrößerten M geschwungene Einritzungen ein, deren Bögen dem Buchstaben nachempfunden sind und dessen fragmentierte Vervielfältigung erzeugen. Kirchner nutz darüber hinaus den Spitzwinkel des über drei Zeilen verlaufenden Anfangsbuchstabens, um sein Monogramm zu platzieren und sich gewissermaßen in die intermateriale Darstellung einzuschreiben. Wie vielfältig sich die Modellierung von Initialen im Expressionismus ausnimmt, bezeugt schließlich Max Pechsteins traditionell wirkende Bearbeitung von Willy Seidels Erzählung Yali und sein weißes Weib (vgl. Abb. 23). Pechsteins Radierung zeigt eine Küste mit stürmender See, an die ein havarierendes Schiff treibt. Durch die Platzierung des E erweckt die Darstellung den Eindruck, als zerschelle das Schiff nicht an einer Klippe, sondern am Buchstaben. Im Dialog mit der erzähl100 Vgl. PRESLER 2007: 11f.
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ten Geschichte – „da warf ein großer Wirbelsturm den Dreimaster ‚Swallow‘ einer englischen Handelslinie gegenüber von Kap Virgenes an die Küste“ – nähert Pechstein Literatur und Malerei auf zweifache Weise an: Zum einen nimmt die Radierung die Geschichte vorweg, zum anderen reflektiert die Integration des Buchstabens in die bildliche Darstellung ihre sprachliche Vermittlung. Zwar bleibt das E durch die Frakturschrift typographisch mit dem Text verbunden, durch seine Position in der Mitte der Graphik ist es jedoch klar vom Bezugswort abgetrennt, wodurch das Schriftzeichen zum Bildinventar wird und intermaterial mit der bildlichen Darstellung fusioniert. Als Ganze steht diese jedoch in einer Relation der intermaterialen Kopräsenz zum Text. Ähnlich wie bei Kirchners Bearbeitung von Heyms Alle Landschaften haben sind Text- und Bildanteile zwar material ineinander verschränkt, an ihren Rändern bleiben sie jedoch klar voneinander abgegrenzt, auch wenn die Zeichnung den Satzspiegel insgesamt ‚ausfransen‘ lässt.
Abbildung 23: Max Pechsteins Initiale E (1924)
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Diese Tour d’Horizon durch einige Beispiele expressionistischer Initialkunst konnte verschiedene Stile und Typen des bildnerischen Textanfangs ausmachen. Anders als etwa die Verschnörkelungen der Außen- und Bundstege im Impressionismus und Jugendstil greifen die Expressionisten – wenn auch marginal – in die Textgestalt ein und zeigen sich vor allem an der pointierten Hervorhebung einzelner Buchstaben interessiert. Die Art der Bearbeitung hängt dabei stark ab von der jeweiligen Formsprache des Künstlers und dem Verhältnis, in welchem er die graphische Gestaltung zum Text bemessen will. Dennoch verdeutlicht das breite Spektrum ein übergreifendes Interesse der expressionistischen Maler an der bildnerischen Bearbeitung des Materials der Schrift. Die Initiale ist ein durch die Tradition legitimierter Ort einer solchen Annäherung. Er befindet sich buchstäblich an der Grenze von Bild und Schrift und stellt weniger eine „autonome Sphäre“101 dar, denn eine integrale beider Techniken. Während die intermateriale Relation von Schrift und Bild bei der Initiale selbst als potentiell gleichwertig zu gewichten ist, erweist sich das Verhältnis der bildnerischen Hervorhebung eines einzelnen Buchstabens zum Textganzen als disproportional. Gerade diese Marginalität erlaubt jedoch eine graphische Gestaltung, die von dem Inhalt der Texte völlig verschieden sein kann, weshalb es etwa möglich ist, dass Franz Marc mit seinen Initialen eigene Bilder zitiert oder Hans Arp mit seinen Karikaturen das Pathos der Artikel des Blauen Reiters konterkariert. Isoliert betrachtet entfaltet die Initiale dort, wo sie den Buchstaben mit einer Zeichnung verbindet, keine semantische Entsprechung von Schrift und Bild. Die Unmittelbarkeit des figural Dargestellten kontrastiert mit der Abstraktheit des Schriftzeichens, das ohne die Einbindung in einen Wortzusammenhang keine Referenzen aufbaut und mit dem Bildträger nur durch die Anordnung material interagiert. Idealerweise verbindet sich, wie bei der Initiale A von Franz Marc, die Imitation organischer Konturen im ikonischen Zeichen mit dem Liniengerüst des Buchstabens und erweckt so einen pseudomimetischen Eindruck. Die Buchstaben können aber auch die Funktion von Rahmen einnehmen und damit zur materialen Randerscheinung degradiert werden wie bei der Initiale D von Arp. Zudem zeigen figurale Initialen, dass es manchmal nur einer kleinen Veränderung der Zeichnung bedarf, um aus einem einfachen Strich eine bildliche Darstellung oder eben einen Buchstaben zu formen. Ein weiteres intermateriales Potential wird in jenen Initialen der Expressionisten abgerufen, die ohne ikonische Zeichen auskommen und sich rein typographisch in ihrer Schriftbildlichkeit vom Text absetzen. Bildliche Darstellungen sind ja nicht nur über die Ähnlichkeitsbeziehungen definiert, sondern auch durch eine Formgestaltung, die im Falle der expressiven Lettern Schmidt-Rottluffs Assoziationen von Bedrohung und Unheil abrufen. Die intermateriale Qualität dieses Initialtyps besteht darin, die der Schrift inhärente Beziehung zur Bildhaf101 PÄCHT 2000: 45.
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tigkeit zu pointieren. Ob indes in Verbindung mit einem Icon-Zeichen oder isoliert, Initialen stellen intermateriale Text-Bild-Einheiten en miniature dar, die im Expressionismus Teil einer experimentellen Annäherung beider semiotischer Verfahren sind. Die Adaption einer derartigen materialen Verbindung, die im mittelalterlichen Buchzierrat ihre Blüte hat, zeigt allerdings auch, dass die Expressionisten einem gewissen Traditionalismus verpflichtet bleiben. Einen radikalen Aufbruch, gar eine entfesselte Typographie der Buchseite wie im Dadaismus und Konstruktivismus etwa bei John Heartfield, Joost Schmidt oder Theo van Doesburg sucht man bei Kirchner und Co. vergebens.
A SSEMBLAGE . K URT S CHWITTERS ’ „D AS U NDBILD “ Neben den ambitionierten, utopischen Projekten wie der ‚Vermerzung der Welt‘ gehört zu den praktikablen Ansprüchen von Kurt Schwitters die Verbindung von Literatur und Malerei. In einem Artikel für die Zeitschrift Ararat aus dem Jahr 1920 macht er sie zur Voraussetzung seiner gesamtkünstlerischen Bestrebungen: Zunächst habe ich einzelne Kunstarten miteinander vermählt. Ich habe Gedichte aus Worten und Sätzen so zusammengeklebt, daß die Anordnung rhythmisch eine Zeichnung ergibt. Ich habe umgekehrt Bilder und Zeichnungen geklebt, auf denen Sätze gelesen werden sollen.102
Die zahlreichen typographischen Gedichte Schwitters’ geben Zeugnis von einer tatsächlich umgesetzten Kombination skripturaler und piktographischer Verfahren. Gleiches gilt für die Modellierung von Schriftcollagen wie das titellose und undatierte [Mai 191], bei dem sich in einheitlicher Frakturschrift gestaltete Zeitungsartikel und Plakatstücke überlappen. 103 Charakteristisch für die Merzkunst und das Prinzip der Verwertung beliebiger Materialien sind besonders die Assemblagen, bei denen Schwitters Schriftzüge, einzelne Buchstaben oder Zahlen in die Komposition mit einbezieht. Im Gegensatz zur Collage definiert sich die Assemblage als eine Zusammenstellung von flächigen und plastischen Dingobjekten, die als fragmentarisierte Wirklichkeitsstücke zu einem heterogenen, reliefartigen Ganzen zusammengefügt sind. Die Integration von Text geschieht dabei nicht durch die eigenständige Beschriftung der Bilder, sondern indem ausgeschnittene Zeitungsartikel, Fahrkarten u.ä. aufgeklebt und durch Übermalungen und Verdeckungen in ihrer Bedeutungsdimension abgeschnitten und neu ausgerichtet werden. Bei Assemblagen handelt es sich um intermateriale Konglomerate, bei denen Schriftstücke mit anderen Materia102 SCHWITTERS 1920b: 79. 103 Vgl. zu dieser und anderen Schriftcollagen SCHMALENBACH 1967: 128.
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lien kombiniert und in einen Bildrahmen eingefügt werden. Die Malerei liefert somit das äußere Arrangement, in dem die Schrift mit anderen Objekten in Interaktion tritt. Der Rezipient ist in erster Linie ein Betrachter, der aufgrund der Textsegmente jedoch immer wieder zur Lektüre gezwungen wird. Im Undbild von 1919 (vgl. Abb. 24), einem der frühen Merzbilder Kurt Schwitters’, demonstriert die Auswahl des Titel gebenden Textelements auf besondere Weise dieses zentrale Gestaltungsprinzip von Merz, weil es die Forderung nach Synthese durch seine grammatische Funktion erfüllt. In seiner Anordnung markiert das dominant positionierte „und“ die Mittelachse des Bildes und organisiert dessen Struktur. Die auf den ersten Blick chaotische Assemblage folgt einem strengen Kompositionsprinzip und ist in ihrer Formsprache noch Schwitters frühen Ölbildern und Abstraktionen verpflichtet.104 Durch die Ober- und Unterkanten der Papier- und Holzstücke sind die eigentlich heterogenen Materialien zu einer komplexen Einheit verbunden. Das bloß 35 x 28 cm abmessende Bild erzeugt dadurch eine mehrfache diagonale Linienführung, die sich als vier ineinander verschachtelte Dreiecke beschreiben lässt: zwei spitzwinklige in der Mitte des Bildes und zwei rechteckige an den sich links unten und rechts oben gegenüberliegenden Außenkanten. Weitere kleinere Dreiecke finden sich in dem mit markantem Blau übermalten Papier und dem angenagelten Firmenschild „E. Sökeland & Söhne“. Daneben lassen sich weitere geometrische Figuren ausmachen: Kreise, Halbkreise, Rechtecke, Rauten und Bögen. Gemäß der Merztheorie werden die Formen nicht durch die Bemalung erzeugt, sondern mithilfe der Verwendung verschiedenster Materialien: Stofffetzen, Sägeblätter, Zahnräder, Knöpfe und Keile, Papierstücke, bedruckt und unbedruckt, verrostete Nägel, eine Fahrkarte und ein Hufeisen finden sich in dem Bild. Viele der entweder angeklebten oder angenagelten Elemente überdecken sich gegenseitig und intensivieren somit ihren intermaterialen Rekurs. Dadurch, dass es sich um willkürlich zusammengesetzte Gegenstände handelt, sind es vor allem diese Bearbeitungen und Kombinationen, die eine intermateriale Verdichtung der Assemblage bewirken. Die Materialien sind nicht einfach beliebig angeordnet, sondern zu einem Ganzen arrangiert, das sich maßgeblich aus der internen Rekurrenz konstituiert. Dies gilt auch für das „und“-Segment, in das hinein eine Art Keil ragt und es zugleich mit dem Sägeblatt verbindet. Ähnliches lässt sich für die von der Oberfläche abstehenden Dingobjekte wie das Hufeisen, den ‚Metallturm‘ aus einem abgebrochenen Sägeblatt und Zahnrädern sowie die Holzschachtel beobachten. Auch sie sind Teile eines intermaterialen Arrangements, das nicht nur wie eine Art Puzzle zusammengesetzt ist, 105 sondern eine Dynamik aufweist, weil Fluchtlinien verlängert und Verbindungen erzeugt werden. Das Hufeisen in der rechten unteren Ecke etwa 104 Vgl. ELDERFIELD 1987: 53. 105 Vgl. ebd.: 26.
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nimmt die Diagonalbewegung auf und reflektiert sie selbst weiter auf den überstrichenen Schriftzug „[Pf]erde“, mit dem es ohnehin in semantischer bzw. metonymischer Beziehung steht. Bei den Schriftstücken sind es vor allem Eigennamen, Zahlenwerte, Orts- und Zeitangaben, die auf der Assemblage erkennbar sind. Als Städte werden Hannover und zweimal Berlin genannt, deutlich zu sehen ist das Jahr „1918“, der „5. September 19[]“ und der „11. Mai 191[6]“ sowie die Zahlen „97“, „2“ und „2524“. Manche Schriftzüge lassen sich nur schwer entziffern wie „[]chtsendung“ oberhalb des Holzkästchens oder „Sammel[]“ und „Buch“ links neben der unteren Spitze des blauen Dreiecks. Andere dagegen geben recht genau Auskunft über ihre ursprüngliche Gebrauchsfunktion. So findet sich neben einem Abholschein, einer Fahrkarte sowie zwei Firmen- oder Reklameschildern auch die Platzkarte für eine Aufführung. Es wäre müßig, die genaue Herkunft zu rekonstruieren, da die Papiere bewusst ihren ursprünglichen Kontexten entnommen sind und als Fragment verstanden werden sollen. Dass es sich etwa bei „E. Sökeland & Söhne“ laut den Angaben des Landesarchivs Berlin um eine Backwarenfabrik zur Herstellung von Pumpernickelbrot handelt, mag der Assemblage eine komische Nuance geben, ist aber für das Verständnis des Bildes irrelevant. Wichtig ist nur, dass die Schriftstücke aus Alltagszusammenhängen stammen und lebensweltliche Vorgänge assoziieren. Sie verleihen dem Undbild dadurch den Charakter eines verdichteten Archivs. In ihrer Zusammenstellung und semiotischen Beschneidung bilden die Schriftsegmente andererseits neue, interne Bedeutungsmuster aus, die Verbindungen erlauben, jedoch keine kohärente Einheit verbürgen. John Elderfields Deutung, wonach die Schriftzüge „burg“ und „[]erde“ menschliche Artefakte und Natürliches kontrastierten, scheint doch sehr bemüht.106 Für die intermateriale Auswertung der Assemblage entscheidend ist, wie die Schriftstücke formal die Rezeption organisieren und als Bestandteile eines Bildes die Wahrnehmung irritieren. Innerhalb der Bildordnung zwingen sie zum genauen Hinschauen, wollen entziffert werden, verweigern aber eine eindeutige Dechiffrierung dadurch, dass ihr materialer Eigenwert wirksam ist. In ihrer Ausrichtung verlaufen sie nicht nur waagerecht, sondern auch schräg, kopfüber oder ringförmig und erzeugen dadurch eine Widerständigkeit der Lektüre und verlangen eine aktive Veränderung des Betrachtungswinkels. Während der Vorgang des Lesens somit einerseits erschwert ist, reduziert sich dessen Komplexitätsgrad andererseits, da es sich größtenteils um Einwortfragmente oder auf wenige Begriffe beschränkte Bruchstücke handelt. Trotz ihrer Teilhabe an einem gemeinsamen Auswahlprinzip treten sie in der Verteilung als singuläre Elemente in Erscheinung, was vor allem daran liegt, dass sie ihren originalen Hintergrund gleich mit importieren. So sind sie nicht nur typographisch, sondern auch in den Materialien ihres 106 Ebd.: 67.
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Aufdrucks verschieden. Hierin liegt eine wesentliche Differenz etwa zu den Schriftbildern Klees, die ja den Hintergrund bloß farblich ausfüllen. Schwitters’ Undbild schafft dagegen eine Assemblage ohne wirklichen Hintergrund bzw. mit einem alternierenden, bei dem sich die Materialien wechselseitig als Folie dienen. Beide zeigen aber die Abhängigkeit der Schrift zu ihrem Trägermedium und die Möglichkeit seiner künstlerischen Verwertung. Bei Schwitters büßt die Schrift zusätzlich noch ihren Effekt der Oberfläche dort ein, wo sie übermalt ist und somit die Grenze zum Bildhaften buchstäblich verschwimmt.107 Die wesentliche Konvergenz zwischen Schrift und Bild geschieht durch das Wort „und“. Es ist das in Schriftgröße und Position eindeutig wichtigste Element. Obwohl Schwitters die Titelwahl ursächlich auf dessen Dominanz im Bild zurückführt und damit suggeriert, sie basiere auf einer zufälligen Auswahl,108 muss sie als bewusster Akt der Sichtbarmachung der Gestaltungsprinzipien von Merz gewertet werden. Denn in einem gewissen Sinn sind alle Merzcollagen ‚Undbilder‘, weil sie eine Verbindung erzeugen zwischen eigentlich unvereinbaren Objekten. Diese Bestrebungen lassen sich auf den Expressionismus insgesamt übertragen, zumal Wassily Kandinsky in einem Artikel von 1927 Kurt Schwitters’ Assemblagetitel aufgreift und rückblickend feststellt: „Das 20. Jahrhundert steht unter dem Zeichen ‚und‘“109 . Im Gegensatz zum Kunstwort „Merz“, das aus dem Begriff Kommerz herrührt und als Nonsens-Neologismus zu verstehen ist, existiert das „und“ im Lexikon der deutschen Sprache und spielt syntaktisch und sprachlogisch eine wichtige Rolle. Als kopulative Konjunktion besitzt es zwar keinen semantischen Eigenwert, gewährleistet aber die Verbindung zweier gleichrangiger Satzteile, Wörter oder Wortgruppen, die es zu einer Sinneinheit zusammenschließt. Schwitters macht sich diese Funktion der Kombinatorik zunutze und pointiert die Gleichwertigkeit in der Verbindung der einzelnen Bestandteile. Während die Sprachwissenschaft das „und“ eigentlich den eingliedrigen Konjunktion zuordnet, erhält es in der As107 Seine farbliche Kontur erhält das Undbild durch die Eigenfarbe der Materialien, die aufgetragenen Farben, die mit einigen Formen zur Deckung kommen, und eine Lasur, die über verschiedene Materialien hinweg verstrichen ist. Besonders in der linken unteren Hälfte zeigt sich ein breiter Pinselstrich, der wesentliche Teile der Schriftstücke verdeckt. Im Gegensatz zu späteren Merzbildern betrifft diese Technik nicht die ganze Assemblage, sondern die Materialien sind vielfach in ihrem ursprünglichen Kolorit erhalten. Da das Bild bis auf das intensive Blau sowie größere Weißflächen und teils durchschimmerndes Rot überwiegend in Erdtönen gehalten ist, kann vermutet werden, dass Schwitters ihre Auswahl gerade aufgrund dieser ähnlichen Farbtöne getroffen hat und eine großflächige Färbung daher nicht mehr notwendig war. 108 Vgl. SCHWITTERS 1927a: 253f. 109 KANDINSKY 1927: 89.
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semblage den Status einer mehrgliedrigen Verknüpfung, da es alle vorkommenden Materialien in ihrem Nebeneinander verbindet. Mit einigem Recht kann man daher von einer Syntax des Bildes sprechen, die nicht aus einer strukturellen Übertragung resultiert, sondern aus der intermaterialen Relation schriftsprachlicher und bildhafter Ausdrücke. Die Überführung ist dabei von beiden Seiten aus möglich. Im Kontrast zur „Suggestivität des Wirklichen“110, die Schwitters sonst mithilfe von Sätzen bewirkt, ist das „und“ nämlich in seiner Schriftbildlichkeit präsent. Als semantische Leerstelle verweigert es eine Lektüre der Imagination, offenbart aber die bildhafte conditio sine qua non, die jedem textuellen Produkt zugrunde liegt. Insgesamt lassen sich für das intermateriale Verhältnis von Text und Bild in Schwitters Assemblage drei Bezugsebenen zusammenfassen: 1. eine Interaktion von Schrift und Bild in Kombination mit anderen (Ding-)Materialien, 2. eine Integration, da der Bildrahmen der Assemblage die Schriftsegmente einfasst, und 3. eine Präsenz der Schriftbildlichkeit durch die Störung der sprachlich-semantischen Referenz. Letzteres verdeutlicht die semiotische Komplexität der Assemblage. Aus Sicht der Intermaterialität, die in dieser Studie als Schaffung einer doppelten Differenz eingeführt wurde,111 fungieren die Schriftstücke in der Assemblage als Signifikate des Bildes, die ihrerseits noch einmal – zumindest bei den semantisch kodierten Begriffen – die Bipolarität von Signifikant und Signifikat verkörpern. Da die Referenz jedoch durch die Beschneidung von Wörtern irritiert wird, kann sich der Bezug nicht entfalten, so dass es zu einer Selbstbezüglichkeit des Bildes in seiner Integrationskompetenz von Schriftstücken kommt und die Trägermedien der Textsegmente als Signifikanten des Bildes einsichtig werden. Wie Reinhard Döhl richtig beobachtet, will Schwitters die „Schrift auch als solche vom Betrachter erkannt und gelesen wissen“112. Somit entsteht eine Betonung der Schrift in ihrer Zeichenfunktion, die die Bedeutungsentfaltung jedoch nachdrücklich irritiert und auf das Gemälde als Artefakt umlenkt. Darin indes besteht das Prinzip von Merz. Durch die Verwendung realer Gegenstände geht es um die Faktizität des Bildraums und das materiale Zusammenwirken der in ihm enthaltenen Objekte. Schwitters’ Credo, Beziehungen schaffen zu wollen, „zwischen allen Dingen der Welt“113, findet sich verdichtet im Undbild wieder und bezeichnet genau dessen intermateriale Konstellation. Schwitters Assemblage erweist sich als Relationsstifter eigentlich nicht zusammengehörender Materialien, als intermateriales Paradigma ohne Ähnlichkeitsbeziehung seiner Bestandteile, als Verbindung von Ding- und Text-Fragmenten im Rahmen des Mediums Bild. 110 SCHMALENBACH 1967: 118. 111 Vgl. das Kapitel ‚Intermaterialität. Definition und Differenzierung‘. 112 DÖHL 1992: 161. 113 SCHWITTERS 1924: 187.
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Abbildung 24: Kurt Schwitters’ Das Undbild (1919)
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Z USAMMENFASSUNG In den verschiedenen Typen der Annäherung, Verbindung und Vereinigung von Literatur und Malerei im Expressionismus offenbaren sich die komplexen intermaterialen Möglichkeiten, beide Künste in ihrer semiotischen Differenz aufeinander zu beziehen. Bei allen diskutierten Text-Bild-Typen – Bildgedicht, Illustration, Ekphrasis, Schriftbild, Initiale, Assemblage – steht der materiale Zeichenträger in seiner Funktion bildnerischer oder sprachlicher Bedeutungsentfaltung im Zentrum und wird als gemeinsame (inter)materiale Prämisse ästhetischer Produktion und Erfahrung anvisiert. In Kasimir Edschmids Bilder. Lyrische Projektionen rekurrieren die Bildgedichte auf ihre Bezugsbilder rein sprachlich. Die Gemälde sind material apräsent, durch die Nennung von Bildstruktur, Flächen- und Farbwirkung jedoch in ihrer Materialität thematisiert und zusätzlich durch rhetorische und metrische Verfahren formal adaptiert. In Johannes Ittens Ekphraseis Analysen Alter Meister sind Bild und Text material kopräsent und nacheinander angeordnet. In einer Transposition von Struktur und Darstellungsmodus der Bezugsbilder versucht Itten den semiotischen Unterschied von Schrift- und Bildzeichen zu überwinden und eine Ähnlichkeitsbeziehung des abstrakten sprachlichen Zeichenträgers mit seinem Bezeichneten herzustellen. Da die beschriebenen Bilder zusätzlich zum Thema gemacht sind, geschieht die Text-Bild-Relation auf drei Ebenen: der materialen, formalen und inhaltlichen. Alle drei Faktoren sind auch für die Illustration Kirchners von Heyms Alle Landschaften haben kennzeichnend, wobei hier Textund Bildanteile in einem materialen Nebeneinander angeordnet sind und an den Rändern sogar ineinander übergehen. Die materiale Kohärenz beider semiotischer Gebilde schafft Kirchner, indem er sie in denselben Holzstock schnitzt. Eine Steigerung der ästhetischen Dichte zeigt Klees Einst dem Grau der Nacht enttaucht, in dem Schrift- und Bildmaterial miteinander zu einer untrennbaren intermaterialen Einheit fusionieren. Da im Verwischen der Grenze von skripturaler und bildnerischer Darstellung der Inhalt des Gedichtes nicht vom materialen Zeichenträger zu lösen ist, bleibt dessen Lektüre an die syntaktisch dichten Farbformen gebunden. Indem das Gedicht zusätzlich seine eigene Entstehung aus einer Farbe imaginiert, erreicht Klee ein komplexes semantisch-materiales Bedingungsgefüge. Die Bearbeitungen von Initialen im Expressionismus realisieren verschiedene intermateriale Kombinationsmöglichkeiten. Die wichtigste besteht in der Hervorhebung der Bildlichkeit des Schriftmaterials. Darüber hinaus entstehen in der Gestaltung figuraler Initialen materiale Text-Bild-Verschränkungen en miniature. Da es sich bei den Initialen jedoch um einzelne Buchstaben handelt, weisen Schrift und Bild keine semantische Entsprechung auf. Dies lässt sich auch für Schwitters Assemblage Das Undbild konstatieren. Der Merzkünstler arbeitet mit Brüchen semantischer Entfaltung, da er Schrift-, Bild- und Ding-Materialien aus ihren ursprünglichen Bedeu-
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tungszusammenhängen löst und zu neuen Sinn- und Materialeinheiten verbindet. Die Schriftfragmente sind dabei integrale Bestandteile des Bildganzen und stehen zugleich in intermaterialer Relation zu anderen eingefügten Bildelementen. Die untersuchten Text-Bild-Typen bestätigen das für die Theorie der Intermaterialität entwickelte Kriterium der doppelten Differenz. Durchweg geht es den expressionistischen Künstlern um eine Verwendung des einen materialen Zeichenträgers in die Richtung des Materials einer anderen Kunst. Die Bezugnahmen können dabei indirekt, also über die Inhaltsseite des Bezeichnens, erfolgen oder direkt, also durch die Integration, Kombination oder Fusion des materialen Zeichenträgers und seiner semiotischen Bipolarität. Für alle Text-Bild-Typen gilt aber, dass sie eine ästhetische Dichte erzeugen, die für intermateriale Kunstgebilde grundsätzlich charakteristisch ist.
V. Zwischen Schrift und Film
1. L ITERARISCHE A NEIGNUNG
EINES NEUEN
M EDIUMS
Wie immer, wenn ein neues Medium in das System der Künste eintritt und es erweitert, zumal wenn es sich der Inhalte eines anderen bedient, setzt auch im Falle des Films eine heftige Medienkonkurrenz ein. Ist die Frühphase von 1895 bis ca. 1910 noch durch relativ kurze Filme gekennzeichnet, die in Varietés und auf Jahrmärkten als eine Unterhaltungsnummer unter vielen präsentiert werden, so beginnt durch technische Fortschritte ab 1913 eine Orientierung des Kinos an der Literatur, deren Themen und Geschichten sich als ‚Vorlagen‘ für längere Filme besonders eignen. Gerade diese Adaptionen rufen zahlreiche Kritiker auf den Plan, die sich über Wert und Unwert des Films äußern. Der Tenor reicht dabei von einer emphatischen Aufnahme bis hin zu massiver Ablehnung,1 wobei vor allem konservative Kreise sich über das Massenmedium als Kulturverfall auslassen, indem sie die „Gefahren des Kinematographentheaters“ 2 beschwören oder die „physische Gesundheit des Volkes“3 bedroht sehen. Auch im literarischen Expressionismus werden Film und Kino nicht vorbehaltlos bejaht, sondern kontrovers aufgenommen.4 Was ihn allerdings von anderen zeitgenössischen Auseinandersetzungen unter-
1
Vgl. KAES 1978: 1-35.
2
GAUPP 1911/12: 64.
3
NOACK 1912: 73.
4
Der Einschätzung von Andreas Kramer und Jan Volker Röhnert, wonach der Expressionismus eine „bedingungslose Hingabe“ (KRAMER/RÖHNERT 2009: 183) an das neue Medium zelebriere, muss widersprochen werden. Mit Jörg Schweinitz ist vielmehr ein „ambivalente[r] Zug von Akzeptanz und Distanz“ (SCHWEINITZ 1992: 150) zu beobachten, wie dies 1975 auch schon Silvio Vietta und Dirk Kemper feststellen. Nach einer Analyse von Hoddis’ Kinematograph kommen sie zu dem Ergebnis, dass expressionistische Literatur die filmischen Darstellungsformen zwar adaptiere, sie aber zugleich „aus einer kritischen, z.T. ironischen Distanz“ (VIETTA/KEMPER 1975: 125) spiegeln würden.
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scheidet, ist die Tatsache, dass das Für und Wider des Films nicht bloß in Zeitungsartikeln oder Programmatiken diskutiert wird, sondern auch in die Literatur selbst Einzug hält. Im literarischen Expressionismus finden sich zahlreiche Experimente mit dem neuen Medium bis hin zur Übernahme seiner ästhetischen Verfahren. „Vom literarischen Material her ist der frühe Expressionismus die erste Phase, in der eine strukturelle Korrespondenz literarischer und filmischer Darstellungstechniken sich nachweisen läßt.“5 Beispiele für diese literarische Aneignung filmischer Darstellungsverfahren sind neben der Forderung von Alfred Döblin nach einem „Kinostil“ 6 die montageartigen Stationen-Dramen Georg Kaisers, die lyrischen Verarbeitungen des neuen Mediums bei George Grosz, Claire Goll und vielen anderen oder Das Kinobuch von Kurt Pinthus, das sich als Etablierung einer neuen literarischen Textform, des Kinostücks, versteht. Im Unterschied zu den Text-Bild Experimenten und der Integration von Zwischentiteln im Film der Expressionisten sind die Bezüge expressionistischer Literatur auf das „Pan-optikum“7 Kino durchweg durch eine Abwesenheit des anderen Materials charakterisiert. In keinem der literarischen Beispiele haben wir es mit einer Kopräsenz filmischer Bewegungsbilder und schriftsprachlicher Zeichen zu tun; auf die Filme wird stattdessen ausschließlich sprachlich oder durch die Transposition filmischer Verfahren verwiesen. Dieser indirekte Bezug scheint daher weit weniger stark als bei Text-Bild-Hybridgebilden, die ihre ästhetische Dichte durch die Verschränkung beider Materialien erreichen. Dennoch erweisen sich die Rekurse häufig als intermaterial, weil Kino und Film in ihren technischen Bedingungen thematisiert werden. Gerade dadurch, dass in der Frühphase die Auseinandersetzung mit dem Film über dessen institutionelle und technische Voraussetzungen sowie rezeptionsästhetische Effekte geführt wird, verarbeiten expressionistische Literaten in ihren Texte so verschiedene Elemente des neuen Mediums wie Projektor, Leinwand und Kinosaal als tatsächlich materiale Bedingungen sowie deren Auswirkungen auf die Atmosphäre des Vorführraums und die Faszination der visuellen Unmittelbarkeit des Bewegungsbildes. Anders als bei der Verbindung von Literatur und Malerei können sie dabei auf keine Tradition der künstlerischen Kooperation zurückgreifen, sondern erproben neue literarische Verfahren, Film und Kino verbal wie formal auszudrücken. So entwickeln sich Schreibstrategien, die den metaphorischen Kontakt zum Film durch strukturelle Analogien intensivieren, indem etwa die Montagetechnik durch den Reihungsstil nachgebildet wird. Daneben finden sich rein thematische Allusionen auf konkrete Filme, typische Filmstile wie Slapstick-Komödien oder Filmstars, die als intermedial eingestuft werden müs5
VIETTA 1975: 296.
6
DÖBLIN 1913: 121.
7
MIERENDORFF 1920: 139.
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sen, weil diese nicht auf die technisch-materialen Bedingungen des Kinos abzielen, sondern auf die medial erzeugten Bilder bzw. die im Umfeld von Film und Kino entstehenden Diskurse. Da die vielfältigen Bezüge der Literatur zum Film für den Expressionismus noch nicht umfassend erforscht wurden, soll es im Folgenden nicht nur um die engeren intermaterialen Rekurse gehen, sondern auch um die weiteren intermedialen. Ziel soll es sein, im ersten Teil dieses Kapitels die ästhetische Auseinandersetzung sowie die thematische und formale Aneignung des Films durch die Literatur mithilfe der Kategorien von Intermedialität und Intermaterialität in ihren verschiedenen Modi zu analysieren. Im zweiten Teil des Kapitels wird es dann unter einem Wechsel der Perspektive um die Auseinandersetzung des expressionistischen Films mit der Buchkultur und die verschiedenen intermaterialen Integrationsverfahren von Schrift ins bewegte Filmbild gehen.
Filmisches Schreiben. Kurt Pinthus’ „Kinobuch“ und die Emanzipation des Filmskripts von Drama, Roman und Theater Das 1913 im Kurt Wolff Verlag erschienene Kinobuch von Kurt Pinthus stellt den ersten umfassenden Versuch dar, neue literarische Textformen für das Kino zu erproben. Es versammelt 15 Kinostücke von Autorinnen und Autoren wie Richard A. Bermann, Walter Hasenclever, Else Lasker-Schüler, Max Brod, Albert Ehrenstein, Ludwig Rubiner, Paul Zech und Heinrich Lautensack und versteht sich als „positive Antwort“ auf die „dünkelhafte Gegnerschaft“8 gegenüber dem Film. Die Motivation für den Band, dessen Beurteilung in der Forschung zwischen einem „legendäre[n] Experiment“9 und „intellektuelle[n] Spiel“10 changiert, besteht keineswegs darin, den Film literarisch zu rechtfertigen. Im Gegenteil wollen Pinthus und seine Mitstreiter ihn und damit das Filmskript von klassischen Literaturformen emanzipieren. In seiner Einleitung von 1913 ebenso wie in seinem Vorwort zur dokumentarischen Neuauflage von 1963 plädiert Pinthus für eine fundamentale Trennung des Kinos von Dichtung und Theater: „Der Irrweg und Niedergang des Kinos begann in dem Augenblick, als das Kino sein eigentliches Wesen vergaß, unselbständig wurde, sich anschickte, vorhandene Werke der Dichtung zu verfilmen.“11 Die Bezeichnung Kinostück bildet vor diesem Hintergrund eine Gattungsneuschöpfung, die sich vom Kinodrama als einer filmischen Bearbeitung von Romanen oder Theaterdramen absetzt. Als wichtigstes Argument fungiert die Be8
PINTHUS 1913/14a: 12.
9
KNICKMANN 2008: 21.
10
HELLER 1985: 78.
11
PINTHUS 1913/14a: 21.
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obachtung, dass Roman-‚Vorlagen‘ oder Theaterdramen nicht originär für den Film geschrieben werden und daher für dessen „rein visuelle Technik“12 inadäquat seien. Wie viele seiner Zeitgenossen sieht auch Pinthus die Möglichkeit des Tonfilms nicht voraus, weshalb es in seinen Leitlinien für das Kinostück vor allem um die Sichtbarkeit des Filmbildes und den darin agierenden stummen Darsteller als originäre Merkmale geht. Zwar gesteht er dem Theater ebenfalls die Zentralstellung des Menschen zu, doch seien dessen Handlungen immer an das Wort und den Dialog gebunden. Im (Stumm-)Film dagegen müsse eine ganz andere Körpersprache ausgebildet werden. Neben dem Menschen, der für Pinthus die drei ‚Ausdrucksmittel‘ des Films – unbegrenztes ‚Milieu‘, ‚Bewegung‘ und ‚Trick‘ – verknüpft,13 listet er eine ganze Reihe weiterer Merkmale auf, die dem Film aufgrund seiner technischen Möglichkeiten und seiner Rezeptionsform zukommen und im Kinostück als innovativer Textform berücksichtigt werden müssten. Hierzu zählen vor allem der Ausbruch aus dem Alltag und die Erweiterung des Erlebnishorizontes durch Darstellung exotischer Länder, die Verbindung des Realistischen mit Abenteuer und Phantastik sowie der Einsatz von Tricktechnik. Alle diese Faktoren münden letztlich in einer Schlussfolgerung, die vom Film als Massenphänomen ausgeht und ihm den Kunstcharakter abspricht: „Und so müssen sich die ernsten Kunstfreunde mit der vielleicht schmerzlichen Erkenntnis abfinden, daß der Kinobesucher das Ungewöhnliche, das Übertriebene im Kino sucht, neben dem Exakt-Tatsächlichen und Grotesken vor allem das, was man Kitsch genannt hat.“14 Während sich andere wie Georg Lukács oder Sergei Eisenstein zu Beginn des 20. Jahrhunderts um eine ästhetische Legitimation des Films bemühen, versucht Pinthus ihn nach dem Geschmack des Publikums und damit konträr zur so genannten ‚Hochkultur‘ zu definieren. Pinthus liegt dabei konform mit vielen Künstlern der Avantgarde, aber auch kulturkonservativen Literaten wie Thomas Mann, den das Kino fasziniert, der ihm jedoch jeglichen Kunstwert abspricht.15 Im Gegensatz zum Standpunkt eines Kulturphilo12
PINTHUS 1913/14a: 16.
13
Wie Heinz Heller richtig beobachtet, handelt es sich nicht im eigentlichen Sinne um Ausdrucksmittel. Pinthus vermischt an dieser Stelle filmtechnische und handlungsorientierte Kategorien. Vgl. HELLER 1985: 71f.
14
PINTHUS 1913/14a: 23.
15
In seinem Artikel Über den Film, erstmals publiziert im August 1928 in Schünemanns Monatsheften schreibt Thomas Mann: „Ich besuche sehr häufig Filmhäuser und werde des musikalisch gewürzten Schauvergnügens stundenlang nicht müde; […] Ich sprach von einer ‚Lebenserscheinung‘ – denn mit Kunst hat, glaube ich, verzeihen Sie mir, der Film nicht viel zu schaffen, und ich halte es für verfehlt, mit der Sphäre der Kunst entnommenen Kriterien an ihn heranzutreten.“ MANN 1928: 164. [Herv. i.O.] Ganz ähnlich klingt dies bei Walter Hasenclever, einem der Beiträger für das Kinobuch, der in seinem
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sophen oder Regisseurs ist Pinthus’ Anliegen ein praktisch-literarisches, kein genuin filmisches. Zwar soll das Kinobuch auch dem Film neue Impulse geben, in erster Linie experimentieren die Stücke jedoch mit der literarischen Umsetzung des zeitgenössischen, am Massenpublikum orientierten Programms mit all seinen Burlesken und simplen Szenarien. Zudem erweist sich das Kino für Pinthus nur in Bezug auf seine Mittel und Themen als ‚Nicht-Kunst‘. Künstlerisch legitimiert ist es dagegen aufgrund seiner Wirkung. In einer emphatischen Anrufung an eine Ahnenreihe von Dramentheoretikern heißt es: „Also was höchste Kunst will (o Aristoteles, Lessing, Schiller, Nietzsche) erreicht das Kinostück mit rohen, primitiven Mitteln: Menschlichstes, Metaphysisches aufrütteln ... edler, glücklicher werden (ohne deshalb Kunst zu sein).“16 Die Ambivalenz, die aus diesem Passus spricht, kennzeichnet das Projekt Kinobuch auch im Hinblick auf die Varietät seiner Stücke. Gleich zu Beginn der Einleitung von 1913 überlässt es Pinthus dem Leser, „dies Kinobuch für einen unterhaltsamen Scherz zu erachten oder für ein ernstliches Bemühen, dem in Verlegenheit harrenden Kino neue Stücke und Anregungen zu schenken.“17 Diese spielerische Offenheit gegenüber der Rezeption macht klar, dass den Herausgeber das abgelieferte Ergebnis seiner Freunde nicht völlig überzeugt. Zugleich dürfen seine formulierten Kriterien nicht als Maßstab für die versammelten Stücke gelten. Weder in Thema noch in Form stellt das Kinobuch eine Einheit dar. Das Genrespektrum reicht von Liebeskomödien und -tragödien über Historiendramen bis hin zu sozialkritischen Massenstücken; der Darstellungsmodus variiert von klassischen Erzählmustern bis hin zu nummerierten Bildfolgen, die formal den Montagecharakter des Films übernehmen. Unverkennbar orientieren sich viele der Stücke intermedial am Slapstick-Stil der 1910er Jahre und reihen sich so in eine „Nonsense-Tradition“18 ein, deren wesentliches Kennzeichen Max Brod treffend als „filmnotwendige Verwicklung“19 bezeichnet. Die Heterogenität der Sammlung dokumentiert nicht zuletzt der Abdruck eines Briefs von Franz Blei, in dem dieser es ablehnt ein Kinostück beizusteuern – nicht ohne mit den „Lebensläufe[n] unserer Zeit“20 die Anrebekannten Artikel Der Kintopp als Erzieher. Eine Apologie schreibt: „Die Feindschaft gegen den Kintopp beruht auf einem Mißverständnis: er ist keine Kunst im Sinne des Theaters, keine sterilisierte Geistigkeit; er ist durchaus keine Idee. […] Der Kintopp bleibt etwas Amerikanisches, Geniales, Kitschiges. Das ist seine Volkstümlichkeit; so ist er gut.“ HASENCLEVER 1913: 48. 16
PINTHUS 1913/14a: 25.
17
Ebd.: 19.
18
PAECH 1997: 95.
19
BROD 1913/14: 74.
20
BLEI 1913/14: 149.
208 | I NTERMATERIALITÄT
gung zu einem Alltagskino zu formulieren, das Pinthus’ Konzept des Wunderbaren und Ungewöhnlichen wesentlich widerspricht. Bei der Selbstkritik Pinthus’, der kurz vor seinem Tod eine zweite KinoAnthologie mit dem Titel Flegeljahre des Films plante,21 ist es nicht geblieben. So räsoniert ein Zeitgenosse 1914, das Projekt sei „fürchterlich mißlungen“22, und selbst Richard A. Bermann, der gleich zwei Stücke zum Kinobuch beisteuert, ist mit dem ersten „Versuch der hohen literarischen Muse, mit dem Film zu flirten“23, alles andere als zufrieden. In einem Artikel für die Schaubühne mit dem Titel Gedrucktes Kino vom Oktober 1913 beklagt er den mangelnden Ernst seiner Autorenkollegen: Es ist bedauerlich, daß von so viel Glorie nichts zu vermelden ist. Ein Teil der Autoren hat sich aus der Affäre gezogen; diese schrieben zwar keine besonderen Kinostücke, aber sehr nette kleine Prosaskizzen, maskiert als Kinostücke. Kino-Buchdramen. Oder vielmehr Novelletten, die sich inhaltlich so halbwegs den Begrenzungen und Möglichkeiten des Kinofilms unterwerfen, die etwas von der Abenteuerlichkeit, Zapplichkeit des Kinos haben, die scheinheilig so tun, als wären sie Film-Inhalte und die doch nichts sind, als ein Ulk, ein Atelierfest, ein Maskenschwank.24
Auch die Forschung hat das Kinobuch mit Negativurteilen bedacht. Victor Žmegač etwa nennt es eine literarische und filmische „Enttäuschung“25 und Heinz Heller beobachtet gleich einen doppelten Widerspruch: zwischen dem „ästhetischen Niveau, das die eigentliche ‚expressionistische‘ Literaturproduktion der Autoren hätte erwarten lassen, und dem Trivialcharakter der Kinostücke“ einerseits und der „dominant ‚literarischen‘ Darstellungsweise der Szenarien“26 und dem Anspruch filmischen Sehens andererseits. Zur Verteidigung des Kinobuchs sei vorgebracht, dass die meisten Autoren gar nicht den Anspruch stellen, die gleiche Qualität an den Tag zu legen wie in ihren ‚eigentlichen‘ literarischen Arbeiten. Gerade die Orientierung am Status quo des Films entschuldigt viele der banal anmutenden Versuche, die überdies vielfach einen ironischen Gestus in der Umsetzung der Idee erkennen lassen.27 Die Stücke sollen den Film nicht revolutionieren, sondern einen adäquaten sprachlichen Modus seiner zeitgenössischen Erscheinungsweise finden. Dass dies auf Kosten der literarischen Qualität geht, hat damit zu tun, dass die Texte gerade 21
Vgl. KNICKMANN 2008: 11, 92-95.
22
ELSNER 1914: 142.
23
BERMANN 1998: 96.
24
BERMANN 1913: 1028f.
25
ŽMEGAČ 1970: 243.
26
HELLER 1985: 75. [Herv. i.O.]
27
Vgl. SCHWEINITZ 1994: 77.
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im Hinblick auf ihre Visualisierung verfasst werden. Ihre Adressaten sind keine Leser, sondern das zeitgenössische Kinopublikum. Aufgrund des Anspruchs der Kinotauglichkeit verbieten sich komplexe Passagen, da sie in der Verfilmung ohnehin nicht zur Geltung kommen. Bei vielen der Stücke erzeugt daher die Imitation der Kameraperspektive parataktisch aneinander gereihte Schilderungen äußerer Vorgänge, die erzähltechnisch mit Gérard Genettes externer Fokalisierung beschreibbar sind und den Film in seiner raschen Bildabfolge simulieren.28 Natürlich gilt dies nicht für alle Stücke gleichermaßen. Ein Text wie Heinrich Lautensacks Zwischen Himmel und Erde, der als einziger vor seiner Veröffentlichung im Kinobuch bereits verfilmt wurde, kann in seinen Bildfolgen die professionelle Form eines Filmskripts vorweisen, wogegen etwa Philipp Kellers Die Seuche in der Verwendung eines homodiegetischen Erzählers als ‚Vorlage‘ für einen Stummfilm ungeeignet scheint. Als ‚Drehbücher‘ untauglich erweisen sich gerade die Stücke, in denen die Autoren nach ihren gewohnten literarischen Mustern schreiben, wie dies bei Paul Zech und Else Lasker-Schüler der Fall ist.29 Während also viele der Stücke in ihrer filmischen Schreibweise eine kreative Annäherung an das Kino schuldig bleiben, kann bei den erzählten Geschichten eine gegenteilige Beobachtung gemacht werden. Neben albern wirkenden Liebesverwicklungen (Frantisek Langer: Der Musterkellner, Elsa Asenijeff: Die Orchideenbraut, Heinrich Lautensack: Zwischen Himmel und Erde) und sozialkritischen Themen (Ludwig Rubiner: Der Aufstand, Paul Zech: Der große Streik) finden sich Stücke, die verschiedene Künste zum Gegenstand haben sowie intermedial und intermaterial auf diese rekurrieren. Richard A. Bermanns unter seinem Pseudonym Arnold Höllriegel verfasstes Galeotto beispielsweise verarbeitet die enorme Wirkung des Kinos und präsentiert eine Szenerie, bei der Film- und Realitätsebene ineinander greifen. So sorgt der Kinobesuch einer jungen Frau dafür, dass sie ihren Mann für den Geliebten verlässt, weil sich ein analoges Dreiecksverhältnis im geschauten Film auf gleiche Weise aufgelöst hat. Walter Hasenclevers Die Hochzeitsnacht handelt von einem lungenkranken Maler und seiner Verlobten, einer Tänzerin, die sich für dessen lebensnotwendigen Kuraufenthalt an einen Grafen verkauft. Wie in Oscar Wildes Das Bildnis des Dorian Gray erfährt die Geschichte ihre selbstreflexive und visuelle Potenzierung durch die Anfertigung eines Bildes, in dessen Darstellung sich Traum, Realität und Kunst überlappen. Besonders aufschlussreich für den hier anvisierten Zusammenhang von Literatur und Film ist der Umstand, dass drei der Kinostücke (Richard A. Bermann: Leier und Schreibma28
Zu mediensimulierenden Schreibstrategien vgl. allgemein LÖSER 1999.
29
Vgl. SCHUHMANN 2000: 59. Schwer vorstellbar ist z.B., wie der Satz: „Nur wer über ganz feine Sinne verfügt, kann die Mächte erraten, die die Luft beschweren“ aus Zechs Der große Streik in eine Regieanweisung umgesetzt werden könnte. ZECH 1913/14: 119.
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schine, Max Brod: Ein Tag aus dem Leben Kühnebecks, des jungen Idealisten, Kurt Pinthus: Die verrückte Lokomotive oder Abenteuer einer Hochzeitsnacht) die Entstehungsidee des Kinobuchs aufgreifen und das Verhältnis poetischer und filmischer Materialität verhandeln. Aufgrund dieser besonderen Stellung innerhalb des Kinobuchs sollen sie in den folgenden Kapiteln genauer analysiert werden. Auch wenn die Thematisierung von Literatur und Film vor allem humoristisch bis hin zur grotesken Übertreibung geschieht, lassen die Verarbeitungen Rückschlüsse darauf zu, welche kulturelle Rolle die Autoren ihnen zusprechen und wie sie ihr Verhältnis bestimmen. Zumindest bei diesen Stücken löst das Kinobuch seinen Anspruch ein, „kinematographisch zu sehen“30, da es den Film zum Thema der Literatur macht und die eigenen Schreibverfahren den Bedingungen des Films anpasst. Alle drei Stücke kennzeichnet dabei eine doppelte Perspektive: die metaphorisch intermediale auf den Film als Thema der Literatur und – vor dem Hintergrund einer möglichen Verfilmung – eine potentiell intermateriale auf die Schrift im Filmbild. In dieser Konstellation sind die Stücke mehr als nur „literarische Etüden“31 oder „Skizzen“32. Sie thematisieren die Auswirkungen von Literatur und Film aufeinander, wenn sie in der Darstellungsform des jeweils anderen erscheinen. Beide Perspektiven gilt es im Folgenden zu berücksichtigen.
Kinostück I. ‚Vereinigung der altmodischen Poesie mit der modernen Technik‘. Kurt Pinthus’ „Die verrückte Lokomotive oder Abenteuer einer Hochzeitsfahrt. Ein großer Film“ Kurt Pinthus’ eigene praktische Umsetzung für das Kinobuch erfüllt in nuce die von ihm entwickelten Kriterien von unbegrenztem ‚Milieu‘, ‚Bewegung‘ und ‚Situation‘ bzw. ‚Trick‘. In einem phantasiereichen, um groteske Ausstattung bemühten Dreiakter parallelisiert er die Liebesgeschichte des Dichters Peter Pabst und des Fräuleins Dr. Ing. Erna Eisen mit der Beziehung des Lokomotivführers Nikolaus Schuckert zu seiner untreuen Frau. Während beide Paare zunächst visuell über Parallelmontagen verknüpft sind, führt die Hochzeitsreise den Dichter und die Ingenieurin auch auf Handlungsebene mit dem verrückten Lokomotivführer in einer kuriosen Zugfahrt zusammen. Im zweiten Akt kontrastiert das Kinostück das verliebte Paar mit dem eifersüchtigen Schuckert, den die Vision eines Stelldicheins seiner Frau mit dem Varieté-Komiker Fred Cloß die Kontrolle über sich und den Zug verlieren lässt. In wahnwitzigem Tempo rast dieser durch Landschaften, über Meere und 30
PINTHUS 1913/14a: 28.
31
PAECH 1997: 94.
32
ŽMEGAČ 1970: 243.
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Berge, und kommt erst durch das beherzte Eingreifen Erna Eisens im Urwald einer einsamen Insel zum Stehen. Im dritten Akt entwickelt sich eine Robinsonade, die ihr Happy End in der Rettung der Gestrandeten findet. Die Umsetzung der Gestaltungsprinzipien lässt sich an verschiedenen Aspekten festmachen. Neben dem unterschiedlichen „soziale[n] Lebenskreis“ 33 , dem die Figuren entspringen, variiert die Zugfahrt auch den geographischen Schauplatz des Geschehens und führt den Zuschauer – wie Pinthus einleitend im Kinobuch schreibt – „aus der grauenhaften Gewöhnlichkeit des Alltags in die Buntheit der Welt“34: Und man sieht nun den Zug durch die schönsten Gegenden Deutschlands rasen: Über Weichen durch die Bahnhöfe, durch liebliche Landschaften Thüringens. Über bewaldete Berge an alten Städten vorbei (etwa Nürnberg). Der Zug knattert über Brücken, tobt durch Tunnels hüpft wie ein Fisch über Flüsse, und plötzlich springt er vom Ufer in einen See hinab (etwa den Bodensee) und durchschwimmt ihn wie eine Seeschlange. Dann nähert er sich dem gezackten Profil der Alpen, saust die Berge hinauf, an friedlichen Alpenseen und Riesenhotels vorbei … Da erhebt er sich in die Lüfte und schwebt wie ein fliegender Wurm über eisglitzernde Gletscher, über unendliche Abgründe. Und er senkt sich wieder hinab in die oberitalienische Ebene, rast an den dunkelblauen Seen vorbei und stürmt durch Italien … Verona … Bologna … Florenz … Umbrien mit seinen Felsennestern …35
Auch die anderen beiden Ausdrucksmittel ‚Bewegung‘ und ‚Trick‘ kommen in dieser fulminanten Szene zum Einsatz, die Joachim Paech an den Film Voyage à travers l’impossible von Georges Méliès erinnern lässt.36 Pinthus, der die Bewegung als „Geste und als Tempo“37 versteht, realisiert beide Komponenten durch die rasende Fahrt der Eisenbahn und die völlig aufgelösten Passagiere. Erst in den Reaktionen der Figuren – wie dem Millionär, der seine Geldscheine wegwirft oder einigen Passagieren, die in die Gepäcknetze klettern – verknüpfen sich die drei Modi zu einem Identifikationsraum für den Zuschauer, und das Kinostück erhält für Pinthus seine originäre ästhetische Form: „Der handelnde Mensch, das Menschenschicksal knüpft aus Milieu, Bewegung und Situation das Kinostück.“38 Dass die so genannten Ausdrucksmittel in Die verrückte Lokomotive den kompositorischen Rahmen bilden, liegt auf der Hand. Neben dieser offensichtlichen Lesart kann eine zweite den Zusammenhang von Literatur und Film aufdecken, wie 33
PINTHUS 1913/14b: 77.
34
PINTHUS 1913/14a: 25f.
35
PINTHUS 1913/14b: 81.
36
Vgl. PAECH 1997: 95.
37
PINTHUS 1913/14a: 26.
38
Ebd.
212 | I NTERMATERIALITÄT
er im Sinne einer ungleichen Vermählung und als intermediale Allegorie zur Darstellung kommt. So werden beide Kulturtechniken auf parodistische Weise durch die Protagonisten verkörpert: In Peter Pabst als dem altmodischen Dichtertypus und in Dr. Ing. Erna Eisen – nomen est omen – als Personifizierung moderner Technik. Pinthus konstruiert das Verhältnis der beiden klischeeartig, indem er die Braut als souveräne und zupackende Instanz inszeniert, während der Bräutigam als lebensferner Schöngeist auftritt. Bereits beim Geständnis seiner Liebe schneidet Erna dem der Sprache verpflichteten Dichter das Wort ab und setzt das in die Tat um, was Peter Pabst durch seine Verse umständlich ausdrücken möchte: In einer schönen Sommernacht spazieren im Park hinter der weißen Villa Mama Eisens der Dichter mit Fräulein Dr. Ing. Erna. Man merkt, der Schüchterne will eine Liebeserklärung vorbringen, aber das Fräulein übersieht diese Absicht mit lächelnder Anmut. Schließlich zieht Peter ein Gedicht hervor, um es der Geliebten vorzulesen. Aber nach einigen Versen reißt ihm Erna das Blatt aus der Hand und umhalst lachend den Verdutzten. Eng umschlungen schreiten sie durch den blühenden nächtlichen Garten im Mondschein zu der Terrasse der Villa, auf der plötzlich im hellen Lichterglanz Mama Eisen freundlich segnend erscheint.39
In der offensichtlichen Inadäquatheit des Wortes tritt bei dieser Szene die unterschiedliche Gewichtung zutage, die Pinthus Literatur und Film im Kinostück gewährt. Nicht mehr die (poetische) Sprache zeigt sich als zielführend, sondern die Geste als unmittelbarer Ausdruck. Sichtbarkeit tritt an die Stelle von Lesbarkeit. In seiner Einleitung zum Kinobuch treibt Pinthus die Ablehnung der Schrift für den Film so weit, dass er jegliche Verwendung von Zwischentiteln zurückweist. Die „primitiv erklärenden Texttafeln“40 kommen seiner Meinung nach nur dort zum Einsatz, wo der Film es nicht schaffe, mit den eigenen (visuellen) Mitteln verständlich zu sein. Folgerichtig sieht Die verrückte Lokomotive an keiner Stelle vor, die Gedichte in ihrer materialen Präsenz einzublenden. Auch im Falle einer Verfilmung würde es also zu keiner intermaterialen Beziehung kommen, sondern die Literatur wäre allegorisch zitiert über die Veranschaulichung ihrer Imaginationsebene: Peter nimmt […] seine Mappe mit den Papieren wieder aus dem Gepäcknetz und schickt sich gerade an, mit würdiger Miene ein Gedicht vorzulesen. Da packt Erna die Mappe, reißt die Papiere heraus, und schnell streut sie die Dichtungen aus dem Fenster. Und siehe: all die Gedichte verwandeln sich in bunte Vögel und fliegen lustig über die Landschaft dahin. Peter zeigt zuerst ein mürrisches Gesicht, das aber immer klarer und glücklicher wird, als er bald in
39
PINTHUS 1913/14b: 78.
40
PINTHUS 1913/14a: 21.
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die leuchtende Landschaft, bald in das fröhlich lockende Gesicht Ernas blickt. Da sinken sich die beiden heiß in die Arme …41
Die Verwandlung der Verse in bunte Vögel demonstriert die Visualisierung literarischer Sprache im Filmbild. Assoziationen von Leichtigkeit und Befreiung bewirken eine Aufwertung der sichtbaren Welt gegenüber der abstrakten Schrift. Dieses ungleiche Verhältnis ist auch im Handlungsgefüge und der Figurenzeichnung umgesetzt. Durchgängig erweist sich der Dichter als unfähig, auf neue Situationen angemessen zu reagieren, wogegen Erna selbstbewusst und souverän in Erscheinung tritt. Während sich etwa der Dichter „die Haare rauft und anklagend die Arme zum Himmel schwingt, geht Erna, ruhig und entschlossen, beschwichtigend im Gang umher“42 und bringt den Zug aufgrund ihrer technischen Kenntnisse zum Stehen. Unter Ernas Führung findet sich auch eine gesellschaftliche Form des Zusammenlebens auf der Insel, der Dichter dagegen ist von der Gesellschaft abgeschieden und wendet sich der Natur zu: Über dies groteske Leben und Treiben herrscht als Königin Dr. Ing. Erna, die weisend und ordnend umhergeht, während der Dichter Peter Pabst, da er zu keiner Arbeit brauchbar ist, – ein zweiter Homer – am Strand entlang schreitet und ein Epos über das Leben in der Natur beginnt.43
Auch wenn die ausgewählten Zitate einen solchen Eindruck vermitteln, geht es in Pinthus’ Kinostück nicht um eine komplette Absage an die Poesie. Zwar übernimmt die Technik die Führung, die Poesie soll jedoch nicht überwunden werden, vielmehr führt Pinthus Literatur und (Film-)Technik im Liebespaar, ebenso wie im Kinostück als neuer Gattung, zusammen. Symbolisiert wird diese Einheit in der Hochzeit des Dichters und der Ingenieurin, vor allem in einem während der Feier aufgeführten Tanz: „Wir erleben die Hochzeit Ernas und Peters. […] Nach Ende der Tafel wird von einigen der jüngeren Gäste ein kleines Ballett aufgeführt, darstellend die Vereinigung der altmodischen Poesie mit der modernen Technik. [Schäferkostüme und Fliegeranzüge.]“ 44. Besonders die in Klammern gesetzte Regieanweisung zeigt, 41
PINTHUS 1913/14b: 79f.
42
Ebd.: 82.
43
Ebd.: 84. Mit der expliziten Nennung des ersten abendländischen Dichters spielt Pinthus auch auf das Kinostück von Albert Ehrenstein Der Tod Homers oder Das Martyrium eines Dichters an, das in 22 Bildern der Frage nach dem Geburtstort Homers nachgeht und dies in einer montageartigen Zusammenschau verschiedener Orte und d.h. in Adaption filmischer Verfahren umsetzt.
44
Ebd.: 78. [Herv. i.O.]
214 | I NTERMATERIALITÄT
dass die Vermählung nicht ohne parodistischen Unterton auskommt. Nicht nur der Dichter als zweiter Homer, der einer Schäferidylle zugeordnet wird, stellt eine Karikatur seiner Zunft dar, auch Erna wird in ihrem Habitus persifliert. Auf das Verhältnis des Paares hat dies jedoch keine Auswirkung. Beide überstehen die abenteuerliche Reise unbeschadet und treten im Schlussbild, bei dem alle Geretteten für eine Photographie posieren, als glückliches Paar auf. Die „Apotheose auf der weißen Leinwand“45 bestätigt in ihrer Form eines einzelnen Filmbildes noch einmal die Dominanz der visuellen Technik gegenüber dem geschriebenen Wort. Vor diesem Hintergrund stellt sich die gesamte Zugfahrt als Allegorie auf den Film dar. Nicht zufällig gilt die Veränderung der Wahrnehmung durch die Eisenbahn als industriegeschichtliche Voraussetzung für die Rezeption des Films.46 Pinthus’ Kinostück erzählt von der Beherrschung der neuen Technik durch den Film – Erna, die die richtigen Hebel des Zugs zu betätigen weiß – und der Unfähigkeit der Literatur, auf die technischen Veränderungen zu reagieren – symbolisiert in der Separation des Dichters und seiner Orientierung an der Natur als poetischer Enklave. In dieser Konstellation drückt sich die Kritik an einem Literaturverständnis aus, das meint, sich vor den technischen Veränderungen der Moderne flüchten zu können und einem ‚Zurück zur Natur‘ das Wort zu reden. Der Dichter Peter Pabst verkörpert daher eine überholte Künstlerfigur, deren Existenzweise bedroht ist und – um in der allegorischen Sprache zu bleiben – nur in einer Vermählung mit der filmaffinen Technik bestehen kann. Die Merkmale, die das Kinostück jenseits der Gewitztheit seiner Geschichte aufweist, sind die des Kinobuchs selbst: die intermediale Öffnung der Literatur gegenüber dem Film, die Akzeptanz der unmittelbaren Wirkung seiner Bilder und die Schaffung neuer filmadäquater Darstellungsverfahren.
Kinostück II. Die Entfesselung der Schrift im Film. Richard A. Bermanns „Leier und Schreibmaschine“ Das Engagement für den Film bleibt für Richard A. Bermann nicht ein einmaliges Experiment im Umkreis des Kinobuchs, sondern bestimmt sein gesamtes (künstlerisches) Leben. Neben der ersten Filmkritik in der Geschichte des Kinos47 veröffentlicht er 1913 auch den allerersten Filmroman Die Films der Prinzessin Fantoche als Fortsetzungsgeschichte in der Zeitschrift Der rasende Roland.48 Es folgen zwei 45
Ebd.: 86.
46
Vgl. PAECH 1997: 72-75. Zur Veränderung der Wahrnehmung durch die Eisenbahn
47
Vgl. MÜLLER/ECKERT 1995: 54.
48
Die einzige Besprechung des Romans findet sich bei SCHWEINITZ 1998.
allgemein vgl. SCHIVELBUSCH 1977.
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weitere – Bimini (1923) und Du sollst Dir kein Bildnis machen (1929) –, von denen der Letztere durch die Erlebnisse in Hollywood geprägt ist, wohin Bermann ab 1916 regelmäßig reist. Wesentliches Kennzeichen seiner Filmprosa ist die Verbindung komischer bis exotischer Geschichten mit einer Reflexion und Integration des Kinos als mediale, technische und soziale Einrichtung. Im Kinobuch ist Bermann gleich mit zwei Texten vertreten – mit Galeotto, das unter seinem Pseudonym Arnold Höllriegel verfasst ist, und Leier und Schreibmaschine, das Pinthus an den Anfang der Sammlung stellt und ihm somit eine herausgehobene Stellung zuweist. Beide Kinostücke funktionieren nach einem selbstreflexiven Muster der Film-im-Film-Konstruktion.49 In Galeotto wiederholt sich die Filmhandlung in der Entscheidung der Protagonistin für ihren Geliebten, weil die Darstellerin des gesehenen Films dies vorgelebt hat, in Leier und Schreibmaschine dadurch, dass eine Stenotypistin ihrem Freund von einem Film erzählt, der auf humoristische Weise die eigene berufliche Situation verhandelt. Die Figur des Dichters, um die es im ‚Binnenfilm‘ geht, ist dabei zwar nicht explizit in der Rahmenhandlung aufgegriffen, dass es sich bei dem Freund des Schreibmaschinenmädchens um einen solchen handelt, wird aber zumindest nahe gelegt.50 Wichtiger als die Verdoppelung von Film- und Realitätsebene ist in Leier und Schreibmaschine das Verhältnis von Literatur und Film. Schon der Titel macht durch die Zusammenstellung zweier repräsentativer Instrumente klar, dass es weniger um die Schicksale der dargestellten Figuren geht als vielmehr um ihre Funktion als Vertreter des literarischen bzw. als Figuren des kinematographischen Betriebs.51 Die Figuren erweisen sich denn auch als keine vielschichtigen Charaktere, sondern stellen – gemäß der expressionistischen Dramenästhetik – eindimensionale Typen dar, die zur Karikatur überdehnt sind. So haben wir es neben der Stenotypistin und dem Dichter mit dem Kritiker Fixfax (!) und dem Verleger Salomon Auflage (!) zu tun. Die Beziehung zum Film geschieht nun nicht dadurch, dass diese Figuren auf Repräsentanten des Kinos treffen, sondern indem über die Literatur und ihre Institutionen im erzählten Modus des Films verhandelt wird. Diese intermateriale Reflexion ist in Bermanns Stück besonders stark ausgeprägt und zum strukturellen Bestandteil ausgearbeitet. So weist das Kinostück eine 49
Vgl. HELLER 1985: 77.
50
So spricht das ‚Schreibmaschinenmädchen‘ ihren Freund mit den Worten an: „[W]ir, die
51
Der Begriff Leier kann auf das Musikinstrument bezogen und damit einem antiken
wir Euere Gedichte abschreiben“. BERMANN 1913/14: 29. [Herv. C.K.] Dichterverständnis zugeordnet werden, er bezeichnet jedoch zugleich eine Kamera, die zur Zeit Bermanns noch von Hand anzukurbeln war. Beide Bezüge lassen sich im Kinostück herstellen: im Konflikt zwischen dem antiquierten Dichter und der Stenotypistin einerseits und dem Film und der Literatur als Ganze andererseits.
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komplexe Verschachtelung von (per se material zu verstehender) Literaturproduktion und Film auf, die sich aus der Verschränkung von Rahmen- und Binnenhandlung ergibt. „Vom heißgeliebten Kino heimkehrend soll ein kleines braunes Schreibmaschinenmädchen ihrem lächelnden Freunde so von einem Film erzählen.“52 Mit diesen Worten beginnt das Kinostück und entwirft damit die Geschichte über einen Film als einen Sprechakt, der durch einen Kinobesuch angeregt wurde und vom potentiellen Filmzuschauer selbst schon als Film gesehen wird. Das Schreibmaschinenmädchen berichtet seinem Freund nicht explizit von dem gesehenen Film, sondern leitet ihre Erzählung mit klassischen Fiktionalitätssignalen ein, die die Erzählung ins Allgemeingültige hebt und literarisch verbürgt: „Also das war einmal ein Film, der klar beweist, wie wichtig wir Stenotypistinnen sind.“53 Zu dieser Beobachtung passt, dass die Erzählerin in einem ihrer Kommentare explizit von einem „Märchenfilm“54 spricht und damit an eine literarische Tradition anknüpft, die nach moralischer Wertung verlangt. Eingelöst wird diese im abschließenden Disput zwischen der Erzählerin, die die erzieherische Funktion der Frauen auf die Dichtergilde rühmt, und ihrem Freund, der ganz im Gegenteil vor den Gefahren weiblichen Einflusses auf den dichterischen Schaffensprozess warnt. Worum aber geht es eigentlich im sprachlich vermittelten Film-im-Film? Leier und Schreibmaschine parodiert die Schreibkrise eines Dichters, der im „romantischen Mantel“55 Literaturcafés aufsucht und sich in eine „sehr blonde, energische Muse“56, die Stenotypistin Minnie Tipp, verliebt. Durch die Liebe zu ihr gelingt es ihm, haufenweise kitschige Verse zu verfassen, die er ihr zur Abschrift bringt. Er erlebt jedoch ein böses Erwachen, als er eine Rechnung über 200 Mark ausgestellt bekommt. Im Stile der Slapstick-Tradition setzt dieser Umstand eine ganze Kette von komischen Verwicklungen in Gang: Um die Schulden zu tilgen, verkauft der Dichter seine Manuskripte an den Käsehändler, der damit seine Ware einpackt, die wiederum der Kritiker Fixfax kauft und zufällig auf die Gedichte stößt. Begeistert von den Versen legt er sie dem Verleger Salomon Auflage vor, der den Dichter mit einem Sack voll Geld überschüttet mit dem Ergebnis, dass dieser nun seine Schulden begleichen kann und glaubt, Minnie Tipp ganz für sich gewonnen zu haben. Am Ende weist sie ihn jedoch – zumindest als Dichter – zurück und verlangt von ihm eine ‚andere‘ Tüchtigkeit: „An jenem Tage tippten sie nicht weiter.“57 52
BERMANN 1913/14: 29.
53
Ebd. Im Kinostück bleibt ungeklärt, wie diese verbalen Äußerungen filmisch umgesetzt
54
Ebd.: 32.
werden sollen. 55
Ebd.
56
Ebd.: 33.
57
Ebd.
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Über die Banalität der Geschichte besteht kein Zweifel, und dass der Dichter nicht dem expressionistischen Kontext entspringt, beweist nicht nur seine Figurenzeichnung, sondern auch die pseudo-romantische Antiquiertheit seiner Liebeslyrik und das bemühte Reimschema: „Als ich in Deine Augen sah, / Floß neue Glut durch meine matten Glieder. / Ich schaffe und bin Dir im Schaffen nah - - / Ich lebe wieder!“58 Das Stück ist denn auch weniger aufgrund seines inhaltlichen als vielmehr seines intermaterialen Umgangs mit der Literatur in der möglichen Verfilmung von Relevanz. Wie beschrieben stehen Literatur und Film von Beginn an in einem komplexen Bedingungsgefüge, das sich je nach Perspektive – eines Lesers oder Filmzuschauers – unterschiedlich ausprägt. Für die Lektüre ist der bildliche Bezug materialiter bloß an einer Stelle realisiert, dort nämlich, wo sich das Türschild Minnie Tipps vom Text abhebt und als filmisches Insert zu erkennen gibt. Aus der Sicht des potentiellen Kinozuschauers zeigt sich dagegen eine vielfältige, kreative Integration des Materials Schrift in das Filmbild. Durch den Beruf Minnie Tipps gelingt es Bermann, die Gespräche derart in den Handlungsverlauf einzufügen, dass alles Diktierte sofort in Abschrift zu sehen ist: „Er stellt sich in Positur und diktiert: ‚Mein Fräulein, ich liebe Sie!‘ Sie schreibt es, und die Schrift wird auf der weißen Wand gezeigt.“59 Es ist nicht ganz klar, ob Bermann mit dieser Regieanweisung die weiße Filmwand meint oder eine Wand im Büro, an die das Geschriebene zeitgleich projiziert wird. Die Entscheidung darüber muss dem potentiellen Regisseur überlassen bleiben, ebenso wie andere Inszenierungen des Schreibaktes, die Bermann ausgesprochen varianten- und phantasiereich in seinem Kinostück vorsieht. So finden sich neben dem Einsatz von Briefen oder dem Abtippen der Manuskripte auch solche Szenen, in denen die Schreibwerkzeuge durch Tricktechnik an Eigenleben gewinnen: „Der Dichter taucht die Feder ein – jetzt läuft sie ganz von selbst. Kaum hat die Feder das Blatt berührt, so ist es mit den herrlichsten Versen beschrieben und flattert davon.“60 Ohne an die Qualität heranreichen zu können, erinnert Leier und Schreibmaschine in diesen Sequenzen an die poetische Selbstreflexion in der Romantik wie sie beispielsweise in E.T.A. Hoffmanns Der goldne Topf zur Anwendung kommt. Hier ist es der Student Anselmus, der durch die Abschrift hieroglyphischer Dokumente des Archivarius Lindhorst in das poetische Atlantis gelangt. Um eine ästhetische Enklave geht es Bermann zwar nicht, aber auch bei ihm lässt sich ein Aufgehen der Figuren in das Material der Schrift beobachten. So scheint Minnie Tipp beim Abtippen der Manuskripte mit der Maschine zu verschmelzen: „Sie schreibt mit langen spitzen Fingern, aber sie blickt nicht auf die Maschine und macht keine Zwischenräume zwischen den Wörtern. Sie tanzt auf der 58
Ebd.: 31.
59
Ebd.: 30.
60
Ebd.: 31.
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Maschine einen Liebestanz.“61 Indem Minnie Tipp die Wortzwischenräume einebnet, hermetisiert sie das Geschriebene und erschwert seine Lektüre, womit der intermateriale Rekurs nachdrücklich die Materialität der Schrift pointiert. Die Verdichtung der Schrift ist jedoch kein Ausdruck poetischer Exklusivität. Wie bereits erwähnt, nimmt das burleske Stück seine Wende ins Praktische, weil der Preis für die Abschrift den Dichter in Existenznöte bringt. Für die intermediale und intermateriale Auswertung des Textes muss daher unterschieden werden zwischen dem spielerischen und klischeeartigen Umgang mit den Figuren des Dichters und der Stenotypistin (personifizierte Intermedialität) auf der einen und der innovativen und ambitionierten Handhabung ihrer beruflichen Gerätschaft (Intermaterialität) auf der anderen Seite. Zu Ersterem gehört im Falle der Beziehung zum Film auch dessen konkrete Benennung, die als intermedialer Marker einer für die Zeit typischen Slapstick-Komödie fungiert und die Voraussetzung für den engeren intermaterialen Bezug darstellt, da der Leser die Schrifttexte als Inserts einer Verfilmung erkennt. Bei dieser intermaterialen Relation geht es Bermann in Leier und Schreibmaschine unverkennbar um die Inszenierung von Schrift. Seine Umsetzung der Idee zum Kinobuch unterscheidet sich damit wesentlich von derjenigen Pinthus’. Wo Die verrückte Lokomotive jegliche konkrete Darstellung der gedichteten Worte vermeidet und die Verse seines Dichters in bunte Vögel verwandelt, stellt Leier und Schreibmaschine das Gedicht und die Sprache in ihrer materialen Schriftpräsenz aus. Mit seinem Kinostück erprobt Bermann die Möglichkeiten, Techniken des Schreibens in den Film zu integrieren und, wenn auch nicht die Inhalte, so zumindest das Material der Literatur für den Stummfilm zu bewahren.
Kinostück III. Die Wirksamkeit der Literatur. Max Brods „Ein Tag aus dem Leben Kühnebecks, des jungen Idealisten“ Max Brod orientiert sich in seinem Beitrag für das Kinobuch ebenfalls an der Literatur. Sein Bezugsgenre stellt jedoch nicht wie bei Bermann das Märchen dar, sondern der Abenteuer- und Kriminalroman. In einer kurzen Vorrede macht der Freund des eifrigen Kinogängers Franz Kafka zunächst auf einen Mangel an Ausnützung technischer Möglichkeiten des Films aufmerksam, der sich gerade mit Blick auf den literarischen Text, genauer seine Produktions- und Rezeptionsweise ausmerzen ließe. Zwar lobt Brod das Montageverfahren des Films in seinem Verknüpfungspotential, eine weitere technische Option liege jedoch darin, „daß im Kino auch bloße Phantasien in ihrem eigenartigen Leben erscheinen können“:
61
Ebd.
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So wäre etwa, wenn es irgendwen interessierte, ein ‚Dichter bei seiner Arbeit‘ kinematographisch aufführbar. Seine Eingebungen treten aus den Möbeln, aus dem Löschblatt hervor, auf das er nachdenklich starrt, sie verdichten sich, werden zweckdienlich verändert, korrigiert, bis sie etwa die rührende ‚Versöhnung zwischen Vater und Sohn‘ seines Romans unübertrefflich agieren.62
Für Brod stellt der dichterische Schaffensprozess den paradigmatischen Fall der Phantasietätigkeit dar, die im Film ihre konkrete bildliche Umsetzung erfahren kann. Bereits 1909 artikuliert er diese Vorstellung in dem Artikel Kinematographentheater für Die neue Rundschau. Darin entwirft er ein Filmszenario „darstellend einen Dichter in einsamer Kammer, der über die Schwierigkeiten eindringlicher, doch rückhaltender Darstellung in verzweifelte Wut gerät“63. Brod macht sich keine Illusionen über den mangelnden Reiz des dichterischen Arbeitsprozesses für ein Publikum, das an Abenteuer und Clownerie gewöhnt ist. Dennoch verfolgt er mit seinem Kinostück Ein Tag aus dem Leben Kühnebecks, des jungen Idealisten eine Art literarische Aufklärung des Filmzuschauers, wie der Schlusssatz verrät: „Und alle sind von ihrem Vorurteil gegen Literatur ein für allemal geheilt, was niemanden mehr freut als den Autor dieser Filmidee.“64 Bis zu dieser (nicht ironiefreien) Einsicht, aufgrund derer Richard A. Bermann von einem „kleine[n] pädagogische[n] Scherz“65 spricht, erleben wir die Geschichte des zwölfjährigen Gymnasiasten Kühnebeck, dem die Wirklichkeit zur Projektionsfläche seiner Phantasie wird. In einer literaturfeindlichen Umgebung lebend – „Zu Hause zu lesen, ist ihm nämlich verboten“66 – entfalten sich für den Jungen alltägliche Beobachtungen zu phantastischen Szenarien, und er selbst verwandelt sich in die Helden seiner Lektüren. Aus der Perspektive einer möglichen Verfilmung gelingt Brod mit diesem Kunstgriff eine Übertragung der Lektürepraxis auf die filmischen Bilder. Anders als bei Bermann geht es ihm nicht um die Schrift in ihrer Materialität, sondern um Schrift als manifeste Voraussetzung für eine (subjektive) Bedeutungsentfaltung: Das, was konkret sichtbar ist – der abstrakte Buchstabe oder die ‚reale‘ Filmwelt –, verschwindet mit Beginn der Phantasietätigkeit. Da der zeitgenössische Film für den Übergang von ‚Realität‘ in ‚Fiktion‘ noch keine Bildsprache ausgeprägt hat, sieht Brod dennoch zunächst Zwischentitel vor – beispielsweise „Wie der Leierkasten in Kühnebecks Phantasie ausschaut“ 67 –, die 62
BROD 1913/14: 71.
63
BROD 1909: 41.
64
BROD 1913/14: 75.
65
BERMANN 1913: 1029.
66
BROD 1913/14: 74.
67
Ebd.: 72.
220 | I NTERMATERIALITÄT
jedoch keine besondere Betonung erfahren, sondern bloß anzeigen sollen, dass es sich bei den Bildern um einen subjektiven Wahrnehmungsmodus handelt. Nachdem der potentielle Zuschauer einmal an die Verdoppelung der Ebenen gewöhnt ist, verzichtet Brod im weiteren Verlauf komplett auf sie und realisiert über Projektionen in der Mise en Scène bei gleichzeitiger Anwesenheit Kühnebecks dessen Vorstellungswelt. Der literarische Text rekurriert in diesen Passagen intermaterial auf die technischen Möglichkeiten des Films. Gerade aufgrund der erfindungsreichen Gestaltung dieser Übergänge von einem rezeptiven zu einem projektierenden Erleben Kühnebecks gilt das Kinostück als eines der wenigen, das tatsächlich Anstöße zu einem filmischen Sehen in der Literatur gegeben hat. Vor allem in der Sequenz, in der Kühnebeck einen Kupferstich in der Auslage eines Buchladens in die „lebendige Szenerie Venedigs“68 transformiert, sieht Heinz Heller die „Veränderung der Einstellungsgröße sprachlich […] präfiguriert“69 und somit ein Verfahren vorgedacht, das um 1913 technisch nicht möglich gewesen sei. Sprachliche Umsetzungen filmischer Verfahren als intermateriale Schreibstrategie lassen sich ansonsten nur im parataktischen Beschreibungsstil ausmachen, der größtenteils auf Gedankenberichte verzichtet. Die Darstellung des Verhaltens Kühnebecks und der übrigen Figuren zielt auf den mimischen und gestischen Ausdruck, über den der Gemütszustand abgelesen werden kann. Die Dramaturgie des Stückes folgt insgesamt einem Dreiakter, was durch Überschriften im Text markiert ist. Typographisch von herkömmlichen Kapitelüberschriften unterschieden, imitieren sie die Schrifttafeln im Film. Neben dieser intermaterialen Hinwendung auf das Bewegungsbild stellt das Kinostück auch konkrete Bezüge zur Literatur her. Zurückgezogen auf den Dachboden als seinem „Literatur-Schlupfwinkel“70 liest Kühnebeck Bücher von Karl May oder Groschenhefte über die Abenteuer Nick Carters, eines der ersten Serienhelden, der 1884 von John Coryell in der New York Weekly erfunden wird und ab 1906 auch in Deutschland als Groschenroman und Serienfilm verbreitet ist. Aus Sicht des Lesers entfaltet sich damit ein intertextueller Verweis, für den Zuschauer ergibt sich eine intermediale Konstellation, aus der heraus sich schließlich das Finale des Films entwickelt. Die „Lesewut“71, die Kühnebeck in Familie und Schule zunächst in arge Schwierigkeiten bringt, gerät ihm schließlich zur Heldentat, als er – sich als Detektiv wähnend – einen ‚tatsächlichen‘ Verbrecher überwältigt. In seiner Apotheose läuft das Stück darauf hinaus, dass sich ‚realer‘ Raum und Imaginationsraum verschränken. So kann Brod in der kuriosen Schlussszene, in der die Lektüre eines Detektivromans mit dem Eindringen von Verbrecher und Polizei auf dem Dachbo68
Ebd.
69
HELLER 1985: 77.
70
BROD 1913/14: 74.
71
Ebd.
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den konvergieren, ganz ohne Überblendungsverfahren oder In-Film-Projektionen auskommen: Der Zuschauer erlebt das Geschehen aus einer ‚neutralen‘ Sicht, durch die vorbereitenden Einblendungen der Imagination Kühnebecks ist jedoch klar, dass dieser noch in seiner literarischen Vorstellungswelt lebt. Die Anweisung „Vorstellung verschwindet. Realität platzt los“72 gilt dementsprechend nur für die Perspektive des Zuschauers, obwohl auch Kühnebeck ‚real‘ agiert: „Aber auf dem Posten ist Kühnebeck, der jetzt seine phantastische Rolle als ‚Feind des Verbrechens‘ mit wirklichem Mut anfüllt, den Apachen, den er in die Fortsetzung seiner Lektüre einspinnt, jugendlich niederwirft und festhält [...]“73. Mit dieser zugegeben recht skurrilen Auflösung hat Kühnebeck all jene Lügen gestraft, die meinen, er sei als Büchernarr ein Taugenichts und lebensuntüchtig. Anders als in Die verrückte Lokomotive oder Leier und Schreibmaschine wird der Idealist als Dichtertypus nicht vorgeführt, sondern entpuppt sich als der eigentliche Held des Kinostücks. Die ganze Geschichte mag spielerisch inszeniert sein und die filmische Verwicklung, die Brod zu bedienen meint, verstärkt diesen Eindruck, aber in ihr steckt doch ein ernsthaftes Interesse daran, neben der Exploration technischer Möglichkeiten des Films dem zeitgenössischen Zuschauer bzw. – in den Worten Carlo Mierendorffs – der „Klasse der ohne Buch Lebenden“74 die Qualitäten des Lesens vor Augen zu führen. Denn das, was das Bewegungsbild an unmittelbarer Präsenz erzeugt, kann nicht die Phantasietätigkeit des Lesens ersetzen. Bei allem Innovationsanspruch für das Kino ist der Text somit auch ein Plädoyer für die Literatur.
Zwischen Mythos und Realität. Yvan Golls literarische Filmästhetik Sieben Jahre nachdem Pinthus das Kinostück in scharfer Abgrenzung vom Theater als eigenständiges literarisches Genre begründet, plädiert Yvan Goll 1920 in einem gleichnamigen Artikel für das ‚Kinodram‘ und lässt darin keinen Zweifel an der ästhetischen Legitimation des Films. Für den „Grenzgänger zwischen deutschem Expressionismus und französischen Surrealismus“75 stellt der Film in seiner schnellen Bildfolge die adäquate Ausdrucksform der akzelerierten Moderne dar und erfüllt mit seinen technischen Voraussetzungen die „höchste Forderung der Kunst: die S y n t h e s e und das S p i e l d e r G e g e n s ä t z e “76. Kern der Programmatik Golls 72
Ebd.: 75.
73
Ebd.
74
MIERENDORFF 1920: 139.
75
HELLER 1985: 194.
76
GOLL 1920: 137. [Herv. i.O.]
222 | I NTERMATERIALITÄT
bildet die Kategorie der Bewegung. Sie vereint alle Künste untereinander, fungiert vor allem aber als Bindeglied zwischen Kino und Theater. Anders als bei Pinthus geht es nicht um eine Trennung beider Großinstitutionen, sondern um deren intermateriale Synthese. Goll sieht dies gerechtfertigt, indem er zum einen das Dramatische einfach mit der Bewegung identifiziert und zum anderen die Bühne als idealen Ort bestimmt, an dem von der Filmprojektion bis zum Orchester alle Künste zugleich materialiter präsent sein können. Im Bewusstsein des zeitgenössischen Konkurrenzverhältnisses spricht sich Goll für eine Einverleibung der technischen Möglichkeiten des Films durch das Theater aus: „Aber das Theater kann sich am Kino rächen, indem es diesen auffrisst, das heißt ihn sich zu eigen macht.“77 Was sich hier recht martialisch ausnimmt, durchzieht auf subtilere Weise das gesamte Manifest: Auch wenn im Kinodrama alle Künste vereint sein sollen – Goll nennt u.a. Malerei, Musik, Plastik und Tanz –, die Literatur spielt doch eine dominante Rolle. Es verwundert daher nicht, dass dem Bühnendichter – und nicht dem Drehbuchautor – die Aufgabe übertragen ist, für die Vision vom Gesamtkunstwerk Kinodramen zu entwickeln. In der Forschung ist Goll wegen dieser Ausrichtung ein Kulturkonservatismus zugeschrieben worden,78 der nicht zuletzt dadurch Nahrung bekommt, dass seine eigenen filmdramatischen Versuche – Kleines Kino der Menschlichkeit (1919), Die Unsterblichen (1920), Die Chaplinade (1920) und Methusalem oder Der ewige Bürger (1922) – den selbst gesteckten Ansprüchen kaum standhalten. Trotz durchaus experimenteller Ansätze und der Integration von Filmprojektionen zeichnen sich diese Versuche vornehmlich als Sprechdramen aus und nicht als Synthesen verschiedener Materialien, wie in den genuin expressionistischen Theaterstücken von Kokoschka, Kandinsky oder Schönberg.79 Ein ähnliches Missverhältnis von theoretischem Anspruch und literarischer Umsetzung lässt sich auch für Golls Lyrik konstatieren. Bereits 1914 veröffentlicht er die Anthologie Films (Verse), deren Verweiskraft sich im Titel und der montageartigen Form erschöpft – ein intermaterialer Bezug auf Charakteristika des Kinos findet sich nicht. Thematisch bilden die Gedichte ein heterogenes Spektrum angefangen von mythischen Anspielungen bis hin zur zeitgenössischen Großstadterfahrung. Anders dagegen und doch dem Gegensatz von Mythos und Moderne folgend verhält es sich mit dem Gedicht Der Kino-Direktor, das 1917 in der Zeitschrift Die Aktion veröffentlicht wird, und Globus-Kino (1918), das in den Gedichtzyklus Der 77
Ebd.
78
Andreas Kramer spricht von einer „kulturpolitisch konservativen Strategie: die Auffrischung einer überalterten und nicht mehr zeitgemäßen Dramaturgie durch die Integration filmischer Mittel soll dem Theater weiterhin seine traditionelle Position sichern.“ KRAMER 1997:
79
90.
Vgl. ALBERSMEIER 1985: 204.
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neue Orpheus eingebettet ist. Beide Gedichte behandeln das Kino nicht nur in seinem soziokulturellen Kontext, sondern stellen intermateriale Rekurse her, indem sie die technischen Bedingungen von Leinwand und Projektion aufgreifen. Im Gegensatz zum emphatischen Manifest für das Kinodram als Grundlage aller zukünftigen Kunst zeichnen sie ein ambivalentes Bild vom Kino. In Der Kino-Direktor, das im Publikationsorgan Die Aktion des erklärten Kinogegners Franz Pfemfert erscheint,80 verarbeitet Goll die Perspektive eines Filmtheaterbetreibers, der versucht, die Leute „An die Kasse“81 zu locken. Grundlegend für das Gedicht ist sein kontrastiver Aufbau, der sich zu Beginn in dem Gegensatz von weltschöpferischer Illusionskraft einerseits und der Banalität pekuniärer Interessen andererseits aufbaut: „Für einen Groschen öffnet sich euch das Paradies.“82 Die oppositionelle Struktur zeigt sich darüber hinaus in der Anpreisung des Kinos als Ort der Nobilität, der alle sozialen Klassen wie Könige empfängt, und in der Dialektik der Filmhandlung, bei der „ein Mörder im Frack anfängt zu weinen“83. Für den intermaterialen Bezug entscheidend ist vor allem der Gegensatz von Realität und cineastischer Illusion. Goll lässt den Kinodirektor in einigen Passagen die technischen Voraussetzungen des Lichtspielhauses in Verbindung mit der besonderen Wirkungsmacht des Kinos überdenken: Und seht: ihr sollt angelisch werden. Hier im Kino seid ihr jenseits der Erde. Gut und Bös des Lebens sind ja nichts als ein Reflex wie Schwarz und Weiß auf dieser Leinwand. Nichts ist! Alles ist! Ich schenke euch die Schöpfung Gottes: das Paradies, ohne Schlange und Apfel. Fluch dem Skeptischen, der lächelnd an die Leinwand klopft und sagt: Das ist ein weißes Tuch! Fluch diesem Lügner: denn das ist das Leben, das reellste Leben.84
Die beiden Strophen scheinen auf den ersten Blick ähnlich ausgerichtet zu sein, bei näherer Betrachtung akzentuieren sie in ihren intermaterialen Anspielungen aber jeweils die gegensätzlichen Pole in der Vorstellung vom Kino als einer Verbindung
80
In dem Artikel Kino als Erzieher (1911) warnt Pfemfert vor der Gefahr der Trivialisierung und formuliert seine „Ekelempfindungen“ gegenüber der Annäherung von Dichtung und Film. „Kino“, so das abschätzige Urteil „vernichtet die Phantasie. Kino ist der gefährlichste Erzieher des Volkes“. PFEMFERT 1911: 61, 62.
81
Goll 1917: 688.
82
Ebd.
83
Ebd.
84
Ebd.
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von Illusionsmaschinerie und Realität. In der ersten Strophe geht es darum, das Filmtheater als einen Freiraum zu etablieren, in dem alles möglich ist, ohne dass es Konsequenzen für den Alltag hätte: „Nichts ist! Alles ist!“ Die materialen Bedingungen – das Schwarz und Weiß auf der Leinwand – fungieren als Argument dafür, dass diese Erfahrungen ohne Folgen bleiben und sogar moralische Wertmaßstäbe außer Kraft gesetzt sind, weil sie als ein Reflex projektierter Bewegungsbilder bloß künstliche Erzeugnisse sind. Im Gegensatz dazu erfolgt in der zweiten Strophe der Hinweis auf das Material – „Das ist ein weißes Tuch!“ –, um paradoxerweise die Realität der Filmbilder zu proklamieren. Im Pleonasmus des ‚reellsten Lebens‘ gerät das Kino zu einem Ort gedrängter Wirklichkeit, womit Goll auf die Serialität von Einaktern in den Filmvarietés anspielt, die mit fernen Ländern, unterschiedlichen Helden, Milieus und Schauplätzen eine enorme Erlebnisdichte liefern. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch die Funktion des Zuschauers, die sich im Mitleiden und Mitempfinden als rezeptionsästhetischem Paradigma äußert. Er ist der eigentliche Adressat des Gedichts, einerseits als fiktiver Flaneur und andererseits als realer Leser, dem die Aufforderung gilt: „ihr sollt angelisch werden!“85. An dieser Stelle manifestiert sich die Überzeugung Golls von einem Vorzug der amerikanischen Kinokultur gegenüber der europäischen, wonach Hollywood den Film als ein „Zeichen unserer Rapidität“86 verstanden habe und mit eigenen filmkünstlerischen Mittel operiere, anstatt sich wie in Europa an der Adaption literarischer Texte zu orientieren. Dass Goll, der ein großer Bewunderer Charlie Chaplins war, diese Maxime ausgerechnet einem Kinobetreiber in den Mund legt, der offensichtlich wirtschaftliche Interessen verfolgt und als „falsche[r] Prophet“87 auftritt, zeichnet den doppelbödigen Charakter des Gedichts aus. Goll treibt dessen Karikatur schließlich auf die Spitze, indem er dessen Selbstwahrnehmung als „letzten Apostel“ und „Souffleur Gottes“88 in einen verzweifelten Aufruf kulminieren lässt, doch endlich einen Groschen Eintritt zu bezahlen. Nachdrücklich ist damit das Kino als Ort der Ambivalenz konstituiert: Das Gedicht lässt sich einerseits als eine Kritik an der Kommerzialisierung und industriellen Vermarktung des Kinos lesen, zum anderen – in seinem intermaterialen Rekurs auf dessen technische Bedingungen – als ein Plädoyer für die vielfältigen, (über-)realen Möglichkeiten der Lichtspielkunst.89
85
Möglicherweise ist ‚angelisch‘ eine Anspielung auf Los Angeles, dessen Stadtteil Hollywood synonym für die amerikanische Filmindustrie steht. Auf diese Lesart hat mich Moritz Baßler hingewiesen.
86
GOLL 1920: 137.
87
SCHÄFER 1965: 97.
88
GOLL 1917: 688, 689.
89
Zu diesen beiden Polen der Kinoauffassung Golls vgl. auch WACKERS 2004: 118-121.
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Eindeutiger im Sinne einer kritischen Perspektive auf das Kino präsentiert sich das Gedicht Globus-Kino, das aufgrund seiner Editionsgeschichte nur im Zusammenhang mit der Anthologie Der neue Orpheus. Eine Dithyrambe (1918) gedeutet werden kann. Der Titel verweist auf eine Kombination von mythologischem Formular und Moderneerfahrung, die in den einzelnen Gedichten zur Konfrontation ausgearbeitet ist. Orpheus wird eingangs als der „ewige Dichter der Unterwelt“90 und „Gott der Kunst“91 eingeführt und verkörpert darin ein klassisch-emphatisches Kunstverständnis gegenüber dem technisch-industriellen Massenmedium Film. In einer Verkehrung der semantischen wie topographischen Ordnung der OrpheusSaga steigt er im Gedichtzyklus in die Menschenwelt hinab. Der Weg führt ihn dabei neben Spelunke, Zirkus, Jahrmarkt und Varieté auch ins Kino: Da stieg Orpheus in die Katakomben der Stadt: wurde im Globus-Kino die zweite Geige. Oben flatterte die graue Leinwand der Zeit. Die Menschen glaubten an nichts mehr als an die Realität. Jeder, ein neuer Kopernikus, ließ die Erde um den eigenen Kopf sich drehn. Sie erkannten sich tief in dieser Nacht. Das ‚Ah!‘ dieser Erkenntnis machte sie erst zu Brüdern. Dort in ihren Leidenschaften: dort war jeder König, Verbrecher, Liebender. O es gab nichts als die Realität. Und sie überhörten Orpheus Musik. Orpheus, aus dem Schacht des Orchesters, stieg vergebens groß ins Publikum. […] Die Menschen im schwarzen Tunnel des Kinos hörten ihn nicht. Der Ventilator summte wie eine tolle Fliege darüber. Immerzu kratzte der Operateur hinten die grelle Wirklichkeit auf. Das Leben der Menschen floß schwarz über die graue Leinwand ihres Erdenhimmels.
92
In seinem düsteren Stimmungsbild liest sich dieser Auszug wie ein melancholischer Epilog auf den Mythos, der vor der Faszination des Zuschauers an den Abbildern der Wirklichkeit kapitulieren muss. Den Verlust von transzendentaler Ordnung kompensiert das Kino als neuer Religionsstifter, was Goll eindrücklich in der rheto90
GOLL 1918: 5.
91
Ebd.: 8.
92
Ebd.: 16f.
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rischen Engführung von Leinwand und Erdenhimmel indiziert. Der Himmel ist nicht mehr symbolischer Ort eschatologischer Jenseitsvorstellungen, sondern als filmische Projektionsfläche dem Diesseits verpflichtet. Da die Figur des Orpheus zudem stark in seiner Funktion als Dichter und Musiker hervorgehobenen wird, bekommt das Gedicht zusätzlich eine medienkritische Brisanz. Von der Einschätzung Golls, der Film sei eine „herrliche Sache für den Dichter!“93, scheint GlobusKino weit entfernt, schließlich scheitert der ‚ewige Dichter‘ Orpheus an den Reizen des neuen Mediums und seiner Bannkraft auf den Zuschauer. Die klassischen Künste, verkörpert in der mythologischen Gestalt, stehen in dem Gedicht in Opposition zum Unterhaltungsmedium Film. In seiner noch heute grundlegenden Studie über die frühe Lyrik Golls sieht Dietrich Schäfer in dieser Frontstellung einen „Angriff gegen die Medien einer Scheinwirklichkeit“ resultierend aus der Einsicht, dass „diese Surrogate dem orphischen Erlösungsprozeß entgegenwirken, indem sie die Bereitschaft des Menschen zur Revolte mindern oder gar aufheben und damit jenes Moment beseitigen, das als ‚Sehnsucht‘ des Menschen die Aufgabe des neuen Orpheus überhaupt erst rechtfertigt.“94 Dass sich mit der Verbrüderung und der Identifikationsmöglichkeit auch positive Zuschreibungen finden lassen, mag die Kritik etwas mindern, dennoch zeigt sich ein Vorbehalt gegenüber dem Kino, der sich konträr zu der Konstellation in Der Kinodirektor verhält. Während dort die Realitätsillusion positiv besetzt ist, gerät sie in Globus-Kino als „Reproduktion banaler Oberflächlichkeit“ 95 zur Kontrastfolie einer nachgetrauerten Kultur der Imagination und künstlerischen Nachhaltigkeit. Damit steht das Gedicht auch im Widerspruch zu der späteren Forderung, Filme sollten Ausdruck ihrer Zeit sein und sich eben nicht an literarischen Sujets orientieren. Während sich bei Goll damit eine Diskrepanz von theoretischem Anspruch und lyrischer Verarbeitung auftut, ist zumindest das Postulat einer ästhetischen Aufwertung des Kinos in beiden Gedichten umgesetzt. Der Kinodirektor und Globus-Kino zeigen im freien Rhythmus ihrer Verse nicht zuletzt eine formale Annäherung an die Montagegesetze des Films. Wo Orpheus scheitert, gelingt Goll doch noch die Synthese von Lyrik und Kino, oder anders formuliert: Die strukturelle Aneignung der flimmernden Filmbilder unterläuft die kritische Auseinandersetzung, wie sie durch die intermaterialen Rekurse inhaltlich evoziert wird. In dieser Ambivalenz steht Goll durchaus paradigmatisch für die kontroverse Auseinandersetzung mit dem Film, wie sie im Kontext des lyrischen Expressionismus geführt wird, auch wenn andere Autoren häufig gegenteilig verfahren, also eine Bejahung des Kinos auf thematischer Ebene und ein Festhalten an klassischen Ge93
GOLL 1920: 138.
94
SCHÄFER 1965: 98.
95
KAES 1978: 25.
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dichtformen im Darstellungsmodus praktizieren. Zwar gibt es keine weitere dezidiert literarische Filmästhetik, zahlreiche Autoren verarbeiten jedoch ihre Erfahrungen mit dem Lichtspiel und geben darin Auskunft über ihre Einstellung zum Kino. In der folgenden Zusammenschau sollen diese Positionen klassifiziert werden. Im Vordergrund steht dabei die Frage, welche Auswirkung die Auseinandersetzung mit dem Film auf Sprache und Komposition der Gedichte hat, wie sich also die materialen Bedingungen des neuen Mediums in der lyrischen Bearbeitung des sprachlichen Materials niederschlagen.
Poetik des Lichtspiels. Kinolyrik von Jakob von Hoddis bis Claire Goll Die Experimentierfreude und radikalen Erneuerungsbestrebungen der Expressionisten, wie sie in den Dramen und Bühnenarbeiten, aber auch in Versuchen der absoluten Prosa zum Ausdruck kommen, zeigt sich in der Lyrik zunächst nicht in der formalen Gestaltung. Viele Schriftsteller bedienen sich traditioneller Strophenformen wie des Sonetts und erzeugen damit eine Lesererwartung, die erst durch das thematische Spektrum von Gewalt, Wahnsinn, Menschheitsdämmerung oder Krieg „provokativ enttäuscht“96 wird. Ein ähnlicher Effekt lässt sich auch in den Kinogedichten des Expressionismus beobachten, deren Ausmaß erst durch eine 2009 von Andreas Kramer und Jan Volker Röhnert herausgegebene Anthologie zur filmischen Lyrik in der deutschsprachigen Literatur sichtbar geworden ist.97 In den expressionistischen Kinogedichten verbindet sich häufig eine Formstrenge und konsequente Reimstruktur mit der Verarbeitung desjenigen Massenmediums, das vom Bildungsbürgertum harsche Ablehnung erfährt. Die Kinolyrik präsentiert sich indes nicht als ein uneingeschränktes Plädoyer für das Kino, sondern changiert zwischen Faszination, Ironie und Abgestoßenheit und realisiert vor diesem Hintergrund ganz unterschiedliche Grade der Bezugnahme. Zur Klassifizierung schlagen Kramer und Röhnert eine Unterscheidung in „Kinodichtung“ und „Filmdichtung“ vor, die der Vielfalt der Gedichte jedoch nicht gerecht wird. Ihre Zuordnung erweist sich auch deshalb als problematisch, weil sie unter ‚Kinodichtung‘ das „Kino mit seinen Stoffen, Titeln und Protagonisten“ subsumieren und eben nicht seine institutionellen und materialen Faktoren, die sie der ‚Filmdichtung‘ zuordnen.98 Um dieser irreführenden Begriffsverwendung vorzubeugen, soll im Folgenden allgemein von Kinolyrik gesprochen und die jeweiligen Bezugnahmen im Sinne der eingeführten 96
ANZ 2002: 179.
97
Vgl. KRAMER/RÖHNERT 2009.
98
Ebd.: 185. Vgl. auch RÖHNERT 2007: 61-70
228 | I NTERMATERIALITÄT
Unterscheidung von Intermaterialität und Intermedialität als explizit intermaterialer Verweis (Projektion, Filmraum, Schausituation) oder weiter zu fassende intermediale Anspielung (Filmtitel, Schauspieler, Filmmarkt) bezeichnet werden. Vor diesem Hintergrund lassen sich vier Gedichttypen hinsichtlich verschiedener dominanter Anspielungsebenen bzw. -verfahren bestimmen – zwei intermateriale und zwei intermediale –, wobei diese nicht immer so trennscharf sind, wie es die heuristische Differenzierung nahe legt. Zur engeren intermaterialen Bezugnahme zählt 1. die Thematisierung des Kinos in seinen institutionellen und technischen Voraussetzungen vor allem im Hinblick auf Apparatur (Filmprojektion), Räumlichkeit (Kinosaal, -atmosphäre) und Rezeptionsbedingung (Schauen). Die Verarbeitung dieser material-perzeptiven Verhältnisse findet sich in erster Linie in den frühen Gedichten, die parallel zur Etablierung der Kinolandschaft entstehen. Hierzu zählen Jakob von Hoddis Kinematograph (1911), René Schickeles Prolog im Kino (1913) und Sebastian Scharnagls Der selige Kintopp (1913/14). 2. setzen manche Gedichte Strukturen des Kinos im eigenen Sprachmaterial um. Der intermateriale Bezug intensiviert sich, weil die Montage formal imitiert wird, so in George Grosz’ Kaffeehaus (1917) oder Claire Golls Pathé-Woche (1922). Diese späten Gedichte des Expressionismus befreien die Lyrik von ihrem starren metrischen Korsett. Unter die Kategorie der Intermedialität fallen 1. Gedichte, die die industrielle Vermarktung von Filmen zum Thema haben und die dahinter stehenden finanziellen Interessen (kritisch) beurteilen. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang Alfred Kerrs Sieg des Lichtspiels (1912) und Yvan Golls bereits diskutiertes Gedicht Der Kinodirektor (1917). 2. sind der Intermedialität Gedichte zuzuordnen, die auf Filmgenres und/oder -schauspieler anspielen und damit erstmals Filmstars stilisieren, wobei vor allem Asta Nielsen im Fokus der (männlichen) Schriftsteller steht. Beispielhaft seien hierfür Karl Ottens Asta Nielsen (1914), Johannes R. Bechers Der Fetzen (1913/14) oder Rudolf Leonhards Kinosonett (1919) angeführt, aber auch Ludwig Rubiners Kriminalsonette (1913), die sich am Abenteuergenre orientieren. Neben diesen zwei intermedialen und zwei intermaterialen Typen existieren Gedichte, in denen der Titel oder explizite Markierungen in den Strophen auf das Kino verweisen, diese Bezugnahmen aber nicht wirklich eingelöst werden. Sie können zur Erzeugung von Landschafts- und Stimmungsbildern verkehrt sein – wie in Alfred Liechtensteins Kientoppbildchen (1912) – oder mit konventionellem Gedichtaufbau und antiquierter Sprache kontrastieren, wie bei Johannes R. Bechers Kino (1913). Der Bezug auf das Kino – sei er intermedial oder intermaterial – erweist sich für diese Gedichte daher nicht als dominant, sondern muss in seiner Funktionalisierung analysiert werden, die indirekt Auskunft gibt über die zugrunde liegende Vorstellungen von der Lichtspielkunst. Da die expressionistische Kinolyrik in der Breite dieser Anspielungs- und Darstellungsverfahren noch nicht untersucht wurde, sollen im Folgenden sowohl intermateriale als auch intermediale Bezüge berücksichtigt und Gedichte aus allen aufge-
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zeigten Spektren besprochen werden. Wie bereits angedeutet sind bei den entwickelten Typen Mischformen bzw. Mehrfachbezüge möglich, weshalb die Unterscheidung nach Gedichtkategorien nur als grobe Orientierung dienen soll, die im Einzelfall um einen Nachweis aller enthaltenen Bezüge zum Kino erweitert wird, wobei der Fokus im Rahmen dieser Studie natürlich auf den intermaterialen liegt. Trotz dieser Einschränkung folgt die exemplarische Analyse einzelner Gedichte der entwickelten Reihenfolge – mit Ausnahme der zweiten intermaterialen Kategorie, die aus chronologischen Gründen zum Schluss diskutiert wird. Vor den genaueren Inblicknahmen ist es wichtig, auf einige publizistische Besonderheiten der Kinolyrik im Expressionismus hinzuweisen. Neben ihrer Veröffentlichung in Zeitschriften wie der Aktion, dem Sturm oder der Schaubühne zeigt sich ihre montageartige Zusammenschau in Anthologien als charakteristisch. Diese Präsentationsform weist eine deutliche strukturelle Parallele zu den Nummernrevuen der ersten Filmvorführungen auf. Nicht zufällig erscheint beispielsweise Jakob von Hoddis’ Kinematograph in einem Gedichtzyklus mit dem Titel Varieté. Eigenständige Filmanthologien sind nur drei bekannt: Yvan Golls Films (1914) mit dem bezeichnenden Nebentitel Verse, Heinrich Bachmairs unter seinem Pseudonym Sebastian Scharnagl herausgegebene Sammlung Der selige Kintopp. Asta Nielsen zu eigen (1913/14) und Claire Golls Lyrische Films (1922). Während Yvan Goll eine durch die Überschrift evozierte qualitative Ausrichtung am Film schuldig bleibt und in keinem seiner 14 Gedichte das Kino oder den Film thematisiert,99 beinhaltet Der selige Kintopp in dem Titel gebenden Gedicht von Scharnagl direkte intermateriale Anspielungen auf die Kinosaalsituation, die übrigen Gedichte präsentieren sich im intermedialen Sinne als Dichtungen auf das Milieu des Varietés sowie die Situation der Frau als Schauobjekt und Wunschprojektion des männlichen Begehrens und verweisen auf die Filmgenres und -rollen der Asta Nielsen.100 Die Sammlung, deren Entstehung sich einem ähnlichen spontanen Zusammenschluss von Schriftstellerinnen und Schriftstellern verdankt wie Pinthus’ Kinobuch, bleibt lange Zeit von der Forschung völlig unbeachtet,101 sicherlich nicht zuletzt, weil sich ihre Drucklegung auf nur 100 Exemplare beschränkt. Sie vereint Gedichte von Karl Otten, Johannes R. Becher, Emmy Hennings und Heinrich Bachmair/Sebastian Scharnagl und schwankt zwischen ekstatischer Hingabe und ernüchternder Desillu99
Der filmische Eindruck wird vor allem formal evoziert: „Goll betrachtet seine Gedichte als filmische Episoden aus dem Leben der Großstadt, aufgezeichnet von dem ‚KameraAuge‘ des Dichters.“ SCHÄFER 1965: 25.
100 Eine konkrete Gegenüberstellung der Filme Asta Nielsens mit den Gedichten des Seligen Kintopps steht in der Forschung noch aus. 101 Vgl. SCHWEINITZ 1994: 72. Ob das Kinobuch den Gedichtzyklus beeinflusst hat, kann nur vermutet werden. Vgl. ebd.: 78.
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sionierung (Karl Otten: Asta Nielsen) bis hin zum tragischen Kommentar auf die Lebenssituation der Frau im Kontext von Boulevard und Varieté (Emmy Hennings: Die Mutter, Johannes R. Becher: Gesang zur Nacht). Insgesamt bilden die Gedichte zwar nur einen losen Zusammenhang, da sie teilweise bereits vor dem Entschluss zu einem gemeinsamen Gedichtband geschrieben wurden, in ihrer heterogenen Ausrichtung und doppelbödigen Perspektive auf das Kino- und Varietéumfeld stehen sie aber durchaus paradigmatisch für eine im Prozess begriffene, das Für und Wider auslotende Auseinandersetzung der literarischen Moderne mit dem Film. In Claire Golls 1922 erschienener Gedichtsammlung Lyrische Films ist diese Entwicklung bereits abgeschlossen. Unter dem Motto „Globus-Kino“ – ein Verweis auf das gleichnamige Gedicht von Yvan Goll – fasst sie zu Beginn der Anthologie fünf Gedichte zusammen, die das Großstadtleben mit seinen Insignien von Verkehr, Masse und Lichtreklamen abbilden. Neben dem Motto erfährt das Kino in zwei Gedichten seine explizite Erwähnung: in dem an späterer Stelle genauer analysierten Gedicht Pathé-Woche, das sich in toto als Kinovorstellung präsentiert, und in Zwanzigstes Jahrhundert, das dieses als Säkulum von Maschine und Tempo preist und das Kino als Ersatzreligion feiert: „Wir beten in Kinos / Die kurbelnde Schicksalsgöttin an.“102 Deutlich zeigen sich in diesem Gedicht die Einflüsse der Futuristen, die sich anhand von Parallelstellen zu Marinettis Manifesten nachweisen lassen.103 Auch wenn in anderen Gedichten des Zyklus mit dem Motiv der Sehnsucht ein nostalgisches Moment Einzug hält, Zwanzigstes Jahrhundert zelebriert eine bedingungslose Hingabe der Sprecherin an die Technik, dessen Kind das Kino ist. Lenkt man den Blick zurück an den Anfang dieser Entwicklung und unterzieht einzelne Gedichte der expressionistischen Kinolyrik aus dem aufgezeigten Spektrum einer genaueren Untersuchung, so fällt besonders bei den Gedichten des ersten intermaterialen Typs – dem thematischen Rekurs auf das Kino in seinen institutionellen und technischen Voraussetzungen – eine stark ablehnende Haltung auf, die sich auf Qualität und Darstellungsweise der gezeigten Filme und die örtlichen Rahmenbedingungen bezieht. Zugleich bleibt aber eine Anziehungskraft des neuen Mediums nicht verborgen. Hinter der zunächst unverfänglichen Schilderung eines Kinogangs entfaltet etwa Jakob von Hoddis’ Gedicht Kinematograph eine subtile Ironie, die sich zum einen in der heterogenen Handlungsreihung ausdrückt, zum 102 CLAIRE GOLL 1922: 7f. 103 Beispielsweise spielen die Zeilen „Eine Lichtreklame erschüttert mehr / Als der Mond“ (CLAIRE GOLL 1922: 7) auf das Motto „Tod dem Mondschein“ des zweiten Futuristischen Manifests an. Vgl. MARINETTI 1909b: 7. Strukturelle Analogien stellt Golls Gedicht zum ersten Futuristischen Manifest her, da es stellenweise dessen Forderungscharakter imitiert: „Wir brauchen die neue Landschaft der Stadt, / Den Tanz der Turbinen, / Den öligen Atem der Maschine.“ CLAIRE GOLL 1922: 7; vgl. MARINETTI 1909a: 4f.
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anderen über die wiederholte Verwendung des „man zeigt uns“ eine distanzierte Haltung des Sprechers evoziert, die in der letzten Strophe in offene Missbilligung ausbricht. Schluß: Kinematograph Der Saal wird dunkel. Und wir sehn die Schnellen Der Ganga, Palmen, Tempel auch des Brahma, Ein lautlos tobendes Familiendrama Mit Lebemännern dann und Maskenbällen. Man zückt Revolver, Eifersucht wird rege, Herr Piefke duelliert sich ohne Kopf. Dann zeigt man uns die Kiepe und mit Kropf Die Älperin auf mächtig steilem Wege. Es zieht ihr Pfad sich bald durch Lärchenwälder, Bald krümmt er sich und dräuend steigt die schiefe Felswand empor. Die Aussicht in der Tiefe Beleben Kühe und Kartoffelfelder. Und in den dunklen Raum – mir ins Gesicht – Flirrt das hinein, entsetzlich! nach der Reihe! Die Bogenlampe zischt zum Schluß nach Licht – Wir schieben geil und gähnend uns ins Freie.104
Mit dem Titel wird zunächst der intermateriale Bezug zum Kino eindeutig markiert und die in den folgenden Strophen entfalteten Szenen diesem zugeordnet. Aufschlussreich ist dabei, dass von Hoddis mit dem Kinematographen auf die Filmapparatur und Projektionsarbeit rekurriert, die zu Beginn der Kinogeschichte mit den Techniken des Schreibens in Verbindung gebracht wurde. Der Begriff Kinematograph gehört zwar damals zum gängigen Repertoire, doch gibt es etliche Synonyme, wie die anderen Kinogedichte beweisen. Die Wahl muss daher als bewusste Entscheidung gewertet werden, um allein schon mit der Bezeichnung ein Vergleichsund Konkurrenzverhältnis zur Literatur aufzubauen, bei dem das Kino keinen guten Stand hat. Neben der Apparatur fungieren die Nennung des Kinosaals in der ersten Strophe und die Beschreibung des dunklen Raums in der vierten als weitere intermateriale Markierungen. Gemeinsam mit dem Flirren in der letzten Strophe bilden
104 HODDIS 1911: 373.
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diese vier Begriffe ein semantisches Feld des Kinos, das wie ein isotopes Netz intermaterialer Verweise das Gedicht durchzieht. Neben diesen semantischen Anspielungen verarbeitet von Hoddis in der Verknüpfung heterogener Vorstellungsbilder auch den filmischen Reihungsstil, wendet ihn jedoch kritisch gegen das Medium – wie Silvio Vietta und Dirk Kemper zeigen105 –, und spielt sogar das Metrum gegen die Reihung aus. So weist die vierte Strophe eine Ruptur in der metrischen Ordnung auf und durchbricht mit seinem Kreuzreim das gleichmäßig umarmende Reimschema der ersten drei Strophen. Zusätzlich integriert von Hoddis mit „entsetzlich“ einen (assonanten) Binnenreim, der mit den Bezugswörtern „Gesicht“ und „Licht“ den optischen Rezeptionsvorgang diffamiert. 106 Zum Ausdruck kommt darin vor allem eine Überforderung und Reizüberflutung des Zuschauers („mir ins Gesicht – flirrt das hinein“),107 gegen die sich die vierte Strophe semantisch wie prosodisch auflehnt. Der Bildwirkung kann sich allerdings auch der Sprecher als Teil des Zuschauerkollektivs nicht entziehen. Als intermaterialer Kinogänger ist er affiziert („geil“) und gelangweilt („gähnend“) zugleich. Das Gedicht lässt sich vor diesem Hintergrund als Widerstand der Poesie gegen das Kino deuten. Da es am Ende eines größeren Varietézyklus steht, herrscht in der Forschung jedoch Uneinigkeit darüber, ob die Antihaltung des Zuschauers sich bloß gegen die Filmvorführung richtet oder die Varietéschau in Gänze mit einschließt. So argumentiert Bernd Läufer, dass die ablehnende Haltung des Sprechers „Resultat des gesamten Varietéprogramms“ sei, und kritisiert all jene Interpretationen, die das Gedicht vom Zyklus isoliert behandeln.108 Dieser Ansicht widersprechen allerdings die zahlreichen positiven Eindrücke, die von Hoddis neben den ironischen Passagen in seine Sammlung einbaut. Vor allem das achte Gedicht Die Tänzerin, in dem der Sprecher in schwärmende Hingabe verfällt, muss – trotz seines ernüchternden Endes – als positiver Kontrast verstanden werden, vor dessen Hintergrund sich die ablehnende Haltung gegenüber der Filmvorführung sogar noch verstärkt. Festmachen lässt sich diese unterschiedliche Wertung auch an der spezifisch filmischen Wahrnehmung, die durch die intermaterialen Bezüge aufgerufen wird. Zwar bildet das Varieté in seinen Räumlichkeiten einen konstanten intermaterialen Rahmen, die Schausituation ist je nach Darbietung aber eine grundverschiedene: während sich der Sprecher beim Anblick des Varietéprogramms als unbeobachteter Beobachter fühlen kann und daraus sein Sehvergnügen schöpft, wirkt die Filmrevue aggressiv auf ihn ein. Von Hoddis suggeriert damit, dass sich die filmische Projektion nicht nur auf die Leinwand, sondern auch auf die Zuschauer einschreibt. Der durch den Titel evozier105 Vgl. VIETTA/KEMPER 1975: 125. 106 Zur metrischen Struktur vgl. die Analyse von LÄUFER 1992: 158-160. 107 Vgl. SEGEBERG 1998: 209. 108 LÄUFER 1992: 165.
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te Verweis auf die Technik des Schreibens wird an dieser Stelle wieder abgerufen und lässt das gesamte Gedicht in einer reziproken Intermaterialität von Schrift und Film erscheinen. Die Schausituation und die materialen Voraussetzungen des Kinos kennzeichnen auch das Gedicht Der selige Kintopp von Sebastian Scharnagl, das aber dem Kino gegenüber wohlwollender eingestellt ist. Es kann ebenfalls dem ersten Typ intermaterialer Kinolyrik zugeordnet werden: Der selige Kintopp Wir starren unentwegt hin auf die Leinwand, wo blasse Schatten ineinander schweben erheben gar nicht den geringsten Einwand betreffs des Schundprogramms, das sie hier geben. Und unsere Lippen zucken jäh im Krampfe, wenn sich Rivalen mit Pistolen schießen. Doch endet tödlich dieser Liebeskampfe, dann müssen unsre heißen Tränen fließen. So lindern tröstlich wir die Feuerwunden, die uns ein hartes Leben lächelnd schlug: Was wir empfinden, das wird dort empfunden. Wir grüßen Dich, Du heiliger Betrug der Leinwand mit den magren Schattenhunden, die uns ein guter Gott ins Dasein trug.109
Der „doppeldeutige Blick“110 , den dieses Gedicht in seinem intermaterialen Anspielungshorizont auf das Kino wirft, verbindet emotionale Involviertheit auf der einen und ein Wissen um die Trivialität des Gesehenen auf der anderen Seite. Als materiale Voraussetzungen des Kinos werden explizit zweimal die Leinwand und das auf ihr stattfindende Schattenspiel benannt. Die intermaterialen Marker und ihre Kontexte thematisieren Produktions- und Rezeptionsbedingungen im Kino. Scharnagl unternimmt indessen keinen (kritisch motivierten) Versuch, das eigene Sprachmaterial an den formalen Gesetzmäßigkeiten der Filmprojektion auszurichten, sondern fasst die Anspielungen in das Korsett eines Sonetts mit einem simplen
109 SCHARNAGL 1913/14b: 6. 110 SCHWEINITZ 1994: 78.
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und eingängigen Reimschema. Ein weiterer Unterschied zu von Hoddis besteht in der Bewertung des Kinos: Da gleich in der ersten Strophe der Minderwert der Filme reflektiert wird, laufen kritische Perspektive und emphatische Hingabe parallel. Mehr noch vermischt sich in Scharnagls Gedicht eine identifikatorische mit einer Metaperspektive, wobei sich Erstere auf das bezieht, was durch das Medium Kino zur Darstellung gebracht wird, während die Metaperspektive die materialen Voraussetzungen dieses Mediums in den Blick nimmt und somit den Modus der intermaterialen Bezüge bildet. Sowohl bei der identifikatorischen Betrachtung als auch bei der technischen lassen sich positive wie negative Bewertungen ausmachen. So gibt sich das Sprecherkollektiv trotz der rationalen Vorbehalte gegen das „Schundprogramm“ den Reizen der Filmbilder hin, weil es unter der Hypnose der Bewegungsbilder den Blick nicht abwenden kann und sogar eine Linderung der „Feuerwunden“ erfährt, „die uns ein hartes Leben lächelnd schlug“. Auch die im engeren Sinne intermaterialen Bezüge evozieren zwei gegensätzliche Urteile. So ist die „Leinwand mit den magren Schattenhunden“ einerseits in ihren wenig ausgefeilten Darstellungsverfahren angesprochen, andererseits wird die neue Technik zum „heiligen Betrug“ stilisiert, den ein „guter Gott ins Dasein trug“. Das Gedicht endet folgerichtig nicht mit dem Verlassen des Kinos wie bei von Hoddis, sondern der selige Kintopp gerät zu einer Ersatzreligion und zweiten Schöpfung. Mit dieser ambivalenten Einstellung ist eine zentrale Funktion der Intermaterialität in der expressionistischen Kinolyrik gekennzeichnet: Die intermaterialen Verweise sind Ausdruck einer Faszination an der neuen Technik und rufen zugleich das Gemachtsein der durch sie erzeugten Illusion ins Bewusstsein zurück. Wie diese teils affirmative, teils kritische Thematisierung des Kinos seitens der Autoren persifliert werden kann, zeigt das Gedicht Sieg des Lichtspiels von Alfred Kerr. Es muss der ersten intermedialen Kategorie expressionistischer Kinolyrik zugeordnet werden, weil es sich im weiteren Sinne auf die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen des Kinos bezieht. Genauer verhandelt der berühmte Berliner Theaterkritiker in seinem Gedicht die finanzielle Anziehungskraft, die die Filmindustrie auf die schreibende Zunft ausübt und neben jüngeren Autoren wie Alfred Döblin und Bertolt Brecht auch namhafte Dichter aus Naturalismus und Wiener Moderne zum Drehbuch lockt oder dazu bringt, ihre Texte zur Verfilmung freizugeben.111 111 Im Herbst des Jahres 1912 kommt es zur Gründung einer Kooperationsgemeinschaft zwischen der Union, der damals größten deutschen Lichtspielgesellschaft, und dem Verband Deutscher Bühnenschriftsteller, in deren Folge viele Autoren ihren Vorbehalt gegenüber dem Kino aufgeben und die so genannten Autorenfilme nach Roman- und Dramenvorlagen oder neu verfassten Drehbüchern entstehen. Vgl. ZELLER 1976: 124. Als erster Autorenfilm gilt Max Macks Der Andere (1913), für den Paul Lindau sein gleich-
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Sieg des Lichtspiels Nicht nur winzig schofle Krittler! Gerhart Hauptmann; Arthur Schnitzler; Widerstreben eingestellt – Denn die Sache trägt a Geld! Hat man auch sein hohes Ziel lieb, Siegt doch goldner Esel; (Philipp). Wo er an das Haustor pochte; Gibt es Dramen ohne Wochte. Nietzsche selbst in Firnenpracht Hätte heut Kontrakt gemacht; Filmte in modernen Lustren Einsam hüpfend Zarathustren.
112
Der durch die expliziten Markierungen ‚Lichtspiel‘, ‚Drama ohne Wochte‘ und ‚Filmte‘ hergestellte Bezug zum Kino bekommt durch die Sprache, genauer: die Integration rheinländischer und bajuwarischer Dialekte eine eindeutig abschätzige Konturierung. Die Relation von Literatur und Kino wird von Kerr als ein Kampf begriffen, aus dem das Kino als Sieger hervorgeht. Darin zeigt sich die bis heute wirkungsmächtige Zuschreibung von Literatur als Bildungsgut und Kino als industriellem Massenprodukt, das über finanzielle Macht verfügt. Anders als es diese Verse vermuten lassen, will sich Kerr jedoch nicht grundsätzlich vom Kino distanzieren. In seinem Artikel Kino für die Zeitschrift Pan von 1912 gesteht auch er ein, den Verlockungen des Lichtspiels zu erliegen, und liefert hierfür eine Erklärung, die zwischen technischen Möglichkeiten und Programm unterscheidet: „Soweit hat im Kientopp der Zuschauer nicht nur Anteil für das, was an Stofflichem vorgeführt wird, – sondern für technische Mittel, durch die man Dinge vorführen kann.“113 Während in Scharnagls Gedicht Der selige Kintopp sowohl die medial erzeugten Inhalte als auch die technisch-materialen Voraussetzung positiv wie negativ bewer-
namiges Theaterstück in ein Drehbuch umschreibt. Vgl. hierzu SCHLÜPMANN 1990a: 247-251. August Blom verfilmt 1913 Gerhart Hauptmanns ein Jahr zuvor veröffentlichten Roman Atlantis, und Arthur Schnitzler arbeitet sein 1895 uraufgeführtes Schauspiel Liebelei für den gleichnamigen Film um, der unter der Regie von Holger Madsen 1914 Premiere feiert. 112 KERR 1912: 13. 113 KERR 1912/13: 76.
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tet werden, kommt in diesem Zitat von Kerr eine eindeutige Präferenz zum Ausdruck: Das Programm ist ‚schund‘, die Technik des Kinos stellt dagegen faszinierende neue Erlebnismöglichkeiten bereit, die zum Gegenstand lyrischer Reflexion werden können. Sein Gedicht selbst stellt diese intermaterialen Bezüge freilich nicht her. Es greift vielmehr indirekt über den sprachlichen Ausdruck die pauschale Negativbewertung des Kinos auf. Dies geschieht nicht wie bei von Hoddis über eine kritische Adaption des Reihungsstils, sondern das Gedicht rekurriert vielmehr auf die Banalität des Kinoprogramms durch ein einfaches Reimschema und zeigt in seiner eingängigen metrischen Form die Konsequenzen auf, die sich ergeben, wenn sich die Literatur auf das Kino einlässt: Ebenso wie Nietzsches wortmächtiger Zarathustra zum hüpfenden Derwisch mutiert, verliert sie an Komplexität. Insofern stellt sich die Frage, ob tatsächlich das Lichtspiel siegt oder nicht doch die Literatur das letzte Wort behält. Vor dem Hintergrund dieser deutlichen Kritik an der Substanz der Filme wundert es nicht, dass sich eine vorbehaltlose Huldigungslyrik nur dort einstellt, wo sich das Niveau der Filme hebt und sich nicht zuletzt auch ein eigenes filmisches Schauspiel entwickelt. Wesentlichen Anteil an dieser Genese hat Asta Nielsen, die unter dem Regisseur Urban Gad zum ersten weiblichen Star der Filmgeschichte avanciert. Die dänische Schauspielerin spielt in zahlreichen Filmen mal den verführerischen Vamp, mal die in Ungnade gefallene Bürgerstochter und entfaltet darin einen besonderen Reiz auf das männliche Publikum, der sich in der Produktion zahlreicher Gedichte niederschlägt. Alle diese Gedichte fallen unter die zweite intermediale Kategorie expressionistischer Kinolyrik, weil sie der Filmschauspielerin als Person gelten und den Bezug zum Kino implizit enthalten. Dennoch zeigen sich auch hier teilweise die materialen Bedingungen des Kinos verhandelt, indem die Wirkung der erzeugten Bilder und die Situation des Schauens zum Thema gemacht werden. Neben Stilisierungen, wie in Walter Rheiners Asta Nielsen (1913) – „Deines Gesichtes bleiche Orchidee / geht in uns auf, wenn du dich kaum bewegst“114 – finden sich auch Gedichte, die den Starkult ambivalent sehen und dessen Kehrseite für Schauspieler und Zuschauer thematisieren, so beispielsweise Johannes R. Bechers Der Fetzen: „Gift und Küsse haben jauchzend dich zerstückt! / Schreite wie ein Pilger hinter dir gebückt, / Reih mich ein demütig in die Brüderschar, / Die um dich einst, tollverzückt, entglommen war.“115 Eine Mischung beider Perspektiven kennzeichnet das Gedicht Asta Nielsen von Karl Otten, das in dem bereits erwähnten Filmbändchen Der selige Kintopp als erster Text abgedruckt ist. Das Gedicht ist zweigeteilt in eine sechs Strophen umfassende Verhandlung über die Leinwandpräsenz Asta Nielsens und eine dreistrophige Spekulation darüber, wie 114 RHEINER 1913: 54. 115 BECHER 1913/14: 4.
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eines ihrer Rollenprofile in die ‚reale‘ Welt des Kinogängers transponiert werden könnte. Asta Nielsen I Deine Hände sind ein Monogramm in ein Schicksal eingedeutet das am Boden kriecht und frisst, sich häutet heimtückisch giftig wie ein Telegramm. In ein Schicksal eingedeutet warst du wild von Leid verzehrt – Ach dein Antlitz ist ein Flammenschwert deiner Haare Glocke Unglück läutet. Wild wirst du von Leid verzehrt und du rückst die Glieder unbeholfen Mädchen der Fabrik das eines Mannes Wege quert und in Liebe sich aufbläht wie ein Schiff auf Felsengolfen. Mädchen der Fabrik das eines Mannes Wege quert und sich gierend auflöst in der Augen Strahl das hypnotisch eingewiegt astral seines Leibes schmales Brot verzehrt. Gierend lösest du dich in der Augen Strahl weich gespreitet wie ein lichter Schein kläglich schwindend fort wie einer Narbe Mal du enttanzest den Statisten in ein Schicksal ein – – Weich gespreitet wie ein lichter Schein alle Menschen haben sich an dir geweidet alle haben überall dich ausgekleidet und versinken starr, so dein Lächeln scheidet und du kamst und warst wie immer: rein! II Könnte eine deiner Truggestalten vor dem lichten Tag bestehn
238 | I NTERMATERIALITÄT über unsre Wogenstraßen gehen und in einem Fensterzimmer Licht einschalten um als Wesen züchtig hin und her zu walten. Ach ich würde mich lang hinbetten Seidenkissen knisternd an das Haar Politik, Verbrechen, Rennen, Wetten alles wäre Seele klipp und bar, Leben nicht zu zählen in ein enges Jahr. So aber bin ich an die Luft gesetzt ein fremdes Reis ist in mein Fleisch gepfropft Kunde der an abgeschlissne Türen klopft Rock und Hände scheinig, abgewetzt bis mich toter Frost im Nebelpark einnetzt…116
In diesem Gedicht findet sich keine explizite Markierung des Kinos. Durch die Überschrift, die Nennung von Statisten in der fünften Strophe sowie die Dominanz visueller Eindrücke und den Kontext der Gedichtsammlung wird die Relation zur Schausituation im Kino jedoch indirekt aufgebaut. Zudem erzeugen die Begriffe „Monogramm“ und „Telegramm“ in der ersten Strophe einen Vergleich des visuellen Erlebens mit der Lektüre von Textsorten, deren Charakteristik die Abbreviatur ist und die darin mit der Reihung einzelner Einstellungen korrespondieren, wie sie das Gedicht imitiert. Demgegenüber soll die Wiederholung leicht variierter Verse der Präsenz und gleich bleibenden Anziehungskraft Asta Nielsens vor dem Hintergrund ihrer wechselnden Rollen entsprechen. Sie selbst wird in zwei Extremen gezeichnet: einem sakralen und einem sexuellen. Beide Zuschreibungen erfolgen über eine Relationssetzung zum Blick des Zuschauers, weshalb die visuelle Konstellation des Kinos und seine material-räumliche Situation als Subtext konnotiert sind. Der Blick ist dabei als ein begehrender kodiert, und die hypnotisierende Bildpräsenz Asta Nielsens beschränkt sich nicht nur auf eine einzige Vorstellung oder das Repertoire ihrer Filme. In dem Gedicht ist das Kino als universelles Phänomen angesprochen, das Filme an jedem Ort – im Sinne Walter Benjamins – technisch reproduzieren kann und dadurch Asta Nielsen global ‚verfügbar‘ macht („alle Menschen haben sich an dir geweidet / alle haben überall dich ausgekleidet“). Anders als in Benjamins Kulturdiagnose bedeutet die Verbreitung der Filme und ihrer Darstellerin keinen Verlust der Aura, im Gegenteil: im zweiten Teil des Gedichts ist das Ende der Vorstellung als krasser Gegensatz zur Kinosaalatmosphäre und Lichtge-
116 OTTEN 1913/14: 2f.
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stalt Asta Nielsens konstruiert. Der Kinoraum, der bei von Hoddis noch Ort eines klaustrophobischen Erlebnisses war, erfährt bei Otten seine Umdeutung zu einem Territorium gesteigerter Erlebnisdichte und Lebendigkeit. Damit einher geht eine Abwertung des ‚Draußen‘, der ‚realen‘ Welt, die sich nicht mehr als ersehnter Fluchtpunkt ausnimmt wie bei von Hoddis, sondern gegenüber den visuellen Reizen des Films trüb und morbide erscheint. Bezeichnenderweise wünscht sich der Sprecher auch in der ‚Realität‘ eine Kinosituation herbei, um von seinem tristen Dasein abzulenken („Könnte einer deiner Truggestalten / [...] in einem Fensterzimmer Licht einschalten / um als Wesen züchtig hin und her zu walten“). Es wundert daher auch nicht, dass das Ende der Vorführung bei Otten das Ende des Lebens impliziert, und zwar in doppelter Hinsicht: Zum einen sieht sich der Sprecher ohne die ‚Truggestalt‘ Asta Nielsen lebensunfähig, zum anderen löst diese sich zum Schluss des Gedichts im „tote[n] Frost“ auf, was Auswirkungen auf die gesamte Gedichtwahrnehmung hat. So distanziert sich in der letzten Strophe (trotz des subjektiven Sprechmodus) die Perspektive vom Sprecher und erzeugt einen visuellen Eindruck vom Verschwinden der Figur im Nebel. Vor dem Hintergrund der zuvor evozierten intermedialen Anspielungen ist somit die Assoziation vom Weiß der Kinoleinwand hervorgerufen, die das Gedicht insgesamt als eine Kinovorstellung enden lässt. Mit dieser semantischen Verknüpfung ist ein Motivkomplex entworfen, der das Ablaufen der Filmspur mit dem Vergehen der Lebenszeit zusammenführt. In diesem Konnex wird der Film auch für jene interessant, die nicht eigentlich an einer Kinolyrik interessiert sind, wie Gustav Sack, der sich in seinem Sonett Der Schuss (1914) eines Rekurses auf das Kinos bedient, um die Krisensituation seines Sprechers zu verdeutlichen. Auch wenn es dadurch keinem der entwickelten Gedichttypen expressionistischer Kinolyrik zugeordnet werden kann, sind sowohl intermediale als auch intermateriale Anspielungen zu beobachten. Der Schuss Drei wilde Nächte hab ich durchgebracht. Nun häng ich zitternd in der hohlen Stadt, die alle Lichter schon verloren hat vor Regengraus und Sturm – weh! welche Nacht! All meine Jahre sind hell aufgewacht und haben mir heißhungrig, nimmersatt mein wüstes Trinkerleben Blatt für Blatt auf einem grellen Filmband vorgelacht.
240 | I NTERMATERIALITÄT Sie winken mir und grinsen: war’s nicht so? umfluten mich und fragen: weißt du’s noch? und streicheln mich und flüstern: bist du’s nicht? Da hallt ein Schuß, laut, scharf, von irgendwo – der reißt in meinen Film ein schwarzes Loch, daß er entsetzt aufkreischt und – stumm zerbricht.117
Der Riss in der Filmspur, sprachlich adaptiert in der reimlosen Schlussstrophe, ist nicht mehr selbst Gegenstand der Reflexion, sondern in Anspruch genommen für einen Rückblick auf die verschiedenen Stationen des Lebens und dessen jähes Ende. Das Thema des Lebens ist also zugleich das Thema des Films und des Gedichts, womit wir es mit einer intermaterialen wie intermedialen Mehrfachverschränkung zu tun haben. Mit dem „grellen Filmband“ und der akustischen Parallelisierung eines Revolverschusses mit einer Störfunktion der Filmapparatur ist das Material des Kinos als technische Voraussetzung benannt und zugleich mit den medial erzeugten Bildern des Lebens als Filmhandlung verknüpft. Neben diesen Bezügen lassen sich weitere Rekurse auf das Kino nachweisen, besonders im Hinblick auf die Perspektive des Sprechers und den evozierten Hell-Dunkel-Kontrast. So kann die zu Beginn genannte Stadt, „die alle Lichter schon verloren hat“, mit der Kinosaalatmosphäre in Verbindung gebracht werden, vor deren Hintergrund sich in der zweiten Strophe die Visionen des betrunkenen Sprechers als Lichtprojektionen absetzen. Der Sprecher wird zum Zuschauer seines eigenen Films, der sich „Blatt für Blatt“ vor ihm abspielt und damit die einzelnen Stationen seines Lebens zu einer Filmmontage verdichtet. Damit setzt eine neue Qualität in der Auseinandersetzung mit dem Kino ein, die auf ein etabliertes technisches Wissen zurückgreift und dieses für andere Zwecke funktionalisiert. Das Filmband ist als Metapher für das Leben in die Sprache übergegangen. Der nächste Entwicklungsschritt intensiviert den sprachlichen Umgang mit dem (nicht mehr ganz so) neuen Medium. Paradigmatisch stehen hierfür George Grosz und Claire Goll, deren Kinogedichte zur zweiten intermaterialen Kategorie zählen, da sie den sprachlich markierten Bezug zu Film und Kino durch eine strukturelle Annäherung intensivieren. Der Grund dafür, die Gedichte Grosz’ und Golls am Schluss dieses Kapitels zu analysieren, resultiert aus dem Umstand, dass beide Künstler eher am Rande des Expressionismus zu verorten sind und sich die affirmative intermateriale Adaption filmischer Verfahren daher als ein Phänomen des Spätexpressionismus darstellt. Den dadaistischen Einschlag in Grosz’ Kaffeehaus zeigt bereits der erste Vers an: „Cognac, Whisky, Schwedenpunsch“, von dem aus sich
117 SACK 1914: 30.
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das Gedicht als Vision eines Betrunkenen entfaltet. In dieser Konstellation wird der Film zu einer intermaterialen Markierung eines rauschhaften Wahrnehmungsmodus, der nur noch zur Aneinanderreihung disparater Eindrücke fähig ist: Ich bin wie ein Kind in tausend Lunaparks Und wie Bandstreifen, Film Dreht sich rot und gelb, Und Tische verändern Farbe und Form Und wandeln spazieren – Zwischen den dicken Schenkeln der Frauen und weissen Blusen. Einer kurbelt fortwährend.118
Der intermateriale Verweis auf den „Bandstreifen“ als dem genuinen Aufnahmeund Reproduktionsmaterial des Films fungiert in diesem Gedicht nicht dazu, das Kino selbst darzustellen. Dessen Montagetechnik wird vielmehr zweckentfremdet, um in der losen Kopplung von Bildern und der Inversion des Wahrgenommenen ein synästhetisches Erlebnis zu evozieren. Darin ähnelt es dem Gedicht von Sack, während dieser allerdings die Bezüge zum Film in ein klassisches Reimschema einkleidet, adaptiert Grosz formal die Montagetechnik des Films durch die Aneinanderreihung reimloser Verse im eigenen sprachlichen Material. Andersherum erreicht Sack mit dem metaphorischen Rekurs auf das Kino eine Identifizierung der Sprechersituation mit einer Kinovorstellung, während Grosz bloß einen Vergleich herstellt („Und wie Bandstreifen, Film“), wodurch der intermateriale Bezug auf der sprachlich-semantischen Ebene weniger stark ausfällt. Sehr deutlich sowohl thematisch als auch formal richtet sich Claire Golls Gedicht Pathé-Woche am Material und Programmspektrum des Kinos aus. Das 156 Verse umfassende Gedicht stammt aus dem Band Lyrische Films und stellt eine groteske Übersteigerung dessen dar, was Kurt Pinthus als eines der wesentlichen Ausdruckmittel des Schreibens für den Film qualifiziert: die Darstellung unterschiedlicher Milieus und Orte. Von Sizilien bis Chicago, von Tokio bis Honolulu, vom Nordpol zum Südpol, sogar bis zum Mars geht der rasende Bild- und Verswechsel. Das Kino entwickelt sich zur „Weltarena“119 , zum Panoptikum willkürlich zusammengestellter Erlebnisfetzen, dem sprachlich eine Aneinanderreihung kurzer, häufig elliptischer Hauptsätze sowie Schnittfolgen imitierende Enjambements entsprechen. Genauso schlagartig wie die Topographie wechselt auch die Handlung. Auf tanzende Derwische in der Türkei folgen Großbrände in New York und Chicago, auf den strickenden Buddha folgt der Auftritt Gottes als Clown. Goll imitiert damit den „atemlose[n] Rhythmus“, den sie in einem Beitrag von 1920 dem ameri118 GROSZ 1917: 20. 119 CLAIRE GOLL 1922: 12.
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kanischen Kino als dem Schöpfer des „wahren Film[s]“ attestiert.120 Anders als in von Hoddis’ Kinematograph transponiert Goll die Verbindung disparaten Bildmaterials affirmativ in die Literatur. Zusätzlich reflektiert sie die Situation des Zuschauens, indem sie den Sprecher die Situation im Kinosaal kommentieren lässt: „Neben mir träumt eine Filmstar zu werden. / Hinter mir küssen sich zwei, / Sehnsucht arbeitet mit 3000 Volt“121 . Erweitert wird dieser intermateriale Bezug zum Kino durch intermediale Anspielungen der zweiten Kategorie auf zeitgenössische Schauspieler wie den US-Amerikaner Douglas Fairbanks oder den Japaner Sessue Hayakawa, die Claire Goll in ihrem Artikel Amerikanisches Kino neben Charlie Chaplin als die „weltberühmtesten und weltgefeiertsten Mimen“122 herausstellt und denen sie mit dem Gedicht somit eine poetische Hommage erweist. Gleiches gilt für intermediale Verweise auf real existierende Filme, die ebenfalls unter die zweite Kategorie fallen. So wird nach einer „Pause mit Selters und Zuckerstangen“123 die Komödie Charlot-Marquis gezeigt, ein Film von 1914 mit Charlie Chaplin, der im englischen Original Cruel, Cruel Love heißt. Die Funktion dieser Anspielungen besteht darin, das Kino in seiner gesamten Spannbreite sprachlich fassen zu wollen und zugleich dort Akzente zu setzen, wo dessen Stärken und ästhetischer Wert liegen. Zusammen mit der intermaterialen Angleichung des formalen Aufbaus an den Film stellt Golls Gedicht den bis dato stärksten Versuch dar, die Lyrik den Gesetzmäßigkeiten des Films anzugleichen und dessen zeitgenössisches Erscheinungsbild umfassend abzubilden. Auch ohne materiale Kopräsenz erzeugt diese Fülle intermaterialer wie intermedialer Bezüge auf das Kino eine hohe ästhetische Dichte. Trotz einiger parodistischer Zwischentöne gerät bei Goll, die seit November 1919 in Paris lebt, das Kino in seiner globalen Ausdehnung zum Ort des (literarischen) Exils. Der Zuschauer ist nicht mehr überfordert von der Sequentialität der Bilder, sondern sucht im Gegenteil in ihnen seine Zuflucht. So endet das Gedicht mit den Worten: „Im Kino / In fünf Kontinenten zugleich / Ist meine Heimat.“124 Die literarische Moderne ist im Kino angekommen. Bis zu dieser Ankunft war es ein langer Weg. Die Tour d’Horizon durch einige Beispiele expressionistischer Kinolyrik konnte zeigen, dass die Einstellung zum Kino einen Wandel von einer kritisch-ironischen hin zu einer ästhetischaffirmativen durchgemacht hat. Voraussetzung für diesen Umschwung ist vor allem eine Unterscheidung zwischen Programm und Material bzw. zwischen Inhalt und technischen Möglichkeiten. Während die Autoren sich in den frühen Gedichten 120 CLAIRE GOLL 1920: 146. 121 CLAIRE GOLL 1922: 10. 122 CLAIRE GOLL 1920: 147. 123 CLAIRE GOLL 1922: 13. 124 Ebd.
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über den gezeigten ‚Schund‘ erregen, erkennen spätere das künstlerische Potential des Films und adaptieren dessen Gesetzmäßigkeiten. Zwar wird von den Autoren auch schon um 1912 der Reihungsstil aufgegriffen, zugleich behaupten sich ihre Gedichte aber sprachlich, indem sie an einer klassischen Strophenform festhalten und mit diesem Schema nur brechen, um gegen das Kino rhetorischen wie metrischen Widerstand zu leisten. Erst ab 1917 finden sich affirmative Aneignungen materialbedingter Verfahren wie Montagetechnik oder Schnitt und mit ihnen auch eine verbalisierte Bejahung gegenüber dem Film. Ein „kinematographischer Schreibstil“125, der sich nicht in einer Reihung von Eindrücken erschöpft, sondern die lyrische Sprache aus ihren festen Strukturen befreit, stellt sich daher erst später ein. Von Anfang an aber beweist die expressionistische Lyrik, dass das Kino kein Tabuthema der Literatur sein muss, sondern auch in Kritik und Persiflage zum intermedialen wie intermaterialen Thema gemacht werden kann.
Zusammenfassung Anders als die emphatische Verbindung verschiedener Künste in den Bühnenkompositionen oder die eindeutig positiv besetzte Annäherung von Text und Bild erweist sich die literarische Bezugnahme auf den Film im Expressionismus als heterogen. So entsteht Kurt Pinthus’ Kinobuch zwar aus einer Faszination für die Lichtspielkunst heraus, zugleich steht hinter der Produktion von Kinostücken die Kritik an der zeitgenössischen Praxis, Romane und Dramen zu verfilmen. Eine kontroverse Einstellung zum Kino zeigt sich auch in der expressionistischen Kinolyrik. Besonders den frühen Kinogedichten ist eine kritische Haltung eingeschrieben, die erst in den späteren Gedichten zugunsten einer produktiven Aneignung aufgegeben wird. Für die Theorie der Intermedialität und Intermaterialität lässt sich daraus schließen, dass intermediale Bezüge oder intermateriale Adaptionen nicht mit einer Affirmation des Bezugsmediums gleichzusetzen sind. Darüber hinaus kann für die Relationssetzung der Literatur zum Film festgehalten werden, dass ihre intermedialen Bezüge stets sprachlich-inhaltlich sind, die intermaterialen dagegen entweder sprachlich-inhaltlich oder formal. Intermateriale Bezüge sprachlich-inhaltlicher Art gehen im Unterschied zu intermedialen Bezügen auf die materialen Bedingungen des Bezugsmediums ein, intermateriale Bezüge formaler Art adaptieren diese und versuchen eine strukturelle Angleichung. Während also bei den ersten beiden Bezugstypen Kino oder Film semantisch evoziert sind – durch Nennung von Leinwand, Projektor, Kinosaal (sprachlich-intermaterial) oder Filmschauspielern, Filmen oder Filmindustrie (sprachlich-intermedial) – weist der literarische Text in der 125 SEGEBERG 1998: 208.
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formalen Adaption strukturell auffällige Merkmale auf wie Parataxe, Reihung disparater Eindrücke, häufiger Perspektivwechsel und die Verwendung visueller Metaphorik. Da all diese Verfahren auch in Texten zu finden sind, die sich nicht auf das Kino beziehen, sind bei diesem Typ der Intermaterialität zumeist explizite Markierungen nötig, d.h. die Nennung von Film und Kino im Titel oder im Text selbst. Häufig haben wir es mit einer Mischung der verschiedenen Bezugsebenen zu tun, für alle gilt aber, dass Kino und Film in ihrer Materialität stets apräsent sind. Vergleicht man diese Möglichkeiten der Literatur, auf den Film zu verweisen, mit den Verfahren des Films, auf die Literatur zu rekurrieren, so wird klar, dass dies kein Äquivalenzverhältnis ist. Als integrales Medium kann der Film weitaus intensivere Beziehungen zur Materialität von Literatur, der Schrift, herstellen. Worin die Unterschiede genau bestehen, ist Gegenstand des folgenden Kapitels.
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2. D ER S TUMMFILM
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S CHRIFT
Im Unterschied zur Literatur, die in ihren intermaterialen Bezügen und Adaptionen stets sprachlich verfasst bleibt, vermag der Film die Schrift materialiter in sein eigenes Bewegungsbild zu integrieren bzw. diese in ihrer Materialität hervorzuheben. Er kann dies auf verschiedene Arten tun: als Inventar der gefilmten Handlung in der Gestalt von Büchern, Briefen, Zetteln etc., als Zwischentitel und Credits sowie als Einblendung von Schriftzügen oder Buchstaben in das Geschehen hinein.126 Bei allen drei Verfahren ist die Schrift in ihrer Materialität präsent und eröffnet damit die Möglichkeit, nicht nur als Informationsträger zu dienen, sondern als formales Gestaltungselement eingesetzt zu werden. Der Bezug zur Schrift geschieht beim Film also stets in Gestalt einer direkten Intermaterialität, auch wenn diese nicht immer gleich stark ausfällt. Anders als bei der Relation von Literatur und Malerei funktioniert die Verbindung von Schrift und Filmbild indes nicht auf gleicher Ebene, vielmehr ist die Schrift bereits integraler Bestandteil des Mediums Film und damit – semiotisch formuliert – dessen Bezeichnetes. Gerade im Stummfilm eröffnen sich jedoch formale Gestaltungsmöglichkeiten, die über ein reines Abfilmen von Schrift hinausgehen und bei denen die Filmspur selbst und damit indirekt auch die Leinwand zur Schreibfläche werden kann. So lassen sich auch hier Steigerungsformen beobachten, die in Analogie zu den bereits entwickelten der Kopräsenz und der Fusion stehen. Während im ersten Fall – Schrift als Inventar – die Trägermedien klar Teil der diegetischen Welt sind und die Betonung der auf ihnen abgedruckten oder handschriftlich vermerkten Schrift eine Inszenierungsoption sein kann, handelt es sich bei den Zwischentiteln um von der Mise en Scène abgegrenzte Schrifteinheiten, die als sprachliche Verbindungsglieder in einer Relation des Nacheinanders zwischen zwei Bildsequenzen stehen. Sie können als Erzählerkommentare Erklärungen für das bildlich Dargestellte liefern oder Dialoge wiedergeben, materialisieren sich jedoch direkt auf dem Filmband. Ihre Bearbeitung unterliegt einer großen Gestaltungsfreiheit und kann durch Variation der Schriftart und -größe sowie des Textflusses die Materialität der Schrift pointieren und so die intermateriale Ausrichtung des Films intensivieren. Am stärksten ist der intermateriale Bezug zur Schrift, wenn sich die Schrifteinblendungen direkt in die Mise en Scène des Stummfilms einfügen und diese selbst als Schreibfläche fungiert. In diesem Fall verbindet sich das Dargestellte mit den Schriftzeichen zu einem bewegten TextBild-Komplex. Die drei Intensitätsstufen und Verfahren der Integration von Schrift im Stummfilm lassen sich begrifflich unterscheiden in eine diegetische, eine konnektierende und eine fusionierende Intermaterialität.
126 Vgl. hierzu auch PAECH 1994b.
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Filmgeschichtlich erhöht sich die Bedeutung von Schrift ab 1910 mit dem Aufkommen längerer Spielfilme, weil komplexere Handlungen nicht allein über die Bildmontage erklärbar scheinen. Parallel hierzu setzt eine ästhetische Diskussion über den Einsatz von Schrift im Film ein, die ähnlich kontrovers wie die KinoDebatte im literarischen Diskurs geführt wird. Ein häufig formuliertes Problem in der Kombination beider Materialien besteht darin, dass Bewegungsbilder und Texte, obwohl sie beide nach dem Prinzip der linearen Abfolge funktionieren, unterschiedlichen Rezeptionsverfahren unterliegen: Während die Filmbilder bewegt sind und eine passive Wahrnehmung erlauben, stehen Texte ‚still‘ und verlangen eine aktive Leistung vom Zuschauer. Weil die Texteinschübe in diesem Sinne den Bildfluss unterbrechen und die Dynamik des Films stören, äußern sich viele zeitgenössische Befürworter des Films kritisch gegenüber der Integration von Zwischentiteln. Auf der Suche nach dem genuin Filmischen, den eigenen Gesetzmäßigkeiten der ‚Kunstform‘ Film, gilt in Zeiten des Stummfilms ein Primat des Visuellen vor dem gesprochenen wie geschriebenen Wort. Schon Pinthus macht sich über „erklärende Täfelchen“127 lustig und plädiert in seiner Einleitung zum Kinobuch für einen kompletten Verzicht von Zwischentiteln. Allen voran aber entwickelt Béla Balázs eine Filmästhetik auf Basis dieses vermeintlich zentralen Gegensatzes. Sein Buch Der sichtbare Mensch oder Die Kultur des Films von 1924 entwirft eine Kulturdiagnose, die mit dem Aufkommen des Films eine neue Periode der Sichtbarkeit beginnen sieht. In einem triadischen Geschichtsmodell teilt er die Soziogenese des Menschen in eine vor- und eine nachbegriffliche Phase, deren Dreh- und Angelpunkte die Erfindung des Buchdrucks im 15. und des Filmprojektors im 19. Jahrhundert sind. Durch den Buchdruck sei die ursprünglich visuelle menschliche Kultur in eine begriffliche verwandelt worden, mit der Folge, dass in der einseitigen Ausprägung des Intellekts der physische Ausdruck verkümmert sei. Gegen diese Dominanz des Materials der Schrift stellt Balázs mit seiner Filmtheorie das kulturrevolutionäre Potential des Kinos: Nun ist eine andere Maschine an der Arbeit, der Kultur eine neue Wendung zum Visuellen und dem Menschen ein neues Gesicht zu geben. Sie heißt Kinematograph. Sie ist eine Technik zur Vervielfältigung und Verbreitung geistiger Produktion, genau wie die Buchpresse, und ihre Wirkung auf die menschliche Kultur wird nicht geringer sein.128
Balázs’ Theorie läuft auf eine optische Weltsprache und ein „Lexikon der Gebärden und Mienen“129 hinaus, die – so seine Überzeugung – von jedem Filmzuschauer 127 PINTHUS 1913/14a: 20. 128 BALÁZS 1924: 16. 129 Ebd.: 19.
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erlernt und verstanden werden können. Seine Theorie verneint jeglichen Einsatz von Schrift im Film, weil diese immer in einer bestimmten Nationalsprache verfasst sein müsste und damit die globale Vision seiner Theorie unterlaufen würde. Derartige Verabsolutierungen des Sichtbaren, wie sie sich in Ansätzen auch in Georg Lukács’ Gedanken zu einer Ästhetik des Kinos (1913) finden,130 resultieren aus der Emanzipationsbestrebung, den Film zur eigenen Kunstgattung zu erheben. Der technisch bedingte Mangel am gesprochenen Wort wird ins Positive gewendet und zum ästhetischen Abgrenzungskriterium gegenüber Theater und Literatur erhoben. Pointiert ausgedrückt und zum Qualitätsmaßstab erhoben hat dies der Journalist Herbert Jhering, der in einer Filmkritik zum Cabinet des Dr. Caligari von 1920 schreibt, nicht der Film sei gut, „der über das Fehlen des Wortes zur Not hinwegtäuscht, sondern der, dessen Vorgänge durch das Wort gestört würden“131. Konträr zu diesen medienpuristischen Positionen gibt es Stimmen, die den Film früh in seiner intermaterialen Integrationskraft erkennen und besonders auf eine künstlerische Vereinigung von Text und Bild hinwirken. So plädiert der Dramatiker Carl Hauptmann, Bruder Gerhart Hauptmanns, in einem Artikel für Die neue Schaubühne von 1919 für eine künstlerische Aufwertung der Schrifttafeln: Auch der Film kann ohne mannigfache, vorherige oder mitten hinein gefügte, sprachliche Hinweise nicht voll verständlich werden. Aber vielleicht gibt es auch da ein klares Kunstgefühl, wieweit solche sprachlichen Hinweise sich schlicht und wahr in den Ablauf des Films einfügen lassen. Es wird immer ein schlechter Film sein, der gestisch krampfhaft noch Dinge zum Ausdruck bringen will, die sich nur mit Worten sprechen lassen. Und es wird immer eine wohltätige Zwischenschrift sein, die im Gange des vorgeführten Schicksals dem Beschauer notwendige Worte plötzlich hinhält, die den ideellen Gehalt der Schicksalsbilder erst runden. Solche Worte bringen dem Beschauer die notwendige, innere Ruhe der Betrachtung. Vollenden und bereichern den ideellen Eindruck zu einem Ganzen. Und müssen deshalb als ein vollberechtigtes, künstlerisches Element des Filmwerks behandelt und künstlerisch ausgebildet werden.132
Für Hauptmann stellen die Texteinblendungen keine Unterbrechung der Handlung dar, sondern sind als Momente des Innehaltens Teil der Gesamtkomposition Film, der als zeitliches Medium mit einem Wechsel von Beschleunigung und Verlangsa130 „Was an den [im Film, C.K.] dargestellten Ereignissen von Belang ist, wird und muß ausschließlich durch Geschehnisse und Gebärden ausgedrückt werden; jedes Appellieren an das Wort ist ein Herausfallen aus dieser Welt, ein Zertrümmern ihres wesentlichen Werts.“ LUKÁCS 1913: 115. 131 JHERING 1920: 133. 132 HAUPTMANN 1919: 127f. [Herv. i.O.]
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mung arbeiten könne. Zugleich betrachtet der Theaterkritiker die Schrift nicht als materialen Störfaktor, sondern Film und Text als intermateriale Einheit und die Zwischentitel gar als eine eigene künstlerische Textform. Ganz ähnlich sieht dies auch Walter Bloem, der in den 1930er Jahren unter dem Pseudonym Kilian Koll als Autor patriotischer Romane bekannt wird. Bloem widmet den Schriftsätzen in seiner viel beachteten Studie Seele des Lichtspiels. Ein Bekenntnis zum Film von 1922 ein eigenes Kapitel und versteht darin das „Ineinanderspielen von Bild und Schrift“ im Film als „organische Einheit“133. Konform mit Hauptmann, auf den er sich explizit beruft, und anders als Béla Balázs inszeniert die Lichtspielkunst für ihn nicht den sichtbaren stummen, sondern den „einsilbigen Menschen“134 , weshalb der Einsatz von Zwischentiteln einen wesentlichen Bestandteil der Filmkunst ausmache und die richtige Verbindung von Schrift und Film sogar deren Prämisse darstelle. Während Hauptmann ganz allgemein um eine Legitimation der Schrift im Film bemüht ist, stellt Bloem eine Art Regelwerk für die Verwendung von Zwischentiteln auf und unterzieht hierfür zeitgenössische, auch expressionistische Filme einer kritischen Durchsicht.135 Wesentliche Kriterien, die er dabei erhebt, sind eine gebotene Kürze der Zwischentitel, eine Vermeidung poetischer Ausschweifung und der Duplizierung dessen, was das Filmbild visuell darstellt. Vor allem aber polemisiert Bloem gegen den Versuch, Gefühle durch Zwischentitel darstellen zu wollen, weil das die genuine Aufgabe des Lichtspiels sei: „Je mehr aber die Texte versuchen, mit eigenen Mitteln Stimmung zu betreiben, desto mehr entfernen sie sich von der Kunst.“136 Was die Schrift im Gegenteil positiv zu leisten vermag, ist nach Bloem nichts Geringeres als die „Würde eines Films“, sie sei „in die Hand des Textdichters gegeben“137. Hauptmanns und Bloems Äußerungen fallen in eine Zeit, in der sich mit dem expressionistischen Film ein „kunstambitionierte[s]“138 Genre entwickelt, das die Mise en Scène als ästhetischen Gesamtraum begreift. Filme wie Robert Wienes Das Cabinet des Dr. Caligari (1919/20), Paul Wegeners Der Golem, wie er in die Welt kam (1920), Karl Heinz Martins Von morgens bis mitternachts (1920), Friedrich 133 Ebd.: 42. 134 BLOEM 1922: 51. 135 Die meisten expressionistischen Filme halten den Ansprüchen Bloems freilich nicht stand. So kritisiert er die poetischen Ambitionen der Schriftsätze in Der müde Tod (1921) von Fritz Lang sowie die Schwülstigkeit derjenigen in Robert Wienes Genuine (1920). Einzig Das Cabinet des Dr. Caligari (1919/20) wird aufgrund seiner teilweise besonders kurzen Zwischentitel gelobt. 136 BLOEM 1922: 44. 137 Ebd.: 46. 138 KASTEN 1990: 181.
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Wilhelm Murnaus Nosferatu. Eine Symphonie des Grauens (1921/22) oder Fritz Langs Metropolis (1927) verstärken ihre phantastisch-wahnsinnige oder sozialkritisch-utopische Thematik durch eine stilistische Übertragung auf Dekor, Beleuchtung und Architektur. In der uneingeschränkten ästhetischen Durchgestaltung beziehen diese Filme auch die Schrift mit ein und setzen damit Hauptmanns Kernforderung in die Praxis um, Zwischentitel als „vollberechtigtes, künstlerisches Element“ zu behandeln. Der Expressionismus straft damit alle jene Zeitgenossen Lügen, die meinen, der künstlerische Film sei nur mittels eines kompletten Verzichts der (Schrift-)Sprache zu erreichen. Auch der Forschung ist die zentrale Rolle der Schrift für den expressionistischen Film lange Zeit entgangen. So wurde er zwar hinsichtlich seiner Lichtregie, schauerromantischen Motive und bizarren Interieurs untersucht, eine Analyse der Schrift als „Zeichen einer medientheoretischen Reflexion“139 ist jedoch bis heute nur in Ansätzen geleistet.140 Dabei kann gerade sie zeigen, wie stark der expressionistische Film auf die Schrift angewiesen ist und wie kreativ er andererseits mit ihr verfährt. Besonders im organischen Einbezug in die Handlung und bei der graphischen Gestaltung zeigt er sich außerordentlich erfindungsreich. Überdies integrieren manche expressionistische Filme Bücher in die Handlung, die den eigenen Filmtitel selbstreflexiv aufgreifen. Diese Intensivierung des Bezugs zur Literatur begründet die Auswahl der in den folgenden Kapiteln analysierten Filme Das Cabinet des Dr. Caligari, Der Golem, wie er in die Welt kam und Nosferatu. Eine Symphonie des Grauens. Zwar zeigen auch andere expressionistische Filme eine kreative Verwendung von Schrift – wie beispielsweise Metropolis in seiner Babelszene, wo Buchstaben zerfließen und bogenförmig in die Mise en Scène eingeblendet werden –, bei den drei oben genannten Filmen lässt sich jedoch durch die Integration von Büchern bzw. Buchkapiteln gleichen Titels eine Verpflichtung auf die Buchkultur nachweisen, die für die Erforschung des Verhältnisses von Literatur und Film im Expressionismus von besonderer Bedeutung ist. Im Folgenden sollen anhand dieser Filme die zwei eröffneten Perspektiven verfolgt werden: 1. die im engeren Sinne intermateriale Verwendung von Schrift, und zwar in den verschiedenen Verfahren, wie sie eingangs des Kapitels aufgezeigt wurden – diegetisch, konnektierend und fusionierend; und 2. die kultur- und medienhistorisch aufschlussreiche Positionierung der Filme im Verhältnis zur Buchkultur.
139 LANGE 2000: 348; vgl. auch GRIZELJ 2009; einen Forschungsüberblick zur Verwendung von Schrift im Film, einschließlich des frühen Stummfilms, liefert SCHEFFER 2009. 140 Vgl. STENZER 2010: 51-72.
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Fragile Schriftzeichen und die Autorität der Bücher. Robert Wienes „Das Cabinet des Dr. Caligari“ Robert Wienes zur Jahreswende 1919/20 in nur viereinhalb Wochen produzierter und am 26. Februar 1920 im Berliner Filmtheater Marmorhaus uraufgeführter Film Das Cabinet des Dr. Caligari zeigt eine Variationsbreite in der Verwendung von Schrift wie kein anderer expressionistischer Film. Der 74-minütige Sechsakter entfaltet mit zahlreichen Schriftstücken in der Handlung eine intermateriale Diegese, schafft mit insgesamt 81 Schrifttafeln eine intensiv konnektierende Intermaterialität und weist mit der Einblendung des suggestiven „Du musst Caligari werden“ die in der Filmgeschichte wohl berühmteste intermateriale Fusion von Schrift und Bewegungsbild auf.141 Zusammengerechnet ergeben die Texte etwa eine viertel Stunde Lesezeit, was gemessen an der Gesamtlänge des Films einen Anteil von knapp 20 Prozent ausmacht. Im gesamten Verlauf sind die Texteinblendungen von zentraler Bedeutung, weil wichtige Ereignisse durch sie unterstützt oder sogar ausschließlich über sie erklärt werden. Besonders zu Beginn – in der Entfaltung des Plots – wechseln häufig Zwischentitel mit Handlungssequenzen. Beim ersten Opfer der Mordserie im fiktiven Städtchen Holstenwall ist der Zuschauer beispielsweise nicht selbst Zeuge, sondern erfährt vom Tod des Stadtsekretärs über die Lektüre eines Zwischentitels: „Mord! Ein Stich in die Seite mit einem sonderbaren spitzen Instrument hat den Tod des Stadtsekretärs herbeigeführt ---“. Sequenzen, in denen der Regisseur komplett auf die Schrift verzichtet, sind die Ausnahme und eigentlich nur bei der Entführung Janes (Lil Dagover) durch den Somnambulen Cesare (Conrad Veidt) zu beobachten. Gerade zum Ende des Films steigert sich die Dichte der Zwischentitel noch einmal und findet schließlich im Tagebuch des Irrenanstaltsleiters alias Dr. Caligari (Werner Krauß) ihren Höhepunkt. Dessen Aufzeichnungen sind zunächst als Schriftstück und damit in Gestalt diegetischer Intermaterialität zu sehen und dann als Rückblende visualisiert, in der der Schriftzug „Du musst Caligari werden“ in das Bild projiziert ist und mit diesem intermaterial fusioniert. Bei den Zwischentiteln als intermaterial konnektierende Texteinschübe variiert die Länge von Einwortsätzen bis zu längeren Texten, die, um sie vollständig lesen zu können, von unten nach oben aus dem Bildrahmen laufen. Vor diesem Hintergrund muss die Einschätzung Dietrich Scheunemanns, die Zwischentitel zeichneten sich durch ihre „astonishing brevity“142 aus, etwas korrigiert werden. Gewiss gibt es 141 Die Angaben beziehen sich auf die vom Bundesarchiv in Koblenz 1984 restaurierte und von der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung vertriebene Originalfassung. Robert Wiene: Das Cabinet des Dr. Caligari. VHS, 74 Min. (Deutschland 1920). München 2003. 142 SCHEUNEMANN 2003: 143. Scheunemann bezieht sich in dieser Diagnose auf Walter Bloem, der über den Zwischentitel „Nacht“ urteilt, er sei in seiner „vollkommene[n]
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markante Einwort-Schrifttafeln, aber der Großteil besteht aus syntaktisch korrekten Sätzen, die sogar teilweise etwas umständlich formuliert sind, wie das obige Beispiel der Mordnachricht zeigt. Wenn daher Scheunemann urteilt, „the intertitles thus adopt expressionist principles not only in their graphic design, but also in their literary style“143, so trifft dies nicht auf alle Zwischentitel zu. Ohne Zweifel aber zeigt deren markante graphische Gestaltung den expressionistischen Stileinfluss. In ihrer gezackten, unruhigen Form erinnern die Buchstaben an Initialen von Karl Schmidt-Rottluff und sind der skurril-expressiven Ausstattung angepasst, wie sie von den Architekten der produzierenden Gesellschaft Decla – Walter Röhrig, Walter Reimann und Hermann Warm – erarbeitet wurde. Die schräge, kantige Schrifttype entspricht den schiefen Hausfassaden, aufgemalten Fluchtlinien und ruckarti-
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gen Bewegungsabläufen. Dadurch erschwert sich zwar die Lesbarkeit der Zwischentitel, zugleich wird damit bewusst die Aufmerksamkeit auf ihre Materialität gelenkt.144 Verstärkt wird dieser Eindruck durch den Hintergrund des Textes. Auch er ist häufig graphisch ausgestaltet und zwar mithilfe abstrakter Formelemente, die
Kürze“ der „beste Schriftsatz, der je gegeben wurde“. BLOEM 1922: 49. Zu den übrigen Zwischentiteln im Cabinet des Dr. Caligari äußert sich Bloem indes nicht. 143 SCHEUNEMANN 2003: 143. 144 Vgl. SCHEFFER 2009: 26.
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dem gleichen Design wie die Lettern folgen. Teilweise formieren sich darin sogar konkrete Bilder, wie in der zitierten Mordnachricht, bei der ein dolchartiger Gegenstand zu erkennen ist, auf den die Worte „mit einem sonderbaren spitzen Instrument“ rekurrieren (vgl. Abb. 25).145 Hier wird einmal mehr sinnfällig, wie aus demselben graphischen Material zwei verschiedene semiotische Verfahren erzeugt werden können. In ihrer markanten Gestalt machen sich die Zwischentitel die intermateriale Anlage von Schrift und Bild zunutze, um über den Informationsgehalt hinaus eine erregte, spannungsgeladene Stimmung zu erzeugen. Ein weiteres sporadisch eingesetztes Betonungsmittel stellt ein Flackern des bemalten Hintergrunds dar. Dieser Lichteffekt wird häufig bei längeren Zwischentiteln eingesetzt, um dem zeitintensiven Lektürevorgang Dramatik und Dynamik zu verleihen. Die Zwischentitel sind somit nicht als Unterbrechung, sondern – wie 1947 bereits Siegfried Kracauer feststellte – als ein „wesentliches Element des szenischen Bildes“146 zu verstehen. Sie fungieren als Fortführung der Handlung und Teil der ästhetischen Gesamtkomposition des Films. In ihrem Einsatz als intermaterial konnektierende Texteinschübe verbinden sie nicht nur Handlungsstränge miteinander, sondern treten auch graphisch in Dialog mit der Szenerie, indem die Materialität der Schrift den Dekorstil des Films aufgreift. In seiner narrativen Konstruktion besteht Das Cabinet des Dr. Caligari insgesamt aus drei verschiedenen Erzählebenen: der Rahmenerzählung, die Robert Wiene abweichend vom Drehbuch in eine Irrenanstalt verlegt hat;147 der Binnenerzählung des Insassen Franzis (Friedrich Feher) über den Direktor der Irrenanstalt, der als Jahrmarktbudenbetreiber Dr. Caligari den Somnambulen Cesare zu Mordtaten abrichtet; und schließlich – in die Binnenhandlung eingebunden – der bereits erwähnten Lektüre des Tagebuchs, realisiert als Rückblende auf die ‚Caligariwerdung‘ des Anstaltsleiters. Aus dieser Verschränkung resultieren drei verschiedene Typen der Zwischentitel in ihrer Funktion konnektierender Intermaterialität, die man anhand der Kriterien ‚Struktur‘, ‚Kommentar‘ und ‚Dialog‘ unterscheiden kann. Strukturelle Funktion haben vor allem der Titel und die Akteinteilungen. Sie gliedern den Film im Stile eines Dramas und lassen damit Höhepunkte und Peripetien erwarten, die Wiene mit dem eindrücklichen erstmaligen Auftritt Cesares im zweiten Akt sowie der überraschenden Wende zum Schluss des Films tatsächlich 145 Vgl. PULCH 2002: 18. 146 KRACAUER 1979: 75. 147 Ursprünglich sollte die Binnenhandlung in die Unterhaltungen einer Abendgesellschaft eingebunden sein. Die Idee hierfür stammt von Fritz Lang, der eigentlich als Regisseur vorgesehen war, aufgrund seiner Verpflichtung für die Filmserie Die Spinnen aber kurzfristig absagen musste. Einen ausführlichen Abgleich der Abwandlungen Robert Wienes zum Drehbuch unternehmen JUNG/SCHATZBERG 1992.
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einlöst. Hinzu kommen Informationen über Ort und Zeit des Geschehens – „Nacht“, „Heimweg“, „Nach dem Begräbnis“ –, bei denen allerdings nicht ganz klar ist, ob sie auf der Ebene der Filmkomposition angesiedelt sind oder vom homodiegetischen Erzähler Franzis stammen und damit als Kommentar klassifiziert werden müssen. Franzis’ Wortbeiträge kommen innerhalb der Binnenerzählung dort zum Einsatz, wo die Bilder nicht selbsterklärend sind bzw. Übergänge zwischen disparaten Orten oder neuen Handlungsfolgen geschaffen werden müssen. Die Kommentare liefern somit Zusatzinformationen und steuern zugleich die Wahrnehmung des Zuschauers. So heißt es zu Beginn: „In dieser Nacht geschah das erste einer Kette geheimnisvoller Verbrechen“, und in der Szene, in der Jane das erste Mal in der Wohnung ihrer Eltern zu sehen ist, wird die Motivation für ihre Suche nach dem Vater und das daraus resultierende, für den Fortgang der Handlung wichtige Aufeinandertreffen mit Cesare mit der Bemerkung eingeleitet: „Beunruhigt über das lange Ausbleiben des Vaters---“. Auch wenn die Zahl dieser Erläuterungen gering ist, in ihrem Einsatz erfüllen sie eine Kohärenz bildende Funktion. Diese Beobachtung ist besonders für die Frage wichtig, ob das Cabinet des Dr. Caligari als „Halluzination eines Irren“148 zu interpretieren ist, wie es seit Lotte Eisners Monographie Die dämonische Leinwand (1955) häufig behauptet wurde, oder doch ein offenes Ende zulässt. Zumindest in diesen Passagen wird evident, dass der Film bemüht ist, Kausalzusammenhänge zwischen den Bildfolgen herzustellen, die einer Irrenperspektive widersprechen.149 Von den Kommentaren abzugrenzen sind die Dialoge im Film. Sie präsentieren sich als verschriftlichtes Sprechen und signalisieren dies vor allem mithilfe dreier Marker: 1. Anführungszeichen, die den Text als Sprachakt ausweisen, 2. Gedankenstriche, die Sprechpausen andeuten, sowie 3. pseudophonetische Schreibweisen: „Herrrrrreinspaziert“. In dieser Imitation von Mündlichkeit zielen die Einblendungen auf eine Dramatisierung, die in einfacher Prosaform nicht realisierbar wäre.150 Zugleich sind die Dialogpartien, die mit Abstand den größten Anteil der Zwischentitel ausmachen, ein Indiz dafür, dass der Film dem stummen Schauspiel nicht zutraut, die Geschichte eigenständig zu erzählen. Schrift erscheint in diesem Fall als Rückversicherung in einem Material, das dort Eindeutigkeit ermöglicht, wo die Bildsprache Mehr- und mithin Uneindeutigkeiten erzeugt. Die diegetische Intermaterialität des Films zeigt sich in Form von Inventaren wie Zeitungen, Aushängen, Schildern, Visitenkarten oder Büchern. Diese Inserts sind originäre Schriftstücke und fügen sich stringent in die Handlung ein. Teilweise spielt der Film mit der Möglichkeit, sie ins Vollbild zu setzen, wie in Szene 66 des 148 EISNER 1955: 12. 149 Zur kausal-logischen Szenenfolge generell vgl. COSSART 1985: 89-93. 150 Völlig unverständlich erscheint es daher, dass die Fassung für den angloamerikanischen Markt auf dieses Stilelement verzichtet. Vgl. hierzu auch SCHEUNEMANN 2003: 144.
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zweiten Aktes, in der der Text „Mord in Holstenwall 1000 MK“ zunächst als alleiniges Bildelement in der linken oberen Ecke der Kadrierung erscheint, der Ausschnitt sich dann aber zum Szenenbild öffnet und den Text als Anschlag an einer bogenförmigen Häuserfront zeigt. Vor ihr stehen Franzis und Alan (Hans-Heinrich von Twardowski) und starren gebannt auf das Plakat. Eindrücklich zeigt sich an dieser Aufblende, dass bei der Lektüre der Inventare der Zuschauer zumeist in die Rollen der Figuren schlüpft, und anders herum, dass die Figuren des Films immer wieder zu Lesern werden. Gleiches gilt für den fünften Akt, in dem Franzis und einige Ärzte über den Schreibtisch des Direktors gebeugt sind und dessen Bücher und Aufzeichnungen studieren. Nach einem Schnitt sieht man die Seiten des Buchs im Vollbild und nimmt die Leserperspektive der Akteure ein. Auffällig ist, dass die Schriftinventare eine von den Zwischentiteln abweichende Schrifttype aufweisen. Die Anschläge und Zeitungsnachrichten erfolgen in Antiqua, das Buch über den Somnambulismus in Fraktur und die Tagebuchnotizen sowie die Visitenkarte Dr. Caligaris in Handschrift. Schrift präsentiert sich hier in der ganzen Variationsbreite ihrer Materialität sowohl im Hinblick auf ihre Gestalt als auch ihr Trägermedium. Dabei hat die Gestaltungsweise Auswirkung auf den Informationsgrad: Während die verzerrten Buchstaben der Zwischentitel Fragilität signalisieren und so den Wahrheitsgehalt der durch sie vermittelten Aussagen infrage stellen, steht die Frakturschrift für Tradition und Wissen und verbürgt damit Autorität.151 Höhepunkt des Films bildet die intermateriale Fusion von Text und Filmbild in Szene 232, die den Direktor der Irrenanstalt zeigt, wie er von seinen Wahnvorstellungen durch die Schrift „materialiter bedrängt“152 wird. Als würden die Hebel einer Schreibmaschine auf das Bild einschlagen und den Direktor vor sich her treiben, hinterlassen die Schriftzüge „Du musst Caligari werden“ ihre Prägung – zunächst im nächtlichen Himmel, dann auf der Außenwand seiner Villa und der Verästelung des Baumes; schließlich verteilt sich im Vordergrund des Bildes der Name Caligari in einer Art skripturalem Crescendo, an dessen Ende dem Direktor seine neue Identität buchstäblich eingeschrieben ist (vgl. Abb. 26). Rahmung und Verlauf der mithilfe eines „Stopptrick[s]“153 realisierten Sequenz stellen eine komplexe Verschränkung von Text und Bild dar, in der alle drei Formen film-schriftlicher Intermaterialität enthalten sind: Eingeleitet wird sie als Visualisierung der Tagebuchnotizen des Direktors (diegetische und konnektierende Intermaterialität), bei der sich im linken Bildfeld die Irisblende auf einen lesenden Arzt schließt und eine zweite sich in der rechten Hälfte gegenläufig öffnet und den Blick auf den Direktor freigibt. Die so 151 Vgl. FRITZ 1994: 394. 152 SCHWARZ 1994: 92. Christine Stenzer spricht von einer „schriftlich visualisierte[n] Autosuggestion“. STENZER 2009: 38. 153 KASTEN 1990: 50.
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technisch initiierte Vision leitet selbst wiederum einen Lektüreakt ein – wir sehen den Direktor in seinem Arbeitszimmer, wie er in seinem Kompendium das Kapitel über den „mystischen Caligari“ des 18. Jahrhunderts liest (diegetische und konnektierende Intermaterialität). Die Identifikation des Anstaltsleiters mit dieser fiktiven Figur realisiert sich schließlich über die beschriebenen Schrifteinblendungen „Du musst Caligari werden“ und das heißt in einer Umkehrung des Rezeptionsvorgangs (fusionierende Intermaterialität). Während die Lektüre des Tagebuchs bildlich umgesetzt ist, manifestiert sich die Imagination des Direktors im schriftsprachlichen Zeichenmaterial. In dieser Verschränkung von Vorstellung und Konkretion, von Bild und Text macht sich der Film die grundsätzliche Verfasstheit beider Materialien zunutze: „Die Schriftbildszenen visualisieren in expliziter Form, was immer
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schon konstitutiv geschieht: Dass das eine Medium im anderen Medium herumspukt, dass die Schrift im Bild und das Bild in der Schrift herumspukt.“154 Was Mario Grizelj hier allgemein formuliert, lässt sich konkretisieren: Das Cabinet des Dr. Caligari aktualisiert das intermateriale Potential, indem es die Sukzessivität der Schrift und die Reihung der Bilder im Film zusammenführt und somit den Transformationsprozess der Figur des Direktors alias Caligari begrifflich und visuell anschaulich macht.
154 GRIZELJ 2009: 163.
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Das Prinzip der materialen Verschachtelung charakterisiert den Film nicht nur in dieser zentralen Sequenz, sondern konstituiert seinen gesamten Aufbau und stellt damit einen Schlüssel zu seinem Verständnis dar. Nicht zufällig existiert die Figur des Caligari sowohl in visueller als auch in schriftlicher Form, und ganz bewusst bezieht sich der Titel „Das Cabinet des Dr. Caligari“ nicht ausschließlich auf den Film selbst – und im Übrigen auf die Jahrmarktbude155 –, sondern auch auf das Kapitel des Buchs über den Somnambulismus. Der Film erweist sich in dieser Potenzierung als filmische Verhandlung der Schriftkultur. Einmal den Blick hierfür geschärft fallen in vielen Szenen deren Insignien auf. So liest Jane in einem Buch, bevor sie sich auf die Suche nach ihrem Vater begibt, und die Schreibsekretäre der Stadtverwaltung hocken als personifizierte Paragraphenreiter vor überdimensionier-
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ten Papieren, von denen sich einige überdies ungeordnet auf Wänden und Fußboden verteilen. Darüber hinaus trifft der Zuschauer sowohl Franzis als auch Alan in der Binnenhandlung zum ersten Mal lesend an. In den Zimmern beider Freunde sehen wir Bücherregale, die neben Stuhl oder Schreibtisch zumeist die einzigen Einrichtungsgegenstände darstellen. Innerhalb der disproportionalen Innenarchitektur mit 155 Aufgrund dieser Verdopplung der Kinosituation, die sich auch in der Einblendung einer Zuschauermenge vor dem Zelt Caligaris zeigt, deutet Anton Kaes den Film als ein „Exempel der selbstreflexiven filmischen Moderne“. KAES 2004: 47. Vgl. hierzu auch KABATEK 2000: 8f.
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ihren schrägen Wänden und spitz zulaufenden Fenstern nehmen sie sich wie Fremdkörper aus, erfüllen aber die Funktion, beide ansonsten in Herkunft und Milieu unbestimmten Figuren als Vertreter der Buchkultur auszuweisen. Diese Beobachtung ist vor allem deshalb wichtig, weil es gerade Franzis ist, der sich vom „Schauobjekt“ Cesare als Personifikation des Mediums Film angezogen fühlt. Als genuiner Buchgelehrter entpuppt sich der Anstaltsleiter. Sein Büro ist voll gestopft mit alten Folianten und Papierrollen, die dem Zimmer einen geheimnisvollen Charakter verleihen (Vgl. Abb. 27). Neben den persönlichen Tagebuchnotizen des Direktors findet seine explizite Darstellung ein Buch mit dem Titel „Somnambulismus. Ein Sammelwerk der Universität Upsala. Herausgegeben im Jahre 1726“ (vgl. Abb. 28). Bei dem Text handelt es sich ebenso wie bei der Figur des Dr. Caligari, der im Jahr 1703 mit seinem Schauwagen durch oberitalienische Städte gezogen sein soll, um eine Erfindung der beiden Drehbuchautoren Carl Mayer und Hans Janowitz.156 Mit dem Somnambulismus rekurriert der Film indes auf ein Thema, das seit der Romantik ein beliebtes Sujet der Literatur darstellt und zugleich Gegenstand früher psychopathologischer Forschung ist. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts kursiert eine Reihe von Werken über das mysteriöse Phänomen des Schlafwandelns, das in Zusammenhang mit Okkultismus und Magnetismus gebracht wird. Herausgehoben seien hier die Allgemeinen Erläuterungen über den Magnetismus und Somnambulismus: als vorläufige Einleitung in das Natursystem (1812) von Franz Anton Mesmer, der für seine Heilmethode namensgebend wurde, das dreibändige Standardwerk Der Somnambulismus (1839f.) des Baseler Philosophen Friedrich Fischer, Carl du Prels okkultistische Schriften, insbesondere Das hypnotische Verbrechen und seine Entdeckung (1889), sowie das 1900 in erster und 1907 in zweiter Auflage veröffentlichte Buch Somnambulismus und Spiritualismus des Münchener Sexualpathologen Leopold Loewenfeld. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass für das Drehbuch tatsächlich eines dieser Werke konsultiert wurde, die Ähnlichkeiten sind teilweise aber frappierend. „Man könnte nach dem Angeführten glauben“, schreibt etwa Loewenfeld, „dass der Somnambule ein willenloser Automat, ein reines Werkzeug in den Händen seines Hypnotiseurs ist und von diesem zu jeder beliebigen Handlung bestimmt, also auch in verschiedener Weise missbraucht werden kann.“157 Zwar widerspricht Loewenfeld im Folgenden dieser Annahme, indem er Beispiele anführt, bei denen sich Hypnotisierte einer Suggestion verweigern, gerade damit liefert er aber eine wissenschaftliche Erklärung für das eigenmächtige Verhalten Cesares, der sich im Falle der Entführung Janes dem Mordauftrag seines Meisters widersetzt. Gewiss würde es zu weit führen, im Umkehrschluss in den vollzogenen Morden eine Zustimmung Cesares abzulesen und damit der 156 Vgl. JANOWITZ 1974: 225. 157 LOEWENFELD 1900: 21.
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politischen Interpretation des Films zusätzlich Nahrung zu liefern,158 die enge Anlehnung an den fachlichen Befund zeigt auf jeden Fall, wie stark sich der Film an den wissenschaftlichen Diskurs des Somnambulismus anlehnt. Auch wenn keiner der aufgezählten Bände direkt als Vorlage dient, Das Cabinet des Dr. Caligari beruft sich auf ihre Tradition, indem der Film seine Auflösung als wissenschaftliche Fallgeschichte präsentiert, die durch das Material des Buchs verbürgt ist.
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Es gehört zur Struktur des Films, dass sich diese Auflösung nur von geringer Dauer erweist, denn mit der abschließenden Rahmung in der Irrenanstalt gerät die ganze Rückschau in Zweifel. Einen Hinweis darauf, dass es sich bei Franzis’ Geschichte tatsächlich um den textuellen Beweis für die Verbrechen des Anstaltsleiters handelt, bietet der Film freilich an. Nachdem Franzis in die Zwangsjacke gesteckt wurde und den Leiter mehrfach als Caligari bezeichnet hat, schlussfolgert der Direktor: 158 Dies allerdings in genau entgegengesetzter Richtung, als es die berühmte These Siegfried Kracauers unterstellt. Ihr zufolge verkörpert Dr. Caligari eine „unbegrenzte Autoritätssucht“ und Cesare ein „bloßes Instrument“ und „unschuldiges Opfer“, weshalb der Film in seiner ursprünglichen Fassung – ohne die Rahmung in der Irrenanstalt – eine Kritik an der „Allmacht einer Staatsautorität“ darstelle. KRACAUER 1979: 71. Unberücksichtigt bleibt bei dieser Interpretation indes, dass Cesare im Falle Janes beweist, dass er sich durchaus den Befehlen widersetzen kann. Hält man dennoch an der politischen Deutung fest, dann lässt sich in Cesares sonstigem Verhalten eine willfährige Untertanenmentalität und allzu breitwillige Verführen zur Gewalt ausmachen.
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„Langsam begreife ich seinen Wahn. Er hält mich für jenen mystischen Caligari --! Und nun kenne ich auch den Weg zu seiner Gesundung ----“. Wäre die gesamte Erzählung bloße Phantasie, dürfte der Direktor mit diesen Anschuldigungen überhaupt nichts anfangen können. So aber legt der Film den Schluss nahe, dass er tatsächlich über die entsprechende Literatur verfügt und genau weiß, wer mit jenem Caligari gemeint ist. Mit dieser letzten Volte verschiebt sich die Figur noch einmal vom Schauobjekt zum Textobjekt, und lässt einmal mehr erkennen, dass sich in ihr die intermateriale Mehrfachverschachtelung des Films versinnbildlicht. Das Cabinet des Dr. Caligari kann vor diesem Hintergrund als Auseinandersetzung des Films mit der Literatur gedeutet werden, bei der die kulturell codierten Gegensätze – das Buch als Bürge der Authentizität vs. die flüchtigen, geister- und zweifelhaften Bilder – ebenso bedient werden, wie eine materiale Engführung von Schrift und Bild erfolgt. Nicht zuletzt die für Stummfilmverhältnisse hohe Anzahl von intermaterial konnektierenden Zwischentiteln, die in ihrer schriftbildlichen Gestaltung eine Verbindung zum szenischen Darstellungsraum herstellen, stützen diese These. Vor allem aber zeigt die Auflösung der Geschichte in einem visualisierten Lektüreakt, wie stark der Film der Literatur verpflichtet ist. Dass er damit nicht allein steht, sondern dies ein charakteristisches Merkmal des expressionistischen Films darstellt, belegt die folgende Analyse von Paul Wegeners Der Golem, wie er in die Welt kam (1920).
Schrifttradition vs. (Un-)Kultur des Kinos. Paul Wegeners „Der Golem, wie er in die Welt kam“ Nur wenige Monate nach der Uraufführung des Cabinets des Dr. Caligari feiert am 29. Oktober 1920 im Berliner Ufa-Palast ein Film Premiere, der in vielen Details Ähnlichkeiten zum Caligari-Stoff aufweist. Auch in Paul Wegeners Der Golem, wie er in die Welt kam steht ein Geschöpf unter der Gewalt einer anderen Person, auch hier wird es zur Bedrohung und lehnt sich schließlich gegen seinen Meister auf, indem es eine junge Frau entführt. Gemeinsam ist beiden künstlichen, stummen Geschöpfen vor allem, dass ihnen eine skripturale Duplizierung zugrunde liegt. Während der Direktor seinen Cesare in einer Studie über den Somnambulismus schriftlich verbürgt findet, zieht Rabbi Löw (Albert Steinrück) zur Erschaffung des Golems (Paul Wegener) gleich zwei Bücher heran: eines, das explizit von der Kreation eines Golems berichtet, und ein anderes über „Nekryomantie. Die Kunst Totes lebendig zu machen“159. In beiden Filmen erfolgt der Rückgriff auf das Buch über 159 Die Zitate beziehen sich auf die Ausgabe: Paul Wegener: Der Golem. DVD, ca. 84 Min. (Deutschland 1920). München 2004.
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eine diegetische Intermaterialität, die die Funktion erfüllt, Authentizität zu verbürgen und den Hauptfiguren ‚reale‘ historische Dimension zu verleihen: Im Cabinet des Dr. Caligari dient das 18. Jahrhundert als Folie, in Wegeners Film, der im Mittelalter spielt, lässt sich lesen, dass die „figur genannt ‚der golem‘ […] schon im
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altertum von einem thessalischen zauberer hergestellt“ wurde (vgl. Abb. 29). In der Verarbeitung eines jüdischen Mythos beruft sich Der Golem ohnehin auf eine Religion, die sich der Schrifttradition verpflichtet und mit der Kabbala eine eigene Schriftmystik ausgebildet hat.160 Es wundert daher nicht, dass der Film im Vorspann angibt, seine „Bilder nach Begebenheiten aus einer alten Chronik“ zu erzählen und sich damit als Ganzer der Buchkultur verpflichtet. Auch die Schaffung des Golems ist gekoppelt an das Material der Schrift. Wie in der Inskriptionsszene im Cabinet des Dr. Caligari stellt die Beschwörung den dramaturgischen und schriftmaterialen Höhepunkt des Films dar, in dem sich Textraum und Bildraum intermaterial verbinden und an dessen Ende der Golem als lebendig gewordene Schrift erscheint. Bei allen Gemeinsamkeiten lassen sich im Hinblick auf den Schrifteinsatz jedoch auch Unterschiede ausmachen. So kommt Der Golem, wie er in die Welt kam
160 Vgl. SCHOLEM 1965.
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mit einem Drittel weniger Zwischentitel aus.161 Die Funktion der Schrift als intermaterial konnektierende ist demnach nicht so stark ausgeprägt. Bedingt durch die Inauguration des Films als Bebilderung einer Chronik sind die Zwischentitel zudem nicht in expressiven Lettern, sondern als gotische Schrifttypen gestaltet, sodass sie dem Zuschauer den Eindruck vermitteln sollen, tatsächlich in einem Buch zu lesen.162 Leider ist dies nicht bei allen Schrifttafeln erkennbar, weil nur 21 der etwa 60 Zwischentitel erhalten sind und die übrigen von den Restauratoren modernisiert wurden. Die intendierte Wirkung geht so über weite Strecken des Films verloren. Den häufigsten Typ an intermaterial konnektierenden Schriftzügen bilden eindeutig Dialoge;163 Kommentare kommen eher sporadisch zum Einsatz und beschränken sich auf schlichte Informationen wie etwa „Junker Florian bringt eine neue Botschaft des Kaisers“. Anders als im Cabinet des Dr. Caligari, der für die Sprechanteile Anführungszeichen verwendet, sind Dialoge und Kommentare graphisch nicht voneinander unterschieden. Dieser Umstand ist ein weiterer Hinweis darauf, dass die Zwischentitel als originär schriftliche Dokumente verstanden werden sollen, zu dem die (Film-)Bilder hinzugefügt sind und nicht andersherum. Hierzu passt auch, dass die Strukturierung des Films nach Kapiteln und nicht nach Akten erfolgt. Anders als Das Cabinet des Dr. Caligari steht Der Golem dem Roman daher näher als dem Drama. Die wichtigsten Informationen sind zudem als längere Texte ausschließlich über Inserts, also intermaterial diegetisch, realisiert und stringent in die Handlung integriert. Ein charakteristisches Beispiel hierfür ist das kaiserliche Dekret über die Verbannung der Juden aus dem Prager Ghetto, das mit seinem Siegel und der markanten Initiale – eine weitere Text-Bild-Verschränkung – schriftliche Insignien der Authentifizierung und legislativen Legitimation aufweist. Auffällig ist 161 In seiner Bildsprache erweist er sich als wesentlich ausgereifter, weil er nicht jede Handlung kommentieren muss. Besonders auffällig zeigt sich dies daran, dass Gesprochenes nicht immer auch verschriftlicht wird, wie etwa im vierten Akt, wo der Gehilfe des Rabbi (Ernst Deutsch) Mirjam (Lyda Salmonova) und den Junker Florian (Lothar Müthel) an der Tür belauscht, ohne dass deren Gespräch als Zwischentitel wiedergegeben wäre. Akustik überträgt der Stummfilm hier in die Visualität von Gestik und Mimik. 162 Anders Elfriede Ledig, die von einer „‚archaisierenden‘, asymmetrischen“ Gestaltung der Buchstaben ausgeht, die dem Dekor des Prager Ghettos angepasst sei. LEDIG 1989: 173. Ledig zitiert zudem das Beiblatt zum Filmkurier von 2. August 1920, wonach für die Zwischentitel „weit über tausend Buchstaben“ per Hand geschnitten worden seien. Vgl. ebd., Fußnote 1. 163 Die Einschätzung Sigrid Langes, „der deutsche expressionistische Film […] verzichtet tendenziell ohnehin auf Dialogwiedergaben“, erweist sich vor diesem Hintergrund und eingedenk der massiven Dialogschriften im Cabinet des Dr. Caligari als haltlos. LANGE 2000: 349.
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auch, dass die Inserts nicht als nachträgliche Erläuterungen fungieren, sondern durch ihre Schriftexistenz die Handlungen allererst in Gang setzen. Die Narration des Films ist chronologisch aufgebaut und folgt einer Dramaturgie der intermaterial diegetischen Schriftstücke. Ihren Höhepunkt erfährt diese in der Beschwörung des Golems, die als eine Verbindung von diegetischer und fusionierender Intermaterialität beschrieben werden kann. Wie bereits erwähnt konsultiert Rabbi Löw zwei Bücher, deren Lektüre Voraussetzung dafür ist, dass der Schwur aufgerufen, dem Geist Astaroth das Schriftwort entlockt und der toten Materie Leben eingehaucht werden kann. In seiner Text-Bild-Dichte verhandelt Der Golem in dieser Sequenz die Differenzqualität von Schrift als gleichzeitiger Material- und Imaginationsinstanz. Zunächst suggeriert der Rekurs auf das Altertum, dass
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es den Golem tatsächlich gegeben habe und demzufolge das vorliegende Buch die Niederschrift einer realen Begebenheit darstelle. In umgekehrter Weise imaginiert die Beschwörung Astaroths den Text, indem sich dessen Gestalt als Geistererscheinung konkretisiert. Das Wort AEMAET (hebräisch ‚Wahrheit‘) wiederum, das das Gesicht als sichtbaren Atem preisgibt (vgl. Abb. 30), präsentiert sich als Zwischenform, als ein instabiles Gebilde zwischen Imago und Materie, das schließlich seine Niederschrift auf einen Papierstreifen erfährt und – verborgen in einem Stern – dem Golem in die Brust eingesetzt wird.
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In dieser Konstellation greift die Szene auf einen jüdischen Mythos zurück, den Gershom Scholem mit seinem Buch Zur Kabbala und ihrer Symbolik in seinen verschiedenen Traditionssträngen umfassend aufgearbeitet hat.164 Während die im Film thematisierte Auffassung von einer Gefahr durch den Golem erst im 16. Jahrhundert einsetzt, greift die Beschwörungsszene auf eine „jüdische Esoterik“ 165 zurück, wonach der Golem aus der „schaffenden Gewalt der Buchstaben“ entsteht, die als „Signaturen aller Schöpfung“166 verstanden werden. Der Film folgt dieser Vorstellung aus dem so genannten Buch Jezira,167 das die Entstehung des Kosmos schriftmystisch erklärt, und lässt den Dämon Astaroth eine Buchstabenkombination preisgeben, die im Golem-Mythos jedoch zumeist den Namen Gottes, also JHW, darstellt und den künstlichen Geschöpfen auf die Stirn geschrieben wird. Interessant an der Wahl des Wortes ‚emeth‘ ist der von Jakob Grimm in einer Erzählung beschriebene Umstand, dass durch die Tilgung des ersten Buchstabens der Begriff ‚meth‘ stehen bleibt, der „er ist tot“ bedeutet.168 In dieser Variation des Mythos tritt die magische Funktion der Schrift im Besonderen zutage, da durch die graphemische Differenz die Schöpfungspotenz gewissermaßen vom Göttlichen in die Materialität der Schrift gelegt wird. Der Film realisiert diese Tilgung freilich nicht, sondern bannt die Bedrohung dadurch, dass ein Kind das gesamte Schriftstück der Brust des Golems entnimmt. Trotz dieser abweichenden Inszenierung erhellt die esoterische Tradition und der Rückgriff auf ein kosmisch-mystisches Schriftverständnis eine wichtige Einsicht in den Film. So kommt in der Beschwörung des Geistes und der Manifestation der Schrift jenes Verhältnis von Immaterialität und Materialität zum Ausdruck, das für den Expressionismus insgesamt charakteristisch ist. Die Geistererscheinung in Wegeners Der Golem, aber auch die vielen anderen Schauerelemente expressionistischer Filme wie der Somnambulismus im Cabinet des Dr. Caligari oder der Vampirismus in Nosferatu übernehmen somit die Rolle der Esoterik, die in den anderen Kunstkonvergenzen des Expressionismus von großer Bedeutung ist. Für die intermateriale Auswertung des Films zeigt sich die eindrückliche Inszenierung von Schrift, wie die Sequenz der Geisterbeschwörung verstanden werden muss, als eine intermateriale Angelegenheit par excellence, bei der alle drei skizzierten intermaterialen Verfahren ineinander greifen, besonders aber eine Gleichzeitigkeit von diegetischer und fusionierender Intermaterialität zu beobachten ist. Wie Joachim Paech in Bezug auf die Hervorbringung des AEMAET treffend hervorhebt, 164 SCHOLEM 1965: 209-259. 165 Ebd.: 225. 166 Ebd.: 220f. 167 Vgl. hierzu auch IDEL 2007: 49-71. 168 Vgl. SCHOLEM 1965: 210.
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erweist sich die Atem-Schrift als „vollkommen diegetisiert“169. Im Vergleich zu der zentralen Intermaterialitätsszene im Cabinet des Dr. Caligari, die den Schrifteinsatz durch die Wahnvorstellungen Caligaris ebenfalls diegetisch motiviert, durch den Stopptrick in seiner Künstlichkeit aber stärker herausstellt, gelingt im Golem in der Tat eine restlose Einbindung in die Handlung und eine stringente Entfaltung der Schrift in der Mise en Scène. In diese dringt der Schriftzug nicht von außen schlagartig ein, sondern formt sich aus dem nebelartigen Atemstrom. Beiden intermaterialen Szenen gemeinsam ist, dass ihre Schrift-Präsenz mit der Bild-Präsenz der Darstellung intermaterial fusioniert, da eine kausale Verbindung zwischen Text und Szene besteht, die Schrift also an das Bild- und Figurenrepertoire gekoppelt ist. Darüber hinaus wird die Schrift durch die intermateriale Fusion in ihrer Bildlichkeit erkennbar. Wie Mario Grizelj für Wegeners Golem formuliert (und ebenfalls für Das Cabinet des Dr. Caligari konstatiert werden kann) schafft es der Film, „Schrift als Bild zu visualisieren“170. Er bezieht sich dabei auf eine Einschätzung Elfriede Ledigs, die im Golem eine „visuelle Angleichung von Bildeinstellung und Titeleinstellung“ beobachtet, „die tendenziell die Grenze zwischen ikonischem und linguistischem Code ‚verwischt‘“171. Mario Grizelj sieht dies als Indiz für eine so genannte ‚dissidente Medialität‘, der zufolge der Film mit der bildlichen Hervorhebung des Textes etwas vermag, was die Schrift selbst nicht leisten könne: nämlich die Bildhaftigkeit des graphischen Materials in Szene zu setzen. Es sei dahin gestellt, ob dies angesichts von konkreter Poesie so zutrifft, seine Überlegungen gehen aber konform mit der materialästhetischen Grundlegung dieser Studie, wonach bei Kunstkonvergenzen intermateriale Potentiale abgerufen werden können. Bei der fusionierenden Intermaterialität von Schrift im Film manifestiert sich dieses Potential auf zweifache Weise: als Verschriftlichung des Bewegungsbildes und als Verbildlichung der Schrift. Ihre Steigerung erlebt diese intermateriale Mehrfachcodierung im Golem selbst, dessen Name nicht zufällig im Mittelalter als hebräischer „Terminus für Materie“172 verwendet wurde. In ihm kommen die Materialien Film (als Titel), Schrift (als 169 PAECH 1994b: 28. Stärker die Potenzierung der Textstücke in den Blick nehmend erkennt Sigrid Lange im Golem und anderen expressionistischen Filmen eine typische „Zweiteilung ‚der Schrift‘ in ein Original und ein Plagiat“ (LANGE 2000: 351), das die Narration in Gang setze und grundsätzliche Fragen nach dem „Wesen des Wirklichen und der Macht über Leben und Tod“ (LANGE 2000: 350) aufwerfe. Mit dieser Deutung zeigt sie die religiöse Dimension der Schriftverwendung auf, die zumindest im Golem klar zitiert und mit dem Material der Schrift verknüpft ist. 170 GRIZELJ 2009: 149. 171 LEDIG 1989: 174. 172 SCHOLEM 1965: 212.
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Buch) und Bild (Figur) ebenso zur Einheit wie Mythos und Realität. Diese Einheit erweist sich indes als eine fragile und bedrohliche, die mit dem Tod des Golems und dem Ende des Films aufbricht. Der Grund für die Fragilität lässt sich im Hinblick auf das Verhältnis von Schrift und Film dadurch erklären, dass der intermaterialen Engführung im Golem eine Medienkonkurrenz gegenüber steht, die der Film durch seine dichotome topographische Ordnung aufbaut: Das Ghetto fungiert als Ort der traditionellen Schriftkultur, der Kaiserhof dagegen symbolisiert oberflächliche Vergnügungs- und Schaulust und ist als solcher mit dem Kino identifiziert. Beide Orte sind topographisch klar voneinander abgegrenzt – das Ghetto liegt im Tal (Tradition), das Schloss ragt in der Ferne auf einem Berg auf (Moderne) – und nur über eine Brücke als Grenzraum miteinander verbunden.173 Während am Kai-
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serhof außer dem Dekret kein Schriftstück auftaucht, sind Bücher im Prager Ghetto intermaterial diegetisch omnipräsent (vgl. Abb. 31). Bereits in der Eingangssequenz sieht man eines im Bildvordergrund auf der Turmzinne liegen. Im Hintergrund hantiert Rabbi Löw an einem Teleskop und wird als Sternbeobachter eingeführt, der die Zeichen der Himmelskörper unter Rückgriff auf das Buch zu deuten weiß und zugleich Informationen aus verschiedenen Schriftquellen kombinieren kann. Eines seiner Bücher erlangt zusätzlich sakrale Bedeutung, weil es in einem verschließba173 Zur dichotomen Raumordnung und der damit verbundenen Machtkonstellation vgl. LEDIG 1989: 155-162.
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ren Wandschränkchen seinen verborgenen Platz hat. Zudem findet sich der Raum, in dem Rabbi Löw den Golem formt, mit einem Spruchband versiegelt, womit sich sein Betreten als Eingang in einen Schriftraum gestaltet. Die Lektürekompetenz und Zuordnung zur Buchkultur beschränkt sich im Ghetto nicht nur auf die Figur des Rabbi Löw. Auch Rabbi Jahuda (Hans Sturm), der Älteste der Prager Juden, erhält Autorität dadurch, dass er in Kombination mit Büchern gezeigt wird; ebenso sehen wir in einigen Szenen den Famulus Rabbi Löws über Schriftstücke gebeugt. Mit dieser Codierung wird den Juden insgesamt eine Rolle als Bewahrer von (Geheim-) Wissen und Kultur zugewiesen, die in scharfem Kontrast zum Gebaren am Kaiserhof steht. So vergnügt sich die Hofentourage in einem rauschhaften Rosenfest und verlangt als Höhepunkt der Veranstaltung nach visuellem Amüsement. Rabbi Löw,
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der mit dem Golem zum Zweck vorspricht, die Gemeinschaft der Juden vor der Vertreibung aus dem Ghetto zu bewahren, wird vom König dazu aufgefordert, seine „Künste“ zu zeigen und ein „Blendwerk […] vor Augen“ zu führen, worauf sich der Thronsaal buchstäblich in einen Kinosaal verwandelt. Dass Paul Wegener diese Sequenz ganz bewusst als Selbstreflexion auf die Kinosituation inszeniert, lässt sich vor allem daran festmachen, dass die In-Film-Projektion und die höfischen Zuschauer über weite Strecken gleichzeitig zu sehen sind (vgl. Abb. 32). Zudem zeigt der Film-im-Film den Exodus der Juden und thematisiert damit die gleiche Gefahr, die der Gemeinschaft im Prager Ghetto droht. Der Golem potenziert damit seine Geschichte und wirft das Publikum auf die eigene Schausituation zurück. Seine
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Verstärkung erfährt diese Absicht nicht nur dadurch, dass eine der In-Film-Figuren (Ahasver) bedrohlich in den Bildvordergrund tritt, sondern vor allem, weil das Zuschauen explizit thematisiert wird. So fordert der Rabbi den Kaiser und seine Gefolgschaft dazu auf, bei der Vorführung zu schweigen und – das ist besonders wichtig – nicht zu lachen. Durch die Kommentare eines Gauklers beginnt der ganze Hofstab jedoch nach einiger Zeit sich über den Film zu amüsieren, verfällt in wildes Gelächter und imitiert damit genau das Verhalten in den frühen Kinohäusern. Als Konsequenz dieses Affronts droht der Palast einzustürzen, und der Kaiser kann nur durch die Kräfte des Golems vor dem Tod bewahrt werden. In dieser Konstellation drückt sich unverkennbar eine Medienkritik aus, die sich vor allem gegen die mangelnde Ernsthaftigkeit und Rezeptionskompetenz des zeitgenössischen Publikums richtet. Insofern die schriftlich verbürgte Tradition von Repräsentanten des filmischen Unterhaltungsmediums der Lächerlichkeit preisgegeben wird, droht der Wert der Schrift zu verkommen. Die Rettung durch den Golem kann daher symbolisch gedeutet werden als Angewiesenheit der Kino- auf die Schriftkultur. Für das Verhältnis von Literatur und Film aufschlussreich ist überdies, dass Rabbi Löw als einziger Grenzgänger zwischen Buch- und Kinoraum wechseln kann. Von den Juden vermag nur er die Brücke zwischen den Medienwelten und das heißt die Grenze zum neuen Medium zu überschreiten. Seine magischen Fähigkeiten, unbelebte Materie in Bewegtes zu verwandeln, werden dadurch als Kompetenz zur Verfilmungen von Literatur sinnfällig. Vor diesem Hintergrund muss auch die Schaffung des Golems verstanden werden. In ihm verbinden sich Film und Schriftzeichen, ‚harte‘ Materie und visuelle Illusion. Wenn ihm am Schluss das kleine Mädchen den Stern aus der Brust nimmt, dann wird ihm buchstäblich die Schrift als Existenzgrundlage entzogen und somit folgerichtig das Ende des Films besiegelt. Hinter der ohne Zweifel angelegten Gegenüberstellung von jüdischer und christlicher Religion thematisiert Der Golem somit die eigene Orientierung an der Literatur als unausweichliche Vorlage für die Bewegungsbilder. Im Modus der Verknüpfung von Literatur und Film warnt er vor den möglichen Folgen, die aus deren Kombination entstehen, und ist zugleich von der Notwendigkeit ihrer Verbindung überzeugt: Bei aller Gefahr, die der Literatur droht und die sie selbst zu einer Bedrohung macht, Der Golem, wie er in die Welt kam ist ein Film über die Rettung der Literatur, vom Überleben der Schrift im neuen Medium.
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Die ‚Wahrheit‘ der Schrift als Bild. Friedrich Wilhelm Murnaus „Nosferatu. Eine Symphonie des Grauens“ Anders als Das Cabinet des Dr. Caligari und Der Golem, wie er in die Welt kam, die ihre eigene Buchgrundlage fingieren, basiert Friedrich Wilhelm Murnaus Horrorfilmklassiker Nosferatu. Eine Symphonie des Grauens (1921/22) tatsächlich auf einer literarischen Vorlage. Der Film, der am 4. März 1922 im Berliner Marmorsaal des Zoologischen Gartens Premiere feiert, gilt als die erste Verfilmung von Bram Stokers Dracula (1897) und folgt in großen Teilen dessen Handlungsverlauf. Um den kostspieligen Erwerb der Urheberrechte zu umgehen, benennt Murnaus Drehbuchschreiber Henrik Galeen die Figuren Stokers um und versetzt das Geschehen von London in die fiktive Hafenstadt Wisborg. Im Film ist es nicht Jonathan Harker, sondern Hutter (Gustav von Wangenheim), der als Schreibgehilfe des Häusermaklers Knock (Alexander Granach) nach Transsylvanien reist, um mit dem Grafen Orlok alias Nosferatu (Max Schreck) den Vertrag über einen Häuserkauf in der
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Heimatstadt zu besiegeln. Anders als beim Roman, der seine Geschichte in Form von Tagebucheinträgen, Zeitungsnachrichten und Briefen, d.h. also aus vielstimmiger Perspektive erzählt, gibt es in Nosferatu eine durchgehende, die vielen Orts-
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wechsel, Handlungsstränge und Schriftstücke zusammenhaltende Erzählinstanz.174 Sie wird eingangs des Films durch eine Buchchronik eingeführt, bleibt in ihrer Existenz allerdings unbestimmt, denn anstelle eines konkreten Namens markieren drei Kreuze die Urheberschaft der „Aufzeichnung über das große Sterben in Wisborg anno Domini 1838“175 (vgl. Abb. 33). Der Autor bleibt damit anonym, gleichwohl er an mehreren Stellen verbürgt und individualisiert ist. Nur mittelbar garantiert die personale Instanz des Erzählers die Glaubwürdigkeit der Ereignisse, die der Filmzuschauer sieht, in erster Linie ist es das Faktum des Aufschreibens und Aufzeichnens. Die Autorität dessen, was erzählt wird, geht somit an das Material der Schrift über. Auch die vielen Schriftstücke im Film als Inserts zweiter Ordnung müssen in dieser Hinsicht gedeutet werden, vor allem weil die meisten von ihnen Vertragsstücke darstellen oder offiziellen Charakter haben, so zum Beispiel die öffentliche Pestbekanntmachung, nach der die Bewohner in ihren Häusern zu bleiben haben, oder der Frachtbrief, der die Verschiffung der sieben Särge von Warna nach Wisborg erlaubt. In ihrem intermaterial diegetischen Einsatz sind die Schriftstücke logischer Teil der Handlung und besitzen häufig autoritative Funktion. Bei einigen Inserts eröffnet sich allerdings eine Diskrepanz zwischen Aussage und dem gefilmten Geschehen wie beim Brief Hutters an seine Frau Ellen (Greta Schröder), in dem er von Mückenstichen an seinem Hals schreibt, der Filmzuschauer indes ahnt, dass ein Blut saugender Biss Nosferatus hierfür die wahre Ursache darstellt. Seinen diesbezüglichen Höhepunkt erlangt der Film in der selbstreflexiven, skripturalen Duplizierung, die nunmehr als typisches Merkmal des expressionistischen Films hervortritt. Hutter findet im Zimmer seiner Unterkunft in den Karpaten ein Buch „Von Vampyren[,] erschrökklichten Geistern, Zaubereyen und den sieben Todsünden“, in dem ein Kapitel über die Untaten Nosferatus Auskunft gibt (vgl. Abb. 34 und 37). In seinem Unglauben an derartige Schauergeschichten schleudert Hutter das Buch lachend weg, um es später – als sich die unheimlichen Anzeichen verdichten – immer wieder zu konsultieren. An diesen und weiteren Stellen, in denen Schriftstücke vorkommen, wechselt der Film den intermaterialen Typus von einer diegetischen hin zu einer konnektierenden Intermaterialität: Das auf der Handlungsebene eingeführte Schriftstück wird nach einem Schnitt in Großaufnahme als einziger Bildgegenstand in der Kadrierung gezeigt. Der Zuschauer nimmt in diesem Wechsel die Perspektive der lesenden Figur ein, und das Schriftstück bleibt unter 174 Zu einer gegenteiligen Einschätzung kommt Thomas Elsaesser, der aufgrund der diversen Schriftstücke im Film „viele verschiedene Erzählinstanzen“ festmacht: ELSAESSER 1999: 171. Er übersieht dabei, dass alle Schriftdokumente Teil der durch die Chronik etablierten Erzählwelt sind und ihr somit zu- und untergeordnet sind. 175 Die Zitate beziehen sich auf die Ausgabe: Friedrich Wilhelm Murnau: Nosferatu. DVD, ca. 94 Min. (Deutschland 1922). München 2007.
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Ausblendung des ‚realen‘ Handlungsraums als Trägermedium erkennbar. Die Zwischentitel der Chronik kommen dagegen in einer rein konnektierenden Intermaterialität zum Einsatz, weil sie natürlich nicht Teil der Handlung sein können, die sie beschreiben. Die Chronik bildet die schriftliche Voraussetzung für die visuelle Entfaltung der Geschichte, in die hinein weitere Schriftstücke als Inserts zweiter Ordnung integriert sind. Über den beschriebenen Wechsel von diegetischer zu konnektierender Intermaterialität interagieren diese mit der Mise en Scène. Für das Erzählverfahren des Films ist es wichtig, dass der Zuschauer durch die rein intermaterial konnektierenden Einschübe der Chronik ein Mehrwissen erlangt und damit den Figuren überlegen ist. Er partizipiert an der rückblickenden Erzählperspektive des Films, die eine pseudodokumentarische Qualität herstellt. Während Gesehenes und Gelesenes im Falle der Inserts zweiter Ordnung einander widersprechen können, verbürgen sich Schrift und Bild bei den Zwischentiteln der Chronik wechselseitig. Die Texte der Chronik wirken als „Rückversicherung im alten Medium“176 und gleichberechtigtes Kompositionsprinzip in einem als Symphonie verstandenen intermaterialen Gesamtkunstwerk Film.
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Friedrich Wilhelm Murnau hat sich selbst immer wieder zu seinen filmischen Gestaltungsprinzipien geäußert und dabei an verschiedenen Stellen auch das Verhältnis von Schrift und Filmbildern thematisiert. So schreibt er 1927 in einem Artikel 176 LANGE 2000: 351.
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mit dem bezeichnenden Titel Der ideale Film benötigt keine Untertitel (orig.: The Ideal Film needs no titles): „Der Film-Regisseur muß sich selbst von jeder Tradition lösen, ob vom Theater oder von der Literatur, um den bestmöglichen Gebrauch von seinem neuen Medium zu machen.“177 Blickt man auf eine Auswahl seiner Filme, entsteht ein genau entgegengesetzter Eindruck: Nicht nur Nosferatu, sondern viele weitere Filme basieren auf literarischen Vorlagen: Der Januskopf (1920) auf Robert Louis Stevensons Novelle The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Heyde (1886), die Filme Schloss Vogelöd (1921), Phantom (1922), Die Austreibung (1923) und Tartüff (1925) auf jeweils gleichnamigen Erzählungen oder Dramen von Rudolf Stratz, Gerhard und Carl Hauptmann sowie Molière, und nicht zuletzt die Hollywoodfilme Sunrise. A song of two humans (1927) als Adaption der Reise nach Tilsit (1917) von Hermann Sudermann und Faust (1926), der sich gleich mehrerer literarischer Quellen bedient. Für Murnau liegt die Diskrepanz zwischen filmästhetischem Anspruch und filmpraktischer Arbeit an einem Mangel an adäquaten Filmstoffen, weshalb die Literatur solange als Quelle für Drehbücher herangezogen werden soll, bis ein „Film der Zukunft“ entwickelt sei, der sich nicht auf literarische Vorlagen bezieht und zudem ohne Zwischentitel auskommt: „Gegenwärtig müssen wir auf Romane zurückgreifen, auf Bühnenstücke, Kurzgeschichten, auf Geschichten als Basis für unsere Filmpläne. Aber in der zukünftigen Szene werden Autoren Filmideen ausdenken und Filmträume träumen.“178 Die zitierten Äußerungen Murnaus stammen vom Ende der 1920er Jahre, also einige Jahre nach Nosferatu, der in seiner Machart und seinen vielen Schrifttafeln offensichtlich nicht den späteren Forderungen entspricht. Für diesen Film greift daher ein Interview, das Eduard Jawitz 1924 mit Murnau führt. Darin beklagt dieser zwar ebenfalls, dass der Film sich zu stark an anderen Künsten ausrichtet, zugleich versteht er diese Orientierung aber als Hilfestellung zur Entwicklung eigener Mittel. Vor allem der Schrift komme dabei eine wesentliche Funktion zu: „Wie sehr die anderen Künste dem Film Brücken bauen, dokumentiert sich im Titel. Der Titel als logisch reflektierte Folgerung von Bild zu Bild ist schlechthin ein hemmendes filmisches Moment. Als rein feststehend, wird der Titel zunächst noch nicht zu vermeiden sein.“179 Zwischentitel sind hier gemäß der intermaterialen Funktion als konnektierend konzipiert. Das Wort dient der logischen Verknüpfung der Bildsequenzen, besitzt für Murnau aber keinen Eigenwert. Eigentlich müsste es sich auch in seiner materialen Gestaltung 177 MURNAU 1927: 153. 178 MURNAU 1928: 145. Die Emanzipation von der Literatur bleibt bei Murnau nicht nur Rhetorik. Mit Der letzte Mann (1924) hat er einen Film gedreht, der mit nur einem Zwischentitel auskommt. Noch in der Abwendung von der Literatur bleibt Murnau ihr indes verpflichtet. So versteht er den Regisseur des zukünftigen Films als „Film-Poet“. Ebd. 179 MURNAU 1924: 142.
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zurücknehmen, doch für einen Regisseur wie Murnau bleiben die Zwischentitel dort, wo er sie einsetzt, nicht nur Beiwerk. „When titles were deemed indispensable, Murnau attempted to make them part of the film’s visual design.“180 In der DraculaAdaption sind die Zwischentitel denn auch in ihrer Materialität ausgestellt und den rezeptionsästhetischen Bedingungen des Films angenähert. Murnau erreicht dies durch das eingangs gezeigte Umblättern der Chronik, also indem die Sukzessivität des Lektürevorgangs als dynamisches und eben nicht „hemmendes“ Moment inszeniert wird. Nosferatu ist daher als ein Brückenfilm zu verstehen, der zum einen noch stark der literarischen Tradition verpflichtet ist, zugleich aber mit technischen Effekten wie Zeitraffern, Negativsequenzen und Schattenspielen das Filmische als Variation des unmittelbar Sichtbaren in Szene setzt. Die Präsenz von Schriftstücken nimmt Murnau zum Anlass, tricktechnische Möglichkeiten des Films zu demonstrieren bzw. – wie Heide Schlüpmann formuliert – die über die Literatur „hinaus gehenden Möglichkeiten des Films“181 anhand der Literatur zu reflektieren. Dabei spielt Murnau den Film jedoch nicht gegen die Schrift aus, beide sind ihm gleichberechtigte Instanzen, denn nur durch das In-Verhältnis-Setzen beider zueinander generieren sich die Effekte Nosferatus. Wie viel Wert der Regisseur auf die Gestaltung der Zwischentitel legt, zeigt sich insbesondere in der durchgehend homogenen Verwendung der verschiedenen TitelTypen. Wie im Cabinet des Dr. Caligari lassen sich in Nosferatu bei den intermaterial konnektierenden Zwischentiteln insgesamt drei Typen unterscheiden: Credits und strukturierende Kapiteleinteilungen, Erzählkommentare der Chronik sowie Dialoge. Jeder von ihnen besitzt ein ‚corporate design‘. So sind die Akteinteilungen als kaum stilisierte Großlettern zu sehen, die Chronisten-Kommentare in teils verschnörkelter Handschrift auf vergilbtem Pergament und die Dialogtafeln in blau viragierter moderner Schrift auf schwarzem Hintergrund. Ähnlich dem Film Robert Wienes erlauben auch in Nosferatu die verschiedenen Textsorten eine Analyse der Kompositionsstruktur. Den äußeren Rahmen des Films bildet die Akteinteilung, die noch vor der Chronik einsetzt, diese also integriert. Einerseits emanzipiert sich der Film darin von der Literatur (paradoxerweise, indem er sich eines traditionellen literarischen Elements bedient), zum anderen bleibt die Chronik selbst – als zweite Ebene der textuellen Filmkonstruktion – dadurch von typischen fiktionalen Merkmalen unberührt. Auch wenn sie immer wieder Spannung erzeugt, soll sie nicht als fiktionales Genre verstanden werden, sondern als ein Tatsachenbericht. Die Chronik erfüllt die Funktion, „die Ereignisse in der Historie zu verankern“182, indem sie sich selbst als Historiographie entfaltet, deren wesentliche Kennzeichen Zeitzeugen180 COLLIER 1988: 218. 181 SCHLÜPMANN 1990b: 39. Vgl. hierzu auch KAES 2004: 52. 182 GÖTTLER 1990: 129.
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schaft sowie die Auswertung von Quellenmaterial darstellt. Demgemäß schreibt der unbekannte Erzähler von „meiner Vaterstadt“ und gibt darin ein Wissen um die örtlichen Verhältnisse und eine persönliche Involviertheit in die Geschehnisse zu erkennen. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die signalisierte Bekanntschaft des Erzählers mit den beteiligten Personen. Von den „unheimlichen Gesichte[n]“ Hutters etwa habe dieser „mir [dem Erzähler, C.K.] oft erzählt“, und auch mit dem Gemeindearzt, Dr. Sievers (Gustav Botz), und dem Paracelsianer Professor Bulwer (John Gottowt), habe es persönliche Gespräche gegeben. Diese Augenzeugenberichte sind als Authentizitätsstrategien zu werten. Sie sollen der Chronik Glaubwürdigkeit verleihen und die Bilder als sichtbaren Beweis dafür ausweisen, dass es sich tatsächlich so zugetragen habe, wie es der Erzähler schriftlich darlegt. In dieser Konstellation wird der Zuschauer zum Komplizen: Er ist selbst Augenzeuge und kann und soll den Bericht verifizieren. Aufgrund des reziproken Verhältnisses von Text und Bildern funktioniert die Authentifizierung in beide materiale Richtungen: Nicht nur die Bilder beweisen den Wahrheitsgehalt des Buches, auch die Schrift verbürgt die Richtigkeit dessen, was der Zuschauer sieht. Mit einer Gesamtzahl von etwa 55 Einblendungen bilden die Dialoge den mit Abstand größten Teil der intermaterial konnektierenden Zwischentitel. Als Dramatisierungselemente sind sie Teil der fingierten Erzählwelt, zugleich ist in ihnen die Erzählinstanz wirksam. Besonders zu Beginn des Films wird dies in den vielen eindeutigen Konnotationen deutlich, wenn beispielsweise Professor Bulwer Hutter zuruft, nicht so schnell vorbei zu laufen, schließlich könne „niemand […] seinem Schicksal [enteilen]“. Derartige Anspielungen auf die spätere Bedrohung durch Nosferatu übersteigen die Kompetenzen der jeweiligen Figurenperspektive, sind also proleptisches Mittel der Erzählinstanz. Sie folgen einer Logik der rückblickenden Vorausschau, der zufolge alle Begegnungen Hutters Ausdruck einer deterministischen Kausalkette sind. Die Spannung des Films resultiert aus dieser schriftlich verbürgten Gewissheit eines drohenden bzw. bereits geschehenen Unheils, über das der Zuschauer von Anfang an Gewissheit hat und nur über die genauen Umstände nichts weiß. Neben den verschiedenen Typen der Schrift in Gestalt der intermaterial konnektierenden Zwischentitel spielt die diegetische Intermaterialität eine wesentliche Rolle. Nicht nur, dass sich der Film als Bebilderung der Chronik entwirft und damit das Buch immer mitgedacht werden muss, auch die Reise Hutters steht unter den Insignien der Schrift, schließlich stellt ihr Ziel die Vertragsunterzeichnung dar, d.h. die Unterschrift Nosferatus. Erst sie besiegelt den Pakt und setzt die furiose parallel montierte Wettfahrt Hutters und Graf Orloks in Gang, an deren Ende Tod und Pest die Stadt Wisborg heimsuchen. Auffällig ist zudem, dass Hutter von Beruf Buchhalter ist. Im Büro des Häusermaklers Knock sehen wir ihn in einem mit Schriftstücken voll gestopften Zimmer, das an ein mittelalterliches Skriptorium erinnert (vgl.
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Abb. 35). Seine Reise wird zwar als Ausbruch aus dieser Enge und der idyllischen Heimatstadt angelegt,183 doch auch hier bleibt das Buch präsent. So steckt Hutter vor Anbruch der Reise eines in seinen Reisesack, dessen Titel allerdings nicht eingeblendet wird. Anders verhält es sich mit dem Vampirbuch, das Hutter in der Kammer des Wirtshauses findet. Es kommt gleich mehrfach im Film zur Ansicht, nicht immer erklärt sich indes seine Herkunft. Dass Hutter es auf dem Schloss aus seinem Rucksack zieht, ohne es im Wirtshaus eingesteckt zu haben, ist irritierend. Während das Drehbuch zumindest eine Vermutung über die Herkunft äußert – „Hat es ihm die Wirtin in die Tasche gesteckt?“184 –, bleibt sie im Film ungeklärt und muss neben der mysteriösen Wirkung als ein Insistieren auf die Schrift in ihrem Wahrheitsgehalt verstanden werden. Für die Analyse der Schriftverwendung gibt
Abbildung 35
die Szene zudem Aufschluss über die Funktion der Wiederholung von Inserts, wie sie für Nosferatu charakteristisch ist. Neben der zweimaligen Darstellung des Briefes an Ellen und des Vertrags zwischen Knock und Graf Orlok wird in dem Vampirbuch gleich mehrfach gelesen. Während Hutter dessen Beschreibungen zunächst
183 Und damit als Verlassen Literatur dominierter Räume, was sich auch am Wohnzimmer Hutters und Ellens zeigt, in dem Autorenporträts berühmter Dichter hängen. Als größtes Bild lässt sich das Konterfei Goethes ausmachen. 184 NOSFERATU 1979: 459.
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als Aberglauben verlacht, es dann als schockierende Erklärungsinstanz für die wirkliche Existenz Nosferatus heranzieht, erlangt das Buch zuletzt prophetische Bedeutung, da es Ellen zur Anleitung gerät, sich Nosferatu zu opfern. Über die Wiederholung gleicher Inserts werden Textwelt und Bildwelt des Films somit im Verlaufe der Montage zur Deckung gebracht.
Abbildungen 36 und 37
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Diese Engführung finden wir an wichtigen Stellen auch materialiter vollzogen. Vor allem in der Hieroglyphenschrift des Vertrags, der mit seinen piktographischen Elementen und Symbolzeichen mehr einer geheimnisvollen Zeichnung ähnelt als einem juristischen Dokument (vgl. Abb. 36).185 Er stammt aus der Feder Graf Orloks, dessen Sprache symbolisch funktioniert. Sein Medium ist nicht die Schrift, sondern der Blick, der auch in der Augen-Vignette im Titel des Vampirbuches seine Darstellung findet (vgl. Abb. 37). Mithilfe dieses Signums entfaltet Nosferatu seine Suggestionskraft. Zwar ist er nicht stumm wie die Antihelden Cesare und der Golem, aber seine Macht bzw. Ohnmacht gestaltet Murnau stets über Blickarrangements. Gerade darin reflektiert der Film seine eigenen Bedingungen als Erzeuger optischer Reize, die der Zuschauer unmittelbar visuell wahrnimmt und deren hypnotischer Wirkung er sich nicht entziehen kann. Einsichtig wird die Zuordnung Nosferatus zum visuellen Medium auch in der Vertragsunterzeichnung, bei der Hutter wie zufällig ein Amulett mit dem Bild Ellens aus der Hemdtasche fällt und sogleich die bedrohliche Aufmerksamkeit Nosferatus auf sich zieht. Wie Thomas Elsaesser beobachtet, substituiert diese Geste den eigentlichen Kaufakt: „Nosferatu greift zu, und somit ist es das Bild, das zwischen den beiden Männern getauscht wird: es tritt an die Stelle des Geldes, das ansonsten den Handel besiegelt hätte.“186 Mehr noch: Nicht das Geld wird ersetzt, sondern als eigentliche Tauschmittel entpuppen sich Schrift und Bild. Hutter als Repräsentant der Buchkultur erhält die Unterschrift und Graf Orlok in einer symbolischen Aneignungsgeste zunächst die Photographie Ellens und am Ende des Films tatsächlich sie selbst. Dabei kommen auch in dieser Schlusssequenz noch einmal die verschiedenen materialen Zugehörigkeiten zum Ausdruck. Das Opfer, das Ellen bringt, erfolgt durch einen Glauben an die Schrift. Trotz der Warnung Hutters, „das Buch, das ihn mit Gesichten geängstigt hatte, nicht zu berühren“, liest sie darin und erfährt, dass die Gefahr nur dann gebannt werden könne, wenn ein „gar sündlos Weib dem Vampyre den ersten Schrey des Hahnen vergessen mache“. Diese Prophezeiung nimmt Ellen als Verhaltensanleitung und der Film – zugespitzt formuliert – als Drehbuch für seine finale Szenerie, die als exaktes optisches Arrangement mit einer skripturalen Rahmung gestaltet ist. So kommt es zunächst zu einer visuellen Unterwerfung Ellens durch Nosferatu, der ein Haus direkt gegenüber bezogen hat, und sie von seinem Fenster aus hypnotisch fixiert. Danach zeigt der Film das Eindringen des Vampirs in das Haus Ellens und ihre sexuell konnotierte Besitznahme als ein dämonisches Schattenspiel. Mit Beginn des Tages und dem Einfall der Lichtstrahlen, die als Reflexion auf die filmische Projektionstechnik gedeutet werden können, löst sich die Gestalt Nosferatus schließlich auf; sie verschwindet in einer Nebelwolke, ist für die Kamera 185 Einen Versuch der Zeichendekodierung unternimmt EXERTIER 1987. 186 ELSAESSER 1999: 174.
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nicht mehr aufzunehmen und nur noch als mystische Figur der Schrift existent. In einem gewissen Sinn obsiegt damit das Schriftmaterial, dessen Prophezeiung sich bewahrheitet und das in einem letzten Zwischentitel das „Wunder […] der Wahrheit“ bezeugend vom Ende des Sterbens in Wisborg berichtet. Der Film trifft darin jedoch keine eindeutige Aussage, denn die letzte Einstellung zeigt die Ruine des Orlok’schen Schlosses in Transsylvanien und damit eine Photographie. Ob nun also die Schrift oder die Bilder am Ende die Oberhand behalten, bleibt offen, keinesfalls aber spiegeln die schriftlichen Zeugnisse eine „subjektive oder oberflächliche Wahrnehmung“ wider, während das Kameraauge „Objektivität“ und „Wahrheit“ verbürgt.187 Vielmehr generiert der Film ein Wechselspiel beider Materialien: Gemeinsam bezeugen die intermaterial konnektierenden Zwischentitel und die gefilmte, tricktechnisch bearbeitete Szenerie die Authentizität der Geschichte Nosferatus und stehen damit in einem produktiven Zusammenhang und nicht in einem Konkurrenzverhältnis.
Zusammenfassung In Wienes Das Cabinet des Dr. Caligari, Wegeners Der Golem, wie er in die Welt kam und Murnaus Nosferatu erweisen sich Schrift und Buch als selbstreflexive Verdopplungsinstanzen der Filme und Begründungsmomente, die in ihrer Materialität ausgestellt und als Teil der Gesamtkomposition verstanden werden. Alle drei Filme lassen sich daher als Auseinandersetzung mit der Schriftkultur deuten. Die Dominanz von Büchern und Schriftstücken geht weit über die Praxis des Weimarer Kinos und das Maß, das zum Verstehen der Handlung notwendig wäre, hinaus und ist nicht dem Mangel an Verbalsprache geschuldet. Vielmehr dokumentiert sie, dass der Anspruch auf Filmkunst auch die Zwischentitel und generell die Verwendung von Schrift im Stummfilm impliziert. Die Schrift kann dabei als Aufklärungsmittel (Das Cabinet des Dr. Caligari), als Speichermedium von Wissen und Kultur (Der Golem, wie er in die Welt kam) oder als dialogischer Konterpart zum sichtbaren Schauspiel (Nosferatu) fungieren, stets aber ist sie Teil der narrativen Ordnung der Filme und intermateriale Reflexionsinstanz. Für die Theorie der Intermaterialität hat sich bei der Analyse der Stummfilme eine Subkategorisierung als fruchtbar erwiesen, die zwischen diegetischer, konnektierender und fusionierender Intermaterialität unterscheidet. Der intermaterial diegetische Schrifteinsatz in Filmen zeigt sich in der Integration von Schriftstücken in die Handlung; intermaterial konnektierende Textsegmente nehmen als Zwischentitel die gesamte Kadrierung ein und haben zugleich die Funktion, gespielte Sequenzen miteinander zu verbinden; intermaterial 187 SCHLÜPMANN 1990b: 41.
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fusionierender Schrifteinsatz entsteht schließlich dort, wo Schrift in den Bildraum eingeblendet wird und dieser als Trägermedium fungiert. Mit einer Ausnahme zeigt sich in allen drei Filmen die Variationsbreite dieser intermaterialen Verbindungen: So verzichtet Nosferatu auf eine intermateriale Fusion, wie sie bei den Schlüsselszenen in Wienes und Wegeners Filmen beobachtet werden kann, bei allen drei Filmen stehen aber Textsegmente in einem künstlerisch ausgefeilten, intermaterial konnektierenden und diegetischen Verhältnis zur Mise en Scène. Diese Beobachtung zwingt zu einer Neueinschätzung der Kinodebatte. So geht die Emanzipation des Films als eigenständiger Kunstform nicht mit einer Abkehr von der Buchkultur einher – wie in der Forschung bisher angenommen –, sondern im Gegenteil mit deren Inszenierung. Die Ästhetisierung des Films im Expressionismus macht aus dem „außerliterarischen Medium“188 Stummfilm der Jahrhundertwende und dem biederen Autorenfilm der späten 1910er Jahre eines, das die filmischen Mittel voll ausschöpft und neue entdeckt, dabei aber der Literatur und ihrem Material der Schrift zutiefst verpflichtet bleibt.
188 VIETTA/KEMPER 1975: 123.
VI. Bühnenkompositionen
Z WISCHEN PARALLELER I NTERMATERIALITÄT
UND KONTRASTIVER
Seine radikalste intermateriale Ausprägung erlebt der Expressionismus im Theater. Per se mit der Möglichkeit ausgestattet verschiedenste Materialien miteinander zu kombinieren und in der Performanz der Aufführung auf den Zuschauer auszurichten, bildet die Bühne bereits in den Programmatiken immer wieder das Modell für die intermateriale Kunstsynthese. Es wundert daher nicht, dass die gesamtkünstlerischen Bestrebungen vor allem in Dramen, Bühnenstücken und szenischen Entwürfen ihren Ausdruck finden. Während in den Text-Bild- und Schrift-Film-Bezügen die Materialien neben ihrem Eigenwert häufig als Zeichenträger fungieren, sind sie hier stärker von ihrer Abbildfunktion entbunden und abstrakt aufeinander ausgerichtet. Diese Aufwertung der Materialien für die szenische Darstellung begründet die Beschreibung der Theaterstücke als Bühnenkompositionen. Wie bei einer Orchesterpartitur sind in den Texten die Materialien nicht einfach willkürlich zusammengestellt, sondern in einer exakten Choreographie aufeinander abgestimmt. Mit der Aufwertung der Bühnenmaterialien geht zudem eine Neudefinition der Sprachund Handlungsfunktion der agierenden Darsteller einher. Sie bilden zunehmend nicht mehr den Mittelpunkt der Aufführung, sondern kommen in ihrer bewegten Körperform als ein Material unter vielen zum Einsatz. Diese Verschiebung in der Gewichtung der Bühnenbestandteile soll im Folgenden anhand von sechs Bühnenkompositionen aus dem Früh- bis zum Spätexpressionismus untersucht werden. Am Beginn steht Oskar Kokoschkas Mörder Hoffnung der Frauen (1907/10), das bereits wesentliche Kennzeichen der abstrakten Materialverwendung aufweist, diese aber noch an einen thematischen Zentralkonflikt zwischen den Geschlechtern knüpft. Gleiches gilt für die Dreiecksbeziehung in Arnold Schönbergs Drama mit Musik Die Glückliche Hand (1911), das allerdings seinen Musik-, Licht- und Farbeneinsatz viel stärker eigenständig inszeniert und nicht ausschließlich zur Unterstützung der Darstelleraktionen verwendet. Einen kompletten Verzicht auf eine
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kohärente Handlung und vollständige Aufwertung der Materialien findet sich in Wassily Kandinskys Der Gelbe Klang (1912). Hier erfolgt der synthetische Materialeinsatz rein abstrakt und dient der ganzheitlichen Reizstimulierung des Zuschauers. Ganz ähnlich, im Materialgebrauch aber noch reduktionistischer ist dies auch in Lothar Schreyers Stück Kreuzigung (1920) angelegt, bei dem die Darsteller hinter Ganzkörpermasken verborgen als klangsprechende Farbformen und somit als intermateriale Konglomerate agieren. Eine Ausnahme bei den Bühnenkompositionen bildet Alfred Brusts Das Spiel Jenseits (1920), da in ihm die Vereinigung der Künste nicht materialiter, sondern diskursiv erzeugt wird. Seine ironische Verhandlung erfährt der intermateriale Bühnenexpressionismus in Kurt Schwitters’ Zusammenstoß. Groteske Oper in 10 Bildern (1927), bei der der Merzkünstler theateravantgardistische Versatzstücke zu einer szenischen Collage arrangiert und dabei unverkennbar Kandinskys Gelben Klang parodiert. Alle behandelten Stücke weisen eine komplexe Verbindung von Materialien auf, die es mithilfe der Kategorie der Intermaterialität präzise zu analysieren gilt. Abgesehen von Brusts Sprechdrama haben wir es in allen Bühnenkompositionen mit Formen direkter Intermaterialität zu tun. Durch die zeitlich wie räumlich komplexe Struktur stehen die Materialien sowohl in einem kopräsenten als auch fusionierenden Verhältnis zueinander. Gerade in den Bühnenstücken ist dabei von besonderem Interesse, wie diese Relationssetzung gewertet wird und das heißt qualitativ funktioniert. Vorweg lassen sich zwei extreme Wertungstypen der direkten Intermaterialität unterscheiden, zwischen denen sich in den Bühnenkompositionen verschiedene graduelle Abstufungen entfalten können: ein paralleler und ein kontrastiver. Während die parallele Intermaterialität auf eine mitwirkende Verwendung der Künste abzielt, geht es bei der kontrastiven Intermaterialität um eine Gegenwirkung der Materialien, die im Falle des Expressionismus mit seinen Forderungen nach Disharmonien das eigentliche Ideal der neuen Kunst darstellt, da mit ihr – so die Vorstellung – eine größere Wirkung beim Zuschauer erzielt werden könne. In vielen Stücken sind indes beide Formen realisiert, so dass wir es mit einer vielschichtigen, von Szene zu Szene variierenden Materialverwendung zu tun haben. Zu berücksichtigen ist überdies, dass die verschiedenen intermaterialen Relationstypen sowohl im Hinblick auf die Beziehung zum Darsteller als auch in Bezug auf die Materialien untereinander greifen und daher stets in dieser doppelten Perspektive in den Blick genommen werden müssen. Vor den einzelnen Analysen soll zunächst ein Überblick über einige theaterreformatorische Einflüsse gegeben werden, der in Hinsicht auf den abstrakten Theaterexpressionismus besonders wichtig ist, weil die Künstler in ihren Programmatiken und Bühnenpraktiken vielfach auf die Thesen der Theaterreformbewegungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts Bezug nehmen.
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V ON W AGNER
ZU R EINHARDT . K URZE V ORGESCHICHTE DES INTERMATERIALEN T HEATEREXPRESSIONISMUS Als früheste Einflussgröße des synthetischen Theaterexpressionismus kann Richard Wagner angesehen werden, der in seinen Züricher Schriften Die Kunst und die Revolution (1849), Das Kunstwerk der Zukunft (1849) und Oper und Drama (1852) erstmals expressis verbis eine Aufwertung der Bühnenmaterialien im Namen des Gesamtkunstwerks propagiert. Welche Gestalt das Gesamtkunstwerk bei Wagner hat, wird besonders deutlich, wenn man es mit den Forderungen der Frühromantiker vergleicht, auf die er sich an einer Stelle in Oper und Drama explizit zu beziehen scheint. In Rahmen einer Auseinandersetzung mit Lessings Laokoon, dessen Grenzziehung von Malerei und Dichtkunst er erstaunlicherweise verteidigt, schreibt Wagner über die Synthese der Künste:
Wer sich die Vereinigung aller Künste zum Kunstwerke nur so vorstellen kann, als ob darunter gemeint sei, daß z.B. in einer Gemäldegalerie und zwischen aufgestellten Statuen ein Goethe’scher Roman vorgelesen und dazu noch eine Beethoven’sche Symphonie vorgespielt würde, der hat allerdings Recht, wenn er auf T r e n n u n g der Künste besteht und es jeder einzelnen zugewiesen lassen will, wie sie sich möglichst deutlicher Schilderung ihres Gegenstandes verhelfe.1
In diesem Passus, der sich wie eine direkte Anspielung auf ein Fragment von Novalis liest,2 spricht Wagner sich gegen eine bloße Parallelisierung der Künste aus, bei der unabhängig voneinander entstandene Kunstgebilde einfach kombiniert werden. Andersherum heißt das aber nicht, dass er damit für eine intermateriale Gestaltung der Einzelkünste eintritt. Darin folgt er Lessing im Sinne eines Adäquatheitsarguments, wonach das Material einer Kunstart nicht dazu verwendet werden dürfe, um die Gegenstände bzw. Verfahren einer anderen zu imitieren. Die Möglichkeit eines intermaterialen Verweisungszusammenhangs der Künste untereinander ist also kategorisch ausgeschlossen. Es geht Wagner vielmehr darum, alle Künste in einem gemeinsamen Zweck aufgehen zu lassen, zu dessen Voraussetzung er – wie später im Übrigen auch Kandinsky – die Vervollkommnung eines jeweiligen Kunstzweiges erklärt. Die Argumentation basiert dabei zunächst auf einer differenzlogischen Überlegung, wonach eine Vereinzelung der Künste im Sinne eines Isolierens deshalb unmöglich ist, weil sie zu ihrer Bestimmung immer etwas benötigen, 1 2
WAGNER 1851: 1589f. [Herv. i.O.] In einem Fragment von 1797/98 heißt es: „Man sollte plastische Kunstwerke nie ohne Musik sehn – musikalische Kunstwerke hingegen nur in schön dekorierten Sälen hören. Poetische Kunstwerke aber nie ohne beides zugleich genießen.“ NOVALIS 1987: 382.
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wovon sie sich abgrenzen müssen. Da für Wagner die Grenzen der Künste zugleich deren Berührungspunkte darstellen, liegt hierin das Moment der Verbindung und letztlich auch Übertretung begründet. Die Forderungen nach einer „Reinheit der Kunstart“3 einerseits und einem Aufgehen der Künste im Gesamtkunstwerk andererseits ergeben daher nur scheinbar einen Widerspruch, weil es das Ziel einer jeden Kunstart sei, sich mit den anderen zu vereinen und einem höheren Zweck zu opfern: Das große Gesammtkunstwerk, das alle Gattungen der Kunst zu umfassen hat, um jede einzelne dieser Gattungen als Mittel gewissermaßen zu verbrauchen, zu vernichten zu Gunsten der Erreichung des Gesammtzweckes aller, nämlich der unbedingten, unmittelbaren Darstellung der vollendeten menschlichen Natur, dieses große Gesammtkunstwerk erkennt er [der Geist, C.K.] nicht als die willkürlich mögliche That des Einzelnen, sondern als das nothwendig denkbare gemeinsame Werk der Menschen der Zukunft.4
Unter dem stilisierten Vorbild des antiken Dramas fordert Wagner eine gleichberechtigte Verwendung aller Künste. Sie erfahren daher eine Aufwertung, sind aber noch nicht zur materialen Eigenständigkeit befreit, sondern in ihrer Wirkungsweise auf den Menschen bezogen. Dessen Zentralstellung ergibt sich daraus, dass Wagner die so genannten ‚Schwesterkünste‘ Dicht-, Ton- und Tanzkunst unmittelbar aus den menschlichen Vermögen des Verstandes, der Empfindung und des Leibes ableitet. Für das Musikdrama bedeutet dies, dass der Darsteller als integraler Fixpunkt aller Bühnenmaterialien fungiert. Auf sein Agieren hin ist die Musik leitmotivisch ausgerichtet und die Rezitative in organischer Einheit mit der Musik sowie in Personalunion von Dichter und Komponist gestaltet. Mit seinem 1876 gegründeten Bayreuther Festspielhaus schafft Wagner die architektonische Voraussetzung für diese Zentralstellung. So ist der Bühnengraben den Augen der Zuschauer verborgen, um die Musik unmittelbar mit den Handlungen des Helden in Verbindung zu bringen. Insgesamt ist der Bau einem Amphitheater nachempfunden, um dem antiken Vorbild gerecht zu werden. Dieses Vorbild besteht nicht nur in der Wiedervereinigung der Künste, sondern auch in dem politischen Anspruch, dass sich das Publikum in der Aufführung als Gemeinschaft konstituiert.5 Auch wenn die Expressionisten Wagners Ambitionen einer Welt verändernden Kunstrevolution teilen und ähnliche holistische Vorstellungen hegen, diese politische Implikation verfolgt zumindest der intermateriale Theaterexpressionismus nicht. Wichtiger für dessen Verständnis ist vielmehr eine zweite Traditionslinie, die 3
WAGNER 1851: 1589.
4
WAGNER 1849b: 1115.
5
Vgl. zur Wagner’schen Verknüpfung des homo aestheticus mit dem homo politicus im Gesamtkunstwerk BERMBACH 1994.
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ebenfalls bei Wagner virulent ist, jedoch bereits Jahre zuvor von Schelling in seiner Philosophie der Kunst (1802/03) formuliert wird. Dort heißt es, dass die „vollkommenste Zusammensetzung aller Künste, die Vereinigung von Poesie und Musik durch Gesang, von Poesie und Malerei durch Tanz“ nur noch im Gottesdienst als „einzige Art w a h r h a f t öffentlicher Handlung“6 erfahrbar sei. Die Vorstellung vom Theater als einem religiösen Ritus und einer liturgischen Handlung ist besonders in den Theaterkonzeptionen Lothar Schreyers und Wassily Kandinskys wirksam. Auch die ekstatischen Schauspiele Oskar Kokoschkas lassen sich – trotz ihrer provokativen Anlage – diesem Traditionsstrang zuordnen, der bis hin zu mittelalterlichen Mysterien- und Kultspielen reicht und an dem die Bedeutung des Zuschauers für die Aufführung sichtbar wird. Er soll nicht nur passiv zuschauen, sondern als „Fluchtpunkt“7 des Festspiels das Bühnenstück aktiv miterleben. Ähnliche Absichten verfolgt die so genannte Stilbühne, wie sie von Peter Behrens in Feste des Lebens (1900) und Georg Fuchs in Die Schaubühne der Zukunft (1905) und Die Revolution des Theaters (1909) propagiert wird. Ziel dieser Bemühungen im Umfeld der Münchener Sezession und der Darmstädter Künstlerkolonie ist es, das Theater im Sinne eines Festspiels zu reformieren und als „Kult des schönen Lebens“8 und Ort mystisch-religiöser „Einheit der Festgemeinde, der Gebenden und Nehmenden“9 zu etablieren. Nachhaltigen Einfluss üben Behrens und Fuchs auf die architektonische Gestaltung des modernen Theaters aus, so vor allem auf das 1908 gegründete Münchener Künstlertheater, das die so genannte Guckkastenbühne durch eine Reliefund Proszeniumsbühne ersetzt. Derartige Konzeptionen des Theaters als eines kultischen Schauspiels, bei dem die Schauspieler in einen tranceartigen Bewegungsrhythmus verfallen, sind in den Regieanweisungen von Kokoschkas Mörder Hoffnung der Frauen und im Weimarer Bauhaus zu finden, das noch über keinen eigenen Bühnenraum verfügt und seine Aufführungen häufig im Freien veranstaltet. Gerade für die Frühphase des Bauhaustheaters muss auch auf die Theosophie Rudolf Steiners verwiesen werden, der mit seiner Eurythmie maßgeblichen Einfluss auf die dort praktizierte expressive Tanzkunst hat. Darüber hinaus können – neben den mystischen Schauspielen Édouard Schurés – Steiners eigene Mysterienspiele Die Pforte der Einweihung (1910), Die Prüfung der Seele (1911), Der Hüter der Schwelle (1912) und Der Seelen Erwachen (1913) als Einflussgröße für die Dramen Kandinskys, Schönbergs und Schreyers gesehen werden. Steiners Schauspiele feiern im gleichen Jahr ihres Entstehens vor ausgewählten Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft in verschiedenen Münchener Theatern Premiere, was 6
SCHELLING 1859: 380. [Herv. i.O.]
7
ŽMEGAČ 1971: 508.
8
BEHRENS 1901: 177.
9
FUCHS 1905: 208.
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Hartmut Zelinsky zu der Vermutung veranlasst, dass Kandinsky bei einer der Aufführungen anwesend gewesen sein könnte.10 Durchgängiges Thema der Stücke ist die Überwindung des Irdischen zu einem höheren geistigen Erkennen, wobei diese Sublimierung nicht zuletzt im Hinblick auf die Rolle der Kunst diskutiert wird. So entwickelt sich im Vorspiel zu Steiners erstem Drama ein Disput zwischen zwei Figuren, bei dem der „Wirklichkeitskunst“11 ein „Geistesschaun“12 gegenübergestellt wird, das überhaupt erst ein echtes Kunsterleben verspricht: „Das Gewahrwerden einer unvollkommenen Wiedergabe der sinnenfälligen Wirklichkeit muss Unbehagen hervorrufen, während die unvollkommenste Darstellung dessen, was sich hinter der äusseren Beobachtung verbirgt, eine Offenbarung sein kann.“13 Explizit wird dieser Dualismus und die mediumistische Funktion von Kunst als Ausdruck des Geistigen anhand der Malerei thematisiert. Im Hauptteil der Pforte der Einweihung kommt es in einer Szene zu einer Bildbetrachtung, die auf die Materialität des Gemäldes rekurriert, um sie im nächsten Schritt zum Immateriellen hin zu überwinden: O diese Farben, sie sind flächenhaft Und sind es nicht, Es ist, als ob sie sichtbar seien nur, Um sich unsichtbar mir zu machen. Und diese Formen, Die als der Farbe Werk erscheinen, Sie sprechen von dem Geistesweben, Von vielem sprechen sie, Was sie nicht selber sind.14
Was hier für ein Bild innerhalb des Geschehens gilt, trifft nicht zuletzt auf die Mysteriendramen Steiners selbst zu. Zwar spielen die Szenen zum Teil noch in ‚realen‘ Handlungsräumen wie Tempeln, Burgsälen oder auf Waldwiesen, mit Regieangaben wie ‚Landschaft aus Phantasieformen‘, ‚Zimmer in rosenrotem Grundton‘, ‚Die Seelenwelt‘ oder ‚Geistgebiet‘ entwickelt Steiner jedoch einen symbolistischen Darstellungsraum, der sich als eine Vor- bzw. Parallelform zu der abstrakten Bühnengestaltung im Expressionismus präsentiert.
10
Vgl. ZELINSKY 1981: 255.
11
STEINER 1910: 114.
12
Ebd.: 121.
13
Ebd.: 116.
14
Ebd.: 122.
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Im Hinblick auf die Emanzipation der Bühnenmittel müssen als weitere wichtige Wegbereiter des intermaterialen Theaterexpressionismus die Theaterreformer Adolphe Appia und Edward Gordon Craig angesehen werden. Der Schweizer Appia setzt sich in seiner Studie Die Musik und die Inszenierung (1899) mit Wagners Gesamtkunstwerkskonzeption auseinander und entwickelt dessen Thesen unter dem Vorzeichen eines „harmonische[n] Zusammenwirken[s] verschiedener Kunstbethätigungen“15 weiter. Einen wichtigen Stellenwert nimmt dabei die visuelle Gestaltung des Bühnenraums ein. Ist sie bei Wagner als naturalistische Hintergrundmalerei entworfen, so erfährt sie bei Appia eine Aufwertung zur eigenständigen Lichtregie und Farbkomposition. Wichtig für den Einfluss auf den abstrakten Theaterexpressionismus ist zudem die Zurücknahme der Darstellerfunktion. Der Schauspieler ist bei Appia nicht mehr Fixpunkt des Bühnengeschehens, sondern ein Ausdrucksmaterial unter vielen.16 Damit ist die Gleichwertigkeit aller räumlichen und zeitlichen Darstellungsmaterialien für das Drama begründet. Den Höhepunkt in der Theatermoderne findet dieses Prinzip in Kurt Schwitters’ Merzbühnenmanifest An alle Bühnen der Welt (1919), in der die Abwertung des Darstellers zu einem Material unter vielen derart selbstverständlich geworden ist, dass Schwitters die ironische Bemerkung hinzufügt: „Menschen selbst können auch verwendet werden.“17 Der Einfluss des englischen Regisseurs und Schauspielers Edward Gordon Craig auf die Expressionisten lässt sich an der kurzen Schrift Der Schauspieler und die Übermarionette (1908) ablesen, in der er für eine „neue[] symbolische[] Gebärdensprache“18 plädiert und den menschlichen Körper als „von Natur aus […] untauglich“ 19 für die Kunst betrachtet. Kritisch äußert er sich gegenüber dem Wagner’schen Gesamtkunstwerk – „Man kann die Künste nicht durcheinander mischen und dann erklären, man hätte eine neue Kunst geschaffen“20 – und vertritt die Ansicht, dass die Bühnen „von allen Schauspielern und Schauspielerinnen gereinigt“21 werden müssen und so genannte Über-Marionetten zum Einsatz kommen sollten. Unter der Über-Marionette versteht Craig ein an der antiken Statue orientiertes Abbild des Göttlichen, dessen Bewegungen eine „edle Künstlichkeit“22 verkörpern soll. Craigs Anforderungen an die moderne Bühne, vor allem diejenige, Stücke 15
APPIA 1899: 3.
16
Vgl. ebd.: 15.
17
SCHWITTERS 1919b: 41.
18
CRAIG 1908: 55. Auch der Bezug zu Nietzsches Übermensch ist in dieser Konzeption erkennbar.
19
Ebd.: 54.
20
Ebd.: 60.
21
Ebd.: 62.
22
Ebd.: 67.
286 | I NTERMATERIALITÄT
ohne Schauspieler zu entwickeln, sehen wir in Ansätzen in Kandinskys Der gelbe Klang verwirklicht. Bezüglich der Über-Marionette kann auf Lothar Schreyer verwiesen werden, der selbst hergestellte Ganzkörpermasken einsetzt, um das Bühnengeschehen nicht von der spezifischen Mimik und Gestik des Darstellers ablenken zu lassen. Auch die Tanzstudien Oskar Schlemmers gehen in diese Richtung. Bei den Aufführungen seines Triadischen Balletts setzt er Figurinen ein, die einen bestimmten Bewegungstyp repräsentieren und damit die Bewegungsfähigkeiten der Darsteller extrem einschränken. Seinen Ursprung hat der Einsatz von Masken im antiken Theater, wo sie ‚personae‘ heißen. Für Craig wichtiger ist der Einsatz von Masken in der italienischen Commedia dell’Arte sowie im asiatischen und afrikanischen Theater, denen insgesamt eine wichtige Bedeutung für den Theaterexpressionismus zukommt. Vor allem im Umfeld des Blauen Reiters und der Künstlervereinigung Die Brücke erfährt die ‚primitive‘ Kunst Afrikas eine nachdrückliche Beachtung, und die Kenntnis des hoch stilisierten japanischen Theaters wird in die Kreise der Expressionisten durch die „Ostasiatische Gesellschaft“ hineingetragen, in der Hugo Ball regelmäßig verkehrt. 23 Ein wichtiger Stellenwert in der Entwicklung der abstrakten Bühnensynthese kommt weiterhin dem belgisch-französischen Symbolismus zu, insbesondere den Dramen Maurice Maeterlincks, die sich in russischer Übersetzung in der Bibliothek Kandinskys befanden.24 In seiner Schrift Über das Geistige in der Kunst (1912) rühmt Kandinsky Maeterlinck zudem als einen „Propheten […] des […] Niedergangs“25 der positivistischen Kultur und spielt damit auf eine Gewichtsverlagerung in dessen Dramen von der eindeutigen Abbildungsfunktion hin zu einer symbolischen Verwendung der Bühnenmaterialien an, von der es nur noch ein kleiner Schritt zum rein materialen Gebrauch ist. In der Tat hat Maeterlinck mit Stücken wie La Princesse Malaine (1889), L’Interieur (1895) oder dem Märchenspiel Oiseau bleu (1908) so genannte ‚drames statiques‘ verfasst,26 die in ihrem „Aufsprengen der rationalen Szene“27 als direkte Vorläufer des intermaterialen Theaterexpressionismus gelten können. Wo allerdings in den Nebentexten noch konkrete Dekorationselemente vorgesehen waren, setzen vor allem die Inszenierungen des Regisseurs Maeterlinck – wie übrigens wenige Jahre zuvor bereits die von August Strindberg – auf eine Reduktion der Requisiten. So berichtet Kandinsky von einer Aufführung in Petersburg, bei der Maeterlinck anstelle eines Turms ein Stück Leinwand als Kulis23
Vgl. zu diesen Einflüssen ausführlicher PÖRTNER 1986: 388.
24
HAHL-KOCH 1981: 180.
25
KANDINSKY 1912a: 44.
26
Vgl. BALME 1988: 17. Maeterlinck inspiriert auch Hugo von Hofmannsthal zu seiner Ausdeutung der Bühne als Traumbild.
27
DIETRICH 1974: 169f.
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se verwendet und damit genau jene Abwertung der realistischen Requisiten vollzieht, die für die eigenen Bühnenstücke Kandinskys charakteristisch ist.28 Überdies erschließt der Verweis auf die russische Aufführung eine weitere wichtige Quelle des intermaterialen Theaterexpressionismus, nämlich die Moskauer antinaturalistische Experimentalbühne unter der Leitung Wsewolod Meyerholds. Dessen „optisch-akustisch-räumliche[] Bewegungskunst“ zielt auf ein „TotalTheater“29, das durch die von seinem Lehrer Konstantin Stanislawski in den 1880er Jahren gegründete gesamtkünstlerische Vereinigung „Moskauer Gesellschaft für Kunst und Literatur“ vorbereitet wird. Großen Einfluss auf die Expressionisten hat auch Alexander Tairow, der mit seinen Regievorstellungen, wie sie in der Reformschrift Das entfesselte Theater (1923) zusammengefasst sind, für eine „szenische[] Synthese“30 einsteht und dabei vor allem eine Aufwertung von Pantomime und Ballett vorsieht. Von eminenter Bedeutung ist nicht zuletzt Alexander Skrjabin, der mit seinen Farbopern in Europa und Amerika für Furore sorgt und dessen Komposition Prometheus. Dichtung vom Feuer (1911) im Almanach Der blaue Reiter (1912) ein eigener Beitrag gewidmet ist.31 Die Kombination von Licht und Tönen, die Integration von Ausdruckstanz sowie die Reduktion der Sprachanteile in den russischen Regiearbeiten gehen in wesentlichen Punkten mit der abstrakten Verwendung und Kombination der Materialien parallel, wie sie für die Bühnenkompositionen der Expressionisten grundlegend sind. Seine institutionellen Voraussetzungen erlebt der intermateriale Theaterexpressionismus in einer Reihe von Initiativen und Neugründungen. So plant Hugo Ball 1914 ein „Theater der Neuen Kunst“, das sich als Neuauflage des Fuchs’schen Künstlertheaters versteht und eine ganze Reihe prominenter Künstler im Sinne einer „Vereinigung aller artistischen Mittel und Mächte“32 zu gewinnen sucht. In einem Tagebucheintrag schreibt Ball: „Das expressionistische Theater, so lautet meine These, ist eine Festspielidee und enthält eine neue Auffassung des Gesamtkunstwerks.“33 Unter der Leitung Herwarth Waldens feiert 1917 die „Sturm-Bühne“ in Berlin ihre Geburtsstunde, und ein Jahr später, 1918, folgt mit Lothar Schreyers „Kampf-Bühne“ ein Ableger in Hamburg. Von 1917-1920 spaltet sich schließlich am „Deutschen Theater“ in Berlin ein Verein „Das junge Deutschland“ ab und gründet eine Versuchsbühne, an der unter der Regie Max Reinhardts zahlreiche expressionistische Dramen aufgeführt werden. Mit der Reputation Reinhardts und 28
Vgl. KANDINSKY 1912a: 45.
29
PÖRTNER 1964: 12.
30
TAIROW 1964: 66.
31
Vgl. SABANEJEW 1912.
32
BALL 1946: 10.
33
Ebd.: 12.
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seiner experimentellen Regiearbeit gelangt der Theaterexpressionismus zum Durchbruch. Sowohl bei den Abenden der „Sturm-Bühne“ als auch an Reinhardts Versuchsbühne stehen jedoch vor allem die Stationen- und Wortkunstdramen etwa von August Stramm, Reinhard Sorge oder Franz Werfel im Vordergrund. Die intermaterialen Bühnenkompositionen des abstrakten Theaterexpressionismus kommen seltener zur Aufführung. Der Grund hierfür liegt zum einen darin, dass neben der Trennung der Bühnenmaterialien auch die Trennung von Regisseur und Dichter aufgehoben werden soll. Als Theaterbetreiber, Intendant, Regisseur und Wortschöpfer stellt Lothar Schreyer vor diesem Hintergrund den Idealfall eines expressionistischen Gesamtkünstlers dar, der seine in ‚innerer Schau‘ empfangenen Bühnenwerke ungern in fremde Regiehände gibt. Zum anderen erweisen sich trotz aller technischen Neuerungen viele der Dramen als schwer aufführbar und nur einem kleinen Kreis zugänglich. Mit der Aufwertung der Bühnenmaterialien, wie sie auf ironische Weise bereits in Alfred Döblins Lydia und Mäxchen (1906) zu sehen ist, und der Abkehr von einem kohärenten Handlungsgefüge ist eine breite Theateröffentlichkeit überfordert, weshalb es nur zu wenigen Aufführungen der Bühnenkompositionen kommt. Die Bearbeitung der folgenden Dramentexte kann daher nur vereinzelt auf Aufführungsberichte zurückgreifen und berücksichtigt vor allem die in den Regieanweisungen erkennbaren Inszenierungsabsichten. Ziel soll es sein, die Bühnenkompositionen im Hinblick auf ihre implizite Materialverwendung und -relation zu untersuchen und den jeweiligen Grad der Intermaterialität zu bestimmen. Der Theaterexpressionismus wird dabei als Kulminationspunkt einer jahrzehntelangen Reformbewegung einsichtig, an deren Ende die eigenständige Funktion von Bühnenmaterialien in einem um individuelle Schicksale und Kausalzusammenhänge befreiten Theater der intermaterialen Abstraktion steht.
A UFWERTUNG UND A KZIDENZ DES INSZENATORISCHEN M ATERIALS . O SKAR K OKOSCHKAS „M ÖRDER H OFFNUNG DER F RAUEN “ Oskar Kokoschkas Drama Mörder Hoffnung der Frauen stellt in mehrfacher Hinsicht ein Bindeglied zwischen den theaterreformatorischen Bewegungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts und dem abstrakten Theaterexpressionismus dar. Nicht nur durch die Komprimierung klassischer Dramenschemata zur Form eines Monodramas, sondern auch und vor allem aufgrund der integralen Verwendung der Bühnenmaterialien lässt sich das Drama an der Schwelle zur expressionistischen Theatermoderne einordnen. Der Einakter, der in seiner ersten und radikalsten Fassung 1910 im Sturm publiziert wird, nutzt Licht, Farbe, Bewegung, assoziative Sprechakte und Raumstrukturierung zur Verstärkung seiner Wirkungsabsicht und befolgt
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damit Erneuerungsentwürfe, wie sie Adolphe Appia im Anschluss und Edward Gordon Craig in kritischer Distanz zu Richard Wagners Theater der Zukunft postulieren. Retrospektiv betrachtet besitzt die Verwendung der Bühnenmaterialien noch nicht jene extreme Ausprägung wie bei Kandinsky mit seiner abstrakten Bühnensynthese, Schönberg mit seinen atonalen Musikdramen oder Schreyer mit seinen sakralen Spielgängen. Bei Kokoschka erfahren die Elemente der Inszenierung zwar eine Aufwertung, sind aber noch nicht zur materialen Eigenständigkeit befreit. Trotz der aggressiv-ekstatischen Radikalität des Stückes entwirft es daher auch kein ‚Theater der Entfesselung‘.34 Die Materialien bleiben an die Handlungsfolge und den Zentralkonflikt von Mann und Frau gebunden und spiegeln diesen in ihrer intermaterialen Konstellation. Ihre Funktion ist die der Verstärkung, ihr Charakteristikum das der Akzidenz. Auch wenn die Künste also zusammenwirken, der Grad der Intermaterialität ist durch ihre semantische Indienstnahme gemindert. Dass es Kokoschka vor allem um die Darstellung menschlicher Zerwürfnisse und nicht um deren intermateriale Substitution geht, lässt sich an den Varianten des Dramas ablesen. Die Zurücknahme besonders skandalträchtiger Stellen in den Fassungen von 1913, 1916 und 1917/19 hätte Kokoschka kompensieren können, indem er die Materialfunktion in den Regieanweisungen aufwertet. Doch er schlägt dieses Potential aus und nimmt sogar Gestaltungsfaktoren zurück wie das „blaue[] Licht“ 35 im Turm oder das Rot der Käfigtür. Einzig der Schluss gewinnt durch die Inbrandsetzung des Turmes an szenischem Gewicht, doch auch hier folgt die Lichtgestaltung keinem Selbstzweck, sondern bleibt an die Handlungslogik und symbolische Ausdeutung des Mannes als Sonnengott und (Un-)Heilsbringer gebunden.36 Zentrales Thema des Stückes ist der Kampf der Geschlechter. Entsprechend der expressionistischen Typisierung besitzen beide Protagonisten – der Mann und die Frau – keine individuelle Prägung, sondern sind Generalvertreter ihres Geschlechts. Verstärkt wird diese dichotome Anlage dadurch, dass die übrigen Figuren nur zwei Gruppen zugeordnet werden – Männern und Weibern. Der Konflikt zwischen Mann und Frau ist als ständiges Kippmoment konzipiert. So setzt das Stück mit einer Emanzipation der Frau ein, die den Anführer der Kriegerschar zu verführen versucht. Der Akt selbst gerät indes zu einer Unterwerfungsgeste, bei der der Mann der
34
Wovon Teile der Forschung in Anlehnung an eine Publikation Alexander Tairows ausgehen. Vgl. DENKLER 1967: 50; ANGLET 2002: 275.
35
KOKOSCHKA 1907/10: 38.
36
Jörg von Brinckens Einschätzung, die Synthese der Materialien sei durch die Veränderungen nicht gestört, ist angesichts der Schwächung des zentralen farblichen Antagonismus und der zurückgenommenen Reliefwirkung nicht nachvollziehbar. Vgl. BRINCKEN 1997: 80. Zur Textgenese der verschiedenen Fassungen vgl. DENKLER 1966.
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Frau sein „Zeichen mit heißen Eisen ins rote Fleisch“37 einbrennen möchte. Bevor es dazu kommen kann, fügt die Frau ihm jedoch einen Stich mit einem Messer zu. Eingesperrt im Turm und den Todeskampf ausstehend, strahlt er allerdings noch immer eine große Anziehungskraft auf die Frau aus, die „lüstern nach dem Gitter“38 greift. Damit ist die Voraussetzung für eine weitere Volte geschaffen. Aneinandergeklammert und nur durch die Gitterstäbe getrennt, saugt der Mann die Lebensenergie der Frau aus und durchbricht schließlich voller Kraft die Käfigtür. Keineswegs ist damit aber der Geschlechterkampf entschieden. Zwar bricht die Frau zusammen, aber noch im Fallen reißt sie dem Mann die Fackel aus der Hand, die „ausgeht und alles in einen Funkenregen hüllt“39. Zum Ende schreitet der Mann aus dem Bühnenbild und der Konflikt bleibt ungelöst. Wie unterstützen nun die Bühnenmaterialien in ihrem intermaterialen Zusammenspiel diesen Zentralkonflikt? Zunächst kann Kokoschkas Schauspiel als Versuch verstanden werden, über die Verbindung und Parallelisierung verschiedener Materialien zu einem Ganzen die Gesamtwirkung des Stückes zu steigern. Bereits in der einleitenden Beschreibung des schwarzen Hintergrunds mit seinen Fackeln als einziger Lichtquelle und der roten Käfigtür im dunklen Turm, vor dem „alle Figuren reliefartig zu sehen sind“ 40, ist der Maler Kokoschka erkennbar, für den das Theater vor allem ein „Medium des Visuellen“41 ist. Die Anweisung der Reliefwirkung zeichnet das gesamte Stück als ein in Bewegung versetztes Fresko aus. Die Aktionsdynamik ist dabei vertikal ausgerichtet und organisiert eine hierarchischkonfrontatorische Raumordnung, bei der Turm und Käfig in ihrer symbolischen Ausdeutung als Phallus- und Vaginalsymbole die Zentralachse des Bildes markieren, um die herum sich das Geschehen konfiguriert. Für die oppositionelle Anlage des Einakters scheint ein räumlich komprimiertes Bühnenbild besonders geeignet, allerdings verlagern sich die Aktionsfolgen mit der stärkeren Profilbildung des Chores in den späteren Fassungen und insbesondere durch die Änderung der monologischen Sprechakte in eine direkte Kommunikation der Figuren stärker in den Vordergrund. Verfolgt man zunächst die farbliche Ausgestaltung der ersten Fassung weiter, so stehen sich mit dem roten Kleid der Frau und dem blau gepanzerten Mann zwei Komplementärfarben gegenüber, die – wie bereits erwähnt – im Tor und der Beleuchtung des Turms intermaterial aufgegriffen werden. 42 Von stärkerer 37
KOKOSCHKA 1907/10: 38.
38
Ebd.: 39.
39
Ebd.: 40.
40
Ebd.: 35.
41
SCHVEY 1986: 102.
42
Diese Opposition ist häufig in der Forschung beobachtet worden, verbunden mit der Feststellung, dass der Mann mit dem Tag assoziiert sei und die Frau mit der Nacht. Vgl.
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Bedeutung ist jedoch der Gegensatz von Rot zur Farbe Weiß, die über die Gesichtsbemalung bis hin zu Zuschreibungen seitens seiner Gefolgschaft („Führ’ uns Blasser!“43) dem Mann zugeordnet ist. Kokoschka hat die Farben selbst mit Leben und Tod assoziiert44 – eine Lesart, die sich in der Apotheose als Umkehrung bestätigt, bei der die sterbende Frau „ganz weiß“ wird und der auferstandene Mann schließlich „rot fort[geht]“45. Neben dieser von der Forschung oft konstatierten Farbordnung finden sich Regieanweisungen zur Farbgestaltung auch bei den Anhängern des Mannes. Sie tragen „graue und rote Kopftücher, weiße, schwarze und braune Kleider“46 und sind damit eher neutral gehalten, wobei die Funktion der Farbe Rot hier unklar bleibt. Möglicherweise soll sie auf eine Verwundung schließen lassen, rein äußerlich wird durch sie aber auf jeden Fall eine Verbindung zur Anführerin hergestellt. Wichtig sind darüber hinaus die Zeichen auf den Rüstungen. Die Männer bilden eine uniformierte Korporation, die sie als Zugehörige und Unterworfene des Mannes deklariert, dessen Zeichen ihnen bereits aufgebürdet wurde. Dagegen bleiben die Kleider der Mädchen sowohl farblich als auch semiotisch eine Leerstelle, die trotz zwischenzeitlicher Inszenierungen auch in den späteren Fassungen nicht durch Regieanweisungen ausgefüllt wird.47 SCHVEY 1982: 38; SCHOBER 1994: 75. Problematisch an dieser Interpretation ist jedoch, dass Kokoschka für die Frau „gelbe Haare“ (KOKOSCHKA 1907/10: 35) vorsieht und sie somit in Verbindung mit Helligkeit und Licht bringt, was dem eigentlich widerspricht. Auch die Einführung des Mannes durch den Chor als jemand, der „lähmt wie der Mond“ (ebd.: 36), signalisiert eigentlich eine gegenteilige Zuordnung. Schober wähnt in dieser Konstellation einen „,dramaturgischen Fehler‘“ (SCHOBER 1994: 75, Anm. 3), wofür insbesondere spricht, dass Kokoschka in der zweiten Fassung den Vergleich verändert und es nunmehr heißt: „Unser Herr kommt wie der Tag, der im Osten aufgeht“ (KOKOSCHKA
1907/16: 46). Möglicherweise sah Kokoschka neben der ursprünglichen Volte
von Leben und Tod auch eine Umkehrung der Assoziationswerte vor, wonach die Frau zunächst den Tag repräsentiert, um dann mit ihrer Lebenskraft auch diese symbolische Zugehörigkeit an den Mann weiterzugeben. 43
KOKOSCHKA 1907/10: 35.
44
Vgl. KOKOSCHKA 1971: 64.
45
KOKOSCHKA 1907/10: 40f.
46
Ebd.: 35.
47
Auf einer Photographie der Aufführung von Mörder Hoffnung der Frauen im AlbertTheater Dresden von 1917, bei der Kokoschka sowohl Regie führt als auch das Bühnenbild gestaltet, sind zwei der Weiber in weißen Kostümen zu sehen (vgl. KOKOSCHKA 1986: 16). Anders als die Männer unterscheiden sie sich damit von ihrer Anführerin und signalisieren eine Differenz, die nicht in der Opposition von Sexualität (Frau) und Unschuld bzw. Jungfräulichkeit (Weiber) aufgeht, schließlich finden sich Mädchen und
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Hinsichtlich des Lichts ist auffällig, dass Kokoschka es in das Geschehen selbst hineinversetzt und somit in einen Kausalzusammenhang mit der Handlung bringt. Wichtige Aktionen gehen dabei immer mit einer Verschiebung der Lichtgestaltung einher, was sich besonders am Höhepunkt des Stückes zeigt, bei dem der „Chor mit den Lichtern“48 auf die Frau eindringt, bevor sie dann in einem Sexual- und Gewaltakt das Zeichen des Mannes eingebrannt bekommt. Einzig die den nahenden Tag ankündigende Dämmerung erhellt die Szene aus einer Quelle außerhalb des Bühnenbildes, die aber an die Handlung geknüpft ist, da sie mit dem Verrat der Krieger an ihrem Anführer zusammenhängt. Ähnliches gilt für den Ton, bei dem nur der Hahnenschrei aus dem ‚Off‘ kommt, alle anderen Laute aber von den Figuren erzeugt werden. Die Schar der Männer und Weiber, die expressis verbis als ‚Chor‘ bezeichnet sind, unterlaufen dabei dessen rein begleitende Funktion und nutzen die ganze Palette verbaler Ausdrucksmöglichkeiten aus. Im Einakter Kokoschkas ist der Chor nicht mehr reflektierende Instanz, wie in der antiken Tragödie, sondern in das Geschehen hineinversetzt. Obwohl der Fokus auf den Protagonisten liegt, bilden die Weiber und Krieger keine Nebenhandlung, sondern erzeugen eine aggressiv-sexuell aufgeladene Stimmungslage, die den zentralen Konflikt durch ihre gleichzeitig stattfindenden Aktionsformationen unterstützt. Das recht statische Bühnenbild wird so dynamisiert. Anders als die Wortbeiträge sind die Bewegungsabläufe aber nicht exakt vorgeschrieben. Die Stellungswechsel folgen nur entfernt choreographischen Mustern und beschränken sich auf vage Richtungsangaben. Die Sprechakte der Figuren bilden – vor allem in der ersten Fassung – in sich abgeschlossene Wortgebilde, die in eher assoziativer und weniger dialogischer Verbindung stehen. Trotzdem sind sie nicht vom Geschehen zu trennen, sondern reagieren auf Veränderungen der Figurenverhältnisse oder führen diese herbei. Horst Denkler spricht daher richtig von einer „komplexen Einheit von Text und Szene“49. Die Komposition des Stückes folgt einer Logik der inhärenten Provenienz. Bis auf die erwähnten Ausnahmen generieren sich alle Bestandteile des Bildes aus Krieger in der ersten Fassung „wälzend und paarend“ (KOKOSCHKA 1907/10: 38) und in der zweiten immerhin noch zu einer „kosenden“ (KOKOSCHKA 1907/16: 48) Zusammenkunft ein. Beruft man sich allein auf die Dresdener Inszenierung, so ließe sich eine subtile chiastische Zuordnung der Mädchen zum Mann und der Krieger (mit roten Stirntüchern) zur Frau festmachen, die eine scharfe Geschlechtertrennung bildlich unterlaufen und den Geschlechterantagonismus relativieren würde. 48
KOKOSCHKA 1907/10: 38.
49
DENKLER 1967: 50. Horst Denklers knapper Aufriss der Kompositionsprinzipien (ebd.: 47-50) ist immer noch maßgeblich. Trotz ihres teils beträchtlichen Umfangs bringen neuere Untersuchungen in dieser Hinsicht kaum neue Erkenntnisse. Vgl. BRINCKEN 1997: 43-79.
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diesem selbst heraus und stehen somit in einem engen intermaterialen Verweisungszusammenhang. Dieser Umstand erklärt die ästhetische Dichte des Einakters, die durch die zeitliche Kürze noch intensiviert wird. Neben der Deutung von Mörder Hoffnung der Frauen als Kampf der Geschlechter,50 Traumszenario,51 Theater der Grausamkeit52 oder Drama einer unabgeschlossenen Sinnproduktion53 ist das Schauspiel daher auch in seiner Anlage als Gesamtkunstwerk interpretiert worden. Thomas Schober zufolge werden im Einakter alle Kunstelemente „in ihrer ‚höchsten Fülle‘ gesteigert, um im Sinne Richard Wagners dem Rezipienten ein alle Sinne aktivierendes Schau-spiel zu bieten“54. Ähnlich argumentiert auch Andreas Anglet, der einzig in der „Abwendung von den äußeren Dimensionen des Wagner’schen Konzepts“55 eine Differenz sieht, in der Konzentration der Materialien bei Kokoschka aber eine Erneuerung des Ideals ausmacht. Beiden ist in ihrer Einschätzung zuzustimmen, vor allem weil Wagner die Verwendung der Einzelkünste im Gesamtkunstwerk auf den Menschen als zentralen Fixpunkt ausrichtet. 56 Auch in Mörder Hoffnung der Frauen bildet – wie gezeigt – die Anbindung von Licht, Farbe, Bewegung und Ton an den Zentralkonflikt die strukturelle Charakteristik des Stückes. Die Bühnenmaterialien kommen nicht isoliert zur Anwendung, sondern werden für die dramatische Handlung funktionalisiert. Sowohl bei Wagner als auch bei Kokoschka sind sie daher bloß mittelbar aufeinander bezogen durch ihre Teilhabe an einem gemeinsamen Leitthema. Ihre Verwendung ist nicht in dem Sinne intermaterial, dass sie aufeinander gerichtet wären, sie orientieren sich vielmehr an einem gemeinsamen dramatischen Kern, dessen akzidentieller Teil sie sind. Nicht sie binden die Aufmerksamkeit, sondern im Zentrum stehen die personifizierten Geschlechtervertreter Mann und Frau, auf die sie den Fokus lenken. Ihre Intermaterialität funktioniert daher als Parallelisierung der Handlungsfolgen, während sich der Kampf der Geschlechter in einem Kontrast innerhalb eines Materials und seiner Veränderung widerspiegelt. Im Hinblick auf eine Bestimmung des intermaterialen Theaterexpressionismus lässt sich somit festhalten, dass die Bühnenmaterialien von Kokoschka zwar aufgewertet werden, in ihrem abstrakten Wirkungspotential aber noch gezügelt sind. Stärker zur Entfaltung kommen sie in der Bühnenkomposition 50
Vgl. DENKLER 1967: 46f.
51
Vgl. SCHVEY 1982: 34.
52
Vgl. JÄGER 1982.
53
Vgl. DAHLHAUS 1958; BRANDT 1968: 20. Beide kommen trotz gegensätzlicher Prämissen zum gleichen Ergebnis. Während Carl Dahlhaus von einer konstitutiven Formlosigkeit ausgeht, beobachtet Regina Brandt gerade eine Verabsolutierung der Struktur.
54
SCHOBER 1994: 86.
55
ANGLET 2002: 287.
56
Vgl. WAGNER 1849b: 1115.
294 | I NTERMATERIALITÄT
von Arnold Schönberg Die glückliche Hand aus dem Jahr 1911. Auch hier ist der Materialeinsatz noch an einen Geschlechterkonflikt gebunden, allerdings zeigt sich die intermateriale Relation differenzierter ausgearbeitet. Sie ist nicht durchweg – wie in Kokoschkas Mörder Hoffnung der Frauen – parallelisierend zur Unterstützung der Darstelleraktionen konzipiert, sondern an wichtigen Stellen des Stückes sogar gegen die tragische Hauptfigur gerichtet.
P ERPETUA M ATERIA . A RNOLD S CHÖNBERGS „D IE GLÜCKLICHE H AND . D RAMA MIT M USIK . O P . 18“ Dass der Versuch einer Realisierung der Kunstsynthese auf der Bühne zumeist von jenen Künstlern unternommen wird, die nicht genuin dem Theater angehören, ist ein besonderes Kennzeichen des intermaterialen Expressionismus. Das gilt auch für Arnold Schönberg, den Ernst von Wolzogen 1901 kurzzeitig am Berliner „Überbrettl“ als musikalischen Leiter engagiert. Schönbergs eigene Bühnenkompositionen fallen in eine Zeit, die für seine musikalische Entwicklung einen Umbruch zur 12-Ton-Musik darstellt und in der er sich überdies an der Malerei erprobt. Die dabei entstehenden Bilder sind ihm allerdings später, als Kandinsky ihn um einige Exponate für eine Ausstellung bittet, eher peinlich.57 Anders dagegen verhält es sich mit seinen Bühnenkompositionen, vor allem mit seinem op. 18, Die Glückliche Hand. Drama mit Musik, von 1911.58 Es ist die zweite Bühnenarbeit nach der Erwartung, op. 17, und gilt musikgeschichtlich als eine Art geordnetes Chaos, als „kompositionstechnische[] Regulierung der Atonalität“59, über die Adorno sogar urteilt, sie sei „vielleicht das Bedeutendste, was ihm gelang“60. Ebenso wie Kandinsky ist Schönberg von den Dramen August Strindbergs und Maurice Maeterlincks beeinflusst und zeigt noch mit seinem op. 21 von 1912, der Vertonung von Albert Girauds Gedichtzyklus Pierrot lunaire, ein starkes Interesse an symbolistischer Literatur, die auf Synästhesien abzielt. Gegenüber dem Maler hat Schönberg den 57
„[I]ch halte es nicht für günstig, daß ich mich in Gesellschaft von Berufsmalern zeigen soll. Ich bin sicher ein Outsider, ein Amateur, ein Dilettant. Ob ich überhaupt ausstellen soll, ist schon eine Frage. Ob ich in einer Malergruppe ausstellen soll, schon fast keine Frage mehr.“ SCHÖNBERG/KANDINSKY 1981: 63. [Brief Schönbergs an Kandinsky, 8. März 1912; Herv. i.O.]
58
Die Jahresangabe bezieht sich auf die Erstveröffentlichung des Textes in der Zeitschrift Merker. Zitiert wird im Folgenden nach dem Erstdruck der Partitur im Jahr 1917 in der Universal Edition Wien.
59
HANSEN 1993: 132.
60
ADORNO 1958: 46.
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Vorteil, dass er die Musik zu seinem Bühnenstück selbst komponieren und in einem genauen Verhältnis zu den anderen Materialien arrangieren kann. Die Partitur zur Glücklichen Hand enthält denn auch ein Zeichensystem exakter Anweisungen über die Koordination von Orchester und Geschehen auf der Bühne, das Schönbergs Anspruch, „mit den Mitteln der Bühne [zu] musizieren“61 für die Notation einlöst. Obwohl die beiden Bühnenstücke des Expressionismus, die am radikalsten eine Integration aller Künste versuchen, unabhängig voneinander entstehen, weisen sie in ihrer Ausrichtung viele Parallelen auf. Als Schönberg das Libretto zum Gelben Klang gelesen hat, schreibt er im August 1912 an Kandinsky: „[D]er ‚Gelbe Klang‘ gefällt mir außerordentlich. Es ist ja ganz dasselbe, was ich in meiner ‚Glücklichen Hand‘ angestrebt habe. Nur gehen Sie noch weiter als ich im Verzichtleisten auf jeden bewußten Gedanken, auf jede lebensartige Handlung.“62 Und in der Tat kann in der Glücklichen Hand im Gegensatz zum Gelben Klang eine Handlung ausgemacht werden, die die insgesamt vier Bilder des Stückes inhaltlich miteinander verbindet und ihnen eine erkennbare Entwicklung einschreibt. Mit dem Agieren des Mannes, seiner Liebe zum Weib, die aufgrund ihrer Liaison mit dem Herrn schmerzlich enttäuscht wird, erzählt Schönberg eine Geschichte, die ebenso verallgemeinerbar wie wiederholbar ist und darin Dramenstoffe, wie wir sie von Sophokles bis Shakespeare kennen, in expressionistischer Manier auf ihren Nukleus komprimiert. Es wird in der Forschung häufig auf die spiegelsymmetrische Anordnung der Bilder hingewiesen, die diese inhaltliche Ausrichtung durch eine formale Wiederholungsstruktur einlöst.63 Mithilfe der Rahmungsfunktion des ersten und vierten Bildes sowie der exakten Festlegung der Figurenauftritte und inszenatorischen Elemente biegt sich die Entwicklung gewissermaßen zurück und sorgt in dieser Zirkularität für eine Unendlichkeitsschleife, die dem gesamten Stück einen überzeitlichen Status verleiht.64 Die einzelne Inszenierung gerät so zum Ausschnitt eines unabschließbaren, sich stets wiederholenden Prozesses.65 Charakteristisch für das 61
SCHÖNBERG 1928: 236.
62
SCHÖNBERG/KANDINSKY 1981: 69. [Brief Schönbergs an Kandinsky, 19. August 1912]
63
Vgl. MIES 1971: 82; CRAWFORD 1974: 586; MAUSER 1982: 17; NAUMANN 1988: 286; RINGER 2002: 168.
64
Vgl. MAUSER 1982: 41, der von einem „zweipoligen Spannungsverhältnis […] des verdichteten Jetzt zum entleerten Immer“ spricht.
65
Über die Beobachtungen in der Forschung hinaus kann dieses Wiederholungsschema anhand weiterer Merkmale festgemacht werden. So suggerieren die ersten Worte des Chores: „Still, o schweige; Ruheloser“ (SCHÖNBERG 1917: 111f.) ein Vorher, das außerhalb des vom Zuschauer erfahrbaren Bereichs liegt und innerhalb des Stückes einzig auf das Flehentliche „bleib bei mir!“ (ebd.: 169) des Mannes in Bild 3 bezogen werden kann. Folgt man dieser nichtlinearen Verweisung, so antwortet der Chor in Bild 1 auf die letz-
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Stück ist die Abkehr vom fünfaktigen Schema hin zu einem vierbildrigen Einakter, der zwar durchaus klassische Elemente wie Fallhöhe und Umschwung aufweist, in seiner Anordnung aber nicht auf eine Auflösung ausgerichtet ist. Dem Helden wird sie gerade verweigert und er selbst einem Prozess der unendlichen Annäherung an das „irdische[] Glück“66 ausgesetzt. Die vier Bilder repräsentieren dabei die vier Jahreszeiten, die als Metaphern für die unterschiedlichen Stadien im Verlaufe des Lebens stehen. Zwar weist nur das zweite Bild mit seiner Sonnenassoziation sowie dem „Blühen“67 eine direkte Naturanspielung auf und Bild 3 enthält zwei Phasen gleichzeitig, doch die ableitbaren Situationscharakteristika von Starre (Winter, Bild 1), Begehren (Frühling, Bild 2), Aufstieg (Sommer) und Niedergang (Herbst, beide Bild 3) und schließlich wiederum Starre (Winter, Bild 4) legen eine Lesart nahe, mit deren Hilfe in der Glücklichen Hand – in Umkehrung der Tiefpunkt-Parabel bei John Crawford68 – ein lebenszyklischer Auf- und Abstieg erkannt werden kann. Das persönliche Schicksal des Mannes ist in ein allgemein Menschliches erweitert,69 demzufolge der Wunsch nach Veränderung den Menschen immer wieder auf die Ausgangsituation zurückwirft. In ähnlicher Weise lässt sich auch die Gestaltung der Musik beschreiben, die konstant ertönt und damit eine Kontinuität gewährleistet, die sie mit der komplexen Mischung aus Polyphonie und (leit-)motivischer Figuration wieder unterläuft. Dauer und Wechsel können so insgesamt als die bestimmenden Prinzipien des Stückes ausgemacht werden, die in einem komplexen intermaterialen Verhältnis der Künste wirksam sind und sich nicht in einer Parallelisierung erschöpfen. Im Gegenteil: Wie Schönberg in seinem Beitrag für den Blauen Reiter schreibt, kann ein „scheinbares Divergieren an der Oberfläche nötig sein […] wegen eines Parallelgehens auf einer höheren Ebene“70. ten Worte des Mannes, und zwar nicht nur semantisch, sondern auch grammatisch, indem das folgende „Du weißt es ja“ (ebd.: 112) vom Präsens ins Präteritum – „Du wußtest es ja“ (ebd.) – wechselt und somit eine nichtidentische Wiederholung erfährt. Ein weiteres Indiz für die Iterativität stellt die Erscheinung des Mannes dar, der durch „teils blutige[], teils alte[] Narben“ (ebd.: 120) gekennzeichnet ist. Sie verweisen sowohl auf eine jüngere als auch eine ältere Vergangenheit und dokumentieren die ganze Tragik seines Sisyphusdaseins. Als offenkundigster und fast schon überpointierter Hinweis ist das siebenmalige, beschwörende „immer wieder“ (ebd.: 113-115) des Chores zu werten, das zudem in verschiedenen Stimmhöhen und Sprechweisen vorgetragen und multipliziert wird und so einmal mehr eine Alterität ins Gleiche einfügt. 66
SCHÖNBERG 1917: 116.
67
Ebd.: 122.
68
Vgl. CRAWFORD 1974: 586.
69
Vgl. MAUSER 1982: 16.
70
SCHÖNBERG 1912: 75.
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Zur Unterscheidung der verschiedenen Ebenen innerhalb des Dramas mit Musik schlägt Karl Wörner bereits 1970 eine heuristische Trennung in Grundschichten und Symbolstufen vor, die sich zunächst als recht gewinnbringend erweist. So bestimmt er die eigentliche Handlung der drei Figuren als basale Schicht, die bereits durch die Kommentierung des Chores als zweiter Grundschicht interpretatorisch reflektiert sei und schließlich durch drei symbolische Bedeutungsebenen überlagert werde. Wörner zählt hierzu zum einen den Anspielungshorizont des Mannes, dessen allgemeiner Typus ihn zu einer vieldeutigen Figur macht, die wahlweise als Christus, Prometheus, Siegried, Amfortas und Simson identifiziert werden könne.71 Als zweite Symbolschicht bestimmt er die Farben, als dritte zuletzt die Musik als die „beherrschende[] Symbolstufe des Ganzen“72, die an der Aktionsebene, der Emotionssphäre und (leitmotivisch) der Personencharakteristik gleichermaßen mitwirke. So sehr die Aufteilung die Komplexität der Glücklichen Hand aufzuschlüsseln vermag, sie wird dem Stück nicht ganz gerecht. Wie Georg-Achim Mies richtig beobachtet, erhalten die Materialien einen Grad an Selbständigkeit, der eine Reduktion auf eine rein symbolische Funktion verbietet: „Sie [die Materialien, C.K.] dienen nicht mehr bloß als Illustration, Ornament oder Symbol, vielmehr erlangt ihre spezifische Materialität schon durch ihr Erscheinen Bedeutung.“73 Anders als bei Kandinsky kann man bei Schönberg allerdings nicht so weit gehen und eine absolute Verweigerung symbolischer Verweisungszusammenhänge attestieren, zu offensichtlich sind etwa die Engführung der emotionalen Lage des Mannes und des äußeren Geschehens in Bild 3, wo es heißt: „Der Mann hat dieses crescendo des Lichts und des Sturmes so darzustellen, als ginge beides von ihm aus.“74 Die Parameter dieser Zusammenführung erscheinen jedoch bei aller Fokussierung auf den Handlungsverlauf als eigenständige Elemente. Mies spricht daher vom „konstruktiven Sinn des Materials“ 75, und Schönberg selbst schreibt über eine geplante, aber nie realisierte Verfilmung der Glücklichen Hand: „Das Ganze soll (nicht wie ein Traum) sondern wie Akkorde wirken. Wie Musik. Es darf nie als Symbol, oder als Sinn, als Gedanke, sondern bloß als Spiel mit den Erscheinungen von Farben und Formen wirken.“76 In diesem 71
Weitere Bedeutungsvariationen hat Peter Naumann aufgestellt. Neben konkreten mythischen Figuren wie Orpheus und Sisyphus verkörpere der Mann auch Charakteristika eines Märtyrers, Gezeichneten, Streiters, Sehers, Inspirierten und Einsamen, die in ihrer Vielfalt auf ein künstlerisches Selbstverständnis zurückzuführen seien. Vgl. NAUMANN 1988: 121-146.
72
Vgl. WÖRNER 1970: 145-169.
73
MIES 1971: 89.
74
SCHÖNBERG 1917: 151. [Herv. i.O.]
75
MIES 1971: 89.
76
SCHÖNBERG/KANDINSKY 1981: 128. [Brief Schönbergs an Emil Hertzka, o. J.]
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intermaterialen ‚Spiel der Erscheinungen‘ sind auch die Gesten inbegriffen. So kann die Handlungsfolge in Ausdrücke elementarer Gebärden segmentiert werden, die das ganze Spektrum der Empfindungen abdecken: Freude, Demut, Hass, Verachtung, Gleichgültigkeit, Überheblichkeit, Verzweiflung. Allein an der Abfolge dieser habituellen Ordnung ließe sich eine Beschreibung des Stückes vornehmen. Der Körper der Schauspieler wird gewissermaßen selbst zur Empfindungsbühne, die unmissverständlich angibt, was die Figuren gerade fühlen. Ähnliches gilt für das Wortmaterial, das polyphone, vielschichtige Sinneinheiten bildet, aber eindeutig auflösbar ist. Die Komplexität der Glücklichen Hand liegt augenscheinlich nicht im Handlungsverlauf und auch nicht in der literarischen Qualität des Stückes, sondern in der intermaterialen Komposition zu einer Form, die einen Spagat zwischen der Virtuosität der Tonschöpfung und des Reduktionistischen der übrigen Materialien schafft. Ausgehend von dieser Beobachtung lässt sich eine Dreiteilung der Glücklichen Hand in Material, Zeichen und Codes vornehmen, die im Gegensatz zur Hierarchisierung bei Wörner steht. Zur ersten Kategorie zählen zum einen jene Bestandteile, die unmittelbar sinnlich wirken wie die Musik und das Licht, aber auch andere wie die Sprache, Körper oder Bühneninventare, die ebenso sensuell erfahrbar sind, jedoch einen semantischen Mehrwert aufweisen. Zu Zeichen werden die Materialien dort, wo sie aufgrund von Konvention etwas aussagen, das über ihren Materialwert hinausweist. Hierzu zählen vor allem die Ausdrucksformen des Körpers, aber auch die Felslandschaft mit ihren Grotten, das Bühnenbild, wenn es zum Gegenständlichen tendiert oder die Sprache, wenn sie nicht ausschließlich tonal, sondern auch semantisch wirkt. Schließlich können sich diese Zeichen zu komplexeren Codes zusammenschließen, die entweder tatsächlich realisiert sind, auf ein Vorkommnis schließen lassen, das im Stück nicht explizit gezeigt wird, oder – im Gegensatz zu diesen zeitlichen Ausdehnungen – eine Ausdeutung bewusst verweigern. Zum ersten Fall zählt etwa die Ambossszene, zur zweiten die ‚Türkenköpfe‘, die auf einen Kampf schließen lassen, oder das abgerissene Kleid, das auf eine leidenschaftlich-gewaltsame Liaison des Weibes und des Herrn bezogen werden muss. Das dritte betrifft das Fabeltier, dessen Herkunft sich zwar aus dem Stück heraus erklärt, dessen Identität aber bewusst offen gelassen ist.77 Eine solche Einteilung in Material, Zeichen und Codes sagt nicht, dass es kein Handlungsgefüge gibt, aber sie vermeidet es, das ‚Was‘ des dramatischen Geschehens vor dem ‚Wie‘ seiner Erzeugung zu präferieren. Dabei stehen die drei Komponenten insofern in einer hypono77
Das Fabeltier wird häufig als Sexual- und Todessymbol gesehen. Vgl. etwa WÖRNER 1970: 154; NAUMANN 1988: 159. Da es jedoch unmittelbar aus der Bühnenform hervorgeht, lässt sich auch argumentieren, dass in ihm Handlung und Material ineinander übergehen. Im Fabeltier ist die Fabel selbst verkörpert, die sich über den Helden einfaltet.
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mischen Relation, als das Folgende das Vorherige implementiert. Jede Szene – verstanden als Code – ließe sich daher nach dem Grad der Verhältnissetzung von Material und Zeichen bestimmen. In jenen Szenen, in denen die Bühne vornehmlich den Figurenaktionen vorbehalten ist (Bild 2), dominiert eine Zeichenfunktion, in anderen, in denen die Bühne zum dreidimensionalen Bild erstarrt (Bild 1 und 4), überwiegt eine Materialfunktion, und in Bild 3 haben wir es schließlich mit einer gleichwertigen Verbindung zu tun. Keine Szene allerdings erschöpft sich in der Funktionalisierung für die vermeintliche Gesamtaussage des Stückes, sondern soll auch und gerade in der Kombinatorik des Materials verstanden werden. Vor diesem Hintergrund ist die Einschätzung Wörners, das Stück sei „realistisch“78, ebenso haltlos wie die Schlussfolgerung Crawfords, in der Glücklichen Hand sei die „message more important than the medium“79. Einer solchen Sichtweise leistet Schönberg allerdings selbst Vorschub, wenn er in Bezug auf seinen Anspruch, mit den Mitteln der Bühne zu musizieren, erklärt: In Wirklichkeit sind die Töne nichts anderes – klar und nüchtern angesehen – als eine besondere Art von Luftschwingungen, und als solche machen sie wohl irgendeinen Eindruck auf das betroffene Sinnesorgan, aufs Ohr. Durch eine besondere Art aber, sie miteinander zu verbinden, rufen sie gewisse künstlerische, und wenn man so sagen darf, seelische Eindrücke hervor. Da nun aber diese Fähigkeit keinesfalls im einzelnen Ton schon liegt, so müßte es mit manchen anderen Materialien unter gewissen Voraussetzungen auch möglich sein, solche Wirkungen hervorzurufen; wenn man sie nämlich so behandelte wie die Töne; wenn man sie, ohne dabei ihren Material-Sinn zu verneinen, unabhängig von diesem Sinn zu Formen und Figuren zu verbinden verstand, nachdem man sie, ähnlich wie die Töne, in Zeit, Höhe, Breite, Stärke und vielen anderen Dimensionen gemessen hatte; wenn man sie, tieferen Gesetzen entsprechend, miteinander in Beziehung zu setzen wüßte, als es die Gesetze des Materials sind. Nach den Gesetzen einer Welt, die von ihrem Schöpfer nach Maß und Zahlt erbaut wurde.80
Diesem Passus liegt genau jene Paradoxie zugrunde, die die Voraussetzung intermaterialer Kunstprogrammatik im Expressionismus bildet, nämlich die zwischen der Reduktion auf den Materialwert und der Sublimierung zum Immateriellen. Schönberg geht es in seinem Anspruch der Unabhängigkeit vom Materialsinn nicht um eine Lossagung vom Material und im Umkehrschluss eine Betonung der Botschaft seines Bühnenstückes, sondern gewissermaßen um eine Inversion hin zur Formalisierung. Die ist für ihn überhaupt erst die Möglichkeitsbedingung einer 78
WÖRNER 1970: 151.
79
CRAWFORD 1974: 600.
80
SCHÖNBERG 1928: 236f.
300 | I NTERMATERIALITÄT
allkünstlerischen Komposition, bei der die sinnlich verschieden wahrnehmbaren Materialien als Akkorde zusammenwirken und einen Mehrwert erzeugen würden, der nur über deren (intermateriale) Verbindung erreicht werden könne. Das Argument funktioniert dabei folgendermaßen: Wenn es möglich ist, Materialien zu koppeln, dann müssen sie per se eine Gemeinsamkeit aufweisen, die nicht in ihrer äußeren Erscheinung begründet liegt, sondern in den Gesetzen ihres Gemachtseins. Schönberg kategorisiert die künstlerische Verwendung von Materialien demnach einerseits nach mathematischen Gesetzmäßigkeiten und entmystifiziert sie darin, belässt ihr jedoch andererseits einen religiös-emphatischen Status. Aus dieser Beobachtung heraus lässt sich neben der oben beschriebenen Trias ein Dualismus erkennen, der für Die glückliche Hand grundlegend ist. Es handelt sich dabei um das Spiel mit Oberfläche und Tiefenstruktur, Ausdruck und Inhalt, Material und Geistigem, Wahrnehmung und Verborgenem sowie Mitteilbarem und NichtDarstellbarem. Bereits im ersten Bild zeigen sich verschiedene Momente dieser dualistischen Anlage und des Versuchs, die Materialien so eng wie möglich aneinander zu binden. So erfolgt die Einführung des Mannes unter der Vorgabe, er gehöre mit dem Irdischen und Überirdischen zwei Sphären an, die nicht vereinbar seien, weshalb die Suche nach dem weltlichen Glück von vornherein zum Scheitern verurteilt sei. Was dem Mann nur flüchtig und fragmentarisch gelingt – nur die (glückliche, linke) Hand realisiert in der Berührung mit dem Weib die Vereinigung –, leistet Schönberg in der intermaterialen Konvergenz der Künste. So vereint der Chor als optisches und akustisches Element der Szene zwei sinnliche Qualitäten und weist darin mehrere Funktionen auf. Zum einen ist er Bestandteil der farblichen Ausgestaltung, denn die Gesichter der sechs Männer und Frauen sind nicht nur „mit zart rötlichen Schleiern verhüllt“81, sondern auch noch „grün beleuchtet“82 und damit auffälligstes Farbsegment der ansonsten dunkel gehaltenen Bühne. Zweitens und daraus abgeleitet verabsolutieren die Gesichter die Visualität schlechthin. Da „man fast nur die Augen deutlich“83 sieht, reduziert sich der ohnehin seiner Körperlichkeit entbundene Chor auf seine Blicke. Potenziert wird dieses Arrangement dadurch, dass die Bühne selbst die Ähnlichkeit eines Auges aufweisen soll. So sieht die Anweisung Schönbergs vor, dass der Bühnenausschnitt „sehr klein, ein wenig rund (ein flacher Bogen)“84 zu sein habe und damit die Bogenlinie des Augenlids nachzeichnet. In dieser Anordnung versinnbildlicht der Chor das Gegenteil des Mannes, über den es
81
SCHÖNBERG 1917: 111.
82
Ebd.
83
Ebd.
84
Ebd.
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heißt, er sei „blind“85. Sehen und dessen Negation die Blindheit stehen hier allerdings nicht für Erkenntnis und Unwissenheit, denn auch dem Mann wird attestiert, er wisse ja, auf welches Ende alles hinauslaufe. Vielmehr geht es darum, dass Reize auch von jenen Sinnen wahrgenommen werden können, die eigentlich nicht für deren Perzeption verantwortlich sind. Obwohl der Mann seine Umgebung nicht visuell erfasst, nimmt er sie sehr genau wahr, weshalb seine Blindheit eben nicht „die Schwachheit seiner Sinne“86 unterstreicht, sondern im Gegenteil ihn zum übersinnlichen Erfassen der Situation befähigt. Dadurch ist die Voraussetzung geschaffen, bestimmte Ereignisse durch andere Materialien darzustellen, wie Bild 3 eindrücklich unter Beweis stellt. Für den Chor des ersten und vierten Bildes hat dies zur Konsequenz, dass nicht die Männer und Frauen die eigentlichen Urheber des Gesangs sind, sondern deren Augen. Eine weitere Funktion – die akustische – ist damit untrennbar an die ersten beiden geknüpft und weist das Ganze als einen „Chor von Blicken“87 aus. Dass es sich dabei um verschiedengeschlechtliche Figuren handelt, ist einzig über die Stimmlagen erkennbar, die mit Sopran, Alt, Tenor und Bass das ganze stimmliche Spektrum abdecken. Charakteristisch für den Gesang selbst ist die Variation des Gleichen sowohl in der Art des Vortrags als auch in der inhaltlichen Ausrichtung. So sieht die Partitur Schönbergs eine kanonartige Struktur vor, bei der zentrale Begriffe und Phrasen in verschiedenen Stimmlagen versetzt wiederholt werden. Dies geschieht zunächst zwischen männlichen und weiblichen Stimmen, dann aber auch intern, indem sich einzelne Intonationen abspalten und einen dissonanten Klangteppich weben. Sind es am Anfang nur drei Tonhöhen, so kristallisieren sich im Verlauf insgesamt sechs heraus, die zwar zu gleichen Anteilen auf die männlichen und weiblichen Stimmen verteilt sind, dadurch aber keineswegs einen harmonischen Eindruck, sondern im Gegenteil eine zunehmende Desorientierung erzeugen. Einzig zum Schluss vereinen sich die Stimmen im übereinkommenden „Und kannst nicht bestehen!“88, um dann eine bogenförmige Abwärtsbewegung zu vollziehen, die jener des Blicks nachempfunden ist und auf den am Boden Liegenden verweist. Hinzu kommt, dass Schönberg nicht nur verschiedene Tonlagen, sondern auch verschiedene Sprechweisen vorsieht. Insgesamt nutzt er drei Arten des Ausdrucks – gesungen, geflüstert, gesprochen –, die durch Abstufungen – klangvoll geflüstert, tonlos geflüstert, klangvoll/tonlos gesprochen – weiter ausdifferenziert sind. Dem angepasst ist der Text, der gewiss nicht mit literarischer Qualität glänzt, der aber eine Reihe von Merkmalen enthält, die einen nachdrücklichen Gestal85
Ebd.: 112.
86
WÖRNER 1970: 148.
87
SCHÖNBERG 1928: 237. [Herv. i.O.]
88
SCHÖNBERG 1917: 118.
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tungswillen erkennen lassen. Als zentrales Stilelement ist die Wiederholung auszumachen, die dem Ganzen etwas Beschwörendes verleiht. Auf die siebenmalige Betonung des „Immer wieder“ wurde bereits hingewiesen, weitere Wiederholungen erfahren die Begriffe „irdisches Glück“ (3x), „Du Armer“ (2x), „Unerfüllbare“ (2x) sowie in Variation der Wortform „Glauben“ (3x), „Wissen“ (2x) und „Ende/endlich“ (3x). Auch Anaphern wie „Du weißt“ (2. und 4. Satz) und Parallelismen wie „Kannst du“, „Mußt du“, „Willst du“ intensivieren den Eindruck einer dringlichen Mahnung. Weitere Auffälligkeiten sind reine und verschobene Alliterationen, zumeist in Verbindung von Artikeln und Personalpronomina („immer wieder überlässt du dich den Lockungen deiner Sinne; die das Weltall durchstreifen, die unirdisch sind“; „Du, der das überirdische in dir hast, sehnst dich nach dem irdischen!“), aber auch in anderer Form wie beispielsweise im anfänglichen „Still, o schweige, Ruheloser!“, das sich zudem durch seine markante Vokalanalogie bzw. Paronomasie auszeichnet – ein Prinzip, das ebenfalls sehr häufig auftritt und eine phonetische Einheitlichkeit gewährleisten soll. Damit ist klanglich und semantisch die Bedingung dessen erfüllt, was Roman Jakobson die ‚poetische Funktion‘ nennt, nämlich eine Verschiebung des Prinzips der Äquivalenz von der Achse der Paradigmatik auf die Achse der Syntagmatik und damit von einer gedachten Ähnlichkeitsbeziehung hin zu einer der materialen Präsenz. Dieses Verfahren kann den poetischen Charakter des Eingangsrezitativs erklären, zu dem auch reimähnliche ‚Versschlüsse‘ wie „ersehnen“ und „bestehn“ gehören. Daneben folgt der Text als Ganzer einem Umkehrmoment. Als Scharnier ist das chiastische „sie ist so, so ist sie“89 zu werten, mithilfe dessen sich die interrogative Form der ersten Hälfte in eine illokutionäre umkehrt. Kann der erste Teil als Reaktion auf das Ende des Stückes gewertet werden, so schlägt der zweite Teil in die Gewissheit um, den Mann nicht belehren zu können und ihn der Faktizität seines Schicksals überlassen zu müssen. Darüber hinaus führt Schönberg Begriffe ein und treibt sie von Satz zu Satz weiter, um sie einer Assoziationskette gleich um Bedeutungsnuancen zu erweitern und zu verschieben. Hierin zeigt sich eine spiralförmige Bewegung, die sich durch den appellativen Charakter verstärkt, der durch die Verwendung der 2. Person Singular, also des ‚Du‘, konzentrisch auf den Mann hin ausgerichtet ist. Dieser Sog geht mit der Musik einher, deren wiederkehrenden und variierten Figuren über die Stimmen an die visuelle Dimension gekoppelt sind. Der Chor in den beschriebenen Funktionen erscheint daher als intermateriale Quelle aller materialen Äußerungsformen – des Klangs, des Sinns und der Farbe. Schönberg beschreibt dies folgendermaßen:
89
Ebd.: 113.
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Sie sehen zu Anfang zwölf helle Flecke auf einem schwarzen Grund: die Gesichter der 6 Frauen und 6 Männer. Oder vielmehr: Ihre Blicke. Das ist ein Teil des Mienenspiels, eines Mittels der Bühne. Der Eindruck nun, unter welchem das hingeschrieben wurde, war ungefähr der, als ob ich einen Chor von Blicken wahrnähme, so wie man eben Blicke wahrnimmt, wie man sie fühlt, auch ohne daß man sie sieht, wie sie einem etwas sagen. Was diese Blicke hier sagen, ist noch durch Worte umschrieben, die der Chor singt, und durch die Farben, die sich auf den Gesichtern zeigen. Die musikalische Art, auf die diese Idee komponiert ist, bezeugt die Einheitlichkeit der Konzeption: trotz mannigfaltiger Gestaltungen einiger Hauptstimmen ist dieser ganze Einleitungssatz durch einen ostinatoartigen Akkord gleichsam ‚am Platze festgehalten‘: so wie die Blicke starr und unveränderlich auf den Mann gerichtet sind; das Ostinato der Musik macht deutlich, daß diese Blicke ihrerseits ein Ostinato bilden.90
Eindrücklich demonstriert das erste Bild der Glücklichen Hand, wie das Zusammenspiel der Materialien es schafft, ein Höchstmaß an Komplexität und Dissonanz zu erzeugen, sich gleichzeitig aber homogen auszurichten, nämlich auf das einzige passive Element der Szene, den Mann. Hieraus allerdings im Umkehrschluss eine „Projektionsgebundenheit“91 abzuleiten, wäre fatal. Die Materialien sind nicht Mittel zum Zweck, sondern behalten ihren Status. Was bereits Richard Wagner als den „unglaublichen Irrthum[]“92 der Oper beklagt, nämlich „daß ein Mittel des Ausdrucks (die Musik) zum Zwecke, der Zweck des Ausdrucks (das Drama) aber zum Mittel gemacht war“93 , gilt nicht minder für Schönbergs Drama mit Musik. So ist in der Gestaltung von Farben, die singen, Blicken, die sprechen, Musik, die man sehen kann, eine Annäherung erreicht, die jene doch eher im Illusionären bleibende Vorstellung der Synästhesie versucht tatsächlich intermaterial umsetzen. Entscheidend ist dabei, dass die Materialien eben nicht als „akzidentelle Beigabe“94 eines anderen zu verstehen sind, sondern aufgrund der „Auflösung der Hierarchie“95 Eigenständigkeit beanspruchen und trotzdem verknüpft sind. Als Bindeglied fungiert dabei die Sprache, die im Artikulatorischen gleichzeitig Klang und Sinn vermitteln kann. Dort, wo sie dies nicht vermag, erzeugen andere Arten der Engführung die Notwendigkeit eines wechselseitigen Bezugs. So wird beispielsweise die Statik des Bildes durch die Dynamik von Gesang und Musik hin zur dramatischen Form aufgebrochen, andersherum ist die Musik sichtbar gemacht, nicht durch eine Konvention
90
SCHÖNBERG 1928: 237f.
91
MAUSER 1982: 27.
92
WAGNER 1851: 1432.
93
Ebd.: 1428.
94
MAUSER 1982: 27.
95
HANSEN 1993: 133.
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farblicher und tonaler/instrumentaler Entsprechungen wie bei Skrjabin oder Kandinsky,96 sondern qua arbiträrer Zusammenstellung von Ton und Farbe.97 Wie an dem oben zitierten Passus erkennbar, sieht Schönberg konzeptionell eine parallele Intermaterialität der Bühnenelemente untereinander vor. Anders verhält es sich jedoch mit dem Bezug der Bühnenmaterialien zur Figur des Mannes, der den Kern der intermaterialen Qualität des Stückes ausmacht. Wie dieser genau angelegt ist, verdeutlicht die kurze Berührung des Mannes mit dem Weib, also die metonymische Vereinigung in Bild 2. Sie zeigt die Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung des Protagonisten – „nun habe ich dich für immer“98 – und derjenigen des Weibes, die eher flüchtig am Mann interessiert ist und „rasch in die linke Seitenwand“99 entflieht. Was im Folgenden auch für den Chor als übergeordneter Wahrnehmungsinstanz offensichtlich ist, nämlich ein sexuelles Verhältnis zum Herrn, ist für den Mann nur im körperlichen Schmerz, in den „Wunden“ und im „Fleisch“100 erfahrbar. In dieser Konstellation verkörpert der Chor all jene sinnlichen Eigenschaften, die dem Mann verwehrt sind, der unter dem Biss des Fabeltiers zur Passivität verdammt ist. Es liegt daher nahe, die sensualistischen Fähigkeiten des Helden als zeitweise von ihm entbunden und nach außen gekehrt zu begreifen. Die inneren Empfindungen des Mannes sind in der Verwendung der Bühnenmaterialien ausge96
Vgl. SABANEJEW 1912: 112; KANDINSKY 1912a: 85-105.
97
Gewiss lassen sich einige Entsprechungen erkennen, wie sie John Crawford in seiner Vergleichstabelle darstellt. Vgl. CRAWFORD 1974: 586-588. Doch sind diese nicht für alle Farben und Instrumente durchgehalten und gelten insbesondere für die Ordnung des dritten Bildes. Eine konsequente Entsprechung von Farben und Motiven/Instrumenten für das gesamte Stück würde dem Anspruch Schönbergs widersprechen, eine oberflächliche Parallelisierung zu vermeiden. Es ist daher nicht verwunderlich, dass es auch hinsichtlich der Bedeutung der Farben ganz verschiedene Interpretationen gibt. Karl Wörner etwa sieht in deren Einsatz folgende Korrespondenzen: Schwarz = Nacht und Tod; Gelb = Tag, Schaffen, Kampf, Aktivität; Blau = Glück, Hoffnung, Erleuchtung; Grün = Vernichtung und Zerstörung; Violett = Verführung und Lust; Rot = potenzierte Lust. GeorgAchim Mies dagegen ordnet Blau der übermenschlichen Kraft zu und entdeckt im Rot konträr zu Wörner und als Kontrast zur Positivfunktion der blauen Farbgebung ein destruktives Prinzip von Hass und Gewalt. Vgl. MIES 1971: 76. Jenseits der einzelnen Zuordnung stellt gewiss die Nutzung des gesamten Farbspektrums wie auch der massive Instrumentaleinsatz bereits einen wesentlichen Faktor der Signifikanz dar. Die Äquivalenz hat insofern nicht in der singulären Referenz statt, sondern in derjenigen zwischen Polyphonie und Polychromie.
98
SCHÖNBERG 1917: 137f.
99
Ebd.: 136.
100 Ebd.: 184.
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drückt und deren intermateriales Verhältnis repräsentiert das Zusammenspiel der verschiedenen sinnlichen Vermögen. Eine solche Deutung kann jener schon zitierten Anweisung gerecht werden, wie sie im dritten Bild vermerkt ist: „Der Mann hat dieses crescendo des Lichts und des Sturmes so darzustellen, als ginge beides von ihm aus“101. Die Bühne und ihre Bestandteile sollten jedoch nicht komplett als Projektionsfläche des Mannes verstanden werden.102 Wie musikwissenschaftliche Untersuchungen gezeigt haben, sind auch dem Weib bestimmte Tonfolgen bzw. Instrumente leitmotivisch zugeordnet und damit unabhängig von der Empfindung des Mannes gestaltet.103 Die Bezogenheit des Protagonisten zu den Bühnenmaterialien geschieht daher punktuell und unter zwei verschiedenen Vorzeichen: zum einen intermaterial parallelisierend, zum anderen intermaterial kontrastiv, wobei sich Letzteres weiter in eine substituierende und eine dominierende Intermaterialität unterteilen lässt. In den Abschnitten, in denen die Inszenierung vom Mann auszugehen scheint, zeigt sich, dass mit dem Einsatz der Bühnenmaterialien tatsächlich eine identifikatorische Absicht verbunden ist (parallelisierende Intermaterialität). Die Empfindungen sollen eine körperliche Abbildung erfahren und über die intermateriale Ausgestaltung vom Zuschauer sinnlich miterlebt werden können. Zugleich kann sich eine Distanzierung einstellen, eine ‚Verbündung‘ der Materialien gegen den Mann (substituierende Intermaterialität), die den Zuschauer in die Lage versetzt, das wahrzunehmen, was dem Helden entgeht. Hinzu kommt ein dritter intermaterialer Konnex von Materialien und Hauptfigur, nämlich eine Dominanz des Mannes über die Bühnenmaterialien. Vor allem Bild 3, der intermateriale Höhepunkt des Stückes mit seinem viel zitierten „Farben-Licht-Spiel“104 , zeigt den Mann auf dem Höhepunkt seiner Macht. Schwert und Amboss als Metonymien für Kampf und Arbeit demonstrieren Kompetenz, Erfolg und heroische Veranlagung, und besonders der Herstellungsvorgang des Diadems dient der Bezeugung übernatürlicher Fähigkeiten, die Schönberg im Verhältnis des Mannes zur Bühne gestaltet. Die räumlich-hierarchische Szenerie zeigt einen Helden, der sich mit Leichtigkeit über die zerklüftete Felslandschaft bewegt: „Er steigt mühelos, obwohl es anscheinend schwierig sein müßte.“105 Berücksichtigt man die Anweisung Schönbergs, das Bühnenbild soll „nicht die Nachahmung eines Naturbildes, sondern eine freie Kombination von Farben und Formen sein“106, so kann die Szene in der Tat als Dominanzverhältnis des Mannes gegenüber den äußeren Materialien verstanden werden. 101 Ebd.: 151. [Herv. i.O.] 102 Vgl. MAUSER 1982: 24-27. 103 Vgl. CRAWFORD 1974: 593; NAUMANN 1988: 292f.; AUNER 2002: 261. 104 SCHÖNBERG/KANDINSKY 1981: 126. [Brief Schönbergs an Ernst Legal, 14. April 1930] 105 SCHÖNBERG 1917: 139. 106 Ebd.: 138.
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Diese Relation ist jedoch nur von flüchtiger Dauer, denn mit der Verschiebung der Aufmerksamkeit von der linken zur rechten Grotte kehrt sie sich in eine zunächst intermaterial parallelisierende und schließlich intermaterial substituierende um. Während der Mann in der linken Grotte als Agierender auftritt, bleibt ihm der Zugang zur rechten verwehrt. Die in Bild 2 bereits dargestellte Befähigung zur Wahrnehmung auch solcher Vorgänge, die er selbst nicht sieht, zwingt jedoch zu der Annahme, dass sich in seinem Verhalten ein Vorgang abbildet, der sich innerhalb der Grotte vollzieht. In der intermaterialen Konstruktion der Szene sieht GeorgAchim Mies daher eine Weiterentwicklung des Wagner’schen Gesamtkunstwerks, da Schönberg die Materialien „nicht mehr nur durch Assimilation verbindet […], sondern ihre indifferente Eigenbedeutung ausnutzt, um aus der Kombination von Materialien diese zu Faktoren einer sinnvermittelnden Vorgänglichkeit zu machen“107 . Es muss allerdings einschränkend gesagt werden, dass der Akt der Sinnvermittlung ein gebrochener ist, da keines der Materialien und auch nicht ihre Kombination ihn als solchen vollziehen kann. Erst die Anbindung der Materialien an die Semantik der Gebärden legt diesen nahe. Wie der folgende Auszug aus der Partitur zeigt (vgl. Abb. 38), entsteht durch die Veränderung von Musik und Farblicht in Kombination mit dem Gebärdenspiel eine intermateriale Dramaturgie, die mithilfe eines „ingenious system of signs“ 108 exakt festgelegt ist:
Abbildung 38: Auszug aus der Partitur zu Arnold Schönbergs Die glückliche Hand (1917)
Ebenso wie sich die Bedeutungszuweisung der Materialien im Mann bündeln, erweitern sie sich durch die substituierende Funktion und dehnen die Bühne zum sinnlichen Resonanzboden aus. Die Passivität des Mannes, seine Unterlegenheit
107 MIES 1971: 78. 108 CRAWFORD 1974: 591.
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gegenüber der vorgestellten Handlung, drückt sich durch ein Höchstmaß an Aktivität der Materialien aus. Im Umkehrschluss bedeutet das: Dort, wo die Glückliche Hand das Maximum an intermaterialer Virtuosität erreicht, ist der Held selbst nicht aktiv Schaffender. Eine solche Beobachtung hat Konsequenzen für die Deutung des Stückes, denn viele Interpretationen sehen in der Glücklichen Hand das Kunstschaffen selbst sowie die Ausnahmestellung des Künstlers gegenüber einer feindlichen Welt verhandelt.109 Derartige Lesarten eines Künstlerdramas erscheinen durchaus sinnvoll, sie müssen jedoch in einigen Aspekten korrigiert und präzisiert werden. Als Ausgangspunkt für diese Sichtweise dient zumeist die Ambossszene, bei der die Arbeiter als Repräsentanten der Gesellschaft viel Mühe in die Herstellung des Schmucks investieren müssen, während der Mann mit göttlicher Hilfe – das Bild sieht eine „erhobene linke Hand“ vor, „deren Fingerspitzen von oben hellblau beleuchtet werden“110 – ein kostbares Diadem schafft. Spätestens seit der Romantik stellt die Schmuckproduktion in der Tat eine Chiffre für das Künstlertum dar. Künstler ist der Mann also deshalb, weil er Schöpfer ist. Folgt man dieser Sichtweise, so liegt die interne Funktion der Ambossszene in der Demonstration seiner außerordentlichen Befähigung, die dann als Kontrastfolie zur Unfähigkeit dient, des Weibes habhaft zu werden. Während er im Normbruch der Schmuckschöpfung Überlegenheit signalisiert, liegt der Fall bei seinem eigentlichen Ziel anders. Erfolg hat im Liebeswerben derjenige, der – nomen est omen – Herr über die Lage ist, indem er die Verhaltensregeln beherrscht. Jener Pessimismus, den Schönberg in seiner Breslauer Rede zum Ausdruck bringt,111 scheint bestätigt und besiegelt: Der Künstler erweist sich als ein einsamer Streiter, der, obwohl oder gerade weil er über der Realität steht, an ihren Bedingungen scheitert. Gegen diese negative Ausdeutung ist einzuwenden, dass dem Fehlschlagen auf der Handlungsebene ein Gelingen auf der Konstruktionsebene des Stückes gegenübersteht. Was dem Mann verwehrt bleibt, nämlich die heterogenen Sphären überein zu bringen, erreicht die Radikalität der intermaterialen Komposition. Mit der Glücklichen Hand hat Schönberg ein Bühnenstück geschaffen, das in der Verknüpfung der Materialien eine Vereinigung ermöglicht, die sich nicht im Selbstzweck erschöpft, sondern mithilfe der unterschiedlichen Grade der intermaterialen Relation – parallel und (substituierend oder dominierend) kontrastiv 109 Vgl. ADORNO 1958: 49; WÖRNER 1970: 148; WEBER 1971: 62; MIES 1971: 165, Anm. 43. Zur Entsprechung dieses Künstlerverständnisses mit Prinzipien der romantischen Ästhetik vgl. KEIL 2000: 40. Viele Interpretationen parallelisieren diese Künstlerthematik mit der Biographie Schönbergs. Vgl. NAUMANN 1988: 121f.; MAUSER 1982: 17; KIENSCHERF
1996: 168; AUNER 2002: 251; RINGER 2002: 170.
110 SCHÖNBERG 1917: 146. 111 Vgl. SCHÖNBERG 1928: 239.
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– die Bühnenmaterialien an die Aktionen seiner Hauptfigur knüpft. Es muss daher unentschieden bleiben, ob Schönberg die Geschichte zum Vorwand dient, ein „Spiel mit den Erscheinungen von Farben und Formen“112 zu inszenieren oder diese zur Darstellung einer „lebensartige[n] Handlung“ 113 gebraucht. Fest steht, dass beides wechselseitig aneinander gebunden ist und sich die Glückliche Hand so nicht nur in ihrer formalen Unabgeschlossenheit, sondern auch in den Materialien ihrer Erzeugung selbst perpetuiert.
D IE N OTWENDIGKEIT DES Z USCHAUERS . W ASSILY K ANDINSKYS „D ER GELBE K LANG “ Wassily Kandinskys Bühnenkomposition Der gelbe Klang (1912) ist in mehreren Entwicklungs- und Abstraktionsschritten aus einer Bearbeitung des antiken Liebesromans Daphnis und Chloe hervorgegangen und im Almanach Der Blaue Reiter als letzter Textbeitrag publiziert.114 Sie besteht in ihrer Drucklegung aus insgesamt sieben szenischen Beschreibungen (einer Einleitung und sechs Bildern), die – ergänzt um Graphiken115 – in der Inszenierung selbst bewegte Bilder sein sollen. Mit der Auflistung der Mitwirkenden und dem orchestralen Einspielen zu Beginn des Stückes bedient es sich zunächst klassischer Dramen- und Opernkonventionen und baut somit eine Erwartungshaltung auf, die im Folgenden jedoch radikal gebrochen wird: Nicht nur die „unbestimmte[n] Akkorde“116 erweisen sich als trügerisch, weil sie sich nicht ins Harmonische auflösen und bereits integraler Bestandteil des Stückes sind, sondern auch die Liste der Mitwirkenden unterläuft mit den „Undeutliche[n] Wesen“117 den traditionellen Darstellertypus und erscheint am Ende sogar als unvollständig – schließlich wertet Kandinsky die Bühnenmaterialien Ton, Farbform und Licht sowie den Bühnenraum selbst zu eigenständigen und gleichberechtigten Akteuren auf. Der gelbe Klang ist als ein Spiel der Bühnenmaterialien komponiert, dessen Kern nicht mehr der Mensch und sein Handeln bildet, sondern die Materialien selbst. Sie sind in einer Mit- und Gegenbewegung zu einer dezentrierten Bilderfolge arrangiert, die in einer Mischung aus abstrakten und konkreten Geschehnisfragmenten eine symbolische Lesart anbietet, sie aber ebenso wieder verweigert. 112 SCHÖNBERG/KANDINSKY 1981: 128. [Brief Schönbergs an Emil Hertzka, o.J.] 113 Ebd.: 69. [Brief Schönbergs an Kandinsky, 19. August 1912] 114 Vgl. EMMERT 1998: 80-85; HORSLEY 2006: 334-346. Im Folgenden wird die Endfassung für den Blauen Reiter von 1912 für die Interpretation zugrunde gelegt. 115 Zu deren Herkunft und Funktion vgl. ELLER-RÜTER 1990: 80f. 116 KANDINSKY 1912d: 212. 117 Ebd.: 210.
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Darin drückt sich das für den Expressionismus typische Spannungsverhältnis zwischen einer Tendenz zur Immaterialität und einem materialen Reduktionismus aus. Dieser Umstand und der offenkundige Bruch mit vielen bis dato gängigen Theaterformen haben zahlreiche Interpretationen hervorgebracht, deren Fülle allein schon die Viel-, mithin Uneindeutigkeit des Stückes belegt. So ist Der gelbe Klang als unverständlich und ohne erkennbare Sinnebene eingeschätzt,118 in Anlehnung an die Theosophie Rudolf Steiners auf thematische Komplexe wie die Schöpfungs- und Heilsgeschichte119, die Apokalypse120 oder allgemein das Okkulte121 zurückgeführt, aber auch hinsichtlich der Verabsolutierung der Mittel gedeutet worden.122 Neben diesen extremen Positionen gibt es auch solche, die zwar bestimmte märchenhaftmystische Elemente anerkennen bzw. die Absicht zur Erzeugung einer spirituellen Atmosphäre ausmachen, eine lineare Lesart aber ablehnen.123 Konsens in der Forschung herrscht wohl darin, dass Der Gelbe Klang ein radikales Experiment der Kunstsynthese darstellt, wobei auch hier Unterschiede darin bestehen, ob die Form als zweckfrei124, sich selbst meinend125 oder in der Kundgabe einer höheren Wahrheit/Aussage zu verstehen ist. Wenn im Folgenden auf das intermateriale Verhältnis der Künste und die Funktion des Rezipienten eingegangen wird, dann ist das nicht nur dem Erkenntnisinteresse dieser Untersuchung geschuldet, sondern geschieht auch aufgrund einer grundlegenden Skepsis gegenüber solchen Interpretation, die dort zu einer Vereindeutigung neigen, wo sich die Szenenbilder im Sinne des Chorgesangs als „Schollen mit Rätseln erfüllender Fragen“126 gegen eine logische Ausdeutung hermetisieren. Bei aller symbolischen Verweiskraft, die Der gelbe Klang ohne Zweifel aufweist, bleibt die faktische Existenz dessen, was den Verweis erzeugt: die Materialien in ihrem abstrakten Zusammenspiel. Gerade eine inhaltliche Ausdeutung, die meint, vom Bezeichnenden absehen zu können, verfehlt die Bühnenkomposition Kandinskys fundamental. Sie soll in ihrer Materialität und in der sensualistischen Angesprochenheit des Zuschauers verstanden werden und ist nicht das Uneigentliche, das im Verstehensvollzug einem Eigentlichen weichen würde. Der gelbe Klang 118 Vgl. GROHMANN 1958: 99f. 119 Vgl. SCHREYER 1948: 328-330; SHEPPARD 1975; EMMERT 1998: 86-108; FORNOFF 2004: 349-367. 120 Vgl. SCHOBER 1994: 141-145. 121 Vgl. RINGBOM 1982. 122 HORSLEY 2006: 307. 123 DENKLER 1967: 32-36; GÖRICKE 1987; ELLER-RÜTER 1990: 65-83. 124 HAHL-KOCH 1981: 201. 125 ELLER-RÜTER 1990: 82. 126 KANDINSKY 1912d: 212.
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ist genau in der Verweisungsbewegung zu begreifen, die ein Mehr verspricht, ohne es tatsächlich einzulösen.127 In ähnlicher Weise bekundet diese Einschätzung bereits Schönberg, der im Vergleich mit seiner eigenen Bühnenkomposition Die glückliche Hand Kandinskys Stück die größere Radikalität zuspricht. Seiner Meinung nach zeichne sich die Leistung des Freundes durch ein „Verzichtleisten auf jeden bewußten Gedanken, auf jede lebensartige Handlung“ aus. Und weiter: „Wir müssen [...] den Mut bekommen, diesen Rätseln in die Augen zu blicken, ohne feige nach ‚der Lösung‘ zu fragen. […] Was wir dabei gewinnen, soll nicht die Lösung, sondern eine neue Chiffrier- oder Dechiffrier-Methode sein.“128 Die Forschung hat es freilich nicht bei dieser Beobachtung belassen. In der Suche nach dem zugrunde liegenden Sinn des Gelben Klangs beruft sie sich vielfach auf die theoretischen Schriften Kandinskys, und ohne Zweifel erhält dies ein hohes Maß an Plausibilität. Die Problematik derartiger Anknüpfungen ist jedoch gerade ihre Evidenz. Absicht wird hier mit Wirkung gleichgesetzt. So deckt etwa der minutiöse Abgleich von Kandinskys Farbtheorie mit der Farbkomposition im Gelben Klang eine Polarisierung von Irdischem und Geistigem (in den Farben gelb und blau) überzeugend auf, ob dies aber tatsächlich vom Zuschauer so aufgegriffen wird, ist mehr als fraglich.129 Dabei kann mit einer von Kandinsky explizit erklärten Zielvorgabe der Bühnensynthese eine Intentionalität des Stückes ausgemacht werden, die zwar eine grobe Richtung angibt, nicht aber die Interpretation detailliert vorschreibt. Es handelt sich dabei um das Prinzip der inneren Notwendigkeit hinsichtlich seiner wirkungsästhetischen Bedeutung. Kandinsky verpflichtet die Kunst in seiner Hauptschrift auf das „Prinzip der zweckmäßigen Berührung der menschlichen Seele“130, um anhand dessen einen Begründungszusammenhang von reiner Materialverwendung, intermaterialer 127 Vgl. hierzu auch Paul Pörtner, der schon früh feststellte: „alles Geschehen wird zu Zeichen stilisiert, Zeichen allerdings, die nicht aus ihrer Zeichenhaftigkeit zu lösen sind“. PÖRTNER 1969: 196. Ebenso Horst Denkler, der davon ausgeht, dass im Gelben Klang „Symbole gesetzt und Vorstellungskomplexe assoziativ angerührt [werden], ohne daß die Symbolbezüge einwandfrei herzustellen und die Assoziationsketten lückenlos zu schließen wären“. DENKLER 1967: 34. Ein ähnliches Urteil findet sich auch bei Christopher Innes, demzufolge zählen „the means rather than the meaning […]“. INNES 1993: 41. Zit. nach HORSLEY 2006: 309. 128 SCHÖNBERG/KANDINSKY 1981: 69. [Brief vom 19. August 1912] 129 Als erster ist SHEPPARD 1975 dem nachgegangen. Ihm gefolgt sind GÖRICKE 1987, SCHOBER 1994: 143-145, der die „Farbtheorie als Schlüssel zur Interpretation“ (ebd.: 143) bezeichnet, und HORSLEY 2006: 309-317. Trotz der gleichen Voraussetzung zeigen die teils völlig unterschiedlichen Schlussfolgerungen, dass die Rückversicherung der Theorie keineswegs jene Objektivität verbürgt, die unisono behauptet wird. 130 KANDINSKY 1912a: 64. [Herv. i.O.]
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Verbindung der Künste und synästhetischer ‚Erziehung‘ des Rezipienten zu legitimieren. Wo es etwa unmöglich ist, eine innere Einheit hinter der Verschiedenheit der äußeren Materialien auszumachen (sie muss dem theoretischen Anspruch anheim gestellt bleiben), kann nachgewiesen werden, dass Der Gelbe Klang rezeptionsästhetische Implikationen aufweist und sie sogar in seinen Bühnenanweisungen reflektiert. Paul Pörtner verweist bereits 1969 auf die konstruktive Rolle des Publikums und auch Horst Denkler erkennt seine Relevanz,131 beide belassen es jedoch im Vagen einer individuellen Assoziationsleistung. Die Rolle des Zuschauers ist aber weit mehr als die des bloß Betrachtenden, der die Bühnenkomposition zu vervollständigen hätte. Er ist aktiver Bestandteil der Inszenierung, Zielpunkt aller intermaterialen Bemühungen und – das wird die nachfolgende Interpretation zeigen – in seiner Funktion als passiv Schauender, den es zu aktivieren gilt, selbst Thema des Stückes. Vor einer Untersuchung der Zuschauerfunktion und deren Ertrag für die Interpretation soll zunächst die kompositionelle Struktur und intermateriale Anlage des Stückes beleuchtet werden. In Anlehnung an die Diagramme von Gabriele Münter, Thomas von Hartmann und Kandinsky selbst 132 die eine Formalisierung des Stückes nach Farbe, Bewegung, Musik bzw. Gesang vorsehen, kann die Bühnenkomposition zunächst mithilfe von vier Kriterien differenziert werden: Material, Verwendung, Ordnung und Relation. Da das expressionistische Theater Kandinskys eine Absage an das Requisit darstellt, sind unter Material nicht nur jene Materialien zu verstehen, die traditionellerweise die Künste determinieren, sondern alle Bühnenelemente, die zum Einsatz kommen. Verwendung meint den Gebrauch eines Materials, das innerhalb eines Bildes eingeführt wird und in dessen Verlauf eine Veränderung erfährt. Ordnung betrifft das räumliche und zeitliche Arrangement aller Materialien und die Relation schließlich die qualitative Beziehung, die diese zueinander eingehen und damit die Frage ihres intermaterialen Verhältnisses als ein paralleles oder kontrastives. Da Kandinsky seine Bühnenkomposition explizit in eine Einleitung und sechs Bilder einteilt, sind es zunächst die einzelnen ‚Szenen‘, die es zu analysieren gilt, hiernach aber auch das Verhältnis der Bilder zueinander. 131 PÖRTNER 1969: 196; DENKLER 1967: 33. 132 Die Diagramme befinden sich im Pariser Kandinsky-Archiv des Musée National d’Art Moderne sowie in der Städtischen Galerie im Lenbachhaus, München, und sind bei Jessica Horsley ins Druckbild übertragen und abgebildet. Vgl. HORSLEY 2006: 452-456. Horsley selbst folgt in ihrer medienorientierten Analyse der Dreiteilung bei Kandinsky, Münter und Hartmann in Farbe, Musik und Bewegung. Insofern die drei Komponenten jedoch nicht der gleichen kategorialen Ebene zugehören – die Bewegung ist eine Qualität, die allen Materialien zukommen kann –, ist es ratsamer entgegen dem Notationsschema die hier entwickelte viergliedrige Analyse des formalen Aufbaus vorzunehmen.
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Die Einleitung beginnt noch vor der Aufblende des Vorhangs mit einem bereits beschriebenen Einspielen des Orchesters und ist das einzige Bild, das ganz aus abstrakten Formen besteht. Neben dem Orchester133 sind es Farb- und Weißlicht sowie der Chor, bei dem Kandinsky verlangt, dass die „Quelle des Gesanges nicht zu erkennen ist“134. Die Sprachfragmente sollen offenkundig nicht als angehängte Qualitäten, sondern als eigenständige Sinnkomplexe wahrgenommen werden, die einzig über die Art und Weise ihrer tonalen Darbietung beeinflusst sind. Bei der Verwendung der Materialien fällt die kontrastive Anlage auf. Sowohl die Lichtkonstellation mit dem Aufscheinen eines punktuellen Weißlichts während des Übergangs von weißlicher zu dunkelblauer Dämmerung als auch die hohen und tiefen Stimmlagen stellen in sich einen Gegensatz dar, der jedoch – das zeigt die Anordnung – schließlich aufgelöst wird. Stimmen und Licht brechen zum Ende der Exposition abrupt ab und überlassen dem Zuschauer in einer längeren Pause sich selbst – einer Pause, die bei Kandinsky immer positives Element der Inszenierung ist und notwendiger Teil des Wechsels von Geschehen und Nicht-Geschehen, das in der Forschung häufig in den Gegensatz von Sein und Nicht-Sein überhöht wird. Der Aufbau eines Gegensatzes, der sich schließlich auflöst, findet sich im Gesang wieder. Jutta Göricke, die diesen einer ausführlichen Analyse unterzieht und dessen „oxymorontische Formen“ bestimmt, deutet ihn als Konflikt zwischen dem Metaphysischem und Chthonischem, der sich in der dritten Strophe als „Antagonismus von Hoffnung und Ausweglosigkeit“ darstelle.135 Bleibt man allein bei der formalrhetorischen Gestaltung, so zeigt sich, dass das Schema zum Schluss durchbrochen wird, da mit der „dunkelste[n] Nacht“136 als letzter rhetorischer Figur eine Tautologie vorherrscht. Zwar ist der letzte Vers in sich selbst kontradiktorisch aufgebaut – „Grell leuchtender Schatten“137 steht der dunkelsten Nacht diametral gegenüber –, mit dem parallelen Verhältnis zum vorletzten Vers – „Finsteres Licht bei dem … sonnigsten … Tag“138 – wiederholt und verstärkt sich jedoch der pleonastische Versschluss. Bezieht man zudem das Zusammenklingen der hohen und tiefen Stimmen und den plötzlichen Einbruch der Dunkelheit mit ein, der in dem Moment 133 Aufgrund der nur fragmentarisch erhalten gebliebenen Partitur Thomas von Hartmanns ist eine Relationssetzung der Musik zur Inszenierung nur begrenzt möglich. Horsley, bei der die in der Yale University Music Library aufbewahrten Notenskizzen abgedruckt sind, macht zumindest in diesen Manuskripten einen „hohen Grad an Dissonanzen“ und eine „Art Bitonalität“ aus. HORSLEY 2006: 331. 134 KANDINSKY 1912d: 212. 135 GÖRICKE 1987: 122-124. 136 KANDINSKY 1912d: 213. 137 Ebd. 138 Ebd.
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stattfindet, wo der Gesang „schnell und plötzlich abhauend“139 abbricht, so kann man von einem Parallelismus der Bühnenmaterialien sprechen. Dieser vollzieht sich nicht im Sinne eines harmonischen Zusammenspiels, sondern indem die verschiedenen visuellen, akustischen und semantischen Elemente in ihrer jeweiligen Veränderung einander angeglichen werden. Die Einleitung ist somit in dem Sinne intermaterial, als die Entwicklung innerhalb der jeweiligen Materialverwendung vom Disharmonischen zum Harmonischen von allen Künsten gleichermaßen vollzogen wird. Wir haben es also mit einer parallelen Intermaterialität bzw. in der Terminologie Kandinskys mit einem ‚Mitklang‘ der Künste zu tun. Mit dem ersten Bild steigert sich der Komplexitätsgrad der Inszenierung, da nun mit den Riesen und vogelähnlichen Wesen konkrete Gestalten Einzug halten. Allerdings zielt die Aufführung selbst hauptsächlich auf deren abstrakte Farbform ab. So müssen die Riesen in ihrem grellgelben Anstrich ebenso als Farbeinheiten wahrgenommen werden wie die roten Wesen, die pinselstrichartig das Blickfeld des Zuschauers durchkreuzen. Tatsächlich will Kandinsky gerade diese Szene als Tableau verstanden wissen und lässt daher den Hintergrund „wie im Bild“140 schwarz rahmen, um dem Geschehen eine dreidimensionale Bildwirkung zu geben. Bei den Riesen kommt hinzu, dass sie als intermateriale Konglomerate gleich mehrere Materialeigenschaften verkörpern. Ihre exponierte Funktion für das Stück, die sich ursprünglich im Titel niederschlug – es sollte Die Riesen heißen –,141 zeigt sich in ihrer massiven körperlichen Präsenz sowie in ihrer dreifachen Rolle als Farbträger, bewegte/bewegende Materie und schließlich als Sänger. Die Relation der Materialien insgesamt variiert im ersten Bild zwischen Entsprechung und Kontrast. Korrespondenzen sind zwischen Farb- und Musikspiel auszumachen; so verlangt Kandinsky, dass der Hintergrundfarbwechsel „mit der Musik gleichzeitig“142 stattfinden solle, ebenso wie der Flug der roten Wesen „sich in der Musik ab[spiegeln]“143 möge. Stärker ist jedoch der Kontrast ausgestaltet. So verhält sich die schnelle Bewegung der kleinen Wesen mit menschenähnlichen Köpfen konträr zu den behäbigen Riesen, und die Anweisung: „Das Orchester kämpft mit dem Chor und besiegt ihn“144, nachdem es bereits die Riesen übertönen soll, deutet auf eine bewusst antagonistische Ordnung hin. Dabei kristallisiert sich ein Gestaltungsprinzip heraus, demzufolge sich Kontraste meist in einer zeitlichen Abfolge zwischen jenen Materialien vollziehen, die dem gleichen sinnlichen und/oder künstlerischen Bereich 139 Ebd. 140 Ebd.: 215. 141 Vgl. SCHOBER 1994: 131. 142 KANDINSKY 1912d: 215. 143 Ebd.: 216. 144 Ebd.
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zugeordnet sind – wie zwischen Gesang und Chor oder Vogelwesen und Riesen –, die Korrelationen aber meist zwischen verschiedenen Materialien geschehen – so wie in der Farb-Musik-Korrespondenz, die intermaterial parallel funktioniert. Zentraler Verknüpfungspunkt ist dabei das Prinzip der Veränderung. Die Gleichzeitigkeit der Differenz verschiedener Materialien will Kandinsky in der Äquivalenz des Nacheinanders dynamisieren. Anders als in der Einleitung findet dieses Spiel in Bild 1 keine schlagartige Auflösung, sondern wird ins Chimärenhafte des Nebels hineingetragen und so dem nächsten Bild übergeben. Mithilfe des Dunstes treten Bild 1 und 2 in einen engen Zusammenhang. Für die strukturelle, intermateriale Bestimmung ist wichtig, dass das Schema von Veränderung und Kontrastanalogie weiter durchgezogen wird. Alle eingeführten Bestandteile des zweiten Bildes erfahren eine Modifizierung, mit Ausnahme der gelben Blume, die zwar an einem Punkt heller wird, die Farbe jedoch nicht komplett ändert, wie es bei den anderen Farbformen der Fall ist. Angefangen aber vom Hügel, der sich ins Graue variiert, bis hin zum gesamten Bühnenbild, das mal mit rotem, mal blauem und grauem Licht ausgeleuchtet ist und damit auch die farblichen Gewänder der Menschen transformiert, sind alle Farbelemente einem Wechsel unterlegen. Gleiches gilt für die Bewegung (der Menschen, der Figuren und der Blume selbst), der in dieser Szenerie ein besonderer Stellenwert zukommt. So folgt das Verhalten der Menschen einem genauen Plan von Hin- und Abwendung von der Blume und – das ist ebenso entscheidend – einer Orientierung am Zuschauerraum. Die Musik hat die Funktion, die Diversität des Geschehens zusammenzuhalten, sie gibt also nicht bloß Antwort auf das visuelle Geschehen.145 Vielmehr ist das eingangs ausgetragene Crescendo, bei dem sich bereits die Töne h und a herauskristallisieren, dem Auftritt der Blume vorgelagert und bereitet diesen leitmotivisch vor. Mit der Angabe der Töne macht Kandinsky das einzige Mal im Stück konkrete musikalische Vorgaben. Die nur einen Ganztonschritt auseinander liegende Sekunde wird dadurch, dass sie in verschiedenen Tonlagen angeschlagen ist, gedehnt und in eine ausgeklügelte Relation zur arhythmischen Bewegungsfolge von Blatt und Blume gestellt: Später bei voller Stille schaukelt die Blume sehr langsam von rechts nach links. Noch später auch das Blatt, aber nicht zusammen. Noch später schaukeln beide in ungleichem Tempo. Dann wieder einzeln, wobei mit der Blumenbewegung ein sehr dünnes h klingt, mit der Blattbewegung – ein sehr tiefes a. Dann schaukeln wieder beide zusammen, und beide Töne klingen mit. Die Blume erzittert stark und bleibt unbeweglich. In der Musik klingen beide Töne weiter.146
145 Vgl. zu dieser Auffassung ELLER-RÜTER 1990: 71. 146 KANDINSKY 1912d: 219. [Herv. i.O.]
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Kandinsky versucht hier einen Mitklang, eine intermateriale Parallelisierung aufzubauen, hält diesen aber nicht vollständig durch, um eine eindeutige Kongruenz zu vermeiden. Offenkundig ist aber die Absicht, den Zuschauer synästhetisch zu konditionieren. Er soll auch dann an die Blume und ihr Bewegungsmuster erinnert sein, wenn ausschließlich die Töne zu hören sind bzw. diese dem Rezitativ „Wir schauen. Wir schauen.“ (h) und „Vorbei. Vorbei“ (a) zugeordnet werden.147 Nicht zuletzt der am dreifach unterschiedenen Gesang orientierte Wechsel der Bühnenausleuchtung zeigt, dass, wie in den vorherigen Szenen auch, hier eine analoge Wirkungsabsicht der eingesetzten Materialien vorherrscht. Der intermateriale Bezug wird durch eine äquivalente Verwendung der Künste hergestellt. Erst im folgenden Bild durchbricht Kandinsky dieses Prinzip. Bild 3 dominiert ein Farblichtspiel. Zwar treten die Riesen wieder in Erscheinung und leiten die Szene mit ihrem unverständlichen Geflüster und den Kopfdrehungen ein, doch spielen sie diesmal nur eine untergeordnete Rolle. Ebenso wie die zwei rotbraunen Felsen vor schwarzem Vorhang bilden sie die Hintergrundfolie, vor der sich dem Zuschauer die Lichtkomposition darbietet. Die Passivität und Statik der Riesen steht dabei im Gegensatz zur Vitalität des Lichts: „In schneller Abwechslung fallen von allen Seiten grellfarbige Strahlen (blau, rot, violett, grün wechseln mehrere Male). Dann treffen sich alle diese Strahlen in der Mitte, wodurch sie gemischt werden.“148 Die Differenz geht in eine Vereinigung über, aus der heraus sich – nach einem kurzen Intermezzo in schwarz – das Gelblicht gebiert. Im Vollzug einer weiteren Kontrastierung mit der Musik, die die Steigerung des Lichts ins Grellgelbe mit dem Übergang in tiefere Tonlagen beantwortet, geschieht eine Rekursivität des Stückes auf sich selbst. So sieht die Ordnung vor, dass der Zuschauer an dieser Stelle „keine Gegenstände“149 wahrnehmen kann, und infolgedessen auch die Riesen verschwinden: Die Bühne ist in ihrer kontrastiven Intermaterialität von Musik und Licht ganz gelber Klang. Bild 4 stellt in vielerlei Hinsicht eine Ausnahme dar. Es durchbricht geschickt die Ordnung des abstrakten Kompositionsprinzips und ist das einzige rein gegenständliche Bild, in dem die Elemente Bewegung, Musik und Licht auf ein Minimum reduziert sind. Durch die farbliche Gestaltung und die für das expressionistische Dekor typische Deformation der Kapelle erscheint das Bild traumartig verfremdet. Die statische Installation, bei der einzig das Ziehen an der Schnur und der Klang der Glocke Bewegung erzeugen, ist ebenso wie die anderen Bilder kontrastreich aufge147 Kandinsky ist an dieser Stelle von der Wagner’schen Leitmotivtechnik keineswegs so weit entfernt, wie er es in Über Bühnenkomposition theoretisch formuliert. Vgl. KANDINSKY
1912c: 195-198.
148 KANDINSKY 1912d: 222. 149 Ebd.: 223.
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baut. So sind Mädchen und Mann in Kleidung, Geschlecht, Statur und Verhalten diametral entgegengesetzt. Dabei sind sie zwar „auf derselben Linie“150 angeordnet und somit aufeinander bezogen, ihre Blickrichtung ist allerdings auf den Zuschauer gerichtet. Der stimmgewaltige Ausruf ‚Schweigen‘ ist demnach nicht nur gegen das Läuten der Glocke und in der Performanz auch gegen sich selbst gerichtet, sondern meint und mahnt letztlich das Publikum sich auf den nun folgenden Höhepunkt einzustimmen: Bild 4 präsentiert sich als die Ruhe vor dem Sturm. Bild 5 ist gewissermaßen die Fortsetzung des durch Bild 4 unterbrochenen Geschehens. So sieht die Bühnenanweisung explizit „dieselben“ Felsen und Riesen vor, die „wie im Bild 3“151 miteinander flüstern. Zugleich stellt es ein Konglomerat aller Materialien dar, die aus den anderen Bildern wieder aufgenommen, variiert und versatzstückartig kombiniert werden. In dem komplexen Arrangement agieren Chor, Orchester, Farblicht sowie Menschen als Bewegungs- und Farbeinheiten teils mit-, teils gegeneinander und hinterlassen den Eindruck eines „multimedialen Chaos“152, das jedoch einer genauen intermaterialen Choreographie folgt. Einzig die gelbe Blume erscheint nicht mehr, sie ist jedoch durch die Tonfolge a-h synästhetisch zitiert und durch die Riesen substituiert, die die gleiche Farbe tragen und „wie bei der gelben Blume“153 ein krampfartiges Zittern ihrer Körper erleiden. Für Bild 5 lässt sich insgesamt eine Zunahme in der Dynamisierung der Materialien erkennen: in Gestalt der Körper, des Lichtwechsels und im Ansteigen der Musik. Für die Gruppe der Menschen mit ihren gefärbten Haaren und Trikots gilt, dass sie zugleich als heterogen wie auch als Einheit begriffen werden müssen: „Die ganze Verteilung soll weder ‚schön‘ noch sehr bestimmt sein. Sie muß aber auch kein vollkommenes Durcheinander bilden.“ 154 Kandinsky will auch zu diesem Zeitpunkt noch kein Tohuwabohu erzeugen, auf das letztlich alles hinausläuft. Anstatt einer Verstreuung der Materialien konzentriert sich das Geschehen daher zunächst auf einen herausragenden Akteur, dessen Bewegung „manchmal mit der Musik zusammengeht und manchmal auseinander“155 . Was der temporäre Zusammenschluss mit der Musik bereits ankündigt, vollzieht sich letztlich in einer Vereinigung mit dem Licht. Sowohl die Blicke der anderen Figuren als auch die Lichtführung ist auf den am Boden Knienden gerichtet. Die Engführung von Körper und Licht geschieht dabei nicht nur für den ‚Auserwählten‘, sondern kommt allen Figuren zu, wobei nur er mithilfe des gelben Lichtes illuminiert wird. Wie immer diese Farbe auch auszudeu150 Ebd. 151 Ebd.: 225. 152 ELLER-RÜTER 1990: 78. 153 KANDINSKY 1912d: 225. 154 Ebd.: 226. [Herv. i.O.] 155 Ebd.
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ten sein mag, ihre besondere Stellung im Stück ist offenkundig und dementsprechend auch die desjenigen, dem sie zukommt. Die Ordnung als Einheit ist jedoch nur von kurzer Dauer. Mit dem plötzlichen Verschwinden der Farben beginnt ein Spektakel, bei dem die gesamte Bühne mit einbezogen ist: Allmählich ist alles in arhythmischer Bewegung. Im Orchester – ein Durcheinander. Der grelle Schrei des Bildes 3 wird hörbar. Die Riesen zittern. Verschiedene Lichter streifen die Bühne und kreuzen sich. Ganze Gruppen laufen von der Bühne. Es entsteht ein allgemeiner Tanz: er fängt an verschiedenen Stellen an und zerfließt allmählich, alle Menschen mitreißend. […] Manchmal sind es Gruppenbewegungen. Ganze Gruppen machen manchmal eine und dieselbe Bewegung. In dem Augenblicke, wo das größte Durcheinander im Orchester, in den Bewegungen und Beleuchtungen erreicht wird, wird es plötzlich dunkel und still.156
Die Verschiedenheit innerhalb der Materialverwendung potenziert sich durch den gleichzeitigen Einsatz aller Elemente. In Bild 5 finden somit beide zuvor eingeführten Prinzipien ihre Anwendung: das der intermaterialen Kongruenz und der intermaterialen Gegenbewegung.157 Sie sind zu einer Einheit der Differenz verschmolzen, die in dem Maße, wie sie den Zuschauer ganz einzunehmen versucht, nur eine flüchtige sein kann. Bild 6 steht, da es „so schnell wie möglich“158 erscheinen soll, in unmittelbarer Fortführung und enger Verbindung zum vorherigen, zumal der Zuschauer, der die Textvorlage nicht kennt, ohnehin nicht zwischen den bildinternen Pausen und jenen zwischen den Bildern unterscheiden kann. Die bloße Gegenwart nur eines der Riesen zeigt jedoch einen qualitativen Wechsel in der Bildkomposition an, die mit dem dunkelblauen Hintergrund – so Kandinskys Anweisung – an Bild 1 erinnern soll. Im Kontrast zum vorhergehenden aggressiven Durcheinander ist die Aktion auf zwei Bewegungen reduziert: auf das Anwachsen des Riesen und das gleichzeitige Anheben der Arme zur Kreuzform. Auf der formalen Ebene schließt das Stück mit einer Äquivalenz von optischem und akustischem Material, indem die körperliche Extension des Riesen bis zur gesamten Bühnenhöhe mit einer Ausdrucksteigerung der Musik einhergeht. Aufgrund der dominanten Kreuzsymbolik scheinen die zuvor noch als eigenständige Akteure eingesetzten Bühnenmaterialien abschließend zu bloßen Verstärkungsinstanzen reduziert, womit all jene sich im Recht fühlen, die dem Stück nicht nur zum Schluss, aber hier besonders eine exegetische Absicht unterstellen. 156 Ebd.: 228. [Herv. i.O.] 157 Ähnlich sieht das Jutta Göricke, die in der Terminologie Kandinskys davon spricht, dass in Bild 5 „Kräfte mit- und gegeneinander spielen“. GÖRICKE 1987: 129. 158 KANDINSKY 1912d: 229. [Herv. i.O.]
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Für eine Gesamtbewertung stellt sich die Frage, ob beim Gelben Klang überhaupt von einem Ende im klassischen Dramensinn gesprochen werden kann. Viele Interpretationen, die sich einer symbolischen Lesart verpflichten, sind einem Schematismus gefolgt, demzufolge das Ende als Auflösung zuvor aufgebauter Konflikte zu verstehen ist, und haben dem gesamten Stück damit rückwirkend eine Zielgerichtetheit attestiert. Das christliche Zentralsymbol von Tod und Wiedergeburt scheint zu eindeutig, als dass es nicht als bewusstes Zitat ein Ende signalisieren würde, das nicht nur ein Weiter verspricht, sondern notwendig auch einen Anfang voraussetzt. So deutet Lothar Schreyer – freilich stark der eigenen Theorie verpflichtet – den gesamten Verlauf des Gelben Klangs als Traum- und Lichtvision, was bei ihm zugleich die Neugeburt im göttlichen All-Einen meint und dementsprechend auf eine mystische Auslegung des Endes hinausläuft: „Nur durch die Kreuzigung des Lichtes wird das Leben offenbar.“159 Im Kontrast zu dieser positiven Wertung nimmt sich Richard Sheppards Interpretation genau gegenteilig aus, obwohl auch er mit den Kategorien von „violence, conflict and soul-searching“ 160 ein durchgängiges Thema identifiziert, das zum Schluss jedoch keineswegs seine Auflösung findet, sondern den „intense pessimism“161 des Stückes noch einmal bekräftigt. Am stärksten attestiert Claudia Emmert und in deren Folge Thomas Schober dem Gelben Klang eine durchgängige, das christlich-mythologische Formular entfaltende Bedeutung. So macht Emmert im Gelben Klang eine „freie Interpretation der Schöpfungsgeschichte“ aus, bei der am Anfang Chaos herrsche, sich sodann die Schaffung der Welt vollziehe und zum Schluss sich im Opfertod „die Offenbarung des heiligen Geistes“162 verkünde. Eine derartige Sichtweise muss zwangsläufig davon ausgehen, dass sich „ein roter Faden“163 durch das Stück spannt, wobei ein solcher Eindruck dadurch entstehen mag, dass alle Elemente, die in einem Bild eingeführt werden, im Verlauf einer Szene eine Veränderung erfahren. Damit ist die Bedingung eines narrativen Minimalschemas erfüllt, bei dem Zustand A eine Transformation erlebt und in Zustand B übergeht. Der Entwicklungsbogen wird dabei
159 SCHREYER 1948: 329. 160 SHEPPARD 1975: 175. 161 Ebd.: 176. 162 EMMERT 1998: 86-108, hier: 86, 107 . Vgl. ähnlich SCHOBER 2004: 349-367. 163 ELLER-RÜTER 1990: 77. In ihrer Studie handelt es sich beim ‚roten Faden‘ allerdings um die Durchgängigkeit eines formalen Gestaltungsschemas – nämlich das der Polarität – und nicht um eine inhaltliche Leitidee. Hier geht sie im Gegenteil davon aus, dass „Geschehnisbögen und Aktionsreihen“ (ebd.: 83) im Gelben Klang fehlen würden, ohne übrigens diese Formulierung als wortgenaue Entnahme von Horst Denkler zu kennzeichnen. Vgl. DENKLER 1967: 34.
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nicht bloß innerhalb eines Bildes aufgebaut und wieder geschlossen,164 sondern Figuren, Hintergrundgestaltungen und Tonfolgen werden bildübergreifend wieder aufgenommen und weitergeführt. Trotz dieser Kontinuitäten handelt es sich beim Gelben Klang aber um eine fragmentarisierte Bilder-, Material- und Assoziationsfolge, da die Wiederholungen nicht zu einer Kohärenzbildung beitragen. Gleiches gilt für das Spiel von Gegen- und Miteinander der Materialien, das ein Kausalitätsprinzip klar unterläuft; in Kandinskys Bühnenkomposition kommen die Materialien vielmehr in der Absicht einer suggestiven Reizstimulierung zum Einsatz. Die Materialien sind insofern auch keine Träger einer Handlung im klassischen Sinne, sondern – will man den Begriff beibehalten – Handlung und Bühnenmaterial fallen im Gelben Klang zusammen. Sinnprozession ist nicht auf eine Referentialisierung angewiesen, sondern benötigt einzig die Kriterien von Differenz und Wechsel. Beides erfolgt in Kandinskys Stück durch die Materialverwendung und -bewegung. Die Unterscheidung Emmerts, wonach sich der Einsatz abstrakter Elemente als Bewegung ohne Sinn darstellt und gegenständliche Elemente als zielgerichtet zu werten seien, ist vor diesem Hintergrund nicht haltbar.165 Es besteht hier kein qualitativer Unterschied, sondern Der Gelbe Klang tendiert aufgrund der abstrakten Wirkung von konkreten Materialien – sinnfällig besonders in der farblichen und formbezogenen Ausgestaltung der Figuren wie den roten Vogelwesen oder den vielfarbigen Menschen – zur Grenzverwischung dieser Unterscheidung. Darüber hinaus geschieht die Bewegung bei Kandinsky grundsätzlich nicht aufgrund einer Zielgerichtetheit, sondern um der Veränderung willen, d.h. in Bezug auf das zeitliche oder räumliche Vorher. Das stellt eine radikale Umkehr des traditionellen dramatischen Schemas dar mit dem Effekt, dass der Sinnbezug in diesem Selbstverweis, in der intermaterialen Bezugnahme und schließlich in der Gerichtetheit auf den Zuschauer begründet liegt. In Fortführung der bei Horst Denkler und Paul Pörtner angestoßenen Fokussierung des Zuschauers166 gilt es, die zentrale Funktion des Rezipienten und die damit einhergehende selbstreferentielle Thematisierung des Stückes stärker zu konturieren. So können in der Textvorlage nicht nur deskriptive und interpretatorische Re-
164 Vgl. GÖRICKE 1987: 130. 165 Vgl. EMMERT 1998: 111. 166 Auch Rose-Carol Washton Long sieht im „involving the audience“ ein wesentliches Kennzeichen des Gelben Klangs. WASHTON LONG 1980: 59. Washton Long verweist dabei auf Georg Fuchs’ Schrift Revolution des Theaters (1909), von der Kandinsky beeinflusst gewesen sei und die ebenfalls eine stärkere Involvierung des Zuschauers vorsehen würde. Vgl. ebd.: 61f.
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gieanweisungen,167 sondern eben auch rezeptionsästhetische ausgemacht werden, die weiter in die Subkategorien von direkt und indirekt zu differenzieren sind. Bereits die erstmalige Nennung des Zuschauers in Bild 1, bei der noch vor der szenischen Darstellung die Angabe „rechts und links vom Zuschauer“168 steht, zeigt, dass die Anordnung aus dessen Perspektive gedacht und auf ihn ausgerichtet ist. Dass dies nicht nur dem notwendigen Umstand geschuldet ist, für zukünftige Inszenierungen Orientierung zu bieten, sondern die Position des Zuschauers ständig präsent ist, beweist seine mehrmalige Nennung im gesamten Verlauf des Stückes. Insgesamt wird er vier Mal explizit angegeben,169 viel häufiger ist er implizit verhandelt. Abzulesen ist dies überall dort, wo sich das Geschehen vom hinteren Bühnenteil in den Vordergrund verlagert sowie in jenen Passagen, wo das Schauen selbst zum Thema gemacht ist. Letzteres geschieht vor allem in Bild 2, bei dem die gelbe Blume ihren Auftritt erhält. Von der Forschung als Heilmittel170, Vanitas-, Phallus-171 oder christliches Symbol172 ausgedeutet und offenkundig einen Zeugungsakt anzeigend, kann sie im Zusammenhang mit Kandinskys Vorliebe für die Illustration seiner Kunstsynthese in der Metapher einer Pflanze173 auf das intermateriale Szenario selbst bezogen werden. Der Metapher nach verbürgt die äußere Verschiedenheit der Blüten eine innere Einheit des Wurzelwerks, und in diesem Sinne muss die temporäre und fragile, dennoch aber – das ist entscheidend – in ihren Bestandteile unterscheidbare Einheit von Farbform und Musik in der gelben Blume verstanden werden. Als intermateriale Vereinigungsinstanz der äußerlich verschiedenen Bühnenmaterialien wird die Blume zur Repräsentantin des Stückes als solches. Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, die Reaktionen der Menschen auf sie genauer zu verfolgen, da sich in ihrem Verhalten möglicherweise jene Wirkungsabsicht wider167 Unter deskriptiv sind all jene Aussagen zu verstehen, in denen Kandinsky den Szenenverlauf neutral beschreibt; interpretatorisch sind dagegen diejenigen Passagen, in denen Kandinsky die Wirkungsweise, aber nicht den konkreten Vorgang angibt und zu einer wertenden, metaphorischen Sprechweise tendiert. Letzteres geschieht zumeist in Bezug auf die Musik, wie etwa im „Kampf“, der zwischen Chor und Orchester in Bild 1 ausgetragen werden soll, oder in der Gegenbewegung von Licht und Musik in Bild 3, die an „das Hineindrücken einer Schnecke in ihre Muschel“ erinnern soll. KANDINSKY 1912d: 216, 223. 168 Ebd.: 215. 169 Vgl. ebd.: 215, 224, 225 (2x). 170 ELLER-RÜTER 1990: 75. 171 Vgl. GÖRICKE 1987: 126. 172 EMMERT 1998: 97. Emmert identifiziert die Blume als eine Distel, die in der christlichen Ikonographie für das Leiden Christi und die Vertreibung aus dem Paradies stehe. 173 Vgl. ZIMMERMANN 2002: 431.
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spiegelt, die die Blume und damit Der gelbe Klang insgesamt bezwecken möchte. Als Träger von weißen, d.h. zunächst neutralen Blumen, die später von der ‚MutterBlume‘ befruchtet werden, sowie verschiedenfarbiger Gewänder bilden die Menschen eine heterogene Einheit, die sich durch das mal kollektive, mal einzelne Vortragen des Rezitativs intensiviert. Als zweite sprachliche Einheit der Bühnenkomposition stellt es sich als Kommunikat zwischen Figuren und Zuschauer dar. Sein Text lautet: ‚Die Blumen bedecken alles, bedecken alles, bedecken alles. Schließ die Augen! Schließ die Augen! Wir schauen. Wir schauen. Bedecken mit Unschuld Empfängnis. Öffne die Augen! Öffne die Augen! Vorbei. Vorbei.‘174
Neben der sexuellen Anspielung ist die Visualität das bestimmende Thema des Rezitativs, obwohl es vorgibt, nur Modus des eigentlichen Geschehens zu sein. Die Aufforderung „Schließ die Augen!“ ist nicht nur der inneren Schau verpflichtet, die im expressionistischen Kontext Vorrang vor dem tatsächlichen Sehen genießt, sondern kann ebenso als appellativer Sprechakt an den Zuschauer gewertet werden.175 Der soll sich einem ekstatisch-orgiastischen Geschehen hingeben, das es innerlich mitzuerleben gilt und nicht bloß teilnahmslos betrachtet werden soll. Zwar ist die Lichtgestaltung der Szene auf eine real-optische Wahrnehmung angewiesen, doch die vorher vorgenommen Zuordnung der Tonfolge a-h mit der arhythmischen Bewegung der Blume, also die Zitation des Visuellen im Akustischen, macht es nicht unbedingt nötig, dass der Zuschauer offenen Auges folgt. Zudem sind die Blumen, die alles bedecken, im Bild nicht realisiert und obliegen also der Imaginationskraft. Hinsichtlich dieser Passage verhalten sich die Menschen souverän gegenüber dem Zuschauer. Sie sind es, die schauen, nicht er. Die Relation erschöpft sich jedoch nicht in dieser Zuordnung, sondern ist komplexer gestaltet. So sind die Menschen auf der Bühne selbst Zuschauer, und damit potenziert sich die Beobachtungsszenerie. Das Blickarrangement ist dabei einerseits konfrontatorisch – in der Hinwendung zum Publikum – und andererseits parallel ausgestaltet, indem dessen Blickrichtung aufgegriffen, verlängert und auf den Hügel mit der gelben Blume und den kleinen Figürchen – eine weitere Verdoppelung – hin konzentriert wird. Der von Jessica Horsley richtig beobachtete Zusammenhang von Schauen und Stillstand der Bewegung – der im Übrigen immer dann statt hat, wenn die Figuren die Blick174 KANDINSKY 1912d: 219. 175 Vgl. WASHTON LONG 1980: 59.
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richtung des Publikums verlängern – kann als bewusstes Gestaltungsinstrument gewertet werden, mit dem das Stück die Bedingungen seiner eigenen Rezeption verhandelt.176 Der gelbe Klang soll durch die Demonstration der Statik ein Bewusstsein beim Zuschauer über seine eigene Funktion schaffen, um dessen Passivität zu durchbrechen, und nutzt dafür auch die Bewegungsabläufe im Verhältnis zur räumlichen Ausdehnung der Bühne. Zwar verwenden auch andere Theaterformen den gesamten Bühnenraum, doch die Hinwendung der Menschen zur Vorderbühne bei gleichzeitigem Betrachten der Blume äußert sich im Gelben Klang gewissermaßen als Zuflucht zum Zuschauer und demonstriert damit jene Betroffenheit, die das Stück beim Publikum erzeugen soll. Die Menschen machen den Zuschauer zu einem Verbündeten, indem sie nicht nur Teil des Geschehens sind, sondern zugleich auch Beobachtungsinstanz. Umgekehrt soll Der gelbe Klang Gleiches für den Zuschauer erreichen, auf den Letzteres in jedem Fall zutrifft und Ersteres zutreffen soll. Seine Verstärkung erfährt diese Intention in Bild 5. An dessen Beginn steht eine direkte Konfrontation der Riesen mit dem Publikum, die durch keine Zwischeninstanz mehr verstellt ist: Hier und da streckt einer [der Riesen, C.K.] die Arme auseinander (auch diese Bewegung muß mehr nur eine Andeutung sein) und legt etwas den Kopf auf die Seite, auf die Zuschauer schauend. Zweimal lassen alle Riesen die Arme plötzlich hängen, werden etwas größer und schauen ohne jede Bewegung auf die Zuschauer. Dann geht eine Art Krampf durch ihre Körper (wie bei der gelben Blume), und sie flüstern wieder, hier und da die Arme schwach und wie klagend ausstreckend.177
Die zweimalige explizite Benennung des Zuschauers zeigt an, dass der in Bild 3 vollzogene Akt von Zeugung und Empfängnis nun unmittelbar auf ihn gerichtet ist. Der Parallelismus der gelben Blume zu den Riesen und die Extension des Wirkungsbereichs auf das Publikum ist hier offensichtlich, nicht nur wegen des Zitterns, sondern auch weil die Bewegungen der Arme an jene des Blattes erinnern. Die gesamte Bühne wird zum Hügel und der Zuschauer sieht sich in jene Rolle versetzt, die zuvor durch die Menschen eingenommen war, deren weiße Blumen zwischenzeitlich gelb erschienen, die also sinnbildlich befruchtet wurden und das Stück in Gestalt der Blume multiplizierten. Ebenso wie sich die Menschen schließlich „von der Starrheit mit Gewalt befreien“178, ist dies nun auch die Zielvorgabe für das Publikum. Die so erzeugte Stimmung bildet die Voraussetzung für das bevorstehende intermateriale Szenario, das seine volle disharmonische Kraft entfalten 176 Vgl. HORSLEY 2006: 319. 177 KANDINSKY 1912d: 225f. [Herv. C.K.] 178 Ebd.: 221.
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kann, indem es sich die komplette Aufmerksamkeit gesichert weiß und in der Kombination aller Bühnenmaterialien den gesamten Sinnesapparat beansprucht. Durch die assoziative Verknüpfung der Bilder, den Zusammenhang der Szenen qua formaler Gestaltung, wird klar, dass dieses Szenario gleichzeitig sich selbst und den Rezipienten meint. Vor diesem Hintergrund ergibt sich auch für das Schlussbild ein ganz anderer Interpretationsrahmen. Die meisten Forschungspositionen stützen sich einzig auf die Symbolik des Kreuzes, nicht aber auf die Art und Weise ihrer Erzeugung. Ohne Zweifel ruft die Form christliche Assoziationen ab, zugleich muss jedoch die massive Ausdehnung betrachtet werden, die mit dessen Erscheinen einhergeht. So sieht die Anweisung Kandinskys vor, dass der mittig positionierte Riese „die ganze Höhe der Bühne“179 einnimmt und damit eine nachdrückliche Präsenz erhält, bei der alles zur Farbform wird. Ob die Farbe Gelb dabei tatsächlich jene zwei Bewegungen vollzieht, die Kandinsky ihr in Über das Geistige in der Kunst zuschreibt, nämlich „das Streben zum Menschen“ und „das Springen über die Grenze, das Zerstreuen der Kraft in die Umgebung“180 , ist dabei unerheblich. Allein die den ganzen Bühnenraum einnehmende Präsenz erzeugt einen Effekt, wie ihn später etwa die Bilder Barnett Newmans nutzen, nämlich ein Changieren zwischen Aggression und Erhabenheit, das den Betrachter ganz für das Bild einnimmt. Zudem wird häufig übersehen, dass auch die „großen, runden, schwarzen Augen“181 ins Überdimensionale anwachsen und damit ein unmittelbarer ‚Blickkontakt‘ zwischen Bühnenkomposition und Publikum hergestellt ist. Das Schlussbild stellt die Vereinigung des Stückes mit dem Zuschauer dar, der aus der Aufführung nicht entlassen werden soll, ohne die Ahnung einer Neugeburt, einer sakralen Weihe durch die Kunst empfangen zu haben. Die eindrückliche materiale Präsenz der Farbkreuzform zielt so zum Ende auf ein spirituelles Erleben. Angefangen von der gelben Blume und den Riesen als personifizierte Substitute des Stückes bis hin zu den wiederkehrenden Prinzipen in der materialen Engführung und den szenischen Gestaltungsverfahren durchzieht das Stück ein Bedeutungsgefüge, das keine wie auch immer geartete Handlung chiffriert, sondern die Kunst in ihrer Wirkung maximieren soll, indem sie den Zuschauer in die Komposition einschreibt und zu einem integralen Bestandteil macht. Bezeichnend ist dabei, dass Kandinsky das Geschehen nicht tatsächlich in den Zuschauerraum verlegt, sondern über den Glauben an die Zweckgerichtetheit und innere Notwendigkeit eine energetische Bündelung der eingesetzten Materialien vorsieht, die von sich aus den Bühnengraben überschreiten soll. Diese Ambivalenz kennzeichnet grundsätzlich 179 Ebd. 180 KANDINSKY 1912a: 91. 181 KANDINSKY 1912d: 229.
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auch den Zusammenhang der Künste selbst. Paradigmatisch stehen hierfür zwei konträre Einschätzungen, von denen eine davon ausgeht, dass „[d]ie unklaren Grenzen der einzelnen Elemente [Farbe, Bewegung, Ton, C.K.] einen Teil des Versuches [bilden], in der Bühnenkomposition eine Synthese zu schaffen“182, während die andere meint: „the stage elements—music, color, light, movement, dance and text— exist independently of […] one another”183. Beides trifft zu. Kandinskys intermateriale Synthese von Oper, Rezitation, Schau- und Lichtspiel, Ballett und Bildraum lässt die so genannten Einzelkünste materialiter erkennbar bleiben. Zugleich zeigt sich darin eine Performanz dessen, was Kunst als solche determiniert: ein Verweisungszusammenhang von Selbst- und Fremdbezug. Dabei realisiert Kandinsky verschiedene Grade der intermaterialen Verhältnissetzung, die – wie gezeigt – mal kontrastiv, mal parallel verlaufen, material aber immer aufeinander rekurrieren. Der gelbe Klang überschreitet weniger die Grenzen, vielmehr vermeidet er es, sie eindeutig zu ziehen, da im Hinblick auf den Einsatz der Materialien unentschieden bleiben muss, welches das dominante ist, dem die anderen untergeordnet sind. Ob es etwa der Darsteller bzw. der Gegenstand, dessen Form, die farbliche Gestaltung, die Musik oder die Lichtwahl ist, die in einer Szene das Eigentliche darstellt, dem die anderen Künste als Qualitäten untergeordnet werden, verwischt in dem Maße, wie die Komponenten als solche wahrnehmbar bleiben. Im Gelben Klang hat somit alles seine Notwendigkeit aufgrund der Logik einer heterogenen Gemeinsamkeit und einheitlichen Diversität.
S AKRALER S PIELGANG . L OTHAR S CHREYERS „K REUZIGUNG “ Während Die glückliche Hand erst 1924 ihre Premiere feiert und Der gelbe Klang zu Lebzeiten Kandinskys überhaupt nicht inszeniert wird, ist Lothar Schreyers Bühnenkonzeption ohne die Performanz der Aufführung nicht zu denken. Als Leiter der „Kampf-Bühne“ in Hamburg (1919-1921) und der Bühne am Bauhaus in Weimar (1921-1923) kann er seine Ideen zur Vereinigung der Bühnenmaterialien anhand selbst verfasster Stücke umsetzen. Fast alle davon sind als so genannte Spielgänge erhalten, wobei die meisten über die intermaterialen Aufführungspraktiken nur in Form von verbalisierten Bühnenanweisungen Auskunft geben. Eine Ausnahme bildet der Spielgang zur Bühnenkomposition Kreuzigung, die am 12. April 1920 in der Aula der Staatlichen Kunstgewerbeschule am Lerchenfeld in Hamburg ihre Uraufführung feiert. Für sie fertigt Schreyer eine Partitur an, die von der Into182 HORSLEY 2006: 309. 183 FUHR 1982: 224.
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nation des Rezitativs bis zu den Bewegungsfolgen der Darsteller die einstudierte intermateriale Choreographie exakt fixiert und hierfür ein eigenes graphisches Zeichensystem entwickelt. Der Spielgang, der sich als freie Variation auf die Leidensgeschichte Christi präsentiert, besteht aus 77 kolorierten Blättern und liegt in zwei Auflagen (beide 1920) vor. Während von der zweiten 500 Exemplare erschienen, wurden von der ersten handbemalten Auflage nur 25 Exemplare angefertigt. Die erste Nummer, von Schreyer, Max Billert und Max Olderock in der SturmWerkstatt bearbeitet und handsigniert, ist im Besitz der Bibliothek der Hamburger Kunsthalle und bildet die Grundlage für die folgende Analyse. Thema des Stückes ist das menschliche Leben verstanden als ein Leidensweg, das nur in der Überwindung irdischer Zwänge im Geistigen seine Erlösung finden kann. Auch hier geht es folglich um das Spannungsverhältnis von Körperlichkeit und Spiritualität. Anhand dreier in Ganzkörpermasken agierender Figuren, der Mutter, der Geliebten und des Mannes, wird das menschliche Schicksal auf eine mystische Kreuzigungs- und Wiederauferstehungsszene hin angelegt, in der sich eine Vereinigung mit dem Göttlichen vollzieht. Das Stück beginnt mit einer Exposition der typisierten Figuren, die Sexualität (Geliebte), Gebären (Mutter), Tatkraft und Gewalt (Mann) repräsentieren, erfährt in Tod und Auferstehung („Mann: ‚Das Kreuz ist leer‘ // Mutter Geliebte: ‚Gott ist tot‘“184) sowie der unio mystica („Mann: ‚Licht / Sein / Alllicht / Allsein / Allwir Allnichts / Allich‘“185 ) ihren Höhepunkt und endet mit einem Leidensbekenntnis („Geliebte: ‚Kreuz kreuzt uns‘ / Mutter: ‚Ich leide‘“186 ), das auf den Beginn des Stückes zurückweist. Kreuzigung kennzeichnet demnach – wie Schönbergs Glückliche Hand – eine zyklische Struktur, d.h. die Erlösung vom Leiden ist nicht dauerhaft, sondern als ein unendlicher, immer wieder anzustrebender Prozess konzeptualisiert, der etwa durch das Kunsterlebnis als „gemeinsame Schau“187 erreicht werden kann. In seiner Inszenierungsweise stellt Kreuzigung dasjenige Stück des abstrakten Theaterexpressionismus dar, das am stärksten mit Reduktionen und Formalismen arbeitet. So sind die Bühnenmaterialien auf bestimmte Farbformen, Bewegungsabläufe, Tonlagen und Sprachsegmente beschränkt, die auf eine exakt festgelegte Weise miteinander interagieren. In dieser Korrelation sind es die Materialwerte und -eigenschaften, die zutage treten und Ausdruck des Geistigen sein sollen. Besonders die von Schreyer zum ersten Mal eingesetzten Ganzkörpermasken lassen die Akteure als endindividualisierte Farbformen erscheinen, die in ihren Bewegungsfolgen und Sprechweisen Konglomerate der verschiedenen Bühnenmittel sind und den intermaterialen Nukleus des 184 SCHREYER 1920a: 45f. 185 Ebd.: 57. 186 Ebd.: 73. 187 Ebd.: 2.
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Stückes bilden (vgl. Abb. 39 und 40). Bedingt durch die Masken ist der Aktionsradius auf Armbewegungen (besonders zur Kreuzform), Knien, Aufstehen oder Drehen eingeschränkt. Als Standorte der Farbformen gibt Schreyer nur fünf im Abstand von jeweils einem Meter entfernte Positionen an, die zu Beginn des Stückes eingenommen, während der Aufführung nur selten verändert und zum Schluss wieder verlassen werden. Einher gehen die Bewegungsfolgen mit dem für Schreyers Inszenierungsstil charakteristischen Klangsprechen, das jedem Wort eine eigene Intonationsweise zuteilt. Schreyer sieht hierfür verschiedene Tonlagen (sehr hoch, hoch, Mittellage, Geräuschton, tief, sehr tief) und Intensitätsgrade (sehr stark, mittelstark, stark, leise bis sehr leise, ganz leise) vor, die mit jedem Einzelwort oder jeder als Sinneinheit begriffenen Wortfolge neu kombiniert werden. Der Sprechtext, das ‚Wortwerk‘ der Bühnenkomposition, zeichnet sich ebenfalls durch einen Reduktionismus aus und beruht auf der im Umfeld des Sturm-Kreises von August Stramm und Rudolf Blümner entwickelten Wortkunsttheorie. Schreyer selbst formuliert in
Abbildungen 39 und 40: Entwürfe der Ganzkörpermasken ‚Mann‘, ‚Geliebte‘ und ‚Mutter‘ aus Lothar Schreyers Spielgang Kreuzigung (1920)
seinem Artikel Expressionistische Dichtung (1918) zwei wesentliche Kriterien für die Literaturproduktion: Konzentration und Dezentration.188 So werden Begriffe auf Wortstämme reduziert (Konzentration) und unter Auslassung von Konjunktionen zu Assoziationsfolgen verbunden, in denen bestimmte Worte über mehrere Begriffe variieren (Dezentration): „Wir wandern traumwandern Nachtwandern weit“ 189 . Auch die vorgesehene Bühneninstallation folgt dem Prinzip der Verknappung (vgl. Abb. 41). In ihren Ausmaßen misst sie 2,50 x 5 m und weist eine Höhe von 1,50 m auf. Auf der linken Seite dient eine Treppe als Auf- und Abstieg für die Darsteller, von rechts leuchtet eine gelbe Lichtquelle die Spielfläche aus. Die Bühne befindet 188 Vgl. SCHREYER 1918: 90-93. 189 SCHREYER 1920a: 15.
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sich als Podium in der Mitte des Theaterraums und kann damit von allen Seiten mit Zuschauern umgeben werden, was die topographische Voraussetzung für die konzentrische Meditation und das geistige Gesamterlebnis sein soll. All diese Inszenierungsanweisungen hält die Graphik des Spielgangs als intermateriale Choreographie fest. Schreyers Motivation, sie zu zeichnen und zu kolorieren, resultiert aus seinen gesamtkünstlerischen Ansprüchen und steht unter der Prämisse, der Nachwelt einen Eindruck davon zu geben, welche Gestaltungsprinzipien dem eigenen Theaterverständnis zugrunde liegen. In der „malerisch sinngemäße[n] Entsprechung des Spiels“190 erscheint Kreuzigung als ein Spielgang, der im Gegensatz zur klassischen Dramenvorlage und den darin sporadisch enthaltenen Regieanweisungen gewissermaßen ausschließlich Bühnenanweisung ist. Auf dem zweiten Blatt heißt es: Der Leser des Spielgangs wisse: Die Schöpfung des Spielgangs und seiner Zeichen hat für die Bühnenkunst die gleiche Bedeutung wie die Schöpfung des Notensystems und der Noten für die Musik / Lesen kann den Spielgang jeder / der in sich den Wortton hören und die bewegte Farbform sehen kann.191
Dem Leser ist damit die Aufgabe gestellt, den zwangsläufigen Verlust von physischer Präsenz im Notationssystem zu kompensieren und das Kunstwerk, zumindest
Abbildung 41: Bühnenentwurf zu Lothar Schreyers Kreuzigung (1920)
190 SCHREYER 1956: 31. 191 SCHREYER 1920a: 2.
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imaginär, auf die Bühne zu übertragen. Um dies zu gewährleisten finden alle Bühnenmaterialien eine semiotische Entsprechung in einem von Schreyer selbst entwickelten Zeichensystem. Trotz der bloß graphischen Darstellung gilt daher auch für die Form des Spielgangs die Vorstellung von der Einheit der Künste. Im Rückblick urteilt Schreyer: „Im Spielgang war das Werk nicht als ein Nebeneinander der verschiedensten Künste gegeben, sondern als ein eigenes einziges Werk, ein einheitlicher Organismus aus Wort, Klang, Farbform und Bewegung komponiert.“192 Diese an früherer Stelle als intermateriales Monomedium beschriebene Konzeption193 findet in der spezifischen Gestaltung des Spielgangs ihren Niederschlag. Eingeteilt in Takte sind die auf der Bühne gleichzeitig ablaufenden Sprech- und Bewegungshandlungen in ein räumliches Untereinander übersetzt (vgl. Abb. 42). Insgesamt verbinden die Takte drei Ausdrucks- bzw. Aktionsmodi: die Wortreihe, die Tonreihe und die Bewegungsreihe. Durch die graphische Codierung ergibt sich so der Eindruck eines orchestralen Ganzen, bei dem zwar nicht alle Künste mithilfe ihrer eigenen Materialien dargestellt sind, aber doch in ihrer genauen Relation, die Schreyer als die materiale Äußerlichkeit des Bühnenwerks versteht: „Die äußere Gestalt [des Bühnenwerks, C.K.] ist das Verhältnis der Kunstmittel zueinander.“194
Abbildung 42: Beginn des Rezitativs aus Lothar Schreyers Kreuzigung (1920)
192 SCHREYER 1956: 23. 193 Vgl. das Kapitel ‚Unio mystica artium. Lothar Schreyer und die Vision des Bühnenkunstwerks als intermateriales Monomedium‘. 194 SCHREYER 1916/17: 50.
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Vor diesem Hintergrund ergeben sich zwei Perspektiven auf den Spielgang: Einerseits lässt sich daran die intermateriale Verbindung der Grundformen, -farben, -töne und -bewegungen rekonstruieren, wie sie Schreyer für die Inszenierung vorsieht, andererseits gerät der Spielgang mit seiner eigenwilligen Typographie selbst in den Fokus des intermaterialen Interesses: als Text-Bild-Komplex in Gestalt eines musikalischen Notationssystems. Um als solches überhaupt gelesen werden zu können, ist der eigentlichen Partitur ein Zeichenschlüssel vorangestellt (vgl. Abb. 43). Neben den Schriftzeichen der Wort- und der Bewegungsreihe lassen sich dabei im Sinne Charles S. Peirce Icon-Zeichen und Symbol-Zeichen unterscheiden. Am häufigsten sind die von Schreyer frei erfundenen Symbole. Dies gilt für die Tonreihe, die den Rhythmus und die Tonhöhe mit Zickzacklinien angibt, die Tonstärke,
Abbildung 43: Zeichenkonkordanz zu Lothar Schreyers Spielgang Kreuzigung (1920)
die durch Klammern angezeigt wird, die Pausen mit ihren zwei ineinander verschränkten Kreisformen und nicht zuletzt die Symbole für die Ganzkörpermasken der Figuren. Hier sind ein runder Kreis der Mutter zugeordnet, zwei kleine rote Kreise der Geliebten und die rote Kreuzform dem Mann. Letzteres fungiert indes als Icon-Zeichen, weil es nicht nur punktuell auf die Masken rekurriert wie bei den weiblichen Figuren, sondern die Maske als Ganze in einer Ähnlichkeitsbeziehung repräsentiert. Beiden Zeichentypen gemeinsam ist die Wirkung materialer Präsenz. Auch wenn Schreyer sich einen kontemplativen Leser wünscht, der das reale Büh-
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nengeschehen imaginiert, lässt die willkürlich festgelegte Zeichenzuordnung keinen einfachen Verweis zu. Der Spielgang wird so als eigenständiges Kunstgebilde in seiner Materialität einsichtig. Betrachtet man zudem die Anordnung der Takte in Form zweier untereinander verlaufenden Querbalken, so lässt sich die Charakteristik des Spielgangs mit dem Jakobson’schen Achsenmodell erläutern. Die Korrespondenz bildlicher und skripturaler Formen erfolgt über eine vertikale Koordination zu einem Paradigma, das in eine syntagmatische Folge von zumeist vier Takten pro Blatt gebracht ist. Durch diese Anordnung erlangt die einzelne Aktion eine nachdrückliche Gewichtung. Ebenso wie der Text des Spielgangs mit syntaktischen Regeln bricht und über die Intonation das einzelne Wort betont, isoliert die Taktung die einzelne Kombination der Bühnenmaterialien. Jeder Takt formt somit ein intermateriales Paradigma, das eine Ähnlichkeitsbeziehung von Wort, Tonlage, Bewegung und Farbe herstellt. Dass diese Zuordnungen in höchstem Maße willkürlich sind,195 ändert nichts an der Tatsache, dass wir es mit einer semiotischen Komplexität zu tun haben, die genau die Wirkungsweise intermaterialer Kunst veranschaulichen kann. In ihrem wechselseitigen Verweis erzeugen die zum Einsatz kommenden Materialien eine ästhetische Dichte, die die Funktion künstlerischer Materialverwendung potenziert. Wie eine derartige Interaktion bei Schreyer auf der Bühne konkret aussieht, kann anhand der zentralen Auferstehungsszene gezeigt werden, bei der alle drei Sprecher zu einer vokalen Einheit gelangen (vgl. Abb. 44). Gemeinsam rezitieren Mutter, Geliebte und Mann dreimal hintereinander das Wort „Heiland“. An der Zeichenkonkordanz lässt sich ablesen, dass der Sprechgesang sehr hoch und ganz leise vorzutragen ist. Zusammen sollen alle Figuren dabei in die Knie gehen und ihre Arme ausstrecken, um nach zwei Bewegungspausen wieder aufzustehen und dann mit waagerecht vorgestreckten Armen aufeinander zuzugehen. In der Figurenkonstellation vollzieht sich damit eine Vereinigungsgeste, die insgesamt das thematische und formale Prinzip des Spielgangs darstellt. Die Anrufung des Heilands, der mit der Kreuzigung das endliche Dasein überwindet und in das ‚Reich des Geistigen‘ eintritt, zeigt genau jene Wirkung an, die mithilfe der Vereinigung des Bühnenmaterials erzielt werden soll. Der Zusammenschluss der Materialien geschieht unter dem Signum, dass ihre äußere Verschiedenheit sich zu einer Wirkungsabsicht verdichtet und damit einen Einblick in jenes „Allsein“196 gewährt, das der Mann im Anschluss an die Heiland-Szene ausruft. „Jede Kunstgestalt kündet“, so Schreyers Credo 1921 im Sturm, „daß das Viele der gegensätzlichen Kunstmittel eine Einheit finden kann, daß alle Gegensätzlichkeit zu lösen ist.“197 In der Bühnenkomposition 195 Vgl. WASSERKA 1965: 117. 196 SCHREYER 1920a: 57. 197 SCHREYER 1921: 117.
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ist diese Vielheit durch die verschiedenen zum Einsatz kommenden Materialien per se gegeben. Ihre einheitliche Wirkung erzielt Schreyer in der ausgewählten Szene durch eine parallele Intermaterialität. Allerdings werden Bewegung, Geste, Wort, Intonation und Farbform von Schreyer in jeder einzelnen Aktion neu kombiniert, so dass wir es insgesamt mit einem Wechsel von paralleler und kontrastiver Intermaterialität zu tun haben. Es gibt demnach keine Ordnung, kein starres Schema der Verhältnissetzung, nach dem etwa einer bestimmten Drehung der Figuren immer die gleiche Tonhöhe zugewiesen wäre, vielmehr sollen die materialen Äußerlichkeiten betont und in ein syntagmatisches Ganzes überführt werden, das das Zuschauerkollektiv im Sinne einer mystischen Schau nachempfinden kann. Dass dies eine Bereitschaft beim Zuschauer voraussetzt, ist selbstredend, weshalb die Satzungen
Abbildung 44: Partitur zur Auferstehungsszene aus Lothar Schreyers Spielgang Kreuzigung (1920)
der „Sturm-Bühne“ auch nur ein ausgewähltes Publikum bei den Aufführungen erlauben. Ähnlich wie beim Künstlerkreis um Stefan George wenige Jahre zuvor steht dahinter das Selbstverständnis eines exklusiven kultischen Bundes der Eingeweihten. Ungeachtet dieser Rahmenbedingungen lassen sich im Verhältnis der Künste weitere Besonderheiten aufzeigen. So ist bei Schreyer eine Hierarchie erkennbar, an deren Spitze die Sprache steht. „Für mich“, resümiert er in seinen Erinnerungen an Sturm und Bauhaus (1956), „stand das Wort als beherrschendes Ele-
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ment im Bühnenkunstwerk.“198 Der Grund für diese „Suprematie des Wortes“199 liegt an der mystischen Grundlegung des Schreyer’schen Theaters. Das Wort ist für den Dichter und Regisseur Ausdruck eines gedachten Inneren und damit – im Sinne der Ästhetik Hegels – dem Geistigen näher als alle anderen Bühnenmaterialien. Trotzdem kann die Sprache für sich allein nicht jene Vielfalt des irdischen Lebens abbilden, für die die Bühne bei Schreyer sinnbildlich steht. Dies gelingt erst in einer Kongruenz aller zum Einsatz kommenden Raum- und Zeitkünste. Deren Verhältnis erweist sich als ein asymmetrisches, da es um keine harmonische Entsprechung geht, sondern um ein Aufzeigen der äußeren Diversität, die sich in einer höheren Einheit auflösen soll. Mit diesen Merkmalen steht Schreyers Spielgang Kreuzigung am Ende einer Entwicklung im Theaterexpressionismus, die den Handlungsradius und die logische Sinnstruktur zugunsten einer Verselbstständigung der Bühnenmaterialien einschränkt und diese an eine religiöse Intention anbindet. Schreyers Bühnenarbeit steht für eine reduktionistische Theaterästhetik, die das Material verabsolutiert und zugleich – mithilfe der intermaterialen Verbindung – auf dessen Überwindung abzielt. Mit der graphischen Gestaltung des Spielgangs findet Schreyer zudem einen besonderen Modus der Aufzeichnung, der als semiotischer Komplex Modell steht für die intermateriale Anlage der meisten abstrakten Bühnenkompositionen des Expressionismus, da er sichtbar macht, wie exakt die Materialien aufeinander rekurrieren und damit das Kunstgebilde nach außen abgrenzen und nach innen verdichten.
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Während die meisten intermaterialen Bühnenkompositionen des Expressionismus in den Kanon der Theatergeschichte eingegangen sind, gibt es durchaus noch Dramatiker zu entdecken, die eine Konvergenz der Künste anstreben. Zu diesen Autoren zählt Alfred Brust. Wie Horst Denkler in seiner Untersuchung der Briefkorrespondenz nachweist, muss dessen Verhältnis zum Expressionismus indes als ambivalent bewertet werden. Einerseits ist Brust das populäre Schlagwort suspekt, zugleich will er aber an der Speerspitze der zeitgenössischen Literaturbewegung teilhaben.200 198 SCHREYER 1956: 22; vgl. auch SCHREYER 1926: 195, wo er dem „Menschenwort die Führung“ zuspricht und SCHREYER 1948: 397. Dort heißt es: „Der Kern jedes Spielgangs ist das Wortkunstwerk.“ 199 FORNOFF 2004: 450. 200 Brust bemüht sich deshalb um eine Aufnahme in den expressionistischen Architektenkreis um Bruno Taut und Adolf Behne. Vgl. DENKLER 1971: 291.
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Ungeachtet der Selbsteinschätzung lässt sich eine Einordnung seiner Dramen in den Kontext expressionistischer Literatur aufgrund ihrer Tendenz zum Mystizismus, ihrer formalen Verknappung und existentiellen Thematik kaum leugnen. Dass Brust aber ganz eigene Vorstellungen vom Theater verfolgt, zeigt sich gerade an seinem Verhältnis zum intermaterialen Bühnenexpressionismus. So nimmt er hier eine Sonderstellung ein, da er die Synthese der Künste nicht performativ, sondern diskursiv vollzieht und damit sein Drama eine indirekte Form der Intermaterialität enthält. In seinem 1917 entstandenen Das Spiel Jenseits, das sich als eines von acht Stücken in den Zyklus Spiele (1920) einreiht, verfügt die Hauptfigur Conrad über die synästhetische Fähigkeit, Farben als Töne und Töne als Farben wahrzunehmen und dies anderen sogar erfahrbar machen zu können. Diese Verhandlung eines synästhesiebegabten Künstlers ist eingebunden in ein religiös motiviertes Entwicklungs- und Erlösungsdrama, das als zentrales Thema Schuld und Vergebung erörtert. Senta, die Frau Conrads, die „einmal schwach geworden“201 ist und nun von ihrem Liebhaber Wacholder ein Kind erwartet, will um jeden Preis ihre Untreue verheimlichen. Weil Conrad aber allem Leiblichen entsagt und es nicht mehr zum Beischlaf kommt, droht sie das Ergebnis ihres Fremdgehens bald zu entlarven. Wacholder sieht als einzigen Ausweg aus der Situation nur noch den DoppelSelbstmord, um aus dem Diesseits zu flüchten und im Jenseits gemeinsam glücklich zu werden. Während er selbst die Tat vollzieht, wird Senta von Conrad davon abgehalten. Zum Ende verzeiht er ihr und will das Kind als sein eigenes akzeptieren. Die Handlung scheint zugegebenermaßen recht banal, ihre Inszenierungsabsicht ist es gewiss nicht. Brust zeigt in seinen Regieanweisungen einen radikalen Reduktionismus. Im Gegensatz zur zeitgenössischen Tendenz, die Bühnenmaterialien für eine Gesamtaufführung nutzbar zu machen, verzichtet Brust auf jeglichen Einbezug von Farbe, Musik, Requisiten und sonstigen Ausstaffierungen und lässt einzig die Figuren in einer Art ästhetischem Vakuum auftreten. „Der Schauplatz bringt weder Zeit noch Raum zum Ausdruck, ist losgelöst von Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem. Die auftretenden Menschen gehen stets vorwärts ab. Bewegung wird nur durch die Sprache ausgedrückt.“202 Das Spiel Jenseits ist kein Aktions-, sondern ein Dialogdrama. Alle handlungsrelevanten Fakten – das Fremdgehen, das Farbenkonzert, der Tod Wacholders – werden erzählt, nicht erlebt. Im Modus einer komprimierten Konfrontation sollen menschliche Konflikte losgelöst von historischen, regionalen und soziokulturellen Einflussgrößen dargestellt und dem Zuschauer zur intellektuellen Verarbeitung überlassen werden. Movens der Handlung ist die Suche Conrads nach einem Lebenssinn, der zwischen Geistig-Religiösem einerseits sowie Rausch und Sinnlichkeit andererseits changiert. Innerhalb der Figu201 BRUST 1920: 80. 202 Ebd.: 79.
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renkonstellation verkörpert der Prälat den einen Pol – „Branntwein, Tabak und Weiber bringen uns nicht vorwärts“203 –, während Resel Unschuld und Verführung personifiziert: „Conrad packt mit beiden Händen ihre Oberarme. ‚Zwei feste Arme. Zwei runde Brüste. Zwei Säulenbeine und Hüften, Weib!‘ […] Resel ist bleich und zittert. ‚Was wollen Sie?‘ Er läßt sie los und geht weinend ab.“204 Im Gegensatz zu seiner Frau erliegt Conrad nicht seinem sexuellen Begehren und erreicht im Verlauf des Stückes sogar dessen Sublimierung. Zwischen Sünde und christlicher Moral gibt es für ihn keine Vermittlung, nur ein Entweder-oder.205 Vor dem Hintergrund dieser Dichotomie entfaltet das Stück eine ganze Reihe weiterer Antagonismen: Verlangen und Entsagung, Vertrauen und Verrat, Diesseits und Jenseits, Leben und Tod, Männlichkeit und Weiblichkeit. Insbesondere der letzte Gegensatz stellt einen wichtigen Schlüssel für die Deutung des Stückes dar. So kann eine Auftrittskonkordanz der Figuren in den vier lose voneinander getrennten Szenen zeigen, dass es zu keinem direkten Aufeinandertreffen der beiden weiblichen Figuren Senta und Resel kommt,206 in wechselnden Konstellationen aber immer wieder zu konfrontativen Begegnung der Geschlechtervertreter. Obwohl auch Sentas Konflikt aus einem sexuellen Begehren resultiert, versinnbildlicht das Vierecksverhältnis (für das es in der Literaturgeschichte mit Goethes Wahlverwandtschaften prominente Vorbilder gibt) vor allem die männliche Sicht: „Uns zur Qual geboren sind die Frauen“207 , heißt es von Conrad, der im Gegensatz zu Wacholder der Monogamie verpflichtet ist, aber an den weiblichen Reizen zu zerbrechen droht. In seiner geschlechterthematischen Ausrichtung 208 ähnelt Das Spiel 203 Ebd.: 80. 204 Ebd.: 81. 205 Vgl. zur Funktion dieser Dichotomie auch in anderen Dramen Brusts BARNISKIENE 2005. 206 Bild 1: Conrad+Prälat, Conrad+Senta, Senta+Wacholder, Conrad+Resel; Bild 2: Wacholder+Resel, Conrad+Prälat, Conrad+Senta; Bild 3: Senta+Wacholder, Senta+Wacholder+Prälat, Senta+Wacholder, Senta+Wacholder+Conrad, Senta+Conrad; Bild 4: Resel+Wacholder, Wacholder+Senta, Senta+Conrad, Senta+Conrad+Prälat, Senta+Conrad+Prälat+Resel. Auffällig ist auch eine Dominanz der Zweierkonstellationen, die durch Auf- und Abgänge beider oder jeweils nur einer der Figuren erreicht wird. Die Konfliktlage des Stückes ist somit bereits an der konfrontatorischen Szenerie ablesbar. 207 BRUST 1920: 81. 208 Verstärkt wird sie durch die Benennung des Geschlechts an Stellen, an denen auch der Name stehen könnte. Beispielsweise antwortet Senta auf die Nachfrage Wacholders, wer sie denn martere: „‚Der Mann, der Mann!‘“ (BRUST 1920: 85); ähnlich verhält es sich mit ihrer Anklage Conrads: „‚Mann, lieber Mann, weshalb bist du so kalt geworden?‘“ Ebd.: 87. Auffällig ist zudem, dass sich in der Ansprache der Grad sexueller Anzie-
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Jenseits Kokoschkas Hoffnung Mörder der Frauen, doch könnten die Dramen in ihrem Ausgang unterschiedlicher nicht sein. Während der Mann in Kokoschkas Einakter die Frau gewaltsam unterwirft und sich in einem apokalyptischen Finale neu gebiert, lässt Brust sein Spiel in der körperlichen Entsagung und in einer Apotheose gipfeln. Die Tragödie wird durch den Tod Wacholders, den niemand wirklich beklagt, und die Vergebung Conrads verhindert, der – allem Weltlichen entrückt – in einer Sphäre des Geistigen lebt. Die moralische Ordnung ist zum Schluss wiederhergestellt, der christliche Wertekanon obsiegt: „Der Prälat schreitet sehr langsam und lächelnd davon.“209 Unverkennbar liegt die Dominanz des Stückes in seiner moralischen Ausrichtung, die jedoch maßgeblich an die Disposition Conrads zur intermaterialen Verbindung von Musik und Malerei geknüpft ist. Innerhalb der Dramen Brusts nimmt Das Spiel Jenseits in dieser Hinsicht eine Ausnahmestellung ein. Zwar bringt das ebenfalls im Zyklus Spiele (1920) abgedruckte Drama Das Bauspiel als eines der ersten das Thema der Architektur auf die Bühne, doch bleibt Brust eher einem Theater der Vergeistigung verpflichtet als einer avantgardistischen Experimentalbühne. Im Spiel Jenseits verbindet er beides. Mit seinem Drama der Synästhesie nimmt Brust zeitgenössische Strömungen zur Interdependenz der Künste auf und übersetzt sie in die Vorstellungen der eigenen christlich-reduktionistischen Theaterideale. Vorbild für die Figur Conrad ist neben der christlichen Erlöserfigur210 eindeutig Alexander Skrjabin, der durch seine Farboper Prometheus in den 1910er Jahren in ganz Europa bekannt wird und dessen Farb-Ton-Korrespondenzen im Almanach Der Blaue Reiter abgedruckt und somit auch in Deutschland zugänglich sind.211 Der Huldigungsartikel von Leonid Sabanejew und die Verehrung Skrjabins als Magier, dessen Konzerte den Charakter von Gottesdiensten gleichkämen, gibt genau die Richtung vor, die Brusts Schauspiel nimmt.212 So finden sich alle diese Zuschreibungen auch im Spiel Jenseits, wobei das Stück auf die magische Befähigung Conrads zur synästhetischen Verbindung von Tönen und Farben ausgerichtet ist, schließlich würde eine bloß technische Erfindung dessen Ausnahmestellung unterminieren.
hungskraft widerspiegelt. Während etwa Wacholder das Geschlecht Sentas beschwört – „Denn du bist doch ein Weib. Herr Gott! Und was für ein Weib!“ (ebd.: 86), nennt Conrad Senta entweder bei ihrem Namen oder bezeichnet sie gar als ‚Kind‘ (ebd.: 84, 87), Resel dagegen wird als „Weib“ tituliert (ebd.: 81). 209 Ebd.: 91. 210 Vgl. DANNENFELD 2001: 184. 211 Vgl. KANDINSKY/MARC 1912: 112f. 212 SABANEJEW 1912: 107f.
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Bereits zu Beginn wird auf die besondere Fähigkeit der Hauptfigur hingewiesen. So fordert Senta Conrad auf: „Komm mit; ich spiel dir Grieg vor“, worauf dieser entgegnet: „Es berührt mich peinlich, unerhört peinlich, so jemand im selben Raum musiziert. Er weckt mir Gefühle, innerste Erlebnisse, Stimmungen, mit denen ich gern alleine sein möchte.“213 Was sich zunächst als Eskapismus und Empfindsamkeit ausnimmt, erweist sich im weiteren Verlauf als Befähigung zur abstrakten Synthese. So ist im Gegensatz zur expliziten Nennung eines Komponisten der Romantik und der damit verbundenen musikgeschichtlichen Zuordnung später nur noch generell von Tönen und Farben die Rede, die Conrad miteinander verbinden kann. Der Materialwert steht im Folgenden im Vordergrund, nicht dessen referentielle Funktion. Kennzeichnend für das Spiel Jenseits ist, dass die zitierte Stelle eine von bloß zweien bleibt, in der der Leser bzw. Zuschauer von Conrad selbst Auskunft über seine Begabung erhält. Ansonsten geschieht dies nur mittelbar durch die Beschreibungen anderer Figuren. Für Conrad ist sein Vermögen nicht verbalisierbar, es drückt sich ausschließlich in seiner synästhetischen Kunst und seinem Verhaltenswandel aus. Der Grund hierfür liegt in der Engführung von Exklusivität, Bescheidenheit und Genialität, die der Veranlagung einen höheren Grad an Authentizität verleihen soll, wie der folgende Passus demonstriert, bei dem Senta auf Wacholders Wunsch, die „Erfindung“ Conrads zu sehen, erwidert: ‚Seine Erfindung?‘ sagt sie. ‚Es ist vielleicht eine Erleuchtung gewesen! Farben und Töne, das ist seine Welt. Und da er sie gleichzeitig genießen muß, hat er sie verschwistert.‘ ‚Also er hat entdeckt, welche Farben die einzelnen Töne sind?‘ ‚Ja – das hat er. Er spielt, und die unendliche Reinheit und Ruhe der Farben ergießt sich über dich. Und wenn er den Regenbogen spielt, mußt du weinen.‘214
Gemäß der expressionistischen Ästhetik der Vision, die mit der abstrakten Verwendung der Materialien enggeführt wird, erhält die Konvergenz der Künste einen mystischen Einschlag und wird auf eine innere Empfängnis zurückgeführt. Dieses eher passive Element kehrt sich jedoch in eine aktive Befähigung zur direkten Zuordnung bestimmter Töne und Farben um. Der Text legt an dieser Stelle einen inneren Zusammenhang der beiden Künste nahe, der nur entdeckt und eben nicht konstruiert werden muss. Weitere Passagen verstärken diese Beobachtung. Wacholder und Resel gehen über den Platz. ‚Also Töne sagst du, Töne, die geheimnisvollerweise Farben im Raum erzeugen.‘ ‚So ist es‘, spricht er. ‚Farben, auf denen das Auge ausruhn kann und die in seltsamem Zusammenhange mit der gemachten Musik stehn.‘ ‚So kann man
213 BRUST 1920: 80. 214 Ebd.: 80f.
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also umgekehrt auch ein Bild in Tönen genießen, meinst du?!‘ ‚Das kann man. Mehr noch; es erscheint nachgerade unmöglich, ein Bild zu sehn, ohne an die dazugehörige Musik zu denken, anderseits ein Musikstück zu hören, ohne ein Zusammenwirken lauterster Farben über sich ergehen zu vermeinen.‘ ‚Jeder Ton also eine Farbe. Jede Farbe ein Klang … Und es ist irgendeine Mechanik dabei?‘ ‚Das ist nicht wichtig, wenn es auch schwer ist. Wichtig ist die Erkenntnis dabei, daß das so ist!‘ ‚Und wie kamst du dazu, solches zu sehn, wo er das Geheimnis vor allen Menschen verbirgt?‘ ‚Reden wir lieber von anderen Dingen.‘215
Auch Resel ist zunächst skeptisch im Hinblick auf den Wahrheitsgehalt der Information und vermutet eine technische Ursache. Zu denken ist in diesem Zusammenhang an eine Farborgel, wie sie im 18. Jahrhundert Louis-Bertrand Castel erfindet und für die – wie oben bereits erwähnt – Alexander Skrjabin um 1910 die erste Farboper komponiert. In der Handlungslogik müssen die Begabung Conrads und die ‚seltsamen Zusammenhänge‘ zwischen Farben und Tönen jedoch unverständlich bleiben, weil sie im Sinne der expressionistischen Programmatik eine mystische Grundlegung erfahren. Sind bisher zwei Grade der Relation von Musik und Malerei beschrieben – die 1:1-Entsprechung einzelner Töne und Farben sowie die synästhetische Öffnung bereits existierender Bilder bzw. Musikstücke –, so steigert sich die intermateriale Komplexität durch Conrads Arbeit an einer eigenständigen, abstrakt-synthetischen Komposition. Zu diesem Zweck zieht er sich immer mehr zurück in die „einsamste[] Einsamkeit: zu Farben und Tönen“216, die in einer kausalen Verbindung zu seiner Enthaltsamkeit steht. Den Wünschen seiner Frau nach körperlicher Nähe entgegnet Conrad mit der Erklärung, seine ganze Energie in die Erforschung der Kunstsynthese stecken zu müssen, für den Frühling aber stellt er Senta ein „heiliges Zusammensein [ihrer] Leiber“217 in Aussicht: „Und wir werden ineinander strömen und nie mehr voneinander können.“218 Im Pathos Conrads offenbart sich nicht nur die Verwicklung des Spiel Jenseits, weil er Senta im gleichen Atemzug ein Kind verspricht, das sie ja bereits von Wacholder austrägt, sondern auch die Transformation der Synästhesie in ein esoterisches Fanal, wie es der Dramatik Brusts eigen ist. Indem die Vereinigung von Ton und Farbe mit einer sakral aufgeladenen Prophezeiung zusammenfällt, erhält die Kunstsynthese den Charakter einer mystischen Hochzeit. Wie in der Attraktion der Geschlechter – so legt es das Stück nahe – haben Ton und Farbe eine innere Bestrebung zur Vereinigung, deren Prämissen Reinheit und Zwecklosigkeit sind. Frei von weltlichen Einflüssen und Wünschen, in 215 Ebd.: 82. 216 Ebd.: 87. 217 Ebd.: 88. 218 Ebd.
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Konzentration auf die inneren Potentiale gilt es, Musik und Malerei in der Verabsolutierung der Materialwerte aufeinander zu beziehen. Ohne dies auch faktisch im Bühnengeschehen umzusetzen – weshalb es unklar bleibt, ob die Künste intermaterial parallel oder kontrastiv ausgerichtet sind –, befolgt Brust damit den expressionistischen Anspruch der Abstraktion und artikuliert einen ungewöhnlichen Nexus, mit dem Ergebnis einer Ethik der Intermaterialität. Die Farboper selbst markiert den unsichtbaren und unhörbaren Höhe- und Wendepunkt des Stückes. War Conrad zuvor eifersüchtig, argwöhnisch, triebgesteuert und trunksüchtig, so ist es ihm durch seine Komposition gelungen, seine ‚negativen‘ Eigenschaften zu besiegen und vor allem seinen Neigungen zu entsagen. Besonders Resel erkennt die Größe des „Meister[s]“219 und verachtet Wacholder, der nur daran denkt, wie man aus dessen Fähigkeiten den meisten Profit schlagen könnte. Aus Wacholders abwertenden Äußerungen geht auch hervor, welche Wirkungen das Konzert auf das fiktive Publikum hatte: „Was denn nennst du so groß an Conrad? Daß bei den Farben zehn, zwölf Frauen in Ohnmacht fielen? Daß so ein schwangeres Lockenköpfchen, welches sich nicht versagen konnte, dem raffinierten Abend beizuwohnen, spornstreich niederkam? Ich suche Größe und finde immer nur Sensation.“220 Auffällig ist, dass es nur Frauen sind, die durch das Konzert in eine Ekstase versetzt wurden. Die gesamte sexuelle Energie Conrads, die er Senta vorenthalten hat, scheint in die Komposition eingegangen zu sein und sich im Farbenkonzert entladen zu haben. Ihm selbst ist es damit gelungen, seine Ohnmacht in eine Dominanz gegenüber dem anderen Geschlecht zu wandeln – eine Dominanz, die freilich auf Vergebung und Entsagung gründet. Gemäß dieser kontradiktorischen Verschränkung kommt es zu einem chiastischen Finale, bei dem Wacholder unter weltlichen Absichten den Weg ins Jenseits nimmt, während Conrad, obwohl er dessen Bedingungen enthoben ist, dem Diesseits erhalten bleibt. Der Schluss legt eine Überwindung von Gegensätzen nahe, die in der Verschwisterung von Musik und Malerei bereits vollzogen wurde. Als Medium und Substitut ist sie das Vorbild für ein religiös motiviertes Vereinigungsideal. Das Spiel Jenseits entwirft somit eine individuelle und beispielhafte Existenz, deren Streben nach „Unendlichkeit“221 und Orientierung an christlichen Wertevorstellungen in der abstrakten intermaterialen Synthese seine Erfüllung findet. Konsequenterweise verkörpert Conrad am Ende seiner Entwicklung den (Gesamt-)Künstler und Messias zugleich.
219 Ebd.: 87. 220 Ebd.: 88. 221 Ebd.: 83.
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I RONISCHER A BGESANG AUF DAS T HEATER DER A BSTRAKTION . K URT S CHWITTERS ’ „Z USAMMENSTOSS . G ROTESKE O PER IN 10 B ILDERN “ Als Kurt Schwitters zusammen mit der Dichterin Kate Steinitz an der ersten von vier Fassungen des erstmals 1927 veröffentlichten Bühnenstücks Zusammenstoß. Groteske Oper in 10 Bildern arbeitet, liegt seine Forderung der MerzExperimentierbühne bereits einige Jahre zurück,222 dennoch verspricht das Stück gemäß seinem Titel ganz im Stile Merz zu sein. Der durch Schwitters’ Schriften und Collagen Vorgeprägte darf erwarten, dass es nicht nur auf der Handlungsebene zu einer wie auch immer gearteten Konfrontation kommt, sondern diese auch als Strukturprinzip wirksam ist. Und in der Tat präsentiert sich die Groteske Oper als eine Sammlung heterogener, in sich abgeschlossener Bilder, die ganz verschiedene Diskurse und Szenarien bedient. Ernst Nündel spricht daher richtig davon, dass der Zusammenstoß in kein Gattungsschema passe, sondern unterschiedliche Typen vermische: „die Satire und das Lehrstück, das Musical und das pathetische Theater, die Oper und die Show“223. Mit Friedhelm Lach ließen sich auch noch „Gesänge im Stile der ‚Dreigroschenoper‘, Motive aus ‚Hoffmanns Erzählungen‘, Eisensteins Film-Montagen, Berliner Schlagerschnulzen, Ausdruckstanz im Mary Wigman-Stil, Georg Kaiser’sches Stationendrama, Merzbühneneffekte, Happening, Opernarie, Lautgedichte und Operettengag, Gesellschaftskomödie und Weltraumkatastrophe“224 als Ingredienzien identifizieren. Sie alle zeigen letztlich, dass der Zusammenstoß sich bewusst verschiedener kultureller und ästhetischer Versatzstücke bedient und sie kaleidoskopartig arrangiert. Mehr noch kann das Stück als ironischer Kommentar auf all diese Elemente verstanden werden, der auch vor dem intermaterialen Theaterexpressionismus nicht Halt macht. So finden sich neben Zitaten des klassischen Bildungstheaters, des politischen Theaters eines Erwin Piscator oder der Brecht’schen Verfremdungseffekte auch Tanzeinlagen, die an
222 Der Zusammenstoß geht ursprünglich auf eine Erzählung Schwitters’ zurück, die ebenso wie die ersten beiden Fassungen der Oper als verschollen gilt. Der Untersuchung liegt die dritte Fassung zugrunde, sie nimmt stellenweise aber auch auf die vierte Bezug. Beide Fassungen sind in der von Friedhelm Lach besorgten literarischen Werkausgabe abgedruckt. Eine Konkordanz der Veränderungen findet sich bei SCHOBER 1994: 323, Anm. 1. Zur Entstehungsgeschichte vgl. STEINITZ 1963: 88-94. 223 NÜNDEL 1981: 96. 224 LACH 1971: 171.
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Schlemmers Triadisches Ballett erinnern, und abstrakte Farb-Musik-Einschübe à la Kandinsky und Schönberg.225 Das Stück wäre allerdings nur unvollständig als ein reines Nebeneinander von eigentlich nicht zusammenhängenden Elementen beschrieben. Den zehn Bildern liegt mit dem möglichen Untergang der Welt, den der Astronom Virmula mithilfe einer abstrusen Formel vorhersagt, ein Kohärenz bildendes Bindeglied zugrunde, das bewusst überstrapaziert wird. So verwirrend das Ganze nach einer ersten Lektüre erscheinen mag, die Heterogenität wird konterkariert durch die permanente, ja fast schon penetrante Wiederholung des vermeintlichen apokalyptischen Szenarios.226 In dieser Mischung aus einsträngiger Themenführung und heterogener Bildfolge entbehrt das Stück zwar einer Entwicklungslinie, ist aber zielgerichtet auf den finalen Beinahe-Aufprall des grünen Globus fixiert. Die Konfrontation der Berliner Bevölkerung mit dem bevorstehenden Weltuntergang in zehn verschiedenen Bildern erscheint wie eine Fuge: als Variationen auf ein Thema. Alles diffundiert in einer Revue der Banalitäten, ist zugleich jedoch konsequent aufeinander bezogen. Die Intermaterialität des Stückes beruht genau auf dieser Gegeneinanderwertung verschiedener Versatzstücke, funktioniert also im Wesentlichen kontrastiv. Räumlich ist dies zum einen durch die Wahl Berlins als Ort des Geschehens umgesetzt, der es erlaubt, die nicht mehr einheitlich fassbare Handlungskomplexität mithilfe einer Montagetechnik des Großstadtlebens darzustellen. Abgesehen von diesem stilistischen und realtopologischen Anspielungshorizont lassen sich die Räume des Stückes nach drei Kategorien unterteilen: naturalistisch-requisitär, abstraktphantastisch und ‚bühnenreal‘. Ersterer dominiert das Stück und findet sich im ersten Bild in Gestalt einer Sternwarte, im zweiten, das als Simultanbühne funktioniert, in Form eines Cafés, des Potsdamerplatzes und eines Ateliers. Dem gleichen Prinzip folgend, zeigt das dritte Bild das Heim zweier Freundinnen und das zweier Freunde sowie ein Nachtasyl. Im vierten Bild findet ein Übergang zur abstrakten Raumordnung statt, indem sich das bürgerliche Wohnzimmer Meisterlichs im szenischen Verlauf zur Phantasielandschaft Violinas öffnet. Das fünfte Bild kehrt wieder zurück zur naturalistischen Darstellung und zeigt ein Wohnzimmer auf dem grünen Globus, das im miefigen Stil des Kleinbürgers anno 1912 eingerichtet sein soll. Es enthält zugleich Anteile der dritten Kategorie, da der Regisseur und Violina als Zuschauer der Szene beiwohnen. Das Zwischenspiel ist komplett als Selbstinszenierung des Theaters gestaltet, während die sechste Szene mit der Radiozentrale 225 Zu weiteren Anspielungen u.a. auf Ivan Golls Methusalem oder der ewige Bürger oder die Gemeinschaftsproduktion Sieg über die Sonne von Alexej Krutschonych, Welimir Chlebnikow, Kasimir Malewitsch und Michail Matjuschin vgl. VOSS 1998: 99f. 226 Zur Funktion der Wiederholung sowohl auf thematischer als auch auf sprachlicher Ebene vgl. SCHOBER 1994: 320f.
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auf die naturalistische Darstellungsweise zurückgreift, ebenso wie die liebliche Dorflandschaft der siebten und die Spelunke der achten Szene. Bild 9 soll den Anweisungen zufolge auf dem Mars spielen, da jedoch keine Kulissen vorgesehen sind, sondern die Szene über eine Seilbühnenkonstruktion funktioniert, kann sie als In-Szene-Setzen der bühnentechnischen Mittel gelesen werden. Ähnlich liegt der Fall im zehnten und letzten Bild, das zwar mit dem Tempelhofer Feld eine konkrete Ortsbezeichnung aufweist, zugleich aber als „Unendlicher freier Platz“ 227 kaum mehr als solches zu identifizieren ist. In der Raumordnung bildet die naturalistische Kategorie die Basis, von der aus sich die anderen beiden entfalten und insofern auf die erste zurückwirken, als sie sie verfremden. Allerdings liegt die Funktion der Selbtsreferenz nur vordergründig in der Entlarvung des Scheincharakters. Aus Sicht der Theatergeschichte, wonach die Avantgarde längst die Guckkastenbühne und all ihre Stilmerkmale verabschiedet hat, wäre eine solche Deutung anachronistisch. Schwitters zieht vielmehr die umgekehrte Konsequenz. Gerade weil das Stück abstrakte Szenen enthält, kann es auch Elemente eines vermeintlichen Illusionstheaters verwenden. Schwitters’ Theaterästhetik präsentiert sich einmal mehr als ein intermaterial kontrastives Spiel mit sich eigentlich ausschließenden Formen. Schwitters’ Hang zur Ironie bringt es mit sich, dass die Imitation verschiedener Stile auch vor sich selbst und d.h. der Merzbühne nicht Halt macht. Der absurde Selbstauftrag des Oberordnungskommissars Meisterlich: „Ich will den Untergang organisieren“228 , lässt sich vor diesem Hintergrund als Selbstparodie auf die eigene Formungs- und Organisationswut lesen, die in der ästhetischen Gestaltung des Zusammenstoßes einsichtig wird. Für diese Deutung spricht vor allem, dass sich das Stück an mehreren Stellen selbstreflexiv inszeniert, so etwa in der Filmsequenz, bei der in Rück- und Vorblenden auf vier gegeneinander positionierten Leinwänden einzelne Szenen gezeigt und damit die Oper buchstäblich zerstückelt wird. Eine ähnliche Funktion erfüllt der Auftritt des fiktiven Regisseurs, der plötzlich das Geschehen unterbricht und seinen Schauspielern ihre Rolle innerhalb der Komposition erklärt. 229 Während die meisten Figuren über eine richtige Selbsteinschätzung 227 SCHWITTERS 1927e: 74. 228 Ebd.: 40. 229 Wie gerne Schwitters mit den Instanzen des Theaters spielt, hat er in einem fiktiven Dialog mit dem Publikum demonstriert, den er zusammen mit Franz Rolan erstellt. Schwitters tritt dabei selbst als Verfechter seiner Merzbühne auf und diskutiert mit den Zuschauern über Sinn und Zweck der Inszenierungspraktiken. Auch ein Seitenblick auf Schwitters’ Prosa erhellt diese selbstreflexiven Verfahren. So schreibt sich in Punch von Nobel (1925), einer Erzählung, die in zeitlicher Nähe zum Zusammenstoß entsteht, der Autor immer wieder in die Handlung ein und reflektiert die Peripetien, bis er schließlich eine letzte Volte unternimmt und sich als Kurt Schwitters zu erkennen gibt. Vgl.
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verfügen, liegen Teddi und Violina dabei komplett falsch. Teddi, der sich als die wichtigste Figur wähnt, weil er der erste Vorbote des grünen Globus gewesen sei, sollte eigentlich – so der Regisseur – nur die „Eifersucht des Noll […] schüren“230 , und Violina, der sich ebenfalls als Hauptperson ansieht, wird noch stärker zurechtgestutzt: „Du mußtest hier erscheinen, / Um zu verwirrn und wegen des Balletts.“231 Im Sinne der Merzbühnenästhetik werden die Figuren in ihrem räumlichen und zeitlichen Einsatz reflektiert und als das dargestellt, was sie sind: Materialien einer Inszenierung. Natürlich sollte nicht der Fehler begangen werden, den fiktiven Regisseur als authentische Erklärungsinstanz naiv zu bestätigen. Ihm kommt nur innerhalb der dramatischen Handlung eine übergeordnete Position zu. Seine Funktion ist aber dennoch zentral, weil sein vermeintlicher Eingriff einerseits desillusionierend wirkt, andererseits aber eine stärkere Involvierung des Zuschauers erzeugt. Wahrscheinlich ist die letztere Funktion weitaus höher zu bewerten, denn dass der Zusammenstoß völlig überdreht ist und Diskurse wie die passionierte Liebe nur noch als abgeschmackte Zitate und hohle Floskeln verwendet, muss dem Publikum ohnehin klar sein. Im Illusionsbruch aber sieht es sich letztlich mit sich selbst konfrontiert. „Nun kann ich Euch nicht alle einzeln sprechen, / Das Publikum wird ungeduldig“232, schließt der fiktive Regisseur das Zwischenspiel und mahnt damit nicht nur seine Schauspieler zu mehr Aktivität. Dass ein derart reflektiertes Stück wie der Zusammenstoß auch die Materialien der Inszenierung nicht von der Verballhornung verschont, scheint nur folgerichtig. Besonders anhand der Phantasielandschaft Violinas zeigt sich eine Imitation intermaterialer Verfahren. Eingeleitet wird die Passage durch die Aufforderung, der auferstandene Geiger möge doch von seiner Heimat, dem grünen Globus erzählen. Die folgende Einlassung ist damit als Dichterimago initiiert, was Violina an späterer Stelle explizit bestätigt.233 Wenn sich dann noch Bana mit den Worten an den Geiger wendet: „Sag mir das Land, wo Puppenpanzen blühn“ 234 und damit ein überdeutlicher Verweis auf Goethes Gedicht Mignon vorliegt, in dem das ersehnte Land bekanntlich für das Reich der Kunst steht, dann wird vollends klar, dass es sich in der bizarren Seelentopographie um eine Reflexion auf die ästhetischen VerSCHWITTERS 1925b: 203. Siehe hierzu auch HOMAYR 1991: 149-157, dessen Analyse der Prosa zu einem ähnlichen Ergebnis kommt, nämlich dass Schwitters Spiel mit den Instanzen der Literatur als Ironie auf die Prinzipien der Avantgarde und die eigenen dichterischen Verfahren zu werten sei. 230 SCHWITTERS 1927e: 67. 231 Ebd. 232 Ebd. 233 Vgl. ebd.: 64. Hier wird die ‚Dichterphantasie‘ Violinas als Filmprojektion gezeigt. 234 Ebd.: 60.
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fahren handelt. Aufgrund seines hohen Stellenwerts für die Deutung des Stückes als Parodie auf das expressionistische Theater der Intermaterialität sei hier der gesamte Passus zitiert: Die Wände verschwinden, während die Vorderbühne dunkel wird, verschwindet auch der Tisch mit der Plüschdecke. Auf der geweiteten Bühne erscheint Violinas Phantasielandschaft. Der Park bei Lobe auf dem grünen Globe. Auf der hinteren Bühne befinden sich je 3 Seitenkulissen mit phantastischen Lampen, welche auf kakteenartigen Zweigen grotesk ohne Blätter wachsen. Im Tanz wachsen sie langsam in die Höhe und auseinander. Auch vorn neben der Mitte wächst ein Prachtexemplar von symmetrischen Lampen auf dem Boden. Zwischen den Kulissen pendeln Lampen hin und her, auch von oben nach unten. Die Lampen leuchten in den Grundfarben, blau, rot und gelb und wechseln später in monotones Grün. Ballett Von links kommen Puppenpanzen, von rechts kommen Distelkavaliere, ähnlich angezogen wie die wachsenden Lampen. Sie haben Kakteenarme und -beine, Kakteenkleider. Am Ende der Arme und Beine und an jedem Ohr eine Glühbirne. Die Distelkavaliere entsprechende Distelformen. Die Puppenpanzen und Distelkavaliere wachsen langsam aus den Kulissen heraus, so daß man sie zunächst nicht von ihnen unterscheiden kann; erst bei der Steigerung der Musik bemerkt man, daß sich Menschen aus den wachsenden Blumen lösen. Der folgende Tanz, der nun frei losgelösten Puppenpanzen und Distelkavaliere steigert sich zu wildester Ausgelassenheit. Plötzlich verlöschen alle gelben Lampen, entsprechendes Verlöschen in der Musik, ebenso bei den roten und blauen Lampen, die in ein bedeutend vermindertes grünes Licht übergehen. Auch die Lampen der Tänzer sind erloschen. Es wird Tag, sämtliche Lampen erlöschen. Die Puppenpanzen sind an der Stelle, wo sie stehen, angewachsen. Es kommen vergrößerte Kinderpuppen, die mit den Distelkavalieren volksfestartig tanzen. Nacht fällt ein, es leuchten die grüngelben Augen der großen Katze und des großen Hundes auf.235
Was Thomas Schober nur „entfernt erkennt“236 , nämlich eine Anspielung auf Kandinskys Der gelbe Klang, liegt offen auf der Hand und muss für das Verständnis der Szene viel stärker berücksichtigt werden. Zahlreiche Entsprechungen lassen sich nachweisen, die vor allem Bild 2 und 4 des Gelben Klangs betreffen. So ist die gurkenförmige gelbe Blume, aus der heraus „[n]ur ein stacheliges schmales Blatt wächst“237 klar in den Kakteenkostümen zitiert, und wo Kandinsky die Menschen
235 Ebd.: 58f. [Kurs. i.O.] 236 SCHOBER 1994: 326. 237 KANDINSKY 1912d: 219. [Herv. C.K.]
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Blumen tragen lässt, wachsen sie bei Schwitters aus den Blumen heraus. Auffällige Ähnlichkeiten lassen sich auch in der Choreographie feststellen. So heißt es bei Kandinsky: „In dem Augenblicke, wo das größte Durcheinander im Orchester, in den Bewegungen und Beleuchtungen erreicht wird, wird es plötzlich dunkel und still. […] Es scheint, daß die Riesen wie eine Lampe auslöschen […].“238 Das Spiel der Farben, ihr Verlöschen und Parallelgehen mit der Musik, der ausgelassene Tanz – all das sind Praktiken, die sich der gleichen Technik abstrakter intermaterialer Bühnengestaltung bedienen. Schwitters bildet bis ins Detail einen Anspielungshorizont, der aber nicht affirmativ, sondern – und das ist entscheidend – ironisch ist. Nicht nur die merkwürdige Position der Glühbirnen an Händen, Beinen und Ohren der Puppenpanzen und Distelkavaliere desavouieren den intermaterialen Reigen, sondern auch der Wandel des Balletts zu einem „volksfestartig[en]“239 Tanz und das Auftauchen des sprechenden Hundes und der sprechenden Katze lassen die Inszenierung ins Lächerliche kippen.240 Besonders deutlich zeigt sich dies, wenn das Bühnengeschehen auf dem Höhepunkt des intermaterialen Spiels durch den fiktiven Regisseur unterbrochen und damit in seiner Konstruiertheit ausgestellt wird. Der Tanz bricht ab. Die Bühne taucht in dunkles Rot. Weiße Lichtspiralen laufen von vorn nach hinten in das Rot. Hier und da Miniaturfeuerwerk. Evtl. Leuchtfontänen. Dazwischen hier und da Leuchtschrift projiziert. Leuchtschrift: Hii-Huu-Hoo-Haa-Hee! Alles versinkt plötzlich in Nacht. Von links kommt mit einer Handlaterne der Regisseur herein. Regisseur: ‚Donnerwetter ist das dunkel hier. Man kann ja nicht die Hand vor Augen sehen. Wer hat diese Szene gemacht? Ich bin der Regisseur. Elektricien, etwas mehr Licht.‘ Dabei wird alles plötzlich so hell beleuchtet, daß man die Phantasielandschaft als Pappkulisse deutlich sieht. Von rechts kommt Violina.241
Schwitters steigert und überdreht zunächst noch einmal den Intensitätsgrad des Materialeinsatzes, indem Schriftzeichen auf die Bühne projiziert oder pyrotechnische Effekte eingesetzt werden sollen, um vor diesem Hintergrund die Zäsur umso wirkungsmächtiger zu inszenieren. Der Auftritt des fiktiven Regisseurs ist an dieser Stelle aber von anderer Art als an jener, die bereits Gegenstand der Erörterung war. Sein Eingriff ist hier paradoxerweise als Illusionsbruch des nicht-illusionistischen 238 Ebd.: 228. [Herv. i.O.] 239 SCHWITTERS 1927e: 59. 240 Es scheint auch kein Zufall zu sein, dass die Handlung auf dem grünen Globus ausgerechnet im Jahr 1912 spielt, also dem Erscheinungsjahr des Blauen Reiters, auch wenn es vordergründig darum geht, die Science-Fiction-Parabel mit einer biederen Wohnzimmeridylle zu konfrontieren. 241 SCHWITTERS 1927e: 60. [Kurs. i.O.]
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Theaters zu verstehen. Selbst wenn die expressionistischen Bühnenexperimente die Materialien von ihrer Referenzfunktion zu befreien suchen, sollen sie doch nicht in ihrer Realisation einsichtig werden. Bei Kandinsky und Schreyer geht es um eine unmittelbare Kommunikation zwischen dem Material und dem Publikum, die um das Gegenständliche bereinigt sein soll. Indem Schwitters die Relation an dieser Stelle (zer-)stört und zwar gerade durch die Reflexion auf die Machart, distanziert er das Publikum und beschreitet den Weg zum Metatheater. Selbst wenn dabei nicht jeder Zuschauer die direkten Anspielungen auf Kandinskys Bühnenkomposition verstehen mag, so wird er doch die plötzliche Sichtbarkeit der Pappkulissen als das wahrnehmen, was sie sind: Bestandteile einer Inszenierung, die sich selbst parodiert. Diese selbstreflexiven Verfahren sind um 1927 zwar nicht neu,242 für Schwitters aber deshalb von Bedeutung, weil er damit das Theater von jenem mystischesoterischen Impetus befreit, der hinter den synthetischen Versuchen der Kernexpressionisten steht. Wichtig ist dabei, dass es ihm nicht darum geht, das intermateriale Zusammenspiel der Künste und ihre abstrakte Verwendung komplett zu überwinden, sondern er entlarvt sie und nutzt zugleich die Effekte ihrer Gestaltung. Im Gegensatz zu den Bühnenexperimenten der Frühexpressionisten integriert der Zusammenstoß auch eine Reihe neuer (Massen-)Medien wie Radio, Photographie, Film, Zeitschriften, Laufschriftprojektion und Leuchtreklame, deren Vorkommen – ob diskursiv oder faktisch – der Oper den Stempel der Modernität eingebracht hat. 243 Ob dies allerdings ausreicht, um Schwitters ein „unverbrauchtes, positiv konnotiertes Technikverständnis“244 zu attestieren, sei dahingestellt. Zugegeben: In der filmischen Projektion ist keine Subversion des Materials erkennbar, aber schon bei der Radiozentrale liegt der Fall nicht mehr so eindeutig; zwar wird gerade über eine Funkwellenverbindung zum grünen Globus der Zusammenstoß verhindert, doch die Dauerbeschallung durch den Schnulzenschlager „Onkel Heini“ lässt Zweifel aufkommen, ob die Botschaft nicht auch das Medium konterkariert. 242 Für die Verwendung von Filmprojektionen gelten Erwin Piscators Inszenierungen an der Berliner Volksbühne in den 1920er Jahren als Vorbild, für die Autoreflexionen der Italiener Luigi Pirandello. Vgl. LACH 1971: 171; SCHEFFER 1978: 175; SCHOBER 1994: 324f. Als dramatische Einflussgröße wäre zudem Döblins Lydia und Mäxchen zu erwähnen, das mit der Belebung von Requisiten, dem Aufstand der Figuren gegen den Dichter und Regisseur starke Ähnlichkeiten zum Zusammenstoß aufweist. Vgl. DÖBLIN 1906. 243 Vgl. SCHOBER 1994: 322. Schwitters Verhältnis zur Technik muss als ebenso ambivalent bzw. ironisch gewertet werden wie seine grundsätzliche Haltung gegenüber allen einseitigen Festlegungen. So ist er zwar an der Organisation eines „Festes der Technik“ im Dezember 1928 beteiligt, begrüßt parallel dazu aber die Forderung Hans Arps nach einer ‚antimechanischen Maschine‘. Vgl. STEINITZ 1963: 96-110. 244 SCHOBER 1994: 326.
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Offensichtlich wird das Radio in seinem Selbstverständnis der Aktualität gespiegelt, so in den monotonen Versen des Ansagers Schmidt: „Das Radio erzählt Euch allen, / Was immer Neues vorgefallen.“245 Gleiches gilt für die Pressehysterie der Zeitungsverlage, die in einem immer schnelleren Takt neue Ausgaben präsentieren, obwohl sich an der Situation substantiell nichts ändert. Es sind allerdings vor allem die traditionellen Künste, die sich der Ironie Schwitters ausgesetzt sehen. Ein Ballett aus Puppenpanzen und Distelkavalieren, die Personifizierung einer Geige zur Figur Violinas, das Orchideenlied des Kammersängers Paulsen, die Pantomime des Pierrots oder auch der Dichter in der vierten Fassung, der vor dem Zusammenprall noch schnell sein Werk vollenden will246 – all dies sind Repräsentanten der klassischen Künste, die in ihrem kanonischen Anspruch unterlaufen werden.247 Die ironische Behandlung des intermaterialen Theaterexpressionismus und das Requiem, das Schwitters auf ihn anstimmt, beziehen sich genau auf diese Orientierung an den traditionellen Künsten. Die Radikalität, die mit der Reduktion auf den abstrakten Materialwert einhergeht, scheint Ende der 1920er Jahre bereits derart verbraucht, dass sie von Schwitters der Lächerlichkeit preisgegeben und mit neueren Techniken und Medien konfrontiert wird. Für die Relevanz intermaterialer Bühnenpraktiken muss indes darauf hingewiesen werden, dass es Schwitters vor allem darum geht, den pathetischen Gestus und den Absolutheitsanspruch der Expressionisten bloßzustellen, mit dem die Bühne zu einem mystisch-kultischen Ort stilisiert wird. Er selbst vollzieht mit seiner Oper eine kontrastive Form der Intermaterialität, die – abgesehen von der ironischen Tendenz – dem Prinzip der disharmonischen Materialkonfrontation nicht unähnlich ist. Von einer seelischen Vibration (Kandinsky) oder einer gemeinsamen inneren Schau (Schreyer), die durch die integrale Verwendung der Bühnenmaterialien beim Publikum erreicht werden soll, kehrt Schwitters sich indes radikal ab und entfaltet mit dem Zusammenstoß eine groteske Revue zeitgenössischer Theaterpraktiken, bei der das expressionistische Theater der Intermaterialität auf ein mögliches Verfahren von vielen reduziert ist.
245 SCHWITTERS 1927e: 68. 246 Vgl. SCHWITTERS 1929: 332. 247 Dass Schwitters nur allzu gern auch den Kunstbetrieb als Ganzen aufs Korn nimmt, zeigt das nur wenige Jahre später entstandene Schlüsseldrama Das Irrenhaus von Sondermann (um 1930), in dem eine Künstlergilde – bestehend aus einem abstrakten Maler, einem blumigen Dichter, einem Architekten sowie dem Vorsitzenden des Musikantenvereins – sich selbst lächerlich macht, weil sie sich auf kein gemeinsames Ziel einigen kann. Vgl. SCHWITTERS 1930.
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Z USAMMENFASSUNG Die Bühnenkompositionen des abstrakten Theaterexpressionismus entfalten in der Reduktion jeder einzelnen Kunst auf ihren reinen Materialwert und der Ausrichtung aller beteiligten Materialien aufeinander eine kaum mehr zu steigernde ästhetische Dichte. In Kokoschkas Mörder Hoffnung der Frauen ist diese Tendenz bereits erkennbar, weil Licht, Musik, Sprechanteile und Bewegungsfolgen in reduktionistischer Form zum Einsatz kommen. Die Bühnenmaterialien sind allerdings noch nicht komplett eigenständig ausgestaltet und abstrakt aufeinander bezogen, sondern in ihrer parallelen Verstärkung an den zentralen Geschlechterkonflikt gebunden. Dieser erweist sich auch in Schönbergs Die glückliche Hand als bestimmend für die intermateriale Komposition, wobei die Materialien selbst stärkeres Eigengewicht gewinnen. Handlungskern des Musikdramas bildet eine Dreiecksbeziehung, bei der die Bühne und ihre Materialien größtenteils zu Seismographen der Gemütslage der Hauptfigur geraten. Allerdings erfolgt der integrale Einsatz der Materialien im Verhältnis zum Protagonisten nicht nur parallel, sondern auch kontrastiv, genauer: mal substituierend und mal dominierend. Der intermateriale Kontrast zeigt so eine Wertungskomponente in der Relation und damit eine Tendenz zur Entkopplung des Bühnenmaterials vom Darsteller. Ihre komplett eigenständige Verwendung findet sich in Kandinskys Der gelbe Klang. In dem synthetischen Materialreigen sind die Materialien selbst die Akteure und werden in ihren Handlungsfolgen am zentralen intermaterialen Prinzip des Stückes bemessen: dem Wechsel zwischen paralleler und kontrastiver Verwendung, dessen Ziel es ist, eine größtmögliche Erlebnisintensität beim Zuschauer zu bewirken. Diese Absicht liegt auch Schreyers Kreuzigung zugrunde. Zwar agieren hierbei wieder menschliche Darsteller, allerdings sind diese mit ihren Ganzkörpermasken als Farbformen und intermateriale Konglomerate inszeniert. Die dominanten Sprechhandlungen sind dabei in einer exakten Anordnung mit Bewegungsabläufen, Gesten und Intonationen koordiniert und graphisch im Spielgang mithilfe intermaterialer Paradigmen festgehalten. Ständig kommt es dadurch zu einer neuen Relationssetzung zwischen den Bühnenmaterialien und damit zu einem Wechsel von Gegen- und Mitwirkung, wobei das Stück seinen sakralen Höhepunkt in einer Vereinigungsgeste paralleler Intermaterialität erfährt. Im Unterschied zu den intermaterialen Choreographien Kokoschkas, Kandinskys, Schönbergs und Schreyers verhandelt Das Spiel Jenseits von Brust die Kompetenz seiner Hauptfigur, Farbmusikspiele zu komponieren, ausschließlich sprachlich, d.h. in einer Form der indirekten Intermaterialität. Ähnlich wie bei Schreyer verknüpft er diese Befähigung allerdings mit einer ethisch-religiösen Vorstellung von Kunst als Ritus der Reinheit, der sich in der abstrakten Materialvereinigung ausdrückt. Ein derartiges Pathos ist Schwitters’ Zusammenstoß fremd. Als theatrale Merzcollage spielt es auf groteske Weise mit verschiedenen Versatzstücken des zeitgenössischen
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Theaters, verfährt selbst also intermaterial kontrastierend, parodiert jedoch die Emphase der expressionistischen Bühnenkompositionen. Noch in der ironischen Brechung bestätigt es aber deren zentralen Kennzeichen: die Kombination und wechselseitige Ausrichtung von Farben, Formen, Bewegungen und Tönen als eigenständige Qualitäten. Diese Aufwertung der Materialien geht im Theaterexpressionismus mit der Vorstellung von der Bühne als einem raum-zeitlichen Ganzen einher. Als verdichteter Ort können in ihm Raum- und Zeitkünste miteinander verbunden werden und damit die Einheitsvorstellungen, wie sie in den programmatischen Visionen entworfen sind, zur Umsetzung kommen. Die wichtigste Erkenntnis infolge der Analyse expressionistischer Bühnensynthesen ist daher, dass in ihnen die ästhetische Produktion und Rezeption verstanden als holistisches Erlebnis zur Darstellung gelangt. Anders hingegen als in den expressionistischen Theorien, die mit diesem Gesamterlebnis eine geistige Erfahrung verbinden, bleibt die tatsächliche Wirkung auf den Zuschauer spekulativ. Abgesehen von Kokoschkas und Schwitters’ Stücken ist zwar in allen untersuchten Bühnenkompositionen eine Tendenz zur Vergeistigung virulent bzw. sogar explizit angesprochen, die äußere Darstellung jedoch zeigt in ihrer komplexen intermaterialen Relation eine Aufwertung der Bühne in ihrer materialen Präsenz. Mag diese rein konzeptionell die Voraussetzung zu einem letzten immateriellen Schritt der ästhetischen Wahrnehmung sein, die Bühnenkompositionen des abstrakten Theaterexpressionismus, wie sie uns vorliegen, lassen sich vor allem in ihrem materialen Reduktionismus und den Verfahren der Intermaterialität nachvollziehen. Unabhängig von diesem Spannungsverhältnis bestätigt sich für die Theorie der Intermaterialität die Definition von Kunst als spezifischer Verwendung von Materialien, die ihre Potenzierung dort erhält, wo die Künste intermaterial aufeinander gerichtet sind. Die Szenarien des abstrakten Bühnenexpressionismus sind performative Manifestationen dieses Kunstverständnisses – in ihnen präsentiert sich Kunst in ihrer materialen und intermaterialen Bedingung.
VII. Schluss
In seinem um 1920 verfassten und erst fünf Jahre später publizierten Buch Die Grenzen der Künste berichtet der Musikverleger Ernst Roth von einer für ihn merkwürdigen Praxis der zeitgenössischen Kunstszene. So habe er „von einer Schule gehört, wo der Lehrer die Zöglinge das Parsifalvorspiel anhören und sie ihre dabei empfangenen Eindrücke malen läßt.“1 Neben diesem synästhetischen Kunststudium, hinter dem sich unverkennbar Johannes Ittens Malunterricht am Weimarer Bauhaus verbirgt, wundert sich Roth über „die noch weit sonderbareren Schöpfungen der expressionistischen Bildnerei“ Paul Klees, die „überhaupt keine Formen mehr erkennen lassen, […] schottisch gemustert sind und einzelne Zahlen, Buchstaben, Fragezeichen tragen“2. Beide Beobachtungen führen Roth zu einer desavouierenden Gesamteinschätzung des Expressionismus: „[D]ie inhaltliche Vermischung der Künste scheint ein Brandmal der expressionistischen Kunst zu sein.“3 Was Roth an dieser und anderen Stellen kritisch gegen den Expressionismus vorbringt, stellt in der Tat ein charakteristisches Merkmal seiner Entfaltung dar. Es wundert deshalb nicht, dass Roth die Konvergenz der Künste im Expressionismus zum Anlass nimmt, um seine medienpuristischen und naturalistischen Ansichten in polemischer Abgrenzung darzulegen. Weitaus stärker muss indes erstaunen, dass diese für die Zeitgenossen offensichtliche Dominanz künstlerischer Wechselbeziehungen im Expressionismus bisher noch nicht umfassend erforscht wurde. Mit der vorliegenden Studie ist diesem Desiderat begegnet und der Versuch unternommen worden, die Konvergenz der Künste in ihrer Programmatik systematisch zu erfassen und anhand der Umsetzungen von Text-Bild- und Schrift-Film-Bezügen sowie Bühnenkompositionen exemplarisch zu analysieren. Als wichtigstes Ergebnis kann dabei festgehalten werden, dass sich die verschiedenen theoretischen und praktischen Kunstverbindungen nicht nur in einer ‚inhaltlichen Vermischung‘ zeigen, wie Roth
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ROTH 1925: 219.
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Ebd.: 219f.
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Ebd.: 219.
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konstatiert, sondern eine weitaus intensivere ästhetische Beziehung anstreben: eine intermateriale. Ohne diesen Begriff explizit zu verwenden, findet das Prinzip der Intermaterialität im Expressionismus seinen vielfältigen Ausdruck. Wie in dieser Studie definiert, beschreibt die Kategorie der Intermaterialität in ihrer ästhetischen Funktion einen Relationstyp, bei dem die materialen Bedingungen einer anderen Kunst oder eines anderen Kunstgebildes Ziel der Bezugnahme sind – und genau diese intensive Form künstlerischer Verbindungen ist in den Texten und Kunstgebilden der Expressionisten umfassend ästhetisch formuliert und praktisch umgesetzt. Theoretisch begründet wird sie in den zahlreichen Programmatiken. Besonders in den frühen Schriften Wassily Kandinskys und Lothar Schreyers zu Beginn und Mitte der 1910er Jahre kann die Forderung nach einer intermaterialen Synthese der Künste beobachtet werden. Sie ist eingebunden in ein Postulat abstrakter Kunst und der Suche nach einer angemessenen Darstellungsform für das Geistige als eigentlichem Ziel expressionistischer Kunstproduktion. In diesen Überlegungen ist ein für den Expressionismus typisches dualistisches Weltbild virulent, bei dem die Wirklichkeit als eine materiale heterogene Vielfalt gedeutet wird, die sich im intermaterialen Kunstgebilde widerspiegelt und zugleich durch die künstlerische Vereinigung überwunden werden kann. Die protointermateriale Ästhetik beschränkt sich im Expressionismus allerdings nicht nur auf diesen esoterischen Zusammenhang, sondern prägt neben der wissenschaftlichen Beschäftigung bei Oskar Walzel, der die wechselseitige Erhellung der Künste mit einer Gestalt- und Materialästhetik begründet, und der theoretisch-praktischen Vereinigung im Almanach Der Blaue Reiter auch die theaterästhetischen Konzeptionen von William Wauer und Rolf Lauckner, in denen der Mensch als intermateriales Konglomerat aller Bühnenmaterialen entworfen wird. Darüber hinaus zeigt sich mit Kurt Schwitters’ Merzästhetik eine Ausweitung des intermaterialen Prinzips auf solche Gegenstände, die traditionellerweise nicht der Kunst zugeordnet werden, und damit eine Entsakralisierung der expressionistischen Kunstkonvergenz. Seinen Höhe- und Endpunkt findet die intermateriale Programmatik in der Gründung des Weimarer Bauhauses. Zahlreiche Expressionisten sind in dessen Frühphase als Werkstättenmeister tätig und setzen dabei ihre Programmatiken in Lehrveranstaltungen um. Aus der Zusammenarbeit von Künstlern unterschiedlichster Provenienz geht eine Materialkunde im Unterricht hervor, die Grundlage sein soll für das von Walter Gropius formulierte gesamtkünstlerische Ziel der einzelnen Abteilungen: der Architektur und des Einheitsbaus. Wie im Expressionismus insgesamt verschieben sich die Interessen an der Verbindung der Materialien zum Ende des Weimarer Bauhauses von einer esoterischen Ganzheitsvorstellung zu einer rationalen Erkundung ihrer Gesetzmäßigkeiten. Beide Typen sind charakteristisch für den intermaterialen Expressionismus und haben zahlreiche künstlerische Umsetzungen erfahren.
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Die häufigste Verbindung findet sich in der Annäherung von Bildern und Texten. Bei ihnen lässt sich eine intermateriale Variationsbreite beobachten, die anhand verschiedener Text-Bild-Typen analysiert wurde: Bildgedicht (Edschmid), Ekphrasis (Itten), Illustration (Kirchner), Schriftbild (Klee), Initiale und Assemblage (Schwitters). Dabei können mithilfe der verschiedenen Typen der Intermaterialität – Apräsenz, Kopräsenz und Fusion – Beschreibungsverfahren fruchtbar gemacht werden, die die unterschiedlichen Intensitätsgrade expressionistischer Text-BildRelationen benennt. Während die Bildgedichte Edschmids auf ihre Bezugsbilder ausschließlich sprachlich verweisen, verschärfen Ittens Ekphrasis, Kirchners Illustration, Klees Schriftbild und Schwitters Assemblage den Relationstyp, weil sie eine zunehmende typographische Annäherung bis hin zur Verschränkung und Fusion der Materialien vollziehen. Daneben kann übergreifend die Tendenz beobachtet werden, die Differenz von Raum- und Zeitkunst durch Akzentuierung der Schrifträumlichkeit und der Sukzessivität der Bildwahrnehmung zu nivellieren und, was besonders bei den Initialen zutage tritt, sich die Bildlichkeit des Materials der Schrift für die künstlerische Gestaltung zunutze zu machen. Im Verhältnis von Schrift und Film weisen die intermaterialen Annäherungen des Expressionismus einen heterogenen Charakter auf. So sind besonders die Kinostücke in Kurt Pinthus’ Kinobuch und die Kinogedichte von Jakob von Hoddis bis Claire Goll durch eine ambivalente Einstellung zum neuen Medium gekennzeichnet, die von einer scharfen Ablehnung bis hin zur formalen Adaption technischer und materialer Bedingungen des Kinos reicht. Für die Bezugnahme der Literatur auf den Film ist dabei die materiale Abwesenheit der Bewegungsbilder konstitutiv. Dem Film als integralem Medium ist es dagegen möglich, die Schrift in ihrer Materialität zu inszenieren, wovon die expressionistischen Stummfilme Das Cabinet des Dr. Caligari, Der Golem, wie er in die Welt kam und Nosferatu intensiv Gebrauch machen. Dabei können auch für die Verwendung von Schrift im Stummfilm verschiedene Differenzierungen der Intermaterialitätskategorie erarbeitet werden: eine diegetische (Schriftstücke als Teil der Handlung), konnektierende (Zwischentitel) und fusionierende Intermaterialität (Schrifteinblendungen in die Mise en Scène). Ihre intensivste Ausprägung erlebt die Praxis intermaterialer Kunstkonvergenz in den abstrakten Bühnenkompositionen des Expressionismus. Kandinskys Der gelbe Klang, Schreyers Kreuzigung und Schwitters’ Zusammenstoß erweisen sich dabei als konsequente Umsetzung der in den Programmatiken formulierten Konvergenzkriterien. Wesentliches Kennzeichen ist eine abstrakte Verwendung der Bühnenmaterialien verbunden mit einer Handlungsreduktion oder gar einem kompletten Handlungsverzicht. Auch bei den Bühnenkompositionen, die auf keinen umfangreicheren theoretischen Entwürfen beruhen, wie Kokoschkas Mörder Hoffnung der Frauen, Schönbergs Die glückliche Hand und Brusts Das Spiel Jenseits, folgt die Verbindung der Künste einer exakten wechselseitigen Abstimmung der Bühnenma-
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terialien zu einer (meist) disharmonischen Gesamtaufführung. Da die Materialien in ihrer Verwendung dabei mal mit-, mal gegeneinander gewertet werden, changiert die qualitative Ausrichtung zwischen einer parallelen und einer kontrastiven Intermaterialität. Diese Beziehung kann faktisch, metaphorisch oder ironisch geschehen, sie ist in jedem Fall äußerst komplex und an einen Zuschauer gerichtet, der – mit Ausnahme von Schwitters’ Zusammenstoß – eine esoterische Grundhaltung und innere Bereitschaft für die Inszenierung mit einbringen soll. Die Bühnenkompositionen des Expressionismus präsentieren sich als Materialspiele, die reduktionistisch und übercodiert zugleich sind. Anhand der verschiedenen programmatischen und praktischen Verbindungen der Künste im Expressionismus hat sich die Kategorie der Intermaterialität als adäquates Beschreibungsinstrumentarium bewährt, das zugleich präzisiert und differenziert werden konnte. Wurde Intermaterialität im Plädoyer für eine intermateriale Ästhetik als Bezugnahme eines Materials auf ein anderes definiert, so können nach der Analyse expressionistischer Theorie und Kunst wichtige Kriterien und Anwendungsbereiche für diese Subkategorie der Intermedialität zusammengefasst werden: –
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Intermaterialität beschreibt die Beziehung zweier oder mehrerer Artefakte oder Zeichengebilde, wenn sie auf materialer Basis interagieren; dies ist dann der Fall, wenn die technischen Voraussetzungen eines Mediums, das Material selbst oder die materiale Qualität semiotischer Differenz verhandelt werden. Intermateriale Beziehungen können direkt durch die Anwesenheit eines anderen Materials oder indirekt durch Rekurrenz auf ein abwesendes Material geschehen. Daraus resultieren drei Typen der Intermaterialität: Apräsenz, Kopräsenz und Fusion. Bei der Apräsenz ist nur ein Material tatsächlich vorhanden und rekurriert auf ein anderes ausschließlich mit den eigenen Mitteln (sprachliche Intermaterialität); bei der Kopräsenz stehen zwei oder mehrere Materialien in einem Verhältnis des Nach- oder Nebeneinanders (Abbildungen in Texten, Zwischentitel im Stummfilm); bei der intermaterialen Fusion sind zwei oder mehrere Materialien zu einem untrennbaren Mit- oder Ineinander verbunden (Schriftbilder, Assemblagen, Schrifteinblendungen in die Mise en Scène des Films). Neben den Rekurrenztypen beschreibt die Intermaterialität das Potential eines Artefakts oder semiotischen Gebildes, intermateriale Eigenschaften hervorzuheben (Bildlichkeit der Schrift) oder – im Falle integraler Medien (Film und Bühne) – die inhärente Intermaterialität zu pointieren. Bei dieser potentialen bzw. inhärenten Intermaterialität eines Mediums können wiederum Subkategorien ausgebildet werden, die die Funktion der integralen Materialien präzisieren: eine diegetische, konnektierende und fusionierende Intermaterialität (Schrift im Film).
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In ihrer qualitativen Relation lassen sich zwei extreme Typen unterscheiden, die alternierende Dominanzverhältnisse bei raum-zeitlich komplexen Materialarrangements (wie Bühnenkompositionen) kennzeichnen: eine parallele und eine kontrastive Intermaterialität. Als ästhetische Kategorie beschreibt Intermaterialität die Verbindung und wechselseitige Ausrichtung selbstbezüglich verwendeter Materialien als doppelte bzw. mehrfache Differenz. Diese besteht darin, dass Materialien oder semiotische Komplexe derart aufeinander bezogen werden, dass die bipolare Zeichenkonstitution des einen zum Gegenstand eines anderen Kunstgebildes wird bzw. zwei oder mehr Materialien in ihrer selbstbezüglichen Rekurrenz in einem Kunstgebilde verschränkt sind. Intermateriale Kunst erzeugt aufgrund dieser Potenzierung eine ästhetische Dichte, deren Intensitätsgrad sich am Typus der Intermaterialität bemisst. Am stärksten fällt sie aus, wenn Künste in ihrer Materialität fusionieren und zugleich semiotisch aufeinander Bezug nehmen. Der ästhetischen Dichte im Kunstprodukt entspricht eine potentiell erhöhte Erlebnisdichte auf Seiten des Rezipienten. Intermaterialität ist schließlich eine wertneutrale Kategorie; erst durch den spezifischen Gebrauch entscheidet sich, ob die intermaterialen Verbindungen eher affirmativ oder medienkritisch verstanden werden sollen.
Alle diese Kriterien sind anhand des Expressionismus erarbeitet worden, beschränken sich jedoch nicht auf ihn. Bereits ein Blick auf die Parallelentwicklung des Futurismus zeigt, dass sich auch dort ein Interesse an der intermaterialen Verbindung der Künste äußert. So finden sich in dessen Theaterexperimenten Stücke wie Fortunato Deperos Farben. Abstrakte theatralische Synthese (1914), in dem „VIER ABSTRAKTE INDIVIDUALITÄTEN mechanische Bewegungen an unsichtbaren Fäden“4 vollziehen und dabei in verschiedenen Stimmlagen Laute von sich geben, die mit Farbformen kombiniert werden. Ähnliches lässt sich in der szenischen Anlage der Maschinen-Sinnlichkeit (1914) des italienischen Künstlers Luigi Colombo alias Filia beobachten, bei der fünf farblich verschiedene Metallplatten auf der Bühne rotieren und gemeinsam mit „eine[r] rote[n] Spirale (DER GEIST)“, einem „sehr große[n] Würfel (DIE MATERIE)“ und „verschiedene[n] bunte[n] geometrische[n] Figuren, die zu einer Art Maschine verbunden sind (DIE TAT)“5, den Darsteller intermaterial supplementieren. Neben diesen futuristischen Theaterentwürfen als mechanisch-technische Versionen der expressionistischen Bühnenkompositionen zeigt sich eine Weiter- bzw. Parallelentwicklung expressionistischer Material4
DEPERO 1914: 65. [Herv. i.O.]
5
FILIA 1914: 68. [Herv. i.O.]
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verbindungen in den Collagen der Dadaisten. In einer entfesselten Typographie kombinieren sie Bild und Schrift miteinander und greifen dafür auf Zeitungsartikel und Photographien zurück. Seine rationale Erforschung erfährt das Material der Künste in der konstruktivistischen Phase des Bauhauses. Unter der Leitung Lásló Moholy-Nagys entwickeln sich ein Totaltheater, abstrakte Filmexperimente und Installationen, die an der mechanisch-technischen Verbindung der Materialien interessiert sind. Diese Praxis intermaterialer Kunst lässt sich über die IntermediaBewegung der 1960er Jahre bis heute nachvollziehen. Neben vielen anderen stehen hierfür Anselm Kiefer mit der Integration von Schrift in seine Bilder, Peter Greenaway mit seinen filmischen Hommagen an Malerei, Architektur und Literatur, Christoph Schlingensief, der für seine Performances und Bühneninszenierungen Text- und Videoprojektionen kombiniert, sowie Nam June Paik mit seiner Medienkunst, bei der Monitore mit Musikinstrumenten zu Skulpturen verarbeitet sind. Dass ein derartiges Interesse am Material der Kunst keinen Sonderfall darstellt, beschreibt Monika Wagner in ihrer 2001 erschienenen Anderen Geschichte der Moderne. In der Studie erklärt sie den „Ding- und Materialfetischismus“6 sogar zum Kennzeichen der Kunst des 20. Jahrhunderts und listet etliche Materialien auf – etwa menschliche Körper, Asche, Feuer, Stein, Plastik –, die einzeln und in Kombination zum Gegenstand künstlerischer Bearbeitung werden. In einem Ausblick macht Wagner zudem auf eine Tendenz zur ‚Materialität des Immateriellen‘ zeitgenössischer Kunst aufmerksam, die genau jenem ambivalenten Charakter des GeistMaterie-Dualismus entspricht, wie er für die Produktion intermaterialer Kunst im Expressionismus Voraussetzung ist: „die Dissimulatio erfordert zunächst gerade die Hervorkehrung der materialen Seite, unter deren Voraussetzung erst die Erfahrung der Überwindung des Materials als ästhetisches Erlebnis möglich ist.“7 Vor diesem Hintergrund stehen Entwicklungen in der Kunst heute mehr denn je in einem Zusammenhang mit der emphatischen Kunstkonvergenz, wie wir sie zwischen 1910 und 1925 erleben. Ernst Roths Diagnose, „nicht die Theoretiker und Praktiker des Expressionismus sind die Vorkämpfer und Märtyrer der künstlerischen Zukunft“8, sondern diejenigen, die die Künste in ihrem „streng verschiedenen Charakter“9 verwenden, bewahrheitet sich nicht. Die intermateriale Überwindung der Kunstgrenzen erweist sich stärker und reizvoller als der Versuch, sie scharf zu ziehen.
6
WAGNER 2001b: 10.
7
Ebd.: 300.
8
ROTH 1925: 248.
9
Ebd.: 219.
VIII. Abbildungsverzeichnis
Abb. 1
Abb. 2
Abb. 3-5 Abb. 6
Abb. 7-8
Abb. 9
Abb. 10 Abb. 11 Abb. 12
Abb. 13
Abb. 14
Wassily Kandinsky: Gnomus, Bühnenbild zu Bilder einer Ausstellung (1928); Gouache, Aquarell und Tusche auf Papier, 20,5 x 36 cm; Abdruck in: WHITFORD (1999), S. 168. Ernst Ludwig Kirchner: Titelholzschnitt zu Alfred Döblins Das Stiftsfräulein und der Tod (1913); Holzschnitt, 22,7 x 17,7 cm; Abdruck in: LANG (1975), S. 19. Signets des S. Fischer Verlags, des Verlags der Dichtung und des Sturm Verlags; Abdruck in: RAABE (1985), S. 808. Hermann Georgi: Titelholzschnitt zu Kasimir Edschmids Bilder. Lyrische Projektionen (1913); Holzschnitt, 17,2 x 8,6 cm; Abdruck in: EDSCHMID (1913), o.S. Johannes Itten: Analysen Alter Meister, Blatt 1 und 8 (1921); Lithographien (zweifarbig), jeweils 33 x 24 cm; WV 229, 236; Abdruck in: ITTEN (1921), S. 29, 43. Meister Francke: Die Geburt Christi (Ausschnitt aus: Thomas Altar des hamburgischen Englandfahrers, um 1424); Reproduktion (s/w), 15,5 x 14 cm, Abdruck in: ITTEN (1921), S. 57. Johannes Itten: Die Geburt Christi, Kompositionsanalyse (1921); Lithographie, 33 x 24 cm; WV 241; Abdruck in: ITTEN (1921), S. 56. Johannes Itten: Die Geburt Christi, Spruch (1921); Lithographie, 33 x 24 cm; WV 242; Abdruck in: ITTEN (1921), S. 59. Ernst Ludwig Kirchner: Illustration zum Gedicht Alle Landschaften haben aus Georg Heyms Umbra Vitae (1924); Holzschnitt, 14,7 x 9,1 cm; Abdruck in: HEYM (1924), S. 14. Paul Klee: Einst dem Grau der Nacht enttaucht (1918); Aquarell, Feder und Bleistift auf Papier und Karton, 25 x 15,5 cm; Abdruck in: GROHMANN (1959), S. 153. Franz Marc: Initiale A aus Der Blaue Reiter (1912); 3,2 x 3,6 cm; Abdruck in: KANDINSKY/MARC (1912), S. 243.
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Abb. 15 Abb. 16 Abb. 17 Abb. 18 Abb. 19 Abb. 20 Abb. 21 Abb. 22
Abb. 23
Abb. 24 Abb. 25-28 Abb. 29-32 Abb. 33-37 Abb. 38 Abb. 39-40
Abb. 41
Abb. 42
Franz Marc: Initiale E aus Der Blaue Reiter (1912); 1,5 x 1,7 cm; Abdruck in: KANDINSKY/MARC (1912), S. 21. Franz Marc: Initiale I aus Der Blaue Reiter (1912); 1,3 x 2,2 cm; Abdruck in: KANDINSKY/MARC (1912), S. 28. Franz Marc/(Wassily Kandinsky?): Initiale Ü aus Der Blaue Reiter (1912); 1,25 x 0,6 cm; Abdruck in: KANDINSKY/MARC (1912), S. 88. Hans Arp: Initiale D aus Der Blaue Reiter (1912); 1,8 x 1,8 cm; Abdruck in: KANDINSKY/MARC (1912), S. 125. Hans Arp: Initiale Z aus Der Blaue Reiter (1912); 1,9 x 3,8 cm, Abdruck in: KANDINSKY/MARC (1912), S. 132. Hans Arp: Initiale J aus Der Blaue Reiter (1912); 2,6 x 2,5 cm; Abdruck in: KANDINSKY/MARC (1912), S. 189. Karl Schmidt-Rottluff: Initiale A aus der Zeitschrift Kündung (1921); 6,6 x 9,7 cm; Abdruck in: Kündung, 1. Folge, Heft 3, 1921, S. 47. Ernst Ludwig Kirchner/Fritz Bleyl: Programm der Künstlervereinigung Die Brücke (1906); Holzschnitt; Abdruck in: PRESLER (2007), S. 11. Max Pechstein: Initiale E aus Willy Seidels Yali und sein weißes Mädchen (1924); Radierung, 35 x 28 cm (Seitenformat); Abdruck in: LANG (1993), S. 131. Kurt Schwitters: Das Undbild (1919); Assemblage, 35 x 28 cm; Abdruck in: BEYE (1984), S. 151. Das Cabinet des Dr. Caligari (D 1920, R: Robert Wiene); Dauer: 74 Min.; s/w, viragiert; Transit Film 2002, VHS. Der Golem, wie er in die Welt kam (D 1920, R: Paul Wegener); Dauer: ca. 84 Min.; viragiert; Transit Film 2004, DVD. Nosferatu. Eine Symphonie des Grauens (D 1922, R: Friedrich Wilhelm Murnau); Dauer: ca. 94 Min.; viragiert; Transit Film 2007, DVD. Arnold Schönberg: Die glückliche Hand. Drama mit Musik. Op. 18. (1917); Abdruck in: SCHÖNBERG (1917), S. 151. Lothar Schreyer: Ganzkörpermasken Mann, Geliebte und Mutter zum Spielgang Kreuzigung (1920); Stockdruck auf Japanpapier, aquarelliert, 4o; Abdruck in: SCHREYER (1920a), S. 7, 8. Lothar Schreyer: Bühnenentwurf zum Spielgang Kreuzigung (1920); Stockdruck auf Japanpapier, aquarelliert, 4o; Abdruck in: SCHREYER (1920a), S. 3. Lothar Schreyer: Auszug aus der Partitur zum Spielgang Kreuzigung (1920); Stockdruck auf Japanpapier, aquarelliert, 4o; Abdruck in: SCHREYER (1920a), S. 12.
A BBILDUNGSVERZEICHNIS
Abb. 43
Abb. 44
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Lothar Schreyer: Zeichenkonkordanz zum Spielgang Kreuzigung (1920); Stockdruck auf Japanpapier, aquarelliert, 4o; Abdruck in: SCHREYER (1920a), S. 4. Lothar Schreyer: Auszug aus der Partitur zum Spielgang Kreuzigung (1920); Stockdruck auf Japanpapier, aquarelliert, 4o; Abdruck in: SCHREYER (1920a), S. 58.
IX. Literatur- und Filmverzeichnis
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(1798): „Einleitung in die Propyläen“. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Hg. von Karl Richter. Bd. 6.2. Weimarer Klassik 1798-1806. Hg. von Victor Lange u.a. München 1988, S. 9-26. GOLL, Claire (1920): „Amerikanisches Kino“. In: KAES (1978), S. 146-148. [ED: Die neue Schaubühne 2, H. 6, S. 164f.] – (1922): Lyrische Films. Reprint der Ausgabe Basel/Leipzig 1922. Nendeln 1973. GOLL, Yvan (1914): „Films (Verse)“. In: GOLL (1996), S. 7-16. [ED: Tristan Torsi: Films (Verse). Berlin-Charlottenburg 1914] – (1917): „Der Kinodirektor“. In: Die Aktion 7, Sp. 688f. (Sonderheft Yvan Goll) – (1918): „Globus-Kino“. In: Yvan Goll: Der neue Orpheus. Eine Dithyrambe. Reprint der Ausgabe Berlin-Wilmersdorf. Nendeln 1973, S. 15-17. – (1920): „Das Kinodram“. In: KAES (1978), S. 136-139. [ED: Die neue Schaubühne 2, H. 6, S. 141-143] – (1996): Die Lyrik in vier Bänden. Bd. 1. Frühe Gedichte 1906-1930. Hg. und kommentiert von Barbara Glauert-Hesse im Auftrag der Fondation Yvan et Claire Goll Saint-Dié-des-Vosges. Berlin. GROPIUS, Walter (1919a): „Programm des Staatlichen Bauhauses in Weimar“. In: WINGLER (1975), S. 38-41. [ED: Weimar 1919] – (1919b): „Ansprache an die Studierenden des Staatlichen Bauhauses, gehalten aus Anlaß der Jahresausstellung von Schülerarbeiten im Juli 1919“. In: WINGLER (1975), S. 45f. – (1923): „Idee und Aufbau des Staatlichen Bauhauses“. In: Künstlerschriften der 20er Jahre. Dokumente und Manifeste aus der Weimarer Republik. Hg. von Uwe M. Schneede. 3. erweiterte Auflage. Köln 1986, S. 196-208. [ED: Weimar/München 1923] – (Hg.) (1979): The Theatre of the Bauhaus. London. [ED: Wesleyan University Press 1961] GROSZ, George (1917): „Kaffeehaus“. In: Pass auf! Hier kommt Grosz. Bilder Rhythmen und Gesänge 1915-1918. Hg. von Wieland Herzfelder und Hans Marquardt. Frankfurt a.M. 1981, S. 20. [ED: Kleine Grosz Mappe Nr. 20, Berlin-Halensee 1917] GRUNOW, Gertrud (1923): „Der Aufbau der lebendigen Form durch Farbe, Form und Ton“. In: WINGLER (1975), S. 83-85. HASENCLEVER, Walter (1913): „Der Kintopp als Erzieher. Eine Apologie“. In: KAES (1978), S. 47-49. [ED: Revolution 1, o. S.] HAUPTMANN, Carl (1919): „Film und Theater“. In: KAES (1978), S. 123-130. [ED: Die neue Schaubühne 1, H. 6, S. 165-172] HEGEL, Georg Wilhelm Friedrich (1832-1845): Vorlesungen über die Ästhetik II. Frankfurt a.M. 1970. HERZOG, Oswald (1919/20): „Der abstrakte Expressionismus“. In: ANZ/STARK (1982), S. 567f. [ED: Der Sturm, Jg. 10, H. 2, S. 29] –
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3. F ILME ATLANTIS (DK 1913, R: August Blom) DAS CABINET DES DR. CALIGARI (D 1920, R: Robert Wiene) DER ANDERE (D 1913, R: Max Mack) DER GOLEM, WIE ER IN DIE WELT KAM (D 1920, R: Paul Wegener) DER JANUSKOPF (D 1920, R: Friedrich Wilhelm Murnau) DER LETZTE MANN (D 1924, R: Friedrich Wilhelm Murnau) DER MÜDE TOD (D 1921, R: Fritz Lang) DIE AUSTREIBUNG (D 1923, R: Friedrich Wilhelm Murnau) DIE SPINNEN (D 1919/20, R: Fritz Lang) FAUST (D 1926, R: Friedrich Wilhelm Murnau) GENUINE (D 1920, R: Robert Wiene) LE VOYAGE À TRAVERS L’IMPOSSIBLE (F 1904, R: Georges Méliès) LIEBELEI (D 1914, R: Holger Madsen) METROPOLIS (D 1927, R: Fritz Lang) NOSFERATU (D 1922, R: Friedrich Wilhelm Murnau) PHANTOM (D 1922, R: Friedrich Wilhelm Murnau) RICHARD WAGNER (D 1913, R: Carl Froelich, William Wauer) SCHLOSS VOGELÖD (D 1921, R: Friedrich Wilhelm Murnau) SUNRISE (USA 1927, R: Friedrich Wilhelm Murnau) TARTÜFF (D 1925, R: Friedrich Wilhelm Murnau) VON MORGENS BIS MITTERNACHTS (D 1920, R: Karl Heinz Martin)
X. Personen- und Titelregister
Adler, Bruno Utopia. Dokumente der Wirklichkeit 159 Adorno, Theodor W. 15, 20, 25, 50, 294 Ästhetische Theorie 24, 42 Al-Hallâdsch, Husain 159 Appia, Adolphe 289 Die Musik und die Inszenierung 112, 140, 285 Arcimboldo, Giuseppe 90 Aristoteles 26, 90, 207 Arp, Hans 87, 118, 186, 189, 190 Initiale D 188, 193 Initiale J 189 Initiale Z 188 Asenijeff, Elsa Die Orchideenbraut 209
Bachmair, Heinrich [Pseudonym: Sebastian Scharnagl] 229 Bachtin, Michael 30 Balázs, Béla 248 Der sichtbare Mensch 246 Ball, Hugo 11, 286, 287 Barlach, Ernst 13, 60, 146 Barthes, Roland 30, 44, 67 Baumeister, Willi 138 Becher, Johannes R.
Der Fetzen 228, 236 Gesang zur Nacht 230 Kino 228 Bechtejeff, Wladimir 11 Beckmann, Max 146, 150 Beethoven, Ludwig van 116 Behne, Adolf 333 Behrens, Peter 104 Feste des Lebens 283 Benjamin, Walter 238 Berg, Alban 87 Bermann, Richard A. [Pseudonym: Arnold Höllriegel] 21, 205, 219 Bimini 215 Die Films der Prinzessin Fantoche 214 Du sollst Dir kein Bildnis machen 215 Gedrucktes Kino 208 Leier und Schreibmaschine 209f., 214-218, 221 Bierbaum, Otto Julius 145 Die Insel 146 Pan 146, 235 Billert, Max 325 Blavatsky, Helena Der Schlüssel zur Theosophie 71, 78 Blei, Franz 207
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Bleyl, Fritz Brücke-Programm 191 Bloch, Ernst 58, 94 Bloem, Walter [Pseudonym: Kilian Koll] Seele des Lichtspiels 248 Blom, August 235 Blümner, Rudolf 101, 326 Böhme, Jakob 58, 94, 158 Braque, Georges 18, 138 Brecht, Bertolt 109, 234 Brod, Max 21, 205, 207 Ein Tag aus dem Leben Kühnebecks, des jungen Idealisten 210, 218-221 Kinematographentheater 219 Brust, Alfred Das Bauspiel 335 Das Spiel Jenseits 14, 21, 280, 332-338, 347, 351 Spiele 333, 335
Cage, John 84 Castel, Louis-Bertrand 90, 337 Chamisso, Adelbert von Peter Schlemihl’s wundersame Geschichte 146 Chaplin, Charlie 224, 242 Chlebnikow, Welimir Sieg über die Sonne 340 Coleridge, Samuel Taylor 36, 37 Colombo, Luigi [Pseudonym: Filia] Die Maschinen-Sinnlichkeit 353 Corneille, Pierre 68 Coryell, John 220 Craig, Edward Gordon 18, 110, 289 Der Schauspieler und die Übermarionette 285 On the Art of the Theatre 82 Croce, Benedetto 50
Dagover, Lil 250 Däubler, Theodor 84 Delaunay, Robert Tour Eiffel 87 Depero, Fortunato Farben 353 Derp, Clotilde von 16 Derrida, Jacques 20, 28, 29, 30, 49 Deutsch, Ernst 261 Döblin, Alfred 12, 204, 234 Berlin Alexanderplatz 43 Das Stiftsfräulein und der Tod 147 Lydia und Mäxchen 288, 345 Doesburg, Theo von 194 Duchamp, Marcel 138 Edschmid, Kasimir 21, 95, 98, 163, 178, 351 August Renoir: Paysage 154 Bilder. Lyrische Projektionen 148, 149-158, 200 Claude Monet: Fischerbote in Etretat 154 Die achatnen Kugeln 150 Die Fürstin 146, 148 Gustav Klimt: Liebespaar 153 Gustav Moreau: Les Prétendants / Fragment 154 Hanns von Marées: Der Raub des Ganymed 153 Henry Edmond Cross: Canal Grande 153 Honoré Daumier: Publikum 153 Lebendiger Expressionismus 150 Lorenzo di Credi: Verkündung 154 Luca Signorelli: Die Verdammten 154 Ludwig von Hofmann:
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Extase 154 Pietro Perugino: Schlüsselübergabe 153 Schule des Sandro Botticelli: Allegorie der Fruchtbarkeit 155 Tribüne der Kunst und Zeit 181 Über den Expressionismus in der Literatur 150 Verse, Hymnen, Gesänge 150 Ehrenstein, Albert 60, 205 Der Tod Homers 213 Einstein, Carl 84 Eisenstein, Sergei 206, 339 El Lissitzky 138 El Greco St. Johannes 87 Porträt des Kardinalinquisitors Don Fernando Niño de Guevara 164 Ernst, Max 12
Fairbanks, Douglas 242 Feher, Friedrich 252 Feininger, Lyonel 134 Felixmüller, Conrad 12, 146 Ficino, Marsilio 159 Filia [d.i. Luigi Colombo] Die Maschinen-Sinnlichkeit 353 Fischer, Friedrich Der Somnambulismus 257 Foucault, Michel 20, 49 Friedrich, Caspar David 137 Fuchs, Georg 104, 112, 287 Die Schaubühne der Zukunft 283 Die Revolution des Theaters 283, 319
Gad, Urban 236 Gadamer, Hans-Georg 41 Galeen, Henrik 268
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Genette, Gérald 209 George, Stefan 87, 331 Georgi, Hermann 150, 151 Giraud, Albert Pierrot lunaire 294 Goethe, Johann Wolfgang 47, 48, 76, 77, 86, 152, 183, 274 Die Wahlverwandtschaften 334 Ein Gleiches 182 Mignon 342 West-östlicher Divan 158 Goll, Claire 15, 204, 227, 240, 351 Amerikanisches Kino 242 Lyrische Films 229, 230, 241 Pathé-Woche 228, 230, 241f. Zwanzigstes Jahrhundert 230 Goll, Yvan 12, 57, 109, 221-227, 230 Der Kino-Direktor 222-224, 226, 228 Der neue Orpheus 222f., 225 Die Chaplinade 222 Die Unsterblichen 222 Films 222 Globus Kino 222, 225f. Kleines Kino der Menschlichkeit 222 Methusalem oder Der ewige Bürger 222, 340 Goodman, Nelson 179 Gottowt, John 273 Granach, Alexander 268 Greenaway, Peter 354 Grieg, Edvard 336 Grimm, Jakob 263 Gropius, Walter 20, 84f., 93, 133137, 138, 139, 143, 350 Idee und Aufbau des Staatlichen Bauhauses 134 Grossmann, Rudolf 12
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Grosz, George 12, 204 Kaffeehaus 228, 240f. Gründgens, Gustaf 114 Grunow, Gertrud 136
Hacker, Adolf Der Dichter liest 148 Hanisch, O. Z. A. 158 Hartmann, Thomas von 311, 312 Über Anarchie in der Musik 188 Hasenclever, Walter 60, 103, 109, 205, 206 Der Kintopp als Erzieher 207 Die Hochzeitsnacht 209 Hatvani, Paul 84 Hauptmann, Carl 247, 248, 271 Hauptmann, Gerhart 247, 271 Atlantis 235 Hayakawa, Sessue 242 Heartfield, John 12, 194 Heckel, Erich 146, 191 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 63, 332 Vorlesungen über die Ästhetik 47 Hennings, Emmy Die Mutter 230 Herbart, Johann Friedrich 63, 67 Herzog, Oswald 17, 59, 73, 84 Heym, Georg 60 Alle Landschaften haben 157, 172-177, 191, 192, 200 Die Somnambulen 176 Umbra Vitae 146, 148, 149, 172177 Träumerei in Hellblau 175 Heynicke, Kurt 17, 84 Higgins, Dick 36, 37 Hiller, Kurt 58 Hoddis, Jakob von 15, 175, 227, 234, 239, 351
Kinematograph 203, 228, 229, 231-233, 242 Varieté 229 Höllriegel, Arnold [d.i. Richard A. Bermann] Galeotto 209, 215 Hölzel, Adolf 138, 158 Hoffmann, E.T.A. 66, 339 Der goldne Topf 217 Hofmannsthal, Hugo von 286 Huelsenbeck, Richard 118, 119
Itten, Johannes 17, 21, 58, 136, 138, 177, 178, 184, 349, 351 Analysen Alter Meister 148, 158171, 200
Jakobson, Roman 32, 330 Janowitz, Hans 257 Jawitz, Eduard 271 Jentzsch, Robert 175 Jhering, Herbert 247
Kafka, Franz 218 Kant, Immanuel 63 Kaiser, Georg 60, 103, 109, 204, 339 Kandinsky, Wassily 11, 13, 16, 17, 20, 51, 58, 69-85, 87, 89, 96, 97, 101, 106, 109, 111, 112, 115, 119, 125, 127, 128, 132, 133, 135, 136, 138, 139, 141, 142, 184, 188, 197, 281, 283, 284, 287, 289, 304, 340, 344, 345, 346, 350 Der Blaue Reiter 69, 72, 81, 83, 85-92, 147, 178, 187, 188, 189, 193, 286, 287, 294, 296, 297, 308, 335, 344, 350 Der gelbe Klang 14, 21, 70, 83, 84, 280, 286, 295, 308-324, 343,
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347, 351 Essays über Kunst und Künstler 69 Grüner Klang 70 Klänge 70, 146 Punkt und Linie zu Fläche 122, 127 Schwarz und Weiß 70 Über Bühnenkomposition 81, 86, 90, 189, 315 Über das Geistige in der Kunst 16, 59, 69, 71, 75, 76, 78, 80, 82, 86, 122, 286, 323 Über die abstrakte Bühnensynthese 82, 140 Über die Formfrage 72, 91, 189 UND 83 Violett 70, 140 Kaprow, Allan 84 Keats, John 152 Keller, Philipp Die Seuche 209 Kerr, Alfred Kino 235 Sieg des Lichtspiels 228, 234-236 Kiefer, Anselm 354 Kircher, Athanasius 90 Kirchner, Ernst Ludwig 12, 21, 146, 147, 148, 149, 157, 166, 172177, 186, 192, 194, 200, 351 Brücke-Programm 191 Klee, Paul 11, 15, 21, 98, 134, 138, 148, 197, 349, 351 Aus dem hohen Lied 179 Der Herbstwind weht 179 Einst dem Grau der Nacht enttaucht 45, 149, 177-185, 200 Emilie 179 Hoch und strahlend steht der Mond 179
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Schöpferische Konfession 181, 183 Klimt, Gustav 156, 157 Der Kuss 155 Klopstock, Friedrich Gottlieb 64 Der Tod Adams 146 Kokoschka, Oskar 12, 98, 109, 348 Der brennende Dornbusch 61 Mörder Hoffnung der Frauen 14, 21, 61, 138, 146, 279, 283, 288294, 335, 347, 351 Koll, Kilian [d.i. Walter Bloem] 248 Kornfeld, Paul 60, 109, 146 Kracauer, Siegfried 252, 258 Kraus, Karl Die Fackel 99 Krauß, Werner 250 Kristeva, Julia 30, 33 Krutschonych, Alexej Sieg über die Sonne 340 Kubin, Alfred 12, 14, 146, 178 Kunisada, Utagawa 150 Kues, Nikolaus von 107, 159 Kulbin, Nikolai 91 Die freie Musik 86, 90, 189 Studio der Impressionisten 90
Lang, Fritz Der müde Tod 248 Die Spinnen 252 Metropolis 249 Langer, Frantisek Der Musterkellner 209 Lasker-Schüler, Else 13, 14, 205, 209 Sterndeuterei 99 Theben 146 Lauckner, Rolf 110, 113-117, 141, 142, 350 Der Aufbau des dramatischen
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Erlebnisses 114 Der Sturz des Apostel Paulus 114 Der Weg zur expressiven Schauspielkunst 114 Frau im Stein 114, 116 Nadja 117 Satuala 117 Schrei aus der Straße 114 Tannhäuser wird probiert 117 Von den Forderungen an eine neue Oper 115, 116 Lautensack, Heinrich 205 Zwischen Himmel und Erde 209 Léger, Fernand 138 Leonhard, Rudolf Kinosonett 228 Lessing, Gotthold Ephraim 48, 67, 207 Laokoon 47, 181, 281 Liechtenstein, Alfred Kientoppbildchen 228 Lindau, Paul 234 Loewenfeld, Leopold Somnambulismus und Spiritualismus 257 Lukács, Georg 206 Gedanken zu einer Ästhetik des Kinos 247 Luhmann, Niklas 38, 39, 40, 42
Mack, Max Der Andere 234 Macke, August 178 Madsen, Holger 235 Maeterlinck, Maurice 87, 104, 294 La Princesse Malaine 286 L’Interieur 286 Oiseau bleu 286 Mahler, Alma 158 Matjuschin, Michail
Sieg über die Sonne 340 Malewitsch, Kasimir 138 Sieg über die Sonne 340 Mann, Heinrich 58 Mann, Thomas Über den Film 206 Marc, Franz 11, 14, 21, 58, 87, 186, 188, 189, 190 Der Blaue Reiter 69, 72, 81, 83, 85-92, 147, 178, 187, 188, 189, 193, 286, 287, 296, 308, 335, 344, 350 Die ‚Wilden‘ Deutschlands 188 Geistige Güter 187 Initiale A 187, 193 Initiale E 187 Initiale I 187 Initiale Ü 187 Marinetti, Filippo Tommaso 230 Technisches Manifest der futuristischen Literatur 101 Marino, Giambattista Galleria 152 Martin, Karl Heinz Von morgens bis mitternachts 248 Marx, Adolf Bernhard Die Lehre von der musikalischen Komposition 132 Marx, Karl 103 May, Karl 220 Mayer, Carl 257 McLuhan, Marshall 27, 46 Meidner, Ludwig 13 Septemberschrei 146 Meister Eckhart 94 Meister Francke 166, 168 Anbetung der Könige 164 Die Geburt Christi 164, 166, 169 Méliès, Georges
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Le voyage à travers l'impossible 211 Mendelsohn, Erich 11 Mersch, Dieter 41, 42f. Mesmer, Franz Anton Allgemeine Erläuterungen über den Magnetismus und Somnambulismus 257 Meumann, Ernst 61 Meyerhold, Wsewolod 18, 287 Mierendorff, Carlo 221 Milton, John 152 Moholy-Nagy, László 134, 354 Die Bühne im Bauhaus 137, 139 Molière 271 Mombert, Alfred 87 Monet, Claude 150 Morgenstern, Christian 178 Muche, Georg 134 Mu-chi Arhat Vanavasi 164 Mühsam, Erich 58, 94 Müller, Robert 94 Münter, Gabriele 311 Müthel, Lothar 261 Murnau, Friedrich Wilhelm Der ideale Film benötigt keine Untertitel 271 Der Januskopf 271 Der letzte Mann 271 Die Austreibung 271 Faust 271 Nosferatu 21, 249, 263, 268-277, 278, 351 Phantom 271 Schloss Vogelöd 271 Sunrise 271 Tartüff 271 Mussorgsky, Modest Bilder einer Ausstellung 51, 70
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Newman, Barnett 323 Newton, Isaac 90 Nielsen, Asta 228, 229, 236-239 Niemeyer, Wilhelm Kündung 190, 191 Nietzsche, Friedrich 96, 207, 235, 236, 285 Die fröhliche Wissenschaft 71 Jenseits von Gut und Böse 71 Novalis 86, 281 Otten, Karl 84 Asta Nielsen 228, 230, 236-239 Schrei und Bekenntnis 114 Oldenburg, Claes 84 Olderock, Max 325
Paik, Nam June 354 Paracelsus 94, 159 Pechstein, Max 12, 186, 191 Das Vater Unser 146 Die Leser 148 Initiale E 192 Peirce, Charles S. 33, 329 Perugino, Pietro 150, 157 Schlüsselübergabe an Petrus 156 Petrarca, Francesco 152 Pfemfert, Franz Die Aktion 13, 222, 223, 229 Kino als Erzieher 223 Philostrat Eikones 165 Picasso, Pablo 18, 138, 150 Pinthus, Kurt 12, 241 Das Kinobuch 13, 21, 204, 205210, 229, 243, 246, 351 Die verrückte Lokomotive 210214, 218, 221 Flegeljahre des Films 208 Pinturicchio, Bernardino 150
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Pirandello, Luigi 345 Piscator, Erwin 112, 345 Platon 159 Phaidros 26 Plotin 159 Prel, Carl du Das hypnotische Verbrechen 257 Ptolemaios 90
Racine, Jean 68 Reicha, Anton Traité de haut composition musicale 132 Reinhardt, Max 114, 281, 287, 288 Reiß, Erich 13 Renoir, August 150 Rheiner, Walter Asta Nielsen 236 Kokain 146 Reimann, Walter 251 Reinhardt, Max 287 Richter, Hans 16 Riegl, Alois 47, 76, 77 Riehl, Alois 67 Riemann, Hugo Katechismus der Kompositionslehre 132 Rilke, Rainer Maria 152 Röhrig, Walter 251 Rolan, Franz 127, 341 Roth, Ernst 354 Die Grenzen der Künste 349 Rowohlt, Ernst 13 Rubiner, Ludwig 58, 205, 228 Der Aufstand 209 Runge, Philipp Otto 86, 137, 159
Sabanejew, Leonid 81, 87, 88, 89, 90, 91, 335 ‚Prometheus‘ von Skrjabin 86
Sack, Gustav 241 Der Schuss 239f. Salmonova, Lyda 261 Salzmann, Alexander von 11 Saussure, Ferdinand de 29, 39, 40 Schapire, Rosa Kündung 190, 191 Scharnagl, Sebastian [d.i. Heinrich Bachmair] Der selige Kintopp 228, 229, 233f., 235, 236 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph Philosophie der Kunst 48, 88, 283 Schmarsow, August 68 Schmidt, Joost 194 Schickele, René 95 Prolog im Kino 228 Schiller, Friedrich 69, 101, 207 Über die ästhetische Erziehung des Menschen 47 Über naive und sentimentalische Dichtung 64 Schlegel, August Wilhelm 64, 101 Die Gemählde 152 Schlegel, Friedrich 86 Schlemmer, Oskar 12, 16, 18, 133, 134, 137-141, 142 Das figurale Kabinett I 139 Das triadische Ballett 137, 286, 340 Die Bühne im Bauhaus 137, 139 Formentanz 138 Mensch und Kunstfigur 139 Meta oder die Pantomime der Örter 139 Moderne Bühnenmittel 141 Perspektiven 137 Schlingensief, Christoph 354 Schmidt-Rottluff, Karl 166, 186, 191
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193, 251 Initiale A 190 Schnitzler Arthur Liebelei 235 Schönberg, Arnold 11, 13, 16, 80, 87, 89, 90, 91, 101, 119, 132, 283, 289, 310, 340 Das Verhältnis zum Text 86 Die Erwartung 294 Die glückliche Hand 21, 138, 279, 294-308, 324, 325, 347, 351 Schongauer, Martin 150 Schreck, Max 268 Schreyer, Lothar 11, 20, 26, 37, 58, 60, 73, 89, 92-103, 111, 112, 119, 125, 133, 139, 141, 142, 184, 283, 286, 287, 288, 289, 318, 345, 346, 350 Das Bühnenkunstwerk 96 Das Gegenständliche in der Malerei 97 Die neue Kunst 93, 98, 102, 108 Ein Jahrtausend deutscher Kunst 103 Erinnerungen an Sturm und Bauhaus 133, 331 Expressionistische Dichtung 326 Gesetze der Kunst 17, 93, 101, 102 Kreuzigung 14, 21, 280, 324-332, 347, 351 Menschen und Maske 107 Mondspiel 93 Von der Wiedergeburt des Stils 95 Von den Grenzen der Künste 95 Schröder, Greta 269 Schuré, Édouard 283 Schwitters, Kurt 18, 20, 21, 100, 118-133, 141, 142, 348, 350
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An alle Bühnen der Welt 120, 121, 123, 285 Aus der Welt: ‚Merz‘ 120 Das Irrenhaus von Sondermann 346 Das Problem der abstrakten Kunst 132 Das Undbild 83, 149, 194-199, 200 Das Ziel meiner Merzkunst 120 Der Rhythmus im Kunstwerk 132 [Die Bedeutung des Merzgedankens in der Welt] 120 Die Merzbühne 120, 121 Die Merzmalerei 120 [Die normale Bühne Merz] 120 Elementarkenntnisse in der Malerei 127 [Mai 191] 194 i (Ein Manifest) 120 Meine Ansicht zum Bauhaus-Buch 9 122 Merzzeichnungen und i-Zeichnungen 120 Merzdichtung 120 Merz 120 Normalbühne 120 Normalbühne Merz 120 Punch von Nobel 341 Zusammenstoß 21, 280, 339-346, 347, 351, 352 Seel, Martin 41f. Seidel, Willy Yali und sein weißes Weib 191 Semper, Gottfried 47, 76, 77 Shakespeare, William 36, 65, 116, 295 Antonius und Cleopatra 68 König Lear 68 Skrjabin, Alexander 81, 131, 304,
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337 Prometheus 80, 87, 88, 89, 287, 335 Sophokles 295 Sorge, Reinhard 109, 288 Spenser, Edmund 36 Stanislawski, Konstantin 287 Starke, Ottomar 12 Stevenson, Robert Louis The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Heyde 271 Stoker, Bram Dracula 268, 272 Stramm, August 16, 60, 101, 288, 326 Stratz, Rudolf 271 Strindberg, August 286, 294 Steiner, Rudolf 58, 104, 309 Der Hüter der Schwelle 283 Der Seelen Erwachen 283 Die Pforte der Einweihung 283, 284 Die Prüfung der Seele 283 Lucifer-Gnosis 70 Theosophie 70 Steinitz, Kate 339 Steinrück, Albert 259 Sternheim, Carl 60, 109 Sturm, Hans 266 Sudermann, Hermann Die Ehre 114 Frau Sorge 114 Sydow, Eckart von 58
Tairow, Alexander 289 Das entfesselte Theater 287 Tarent, Leonidas von 152 Taut, Bruno 333 Tatlin, Wladimir 19 Todorov, Tzvetan 31
Toller, Ernst 103, 109 Trakl, Georg 14, 60 Tzara, Tristan 118
Veidt, Conrad 250 Velázquez, Diego 116 Vinci, Leonardo da 90 Vischer, Friedrich Theodor Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen 48 Wagner, Richard 16, 18, 70, 82, 83, 88f., 96, 105, 110, 111, 115, 116, 121, 282, 285, 289, 293, 303, 306 Das Kunstwerk der Zukunft 81, 281 Die Kunst und die Revolution 81, 281 Lohengring 74 Oper und Drama 81, 281 Wainewright, Thomas Griffiths 151, 152 Walden, Herwarth 60, 119, 287 Der Sturm 13, 17, 85, 92, 96, 146, 229, 288, 330 Expressionismus. Die Kunstwende 97 Walzel, Oskar 20, 46, 60-69, 76, 141, 350 Wechselseitige Erhellung der Künste 60-69 Wangenheim, Gustav von 268 Warm, Hermann 251 Wauer, William 20, 109-113, 116, 141, 142, 350 Das Theater als Kunstwerk 110 Der Kunst eine Gasse 110 Die Kunst im Theater 110 Richard Wagner 113 Webern, Anton 87, 132
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Wegener, Paul 278 Der Golem, wie er in die Welt kam 21, 248, 249, 259-267, 268, 277, 351 Wels, Margarete 12 Werfel, Franz 60, 103, 109, 288 Wigman, Mary 339 Wiene Robert 278 Das Cabinet des Dr. Caligari 21, 247, 248, 249, 250-259, 260, 261, 263, 268, 272, 277, 351 Genuine 248 Wilde, Oscar 152 Das Bildnis des Dorian Gray 209 Die Ballade vom Zuchthaus zu Reading 146 Wölfflin, Heinrich 65, 68 Kunstgeschichtliche Grundbegriffe 64 Wolff, Kurt 13, 172 Wolzogen, Ernst von 294 Worringer, Wilhelm Formprobleme der Gotik 64
Zech, Paul 205 Der große Streik 209
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Stephanie Waldow (Hg.) Ethik im Gespräch Autorinnen und Autoren über das Verhältnis von Literatur und Ethik heute 2011, 182 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1602-6
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Lettre Vera Bachmann Stille Wasser – tiefe Texte? Zur Ästhetik der Oberfläche in der Literatur des 19. Jahrhunderts September 2012, ca. 290 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1929-4
Christine Bähr Der flexible Mensch auf der Bühne Sozialdramatik und Zeitdiagnose im Theater der Jahrtausendwende Mai 2012, ca. 364 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1557-9
Matteo Colombi (Hg.) Stadt – Mord – Ordnung Urbane Topographien des Verbrechens in der Kriminalliteratur aus Ost- und Mitteleuropa August 2012, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1918-8
Tabea Kretschmann »Höllenmaschine/ Wunschapparat« Analysen ausgewählter Neubearbeitungen von Dantes »Divina Commedia« April 2012, ca. 244 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1582-1
Roger Lüdeke (Hg.) Kommunikation im Populären Interdisziplinäre Perspektiven auf ein ganzheitliches Phänomen 2011, 350 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1833-4
Takemitsu Morikawa Japanizität aus dem Geist der europäischen Romantik Der interkulturelle Vermittler Mori Ogai und die Reorganisierung des japanischen ›Selbstbildes‹ in der Weltgesellschaft um 1900
Markus Fauser (Hg.) Medialität der Kunst Rolf Dieter Brinkmann in der Moderne
August 2012, ca. 270 Seiten, kart., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1893-8
2011, 290 Seiten, kart., 31,80 €, ISBN 978-3-8376-1559-3
Miriam N. Reinhard Entwurf und Ordnung Übersetzungen aus »Jahrestage« von Uwe Johnson. Ein Dialog mit Fragen zur Bildung
Evi Fountoulakis, Boris Previsic (Hg.) Der Gast als Fremder Narrative Alterität in der Literatur 2011, 274 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1466-4
Astrid Henning Die erlesene Nation Eine Frage der Identität – Heinrich Heine im Schulunterricht in der frühen DDR
Mai 2012, ca. 254 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2010-8
Franziska Sick (Hg.) Raum und Objekt im Werk von Samuel Beckett 2011, 244 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1515-9
2011, 320 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1860-0
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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Lars Koch, Christer Petersen, Joseph Vogel (Hg.)
Störfälle Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2011
2011, 166 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-1856-3 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 10 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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